Der Rooster an der Kette
An dem Abend, als der Rooster geboren wurde, kam mein Vater zu mir ins Zimmer und überbrachte mir persönlich die Nachricht.
Ich war damals elf und nur halb wach, aber ich spürte doch, dass es sich um einen außergewöhnlichen Augenblick unter Männern handelte. Der Patriarch teilt seinem erstgeborenen Sohn mit, dass ein neuer Spieler ins Team aufgenommen wurde.
Ein Blick durchs Zimmer auf die Vase mit den sorgfältig arrangierten Teichkolben und daneben die Schale mit dem Duftpotpourri hätte ihm signalisieren müssen, dass wir beide nicht in der gleichen Mannschaft spielten. Selbst Mädchen beklebten nicht die Steckdosen im Zimmer mit bunten Mustern, doch fand er es offenbar zu schmerzhaft, darüber nachzudenken, und überspielte es einfach. Er ging sogar so weit, mir eine in Plastikfolie eingepackte Zigarre zu geben, auf deren Banderole ES IST EIN JUNGE stand.
Er hatte zwei Zigarren dabei, eine aus Kaugummi für mich und eine echte für sich.
»Ich hoffe, du willst sie nicht hier drinnen rauchen«, sagte ich. »Normalerweise hätte ich nichts dagegen, aber ich habe gerade erst die Vorhänge imprägniert.«
Die ersten sechs Monate war mein Bruder Paul einfach nur ein knuddeliges Etwas, danach eine Puppe, die meine Schwestern und ich ganz nach Belieben windeln und betütteln konnten. In entsprechende Kleider gesteckt, konnte man leicht über den winzigen Penis hinwegsehen, der wie ein Dosenchampigon zwischen seinen Beinen lag. Mit etwas Fantasie und einigen ausgesuchten Accessoires war er Paulette, die kleine Französin mit dem Schmollmund; oder Paola, die bambina unter der schwarzhaarigen Perücke direkt aus ihrer toskanischen Heimat; oder Pauline, das bunt gescheckte Hippiebalg. Solange er noch ein hilfloses Kleinkind war, ließ er alles mit sich machen, doch mit achtzehn Monaten zerstörte er gründlich die Theorie, dass man ein Kind zum Schwulsein erziehen kann. Ungeachtet unserer vielen Anstrengungen, behielt die Zigarrenbanderole Recht. Unser Bruder war ein Junge. Er erbte meine Sportausrüstung, immer noch original verpackt, zog mit seinen Kumpels los und spielte, was gerade angesagt war. Wenn er gewann, tolle Sache, und hatte er verloren, war das auch nicht schlimm.
»Aber musst du denn nicht weinen?«, fragten wir ihn. »Nicht einmal ein kleines bisschen?«
Wir versuchten ihm die Vorteile nahe zu bringen, wenn man sich einmal so richtig ausheulen konnte – die anschließende Erleichterung und das Mitleid, das bei anderen geweckt wurde –, aber er lachte uns nur ins Gesicht. Wir alle heulten wie die Schlosshunde, doch bei ihm war die Wasserproduktion auf Schweiß und Urin beschränkt. Seine Bettlaken waren vielleicht feucht, aber sein Kopfkissen war immer trocken.
Gleichgültig in welcher Situation, für Paul ging es immer nur um einen Witz. Eine herzliche Umarmung, ein aufrichtiges Wort der Anteilnahme – in unseren schwachen Momenten fielen wir auf seine Tricks herein und schworen anschließend, ihm nie wieder zu trauen. Als ich mich das letzte Mal von ihm in den Arm nehmen ließ, flog ich von Raleigh zurück nach New York, ohne zu ahnen, dass er mir einen Adressaufkleber auf den Rücken meiner Windjacke gedrückt hatte, auf dem »Hallo, ich bin schwul« stand. Und das nach der ungemein lustigen Beerdigung meiner Mutter.
