13 Wenn Seamus einen trinken will...

Wenn Seamus (sprich Schämes) einen trinken will, muß er sich wohl überlegen, für wann er sich seinen Durst bestellt: solange die Fremden im Ort sind (und es sind deren nicht in allen Orten), kann er seinem Durst einige Freiheit lassen, denn die Fremden dürfen trinken, wann immer ihnen Durst kommt, und so kann auch der Einheimische sich getrost zwischen sie an die Theke stellen, zumal er ja ein folkloristisches, den Fremdenverkehr förderndes Element ist. Nach dem 1. September aber muß Seamus seinen Durst regulieren. Die Polizeistunde ist werktags um 22 Uhr, das ist schon bitter genug, denn an warmen, trockenen Septembertagen arbeitet Seamus oft bis halb zehn, manchmal länger. Sonntags aber muß er sich zwingen, entweder bis nachmittags zwei Uhr oder zwischen sechs und acht Uhr abends durstig zu sein. Hat das Mittagessen lange gedauert, kommt der Durst erst nach zwei Uhr, so wird Seamus seine Stammkneipe geschlossen finden, den Wirt, auch wenn es ihm gelingt, ihn herauszuklopfen, sehr sorry finden und nicht im geringsten geneigt, für ein Glas Bier oder einen Whiskey fünf Pfund Geldstrafe, eine Fahrt in die Provinzhauptstadt, einen verlorenen Arbeitstag zu riskieren. Sonntags zwischen zwei und sechs haben die Kneipen zu schließen, und des Ortspolizisten ist man nie ganz sicher; es gibt ja Leute, die sonntags nach einem schweren Mittagessen Anfälle von Korrektheit bekommen und sich an Gesetzestreue besaufen. Aber auch Seamus hat ein schweres Mittagessen gehabt, und seine Sehnsucht nach einem Glas Bier ist keineswegs unverständlich, noch weniger sündhaft.

So steht Seamus fünf Minuten nach zwei auf dem Dorfplatz und überlegt. Das verbotene Bier schmeckt in der Erinnerung seiner durstigen Kehle natürlich besser, als leicht erhältliches Bier schmecken würde. Seamus denkt nach: es gibt einen Ausweg, er könnte sein Fahrrad aus dem Schuppen holen, die sechs Meilen zum Nachbardorf strampeln, denn der Wirt im Nachbardorf muß ihm geben, was ihm der heimatliche Wirt verweigern muß: sein Bier. Dieses abstruse Trinkgesetz hat die zusätzliche Floskel, daß dem Reisenden, der mindestens drei Meilen von seinem Heimatdorf entfernt ist, der kühle Trunk nicht zu verweigern sei. Seamus überlegt immer noch: die geographische Situation ist für ihn ungünstig — man kann sich den Ort, an dem man geboren wird, leider nicht aussuchen — , und Seamus hat das Pech, daß die nächste Kneipe nicht genau drei, sondern sechs Meilen weg ist — ein für einen Iren außergewöhnliches Pech, denn sechs Meilen ohne Kneipe sind eine Seltenheit. Sechs Meilen hin, sechs Meilen zurück — zwölf Meilen, mehr als achtzehn Kilometer für ein Glas Bier, und außerdem geht es noch ein Stück bergauf. Seamus ist kein Säufer, sonst würde er gar nicht so lange überlegen, sondern längst auf dem Fahrrad sitzen und lustig mit den Schillingmünzen in seiner Tasche klimpern. Er will ja nur ein Bier trinken: der Schinken war so scharf gesalzen, so pfefferig der Kohl — und steht es etwa einem Manne an, seinen Durst mit Brunnenwasser oder Buttermilch zu löschen? Er betrachtet das Plakat, das über der Stammkneipe hängt: ein riesiges, naturalistisch gemaltes Glas Bier, lakritzig dunkel und so frisch der bittere Trank und darüber der weiße, schneeweiße Schaum, der von einem durstigen Seehund aufgeleckt wird. A lovely day for a Guinness! O Tantalus! Soviel Salz im Schinken, soviel Pfeffer im Kohl.

Fluchend geht Seamus ins Haus zurück, holt das Fahrrad aus dem Schuppen, trampelt zornig drauflos. O Tantalus — und die Wirkung geschickter Reklame! Es ist heiß, sehr heiß, der Berg ist steil, Seamus muß absteigen, das Fahrrad schieben, er schwitzt und flucht: seine Flüche bewegen sich nicht in der sexuellen Sphäre wie die Flüche weintrinkender Völker, seine Flüche sind Spirituosentrinkerflüche, gotteslästerlicher und geistiger als die sexuellen Flüche, denn immerhin: in Spirituosen steckt Spiritus: er flucht auf die Regierung, flucht wahrscheinlich auch auf den Klerus, der dieses unverständliche Gesetz hartnäckig hält (wie der Klerus in Irland auch bei der Vergebung von Kneipenlizenzen, bei der Festlegung der Polizeistunde, bei Tanzvergnügen das entscheidende Wort spricht), dieser schwitzende durstige Seamus, der vor wenigen Stunden so ergeben und offensichtlich fromm in der Kirche gestanden und das Sonntagsevangelium gehört hat.

