Kapitel 24
Am folgenden Morgen hatte Sophie kaum ihre Toilette beendet, als Clemens Lady Madeleine Corneilles Besuch ankündigte.
Ein wenig besorgt betrat Sophie den Salon. Sie hatte Madeleine am vergangenen Abend gesehen und diese hatte nichts von einem Besuch gesagt.
Mit ihrem üblichen Charme überzeugte sich Madeleine zuerst, dass Sophie bequem saß - angesichts ihres gewachsenen Leibesumfangs kein leichtes Unterfangen -, bevor sie zum Grund ihres Besuchs kam.
»Ich habe beschlossen, die Maskerade zu beenden«, sagte Madeleine mit klarer, unerschütterlicher Stimme.
»Warum?«, fragte Sophie erschrocken.
»Es ist nicht ehrlich. Ich kann keine Ehe auf dieser ... diesem Lügengebilde aufbauen. Können Sie sich vorstellen, für den Rest Ihres Lebens vorzugeben, jemand anders zu sein, Sophie? Ich kann es nicht.«
»Aber das brauchen Sie doch auch nicht«, argumentierte Sophie. »Wenn Sie erst einmal mit Braddon verheiratet sind, werden Sie die Gräfin von Slaslow sein und niemand wird sich einen Deut um ihre Vergangenheit scheren.«
»Doch, ich«, erwiderte Madeleine schlicht.
»Braddon und ich werden Kinder haben ... und was soll ich ihnen sagen? Wann werde ich meinem Sohn sagen, dass ich eine Lügnerin, eine Betrügerin aus den unteren Klassen bin? Wie alt wird er sein, wenn ich ihm sage, dass ich über einem Stall aufgewachsen bin und dass er sich den Rest seines Lebens Sorgen machen muss, dass die Leute die Wahrheit über die Vergangenheit seiner Mutter erfahren könnten?
Und was ist mit dem Großvater meiner Kinder? Werde ich meinen Vater zu Braddons Stallmeister machen? So etwas könnte ich meinem Vater niemals antun! Es ist unmöglich, Sophie. Wir waren Narren, etwas anderes zu glauben.«
Tränen traten Sophie in die Augen. »Es tut mir Leid«, sagte sie. »Ich wollte nie ...«
Madeleine wirkte ebenso traurig. »Oh Sophie, es ist ganz bestimmt nicht Ihre Schuld! Ich bin, Ihnen so dankbar für Ihre Freundschaft und auch für das, was Sie mir beigebracht haben. Aber Braddon und ich haben in einem Wolkenkuckucksheim gelebt. Auf dieser Basis könnten wir niemals eine glückliche Ehe führen.«
»Das können Sie nicht wissen«, protestierte Sophie. »Braddon liebt Sie so sehr, Madeleine.«
»Wir können keine glückliche Ehe führen, wenn unser Leben auf einer Lüge aufgebaut ist«, erwiderte Madeleine mit dem für sie typischen französischen Pragmatismus. »Liebe ist nicht genug.«
»Ja«, murmelte Sophie. Schließlich liebte sie Patrick und dennoch schien ihre Ehe in einem Scherbenhaufen unterzugehen ... Liebe hin oder her. »Was werden Sie nun tun?«
»Braddon und ich haben gestern Nacht darüber gesprochen. Vielleicht gehen wir nach Amerika. Braddon sagt, er wird ohne mich nicht in England bleiben und er ist sehr entschlossen.«
»Er wird Sie niemals aus den Augen lassen«, stimmte Sophie ihr zu. »Aber was ist mit seiner Familie, Madeleine?« Dabei dachte sie an Braddons große Angst, dass seine Mutter eine Blamage erleiden könnte.
Madeleine nickte. »Ja, das ist ein Problem. Wir mussten uns also einen neuen Plan einfallen lassen, Sophie. Ich werde die Maskerade bis nächste Woche fortsetzen. Beim Ball von Lady Greenleaf geben wir unsere Verlobung bekannt und am nächsten Tag machen wir allen weis, dass ich plötzlich erkrankt sei. Und wenn ich dann an einem Fieber gestorben bin«, fuhr sie munter fort, »wird Braddon eine Reise nach Amerika unternehmen, um dort seinen Lebensmut wiederzufinden.«
»Und Sie werden mit ihm gehen? Oh, dieser Plan sieht Braddon ähnlich!«, rief Sophie und ihre Mundwinkel umspielte ein Lächeln.
Madeleine zog die Nase kraus. »Ich - mir gefällt dieser Plan auch nicht. Aber ich habe nun einmal mit dem Lügen angefangen und muss das Spiel nun zu Ende bringen. Ich werde nach Amerika gehen und als einfache Tochter eines Pferdehändlers leben, und wenn der Graf von Slaslow dumm genug ist, die Tochter eines amerikanischen Pferdehändlers zu heiraten, dann wird es so sein. Unsere Kinder kehren vielleicht irgendwann nach England zurück, ich jedoch nicht.«
»Ich werde Sie vermissen«, sagte Sophie. Und es war die Wahrheit.
Ach bin Ihnen so dankbar, Sophie, dass Sie mir beigebracht haben, mich wie eine Dame zu geben«, sagte Madeleine. »Ich werde Sie ebenfalls vermissen.« Sie zögerte und sprach dann hastig weiter. »Ihr Patrick ... er liebt Sie, wissen Sie.«
Sophie zuckte zusammen. Ein Gefühl der Demütigung erfasste sie und es schoss ihr eine Hitzewelle den Nacken hinauf.
Madeleines braune Augen verrieten ein tiefes aufrichtiges Mitgefühl. »Er liebt Sie«, wiederholte sie. »Ich habe gesehen, wie er Sie ansieht. Er beobachtet Sie, wenn Sie es nicht merken und in seinen Augen kann man lesen, wie es um ihn steht.«
Sophie lächelte ein kleines, verkniffenes Lächeln. Sie und Madeleine umarmten sich zum Abschied innig.
Ein paar Minuten, nachdem Madeleine gegangen war, erschien Clemens in Sophies Salon und hielt ein Tablett mit einer Visitenkarte in der Hand. »Mr Foucault und Mr Mustafa«, sagte er.