Als meine Schwestern und ich schließlich von zu Hause auszogen, schien das der natürliche Lauf der Dinge – junge Erwachsene, die von einer Lebensphase in eine andere eintreten. Unsere Abschiede verliefen relativ schmerzlos, doch Pauls Auszug hatte etwas vom Aussetzen eines gezähmten Tieres in die freie Wildbahn. Er wusste, was man zur Zubereitung einer Mahlzeit brauchte, zeigte aber einen beachtlichen Mangel an Geduld, was das Kochen anging. Tiefkühlgerichte wurden häufig so verzehrt, wie sie aus der Truhe kamen, als handle es sich bei gefrorenen Hamburgerscheiben um ein Eis ohne Stiel. Als ich eines Abends bei ihm anrief, hatte er gerade eine Familienpackung gefrorene Hühnerflügel schräg gegen die Hintertür gestellt. Er hatte vergessen, sie rechtzeitig aufzutauen und versuchte nun, den steinharten Klumpen in drei fünfzehn Zentimeter große Portionen zu zertreten, die er anschließend übereinander stapeln und in den Tischgrill zwängen konnte.
Ich hörte das unnachahmliche Geräusch eines Stiefels, der auf kristallisiertes Fleisch trifft, begleitet vom schweren Atmen meines Bruders: »Ihr ... verdammten ... Drecksdinger.«
Am nächsten Abend rief ich wieder an und erfuhr, dass das Fleisch verdorben gewesen war und er sich die ganze Mühe umsonst gemacht hatte. Das Geflügel hatte nach Fisch geschmeckt, also hatte er es in den Müll geworfen und sich zu Bett gelegt. Ein paar Stunden später kam ihm in den Sinn, dass verdorbene Hühnchenflügel immer noch besser waren als gar keine, und er war wieder aufgestanden, in Unterhose nach draußen gegangen und hatte die Reste aus der Mülltonne gefischt und an Ort und Stelle gegessen.
Ich war entsetzt. »In deiner Unterhose?«
»Na, was denkst du denn?«, sagte er. »Ich mach mich doch nicht schick, um ein paar nach Fischärschen schmeckende Hühnchen zu essen.«
Ich war beunruhigt, dass mein Bruder in Boxershorts bei Mondschein verdorbenes Geflügel aß. Ich war beunruhigt, als ich hörte, dass er auf einem Parkplatz ins Koma gefallen war und beim Aufwachen unbekannte Initialen entdeckt hatte, die jemand ihm mit dem Lippenstift auf den Arsch gemalt hatte. Aber ich machte mir nie irgendwelche Sorgen, dass er einmal ohne Geld dastehen würde. Seit der Highschool hat er für sich selbst gesorgt und mit sechsundzwanzig eine sehr erfolgreiche Firma gegründet, die Böden schleift. Die Arbeit ist körperlich anstrengend, aber noch viel ermüdender sind die Feinarbeiten am Schluss, das Schreiben der Rechnungen und Anheuern von Leuten oder die endlosen Diskussionen mit unentschlossenen Kunden. Wenn man ihn fragt, wie er mit allen diesen Leuten klarkommt, streicht Paul die Fähigkeit zum Kompromiss heraus und erklärt: »Manchmal muss man den Schwanz in den Mund nehmen und ihn ein bisschen hin und her schieben. Niemand zwingt dich, was zu schlucken, man muss nur eine Weile dranbleiben. Du verstehst, was ich meine?«
»Ähm ... ja.«
In einem Alter, als der Rest von uns kaum die eigene Miete aufbringen konnte, besaß er ein eigenes Haus. Mit zweiunddreißig verkaufte er es wieder und erwarb was Schickeres in einer der besseren Wohngegenden am Stadtrand von Raleigh, ein Haus mit vier Schlafzimmern, in dessen Einfahrt die Trucks und Geländewagen bis hinunter auf den Rasen standen, der von einer Gartenbaufirma gepflegt wurde. Und das alles mit einer Geschäftsphilosophie, die auf den Grundlagen der Fellatio basierte.