Endlich erreicht er die Höhe des Berges: hier spielt nun der Sketch, den ich gerne schreiben möchte, denn hier begegnet Seamus seinem Vetter Dermot aus dem Nachbardorf. Dermot hat auch gesalzenen Schinken, gepfefferten Kohl gegessen, auch Dermot ist kein Trinker, nur ein Glas Bier will er gegen seinen Durst; auch er hat — im Nachbardorf — vor dem Plakat mit dem naturalistisch gemalten Glas Bier, dem genießerischen Seehund gestanden, auch er hat überlegt, hat schließlich das Fahrrad aus dem Schuppen geholt, es den Berg hinaufgeschoben, geflucht, geschwitzt — nun begegnet er Seamus: ihr Dialog ist knapp, aber gotteslästerlich dann saust Seamus den Berg hinunter auf Dermots Stammkneipe, Dermot auf Seamus’ Stammkneipe zu, und sie werden beide tun, was sie nicht vorhatten: sie werden sich sinnlos besaufen, denn für ein Glas Bier, für einen Whiskey diesen Weg zu machen, das würde sich nicht lohnen. Irgendwann an diesem Sonntag werden sie taumelnd und singend ihre Fahrräder den Berg wieder hinauf schieben, werden in halsbrecherischer Kühnheit den Berg hinuntersausen. Sie, die gar keine Säufer sind — oder sollten sie doch welche sein? — , werden Säufer sein, bevor es Abend geworden ist.

Vielleicht aber entschließt sich Seamus, der nach zwei Uhr durstig auf dem Dorfplatz steht und den schleckenden Seehund betrachtet, zu warten, das Fahrrad nicht aus dem Schuppen zu holen; vielleicht entschließt er sich, seinen Durst — o welche Erniedrigung für einen rechten Mann! — mit Wasser oder Buttermilch zu löschen, sich mit der Sonntagszeitung aufs Bett zu hauen. In der drückenden Nachmittagshitze und Stille wird er eindösen, wird plötzlich erwachen, auf die Uhr blicken und voller Entsetzen — als sei der Teufel hinter ihm her — in die Kneipe gegenüber stürzen, denn es ist Viertel vor acht geworden, und sein Durst hat nur noch eine Viertelstunde Zeit. Schon hat der Wirt angefangen, stereotyp zur rufen: »Ready now, please! Ready now, please! — Schluß jetzt, bitte! Schluß jetzt, bitte Hastig und zornig, immer mit dem Blick auf die Uhr, wird Seamus drei, vier, fünf Glas Bier hinunterstürzen, etliche Whiskeys hinterherkippen, denn der Uhrzeiger rutscht immer näher auf die Acht zu, und schon hat der Posten, der draußen vor der Tür steht, berichtet, daß der Dorfpolizist langsam heranschlendert: es gibt ja so Leute, die sonntags nachmittags Anfälle von schlechter Laune und Gesetzestreue haben.

Wer sonntags kurz vor acht in einer Kneipe plötzlich vom »Schluß jetzt, bitte!« des Wirts überrascht wird, der kann sie alle hereinstürzen sehen, alle, die keine Säufer sind, denen aber plötzlich eingefallen ist, daß die Kneipe bald schließt und daß sie noch gar nicht getan haben, wozu sie möglicherweise gar keine Lust hätten, wenn es diese verrückte Bestimmung nicht gäbe: daß sie sich noch nicht betrunken haben. Fünf Minuten vor acht wird der Andrang dann enorm: alle saufen gegen den Durst, der vielleicht um zehn, um elf noch kommen kann, vielleicht aber auch nicht. Außerdem fühlt man sich verpflichtet, ein bißchen zu spendieren: da ruft der Wirt verzweifelt seine Frau, seine Nichten, Enkel, Großmutter, Urahne und Tante zur Hilfe herbei, weil er drei Minuten vor acht noch sieben Lokalrunden verzapfen muß: sechzig halbe Liter Bier, ebenso viele Whiskeys müssen noch ausgeschenkt, müssen noch getrunken werden. Diese Trinkfreudigkeit, diese Spendierfreudigkeit hat etwas Kindisches, hat etwas vom heimlichen Zigarettenrauchen derer, die sich ebenso heimlich, wie sie rauchen, erbrechen — und das Ende, wenn der Polizist Punkt acht an der Tür sichtbar wird, das Ende ist reine Barbarei: da stehen blasse, verbitterte Siebzehnjährige versteckt irgendwo im Kuhstall und schütten Bier und Whiskey in sich hinein, erfüllen die sinnlosen Spielregeln des Männerbundes, und der Wirt, der Wirt kassiert: Haufen von Pfundscheinen, klimperndes Silber, Geld, Geld — das Gesetz aber ist erfüllt.

Der Sonntag ist jedoch noch lange nicht zu Ende: es ist Punkt acht — früh noch, und der Sketch, der nachmittags um zwei mit Seamus und Dermot gespielt wurde, kann jetzt mit beliebig großer Besetzung wiederholt werden: abends gegen Viertel nach acht, oben auf dem Berg: zwei Gruppen Betrunkener begegnen sich:

um das Gesetz mit der Drei-Meilen-Bestimmung zu erfüllen, wechseln sie nur die Dörfer, nur die Kneipen. Viele Flüche steigen am Sonntag zum Himmel in diesem frommen Land, das zwar katholisch ist, aber nie von einem römischen Söldner betreten wurde: ein Stück katholisches Europa außerhalb der Grenzen des römischen Reiches.