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Außenseiter bezeichnen einige unserer Prozeduren als »Fremen-Grausamkeiten«, ohne zu verstehen, was wir tun. Man denke zum Beispiel an die Huanui, die Todesdestille, die es dem Stamm ermöglicht, Feuchtigkeit von den Gestorbenen zurückzugewinnen und aufzubewahren. Wie kann man so etwas auf einem Planeten, wo Wasser das kostbarste aller Güter ist, grausam nennen? Es ist praktisch.
Die Stilgar-Kommentare
Bronso von Ix ... der berüchtigte Verräter ... der Mann, der versucht hatte, Muad'dib als Menschen darzustellen und nicht als Gott. Obwohl sie den wahren Heldenmut kannte, der seinen Taten zugrunde lag, konnte Jessica ihn nicht retten.
Aber genauso wenig konnte sie ihn einfach aufgeben.
Allein ging sie in den Gefängniskomplex von Arrakeen, hell erleuchtete Korridore hinab, durch Tunnel und Seitenflügel, die von Soldaten und Kriegerpriestern in gelben Roben bewacht wurden. Sie selbst hatte sich sorgfältig in das schwarze Kapuzengewand einer Fremen-Sayyadina eingekleidet und die untere Hälfte ihres Gesichts mit einem Nezhoni-Tuch verdeckt, so dass nur ihre Augen sichtbar waren. Unterwegs vernahm sie die Stimme von Duncan Idaho durch einen verborgenen Ohrhörer. »Die nächste Tür, der Zugangscode ist 10191.«
Das Jahr, in dem wir auf Arrakis eingetroffen sind, dachte sie. Eine Zahl, die man sich ungewöhnlich leicht merken konnte. Sie fragte sich, ob sie hofften, dass jemand versuchte, Bronso zu befreien, wie es schon zuvor geschehen war. Weitere Zahnrädchen, Intrigen und Komplotte ... weitere Möglichkeiten. Paul hätte es so gewollt.
»Danke, Duncan«, sagte sie unterhalb der Hörschwelle. »Danke, dass du mir vertraust.«
Er antwortete nicht. So viel ging hinter den Kulissen vor, so viele geheime Beweggründe ...
Während des Aufschreis, der auf Bronsos Festnahme auf dem Dach in Carthag gefolgt war, nachdem das militärische Einsatzkommando im Triumph nach Arrakeen zurückgeeilt war, hatte Jessica sich auf dem lauten und geschäftigen Landefeld am Rand der Zitadelle mit Gurney und Duncan getroffen. Thopter stiegen auf und landeten, und Bodenpersonal rannte umher. Den fest verschnürten und geknebelten Bronso hatte man bereits in den Hochsicherheitsbereich gebracht, der die Todeszellen enthielt. Der Gefangene hatte keinen Widerstand geleistet. Er hatte seine Aufgabe erfüllt und würde nicht weiterkämpfen.
An dem Gesichtsausdruck der beiden erkannte Jessica sofort, dass zwischen Gurney und Duncan etwas vorgefallen war, und sie fragte sich, ob der Ghola sie auf dem Dach erkannt hatte. Als sie den beiden Männern auf dem Landefeld gegenübertrat, zog sich die angespannte Stille in die Länge, bis Jessica sie schließlich brach. Gurney kannte die Antworten bereits, aber nun hatte es den Anschein, dass Duncan ihr Schicksal in der Hand hielt.
Sie beschloss, ein weiteres Risiko einzugehen, in der Hoffnung, dass er mehr als ein Tleilaxu-Ghola war. »Duncan, wenn du der echte Duncan Idaho bist, dann hör mich an. Paul hat mich darum gebeten, Bronso so weit wie möglich zu helfen, unter absoluter Geheimhaltung.« Sie hätte die Stimme einsetzen können, um ihn zu manipulieren, aber es war nötig, dass Duncan seine eigene ehrliche Entscheidung traf. »Ich kann dir Pauls Beweggründe erklären, es dir beweisen. Oder reicht dir mein Wort?«
Sie sah, wie er sich darum bemühte, die Fragen zu bändigen, die seinen Mentatenverstand bestürmten. Eine ganze Weile betrachtete er sie mit seinen Metallaugen. »Ihr Wort genügt, Mylady.« Er verbeugte sich mit einer eleganten Armbewegung. Als er sich wieder aufrichtete und sie mit offener und klar deutbarer Miene ansah, war sie überzeugt, dass es sich um den echten Duncan Idaho handelte, der in seiner Loyalität niemals nachlassen würde ...
Als sie nun auf dem Weg durch die Gefängnisebenen war, konzentrierte sich Jessica darauf, das zu Ende zu bringen, was sie zu tun hatte. Sie tippte die richtigen Zahlen in die Tastatur an der verschlossenen Tür ein, und eine schwere Barriere fuhr auf einer Schiene beiseite und schloss sich hinter ihr, nachdem sie eingetreten war.