Paul bezeichnete sein Haus als »das Heim eines durchgeknallten Typen«, aber wenn man sich umsah, schien der Typ vor Selbstsicherheit nur so zu strotzen. Auf dem Kaminsims stand ein furzender, batteriebetriebener Fäkalienklumpen, und Pauls Spitzname Rooster zierte den Wohnzimmerboden, die hellgrün gestrichenen Wände und seine musizierenden Schneidemesser. »Von durchgeknallt keine Spur«, versicherte ich ihm und stolperte über ein Krokodil aus Beton. Das Haus war viel zu groß für eine einzige Person, deshalb war ich erleichtert, als ich hörte, dass eine Freundin in Begleitung einer älteren Mopshündin namens Venus bei ihm eingezogen war.
Mein Bruder überschlug sich fast vor Begeisterung. »Willst du mit ihr reden? Bleib dran, ich hol sie ans Telefon.«
Ich stellte mich darauf ein, die Stimme eines Mädchens aus North Carolina zu hören, ähnlich wie die Pauls, nur ein bisschen tiefer, doch stattdessen hörte ich ein Geräusch wie von einer Kettensäge, die sich hartnäckig durch einen Baumstumpf frisst. Es war Venus. Monate später verband er mich am Telefon mit dem neuen Hund seiner Freundin, einer sechs Wochen alten Dänischen Dogge, die Diesel hieß. Ich redete mit den draußen lebenden Katzen, den Hauskatzen und mit dem von der Straße aufgelesenen Ferkel, das so lange eine gute Idee zu sein schien, bis es die erste feste Nahrung zu sich nahm. Erst nachdem Paul schon über ein Jahr mit seiner Freundin zusammenlebte, lernte ich sie schließlich kennen, eine ausgebildete Friseuse namens Kathy. Wenn man sich die Tattoos und das Nikotinpflaster wegdachte, erinnerte sie an eine der weltentrückten flämischen Madonnen mit einem kläffenden Mops statt des üblichen Christuskinds im Arm. Ihre Anmut, ihr Humor, ihre pelzbesetzten Pullis – wir mochten sie auf Anhieb. Das Beste aber war, dass sie aus dem Norden stammte. Sollten sie und Paul also je ein Kind bekommen, standen die Chancen fünfzig zu fünfzig, dass es verständliches Englisch sprechen würde. Sie gaben ihre Verlobung bekannt und planten für Ende Mai ihre Hochzeit, die den griechischen Teil der Familie schwer enttäuschte. Sie würde nicht in der Holy Trinity Church stattfinden, sondern in einem Hotel an der Küste von North Carolina. Die Trauung würde von einer Esoterikerin vollzogen, deren Nummer sie aus dem Telefonbuch hatten, und für die Musik sollte ein DJ namens J. D. sorgen, der unter der Woche in der städtischen Strafanstalt auflegte. »Nun denn«, seufzte meine Patentante. »Ich denke, so machen die jungen Leute das heute.«
Ich kam zwei Tage vor der Hochzeit von Paris herübergeflogen und saß in der Küche meines Vaters, als Paul in Anzug und Krawatte vor der Tür stand. Ein ehemaliger Klassenkamerad von der Highschool hatte sich das Leben genommen, und auf dem Nachhauseweg von der Beerdigung war ihm die Idee gekommen, kurz vorbeizuschauen. Seit unserer letzten Begegnung hatte mein einst schlanker Bruder gute sechzig Pfund zugelegt. Er war rundum fülliger geworden, doch war ein Großteil der hinzugewonnenen Pfunde in Gesicht und Rumpf gewandert, was er als die so genannte Spiegelkrankheit bezeichnete: »Mein Bauch ist so fett, dass ich meinen Schwanz nur noch im Spiegel sehen kann.«
Der zusätzliche Speck hatte gewisse Körperpartien abgepolstert und andere gänzlich verschwinden lassen. Den Hals zum Beispiel. Von einem Doppelkinn verdeckt, schien sein Kopf direkt auf seinen Schultern zu balancieren, und er bewegte sich so vorsichtig, als hätte er Angst, er könnte runterfallen Ich redete mir ein, wenn mein Bruder irgendwie verändert wirkte, müsse das am Anzug und nicht am Gewicht liegen. Er war jetzt ein gestandener Mann Er würde in Kürze heiraten, und deshalb hatte sich auch seine Person verändert.
