Küken im Hühnerstall
Es war eins dieser Hotels ohne Zimmerservice, über das man sich nicht weiter aufregt, wenn man selbst die Rechnung zahlt, aber sich beschwert, wenn ein anderer die Kosten übernimmt. Ich zahlte nicht selbst, wodurch alle Mängel gleich doppelt auffielen und mir als Beweis für die Gleichgültigkeit meines Gastgebers dienten. Statt einer Badewanne gab es nur eine Duschkabine aus Plastik, und die Seife war hart und roch nach Spülmaschinenentkalker. In der Nachttischlampe fehlte die Glühbirne, obwohl das noch am einfachsten zu beheben gewesen wäre Ich hätte nur an der Rezeption nach einer Birne fragen müssen, aber ich wollte keine. Ich wollte mich einfach nur angepisst fühlen.
Es hatte damit angefangen, dass am Flughafen mein Gepäck verloren gegangen war und ich erst einmal mehrere Formulare ausfüllen musste. Das kostete so viel Zeit, dass ich direkt vom Flughafen zu einem College etwa eine Stunde nördlich von Manchester fahren musste, wo ich einen Vortrag vor Studenten hielt. Anschließend gab es noch einen Empfang und dann eine Dreiviertelstunde Fahrt zum Hotel, das irgendwo in der tiefsten Pampa lag. Ich kam um ein Uhr nachts an und stellte fest, dass sie mir ein Zimmer im Souterrain gegeben hatten. Mitten in der Nacht war das egal, aber am nächsten Morgen nicht. Zog man die Vorhänge beiseite, kam man sich vor wie auf einer Theaterbühne, und die Einwohner von New Hampshire gafften ohne jede Spur von Scham. Es gab nicht viel zu sehen, nur wie ich mit einem Telefon am Ohr auf der Bettkante saß. Die Fluggesellschaft hatte geschworen, ich hätte meinen Koffer am nächsten Morgen, doch da dem nicht so war, wählte ich die 800-Nummer innen auf dem Umschlag meines Flugtickets. Ich hatte die Wahl, eine Nachricht zu hinterlassen oder darauf zu warten, mit einem Angestellten verbunden zu werden. Ich entschied mich für den Angestellten, doch nach acht Minuten in der Warteschleife legte ich auf und suchte nach jemandem, an dem ich meine Wut auslassen konnte.
»Es ist mir egal, ob es mein Sohn, der Kongressabgeordnete meines Staates oder sonst wer ist. Ich lehne diese Lebensweise einfach ab.« Die Sprecherin hieß Audrey, und sie hatte bei ihrem Lokalsender angerufen, um ihre Meinung zu sagen. Der Skandal in der katholischen Kirche füllte seit einer Woche die Schlagzeilen, und nachdem über Priester alles gesagt war, verlagerte sich die Diskussion auf Pädophile im Allgemeinen und anschließend auf homosexuelle Pädophile, die gemeinhin als die schlimmste Sorte angesehen wird. Für das Talk Radio war es ein gefundenes Fressen, ähnlich wie Steuererhöhungen oder Serienmörder. »Wie denken Sie über erwachsene Männer, die sexuell mit Kindern verkehren?«
»Also, ich bin dagegen!« Der Satz wurde immer so vorgebracht, als sei die Antwort irgendwie überraschend, eine Minderheitenposition, zu der sich noch niemand zu bekennen gewagt hatte.
