Il Machia war kein besonders religiöser Mensch, aber er war ein Christ. Er mied sonntags die Messe, hielt aber alle anderen Religionen für falsch. Er fand, dass die Päpste für die meisten Kriege seiner Zeit verantwortlich waren, und hielt viele Bischöfe und Kardinäle für Kriminelle, nur gefiel den Kardinälen und Päpsten besser als den Fürsten, was er über die Natur der Welt zu sagen hatte. Vor seinen Saufkumpanen schimpfte er darüber, wie sehr die Korruption der Kurie dem Glauben der Italiener schadete, doch war er kein Ketzer, ganz gewiss nicht, und auch wenn er bereitwillig das ein oder andere von der Herrschaft des muselmanischen Sultans lernte, sie sogar lobte, wurde ihm doch schon von dem Gedanken übel, man könne freiwillig in die Dienste eines solchen Potentaten treten.
Und dann war da noch die Sache mit dem Gedächtnispalast, dieser schönen Frau, Angelique Cceur de Bourges, Herz eines Engels, deren Geist und Körper so malträtiert worden waren, dass sie keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als durch ein Fenster in den Tod zu springen. Aus naheliegendem Grund konnte diese Angelegenheit nicht in Anwesenheit seines Weibes zur Sprache gebracht werden, denn Marietta neigte zur Eifersucht, eine Charakterschwäche, an der er nicht unschuldig war, war er doch ein alter Mann voller Liebe, nur eben nicht für seine Frau, die er jedenfalls nicht auf diese Weise liebte, sondern für das Mädchen Barbera Raffacani Salutati, eine Altistin, die so herrlich sang und auch sonst manches gar wundervoll anzustellen wusste, und dies nicht bloß auf der Bühne, ja, Barbera, Barbera, ach. Nicht mehr so jung wie einst, doch immer noch jünger als er selbst und unerklärlicherweise bereit, in Zeiten ihrer blühenden Schönheit einen grauhaarigen Alten zu lieben … Kurz und gut, wollte er derlei zur Sprache bringen, schien es ihm angesichts der möglichen Konsequenzen besser, sich vorläufig auf die Fragen von Blasphemie und Verrat zu konzentrieren.
«Edler Pascha}}, grüßte er seinen Jugendfreund,
die buschigen Augenbrauen zu spitzer Missbilligung hochgezogen,
«was führt einen Heiden hierher in dieses christliche
Land?»
«Ich möchte um einen Gefallen bitten», erwiderte Argalia, «doch
nicht für mich.»
Über eine Stunde saßen die beiden Jugendfreunde
allein in Il Machias Schreibstube, umgeben von Büchern und
Papierstapeln. Es wurde bereits dunkel. Viele Dorfbewohner zogen
sich zurück, da sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern
mussten, viele aber blieben auch. Reglos saßen die Janitscharen auf
ihren Rössern, ebenso die beiden Damen, die nur eine Schale Wasser
von der Magd der Machiavelli entgegennahmen. Als schließlich die
Nacht anbrach, traten die beiden Männer aus dem Haus, und es war
nicht zu übersehen, dass sie eine Art Waffenstillstand geschlossen
hatten. Auf ein Zeichen von Argalia saßen die Janitscharen ab, und
Argalia half Qara Köz und Spiegel eigenhändig von den Pferden. Die
Soldaten kampierten für die Nacht auf dem Grundstück, einige auf
einem kleinen Feld bei Greve, andere in den poderi von Fontalla, Il
Poggio und Monte Pagliano. Die vier Schweizer Riesen blieben in der
Villa La Strada, schlugen auf dem Hof ihre Zelte auf und wachten
über die Sicherheit der Bewohner. Sobald sich die Männer ausgeruht
und frischgemacht hatten, wollte der Trupp weiterziehen, nicht ohne
jedoch etwas von großem Wert zurückzulassen.
Die Damen würden bleiben, ließ Niccolo seine Frau wissen, die
ausländischen Damen, die Mogor-Prinzessin mit ihrer Dienerin. Wie
ein Todesurteil nahm Marietta diese Neuigkeit hin. Schönheit würde
sie umbringen, auf dem Scheiterhaufen der endlosen Lüsternheit
ihres Gatten würde sie verbrennen. Die schönsten und
begehrenswertesten Frauen, die man je in Percussina gesehen hatte -
die Teufelsköniginnen -, sie sollten unter ihrem Dach wohnen, und
durch ihre Anwesenheit würde sie, Marietta, einfach aufhören zu
existieren. Nur die beiden Damen würde es noch geben, und sie
selbst wurde die unsichtbare Frau ihres Mannes. Das Essen stünde zu
den Mahlzeiten auf dem Tisch, die Wäsche würde gewaschen und das
Haus sauber gehalten werden, doch ihr Mann würde gar nicht
bemerken, wer dafür verantwortlich war, würde er doch in den Augen
dieser ausländischen Hexen ertrinken, deren überwältigende
Begehrlichkeit sie, Marietta, schlichtweg aus dem Leben löschte.
Die Kinder müssten umziehen, vielleicht ins Haus an den acht
Kanälen unweit der Römischen Straße, und sie konnte ihr Leben dann
aufteilen zwischen dem Haus und La Strada, aber das wäre unmöglich,
das durfte nicht geschehen, sie wollte es nicht zulassen.
Sie holte Luft, um ihn auszuschimpfen, gleich hier in aller
Öffentlichkeit, vor den Augen und Ohren des ganzen Dorfes, der
Albino-Riesen und der Schreckensgestalt, die der von den Toten
zurückgekehrte Argalia war, doch Il Machia hob eine Hand, und einen
Moment lang schien er wieder einer jener Granden von Florenz zu
sein, zu denen er bis vor kurzem noch gezählt hatte. Da sie aber
sah, wie ernst es ihm war, blieb sie stumm. «Na gut», sagte sie
dann. «Wir können den Damen nicht gerade einen Prinzessinnenpalast
bieten, also sollten sie lieber keine Beschwerden vorbringen, das
ist alles.» Nach elf Jahren Ehe mit diesem Schürzenjäger war es um
Signora Mariettas Laune nicht gerade zum Besten bestellt, außerdem
behauptete er seit kurzem auch noch schamlos, ihre gereizte
Stimmung treibe ihn fort, zum Beispiel ins Boudoir der Metze
Barbera. Diese kreischende Salutati, die nichts anderes plante, als
Marietta Corsini zu überleben, um dann ihr Königreich an sich zu
reißen, ihren Platz im elterlichen Schlafzimmer in der villa La
Strada einzunehmen, in der La Corsini die Herrin und Mutter von
Niccolos Kindern war. Folglich war Marietta fest entschlossen,
mindestens einhundertelf Jahre alt zu werden, nur um noch zu
erleben, wie ihre Rivalin beerdigt wurde, um dann nackt unter fast
vollem Mond auf ihrem Armengrab zu tanzen. Die Vehemenz ihrer
Träume erschreckte Marietta, doch hatte sie längst aufgehört, ihre
Wahrheit zu leugnen. Sie war fähig, sich über den Tod einer anderen
Frau zu freuen. Vielleicht war sie sogar fähig, für dessen
frühzeitiges Eintreten zu sorgen. Das könnte Mord bedeuten,
sinnierte sie, da sie nur wenig über Hexerei wusste und ihre
Zaubersprüche meist versagten. Einmal hatte sie sich am ganzen Leib
mit heiliger Salbe eingerieben, ehe sie mit ihrem Mann ins Bett
ging, vielmehr, ehe sie ihn zu Sex mit ihr zwang, und wäre sie eine
bessere Hexe gewesen, hätte sie ihn so auf immer an sich gebunden.
Stattdessen machte er sich am nächsten Nachmittag wie gewöhnlich zu
Barbera auf den Weg, und sie schickte seinem sich entfernenden
Rücken Flüche hinterher, nannte ihren Mann einen gottlosen
Hurenbock, der nicht einmal die Heiligkeit des gesalbten Öls
respektierte.
Er hatte sie natürlich nicht gehört, doch die Kinder hörten ihre
Worte, ihre Augen waren überall, ihre Ohren hörten alles, sie waren
das wispernde Gewissen des Hauses. Marietta hätte sie für die
heiligen Geister halten können, nur musste sie die Kleinen füttern,
ihre Kleider ausbessern und ihnen kalte Kompressen auf die Stirn
legen, wenn sie unter Fieber litten. Sie waren also durchaus real,
doch Mariettas Wut, ihre Eifersucht war stärker, und so drängte sie
die eigenen Kinder in den Hintergrund ihrer Gedanken. Die Kleinen
waren Augen, Ohren, Münder und süßer Atem in der Nacht. Sie waren
nebensächlich. Sie hatte allein ihren Mann im Blick, ihren Gatten,
den Mann im Exil, der immer noch nicht verstand, was im Leben
wirklich zählte, den selbst das strappado den wahren Wert der Liebe
und der Einfachheit nicht lehren konnte, ja, nicht einmal die
Verleumdung seines ganzen Lebens und Wirkens durch die
Bürgerschaft, deren Dienst er sich verschrieben hatte, konnte ihn
lehren, dass es besser war, Liebe und Treue jenen zukommen zu
lassen, die einem nahestanden, als sie an die allgemeine
Öffentlichkeit zu verschwenden. Er hatte eine gute Frau, sie war
ihm ein liebendes Weib, und doch musste er einem billigen jungen
Flittchen nachsteigen. Er war würdevoll und gebildet, ihm gehörte
ein kleines, zum Leben ausreichendes Landgut, doch schrieb er
weiterhin jeden Tag entwürdigende Briefe an den Hof der Medici,
bettelte unterwürfig um eine öffentliche Anstellung. Es waren
kriecherische Briefe, die diesem düsteren, skeptischen Genie nicht
geziemten, seelenschmälernde Worte. Er verachtete, was er schätzen
sollte: das bescheidene väterliche Erbteil, den Grund und Boden,
die Häuser, diese Wälder und Felder sowie seine Frau, die züchtige
Göttin seines Erdenwinkels.
Die einfachen Dinge. Die schlagende Drossel vor
dem Morgengrauen, die schwer tragenden Weinreben, die Tiere, der
Hof. Hier fand er Zeit, zu lesen und zu schreiben, konnte die Kraft
seines Geistes mit der eines jeden Fürsten messen. Sein Verstand
war das Beste an ihm, damit vermochte er alles Bedeutsame zu
erfassen, doch schien er in seiner verzweifelten Enttäuschung,
seiner schmerzlich empfundenen Verbannung nur an neue Herbergen für
seinen Schwanz denken zu können. Zumindest daran, ihn in jener
besonderen Herberge unterzubringen, in der von Barbera nämlich,
dieser singenden Kokotte. Wurde sein neues Theaterstück tiber die
Alraune in dieser oder jener Stadt aufgeführt, sorgte er dafür,
dass Barbera in den Pausen singen durfte, damit sie dem Publikum
die Wartezeit verkürzte. Es war ein Wunder, dass es nicht
angewidert und mit zugehaltenen Ohren den Saal verließ. Ein Wunder
war es auch, dass seine treue Frau ihm noch kein Gift in den Wein
geschüttet hatte, so wie es ein Wunder war, dass Gott solch
schamlose Dirnen wie Barbera gedeihen ließ, während gute Frauen
darbten und alt wurden.
«Aber», sagte sich Marietta, «vielleicht haben diese jaulende Kuh
und ich nun etwas gemeinsam. Vielleicht müssen wir jetzt über
dieses neue Problem reden, über die Hexen, die zu uns gekommen
sind, um unsere glückliche Florentiner Lebensart zu stören.»
Es zählte zu Niccolos Angewohnheiten, Abend für
Abend mit den mächtigen Toten in ebendiesem Raum Zwiesprache zu
halten, in dem er nun seinem Jugendfreund von Angesicht zu
Angesicht gegenüberstand, um zu sehen, ob er die Feindseligkeit,
die er in sich aufkommen spürte, zu bezwingen vermochte oder ob es
ihr Schicksal war, für den Rest ihres Lebens Gegner zu bleiben.
Lautlos bat er die Toten um Rat. Mit den meisten Helden und
Bösewichten der Alten Welt, den Philosophen wie den Männern der
Tat, stand er auf vertrautem Fuß. War er allein, umdrängten sie
ihn, argumentierten, erklärten oder nahmen ihn auf einen ihrer
unsterblichen Feldzüge mit. Wenn er Nabis vor sich sah, Anführer
der Spartaner, wie er die Stadt gegen Rom und auch das übrige
Griechenland verteidigte, wenn er den Aufstieg des Sizilianers
Agathokles verfolgte, Sohn des Töpfers, der allein durch seine
Verschlagenheit zum König von Syrakus wurde, oder wenn er mit
Alexander von Mazedonien gegen Darius den Großen von Persien ritt,
dann spürte er, wie sich die Vorhänge seines Geistes teilten und
die Welt klarer wurde. Die Vergangenheit war ein Licht, das,
entsprechend ausgerichtet, die Gegenwart heller erleuchtete als
jede moderne Lampe. Wie die heilige olympische Flamme wurde Größe
von Großem zu Großem weitergereicht. Alexander nahm sich Achilles
zum Vorbild, Caesar folgte Alexanders Fußspuren - und so weiter.
Verständnis war auch eine solche Flamme. Wissen entsprang nie
einfach nur dem menschlichen Geist; stets wurde es wiedergeboren.
Die Weitergabe der Weisheit von einem Zeitalter ans nächste, ein
Zyklus der Wiedergeburt: Das war Weisheit. Alles andere war
Barbarei.
Nur waren die Barbaren überall, und überall waren sie
siegreich.
Die Schweizer, die Franzosen, die Spanier, die Deutschen, sie alle
trampelten in diesem Zeitalter unaufhörlicher Kriege durch Italien.
