Kapitel 15

»Ich werde es nicht tun, Braddon. Das werde ich ganz bestimmt nicht tun.«

Seit die Lark zwei Wochen zuvor losgesegelt war, hatte sich der Graf von Slaslow nur mit einer Sache beschäftigt, und zwar der, von der er regelrecht besessen war. Er hatte Madeleine angefleht.

»Was zum Teufel kann es schaden, es zu versuchen, Liebling?«

Madeleine blickte nicht einmal von Gracies runder, harter Flanke auf, die sie mit einem Striegel bearbeitete. »Es ist nicht richtig. Du bittest mich zu lügen.« Störrisch presste sie die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, wie es Braddons Familie bei ihm noch nie gesehen hatten.

Er verdrehte die Augen, und das nicht zum ersten Mal an diesem Tag. »Siehst du denn nicht, dass diese kleine Lüge einer guten, viel größeren Sache dient?«

»Welcher größeren Sache?« Madeleines französischer Akzent wurde stärker, wenn sie etwas nicht verstand.

»Na, eben einer größeren Sache«, wiederholte er wenig überzeugend. »Diese Redewendung bedeutet ... nun, dass es nicht schlimm ist, wenn man etwas unbedeutendes Falsches tut, um eine größere Sache zu erreichen, die gut ist.«

»Da sagen unsere französischen Philosophen aber etwas ganz Anderes«, fuhr sie ihn an. »Monsieur Rousseau behauptet, dass nur les bons sauvages, die wahrlich Unschuldigen, Gutes tun.«

Braddon verdrängte die alarmierenden Beweise ihrer Bildung, die Madeleine ihm in Momenten der Anspannung an den Kopf zu werfen pflegte. Wagemutig streckte er die Hand aus, um ihr über die Wange zu streichen. In letzter Zeit hatte sie sich wie eine Tyrannin aufgeführt und ihm nicht einmal gestattet, sie zu küssen. In diesem Moment zum Beispiel hatte sie dafür gesorgt, dass sich Gracies Körper zwischen ihnen befand.

»Bitte, Maddie. Bitte. Ich möchte, dass du meine Gräfin wirst«, flüsterte Braddon. »Ich möchte, dass du meine Kinder zur Welt bringst. Ich möchte abends dein Haus nicht verlassen und in meines zurückkehren müssen. Ich möchte, dass du bei mir lebst. Verstehst du nicht, ich möchte, dass du meine Frau wirst, nicht meine Geliebte!«

»Du kannst nicht alles haben, was du willst«, murmelte Madeleine, aber Braddon sah ganz deutlich, dass ihre Gesichtszüge etwas weicher wurden. Außerdem bewegte sich ihre Hand gar nicht mehr so energisch über Gracies Kruppe.

Er blickte auf den Kragen von Madeleines gestärktem weißen Schultertuch und schluckte. Er sehnte sich danach, über die süße Haut herzufallen, die züchtig unter der weißen Spitze hervorlugte.

»Nur drei Wochen, Maddie. In drei Wochen kann ich dir bei einem Ball begegnen und mich in dich verlieben. Dann können wir mit einer besonderen Genehmigung heiraten, so wie es Patrick und Sophie getan haben. Und wenn wir erst einmal verheiratet sind, wird keiner mehr einen Gedanken an deine Vergangenheit vergeuden. Du bist dann die Gräfin von Slaslow, und nie

mand stellt neugierige Fragen über eine Gräfin.«

Zum ersten Mal schien Madeleine die Idee nicht mehr kategorisch abzulehnen.

»Ich könnte es nicht«, murmelte sie und lehnte die Stirn gegen Gracies warmen Bauch. »Ich bin keine Aristokratin, Braddon. Ich bin nur die Tochter eines einfachen Pferdehändlers.«

Nun konnte er den Sieg regelrecht riechen. »Seit wann zitieren einfache Pferdezüchter Rousseau und Diderot?«, fragte er spöttisch. »Dein Vater besitzt mehr Bücher als Sättel!«

Madeleine hob den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. »Ich bin gebildet und ich kann lesen. Das macht mich aber noch lange nicht zu einer Dame. Was verstehe ich vom Tanzen und all den anderen Dingen, die Damen tun? Ich kann ein Vorderbein schienen, aber ich weiß nicht einmal, wie man stickt!«

Braddon runzelte finster die Stirn, duckte sich unter Gracies Hals hindurch und quetschte sich in das hintere Ende der Box neben Madeleine. »Sprich nicht so von dir, Madeleine! Es steckt mehr von einer Dame in dir als in den meisten Frauen, die ich kenne. Die ganze Stickerei ist dummes Zeug. Meine Schwestern können es auch nicht und meine Mutter liegt ihnen deshalb unentwegt in den Ohren. Keine von ihnen hat gelernt, auf dem Spinett oder der Harfe zu spielen, und Gott weiß, dass sie nicht singen können. All das macht noch lange keine Dame aus.«

Madeleine blickte ihn flehend an. »Du verstehst das einfach nicht, Braddon. Was ist mit meinen Kleidern? Ich habe nicht die richtige Garderobe, und Lady Sophie ist so elegant.« Sie hatte über Sophie in der Morning Post gelesen, die immer genau beschrieb, wo sie war, mit wem und manchmal auch, was sie getragen hatte. Die bloße Vorstellung, Lady Sophie zu begegnen oder gar von ihr in den Verhaltensregeln einer Dame unterrichtet zu werden, war schrecklich.

»Sophie wird sich um all das kümmern«, sagte Braddon sorglos. »Ich gebe ihr ein paar Scheine, damit sie dir Kleider besorgt.« Er genoss es außerordentlich, wie Gracies kräftiger Körper ihn gegen Madeleine presste.

»Oh, aber das ist unmöglich!«, rief Madeleine leidenschaftlich und schlug mit der Faust auf Gracies Rücken. Gracie schnaubte überrascht und drehte den Kopf, um zu sehen, was da vor sich ging. Dann trat sie einen Schritt zurück, um der störenden Berührung zu entkommen. Braddon hätte beinah laut aufgestöhnt, als Gracie seinen Körper noch stärker gegen Madeleines presste.

»Was tust du da?«

Nun klingt sie wirklich zornig, dachte Braddon benommen.

»Geh weg von mir! Ich kann dich spüren, du... du verkommener Schuft!«

Statt einer Antwort schlang Braddon seine Arme um sie. »Ich liebe dich, Maddie«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich liebe dich. Ich will dich.

Bitte, Liebling, tu es für mich, damit wir heiraten können.«

»Nein«, sagte sie störrisch und zog ihre Hüften zurück. Braddon wurde wirklich auf sehr ungehörige Art und Weise gegen sie geschoben.