Ich war in den vergangenen zehn Tagen durchs Land gereist und hatte überall das Gleiche gehört. Der Moderator gratulierte dem Anrufer oder der Anruferin zu ihrer moralischen Entschlossenheit, und um dieses Lob noch einmal zu hören, wiederholte die Person ihre Aussage, diesmal unterstrichen durch ein zusätzliches Adverb oder eine kurze Ergänzung: »Man mag mich für altmodisch halten, aber ich bin ganz entschieden dagegen.« Im weiteren Gespräch wurden nach und nach die Wörter Homosexueller und Pädophiler im gleichen Zusammenhang genannt, als bezeichneten sie ein und dasselbe. »Jetzt haben wir sie sogar schon im Fernsehen«, sagte Audrey. »Und in den Schulen! Man kennt ja das Sprichwort vom Küken im Hühnerstall.«
»Fuchs«, sagte der Moderator. »Das Sprichwort heißt ›der Fuchs im Hühnerstall, nicht ›das Küken im Hühnerstalle«
Audrey stutzte einen Moment. »Habe ich Küken gesagt? Na, Sie wissen, worauf ich hinaus will. Diese Homosexuellen können keinen Nachwuchs bekommen, deshalb gehen sie in die Schulen und versuchen unsere jungen Leute anzuwerben.«
Ich hörte das nicht zum ersten Mal, nur war ich sonst weniger schlecht gelaunt. Mit einer einzelnen Socke am Fuß stand ich mitten im Zimmer und brüllte den Radiowecker an: »Mich hat niemand angeworben, Audrey, und ich hätte drum gebettelt.«
Es war allein ihre Schuld, dass ich hier in diesem Kellerloch ohne Gepäck saß, ihre und die all der anderen Leute, die wie sie waren, dieser zufriedenen Familien, die vom Parkplatz zum Restaurant in der ersten Etage stapften, der Hotelgäste, die einen Whirlpool im Bad hatten und Zimmer, von denen aus man auf die umliegenden Wälder blickte. Warum die Aussicht an einen Homosexuellen verschwenden? Der sieht sich doch nur das Rektum von Schulknaben an. Und einen Koffer? Als ob wir nicht alle wüssten, wozu er den braucht. Sie mochten es vielleicht nicht laut sagen, aber sie dachten es. Da war ich mir sicher.
Es war nur logisch, dass, wenn die Welt sich gegen mich verschworen hatte, die Kaffeemaschine im Zimmer ebenfalls nicht funktionierte. Sie stand auf der Ablage im Badezimmer und spuckte tröpfchenweise kaltes Wasser aus. Mit einem kurzen, ziemlich verunglückten Aufschrei beendete ich das Ankleiden und ging aus dem Zimmer. Neben der Treppe am Ende des Flurs knieten ein gutes Dutzend älterer Damen auf dem Teppich und nähten an einer Patchworkdecke. Als ich an ihnen vorbeiging, blickten sie zu mir auf, und eine fragte: »Genz’ irsche?« Sie hatte lauter Nadeln im Mund, und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was sie sagte: Gehen Sie zur Kirche? Es war eine seltsame Frage, aber dann fiel mir ein, dass Sonntag war und ich eine Krawatte trug. Irgendwer hatte sie mir gestern am College geliehen, und ich hatte sie umgebunden in der Hoffnung, damit von meinem zerknitterten Hemd und den Schweißrändern unterm Arm abzulenken. »Nein«, antwortete ich, »ich gehe nicht zur Kirche.« O Mann, ich hatte eine Mordslaune. Mitten auf der Treppe drehte ich mich noch einmal um. »Ich gehe nie zur Kirche«, sagte ich. »Niemals. Und ich werde jetzt nicht damit anfangen.«
»Smüssnz issen«, sagte sie.
Nachdem ich am Restaurant und am Souvenirshop vorbeigekommen war, entdeckte ich mitten in der Lobby einen kleinen Tisch für Getränke. Ich wollte mir einen Kaffee holen und ihn mit vor die Tür nehmen, als im letzten Moment ein Junge an mir vorbeisprang und sich daran machte, eine Tasse heißen Kakao zu rühren. Er sah aus wie alle die anderen Burschen, die ich in den letzten Tagen an Flughäfen und auf Parkplätzen gesehen hatte: Schlabbersweatshirt mit aufgedrucktem Vereinsemblem, Baggy-Pants und aufgemotzte Turnschuhe. Seine fette Uhr war aus Plastik und wie ein Jo-Jo um sein Handgelenk gebunden, und seine Haare sahen aus, als hätte man sie mit einem Dosendeckel geschnitten, die ungleichmäßig langen Fransen mit Gel eingeschmiert und dann so gezupft, dass sie in alle Himmelsrichtungen vom Kopf abstanden.
