Falscher Fuffziger
Man weiß, dass man jung ist, wenn jemand einen um Geld bittet und man sich geschmeichelt fühlt.
»Du siehst ziemlich cool aus, kann ich dich was fragen?«
Das Mädchen war ein Hippie um die achtzehn, das vor dem Eingang des Lebensmittelgeschäfts im North-Hills-Einkaufszentrum bettelte. Sie trug eine Farmerbluse und Jeans mit weitem Schlag, sodass es so aussah, als hätte sie keine Füße. Dazu eine Großmutterbrille, Amulette und ein Perlenstirnband: Ich war überrascht, dass jemand mit so viel Stil ausgerechnet mich ansprach.
Ich war dreizehn in diesem Sommer. Meine Mutter war mit mir zum Kwik Pik gefahren, hatte mir einen Zehndollarschein in die Hand gedrückt und mich losgeschickt, eine Stange Zigaretten zu holen. Sie beobachtete, wie mich das Hippiemädchen ansprach, sah mich im Laden verschwinden und bekam auch mit, wie ich dem Mädchen beim Rausgehen einen Dollar in die Hand drückte.
»Was sollte das?«, fragte sie, als ich wieder im Wagen saß. »Wer war dieses Mädchen?«
Wäre ich mit meinem Vater unterwegs gewesen, hätte ich gelogen und gesagt, es sei eine Freundin, aber meine Mutter wusste, dass ich keine interessanten Freunde hatte, also sagte ich die Wahrheit.
»Du hast ihr nicht einen Dollar gegeben«, sagte sie. »Du hast ihr meinen Dollar gegeben.«
»Aber sie brauchte das Geld.«
»Wofür?«, frage meine Mutter. »Shampoo? Nadel und Faden?«
»Ich weiß nicht. Ich habe nicht gefragt.«
»Ich weiß nicht. Ich habe nicht gefragt.« Auf billige Art nachgeäfft zu werden, konnte man leicht wegstecken, aber meine Mutter war verdammt gut darin, Leute nachzumachen. Aus ihrem Mund klang ich verhätschelt und hohl, wie eine Perserkatze in der menschlichen Version. »Wenn du ihr einen Dollar geben willst, ist das deine Sache«, sagte sie. »Aber das war mein Dollar, und ich will ihn zurück.«
Ich bot ihr an, ihr den Dollar zu Hause zurückzugeben, aber das genügte ihr nicht. »Ich will nicht irgendeinen Dollar«, sagte sie. »Ich will genau den Dollar.«
Es war lächerlich, irgendeine besondere Bindung zu einem Dollarschein zu behaupten, aber für meine Mutter ging es hier ums Prinzip. »Es ist mein Dollar, und ich will ihn wiederhaben.«
Als ich ihr erklärte, dazu sei es zu spät, stieg sie aus und öffnete auf meiner Seite die Wagentür. »Na, das wollen wir doch mal sehen«, sagte sie.
Das Hippiemädchen blickte in unsere Richtung, und ich drückte mich tief in den Sitz. »Mom, bitte. Das kannst du nicht machen.« Es war eine brenzlige Situation, aber ich wusste, sie würde nicht so weit gehen, mich tatsächlich aus dem Wagen zu zerren. »Können wir das nicht anders regeln? Ich geb dir das Geld zurück, sobald wir zu Hause sind, Ehrenwort.«
Sie sah meine geduckte Haltung und stieg wieder an der Fahrerseite ein. »Du glaubst, jeder, der um Geld bittet, hat es auch nötig? Mein Gott, bist du naiv!«
Das Mädchen mit dem Dollar schien einen Trend losgetreten zu haben. Bei meinem nächsten Besuch im Kwik Pik sprach mich ein anderer Hippie an – diesmal war es ein Typ –, der vor der Eismaschine auf dem Boden hockte. Er sah mich kommen und hielt mir seinen Lederhut hin. »Sei gegrüßt, Bruder«, sagte er. »Meinst du, du kannst einem Freund aushelfen?«
Ich gab ihm die fünfzig Cent, von denen ich mir eine Cola und Kartoffelchips hatte kaufen wollen, und lehnte mich nicht weit entfernt an eine Säule, um den Hippie zu beobachten. Einige Leute, die cool waren und nichts abzugeben hatten, ließen es sich nicht nehmen, »tut mir Leid, Mann«, oder, »du weißt ja, wie das ist«, zu sagen. Der Hippie nickte wie bei einer vertrauten Musik, und die coole Person nickte ebenfalls. Die uncoolen Leute liefen schnellen Schritts vorbei, aber man sah, dass der Hippie irgendwie eine seltsame Macht auf sie ausübte. »Haste was Kleingeld über? ‘nen Zehner? ‘nen Fuffi?« Es war ein kleiner Betrag, an den sich eine große Frage knüpfte: »Sorgst du dich nicht um das Wohl deines Mitbruders?« Es half, dachte ich, dass er eine geradezu verblüffende Ähnlichkeit mit Jesus hatte, dessen Wiederkunft angeblich jeden Tag bevorstand.