In seiner Stimme schwang Feindseligkeit mit und Sophie wusste sofort, dass Clemens mit seiner unbestechlichen Menschenkenntnis von diesen speziellen Gästen keine sehr hohe Meinung hatte.
»Kenne ich sie?«, fragte Sophie.
»Sicherlich nicht, Euer Gnaden«, erwiderte Clemens. »Sie sind Bekannte - entfernte Bekannte von Seiner Gnaden.«
»Das verstehe ich nicht, Clemens. Haben sie nach mir gefragt?«
»Sie haben nach Seiner Gnaden gefragt«, sagte Clemens, »und als ich sie informierte dass er nicht zu Hause ist, da verlangten sie, Sie zu sprechen.« Der Schwung seiner Unterlippe verriet allzu deutlich, was er von solch einem Mangel an Benehmen hielt. Zu verlangen, die Herrin zu sprechen, wenn der Herr des Hauses nicht anwesend war! Absurd! »Ich werde ihnen mitteilen dass Sie nicht zu Hause sind.«
Sophie nickte und Clemens verließ rückwärts den Raum. Ein paar Minuten später kehrte er wieder zurück. Nun stand ein kleines silbernes Schloss auf seinem Tablett; ein filigranes, wunderschönes Schloss, dessen Türmchen mit funkelnden Rubinen verziert waren.
Sophie zog die Augenbrauen in die Höhe.
»Ein Geschenk für den Sultan, Selim III«, verkündete Clemens. Sein Ton war immer noch voller Groll, aber der augenscheinliche Wert des Schlosses schien ihn ein wenig besänftigt zu haben. »Mr Foucault behauptet, dass Seine Gnaden das Tintenfass erwartet und zugestimmt habe, es in Mr Foucaults Namen dem Sultan zu überreichen.«
»Ohje«, sagte Sophie und erhob sich aus ihrem Sessel. »Dann muss ich ihn wohl begrüßen, nicht wahr? Mein Gott, was für eine bezaubernde Arbeit!« Sie trat näher und streckte die Hand nach dem Dach des Schlosses aus. »Das muss der Deckel des Tintenfasses sein.«
Aber Clemens schüttelte den Kopf. »Mr Foucault hat sich dringend ausgebeten, dass das Tintenfass vorerst nicht geöffnet wird, da es für die Reise ins Osmanische Reich versiegelt wurde. Offensichtlich ist der Behälter mit Tinte in der Lieblingsfarbe des Sultans gefüllt - mit grüner Tinte.«Clemens Unterlippe verriet, was er von grüner Tinte hielt.
»Oh, natürlich«, sagte Sophie und zog ihre Hand zurück. »Warum setzen Sie das Schloss nicht dort drüben ab?« Sie zeigte auf einen kleinen Tisch in der Ecke. »Wo sind die Herren jetzt?«
»Im Salon«, erwiderte Clemens.«
»Wenn Sie Simone bitten würden, zu mir zu kommen, werden mir die Gentlemen in fünfzehn Minuten empfangen.«
Clemens verbeugte sich und verließ erneut rückwärts den Raum. Seit Patrick den Titel des Herzogs von Gisle verliehen wurde, hatte Clemens' Selbstwertgefühl - und sein Ansehen unter den anderen Butlern Londons -unvorstellbare Ausmaße angenommen. Und seitdem legte er eine Förmlichkeit an den Tag, die womöglich nur im St. James's Palace ihresgleichen fand.
Als Simone gefunden worden war und sie Sophies Haar gerichtet hatte, waren mehr als nur fünfzehn Minuten vergangen. Aber Monsieur Foucault tat Sophies Entschuldigung mit einer wegwerfenden Handbewegung ab.
»Es ist mir eine große Ehre, mit solcher Eleganz in einem Raum zu sein«, sagte er und strich mit seinem Mund über ihren Handrücken. »Viele Engländerinnen sind so - so kurios, was ihr Äußeres betrifft!«
Sophie gelang es nur mit Mühe, ein Schaudern zu unterdrücken, als Foucaults Lippen ihre Haut berührten. Als er ihr seinen Begleiter, Bayrak Mustafa, vorstellte, überlegte Sophie einen Moment lang, ob sie ihn auf Türkisch begrüßen sollte. Sie beherrschte die Sprache gut genug, um eine einfach Konversation zu führen. Aber die Schwangerschaft hatte eine verheerende Wirkung auf ihr Gedächtnis und so machte sie sich womöglich noch zum Narren. Also nickte sie nur und begrüßte ihn höflich auf Englisch, in der Hoffnung, dass Monsieur Foucault es übersetzen würde.
Es bereitete ihr keinerlei Schwierigkeiten, Monsieurs Übersetzung ihrer Worte zu verstehen, aber Mr Mustafas Erwiderung war sehr merkwürdig. Um genau zu sein ergab sie, zumindest nach Sophies Verständnis, überhaupt keinen Sinn. Seine Äußerung - die er mit einer tiefen Verbeugung begleitete - schien eine Zeile aus einem Kinderlied oder einem Abzählreim zu sein. Sicherlich hatte sie ihn missverstanden! Schließlich zeigte Monsieur Foucault kein Anzeichen von Überraschung. Er übersetzte ihr den unstimmigen Satz als eine ganz konventionelle Begrüßung.
Sophie ließ sich daraufhin vollends verwirrt in einen Sessel sinken. Aber ihre Neugier war geweckt. Monsieur Foucault war ganz erpicht darauf, die französischen Gepflogenheiten mit denen in England zu vergleichen, aber nach einer Weile gelang es Sophie, die Unterhaltung auf Bayrak Mustafa zurückzubringen.