»Dann werde ich dich trotzdem heiraten«, sagte er mit ruhiger Entschlossenheit. »Es spielt für mich keine Rolle, Maddie. Ich werde dich heiraten, und dann leben wir in Schottland - oder in Amerika. Es ist mir egal, solange ich nur mit dir zusammen bin.«

Madeleine verschlug es vor Schreck den Atem. »Das meinst du nicht ernst. Du bist ein Graf. Du wärst dann ein Ausgestoßener.«

Er schlang seine Arme noch enger um sie. »Ich meine es sehr wohl ernst«, sagte er. Er rieb seine Wange an ihrem lieblich duftenden Haar. »Ich heirate keine andere als dich, und wenn du nicht vorgeben möchtest, eine französische Aristokratin zu sein, dann werde ich dich als die heiraten, die du bist.«

»Deine Familie wird nie wieder mit dir reden!« Madeleine war entsetzt.

»Ich mochte meine Familie noch nie besonders«, sagte er ohne zu zögern.

»Deine Mutter!«

Jetzt klang Braddon regelrecht fröhlich. »Ich

werde sie nicht vermissen.«

»Nein, nein, nein«, rief Maddie, und ihr französischer Akzent wurde stärker. »Ich kann nicht zulassen, dass du solch ein Opfer bringst.«

»Es ist kein Opfer«, murmelte er. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass er sie inzwischen so eng umschlungen hielt, dass er jede Rundung ihres Körpers spüren konnte. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Maddie. Unser Sohn wird dennoch den Titel erben.«

»Aber ... er wird ein Ausgestoßener sein!«

Braddon zuckte die Achseln. »Vielleicht hat die feine Gesellschaft es bis dahin vergessen. Außerdem, wen kümmert es? Bis dahin ist es noch eine Ewigkeit.«

Madeleine runzelte die Stirn. Ihre praktische, französische Seele konnte die Zukunft nicht einfach so beiseite schieben, wie Braddon das tat. In Amerika leben? War er verrückt geworden? jeder wusste, dass Amerika eine große Wildnis war, in der nur Kriminelle und wilde Indianer lebten. Rousseau mochte ja auf den Seiten eines Buches gut reden haben, aber sie bezweifelte, dass die amerikanischen sauvages unschuldig danach strebten, nur Gutes zu tun.

»Nein«, sagte sie. »Wenn eine Chance besteht, dass unser Sohn mit dem Einverständnis der Gesellschaft geboren wird, dann müssen wir es versuchen. Selbst, wenn es dazu der Lügen bedarf und ich lernen muss, eine Dame zu sein.«

Braddon antwortete darauf, indem er ihren Mund mit dem seinen verschloss und Liebesschwüre an ihren Lippen murmelte. Aber als er sich gerade ganz dem Kuss hingeben wollte, brach es wieder aus Madeleine heraus.

»Oh nein! Wir haben Papa vergessen! Er wird deinem verrückten Plan niemals zustimmen.«

»Vielleicht hast du Recht.« Braddon strich tröstend über ihren Rücken und hoffte, dass sie nicht bemerken würde, wie seine Hände über die köstliche Rundung ihres Hinterteils fuhren. »Lass uns heute noch heiraten, Madeleine. Der Plan wird niemals funktionieren. Wir reisen sofort zur Grenze.«

Madeleine riss sich von seinen vorwitzigen Händen los und runzelte die Stirn, so dass eine entzückende Falte zwischen ihren Augenbrauen entstand. »Du bist tatsächlich ein verkommener Schuft«, fuhr sie ihn an. »Gott allein weiß, warum ich dich überhaupt heiraten will.«

Sobald sie die Worte ausgesprochen hatte, umschlang Braddon sie erneut. »Ist das wahr? Du willst mich heiraten? Oh, Maddie ...« Er beugte den Kopf und presste seinen Mund stürmisch auf ihre Lippen.

Madeleine erbebte, als eine verzehrende Hitze von ihren Knien zu ihren Brüsten aufstieg. Ihr Braddon mochte nicht der hellste Mann auf der Welt sein, aber etwas an seinen Küssen machte sie völlig willenlos.

Während die Lark auf ihren ersten Anlaufhafen an der walisischen Küste zusteuerte, saßen Sophie und Patrick auf Deck und genossen die ungewöhnlich warme Nachmittagssonne. Sophie schlug ihren Gatten haushoch im Backgammon.

»Das ist nicht fair«, sagte Patrick mürrisch. »Du verfolgst keinerlei Strategie, sondern wirfst nur einen verdammten Pasch nach dem anderen.«

Sophie lächelte nur schadenfroh, als sie zwei seiner Steine nahm und sie wieder an den Anfang zurücklegte.

»Mein Großvater sagte immer, das sei mein einziges Talent bei Brettspielen.«

Patrick warf ihr unfreiwillig einen bewundernden Blick zu. »Ich würde nicht gerade behaupten, dass du dich beim Schach wie ein Dummkopf anstellst, meine Liebe.«

»Pah! Bei zwei von drei Partien hast du mich geschlagen.«

»Ja, aber normalerweise verliere ich nie«, sagte Patrick. »Und schon gar nicht gegen eine Frau«, fügte er mit einem leichten Anflug von verletzter Eitelkeit hinzu.

»Liebster Patrick, es bricht mir regelrecht das

Herz, zu sehen, wie du leidest.«

»Du bist eine Hexe, Weib«, sagte Patrick grimmig. »Ich habe eine Hexe geheiratet.«

Sophie leckte sich anmutig die Lippen. »Hm ... ich frage mich, mit welchem Zauber ich dich wohl belegen könnte?«

Wie unter einem Zwang beugte Patrick sich nach vorne und zeichnete mit dem Finger den Umriss ihrer Lippen nach. »Deine Lippen sind wahrlich zum Küssen gemacht, du Hexe.«

Ihre Augen funkelten, während Sophie seinen Finger mit der Zunge berührte und ihn dann in ihren Mund saugte. »Vielleicht hast du mich ja mit einem Zauber belegt«, flüsterte sie.

Patrick wollte sich gerade erheben, als links neben ihm ein verlegenes Husten ertönte.

»Entschuldigen Sie, Sir.« Kapitän Hibbert stand mit der Mütze in der Hand da und schaute ein wenig besorgt drein. »Würden Sie vielleicht kurz den Blick nach Osten richten und mir sagen, was Sie davon halten. Ich bitte um Verzeihung, Madam.«

Sophie lächelte ihn an. Sie mochte den schüchternen Kapitän mit seinem ungelenken Benehmen und seinen verlegenen Blicken.

