Der Sexskandal von St. Pölten

Die Ernennung von Kurt Krenn zum Bischof von St. Pölten im Jahr 1991 war ein wichtiges Sympathiezeichen des damaligen Papstes und vor allem dessen Privatsekretärs Dziwisz, der eng mit Krenn befreundet war, an die Ultrakonservativen. Galt Krenn, der immer wieder durch seine verbalen Attacken gegen Andersdenkende, andere Religionen, Frauen, Homosexuelle und die Demokratie aufgefallen war, doch als einer der profiliertesten erzkonservativen Kirchenmänner in Österreich. Zeitweise dachte man in Rom ernsthaft daran, ihn zum Nachfolger Kardinal Königs als Erzbischof von Wien zu machen und damit auch zum Kardinal zu ernennen. Gruppierungen aus dem rechtskonservativen Milieu, die es in anderen Diözesen schwer hatten, wie etwa das Engelwerk oder die »Diener Jesu und Mariens«, nahm Krenn großzügig in seiner Diözese auf. Antisemitische Traditionen wie der Anderl-Kult erfreuten sich seines besonderen Wohlwollens. Sein Priesterseminar wurde dadurch zum Anziehungspunkt für zahlreiche ebenfalls extrem konservative junge Männer aus ganz Europa.

Ich bekam indirekt mit dem Skandal von St. Pölten zu tun, und das nicht nur durch meine Lehrtätigkeit am Seminar der »Diener Jesu und Mariens«, wo ich in jenem Jahr noch Arbeiten von Studenten betreute. Am Nachmittag des 11. Juli 2004 erreichte mich die E-Mail eines namentlich nicht identifizierbaren Absenders mit der Aufforderung, mir die angehängten Fotos anzusehen und zu überlegen, ob solch ein Mitarbeiter für die Zeitschrift Theologisches noch tragbar sei.

Insgesamt waren der seltsamen Nachricht vier Fotografien angehängt. Die ersten beiden zeigten einen Mann, einmal mit T-Shirt, einmal mit römischem Priesterkragen, der einem jüngeren, aber erwachsenen Mann in Zivilkleidung in den Schritt fasste. Beide Männer waren mir unbekannt. Später erfuhr ich, dass es sich bei dem aktiven Herrn um den damaligen Regens des Priesterseminars von St. Pölten und Propst des Stiftes Eisgarn handelte, der sich sonst eher sehr fromm im vollen Barockornat mit Mitra fotografieren ließ.

Auf den anderen beiden Fotos waren zwei Männer in Priesterkleidung zu sehen, die sich einmal umarmten und auf der anderen Fotografie einen innigen Zungenkuss gaben. Einen der beiden Geistlichen kannte ich. Er war einer der wichtigen Autoren von Theologisches, zu jener Zeit Subregens des Priesterseminars der Diözese St. Pölten und enger Vertrauter Bischof Krenns. Schon bei meinem Amtsantritt hatten mir die Herren der Fördergemeinschaft nahegelegt, dessen Mitarbeit an der Zeitschrift zu fördern. Spielte er doch nicht nur eine zentrale Rolle in der Diözese St. Pölten, sondern hatte auch beste Beziehungen in die Ewige Stadt, wo er bei einem guten Freund und Professor an der Opus-Dei-Universität in Kirchenrecht promoviert hatte. Dessen Name sagte mir damals noch nicht viel: Er hieß Georg Gänswein, war Mitarbeiter bei der Glaubenskongregation und schon zu der Zeit hauptsächlich privater Sekretär von Joseph Ratzinger.

Ich wunderte mich natürlich sehr, dass die sonst weniger naiv wirkenden geistlichen Regenten solche Fotos zugelassen hatten - später fanden Kriminalbeamte bei einer Hausdurchsuchung im Seminar dann mehr als 40000 schwule Pornobilder und Kindersexdateien. Allerdings habe ich in keinem Pressebericht darüber gelesen, dass die beiden geistlichen Herren auch dort abgebildet waren. Diese Dateien befanden sich auf einem öffentlich zugänglichen Computer. Ihre genaue Herkunft ist bis heute ungeklärt, so dass auch eine juristische Klärung ausblieb. Im weiteren Verlauf des Skandals spielten die Kindersexdateien erstaunlicherweise kaum noch eine Rolle. Dafür wurden die beiden Seminarleiter in Medienberichten stark belastet. Mir hatte Kardinal Scheffczyk schon ein Jahr zuvor von den einschlägigen Sorgen berichtet, die er sich im Hinblick auf St. Pölten mache, zumal wegen der Zustände im dortigen Priesterseminar. Er erwähnte auch, dass er Bischof Krenn, seinen langjährigen Kampfgefährten für eine traditionelle Kirche, mehrmals darauf angesprochen habe. Dieser mache aber einen kranken Eindruck, sei in der Sache völlig beratungsresistent und wolle sich nicht von den Verantwortlichen im Seminar trennen. Auch der damalige Kardinal Ratzinger muss schon lange vorher von solchen Problemen gewusst haben, die er aber offenbar diskret lösen wollte, indem er sich - Krenn zufolge - Ende 2003 um einen Rücktritt Krenns von seinem Bischofsamt bemühte. Wäre Ratzinger damals mit seiner Strategie des Unter-den-Teppich-Kehrens erfolgreich gewesen, wäre der Diözese vermutlich der Skandal erspart geblieben, eine echte Lösung der Probleme hätte man freilich dadurch noch weniger erreicht.