Ich beobachtete ihn etwa eine halbe Stunde, dann kam der Kassierer raus und schwenkte seine Hände wie Staubwedel in der Luft. »Es geht nicht, dass du unsere Kunden anmachst«, sagte er. »Zieh Leine, Scott.«
Anmachen sagten nur junge Leute, und den Ausdruck von einem Erwachsenen zu hören klang ziemlich daneben und erinnerte mich an die Art, wie Cowboys in Filmen Amigo sagten. Ich wollte, dass der Hippie sich verteidigte und sagte, »reg dich ab, Mann«, oder, »wer macht hier wen an?«, aber er zuckte nur die Schultern. Beinahe elegant erhob er sich vom Boden und lief quer über den Parkplatz zu seinem Wagen, der wahrscheinlich seinen Eltern gehörte. Es tat nichts zur Sache, dass er vermutlich noch bei seinen Eltern wohnte, tagsüber das System kritisierte und jeden Abend daheim in ein weiches Bett fiel. Vielleicht hatte er meine fünfzig Cent für irgendwelchen Luxus ausgegeben – Räucherstäbchen etwa oder Gitarrensaiten –, aber das war nicht weiter schlimm. Er war der übelste Albtraum eines Erwachsenen, und abgesehen von dem Hut, wollte ich genauso sein wie er.
Zu diesem Zeitpunkt meines Lebens bekam ich immer noch Taschengeld, drei Dollar die Woche, das ich mit Babysitten und Aushilfsjobs in der Dorton Arena, einer Konzert- und Ausstellungshalle auf dem Jahrmarktsgelände, auffrischte. Wenn wir Glück hatten, trugen mein Freund Dan und ich weiße Jacken und kleine Papierhüte auf dem Kopf und arbeiteten hinter der Getränketheke. Wenn wir Pech hatten, was viel häufiger vorkam, latschten wir in dem gleichen blödsinnigen Aufzug sowie einem schweren Bauchladen um den Hals die Sitzreihen rauf und runter und verkauften Popcorn, Erdnüsse und verwässerte Cola, die wir als »eisgekühlte Getränke« anzupreisen hatten.
Im wirklichen Leben sagte kein Mensch Sachen wie »eisgekühlte Getränke«, aber unser Boss, Jerry, bestand darauf. Schlimmer noch, als es einfach zu sagen, mussten wir es laut durch die Gegend brüllen, wobei ich mir vorkam wie ein Straßenverkäufer oder ein Zeitungsjunge aus den Zwanzigern. Bei Heavy-Metal-Konzerten fielen wir nicht weiter auf, aber bei Countrymusicshows – so genannten Jamborees – beschwerten sich die Leute schon mal, wenn wir mitten in ihre Lieblingssongs hineinbrüllten: »Stand by your POPCORN, ERDNÜSSE, EISGEKÜHLTE GETRÄNKE«, »My woman, my woman, my POPCORN, ERDNÜSSE, EISGEKÜHLTE GETRÄNKE!!«, »Folsom prison POPCORN, ERDNÜSSE, EISGEKÜHLTE GETRÄNKE«. Die aufgebrachteren Fans liefen nach unten und beschwerten sich bei Jerry, der lediglich sagte: »Schicksal. Ich muss Geld verdienen.« Er beschimpfte die Beschwerdeführer als »einen Haufen knausriger Hinterwäldler«, was mich überraschte, da er selbst so etwas wie ein Hinterwäldler war. Allein der Ausdruck »knausrig« war ein deutliches Indiz dafür, genau wie sein Bürstenhaarschnitt und sein Fläschchen mit Asthmaspray, auf das er eine kleine amerikanische Flagge geklebt hatte.