»Ich bitte Sie, Kapitän Hibbert, ich will Ihre Unterhaltung nicht stören«, sagte sie und erhob sich von ihrem Stuhl. »Ich wollte mich gerade in die Kabine zurückziehen.«

Als Kapitän Hibbert eine steife Verbeugung machte und sich wieder dem Barometer zuwandte, warf sie Patrick unter gesenkten Wimpern einen Blick zu. Aber Patrick sah schon mit gerunzelter Stirn nach Osten, wo der Himmel eine wechselhafte blaugrüne Farbe angenommen hatte.

»Zieht ein Sturm auf?«

»Wir nennen das einen Makrelenhimmel«, erklärte Patrick und legte einen Arm um Sophies Schultern, damit er sie eng an sich ziehen konnte. »Siehst du rechts von uns die Schäfchenwolken?«

»Die kleinen bauschigen?«

»Ja, genau. Hibbert hat gut daran getan, uns zu unterbrechen, bevor wir uns in die Kabine zurückziehen konnten.« Patrick lachte, als er sah, wie sich Sophies Wangen rot färbten. »Meine Frau hätte mich womöglich für Stunden nicht aus dem Bett gehen lassen«, flüsterte er.

Sophie erwiderte nichts, sondern lehnte nur ihren Kopf an Patricks Schulter.

Er drückte sie beruhigend an sich. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Dieses Schiff kann vor jedem Sturm davonsegeln. Hibbert und ich haben schon einmal einen Wirbelsturm hinter uns gelassen.« Sein Puls raste vor Vorfreude auf den Moment, in dem das Schiff bis in den kleinsten Winkel erzitterte, die Balken ächzten und stöhnten, die Taue flatterten und sie durch den heulenden Wind über den Ozean flogen. Vor einem Sturm zu segeln, war die einzige Möglichkeit, den wahren Wert eines Schiffes zu testen. Kein Boot war schneller als in den Armen eines Sturms.

Plötzlich blickte er auf die weichen Locken hinunter, die sich an seine Schulter schmiegten, und überdachte die Idee noch einmal.

»Natürlich werden wir heute nichts dergleichen tun.«

Sophie blickte überrascht zu ihm auf. »Warum nicht?«

Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie genüsslich auf die Lippen. »Weil du an Bord bist.« Seine tiefe Stimme duldete keine Widerrede.

Sophie starrte ihrem Ehemann hinterher, als dieser Kapitän Hibbert folgte. Dann drehte sie sich um und ging in ihre Kabine.

Sie verstand immer besser, warum die Gentlemen ihre Frauen zu Hause ließen, wenn sie ihren Beschäftigungen nachgingen. Patrick hatte sein Schiff vor einen Orkan gebracht, während sie sich über die außergewöhnliche Freiheit gefreut hatte, Türkisch lernen zu dürfen.

Mit einem Seufzen schob Sophie diesen Gedanken beiseite. Ihre Kinderfrau hatte immer gesagt, dass es sich nicht lohne, Dinge zu bejammern, die man nicht ändern könne.

Eine Stunde später glitt die Lark dicht vor der walisischen Küste entlang und suchte einen Platz, wo sie über Nacht ankern konnten.

»Ahoi, Käpt'n!«, kam ein Ruf aus dem Ausguck.

Patrick und Hibbert blickten von ihrem Platz auf dem Achterdeck nach oben.

»Ich sehe ein Licht!«

Patrick nahm sich ein Fernrohr und richtete es auf die Küste. Er entdeckte eine tiefe Bucht, die so schmal war, dass man sie mit bloßem Auge nicht erkennen konnte, zumindest nicht aus dieser Entfernung. Die Lichter, die hinter der Bucht funkelten, schienen zu einem großen Gebäude zu gehören.

»Könnte ein altes Kloster sein«, sagte er zu Hibbert.

Hibbert tat einen Blick durch das Fernrohr. »Das wird reichen«, sagte er mit der für ihn typischen Wortkargheit. Er ging zum Steuer hinüber, denn er traute niemand anderem die schwierige Aufgabe zu, die Lark in einen fremden Hafen zu bringen.

Ungefähr eine halbe Stunde später ging Patrick pfeifend unter Deck. Er hätte beinah geklopft, unterließ es jedoch. Wenn er Glück hatte, würde er Sophie bei ihrem täglichen Bad überraschen.

Als er jedoch die Tür öffnete, sah er seine Frau in ihrem Lieblingssessel sitzen und lesen. Sie hatte ihn nicht gehört, also blieb er einen Moment lang stehen und beobachtete sie.

Sie war so in ihre Lektüre vertieft, dass sich beim Lesen die Lippen bewegte. Mein armer Schatz, dachte Patrick. Das Bildungswesen für Frauen war immer noch so unzureichend, dass Sophie während des Lesens die Worte leise mitsprechen musste. Als er sich Sophie als Schulmädchen vorstellte, versetzte ihm dieses Bild seltsamerweise einen leisen Stich.

Als er einen Schritt nach vorne trat, hörte Sophie das Geräusch seiner Stiefel auf dem Boden und blickte überrascht auf. Zu Patricks Erstaunen war sie sogar so überrascht, dass sie einen kleinen Schrei ausstieß und aufsprang, bevor sie sich in den Sessel zurücksinken ließ und ihn vorwurfsvoll ansah.

»Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!«

Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen ging Patrick zu ihr hinüber und blickte auf seine hübsche Frau hinunter. Ach hatte gehofft, dich déshabilé anzutreffen.«

Widerstrebend erwiderte Sophie sein Lächeln.

»Was hast du gerade gemacht?«

»Auf dich gewartet«, antwortete Sophie und blickte ihn mit großen unschuldigen Augen an.

Patrick runzelte die Stirn. »Du hast gerade gelesen, Sophie. Lüg mich nicht an. Und nun sitzt du auf deinem Buch.«

Sophie blickte ihn gelassen an. »Das stimmt«, erwiderte sie. Eine Bemerkung von Patricks Schulfreund David schoss ihr durch den Kopf. Patrick hasste Lügen und jede Art von Unaufrichtigkeit. Er würde furchtbar wütend sein, wenn er herausfand, was sie gerade gelesen hatte!

Patrick zog eine Augenbraue hoch. Sophie hat bestimmt in einem grässlichen französischen Liebesroman gelesen, von dem ich nichts wissen soll, dachte er. Höflich trat er beiseite und zog sein Hemd aus. Aus den Augenwinkeln beobachtete er jedoch, wie sie ihr Buch mit geübtem Geschick in eine Schublade steckte.