Die Franzosen marschierten auf italienischem Boden gegen den Papst,
die Venezianer, die Spanier und die Deutschen. Dann, bloß einen
Lidschlag später, waren es die Franzosen, der Papst, die Venezianer
und die Florentiner gegen die Mailänder. Dann der Papst,
Frankreich, Spanien und die Deutschen gegen Venedig. Dann der
Papst, Venedig, Spanien und die Deutschen gegen Frankreich. Dann
die Schweizer in der Lombardei. Italien war zu einem
Kriegskarussell geworden; der Krieg spielte zum Tanz mit ständig
wechselnden Partnern auf, oder er spielte «Reise nach Jerusalem».
Und während all dieser vielen Kriege hatte es keine rein
italienische Armee je vermocht, sich gegen die von jenseits der
Grenzen anstürmenden Horden zu behaupten.
Dies war es letzten Endes auch, was ihn mit seinem heimgekehrten
Freund versöhnte. Wenn die Barbaren aus Italien vertrieben werden
sollten, brauchte es dazu vielleicht selbst einen Barbaren.
Argalia, der lange unter Barbaren gelebt hatte und zu einem so
wilden Barbarenkrieger geworden war, dass er wie die Verkörperung
des Todes aussah, war vielleicht ebenjener Erlöser, den das Land
jetzt benötigte. Sein Hemd war mit Tulpen bestickt. «Tod inmitten
von Tulpen», flüsterten die großen Toten Il Machia billigend ins
Ohr. «Vielleicht wird dieser florentinische Osmane die Glücksblume
Eurer Stadt.» Zögerlich und erst nach langem Nachdenken hielt Il
Machia ihm zum Willkommensgruß die Hand hin. «Wer weiß, solltest du
Italien erlösen können», sagte er, «erweist sich deine lange Reise
vielleicht doch noch als ein Akt der Vorsehung.»
Argalia wehrte sich gegen die religiösen Untertöne in Il Machias
Hypothese. «Na gut», gab sein Freund bereitwillig nach, «du hast
recht: Erlösen ist wohl der falsche Titel für dich. Nennen wir dich
stattdessen einfach einen Hurensohn.»
Am Ende hatte Andrea Doria Argalia schließlich doch noch davon
überzeugen können, dass der Traum sinnlos war, nach Hause
zurückzukehren und die Füße hochzulegen. «Was glaubt Ihr denn, was
Herzog Giuliano sagen wird», fragte ihn der ältere condottiere.
«Willkommen daheim, Signor Bis-an-die-Zähne-bewaffneter-Piraten,
Verräter, Christenmörder und ]anitscharj Ihr mit Euren
einhunderteinen schlachterprobten Kämpfern und den vier
Albino-Riesen. Ich glaube Euch aufs Wort, wenn Ihr mir sagt, dass
Ihr in Frieden kommt. Denn all diese Herren an Eurer Seite werden
von nun an vermutlich als Gärtner arbeiten, als Diener, Zimmerleute
und Anstreicher, nicht wahr? Nur ein Säugling könnte solch ein
Märchen glauben. Fünf Minuten nachdem Ihr derart kriegsbereit
auftaucht, schickt er Euch seine gesamte Miliz auf den Hals. Also
seid Ihr ein toter Mann, wenn Ihr nach Florenz geht, es sei denn …
» Es sei denn was, musste Argalia ihn fragen. «Es sei denn, ich
sage ihm, er soll Euch als seinen militärischen Oberbefehlshaber
einstellen, denn den braucht er dringend. Eine große Wahl bleibt
Euch allerdings nicht», sagte der ältere Freund. «Für Männer wie
uns kommt der Ruhestand nämlich nicht in Frage.»
«Ich habe kein Vertrauen zum Herzog», sagte Argalia zu Il Machia.
«Und was das angeht, traue ich auch Doria nicht recht über den Weg.
Er war schon immer ein Schurke, und ich fürchte, sein Charakter ist
im Laufe der Jahre nicht gerade besser geworden. Vielleicht hat er
Giuliano die Nachricht zukommen lassen, er solle mich umbringen,
sobald ich auch nur einen Fuß in die Stadt setze. Kaltblütig genug
ist er allemal. Aber vielleicht war er auch in großmütiger Laune
und hat mich um der alten Zeiten willen tatsächlich empfohlen.
Jedenfalls will ich die Frauen nicht mit in die Stadt nehmen, bis
ich weiß, wie die Dinge stehen.»
«Ich kann dir genau sagen, wie sie stehen», erwiderte Niccolo
verbittert. «Der absolute Herrscher der Stadt ist ein Medici. Der
Papst ist ein Medici. Und die Leute hier behaupten, dass Gott
vermutlich auch ein Medici ist, der Teufel ist es jedenfalls ganz
bestimmt. Allein wegen der Medici sitze ich hier fest, züchte mein
Vieh für einen Hungerlohn, bestelle diesen Flecken Land und
verkaufe Brennholz, um über die Runden zu kommen; und unser Freund
Ago wurde ebenfalls kaltgestellt. Das also ist die Belohnung dafür,
dass wir in der Stadt geblieben sind und ihr all die Jahre treu
gedient haben. Jetzt tauchst du nach einem Leben voller Blasphemie
und Verrat auf, und weil der Herzog in deinen kalten Augen sehen
kann, was dort jeder sieht, dass du nämlich gut im Menschenmorden
bist, wird er dir aller Voraussicht nach das Kommando über jene
Miliz geben, die ich aufgebaut habe, über die Miliz, die erst
möglich wurde, nachdem ich die geizigen Pfeffersäcke unserer
reichen Stadt davon überzeugen konnte, dass es sich lohnt, für ein
stehendes Heer zu zahlen, jene Miliz, die ich ausgebildet und die
ich bei der großen Belagerung und Wiedereroberung der Stadt Pisa,
unseres alten Besitztums, zum Sieg geführt habe, diese Miliz, meine
Miliz, sie wird deine Belohnung für ein verkommenes,
profitsüchtiges und zügelloses Leben sein, weshalb es mir,
vielleicht verständlicherweise, schwer fällt, an das zu glauben,
was die Bibel uns lehrt, dass nämlich die Tugend unweigerlich
belohnt und die Sünde unweigerlich bestraft wird.»
«Kümmere dich um die beiden Frauen, bis ich nach ihnen schicke», sagte Argalia, «Und wenn ich Glück habe und ein Amt bekomme, werde ich sehen, was ich für dich und den kleinen Ago tun kann.»
«Na prima», sagte Il Machia, «jetzt tust du mir
also einen Gefallen?»
Das Leben hatte Agostino Vespucci arg gebeutelt, und er war dieser
Tage irgendwie anders, niedergeschlagener und nicht mehr so
fröhlich wie sonst, allerdings auch nicht mehr so unflätig. Im
Gegensatz zu Il Machia war er nicht der Stadt verwiesen worden,
weshalb er weiterhin in dem Haus in Ognissanti wohnte oder im ÖL-,
Wolle-, Wein- und Seidegeschäft arbeitete, sosehr er es auch
verabscheute, doch trieb es ihn immer wieder hinaus nach Sant’
Andrea in Percussina, um allein im Alraunenwald zu liegen und den
Vögeln und dem Rauschen der Blätter zu lauschen, bis es Zeit wurde,
zu Niccolo in die Taverne zu gehen, zu trinken und Tricktrack zu
spielen. Sein schimmerndes Goldhaar war vorzeitig weiß und schütter
geworden, weshalb er älter aussah, als er war. Er hatte nicht
geheiratet und frequentierte die Bordelle auch nicht mehr so oft
und mit der gleichen Begeisterung wie früher. Der Verlust seines
Amtes hatte ihn den Ehrgeiz gekostet, und die durch Alessandra
Fiorentina erlittene Erniedrigung dämpfte sein Verlangen nach Sex.
Er kleidete sich schäbig und wurde sogar geizig, gänzlich
unnötigerweise, denn obwohl ihm kein Gehalt mehr gezahlt wurde,
waren die Vespuccis noch reich genug. An dem Abend, ehe n Machia
Florenz verließ, um nach Percussina zu ziehen, hatte Ago ein Essen
gegeben, an dessen Ende er jedem Gast, auch Niccolo, eine Rechnung
über vierzehn Soldi vorlegte. Il Machia hatte nicht genug Geld
dabei und gab ihm nur elf, weshalb Ago seinen Freund immer wieder
mit unziemlicher Häufigkeit daran erinnerte, dass er ihm noch drei
Soldi schulde.
Il Machia machte seinem Freund die neue Knauserigkeit je-doch nicht
zum Vorwurf, da er das Gefühl hatte, Ago leide noch schlimmer als
er selbst darunter, dass die Stadt ihre jahrelange Arbeit nicht zu
schätzen wusste; außerdem konnte der Verlust einer Geliebten
allerlei seltsame Symptome in einem verschmähten Mann auslösen. Von
den drei Freunden war Ago derjenige gewesen, der nie zu reisen
brauchte, derjenige, dem die Stadt alles bot, wonach ihn verlangte.
Wenn also Il Machia eine Stadt verloren hatte, dann war Ago an der
Welt gescheitert. Manchmal sprach er sogar davon, Florenz auf immer
den Rücken zu kehren, Amerigo nach Spanien zu folgen und über den
Ozean zu segeln, doch sooft er von solchen Reisen auch redete, tat
er es stets ohne Vorfreude. Es war, als beschreibe er den Übergang
vom Leben zum Tod. Die Nachricht, dass Amerigo gestorben war,
verstärkte seinen Trübsinn noch. Bereitwillig wie nie schien Ago
nun über einen Tod unter fremdem Himmel nachzudenken. Andere alte
Freunde hatten sich zerstritten, auch Biagio Buonaccorsi und Andrea
di Romolo, die zudem mit Ago und Il Machia gebrochen hatten; nur
Vespucci und Machiavelli standen sich noch nah, weshalb Ago eines
Tages vor dem Morgengrauen zu Il Machia ritt, um mit ihm auf
Vogeljagd zu gehen, und vor Schreck fast gestorben wäre, als vier
riesige Kerle aus dem Morgennebel auftauchten und nach seinem
Begehr fragten. Doch kaum war Il Machia, in einen langen Mantel
gehüllt, aus dem Haus getreten und hatte die Identität seines
Freundes bestätigt, zeigten sich die Riesen von ihrer leutseligen
Seite. Wie Argalia sehr wohl wusste, waren die vier Schweizer
Janitscharen nämlich wahrhafte Klatschmäuler, mit Zungen so flink
wie die von Fischweibern am Markttag, und während sie auf Il Machia
warteten, der wieder ins Haus gegangen war, um Ulmenzweige in
kleinen Käfigen mit Vogelleim zu bestreichen, versorgten Otho,
Botho, Clotho und D’ Artagnan seinen Freund derart lebhaft mit
Informationen, dass er spürte, wie sich nach langer,
geschlechtsloser Zeit zum ersten Mal wieder sexuelles Verlangen in
ihm regte. Offenbar waren diese Frauen wirklich einen Blick wert.
Endlich kam Niccolo; mit seinen leeren, auf den Rücken geschnallten
Käfigen sah er fast wie ein bankrotter Hausierer aus, als die
beiden Freunde sich auf den Weg in den Wald machten. Der Nebel hob
sich. «Wenn der Zug der Drosseln erst vorüber ist», sagte Il
Machia, «können wir beide uns nicht einmal mehr auf die Vogeljagd
freuen.» Dann aber schimmerte ein Licht in seinen Augen, das darin
schon eine ganze Weile nicht mehr zu sehen gewesen war, und Ago
erwiderte: «Sie sind also wirklich so toll, wie?» Sogar Il Machias
Grinsen war wieder da. «Weißt du, was seltsam ist?», sagte er.
«Selbst meine Frau hat aufgehört, ständig an mir
herumzunörgeln.»
In dem Augenblick, in dem Prinzessin Qara Köz und ihr Spiegel das
Haus der Machiavelli betraten, fing Marietta Corsini an, sich
töricht vorzukommen. Ein köstlicher, bittersüßer Duft zog vor den
beiden ausländischen Frauen her durch das Haus und verbreitete sich
rasch über alle Flure, wehte die Treppe hinauf, drang in jeden
Winkel, und als Marietta diesen schweren Duft einatmete, fand sie
plötzlich, dass ihr Leben eigentlich gar nicht so beschwerlich war,
wie sie irrigerweise bislang geglaubt hatte, da ihr Mann sie doch
liebte, ihre Kinder gute Kinder und die Besucherinnen gewiss die
vornehmsten Gäste waren, die zu empfangen sie je die Ehre gehabt
hatte. Argalia, der darum gebeten hatte, vor dem Ritt in die Stadt
eine Nacht im Haus ruhen zu dürfen, sollte in 11 Machias
Arbeitsstube auf dem Sofa schlafen; Marietta zeigte der Prinzessin
das Gästezimmer und fragte ein wenig verlegen, ob ihre Dienerin die
Nacht in eine der Kinderkammern zu verbringen wünsche. Qara Köz
legte ihrer Wirtin einen Finger auf die Lippen und murmelte ihr ins
Ohr: «Dieses Zimmer reicht für uns beide.» In eigenartig
glückseliger Verfassung ging Marietta darauf zu Bett, und als ihr
Mann sich zu ihr legte, erzählte sie ihm vom Entschluss der beiden
Damen, gemeinsam in einem Bett zu schlafen, und klang dabei gar
nicht mal sonderlich schockiert. «Denk nicht weiter an diese
Frauen», sagte ihr Mann, und Mariettas Herz hüpfte vor Freude. «Die
Frau, die ich will, ist gleich hier an meiner Seite.» Das ganze
Zimmer war erfüllt vom bittersüßen Duft der Prinzessin.
