Dreizehn Jahre später
Ein Essay von Heinrich Böll
Dreizehn, ein Bäckerdutzend Jahre später, sind in Irland eineinhalb Jahrhunderte übersprungen und fünf weitere eingeholt worden, und es ist höchste Zeit für mich, mein Dossier über Irland abzuschließen, schwebende Pläne, noch einmal über Irland zu schreiben, weit in die Zukunft zu schieben, und die Notizen, die sich häufen, stillschweigend im Nähkörbchen verschwinden zu lassen; an einer der Notizen, die sich viermal vorfindet, kann ich gut feststellen, wie Irland sich verändert hat; es ist ein Zettel mit der Aufschrift: Die Hunde von Dukinella — es gibt einen Zettel dieses Titels aus dem Jahr 1958, drei weitere aus den Jahren 1960, 1963 und 1964, aber schon im Jahr 1965 brauchte ich diese Skizze nicht mehr niederzuschreiben, denn die Hunde von Dukinella tun nicht mehr, was sie bis 1964 einmal, oft mehrmals täglich getan haben, wenn ich mit dem Auto durchs Dorf an den Strand fuhr: sie laufen nicht mehr, gefährlich nahe an der Stoßstange, einander von Grundstück zu Grundstück ablösend, von Mauer zu Mauer ihr Gekläff wie Stafettenläufer weitergebend, neben dem Auto her; sie laufen neben keinem Auto mehr her, haben sich wohl an Autos gewöhnt, und vielleicht ist damit eine Menge über Irland gesagt. So habe ich die Hunde von Dukinella, weil ich ihren Eifer, ihr Temperament und ihre Intelligenz liebte, längst in eine Erzählung hineingeschmuggelt, die mit Irland gar nichts, mit Deutschland sehr viel zu tun hat. Es gibt da weitere beunruhigende Zettel, die immer wieder auftauchen: Die Leute im Settlement oder: Die Messe vor der Valley-Schule; das Nähkörbchen ist voll. Dreizehn Jahre später, in einem von zwei Jahrhunderten eingeholten und von fünf weiteren Jahrhunderten übersprungenen Irland käme ich nicht mehr auf die Idee, Indianer vom Himmel fallen zu lassen, und Limerick ist nicht mehr das Limerick von 1954. Gut. Es sind auch, zu meinem, aber nicht zum Bedauern der meisten Iren, die Nonnen aus den Zeitungen fast verschwunden; verschwunden ist noch mehr: die Sicherheitsnadeln und die Gerüche, die letzteren wieder zu meinem, nicht zum Bedauern der meisten Iren, denn ich habe nicht etwa, sondern bin ein guter Riecher, und eine geruchlose Welt gefällt mir weniger als eine, die noch Gerüche hatte. Und ein gewisses Etwas hat seinen Weg nach Irland angetreten, jenes ominöse Etwas, das man in der englischsprechenden Welt THE PILL nennt — und dieses Etwas lähmt mich vollends; die Aussicht, daß in Irland weniger Kinder geboren werden könnten, ist für mich niederschmetternd; ich weiß: ich habe gut reden, habe es leicht, mir viele davon zu wünschen; ich bin weder ihr Vater noch ihr Vater Staat und ich brauche nicht Abschied von ihnen zu nehmen, wenn viele von ihnen den Weg in die Emigration antreten. Nirgendwo in der Welt habe ich so viele und so hübsche und so freie Kinder gesehen, und die Aussicht, daß Ihrer Majestät THE PILL gelingen wird, was allen Majestäten Großbritanniens nicht gelang, die Anzahl der irischen Kinder zu verringern, erscheint mir keineswegs erfreulich.
In diesen dreizehn Jahren ist noch etwas viel Schlimmeres geschehen: ich habe viel über Irland gelesen, ich weiß also einiges, fast viel, und noch lange nicht genug; meine Unschuld ist dahin, und ich bin nicht schuldig, nicht wissend genug. Ich habe auch viel von Iren gelesen, und diese ganz und gar uneinheitliche Einheit Irland ist mir an seiner Literatur am deutlichsten geworden. Beckett, Joyce, Behan, sie sind alle drei so irisch, wie es gar nicht erlaubt sein dürfte, und doch sind sie weit voneinander entfernt, weiter als Australien und Europa. Es ist fast unmöglich, etwas über ein Land zu sagen, in dem ein so erstaunlicher Charakter wie Parnell gedeihen und verraten werden konnte, und auf welche Weise wurde er verraten; oder der Parlamentarier Biggar, der mir wie der eigentliche Erfinder des absurden Theaters vorkommt, er hielt das englische Parlament stunden-, tagelang durch das Ablesen sinnloser Texte auf; ein Land, in dem ein anderer, nicht weniger erstaunlicher Charakter gedieh: Michael Collins, »the laughing boy«, der wohl auch verraten wurde. Schließlich waren es irische Poeten, die anfingen und zu Ende führten, was rührend aussah, aber keineswegs rührend endete; es war verrückt, was sie machten, aber in seiner Verrücktheit realistischer als das, was jener schon ältliche Intellektuelle anfing, der Wladimir Iljitsch Uljanow hieß. Eineinhalb Jahre bevor Lenin die Reste eines Weltreiches übernahm, kratzten die irischen Poeten den ersten Stein aus dem Sockel jenes Weltreichs weg, das als unerschütterlich galt und seitdem schon lange nicht mehr ist. Auf dem Denkmal einer dieser Poeten, Thomas Kettle, steht:
Starb nicht für Fahne, nicht für Kaiser oder
König, Starb für den Traum, geträumt in einer
Hirtenhütte. Und das verborgene Evangelium der Armen.