Wahrscheinlich hat Eloise Sophie nie etwas Interessantes lesen lassen, dachte er mit einem Grinsen auf dem Gesicht. Die Marquise war wirklich eine unnachgiebige Frau. Sie würde einen Anfall bekommen, wenn sie ihre Tochter je mit einem leichten Roman erwischte. Wahrscheinlich war Eloise sogar dafür verantwortlich, dass Sophie nicht so gut lesen konnte. Sie hatte ihrer Tochter wahrscheinlich nie etwas Anderes als Predigten zur Lektüre gegeben. Ich muss mit Sophie darüber sprechen, dachte Patrick ein wenig selbstgefällig. Meine Frau darf sich nicht für das Lesen schämen oder Romane für etwas Unmoralisches halten.

»Du solltest nach Simone klingeln«, sagte er und drehte sich zu ihr um. Dabei tat er so, als habe er nicht gesehen, wie Sophie das Buch versteckt hatte. »Wir gehen in ungefähr einer halben Stunde an Land. John war bereits mit dem Ruderboot drüben. Er sagt, dass es dort ein altes Kloster gibt, in dem wir übernachten können. Ich hoffe bei Gott, dass es dort ein ordentliches Bett gibt, denn auf der Lark dürfte es heute Nacht ein wenig rau zugehen. Mir wäre es lieber, wir könnten den Sturm in einem achthundertjahre alten Gebäude abwarten.«

Sophie musterte prüfend sein Gesicht. Als Patrick ihr auf den Kopf zugesagt hatte, dass sie auf ihrem Buch saß, da lag einen Moment lang ein so merkwürdiger Ausdruck auf seinen Zügen - so als wisse er von der türkischen Grammatik und lache sie heimlich aus. Nein, das war unmöglich. Nun sah er wieder aus wie immer.

Sie klingelte nach Simone, während Patrick seine Stiefel anzog und die Kabine verließ.

»Komm nach oben, wenn du fertig bist, Liebling.« Mit diesen Worten gab er ihr einen Kuss auf die Stirn und ging an Deck.

Langsam zog Sophie ein warmes Kleid aus dem Kleiderschrank, der an einer Seite der Kajüte in die Wand eingelassen war. Patrick hatte sie in den letzten Tagen immer wieder Liebling genannt. Obwohl sie wusste, dass es nur so dahingesagt war, verursachte ihr dieses Kosewort weiche Knie und einen Kloß im Hals.

Plötzlich platzte Simone in die Kabine. Ihr Haar hatte sich aus ihrem ordentlichen Knoten gelöst und ihre Wangen waren gerötet.

»Wir müssen los, Ma'am! Es bläst ein schlimmer Wind, das sagt zumindest John. Wir haben einen Garnelenhimmel, sagt er.«

»Das heißt Makrelenhimmel,«, korrigierte Sophie ihre Zofe. Sie war erst bei ihrem zweiten Strumpf angelangt.

»Wie auch immer«, erwiderte Simone ungeduldig. »Er hat jedenfalls eine tückische Farbe, und John sagt, wir müssen sofort von Bord!« Simone hatte einen Flirt mit dem Ersten Maat angefangen und war voller Matrosenweisheiten und Seemannssprache.

Seufzend erhob sich Sophie und Simone streifte ihr mit ungebührlicher Hast das Kleid über den Kopf.

»Es bleibt keine Zeit, Ihr Haar zu richten.« Simones Finger zitterten, während sie die Locken ihrer Herrin zusammenfasste und in losen Schlingen auf dem Kopf feststeckte. Simone hatte endlich ihre Seekrankheit überwunden, aber dennoch wollte sie auf keinen Fall an Bord sein, wenn der Sturm losbrach. Wahrscheinlich würde sich die Lark losreißen, über die Wellen geschleudert werden und direkt auf den Meeresgrund hinuntergezogen werden. Bei diesem Gedanken bewegten sich Simones Finger noch schneller.

Bevor Sophie wusste, wie ihr geschah, hatte Simone sie in einen pflaumenfarbenen Mantel gehüllt, ihr einen Muff über die Finger geschoben und durch die Tür bugsiert.

Oben auf dem Deck herrschte nicht annähernd so viel Panik wie in der Hauptkabine.

Patrick stand an der Reling. Die Besatzung holte die Segel ein und zurrte mit ruhigen, besonnenen Handgriffen die Masten fest.

Sophie stellte sich neben Patrick und starrte einen Moment lang zum Himmel hinauf. Er sah aus wie schillernde, kupferfarbene Seide, die mit dunkleren, feindselig wirkenden Fäden durchwirkt war. Die bauschigen, kleinen Schäfchenwolken hatten sich zu Streifen verjüngt, die sie an das verdrossene Lächeln eines Bankdirektors erinnerten. Plötzlich kam Wind auf, der ihr einige Haarsträhnen aus der Samthaube zerrte und ins Gesicht peitschte.

Patricks Gesicht belebte sich vor Erregung. »Siehst du, wie bleifarben der Himmel jetzt ist, Sophie? Der Wind weht und dennoch ist die Luft zwischen den Böen schwer und unbeweglich.«

Sophie nickte. Nun war sie froh, dass die Lark den Anker gesetzt hatte.

Plötzlich ertönte ein dumpfer Schlag und ein Schrei. Die Besatzung war bereit, ein kleines Boot zur Küste zu schicken.

»Nun kommt das Schwierige«, sagte Patrick und grinste sie an. »Wir müssen dich und deine Zofe die Strickleiter hinunter transportieren. Wir konnten nicht ganz in die Bucht hineinsegeln, da das Wasser dort zu flach ist.«

Sophie trat an die Reling der Lark und blickte hinunter. Es schien ein weiter Weg bis zur Wasseroberfläche und die Strickleiter schwankte bedrohlich. Außerdem hatte das Wasser eine graue Färbung, die jedem, der die Leiter losließ, ein eiskaltes Bad versprach.

»Ich werde dich nach unten tragen«, sagte Patrick neben ihr.

»Unsinn«, erwiderte Sophie. Ich werde alleine hinunterklettern. Simone!«

Simone trat neben ihre Herrin, und offenbar hatte sie schreckliche Angst davor, die Leiter hinunterzuklettern.

»Wenn du hinunterkletterst, ohne zu schreien, in Ohnmacht zu fallen, hinunterzustürzen oder Hilfe zu beanspruchen, dann schenke ich dir das Ballkleid mit den Stoffrosen.«

Simone schwieg einen Moment lang. »Das mit der Schleppe?«

Sophie nickte.

Auf Simones schmalem Gesicht tauchte ein Ausdruck wilder Entschlossenheit auf Ohne auch nur eine weitere Sekunde zu zögern, kletterte sie über die Reling und erlaubte einem Matrosen, sie auf dem oberen Ende der Leiter zu platzieren. Dann kletterte sie entschlossen nach unten.