Sich einen Becher heißen Kakao zu machen war ein ziemlich kompliziertes Unternehmen. Man musste dazu das Kakaopulver von einem Ende des Tischs bis zum anderen verteilen, möglichst viele Holzstiele zum Umrühren benutzen und anschließend die Enden gut durchkauen, bevor man sie auf einen Stapel unbenutzter Servietten warf. Genau das ist es, was ich an Kindern so mag: dass sie sich ganz auf eine Sache konzentrieren können und dabei blind für alles andere sind. Nachdem er endlich fertig war, ging er zum Kaffeeautomaten, füllte zwei Becher mit schwarzem Kaffee und drückte auf beide einen Deckel. Er stapelte alle drei Becher übereinander und hob sie versuchsweise von der Tischplatte. »Ooaah«, flüsterte er. Heißer Kaffee war über den Rand des unteren Bechers gequollen und lief über seine Hand.
»Kann ich dir irgendwie behilflich sein?«, fragte ich.
Der Junge sah mich einen Augenblick an. »Ja«, sagte er. »Bringen Sie die nach oben.« Statt bitte oder danke sagte er nur noch: »Mit dem Kakao komme ich allein klar.«
Er stellte die beiden Kaffeebecher zurück auf den Tisch, und ich wollte sie schon nehmen, als mir einfiel, dass dies vielleicht doch keine so gute Idee war. Ich war ein Fremder, ein bekennender Homosexueller, unterwegs in einer Kleinstadt, und er war vielleicht zehn. Und allein. Die Stimme der Vernunft flüsterte mir ins Ohr: Tu’s nicht, Kumpel. Du spielst mit dem Feuer.
Ich zog meine Hände zurück, stockte einen Moment und dachte: Augenblick. Das ist nicht die Stimme der Vernunft. Das ist Audrey, die blöde Kuh aus dem Radio. Die echte Stimme der Vernunft klingt wie Bea Arthur, und als die sich nicht meldete, nahm ich die Kaffeebecher vom Tisch und lief damit zum Lift, wo der Junge den Anforderungsknopf mit kakaobeschmierten Fingern bearbeitete.
Ein Zimmermädchen ging vorbei und verdrehte die Augen in Richtung Empfang. »Putziges Kerlchen.«
Vor dem Kirchenskandal hätte ich vielleicht das Gleiche gesagt, allerdings ohne den begleitenden Sarkasmus. Jetzt hingegen schien jede Äußerung dieser Art verdächtig. Auch wenn Audrey mir dies nie abnehmen wird, spüre ich bei Kindern keinerlei körperliche Anziehung. Sie sind für mich wie Tiere, nett anzusehen, aber jenseits der Grenzen meiner sexuellen Vorstellungskraft. Dessen ungeachtet bin ich ein Mensch, der sich schuldig fühlt für Vergehen, die er nicht begangen hat oder die zumindest Jahre zurückliegen. Die Polizei sucht auf dem Bahnhof einen mehrfachen Sexualstraftäter, und ich verstecke mein Gesicht hinter der Zeitung und frage mich, ob ich es vielleicht im Schlaf getan habe. Das letzte Mal, dass ich etwas mitgehen lassen habe, war ein Achtspurtonband, aber bis auf den heutigen Tag kann ich kein Geschäft betreten, ohne mir wie ein Ladendieb vorzukommen. Es sind immer nur die Gefühle von Angst da, nie die Erleichterung darüber, es nicht gewesen zu sein. Noch schlimmer wird alles dadurch, dass ich ein ernstes Transpirationsproblem entwickelt habe. Mein Gewissen ist mit meinen Schweißdrüsen verkabelt, aber irgendwo muss sich ein Kurzschluss befinden und alle Schleusen öffnen, selbst wenn ich gar nichts getan habe, was mich nur noch verdächtiger macht.
