6 Ambulanter politischer Zahnarzt
»Sag mir einmal ganz offen«, sagte Padraic nach dem fünften Glas Bier zu mir, »ob du nicht alle Iren für halbverrückt hältst?«
»Nein«, sagte ich, »ich halte nur die Hälfte aller Iren für halbverrückt.«
»Du hättest Diplomat werden sollen«, sagte Padraic und bestellte das sechste Glas Bier, »aber nun sag mir einmal wirklich offen, ob du uns für ein glückliches Volk hältst.«
»Ich glaube«, sagte ich, »daß ihr glücklicher seid, als ihr wißt. Und wenn ihr wüßtet, wie glücklich ihr seid, würdet ihr schon einen Grund finden, unglücklich zu sein. Ihr habt viele Gründe, unglücklich zu sein, aber ihr liebt auch die Poesie des Unglücks — auf dein Wohl.«
Wir tranken, und erst nach dem sechsten Glas Bier fand Padraic den Mut, mich zu fragen, was er mich schon so lange hatte fragen wollen.
»Sag mal«, sagte er leise, »Hitler — war — glaube ich kein so schlechter Mann, nur ging er — so glaube ich ein wenig zu weit.« Meine Frau nickte mir ermutigend zu:
»Los«, sagte sie leise auf deutsch, »nicht müde werden, zieh ihm den Zahn ganz.«
»Ich bin kein Zahnarzt«, sagte ich leise zu meiner Frau, »und ich habe keine Lust mehr, abends in die Bar zu gehen: immer muß ich Zähne ziehen, immer dieselben, ich habe das satt.«
»Es lohnt sich«, sagte meine Frau.
»Hör gut zu, Padraic«, sagte ich freundlich, »wir wissen genau, wie weit Hitler ging, er ging über die Leichen vieler Millionen Juden, Kinder...«
Padraics Gesicht zuckte schmerzlich. Er hatte das siebte Bier kommen lassen und sagte traurig: »Schade, daß auch du dich von der englischen Propaganda hast betören lassen, schade.«
Ich ließ das Bier unberührt: »Komm«, sagte ich, »laß dir den Zahn ziehen; vielleicht tut’s ein bißchen weh, aber es muß sein. Danach erst wirst du ein wirklich netter Kerl sein; laß dein Gebiß berichtigen, ich komme mir sowieso schon wie ein ambulanter Zahnarzt vor.«
»Mach voran«, sagte meine Frau, »red nicht so viel drumherum.«
»Hitler war«, sagte ich, und ich sagte alles; ich war schon geübt, schon ein geschickter Zahnarzt, und wenn einem der Patient sympathisch ist, macht man es noch vorsichtiger, als wenn man aus bloßer Routine, aus nacktem Pflichtgefühl arbeitet. Hitler war, Hitler tat, Hitler sagte... — immer schmerzlicher zuckte Pads Gesicht, aber ich hatte Whiskey bestellt, ich trank Pad zu, er schluckte, gurgelte ein wenig.
»Hat es sehr weh getan?« fragte ich vorsichtig.
»Ja«, sagte er, »das tut weh, und es wird ein paar Tage dauern, ehe der ganze Eiter raus ist.«
»Vergiß nicht nachzuspülen, und wenn du Schmerzen hast, komm zu mir, du weißt, wo ich wohne.«
»Ich weiß, wo du wohnst«, sagte Pad, »und ich werde bestimmt kommen, denn ich werde bestimmt Schmerzen haben.«
»Trotzdem«, sagte ich, »ist es gut, daß er raus ist.«
Padraic schwieg. »Trinken wir noch einen?« fragte er traurig.
»Ja«, sagte ich, »Hitler war...«
»Hör auf«, sagte Padraic, »hör bitte auf, der Nerv liegt ganz bloß.«
»Schön«, sagte ich, »dann wird er bald tot sein, trinken wir also noch einen.«
»Bist du denn nie traurig, wenn dir ein Zahn gezogen worden ist?« fragte Padraic müde.
»Im ersten Augenblick ja«, sagte ich, »aber nachher bin ich froh, wenn’s nicht mehr eitert.«
»Es ist nur so dumm«, sagte Padraic, »weil ich jetzt gar nicht mehr weiß, warum ich die Deutschen so gern habe.«
»Du mußt sie«, sagte ich leise, »nicht wegen, sondern trotz Hitler gern haben. Nichts ist peinlicher, als wenn jemand seine Sympathie für dich aus Quellen speist, die dir verdächtig sind; wenn dein Großvater ein Einbrecher war, und du lernst jemand kennen, der dich furchtbar nett findet, weil dein Großvater ein Einbrecher war, so ist das peinlich; andere wieder finden dich nett, weil du kein Einbrecher bist, aber du möchtest, daß sie dich nett fänden, auch wenn du ein Einbrecher wärst.«
Das achte Glas Bier kam: Henry hatte es kommen lassen, ein Engländer, der hier jedes Jahr seinen Urlaub verbrachte.
Er setzte sich zu uns und schüttelte resigniert den Kopf: »Ich weiß nicht«, sagte er, »warum ich jedes Jahr wieder nach Irland fahre; ich weiß nicht, wie oft ich es ihnen schon gesagt habe, daß ich weder Pembroke noch Cromwell je gemocht habe noch verwandt mit ihnen bin, daß ich nichts bin als ein Londoner Büroangestellter, der vierzehn Tage Urlaub hat und an die See fahren will: ich weiß nicht, warum ich den weiten Weg von London hierher jedes Jahr mache, um mir erzählen zu lassen, wie nett ich bin, wie schrecklich aber die Engländer sind: es ist so ermüdend. Über Hitler«, sagte Henry...
»Bitte«, sagte Padraic, »sprich nicht von dem: ich kann den Namen nicht mehr hören. Jetzt jedenfalls nicht, vielleicht später wieder...«
»Gut«, sagte Henry zu mir, »du scheinst gut gearbeitet zu haben.«
»Man hat so seinen Ehrgeiz«, sagte ich bescheiden, »und ich bin nun mal dran gewöhnt, jeden Abend irgend jemand einen bestimmten Zahn zu ziehen: ich weiß schon genau, wo er sitzt; ich kenne mich allmählich aus in der politischen Dentologie, und ich mache es gründlich und ohne Betäubungsmittel.«
»Weiß Gott«, sagte Padraic, »aber sind wir nicht trotz allem reizende Leute?«
»Das seid ihr«, sagten wir alle drei, wie aus einem Mund: meine Frau, Henry und ich, »ihr seid wirklich reizend, aber ihr wißt es auch ganz genau.«
»Trinken wir noch einen«, sagte Padraic, »als Nachtmütze!«
»Und einen für den Weg!«
»Und einen für die Katz«, sagte ich.
»Und einen für den Hund!«
Wir tranken, und immer noch standen die Uhrzeiger, wie sie schon seit drei Wochen standen: auf halb elf. Und sie würden noch vier Monate lang auf halb elf stehen. Halb elf ist die Polizeistunde für ländliche Kneipen in der Sommerzeit, aber die Touristen, die Fremden liberalisieren die starre Zeit. Wenn der Sommer kommt, suchen die Wirte ihren Schraubenzieher, ein paar Schrauben und fixieren die beiden Zeiger; manche auch kaufen sich Spielzeuguhren mit hölzernen Zeigern, die man festnageln kann. So steht die Zeit still, und Ströme dunklen Biers fließen den ganzen Sommer hindurch, Tag und Nacht, während die Polizisten den Schlaf der Gerechten schlafen.