Blutsbande
Viele Jahre lang reinigte ich Apartments in New York, was kein schlechter Weg ist, sich seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Mein Boss leitete eine kleine Agentur und vermittelte Putzkräfte für fünfzehn Dollar die Stunde, von denen fünf Dollar an ihn und zehn an den Angestellten gingen. Alleine konnte man mehr verdienen, aber mir war es lieber, einen Vermittler zu haben, der sich um die Dienstpläne kümmerte und gelegentlich den Kopf hinhielt. Ging etwas kaputt, sorgte der Boss für Ersatz, und wurde etwas gestohlen oder behauptet, einer der Angestellten habe gestohlen, trat der Boss zu unserer Verteidigung an. Abgesehen von der Praxis eines Chiropraktikers putzte ich ausschließlich in Privatwohnungen, Apartments oder Lofts, entweder einmal die Woche oder auch alle zwei Wochen. Die Besitzer waren meistens bei der Arbeit, und wenn sie doch einmal zu Hause waren, versuchten sie sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, als wäre es meine Wohnung und sie nur die Gäste.
Einer meiner Kunden war Mitte sechzig und arbeitete als Gutachter bei einer Versicherung. Ich sah ihn das erste Mal, nachdem ich bereits seit über einem Jahr seine Wohnung putzte und er sich zu Hause von einer Operation erholte. Er hatte irgendwas mit dem Herzen und kam zu mir, als ich gerade den Kühlschrank auswischte. »Ich will Sie nicht belästigen«, sagte er, »aber ich möchte mich etwas hinlegen. Ich habe mir den Wecker gestellt, aber sollte ich aus irgendeinem Grund nicht wach werden, könnten Sie dies in meinen After einführen?« Er reichte mir einen Plastikhandschuh und ein durchsichtiges Zäpfchen mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit.
»Wenn Sie bis wann nicht wach sind?«, fragte ich.
»Ach, sagen wir drei Uhr.«
Er ging in sein Schlafzimmer, und ich begann mir Gedanken zu machen, was ich tun würde, sollte er vom Wecker nicht wach werden. Was war schlimmer, einem Fremden ein Zäpfchen in den After zu schieben oder sich verantwortlich dafür zu fühlen, wenn sein Herz zu schlagen aufhörte? Wie bei den meisten Dingen, hing es ganz von der Person ab. Der Mann hatte sich nie bei meinem Boss über mich beschwert, und er war so vorausschauend gewesen, mir einen Plastikhandschuh zu geben, warum also sollte ich ihm den Gefallen nicht tun?
Um drei ging der Wecker, doch gerade als ich meinen ganzen Mut zusammennehmen wollte, kam der Gutachter erfrischt und mit neuem Schwung für den Nachmittag aus dem Schlafzimmer. In der folgenden Woche war er wieder bei der Arbeit, und obwohl ich noch zwei weitere Jahre sein Apartment putzte, sahen wir uns nie wieder.
Mein Boss war entsetzt, als ich ihm die Geschichte erzählte, doch mir erschien sie rückblickend wie ein Abenteuer. Es war ziemlich langweilig, den ganzen Tag allein zu sein, deshalb bat ich ihn um mehr Aufträge bei Kunden, die tagsüber zu Hause waren. Oft handelte es sich dabei um einmalige Angelegenheiten. Der Wohnungsbesitzer hatte eine besonders wüste Party geschmissen oder die Handwerker im Haus gehabt und brauchte nun jemanden, der den ganzen Dreck wegmachte. Einmal war ich in der Wohnung eines früheren Playmates, die Hilfe beim Umräumen ihrer Schränke brauchte. Wir kamen miteinander ins Gespräch, und sie zeigte mir Fotos ihrer drei Exehemänner und erklärte, das Motto ihrer Familie laute: Eat, drink and remarry.
»Der ist uralt«, sagte mein Boss, aber für mich war der Spruch neu.