Einem Kind zu Hilfe zu kommen war eine gute Sache – das wusste ich –, doch kurz nachdem ich die beiden Kaffeebecher in die Hand genommen hatte, war ich nass geschwitzt. Wie üblich, schwitzte ich am schlimmsten auf der Stirn, unter den Armen und, so grausam es ist, am Arsch, was ich mir selbst am allerwenigsten erklären kann. Hält die Stresssituation länger an, spüre ich die Schweißperlen an den Beinen hinunter rinnen, bis sie unten von den Socken aufgefangen werden, weshalb ich nur besonders saugfähige Socken aus Baumwolle trage.
Hätte es in der Lobby eine Kameraüberwachung gegeben, sähe der Film etwa so aus: Ein ein Meter vierzig großer Junge drückt und hämmert wild auf den Aufzugknopf. Neben ihm steht ein Mann, etwa dreißig Zentimeter größer, in Hemd und Krawatte und mit einem Kaffeebecher mit Deckel in jeder Hand. Regnet es draußen? Wenn nicht, kommt er vielleicht gerade aus der Dusche und ist, ohne sich abzutrocknen, in seine Kleider gestiegen. Seine Augen wandern unruhig hin und her, als suche er nach jemandem. Könnte es dieser Gentleman mit den silbergrauen Haaren sein? Er ist gerade hinzugetreten und sieht sehr elegant aus in seiner Tweedjacke und der dazu passenden Kappe. Er redet mit dem Jungen und legt ihm eine Hand auf den Hinterkopf, offenbar weil er ihn zurechtweist, was auch dringend nötig ist. Der andere Mann, der triefend nasse, steht nur da mit den beiden Bechern in der Hand und versucht gleichzeitig, seine Stirn mit dem Ärmel abzuwischen. Ein Deckel springt ab, und eine Flüssigkeit – es könnte sich um Kaffee handeln – ergießt sich über sein Hemd. Er hüpft, ja springt geradezu in die Luft und reißt sich den Stoff von der Haut. Der Junge scheint wütend zu sein und sagt etwas. Der ältere Herr hält ihm ein Taschentuch hin, und der Mann setzt eine Tasse ab und hetzt – wie von der Tarantel gestochen – aus dem Blickfeld der Kamera, um dreißig Sekunden später mit einem neuen Becher mit Deckel zurückzukommen. Inzwischen ist der Aufzug eingetroffen. Der Gentleman hält den Türknopf gedrückt, und er und der Junge warten, bis der Mann den zweiten Becher vom Boden genommen hat und sicher im Aufzug ist. Dann schließt sich die Tür, und sie sind verschwunden.
»Na, wen haben wir denn hier?«, fragte der ältere Herr. Seine Stimme klang leutselig und vertrauenswürdig. »Wie heißt du denn, junger Freund?«
»Michael«, sagte der Junge.
»Also, das ist ja ein Name für einen richtig großen Jungen, was?«
Michael sagte, könnte sein, und der Mann blinzelte mir viel sagend zu, als wolle er sich meines geheimen Einverständnisses versichern. Da wollen wir den Kleinen mal ein bisschen in die Mangel nehmen, wie? »Ich wette, ein großer Kerl wie du hat jede Menge Freundinnen«, sagte er. »Hab ich Recht?«
»Nein.«
»Nein? Also, woran liegt’s?«
»Keine Ahnung. Ich hab eben keine. Mehr nicht«, sagte Michael.