»Es tut mir Leid, dass wir Mr Mustafa aus unserer Unterhaltung ausschließen müssen«, sagte sie mit zuckersüßer Stimme zu Monsieur Foucault. »Würden Sie ihn bitte in meinem Namen fragen, wie ihm unsere englischen Städte im Vergleich zu dem großartigen Konstantinopel gefallen?«
Ein Ausdruck von Verärgerung flog über Monsieur Foucaults Züge, aber dann setzte er ein strahlendes Lächeln auf. »Wie überaus gütig von Euer Gnaden«, säuselte er, »an das Wohlergehen meines Begleiters zu denken. Aber wir haben die Gastfreundschaft in diesem schönen Haus schon viel zu lange in Anspruch genommen und müssen uns nun wieder auf den Weg machen.«
»Bitte«, sagte Sophie ebenso charmant und entschlossen wie er. »Erlauben Sie mir, Sie noch einen Augenblick aufzuhalten. Ich bin ja so neugierig auf Konstantinopel!«
Monsieur Foucault nickte höflich und wandte sich an Mustafa. Sophie hörte aufmerksam zu und bemühte sich um eine höflich interessierte Miene.
Monsieur Foucault gab ihre Frage tatsächlich an seinen Begleiter weiter, aber Mustafas Antwort war eine unzusammenhängende Aneinanderreihung von Worten. Und wenn sie sich nicht sehr täuschte, benutzte Mr Mustafa nur Substantive, keine Verben.
Monsieur Foucaults Übersetzung beinhaltete keinesfalls das, was sie gehört hatte; nicht einmal dann, wenn man ihre bei weitem noch nicht perfekten Türkischkenntnisse mit bedachte. Wenn man Monsieur Foucaults Worten Glauben schenkte, dann hielt Mr Mustafa die englische Hauptstadt, im Vergleich zu Konstantinopel für weitaus überlegen.
Foucault wechselte geschickt das Thema, indem er zu einer schwülstigen Entschuldigung ansetzte. »Vergeben Sie uns, Euer Gnaden, aber wir müssen uns nun auf den Weg machen.« Er beugte sich vor und küsste erneut Sophies Hand. »Ihr ergebenster Diener. Ich bin sicher, der Herzog wird das Tintenfass amüsant finden.« Er schwieg einen Moment. Ach muss Sie jedoch bitten, ihm auszurichten, dass der Behälter versiegelt ist und dies während der langen Reise ins Osmanische Reich auch bleiben soll.«
»Selbstverständlich werden wir das Tintenfass nicht öffnen«, versicherte Sophie ihm. »Darf ich Ihnen zu Ihrem aufmerksamen und wunden
nen Geschenk gratulieren, Sir?«
Monsieur Foucault verbeugte sich ein weiteres Mal und schob Mr Mustafa mit einem englischen Wortschwall auf die Tür zu. Dieser verbeugte sich stumm und verzichtete diesmal auf das Türkische.
Nachdem die Herren gegangen waren, begab sich Sophie nachdenklich hinauf in ihren Salon. Sie trat vor den Tisch mit dem Tintenfass und berührte den zierlichen, mit Juwelen besetzten Turm des Miniaturschlosses. Etwas an Monsieur Foucault und Mr Mustafa stimmte nicht.
Seit dem Debakel beim Ball der Commonweals hatte sie Patrick jedoch kaum gesehen. Wie konnte sie die Sprache auf Monsieur Foucault bringen? Während sie darüber nachdachte, trug Clemens weitere Visitenkarten auf seinem silbernen Tablett herein. Die Herzogin von Gisle war sehr gefragt und so schob Sophie ihre Besorgnis vorerst beiseite.
Einige Tage später begegnete Patrick auf einer belebten Straße zufällig seinem Bruder und überrascht blieben die beiden stehen.
»Du bereitest mir wirklich Magenschmerzen, Mann«, sagte Alex schließlich.
»Dein Magen ist nicht mein Problem«, erwiderte Patrick mürrisch. Seine Laune war auf Grund der schlaflosen Nächte, in denen er durch die Straßen lief, nicht gerade die beste.
Alex blickte ihn finster an. »Du könntest deinen Lakaien zumindest die Anweisung geben, deiner Frau behilflich zu sein«, sagte er scharf »Ich wurde gestern Zeuge, wie Sophie alleine aus der Kutsche kletterte. Sie wäre beinah auf das Pflaster gestürzt.«
Unbändiger Zorn erfasste Patrick. Er neigte höflich den Kopf. »Ich werde die Lakaien natürlich umgehend dazu anhalten, aufmerksamer zu sein.« Er ignorierte jedoch den unausgesprochenen Vorwurf - dass er seine Frau nicht begleitete, obwohl ihre Schwangerschaft schon so weit fortgeschritten war.
Alex stieß einen leisen Fluch aus. Er hatte seine zierliche Schwägerin sehr lieb gewonnen und etwas in ihrem verletzten, verwirrten Blick verriet ihm, dass sie keine Ahnung hatte, warum sich ihr Mann so unmöglich aufführte.
»Hast du mit Sophie über deine Angst vor der Geburt gesprochen?«, fragte er abrupt.
Patricks Körper wurde, wenn überhaupt möglich, noch starrer. In seinen Augen glomm unverhohlener Zorn. »Meine Angst, wie du es nennst, ist eine völlig vernünftige Reaktion auf die Tatsache, dass eine von fünf Frauen bei der Geburt eines Kindes stirbt. Im Gegensatz zu dir hatte ich eigentlich vorgehabt, meine Frau nicht in Gefahr zu bringen, nur weil ich den stupiden Wunsch hege, mich fortzupflanzen.«
Der Ausdruck in den Augen der Männer war nun mörderisch und passte gar nicht zu der höflichen Atmosphäre der Oxford Street.
»Wärst du nicht mein Bruder, so würde ich dich für diese Bemerkung fordern«, sagte Alex mit eisiger Höflichkeit. »So wie die Sache aber aussieht, Bruder, kann ich nur feststellen, dass du offensichtlich völlig den Verstand verloren hast. Du machst dich und deine Frau sehr unglücklich, und das nur wegen deiner sinnlosen, kindischen Angst.«
Patrick musste all seine Selbstbeherrschung aufbringen, seinen Bruder nicht auf der Stelle niederzuschlagen.