»Vielleicht ist Hinterwäldler für ihn ein Kompliment«, sagte meine Mutter, aber das nahm ich ihr nicht ab. Viel wahrscheinlicher war, dass er einen gewaltigen Unterschied sah zwischen sich und den Leuten, die genau wie er aussahen und wie er handelten. Bei mir war es nicht anders, und wenn ich Jerry zuhörte, wurde mir bewusst, wie hohl mein eigenes Gerede klang. Wie kam ich, mit meiner Zahnspange und dem schwarzen Brillengestell mit den dicken Gläsern, dazu, andere als uncool zu bezeichnen? »Oh, du siehst prima aus«, sagte meine Mutter. Sie wollte mein Selbstvertrauen stärken, aber für die Mutter gut auszusehen hieß, dass ganz bestimmt etwas faul war. Ich wollte, dass sich ihr bei meinem Anblick der Magen umdrehte, aber im Augenblick waren mir die Hände gebunden. Nach den geltenden Familienregeln durfte ich mir erst mit sechzehn die Haare lang wachsen lassen, das gleiche Alter, in dem meine Schwestern sich die Ohrläppchen durchstechen lassen durften. Meinen Eltern schien das einleuchtend, aber Ohrläppchen durchzustechen ist eine Sache von Minuten, während man für einen anständigen Pferdeschwanz Jahre braucht. Wie es aussah, würde ich allein Monate brauchen, bis ich Dan eingeholt hatte, dessen Mutter vernünftig war und sich nicht mit irgendwelchen sinnlosen Altersbeschränkungen in sein Aussehen einmischte. Er hatte dichtes, in der Mitte gescheiteltes glattes Haar, dessen honiggelb gefärbte Strähnen von den Ohren gehalten wurden und wie zwei schwere Vorhänge bis auf die Schultern fielen.
Seit der vierten Klasse waren wir immer die Außenseiter gewesen – die Wald-und-Wiesen-Heinis, die Spastiker –, aber mit seiner neuen Frisur zog Dan davon, hing mit coolen Leuten von seiner Privatschule herum und hörte bei ihnen zu Hause Schallplatten. Wenn ich jetzt jemanden eine Lusche nannte, sah er mich mit dem gleichen Blick an, mit dem ich Jerry angesehen hatte – armer Irrer –, und ich begriff, dass unsere Freundschaft zu Ende ging. Jungen durften sich von solchen Dingen nicht unterkriegen lassen, deshalb verkroch ich mich in eine stille Eifersucht, die immer schwerer zu verheimlichen war.
Die große Kirmes kam in diesem Jahr Mitte September zu uns, und die Getränkemannschaften pendelten zwischen Konzerten in der Arena und kleineren Veranstaltungen auf dem Speedway hin und her. Dan und ich machten uns für das erste Serienwagenrennen fertig, als Jerry verkündete, anstatt Cola würden wir Lightbier in Dosen verkaufen.
Lightbier unterschied sich von richtigem Bier durch den Alkoholgehalt. Bier hatte welchen, Lightbier so gut wie keinen. Es schmeckte nach Haferflocken mit Kohlensäure, aber Jerry hoffte, die Käufer würden sich von dem Etikett täuschen lassen, das nach Alkohol und harten Männern aussah. »Der Verstand kann einem einen Bären aufbinden«, sagte er.
Vielleicht hatte er Recht, aber der Verstand, der eine Zuckerpille für ein Aspirin hielt, war nicht die Sorte Verstand, der man bei einem Serienwagenrennen in North Carolina begegnete. Unsere ersten Vorräte waren wir ruck zuck los, aber als wir mit Nachschub anrückten, hatten die Leute Wind von der Sache bekommen. »Von wegen Bier«, brüllten sie. »Das ist Betrug.«
»Die Wirkung setzt ein, sobald es heiß wird«, sagte Jerry, aber niemand glaubte ihm.
