Herz Jesu und Part pour l’art
Einen meiner ersten größeren Vorträge im Rahmen der Traditionalistenbewegung hielt ich 2001 in Münster. Besonders aufgrund meiner Arbeit als freier Journalist für die Deutsche Tagespost wurde ich im konservativen Lager damals bereits als wichtiger Nachwuchstheologe betrachtet. Die Vereinigung »Pro Missa Tridentina«, der damals so bekannte Männer wie der Schriftsteller Martin Mosebach oder der Philosoph Robert Spaemann angehörten, hielt in Dom und Universität der Westfalenmetropole ihre Jahreshauptversammlung ab. Aus Rom war eigens der südamerikanische Kurienkardinal Darío Castrillón Hoyos, enger Mitarbeiter des Papstes und einflussreicher Sympathisant der Piusbruderschaft, angereist.
Hoyos sollte einige Jahre später, im Januar 2009, traurige Berühmtheit erlangen, hatte er doch auf Wunsch Papst Benedikts XVI. die Wiederaufnahme der Piusbruderschaftsbischöfe ohne Rücksicht auf diplomatische Regeln eifrig vorangetrieben. Unter diesen Bischöfen war auch der Holocaustleugner Williamson. Und obwohl Hoyos bereits im November 2008 von dem schwedischen Bischof Aborelius über Bischof Williamsons Holocaustleugnung unterrichtet worden war, wurde die Exkommunikation im Januar 2009 aufgehoben. Nachdem es zu weltweiten Protesten gegen diese Entscheidung kam, erklärte Hoyos, er habe vom Antisemitismus Williamsons nichts gewusst.
Auch alles, was sonst im integralistischen deutschen Katholizismus Rang und Namen hatte, ja selbst der nicht im Ruf des Konservativismus stehende damalige Bischof von Münster, Reinhard Lettmann, waren auf der Tagung in Münster zugegen.
Nach meinem Vortrag kamen zwei ältere Herren zu mir und fragten mich, ob ich die Herz-Jesu-Medaille trüge. Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass ich von dieser Medaille noch nie etwas gehört hätte. Das Entsetzen war groß, denn, so sagten sie, nur als Träger dieser Medaille komme man garantiert in den Himmel und sei vor dem Teufel sicher. Nicht, dass ich die beiden etwas schräg auftretenden und argumentativ wenig überzeugenden Herren ernst genommen oder ihnen eine solche Medaille abgekauft hätte, aber von da an war mein Interesse an der Herz-Jesu-Frömmigkeit geweckt. Ich begann mich mit der Geschichte und gegenwärtigen Praxis dieser Art von Volksfrömmigkeit näher zu beschäftigen.
Ihre eigentliche gesamtkirchliche Hochkonjunktur erlebte die Herz-Jesu-Frömmigkeit im 19. Jahrhundert, wo sie das spirituell-künstlerische Gegenprogramm zu Protestantismus, Aufklärung und antimodernem Kulturkampf bildete. Gegen demokratische, liberale Tendenzen veranstaltete man monarchistisch ausgerichtete »Herz-Jesu-Thronerhebungen«. Der letzte Papst, der die Herz-Jesu-Verehrung in diesem Sinne propagierte, war der 1958 verstorbene Pius XII. Mit dem Ende der pianischen Epoche verschwand allmählich auch der über Jahrzehnte amtskirchlich geförderte Herz-Jesu-Kult, ohne dass ihn jemand vermisst hätte.
Heute scheinen die Herz-Jesu-Verehrung und die dazugehörige Bilderwelt im Schnittfeld von traditionalistischer katholischer Volksfrömmigkeit und homosexuellem Kitsch eine ähnliche Funktion einzunehmen wie der Reliquienkult. Bei modernen Katholiken längst abgeschafft, spielen die Herz-Jesu-Bilder und -Statuen in traditionalistischen Kreisen eine wichtige Rolle: Keine Kapelle, in der die alte Messe gefeiert wird, möchte ohne ein solches Herz-Jesu-Interieur auskommen. Die deutschsprachige Sektion der Piusbruderschaft hat gar ihr Ausbildungszentrum in Niederbayern nach dem Herzen Jesu benannt, ebenso wie das traditionalistische »Institut Christus König und Hoherpriester« seinen wichtigsten Konvent in Bayerisch Gmain. Aber auch in den Häusern anderer traditionalistisch ausgerichteter Gemeinschaften finden sich Herz-Jesu-Bilder im Stil des 19. Jahrhunderts in großer Fülle. Jeder erste Freitag im Monat ist in den Gottesdienstzentren der Traditionalisten dem Herzen Jesu geweiht, und es finden spezielle Andachten statt, bei denen sich die Priester und die, die es noch werden wollen, meditativ in die Liebe des Herzens Jesu versenken. Auch gibt es eine eigene Litanei, in der das Herz Jesu als »Feuerherd der Liebe«, »Sehnsucht aller Priester« und »König aller Herzen« angebetet wird.
Der Herz-Jesu-Kult ist aber nicht nur in konservativen katholischen Kreisen verbreitet, sondern in gewissem Sinne auch unter Homosexuellen: Kaum hatte die Schwulenikone Madonna zu Beginn des neuen Jahrtausends ihr Modelabel »Immaculate Collection« auf den Markt gebracht, konnte man keinen schwulen Club mehr betreten, ohne auf eine ganze Schar junger Männer zu treffen, auf deren T-Shirts eben jener Jesus aus den Traditionalistenkapellen prangte. Mit gepflegter Föhnfrisur, gezupften Augenbrauen, leicht zur Seite geneigtem Kopf und sehnsüchtigem Blick zeigte er auf sein weit aufgerissenes Obergewand, aus welchem dem Betrachter sein durchstochenes Herz blutrot und flammend ins Auge sprang.