Ich habe viel über Irland gelesen, viel erfahren, das wichtigste Faktum scheint mir eines zu sein, das von Beobachtungssatelliten festgestellt worden, »wissenschaftlich« also »objektiv« nachgewiesen ist: daß die Iren näher am Himmel wohnen als die übrigen Europäer, und zwar ziemlich genau vierzig Meter. Das mag unsere so geduldige wie gestrenge Mutter Kirche ein wenig trösten, wenn unaufhaltsam, unaufhaltsam die Diskussion über Ihre weiße Majestät THE PILL bis in die letzte irische Provinzzeitung vordringt, während die Nonnen (besonders die Vier-bis-sieben Geschwister-Nonnen) aus den Zeitungen verschwinden. Unweigerlich näherte sich die weiße Majestät nicht nur den unvergleichlichen Stranden des grünen Erin, sie dringt bis in die letzte Cottage im Moor vor, weit, weit in den Westen, wo Connaught beginnt, die Esel, von Liebe verzehrt, einander gute Nacht zubrüllen.
Ich fuhr mit dem Auto quer durch Irland, von Dublin westwärts bis dorthin, wo die grünen Wogen auf einsame Strande schlagen, an jenem Tag, an dem der gute Papst Johannes im Sterben lag; mein Autoradio war kaputt, und so fragte ich unterwegs an Tankstellen, in Teestuben, an Zeitungs- und Zigarettenkiosken, auch dort, wo es das wunderbare irische Eis gibt (ein irischer Weltrekord, den ich wahrscheinlich übersah: den im Eisessen), und ich stellte fest: Irland war auf dem laufenden. Ich glaube, nirgendwo in der Welt sind die Bulletins so begierig, so erwartungsvoll mitgehört worden. Kurz vor Castlebar, in einer einsamen Kneipe am Wegesrand, abends gegen neun, wollte ich mich durch jenen Wundertrank stärken, der an den Ufern des Liffey gebraut wird, und als ich in die Kneipe kam, brauchte ich erst gar nicht nach dem Befinden des Papstes zu fragen. Die Tränen der bierzapfenden Wirtin, die Mienen der schweigend trinkenden Männer; ich wußte, daß diese weiße Majestät gestorben war. Noch einmal: unsere allgütige Mutter, die Kirche, braucht sich, glaube ich, nicht zu viele Sorgen zu machen um jenes Land, das ja eigentlich ihre älteste, ihre treueste Tochter ist, und immer noch treu, gallisch wie die eine, die den Titel hartnäckig für sich beansprucht und gar nicht mehr so treu ist.
Es könnte in Deutschland (wo ja fast alles mißverstanden wird, weil die armen Deutschen so gar kein Selbstverständnis haben) mißverstanden werden oder als unlogisch erscheinen, daß diese treueste Tochter der Kirche das klassische Land der Streiks ist: die ausgefallensten Berufsgruppen — etwa Bankbeamte — kommen plötzlich auf die großartige Idee, durch Streik ihre Gehaltsforderungen durchzusetzen, und sie tun es mit jener Hartnäckigkeit, die dieselbe ist, die der irischen Revolution letzten Endes zum Sieg verhalf. Es ist schon ein verrückter Zustand, wenn in einem modernen Land mit moderner Geldwirtschaft Schecks für Wochen, Monate nur noch auf Treu und Glauben genommen werden können; wenn die einen — etwa Warenhäuser — zuviel Bargeld haben, das abends nicht mehr in die sicheren Banksafes gebracht werden kann; anderen etwa Autohändlern, die mit Bargeld arbeiten — das Bargeld auszugehen droht; es ist schon verrückt, wenn eine vollkommen moderne Geldwirtschaft sich plötzlich in eine Tauschhandels- und »Vertrau-mir-doch-Landsmann«-Situation versetzt, und es gehört zu den unlogischen Verrücktheiten, daß in einer geldwirtschaftlich so absurden Situation das sogenannte Geschäftsleben keineswegs zusammenbricht; Logiker mitteleuropäischer Prägung würden in weiser Voraussicht eine Katastrophe anmelden, die in Irland nicht eintrat; die Sache wird dann komisch, wenn — der Streik dauerte lange und brach, wie die meisten Streiks in Irland, gerade in der Reisesaison aus — dann plötzlich die Scheckbücher ausgehen, Reiseschecks nicht mehr zur Bank gebracht wurden; aber merkwürdigerweise »brach« da gar nichts »zusammen«, es entstand eine Art heiteren Nationalsports daraus, der den streikenden Bankbeamten den Rücken stärkte. Ein überwiegend katholisches Land also, in dem die Streiks gedeihen wie anderswo der Gehorsam. Jemand — aber das war bei der dritten pint — prophezeite mir für eins der kommenden Jahre einen Priester- und Nonnenstreik.