Ich hatte es immer gehasst, wenn Männer mit der Frage nach den Freundinnen kamen. Sie war nicht nur abgedroschen, sondern sie zeugte von Vorstellungen des Fragenden, die ich als Privatsache empfand. Sagte man Ja, malten sie sich aus, wie man der Angebeteten den Hof machte:
Hot Dogs und Kartoffelchips bei Kerzenschein, das zerknüllte Snoopykopfkissen. Sagte man Nein, hielten sie einen für jemanden, der nicht rangelassen wird, der frustrierte Junggeselle aus der zweiten Klasse. Es entsprach einer Vorstellung von Kindern als kleine Erwachsene, die mir etwa so lustig vorkam wie ein Hund mit Sonnenbrille.
»Aber da ist bestimmt eine, auf die du ein Auge geworfen hast?«
Der Junge schwieg, aber der Mann ließ nicht locker. »Schläft Mami heute etwas länger?«
Wieder nichts.
Der Mann gab’s auf und wandte sich an mich: »Ihre Frau«, sagte er, »ist also noch im Bett?«
Er hielt mich für Michaels Vater, und ich beließ ihn in diesem Irrtum. »Ja«, sagte ich. »Sie ist oben ... im Koma.« Ich weiß nicht, warum ich das sagte, oder vielleicht doch. Der Mann hatte sich ein hübsches kleines Familienidyll zurechtgelegt, und es machte Spaß, es zu durchkreuzen. Da war Michael, da war Michaels Dad, und jetzt war da noch Michaels Mom, lang ausgestreckt auf den Badezimmerfliesen.
Der Aufzug hielt im dritten Stock, und der Mann tippte sich an die Kappe. »Also denn«, sagte er. »Ihnen beiden noch einen angenehmen Morgen.« Michael hatte den Knopf für die fünfte Etage bestimmt zwanzigmal gedrückt, legte aber zur Sicherheit noch ein paar Schläge nach. Dann waren wir allein, und plötzlich kam mir ein sehr unangenehmer Gedanke.
In einer angespannten Situation habe ich manchmal das Bedürfnis, irgendwen am Kopf zu berühren. Es passiert mir oft im Flugzeug. Ich sehe auf die Person im Sitz vor mir, und binnen Sekunden wird aus der bloßen Vorstellung ein Zwang. Es gibt keine Alternative – es muss einfach sein. Der einfachste Weg ist, so zu tun, als wolle ich aufstehen, mich dabei auf die Rückenlehne des Vordermanns zu stützen und ihm mit den Fingern durchs Haar zu fahren. »Oh, Verzeihung«, sage ich.
»Keine Ursache.«
Meistens stehe ich dann wirklich auf, gehe für ein paar Minuten nach hinten oder zur Toilette und versuche, das zwanghafte Bedürfnis niederzuringen, auch wenn ich weiß, dass es letztlich aussichtslos ist: Ich muss erneut den Kopf dieser Person berühren. Die Erfahrung hat gelehrt, dass man es dreimal machen kann, bevor der Besitzer des Kopfes einen anbrüllt oder nach der Stewardess ruft. »Stimmt etwas nicht?«, fragt sie.
»Danke, alles in Ordnung.«
»Von wegen ›alles in Ordnung‹«, sagt der Fluggast. »Der Typ hier fummelt mir ständig auf dem Kopf herum.«
»Stimmt das, Sir?«
Es muss nicht immer der Kopf sein. Manchmal muss ich auch eine bestimmte Tasche oder ein Portemonnaie berühren. Als Kind war diese Art von zwanghaftem Verhalten mein Leben, doch inzwischen überkommt es mich nur noch an Orten, an denen ich nicht rauchen kann: in Flugzeugen zum Beispiel, oder eben in Aufzügen.
Streich dem Jungen einjach über den Kopf, dachte ich. Der alte Mann hat es auch getan, warum sollst du es nicht machen?
Mir einzureden, dass es sich nicht gehört, macht die Stimme nur noch drängender. Ich muss es tun, gerade weil es sich nicht gehört. Wenn es anders wäre, brauchte ich mich nicht damit zu quälen.
Er wird es nicht einmal bemerken. Na los doch, mach schon.
