2 Natur wird
erlebt
Im zweiten Kapitel wird beschrieben, wie Natur in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen erlebt wird. Das Erleben umfasst sensorische, neurophysiologische, Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse. Man sieht nicht nur, dass die Landschaft hügelig ist, sondern sie wird zugleich als friedlich und erholsam empfunden. Andere Landschaften und manche Naturerscheinungen werden dagegen als bedrohlich und lebensfeindlich erlebt. Auch diese andere Seite von Natur wird im zweiten Kapitel näher betrachtet.
Natur wird individuell unterschiedlich erlebt. Die gleiche Landschaft erscheint den einen als paradiesisch schön und von üppiger Pracht, während die anderen darin eine wild wuchernde Wildnis sehen, die erst einmal in eine ordentliche Form zu bringen ist. Einer der Einflussfaktoren, von denen es abhängt, wie Natur wahrgenommen und bewertet wird, sind die Erfahrungen in der Kindheit.
Um das Naturerleben zu erfassen, wird meistens vom psychologischen Modell ausgegangen (vgl. Kapitel 1.4). Typisch sind Versuchsanordnungen, bei denen Bilder von Landschaften gezeigt werden, die auf mehrstufigen Skalen zu bewerten sind. Weil es leichter fällt, etwas zu beurteilen, wenn man vergleichen kann, werden häufig zwei Bildszenen dargeboten, wobei angegeben werden soll, welche von beiden bevorzugt wird. Ein indirekter Zugang zum Erleben sind Verhaltensbeobachtungen. So wird z. B. aus einer längeren Verweildauer oder dem häufigen Aufsuchen eines Orts auf dessen positive Bewertung geschlossen.
2.1 Die
bevorzugte und schöne Natur
Die positiv bewertete Natur
Natur ist der Ursprung alles Seins, Natur bedeutet Leben, Kraft und Schönheit. Es kann deshalb nicht verwundern, dass Assoziationen zum Wort «Natur» weit überwiegend positiv sind (Krömker, 2004). Die Bedeutung dieses positiven Naturerlebens liegt auf der Hand: Wenn man versteht, warum Natur positiv erlebt wird, kann man diese gezielt einsetzen, um wenig geschätzte Umwelten aufzuwerten und um die mit Natur verbundenen Vorteile zu nutzen. Dementsprechend sind Wohnungsunternehmen, Baubranche und Immobilienmarkt daran interessiert, Natur Gewinn bringend einzusetzen.
Dass gezeigte Bilder von gebauten Umwelten mit Natur gegenüber Bildern ohne Naturelemente bevorzugt werden, wurde viele Male empirisch nachgewiesen. Lohr & Pearson-Mims (2006) haben Versuchspersonen Bildszenen mit einer schematisierten gebauten Umwelt vorgelegt, auf denen verschiedenen Arten von Bäumen oder kein Baum zu sehen waren. Die ästhetische Präferenz wurde mit Hilfe eine Skala erfasst. Die Bilder ohne jeden Baum gefielen am wenigsten, während Bildszenen mit ausladenden, dachartigen Bäumen am beliebtesten waren.
Die verschiedenen Bedeutungen und Funktionen überschneiden sich. Bäume sind nicht nur physische Natur, sondern auch ein Element, um gebaute Umwelten auf das richtige Maß zu bringen (Zube, 1978). Dass Bäume eine solche Funktion haben, hat Stamps (2000) mit seinen Experimenten vorgeführt: Ein Haus mit Bäumen davor wird als weniger massig wahrgenommen als dasselbe Haus ohne Bäume (vgl. Abbildung 1-26, S. 58). Bäume vor großen Gebäuden sind demnach zu empfehlen, wenn man die Menschen nicht einschüchtern möchte.
Die Gründe für die Bedeutung und Beliebtheit von Bäumen sind vielfältig (Lohr & Pearson-Mims, 2006; Henwood & Pidgeon, 2001; Sommer, 2003):
• Bäume sind mit der eigenen Identität verbunden, was sich z. B. in dem Begriff des Stammbaums ausdrückt.
• Bäume waren in der Urzeit der Menschheit für das Überleben wichtig, indem sie Schutz vor Witterungseinflüssen boten und Schatten spendeten.
• Bäume tauchen in Märchen, Legenden und Mythen auf. Zum Beispiel verkörpert die Yggdrasil genannte Esche in der nordischen Mythologie als Weltenbaum den Kosmos; der Baum, von dem Eva den Apfel pflückt, symbolisiert Erkenntnis.
• Bäume schaffen ein besonderes Ambiente ringsum, sie beschirmen, man fühlt sich geborgen. So wird die Entstehung der Psychoanalyse mit einer uralten riesenhaften Ulme an einem Dorfbrunnen in Verbindung gebracht, unter der die Patienten in Hypnose versetzt wurden18.
• Der Baum ist ein Symbol für die menschliche Gestalt und die Ordnung der Welt: die Wurzeln stehen für die Füße, der Stamm für den Körper, die Äste für die Arme und die Krone für den Kopf. Analog spiegeln sich in der Wurzel die Unterwelt, im Stamm die Erde und in der Baumkrone der Himmel wider.
• Bäume sind eine Metapher für Verwurzelung.
• Bäume erhöhen die Komplexität einer Umgebung, indem sie Licht- und Schattenmuster erzeugen.
• Bäume liefern einen auf die menschliche Größe bezogenen Maßstab. Sie werden, auch wenn sie den Menschen deutlich überragen, nicht als erdrückend und überwältigend wahrgenommen wie z. B. Hochhäuser oder monumentale Gebäude19.
Naturliebe: angeboren oder gelernt?
Wenden sich Menschen instinktiv Naturumwelten zu oder beruht die Erkenntnis, dass Natur für den Menschen gut und lebenswichtig ist, auf Lernprozessen? Die Antwort ist ein «sowohl als auch», denn die Bevorzugung von Umwelten, die Naturelemente enthalten, gegenüber puren gebauten Umwelten hat mehr als einen Grund. Die Ergebnisse sprechen sowohl für angeborene Mechanismen, die in einer Biophilie und positiven emotionalen Reaktionen auf den Anblick von Natur zum Ausdruck kommen, als auch für die Bedeutung von Erfahrungen mit der natürlichen Umwelt. Einige Theorien streichen die genetische Determiniertheit heraus, während andere die Bedeutung von Lernprozessen und persönlichen Erfahrungen mit der Natur schon in der Kindheit betonen (Hunziker, 2006).
Biophilie und Prospekt
Zunächst sollen die Überlegungen zur genetischen Determiniertheit der Wertschätzung von Naturumwelten erörtert werden. Wörtlich übersetzt heißt Biophilie «Liebe zum Lebendigen». Unter Biophilie wird die angeborene Affinität gegenüber der natürlichen Umwelt verstanden (Kellert, 2005). Die Annahme der «Biophilia-Hypothese» ist, dass die Liebe zum Lebendigen und zur Natur angeboren ist und dass sich der Mensch aus diesem Grund dazu hingezogen fühlt (Wilson, 1984). Er braucht den Kontakt mit der Natur, um psychisch und physisch gesund zu bleiben und im Leben einen Sinn zu finden. Er muss also nicht erst lernen, dass Natur für ihn lebenswichtig ist; Naturumwelten werden von ihm vielmehr instinktiv bevorzugt. Die Hinwendung zur Natur ist eine angeborene Reaktion, die nicht der willentlichen Kontrolle unterliegt (Orians & Heerwagen, 1992). Für die Biophilia-Hypothese spricht, dass Menschen gern im Freien sind, dass sie sich gern in der Natur aufhalten, dass sie sich für Tiere interessieren und dass sie Naturlandschaften zu schätzen wissen (Nisbet et al., 2009).
Doch welche Merkmale sind es nun eigentlich, die diese Vorliebe und Zuwendung bewirken? Wie die dazu vorliegenden Forschungsergebnisse besagen, reagiert der Mensch unmittelbar positiv auf Umwelten,
• die gut überschaubar sind
• in denen er sich leicht orientieren kann
• die leicht zu erkunden sind
• die das Vorhandensein von lebenswichtigen Ressourcen verheißen.
Savannen haben diese Eigenschaften. Sie lassen sich gut überblicken, man verirrt sich nicht so schnell wie z. B. in der Wüste, denn es gibt dort Gräser, Sträucher, Bäume und Wasser, die als Landmarks dienen können. Bäume mit ausladenden, dachartigen Baumkronen sind eine wichtige Ressource, sie bieten am meisten Schutz insbesondere vor sengender Sonneneinstrahlung (Lohr & Pearson-Mims, 2006).
Dennoch lassen sich Vorlieben für bestimmte Umwelten, Landschaften und Baumarten kaum allein biologisch erklären, denn das Verhalten des Menschen wird nicht nur durch Instinkte gesteuert. Nahe liegend sind auch Umwelteinflüsse. Plausibel ist, folgende Sequenz anzunehmen:
• Auf Umweltmerkmale wird emotional entweder positiv oder negativ reagiert. Diese Reaktion ist angeboren.
• Das daraufhin erfolgende Verhalten hängt von der Art der emotionalen Reaktion ab. War diese positiv, wendet sich der Mensch der Umwelt erkundend zu. Negative emotionale Reaktionen lösen dagegen Abwendungsverhalten aus, so dass die betreffende Umwelt nicht weiter exploriert wird.
• Es werden diejenigen Orte für einen längeren Aufenthalt ausgewählt, die sich bei der Erkundung als am besten geeignet erwiesen haben, die individuellen Bedürfnisse zu erfüllen.
Balling & Falk (1982) haben den anfänglichen biologischen Teil in dieser Sequenz durch eine geschickte Versuchsanordnung sichtbar zu machen versucht. Ihre Überlegung war, dass sich die angeborene Präferenz für den Landschaftstyp Savanne am stärksten in jungen Jahren manifestieren müsste, in dem angeborene Präferenzen noch am meisten «durchschlagen», weil sie noch weniger von nachfolgenden Erfahrungen mit anderen Landschaftstypen überlagert und noch wenig durch soziale und gesellschaftliche Einflüsse geformt sind. Sie legten Versuchspersonen unterschiedlichen Alters Bilder von Landschaften vor. Das Spektrum reichte vom tropischen Regenwald über den Laubwald, den Nadelwald und die Savannenlandschaft bis hin zur Wüste. Die Bevorzugung der Savanne war bei den 8- bis 11-Jährigen signifikant ausgeprägter als bei den Jugendlichen und den Erwachsenen. Balling & Falk werteten ihr Ergebnis als Bestätigung, dass sich die ursprünglich biologisch verankerte Mensch-Natur-Beziehung im Laufe des Lebens verändert; sie wird kulturell überformt. Am wenigsten gefiel allen Gruppen die Wüste20.
Zu den genetischen Ansätzen gehört auch die Prospect-Refuge Theorie, die erstmals 1975 von Appleton formuliert wurde. Seine Überlegung war einfach: Die Menschen in der Urzeit brauchten, um überleben zu können, sowohl geschützte Räume als auch einen Ausblick, um sowohl Gefahren erkennen als auch Ressourcen ausfindig machen zu können. Auch die heute lebenden Menschen fühlen sich wohl und sicher, wenn sie ihre Umwelt überblicken können und ihnen Schutz bietende Refugien zur Verfügung stehen. Ihr Bedürfnis nach Sicherheit wird befriedigt, wenn diese Bedingungen erfüllt sind (Fisher & Nasar, 1992). Die Möglichkeit, fliehen zu können (escape), lässt sich im weiteren Sinne ebenfalls als ein Schutz gewährendes Refugium bezeichnen. Die Fluchtwege sind in diesem Fall das Refugium. Wenn man potentiellen Gefahren nicht entkommen kann, ist man nicht sicher. Wenn z. B. auf einer Insel, die unter dem Meeresspiegel liegt, die Deiche brechen, gibt es kein Entrinnen (vgl. Kapitel 3.2).
Empirische Ergebnisse bestätigen die Prospect-Refuge Theorie: Eine offene übersichtliche Umgebung befriedigt das Sicherheitsbedürfnis (Vrij & Winkel, 1991). Der Grund, warum Kirchtürme, Aussichtsplattformen und hohe Berggipfel gerne bestiegen werden, ist nicht allein, dass man von dort einen umfassenden Ausblick hat, sondern auch das Gefühl, Herr der Lage und damit sicher zu sein.
Auf mangelnde Übersichtlichkeit, die Unsicherheitsgefühle auslöst, wird in der Weise reagiert, dass solche Orte gemieden werden, sofern sie sich vermeiden lassen. Dass das Vermeidungsverhalten eine Reaktion auf einen Missstand ist, wird häufig nicht gesehen, so dass aus den Beobachtungen, dass man keine Menschen antrifft, falsche Schlüsse gezogen werden. Dies sei an einem Beispiel erläutert:
Man beobachtet, dass sich in einem Stadtpark kaum noch Besucher blicken lassen, was durch Zählungen objektiv bestätigt wird. Im Stadtparlament wird daraufhin diskutiert, ob in diesen Park, der kaum genutzt wird, noch investiert werden soll oder ob man die Fläche nicht besser für andere Zwecke nutzen sollte. Die Entscheidung, den Park aufzugeben und das Gelände zu bebauen mit der Begründung, dass der Park nur auf geringes Interesse stößt, wäre jedoch vorschnell, denn es könnte sein, dass die Zahl der Besucher nur deshalb so gering ist, weil sie sich in dem Park nicht sicher fühlen würden. Man sollte deshalb vor einer Entscheidung die Anwohner befragen. Dabei könnte sich heraus stellen, dass Unsicherheitsgefühle das Hemmnis sind. Daraufhin könnte dann der Entschluss gefasst werden, den Park zu erhalten, ihn jedoch so umzugestalten, dass er übersichtlicher und einsehbarer wird und man sich darin nicht gefangen fühlt. Dies könnte dadurch erreicht werden, dass der allzu dichte Baumbestand etwas gelichtet wird und dass zusätzlich weitere Ein- und Ausgänge angelegt werden, so dass der Park von jedem Ort aus rasch verlassen werden kann.
Informationsverarbeitung und Lernprozesse
Um die Naturliebe des Menschen zu erklären, nehmen Kaplan & Kaplan (1989) sowohl angeborene Mechanismen als auch Lernprozesse an. Menschen fühlen sich instinktiv von solchen Umwelten angezogen, die die günstigsten (Über-) Lebenschancen bieten. Mit der Fähigkeit, sich Informationen zu verschaffen, diese aufzunehmen, zu sammeln, miteinander zu verknüpfen, im Gedächtnis zu speichern und darauf zurück zu greifen, sobald man sie braucht, verbessern sich die Lebenschancen des Menschen weit über das genetisch Vorprogrammierte hinaus. Bevorzugte Landschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie es erleichtern, wichtige Informationen zu erkennen und aufzunehmen, zu verarbeiten und zu verstehen, oder auch dadurch, dass sie dazu motivieren, die Umgebung näher zu erkunden (Singh et al., 2008). Umwelten werden so aus zwei Gründen geschätzt:
• weil sie verstanden werden
• weil sie interessant sind, so dass man mehr darüber erfahren möchte.
Umweltmerkmale, die das Verstehen und Erkunden erleichtern, sind:
• Kohärenz
• Lesbarkeit
• Komplexität
• Mystery21.
Kohärente und lesbare Umwelten bewirken, dass eine Umwelt unmittelbar verstanden wird. Komplexe und mysteriöse Umwelten erschließen sich nicht auf Anhieb; hier ist Erkundung erforderlich, um sie zu begreifen. Umwelten gefallen, wenn sie ein sinnvolles Ganzes bilden, wenn sie lesbar sind, wenn sie Vielfalt besitzen und wenn sie etwas Geheimnisvolles an sich haben, was dazu anregt, sich näher mit dieser geheimnisvollen Welt zu beschäftigen.
Kohärenz und Lesbarkeit
Kohärente Landschaften besitzen Ganzheitlichkeit, das heißt die einzelnen Bestandteile fügen sich in einen Zusammenhang ein (Herzog & Leverich, 2003). Typisch für fehlende Kohärenz sind beliebig zusammen gewürfelte unverbundene Einzelspots22. Ausgewogene und symmetrische Umgebungen sind demgegenüber kohärent (Singh et al., 2008).
Lesbarkeit kennzeichnet eine Umwelt, die eine Struktur besitzt, die sich leicht mental abbilden und merken lässt. In einer lesbaren Umwelt macht es keine Mühe, sich räumlich zu orientieren (Herzog & Leverich, 2003). Die Lesbarkeit von Umgebungen wird erhöht, wenn diese gut überblickbar sind und wenn sie Landmarks enthalten.
Ausblicke und Landmarks tragen, wie Herzog & Kropscott (2004) festgestellt haben, unabhängig voneinander zur Lesbarkeit bei. Je einfacher es fällt, sich z. B. in einer waldigen Gegend zu orientieren, um so positiver wird der Wald bewertet. Mangelt es an Übersichtlichkeit und lässt sich diese nicht herstellen, bieten sich umso mehr Landmarks als Mittel der Orientierung an.
Komplexität
Welche Umwelten und Landschaften im Einzelnen bevorzugt werden, hängt außerdem auch noch von ihrer Komplexität ab. Formal definiert ist Komplexität die Anzahl heterogener Teilelemente einer Landschaft oder Umwelt. Je zahlreicher und je unterschiedlicher die einzelnen Elemente sind, umso höher ist der Komplexitätsgrad. Eine Umgebung, die viele unterschiedliche Einzelelemente enthält, ist komplex (Singh et al., 2008).