Er trank einen Schluck von dem dünnen Kaffee meines Vaters und spuckte ihn zurück in den Becher. »Die Brühe ist wie eine Nummer im Pool.«
»Wie bitte?«
»Mehr Wasser als Pulver.«
Vielleicht, dachte ich, liegt es doch eher am Gewicht.
Früh am nächsten Morgen fuhr ich mit Lisa und ihrem Mann Bob zur Küste. Als die älteste und einzig verheiratete von uns Geschwistern hatte sie die Chance ergriffen und die Doppelrolle der erfahrenen älteren Schwester und designierten Bräutigammutter übernommen. Erwähnte man nur die Namen Paul, Kathy oder Atlantic Beach, flossen bei ihr die Tränen, und sie schluchzte: »Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Tag noch erlebe.« Von Morehead City aus weinte sie so ziemlich in einer Tour, ausgelöst durch die Wahrzeichen unserer Jugend. »Oh, die Brücke! Der Pier! Der Minigolfplatz!«
Pauls Hochzeit fand im ehemaligen John Yancy statt, das inzwischen in Royal Pavillon umbenannt worden war. Das Haus war mit viel Aufwand umgebaut worden, und das bescheidene Küstenhotel von damals präsentierte sich jetzt stolz mit Empfangsräumen und einem Hochzeitserker. Die Kellnerinnen trugen Fliegen und empfahlen die Scampi mit dem Hinweis, es handle sich um ein italienisches Gericht. Wer die achtziger Jahre im Koma verbracht hatte, wäre von den Gipssäulen und Pastelltönen vermutlich beeindruckt gewesen, doch so wirkte die Einrichtung eher traurig und erinnerte an ein Einkaufszentrum.
Während die Hochzeit im Royal Pavillon stattfand, waren die Gäste nebenan im Atlantis untergebracht, einem dreistöckigen Motel, das sich seit den frühen Tagen der Weltraumfahrt kaum verändert hatte. Hier hatten wir in einem Alter unsere Wochenenden verbracht, als aus Trips zum Strand Trips am Strand geworden waren. Pilze, Kokain, Acid, Meskalin: Ich hatte noch nie hier eingecheckt, ohne nicht wenigstens gut zugedröhnt zu sein, und war deshalb überrascht, als ich ins Zimmer trat und das Mobiliar tatsächlich stillstand.
Mein Bruder hatte das Atlantis nicht aus sentimentalen Gründen gewählt, sondern weil die diversen Hunde in der Familie mitgebracht werden durften. Pauls Freunde, die von uns nur »die Schickeria« genannt wurden, hatten ebenfalls ihre Vierbeiner dabei, die bellten und jaulten und an der automatischen Glastür kratzten. So erging es Leuten, die keine Kinder hatten und nicht einmal Leute mit Kindern kannten. Die Brautjungfer war läufig. Beim Probeessen gab es sowohl Dosenfutter als auch Trockennahrung, und als mein Bruder einen Toast auf sein »prächtiges Miststück« erhob, dachten alle, er meinte den Mops.
Eine Stunde vor der Trauung waren die Männer unserer Familie in Pauls Zimmer verabredet, keine Frauen oder Mitglieder der Schickeria erlaubt. Ich ging hin in der Erwartung eines im Leben einmaligen männlichen Moments, und im Rückblick war es das wohl auch. Im Gegensatz zu meinem Zimmer, das tadellos war, glich Pauls Zimmer einer düsteren, mit Knochen übersäten Höhle. Obwohl er erst am Nachmittag zuvor eingetroffen war, sah es so aus, als hause er schon seit Jahren hier und hätte sich in dieser Zeit von Dosenbier und verschollenen Strandläufern ernährt. Ich breitete eine Zeitung aus, setzte mich aufs Bett und sah zu, wie mein Vater, der Trauzeuge war, meinem Bruder den Kummerbund umband. Es war fünf Uhr nachmittags an einem der bedeutendsten Tage ihres Lebens, und beide sahen fern. Ein privater Nachrichtenkanal brachte eine Sondersendung über eine Flutkatastrophe in einer fernen Stadt, die man am Ufer eines unzuverlässigen Flusses erbaut hatte. Die Menschen versuchten einen Damm mit Sandsäcken zu errichten. Ein Schubkarren trieb durch die Straßen eines Wohnviertels. »Und immer noch«, sagte der Sprecher, »fällt Regen.«
Ich hatte einmal gehört, vielleicht war es bloß ein Gerücht, dass der Regisseur bei der Verfilmung von Gandhi Statisten angeheuert hatte, die Sandsäcke spielen sollten, weil sie einfacher aufzutreiben waren als richtige Säcke. Die Geschichte schien mir ein guter Aufhänger für eine Unterhaltung, doch gleich beim ersten Satz herrschte mein Vater mich an, den Mund zu halten.