Auf einem längeren Flug hätte ich den Kampf verloren, doch zum Glück dauerte unsere Fahrt nicht lange. Sobald der Aufzug in der fünften Etage hielt, sprang ich heraus, stellte die beiden Becher auf den Boden und zündete mir eine Zigarette an. »Kleinen Augenblick nur«, sagte ich.
»Aber mein Zimmer ist gleich am Ende des Gangs. Und außerdem ist dies eine Nichtraucheretage.«
»Ich weiß, ich weiß.«
»Es ist nicht gut für Sie«, sagte er.
»Das stimmt für die meisten Leute«, erklärte ich, »aber für mich ist es tatsächlich gut. Glaub mir.«
Er lehnte gegen eine Zimmertür und nahm das BITTE-NICHT-STÖREN-Schild von der Klinke, schaute es einen Augenblick an und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden.
Ich musste nur ein paar Züge machen, doch als ich fertig war, bemerkte ich, dass es keine Aschenbecher gab. Neben dem Aufzug war ein Fenster, aber es ließ sich natürlich nicht öffnen. Hotels. Sie tun alles, damit man sich aus dem Fenster stürzen will, und dann sorgen sie dafür, dass es nicht aufgeht.
»Hast du den Kakao ausgetrunken?«, fragte ich.
»Nein.«
»Brauchst du den Deckel noch?«
»Glaub nicht.«
Er gab ihn mir, und ich spuckte in die Mitte – keine leichte Aufgabe, da mein Mund völlig ausgetrocknet war. Fünfzig Prozent meines Wasserhaushalts tröpfelten aus meinem Arsch, und die andere Hälfte war auf Achse.
»Das ist eklig«, sagte er.
»Ja doch, aber dieses eine Mal musst du drüber hinwegsehen.« Ich drückte die Zigarette in die Spucke, setzte den Deckel auf den Boden und nahm die beiden Becher wieder auf. »Okay. Wo geht’s lang?«
Er zeigte den Gang entlang, und ich marschierte hinter ihm her, in Gedanken bei einer Frage, die mich schon seit vielen Jahren quält. Was wäre, wenn ich ein Baby hätte und ... und es unbedingt an einer Stelle berühren müsste, an der es sich nicht gehört. Ich meine nicht, dass man es dort berühren wollte. Man hätte nicht mehr Verlangen, es zu berühren, als man Verlangen hat, seine Hand ein zweites Mal auf den Kopf seines Vordermanns zu legen. Die Handlung wäre eher zwanghaft als sexuell, und während es für einen selbst einen gewaltigen Unterschied machte, könnte man das Gleiche nicht von einem Richter und schon gar nicht von einem Kleinkind erwarten. Man wäre ein schlechter Vater, und sobald das Kind sprechen könnte und man ihm erklärte, es keinem weiterzusagen, würde man auch noch zum Manipulator, letztendlich also zu einem Monster, und die Gründe für das eigene Verhalten würden nicht weiter zählen.
Je näher wir dem Ende des Flurs kamen, desto mehr wuchs meine Angst. Ich hatte den Kopf des Jungen nicht einmal mit dem Finger berührt. Ich habe noch nie einen Säugling oder ein Kind mit dem Finger gestupst oder geknufft, warum also kam ich mir so verdorben vor? Zum Teil lag es an mir selbst und der tief sitzenden Überzeugung, dass ich ein Zimmer im Keller verdient hatte, der weitaus größere, hässlichere Teil aber hatte mit den Anrufern aus dem Radio zu tun und mit meinem Hang, ihnen wider besseres Wissen Glauben zu schenken. Der Mann im Aufzug hatte nicht die leisesten Skrupel, Michael persönliche Dinge zu fragen oder ihm die Hand auf den Hinterkopf zu legen. Weil er weder Priester noch Homosexueller war,
brauchte er sich nicht selbst zu beobachten und bei jedem Wort und jeder Geste zu befürchten, sie könnten missverstanden werden. Er konnte unbekümmert mit einem wildfremden Jungen durch Hotelflure streifen, während es für m ich einer politischen Demonstration gleichkam – der Beteuerung, dass ich so gut oder schlecht war wie jeder andere auch. Ja, ich bin schwul; ja, ich bin nass geschwitzt; ja, mich überkommt manchmal der Drang, anderen Leute an den Kopf zu fassen, aber ich kann trotzdem einen Zehnjährigen unbeschadet bis zu seiner Zimmertür bringen. Es ärgerte mich, dass ich etwas so Selbstverständliches beweisen musste. Und zudem noch vor Leuten, von denen ich nicht hoffen durfte, sie jemals zu überzeugen.