Zwischen dem ersten und dem zweiten Rennen lag eine Stunde Pause, in der ich mit Dan über den Jahrmarkt schlenderte und an eine Wildlederweste dachte, die ich in der Woche zuvor bei J.C. Penny gesehen hatte. Die Verkäuferin hatte die Farbe als »maskulines Kirschrot« bezeichnet, und von der Schulter fielen Lederfransen herab wie bei einer Ponyfrisur. Achtzehn Dollar waren viel Geld, aber mit so einer Weste blieb man nicht unbemerkt. In Kombination mit einem Rollkragenpulli oder einem passenden Buttondownshirt konnte man aller Welt zu verstehen geben, dass man sensibel und ein Kämpfer für den Frieden war. Die Weste über der nackten Brust getragen hieß, lange Haare hin oder her, dass man ein Leben in verwegenen Regionen führte, die sich am besten mit »da draußen« beschreiben ließen. Ich hatte gehofft, das Geld zusammenzubekommen, wenn ich das ganze Wochenende über arbeitete, aber mit dem Lightbier konnte man die Sache so gut wie vergessen. Ich würde sie auf meinen Wunschzettel zu Weihnachten setzen müssen, was den Reiz ganz entschieden dämpfte. In Geschenkpapier eingewickelt und mit der Aufschrift »Vom Weihnachtsmann« wäre sie nicht länger hip und gefährlich, sondern eher das genaue Gegenteil.
Die Zuschauertribüne füllte sich für das zweite Rennen, und wir machten uns wieder auf den Weg zum Speedway, als ich zwei spießig gekleidete Jungen sah, die das Riesenrad bestaunten. Sie sahen so aus wie ich, waren allerdings ein bisschen jünger, Brüder vielleicht, und sie trugen beide die gleiche Brille mit schwarzem Gestell, das von einem Gummiband festgehalten wurde. Ich sah, wie sie mit offenen Mündern in die Luft starrten, und im gleichen Moment sah ich meine rote Wildlederweste.
»Etwas Kleingeld übrig?«
Die Brüder sahen sich und dann wieder mich an. »Okay, einen Moment«, sagte der Ältere. »Gene, gib ihm etwas Kleingeld.«
»Warum ich?«, fragte Gene.
»Weil ich es sage, deshalb.« Der ältere Bruder zog seine Brille ab und rieb sich mit dem Finger über die wunde Stelle auf der Nasenwurzel. »Du bist ein Hippie, richtig?« Er sagte es so, als wandelten Hippies, genau wie Kanadier und Methodisten, still und leise unter uns, unerkennbar für das bloße Auge.
»Natürlich ist der ein Hippie«, sagte Gene. »Sonst würde er ja nicht andere Leute belästigen.« Er kramte in seinem Kleingeld herum und gab mir ein Zehncentstück.
»Tausend Dank«, sagte ich.
Es war die einfachste Sache der Welt. Dan arbeitete auf der einen Seite des Riesenrads, ich auf der anderen. Wir fragten die Leute nach Geld, wie man nach der Uhrzeit fragte, und wenn jemand was gab, bedankten wir uns mit dem Peacezeichen oder einem verstohlenen Nicken, das bedeutete: »Ich bin froh, dass du weißt, wo ich herkomme.« Erwachsene waren meist zugeknöpft und misstrauisch, sodass wir uns an Leute in unserem Alter hielten und uns vor allem auf die unverkennbar von auswärts kommenden Besucher konzentrierten, die von Hippies gehört, aber noch nie einen zu Gesicht bekommen hatten. Die Leute gaben was, oder sie gaben nichts, aber niemand fragte, wofür wir das Geld brauchten oder warum zwei offenbar gut versorgte Teenager wildfremde Menschen um Geld baten.
Das war Freiheit, und um das Gefühl noch zu vergrößern, arbeiteten wir uns zurück zum Speedway, wo Jerry sich inzwischen auf das dritte Rennen vorbereitete. »Euch sollte man kräftig in den Arsch treten«, sagte er. »Einfach so zu verschwinden, behandelt man so einen Freund?« Er drückte uns unsere Arbeitskleidung in die Hand, die wir gleich wieder auf die Theke warfen und verkündeten, wir hätten einen einfacheren Weg gefunden, an Geld zu kommen.
