In die Ecke stellen und schämen
Die Gespräche bei den Herrenabenden drehten sich um die verschiedensten Themen. So tauschte man sich beispielsweise genüsslich über das Privatleben von Bischöfen aus, die nicht dem rechten Spektrum zuzuordnen waren. Über Verhältnisse zu Sekretärinnen und Sekretären oder Alkoholprobleme redete man mit einer Mischung aus Entsetzen und Genugtuung. Die ökumenischen und interreligiösen Initiativen Papst Johannes Pauls II. waren Anlass für heftigste Papstschelte, die zudem - bei den vielen kämpferischen Heimatvertriebenen, die immer anwesend waren, nicht verwunderlich - häufig mit dem Hinweis auf seine polnische Herkunft garniert wurde. Auch der Spruch, man habe großes Verständnis für die Sedisvakantisten, die bezweifelten, dass ein progressiver Papst überhaupt noch wirklich Papst sei, machte eifrig die Runde. Er kam sogar von geistlichen Herren, die sich sonst gerne mit päpstlichen Ehrentiteln schmückten. Und dann immer wieder die Klagen über die politische und gesellschaftliche Lage. Die großen Medien seien ausnahmslos links und von Homosexuellen unterwandert. Die CDU sei für einen aufrechten Deutschen und Katholiken nicht mehr wählbar, weil sie zu einer halbsozialistischen Abtreibungs-, Emanzen- und Homo-Partei geworden sei.
Die homophoben Äußerungen sind mir natürlich besonders gut in Erinnerung geblieben. An erster Stelle stand da die Angst vor der Unterwanderung der Kirche durch Netzwerke von homosexuellen Priestern. Eine Phobie, der ich auch in anderen konservativen Gesprächsrunden immer wieder begegnete. So etwa bei einem Mittagessen, zu dem der Herausgeber der Kirchlichen Umschau seine Mitarbeiter geladen hatte. Anwesend war auch ein Autor, der sich als »Vatikanist« bezeichnet und über Geschichte und Organisation des Vatikanstaates schreibt. Er erzählte blumig von seinem Aufenthalt im Priesterseminar des Päpstlichen Nordamerika-Kollegs in Rom. Dort habe er so viele ihre Sexualität offen auslebende Homosexuelle angetroffen, dass er aus Angst vor Übergriffen nicht wie geplant im Seminar übernachtet habe, sondern noch spät in der Nacht geflohen sei. Ohne konkrete Anhaltspunkte galt in all diesen Gesprächen als ausgemachte Wahrheit, dass die »gefährlichen schwulen Geheimkreise«, die bis in den Vatikan hineinreichten, gezielt versuchten, die Kirche in einen »Homosexuellenverein« zu verwandeln. Die »laschen« Aussagen des neuen Katechismus der Katholischen Kirche zur Homosexualität, die auf das Konto des Wiener Kardinals Schönborn gingen (ironisches Lächeln), seien ein wichtiger Etappensieg dieser »unappetitlichen Parasiten«.
Wie sehr sich diese Phobie vor einer homosexuellen Geheimverschwörung, die auch von der Politik nicht selten als Vorwand für die Verfolgung Homosexueller benutzt wurde, auch in der offiziellen Amtskirche durchgesetzt hat, zeigt die von Klaus Küng, dem Bischof von St. Pölten und Opus-Dei-Mitglied, immer wieder vorgetragene diesbezügliche Besorgnis. In einem Interview mit der katholischen Zeitung Tagespost vom 23. Mai 2010 wird der Bischof auf die im Klerus umgehende Angst vor der Verschwörung durch homosexuelle Netzwerke in der Kirche angesprochen. Darauf antwortet er: »Wenn in einem Seminar, in einem Kloster solche Netzwerke entstehen, kann das zu einer großen Bedrohung für das Seminar, für das Kloster, für eine Diözese werden, weil sich eine Atmosphäre bildet, die ganz bestimmte Personen anzieht, andere dagegen abstößt zum großen Schaden der Seelsorge. Seminare und Klöster können dadurch geradezu existenziell bedroht werden.« Sollte ein Bischof so etwas bemerken, müsse er zu einer »radikalen Lösung« greifen, z.B. der Schließung des Seminars. [22] Warum es jemanden »abstoßen« sollte, wenn er in einer Gemeinschaft lebt, in der es auch mehrere Homosexuelle gibt, erklärt Küng nicht. Das setzt er anscheinend als selbstverständlich voraus.