Kaum aber waren die beiden Frauen in ihrem Zimmer und hatten die
Tür geschlossen, spürte Qara Köz, wie sie völlig unerwartet in
einer Flut existentieller Angst zu ertrinken drohte. Von Zeit zu
Zeit überfiel sie eine solche Traurigkeit, doch hatte sie nie
gelernt, sich dagegen zu wappnen. Ihr Leben war eine Abfolge freier
Willensentscheidungen gewesen, manchmal aber geriet sie ins Wanken
und fürchtete zu versinken. Sie hatte ihr Leben darauf gebaut, dass
sie von Männern geliebt wurde, darauf, dass es ihr stets gelang,
diese Liebe zu wecken, wann immer sie es wollte, doch wenn sich ihr
die allerdunkelsten Fragen stellten, wenn sie ihre Seele schaudern
spürte, wenn sie unter dem Gewicht ihrer Isolation und ihres
Verlustes zu zerbrechen meinte, dann konnte ihr die Liebe keines
Mannes helfen. Und so begriff sie, dass das Schicksal sie
unvermeidlich vor die Wahl zwischen ihrer Liebe und ihrem Leben
stellen würde, und wenn eine solche Krise anbrach, durfte sie
keinesfalls die Liebe wählen. Tat sie das, brachte sie sich in
tödliche Gefahr. Das Überleben aber stand an erster
Stelle.
Dies war die unvermeidliche Folge jenes Schrittes, mit dem sie
damals ihre natürliche Umgebung verlassen hatte. An dem Tag, an dem
sie sich weigerte, mit ihrer Schwester Khanzada an den Hof der
Moguln zurückzukehren, hatte sie nicht nur gelernt, dass eine Frau
ihren eigenen Weg zu wählen vermag, sondern auch, dass eine solche
Wahl Folgen nach sich zieht, die nie wieder aus dem Buch des Lebens
zu tilgen sind. Sie hatte ihre Wahl getroffen, und was daraus
folgte, das folgte eben daraus; sie empfand keinerlei Bedauern, nur
litt sie hin und wieder unter schrecklichen Angstattacken. Diese
Angst schüttelte und beutelte sie wie der Sturm einen Baum, doch
Spiegel nahm sie in die Arme, bis das Unwetter vorüber war. Sie
sank aufs Bett, und Spiegel lag an ihrer Seite und hielt sie,
umklammerte Qara Köz’ Bizeps, hielt sie nicht wie eine Frau eine
Frau, sondern wie ein Mann. Qara Köz hatte gelernt, dass es ihre
Macht über Männer war, die es ihr erlaubte, die Reise ihres Lebens
selbst zu bestimmen, nur wusste sie auch, dass sie diesen Akt der
Selbstbestimmung mit einem großen Verlust bezahlte. Die Kunst der
Verzauberung hatte sie zur Vollendung gebracht, sie hatte die
Sprachen der Welt gelernt, war Zeugin der größten Ereignisse ihrer
Zeit geworden, aber sie war ohne Familie, ohne Verwandtschaft, ohne
jenen Trost, der ihr geblieben wäre, hätte sie gegebene Grenzen
nicht überschritten, um in der Obhut des Bruders zu bleiben, dort,
wo man ihre Sprache sprach. Es war, als schwebte sie hoch über dem
Boden, schwebte durch reine Willenskraft, müsste zugleich aber
fürchten, der Zauber könne jederzeit gebrochen werden, und sie
würde zurück zur Erde stürzen.
Die wenigen Neuigkeiten, die sie über ihre Familie erfuhr,
verwahrte sie in ihrem Herzen und mühte sich, mehr Bedeutung aus
ihnen herauszupressen, als sie enthielten. Schah Ismail war der
Freund ihres Bruders Babar gewesen, und die Osmanen besaßen eigene
Wege, auf denen sie erfuhren, was in der Welt geschah. Daher wusste
sie, dass ihr Bruder lebte, dass ihre Schwester zu ihm gefunden
hatte und dass ein Kind - Nasiruddin Humayun geboren worden war.
Doch ansonsten schien nichts gewiss. Ferghana, das Königreich ihrer
Vorfahren, galt als verloren und würde vielleicht nie
zurückgewonnen werden. Babar hatte sein Herz an Samarkand gehängt,
aber obwohl Shaibani Khan, Lord Wurmholz, besiegt und tot war,
schienen die Truppen der Moguln jene fabelhafte Stadt nie für
längere Zeit halten zu können. Also war auch Babar heimatlos,
Khanzada war heimatlos, und nirgendwo auf Gottes weiter Welt besaß
die Familie eine dauerhafte Bleibe. Vielleicht war es das, was es
hieß, Mogul zu sein, herumzuziehen, zu plündern, erfolglos zu
kämpfen, auf andere angewiesen und verloren zu sein. Einen Moment
lang packte sie die Mutlosigkeit, doch gleich darauf schüttelte sie
dies Gefühl auch schon wieder ab. Moguln waren keine Opfer der
Geschichte, sondern ihre Macher. Ihr Bruder, dessen Sohn und der
Sohn, der nach ihm kam:
Welch Königreich würden sie dereinst zum Ruhm der ganzen Welt
errichten! Sie wünschte es sich, sah es voraus, ließ das Reich
allein durch ihr Drängen Wirklichkeit werden. Und sie würde es
genauso halten, würde gegen unglaubliche Widerstände in dieser
fremden Welt ihr eigenes Königreich errichten, denn auch sie war
zum Herrschen geboren. Sie war eine Mogulin und daher ebenso
furchterregend wie nur irgendein Mann. Ihr Wille war der Aufgabe
gewachsen. Leise, nur so vor sich hin, sagte sie auf Tschagatai die
Verse Ali-Shir Nava’is. Tschagatai war ihre Muttersprache, ihr
Geheimnis, ihre Verbindung zu dem wahren, im Stich gelassenen Ich,
ersetzt durch ein selbstgeschaffenes Ich, das aber natürlich Teil
des neuen Ichs sein würde, das Grundgestein, sein Schwert und
Schild. Nava’i, der «Klagende», der einstmals in einem fernen Land
für sie gesungen hatte: Qara ko’mm, kelu mardumlug’ emdi fan
qilg’il. Kommt, Qara Köz, und erweist mir Eure Liebenswürdigkeit.
Eines Tages würde ihr Bruder über ein Weltreich herrschen, und sie
kehrte im Triumph als eine Königin heim. Oder die Kinder ihres
Bruders begrüßten ihre eigenen Kinder. Blutsbande ließen sich nicht
durchtrennen. Sie hatte sich neu geschaffen, doch was sie gewesen
war, würde sie bleiben, und sie und ihre Kinder würden auch in
Zukunft Anspruch auf ihr Erbe stellen können. Die Tür öffnete sich.
Der Mann kam herein, ihr Tulpenprinz.
Er hatte gewartet, bis nächtliche Ruhe ins Haus einkehrte, und
jetzt kam er zu ihr, zu ihnen. Die Dunkelheit wich nicht von ihr,
rutschte aber beiseite und machte im Bett Platz für ihren
Geliebten. Spiegel, die spürte, wie sie sich entspannte, gab sie
frei und kümmerte sich um Argalias Kleider. Morgen würde er in die
Stadt reiten, und bald, sagte er, bald würde alles arrangiert sein.
Sie ließ sich nicht täuschen. Sie wusste, morgen würde es entweder
gut oder, wenn nicht gut, sehr schlecht ausgehen. Morgen Abend
könnte er schon tot sein, und dann würde sie als Überlebende ein
weiteres Mal wählen müssen. Doch heute Nacht war er am Leben. Mit
Liebkosungen und Ölen bereitete Spiegel ihn für sie vor. Bei
Mondlicht sah sie, wie sein fahler Körper unter den Berührungen
ihrer Dienerin erblühte. Fast glich er mit seinem langen Haar
selbst einer Frau, die Hände so lang, die Finger so schlank, die
Haut so unglaublich weich. Sie schloss die Augen und hätte nicht
sagen können, wer von den beiden sie berührte, seine Hände so sanft
wie die ihres Spiegels, das Haar beinahe gleich lang, die Zunge
ebenso erfahren. Er wusste wie eine Frau zu lieben. Und Spiegel
konnte mit ihren brutalen Fingern hart zustechen wie ein Mann. So
sehnig, so geduldig, seine Berührungen so leicht, das war es,
weshalb sie ihn liebte. Die Schatten waren jetzt in eine Ecke
gedrängt, und der Mond schien herab auf drei sich windende Leiber.
Sie liebte ihn, und sie diente ihm. Sie liebte Spiegel, diente ihr
aber nicht. Spiegel liebte sie und diente ihnen beiden. Heute Abend
kam es nur auf die Liebe an. Morgen war vielleicht etwas anderes
wichtiger, aber morgen war morgen. «Meine Angelica», sagte er.
«Hier ist Angelica, Angelica ist hier», erwiderten die beiden
Frauen. Dann leises Lachen, Stöhnen, ein überlauter Schrei und
kurzes Glucksen.
Sie erwachte vor dem Morgengrauen. Er lag in tiefem Schlaf, im
schweren Schlaf eines Mannes, dem viel abverlangt wird, sobald er
erwacht, und sie sah zu, wie er atmete. Spiegel schlief ebenfalls
noch. Qara Köz lächelte. Meine Angelica, flüsterte sie auf
Italienisch. Die Liebe zwischen den beiden Frauen war von größerer
Dauer als diese Sache zwischen Mann und Frau. Sie streichelte über
die Haare der beiden, so lang, so schwarz. Dann drang von draußen
Lärm herein. Ein Besucher. Die Schweizer Riesen stellten sich ihm
in den Weg. Sie hörte den Herrn des Hauses vortreten und die Lage
erklären. Sie konnte ihn vor sich sehen, diesen Niccolo, diesen
großen Mann in der Stunde seiner Niederlage. Vielleicht würde er
dereinst wieder aufsteigen, wieder ein bedeutsamer Mann werden,
doch im Haus der Niederlage hatte sie nichts verloren. Die Größe
des bezwungenen Mannes war auf Anhieb zu erkennen, Größe des
Intellekts und vielleicht auch der Seele, doch hatte er seinen
Kampf verloren, folglich war er nichts für sie, konnte er nichts
für sie sein. Sie baute jetzt vollständig auf Argalia, zählte auf
seinen Erfolg, und wenn er erfolgreich war, würde sie mit ihm
aufsteigen, sich mit ihm emporschwingen. Wenn sie ihn aber verlor,
würde sie herzzerreißend um ihn trauern, würde untröstlich sein und
dann tun, was getan werden musste. Sie würde ihren Weg gehen. Was
immer heute auch geschehen mochte, sie würde bald genug ihre Reise
zum Palast antreten, denn sie war eine Frau für Paläste - und für
Könige.
Die Vögel hüpften in die Käfige und blieben an den mit Leim
überzogenen Ulmenzweigen kleben. Ago und n Machia griffen sie sich
und brachen ihnen die kleinen Hälse. Später würden sie einen
köstlichen Singvogeleintopf essen. Das Leben konnte ihnen doch noch
einiges Vergnügen bieten, zumindest bis zum Ende des Drosselzugs.
Mit zwei Säcken voller Vögel kehrten sie ins La Strada zurück zu
einer glücklichen Marietta, die sie mit zwei Glas guten Rotweins
erwartete. Argalia war mit seinen Männern bereits fortgeritten,
hatte aber den Serben Konstantin und ein Dutzend seiner
Janitscharen für den Fall zurückgelassen, dass die Damen verteidigt
werden mussten; folglich würde es also noch eine Weile dauern, bis
Ago den Wanderer wiedersehen würde. Kurz spürte er einen Stich des
Bedauerns. Niccolo hatte die Verwandlung ihres alten Freundes in
eine fast weibische, doch höchst grimmige, orientalische
Verkörperung des Todes beschrieben - «Argalia, der Türke», wie ihn
die Dorfbewohner bereits nannten, gerade so, wie er es vor langer
Zeit an jenem Tag prophezeit hatte, an dem er als junger Mann
aufgebrochen war, sein Glück zu suchen -, und Ago hatte sich auf
diesen exotischen Anblick gefreut. Dass Argalia tatsächlich mit den
vier Schweizer Riesen aus seinem Traum heimgekehrt war, fand er
schließlich schon unglaublich genug.
Dann hörte Ago Vespucci Schritte auf der Treppe; er blickte auf,
und es war, als existierte Argalia nicht länger. Er hatte sich
selbst sagen hören, dass es bis zu diesem Augenblick nie wahrhaft
schöne Frauen auf der Welt gegeben habe, dass Simonetta Vespucci
und Alessandra Fiorentina nur blasse Mauerblümchen seien, doch die
Frauen, die ihm entgegenkamen, waren schöner als die Schönheit
selbst, sie waren so schön, dass sie die Bedeutung des Wortes neu
definierten und das, was Männer bislang für schön gehalten hatten,
auf den Platz fadester Gewöhnlichkeit verwiesen. Ein Duft wehte vor
ihnen her die Treppe herab und umhüllte sein Herz. Die erste Frau
war einen Hauch lieblicher als die zweite, wenn man aber ein Auge
schloss und die erste Gestalt ausblendete, war die zweite die
größte Schönheit auf Erden. Warum nur sollte man das tun? Warum das
Außergewöhnliche fortblenden, bloß damit das Herausragende besser
zur Geltung kam?
«Verdammt, Machia», flüsterte er leicht schwitzend. Der Überdruck
seiner Gefühle presste diesen ersten Fluch nach einer langen Zeit
über die Lippen, in der er dem Fluchen völlig abgeschworen hatte;
der Sack mit den toten Drosseln fiel ihm aus der Hand. «Ich glaube,
ich habe gerade den Sinn des Lebens wieder entdeckt.»
Der Herzog hatte seinen Palast verschlossen,
weil er eine Invasion der zügellosen Menge fürchtete, denn die
Stadt war in jenen Tagen nach der Wahl des ersten Medici zum Papst
einem Taumel anheimgefallen, der einer Gewaltorgie glich. «Wie die
Narren führten sich die Menschen auf», sollte Argalia später Il
Machia erzählen, «ohne jeden Respekt vor Alter oder Geschlecht.»
