3 Bete für die Seele des Michael O’Neill

An Swifts Grab hatte ich mir das Herz erkältet, so sauber war St. Patrick’s Cathedral, so menschenleer und so voll patriotischer Marmorfiguren, so tief unter dem kalten Gestein schien der desperate Dean zu liegen, neben ihm Stella: zwei quadratische Messingplatten, blank geputzt wie von deutscher Hausfrauenhand: die größere für Swift, die kleinere für Stella: Disteln hätte ich haben mögen, hart, groß, langstielig, ein paar Kleeblätter, und noch ein paar dornenlose, milde Blüten, Jasmin vielleicht oder Geißblatt: das wäre der rechte Gruß für die beiden gewesen, aber meine Hände

waren so leer wie die Kirche, so kalt und so sauber. Regimentsfahnen hingen nebeneinander, halbgesenkt: rochen sie wirklich nach Pulver? Sie sahen so aus, als röchen sie danach, aber es roch nur nach Moder, wie in allen Kirchen, in denen seit Jahrhunderten kein Weihrauch mehr verbrannt wird; es war mir, als würde mit Eisnadeln auf mich geschossen, ich floh, entdeckte erst am Eingang, daß doch ein Mensch in der Kirche war: die Putzfrau, die mit Lauge den Eingang aufwusch, sie machte sauber, was sauber genug war.

Vor der Kathedrale stand ein irischer Bettler, der erste, dem ich begegnete; nur in südlichen Ländern gibt es sonst solche Bettler, aber im Süden scheint die Sonne: hier, nördlich des 53. Breitengrades, ist Zerlumptheit, Zerrissenheit etwas anderes als südlich des 30. Breitengrades; Regen fällt über die Armut, und Schmutz könnte hier selbst von einem unverbesserlichen Ästheten nicht mehr als malerisch empfunden werden; das Elend hockt hier in den Slums um St. Patrick herum, in manchen Winkeln, manchen Häusern noch so, wie Swift es 1743 gesehen haben mag.

Dem Bettler hingen beide Rockärmel leer vom Körper: schmutzig waren diese Hüllen für Glieder, die er nicht mehr hatte; epileptisches Zucken fuhr ihm gewitterig übers Gesicht, und doch war sein schmales, dunkles Gesicht von einer Schönheit, die in einem anderen als meinem Notizbuch aufgezeichnet werden wird; die Zigarette mußte ich ihm angezündet zwischen die Lippen, Geld ihm in die Rocktasche stecken: es schien mir fast, als statte ich einen Leichnam mit Geld aus. Dunkelheit hing über Dublin: alles, was es zwischen Schwarz und Weiß an grauen Tönen gibt, hatte sich am Himmel sein eigenes Wölkchen ausgesucht, der Himmel war bedeckt wie mit einem Gefieder unzähliger Graus: kein Streifen, kein Fetzchen vom irischen Grün; langsam, zuckend wechselte unter diesem Himmel der Bettler aus St. Patrick’s Park in die Slums hinüber.

In den Slums liegt an manchen Stellen der Schmutz in schwarzen Flocken auf den Fensterscheiben, als sei er absichtlich dagegengeworfen worden, aus Kaminen, aus Kanälen gefischt; aber absichtlich geschieht hier so leicht nichts, und von selbst nicht viel: Trunk geschieht hier, Liebe, Gebet und Fluch, Gott wird heftig geliebt und gewiß ebenso heftig gehaßt.

In den dunklen Hinterhöfen, die Swifts Auge noch gesehen hat, haben Jahrzehnte und Jahrhunderte diesen Schmutz abgelagert: das bedrückende Sediment der Zeit. In den Schaufenstern der Trödler lag wilder bunter Kitsch, und endlich fand ich eins meiner Reiseziele: die Einzelsäuferkoje mit dem Ledervorhang: in diese sperrt sich der Trinkende selbst ein wie ein Pferd; um mit Whiskey und Schmerz allein zu sein, mit Glauben und Unglauben, versenkt er sich tief unter die Zeit, in den Caisson der Passivität, solange das Geld reicht; bis er gezwungen ist, wieder an die Oberfläche der Zeit zu tauchen, an den müden Paddelbewegungen irgendwie sich zu beteiligen, sinnlose und hilflose Bewegungen, da doch jedes Boot unweigerlich auf die dunklen Wasser des Styx zutreibt. Kein Wunder, daß für die Frauen, die Tätigen dieser Erde, in diesen Kneipen kein Platz ist: hier ist der Mann allein mit seinem Whiskey, weit entfernt von all den Unternehmungen, auf die er sich notgedrungen eingelassen hat, Unternehmungen, die den Namen Familie, Beruf, Ehre, Gesellschaft tragen: bitter ist der Whiskey, wohltuend, und irgendwo westlich, 4000 Kilometer Wasser bis dahin, und irgendwo östlich, zwei Meere zu überqueren bis dahin — gibt es solche, die an Tätigkeit und Fortschritt glauben. Ja, es gibt sie; so bitter ist der Whiskey, wohltuend; der bullige Wirt reicht das nächste Glas in die Koje hinein. Nüchtern sind seine Augen, blau: er glaubt an das, woran die, die ihn reich machen, nicht glauben. Im Holzwerk der Kneipe, in Täfelung, Wandung der Einzelsäuferkoje, sitzen Witze und Flüche, Hoffnungen und Gebete der anderen; wie viele mögen es sein?