»Dann zieht Leine«, sagte er. »Und kommt mir bloß nicht wieder angekrochen. Falsche Fuffziger kann ich nicht gebrauchen.«
Der Ausdruck bescherte uns noch viel Freude. Einmal mehr daran erinnert, wie bescheuert man mit einem Pappdeckel auf dem Kopf aussah, gingen Dan und ich wieder auf Betteltour. Zwischendurch klopften wir uns abwechselnd auf die Schultern und sagten: »Na, falscher Fuffziger, du glaubst vielleicht, du könntest bei mir landen, aber da hast du dich geschnitten.« Im Verlauf des Nachmittags ersetzten wir Falscher Fuffziger durch Hippie, wodurch wir uns einreden konnten, Jerry hätte uns nicht deshalb gefeuert, weil wir ihn sitzen gelassen hatten, sondern weil wir frei waren und die Zeichen der Zeit erkannt hatten. Es machte nichts, dass wir nie wieder für ihn arbeiten würden, denn die Tage lagen hinter uns. Alle Arbeit lag hinter uns.
Gegen fünf hatte ich genügend Geld für meine Weste erbettelt, aber Dan und ich waren auf den Geschmack gekommen und wollten noch weitermachen. Es wurden Pläne geschmiedet für Stereoanlagen und Klappfahrräder, was immer man haben wollte, bar bezahlt in lauter Zehncentstücken. Dann wurde es dunkel, und der Rummelplatz erstrahlte im bunten Lichterglanz. Die frühen Abendstunden waren ausgesprochen einträglich, aber dann wechselte das Publikum, und die Atmosphäre wurde ruppiger.
»Etwas Kleingeld übrig?«
Der Kerl, an den ich mich gewandt hatte, trug einen zarten Flaum auf der Oberlippe, kaum mehr als ein paar Dutzend Härchen, und sein Mund war nicht größer als der eines Neugeborenen.
»Was hast du gesagt?«, fragte er.
Ich wollte gehen, doch er riss mich im gleichen Moment herum, und ich sah seine Armyjacke, kein altes, abgewetztes Teil aus dem Secondhandladen, sondern nagelneu, wie man sie sich zum Eingewöhnen kauft, wenn man vorhat, zur Armee zu gehen.
»Hast du mit mir gesprochen, Vogelscheuche?« Sein Mund war jetzt größer. »Hast du irgendwas zu mir gesagt?«
Ein zweiter Junge trat hinzu und legte dem aufgebrachten Typen eine Hand auf die Schulter. »Komm schon, Kurt«, sagte er. »Lass gut sein.«
»Du hast vielleicht nicht mitbekommen, worum’s hier geht«, sagte Kurt, »aber der Komiker hier hat mich angequatscht.« Er ereiferte sich, als hätte ich ihm ins Maul gepinkelt. »Ich meine, der hat tatsächlich was zu mir gesagt.«
Zwei weitere Kumpel, die bereits vorausgegangen waren, kamen zurück, um zu sehen, was los war, und ließen sich mit verschränkten Armen die Situation von Kurt erklären. »Ich gehe hier einfach so rum, und dann kommt dieses Stück Scheiße und labert mich an. Quatscht mich an, als würden wir uns kennen, dabei kennen wir uns gar nicht. Verdammt, keiner kennt mich.«
Wenn eins noch schlimmer ist als ein Fünfundzwanzigjähriger mit einem Vietnamflashback, dann ein Vierzehnjähriger mit einem Vietnamflashforward. Ich drehte mich nach Dan um und sah ihn in der Menge verschwinden, als Kurts Faust auf mein Ohr krachte, den Bügel meiner Brille zerbrach und sie zu Boden segelte. Der zweite Schlag streifte meine Oberlippe, beim dritten waren seine Freunde zur Stelle, hielten Kurts Arme fest und sagten: »Hey, Mann, lass gut sein. Der Typ ist es nicht wert.«