Sophie sah ihrer Zofe nach, bis diese das Boot erreichte und auf einem Sitz Platz nahm. Aber gerade, als Sophie sich auf die Leiter begeben wollte, umschlossen zwei warme Arme ihre Mitte und eine Stimme flüsterte: »Möchtest du keine Belohnung?«

Sophie kicherte. »Bietest du mir eine deiner bestickten Westen?«

Ein tiefes Lachen kitzelte ihr Ohr. »Das einzige Exemplar, das ich besitze, hat meine Tante Henrietta mit Korn- und Glockenblumen bestickt. Die Weste ist furchtbar aufdringlich und außerdem viel zu groß für dich.«

»Oh je«, sagte Sophie traurig. »Ich fürchte, du hast Recht. Ich habe einfach nicht den Schneid, diese Leiter hinunterzuklettern ... vor allem, nachdem du mir dieses jämmerliche Bestechungsangebot unterbreitet hast.«

»Hexe.«

Seine Zähne knabberten an ihrem Ohr und sie lehnte sich Legen Patricks muskulöse Brust. In ihrem ganzen Körper breitete sich ein heißes Kribbeln aus, trotz der kalten Gischt, die über das gesamte Deck spritzte.

»Mit Kleidern kann ich meine Sophie also nicht bestechen. Du wirkst merkwürdig uninteressiert an Kleidern, wenn man bedenkt, dass dich die feine Gesellschaft Londons fast für eine Französin hält.«

»Ich liebe Kleider!«, protestierte Sophie.

»Nun, du verbringst jedoch nicht Stunden beim Ankleiden«, erwiderte ihr Mann. »Und du sprichst nicht endlos von Spitzenbesätzen und solchen Dingen. Wie wäre es, wenn ich dich mit Küssen besteche?«

»Die scheine ich umsonst zu bekommen«, erwiderte Sophie keck.

»Das stimmt«, sagte Patrick mit tiefer, samtweicher Stimme, während seine Lippen immer noch ihr Ohr liebkosten. »Vielleicht kann ich dich mit Taten bestechen. Schließlich sprechen Taten lauter als Worte, oder als Kleider. Bitte mich um etwas, Sophie, und ich werde dir deinen Wunsch erfüllen.«

Sophie wagte nicht, ihn zu fragen, was ihm genau vorschwebte.

»Na gut«, sagte sie und ignorierte die warme Zunge, die ihr Ohr weiter liebkoste. »Ich wünsche mir ...« Aber ihr fiel einfach nichts ein, das sie laut aussprechen konnte. Immer, wenn Patrick sie berührte, schien sie nicht mehr klar denken zu können.

»Die französische Miss wird bald die Fische füttern, Sir.« Der Matrose, der sich über die Reling gebeugt hatte, zeigte nun nach unten auf das Skiff.

Sophie tat es ihm nach. Simone wimmerte tatsächlich unglücklich und lehnte sich über die Seite des Boots. Sophie trat auf den Matrosen zu, aber wieder hielt ein starker Arm sie zurück.

»Warte, Sophie.« Patrick schwang ein Bein auf die Leiter, hakte einen Arm unter die Reling und streckte ihr den anderen Arm entgegen.

»Ich kann die Leiter ganz bestimmt alleine hinunterklettern«, sagte Sophie ein wenig verärgert.

Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

Sie betrachtete die unnachgiebige Miene ihres Gatten, reichte dem Matrosen ihren Muff und zögerte dann erneut. In Patricks Augen lag ein Befehl, keine Bitte.

»Ich verstehe nicht, warum ich nicht alleine die Leiter hinunterklettern kann«, murrte sie, während der Matrose sie in Patricks wartende Arme reichte. Mühelos hielt er ihren schmalen Körper an seine Brust gedrückt, während er die Leiter hinunterkletterte.

»Tut mir Leid, Ma'am«, sagte der Matrose im Boot, als Patrick sie darin absetzte. Simone hing über der Seite und würgte sich die Seele aus dem Leib.

Sophie kletterte zu ihrer Zofe hinüber. »Sollte die Besatzung nicht mit zu uns kommen?«, fragte sie Patrick.

»Die Besatzung bleibt beim Schiff«, sagte Patrick. Er fügte nicht hinzu, dass er die Lark zum ersten Mal während eines Sturms verließ. »Das

Ruderboot wird ein zweites Mal hinüberrudern, um Floret ans Ufer zu bringen. Er droht, nie wieder einen Kochlöffel in die Hand zu nehmen, wenn wir ihn nicht auf festen Boden schaffen.«

Als das kleine Boot das Ufer erreichte, hatte der Wind zugenommen und eiskalte Regentropfen prasselten auf Sophies Haut. Patrick sprang hinaus und streckte seiner Frau die Arme entgegen.

Als Patrick sich umdrehte, um Simone aus dem Boot zu helfen, lächelte Sophie dem rundlichen jungen Mann zu, der sie an Land erwartete. Er hatte ein pausbäckiges Gesicht und blonde Locken und in seinen Augen lag ein schelmischer Ausdruck. Er trug eine lange Mönchskutte, aber er konnte kein Mönch sein, da es auf den britischen Inseln davon keine mehr gab. Vielleicht gefällt ihm einfach nur die Robe, dachte Sophie.

»Wie geht es Ihnen?«

Der Mann schaute sie an. »Ich gehe gut, sehr gut«, sagte er nach einer Pause. Er hatte die rollende Sprechweise eines Mannes, der in Wales geboren und aufgewachsen war.

Patrick trat hinter Sophie und gab ihm die Hand. »Mein Name ist Patrick Foakes und das ist meine Frau, Lady Sophie.«

»Ich heiße John Hankford«, sagte der Waliser. »Einfach nur Mister John Hankford.«

Sophie fand, dass Hankford reizend aussah, wie ein gesprächiger Puttenengel. Nur schien er nicht gewillt, mehr zu sagen.

»Wir sind Ihnen für Ihre Gastfreundschaft sehr dankbar, Mr Hankford«, sagte sie.

Hankford musterte die vornehmen Leute vor sich nervös. Als er sah, dass das Ruderboot hinter der aufschäumenden grauen Gischt verschwunden war, zog er ein langes, rostiges Gewehr unter seiner Kutte hervor und richtete es auf Patrick.

Sophie zuckte zusammen, sagte jedoch nichts, während Simone einen leisen Schrei ausstieß. Patrick blieb völlig ruhig und warf nur einen hastigen Blick auf das Gewehr.