Eine mittlere Komplexität ist optimal, denn sie überfordert und überwältigt nicht. Ungünstig ist in den meisten Situationen sowohl eine übermäßige Buntheit bzw. Verschiedenheit der Elemente als auch ein Mangel an Vielfalt. Ein Stoppelacker allein ist nicht komplex. Auch wenn man die einzelnen Halme zählen würde und dabei auf eine beachtliche Anzahl von Elementen käme, so fehlt doch die Komplexität, denn die Halme unterscheiden sich nicht voneinander. Die Komplexität erhöht sich jedoch spürbar, wenn sich über dem Acker ein Himmel wölbt. Sie nimmt noch weiter zu, wenn am Rand des Stoppelfelds noch weitere andersartige Elemente zu sehen sind (vgl. Abbildung 2-4) und der Himmel aus einem blauen Hintergrund mit weißen Wolken darauf besteht.
Nach dem Modell und den Ergebnissen der Kaplans und deren Mitarbeitern werden Umwelten bevorzugt, die weder zu einfach noch zu komplex sind. Die Natur bietet diese Ausgewogenheit zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig, was bei städtischen Umwelten oftmals nicht der Fall ist. Naturlandschaften überfordern nicht wegen einer zu großen Informationsfülle, der gegenüber man sich hilflos fühlt, sie sind aber auch nicht reizarm und monoton, insbesondere wenn man die Ränder einbezieht oder ins Detail geht.
Wie eine Umwelt bewertet und inwieweit sie gegenüber anderen bevorzugt wird, hängt immer von den wahrgenommenen und nicht von den objektiven Umweltmerkmalen ab. Entscheidend ist so auch die wahrgenommene und nicht die in Bits gemessene objektive Komplexität. Was für die eine Person komplex ist, muss es nicht auch für eine andere sein (vgl. Herzog, 1989; Kaplan & Kaplan, 1989). Wenn deshalb von mittleren Komplexitätsgraden als dem ästhetischen Optimum die Rede ist, bezieht sich das auf eine Modalperson.
Ein Beispiel ist die positive Bewertung von Skulpturenparks, die sich mit dem Merkmal der Komplexität erklären lässt: Durch das Hinzufügen heterogener Elemente, nämlich der Skulpturen, wird die Komplexität des Parks angehoben. Es dürfen allerdings nicht zu viele Kunstwerke sein, um ein Übermaß an Komplexität zu vermeiden.
Skulpturen in einer Landschaft wirken zusätzlich noch als Landmarks, was sich positiv auf deren Lesbarkeit auswirkt. Dies schlägt besonders dann zu Buche, wenn die Umgebung unübersichtlich ist und Landmarks dieses Defizit ausgleichen können.
Das Umweltmerkmal Mystery hat einen erheblichen Einfluss auf die Bewertung einer Landschaft. Zur Veranschaulichung von Mystery wird gern ein Bild mit einem Weg gezeigt, der ins Ungewisse führt; er verschwindet hinter einer Bergkuppe oder wird durch Häuser oder Bäume verdeckt. Wichtig ist, dass sein Verlauf vom Standort des Betrachters nicht zu überblicken ist. Wer sich für den weiteren Verlauf interessiert, muss sich auf den Weg machen. Er muss die Sichthindernisse umgehen oder zu einem Ort gelangen, von dem aus er einen Ausblick hat. Mystery ist die Verheißung, dass es noch mehr zu erfahren gibt, man muss der Sache nur nachgehen (Hunziker, 2006). Eine Mystery besitzende Umgebung macht den Eindruck, reich an Möglichkeiten zu sein und verspricht weitere Information, wenn man sich damit vertiefend befasst (Singh et al., 2008).
Das geheimnisvolle Ungewisse weckt Neugierde. Man möchte wissen, was sich in der Ferne abspielt oder wie es hinter den Bergen aussieht. Naturumwelten sind meistens reich an Mystery, denn Sträucher, Bäume, Hügel und Berge sind nicht nur einzelne Elemente einer Landschaft, sondern auch mehr oder weniger Sichthindernisse, die Ungewissheit und Rätselhaftigkeit erzeugen. Einen Hauch von Mystery liefern Bäume, die kaum verdecken, wie z. B. Birken (vgl. Abbildung 2-7).
Mystery entsteht auch durch sich auflösende Konturen in der Ferne. Man kann am Horizont nicht mehr erkennen, wo das Land aufhört und das Meer beginnt (vgl. Abbildung 1-8.)
Eine andere Situation besteht in einem dunklen dichten Wald, der alles verdeckt, oder durch Nebel. Wenn der Dunst oder Nebel so dicht wird, dass man die Hand vor Augen nicht mehr erkennen kann, wird das Optimum an Mystery überschritten. Der Wald, der keinen Durchblick bietet, ist ein allegorischer Ort, er repräsentiert das Unheimliche. Das Nichtsehen können bzw. die mangelnde visuelle Kontrolle ruft Unsicherheits- und Angstgefühle hervor (Herzog & Kropscott, 2004).
Insgesamt gesehen sind die im Forschungslabor gewonnenen Ergebnisse zum Merkmal Mystery vergleichsweise eindeutig: Versuchspersonen, denen man Landschaftsbilder zur Bewertung vorgibt, bevorzugen mysteriöse Landschaften gegenüber solchen, die frei von jeder Rätselhaftigkeit sind (Kaplan, Kaplan & Brown, 1989). Das Ungewisse und Neue ist jedoch nur solange ein positiver Faktor, solange keine Gefahr droht.
Für die Umweltgestaltung bedeutet das, dass nicht nur mangelnde Kohärenz, Unlesbarkeit und eine übergroße Buntheit oder auch eine zu weitgehende Schlichtheit zu vermeiden sind, sondern auch eine lückenlose Gewissheit, bei der nichts mehr offen bleibt. Einige Bäume, die das Dahinter liegende verdecken, sorgen für Mystery, wohingegen ein undurchdringliches Dickicht des Guten zu viel wäre.
Kognitionen und Gefühle
Das Landschafts-Präferenz-Modell der Kaplans beleuchtet kognitive Prozesse; im Zentrum steht die Informationsverarbeitung, die durch verschiedene Umweltmerkmale erleichtert wird. Singh et al. (2008) haben diesen kognitiven Ansatz mit dem Argument erweitert, dass Landschaften nicht nur wert geschätzt werden, weil sie kohärent, lesbar, vielfältig und mysteriös sind, sondern auch weil sie positive Gefühle hervorrufen. Ihr Modell enthält neben den vier Umweltmerkmalen und den Komponenten Verstehen und Erkunden deshalb als weitere Einflussfaktoren die durch die Umwelt ausgelösten Gefühle.
Auf Informationen, mit denen man nichts anfangen kann und die nur schwer zu verstehen und zu ergründen sind, wird gefühlsmäßig negativ reagiert, während es umgekehrt als angenehm erlebt wird, wenn sich Umwelten problemlos verstehen bzw. erkunden lassen. Die Gefühle erfassten Singh und Mitarbeiter mit folgenden Aussagen:
Diese Umgebung
• macht mich fröhlich
• empfinde ich als angenehm
• erfüllt mich mit Heiterkeit
• löst bei mir Irritationen aus
• macht mich ärgerlich
• ist eine Plage für mich.
Die Verhaltensabsicht wurde durch Angabe der Wahrscheinlichkeit erfasst, dass man die Landschaft weiter erkundet, wenn die Gelegenheit besteht.
Auf der Grundlage solcher Modelle können die Bewertungen von Entwürfen, Planungsvarianten und Gestaltungen erklärt werden. Zum Beispiel stellt man fest, dass ein Spielplatz kaum besucht wird. Die daraufhin durchgeführte Befragung von Kindern, Jugendlichen und Eltern ergibt, dass alle drei Gruppen gefühlsmäßig negativ auf den Platz reagieren. Dieser wird als zu trist, dunkel und anregungsarm und als zu schlicht empfunden. Damit ergeben sich Anhaltspunkte für dessen Verbesserung.
Ästhetisches Erleben
Orte und Landschaften werden auch aufgesucht, weil man sie schön findet. Mit der Frage, worauf der Eindruck von Schönheit beruht, hat sich nicht nur die empirische Forschung, sondern auch die Philosophie beschäftigt (vgl. Allesch, 2006). Aristoteles hat das Streben nach Erkenntnissen als ein Hauptmotiv angesehen. Er glaubte, dass die Menschen einen natürlichen Drang nach Erkenntnissen verspüren und dass sie deshalb auch Freude an den Sinneswahrnehmungen haben, über die sie Erkenntnisse gewinnen. Diese Sinneswahrnehmungen hat er als «aistheseis» bezeichnet. Ästhetik als sinnliche Wahrnehmung ist zweifellos eine sehr umfassende und globale Definition. Schon enger gefasst ist die Definition von Ästhetik als der sinnlichen Wahrnehmung von Schönheit, wobei sich zugleich die Frage stellt, welche Umweltmerkmale den Eindruck von Schönheit bewirken. Hier gibt es verschiedene Auffassungen.
Schönheit als objektives Phänomen
Eine Auffassung ist: Was schön ist, liegt im Objekt selbst. Man muss nur genau hinsehen, um die wesentlichen Merkmale zu erkennen, wobei eine gewisse Schulung hilfreich sein mag. Architekten, Stadtplaner, Landschaftsarchitekten und Designer sind als Experten zu den geschulten Personen zu rechnen. Von ihnen wird erwartet, dass sie zutreffend beurteilen können, inwieweit etwas schön ist. Auf der Grundlage ihres ästhetischen Urteils entwerfen sie Gegenstände, Räume, Gebäude, Stadtpark, Städte, Gartenschauen und Landschaften.
Schönheit als subjektives Phänomen
Diese objektivistische Auffassung, dass Schönheit den Dingen und Umwelten anhaftet, hat jedoch schon im 18. Jahrhundert David Hume in Frage gestellt. Seine Meinung war, dass Schönheit allein im Bewusstsein des Betrachters existiert, also keine Eigenschaft der Dinge selbst ist. Eine Umwelt ist schön, wenn es einen Betrachter gibt, der sie schön findet23. Das ästhetische Urteil wäre dann kein Privileg von Experten mehr, sondern eine allgemeine Form psychischen Erlebens. Um das zu unterstreichen, hat Höge (2006) von populärer Ästhetik gesprochen. Dass diese Urteile nicht frei sind von sozialen und kulturellen Einflüssen, steht außer Frage. Vor allem die Ansichten und Bewertungen der persönlich wichtigen Bezugspersonen und der Bezugsgruppen mit ähnlichem Lebensstil spielen bei ästhetischen Urteilen eine zentrale Rolle (Ritterfeld, 1996)24. Das, was ein Mensch als schön empfindet, bestimmt so letztlich mehr oder weniger auch seine soziale Umwelt.
Berlyne (1971) hat diese Mitwelt nicht berücksichtigt, als er seine experimentell psychologischen Untersuchungen mit Versuchspersonen durchführte, denen schematisierte, leicht zu variierende Reizmuster gezeigt wurden. Soziale Einflüsse sind hier ausgeschaltet. Sein Ergebnis war, dass der ästhetische Eindruck von bestimmten Reizqualitäten abhängt. Es sind
• Neuartigkeit
• Inkongruenz
• Komplexität
• Überraschung.
Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, sind diese Reizqualitäten keine objektiven Umweltmerkmale, sondern kollative Merkmale, das heißt das Ergebnis personinterner Vergleiche: Die objektiven Umweltmerkmale werden an einem individuellen Maßstab geprüft, ob sie neu, inkongruent, komplex und überraschend sind. Bei den Vergleichen stellt sich heraus, ob ein Objekt oder eine Umwelt für den betreffenden Menschen die genannten Reizqualitäten besitzt. Das Ausmaß der Abweichung vom person-internen Maßstab im Hinblick auf Neuartigkeit, Inkongruenz, Komplexität und Überraschung darf nicht zu groß sein; der Eindruck von Schönheit stellt sich nur ein, wenn die Abweichungen vom individuellen Maßstab nicht zu krass ausfallen.
Wegen der Individualität des Vergleichmaßstabs lässt sich der ästhetische Eindruck, den ein Gegenstand oder eine Landschaft in einem Menschen hervorruft, nur ungefähr schätzen.
Der ästhetische Eindruck als emotionale Reaktion
Eine dritter Ansatz ist, den ästhetischen Eindruck als emotionale Reaktion zu definieren (vgl. Kapitel 1.3). Auf diese Definition wird im Bereich der Kunst verwiesen, nämlich dann, wenn Ästhetik verstanden wird als etwas, was anrührt, was vom sicher Erwarteten abweicht, was die Routine des Wahrnehmens und Handelns unterbricht (Allesch, 2006). Aus dieser Perspektive erscheint die Natur als eine Welt, die aufmerken lässt und anrührt oder sogar schockiert.
Die emotionale Reaktion kann positiv oder negativ ausfallen, was Zuwendungs- oder Abwendungsverhalten zur Folge hat (Mehrabian & Russell, 1974). Emotionale Reaktionen sind also nicht auf positive Eigenschaften beschränkt. Definiert man den ästhetischen Eindruck allgemein als emotionale Reaktion, dann gehören auch die negativen emotionalen Reaktionen dazu. Auch wenn er sich anschließend abwendet, so ist der Mensch zunächst einmal betroffen. Dies gilt z. B. für lebensfeindliche und unwirtliche Umwelten. Sie beeindrucken.
Der ästhetische Eindruck als positive emotionale Reaktion
Nasar (1997) fasst Ästhetik enger, indem er als ästhetischen Eindruck nur die positiven emotionalen Reaktionen versteht. Eigenschaften wie schön, reizvoll, vollkommen, klangvoll, poetisch, anregend, interessant, strahlend und attraktiv lösen positive Gefühle aus. Der ästhetische Eindruck ist eine positive emotionale Reaktion auf Umweltmerkmale.
Auf Naturumwelten, die als reizvoll und anregend erlebt werden, wird emotional positiv reagiert. Die wechselnden Wetterlagen und Jahreszeiten in Ländern mit einem gemäßigten Klima, in denen der Sommer nicht zu heiß und der Winter nicht zu kalt ist, sind anregend, aber nicht aufregend. Des weiteren tragen die Jahreszeiten dazu bei, eine Umwelt immer wieder als neu erscheinen zu lassen (vgl. Abbildung 2-10).
Ästhetisch ansprechend sind Umwelten, die subjektiv das richtige Maß haben. Eine zu schlichte Umgebung wird als öde und trostlos erlebt. In Naturumwelten besteht selten das Problem, dass sie eintönig sind. Die Komplexität ließe sich in der Natur ohnehin leicht steigern, indem nämlich der Blick auf die vielfältigen kleinen Elemente gerichtet wird (vgl. Abbildung 1-19).
Menschen sind nicht nur Informationen verarbeitende, sondern auch mobile Lebewesen (vgl. das umweltpsychologische Modell in Kapitel 1.4).
Sie wenden sich Orten zu, die sie emotional positiv erleben, und sie meiden solche, die mit negativen Eindrücken verbunden sind. Wenn ihnen Anregungen fehlen, werden sie danach trachten, sich diese zu verschaffen. Indem sie für sie neuartige, inkongruente und komplexe Umwelten aufsuchen, tragen sie selbst zu positiven emotionalen Reaktionen bei. In der Bevorzugung von Umwelten mit Naturelementen gegenüber gebauten Umwelten ohne Natur kommt ein aktives Zuwendungsverhalten zum Ausdruck, was auf eine voran gegangene positive emotionale Reaktion schließen lässt.
2.2 Die erholsame
Natur
Neben dem ästhetischen Erleben von Natur ist die Erholwirkung ein weiterer Schwerpunkt der psychologischen Naturforschung. Natur in allen Arten und Größenordnungen von der Landschaft bis hin zum einzelnen Teich, Baum oder Busch wird nicht nur geschätzt, weil sie schön aussieht und ästhetischen Genuss bietet, sondern auch, weil man sich bei ihrem Anblick erholt. Die Annahme ist: Wer ausgeruht ist und sich vom Stress befreit hat, fühlt sich wohl und gesund, er kann seine Fähigkeiten wieder voll entfalten und das, was zu tun ist, mühelos erledigen. Und er kann sich wieder - zumindest für eine Weile - mit schwierigen Fragestellungen befassen.
Gegenpol der Erholung ist die Beanspruchung. Der Vorstellung, dass man nach eine Phase der Beanspruchung Erholung benötigt, spiegelt sich in der Dichotomie von Arbeit und Freizeit wider. Der Mensch braucht nach der Arbeit eine Phase der Erholung, damit er insgesamt leistungsfähig bleibt. Erholung bekam so im Laufe der Zeit einen normativen Aspekt, indem geregelte Arbeitszeiten, Urlaube und Ferien zum Zwecke der Erholung institutionalisiert wurden (Kagelmann & Keul, 2005).
Die Lebensreform-Bewegung vor rund 100 Jahren kann als ein Versuch angesehen werden, die Natur in den Entwurf für eine bessere, gesündere, ursprünglichere, weniger überzivilisierte Welt und für eine alternative Lebensgestaltung im Sinne von «zurück zur Natur» einzubeziehen und die oben angesprochene Dichotomie aufzulösen. Mit dem Begriff der Natur verbanden die Lebensreformer Heilsversprechen und Hoffnungen auf Befreiung von einer das Individuum einengenden Gesellschaft. Natur war der Inbegriff für das Nicht-Dekadente und Ursprüngliche und für ein gesundes Leben (Wolbert, 2001). Natur gemäßes Verhalten bedeutete eine Loslösung von starren Konventionen und restriktiven Lebensformen. Auch der Körper sollte befreit werden und mit Licht und Luft in Berührung kommen. Deshalb wurden Licht-, Luft- und Wasserbäder empfohlen. Das Wandern in der Naturlandschaft wurde zu einer beliebten Freizeitund Urlaubsbeschäftigung (vgl. Abbildung 2-12).
Heute hätten die Lebensreformer von «wellness» gesprochen, einer Kombination aus «well-being» und «fitness», womit ebenfalls ein ganzheitliches Wohlbefinden bezeichnet wird.