Im Dezember 1992 wurde eine Kurzgeschichte von mir im Radio gesendet, und sechs Monate später brachte die New York Times einen kleinen Artikel unter der Überschrift: DER FENSTERPUTZER AUS DEM RADIO. Er erschien in der Sonntagsausgabe, und gegen zehn hatte ich die ersten Leute am Telefon, die mich fürs Putzen engagieren wollten. Viele Anrufer wollten allerdings nur, dass ich über Dinge berichtete, die sie für bedeutend oder ungerecht hielten: diskriminierende Einstellungspraktiken, Geheimtreffen des Firmenvorstands, ein umstrittener medizinischer Durchbruch, der von den Großen an der Spitze unterdrückt wurde. »Das ist nicht mein Gebiet«, erklärte ich, aber sie blieben hartnäckig und bearbeiteten mich mit so genannten »Nummern wichtiger Kontaktpersonen«, die immer nur flüsternd weitergegeben wurden, als lauerten überall Spione.
Wenn Leute sich privat bei mir meldeten, bat ich sie, in der Firma anzurufen und mit dem Boss einen Termin zu vereinbaren. Dadurch bewies ich meine Loyalität und hielt mir die offensichtlichen Härtefälle vom Hals, die sich beschwerten, Opfer einer groß angelegten Verschwörung zu sein. Einen Monat nach Erscheinen des Artikels fuhr mein Boss in die Ferien, und kurz darauf rief ein Fremder an und fragte, ob ich noch einen Termin am Wochenende frei hätte. Er gab mir seinen Namen, Martin, und eine Adresse auf der Achtzigsten East. Ich schlug Sonntag um zwei vor und hatte gerade aufgelegt, als er noch einmal anrief. »Zwei Uhr morgens oder zwei Uhr nachmittags?«, fragte er.
»Nachmittags«, sagte ich.
Später ging mir auf, dass dies das erste Alarmzeichen war.
Die Upper East Side ist an Sommerwochenenden wie ausgestorben, und auf dem Weg von der U-Bahn-Station in Richtung Norden begegneten mir nicht mehr als ein Dutzend Leute. Martin wohnte im fünfzehnten Stock eines Hochhausneubaus. Der Wachmann kündigte mich an, und als ich aus dem Aufzug trat, sah ich eine Wohnungstür aufgehen und einen Mann seinen Kopf in den Flur stecken. Er schien Mitte vierzig zu sein, war untersetzt, hatte ein rundes, sonnenverbranntes Gesicht und fettige, strohblonde Haare, so fein wie die eines Säuglings. Schweißringe hatten sich unter den Achseln seines T-Shirts gebildet, das sich eng um den Bauch spannte und ein Segelboot in stürmischer See zeigte. »Habe ich mit Ihnen telefoniert?«, fragte er.
Über meine Bestätigung schien er leicht enttäuscht, als seien Leute wie ich das Los seines Lebens, doch dann klopfte er mir auf die Schulter und stellte sich vor.
Ich hatte gedacht, Martin sei gerade von irgendeinem Fitnesstraining nach Hause gekommen, aber als ich seine Wohnung betrat, begriff ich, dass der Schweiß aus den eigenen vier Wänden stammte. Draußen herrschten Temperaturen knapp über dreißig Grad, aber in seinem Wohnzimmer war es noch mal gut fünf Grad wärmer. »Hier drinnen ist es wie im Pizzaofen«, sagte er, allerdings nicht im Ton einer Entschuldigung, sondern als sei er stolz darauf. Ich blickte auf die Klimaanlage, die ausgestöpselt mitten im Zimmer auf dem Boden lag, und auf die Reihe geschlossener Fenster, durch die man auf den Wohnturm nebenan sah.
»Wenn Ihnen heiß ist, können Sie natürlich ...« Er schob die Hände in die Taschen seiner Shorts und blickte auf seine nackten Füße herab. »Sie können natürlich ... na, Sie wissen schon.«
Ich dachte, er meinte, ich könnte wieder gehen, aber das schien mir dumm, wo ich doch schon einmal da war. »Schon gut«, sagte ich. »Ich habe auch keine Klimaanlage zu Hause.«
»Oh, ich habe ja eine«, sagte er. »Ich benutze sie nur nicht.«
»Richtig.«
»Die gehörte zum Apartment.«
»Wie schön.«
»Schön, wenn man auf Klimaanlagen steht.«
»Was Sie nicht tun«, sagte ich.