»Nun verrate mir bitte«, sagte er schließlich, »was >sinnlos< daran ist, eine Chance von eins zu fünf als schlecht zu bewerten?«
»Diese Berechnung schließt Frauen ein, die ihre Kinder ohne Arzt oder Hebamme zur Welt bringen oder krank sind und im Sterben liegen. Wie viele vornehme Damen fallen dir ein, die im Kindbett gestorben sind?«
»Eine Menge«, sagte Patrick mit leisem Nachdruck. »Dir sollte es ebenso ergehen, wenn man bedenkt, dass deine Frau beinah dazu gezählt hätte.«
Einen Moment lang sprach keiner der Männer ein Wort. »Charlotte hatte keinerlei Probleme bei der Geburt, bevor ich auftauchte, Patrick«, sagte Alex schließlich erstickt. »Und das weißt du sehr genau. Du weißt, dass es meine Schuld war. Willst du mir das Herz brechen?«
Das Schweigen wurde nur von dem Rattern der vorbeifahrenden Kutschen unterbrochen.
»0 Gott«, sagte Patrick leise. »Ich sollte mich am besten gleich erschießen, oder?«
Ein zaghaftes Lächeln tauchte in Alex' Mundwinkeln auf. »Nicht, bevor ich nicht zuvor einen Versuch bekomme.«
Die beiden Männer umarmten sich unbeholfen. Patrick schluckte schwer und Alex klopfte ihm raubeinig auf den Rücken. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Es sind nur noch, was - drei oder vier Monate?«
Patrick blickte seinen Bruder hilflos an. »Ich weiß es nicht. Sophie und ich sprechen nicht über das Kind.«
»Die ganze Stadt redet darüber, dass du Sophie nicht gesagt hast, dass sie eine Herzogin wird. Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, Patrick?«
»Ich habe es vergessen. Ich habe es komplett vergessen.« Er zuckte die Achseln. »Du weißt, wie wenig mir ein Titel bedeutet. Ich dachte, Sophie würde sich darüber freuen, Herzogin zu werden, aber sie ist fuchsteufelswild, weil ich es ihr nicht gesagt habe. Wir reden nicht mehr häufig miteinander«
Alex nickte. Er hatte bereits gespürt, dass die Ehe seines Bruders an einem seidenen Faden hing.
»Ich glaube, Sophie ist nun im siebten Monat«, sagte Alex völlig urteilsfrei. »Sie hat Charlotte erzählt, dass sie sich nach Lady Greenleafs Ball morgen Abend aus der Öffentlichkeit zurückziehen wird.«
Patrick hatte keine Ahnung gehabt, dass Sophie plante, die restliche Saison aufzugeben. »Ich werde sie begleiten«, sagte er leise. Er wusste, dass Sophie sich abends häufig Charlotte und Alex angeschlossen hatte.
Alex nickte. »Ich nehme nicht an, dass es etwas nutzen würde, wenn ich dir den Rat gäbe, mit deiner Frau zu reden?«
Patrick zuckte zusammen. »Ich werde es versuchen, Alex.«
An diesem Abend klopfte Clemens an Sophies Schlafzimmertür und informierte Simone, dass der Herzog die Absicht geäußert habe, das Abendessen zu Hause einzunehmen. Der Herr hatte seit zwei oder drei Wochen nicht mehr zu Hause gespeist, und Clemens war der Meinung und das mit Recht -, dass die Herzogin wissen sollte, dass sie an diesem Abend mit ihrem Mann essen würde und nicht allein.
Sophie, die gerade ein Armband an ihrem Handgelenk befestigte, hielt einen Moment inne. Simone schaute sofort in das Gesicht ihrer Herrin und senkte blitzschnell den Blick zu Boden. Natürlich wusste das ganze Haus von der Entfremdung zwischen den Herrschaften.
Simone und Patricks Kammerdiener Keating hatten sogar einen heftigen Streit darüber, wo sich der Herzog nachts aufhielt. Keating blieb beharrlich dabei, dass der Herr kein Techtelmechtel hatte; Simone quittierte dies mit einem spöttischen Schnauben und behauptete, der Herzog verbringe seine Zeit mit einer anderen Frau und Keating solle sich was schämen. Der Streit zwischen den beiden wurde schließlich so hitzig, dass Keating sogar eine Jacke von Patrick nach unten brachte, damit Simone sich davon überzeugen konnte, dass sie nicht nach weiblichem Parfüm oder Puder roch.
Sophie schloss das Armband und tat so, als habe sie Clemens Ankündigung gar nicht gehört. Sie trug ein lose geschnittenes meergrünes Abendkleid, in das vorne ein Einsatz eingearbeitet war, damit sie mit ihrem gewölbten Bauch hineinpasste.
Einen Moment lang blieb sie zögernd vor dem Spiegel stehen. Sie fühlte sich in letzter Zeit hässlich, wie eine hässliche, ungeliebte Frau. Eine schwangere Frau, dachte sie grimmig. Vielleicht sollte ich mir lieber ein Tablett aufs Zimmer kommen lassen.
Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und ging die Treppe hinunter. Sie musste sehr langsam gehen und das zusätzliche Gewicht ausbalancieren, das sie vor sich trug. Patrick wartete am Fuß der Treppe auf sie.
Sophie lächelte ihn höflich an und nahm seinen Arm und gemeinsam gingen sie ins Speisezimmer.
Automatisch aß sie ihr Rebhuhn.
»Ist das nicht schon das zweite Mal diese Woche, dass Floret Rebhuhn zubereitet hat?«, fragte Patrick.
»Ja, das stimmt. Ich fürchte, meiner Mutter ist es gelungen, ihn zu bestechen.« Sophie nahm zwei weitere Bissen und fragte sich, woher Patrick wusste, dass Floret am Dienstag ebenfalls Rebhuhn serviert hatte. An jenem Abend war er erst nach Hause gekommen, nachdem sie eingeschlafen war. In letzter Zeit wartete sie nicht mehr darauf, dass er nach Hause kam. Sie brauchte ihren Schlaf dringender als die Bestätigung, dass ihr Mann noch vor Morgengrauen nach Hause zurückkehrte.
Sophie nahm einen weiteren Bissen. Das Rebhuhn schmeckte wie Sägemehl.
»Ich werde dich morgen zu dem Ball bei den Greenleafs begleiten, wenn ich darf«, sagte Patrick. »Es verspricht ein großes Gedränge zu werden.«
Sophie nickte. Ihr Gatte war zum Abendessen nach Hause gekommen, und nun begleitete er sie auch noch zu einem Ball?