Unaufhörlich und ohrenbetäubend ertönte der Lärm der Gloria
schlagenden Kirchenglocken, und die Freudenfeuer drohten, ganze
Stadtviertel zu vernichten. «Im Mercato Nuovo», berichtete Argalia,
«rissen junge Halbstarke Bretter und Planken von Seidengeschäften
und Banken. Und als die Behörden endlich einschritten, hatte man
selbst das Dach des Hauses der Tuchzunft, der alten Calimala,
abgerissen und verbrannt. Sogar oben auf dem Campanile von Santa
Maria deI Fiore soll ein Freudenfeuer geleuchtet haben. Dieser
Unsinn währte drei Tage.» Lärm und Rauch erfüllten die Straßen. In
jeder Gasse wurde auf natürliche wie widernatürliche Weise Unzucht
getrieben, doch nahm niemand daran Anstoß. Abend für Abend zogen
Ochsen einen mit Girlanden geschmückten Siegeskarren von den Gärten
der Medici an der Piazza San Marco zum Palazzo Medici in der Via
Larga. Vor dem verrammelten Palast sang die Bürgerschaft Lieder zum
Lobe von Papst Leo X. und setzte dann den Karren mitsamt Blumen in
Brand. Aus den oberen Fenstern des Medici-Palastes warfen die neuen
Herrscher Gaben unters Volk, an die zehntausend Golddukaten sowie
zwölf große Silbertuchservietten, die von den Florentinern in
Stücke gerissen wurden. In den Straßen der Stadt gab es für
jedermann volle Weinfässer und Brotkörbe. Gefangene wurden
begnadigt, Huren wurden reich, und männliche Nachkommen wurden nach
Herzog Giuliano und seinem Neffen Lorenzo oder nach Giovanni
benannt, der zu Leo geworden war; weibliche Kinder taufte man nach
den hohen Frauen der Familie auf die Namen Laodamia oder
Semiramide.
Zu diesem Zeitpunkt war es unmöglich, die Stadt mit hundert
Bewaffneten zu betreten, um eine Audienz bei Herzog Giuliano
wahrzunehmen, denn in den Straßen wurde immer noch gefeiert,
Brandstifter trieben ihr Unwesen. Argalia zeigte den Wachen am
Stadttor seine Papiere und vernahm mit Erleichterung, dass seine
Ankunft erwartet worden sei. «Ja, der Herzog wird Euch empfangen»,
sagten sie, «aber bitte, habt Verständnis dafür, dass es nicht
gleich sofort sein kann.» Bis zum vierten Tag, an dem das Fest der
Florentiner für den Papst langsam an Schwung verlor, kampierten
daher die Janitscharen vor den Stadtmauern. Doch selbst dann durfte
Argalia die Stadt noch nicht betreten. «Rechnet heute Abend», sagte
der Anführer der Wache, «nach Einbruch der Dunkelheit mit
hochstehendem Besuch.»
Argalia wusste wie eine Frau zu lieben und wie ein Mann zu morden,
doch war er nie zuvor einem Herzog der Medici in all seinem Pomp
gegenübergetreten. Als aber Giuliano de’ Medici an jenem Abend mit
einer Kapuze über dem Kopf in sein Lager ritt, wurde Argalia auf
Anhieb klar, dass der neue Herrscher von Florenz ein Schwächling
war, übrigens ebenso wie der junge Neffe, der an seiner Seite ritt.
Papst Leo war bekannt als ein Mann der Macht, als ein Medici der
alten Schule, Erbe der Autorität von Lorenzo dem Prächtigen, seinem
Vater. Wie musste es ihn bekümmern, dass er Florenz der Obhut
dieser zweitklassigen Knallchargen anvertraut hatte! Kein wahrer
Medici-Herzog wäre wie ein Dieb aus der eigenen Stadt geschlichen,
bloß um jemanden zu treffen, den man vielleicht in die eigenen
Dienste aufnehmen wollte. Dass Herzog Giuliano sich trotzdem dafür
entschieden hatte, bewies, wie sehr er einen starken Mann an seiner
Seite brauchte, jemanden, der ihm Selbstvertrauen schenkte. Einen
Mann des Militärs. Einen Tulpengeneral für die Verteidigung der
Blumenstadt. Höchste Zeit, dass die Stelle besetzt wurde.
Bei flackerndem gelbem Lampenlicht nahm Argalia in seinem Zelt die
Edelleute genauer in Augenschein. Herzog Giuliano, diese blasse
Brut von Lorenzo de’ Medici, war Mitte dreißig, hatte ein langes,
trauriges Gesicht und wirkte ein wenig kränklich. Er würde wohl
kaum ein hohes Alter erreichen. Zweifellos war er ein Liebhaber von
Literatur und Kunst, zweifellos ein Mann von Geist und Kultur, also
eine Belastung im Kampf. Es wäre besser, er bliebe daheim und
überließe das Kämpfen jenen, die es konnten, jenen, für die das
Kämpfen Kultur und Töten eine Kunst war. Der Neffe, ebenfalls ein
Lorenzo, zog ein grimmiges Gesicht und war ein Mann von dunkler
Haut und großspurigem Gehabe, einer von diesen vielen tausend
zwanzigjährigen Großmäulern in Florenz, sagte sich Argalia. Ein
junger Bursche, voll im Saft stehend und von sich selbst überzeugt.
Kein Mann, auf den man sich im Handgemenge verlassen
durfte.
Argalia hatte alle Argumente parat. Am Ende seiner langen Reisen,
sagte er, habe er Folgendes eingesehen: dass Florenz überall und
überall Florenz sei. Überall auf der Welt gebe es omnipotente
Fürsten, Medici, die führten, weil sie schon immer Führer gewesen
waren, und die einfach bestimmten, was als Wahrheit zu gelten
hatte. Überall gebe es auch Jammerer (Argalia hatte die Zeit der
Jammerer in Florenz verpasst, doch hatten sich die Neuigkeiten über
den Mönch Savonarola und dessen Anhänger rasch verbreitet,,
Jammerer, die führen wollten, weil sie glaubten, eine höhere Macht
habe ihnen verraten, was tatsächlich die Wahrheit sei. Und überall
gebe es Menschen, die zu führen meinten, obwohl sie es nicht taten,
und diese letzte Gruppe war so nicht übersehen ließ. Allerdings -
und da saß der Haken in Argalias Argumentation - waren die Spanier
mittlerweile bei allen Italienern derart verhasst, dass es für die
Medici äußerst unklug gewesen wäre, noch einmal ihre Dienste in
Anspruch zu nehmen. Also brauchte die Stadt einen Trupp
kriegserprobter Männer, der in der florentinischen Miliz die
Führung übernahm und ihr zu Rückgrat und Ordnung verhalf, woran es
so offensichtlich gemangelt hatte, zu Kampfesgeist, den Niccolo,
der von Natur aus Bürokrat und kein Mann des Krieges war, ihnen so
gar nicht hatte vermitteln können.
Indem er sich so sorgsam von seinem in Ungnade gefallenen alten Freund distanzierte, erstritt sich Argalia, der Türke, die Stelle eines condottiere von Florenz. Er war angenehm überrascht, als er hörte, dass er auf Dauer bestallt wurde statt nur für einen begrenzten Zeitraum von wenigen Monaten. Manche seiner Kriegskameraden wurden in jener Zeit, in der es mit den condottieri bereits zu Ende ging, für gerade mal drei Monate angeheuert, und die Bezahlung war an ihren militärischen Erfolg geknüpft. Argalia dagegen erhielt nach damaligen Maßstäben ein ganz ordentliches Gehalt, und darüber hinaus schenkte Herzog Giuliano seinem Oberbefehlshaber eine prächtige Residenz an der Via Porta Rossa samt Personal und großzügig bemessenem Wirtschafts-geld. «Admiral Doria muss mich ja wirklich in den höchsten Tönen gelobt haben», sagte Argalia zu Herzog Giuliano, als er diese vorteilhaften Bedingungen annahm.
«Er sagte, Ihr wäret das einzige barbarische Arschloch, dem er weder an Land noch auf See begegnen möchte, auch wenn Ihr nackt wie ein unbeschnittener Säugling wärt und nur ein Küchenmesser in der Hand hieltet», erwiderte der Herzog charmant.
Legenden zufolge besaß die Familie Medici einen
Zauberspiegel, der dem jeweils herrschenden Herzog das Bild der
begehrenswertesten Frau der bekannten Welt zeigte, und in
ebendiesem Spiegel hatte der am Tag der pazzi-Verschwörung
ermordete Giuliano de’ Medici, der Onkel des jetzigen Herrschers,
zum ersten Mal das Gesicht von Simonetta Vespucci gesehen. Nach
ihrem Tod jedoch war der Spiegel erblindet, als weigerte er sich,
die Erinnerung an Simonetta mit dem Bild einer geringeren Schönheit
zu beflecken. In jenen Zeiten, in denen die Familie außerhalb der
Stadt Florenz im Exil weilte, blieb der Spiegel noch eine Weile an
seinem Platz in dem Raum hängen, der im alten Haus an der Via Larga
einmal Onkel Giulianos Schlafgemach gewesen war, doch da sich das
Glas standhaft weigerte, weder als ein Werkzeug der Offenbarung
noch als gewöhnlicher Spiegel zu funktionieren, wurde es
schließlich abgehängt und in einen kleinen Putzschrank gestellt,
kaum mehr als eine hinter der Schlafzimmerwand verborgene
Besenkammer. Nach der Wahl von Papst Leo aber begann der Spiegel
plötzlich wieder zu glühen, und es hieß, eine Dienstmagd sei vor
Schreck ohnmächtig geworden, als sie die Kammertür öffnete und ihr
das Gesicht einer Frau aus spinnenwebverhangener Ecke
entgegenblickte, einer Fremden, die wie eine Besucherin aus einer
anderen Welt aussah. «In ganz Florenz gibt es kein solches
Gesicht», sagte der neue Herzog Giuliano, sobald ihm das Wunder
gezeigt wurde, doch schien sich mit dem Blick in den Zauberspiegel
ebenso seine Gesundheit wie auch seine Haltung deutlich zu
verbessern. «Hängt den Spiegel wieder an die Wand, und ein
Golddukaten soll dem gezahlt werden, der die Trägerin dieses
lieblichen Antlitzes zu mir bringen kann.»
Der Maler Andrea del Sarto wurde geholt, um einen Blick in den
Zauberspiegel zu werfen und das Bildnis der darin sichtbaren
Schönen zu malen, doch ließ sich der Spiegel nicht so leicht
übertölpeln, denn jeder Zauberspiegel, der zuließe, dass man seine
magischen Bilder reproduzierte, wäre nur allzu bald außer Diensten,
weshalb del Sarto, als er ins Glas schaute, niemanden erblickte als
sich selbst. «Egal,,, sagte Giuliano enttäuscht. «Sie kann Euch
Modell stehen, sobald ich sie finde.,, Kaum war deI Sarto fort,
fragte sich der Herzog, ob das Problem nicht vielleicht darin
bestehe, dass der Spiegel keine allzu hohe Meinung vom Genie des
Künstlers hegte, doch schien del Sarto der Beste, der zur Verfügung
stand, denn Sanzio war in Rom, um sich mit Buonarroti im Vatikan zu
streiten, und der alte Filipepi, dem es die verstorbene Simonetta
so angetan hatte, dass er zu ihren Füßen begraben werden wollte -
was man natürlich nicht zulassen konnte -, war mittlerweile selbst
tot, und lange, ehe er starb, war er arm und nutzlos geworden, da
er ohne die Hilfe von zwei Krückstöcken nicht mehr aufrecht hatte
stehen können. Filipepis Schüler Filippino Lippi war bei den
festaiuoli beliebt, den Organisatoren des Straßenkarnevals und
aller festlichen Paraden, ein Liebling der Massen, für jene Aufgabe
aber völlig ungeeignet, die Herzog Giuliano vorschwebte. Also blieb
nur deI Sarto, doch war es letztlich müßig, darüber zu spekulieren,
denn von nun an zeigte der Zauberspiegel sein Bild nur noch, wenn
sich Giuliano allein im Zimmer aufhielt. Während der nächsten Tage
fand er daher immer häufiger einen Vorwand, sich mehrmals am Tag in
sein Schlafgemach zurückzuziehen, um die überirdische Schönheit zu
betrachten, und seine Höflinge, die sich längst um seine
angeschlagene Gesundheit und seine neurasthenischen Launen sorgten,
begannen, da sie eine Verschlechterung seines Zustandes fürchteten,
sich mit wachsendem Grausen und zunehmender Unterwürfigkeit Lorenzo
anzudienen, dem mutmaßlichen Nachfolger. Dann aber ritt eines Tages
dieses bezaubernde Geschöpf an der Seite von Argalia, dem Türken,
in die Stadt, und die Zeit der ammaliatrice begann.