»Nein«, sagte er, »ganz und gar nicht.«
Normalerweise zeigte ein Kunde einem nach ein oder zwei Minuten Smalltalk den Staubsauger und verdünnisierte sich. Martin starrte weiter auf seine Füße, und ich begriff, dass, wenn ich je hier fertig werden wollte,
ich die Initiative ergreifen müsste. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, fange ich mit der Küche an«, sagte ich.
»Wo immer Sie wollen.« Er ging nach nebenan und lehnte gegen den Türrahmen, als ich hinterherkam. Man sah gleich, dass der Typ nicht selbst kochte. Der Herd sah aus wie geleckt, und auf der Küchenplatte stand nichts außer einer Kaffeemaschine.
»Normalerweise bin ich an Wochenenden nicht hier«, erklärte er. »Jedenfalls nicht im Sommer.«
Ich suchte unter der Spüle nach den Putzutensilien. »Ach, ja?«
»Freitags nehme ich gleich den ersten Bus nach Fire Island«, sagte er. »Waren Sie schon mal da? Auf FIRE ISLAND?«
Er sagte Fire Island so, als sei es ein geheimer Code, das Signalwort, um ihm den Mikrofilm zuzustecken. Ich erklärte ihm, ich sei noch nie dort gewesen, und er setzte sich auf die Küchenplatte. »Sie waren tatsächlich noch nie auf FIRE ISLAND?«, fragte er. »Ich dachte, jeder war schon mal da.«
»Jeder außer mir.« Ich öffnete den Kühlschrank, der bis auf eine Dose Cola Light und Dutzende von kleinen Fläschchen mit irgendeiner klaren Flüssigkeit leer war. Hätte man mich gefragt, hätte ich auf ein Medikament zur Behandlung irgendeiner psychischen Störung getippt. Unterdessen ließ er mit seiner Fire-Island-Geschichte nicht locker.
»Ich kann Ihnen gerne Informationsmaterial geben«, sagte er, und bevor ich ablehnen konnte, hatte er eine Schublade aufgezogen und drückte mir einen Prospekt in die Hand. Auf dem Umschlag waren ein Dutzend kerniger Männer zu sehen, die sich an Bord eines Ausflugsbootes vergnügten. Alle hatten nackte Oberkörper, und einige trugen nichts weiter als einen Stringtanga. Mir war klar, dass er einen Kommentar von mir erwartete, doch stattdessen zeigte ich auf eine winzige Figur, die im Hintergrund am Ufer stand. »Ist das ein Angler?«, fragte ich.
»Kann sein«, sagte Martin. »Aber das ist nicht die Hauptsache auf FIRE ISLAND.«
Ich gab ihm die Broschüre zurück. »Mir fehlt die Geduld zum Angeln. Krabben fischen mit dem Netz, das schon eher. Sagen Sie, haben Sie Geschwister?«
Der plötzliche Themenwechsel schien ihn aus dem Konzept zu bringen. »Eine Schwester. Drüben in New Jersey. Aber auf FIRE ISLAND, wissen Sie, da ...«
»Und was ist mit Ihren Eltern?«
»Mein Vater starb vor ein paar Jahren«, sagte er. »Aber meine Mutter ist noch da.«
Er schien nicht sonderlich daran interessiert, über seine Familie zu reden, also hakte ich nach, in der Hoffnung, ihn zu vertreiben und meine Ruhe zu haben.
»Wen mag Ihre Mutter lieber, Sie oder Ihre Schwester?«
»Keine Ahnung«, sagte er. »Warum fragen Sie?«
»Nur aus Neugierde. Nehmen Sie sie manchmal mit nach Fire Island?«
»Nein.«
»Na ja, auch gut«, sagte ich.
Martin steckte die Broschüre in die Schublade und zog sich ins Wohnzimmer zurück. Er schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Programme.