In den erzkatholischen Netzwerken, zu denen ich Kontakt hatte, wurde immer wieder behauptet, letztes Ziel dieser geheimen Verschwörungen sei die Errichtung einer modernistischen, protestantisierten Kirche. Da ich damals schon viele homosexuelle Priester kannte und wusste, dass die meisten von ihnen eher konservativ waren und nichts weniger wünschten als eine Protestantisierung des Gottesdienstes, konnte ich mir in solchen Situationen ein leises Lachen nicht verkneifen.
Das Lachen sollte mir aber bald vergehen. Man echauffierte sich nämlich nicht nur über klerikale Homosexualität, sondern zeigte sich noch viel entsetzter über die »Zurschaustellung dieser gotteslästerlichen Perversionen« auf den Christopher-Street-Tagen. Das eigentlich himmelschreiend Schlimme an der heutigen Situation sei nicht so sehr; dass es so etwas wie homosexuelle Tendenzen gebe, sondern dass man die »Homo-Unzucht« in aller Öffentlichkeit zelebriere, bereits Kindern und Jugendlichen in der Schule als »normal« darstelle und sie sogar noch staatlich fördere. Insgesamt sei dies auch Ausdruck einer immer weiter voranschreitenden »Verweiblichung« der Gesellschaft.
Was in den Beichtstuhl gehöre, werde in nicht zu überbietender Geschmacklosigkeit in die Öffentlichkeit getragen, meinte dazu ein Münsteraner Studiendirektor. Nachdem die 68er-Revolution alle Schranken niedergerissen habe, sei nun selbst im Hinblick auf die Homosexualität keine Spur von Scham mehr zu erkennen.
»Statt sich in eine Ecke zu stellen, sich zu schämen und ganz einfach die Fresse zu halten, gebärden sie sich wie wildgewordene Schweine«, ereiferte sich ein emeritierter Universitätsprofessor an einem der Herrenabende bei Tisch. Das führe dazu, dass die Grundfesten unseres Moralsystems, das im Naturrecht und in der Familie wurzele, untergraben würden. Andererseits verhindere es auch, dass man diesen unglücklichen Menschen medizinisch-psychologische Hilfe leiste, um wieder »normal« zu werden. Irgendwann hatte man sich gegenseitig so hochgeschaukelt, dass am Tisch offen ausgesprochen wurde, was wohl die meisten dachten: Man könne über das Dritte Reich denken, was man wolle, dort jedenfalls habe es noch einen § 175 gegeben, und man habe das Problem zu lösen verstanden. Hier wurde also jener Paragraph des damaligen Reichsstrafgesetzbuches gelobt, mit dessen Hilfe die Nationalsozialisten bereits »beischlafähnliche« homosexuelle Handlungen mit Zuchthaus bestraften und tatsächliche homosexuelle Akte mit der Internierung in Konzentrationslagern, was häufig gleichbedeutend war mit Tod. Wie sehr sich solche Positionen in bestimmten katholischen Kreisen seither durchgesetzt haben, zeigt die Tatsache, dass die Piusbruderschaft 2009 auf ihrer Internetseite ganz unverblümt und in aller Öffentlichkeit eine Wiedereinführung dieses Paragraphen in seiner von den Nationalsozialisten verschärften Form forderte.
Wie so viele schwule Theologen in ähnlichen Situationen schwieg ich damals zu all diesen Äußerungen und fühlte mich entsprechend schlecht. Mir schlug das Ganze sogar derart auf den Magen, dass ich mich früher als geplant entschuldigte und nach Hause fuhr. Meine überstürzte Abreise und mein Schweigen provozierten offensichtlich das Misstrauen meiner Zuhörer und derer, mit denen anschließend darüber gesprochen wurde. Immer wieder und immer häufiger ließ man sich fortan in meiner Gegenwart über das Thema Homosexualität aus, wohl um eine Reaktion meinerseits zu provozieren.