Als Sophie schwieg, sprach Patrick weiter. »Es wird dich freuen zu hören, dass bei White's darauf gewettet wird, ob Braddon nächste Woche seine Verlobung mit deiner Freundin Madeleine bekannt geben wird.«
Sophie schwieg und Patrick fluchte innerlich. Was zum Teufel hatte er sich dabei gedacht? Sophie würde bestimmt nicht sehr begeistert darüber sein, dass Braddon jemand anderes heiratete, denn schließlich empfand sie etwas für diesen Mann.
»Vielleicht können wir ein Picknick auf dem Land machen, wenn es am Wochenende schön bleibt«, sagte er plötzlich. Es würde ihm bestimmt leichter fallen, mit Sophie zu reden, wenn sie alleine miteinander wären und nicht an einem Tisch säßen, der von zwei Lakaien flankiert wurde.
Plötzlich fuhr Sophies Kopf nach oben, und Patrick sah zu seinem Erstaunen, dass ihre Augen ihn zornig anblitzten.
»Ich will verdammt sein, wenn ich dir gestatte, in dieses Speisezimmer zu spazieren, als wäre nichts gewesen, und mich zu einem Picknick einzuladen«, sagte sie außer sich vor Wut.
Patrick nickte Clemens zu, der daraufhin die Lakaien aus dem Zimmer schickte und ihnen dann hastig folgte.
»Warum nicht?« Patrick blickte seine Frau völlig entgeistert an. Dies war eine neue Sophie, und es bereitete ihm keinerlei Schwierigkeiten, den Zorn in ihren Augen zu lesen.
Sophie erhob sich und warf ihre Serviette auf den Tisch. »Ich habe mich nicht beschwert, wenn du deine Geliebte besucht hast. Ich habe dir keine Vorwürfe gemacht - nicht ein einziges Mal. Wenn du zu ihr gehen willst, dann geh! Geh! Aber komm nicht zu mir zurück, als wäre ich ein Fisch, den du immer wieder an Land holen kannst, wenn dir danach ist. Du hast wohl angenommen, ich würde dich dankbar anlächeln und mit dir ein Picknick unternehmen, wenn du plötzlich beschließt, deiner Frau ein bisschen Zeit zu widmen?«
Patrick sah seine Frau mit undurchdringlicher Miene an.
»Ich gehe nun auf mein Zimmer«, sagte sie abrupt. »Ich nehme dein Angebot, mich morgen zum Ball zu begleiten, dankbar an. Deine freundliche Einladung zu einem Picknick muss ich jedoch leider ablehnen. Ich fühle mich heute nicht wie eine lüsterne Dirne und ich werde mich wohl auch morgen nicht wie eine fühlen. Daher«, sagte sie mit ätzender Ironie, »würdest du dich in meiner Gegenwart sicherlich nicht sehr wohl fühlen!«
Und mit diesen Worten verließ sie so schnell es ihr in ihrem Zustand möglich war, das Zimmer und stieg die Treppe hinauf
Der Herzog und die Herzogin von Gisle lagen in dieser Nacht in ihren Betten und starrten zur Decke hinauf. Hätte ein Engel durch das Dach in das Haus in der Upper Brook Street geschaut, so hätte er zwei schlaflose Gestalten entdeckt. Patrick war wohl der verzweifeltere von beiden, denn Sophie fand ihren wiederentdeckten Zorn nicht unangenehm.
Hätte der gleiche Engel sich die Mühe gemacht, am folgenden Abend durch das mit Seide ausgeschlagene Dach der herzöglichen Kutsche zu schauen, die vor dem Haus der Greenleafs am Hanover Square vorfuhr, hätte er erneut zwei stumme Gestalten erblickt. Es bestand nur ein Unterschied: Sophie starrte die Wand an, während Patrick den Blick nicht von seiner Frau losreißen konnte.
Sophie trug ein Ballkleid, das ganz bewusst ihre neue, üppige Figur betonte. Hauchdünne, glänzende, blassblaue Seide zierte ihr Oberteil und verdeckte und entblößte gleichwohl die Rundungen ihrer Brüste.
Als die Kutsche schließlich anhielt, zog Sophie, ohne sich der Blicke Patricks bewusst zu sein, ihren Kaschmirschal enger um die Schultern. Bei dieser Bewegung wären ihr beinah die Brüste aus dem hauchdünnen Stoffgebilde gerutscht.
Ich bin nicht lüstern, dachte Patrick im Stillen. Ich bin nicht eifersüchtig. Die Hoffnung, dass diese beiden Behauptungen durch ständiges Wiederholen wahr würden, ging nicht in Erfüllung. Na gut, gestand er sich, ich bin lüstern. Er sprang aus der Kutsche und streckte automatisch die Hand aus, um Sophie aus dem Gefährt zu helfen. Und ich bin eifersüchtig, dachte er grimmig, als er die großen Augen des Londoner Pöbels sah, der die feinen Pinkel beobachtete, die zu dem Ball gingen.
Wenn Sophie ihm ... wenn Sophie ihm doch nur einen fröhlichen Blick zuwerfen und sich zufällig an seinen Arm pressen würde. Wäre sie doch nur aus der Kutsche in seine Arme gestolpert. Stattdessen ließ sie sofort seine Hand los, sobald sie sicher auf dem Boden angekommen war. Offensichtlich konnte sie seine Berührungen nicht ertragen. Einen Augenblick lang zog sich Patricks Herz schmerzhaft zusammen. Er war besser dran, die Straßen von London zu durchstreifen statt bei seiner wunderschönen, erregen gleichgültigen Frau zu sein.
Sobald man auf dem Ball von Lady Greenleaf ihren Namen ausgerufen hatte, stürzte eine Gruppe von Gentlemen auf sie zu und stritt um die Ehre, mit der schönen jungen Herzogin tanzen zu dürfen. Patrick stand einen Moment lang stumm neben ihnen und unterbrach dann rüde einen jungen Grünschnabel, um sich den Tanz vor dem Abendessen zu sichern.
Sophie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, sagte jedoch nichts. Wie Patrick sehr wohl wusste, würde sie im Ballsaal nie eine Szene machen. Er verbeugte sich vor ihr und schlenderte davon.