Nachdem ich ihn los war, hatte ich die Küche im Handumdrehen fertig. Danach kamen das Bad und das Schlafzimmer an die Reihe, das muffig und unaufgeräumt war und noch heißer als der Rest der Wohnung. Auf der Kommode lagen Wäschestapel und schwule Pornomagazine, wobei die abwechselnden Schichten von Hemden und Magazinen mich an Schaubilder der Erdkruste erinnerten. Auf dem zerwühlten Bett lagen fünf Laken übereinander, und während ich mir noch den Kopf darüber zerbrach, kam Martin ins Zimmer und setzte sich auf einen Klappstuhl. Die Unterhaltung in der Küche hatte er abgehakt und schien es noch mal von vorne versuchen zu wollen. »Oh, das sieht ja nach richtig harter Arbeit aus.«
»Wie können Sie mit fünf Laken gleichzeitig schlafen?«
»Nun«, sagte er. »Ich habe Diabetes. Mir wird schnell kalt.«
Ich hatte davon noch nie gehört. »Frieren alle Diabetiker im Sommer?«
»Da müssen Sie sie schon selbst fragen.« Er griff in eine offene Schublade und zog ein Plastikgerät in der Größe eines Walkmans heraus. »Ich habe eine Idee«, sagte er. »Was halten Sie davon, wenn wir Ihren Blutzucker testen!«
»Jetzt?«
»Klar«, sagte er. »Warum nicht?«
Ich hätte ihm ein Dutzend Gründe nennen können.
»Ich pikse bloß Ihren Finger, wische das Blut mit einem Papierstreifen ab und stecke ihn in das Gerät. Na, was sagen Sie?«
»Lieber nicht.«
»Die Nadeln sind einzeln verpackt«, sagte er. »Absolut steril. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass Sie sich etwas holen.«
»Vielen Dank für das Angebot, aber ich verzichte lieber.«
Ich wollte das Bett machen und griff nach dem Kopfkissen, als er mein Handgelenk packte und mir die Nadel in den Finger stieß. »Erwischt!«,
sagte er. Ein kleiner Blutstropfen bildete sich auf der Kuppe meines Zeigefingers, und schon war er mit einem schmalen Papierstreifen zur Stelle, um ihn abzuwischen. »Jetzt stecken wir das hier rein ... und warten ein paar Sekunden.«
Die gute Nachricht war, dass mein Blutzucker einen ganz normalen Wert hatte. »Sie können sich glücklich schätzen«, sagte Martin. »Meiner ist völlig von der Rolle.« Er zeigte mir eine Narbe mitten auf dem Kopf und erklärte mir, wie er vor einigen Monaten auf dem Boden im Wohnzimmer aufgewacht sei und in einer dicken Blutlache gelegen habe. »Totaler Blackout«, sagte er. »Ich muss beim Sturz auf den Glastisch geknallt sein.« Im Jahr davor war er auf der Straße bewusstlos geworden und hatte eine Nacht im Rinnstein gelegen. »Bei meinem Zustand ist mit allem zu rechnen«, sagte er.
Die Botschaft des Satzes lautete, dass er für sein Verhalten nicht verantwortlich war. Keine sehr beruhigende Nachricht, aber ich blieb trotzdem, nicht aus Mitleid, sondern weil ich nicht wusste, wie ich mich verabschieden sollte. Es hätte seltsam ausgesehen – seltsamer zumindest, als zu bleiben –, und obwohl ich ernstlich darüber nachdachte, fiel mir keine passable Ausrede ein. Außerdem wurde ich den Gedanken nicht los, dass ich den Bluttest in gewisser Weise verdient hatte. Ich hatte ihn gefragt, wen seine Mutter mehr liebe, ihn oder seine Schwester. Ich war mir clever vorgekommen und stolz auf meine Fähigkeit, Leute zu vergraulen, und das war die gerechte Strafe dafür. In meinen Augen waren wir jetzt quitt.
Nachdem ich mit dem Schlafzimmer fertig war, gingen wir hinüber ins Wohnzimmer, Martin immer zwei Schritte hinter mir. Ich legte verstreute Zeitungen und Magazine auf einen Stapel und machte mich daran, den Fernseher abzustauben, als Martin sich auf die Couch fallen ließ und per Fernbedienung ein Pornovideo startete. Es war eine Militärgeschichte. Ein aufmüpfiger Gefreiter hatte die Stiefel seines Sergeanten nicht vernünftig gewichst und erwartete dafür eine harte Bestrafung. »Kennen Sie den?«, fragte Martin. Ich erklärte ihm, ich hätte keinen Videorekorder, und wandte mich rasch ab, als er seine Shorts auszog.