»Es besteht kein Grund zur Sorge, absolut kein Grund«, brach es aus dem Waliser heraus. »Ich will den Damen wirklich keine Angst einjagen, ganz bestimmt nicht. Die Sache ist nur die ... Sie müssen mir ein Schweigeversprechen geben, bevor ich Sie die Treppe zum Haus hinauflasse. Es gibt dort nämlich etwas, das Ihnen nicht gefallen könnte, oder vielleicht doch, ich weiß es nicht. Aber Sie sind aus London, das nehme ich jedenfalls an, und so müssen Sie mir versprechen, das Geheimnis nicht zu verraten.«

Sophie blickte Patrick fragend an. Er starrte Hankford an und zwischen seinen Augenbrauen entstand eine schmale Falte.

»Tun Sie jemandem ein Leid an oder halten Sie jemanden gegen seinen Willen fest?«

»Oh nein, nein, bestimmt nicht«, rief der Waliser mit seinem rollenden Akzent. »Ganz im Gegenteil, wirklich im Gegenteil. Wir heilen Leute; es geht nur darum, wen wir heilen. Aber ich kann nichts Näheres erzählen, bis ich Ihr Wort habe, dass Sie in London nichts von diesem Geheimnis

verraten.«

Patrick blickte Sophie an.

Sie begegnete seinem Blick und lächelte. Es gab nicht viele Gentlemen, die in so einem Moment ihre Frauen nach ihrer Meinung fragten, wenn auch nur in stummer Form. .

»Ich denke, wir sollten Mr Hankford begleiten«, sagte sie zu Patrick und ignorierte Simones Entsetzensschrei.

Patrick hatte längst bemerkt, dass Sophie in allen Bereichen sehr wissbegierig war. Er hätte wissen müssen, dass sie sich direkt in Gefahr begeben würde, wenn sie die Chance dazu bekam.

Patrick blickte den Waliser eindringlich an, der daraufhin sichtlich zusammenzuckte. Was Hankford auch ausheckt, so ist er nicht gefährlich, dachte Patrick.

Er nickte knapp. »Gut. Solange Sie niemanden verletzen, haben Sie mein Wort, dass wir die Londoner Behörden nicht von Ihren Aktivitäten in Kenntnis setzen werden.«

Ohne ein weiteres Wort dreht sich John Hankford um und begann, die lange, steile Treppe zu dem alten Kloster hinaufzusteigen.

Sophies Augen funkelten. »Was um alles in der Welt tut er da oben?«

Patrick betrachtete den neugierigen Ausdruck in ihren Augen und stöhnte innerlich auf. Seine Frau war ganz offensichtlich eine Anhängerin französischer Liebesromane. Sie hoffte wahrscheinlich, dass sie auf dem Weg zu einem verwunschenen Kloster waren oder etwas in der Art.

»Ich vermute, er schmuggelt«, sagte er ein wenig abweisend und drehte sich zu Simone um. Das Mädchen zitterte und würdejeden Moment einen hysterischen Anfall bekommen und sich weigern, die Klippen hinaufzusteigen. »Entweder das Kloster oder die Lark«, sagte er nicht unfreundlich.

Simone blickte unentschlossen zu den dunkelgrünen Sturmwolken über ihnen hinauf.

»Das Gewehr, mit dem er herumwedelt ist eine selten gebrauchte Antiquität«, sagte Patrick zu ihr. »Außerdem sieht Hankford nicht aus, als sei er besonders vertraut mit Waffen.«

Plötzlich bemerkte Simone, dass Sophie bereits die Treppe hinaufstieg und sich ein Stück von ihnen entfernt hatte. »Lassen Sie die Herrin ja nicht alleine in dieses Diebesnest gehen, Sir!«

Bevor Patrick zu einer Antwort ansetzen konnte, schob sie sich empört an ihm vorbei und folgte Sophie.

Patrick seufzte und machte sich ebenfalls daran, zum Kloster hinaufzusteigen. Als die kleine Gruppe am oberen Ende der Treppe angelangt war, kam sie dort an eine offen stehende, schwere Eichentür. Patrick betrat das Gebäude. Der Raum, den er betrat, war ganz bestimmt kein Räubernest, im Gegenteil. Er war leer wie eine Gruft und ebenso spärlich möbliert. Der dickliche Waliser hatte die Mönchskutte abgelegt und stand neben einem großen, gemauerten Kamin.

Patrick schlenderte zu ihm hinüber. »Und, werden Sie uns nun endlich Ihr dunkles Geheimnis verraten?«, fragte er gereizt.

John Hankford blickte ihn ein wenig unsicher an. Foakes schien einen recht boshaften Zug an sich zu haben. »Es gibt hier nichts Schlimmes. Wirklich nicht. Das hier ist nichts anderes als ein Krankenhaus«, sagte John.

»Ach, und warum sollte ich versprechen, nichts von einem Krankenhaus zu erzählen?«, fragte Patrick mit einem spöttischen Schnauben.

Aber plötzlich wusste er warum. »Gott behüte, wir sind mitten in ein Nest von Anhängern Bonapartes gestolpert!«

John starrte ihn abwehrend an. »Wir sind nicht für die Franzosen, bestimmt nicht. Aber wir sind auch nicht für die Engländer. Wir haben nur ein ein paar junge Burschen zusammengeflickt, die in den Krieg geraten sind und sich hierher geflüchtet haben.«

»Deserteure.« Patricks Körper war völlig starr. »Wie sind sie hergekommen?«

»Man hat sie mit einem betrunkenen Wundarzt in einem Krankenhaus zurückgelassen und sie starben wie die Fliegen. Also hat der jüngste von ihnen so viele er konnte in ein Boot gesetzt und sich mit ihnen davongemacht. Das sind nichts weiter als arme Fußsoldaten. Zwei von ihnen sind erst vierzehn Jahre alt. Die Franzosen haben sie sterben lassen.«

»Wie schrecklich!«, brach es aus Sophie heraus. »Und wie gut von Ihnen, sich um sie zu kümmern.« Sie schenkte John Hankford ein warmherziges Lächeln.

»Es sind und bleiben Deserteure, Sophie«, sagte Patrick gepresst. Vielleicht waren die Männer Deserteure -vielleicht waren es aber auch gesunde Franzosen, die nur vorgaben, verwundet zu sein.

Sophie zuckte die Achseln. »Es sind junge Burschen, die verletzt sind. Wer könnte sich wohl daran stoßen, dass Mr Hankford sich ihrer Wunden annimmt?«

Ganz spontan fielen Patrick gleich ein halbes Dutzend Gentlemen ein, die sehr interessiert wären, von der Existenz walisischer Bonaparte-Anhänger zu erfahren. Ganz oben auf dieser Liste stand Lord Breksby. Dies war genau die Situation, vor der die englische Regierung solche Angst hatte, dass sie Befestigungsanlagen an der walisischen Küste in Auftrag gegeben hatte. Aber was nützten Befestigungsanlagen, wenn eine Gruppe verrückter Waliser die französischen Truppen einfach an Land ließ?