Sophie sah ihm nach und vergaß für einen Moment die plappernde Menge um sich herum. Ihr gerechter Zorn ließ allmählich nach, und das ausgerechnet in dem Moment, in dem sie ihn am nötigsten brauchte. Sie holte tief Luft. Dies war das letzte Mal, dass sie an einem dieser quälenden gesellschaftlichen Anlässe teilnahm. Nach dem Ball war für sie die Saison zu Ende. Die Tradition, dass schwangere Frauen sich aus der »Öffentlichkeit zurückzogen«, erschien ihr immer verlockender. Und es war auch gut so, dass sie an diesem Abend mit Patrick tanzen würde. Sie hatte die unverhohlenen besorgten Kommentare über die häufige Abwesenheit ihres Mannes langsam satt.
Der Tanz vor dem Abendessen begann und Patrick erschien an ihrer Seite. Als er sich gerade vor ihr verbeugen wollte, schüttelte Sophie den Kopf und nickte zum anderen Ende des Ballsaals hinüber. Patrick drehte sich um. Dort stand Braddon und hielt Madeleines Hand.
Lord Greenleaf räusperte sich gewichtig und verkündete laut: »Ich habe die Ehre zu verkünden, dass Lady Madeleine Corneille zugestimmt hat, den Grafen von Slaslow zu heiraten.«
Braddons Mutter stand neben ihnen und lächelte glücklich. Als die ersten Töne eines Menuetts erklangen, wandte sich Braddon an Lord Greenleaf und dankte ihm. Dann nahm er seine Verlobte in die Arme und wirbelte mit ihr auf die leere Tanzfläche. Das frischverlobte Paar hielt züchtig zehn Zentimeter Abstand voneinander, und Braddon Chatwin vermied es tunlichst, mit dem Bein ihr Kleid zu streifen oder sie zu vertraulich zu berühren.
Doch als er seine Maddie so verliebt anlächelte, dass sie ihre Scheu verlor, vor den Augen der feinen Gesellschaft zu tanzen, und sein Lächeln erwiderte, da war Sophie nicht die einzige Frau im Saal, die einen Kloß im Hals verspürte und feuchte Augen bekam.
Der Knoten in Patricks Brust hatte nichts mit derartigen Gefühlsduseleien zu tun. Braddon, dieser Lump, hatte offensichtlich rücksichtslos mit Sophies Gefühlen gespielt. Und da stand sie nun und weinte beinah vor den Augen aller, weil Braddon wieder verlobt war.
Aber man konnte Braddon schlecht die Schuld geben. Patricks schlechtes Gewissen regte sich. Sophie wäre längst mit Braddon verheiratet, dachte er voller Selbsthass, wenn ich nicht zuerst mit ihr geschlafen hätte.
Schwungvoll führte er seine Frau auf die Tanzfläche. Zumindest kann ich sie vor den neugierigen Blicken der anderen bewahren, dachte Patrick. Sophie würde sich völlig lächerlich machen, wenn sie nun wegen eines Mannes Tränen vergoss, dem sie zuvor den Laufpass gegeben hatte.
Sie tanzten schweigend miteinander. Sophie mied Patricks Blick, damit er nicht in ihren Augen sehen konnte, dass ihre Wut verraucht war. Es war ihr zu peinlich, die Tatsache zu akzeptieren, dass sie ihren untreuen Ehemann wohl immer wieder zurücknehmen würde, egal, wie lange er auch von ihr fernblieb. Sie liebte ihn einfach zu sehr.
Schließlich wurden sie von den anderen Tänzern, die angeregt miteinander plauderten, in den Speisesaal gezogen, wo sie an einem großen, runden Tisch Platz nahmen. Als Patrick während des Essens losging und ihr eine Erfrischung holte, entschuldigte sich Sophie bei den anderen Gästen.
»Bitte, Sissy, würden Sie meinem Mann bitte sagen, dass ich in den Puderraum gegangen bin.«
Sissy Commonweal blickte sie mit dem gleichen mitleidigen Blick an, dem Sophie in letzter Zeit bei fast allen Angehörigen der feinen Gesellschaft begegnete. Sicherlich weiß sie, mit wem Patrick seine Nächte verbringt, dachte sie müde. Es ist ein Wunder, dass mir noch niemand den Namen der schwarzhaarigen Frau verraten hat. Sie verließ den Tisch, ohne sich noch einmal umzusehen und so bemerkte sie auch nicht ihren Mann, der sich mit ihrer Erfrischung in der Hand einen Weg durch die Menge bahnte.
Sie konnte jedoch nicht ewig im Puderraum bleiben und so fand Patrick sie später und bat sie um einen weiteren Tanz. Zum Glück war es ein Bauerntanz, so dass sie sich nicht allzu nahe kamen. Sophie bewegte sich mechanisch über die Tanzfläche, als sie plötzlich etwas sah, das ihren Puls heftig beschleunigte. Ihre Mutter, Eloise, lächelte freundlich und zerrte Madeleine zu einer älteren Französin hinüber -ohne Zweifel Madame de Meneval, die für ihre Fähigkeit bekannt war, falsche französische Aristokraten zu entlarven. Ohne zu Zögern unterbrach Sophie ihre Schritte, ließ die Hand ihres Mannes los und überquerte die Tanzfläche.
Patrick blickte ihr völlig verdattert hinterher. Töchter der Furcht erregenden Marquise von Brandenburg ließen ihre Tanzpartner nicht einfach stehen. Er schüttelte sich innerlich wie ein junger Hund und eilte seiner Frau nach.
Aber Sophie kam zu spät. Als sie sich gerade hastig an einer Menschentraube vorbeischob, sah sie, wie Madeleine vor Madame de Meneval einen anmutigen Knicks vollführte.
»Merde!«, flüsterte Sophie und blieb stehen. Eloise blickte auf und streckte ihr einladend eine Hand entgegen.
»Mein Schatz, komm her und begrüße Madame de Meneval. Ich habe ihr gerade unsere liebe Madeleine vorgestellt.«
Mit sinkendem Herzen trat Sophie an die Seite ihrer Mutter. In einer Sekunde würde Madame de Meneval verkünden, dass Madeleine eine Betrügerin war, und somit Braddons Plan wie ein Kartenhaus zum Einstürzen bringen.