Was mich am meisten hindert, über Irland irgend etwas »korrigierend« oder »ergänzend« zu schreiben: ich mag es zu sehr, und es ist nicht gut für einen Autor, über einen Gegenstand zu schreiben, den er zu sehr mag. Natürlich: es hat sich wirklich vieles verändert, und es sieht fast so aus, als hätten wir in den Jahren 1954 und 1955 Irland in jenem historischen Augenblick erwischt, wo es gerade anfing, eineinhalb Jahrhunderte zu überspringen und sich von fünf weiteren einholen zu lassen. Vielleicht kann ich mir aus der Klemme helfen, indem ich wenigstens eine Weglassung bekenne: daß es da ein weiteres Wort gibt, das Irland der Welt geschenkt hat: das Wort »lynchen«. Lob und Preis wäre zu spenden den irischen Frauen, die so hübsche Kinder zur Welt bringen; den irischen Zigeunern, den Fuchsienhecken — diese drei so sentimentalen wie freundlichen Rosenblätter will ich gern aus meinem Nähkörbchen herausholen und meine Schwäche für sie bekennen. Zum Schluß schließlich muß ich noch einen Eisenbahnschaffner aus einem Pilgerzug erwähnen, dem wir viel verdanken. Es gibt in der englischsprechenden Welt ein Zauberwort, das einem sofortige und jegliche Hilfe garantiert: »stranded family«, und an diesem Sonntag befanden wir uns in diesem glückseligen Zustand, als mir plötzlich die Autobremsen total, total versagten, genau in dem Augenblick, als ich bergabwärts auf eine strahlende, lachende, muntere Horde von Jungen und Mädchen zufuhr, die zu einem Eselsrennen unterwegs waren; mit kindlicher Heiterkeit (wie hätten sie ahnen können, daß meine Bremsen hinüber waren!) liefen sie mir regelrecht ins Auto hinein, winkend und schreiend — und es blieb mir nichts anderes übrig, als gegen die nächstbeste irische Mauer und das Auto zu Bruch zu fahren, nachdem ich die »family«, die im nächsten Augenblick eine »stranded family« war, aufgefordert hatte, Deckung zu nehmen. Nun fahren aber in diesem merkwürdigen Land, das nicht nur ein Gefühl für Streik, auch offenbar eins für SABBATH hat, sonntags weder Züge noch Busse, und es blieb mir gar nichts anderes übrig, als dem Rat eines Passanten zu folgen und den Bahnhofsvorsteher von Claremorris um Plätze in einem der Pilgerzüge (denn die fahren natürlich!) zu bitten. Wir bekamen die Plätze, wurden mitsamt dem Gepäck in den Speisewagen komplimentiert, und so hörten wir bis Dublin durch den Lautsprecher eine Menge Rosenkränze, Betrachtungen, Predigten, Lieder; aber das war nicht so ungewöhnlich, ungewöhnlich war auch nicht die Tatsache, daß es mir gelang, dem Speisewagenkellner einige Fläschchen Whiskey abzuschwatzen (wir hatten ihn wirklich verdient: man fährt nicht jeden Tag freiwillig gegen eine Mauer!); ungewöhnlich waren die Fähigkeiten des Schaffners, der das Fahrgeld bei uns kassierte; er übte vier Tätigkeiten gleichzeitig aus: er bekreuzigte sich (im Zusammenhang mit dem Rosenkranzgebet), las in einer Zeitung, rauchte und kassierte Geld, alles gleichzeitig.
Wahrscheinlich gibt es für einen, der Ire ist und schreibt, viel Ärgerliches in diesem Land, aber ich bin kein Ire, und ich habe Ärger genug mit dem Land, über das und in dessen Sprache ich schreibe, und auch der katholische Ärger in dem Land, dessen Sprache ich schreibe, genügt mir.
(1967)