Der angestrebte Erholeffekt der Natur wurde in etlichen Untersuchungen empirisch bestätigt. Umwelten, die in diese Weise wirken, hat man als «restorative environments» (erholsame Umwelten) bezeichnet. Man versteht darunter eine Umwelt, die der Erholung der mentalen Energien und der Leistungsfähigkeit förderlich ist (Kaplan & Kaplan, 1989). Naturumwelten vermögen offensichtlich auf natürlichem Wege die Regeneration zu fördern, das heißt ohne Medikamente oder spezielle therapeutische Maßnahmen. Die Regeneration bezieht sich dabei insbesondere auch auf die Wiedererlangung der kognitiven Leistungsfähigkeit (Hartig et al., 1997).
Erholsame Umwelten sind trotz einer erheblichen Überschneidung nicht synonym mit Naturumwelten. Auch der Aufenthalt in einem Wellness-Hotel kann dazu beitragen, die körperliche Kraft, die mentalen Energien und die kognitive Leistungsfähigkeit wieder herzustellen. Und auch umgekehrt gilt, dass nicht alle Naturumwelten erholsam sind, denn es gibt auch eine belastende und lebensfeindliche Natur (vgl. Kapitel 2.3).
Dass grüne Natur zu einer schnelleren Stressbewältigung beiträgt, ist ein empirisch hinreichend gesichertes Ergebnis. Dies soll anhand einiger Untersuchungsergebnisse veranschaulicht werden.
Regeneration und Abbau von Stress
Stress entsteht beim Erkennen, dass eine Situation überfordernd und bedrohlich ist, und bei der Einschätzung, dass man nicht oder kaum in der Lage ist, darauf effektiv zu reagieren. Stress bezeichnet also nicht nur einen Zustand, sondern auch den Prozess, bei dem ein Individuum kognitiv, physiologisch und durch sein Verhalten auf eine Situation reagiert, die sein Wohlbefinden bedroht (Ulrich et al., 1991).
Erholung ist der Prozess, bei dem die physiologischen Funktionen, die kognitive Aufnahmefähigkeit, das Wohlbefinden und die soziale Kompetenz wieder erlangt werden (Hartig, 2007). Natur wirkt sich hierbei positiv auf das Wohlbefinden aus, trägt zu einem rascheren Stressabbau und dem Wiederkehren der Kräfte nach Ermüdung und Erschöpfung bei und beschleunigt Heilungsprozesse.
Eine beliebte Versuchsanordnung, um Stresswirkungen und Erholungsprozesse zu erforschen, ist das Vorher-Nachher-Design. Die typische Versuchsanordnung sieht so aus, dass Gruppen verglichen werden, die sich nur dadurch unterscheiden, dass ihnen eine unterschiedliche Behandlung (Treatment) zu teil wird, nachdem allen z. B. ein Stress erzeugender Film gezeigt wurde. Nach dem Zufallsprinzip werden Gruppen gebildet, die einem unterschiedlichen Treatment ausgesetzt werden. Der einen Gruppe werden z. B. Bilder mit Naturlandschaften, einer Vergleichsgruppe Bilder mit städtischen Szenen ohne Natur gezeigt. Lässt sich ein Unterschied zwischen den Gruppen in der Schnelligkeit des Stressabbaus und der Wiederherstellung von Fitness feststellen, gilt das als Hinweis, dass das Betrachten von Naturlandschaften einen Einfluss darauf hat, wie schnell nach einer Stressphase wieder der Normalzustand erreicht wird. Der Untersuchungsplan von Ulrich und Mitarbeitern (1991) war nach diesem Muster angelegt.
Ebenso ist auch Ziesenitz (2010) vorgegangen. Hier wurde den Versuchspersonen eine sowohl kognitiv als auch emotional belastende Aufgabe vorgelegt, die eine hohe Konzentration erforderte. Die emotionale Belastung wurde durch Zeitdruck und die Anwesenheit der Versuchsleiterin erzeugt. Das Treatment bestand aus einem Spaziergang in einem wirklichen Stadtpark oder einem simulierten Spaziergang auf einem Laufband im Forschungslabor, wobei entweder ein Videofilm mit Stadtparkszenen oder ein computergenerierter Stadtpark zu sehen waren. Die Kontrollgruppe ging auf dem Laufband spazieren, ohne einen Film oder Computerbilder zu sehen. Die computergenerierte Simulation ist im Vergleich zur Videoversion weniger fotorealistisch, das heißt noch künstlicher. Der Effekt der Bewegung wurde in den Natursimulationen durch das Laufen auf dem Laufband kontrolliert. Die Beanspruchung bzw. Erholung wurde auf kognitiver, emotionaler und physiologischer Ebene gemessen. Insgesamt zeigten die Ergebnisse, dass die Wanderungen auf dem Laufband mit der Wahrnehmung simulierter Natur eine ähnliche Erholungswirkung haben wie der Spaziergang in der wirklichen Natur. Das Ergebnis ist überraschend, aber es bedeutet auch, dass die im Labor gewonnenen Ergebnisse mit Versuchspersonen und Naturbildern gültige Ergebnisse liefern. Und es bedeutet noch mehr: Auch die Andeutung von Natur bzw. eine «Geste der Natürlichkeit» (Böhme, 1992) entfaltet bereits eine Wirkung.
In der Untersuchung von Nisbet et al. (2009) erwies sich der Erholeffekt von wirklicher Natur indessen noch um einiges stärker als derjenige von simulierter Natur. Wenn man also in Laboruntersuchungen, in denen die Natur in Form von Bildern präsentiert wird, einen Effekt feststellt, dann gilt dies erst recht für reale Naturumwelten.
In der wirklichen Welt reicht sogar schon ein Blick aus dem Fenster auf Bäume und Grün, um den Prozess der Regeneration zu beschleunigen. Man muss also noch nicht einmal ringsum von Natur umgeben sein. Ulrich (1984) hat das herausgefunden, indem er die Krankenberichte von Patienten, die eine Operation hinter sich hatten, ausgewertet hat. Er verglich dabei zwei Gruppen, die so gebildet wurden, dass jeweils zwei Patienten einander zugeordnet wurden, deren Krankengeschichte ähnlich war. Insgesamt 23 Paare waren einbezogen. Jeweils einer von den beiden konnte aus dem Krankenzimmer auf grüne Natur blicken, während der andere nur eine Ziegelsteinmauer vor sich hatte. Dass die Patienten, denen der Blick aus dem Fenster auf grüne Natur vergönnt war, ganz klar einen Vorteil hatten, zeigte sich daran,
• dass ihr postoperativer Aufenthalt im Krankenhaus kürzer war
• dass das Pflegepersonal sich positiver über diese Patienten äußerte
• dass sie weniger Schmerzmittel benötigten.
Es wurde ausgeschlossen, dass die Unterschiede zwischen den Gruppen von einem unterschiedlichen Stressniveau herrührten. Beide Gruppen erleben ähnlich viel Stress, was sich unter anderem daran zeigte, dass kein Unterschied im Verbrauch Angst mindernder Medikamente festzustellen war.
Stress lässt sich künstlich erzeugen, indem man Versuchspersonen komplizierte Aufgaben vorsetzt, wie es Hartig und Mitarbeiter (2003) gemacht haben. Was die Natur vermag, zeigt sich anschließend. Der Stressabbau erfolgte in der Untersuchung von Hartig et al. schneller bei der Gruppe, die in einem Raum saß, von dem aus man auf Bäume blickte, als bei derjenigen, die nicht auf grüne Natur sehen konnte. Des weiteren zeigte sich, dass der Stress schneller überwunden wurde, wenn nach der Bearbeitung der Aufgaben ein Spaziergang in einer Natur reichen Umgebung gemacht wurde. Spaziergänge in einer Natur armen Umwelt waren weniger wirkungsvoll.
In anderen Untersuchungen verlässt man sich auf die Vorstellungskraft der Versuchspersonen. Staats und Mitarbeiter (2003) haben mentale Ermüdung bei den Versuchspersonen induziert, indem sie sich vorstellen sollten, dass sie am Ende eines arbeitsreichen Semesters vollkommen erschöpft sind. Die Versuchspersonen in der Vergleichsgruppe sollten sich dagegen vorstellen, dass sie sich von den Strapazen des voran gegangenen Semesters vollkommen erholt haben. Beiden Gruppen wurden Bilder mit städtischen Szenen und Bilder mit Naturumwelten dargeboten. Mit Hilfe von 7-stufigen Skalen wurde sodann das Ausmaß der Präferenz und die Absicht, in den städtischen oder natürlichen Umwelten Spazieren zu gehen, erfasst. Obwohl es sich nur um eine vorgestellte mentale Verfassung handelte, zeigte sich ein Effekt. Bei denen, die sich vorstellten, erholt zu sein, waren die Unterschiede in der Bevorzugung natürlicher gegenüber städtischer Umwelten sowie bei den Absichten, hier oder dort spazieren zu gehen, weniger ausgeprägt als bei denen, die sich in die Rolle der mental Ermüdeten hinein versetzt hatten. Ihre Bevorzugung der Naturbilder war offenkundiger, und ihnen lag auch sehr viel daran, in der Natur spazieren zu gehen.
Dieses Ergebnis ist auch insofern bemerkenswert, weil es zeigt, dass allein schon der Glaube, erholt oder erschöpft zu sein, die Wertschätzung der Natur verändern kann. Und offensichtlich besteht ein Zusammenhang zwischen dem Verlangen nach Naturumwelten und dem Bedarf an Erholung; die Natur wird intuitiv als Mittel heran gezogen, um wieder zu einem Normalzustand zu gelangen. Das Ergebnis von Van den Berg et al. (2003) spricht ebenfalls dafür, dass die Erfahrung von Erholung und Entspannung zu einem wesentlichen Anteil die Bevorzugung natürlicher Umwelten erklärt. Eine Umwelt, in der man spürt, dass man von einem hohen Erregungsgrad wieder auf das Normalniveau zurück gelangt, wird gern aufgesucht. In dieser Untersuchung erzeugten die Forscher den hohen Erregungsgrad, indem sie den Versuchspersonen einen Angst einjagenden Film vorführten.
Eine plausible Annahme ist somit, dass Menschen Natur «instinktiv» aufsuchen, wenn sie erholungsbedürftig sind und sich überlastet fühlen. Regan & Horn (2005) haben diese Hypothese überprüft, indem sie unterschiedliche Gefühlslagen induzierten. Die einbezogenen Personen aus unterschiedlichen Wohngebietstypen sollten sich vorstellen, aufgeregt, glücklich, krank, entspannt, verängstigt, überlastet oder ärgerlich zu sein. Im Anschluss daran sollten sie den Ort nennen, den sie bei einer dieser Befindlichkeiten am liebsten aufsuchen würden. Zusätzlich sollten sie begründen, warum sie den genannten Ort bevorzugen und was diesen Ort auszeichnet. Häufig genannte Qualitäten der bevorzugten Orte waren:
• das Vorhandensein von Bäumen und Pflanzen
• das Vorhandensein natürlicher Gewässer wie Flüssen und Seen.
Die Unterscheidung zwischen Stadt- und Landbewohnern erwies sich als aufschlussreich. Je nachdem, ob ein Mensch in der Stadt oder auf dem Lande lebt, spielt die Natur für ihn als Erholfaktor eine andere Rolle. Stadtbewohner zieht es vor allem dann in die Natur, wenn sie sich gestresst fühlen. Dies gilt nicht für die Bewohner ländlicher Gegenden, wie Tabelle 2-1 zu entnehmen ist, in der die Befindlichkeiten in eine Rangreihe gebracht sind. Rangplatz 1 bedeutet, dass das Streben nach Natur in diesem Zustand besonders stark ist. Nur bei den Stadtbewohnern ist Stress der vorrangige Grund für das Verlangen nach Natur. Wer im ländlichen Raum und damit wahrscheinlich weniger Natur fern wohnt, hält sich vor allem im entspannten Zustand gern in der Natur auf.
Kranksein wurde von den Befragten nicht als vorrangiger Grund gesehen, in Kontakt mit der Natur zu treten. Ein Grund könnte sein, dass Kranksein in erster Linie mit sterilen keimfreien Räumen assoziiert wird. Dieses Klischee verhindert möglicherweise, dass die Natur als Therapiefaktor in den Sinn kommt. Ein Hindernis sind die vorherrschenden stereotypen Vorstellungen, wie Umwelten für kranke Menschen auszusehen haben.
Stressfolgen sind verminderte Leistungsfähigkeit, ein verringertes Wohlbefinden und gestörte soziale Beziehungen. Wenn man mit dem Stress nicht fertig wird, ist chronische Erregung die Folge, was über kurz oder lang auch die physische Gesundheit untergräbt. Im Berufsleben zählt vor allem die Leistungsfähigkeit. Stress infolge einer reduzierten Leistungsfähigkeit lässt sich schneller abbauen, wenn man die Natur zu Hilfe nimmt. Büroarbeitsplätze in Fensternähe sind nicht allein wegen des Tageslichts vorteilhaft, sie sind ein Mittel gegen Stress und zwar vor allem dann, wenn man beim Blick aus dem Fenster auf grüne Natur blickt (Yilderim et al., 2007). Lässt sich das nicht bewerkstelligen, wäre als Nächstes zu prüfen, inwieweit in den Arbeitsräumen Platz für Pflanzen wäre. Die vorliegenden Ergebnisse sprechen dafür, dass Pflanzen von Nutzen sein können, um die gewohnte Leistungsfähigkeit schneller zu erreichen (Lohr et al., 1996).
Neuere Ergebnisse haben den Erholeffekt von Natur weiter untermauert. Grüne Natur ist in mehrfacher Hinsicht wohltuend, wie Mayer et al. (2009) nachgewiesen haben. Zu den Benefits gehört eine ausgeglichene emotionale Gestimmtheit und Gelassenheit, die es erleichtert, sich mit Lebensproblemen konstruktiv auseinanderzusetzen.
Es sind nicht nur Erwachsene, die Stress erleben, sondern auch Kinder, wobei Stress Kinder viel härter trifft, weil sie nicht über vergleichbare Möglichkeiten der Stressbewältigung verfügen. Natur könnte so in der Kindheit eine noch größere Rolle spielen. Wells & Evans (2003) haben diese Annahme mit einer Stichprobe von Kindern aus verschiedenen amerikanischen Kleinstädten bestätigt. Mit speziellen Fragebögen und Tests wurden Stress erzeugende Vorkommnisse im Leben der Kinder, ihre psychische Gesundheit und ihr Selbstvertrauen erfasst. Es zeigte sich, dass Wohnumgebungen mit grüner Natur das Vermögen der Kinder stärken, besser mit belastenden Ereignissen fertig zu werden. Zwischen der psychischen Gesundheit, dem Selbstvertrauen der Kinder und ihrer Stressresistenz einerseits und dem Vorhandensein von grüner Natur in der Wohnumwelt andererseits fand sich ein bemerkenswerter Zusammenhang. Die Natur wirkt wie ein Schutzschild, an dem belastende Einflüsse abprallen. Dieser Schutzschild stärkt die Widerstandskraft gegenüber psychisch belastenden Ereignissen. Sogar die Selbstdisziplin der Kinder wird bekräftigt, das heißt die Fähigkeit, sich auf einen Sachverhalt zu konzentrieren, überlegt zu handeln, unmittelbare Handlungsimpulse zu unterdrücken und einen Belohnungsaufschub zu akzeptieren. Es liegt nahe, aufgrund dieser positiven Effekte der Natur auf Kinder Umwelten, die Kinder häufig aufsuchen, mit grüner Natur anzureichern.
Den Umweltpsychologen geht es nicht nur um den Nachweis, dass die Natur das Erleben und Verhalten beeinflusst, sondern immer auch darum, die gewonnenen Erkenntnisse nutzbringend anzuwenden, was aber nur möglich ist, wenn die Wirkungszusammenhänge bekannt sind. Die zentrale Frage ist, auf welche Weise eigentlich die Natur die erholende Wirkung hervorbringt. Wichtige theoretische Ansätze, die darauf eine Antwort zu geben versuchen, sind das physiologische Modell, das die körperlichen Vorgänge in den Fokus rückt, die sich bei emotionalen Reaktionen abspielen, und die Aufmerksamkeitserholungstheorie, die sich auf kognitive Prozesse bezieht.
Physiologie der emotionalen Reaktion
Das Modell der emotionalen Reaktion rückt die körperlich-physiologische Ebene der Mensch-Umwelt-Beziehung in den Blickpunkt. Die emotionale Reaktion erfolgt reflexartig, sie unterliegt nicht der willentlichen Kontrolle; der Körper wird dadurch - je nach der Reaktion - in eine Ruhelage oder in Erregung versetzt. Negative emotionale Reaktionen wirken aktivierend. Ein Symptom ist z. B. die Herzschlagfrequenz. Ulrich (1983) hat die Wirkung grüner Natur auf eine angeborene positive emotionale Reaktion mitsamt den damit einhergehenden physiologischen Vorgängen zurück geführt. Der Anblick von Natur beeinflusst, vermittelt über die unwillkürliche emotionale Reaktion, die physiologischen und vegetativen Prozesse in der Weise, dass der Körper in eine Ruheposition versetzt wird; anstelle des Sympathikus tritt der Parasympathikus in Aktion.
Ulrich und Mitarbeiter (1991) verwendeten den Blutdruck als Indikator des Erregungsniveaus. In ihrer Untersuchung bekamen Studierende einen Stress erzeugenden Film über Unfälle am Arbeitsplatz gezeigt. Anschließend wurden ihnen sechs Videos entweder über Natur- oder Verkehrsumwelten oder Einkaufszentren mit Fußgängern gezeigt. Gifford (2007) hat das Ergebnis graphisch veranschaulicht (vgl. Abbildung 2-13, S. 87).
Laumann et al. (2003) konnten empirisch bestätigen, dass der Anblick von Bildern mit Naturlandschaften das physiologische Erregungsniveau herab setzt, was beruhigend wirkt. Die Herzschlagfrequenz diente ihnen als Indikator des Erregungsniveaus. Es reichen sogar schon Bilder von Natur, um eine beruhigende Wirkung zu erzielen. Die im Forschungslabor induzierte mentale Ermüdung konnten die Versuchspersonen rascher überwinden, die Naturvideos gesehen hatten, als diejenigen, denen Videos mit Stadtszenen vorgeführt worden waren.