Mein großes Vorbild als Putzkraft war eine Frau namens Lena Payne, die Ende der sechziger Jahre bei uns arbeitete. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, sah ich andächtig zu, wie sie auf den Knien den Küchenboden schrubbte. »Nehmen Sie einen Mopp«, sagte meine Mutter, »so wie ich«, woraufhin Lena beschämt den Kopf senkte. Sie wusste Dinge, die meine Mutter nicht wusste. Entweder man will einen sauberen Fußboden, oder man will mit dem Mopp putzen, aber beides zusammen geht nicht. Ob es ums Bügeln oder um die Bestrafung der Kinder ging, Lena wusste alles am besten, und so wurde sie für unseren Haushalt unentbehrlich. Wie sie wollte auch ich das Kommando über einen Haushalt führen und Leuten das Gefühl geben, träge und verzogen zu sein, ohne es je laut sagen zu müssen. »Hattet ihr nicht gestern erst Kartoffelchips?«, fragte sie und blickte vorwurfsvoll auf die Schüssel so groß wie eine Kesselpauke, die meine Schwestern und ich vor dem Fernseher stehen hatten. Indem sie so tat, als kämen uns die Kartoffelchips bereits zu den Ohren heraus, schmeckten sie plötzlich schal, und sie musste abends weniger Krümel vom Boden saugen. Sie war nicht nur helle, sondern auch eine Eins in ihrem Job. Ich himmelte sie an.
Als ich jetzt mit schweißtropfender Stirn in Martins Wohnzimmer stand, fragte ich mich, was Lena wohl gesagt hätte, wenn einer von uns sich die Hose heruntergezogen und zu einem Film mit dem Titel Fort Dicks masturbiert hätte. Wir hatten damals kein Video, aber wenn wir eins gehabt hätten, hätte sie vermutlich das Gleiche wie ich gesagt: »Ich habe keinen Videorekorder.« Ich hätte dann auf der Stelle aufgehört, aber Martin war offenbar anders verkabelt.
Ratsch, ratsch, ratsch. Ratsch, ratsch, ratsch. Martins Unterarm schlug im Takt gegen eine Zeitung, die neben ihm auf der Couch lag, und ich stellte den Staubsauger an, um das Geräusch zu übertönen. Ich wollte auf keinen Fall ihn oder den Bildschirm sehen, also starrte ich stur auf den Boden und bearbeitete immer die gleiche Stelle, bis mir die Schulter wehtat und ich auf die andere Hand wechselte. Tu einfach so, als wäre nichts, redete ich mir ein, aber dies war etwas anderes, als einen Musiker in der U-Bahn oder einen Verrückten an der Theke im Diner zu ignorieren. Wie der Husten eines Kranken verbreiteten Martins Anstrengungen Keime, einen schwächenden Schambazillus, der durch den Raum schwirrte und nach einem neuen Wirt suchte. Wie schrecklich ist es, danebengelegen zu haben, sich vorgewagt und ein Angebot gemacht zu haben, das nicht erwidert wird. Ich musste an die barbusige Hausfrau denken, die einem schwulen UPS-Boten öffnet, an die unzähligen Artikel, die einen dazu auffordern, den Partner zu überraschen und den Nachtisch nackt zu servieren oder einen spontanen Striptease hinzulegen. Nie steht dabei, was man machen soll, wenn der andere aus dem Zimmer geht oder einen mit einem Blick voller Abscheu und Mitleid ansieht, bei dem einem zehn, zwanzig, fünfzig Jahre danach immer noch heiß wird, wenn man nur daran denkt. Ich hatte darin einige Erfahrung, und Martins trübsinnige, verbohrte Vorführung spülte alles wieder hoch. Ich musste an das eine Mal denken, als ... Und dann war da ...
Ratsch, ratsch, ratsch. Ratsch, ratsch, ratsch.