Selbstverständlich waren diese jungen Männer keine Traditionalisten, die sich nur verlaufen hatten. Hier begegneten sich vielmehr typisch traditionalistische, aus dem 19. Jahrhundert ererbte Volksfrömmigkeit und schwule Subkultur an einem entscheidenden Punkt, nämlich dem der Fixierung auf den vermeintlich schönen Schein, auf die stilisierte, oberflächliche Körperlichkeit. Eine Liebe zum äußeren, materiellen Schein, die das Phänomen des Kitschigen ebenso prägt wie weite Teile der homosexuellen Party-Szene in ganz Europa und den USA.
Durch das Studium der Texte von Martin Mosebach zur Liturgiereform eröffnete sich mir ein weiterer Aspekt, der traditionalistisches Liturgie- und schwules Selbstverständnis miteinander verbindet.
Der schwerste Vorwurf, der gegen die modernisierte Liturgie der katholischen Kirche ins Feld geführt wird, ist der, es handele sich dabei um eine Pädagogisierung und Moralisierung des Ästhetischen. Der Soziologe Alfred Lorenzer hat diesen Vorwurf zu Beginn der 80er Jahre zuerst ins Gespräch gebracht, und Mosebach hat ihn sehr viel später auf mehr literarisch-umschreibende Weise wieder aufgegriffen. In der Zuwendung des Priesters zu den Gläubigen und der Feier des Gottesdienstes in der jeweiligen Landessprache sehen die Kritiker die Verwandlung dessen, was zunächst einfach schön sein wollte, in eine Unterrichtsstunde, bei der die Gläubigen durch das »pausenlose Reden« des Priesters und seiner Mitarbeiter indoktriniert werden sollten. So sei, wie der Titel eines Buches von Martin Mosebach nahelegt, eine »Häresie der Formlosigkeit« entstanden.
In der alten Liturgie sei dies genau umgekehrt gewesen, statt der Belehrung habe hier die pure Ästhetik triumphiert. Das Prinzip aus dem Bereich der Ästhetik, das dem der vorkonziliaren Liturgie entspricht und diese prägt, ist demnach jenes der Kunst um der Kunst willen (»Part pour l’art«). Kunst, Kultur und Kult haben gerade keine zweckbestimmte Zielrichtung, schon gar keine, die der Ethik oder Nützlichkeit verpflichtet wäre. Sie sind, im positiven Sinne, außermoralisch und »nutzlos«. Sie sind so vollkommen, dass sie sich selbst genug sind. Die schöne Form nimmt so eine Vorrangstellung vor aller lehrreichen Inhaltlichkeit ein. Der gläubige Messebesucher soll sich nicht kritischen Gedanken hingeben oder über eine Verbesserung der Welt nachdenken, sondern ganz platonisch in der einfachen Schau des Schönen seine Erfüllung und sein Glück finden.
In der Tat habe auch ich diese grundsätzlich andere Ausrichtung der alten Liturgie früher oft als große Entlastung erlebt, besonders ab dem Zeitpunkt, an dem ich begann, als Lehrer zu arbeiten, und ein Großteil meiner Arbeit in einem kommunikativen Prozess bestand. Der Besuch der traditionellen Liturgie kann ein echter Ausflug vom Alltag sein. Hier muss man sich nicht auf das Gesagte konzentrieren, da in den »stillen Messen« ohnehin nur unhörbar gemurmelt wird. In feierlichen Hochämtern singt eine Schola, und man kann einfach das Geschehen beobachten.
In einem größeren Zusammenhang gedacht, scheint es mir kein Zufall zu sein, dass das Prinzip der Kunst um der Kunst willen von den französischen Dichtern Flaubert und Baudelaire entworfen und vor allem von Oscar Wilde und Stefan George in England und Deutschland propagiert wurde. Standen doch alle vier Künstler der gleichgeschlechtlichen Liebe - vorsichtig ausgedrückt - positiv gegenüber.
Bei dem Prinzip, das Mosebach und andere in der Liturgie verwirklicht sehen wollen, handelt es sich um genau jenes Grundprinzip, das nach Ansicht der katholischen Moraltheologie die Homosexualität prägt und so verdammenswert macht. In dieser Hinsicht war selbst der Protestant Thomas Mann gut katholisch, als er in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, seine eigenen Obsessionen kritisch betrachtend, über den »erotischen Ästhetizismus« der gleichgeschlechtlichen Liebe in seinem Essay Über die Ehe schrieb: »Es entsteht nichts aus ihr, sie legt den Grund zu nichts, ist Part pour l’art, was ästhetisch recht stolz und frei sein mag ...«
Für die katholische Kirche erhält die »normale« Sexualität Wesen und Wert erst durch ihre Zielgerichtetheit, d. h. sie ist ausgerichtet auf das unverzichtbare Ziel der »Vermehrung des Menschengeschlechts«. Jede Sexualität, die dieses Ziel nicht im Auge hat, die wie die traditionelle Liturgie Part pour l’art sein will, ist grundsätzlich als sündig zu betrachten - daher das immer wieder in Erinnerung gerufene absolute Verbot künstlicher Verhütungsmittel und der Homosexualität.