Natur hat nicht nur einen kurzfristigen momentanen Effekt. Die physiologisch verankerte beruhigende Wirkung wirkt nach. Wie Parsons et al. (1998) festgestellt haben, wird durch den Kontakt mit der Natur nicht nur eine kurzfristige Erholung erzielt, sondern es wird auch noch die Stressanfälligkeit verringert, also eine gewisse Immunisierung erreicht.
Erholung von mentaler Ermüdung
Während das Konzept der emotionalen Reaktion den Fokus vor allem auf die Stresssymptomatik sowie physiologische Vorgänge richtet, stehen in der Aufmerksamkeitserholungstheorie die kognitiven Prozesse, die sich bei der Erholung von mentaler Ermüdung abspielen, im Vordergrund (Korpela & Hartig, 1996). Der Grundgedanke ist, dass jede längere mentale Anstrengung über kurz oder lang zu einer mentalen Ermüdung führt. Die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes zu richten, und Ablenkungen auszublenden, nimmt im Laufe der Zeit ab (Berto, 2005).
Man weiß aus eigener Erfahrung, dass die Beschäftigung mit Aufgaben, die fortgesetzte Aufmerksamkeit erfordern, nach einiger Zeit zu Ermüdung und schließlich zu Erschöpfung führt. Man kann z. B. nur eine bestimmte Menge an Bildern in einer Ausstellung «verkraften». Es strengt mental an, sich auf weitere Bilder und Exponate zu konzentrieren und ein Abschweifen der Gedanken zu unterdrücken. Je müder man ist, umso schwerer fällt es, sich mit einem Sachverhalt zu befassen, der einen nicht in Bann zieht. Gerichtete bzw. willkürliche Aufmerksamkeit erfordert ein willentliches Mitmachen. Sie ist vonnöten, um etwas länger Dauerndes zu vollbringen und mit den Anforderungen von außen, die Ausdauer erfordern, fertig zu werden (Kaplan, 1995).
Im Gegensatz dazu macht unwillkürliche Aufmerksamkeit keinerlei Mühe, denn hier bedarf es keines persönlichen willentlichen - und anstrengenden - Einsatzes. Der Betrachter muss sich nicht zwingen, bei der Sache zu bleiben, denn die Umwelt zieht die Aufmerksamkeit automatisch auf sich. Weil in dieser Phase keine mental anstrengende kognitive Arbeit erforderlich ist, kann der Mechanismus der willkürlichen Aufmerksamkeit pausieren und regenerieren. Auf diesem Vorgang basiert die Aufmerksamkeitserholungstheorie. Die Natur spielt darin eine bedeutende Rolle, weil sie die unwillkürliche Aufmerksamkeit durch die Faszination, die sie auslöst, auf sich zieht.
In anregungsarmen Umwelten muss sich der Mensch anstrengen, um mit seinen Gedanken nicht abzuschweifen, in anregungsreichen Umwelten ist das nicht nötig, denn die Umwelt zieht einen in Bann. Eine länger dauernde Reizarmut gleicht einer sensorische Deprivation, die krank, aber keinesfalls gesund macht. Vollkommene Stille und eine visuelle Reizarmut sind bar all dessen, was anregt und fasziniert. Unter diesen Bedingungen ist eine mentale Erholung kaum möglich.
Nicht erst die Kaplans haben zwischen willkürlicher bzw. gerichteter und unwillkürlicher Aufmerksamkeit unterschieden. In seinem Werk über Psychologie im Jahre 1892 hatte schon William James zwischen den beiden Arten von Aufmerksamkeit differenziert und dabei darauf hingewiesen, dass willkürliche Aufmerksamkeit im Sinne der Fähigkeit, Ablenkungen zu kontrollieren, besonders dann erforderlich ist, wenn die Aufgabe oder Situation ohne jede Anziehungskraft ist.
Mentale Ermüdung lässt auf einen Mangel an faszinierenden Eindrücken schließen. Der Zustand der mentalen Ermüdung wird als subjektiver Eindruck, dass man nicht bei der Sache ist, erlebt und ist meistens mit gen verbunden. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass mit Stress, Irritation und eine negativen Gestimmtheit reagiert wird, wenn man spürt, dass man den Anforderungen nicht mehr nachkommen kann. Doch nicht nur die Leistungsfähigkeit sinkt, insbesondere auch die Fähigkeit, Wichtiges auszuwählen und weniger Wichtiges auszublenden, sondern es nimmt auch noch die Affektkontrolle ab, was soziale Beziehungen und das Zusammenleben erschwert (Berto, 2005; Kaplan, 1995).
Die Aufmerksamkeitserholungstheorie wurde in vielen Untersuchungen empirisch bestätigt. Hier seien als Beispiele die Untersuchungen von Tennessen & Cimprich (1995) und von Berto (2005) angeführt. Die Versuchspersonen von Tennessen & Cimprich waren Bewohner eines Studentenwohnheims. Je nach der Art des Ausblicks aus dem Fenster des Zimmers wurde zwischen vier Gruppen unterschieden. Eine Gruppe, die «all natural view», blickte auf ausschließlich grüne Natur, etwas weniger Natur war vom Fenster der «mostly natural view» Gruppe zu sehen. Die «mostly built view»- sowie die «all built view» Gruppe sahen auf eine Umwelt mit wenig oder keiner grünen Natur wie z. B. eine Hauswand. Mehrere Tests, die ein hohes Ausmaß an willkürlicher Aufmerksamkeit erforderten, wurden durchgeführt. Eine Aufgabe bestand darin, in sehr kurzer Zeit geometrischen Symbolen Zahlen zuzuordnen. Registriert wurde dabei die Anzahl richtiger Zuordnungen. Ein weiterer Test erfasste die Fähigkeit, konkurrierende Reizmuster auszublenden. Grundlage war die als Neckerscher Würfel bekannte Kippfigur, die man unterschiedlich sehen kann. Alle Kanten des Würfels sind gleich stark ausgezogen (Abbildung 2-15). Je nachdem, wohin der Betrachter seine Aufmerksamkeit lenkt, erscheinen bald die einen, bald die anderen Kanten als die vorderen. In diesem Test wurde die Fähigkeit erfasst, sich auf eine Perspektive zu konzentrieren und das unwillkürliche Kippen zu unterdrücken.
Die «all natural view» Gruppe schnitt in beiden Tests signifikant besser ab als die drei anderen Gruppen. Ein Unterschied ergab sich auch, wenn zwei Gruppen gebildet wurden, eine Natur- und eine gebaute Umwelt-Gruppe. Wenn man bedenkt, dass effektives Studieren ein hohes Ausmaß an gerichteter Aufmerksamkeit erfordert, dann ist unmittelbar ersichtlich, dass Studentenwohnheime von möglichst viel grüner Natur umgeben sein sollten. Das Studieren ist effektiver, wenn sich ohne Mühe mentale Ermüdung verringern lässt.
Berto (2005) hat die Aufmerksamkeitserholungstheorie mit einer experimentellen Versuchsanordnung überprüft. In der Vorher-Phase wurde mentale Ermüdung induziert, indem die Versuchspersonen mit einem Test konfrontiert wurden, der eine fortgesetzte hohe Konzentration verlangte. Der Test bestand aus 240 Zahlen von 1 bis 9, die nur jeweils 250 Millisekunden auf dem Bildschirm eines Computers zu sehen waren. Die Zahlen folgten sehr rasch aufeinander. Zielobjekt war die Zahl 3. Auf alle Zahlen mit Ausnahme der 3 sollte mit dem Drücken der Leertaste reagiert werden. Im Anschluss an diese ermüdende Tätigkeit wurden nach dem Zufallsprinzip zwei Gruppen gebildet. Dass es zufällige Gruppierungen waren, zeigte sich daran, dass sich die beiden Gruppen in der Vorher-Phase in ihren Reaktionszeiten und der Zahl richtiger und falscher Reaktionen nicht unterschieden. Die eine Gruppe bekam Bilder mit Naturszenen vorgeführt, die andere Gruppe Bilder mit städtischen Szenen. Auf den Naturbildern waren Seen, Flüsse, Hügel, Bäume und Pflanzen zu sehen, Inhalte der städtischen Szenen waren Straßen, Fabriken und Gebäude. Die Phase dauerte sechs Minuten. In der Nachher-Phase wurde erneut der Test aus der Vorher-Phase eingesetzt. Bei dem Vergleich der beiden Phasen kam die erholende Wirkung der Naturbilder deutlich zum Ausdruck. Bei der Gruppe, die die Naturbilder gesehen hatte, waren die Reaktionszeiten kürzer und die Zahl richtiger Antworten höher.
In einem zweiten Experiment wollte Berto klären, ob es unbedingt Naturbilder sein müssen oder ob nicht generell Bilder, deren Betrachtung nicht mental anstrengt, eine vergleichbare Wirkung haben. Vorgegangen wurde wie im ersten Experiment, es wurden lediglich anstelle der Bilder mit Naturszenen farbige geometrische Muster dargeboten. Das Ergebnis war eindeutig: Bilder mit solchen Mustern sind zwar nicht mental anstrengend, aber eben auch nicht erholend, sie faszinieren nicht.
Dieses Ergebnis besagt, dass Naturkontakte ein Mittel sein können, um Konzentrationsstörungen zu therapieren. Insbesondere bei chronischen Störungen der willkürlichen Aufmerksamkeit müssten faszinierende Naturumwelten von Nutzen sein. Dieser Frage sind Taylor, Kuo & Sullivan (2001) nachgegangen. Sie widmeten sich dem Problem des Attention Deficit Disorder (ADD). Nach Schätzung der Forscher leiden etwa 3 bis 7% der Schulkinder an chronischen Störungen der Aufmerksamkeit. Die Folgen des ADD sind schlechte schulische Leistungen, ein negatives Selbstbild und gestörte soziale Beziehungen innerhalb der Familie und zu Gleichaltrigen. Konkrete Symptome des ADD sind: das Kind
• kann sich nicht auf seine Schul- oder Hausarbeiten konzentrieren
• bringt Aufgaben nicht zu Ende
• kann nicht zuhören und Anweisungen folgen
• ist leicht ablenkbar.
Darüber hinaus führt das ADD zu Entwicklungsverzögerungen. So ist der Entwicklungsstand eines 10-jährigen Kindes mit ADD etwa mit demjenigen eines 7-jährigen Kindes ohne ADD vergleichbar.
Die Symptomatik ist unterschiedlich stark. Es könnte also sein, dass Kinder mit einem starken Defizit besonders wenig mit Natur in Berührung kommen. Taylor und Mitarbeiter haben diese Hypothese bestätigt. Dabei gingen sie so vor, dass sie die Eltern 7- bis 12-jähriger Kinder mit ADD ausführlich interviewten. Die Eltern sollten bis zu zwei Freizeitaktivitäten des Kindes nennen, die sich aus ihrer Sicht positiv, also ADD mindernd, auswirken, sowie bis zu zwei Aktivitäten mit vermutlich negativen Folgen.
Insgesamt 96 Fragebögen, die Eltern von Kindern mit ADD ausgefüllt hatten, wurden ausgewertet. Hinsichtlich der Minderung der ADD Symptomatik wurden 113 günstige und 106 ungünstige Aktivitäten genannt. Diese günstigen und ungünstigen Aktivitäten haben Taylor et al. drei Umgebungen zugeordnet (vgl. Tabelle 2-2).
Bei den Aktivitäten Fernsehen und Computerspiele überwiegt die Einschätzung, dass sie ADD verstärken. Diese Aktivitäten finden üblicherweise in Innenräumen statt. Aktivitäten, die in der freien Natur stattfinden, wird weit überwiegend eine günstige Wirkung zugeschrieben.
Im anschließenden Interviewteil sollte von den Eltern auf einer Skala die Schwere der Symptomatik und das Vorhandensein grüner Natur («greenness») in der Wohnumgebung eingestuft werden. Die Einordnung auf der Grün-Skala wurde ihnen dadurch erleichtert, dass Fotos von Umwelten vorgelegt wurden, die sich hinsichtlich des Ausmaßes an grüner Natur unterscheiden. Die Eltern konnten sich anhand der Bilder orientieren und unter diesen das für sie zutreffende auswählen. Das Ergebnis war, dass die Schwere der Symptomatik mit den Wohnumgebungsmerkmalen korreliert: Bei den Kindern, in deren Wohnumgebung es Bäume und Grasflächen gab, war die Symptomatik schwächer.
Nach den Recherchen von Taylor und Mitarbeitern sind medikamentöse Behandlungen des ADD entweder nicht besonders wirkungsvoll oder haben unerwünschte Nebeneffekte. Auch verhaltenstherapeutische Methoden haben keinen spürbaren Erfolg. Umso mehr stellt sich die Frage nach einer «Natur-Therapie». Die Aufmerksamkeitserholungstheorie weist den Weg zu einem Erfolg versprechenden neuen therapeutischen Ansatz.
Die Aufmerksamkeitserholungstheorie und das physiologische Modell der emotionalen Reaktion schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich: Die Erholungswirkung von Natur beruht auf der Senkung eines zu hohen Erregungsniveaus (Laumann et al., 2003). Im entspannten Zustand unter Vorherrschaft des Parasympathikus kann man sich schneller von mentaler Ermüdung erholen.
Erholsame Umwelten
Das Konzept der erholsamen Umwelt (restorative environment) stellt eine Erweiterung der Aufmerksamkeitserholungstheorie dar, die sich in erster Linie auf den Faktor der Faszination stützt. Erholsame Umwelten besitzen folgende Qualitäten (Kaplan, 1995):
• sie sind faszinierend
• sie bieten ein psychisches Weit weg sein vom Alltag (being away)
• sie vermitteln den Eindruck von Ausdehnung und Weite (extent)
• sie werden als zu den eigenen Absichten passend erlebt (compatibility).
Erholsame Umwelten sind nicht nur für kranke Menschen, die wieder gesund werden möchten, segensreich, sondern für die sehr große Gruppe all derjenigen, die Stress erleben oder nach einer Phase der Beanspruchung müde und erschöpft sind.
Being away meint bewusstes Entfernt sein vom Alltag und dessen Anforderungen und Restriktionen. Es ist nicht nur im räumlichen Sinne gemeint, sondern bedeutet auch, in einer anderen Welt zu sein, die von der Alltagswelt grundverschieden ist. Die räumliche Entfernung korreliert zwar mit der Andersartigkeit, inwieweit jedoch «das Anderswo» räumlich weit weg ist, ist eher nebensächlich.
Auf einen wichtigen Aspekt der Andersartigkeit hat Wohlwill (1983) hingewiesen: Während des Aufenthalts in der Natur ist es nicht erforderlich, responsiv zu sein; man muss nicht ständig mit anderen interagieren und kommunizieren, wie es im normalen Alltagsleben meistens verlangt wird. In der Natur kann man dem «Sozialstress» entgehen und vollund ganz Einzelwesen sein, ohne sich einsam zu fühlen. Man ist der Last fortwährender sozialer Beziehungen und der Erwartungen der anderen enthoben.
Die Hinwendung zur Natur kann eine unbewusste Strategie sein, um traumatisierenden Situationen zu entkommen25.
Neben der Differenzierung zwischen dem räumlichen und dem psychologischen being away trägt die Unterscheidung zwischen Push- und Pull-Faktoren zur Strukturierung bei. Push meint das Streben, an einen anderen Ort zu gelangen, weil man es dort, wo man ist, unangenehm und belastend findet, wohingegen Pull bedeutet, dass es einen zu einem bestimmten Ort hinzieht. Dementsprechend hat Hammitt (2000) unterschieden zwischen
• dem being away- from
• dem being away- to.
Hammitt hat Besucher von vier Waldparks in Cleveland/Ohio befragt, um herauszufinden, welches der beiden Motive, das being away-from oder das being away-to, überwiegt. Die statistische Auswertung ergab, dass es drei Motive bzw. Faktoren gibt und zwar einen being away-from- und zwei being away-to- Faktoren. Der erste Faktor wurde interpretiert als Weitwegsein von der alltäglichen Routine. Der zweite Faktor repräsentierte das Verlangen nach nicht-alltäglichen Orten wie der Natur und anderen «Ruhe-Inseln». Der dritte Faktor wurde als Wunsch nach Orten, die frei von Aufgaben und Anforderungen sind, gedeutet. Das being away-to umfasst somit zwei Aspekte: zum einen das Verlangen nach Abwechslung, zum anderen das Freisein von Verpflichtungen und Anforderungen. Es zeigte sich, dass die Besucher der Naturparks primär dorthin kommen, weil sie die Natur positiv erleben und weniger, um dem Alltag mit seinen Anforderungen zu entfliehen. Die Parkbesucher sind keine Wegstrebenden, sondern vor allem Hinstrebende. Naturumwelten sind also nicht nur «Fluchtgebiete», sondern Umwelten, die bewusst aufgesucht werden, um dort Ruhe und Frieden zu haben und sich ungestört und frei von Pflichten und Aufgaben zu fühlen.
Das Ergebnis, dass es in erster Linie Pull-Faktoren sind, die die Menschen in die Natur streben lassen, lässt sich jedoch nicht ohne weiteres generalisieren. Denn welches Motiv jeweils überwiegt, dürfte wesentlich von der Ausgangs- sowie der Gesamtsituation abhängen. Ist die Ausgangslage ungünstig, weil z. B. die Lärmbelastung in der alltäglichen Umwelt sehr hoch ist, wird das Streben, von diesem Ort wegzukommen, das vorherrschende Motiv sein. Aus einer verlärmten Welt, in der die Kommunikation beeinträchtigt wird, in der man sich nicht konzentrieren kann, in der man spürt, dass man nichts zustande bringt, flieht der Mensch in die Natur, in der er dem Lärm zu entkommen und Stille zu finden hofft. Doch die stille Natur ist häufig nur ein Wunschbild. Die großen Areale von Naturschutzgebieten und Nationalparks liegen nicht selten auf den Routen des Flugverkehrs (Mace et al., 2004). Der Lärm in Nationalparks wird jedoch nicht nur durch darüber hinweg fliegende Flugzeuge verursacht, sondern auch durch die mit dem Pkw anreisenden Besucher. Es ist das Paradox, dass diejenigen, die Ruhe suchen, durch ihr Verhalten dazu beitragen, dass diese Qualität verloren geht.