Patrick erschien an ihrer Seite und berührte ihren Arm. Sophie warf ihm einen verzweifelten Blick zu.
Er runzelte verwirrt die Stirn. Was zum Teufel ging hier vor? Sophie schien offensichtlich aus Angst, einer alten Französin in abgetragener schwarzer Seide vorgestellt zu werden, am ganzen Körper zu zittern. Die Frau hatte zwar eine Nase, die einem Geier zur Ehre gereicht hätte, aber ansonsten war wirklich nichts Beängstigendes an ihr. Patrick kam sie sogar ein wenig gefühlsduselig vor. Weinte sie nicht sogar?
Ja, Madama de Meneval weinte, wenn auch nur eine einzelne Träne. Sie ließ ihren Stock fallen und streckte Madeleine die Hände entgegen.
»Madeleine, meine liebe Madeleine! Ich dachte, du wärst tot. Deine Mutter hat mir so gefehlt, und hier bist du nun ... Du siehst genau aus wie sie. Ich erinnere mich an dich als kleines Mädchen, als du erst fünf Jahre alt warst. Deine Mutter hat dich den weiten Weg nach Paris mitgenommen, damit du eine Ballettaufführung sehen konntest. Deine Mutter liebte das Ballett. Oh, sie liebte es zu tanzen.«
Sophie sagte kein Wort und auch Madeleine brachte kein Wort heraus. Beide starrten sie Madame de Meneval an, als wäre dieser ein Horn auf der Stirn gewachsen. Aber Madame bemerkte es nicht. Sie zog ein Taschentuch aus feinster Spitze aus ihrem Retikül und tupfte sich vorsichtig die Augen ab.
»Du siehst aus wie deine Mutter, wenn sie bei Hofe die anderen Damen ausstach. Es ist mir, als würde ich meine liebe Hélène vor mir sehen. Du hast ihre Augen und ihr Haar ... und deine Figur ist genau wie ihre. Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, dass König Louis Hélène Busen anstarrte. Marie Antoinette war immer furchtbar wütend auf deine Mutter! Aber sie konnte nichts sagen. Schließlich benahm sich deine Mutter immer völlig korrekt. Sie war eine sittsame Dame, die sich nie in den Vordergrund schob. Es war schließlich nicht Hélène Schuld, das König Louis sie immer très désirable fand.«
Dann bemerkte Madame plötzlich den überraschten Ausdruck auf Madeleines Gesicht. »Wusstest du nicht, dass du deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten bist, meine Liebe?«
»Das hat mein Vater auch immer behauptet, Ma'am«, sagte Madeleine langsam, »aber ich habe es nie geglaubt.«
In diesem Moment trat Braddon hinter Madeleine und berührte leicht ihren Ellbogen. »Ich glaube, das ist mein Tanz«, sagte er und verbeugte sich.
»Braddon!«, rief sie und verstieß gegen die Regel, ihn in der Öffentlichkeit stets förmlich anzureden. »Madame de Meneval sagt, ich sehe aus wie meine Mutter!«
Braddon klappte die Kinnlade nach unten und einen Moment lang versteifte sich Sophies ganzer Körper. Er wird etwas furchtbar Dummes sagen, schoss es ihr durch den Kopf. Ihre Finger klammerten sich schmerzhaft an Patricks Ärmel.
Patrick schaute auf die weißen Finger seiner Frau hinunter. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, warum seine Frau so erregt war.
Glücklicherweise sagte Madame de Meneval etwas, bevor Braddon Madeleines wahre Identität preisgeben konnte.
»Sie müssen der Graf von Slaslow sein«, sagte sie und musterte Braddon kritisch. Sie persönlich machte sich nichts aus den typisch englischen Burschen; all dieses blonde Haar und dann diese blauen Augen. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie die Ehre haben, die Tochter meiner teuren Freundin, der Marquise de Flammarion, zu heiraten.«
»Das stimmt«, erwiderte Braddon unsicher. Er verbeugte sich erneut.
Madame schnaubte. Und obendrein noch einfältig, dachte sie im Stillen. Nun, zumindest war er nicht so wunderlich wie Hélène Ehemann.
»Dein Vater, der Marquis, hat also ebenfalls überlebt?«, wandte sie sich neugierig wieder an Madeleine. Das Mädchen stand immer noch kreidebleich und stocksteif vor ihn
»Mein Vater hat mich 1793 nach England gebracht«, erwiderte sie.
»Oh, 1793.« Madame fröstelte. »Das war ein schreckliches Jahr, ein ganz furchtbares Jahr. Ja, in diesem Jahr wurde deine Mutter verurteilt. Es war im April. Ein schreckliches Jahr.«
Madeleine wurde noch bleicher. »Mein Vater hat mir immer erzählt, meine Mutter sei an einem Fieber verstorben«, sagte sie.
»Oh nein«, widersprach die Französin. »Sie wurde verhaftet. Fouquer, dieser Schlächter, benötigte keinen Grund. Sie kam selten nach Paris, weißt du, da dein Vater so zurückgezogen lebte. Aber sie war dort, möglicherweise, um Einkäufe zu tätigen ... neue Kleider. Ich bin mir nicht sicher.«
Madeleine wusste es. Im Geiste hörte sie, wie ihr Vater immer wieder die Mode und vor allem die weibliche Schwäche für die Mode verdammte.
»Sie wurde gefangen genommen«, fuhr Madame fort. »Ich weiß noch, dass dein Vater nach Paris kam und das Tribunal anflehte, sie am Leben zu lassen. Der einzige Grund, warum er nicht ebenfalls verhaftet wurde, war der, dass er sich immer so sonderbar verhalten hatte. Ständig arbeitete er in den Ställen und war immer über und über mit Mist beschmutzt. Es ging sogar das Gerücht um, dass er das Schmiedehandwerk erlernt hat.«
»Ja, das stimmt«, sagte Madeleine wie betäubt.