»Weißt du, Sophie, Liebes«, sagte Patrick ein wenig herablassend, »England hat Napoleon letzten März den Krieg erklärt.«

»Natürlich haben wir das«, sagte Sophie und zwischen ihren Augen bildete sich eine entzückende, kleine Falte. »Wir hatten keine Wahl, nachdem Addington erst einmal beschlossen hatte, an Malta festzuhalten. Damit war das Friedensabkommen hinfällig.«

Ein ironisches Grinsen umspielte Patricks Lippen. Seine Frau überraschte ihn immer wieder.

Aber Sophie hatte sich bereits wieder John zugewandt. »Wären Sie so freundlich, uns Ihr Krankenhaus zu zeigen? Ich habe keinerlei Erfahrung in der Wundversorgung«, fügte sie hastig hinzu, »aber ich spreche Französisch.«

Johns Augen begannen zu leuchten. »Wirklich? Das ist ja wunderbar, Madam. Ich kann zwar ein bisschen Französisch, und das gilt auch für den Pfarrer und meine Mutter. Der Junge, der die Verwundeten hier herüber geschafft hat - sein Name ist Henry -, spricht außerdem ein wenig Englisch, aber trotzdem haben wir noch nicht herausgefunden, was manche der Burschen sagen.«

Patrick schnaubte. Der Pfarrer? Es war also auch noch ein Pfarrer in diese unpatriotische Durcheinander verwickelt. Dennoch, wenn Hankford und seine Mutter sich um eine Gruppe französischer Soldaten kümmerten, ohne deren Sprache zu sprechen, dann waren sie keine echten Anhänger Bonapartes.

Sophie legte eine Hand auf Mr Hankfords Arm, als er sich einer Seitentür zuwenden wollte. »Ich würde sehr gerne mit Ihren Patienten sprechen«, sagte sie.

John blickte sie zweifelnd an. »Es bereitet mir ein wenig Sorgen, Sie in den Krankensaal zu lassen, Ma'am, wenn Sie mir diese Bemerkung verzeihen wollen. Denn was, wenn Ihr Gentleman es sich in den Kopf setzt, in London davon zu erzählen, und meine Jungs den Kopf abgeschlagen bekommen?«

»Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, Mann.« Patrick bedachte den impertinenten Waliser mit einem durchdringenden Blick.

»Schon möglich«, erwiderte John vage. Aber er wollte offensichtlich ihrem Wunsch nachgeben, denn er öffnete die Seitentür und hielt sie auf, während Patrick, Sophie und Simone hindurch gingen.

Schließlich betraten sie einen großen Raum. Patrick schob sich an der Decke vorbei, die in der Türöffnung hing, und blieb neben Sophie stehen. Der Raum war mit Feldbetten gesäumt, auf denen die Verletzten lagen. Manche hatten einem Verband am Kopf, manche am Bein. Wieder anderen fehlte ein Arm oder ein Bein. Die meisten Männer sahen nicht einmal zur Tür hinüber, als sie eintraten. Eine rundliche Frau blickte jedoch auf und fuhr dann fort, einem Soldaten die Brust zu verbinden.

Patrick schaute auf Sophie hinunter. Ihr war sämtliches Blut aus dem Gesicht gewichen und er legte ihr tröstend einen Arm um die Schulter.

»Mein Gott, Patrick, siehst du das? Das sind ja noch richtige Kinder.«

»Sie sehen nur so jung aus, weil sie verwundet sind«, widersprach er sanft.

»Nein.« Sophie holte tief Luft. »Dieser dort kann nicht älter als vierzehn sein.« Patricks Blick folgte ihrem Finger. Er hatte in Indien schon solche Wunden gesehen, und er glaubte nicht, dass der Junge große Überlebenschancen hatte.

Plötzlich tauchte ein schmaler Bursche vor ihnen auf. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und trug die zerrissenen Überreste einer französischen Uniform.

»Was wollen Sie hier?«, fragte er. Sein Englisch hatte einen starken Akzent, war aber dennoch gut zu verstehen. In seinen grauen Augen blitzte es wütend. Der junge sah tatsächlich gefährlicher aus als John Hankford samt seinem Gewehr. Er warf Hankford einen durchdringenden Blick zu. »Warum haben Sie sie heraufgelassen?«

John räusperte sich entschuldigend. »Es hat ihren Klipper in den Hafen verschlagen und daher werden sie die Nacht hier verbringen, Henry. Ich musste es ihnen sagen.«

Patrick blickte den Waliser belustigt an und gab den letzten Rest seines Verdachts auf, dass Hankford an einem napoleonischen Komplott beteiligt war. Ganz offensichtlich hatte ihn dieses französische Gossenkind fest in der Hand.

Sophie machte einen Knicks. »Sie müssen der Mann sein, der tapfer genug war, seine Kameraden zu retten«, sagte sie, und ihre sanfte Stimme war voller Bewunderung.

Henry musterte die wunderschöne Dame vor sich eingehend. »Ich habe sie nur in ein Boot verfrachtet«, sagte er. »Sie lagen im Sterben, waren am ganzen Körper mit Fliegen bedeckt. Ich konnte nicht ... ich konnte sie nicht alle in das Boot schaffen.«

Patrick sah sich im Raum um. »Sie haben zehn Männer gerettet«, sagte er.

Henry blickte zu dem groß gewachsenen Engländer hoch.

Plötzlich machte Patrick eine Verbeugung. »Ich muss Ihnen gratulieren, Henry. Sie haben etwas sehr Tapferes getan.«

Zum ersten Mal, seit sie den Raum betreten hatten, wirkte Henry ein wenig verwirrt. »Ich heiße Henri«, sagte er. Dann vollführte er eine kleine, aber vollendete höfische Verbeugung.

Patrick zog die Augenbrauen hoch und blickte unwillkürlich zu Sophie hinüber. Da gab es mehr, als man auf den ersten Blick vermuten konnte. Henri war ganz bestimmt kein gewöhnlicher, französischer Bursche.

»Wie alt sind Sie, Henri?«, fragte Patrick.

»Ich bin beinah dreizehn.«

»Verdammt«, rief Patrick ungläubig, »ein zwölfjähriger Fußsoldat?«

»Nein, ich war ein ... ich kenne das englische Wort nicht«, sagte Henri. Ach habe die Fahne getragen. Ich wollte Soldat werden, sobald ich vierzehn werde.«

Sophie schluckte und umklammerte Patricks Arm fester.