Wahrgenommene Weite
Ein weiteres zentrales Merkmal, das erholsame Umwelten kennzeichnet, ist die wahrgenommene Weite. Wie Kaplan (1995) meinte, müssen Umwelten eine gewisse Ausdehnung haben, um überhaupt erholsam sein zu können. In zu kleinen beengenden Räumen fällt es schwer, sich frei und unbeschwert zu fühlen. Schon Bollnow (1963) hatte gemeint, dass das Erleben von Weite bedeutet, nicht behindert zu werden:
Enge […] geht immer auf die Behinderung der freien Bewegung durch eine sie allseits beschränkende Hülle[…]. Weite bezeichnet demgegenüber die Befreiung von dieser Behinderung […]. Allgemein also empfindet der Mensch die beengenden Räume als einen Druck, der ihn quält; er sucht sie zu sprengen und in die befreiende Welt vorzustoßen (Bollnow, 1963, S. 89).
Weite hat also nicht nur den funktionalen Aspekt, einen Raum überschauen und weit in die Ferne blicken zu können, sondern hat auch die symbolische Bedeutung des Freiseins. Weite wirkt anregend und hält den Geist wach (Kaplan, 1995).
Der Eindruck von Weite lässt sich verstärken, indem man bei der Umweltgestaltung wahrnehmungspsychologische Prinzipien wie die lineare und die atmosphärische Perspektive einsetzt, um Raumtiefe zu erzeugen. Die lineare Perspektive beruht auf dem Prinzip, dass parallele Linien mit zunehmender Entfernung zu konvergieren scheinen, so dass man aus der Konvergenz auf die Entfernung schließen kann. Konvergieren die Linien sehr allmählich, hat man den Eindruck von Weite. Die atmosphärische Perspektive bezieht sich auf das Phänomen, dass Dinge und Objekte umso verschwommener und unklarer erscheinen und sich umso weniger deutlich als Figur vom Hintergrund abheben, je weiter weg sie vom Betrachter sind. Die Erzeugung unscharfer Texturen ist so ein Mittel, um den Eindruck von Entfernung und Weite zu erzeugen.
Kompatibiliät
Ein wichtiges Merkmal erholsamer Umwelten ist Kompatibilität. Die Umwelt ist für einen Menschen kompatibel, wenn er sie als zu seinen Bedürfnissen, Motiven und Handlungsabsichten passend wahrnimmt (Kaplan, 1995). Synonyme Begriffe, um das Übereinstimmen von Umweltbedingungen und individuellen Intentionen und Bedürfnissen zu bezeichnen, sind Passung, Synomorphie und Kongruenz. Synomorphie heißt Strukturgleichheit zwischen Umwelt und Verhalten bzw. Verhaltensabsichten.
Die Differenzierung von Fuhrer (1996) zwischen verschiedenen Formen von Kongruenz zeigt die verschiedenen Aspekte von Kompatibilität. Fuhre hat zwischen ergonomischer, emotionaler, kognitiver und motivationaler Kongruenz unterschieden. Ergonomische Kongruenz ist gegeben, wenn Sitzmöbel, Treppenstufen, Greifweiten, Türhöhen usw. den körperlichen Maßen und Proportionen angepasst sind. Bei kognitiver Kongruenz ist die Umwelt lesbar; es fällt leicht, sich darin zu orientieren. Wird die Umwelt gefühlsmäßig als passend empfunden, ist sie emotional kongruent. Ein Beispiel für emotionale Kongruenz ist die Zustimmung zu der Aussage: «In dieser Landschaft fühle ich mich ganz wie zu Hause». Zugestimmt wird weit eher, wenn die Umwelt den richtigen Maßstab (human scale) hat.
Kongruenz im motivationalen Bereich meint eine Entsprechung von individuellen Zielen, Bedürfnissen und Motiven und dem Grad der Erleichterung ihrer Erfüllung durch die Umwelt. Man kann vieles machen, und es fällt leicht, das, was man möchte, auch zu tun.
Favorite places
Im Zusammenhang mit dem Merkmal der Kompatibilität sind die «favorite places» (Lieblingsorte) zu nennen, die insbesondere Korpela und Mitarbeiter analysiert haben. In einer Befragung von Studierenden in Finnland haben Korpela & Hartig (1996) herausgefunden, dass Landschaften mit Seen und Bereiche mit Bäumen häufige Lieblingsorte sind. Charakterisiert wurden die Lieblingsorte als Bereiche, die schöne Ausblicke bieten, grüne Natur sowie Seen und Flüsse aufweisen und hell und sonnig sind. Lieblingsorte sind jedoch nicht allein wegen eines schönen Erscheinungsbilds bevorzugte Orte, deren Anblick wohl tut, sie vermögen noch mehr, wie Korpela, Kyttä & Hartig (2002) in ihrer Untersuchung mit 8- bis 13-Jährigen festgestellt haben. Lieblingsorte tragen mittels ihrer emotionalen Kongruenz dazu bei, nach Enttäuschungen, Rückschlägen und Niedergeschlagenheit wieder zu einem emotionalen Gleichgewicht zu gelangen. Sie dienen der psychischen Regulation. Am Lieblingsort kann man rascher wieder mit sich selbst ins Reine kommen.
Da die Motive individuell unterschiedlich sind, ist ein und dieselbe Umwelt auch unterschiedlich motivational kongruent. Das, was der eine anstrebt, ist nicht unbedingt auch das, was ein anderer im Sinn hat. Für die Planung heißt das, dass Umwelten entweder vielfältige Angebote liefern oder nutzungsoffen gestaltet sein müssen, um nicht nur für einige wenige, sondern für möglichst viele Menschen kompatibel zu sein. Zum Beispiel besitzt ein Stadtpark ein hohes Potential an Kompatibilität, wenn er so angelegt ist, dass alle Besucher dort die Gelegenheit haben, ihre Absichten zu realisieren, z. B. die einen, indem sie spazieren gehen, die anderen, indem sie sich Anregungen für den eigenen Garten holen.
Messung des Erholungspotentials
Hartig, Kaiser & Bowler (1997) haben zur Erfassung des Erholungspotentials von Umwelten die «Perceived Restorativeness Scale» (PRS) konstruiert, wobei sie von vier Faktoren ausgingen: being away, Faszination, Kompatibilität und Kohärenz. Diese Faktoren repräsentieren unterschiedliche Aspekte erholsamer Umwelten; es sind jedoch keine unabhängigen Dimensionen. Ein Entfernt sein vom Alltag ist z. B. nur dann erholsam, wenn der andere Ort als passend, als faszinierend und nicht als trostlos und eintönig erlebt wird.
In einer neueren Variante der PRS, die Purcell, Peron & Berto (2001) vorgelegt haben, wird als fünfter Faktor die wahrgenommene Weite ermittelt (vgl. Tabelle 2-3). Auch hier interessiert nicht nur der Gesamtwert, sondern das differenzierende Profil. Ein Park kann z. B. wegen seiner Blütenpracht besonders faszinierend und aus diesem Grunde auch überdurchschnittlich erholsam sein, ein anderer bietet dagegen viel Weite und fördert deshalb die Erholung. Purcell et al. (2001) verwendeten für die Beurteilung der vorlegten Aussagen eine Skala mit 11 Stufen, wobei der Skalenwert 0 bedeutet: stimmt überhaupt nicht, und 10 = stimmt vollkommen. Erst ab einem Wert über 5,5 verdienen die auf diese Weise bewerteten Umwelten das Label «erholsam».
Die Forscher ließen Studierende Bilder von verschiedenen Umwelttypen mit der PRS beurteilen, wobei sich folgende Mittelwerte ergaben:
• für Industriegebiete 3,6
• für Häuser 3,9
• für innerstädtische Straßen 4,5
• für hügelige Landschaften 5,9
• für Naturlandschaften mit Seen 6,2.
Nur die hügeligen Landschaften und die Seenlandschaften wurden als erholsam bewertet. Bei allen anderen Umwelten lag der Skalenmittelwert unter 5,5.
Mit zwei weiteren Aussagen, die ebenfalls auf 11-stufigen Skalen zu beurteilen waren, ermittelten die Forscher die Wertschätzung und die Präferenz für den jeweiligen Umwelttyp:
• ich liebe diesen Ort
• ich bevorzuge diesen Ort gegenüber allen anderen, an denen ich jemals gewesen bin.
Wie sich zeigte, korrelieren der wahrgenommene Erholungswert einer Umwelt und die Vorliebe dafür hochsignifikant. Wer z. B. seine Wohnumwelt als Lieblingsort empfindet, kann sich dort auch erholen.
Mit der PRS lässt sich das Erholungspotential differenziert erfassen. Tenngart & Hagerhall (2008) haben mit der PRS von Purcell et al. (2001) zwei Gärten unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Typs hinsichtlich ihres Erholungspotentials untersucht. Beide Gärten wurden als therapeutische Orte für Menschen angelegt, die an Stress bedingten Beschwerden leiden. Von den Gärten wurden Fotoserien gemacht, die von Studierenden der Psychologie und der Landschaftsarchitektur beurteilt wurden.
Beide Gärten erwiesen sich als als «restorative environments», wobei der größere Garten A insgesamt noch wirksamer ist als der Garten B. Nur hinsichtlich der Kohärenz ist der Garten B dem Garten A überlegen (vgl. Tabelle 2-4).
Aus Tabelle 2-4 ist ersichtlich, dass ein Gesamtwert allein nur wenig aussagen würde, denn man würde nicht erfahren, welche Dimension denn nun besonders zur Erholung beiträgt und welche eher wenig. Der Garten A ist erholsam, weil er ein Kontrasterlebnis zum Alltag bietet, wegen der Faszination, die er auslöst, und wegen seiner wahrgenommenen Weite. Nur dem Garten A wird Weite zugeschrieben, was plausibel ist, weil dieser Garten relativ groß ist. Die Stärke des Gartens B ist seine Kohärenz, was insbesondere die Landschaftsarchitektur-Studierenden dem Garten bescheinigten. In beiden Gärten kann man sich weit entfernt vom Alltag mitsamt den vielerlei Ärgernissen fühlen. Das Fazit ist, dass in kleineren Arealen, in denen sich der Eindruck von Weite schwerlich erzeugen lässt, die anderen Faktoren umso wichtiger sind, um mangelnde Weite zu kompensieren; sie müssen in solchen Fällen besonders faszinierend, kohärent und kontrastreich sein.
Auch der Vergleich der Gruppen erwies sich als aufschlussreich. Die Landschaftsarchitektur-Studierenden urteilen positiver, die Psychologie-Studierenden sind mit positiven Bewertungen zurückhaltender. Inwieweit sich dieses Ergebnis auf die dann voll im Beruf tätigen Landschaftsarchitekten und Psychologen generalisieren lässt, sei dahin gestellt. Es würde bedeuten, dass die planenden und gestaltenden Fachleute optimistischer sind als die Verhaltensexperten.
Laumann et al. (2001) haben in einer Faktorenanalyse insgesamt fünf Faktoren ermittelt:
• Neuheit
• Ausstieg
• Weite
• Faszination
• Kompatibilität.
Die beiden ersten Faktoren, Neuheit und Ausstieg, können als Aspekte des being away gesehen werden, wobei der Faktor Neuheit in erster Linie ein physisches, der Faktor Ausstieg ein psychologisches Anderswo beinhaltet. Fasst man Neuheit und Ausstieg zu einem being away-Faktor zusammen, ist man wieder bei der 4-dimensionalen Struktur erholsamer Umwelten angelangt.
In der zweiten Studie von Laumann und Mitarbeitern wurden Versuchspersonen Folgen von Videos von jeweils 12 Bildern zu fünf verschiedenen Landschaften dargeboten. Gezeigt wurden ein Wald mit einer Lichtung, eine Parklandschaft, ein See in einer Naturlandschaft, eine schneebedeckte Hochebene in den Bergen und eine Straßenszene in einer Stadt. Die Versuchspersonen gaben ihre Urteile zu 22 Umweltmerkmalen ab und zwar auf 7-stufigen Skalen. Wie aus Abbildung 2-16 hervorgeht, begibt man sich am besten in den Wald, in eine Naturlandschaft mit Seen oder in schneebedeckte bergige Höhen, wenn man aus dem Alltag entfliehen will. Das höchste Ausmaß an Weite bietet die Berglandschaft, wohingegen ein See inmitten der Natur sowie ein Wald mit Lichtung besonders faszinierend sind. Auch hier zeigte sich wieder, dass Naturlandschaften aus unterschiedlichen Gründen erholsam sein können. Die Stadt bietet kaum Ausstiegsmöglichkeiten, und im Vergleich zur freien Natur ist der Park nicht besonders erholsam.
Umwelten können so aus mehreren Gründen einen Erholeffekt haben: weil sie faszinieren, weil sie wegen ihrer Weite geschätzt werden, weil sie eine Kontrastwelt und damit andere Formen des Erlebens und Verhaltens bieten als die gewohnte Alltagsumwelt, und weil sie als passend erlebt werden.
2.3 Die unheimliche
und lebensfeindliche Natur
Bei freien Assoziationen zum Begriff der Natur überwiegen die positiven Vorstellungen und Assoziationen (Krömker, 2004). Die übermächtige und vernichtende Natur kommt jedenfalls nicht als erstes in den Sinn, sondern weit eher die schöne Landschaft bis hin zum Paradiesgarten, in dem alle Lebewesen in Harmonie friedlich zusammen leben. Naturphänomene sind jedoch ambivalent: Es gibt nicht nur die ästhetisch ansprechende, erholsame und wohl tuende, sondern auch die bedrohliche, zerstörerische Natur, in der die stärkeren die schwächeren Lebewesen verdrängen und vernichten und in der sich extreme Ereignisse wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen und Unwetter abspielen. Weniger extrem ist die unheimliche Natur, deren Erscheinungen man nicht deuten und einschätzen kann. Der undurchdringliche Wald ist eine unheimliche Welt, in der wilde Tiere leben und in der man sich verirren kann - eine beliebte Kulisse für Märchen. Unheimlich ist auch die unberührte wilde Natur, in der ungewiss ist, was einem dort widerfährt. Man kann vom Felsen abstürzen, im Meer ertrinken, sich in der Einöde verirren und von wilden Tieren angegriffen werden.
Die übermächtige Natur, die den Menschen in Angst und Schrecken versetzen und auch vernichten kann, setzt das ausgewogene Mensch-Natur-Verhältnis vorübergehend, längerfristig oder auch dauerhaft außer Kraft. Nicht nur wegen extremer Ereignisse, die unvorhersehbar über die Menschen herein brechen können, ist die Natur bedrohlich, sondern auch dann, wenn sie Nahrungsmittel, Wasser, Schutz und Wärme, die der Mensch zum (Über-) Leben braucht, nicht in ausreichendem Maße bietet.
Die unheimliche Natur
Unheimlich ist das nicht kontrollierbare Unbekannte. Das Unheimliche ist spannend und aufregend, zugleich aber auch beängstigend und bedrohlich. Zu viel Ungewissheit und Geheimnis sind unheimlich, ein Übermaß an Spannung und Erregung schlägt negativ zu Buche. Nur in bestimmten Situationen wird eine übergroße Erregung angestrebt, was der Begriff der Angstlust (thrill) zum Ausdruck bringt: Angst kann lustvoll sein, wenn die Gesamtsituation unter Kontrolle ist und die betreffende Person weiß, dass das Übererregende und Gefährliche nur von kurzer Dauer ist.
Die Trennlinie zwischen der unheimlichen, nicht durch den Menschen kontrollierbaren Wildnis und der geheimnisvollen Natur, die wegen eines hohen Ausmaßes an Mystery anziehend ist, lässt sich nicht immer leicht ziehen. Die Gründe liegen zum einen in den individuellen Unterschieden in der Wahrnehmung von Unheimlichkeit, zum anderen hängt es von der Gesamtsituation und der wahrgenommenen Kontrolle darüber ab.
Wie schwierig die Grenzziehung ist, zeigt die Untersuchung von Herzog & Kropscott (2004). Von einer interessanten anregenden Rätselhaftigkeit bis hin zu einer bedrohlichen nicht kontrollierbaren Ungewissheit kann es nur ein kleiner Schritt sein. Die Forscher legten ihren Versuchspersonen Bilder mit vier Typen von Waldszenen vor, die sie auf 5-stufigen Skalen hinsichtlich verschiedener Merkmale wie Präferenz, Gefährlichkeit, Lesbarkeit und Mystery bewerten sollten. Gefährlichkeit und Mystery korrelierten hoch positiv miteinander. Mystery in waldiger Umgebung wurde von den Versuchspersonen kaum mehr als anregend und auch nicht mehr als dazu motivierend, den Wald näher zu erkunden, sondern stattdessen als gefährlich eingeschätzt. Bedrohlichkeit und Präferenz korrelierten wie auch Präferenz und Mystery signifikant negativ. Beides spricht dafür, dass der mysteriöse Wald zugleich auch der unheimliche Wald ist, der negative Gefühle weckt. Erhärtet wurde dieses Ergebnis in einer weiteren Untersuchung von Herzog & Kirk (2005). Die Versuchspersonen bewerteten eine Serie von 56 Bildern von Waldszenen mit einem Weg, bei dem Mystery, Übersichtlichkeit, die Wegelänge und Wegebreite variiert wurden. Es ergab sich eine negative Korrelation zwischen Präferenz und wahrgenommener Bedrohlichkeit. Mystery korrelierte auch hier positiv mit Bedrohlichkeit und negativ mit Übersichtlichkeit. Die besten Noten erhielt ein Waldweg mit Ausblicken.