»Wir sehen gerade fern«, sagte er. »Herrgott, hast du Tomaten auf den Augen?« Gegenüber in der Suite der Braut wurde Make-up aufgetragen und systematisch weggeheult. Tiefsinnige Dinge wurden gesagt, und ich hatte das untrügliche Gefühl, am falschen Ort zu sein. Mein Vater drehte meinen Bruder mit dem Gesicht zu sich und band ihm die Krawatte, mit einem Auge weiterhin auf den Bildschirm schielend.
»Bei so viel Wasser ist der ganze Holzboden im Arsch«, sagte mein Bruder. »Die armen Schweine können sich auf ‘ne Totalrenovierung einstellen, das sag ich dir.«
»Ich glaub’s auch.« Mein Vater half dem Bräutigam in sein Jackett und warf einen letzten Blick auf die Flutopfer. »Also los«, sagte er. »Auf zur Hochzeit.«
Es war ein geschäftiger Tag im Royal Pavillon. Die Fünfuhrhochzeit hatte sich etwas verzögert, und wir schauten von der Seite aus zu, wie ein Kaplan des Marine Corps einem attraktiven Pärchen Anfang zwanzig die besten Wünsche mit auf den Weg gab. Lisa und Amy gaben dem Paar maximal drei Jahre. Gretchen und ich tippten eher auf achtzehn Monate, und Tiffany schlug vor, wenn wir die wahre Antwort wissen wollten, müssten wir nur die Esoterikerin fragen, die neben einer Krüppelkiefer stand und sich mit Pauls Patentante unterhielt. Sie war eine große, konservativ gekleidete Frau mit fleischfarbenen Haaren und dazu passend lackierten Fingernägeln. Ihre Sonnenbrille hing an einer Kette um ihren Hals, und sie putzte die Gläser, während sie ihre zahlreichen Fähigkeiten aufzählte. Abgesehen davon, dass sie freitags immer Tarotkarten legte, schien sie auch Krebs, Diabetes und Herzkrankheiten durch Handauflegen an geheimen, schier unzugänglichen Stellen zu heilen. »Ich habe diese Gabe seit meinem siebten Lebensjahr«, sagte sie. »Und glauben Sie mir, ich bin sehr gut in dem, was ich tue.«
Was Hochzeiten betraf, las sie der zukünftigen Braut und dem Bräutigam die Zukunft, indem sie sich in deren tiefstes Selbst versenkte und das, was sie dort entdeckte, für einmalige, ganz persönliche Trauschwüre nutzte.
»Also, ich finde das wunderbar«, sagte Lisa.
»Ich weiß«, sagte die Esoterikerin. »Ich weiß.«
Die Marines marschierten in Reih und Glied aus dem Hochzeitserker, und wir übernahmen die Plätze. »Für wen hält diese Frau sich?«, flüsterte Lisa. »Ich wollte doch nur höflich zu ihr sein.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß.«
J. D., der DJ, hing auf der Brücke fest, also begann die Zeremonie ohne den Hochzeitsmarsch vom Band. Lisa fing erwartungsgemäß in dem Moment an zu heulen, als die Braut am Arm ihres Vaters hinter dem Colaautomaten um die Ecke bog. Die Hunde sprangen sofort hinzu, während ich fest entschlossen war, mich nicht dem Zug anzuschließen, sondern über die Schulter der Esoterikerin auf einen schmalen Streifen Ozean blickte, der zwischen den Bäumen hindurch schimmerte. Genau an dieser Stelle war mein Bruder vor zweiundzwanzig Jahren beinahe ertrunken. Wir hatten uns von der Flut hinaustragen lassen und stellten plötzlich fest, dass wir uns auf offenem Meer befanden und immer weiter vom Hotel abtrieben. Normalerweise wagten wir uns nicht so weit raus, und ich war sogleich auf die Küste zu geschwommen, in dem Glauben, mein Bruder sei direkt hinter mir.