Schon ist zu spüren, wie sich der Caisson — die Einzelsäuferkoje — immer tiefer auf den dunklen Grund der Zeit senkt: vorbei an Wracks und Fischen, aber auch hier unten gibt es keine Ruhe mehr, seit die Tiefseetaucher ihre Geräte entwickelt haben. Auftauchen also, Luft holen, und wieder einsteigen in die Unternehmungen, die Ehre, Beruf, Familie, Gesellschaft heißen, bevor der Caisson von den Tiefseetauchern angebohrt wird. »Wieviel?« Geldmünzen, viele, in die harten, blauen Augen des Wirtes geworfen.

Immer noch war der Himmel mit der Vielfalt der Graus gefiedert, keines von den unzähligen irischen Grüns zu sehen, als ich auf die andere Kirche zuging. Nur wenig Zeit war vergangen: im Kircheneingang stand der Bettler, und die Zigarette, die ich ihm in den Mund gesteckt hatte, wurde ihm gerade von Schuljungen aus dem Mund genommen, sorgfältig geköpft, damit kein Krümelchen Tabak verlorenging, der Rest wurde vorsichtig in die Rocktasche des Bettlers gesteckt, die Mütze wurde ihm abgenommen — wer wird, auch wenn er beide Arme verloren hat, mit der Mütze auf dem Kopf das Haus Gottes betreten? — , die Tür wurde ihm aufgehalten, schwer klatschten die leeren Rockärmel gegen den Türrahmen: naß waren sie und schmutzig, als habe er sie durch die Gosse geschleift, aber da drinnen fragt niemand nach Schmutz.

So leer, so sauber und so schön war St. Patrick’s Cathedral; voller Menschen, voller Kitsch war diese Kirche, und sie war nicht gerade schmutzig, aber schusselig: so sehen in kinderreichen Familien die Wohnzimmer aus. Einige Leute — ich hörte, einer davon sei ein Deutscher, der so die Segnungen deutscher Kultur über Irland ausbreitet — müssen in Irland viel Geld an Gipsfiguren verdienen, aber der Zorn gegen den Kitschfabrikanten wird schwach denen gegenüber, die vor seinen Erzeugnissen beten; je bunter, desto besser; je kitschiger, desto besser; möglichst »wie das Leben selbst« (Vorsicht, Beter: denn das Leben ist nicht »wie das Leben selbst«).

Eine dunkelhaarige Schönheit mit dem Trotz eines beleidigten Engels im Gesicht betet vor der Statue der heiligen Magdalena; grün ist die Blässe dieses Gesichts: aufgezeichnet werden diese Gedanken und Gebete in dem Buch, das ich nicht kenne. Schuljungen mit Hurlingschlägern unter dem Arm beten den Kreuzweg ab; Öllämpchen brennen in dunklen Winkeln vor dem Herzen Jesu, vor der little Flower, vor St. Antonius, Franziskus: hier wird Religion bis zur Neige ausgekostet; der Bettler sitzt in der letzten Bank und hält sein epileptisch zuckendes Gesicht in den Raum, in dem noch Weihrauchwolken hängen.

Neu und bemerkenswert sind als Errungenschaften der Devotionalienindustrie der Neon-Heiligenschein um Mariens Haupt und das phosphoreszierende Kreuz im Weihwasserbecken, das im Dämmer der Kirche rosig leuchtet. Wird wohl in dem Buch getrennt aufgezeichnet werden, wer hier vor Kitsch, wer in Italien vor Fra Angelicos Fresken gebetet hat?