»Nun, es hat ihm das Leben gerettet«, erwiderte Madame. »Das Tribunal hielt ihn für etwas Besseres, nicht für einen >nutzlosen Aristokraten<. Diese Kanaillen! Nichts als degenerierter Abschaum, der sich anmaßte, über das Leben von höher Gestellten zu richten!« Ihre Augen funkelten Madeleine wütend an. »Hier drüben wird es dir besser ergehen, Mädchen. Sogar, wenn du einen Engländer heiratest. Sogar ohne die Besitztümer deines Vaters. Ist es ihm gelungen, etwas nach England zu retten?«
»Ja«, antwortete Madeleine und dachte an die großen Geldsummen, über die ihr Vater plötzlich verfügt hatte, als es darum ging, ihre Kleider und Mrs Trevelyan zu bezahlen. »Ja, das ist es.«
»Nun«, sagte Madame de Meneval mit unfreiwilligem Respekt, »ich habe nie viel für Vincent Garnier übrig gehabt. Er war ein seltsamer Kauz, sogar als junger Mann. Aber Hélène liebte ihn. Sie war völlig verrückt nach ihm und wollte kein Wort gegen ihn hören. Und nachdem sie ihn geheiratet hatte, nahm er sie mit auf seinen Besitz im Limousin und ließ sie nur äußerst selten an den Hof reisen. Ich weiß nicht, wie sie seine Erlaubnis erhielt, 93 nach Paris zu kommen.« Sie verstummte.
Madeleine wandte sich an Braddon und in ihren Augen glitzerten ungeweinte Tränen. Er reagierte sofort. »Ich fürchte, ich muss Ihnen meine zukünftige Braut nun entführen«, sagte er und verbeugte sich tief vor Madame de Meneval. »Madame, Ihr ergebenster Diener.«
Madame senkte das Kinn einige Zentimeter, so als wäre sie und nicht Louis der Herrscher von Frankreich gewesen. Der Ausdruck in ihren Augen wurde jedoch weicher, als sie sich an Madeleine wandte.
»Mein liebes Kind, ich habe dir wohl unwissentlich einige unangenehme Neuigkeiten erzählt. Du musst mir vergeben.«
»Nein, nein«, protestierte Madeleine sanft. »Es ist wunderbar, jemanden zu treffen, der meine Mutter kannte. Ich fürchte, ich habe nur wenige Erinnerungen an sie.«
»Vielleicht kommst du einmal zum Tee zu mir. Ich kannte deine Mutter vom Tag ihrer Geburt an. Es würde mir große Freude machen, Hélène Tochter von ihr zu erzählen. Sie wäre so stolz auf dich gewesen, meine Liebe!«
Bei dieser Bemerkung drohte Madeleine in Tränen auszubrechen. Nachdem sie sich hastig verbeugt hatte, zog Braddon sie sanft aus dem Ballsaal. Braddon mochte nicht besonders helle sein, aber er kannte seine Maddie. Ohne ein Wort zog er sie in einen angrenzenden Salon, schloss die Tür und legte die Arme um sie.
»Braddon, Braddon«, schluchzte Madeleine. »Es ist meine Mama, Hélène ist meine Mama.«
»Was?«
»Madame ... sie sprach von meiner Mutter.«
»Unmöglich«, sagte Braddon sanft. »Deine Mutter hat einen Stallmeister geheiratet. Sie konnte unmöglich mit einem Mitglied des französischen Königshofes befreundet sein.«
»Verstehst du denn nicht, Braddon?« Madeleine blickte mit großen braunen, tränenfeuchten Augen zu ihm auf »Mein Vater ist der wunderliche Marquis, der das Schmiedehandwerk erlernte. Als mein Vater mich nach England brachte, eröffnete er einen Pferdestall. Deshalb schlug er auch vor, ich solle mich als Tochter des Marquis de Flammarion ausgeben. Ich fand es merkwürdig, dass er sich so schnell auf diesen Plan einließ.«
»Du meinst, du bist wirklich die Tochter dieser Frau?«
Madeleine blickte ihren Geliebten an. Seine blauen Augen musterten sie immer noch voller Verwirrung. »Mein Vater ist der Marquis de Flammarion«, erklärte sie geduldig. »Als meine Mutter verurteilt wurde, ist er mit mir nach England geflohen. Als er hier ankam, eröffnete er einen Stall.«
Braddon starrte sie mit offenem Mund an. »Dann bist du wirklich eine französische Aristokratin?«
Madeleine nickte. Immer noch liefen ihr Tränen über die Wangen.
»Aber meine Mama, Braddon!«
Er strich ihr unbeholfen über das Haar. »Du wusstest doch, dass sie tot ist, Maddie.«
»Aber auf diese Weise, auf der Guillotine ...«
»Ich sage dir was, Maddie, die alte Frau hat Recht. Deine Mutter wäre stolz auf dich. Du hast all die Dinge gelernt, die sie dir gerne beigebracht hätte und du hast dich in die schönste, vornehmste Dame verwandelt, die ich kenne.«
Madeleine vergrub ihr Gesicht an Braddons Schulter. »Oh, Braddon«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich liebe dich.«
»Wirklich? Du liebst mich? Maddie? Wirklich?«
Als sie dies hörte, musste Madeleine trotz ihrer Tränen lachen. »Ja, das tue ich.«
»Oh, Maddie.«
Als er wieder den Kopf hob, sagte er: »Heirate mich, Maddie, bitte.«
»Ich habe doch bereits ja gesagt«, flüsterte sie und nun klang sie wieder fast so wie die alte, schelmische Maddie.
»Nein, ich meine, heirate mich jetzt. Lass uns morgen heiraten.«
»Du willst mit mir durchgehen?«
»Für dich würde ich sogar auf eine Leiter klettern«, sagte Braddon ernsthaft.
Maddie lachte ihr bezauberndes Lachen. »Ich schlafe im Erdgeschoss, Braddon.« Dann fuhr sie etwas ernster fort: »Nein, ich kann nicht mit dir durchbrennen. Meinem Vater würde das nicht gefallen. Aber vielleicht können wir sehr bald heiraten.«
»Morgen.«
»Nein, nicht morgen.«
»Übermorgen.«
»Nein!«
Braddons Küsse waren so süß, dass Maddies Herz tausend Purzelbäume schlug. »Na gut, nächste Woche«, willigte sie ein.