Sie war schon einmal hier gewesen, um Irulan aus ihrer Todeszelle zu holen. Auch Mohiam war an einem solchen Ort festgehalten worden, bevor Stilgar sie exekutiert hatte. Die Ebene, auf der man Bronso eingekerkert hatte, war sogar noch besser gesichert.
Duncans Stimme führte sie zum entsprechenden Haftbereich, doch auch so verrieten ihr die zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen, dass es sich um Bronsos Zelle handelte. Sie ließ ihr Tuch herabsinken, streifte die Kapuze zurück, so dass ihr bronzefarbenes Haar mit den grauen Strähnen zum Vorschein kam, und nahm all ihr Charisma und ihre Erhabenheit zusammen, als wäre sie eine Jongleur-Schauspielerin. Ich bin Lady Jessica, die Mutter Muad'dibs.
Die Amazonenwachen und die zornig dreinschauenden Qizaras sahen sie, erkannten sie und nahmen sofort Haltung an. »Mylady!«
Diesmal brachte sie die Stimme zum Einsatz und nötigte die Wachen und Priester durch ihren Tonfall und ihre herrschaftliche Körperhaltung zur Kooperation. »Ich werde mit diesem Mann sprechen, der meinen Sohn beleidigt hat. Er hat sich der Blasphemie gegen Muad'dib schuldig gemacht, und es gibt viel, wofür er sich erklären muss. Das soll er mir gegenüber tun.«
Die Priester schienen gegen die Stimme resistent zu sein, denn sie schlossen die Reihen und versperrten ihr den Weg. Einer sagte: »Wir haben strenge Befehle, dass der Gefangene vor seiner Hinrichtung keine Besucher empfangen darf. Keine Nahrung, kein Wasser. Absolut nichts.«
Jessica deutete mit ihrem wütenden Auftreten an, dass sie die Hinrichtung aller vier Priester anordnen würde, wenn sie weiter ihr Missfallen erregten. »Soll ich vielleicht warten und nach seiner Hinrichtung mit ihm reden?« Die Männer sahen aus, als würden sie im nächsten Moment tot umfallen. »Ich verlange einen Moment unter vier Augen mit diesem Bronso von Ix. Ich berufe mich auf die Traditionen der Wüste. Es ist mein Recht, ihm gegenüberzutreten.«
Derselbe Priester sagte: »Er ist ein gefährlicher Gefangener, Mylady. Sie sollten sich wenigstens von zwei Wachen begleiten lassen ...«
»Ich habe einst Stilgar persönlich besiegt.« Ihr Blick brachte den Priester zum Schweigen. »Von diesem jämmerlichen Mann habe ich nichts zu befürchten.«
Auf ein Signal des Priesters hin entriegelte eine der Amazonenwachen die Tür und ließ sie ein. »Machen Sie zu! Ich brauche kein neugieriges Publikum von Klatschtanten.« Die Frau ließ sie mit Bronso allein in der Todeszelle.
Obwohl der ausgemergelte Mann mit dem kupferfarbenen Haar sichtlich schwach und durstig war, nahm er eine so gerade Haltung an, als würde er auf dem Thron des Hauses Vernius sitzen. Plötzlich fiel ihr auf, welche tragische und einsame Gestalt Bronso war. Und doch lächelte er, als er sie erkannte. »Ich hatte gehofft, dass wir die Gelegenheit bekommen würden, uns vor dem Ende noch einmal zu unterhalten, Mylady.«
Sie brachte ihn mit einem knappen Handzeichen zum Schweigen und griff dann unter ihr Gewand und holte ein kleines Gerät heraus, das sie einschaltete. Der Luftdruck in der Zelle schien sich zu verändern, und ein Brummen unterhalb der Hörschwelle ließ ihre Zahnwurzeln vibrieren. »Ein Abschirmfeld. Jetzt können wir uns absolut ungestört unterhalten.« Sie betrachtete lächelnd das Gerät. »Es stammt aus ixianischer Produktion. Alia hat viele ixianische Geräte, die noch nie getestet worden sind, und ich ... habe mir ein paar davon ausgeliehen.«
»Ach, ich kenne dieses Gerät«, sagte er mit einem reuigen Lächeln und blickte aus rot geäderten Augen zu ihr auf. »Doch selbst mit solchen Vorsichtsmaßnahmen begeben Sie sich in große Gefahr, indem Sie zu mir kommen.«
»Du hast im Laufe der Jahre weit mehr riskiert, Bronso. Aber mach dir keine Sorgen – ich habe einen legitimen Grund für meine Anwesenheit.«
Bronso verstand. »Man glaubt, dass Sie gekommen sind, um mich anzuspucken?«
»Auf dem Wüstenplaneten wäre das keine Beleidigung.«
Er schüttelte nur den Kopf. »Es gibt nichts, was Sie für mich tun könnten. Ich will, dass Sie frei von jedem Verdacht bleiben. Sie müssen dafür sorgen, dass meine Mutter in Sicherheit ist.«