Immer noch starrt die schwarzhaarige Schönheit mit grünblassem Gesicht auf Magdalena, immer noch zuckt das Gesicht des Bettlers: sein ganzer Körper ist vom Schütteln befallen, das Schütteln verursacht ein leises Klimpern der Münzen in seiner Tasche; die Jungen mit den Hurlingschlägern scheinen den Bettler zu kennen, scheinen auch das Zucken des Gesichts, das leise Lallen zu verstehen: einer von ihnen greift in des Bettlers Tasche, und auf der schmutzigen Jungenhand liegen vier Geldstücke: zwei Pennies, ein Sixpencestück und ein Threepencestück. Ein Penny und das Threepencestück bleiben auf der Jungenhand, der Rest klimpert in den Opferstock: hier liegen die Grenzen von Mathematik, Psychologie und Volkswirtschaft, die Grenzen aller mehr oder weniger exakten Wissenschaften liegen scharf übereinander im Zucken des epileptischen Bettlergesichts: eine zu schmale Basis, als daß ich mich ihr anvertrauen möchte. Aber immer noch sitzt mir die Kälte von Swifts Grab her im Herzen: Sauberkeit, Leere, Marmorfiguren, Regimentsfahnen, und die Frau, die säuberte, was sauber genug war; schön war St. Patrick’s Cathedral, häßlich ist diese Kirche, aber sie wird benutzt, und ich fand auf ihren Bänken, was ich auf vielen irischen Kirchenbänken fand: kleine Emailletafeln, die zu einem Gebet auffordern: Bete für die Seele des Michael O’Neill, der am 17.1.1933 60jährig starb. Bete für die Seele der Mary Keegan, die am 9. Mai 1945 achtzehnjährig starb; welch eine fromme und geschickte Erpressung: die Verstorbenen werden lebendig, ihr Sterbedatum verbindet sich für den, der das Täfelchen liest, mit seinem Erlebnis an diesem Tag, in diesem Monat, diesem Jahr. Mit zuckendem Gesicht wartete Hitler auf die Macht, als hier 60jährig Michael O’Neill starb; als Deutschland kapitulierte, starb achtzehnjährig Mary Keegan. Bete — so las ich — für Kevin Cassidy, der am 20.12.1930 dreizehnjährig starb, und es traf mich wie ein elektrischer Schlag, denn im Dezember 1930 war ich selbst dreizehn Jahre alt: in einer großen, dunklen Wohnung der Kölner Südstadt — herrschaftliches Mietshaus, so hätte man das 1908 noch genannt hockte ich mit dem Weihnachtszeugnis in der Hand; die Ferien hatten begonnen, und ich sah durch eine zerschlissene Stelle des zimtfarbenen Vorhangs auf die winterliche Straße hinunter.

Ich sah die Straße rötlich gefärbt, wie mit unechtem, mit Bühnenblut beschmiert: rot die Schneehaufen, rot den Himmel über der Stadt, und das Kreischen der Straßenbahn, wenn sie in die Schleife der Endstation einbog, auch dieses Kreischen hörte ich rot. Wenn ich aber das Gesicht durch den Schlitz zwischen den Vorhängen schob, sah ich es, wie es wirklich war: bräunlich die Ränder der Schneeinseln, schwarz den Asphalt, die Straßenbahn hatte eine Farbe, wie schlechtgepflegte Zähne sie haben, das Knirschen aber, wenn die Straßenbahn in die Schleife einbog, das Knirschen hörte ich hellgrün: hellgrün schoß es giftig ins blanke Geäst der Bäume auf.

An diesem Tag also starb in Dublin Kevin Cassidy, dreizehnjährig, so alt, wie ich damals war: hier wurde die Tumba aufgestellt, Dies irae, dies illa von der Orgelempore herunter gesungen, Kevins erschrockene Schulkameraden füllten die Bänke; Weihrauch, Kerzenhitze, silberne Troddeln am schwarzen Leichentuch, während ich mein Zeugnis zusammenfaltete, den Schlitten aus dem Spind holte, um rodeln zu gehen. Ich hatte in Latein eine Zwei, und Kevins Sarg wurde ins Grab gesenkt.

Später, als ich die Kirche verlassen hatte und durch die Straßen ging, ging Kevin Cassidy immer neben mir her: ich sah ihn lebend, so alt wie mich selbst, mich selbst für Sekunden als den siebenunddreißigjährigen Kevin: Vater von drei Kindern war er, wohnte in den Slums um St. Patrick herum; bitter war der Whiskey, kühl und teuer, aus Swifts Grab wurde mit Eis auf ihn geschossen: grünblaß war das Gesicht seiner dunkelhaarigen Frau, Schulden hatte er und ein Häuschen, wie es unzählige in London, Tausende in Dublin gibt, bescheiden, zweistöckig, arm; kleinbürgerlich, muffig, trostlos würde der unverbesserliche Ästhet sie nennen (aber Vorsicht, Ästhet: in einem von diesen Häusern wurde James Joyce geboren, im anderen Sean O’Casey).

So nah war Kevins Schatten, daß ich zwei Whiskey bestellte, als ich in die Einzelsäuferkoje zurückging; doch der Schatten hob das Glas nicht an den Mund, und so trank ich für Kevin Cassidy, der am 20.12.1930 dreizehnjährig starb — ich trank für ihn mit.