»Seid gegrüßt Freunde und Verwandte«, sagte die Esoterikerin. »Wir stehen auf...« Sie schaute zur Braut herüber, die meinen zu kurz geratenen Bruder ein gutes Stück überragte. »Wir stehen auf Zehenspitzen, um heute Nachmittag die Liehe von ... Paul und Kathy zu feiern.«
Er sollte eigentlich gar nicht im Wasser sein, erst recht nicht mit mir. »Du machst ihn noch ganz verrückt«, sagte meine Mutter. »Um Himmels willen, gönn ihm eine Pause.« Der Vorwurf, ich würde meine Schwestern aufziehen, machte mich immer etwas verlegen, aber dass ich es auch bei einem zwölfjährigen Jungen konnte, gefiel mir. Als der ältere Bruder war das mein Job, und ich bildete mir ein, ihn gut zu erledigen. Ich schwamm etwa eine Poollänge und drehte mich um. Aber Paul war nicht da.
»Diese Liebe gibt es nicht... im Supermarkt«, sagte die Esoterikerin. »Man findet sie nicht... unter einem Baum, unter einer ... Muschel und auch nicht in ...« Man sah, wie sie nach einem passenden Versteck suchte. »Auch nicht in einer Schatzkiste, die vor vielen hundert Jahren auf den ... geschichtsträchtigen Inseln hier vor der Küste vergraben wurde.«
Eine Dünung rollte heran und verschluckte meinen Bruder, von dem nur noch der rechte Arm aus dem Wasser ragte und in Zeichensprache signalisierte: »Ich ertrinke, und du allein trägst die Schuld.« Ich schwamm zu ihm zurück und versuchte mich an den Rettungsschwimmerkurs zu erinnern, den ich vor vielen Jahren im Country Club mitgemacht hatte. Denk nach, ermahnte ich mich. Handle wie ein Mann. Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber das Einzige, woran ich mich erinnerte, war der Schwimmlehrer, ein athletischer Siebzehnjähriger, der Chip Pancake hieß. Ich erinnerte mich noch genau an die Sommersprossen auf seinen breiten, bronzefarbenen Schultern und an den wilden Hoffnungsschimmer, als er unter den Teilnehmern nach einem Freiwilligen zur Wiederbelebung suchte. Oh, bitte nimm mich, flüsterte ich. Hier! Sieh doch! Ich erinnerte mich an den Geruch gegrillter Hamburger, der vom Klubhaus herüberzog, an das Stechen der Rettungsweste auf meinem sonnenverbrannten Rücken und an den bitteren Schmerz der Enttäuschung, als Chip sich für Patsy Pyle entschied, der das Erlebnis nachher als »lebensverändernd« beschrieb. Keine Erinnerungen, mit denen man Leben rettet, also ließ ich die Vergangenheit hinter mir und folgte stattdessen ganz meinem Instinkt.
»Wir erbitten für diese Ehe so viel Segen, wie es... Sandkörner im Ozean gibt.«
Zuletzt packte ich Paul einfach an den Haaren und brüllte ihn an, sich flach aufs Wasser zu legen. Er erbrach einen Schwall Meerwasser, dann paddelten wir zurück zum Ufer und erreichten eine halbe Meile unterhalb des Hotels den Strand. Als wir nebeneinander im flachen Wasser lagen und nach Luft japsten, schien es mir der rechte Moment, meinem Gefühl der Erleichterung und der brüderlichen Liebe Ausdruck zu verleihen.
»Hör zu«, sagte ich. »Ich will, dass du weißt ...«
»Ach, leck mich«, hatte Paul zu mir gesagt.