Sie war gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt,
fast ein Vierteljahrhundert jünger als Il Machia, doch als sie ihn
fragte, ob er mit ihr in seinem Wald spazieren gehen wolle, sprang
er mit der Gelenkigkeit eines bis über beide Ohren vernarrten
Jünglings von seinem Platz auf. Ago Vespucci erhob sich ebenfalls,
wie Niccolo irritiert bemerkte; was denn, war dieser indolente Kerl
immer noch da? Und rechnete er etwa damit, sie auf dem Ausflug
begleiten zu dürfen? Lästig, überaus lästig, doch unter den
gegebenen Umständen wohl unvermeidlich. Dann folgte der erste
Hinweis darauf, dass die Prinzessin über außergewöhnliche Gaben
verfügte. Niccolos Frau Marietta, sonst die Eifersucht in Person,
unterstützte den Vorschlag bereitwillig und in einem Ton, der ihren
Mann in Erstaunen versetzte. «Ja, natürlich musst du ihr die Gegend
zeigen», flötete sie, stellte rasch einen Picknickkorb zusammen und
legte noch eine Flasche Wein dazu, auf dass ihnen der Ausflug desto
besser gefalle. Der erstaunte Il Machia war auf der Stelle davon
überzeugt, dass seine Frau im Banne eines Zaubers gefangen sein
musste, und merkte, wie ihm die Worte «ausländische Hexen» in den
Sinn kamen, doch dann erinnerte er sich an das Sprichwort vom
geschenkten Gaul, verdrängte alle weiteren Überlegungen und
erfreute sich seines Glücks. Mit Ago im Schlepptau machte er sich
in der nächsten halben Stunde auf den Weg, vom Serben Konstantin
und einer Abteilung Wachen in diskretem Abstand gefolgt, um die
junge Prinzessin und ihre Dienerin in den Eichenwald seiner
Kindheit zu begleiten. «Hier», erzählte Ago, und Il Machia sah ihm
an, dass er sie auf seine er-bärmliche Weise zu beeindrucken
suchte, «habe ich einmal eine Alraune gefunden, diese magische,
sagenumwobene Wurzel, jawohl, die habe ich gefunden. Da drüben
irgendwo!» Schwungvoll blickte er sich um, wusste aber nicht, in
welche Richtung er zeigen sollte. «Ach nein, eine Alraune?»,
erwiderte Qara Köz in ihrem makellosen florentinischen Italienisch.
«Seht doch, dort drüben scheint mir ein ganzes Beet dieser
lieblichen kleinen Dinger zu sein.»
Und ehe man sie aufhalten konnte, ehe man ihnen warnend zurufen
konnte, dass sie sich die Ohren mit Erde zustopfen mussten, bevor
sie derlei versuchen konnten, eilten die beiden Damen zu dem Gewirr
dieser unmöglichen Pflanzen und zogen sie mitsamt den Wurzeln
heraus. «Ihr Geschrei», kreischte Ago aufgeregt mit nutzlos
flatternden Händen. «Hört auf! Hört auf! Davon wird man verrückt!
Oder taub! Oder wir müssen alle … » «Sterben» hatte er sagen
wollen, doch schauten die beiden Frauen ihn nur verwirrt an, eine
entwurzelte Alraune in jeder Hand, und kein tödliches Geschrei war
zu hören. «In Übermaßen genossen, sind sie natürlich giftig», sagte
Qara Köz nachdenklich, «doch braucht man deshalb keine Angst zu
haben.»
Als die beiden Männer begriffen, dass sie in Gegenwart von Frauen
waren, für die Alraunen klaglos ihr Leben gaben, staunten sie nicht
schlecht. «Tja, nur probiert sie bitte nicht an mir aus», stammelte
Ago in dem Versuch, die gerade gezeigte Furcht vergessen zu machen,
«sonst werde ich Euch auf immer lieben oder doch so lange, bis
einer von uns beiden stirbt.» Mit diesen Worten stieg eine tiefe
Röte in ihm auf, zog sich bis hinab unter den Hemdkragen und
tauchte selbst jenseits der Manschetten wieder auf, weshalb sich
sogar die Farbe seiner Hände änderte, was natürlich nur bewies,
dass er längst hoffnungslos und auf immer den beiden Damen ergeben
war. Es brauchte keine magische Pflanzenkraft mehr, um seine Liebe
zu entfachen.
Als Argalia schließlich mit seinen Schweizer
Riesen zurückkehrte, um Qara Köz in ihr neues Heim, den Palazzo
Cocchi del Nero, zu geleiten, hatte sie bereits das gesamte Dorf
Sant’ Andrea in Percussina bis auf den letzten Mann, die letzte
Frau, das letzte Kind in ihren Bann gezogen. Selbst die Hühner
schienen glücklicher zu sein als zuvor, jedenfalls legten sie mehr
Eier. Dabei hatte die Prinzessin eigentlich nichts getan, um die
Bewunderung in solchem Maße wachsen zu lassen, doch sie wuchs.
Während der sechs Tage ihres Aufenthalts im Haus der Machiavelli
ging sie mit Spiegel im Wald spazieren, las Lyrik in diversen
Sprachen, lernte die Kinder der Familie kennen, freundete sich mit
ihnen an und war sich auch nicht zu fein, ihre Hilfe in der Küche
anzubieten, ein Angebot, das Marietta allerdings ausschlug. Am
Abend gefiel es ihr, mit n Machia in der Bibliothek zu sitzen und
sich von Niccolo einzelne Abschnitte aus den Werken von Pico della
Mirandola und Dante Alighieri vorlesen zu lassen, auch manch einen
Canto des epischen Gedichtes Orlando innamorato von Matteo Boiardo
aus Scandiano. «Ach!», rief sie, als sie von den vielen
Schicksalsschlägen der Heldin erfuhr. «Die arme Angelica! So viele
Verehrer und so wenig Macht, sich ihnen zu widersetzen oder auch
nur ihren Willen aufzuzwingen.»
Längst sang das ganze Dorf unisono ihr Lob. Der Holzfäller
Gaglioffo bedachte Qara Köz und ihren Spiegel nicht länger mit
solch einem groben Ausdruck wie «Hexen» und sprach auch nicht mehr
davon, sie «vögeln» zu wollen, sondern redete über sie nur mit
einer großäugigen, respektvollen Ehrfurcht, die es ihm offenkundig
nicht gestattete, von einer fleischlichen Beziehung mit den beiden
hohen Frauen auch nur zu träumen. Die Gebrüder Frosino, die
Dorfgigolos, erklärten kühn, um Angelicas Hand anhalten zu wollen,
da niemand genau wusste, ob sie mit Argalia dem Türken wirklich
ordnungsgemäß verheiratet war - sollte sich dies allerdings
bewahrheiten, willigten die beiden Müller ein, ihm in dieser
Angelegenheit keinesfalls in die Quere kommen zu wollen -, doch für
den Fall, dass beide Frauen noch ledig seien, bekundeten sie ihr
Interesse und gingen mit ihrer brüderlichen Liebe gar so weit, sich
bereit zu erklären, sie und ihre Dienerin untereinander in
regelmäßigem Turnus zu tauschen, mal der eine, mal der andere.
Niemand sonst war ganz so dämlich wie Frosino Uno und Due, doch
stand Qara Köz allgemein in hohem Ansehen, und Frauen wie Männer
erklärten, von ihr «verzaubert» zu sein.
Doch falls dies Zauberei war, war es Zauberei der behutsams-ten
Art. Alle Florentiner waren wohlvertraut mit den raffgieri-gen
Prozeduren der dunklen Zauberinnen ihrer Zeit, den Anrufungen von
Dämonen, um züchtige Männer zu unzüchtigen Taten anzustacheln, dem
Gebrauch von langen Nadeln und lebensechten Puppen, um Widersacher
zu quälen, der Fähigkeit, vernünftige Männer so weit zu bringen,
dass sie Haus und Arbeit verließen, nur um ihre willigen Sklaven zu
werden. Im Haus von Il Machia war weder Qara Köz noch ihrer
Dienerin je anzumerken, dass die bei den Frauen Schwarze Künste
praktizierten, zumindest wurden gewisse Anzeichen nie für
problematisch gehalten. Hexen gingen gern in Wäldern spazieren, das
war allgemein bekannt, doch die Streifzüge von Qara Köz und Spiegel
durch die heimischen Haine war nach Ansicht der ehrenwerten Leute
von Percussina kaum mehr als «charmant» zu nennen. Die Kunde vom
Vorfall mit den Alraunen verbreitete sich kaum, und seltsamerweise
fand Il Machia auch die entsprechende Stelle nie wieder, noch
bekamen Niccolo und Aga die entwurzelten Pflanzen je wieder zu
Gesicht, weshalb es ihnen leichtfiel, sich zu fragen, ob das
Vorgefallene tatsächlich stattgefunden hatte.
Hexen wird allgemein nachgesagt, ausgeprägt sapphischen Neigungen
anzuhängen, doch niemand, nicht einmal Marietta Corsini, fand die
Entscheidung der beiden Damen, ein Bett miteinander zu teilen,
sonderlich beunruhigend. «Ach was, sie wollen einfach nicht allein
sein», erklärte Marietta ihrem Mann mit schwerfälliger Stimme, und
der nickte bedächtig, als stünde er unter der einschläfernden
Wirkung des am Nachmittag allzu reichlich genossenen Weins. Was die
berüchtigte Lüsternheit betraf, die Hexen vorzugsweise mit dem
Teufel selbst kopulieren ließ, nun, so waren in ganz Percussina
einfach keine Teufel zu finden, es stiegen auch keine aus dem
Höllenschlund auf, um im Kamin ein meckriges Gelächter anzustimmen,
noch hockten sie wie Wasserspeier auf dem Dach der Taverne oder der
Kirche. Dabei war es eine Zeit der Hexenjagd, und in der Stadt
konnte man vor Gericht Frauen hören, die sich zu den schändlichsten
Taten bekannten und gestanden, sich mit Hilfe von Wein, Weihrauch,
Monatsblut und aus Totenschädeln getrunkenem Wasser Herz und
Verstand braver Bürger gefügig gemacht zu haben. Doch obzwar es
stimmte, dass jedermann in Percussina in Prinzessin Qara Köz
verliebt schien, war die derart ausgelöste Verehrung gänzlich
keuscher Natur - sah man vielleicht einmal von den übermäßig unter
ihrem Geschlechtstrieb leidenden Brüdern Frosino ab. Nicht einmal
Ago Vespucci, dieses romantische Mondkalb, der sie lieben wollte,
bis, wie er gesagt hatte, einer von ihnen beiden starb, hegte zu
jener Zeit auch nur die geringste Hoffnung, tatsächlich ihr
Liebhaber werden zu wollen. Sie anzubeten war der Freude
genug.
Jene, die später die Geschichte der Zauberin von Florenz
auf-zeichneten und analysierten, allen voran Gianfrancesco Pico
della Mirandola, Neffe des großen Philosophen Giovanni und Autor
von La strega ovvero degli inganni de, demoni, «Die Hexe oder die
Irreführung der Dämonen»,, kamen zu dem Schluss, dass der Pesthauch
der Faszination, den Qara Köz in Percussina verströmte und der sich
rasch in der ganzen Gegend bis hin nach San Casciano und Val di
Pesa ausbreitete, nach Impruneta und Bibione, Faltignano und
Spedaletto, dass dieses Miasma also Folge eines absichtlich
verhängten Zaubers von ungeheurer Macht war, verhängt in der
Absicht, die eigenen Kräfte zu erproben ebenjene Kräfte, die sie
später mit solch außerordentlicher Wirkung in und um die Stadt
Florenz selbst einsetzen sollte -, sowie um ihr den Weg in eine
ansonsten vielleicht feindselig gesinnte Umgebung zu ebnen. Gian
Francesco berichtet, als Argalia, der Türke, mit seinen vier
Schweizer Riesen zurückkehrte, habe er eine beträchtliche
Menschenmenge vor dem Anwesen der Machiavelli angetroffen, beinahe
so, als wäre ein Wunder geschehen, als wäre die Madonna in
Percussina erschienen und alles Volk wäre zusammengeströmt, um sie
zu sehen. Kaum traten Qara Köz und ihr Spiegel aus dem Haus,
angetan mit schönstem Brokat und edelstem Schmuck, fielen die
Versammelten tatsächlich auf die Knie, als bäten sie um den Segen
der Prinzessin, den diese ohne Worte, doch mit einem Lächeln und
leicht erhobenem Arm auch zu erteilen schien. Dann war sie fort,
und als erwachte Marietta Corsini aus einem Traum, schrie sie jeden
an, der über ihr Land trampelte, er solle sich fortscheren.
Gianfrancesco schrieb dazu: «Die Bauern kamen wieder zu Verstand
und mussten mit Erstaunen feststellen, wo sie sich befanden. Sie
kratzten sich verwundert am Kopf und kehrten dann nach Hause
zurück, auf die Felder, zur Mühle, zum Wald oder zu den
Brennöfen.»
Andrea Alciato, der die Auffassung vertrat, dass Hexen und ihre
Adepten mit pflanzlichen Heilmitteln behandelt werden sollten,
schrieb den geheimnisvollen «Percussina-Vorfall» jenen allzu
schlechten Essgewohnheiten der Dorfbewohner zu, die sie anfällig
für Phantastereien und Halluzinationen machten, während es sich bei
der Andeutung von Bartolomeo Spina, Autor des ein Jahrzehnt nach
den Ereignissen verfassten De Strigibus, Qara Köz könnte die
Dorfbewohner in satanische Ekstase versetzt und mit ihnen eine
große, orgiastische schwarze Messe veranstaltet haben, wohl um eine
verleumderische Unterstellung handelt, für die sich in den
historischen Unterlagen jener Zeit nicht der geringste Beleg finden
lässt.
Als Antonino Argalia, genannt der Türke, neuer
condottiere von Florenz und frischbestallter Kommandant der Miliz,
in Florenz einzog, wurde seine Berufung mit ebenjenen
ausschweifenden, hedonistischen Feierlichkeiten begangen, für die
diese Stadt so bekannt war. Auf der Piazza della Signoria hatte man
eine hölzerne Burg errichtet, die zum Schein mit dreihundert Mann
bestürmt wurde, während hundert Soldaten das Gebäude verteidigten.
Niemand trug eine Rüstung, doch wurde dermaßen hart gekämpft, mit
Lanzen aufeinander eingedroschen und mit ungebrannten Ziegeln
geworfen, dass manch ein Komparse zum Hospital von Santa Maria
Nuova gebracht werden musste, wo einige von ihnen leider auch
starben. Auf der Piazza veranstaltete man eine Stierhatz, und die
Stiere schickten ebenfalls manch einen Festteilnehmer ins Hospital.