Eine Reaktion meinerseits auf die Fotos war nicht nötig, denn schon am nächsten Vormittag hatten viele andere Medien sie ebenfalls bekommen, und die österreichische Zeitschrift Profil brachte eine umfangreiche Reportage zu den Vorgängen in St. Pölten. Kurz darauf berichtete die ganze europäische Presse von dem Sexskandal im Seminar von Kurt Krenn, dem österreichischen Lieblingsbischof des Papstes.

Obwohl die Sache also in konservativen Kirchenkreisen, besonders auch an führenden Stellen im Vatikan, längst bekannt war, zeigte man erst, nachdem sich der Fall zum öffentlichen Skandal ausgewachsen hatte, erkennbare Reaktionen. Von Rom wurde rasch eine Untersuchung der Vorgänge angekündigt, der Fall aber der Zuständigkeit Krenns entzogen. Dieser sah in den Handlungen seiner engsten Vertrauten nur belanglose »Buben-Dummheiten«, [44] die man nicht so hoch hängen solle. Krenn, der über viele Jahrzehnte in der katholischen Kirche Karriere gemacht hatte, wird gewusst haben, dass es sich bei den Vorfällen um seine Vertrauten nicht um irgendwelche Ausnahmen handelte, sondern um etwas, das unter katholischen Klerikern sehr verbreitet ist - und nun dummerweise fotografiert und publik gemacht worden war.

Früher wurden in solchen Fällen die Dominikaner von der Inquisition beauftragt, heute sind dafür die Opus-Die-Leute zuständig. So wurde der Feldkircher Bischof Klaus Küng eifrig tätig und untersuchte zusammen mit dem Kirchenrechtler Alexander Pytlik, damals Vizeoffizial von Bischof Mixa in Eichstätt, die Vorgänge. In der Sprache des Kirchenrechts nennt sich eine solche Untersuchung »Visitation«. Pytlik gilt in Kirchenkreisen als Fachmann für derart delikate Aufgaben; im Sommer 2010 begleitete er auch Bischof Mixa zur Audienz bei Benedikt XVI., die dessen Rückzug endgültig besiegelte.

Obgleich der Visitationsbericht zu den Vorgängen in St. Pölten streng geheim war, wurden wichtige Teile daraus durch Indiskretionen bekannt. Die sonst eher auf der Seite Bischof Krenns stehende Zeitschrift Der 13. berichtete nach Abschluss der Visitation am 13. Dezember 2004, was mir erst jüngst aus erster Hand ausdrücklich als zutreffend zitiert bestätigt wurde: »Es gibt eine Unmenge Dekrete und Verwarnungen Küngs, die zum Teil ihren Weg sogar in die Öffentlichkeit gefunden haben.« Die beiden Priester wurden demnach ermahnt, ihre »kirchlichen Amtshandlungen nicht durch Unklugheit in den Dienst homosexueller Beziehungen zu stellen«. Die Ermahnung verlange auch, »keine homoerotisch wirkenden Dinge beziehungsweise ein zweideutig unkluges Verhalten gegenüber anderen Männern zuzulassen«, oder verbiete gar, »eine homosexuelle Beziehung fortzuführen oder zu beginnen oder homosexuelle Lokale zu besuchen«. Die Ermahnten sollten außerdem eine gewählte Alltagssprache pflegen, und diese Sprache sollte immer von der Liebe zum Nächsten getragen sein.

Auch wenn es sich hier nur um jugendfreie Ausschnitte aus dem nach Rom gegangenen Visitationsbericht handelt, lassen sich daraus sehr gut Rückschlüsse auf das ziehen, was sich in jenen Jahren im Priesterseminar St. Pölten zugetragen hat.

Als Folge des Skandals musste das zuvor noch als enorm erfolgreiches und zugleich konservativstes katholisches Priesterseminar Europas gefeierte und von Papst Johannes Paul II. lobend erwähnte Haus geschlossen werden. Krenn wurde in seinem Bischofsamt durch den Visitator Klaus Küng abgelöst, der eine der beiden beschuldigten Seminarleiter wurde seines Amtes enthoben, und auch der andere erhielt »endgültig« Berufsverbot. Oder in der Sprache des katholischen Kirchenrechts, er wurde suspendiert.

Die Fördergemeinschaft von Theologisches beschloss darüber hinaus, dem betroffenen Autor ein Publikationsverbot für die Zeitschrift zu erteilen. So wertvoll seine Mitarbeit unter inhaltlichen Aspekten immer gewesen sei, als suspendierter Priester sei er unter keinen Umständen mehr als Autor tragbar. Federführend bei der Durchsetzung dieses Publikationsverbotes waren erwartungsgemäß aus dem Opus Dei stammende Mitglieder der Fördergemeinschaft. Ich enthielt mich damals bei der nicht geheimen Abstimmung der Stimme, weil ich der Überzeugung bin, dass man Inhaltliches von Persönlichem gerade in der Wissenschaft streng trennen sollte.

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