Henri, der offensichtlich mehr als bereit für eine jugendliche Schwärmerei war, schaute Sophie schüchtern an. »Soll ich sie Ihnen vorstellen?« Er zeigte auf die Betten.

Sophie antwortete auf Französisch und das brach den letzten Rest von Henris Widerstand. Er strahlte sie an, führte sie durch den Raum und flüsterte ihr den jeweiligen Namen des Soldaten zu.

Patrick beobachtete Henri einen Augenblick lang. Der Junge musste drei oder vierjahre alt gewesen sein, als die Franzosen anfingen, ihren Adel auf die Guillotine zu schleifen - und er hatte diese Verbeugung bestimmt nicht von einem Bauern gelernt.

»Wie sind Sie in diesem Kloster gelandet?«, fragte Patrick Hankford.

Hankford schaute sich mitleidig im Raum um. »Meine Mutter und ich sind Mitglieder der Familie der Liebe. Haben Sie schon von ihnen gehört?«

Patrick nickte. Wer hatte noch nicht von der Familie der Liebe gehört? Es war eine religiöse, holländische Gruppe, die man seit Elisabeth, schon häufiger des Ehebruchs und des Nudismus bezichtigt hatte. Er musterte die füllige Krankenschwester, die gerade einen Verband gewechselt hatte und nun das Bettzeug eines anderen Soldaten richtete. Sie sah mit Sicherheit nicht aus wie eine Ehebrecherin.

»Ich wusste nicht, dass es diese Familie noch gibt«, sagte Patrick vorsichtig. Es hatte keinen Sinn, Hankford gegen sich aufzubringen, zumindest nicht vor dem Abendessen.

»Oh doch, oder zumindest in Wales«, sagte Hankford ein wenig entmutigt. »Mein Großvater wurde 1731 Mitglied. Er hat dieses Kloster gekauft und wollte hier eine richtige >Familie< gründen. Aber dann heiratete er meine Großmutter. Sie konnte sich nicht mit der Familie der Liebe anfreunden und warf sämtliche Mitglieder hinaus. Aber später wurden meine Mutter und ich Mitglied. Nun, mein Großvater ist mittlerweile tot, aber wir sind immer noch Teil der Familie. Wir konnten diese französischen Jungen nicht abweisen, als ihr Boot an der Küste landete.«

Patrick fügte langsam die Einzelheiten der Geschichte zusammen. »Henri hat sie in ein Boot gesetzt und es wurde hier an Land gespült?«

»Ja. Sie wurden direkt auf der anderen Seite der Landzunge angetrieben und kamen dann in die Bucht. Wie ich schon sagte, konnten wir sie nicht abweisen, denn die Regierung würde sie erschießen, wenn sie sie in die Finger bekäme. Und die Familie der Liebe hält nicht viel von Exekutionen durch die Regierung.«

Das ist auch verständlich, dachte Patrick. Zahlreiche Mitglieder der so genannten Familie waren während der letzten hundert Jahre von der britischen Regierung exekutiert worden. Er konnte dennoch die Gefahr nicht außer Acht lassen, dass Napoleon von diesem bestimmten Kloster aus eine Invasion anführen wollte.

Das Essen wurde an einem langen geschrubbten Tisch in der Klosterküche serviert. Nachdem er vom Boot errettet worden war, hockte Floret an einem Ende des Tisches Simone mit gönnerhafter Miene gegenüber. Sophie ließ sich auf der Bank nieder, gefolgt von Henri, der sich offenbar in ihren Schatten verwandelt hatte und ihr nicht mehr von der Seite wich.

»Ist das nicht großartig?«

Patrick beobachtete seine Frau eingehend. Wenn doch nur die Londoner Gesellschaft ihre ungekrönte Königin so sehen könnte! Sophies Frisur saß ganz schief, seit sie sich die Haube vom Kopf gezerrt und in eine Ecke geworfen hatte. Ihre Augen glänzten aufgeregt bei der Vorstellung, sich mit ihren Bediensteten in einem Kloster aus dem dreizehnten Jahrhundert an den Essenstisch zu setzen.

»Ja«, antwortet er auf ihre Frage und kämpfte gegen ein warmes Gefühl der Zuneigung an, das ihn beinah schwindelig machte. Absichtlich gab er sich wie ein verwöhnter, gefühlloser Aristokrat. »Oh ja, das ist wirklich ein unnachahmliches Vergnügen.«

Sophie zog die Nase kraus. »Sie spaßen, Sir«, sagte sie. »Ich wüsste nicht, was ich jetzt lieber täte, als mit Master Henri zu Abend zu speisen.«

Ihrem Gatten fielen jedoch unzählige Dinge ein, die er in diesem Augenblick viel lieber getan hätte. Aber sie waren alle zu gewagt für die Ohren eines jungen Burschen und daher behielt er sie für sich.

Mann, den sie eigentlich hatte heiraten wollen. Das Schlimmste war, dass er nie all die Liebesschwüre hören wollte, die die anderen Frauen so freiwillig äußerten, aber nun ... nun sahen die Dinge anders aus.

Patrick stöhnte laut auf. Er musste diese Worte einfach von Sophie hören. 0 Gott, nun war er dem Pfaffen doch noch in die Falle getappt. Die Worte bekamen eine völlig neue Bedeutung. Es lag nicht so sehr an den archaischen Worten der Zeremonie. Nein, er war gefangen durch sein eigenes quälendes, peinliches Verlangen nach seiner Frau.

Ein leise Lächeln umspielte Patricks Mund. Zumindest war Sophie seine Frau. Wenn er gefangen war, dann war sie es ebenfalls. Was machte es also, dass sie ihm keine süßen Worte zuflüsterte? Vielleicht verspürte sie einfach nicht das Bedürfnis danach? Vielleicht hatten die anderen Frau es nur gesagt, weil sie glaubten, dass er es hören wollte.

Dann dachte er an Sophie, wie sie stöhnte und sich ihm leidenschaftlich entgegenbog. Sophie musste ihm gar nicht sagen, was sie fühlte, zumindest nicht mit Worten. Was, wenn ihre Gefühle keine leeren Liebesbeteuerungen zuließen? Umso besser. Sie hatten eine ehrliche Beziehung miteinander. Zwischen ihnen würde es kein leeres Geschwätz geben.

Langsam setzte sich Patrick auf. In seinem Herzen reifte eine wilde Entschlossenheit heran. Irgendwie, irgendwann würde er Sophie diese Worte entringen. Denn auch wenn sie nur leere Ausschmückungen waren, so wollte er sie den

02 - Heiße Nächte der Leidenschaft
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