Da sich jedoch in etlichen Untersuchungen Mystery als ein Merkmal herausgestellt hat, das mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer positiven Einschätzung von Landschaften beiträgt, lassen die Ergebnisse von Herzog und Mitarbeitern darauf schließen, dass Mystery in bestimmten Situationen fehl am Platze ist. Typisch für solche Situationen ist fehlende visuelle Kontrolle, verbunden mit dem Eindruck, dass auch erkundende Schritte den Blick versperrenden dichten Wald nicht lichten könnten.
Manchmal ein Gewitter,
das nicht über den See kam,
und bei jedem Blitz
zählte meine Angst
den Donner aus.
(Ausschnitt aus einem Gedicht von Peter Engel: Kindheitssommer, in Peter Engel (2000). Rückwärts voraus. Weilerswist: Landpresse, S. 24)
Doch nicht nur der die Sicht beeinträchtigende dunkle Wald, sondern sogar ein Stadtpark kann den Eindruck von Unheimlichkeit hervorrufen, wenn er nämlich in den Zeiten der Dunkelheit durchquert wird. Er kann zu einem «Angstort» werden, für den eine fehlende visuelle Kontrolle typisch ist. Hier mangelt es an «Prospect» (Fisher & Nasar, 1992). Mystery kann sich bei eingeschränkter Übersichtlichkeit negativ auswirken.
Umwelten, die für Erwachsene noch den Flair des Geheimnisvollen haben, können für Kinder unheimlich und beängstigend sein. Sobald das Kleinkind zwischen sich und der Umwelt unterscheiden kann, tritt auch das Unheimliche und Fremde in seine Welt (Tuan, 1979). Für Kinder ist die Umwelt zum allergrößten Teil noch unbekannt und so gut wie nicht kontrollierbar, so dass Kinder etliches an Unheimlichkeit verkraften müssen.
Die Welt des Kindes weitet sich rapide aus, sobald das Kind mobil wird. Es kommt mit aufregenden Neuigkeiten in Berührung, die unter Umständen gefährlich sind (Tuan, 1979, S. 13).
Kinder haben Angst, allein gelassen zu werden, weil sie sich ungeschützt fühlen, sie haben Angst vor Dunkelheit und vor Tieren. Dunkelheit geht mit dem Gefühl der Isolation und mangelnder Orientierung einher. Die Angst verlassen zu werden, taucht als Thema in verschiedenen Märchen auf. Darin spielt meistens der Wald, der fremd, dunkel und sehr groß ist und in dem es hohe Bäume gibt, die Kindern noch viel größer erscheinen als Erwachsenen, eine bedeutende Rolle. Für das Kind kann der Wald eine chaotische Wildnis sein, in der man verloren gehen kann (Tuan, 1979).
Die Furcht von Kindern richtet sich auf unheimliche Lebewesen wie Hexen, mächtige Geister, Götter, Dämonen, Schlangen und wilde Tiere, die in der Natur zu finden sind, und auf Phänomene der unbelebten Natur wie Gewitter. Der dunkle Wald wird zum Alptraum, das Gewitter löst Angst und Schrecken aus. Für Kinder, die nur die Stadt als Umwelt kennen, sind Naturumwelten besonders unheimlich (Tuan, 1978; 1979).
Im Rückblick erinnert man sich an die Ängste der Kindheit. Dem Dichter ist es möglich, diese Ängste so in Worte zu kleiden, dass sie unmittelbar nachvollziehbar sind (vgl. den Gedichtausschnitt auf S. 104).
Die übermächtige Natur
Extreme Ereignisse wie Erdbeben, Vulkanausbrüche, Erdrutsche, Überschwemmungen, Sturmfluten und Orkane führen die Kraft der Natur vor Augen. Schon ein gewöhnliches Gewitter entfaltet Kräfte, die der Mensch nicht kontrollieren kann. Er erlebt sich als machtlos (Peek & Mileti, 2002). Dies gilt vor allem für extreme Naturereignisse. Der Mensch kann es nicht verhindern, dass ein Vulkan durch die Staubmengen, die er in die Luft schleudert, den Flugverkehr zum Erliegen bringt, oder dass ein Erdbeben eine Stadt in ein Trümmerfeld verwandelt (vgl. Abbildung 2-17).
Die weltweiten medialen Meldungen solcher Ereignisse erhöhen mental die wahrgenommene Wucht der Naturkräfte noch zusätzlich. Auch wer räumlich weit davon entfernt ist, wird berührt.
Der Bericht über die Sintflut in der Bibel, die fast die gesamte Schöpfung vernichtet hat, kann als sehr erfolgreiche mediale Verbreitung eines extremen Naturereignisses angesehen werden.
Als charakteristisches Merkmal von Naturkatastrophen wurde wiederholt deren Unkontrollierbarkeit herausgestellt (Bell et al, 1996; Rochford & Blocker, 1991; Moore & Moore, 1996). Diese rührt zum einen von den gewaltigen Naturkräften her, die der Mensch nicht in den Griff bekommen kann, zum andern liegt es an der Nicht-Vorhersagbarkeit.
Es sind gefährliche Ereignisse, die außerhalb des Bereichs der üblichen individuellen Erfahrungen liegen, die plötzlich und unerwartet mit extremer Kraft in Erscheinung treten und sichtbare Auswirkungen haben wie die Zerstörung des eigenen Hauses sowie der gesamten Stadt (Moore & Moore, 1996, S. 134).
Jahreszeitlich bedingte Naturphänomene sind demgegenüber voraussagbar, so dass man sich davor schützen oder sich damit arrangieren kann. Im Gebirge drohen im Winter Lawinen, die die Bewohner im Tal in ihrer Existenz bedrohen, im Sommer ist mit Hagel und Überschwemmungen zu rechnen. Auf solche wiederkehrenden und deshalb auch voraussagbaren Ereignisse kann man sich einstellen und entsprechende Vorkehrungen treffen.
Extreme Naturereignisse, denen man sich unerwartet gegenüber sieht, und denen man sich ausgeliefert fühlt, lösen Stress aus. Stress ist die Reaktion auf wahrgenommene Herausforderungen und Gefährdungen (Schönpflug 1996), deren Bedrohlichkeit eingeschätzt wird. Auf diese primäre Bewertung folgt eine Einschätzung, welche Möglichkeiten verfügbar sind, um diese Bedrohung abzuwehren (sekundäre Bewertung). Ergibt die primäre Bewertung, dass die Situation bedrohlich ist, und die sekundäre Bewertung, dass das Ausmaß der Bedrohung die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt, setzt sich der Stress fort. Panik, Angstzustände, Apathie, sozialer Rückzug, starke Erregung, negative Gestimmtheit, Depressionen, Alpträume, Schlafstörungen, Phobien und Erschöpfung sind typische Stresssymptome. Das Erkennen, dass man macht- und hilflos ist, ist eine sekundäre Bewertung.
Was diese sekundäre Bewertung betrifft, haben Rochford & Blocker (1991) zwischen zwei Mustern der Stressbewältigung unterschieden (vgl. Abbildung 2-19):
• einer nach innen gerichteten gefühlsmäßigen Auseinandersetzung mit dem Ereignis und dessen Folgen
• einem handlungsorientierten Vorgehen mit dem Ziel, den Schaden zu begrenzen.
Menschen mit einer fatalistischen Haltung, die das Geschehen als unabwendbares Unglück ansehen, das über sie hereingebrochen ist, gehen mit dem Stress in anderer Weise um als diejenigen, die das Desaster für vermeidbar halten, sofern man nur vorausschauend handelt. Die einen lassen sich als Fatalisten, die anderen als Aktionsorientierte charakterisieren Die Fatalisten verhalten sich einer einseitigen Mensch-Natur-Beziehung entsprechend: Das Ereignis bricht über sie herein, die Natur ist die übermächtige Wirkgröße, sie sind hilflose Opfer. Die Aktionsorientierten sind dagegen nicht so schnell bereit, die Opferrolle anzunehmen. Sie gehen - implizit - von einer wechselseitigen Mensch-Natur-Beziehung aus, indem sie die Beherrschbarkeit extremer Naturereignisse als von den vorbeugenden Maßnahmen abhängend ansehen, die ergriffen werden, bevor das Desaster stattfindet.
Vorbeugende Maßnahmen beziehen sich nicht nur auf das individuelle Überleben, denn extreme Naturereignisse gefährden auch den Lebensraum, so dass zu der individuellen Bedrohung auch noch die erlittenen physischen, sozialen und ökonomischen Verluste und der Zusammenbruch der Familie, sozialer Netze, Organisationen und Einrichtungen dazu kommen (Bell et al., 1996).
Das Verhalten der Aktionsorientierten ist erheblich aktiver und interaktiver. Rochford & Blocker (1991), die die Phase analysierten, die auf die Flutkatastrophe in Oklahoma im Jahr 1986 folgte, schildern die Aktionsorientierten als Personen, die die Katastrophe für vermeidbar gehalten haben, und die, da eine Vorbeugung nicht erfolgt ist, zu Protestaktionen aufriefen, um die anderen zu informieren, dass zu wenig unternommen worden sei, um das Verhängnis abzuwehren.
Die Geschichte vom «Schimmelreiter» von Theodor Storm beschreibt den Sachverhalt des Vorbeugens in literarischer Form: Der wegen seiner geplanten Neuerungen wenig beliebte junge Deichgraf möchte künftigen Flutkatastrophen vorbeugen, indem er bessere, aber bislang unübliche Deiche bauen möchte. Die mächtige Flut ist ein natürliches Ereignis, aber der Mensch kann vorab Maßnahmen ergreifen, damit es gar nicht erst zu eine Katastrophe kommt oder das Geschehen weniger vernichtend ist.
Inzwischen ist man in der Lage, wirkungsvollere Deiche zu bauen. Doch mit Zunahme der Fähigkeit, effektivere Vorkehrungen zu treffen, stellt sich - wie in einem interaktiven Modell zu erwarten - ein neuer Effekt ein. Der «Schutzdamm-Effekt» (levee effect) besagt: Man wähnt sich in Sicherheit, nachdem professionelle Maßnahmen durchgeführt wurden, die einem möglichen Desaster vorbeugen (Bell et al., 1996). Man baut, ohne sich Sorgen zu machen, die Häuser und Siedlungen in dem Gebiet wieder auf, weil man jetzt ja höhere Deiche hat oder weil man nunmehr dank der bautechnischen Möglichkeiten die Gebäude hat erdbebensicher errichten können.
Das interaktive Modell besagt, dass extreme Naturereignisse erst dann zu Naturkatastrophen werden, wenn Menschen diese Ereignisse als unkontrollierbar erleben und sich dementsprechend passiv verhalten (Linneweber & Lantermann, 2010). Inwieweit aus diesen Ereignissen Katastrophen werden, ist also auch eine Frage der Einschätzung. Ob vorbeugende Maßnahmen durchgeführt werden, hängt von der Beurteilung des Ereignisses ab. Wer sein Haus nicht sichert, so dass es bei einem Sturm zusammenbricht, erlebt eine Katastrophe, wer sich auf solche Stürme einstellt oder ein stabiles Haus baut, kann sie meistens unbeschadet überstehen (vgl. Abbildung 2-20).
Erst die Exponiertheit macht aus einem extremen Naturereignis eine Katastrophe. Ein Hurrikan in der menschenleeren Wüste ist keine Naturkatastrophe, wohl aber ein Hurrikan in einer bewohnten Gegend (Bell et al., 1996).
Hier taucht sogleich die Frage auf, warum sich Menschen überhaupt in Gegenden aufhalten und ansiedeln, in denen die übermächtige Natur häufiger zu spüren ist als andernorts. Analysen zeigen, dass wider besseren Wissens in Regionen gebaut wird, in denen solche extremen Ereignisse vergleichsweise oft auftreten. Ein vorrangiger Grund, warum dennoch in solchen Gebieten gesiedelt wird, ist die Sicherung der Existenz. Dabei sind sowohl Push- als auch Pull-Faktoren wirksam. Man nutzt den fruchtbaren Boden, den man in dem Gebiet vorfindet, oder man weicht einem hohen Bevölkerungsdruck aus, wie es die ersten Siedler auf der Insel Pellworm gemacht haben (vgl. Kapitel 3.2).
Ein Großteil der Schäden durch Hurrikans resultiert aus einer inadäquaten Bauweise. Losgerissene Teile verursachen massive Schäden. Menschen sind also mehr oder weniger zugleich auch Täter, weil sie sich auf die zu erwartenden Folgen nicht oder nicht ausreichend einstellen oder das Ereignis sogar mit verursachen (Linneweber & Lantermann, 2010).
Extreme Naturereignisse unterscheiden sich nicht nur in ihrer Art, ihrem Ausmaß und ihrer räumlichen Erstreckung, sondern auch in ihrem zeitlichen Verlauf und ihrer Dauer (Linneweber & Lantermann, 2010). Erdbeben, Stürme und Hurrikane, Hochwasser und Überschwemmungen, Sturmfluten, Erdrutsche und Vulkanausbrüche sind meistens von vergleichsweise kurzer Dauer. Die Zeitachse lässt sich grob unterteilen in die Phase vor, während und nach dem Ereignis. Als «low point» wurde der Tiefpunkt nach dem Desaster bezeichnet (Gifford, 2007).
Die Erforschung der psychologischen und sozialen Auswirkungen von Naturkatastrophen wird dadurch erschwert, dass Ereignisse dieser Art statistisch gesehen selten sind. Die meisten Untersuchungen sind aus diesem Grunde Fallstudien, die sich jeweils mit einem einzelnen sehr spezifischen Ereignis befassen, was eine Verallgemeinerung der Ergebnisse stark erschwert. Hinzukommt, dass die Forscher nicht gleich zur Stelle sind und, falls sie es wären, gar nicht zum Zuge kämen, weil in solchen extremen Situationen physische Hilfsmaßnahmen vorrangig sind. Die Untersuchungen können erst stattfinden, nachdem das Ereignis schon eingetreten ist (Bell et al., 1996). Man muss deshalb andere methodische Wege einschlagen. Dies sei am Beispiel einer Untersuchung von Baum et al. (1992) demonstriert. Darin wurde eine Zufallsstichprobe von Bewohnern befragt, die sich aus drei Gruppen zusammensetzte. Die erste Gruppe wohnte rund eine Meile von einer Müllkippe entfernt, auf der auch giftige Abfälle landeten, die zweite wohnte in einem Gebiet, das überschwemmt worden war, so dass die Häuser unter Wasser gestanden hatten, die dritte Gruppe diente als Vergleichsgruppe, die weder in dieser noch in jener Weise beeinträchtigt gewesen war. Neun Monate nach der Flutkatastrophe sowie der Bekanntmachung, dass die Müllkippe giftige Substanzen enthält, wurden bei den an der Untersuchung Beteiligen verschiedene Tests durchgeführt, um Stresssymptome und Gefühle der Hilflosigkeit zu erfassen. Das Ergebnis war eindeutig: die erste Gruppe wies signifikant mehr Stresssymptome auf und fühlte sich hilfloser als die zweite und die Vergleichsgruppe. Bemerkenswerterweise war zwischen der zweiten und der Vergleichsgruppe weder ein Unterschied im Stressniveau noch im Ausmaß der berichteten Hilflosigkeit festzustellen. Eine Flutkatastrophe - auch wenn sie ungeheuren Schaden anrichtet - führt im Unterschied zu einer problematischen, in der Nähe der Wohnung gelegenen Müllkippe nicht zu chronischem Stress und auch nicht zu dem Gefühl, ausgeliefert zu sein. Der Stress nach einer Naturkatastrophe ist offensichtlich abbaubar.
Hier trifft man jedoch auf ausgeprägte individuelle Unterschiede, wie Faupel & Styles (1993) festgestellt haben. Einige Menschen haben erhebliche Schwierigkeiten, den Stress zu bewältigen, vor allem diejenigen mit psychischen Problemen. Einige sind fast stressfrei. Eine Erklärung ist, dass von Naturkatastrophen immer viele Menschen betroffen sind, so dass es auch ein gemeinschaftliches Betroffensein gibt. Gerade in extremen Situationen trifft man auf vermehrte Gemeinschaftlichkeit und Hilfsbereitschaft. Ein dadurch hervorgerufenes Gemeinschaftsgefühl sowie positive soziale Erfahrungen wirken als «Stress-Puffer».
Des Weiteren untersuchten Faupel & Styles, inwieweit sich das Stressniveau reduzieren lässt, wenn man nicht unvorbereitet und demzufolge wehr- und hilflos mit dem Ereignis konfrontiert wird. Katastrophen-Erziehungsprogramme müssten - so die Annahme - die Stressbewältigungskompetenz stärken, das heißt den Eindruck, die Sache in den Griff zu bekommen. Bezogen auf die unten erläuterte Beziehung würden durch die Teilnahme an einem solchen Programm die Verletzbarkeit verringert und die psychologischen Ressourcen gestärkt werden. Diese Annahme wurde in der Region Südcarolina in den USA überprüft, in der die Wahrscheinlichkeit von Hurrikans und Erdbeben vergleichsweise hoch ist, so dass dort ein Katastrophen-Erziehungs-Zentrum eingerichtet worden war. Damit war die Gelegenheit gegeben, die Effektivität eines solchen Programms zu überprüfen. Fünf Monate nach dem Hurrikan Hugo führten Faupel & Styles eine Untersuchung durch, in der zwei Gruppen miteinander verglichen wurden. Die Personen in der einen Gruppe hatten an einem Katastrophen-Erziehungs-Programm teilgenommen, bei dem sie unterrichtet worden waren, wie man sich angesichts eines sich ankündigenden Hurrikans verhalten sollte. Die Vergleichsgruppe bestand aus Personen, die nicht in dieser Weise geschult worden waren. Das unerwartete Ergebnis war, dass die Vergleichsgruppe weniger Stresssymptome aufwies als die geschulte Gruppe. Eine erste Erklärung ist, dass es sich hier um einen Selektionseffekt handelt, wobei diejenigen, die Interesse an dem Katastrophen-Erziehungs-Programm gehabt haben, auch diejenigen sind, die sich stärker vor solchen Katastrophen fürchten und die schon vorab ein höheres Stressniveau haben als diejenigen, die meinen, keine Schulung zu benötigen. Eine zweite Erklärung ist, dass den Teilnehmern am Programm die Übermacht des Hurrikans erst richtig bewusst geworden ist, so dass sie sich gegenüber solchen Urkräften jetzt umso ohnmächtiger fühlen. In beiden Fällen sind die möglichen Nebeneffekte einer solchen Maßnahme vorab zu bedenken.