Man ließ außerdem zwei Löwen gegen einen schwarzen Hengst kämpfen,
doch reagierte das Pferd so kühn auf den Angriff des ersten Löwen,
schlug nach ihm aus und trieb ihn von der Mercantantia, in der das
Gericht der Kaufmannsgilde tagte, bis mitten auf die Piazza, sodass
der König der Tiere schließlich Reißaus nahm und sich in einer
dunklen Ecke des Platzes verkroch. Danach schien auch der zweite
Löwe nicht mehr willens, sich in die Keilerei einzumischen. Man
hielt das allgemein für ein gutes Omen, da das Pferd natürlich
Florenz verkörperte und man in den Löwen die Feinde der Stadt sah,
ob nun Frankreich, Mailand oder sonst eine schuftige
Gegend.
Nach diesen Präliminarien erreichte die Prozession die
Stadt.
Zuerst kamen acht ‘dfici, Plattformen auf Rädern also, auf de-nen
Schauspieler die Siegesposen eines großen Kriegers der Geschichte
nachstellten, etwa von Marcus Furius Camillus, Zensor, Diktator und
sogenannter zweiter Gründer von Rom, der gezeigt wurde, wie er nach
der Belagerung von Veji vor fast zweitausend Jahren Gefangene nahm
und eine enorme Beute an Waffen, Gewändern und Silber machte. Daran
anschließend folgten Männer, die auf den Straßen tanzten und
sangen, sowie vier Schwadronen schwerbewaffneter Kavalleristen mit
angelegten Lanzen. (Die Schweizer Riesen Otho, Botho, Clotho und d’
Artagnan hatten das Kommando über die Ausbildung an der Lanze
gewählt, ~ alle Welt den geschickten Umgang der Schweizer
Infanteristen mit der Lanze fürchtete. Und schon nach nur ein oder
zwei vorläufigen Übungsstunden war für jedermann deutlich zu sehen,
dass die Miliz ihre Lanzen deutlich besser zu handha-ben wusste.,
Endlich ritt auch Argalia durch das große Tor, flankiert von seinen
vier Schweizer Klatschmäulern, gleich dahinter der Serbe Konstantin
zwischen den beiden Ausländerinnen, danach die hundert
Janitscharen, deren Aufmachung Entsetzen im Herzen aller Zuschauer
weckte. Jetzt ist unsere Stadt sicher, hörte man jemanden rufen,
denn unsere unbesiegbaren Beschützer sind gekommen. Dieser Name -
die Unbesiegbaren - blieb an den neuen Wächtern der Stadt hängen.
Herzog Giuliano, der vom Balkon des Palazzo Vecchio herabwinkte,
schien es zu freuen, dass sein neuer Mitstreiter bei der
Öffentlichkeit so gut ankam, wohingegen sein Neffe Lorenzo einen
mürrischen und griesgrämigen Eindruck machte. Als Argalia zu den
beiden mächtigen Medici aufsah, wurde ihm klar, dass er den
Jüngeren besonders aufmerksam im Blick behalten musste.
Herzog Giuliano erkannte in Qara Köz auf Anhieb
die Frau aus dem Zauberspiegel wieder, das Objekt seiner knospenden
Begierde, und vor Freude hüpfte ihm das Herz im Leib. Lorenzo de’
Medici sah sie ebenfalls, und mit lüsternem Verlangen träumte er
davon, sie zu besitzen. Was Argalia betraf, so kannte er die
Gefahr, seine Geliebte derart prächtig geschmückt in die Stadt zu
bringen, und dies noch unter den Augen jenes Herzogs, dessen
Namensvetter, sein Onkel, einst die große Schönheit der Stadt
schamlos ihrem Mann gestohlen hatte, dem Gehörnten Marco Vespucci,
woraufhin dem Armen sein Selbstwertgefühl so vollständig
abhandenkam, dass er nach dem Tod seiner Frau an ihre Kleider und
Gemälde in den Palazzo Medici schickte, damit der Herzog auch noch
die letzten Reste dessen besäße, was von ihr geblieben war, um dann
zum Ponte alle Grazie zu gehen und sich zu erhängen. Doch Argalia
gehörte nicht zu denen, die zu Selbstmord neigen; er sagte sich,
dass der Herzog kaum den starken Mann des Militärs gegen sich
aufzubringen wünschte, den er eben erst eingestellt hatte und
dessen Einzug in die Stadt er gerade feierte. Wenn er sie mir aber
doch nehmen will, dachte Argalia, wird er sehen, dass ich ihn mit
all meinen Männern erwarte. Und wollte er sie mir gegen solch einen
Widerstand nehmen, müsste er schon Herkules oder Mars sein, was
dieses Sensibelchen, wie für niemanden zu übersehen, ganz
offenkundig nicht ist.
Vorläufig jedenfalls war er froh, sie herumzeigen zu können. Als
die Menge Qara Köz zu Gesicht bekam, breitete sich in der Stadt ein
Flüstern aus, das gleich darauf zu einem Murmeln anschwoll, in
dessen Folge der turbulente Lärm des Tages verstummte. Und so kam
es, dass sich eine ungewohnte Stille über die ganze Stadt gelegt
hatte; als Argalia mit den bei den Damen am Palazzo Cocchi deI Nero
anlangte, gedachten die Bürger von Florenz doch der Ankunft
körperlicher Vollkommenheit in ihrer Mitte, einer dunklen
Schönheit, die jene Leere füllte, welche seit Simonetta Vespuccis
Tod in ihren Herzen klaffte. Schon wenige Augenblicke nach ihrem
Eintreffen hatte die Stadt Qara Köz als ihr ureigenes Gesicht
angenommen, als das neue Symbol ihrer selbst, als die menschliche
Verkörperung ihrer eigenen unübertroffenen Lieblichkeit. Die dunkle
Dame von Florenz: Dichter griffen zu ihren Stiften, Maler nach
ihren Pinseln, Bildhauer nach ihren Meißeln. Das gemeine Volk, die
wildesten, aufmüpfigsten vierzigtausend Seelen in ganz Italien,
ehrte sie auf eigene Weise, indem es still wurde und verstummte, wo
immer sie vorüberging. Folglich konnte jedermann hören, was
geschah, als Herzog Giuliano und Lorenzo de’ Medici der
Gefolgschaft am Eingang zu Argalias neuem Haus entgegentraten,
einem vierstöckigen Gebäude mit drei hohen Torgewölben in einer
pietraforte-Fassade. Über dem Eingang, im Mittelpunkt der Fassade,
prangte das Wappen der Familie Cocchi deI Nero, die in letzter Zeit
ein wenig Pech gehabt hatte und deshalb den Palast an die Medici
verkaufen musste. Es war das größte architektonische Meisterwerk in
einer Straße voller Meisterwerke, zu denen auch die weitläufigen
Residenzen einiger der ältesten Familien der Stadt gehörten, die
der Soldanieri, der Monaldi, der Bostichi, der Cosi, der Bensi, der
Bartolini, der Cambi, der Arnoldi und der Davizzi. Herzog Giuliano
wollte Argalia und auch allen übrigen Anwesenden beweisen, wie
großzügig sein Geschenk war, und richtete seine erste Bemerkung
deshalb mit einer kleinen Verbeugung und allerhand schwungvollen
Gesten nicht an Argalia, sondern an Qara Köz.
«Ich freue mich», sagte er, «einem solch exquisiten Juwel das
passende Schmuckkästchen bieten zu können.» Qara Köz erwiderte mit
weithin schallender Stimme: «Ich bin kein billiger Tand, mein Herr,
sondern eine Prinzessin aus dem königlichen Geblüt von Timur und
Temüdschin - also von Genghis Qan, den ihr Dschingis Khan nennt -,
und ich erwarte, meinem Rang gemäß angesprochen zu
werden.»
Mongole! Mogor! Diese ruhmreichen, fremdländischen Worte
durchliefen die Menge und weckten ein fast erotisches Gemenge aus
Erregung und Schrecken. Es war Lorenzo de’ Medici, rot im Gesicht
vor lauter Aufgeblasenheit, der aussprach, was manch einer
fürchtete, womit er Argalias Einschätzung bestätigte, dass es sich
bei ihm nur um einen eitlen, zweitklassigen Jungen handeln konnte.
«Was seid Ihr für ein Narr, Argalia», rief Lorenzo, «durch die
Entführung dieser anmaßenden Tochter der Mogoren bringt Ihr die
Goldene Horde über uns.» Mit ernster Miene erwiderte Argalia: «Das
wäre wahrlich eine außerordentliche Tat, besonders da es die Horde
nicht mehr gibt und ihre Macht auf immer vom Vorfahren ebendieser
Prinzessin gebrochen wurde, von Tamerlan, und dies vor mehr als
hundert Jahren. Außerdem, meine Herren, habe ich niemanden
entführt. Die Prinzessin war die Gefangene des Schahs Ismail von
Persien, und ich habe sie nach unserem Sieg in der Schlacht von
Chaldiran befreit. Sie kam aus freien Stücken mit und in der
Hoffnung, eine Brücke zwischen den großen Kulturen Europas und des
Ostens schlagen zu können, wohl wissend, dass sie viel von uns
lernen kann, aber auch in der Überzeugung, dass sie uns manches zu
lehren vermag.»
Diese Erklärung fand das Wohlwollen der lauschenden Menge die
darüber hinaus mächtig von der Neuigkeit beeindruckt war, dass ihr
neuer Beschützer in jener schon fast legendären Schlacht auf der
Seite der Gewinner gestanden hatte -, und zahlreiche Jubelrufe zu
Ehren der Prinzessin wurden laut, die weitere Einwände in ihrer
Gegenwart unmöglich machten. Herzog Giuliano, der geschickt seine
Überraschung und sein Unbehagen zu verbergen wusste, bat mit
erhobener Hand um Ruhe. «Wenn solch bedeutsamer Gast nach Florenz
kommt, rief er, «muss die Stadt sich von ihrer besten Seite zeigen
- und das wird Florenz auch tun.»
Der Palazzo Cocchi del Nero barg einen der
prächtigsten grands salons der Stadt, einen acht Meter breiten und
nahezu zwanzig Meter langen Saal mit einer fast sieben Meter hohen
Decke, erhellt von fünf riesigen Bleiglasfenstern, ein Saal, in dem
es sich auf das fürstlichste feiern ließ. Das große Schlafzimmer,
allgemein nur Brautgemach genannt, an dessen vier Wänden ein
reliefbedeckter Fries mit Bildern aus einem romantischen Gedicht
von Antonio Pucci prangte, welches seinerseits auf eine alte
provenzalische Liebesgeschichte zurückging, war ein Raum, in dem
sich zwei (oder drei, Liebende ganze Tage und Nächte vergnügen
konnten, ohne je das Bedürfnis zu verspüren, aufstehen oder aus dem
Haus gehen zu müssen. Dies war, mit anderen Worten, ein Herrensitz,
an dem Qara Köz sich wie eine der großen Damen von Florenz hätte
aufführen können, separat vom gemeinen Volk, zugänglich nur für die
vornehmsten Familien der Stadt. Doch die Prinzessin hatte nicht
vor, ihre Zeit auf diese Weise zu verbringen.
Es ließ sich nicht übersehen, dass sie und ihr Spiegel das
unverschleierte Leben genossen. Tagsüber ging die Prinzessin durch
die dicht bevölkerten Straßen zum Markt oder sah sich einfach die
Sehenswürdigkeiten an und mengte sich, mit Spiegel als Begleiterin
und einzig dem Serben Konstantin zum Schutz, auf eine Weise unter
das Volk, wie es vor ihr keine hohe Dame von Florenz je getan
hatte. Allein deshalb liebten sie die Florentiner. «Simonetta Due»
wurde sie anfangs genannt, Simonetta die Zweite, doch als sich der
Name verbreitete, den sie und Spiegel wahlweise füreinander
benutzten, wurde sie zu «Angelica die Erste.» Man warf ihr Blumen
vor die Füße, wo immer sie hinging. Und allmählich beschämte ihre
Furchtlosigkeit die jungen Frauen aus gutem Hause so sehr, dass sie
sich ebenfalls vor die Tür trauten. Im Bruch mit der Tradition
kamen sie abends hervor, um zu zweit oder zu viert durch die
Straßen zu flanieren, zum großen Entzücken der jungen Herren, die
endlich guten Grund hatten, den Bordellen fernzubleiben. Die
Hurenhäuser leerten sich, und es begann der sogenannte Untergang
der Kurtisanen. Der Papst in Rom, der den plötzlichen Wandel in der
öffentlichen Moral seiner Heimatstadt zu schätzen wusste, fragte
sich gegenüber Herzog Giuliano, als der gerade einmal die Ewige
Stadt besuchte, ob es sich bei der dunklen Prinzessin, die doch
behauptete, keine Christin zu sein, nicht womöglich um die jüngste
Heilige seiner Kirche handeln könne. Giuliano, ein religiöser Mann,
kolportierte diese Anekdote im Beisein eines Höflings, und bald
darauf verbreiteten sie die Flugblattschreiber der ganzen Stadt.
Kaum aber hatte Leo X. auf diese Weise über Qara Köz’
möglicherweise gesegnetes Wesen spekuliert, da tauchten erste
Berichte über ihre Wunder auf.