»Ja«, sagte Paul zu Kathy.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich diesen Tag noch erlebe«, schluchzte Lisa.
Mein Bruder küsste die Braut, und die Esoterikerin blickte ins Publikum und nickte wissend, als wolle sie sagen: Ich wusste, dass es so kommen würde.
Kameras klickten, und ein plötzlicher Windstoß hob Kathys Schleier und Schleppe hoch in die Luft. Ihr überraschter Blick, die hastige Umarmung meines Bruders – auf den Fotos sah es nachher so aus, als sei sie geradewegs vom Himmel gefallen und im letzten Moment von jemandem aufgefangen worden, der sich ihr als der glücklichste Mann der Welt vorstellte.
Auf der anschließenden Feier tanzte mein Bruder den Wurm und warf sich der Länge nach auf den Boden, und die Schickeria sang: »Party, fat man, party.« Mein Vater hielt eine kurze, steife Ansprache auf den Rooster, bei der er die ganze Zeit ein Plastikhuhn durch die Luft schwenkte, und wieder klickten die Kameras.
»Ich fasse es nicht«, sagte ich. »Ein Plastikhuhn?«
Er verteidigte sich, dass er keinen Hahn aus Plastik auftreiben konnte, und ich erklärte, dies sei noch nicht das Schlimmste. »Nicht jeder hat das Talent, frei zu sprechen«, sagte ich. »Wo waren deine Notizen? Warum bist du nicht zu mir gekommen?«
Mein Zorn rührte vor allem daher, weil ich die große Rede hatte halten wollen. Seit Pauls Kindertagen arbeitete ich daran, aber niemand hatte mich gefragt. Jetzt würde ich bis zur Beerdigung warten müssen.
Um ein Uhr nachts lief die Saalmiete aus, und wir beschlossen, die Feier an den Strand zu verlegen. Kathy ging sich umziehen, und Paul und ich nahmen die Hunde mit auf einen kurzen Spaziergang auf dem Rasen vor dem Atlantis. Zum ersten Mal während der Hochzeit waren wir unter uns, und ich wollte einen denkwürdigen Augenblick daraus machen. Das entscheidende Wort hier ist wollte, weil man damit von vorneherein alles vermasselt. Gerade wenn man besonders feierlich sein will, redet man nur dummes Zeug, an das man sich nachher zwar erinnert, aber ganz anders als beabsichtigt. Mein Bruder hatte mich ein Leben lang vor solchen Momenten bewahrt, und er würde es auch dieses Mal tun.
Es fing leicht an zu nieseln, und gerade als ich mich räusperte, schiss Venus einen Haufen erdnussgroßer Kötel auf den Rasen.
»Willst du das nicht wegmachen?«, fragte ich.
Paul zeigte auf den Boden und pfiff die Dänische Dogge herbei, die über den Rasen gesprungen kam und den Haufen mit einem Bissen verschlang.
»Das war ein Versehen, oder?«, sagte ich.
»Von wegen Versehen. Ich hab die Töle darauf abgerichtet«, sagte er. »Manchmal hält er sogar die Schnauze an ihren Arsch und schluckt das Zeug frisch vom Hahn.«
Ich stellte mir meinen Bruder vor, wie er im Garten steht und seinem Hund beibringt, Scheiße zu fressen, und ich wusste, dass ich dieses Bild mein Lebtag mit mir herumtragen würde. Die Tränen und Gespräche unter Brüdern konnte man vergessen, das hier war der Stoff, aus dem Erinnerungen sind.
Die Dänische Dogge leckte sich die Lippen und stöberte im Gras nach mehr. »Was wolltest du sagen?«, fragte Paul.
»Ach, nichts.«
Von der Kuppe einer für Strandbesucher gesperrten Düne aus hallte das Kriegsgeheul der Schickeria herüber. Kathy rief von der Tür ihres Zimmers, und begleitet von seinen Hunden, stapfte Paul los, eine Liebe schenkend, die man nicht unter einem Baum findet, nicht unter einer Muschel und auch nicht in einer Schatzkiste, die vor vielen hundert Jahren auf einer der geschichtsträchtigen Inseln hier vor der Küste vergraben wurde.