Gifford hat eine Beziehung aufgestellt, mit der das Stressniveau geschätzt werden kann (Gifford, 2007, S. 452):
Danach hängt das individuelle Stressniveau davon ab, wie stark man den Belastungen ausgesetzt und wie verletzbar man ist. Je exponierter und je verwundbarer ein Mensch ist, umso stärker ist der erlebte Stress. Im umgekehrten Verhältnis dazu stehen die psychologischen und sozialen Ressourcen. Über je mehr individuelle Mittel und soziale Unterstützung ein Mensch verfügen kann, umso weniger Stress wird er erleben. Diese Beziehung erklärt, warum die Personen in der einen Gruppe in der Untersuchung von Faupel & Styles (1993) kaum Stress erlebt haben: Sie konnten auf starke soziale Ressourcen zurückgreifen.
Insbesondere die sozialen Ressourcen blockieren auch den Umzug in eine Gegend, in der die Wahrscheinlichkeit extremer Naturereignisse geringer ist. Obwohl ein Wohnortswechsel nahe liegend wäre, wird er nur relativ selten praktiziert. Man möchte die Gegend, in der man sich sozial eingebunden fühlt, nicht verlassen (Gifford, 2007).
Nicht nur der Mensch selbst kann durch extreme Naturereignisse bedroht, verletzt oder getötet werden, sondern auch sein Haus und seine Lebenswelt mit allem darin, was ihm lieb und wert ist, kann der Vernichtung anheim fallen. Es sind zum einen materielle Verluste, zum anderen der Verlust von Angehörigen und vertrauten Menschen. Moore & Moore (1996) haben als Folge davon das Burnout-Syndrom ausgemacht, erkennbar an einer tief greifenden Erschöpfung und Mutlosigkeit. Befragt wurden Bewohner von Sullivan Island, die, bevor der Hurrikan Hugo in Südcarolina die Insel erreichte, evakuiert worden waren, die also selbst unversehrt geblieben sind. Ein dreiviertel Jahr nach dem Hurrikan wurde eine schriftliche Befragung der Bewohner durchgeführt, die nach dem Hurrikan in ihr Haus zurückgekehrt waren. Erfasst wurden Stresssymptome, emotionale Erschöpfung und Leistungseinbußen und der Eindruck, ein anderer Mensch geworden zu sein. Verschiedene Items wurden vorgegeben, zu denen auf 5-stufigen Skalen der Grad ihres Zutreffens angekreuzt werden sollte.
Der einleitende Satz lautete: «Seit dem Hurrikan Hugo, hat sich bei mir einiges verändert». Dann folgten mehrere Aussagen, die das Burnout-Syndrom charakterisieren:
• Meine Arbeitsleistung hat abgenommen
• Ich fühle mich müde und kaputt
• Ich habe Schlafstörungen
• Ich habe meinen Sinn für Humor verloren
• Ich arbeite die ganze Zeit und komme nicht von der Stelle.
In dem Ergebnis von Moore & Moore tritt die Wirksamkeit sozialer Ressourcen klar: Der Stress nach einer Katastrophe ist bei Verheiraten geringer ist als bei Alleinstehenden.
Insgesamt erwies sich der Zusammenhang zwischen dem Burnout und den durch den Hurrikan angerichteten Zerstörungen als komplex. Diejenigen, die noch in ihrem Haus wohnen konnten, aber dennoch den Schaden als gravierend wahrnahmen, litten weitaus mehr daran als diejenigen, deren Haus vollständig zerstört worden war. Eine mögliche Erklärung ist, dass ein größerer Schaden mit einer höhere Summe entschädigt wird. Diese Entschädigung ist den Ressourcen zuzuschlagen, die nach der von Gifford (2007) postulierten Beziehung umgekehrt proportional zum erlebten Stress sind.
Umsiedlungen in weniger von extremen Naturereignissen heimgesuchte Gebiete sind meistens keine befriedigende Lösung für die betroffenen Personen (vgl. Riad & Norris, 1996). Eine Umsiedlung ist viel einschneidender als eine Evakuierung, weil es ein Ortswechsel auf Dauer ist. Mit der Umsiedlung verbunden ist eine Schmälerung der psychologischen und sozialen Ressourcen, was nach der Gifford'sche Beziehung zu vermehrtem Stress führt.
Die unwirtliche Natur
Klima und Wetter
Es hängt wesentlich von den klimatischen Bedingungen ab, inwieweit eine Umwelt für einen längeren Aufenthalt des Menschen geeignet ist. Lebensfeindliche Umwelten, in denen ein extremes Klima herrscht, werden nur von Forschern, deren Erkenntnisdrang sie dort hinführt, von Investoren und Unternehmern, die wirtschaftliche Interessen verfolgen, oder von Touristen aufgesucht. Ansonsten sind es weitgehend vom Menschen unberührte Naturumwelten. Falls Menschen dort wohnen, ist deren Zahl in der Regel überschaubar.
Unter Klima wird die Gesamtheit aller an einem Ort möglichen Wetterzustände einschließlich ihrer typischen Aufeinanderfolge sowie ihrer tages- und jahreszeitlichen Schwankungen verstanden (Keul, 1995). Die Skala reicht vom tropischen Klima im Bereich des Äquators bis hin zum Eisklima der Polarregionen. Im Mittelbereich liegen die gemäßigten Klimazonen. An den Meeresküsten herrscht ein Reizklima, für das im Gegensatz zum Waldklima starke und abrupte Schwankungen der Temperatur und der Windverhältnisse charakteristisch sind. In Wäldern werden Wind und Geräusche gedämpft, Temperatur- und Luftfeuchtigkeitsschwankungen sind ausgeglichener, sich daran anzupassen fällt leichter (Hellbrück & Fischer, 1999).
Wetter und Klima beeinflussen das Wohlbefinden und das Behaglichkeitsgefühl sowie die Leistungsfähigkeit und das Sozialverhalten. Schon in der Antike war man sich dieses Zusammenhangs bewusst. Hippokrates war so weit gegangen, auch Persönlichkeitseigenschaften dem Klima zuzuschreiben:
Was aber die Schlaffheit und Feigheit der Asiaten betrifft und die Tatsache, dass sie unkriegerischer als die Europäer und sanfter in ihrem Charakter sind, daran ist vor allem das Klima schuld, das jene großen Schwankungen, weder zum Warmen noch zum Kalten hin, zeigt, sondern sehr gleichmäßig ist. […] Denn der ständige Wechsel in allen äußeren Verhältnissen ist es, der den Geist des Menschen aufweckt und nicht zur Ruhe kommen lässt […]26.
Hitze kann zu vermehrter Aggressivität und Gewalttätigkeit führen (Rotton & Cohn, 2002). Die Beziehung ist jedoch nicht linear, denn Menschen werden nicht umso aggressiver, je heißer es ist. Erklärt wird die Nicht-Linearität mit dem Modell des «negative affect-escape» (Bell et al., 1996), das besagt, dass das Aggressionspotential bis zu einer bestimmten Temperatur ansteigt und dass jenseits dieses Punktes die zunehmende Hitze als so unerträglich empfunden wird, dass alle Anstrengungen darauf gerichtet sind, der Hitze zu entkommen. In der Situation extremer Hitze bleibt sozusagen keine Energie mehr für aggressives Verhalten übrig.
Große Gebäude und große Parkplätze absorbieren mehr Sonnenhitze als eine Grünfläche. Zwischen hohen Gebäudekomplexen staut sich die Hitze (Bell et al., 1996; Hellbrück & Fischer, 1999). Grüne Natur bringt demgegenüber Kühlung.
Unwirtlich ist auch Kälte. Bei vorübergehender, noch erträglicher Kälte sind schnelles Gehen und vor allem geeignete Kleidung ein Mittel gegen das Frieren (Rotton et al., 1990). In extrem kalten Regionen reicht der Schutz durch wärmere Kleidung nicht aus; der gesamte Lebensraum muss in einer besonderen Weise gestaltet werden. Ein Beispiel für den Schutz gegen Kälte unter Verwendung verfügbarer Materialien sind die aus Schnee und Eisblöcken gebauten Iglus der Eskimos.
Darüber hinaus ist die arktische Region für die Klimaforschung von Bedeutung: Gletscher und der Permafrost im Boden sind mögliche Klimaindikatoren (Meier & Thannheiser, 2009).
Wohnen in der Wildnis
Weite Bereiche der arktischen Landschaft sind vom Menschen unberührtes Land. Doch hier und da siedeln sich auch in einer solchen unwirtlichen Umwelt Menschen an. Gerade wegen dieser Unberührtheit und der Einzigartigkeit dieser Wildnis wächst die Zahl der Touristen, die diese ursprünglichen, vom Menschen nicht veränderten Bereiche auf der Erde erleben möchten. Eine solche Gegend ist Spitzbergen, eine von Norwegen verwaltete Inselgruppe in der Arktis nördlich des Polarkreises27. Die Besiedlung Spitzbergens erfolgte etwa ab 1900 in erster Linie wegen reicher Kohlevorkommen.
Welche Bedeutung hat Spitzbergen für die dort Wohnenden? Um das heraus zu finden, hat Kaltenborn (1998) allen 988 über 14-jährigen Bewohnern von Spitzbergen einen Fragebogen mit einer sense of place-Skala zugeschickt (vgl. Kapitel 1.3). Von rund einem Drittel wurde der Fragebogen ausgefüllt zurück geschickt. Wie sich zeigte, ist das von Außenstehenden unwirtlich erscheinende Spitzbergen für die Bewohner eine emotional bedeutsame Umwelt, es ist ihr persönlicher Lebensraum, mit dem sie sich identifizieren und verbunden fühlen, auch wenn sie die Landschaft, in der sie leben, als Wildnis empfinden.
Den Aussagen wird weitestgehend zugestimmt. Die Zustimmung ist etwas weniger ausgeprägt, wenn sie mit einer Investition von Zeit und Geld verbunden wäre.
Vor allem im Zusammenhang mit kommerziellen Absichten und der Aussicht auf Gewinn macht sich der Mensch auch lebensfeindliche Umwelten nutzbar (Bechtel, 2002). Mit dem Einsatz der heute zur Verfügung stehenden Technologie kann er unwirtliche Umwelten in bewohnbare Lebensräume umwandeln. Solche speziell umhüllten Umwelten, Klimahüllen bzw. Klimakapseln bieten Schutz vor extremen Umweltbedingungen und Naturereignissen. Der Mensch erfindet neue Lebensräume, mit denen er in lebensfeindlichen Umwelten überleben kann.
Dennoch können auch diese abgeschotteten künstlichen Umwelten inmitten einer lebensfeindlichen Naturumwelt (noch) nicht alle sonstigen ungünstigen Bedingungen aus der Welt schaffen, z. B. nicht die ungewohnten Hell-Dunkel-Zyklen in den Polarregionen und die soziale Isolation in den abgekapselten Forschungsstationen insbesondere in der Antarktis (vgl. Suedfeld, 1991).
Die Wildnis
Unwirtlichkeit und Unberührtheit hängen zusammen: Unwirtliche Umwelten werden wegen ungünstiger klimatischer Bedingungen oder Wassermangels nicht besiedelt, sie bleiben vom Menschen unberührt.
Die Bewohner Spitzbergens sehen die Arktis als Wildnis an. Die Frage ist jedoch, ob sie unter Wildnis das Gleiche verstehen wie die Menschen, die in gemäßigten Klimazonen und in großen Städten leben. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen von Wildnis (Lutz et al., 1999). Ursprünglich verstand man unter Wildnis eine Naturumwelt, vor der man sich fürchtete. Die unberührte Natur wurde entweder wegen ihrer lebensfeindlichen Bedingungen oder auch wegen ihres chaotischen Wachstums als gefährlich und bedrohlich angesehen. In der unberührten «wilden» Natur sind sämtliche Veränderungen «natürlich», die Natur bringt sie ohne Zutun des Menschen hervor.
Doch dann wurde die Wildnis zu einer Region, die neugierig machte und zum Erforschen und Erkunden motivierte. In dieser unberührten Natur tauchte der Mensch auf und zwar nicht nur der vom Erkenntnisdrang getriebene Forscher, sondern auch der Tourist. Motive, die nicht ungefährliche Wildnis aufzusuchen, sind zum einen Abenteuerlust, das Erleben von Thrill eingeschlossen, zum anderen das Bedürfnis nach einem besonders intensiven being way verbunden mit der Erwartung faszinierender Anblicke, die eine unberührte Landschaft bietet.
Heute ist die Wildnis in erster Linie eine Art Reservat, das man zu schützen sich bemüht (Lutz et al., 1999). Effektive Strategien lassen sich jedoch nur entwickeln, wenn die Vorstellungen, was die Wildnis ausmacht, nicht allzu uneinheitlich sind. Schon ein einfacher Vergleich zwischen Stadtund Landbewohnern, wie ihn Lutz und Mitarbeiter durchgeführt haben, zeigt, dass die Vorstellungen divergieren. Die Landbewohner fassten das, was sie unter Wildnis verstanden, viel enger auf als die Städter, die auch Naturlandschaften, auf denen vereinzelt Häuser, Straßen, Staudämme, Wegweiser und Abholzungen zu sehen waren, als Wildnis empfinden. Die Menschen auf dem Lande würden in der Strategieplanung zum Schutz der Wildnis sehr wahrscheinlich einen strikteren Maßstab anlegen als die Stadtbewohner28.
Die Wildnis ist nicht zuletzt auch deshalb die wilde Natur, weil der an die Kultur gewöhnte Mensch nicht mehr damit umgehen kann. Die wilde Natur ist so auch eine Metapher für Ursprünglichkeit. Der Mensch kann eine solche Ursprünglichkeit und «Wildheit» nur in dosierter Form aushalten. Was er als Natur verehrt, ist längst gestaltete Natur. Der Spaziergang in einem Wald ist entspannend und erholsam, gerade weil man sich hier nicht in der Wildnis befindet, in der man auf giftige Schlangen, hungrige Wölfe und angriffslustige Bären treffen könnte.
Ein besonderes Naturerlebnis ist das Übernachten in der freien Natur. Ein Beispiel dafür, dass der Mensch dieses besondere, auch nur kurz dauernde Erlebnis kaum ertragen kann, zeigt die Schilderung des «Dachs-Unternehmens». Ein Mensch aus der Stadt übernachtet im Wald:
Jetzt ist es Nacht, im Wald, tief unter Bäumen, inmitten von zäher Stille und einzelnen Geräuschen. War das da hinten gerade ein schnaubender Dachs? Und was knistert bloß dauernd neben meinem Kopf? Gibt es hier Schlangen? Die Idee hatte verlockend geklungen: abends rausradeln, aus dem Alltag, aus der Wohnung, aus der Stadt, und wild im Wald übernachten, nur mit Iso-Matte und Schlafsack, allein unter alten Bäumen […]. Stille im Sinne stetiger Lautlosigkeit ist beruhigend. Wenn die Stille aber immer wieder von einzelnen Tapsern, von rätselhaftem Summen und Knacksen unterbrochen wird, hat sie eine ganz andere Wirkung […] Zwei Minuten später raschelt etwas durchs Dunkel. Fuchsfüße? Oder ist es ein Mensch? […] Der ganze Wald ein Hörspiel, und Regie führt die eigene Angst […]. Die Geborgenheit, die der Wald mit seinem Blätterdach tagsüber gibt, verkehrt sich nachts ins Gegenteil […] (Rühle, 2009, S. 17)29.
Je mehr die Wildnis als Kontrastwelt an Attraktivität gewinnt und je mehr sie zu einem Pull-Faktor wird, umso mehr Menschen werden sich auf den Weg dorthin machen. Die letzten Reste der vom Menschen unberührten Natur werden auf diesem Wege vom Tourismus erschlossen, der die Attraktivität einer ursprünglich erscheinenden Natur kommerziell zu nutzen versteht.
2.4 Unterschiede im
Naturerleben
Der Kindheits-Faktor
Dass das Bedürfnis nach Natur individuell unterschiedlich ist, zeigt schon die Beobachtung, dass manche Menschen gern Stadt fern im Grünen und andere lieber Natur fern in der Stadt leben. Diesen beiden Gruppen haben Regan & Horn (2005) Leitfiguren zugeordnet: Thoreau, den Naturmenschen, und Michelangelo, den Stadtmenschen. Die beiden Leitfiguren repräsentieren die entgegen gesetzten Endpunkte einer Skala, auf der die meisten Menschen im Mittelfeld liegen. Nach den Recherchen von Regan & Horn war Thoreau davon überzeugt, dass der Mensch die Natur braucht und dass er niemals genug davon bekommen kann30. Ganz anders hatte sich Michelangelo geäußert, der die Stadt über alles liebte und für den die Natur keine befreiende und erlösende Wirkung gehabt haben soll. Anzunehmen ist, dass Thoreau schon als Kind viel mit der Natur in Berührung gekommen ist, nicht aber Michelangelo, denn die Umwelt der Kindheit beeinflusst unsere Vorlieben (Schneewind & Pekrun, 1994; Regan & Horn, 2005). Daraus folgt aber auch, dass man eine Gegend oder Landschaft, die man nicht kennen gelernt hat, auch nicht vermissen wird. Wer fern der Natur aufwächst und die Natur nicht erfahren hat, entwickelt kaum ein Bedürfnis nach Natur.