»Das werde ich tun, Bronso. Ich verspreche es.«
Er nickte. »Ich werde nichts über unsere Beziehung zueinander oder über Pauls Plan verraten, ganz gleich, wie sehr man mich foltert. Wenn diese Hinrichtung mich zum Märtyrer macht, dann werden eben noch mehr Menschen meine Abhandlungen lesen. Meine Schriften werden ein Eigenleben entwickeln ... und einige Leser werden meinen Worten Glauben schenken. Die Wahrheit ist eine mächtige Waffe.«
Jessica trat einen Schritt näher an ihn heran. »Hat Alia dir schon gesagt, wie du hingerichtet wirst?«
»In der Huanui-Todesdestille, bei lebendigem Leibe. Ich schätze, das wird nicht besonders angenehm.«
Mit einer plötzlichen Bewegung hob Jessica eine Hand und zeigte ihm die silberne Nadel, die sie darin hielt. »Bronso, dies ist der selbstherrliche Feind, das Gom Jabbar. Ein Stich mit dieser vergifteten Spitze, und dein Leid hat ein Ende – schnell und schmerzlos.«
Er blieb gelassen. »Also hat Alia Sie als meine Henkerin geschickt, wie sie zuvor Stilgar geschickt hat? Sie sollen es sein? Diese Nadel würde mich zweifellos zum Schweigen bringen. Sie müssten sich keine Sorgen mehr machen.«
»Ich habe diese Entscheidung getroffen, Bronso, aus Güte und als Belohnung für deinen Mut. Die anderen werden es als die Tat einer erzürnten Mutter sehen. Nicht einmal Alia würde es wagen, mich dafür zu bestrafen.« Sie hielt die Nadel nur Zentimeter von seinem Hals entfernt.
Obwohl Bronso offensichtlich keine Angst vor der Nadel hatte, schüttelte er den Kopf. »Ich danke Ihnen vom Grunde meines Herzens, aber das kann ich nicht zulassen – nicht nur Ihretwegen, sondern wegen meines eigenen Vermächtnisses. Denken Sie daran, dass ich bei den Jongleurs gearbeitet habe. Was wäre das denn für ein Finale – ein leiser und schmerzloser Tod, dem niemand außer Ihnen beiwohnt? Nein, ich bevorzuge es, meine Rolle bis zum Ende zu spielen. Lassen Sie mich diese Vorstellung beenden, damit das Publikum zufrieden ist. Das müssen Sie mir gestatten, Mylady – für die Atreides, für Paul.« Er schob ihre Hand weg, und sie ließ das Gom Jabbar sinken. »Geben Sie mir zumindest einen Moment der Würde und Geltung. Ich beschütze Pauls Vermächtnis so, wie ich ihn hätte beschützen sollen, als wir noch kleine Jungen waren. Indem ich dieses Versprechen halte, ehre ich nicht nur ihn, sondern auch meinen Vater.«
Jessica hatte damit gerechnet, dass er ihr Angebot ablehnen würde. »Dann nimm die einzige Annehmlichkeit, die ich dir anbieten kann.« Sie ließ die tödliche Nadel in den Falten ihres Gewandes verschwinden und holte ein kleines Fläschchen hervor. »Ich habe Wasser mitgebracht.«
In absolutem Vertrauen leerte er die Flasche und seufzte. »Nach dem morgigen Tag werde ich das nicht mehr brauchen. Aber danke.«
Als er einen Moment lang nicht achtgab, umarmte sie ihn. »Ich bin dir dankbar, Bronso. Und es tut mir leid.« Dabei streifte sie seinen Nacken mit einer anderen Nadel und ließ nicht mehr als die Spur einer wirkungsvollen Chemikalie eindringen – ein anderes der neuen ixianischen Spielzeuge, die die Technokraten Alia vermacht hatten, um sie zu beeindrucken. Bronso bemerkte es nicht einmal. Als sie sich voneinander lösten, dachte sie: Ich habe alles für dich getan, was ich tun konnte. Paul hat einen guten und loyalen Freund in dir und einen echten imperialen Patrioten.
Dann sagte Bronso: »Bevor Sie gehen, schlagen Sie mir fest ins Gesicht. Um den Schein zu wahren.«
Sie verbarg das ixianische Gerät unter ihrem Gewand und schaltete das Abschirmfeld aus. Dann ließ sie ihre zornige Haltung wieder aufflammen. »Wachen!«
Die Tür flog auf, als würden die Amazonen damit rechnen, dass Jessica angegriffen wurde. Bevor sie die Zelle betreten konnten, holte Jessica mit der offenen Hand aus und schlug Bronso mit solcher Kraft ins Gesicht, dass er zur Seite geschleudert wurde. Er fasste sich mit der Hand an die schmerzende Wange.
Sie grinste Bronso höhnisch an, und ihre Worte waren für die Ohren der Zuschauer bestimmt: »Wenn du den Schmerz in der Todesdestille spürst, denk an mich. Ich habe diesem Gefangenen nichts weiter zu sagen.«