Sein Masturbieren diente inzwischen mehr dem Beweis der eigenen Ausdauer als dem Lustgewinn. Natürlich hätte er auch aufhören können, verdammt noch mal, aber schließlich gehörte er zu den Leuten, die eine Sache bis zum bitteren Ende durchziehen, ob es nun darum ging, sich vor einem Fremden zum Idioten zu machen oder bei jemandem das Wohnzimmer zu saugen. Das schaff ich schon, denkt man. Das schaff ich schon. Zuletzt schaffte er es tatsächlich und kam mit einem freudlosen, lang gezogenen Stöhnen. Die Zeitung hörte auf zu rascheln, das Video wurde ausgeschaltet, und Martin verzog sich ins Schlafzimmer, nachdem er zuvor seine Hose wieder hochgezogen hatte. Ich ging davon aus, ihn nicht noch einmal zu sehen, und war deshalb überrascht, als er kurz darauf mit einem Bündel Scheine in der Hand zurückkam.
»Sie können jetzt Schluss machen«, sagte er.
»Aber ich bin noch nicht fertig.«
»Ich denke schon«, sagte er. Dann trat er auf mich zu und blätterte mir nacheinander die Geldscheine in die Hand. »Zwanzig, vierzig, sechzig, achtzig ...« Er zählte ruhig und mit einer anderen Stimme als in den vergangenen zwei Stunden. Sie war höher und weniger drängend, und es war auch etwas von Erleichterung zu spüren, als hätte er sich die ganze Zeit zu einer Rolle gezwungen. »Einhundertzehn, einhundertzwanzig ...« Er zählte bis zweihundert, das Sechsfache meines normalen Verdienstes. »Stimmt so, oder?«, fragte er, und noch ehe ich etwas sagen konnte, legte er noch einmal dreißig Dollar Trinkgeld drauf.
»Darf ich Sie mal etwas fragen?«, sagte ich.
Wenn ich die Geschichte nachher jemandem erzählte, war es immer der folgende Teil, der mir die größten Schwierigkeiten bereitete, einmal, weil er so unwahrscheinlich klang, aber mehr noch, weil er nach der Blutprobe und den fünf übereinander liegenden Laken einfach zu viel war. Ich ging davon aus, dass Martin durch die New York Times auf mich aufmerksam geworden war, und so war es auch. Er hatte den Artikel gelesen, meinen Namen auf einen Zettel notiert und meine Nummer aus dem Telefonbuch herausgesucht. Anscheinend hatte er aber auch die Nummer einer Nacktputzagentur notiert, die er in den Anzeigenseiten eines Pornomagazins entdeckt hatte. Irgendwie waren die Namen und Nummern durcheinander geraten, und er hatte mich in dem Glauben angerufen, ich sei die heiße Adresse. Ich denke, so was kommt vor, aber spätestens, als er mich sah, hätte er seinen Fehler bemerken müssen. Ich habe noch nie mit einer Nacktputzagentur zu tun gehabt, aber irgendetwas sagt mir, dass deren Mitarbeiter eher für ihre körperlichen Vorzüge als für ihre Staubsaugerkünste angeheuert werden. Irgendetwas sagt mir, dass sie nur sehr oberflächlich putzen.
Wochenlang fragte ich mich, warum Martin das Spiel mitgespielt hatte. In seiner wachsenden Ungeduld hätte er mir nur geradeheraus sagen müssen, was er wollte, doch dazu hätte es eines anderen Temperaments bedurft, einer Direktheit, die weder er noch ich hatten. Im Lexikon der Anspielungen bedeutet »FIRE ISLAND« »Lass uns gemeinsam masturbieren«, während »Wen mag deine Mutter lieber?« mit »Ich möchte die Küche gerne alleine putzen« zu übersetzen ist. »Ich habe keinen Videorekorder« heißt »Ihr Verhalten verunsichert mich«, und »Sie können natürlich .. na, sie wissen schon« meint »Ich denke, Sie können sich jetzt ausziehen«. »Was halten Sie davon, wenn wir Ihren Blutzucker testen?«, war einfach nur dummes Geschwätz.
Nachdem ich meine Tasche genommen hatte, brachte Martin mich zur Tür. »Wir müssen das irgendwann einmal wieder machen«, sagte er, was bedeutete, dass wir uns nie wieder sehen würden.
»Von mir aus gerne«, sagte ich.
Er hielt mir seine warme, klebrige Hand hin, und in einer Geste von Kameradschaft nahm ich sie.