»Hier ist es«, sagte Michael. Hinter der Tür hörte ich den Fernseher laufen. Es war eins dieser Magazine am Sonntagvormittag, in dem eine Stunde in der Woche ausnahmslos gute Meldungen gebracht werden. Der blinde Jimmy Henderson trainiert eine Volleyballmannschaft. Einem kranken Murmeltier wird ein Wirbelsäulenkorsett angepasst. Diese Sorte Nachrichten. Der Junge schob seinen Schlüsselchip in den Schlitz, und die Tür zu einem hellen, stilvoll eingerichteten Zimmer öffnete sich. Es war doppelt so groß wie meins, mit deutlich höheren Wänden und hatte eine kleine Sitzecke. Durch das eine Fenster blickte man auf den See, durch das andere auf eine Gruppe roter Ahornbäume.
»Oh, da bist du ja«, sagte die Frau. Sie war eindeutig die Mutter des Jungen, da beide das gleiche Profil hatten und ihre Stirn beinahe unmerklich in eine stumpfe, sommersprossige Nase überging. Beide hatten blonde, vom Kopf abstehende Haare, obwohl die Frisur bei ihr eher zufallsbedingt war und von den Kissen herrührte, die sie hinter ihren Kopf geklemmt hatte. Sie lag unter den Decken eines Himmelbetts und blätterte in einer der zahllosen Broschüren, die auf der Tagesdecke verstreut lagen. Neben ihr schlief ein Mann, der sich bei ihren Worten leicht zur Seite drehte und sein Gesicht in seiner Armbeuge vergrub. »Wo hast du so lange gesteckt?« Sie blickte zur offenen Tür und weitete erschrocken die Augen, als sie mich sah. »Was zum ...«
Mit dem Rücken zu mir stieg die Frau aus dem Bett und zog einen gelben Morgenmantel über, der am Fuß des Bettes lag. Ihr Sohn wollte mir den Kaffee abnehmen, doch hielt ich die beiden Becher fest umklammert, da ich sie als meine wichtigsten Requisiten betrachtete und nicht hergeben wollte. Durch sie wurde aus einem Fremden ein hilfsbereiter Fremder, und ich sah mich schon mit den Bechern dastehen, im Kreuzverhör mit den Eltern, die von mir wissen wollten, was hier vor sich ging.
»Geben Sie schon her«, sagte er, und um keine Szene zu machen, lockerte ich meinen Griff. Kaum war ich die Becher los, spürte ich meine Selbstsicherheit schwinden. Mit leeren Händen war ich ein Widerling, ein unheimlicher, nass geschwitzter Typ, der sich aus dem Keller nach oben geschlichen hatte. Die Frau lief quer durchs Zimmer zur Kommode, doch noch ehe sich die Tür ganz geschlossen hatte, rief sie hinter mir her: »He, warten Sie.« Ich drehte mich um, bereit, den Kampf meines Lebens zu kämpfen, als sie auf mich zutrat und mir einen Dollar in die Hand drückte. »Sie haben hier ein ganz entzückendes Hotel«, sagte sie. »Ich wünschte, wir könnten noch ein paar Tage länger bleiben.«
Die Tür ging zu, und ich stand allein auf dem leeren Flur, drehte mein Trinkgeld in der Hand und dachte: Das ist alles?