Viele von denen, die sie durch die Straßen spazieren sahen,
behaupteten, um sie herum die kristallene Musik der Sphären gehört
zu haben, andere schworen, sie hätten einen Lichterkranz um ihren
Kopf gesehen, breit genug, um auch bei hellstem Tageslicht
erkennbar zu sein. Unfruchtbare Frauen kamen zu Qara Köz und baten
sie, ihren Bauch zu berühren, um dann der Welt zu erzählen, dass
sie noch in derselben Nacht empfangen hätten. Blinde lernten sehen,
Lahme gehen, bloß eine nachweisbare Auferstehung von den Toten
fehlte unter den Berichten von ihren Wundertaten. Selbst Ago
Vespucci schloss sich den Reihen der Wundergläubigen an und
behauptete, ihr Segen ruhe auf seinem Weinberg, der, seit sie ihn
gnädigerweise besucht habe, den edelsten Tropfen hervorbringe, den
seine Familie je ernten durfte; und er versprach, kostenlos einmal
im Monat ein Fässchen zum Palazzo Cocchi del Nero zu
bringen.
Kurz und gut, die als Angelica entschleierte Qara Köz war zur
vollen Blüte ihrer weiblichen Fähigkeiten herangereift und übte sie
nun in vollem Umfang aus, kühlte die Luft mit einem gütigen Hauch,
der die Gedanken der Florentiner mit Bildern elterlicher,
kindlicher, körperlicher und göttlicher Liebe füllte. Anonyme
Flugblattschreiber erklärten sie zur Reinkarnation der Göttin
Venus. Sanfte Düfte der Versöhnung und Harmonie durchzogen die
Luft, man arbeitete schwerer, aber auch produktiver, das
Familienleben wurde besser, die Geburtenrate stieg, und die Kirchen
waren voll. Sonntags hörten die Medici in der Basilika San Lorenzo
Predigten, die nicht bloß die Tugenden der Oberhäupter aller
mächtigen Familien rühmten, sondern auch jene ihres Gastes, einer
Prinzessin nicht allein im fernen Indien oder Cathay, sondern auch
bei uns daheim in Florenz.. Das war die strahlend helle Zeit der
Zauberin, die Dunkelheit aber ließ nicht lange auf sich
warten.
In jenen Tagen steckten die Köpfe der Leute voller Bilder von
imaginären Hexen, Bilder von Alcina zum Beispiel, der bösen
Schwester von Morgana le Fay, mit der sie die dritte Schwester
verfolgte, die gute Hexe Logistilla, eine Tochter der Liebe; sodann
von Melissa, der Zauberin von Mantua; von Dragontina, die den
Ritter Orlando gefangen nahm; von der uralten Circe, aber auch der
namenlosen, jedoch furchterregenden Zauberin von Syrien. Die Hexe
als hässliches Ungeheuer, als altes Weib, wich in der
Vorstellungswelt der Florentiner jener hinreißenden Kreatur, deren
offenes Haar eine lockere Moral verriet, deren Verführungskünste
unwiderstehlich schienen, deren Magie manchmal im Dienste des Guten
eingesetzt wurde, manchmal aber auch, um Schaden anzurichten. Nach
der Ankunft von Angelica nahm die Idee der guten Zauberin
schließlich feste Gestalt an als die eines wohlwollenden,
übermenschlichen Wesens, das zugleich Göttin der Liebe und
Beschützerin des Volkes war. Dort drüben ging sie schließlich über
den Mercato Vecchio, lebensgroß - «Koste meine Birnen, Angelica!» -
«Das sind ganz süße, saftige Pflaumen, Angelica!» -, kein
Hirngespinst, sondern eine Frau aus Fleisch und Blut. Also wurde
sie angehimmelt, und man glaubte, sie sei zu Großem fähig, doch
trennt die Zauberin nur ein schmaler Grat von der Hexe. Es gab noch
immer Stimmen, die andeuteten, diese neue Inkarnation einer
Magierin, die alle okkulte Macht der Frauen freisetzte, sei nichts
als Maskerade, und die wahren Gesichter solcher Damen seien doch
immer noch die gefürchteten Fratzen der Lamia, der alten
Vettel.
Jene Skeptiker, die dank ihres griesgrämigen Naturells eine Abneigung gegen übernatürliche Erklärungen für geschichtliche Ereignisse hegen, ziehen es vermutlich auch vor, konventionellere Gründe für die goldene Zeit der allgemeinen Zufriedenheit und des materiellen Wohlstandes anzugeben, die Florenz in jenen Tagen genoss. Unter der gütig tyrannischen Regentschaft von Leo X., dem eigentlichen Herrn und Meister von Florenz, den man, je nach Blickwinkel, für ein Genie oder für einen aufgeblasenen Narren hielt, gedieh die Stadt, die Feinde zogen sich zurück usw., usw. Für Schwarzseher solch verbitterter Zunft würde natürlich das Treffen des Papstes mit dem König von Frankreich im Anschluss an die Schlacht von Marignano im Vordergrund stehen, ebenso seine Bündnisse und Verträge, die neuen Territorien, die er kaufte oder an sich riss und den Florentinern sehr zu ihrem Gewinn zur Verwaltung überließ, oder die Tatsache, dass er Lorenzo de’ Medici zum Herzog von Urbino ernannte oder Giuliano de’ Medici mit Prinzessin Filiberta von Savoyen verheiratete, woraufhin ihm Francois 1., König von Frankreich, zum Dank das Herzogtum Nemours überließ und ihm überdies vielleicht noch ins Ohr flüsterte, dass ihm auch bald Neapel gehören würde …
Diesen Korinthenkackern, die trockner als Staub
sind, sei zugestanden: Ja, die Macht des Papstes war zweifellos
enorm. Ebenso die Macht des Königs von Frankreich oder auch die des
Königs von Spanien, der Schweizer Armee und des osmanischen
Sultans, all diese Herrscher, die pausenlos miteinander im Krieg
lagen, Hochzeiten abhielten, sich versöhnten, ihres Amtes enthoben
wurden, Siege feierten, Niederlagen erlitten, Ränke schmiedeten,
Diplomatie betrieben, Vergünstigungen kauften und verkauften,
Steuern erhoben und Intrigen planten, die Kompromisse eingingen, in
ihren Entschlüssen schwankten und die weiß der Teufel was sonst
noch trieben. Zum Glück ist all dies völlig belanglos.
Nach einiger Zeit machten sich bei Qara Köz erste Anzeichen
physischer wie spiritueller Erschöpfung bemerkbar. Ihr Spiegel
stellte sie gewiss als Erste fest, beobachtete sie ihre Herrin doch
zu jeder Minute jeden Tages: Also dürfte ihr die leichte
Angespanntheit der sinnlichen Lippen aufgefallen sein, das über die
Muskeln ihrer Tänzerinnenarme huschende Zucken, die Kopfschmerzen
und die gereizten Augenblicke, die sie vermutlich ebenso klaglos
erduldet hatte. Vielleicht war es aber auch Argalia, der Türke, der
sich um sie sorgte, da sie zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer
Romanze seine Annäherungen abwehrte und Spiegel bat, ihn an ihrer
statt zufriedenzustellen. Mir ist nicht danach. Ich bin zu müde.
Mein Verlangen hat nachgelassen. Nehmt es nicht persönlich. Warum
versteht Ihr das nicht? Ihr seid schon, wer Ihr seid, ein mächtiger
Kriegsheld”, Ihr habt nichts mehr zu beweisen. Ich dagegen muss
noch zu werden versuchen, was in mir steckt. Wie könnt Ihr mich
lieben und das nicht verstehen? Das ist keine Liebe, das ist
blanker Egoismus. Der banale Verfall einer Liebe, der bis zum
bitteren Ende zanken lässt. Argalia wollte nicht glauben, dass es
mit ihrer Liebe zu Ende gehen könnte. Er wollte einfach nicht. Er
verdrängte jeden Gedanken daran. Ihre Liebe war die
Liebesgeschichte ihrer Zeit. Sie konnte nicht in Banalität und
Kleinlichkeit versiegen.
Sogar Herzog Giuliano fiel auf, dass dem Zauberspiegel etwas
fehlte, in den er zum großen Ärger seiner Frau, Filiberta von
Savoyen, immer noch jeden Tag stierte. Die Verbindung mit Filiberta
verdankte sich ausschließlich politischen Überlegungen. Die Dame
aus Savoyen war nicht jung, sie war auch nicht schön. Und nach der
Hochzeit fuhr Herzog Giuliano fort, Qara Köz aus der Ferne zu
verehren, doch muss schon aus Fairness gegenüber dem gebrechlichen,
gottesfürchtigen Mann gesagt werden, dass er nie versuchte, sie
seinem großen General abspenstig zu machen, und dass er sich damit
zufriedengab, ihr zu Ehren eine festa zu veranstalten, wie sie
höchstens noch mit den Feierlichkeiten zum Besuch des Papstes in
Florenz vergleichbar war. Als Filiberta bei ihrer Ankunft in
Florenz vom legendären Fest für die Prinzessin der Moguln hörte und
verlangte, ihr Mann solle seiner neuen Braut eine wenigstens
gleichwertige Lustbarkeit ausrichten, erwiderte Giuliano, ein
solcher Karneval sei doch wohl erst angemessen, wenn sie ihm einen
Erben schenkte. Allerdings suchte er nur noch selten ihr
Schlafgemach auf, und sein einziger Sohn würde ein Bastard sein,
Ippolito, der einstmals Kardinal werden sollte, wie es Bastarden
gelegentlich gelingt. Nach dieser Schmach begann Filiberta, die
Prinzessin von Herzen zu hassen, und kaum erfuhr sie von der
Existenz des Zauberspiegels, hasste sie den auch. Als sie dann
eines Tages vernahm, wie Giuliano über das kränkliche Aussehen der
dunklen Prinzessin klagte, hatte Filiberta die Nase voll. «Ihr geht
es nicht gut», sagte Giuliano bekümmert, während er wie gewöhnlich
in den Zauberspiegel stierte. «Sieh dir nur das arme Mädchen an.
Sie leidet.» Da schrie Filiberta: «Ich gebe ihr allen Grund zu
leiden», und warf die silberne Haarbürste mit solcher Wucht in den
Zauberspiegel, dass das Glas zersprang. «Mir geht es nicht gut»,
sagte sie. «Ehrlich gesagt, ich habe mich in meinem ganzen Leben
noch nicht so schrecklich gefühlt. Kümmere dich um meine Gesundheit
mindestens so sehr wie um ihre.»
Die Wahrheit war, dass Qara Köz es übertrieb, dass keine Frau eine
solch ungeheure Anstrengung über einen derart langen Zeitraum
aufzubringen vermochte. Die Verzauberung von vierzigtausend
Menschen, Monat um Monat, Jahr um Jahr, war selbst für sie zu viel.
Nur noch selten gab es Berichte von Wundertaten, dann versiegten
sie ganz. Der Papst verlor kein Wort mehr über eine
Seligsprechung.
Und anders als Alanquwa, die Sonnengöttin, besaß Qara Köz keine
Macht über Leben und Tod. Drei Jahre nach ihrer Ankunft in Florenz
erkrankte Giuliano de’ Medici und starb. Filiberta packte hastig
ihr Hab und Gut zusammen, darunter auch die gesamte, ungeheuer
wertvolle Aussteuer, und verschwand auf der Stelle und ohne alle
weiteren Umstände wieder nach Savoyen. «Florenz ist unter die
Fuchtel einer Sarazenenhure gefallen», sagte sie bei ihrer
Heimkehr, «die Stadt ist kein Ort mehr für eine gläubige
Christin.»
Zu dem Vorfall mit den Löwen und dem Bären war
es wäh-rend der festa für Qara Köz gekommen. Am ersten Tag hatte
der palio stattgefunden, ein Pferderennen, danach gab es ein
Feuerwerk. Am zweiten Tag wurden auf der Piazza della Signoria
wilde Tiere freigelassen: Bullen, Büffel, Hirsche, Bären, Leoparden
und Löwen. Berittene, aber auch Lanzenträger zu Fuß und in einer
riesigen Holzschildkröte sowie einem hölzernen Stachelschwein
versteckte Männer kämpften mit den Tieren. Ein Mann wurde von einem
Büffel getötet.
Irgendwann packte der größte Löwe einen Bären bei der Kehle, um ihn
zu töten, als sich zum allgemeinen Erstaunen eine Löwin zugunsten
des Bären einmischte und den Löwen so fest biss, dass er den Bären
freilassen musste. Der Bär erholte sich, doch die übrigen Löwen
schnitten die Löwin, die den Bären gerettet hatte, sodass sie
betrübt den viereckigen Platz ablief, niemanden angriff und allem
Anschein nach untröstlich - nicht einmal den Spott und das Geschrei
der Jäger beachtete. In den folgenden Tagen und Monaten wurde
vielerorts über die Bedeutung dieses merkwürdigen Vorfalls
diskutiert. Man war allgemein der Auffassung, dass die Löwin Qara
Köz verkörperte, wer aber war dann der Bär und wer der Löwe? Die
Erklärung, die sich schließlich durchsetzte und als Wahrheit
etablierte, stammte aus einem anonymen Pamphlet, dessen Autor - was
nur wenige Florentiner wussten - Niccolo Machiavelli hieß, ein
beliebter Theaterschriftsteller und in Ungnade gefallener
Politiker. Die Löwin sei bereit gewesen, sich um des Friedens
willen zwischen ihre eigene und eine fremde Spezies zu stellen. Auf
gleiche Weise sei Qara Köz zu ihnen gekommen, um Mächte miteinander
zu versöhnen, die unversöhnlich schienen, auch wenn sie sich dabei
gegen ihr eigenes Volk wenden musste. «Im Gegensatz zu der Löwin
auf der Piazza aber war diese menschliche Löwin nicht allein. Sie
hat und wird immer wahre Freunde unter den Bären finden.» So wurde
Qara Köz für viele Menschen zum Symbol des Frie-dens, der
Selbstaufopferung im Namen des Friedens. Es wurde auch allerhand
über die «Weisheit des Ostens» geredet, doch tat sie derlei stets
verächtlich ab, sooft es ihr zu Ohren kam. «Es gibt keine besondere
östliche Weisheit», sagte sie zu Argalia. «Die Menschen sind
überall im selben Maße töricht.»