Ich schmeckte das Blut auf meiner Lippe. »Sie haben Recht«, sagte ich. »Ich bin’s nicht wert. Ich schwör’s. Du kannst jeden hier fragen.«
»Er soll gefälligst nicht blöd Leute anquatschen, wenn er nicht weiß, wen er verdammt noch mal anquatscht«, sagte Kurt. »Beim nächsten Mal bring ich ihn um. Ich schwör’s euch.«
»Sicher, Kumpel. Sicher.« Kurts Freunde führten ihn weg. Kurz darauf kam noch mal einer zurück und drückte mir einen Dollar in die Hand. »Du bist cool, Mann«, sagte er. »Was Kurt getan hat, war falsch. Er dreht manchmal etwas durch, aber ich weiß, wo du herkommst. Ich bin auch für den Frieden.«
»Ich weiß«, sagte ich, »und ich bin dir dankbar dafür.«
Es war das erste Mal, dass jemand mir einen ganzen Dollar gegeben hatte, und ich überlegte, dass, wenn ich mich zwanzigmal am Tag zusammenschlagen ließ, ich richtig Geld machen würde. Dann sah ich meine zerbrochene Brille, und die Idee war gestorben. Ich hob sie vom Boden auf, als Dan ankam und so tat, als habe er von allem nichts mitbekommen. »Was ist denn mit dir los?«
»Tu nicht so«, sagte ich.
»Tu nicht wie?« Er biss sich auf die Unterlippe, um nicht lachen zu müssen, und in dem Augenblick wusste ich, dass es mit unserer Freundschaft aus war.
»Ruf deine Mutter«, sagte ich. »Ich will hier weg.«
Es gab eine Million Möglichkeiten, sich auf der Kirmes eine Schramme zu holen, und als meine Mutter fragte, was mit meiner Lippe passiert sei, erklärte ich ihr, ich sei bei der Fahrt mit dem Hullygully auf den Sicherheitsbügel geknallt.
»Bist du nicht ein bisschen zu alt dafür?«, fragte sie. Sie hatte das Hullygully mit den sich drehenden Tassen und Tellern für die Vorschulkinder verwechselt. In ihrer Vorstellung hatte sie mich eingezwängt in einer fliegenden Teetasse gesehen.
»Mein Gott«, sagte ich. »Wofür hältst du mich?«
Sie sagte, sie würde meine Brille reparieren lassen, wehrte aber gleich ab, als ich um eine neue bat.
»Aber mit der sehe ich aus wie ein Komiker.«
»Klar doch«, sagte sie. »Dafür hat man schließlich eine Brille.«
Eigentlich wollten Dan und ich am Sonntagmorgen wieder zur Kirmes, aber als er vor der Tür stand, schickte ich ihn weg und sagte, mir ginge es nicht gut. »Ich glaube, ich habe die Grippe.«
»Hast dir wahrscheinlich irgendwo kalte Füße geholt«, sagte er und versuchte erneut nicht zu lachen. So verhielt man sich gegenüber Leuten, die weit unter einem standen und die zu blöd waren, den Witz zu verstehen, und es war noch viel schlimmer, als es direkt gesagt zu bekommen. Er ging die Auffahrt hoch, und ich musste wieder an den vorherigen Abend denken und was ich gesagt hatte, nachdem Kurt mir die Schläge verpasst hatte. Zuzugeben, dass ich es nicht wert war, von ihm geschlagen zu werden, war schlimm genug, aber musste ich auch noch hinzufügen, er könne es sich von allen Seiten bestätigen lassen? Du kannst jeden hier fragen. Kein Wunder, dass er beinahe noch mal ausgeholt hatte.
Spätabends klopfte Dan an mein Schlafzimmerfenster. »Rate mal, wer heute vierundvierzig Dollar eingesackt hat?«, sagte er. Er zog die zu einem bescheuerten Fächer zusammengefalteten Scheine mit einem Ruck hinter seinem Rücken hervor.