Doch wie sieht es mit dem empirischen Nachweis aus, dass sich die Wertschätzung der Natur und die Vorliebe für bestimmte Landschaften durch Erfahrungen in der Kindheit heraus bilden? Um Zusammenhänge zwischen dem Erleben von Natur in der Kindheit und der Art der Beziehung zur Natur im Erwachsenenalter ausfindig machen zu können, wären eigentlich Längsschnittuntersuchungen erforderlich, wobei die Untersuchung im Kindesalter beginnen müsste und wobei zu ermitteln wäre, wie viel Natur im Lebensraum des Kindes vorhanden ist. Etwa zwei Jahrzehnte später müssten dann die Einstellungen dieser ehemaligen Kinder zur Natur eruiert werden. Wegen des damit verbundenen Aufwands, den Längsschnittuntersuchungen mit sich bringen, und wegen der für einen Forscher langen Zeitperspektive begnügt man sich meistens mit retrospektiven Befragungen. Das so ermittelte Naturerleben in der Kindheit ist deshalb fast immer ein erinnertes Erleben.
Auf diese retrospektive Methode trifft man in den Untersuchungen von Tanner (1980) und Palmer (1993). Tanner ist schrittweise vorgegangen. Als erstes hat er die Biografien und Autobiografien von Naturschützern daraufhin analysiert, inwieweit sie Aussagen zum Naturerleben in der Kindheit enthalten. In den Schilderungen der Lebensläufe fanden sich Äußerungen wie zum Beispiel, dass man früher viele Stunden draußen in der unberührten Natur verbracht habe und dass es diese Natur der Kindheit heute leider nicht mehr geben würde. Im nächsten Schritt schickte Tanner ein Schreiben an die Mitarbeiter von im Naturschutz tätigen Organisationen. Die angeschriebenen 45 Personen wurden darin gebeten anzugeben, was ihre Entscheidung beeinflusst hat, sich im Bereich des Naturschutzes zu betätigen. Die am häufigsten genannten erinnerten Einflussfaktoren sind in Tabelle 2-6 aufgeführt.
Die wichtigsten Einflüsse in der Erinnerung sind der Aufenthalt im Freien (outdoors) und das Erleben von Natur in der Kindheit. Noch etwas wichtiger als die Lehrer sind die Eltern, die das Interesse an der Natur wecken.
Palmer (1993) hat insgesamt 232 Mitarbeiter der National Environmental Education Association in Großbritannien nach den Einflüssen befragt, die zu ihrer Tätigkeit in der Umwelterziehung beigetragen haben, wobei es in diesem Fall nicht nur um die Einflüsse in der Kindheit ging. Das Draußen sein erwies sich als am wichtigsten, es wurde von 91% der Befragten angeführt. Palmer hat die Bedeutungen dieses Draußen sein noch genauer betrachtet und dabei festgestellt, dass sich dieser Prozentanteil aus drei Kategorien zusammensetzt: das Draußen sein in der Kindheit (42%), die gegenwärtigen Aktivitäten draußen (39%) und das Draußen sein im Sinne des Alleinseinkönnens (10%). Verallgemeinernd bedeutet dieses Ergebnis: Wer sich in der Umwelterziehung betätigt, hat eine starke Affinität zum Draußen, die gespeist wird aus Kindheitserfahrungen, aus dem Ort der gegenwärtigen Tätigkeiten und dem Bedürfnis nach Rückzug. In der Untersuchung von Tanner hatten 7% der Befragten das Alleinsein können als Motiv genannt.
Auf diesen Aspekt hatte auch schon Wohlwill (1983) hingewiesen: Draußen in der Natur muss der Mensch nicht responsiv sein, er ist keinen Kommunikationszwängen ausgesetzt wie in der Alltagswelt, die er überwiegend in beengteren Innenräumen verbringt. In der freien Natur kann er sich dem «Sozialstress» eher entziehen, ohne sich falsch zu verhalten und gegen soziale Normen zu verstoßen.
Eine weitere Untersuchung, in der der Zusammenhang zwischen den Naturerfahrungen in der Kindheit und der Wertschätzung der Natur im Erwachsenenalter analysiert wurde, stammt von Bixler und Mitarbeitern (2002). Die Forscher fragten Jugendliche nach ihren Erfahrungen mit den Spielumwelten in der Kindheit. Zwei Gruppen, die Wildland Adventurers und die Yard Adventurers, kristallisierten sich dabei heraus. Als Wildland Adventurers wurden die Jugendlichen bezeichnet, die als Kinder oft in freier Landschaft gespielt hatten. Die Jugendlichen, deren Spielorte in der Kindheit vor allem wohnungsnahe Bereiche, zum Beispiel der Hof hinter dem Haus, gewesen waren, wurden der Kategorie der Yard Adventurers zugeordnet. Die unterschiedlichen Bedingungen des Aufwachsens zeigten Wirkungen: Anstelle von Wegen im Park bevorzugen die Wildland Adventurers Wege in der freien Natur. Sie haben auch kaum Bedenken, dass sie sich in einer fremden Umgebung verirren könnten, wie die Yard Adventurers. Offensichtlich entwickelt sich Umweltvertrauen, wenn man als Kind die Gelegenheit hat, unbeschwert und frei die Umwelt zu erkunden. Dieses Vertrauen schließt die Überzeugung ein, dass man sich in unbekanntem Gegenden zurecht finden wird.
Dass sich häufiges Spielen in Natur reichen Umgebungen während der Kindheit in einer klaren Präferenz für Naturumwelten in späteren Lebensphasen nieder schlägt, haben auch Thompson und Mitarbeiter (2008) heraus gefunden. Die Forscher führten im Zeitraum zwischen 2000 und 2003 zwei umfangreiche Projekte in geografisch unterschiedlichen Gebieten in Großbritannien durch, um den Einfluss von Erfahrungen mit Naturumwelten in der Kindheit auf die Naturverbundenheit und die Einstellungen zur Natur im Erwachsenenalter zu bestimmen. Im ersten Projekt wurde die Nutzung eines Waldgebiets in Schottland durch die Bewohner von fünf Kommunen im Bereich zwischen Edinburgh und Glasgow untersucht. Im zweiten Projekt wurde die Nutzung von 16 unterschiedlichen Naturgebieten (Waldgebiet, Naturreservat, regionaler Park, Stadtpark) in den östlichen Midlands in England durch die Bewohner aus sechs Kommunen analysiert. Im Zentrum der durchgeführten Interviews standen die Fragen, wie oft die betreffenden Naturgebiete besucht werden und wie oft man als Kind mit ähnlichen Gegenden in Berührung gekommen ist. In beiden Projekten zeigte sich, dass knapp 40% der Befragten das jeweilige Gebiet mindestens einmal pro Woche aufsuchen und dass die Häufigkeit des Besuchs signifikant mit der erinnerten Häufigkeit des Aufenthalts in Naturgebieten im Kindesalter korreliert. Das Resümee lautete: Die Häufigkeit des Besuchs in der Kindheit ist ein starker Einflussfaktor, wie oft sich ein Mensch im Erwachsenenalter ins Grüne begibt (Thompson et al., 2008). Den Einfluss früherer Naturerlebnisse auf das Verhältnis zur Natur im Erwachsenenalter bezeichnete das Forschungsteam als «Kindheits-Faktor».
Das Konzept der «Landschaften der Kindheit» von Sebba (1991) fügt sich hier ein. Sebba hat in Israel parallel Erwachsene und Kinder befragt. Die Frage an die Erwachsenen war, welcher Ort in der Kindheit für sie von besonderer Bedeutung gewesen ist und welche Erfahrungen sie dort gemacht haben. Die Kinder aus einer ländlichen und einer städtischen Gegend, acht bis elf Jahre alt, sollten Auskunft über ihren gegenwärtigen Lieblingsort geben und anschließend daran ihre dortigen aktuellen Erfahrungen beschreiben.
Insgesamt 97% der befragten Erwachsenen bezeichneten «im Freien» oder «die freie Natur» als wichtigsten Ort der Kindheit. Eine typische Erklärung, warum gerade dieser Ort so wichtig war, lautete: Dort sehe ich mich selbst als Kind (Sebba, 1991, S. 401). Prägende Orte der Kindheit, an die man sich als Erwachsener erinnert, sind vor allem Außenbereiche, wobei bemerkenswert war, dass sich diese Außenbereiche nicht in jedem Fall in der Nähe der eigenen Wohnung befunden haben. Ein solcher Ort war beispielsweise der Garten der Großeltern.
Zu den von den Erwachsenen erinnerten und von den Kindern aktuell genannten Naturelementen der «Landschaften der Kindheit» gehören Himmel, Meer, ungepflasterte Erde, Bäume, Gras und Blumen, verschiedene Tiere, Wind, Wetter, Lichtphänomene, Vogelgesang, Blätterrauschen, Felsen und Steine, also typische Elemente natürlicher Umwelten.
Bei den Kindern war das Interesse am Draußen sein deutlich geringer: Nur 46% der Kinder gegenüber 97% der Erwachsenen lokalisierten ihre wichtigsten Orte im Außenraum. Ein Unterschied zeigte sich zwischen Kindern im ländlichen Raum und Stadtkindern. Bei den ersteren befindet sich der Lieblingsort häufiger draußen, bei Stadtkindern häufiger drinnen.
Den Wirkungsmechanismus des Kindheits-Faktors haben Schneewind & Pekrun (1994) analysiert, wobei sie von der Prämisse ausgegangen sind, dass der Mensch kein durch Reflexe und Instinkte gesteuertes Wesen ist, sondern dass seine hohe Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Umweltbedingungen auf seiner Fähigkeit zur Erfahrungsbildung beruht, die es ihm ermöglicht, sich den äußeren Bedingungen anzupassen und die Umwelt passend zu machen. Was an Erfahrungsbildung zusammen kommt, wird wesentlich davon bestimmt, mit welchen Umwelten der Mensch in Berührung kommt. Durch unterschiedliche Erfahrungen mit Naturumwelten bilden sich dementsprechend unterschiedliche Natur-Beziehungen heraus. Diese sind vergleichsweise stabil im Langzeitgedächtnis repräsentiert. Die Prägung durch die Landschaft der Kindheit erfolgt über die Erfahrungsbildung sowie die internen Repräsentationen der Erfahrungen. Der Kontakt mit Naturumwelten in jungen Jahren ist so etwas wie eine Weichenstellung.
Dass die Vorliebe für das Wohnen im Grünen oder in der Stadt mit der Umwelt der Kindheit im Zusammenhang steht, belegen außer den Forschungsergebnissen die Biografien von Künstlern. Wer seine Kindheit an der Meeresküste verbracht hat, ist mit dieser Landschaft verbunden. Sie prägt mehr oder weniger das künstlerische Schaffen. Der Komponist Benjamin Britten wuchs an der Meeresküste in Ostengland auf. Vom Haus seiner Eltern schaute er direkt aufs Meer. Zu seinen frühen Eindrücken gehörten die Stürme, die die Schiffe und das Land bedrohten31. In etlichen seiner Kompositionen spielt das Meer eine Rolle.
Das Draußen sein und das Erleben der Natur in der Kindheit sind nicht nur für die kognitive, soziale und motorische Entwicklung von Bedeutung, sondern auch für die Herausbildung von Naturverbundenheit und Umweltidentität, was man als «ökologische Entwicklung» oder Umweltlernen bezeichnen kann. Wald- und Naturkindergärten sowie städtische Naturerfahrungsräume haben die Zielsetzung, die ökologische Entwicklung zu fördern (Schemel, 2008).
Wichtige Gründe, sich im Umweltbereich zu betätigen, sind zusammenfassend (vgl. Chawla,1998):
• positive Erfahrungen in der Natur, erwachsene Vorbilder, Bekanntschaft mit Umweltorganisationen, Umweltbildung
• konkrete Erfahrungen mit der Zerstörung von Natur, Aussagen über Umweltschäden in Büchern und anderen Medien.
Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Menschen die persönlich wichtigen Lebensereignisse und früheren Erfahrungen aus einer bestimmten Perspektive heraus erinnern. Die erhöhte Natursensibilität derjenigen, die im Naturschutz und in der Umwelterziehung tätig sind, führt zu einem selektiven Erinnern. Dies schmälert aber keinesfalls den Einfluss des Kindheits-Faktors, der als «Initial-Zündung» gesehen werden kann.
Touristen und Einheimische
Die Frage, wie die Landschaft wahrgenommen wird, ist nicht nur von akademischem Interesse. Vor allem in Ländern, in denen der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftszweig ist, werden Forschungsprojekte zur Landschaftswahrnehmung durchgeführt. So beschäftigen sich z. B. die Forscher in der Forschungsanstalt in Birmersdorf in der Schweiz mit der Frage, wie die Touristen die Landschaft erleben. Die Einheimischen (locals) dienen ihnen dabei als Vergleichsgruppe. Kagelmann & Keul (2005) unterscheiden ähnlich zwischen «Reisenden», also den Touristen, Urlaubern und Gästen, und den «Bereisten», zu denen sie die Einheimischen, die Gastgeber und die touristischen Dienstleister rechnen.
Eines der theoretischen Konzepte als Grundlage, um solche Vergleiche anzustellen, ist bei den Forschern in Birmersdorf der sense of place. Die Ausgangsüberlegung ist, dass Orte je nach sozialem, kulturellem und ökonomischem Hintergrund eine unterschiedliche Bedeutung für einen Menschen haben (Kianicka et al., 2006). Einheimische und Touristen haben in Bezug auf einen bestimmten Ort unterschiedliche ökonomische Interessen, sie sind nicht oder ziemlich bis stark sozial eingebunden, und nicht selten ist ihr kultureller Hintergrund unterschiedlich.
Hunziker (1995) verglich die Ansichten von Einheimischen und Touristen über eine Region im Engadin in der Schweiz, die brach gelegen hatte und dann wiederaufgeforstet worden war. Die Ansichten, wie sich die Wiederaufforstung auf das Erscheinungsbild auswirkt, weichen deutlich voneinander ab. Kianicka und Mitarbeiter (2006) stellten die Aussagen von Einheimischen und Touristen im Dorf Alvaneu im Schweizer Kanton Graubünden einander gegenüber. Sie gelangten dabei zu einem ähnlichen
Ergebnis wie Hunziker. Wie die mit Einheimischen und Touristen geführten Interviews ergaben, sind die individuellen, sozialen und existentiellen Bedürfnisse bezogen auf das Dorf unterschiedlich und auch unterschiedlich wichtig. Für die Touristen stehen ästhetische Aspekte und die Eignung des Orts für die gewünschten Freizeitaktivitäten an erster Stelle, für die Bewohner hat das Dorf existentielle und soziale Bedeutung; es ist für sie der Ort der Kindheit, der Wohnsitz der Familie und des sozialen Eingebundenseins (vgl. Tabelle 2-8).
Ein abgelegenes Gebirgsdorf oder ein Ort an der Nordsee ist nur aus der Sicht der Touristen eine Kontrastwelt, für die Einheimischen ist das Dorf im Gebirge oder die Meeresküste alltäglicher Lebensraum. Die Menschen, die in einem Bergdorf leben, und die Touristen, die das Dorf pittoresk finden, haben offensichtlich einen unterschiedlichen sense of place. Diejenigen, die vom Ackerbau leben, nutzen den Boden für den Anbau von Getreide und Gemüse; für sie ist der Boden als natürliche Ressource aus existentiellen Gründen wichtig. Für die Spaziergänger ist die Natur eine schöne Landschaft, in der sie sich «ergehen», die sie aufsuchen, um sich an der frischen Luft, der Weite der Landschaft mit dem hohen Himmel und den sich ständig ändernden Wolken zu erfreuen (vgl. Abbildung 2-24).
Der Bauer schätzt flache Böden, denn auf diesen kann besser gepflanzt und geerntet werden. Der Spaziergänger, der auf den Wegen zwischen Feld und Wald unterwegs ist, findet es faszinierend, dass sich der Landschaftseindruck beim Weitergehen kontinuierlich verändert. Die hügelige Topografie, auf die der Bauer gern verzichten würde, ist für den Spaziergänger ein Anregungsfaktor.
Die Menschen, für die die Natur Existenzgrundlage ist wie für Hotelbesitzer, Förster, Vogelschützer, Bauern oder Waldarbeiter, haben eine andere Art der Beziehung zur Natur als Reisende, Wanderer oder Spaziergänger. Für die erstgenannte Gruppe ist die Natur existentielle Basis und Arbeitswelt, für die zweite Gruppe repräsentiert Natur Urlaub und Freisein von Verpflichtungen.
Auch auf das being away als einem zentralen Merkmal erholsamer Umwelten (restorative environments) ist hier hinzuweisen. Die Landschaft, die die Touristen aufsuchen, ist für sie eine Kontrastwelt. Sie ist Alltagsumwelt für alle diejenigen, die dort wohnen und arbeiten. Merkmale der Alltagswelt sind mehr oder weniger feste Tagesabläufe und Zeitstrukturen, viel gebundene Zeit und relativ wenig persönliche Freizeit. Feste Zeitstrukturen bewirken, dass man es oft eilig hat, um Zeitpläne einzuhalten und Zeitvorgaben zu koordinieren (Küster, 1999). Jenseits der Alltagswelt ist man weniger an strikte Zeitvorgaben gebunden. Der Reisende hat mehr Zeit und Muße. Er kann es sich leisten, zu Fuß unterwegs zu sein. Wenn man die Natur und die Landschaft beim Gehen erlebt, erschließen sich auch die kleinen Dinge, die man sonst gar nicht sehen würde. Auch Blüten, Blätter, Gräser, Steine, Pilze und weitere kleine Dinge können bei langsamer Fortbewegung wahrgenommen werden, Gerüche wie der Duft der Heckenrosen und Geräusche wie das Raunen des Baches oder der Gesang der Amsel werden erlebbar. Die Eindrücke werden reichhaltiger, die Umwelt wird anregender und faszinierender.