»Ach, komm. Du hast niemals vierundvierzig Dollar kassiert.« Ich bestritt es nur aus Prinzip, obwohl ich genau wusste, dass er vierundvierzig Dollar eingenommen hatte. Am nächsten Wochenende, wenn seine Haare noch ein Stück gewachsen waren, würde er wieder auf die Kirmes gehen und noch mehr verdienen. In kürzester Zeit würde er Ponchos tragen, im Schneidersitz vor kunstvollen Wasserpfeifen aus Messing sitzen, und unsere Freundschaft käme ihm so fern und unbedeutend vor wie eine alte Zahlenschlosskombination. »Ihr zwei habt euch einfach auseinander gelebt«, würde meine Mutter wenig später sagen. Sie sagte es so, als hätten wir uns in verschiedene Richtungen bewegt, dabei hatten wir ein und dasselbe Ziel. Nur kam ich nie dort an.
Wie sich herausstellte, war die Weste nicht aus Wildleder, sondern aus einer Art Baumwollsamt. Es war eine Enttäuschung, aber nachdem ich für sie gelitten hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als sie zu kaufen. Von dem restlichen Geld erstand ich eine Hüfthose aus blauem Kord, die in Kombination mit der roten Weste und einem weißen Hemd ein klasse ironisches Statement abgab. Ich liebe Amerika. Yeah, und wie!
»Versprich mir, nie in dem Aufzug auf die Straße zu gehen«, sagte meine Mutter. Ich hielt es für eine gewisse Art von Neid. Sie hatte ihre Jugend längst hinter sich und verstand nichts mehr von Stil. Deshalb konnte sie es nicht gut haben, dass ich Spaß an Dingen hatte, die ihr abgingen.
»Könntest du bitte aufhören, mich anzumachen?«, sagte ich.
»So so, da fühlt sich wer angemacht?« Sie seufzte und füllte sich ein Glas Wein aus dem Fünfliterkanister in der Vorratskammer ein. »Nur zu, Uncle Sam«, sagte sie. »Lass dich nicht aufhalten.«
Meinen ersten Auftritt hatte ich vor dem Kwik Pik, wo ich erneut dem Hippiemädchen über den Weg lief. Sie bettelte diesmal nicht, sondern stand da mit einer Freundin und rauchte. Ein bisschen abhängen. Als ich an ihr vorbeiging, nickte ich ihr zu, und sie rief mir Teenybopper hinterher, was bedeuten sollte, dass sie mein Outfit für bloße Angabe hielt. Dann fingen beide laut an zu lachen, und ich spürte die stechende Schmach, die einen Vierzehnjährigen überfällt, der erkennt, dass seine Mutter Recht hatte.
Ich wollte unter keinen Umständen noch einmal an dem Hippiemädchen vorbeimüssen, also blieb ich im Kwik Pik, solange es eben ging, bis mich der Geschäftsführer vor die Tür setzte. Wie konnte es sein, dass man sich einen Moment lang todschick vorkam und im nächsten am liebsten in der Kühltruhe seines Lebensmittelhändlers verschwunden wäre und sich unter den Fleischpasteten versteckt hätte, bis man jenes geheimnisvolle Alter erreicht hatte, in dem ein Mensch selbstständig denken kann? Es wäre so friedvoll, mehr ein leiser Schlummer als ein tatsächlicher Schlaf.
Ab und an würde man aufwachen und mitkriegen, dass es wieder einen neuen Stil gab. Der Shagtanz kam auf. Bärte waren abgemeldet. Man sähe die Welt wie aus dem Fenster eines fahrenden Busses und spränge in dem Augenblick hinaus, den man instinktiv als seine Zeit erkannte. Es wäre der Zeitpunkt, an dem man ohne jede Anstrengung einfach man selbst sein und zugeben könnte, dass man Countrymusic mochte oder sich schon vor dem bloßen Gedanken gruselte, das eigene Haar im Nacken zu spüren. Man könnte sich nach Belieben kleiden und tun und lassen, was man wollte, und wenn einem danach war, auch den ganzen Tag im Kwik Pik verbringen. Beim Hinausgehen käme man an einer Frau in einem langen Rock vorbei, dessen Paisleymuster an Keime unter dem Mikroskop erinnerte. Ein Perlenstirnband, eine schmale Nickelbrille. Sie würde um etwas Kleingeld bitten, und man würde lachen, nicht gehässig, sondern höflich und leise, als hätte sie einen Witz erzählt, den man bereits kannte.