Kaum hatten Qara Köz und ihr Spiegel Il Machias
Haus verlassen, spürte er, wie ihn eine bittere Traurigkeit
überkam, eine Traurigkeit, die ihn die restlichen dreizehn Jahre
seines Lebens nicht wieder verlassen sollte. Als ihn die Macht aus
ihren Gemächern vertrieb, hatte er Freunde verloren, und Ruhm war
nur noch eine blasse Erinnerung, doch der Abzug großer Schönheit
aus seinem Leben machte das Maß voll. Jetzt, da kein Bann der
Zauberin mehr über Percussina lag, hielt er seine Frau wieder für
eine watschelnde Ente und seine Kinder für eine finanzielle Last.
Gelegentlich machte er zwar noch einen kleinen Abstecher zu anderen
Frauen, nicht allein zur singenden Barbera, auch zu einer Dame in
der Nachbarschaft, deren Mann ohne ein Wort des Abschieds einfach
davongelaufen war, doch munterten ihn diese Besuche nicht mehr auf.
Voller Neid dachte er des Öfteren an den fortgelaufenen Gatten und
überlegte ernsthaft, eines Nachts selbst zu verschwinden. Seine
Familie könnte er glauben lassen, er sei tot, und wenn er auch nur
die geringste Ahnung gehabt hätte, was er danach mit seinem Leben
anfangen sollte, hätte er diesen Plan vielleicht sogar in die Tat
umgesetzt. Stattdessen brachte er untertänigst die Überlegungen und
Einsichten seines Lebens in jenem kurzen Buch zu Papier, das er in
der Hoffnung schrieb, damit die Gunst des Hofes wiedererlangen zu
können, sein kleines Fürstenspiegelstück, ein derart düsterer
Spiegel allerdings, dass er selbst fürchtete, es würde keinerlei
Gefallen finden. Aber sollte Weisheit nicht höher geschätzt werden
als Leichtfertigkeit, Klarheit nicht höher als Lobhudelei? Er
widmete das Buch Giuliano de’ Medici und schrieb den gesamten Text
von eigener Hand; als aber Giuliano starb, schrieb er das Buch noch
einmal, diesmal für Lorenzo. In seinem Herzen wusste er jedoch,
dass ihn die Schönheit auf immer verlassen hatte, dass kein
Schmetterling sich auf einer verwelkten Blume niederlässt, und das
machte ihm mehr zu schaffen als alles andere. Er hatte in ihre
Augen geschaut, und sie hatte ihn welken sehen und sich von ihm
abgewandt. Es war, als hätte man ihn zum Tode verurteilt.
Als Argalia kam, seine Frau zu holen, verbrachte Il Machia mit dem
neuen General von Florenz zwanzig Minuten allein in seiner
Bibliothek. «Mein Leben lang», erzählte Argalia, «schon seit ich
ein kleiner Junge war, hat mein Motto gelautet: Tu, was du zu tun
hast, um dahin zu kommen, wohin du willst. Ich habe überlebt, weil
ich herausfand, was mir am meisten nützte, und diesem Stern bin ich
stets gefolgt, über jedes Treuebündnis, über allen Patriotismus,
über die Grenzen der bekannten Welt hinaus. Ich, ich, immer nur
ich. Das ist das Motto der Überlebenden. Sie aber hat mich gezähmt,
Machia. Ich weiß, wie sie ist, denn sie ist immer noch so, wie ich
einmal war. Sie liebt mich, bis es ihr nicht länger nützt, mich zu
lieben. Sie betet mich an, bis die Zeit kommt, in der sie mich
nicht mehr anbetet. Also mache ich es mir zur Aufgabe, diesen
Zeitpunkt möglichst lange hinauszuzögern. Denn ich liebe sie nicht
auf diese Weise. Die Liebe, die ich für sie hege, weiß, das Wohl
des Geliebten ist wichtiger als das des Liebenden, wahre Liebe ist
Selbstlosigkeit. Qara Köz weiß das nicht, glaube ich. Ich würde für
sie sterben, sie aber nicht für mich.»
«Dann will ich nur hoffen, dass du nicht für sie sterben musst»,
sagte Niccolo, «denn das wäre eine Verschwendung deines guten
Herzens.»
Einen Moment lang war er auch mit ihr allein, mit ihr und ih-rem
Spiegel, von dem sie unzertrennlich war und dem, wie Il Machia
annahm, wohl ihre wahre Liebe galt. Er redete mit ihr nicht über
Herzensdinge. Das wäre unangemessen gewesen, unhöflich. Stattdessen
sagte er: «Dies ist Florenz, werte Dame, und Ihr werdet hier ein
gutes Leben führen, denn die Florentiner wissen, wie man gut lebt.
Doch wenn Ihr weise seid, haltet Ihr Euch immer ein Hintertürchen
offen. Ihr plant Euren Fluchtweg und achtet stets darauf, dass er
Euch nicht verstellt wird. Denn wenn der Arno über die Ufer tritt,
dann ertrinkt, wer kein Boot besitzt.»
Er schaute aus dem Fenster und konnte über dem Feld, das sein
Lehnsbauer beackerte, die rote Kuppel des Doms sehen. Auf einer
niedrigen Umfassungsmauer sonnte sich eine Eidechse. Er hörte das
wii-/a-wii-lo eines goldenen Pirols. Eichen und Kastanien,
Zypressen und Nusskiefern unterbrachen und ordneten den Blick. In
der Ferne, hoch am Himmel, kreiste ein Bussard. Die Schönheit der
Natur blieb bestehen, das ließ sich nicht leugnen, doch ihn
erinnerte diese bukolische Szene eher an einen Gefängnishof. «Für
mich», sagte er Qara Köz, «gibt es leider kein
Entkommen.»
Nach diesem Tag schrieb er ihr oft, gab die Briefe aber nie auf,
und ehe er starb, sah er die Angebetete nur noch ein einziges Mal.
Ago dagegen - Ago, der immer noch die Stadtfreiheit besaß - suchte
sie jeden Monat im Palazzo Cocchi del Nero auf, und sie tat ihm den
Gefallen, ihn gleich neben dem grand salon im Pirolsaal zu
empfangen, so benannt nach den Vogelbildern, die sämtliche mit
dichtem Wald bemalten Wände zierten. Den Karren mit dem Wein
schickte er zum Lieferanteneingang in der engen Gasse gleich hinter
dem Haus, er selbst aber betrat den Palast nicht als Händler. Er
legte seine besten Kleider an, das Hofgewand, für das er in letzter
Zeit nur noch selten Verwendung fand, und stolzierte wie ein
alternder Beau, der seine Liebste besucht, die Via Porta Rossa
entlang, das einst gelbe Haar jetzt weiß und schütter an den Kopf
geklatscht, Blumen in der Hand. Er wirkte ein wenig lächerlich, das
sah er ihren allzu ehrlichen Augen an, doch sie bat ihn um etwas,
vertraute ihm ein Geheimnis an. «Wollt Ihr das für mich tun?»,
fragte sie, und er antwortete: «Wann immer Ihr wollt.» Nur der
Spiegel und die Pirole wussten, was sonst noch gesagt worden war.
Giuliano de’ Medici starb, Lorenzo de’ Medici wurde als Lorenzo II.
Herrscher von Florenz, und die Dinge änderten sich. Drei Jahre lang
war von diesen Änderungen allerdings nur wenig zu spüren. Lorenzo
brauchte Argalia so dringend, wie ihn sein Onkel gebraucht hatte,
denn es war Argalia, der die Männer von Florenz in die Schlacht
gegen Francesco Maria führte, jenen Herzog von Urbino, den Leo X.
gerade betrog. Als sich die Medici im Exil befanden, hatte
Francesco Maria ihnen Zuflucht gewährt, nun aber wandten sich die
Medici gegen ihn, um ihm sein Herzogtum zu rauben. Er war ein
mächtiger Mann mit einem gut ausgebildeten Heer, weshalb selbst
Argalias Janitscharen drei Wochen brauchten, um ihn zu besiegen. Am
Ende dann waren neun der kampferprobten osmanischen Krieger tot.
Auch d’ Artagnan, einer der vier Schweizer Riesen, befand sich
unter den Gefallenen, und das Wehklagen von Otho, Botho und Clotho
war schrecklich anzuhören. Anschließend schlug Argalia in den
Sümpfen um Ancona die Revolten einiger Barone nieder, die Francesco
Maria treu ergeben waren, und spätestens jetzt war Argalia, der
Türke, für Lorenzo einfach zu mächtig, um offen gegen ihn vorgehen
zu können. Während dieser Zeit übergab Il Machia sein Büchlein
Loren-zos Hof. Er sollte nie ein Wort des Dankes, des Lobes, der
Kritik hören oder auch nur eine schlichte Empfangsbestätigung
bekommen, noch fand man nach Lorenzos Tod ein Exemplar des Buches
unter seinen Besitztümern. Kurz machte die Geschichte die Runde,
wie verächtlich Lorenzo gelacht haben soll, als ihm das Buch
gegeben wurde und er es gleich beiseitewarf. «Der Versager maßt
sich an, den Fürsten zu belehren, wie der Fürst erfolgreich sein
könne», sagte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme. «Ein solches
Buch muss ich mir natürlich gleich zu Herzen nehmen.» Kaum war das
unterwürfige Gelächter der Höflinge verklungen, sorgte er für eine
zweite Welle beflissenen Gejohles. «Eines dürfen wir allerdings mit
Gewissheit behaupten. Sollte man den Namen von Niccolo Alraune in
Erinnerung behalten, dann gewiss als den eines Komödianten und
nicht als eines Philosophen.» Diese Geschichte kam auch Ago zu
Ohren, doch war er rück-sichtsvoll genug, sie seinem Freund nicht
weiterzuerzählen. Folglich hoffte Niccolo viele Monate lang auf
eine Antwort. Als ihm klar wurde, dass er keine bekam, ging es mit
ihm noch rascher bergab. Das Büchlein aber legte Il Machia beiseite
und sollte es zu seinen Lebzeiten auch nie in Druck geben. Im
Frühling des Jahres 1519 machte Lorenzo dann seinen Zug.
Er sandte Argalia aus, die Franzosen durch die Lombardei zu
treiben, woraufhin der Türke von Florenz sich mit den Truppen von
Francois 1. an mehreren Orten der Provinz Bergamo Scharmützel
lieferte. Während seiner Abwesenheit aber richtete Lorenzo auf der
Piazza Santa Croce ein großes Turnier aus, ein Ereignis, jenem
Turnier zu Ehren von Simonetta Vespucci nachempfunden, auf dem vom
älteren Giuliano de’ Medici ein Banner entfaltet worden war, das
den Liebreiz von la sans pareille rühmte. Qara Köz wurde gebeten,
auf den königlichen Rängen den Ehrenplatz einzunehmen, gleich unter
einem blauen, mit goldenen Lilien verzierten Baldachin. Als Lorenzo
auf sie zuritt, rollte er ein neues Banner aus, eines, auf dem das
von deI Sarto gemalte Antlitz von Qara Köz prangte, doch waren die
Worte gleich: la sans pareille. «Ich widme diese Spiele der
Schönheitskönigin unserer Stadt, Angelica von Florenz und Cathai»,
rief Lorenzo. Qara Köz aber verharrte regungslos und weigerte sich,
ihm ein Zeichen ihrer Gunst zuzuwerfen, einen Schal oder ein
Halstuch, woraufhin die sich dunkel verfärbenden Wangen des Herzogs
seine Demü-tigung verrieten, seine Wut. Es gab sechzehn
Turnierkämpfer, Soldaten, die zur Bewachung der Stadt
zurückgelassen worden waren, und zwei Preise, einen palio aus
Goldbrokat sowie einen aus Silber. Der Herzog selbst trat nicht zum
Kampf an, sondern setzte sich neben Qara Köz, richtete das Wort
aber erst an sie, als die Preise gewonnen waren. Nach den Spielen
wurde im Palazzo Medici ein Bankett veranstaltet, bei dem es zuppa
pavese als Vorgericht und Pfauen sowie Fasane aus Chiavenna gab,
außerdem toskanische Wachteln und Austern aus Venedig. Man
servierte Pasta nach arabischer Art mit reichlich Zucker und Zimt,
doch mied man aus Rücksicht auf die Empfindlichkeiten des
Ehrengastes alle Köstlichkeiten mit Schweinefleisch, so etwa
[agioli mit Schweinskruste. Es gab Quittenmarmelade aus Reggio,
Marzipan aus Siena und guten Florentiner Märzkäse, cacio marzolino.
Berge aus Tomaten bildeten die schönste Tischdekoration. Nach dem
Festmahl lauschte man Vorträgen von Dichtern und Intellektuellen
zum Thema Liebe, so wie einstmals bei Agathons Fest, von dem uns
Plato im Gastmahl berichtet. Lorenzo schloss diesen Teil der
Feierlichkeiten, indem er selbst einige Zeilen aus dem Gastmahl
zitierte: «Die Liebe erkühnt uns, für den Geliebten zu sterben -
die Liebe allein}}, deklamierte er, «Frauen ebenso wie Männer.
Dafür ist Alcestis, die Tochter des Pelias, ganz Hellas ein
Mahnmal, denn sie war willens, ihr Leben für ihren Mann herzugeben,
als niemand sonst dazu bereit war.}} Als er mit einem Plumps wieder
auf seinen Platz fiel, fragte ihn Qara Köz, warum er gerade diese
Stelle ausgesucht habe. «Warum vom Tode reden», sagte sie, «wo wir
doch ein höchst vergnügliches Leben führen?» Lorenzo schockierte
sie, als er ihr mit brutaler Offenheit ant-wortete. Er hatte viel
getrunken, obwohl allgemein bekannt war, dass er nichts vertrug.
«Der Tod, edle Dame, ist nie so weit fort, wie man glaubt}}, sagte
er. «Und wer weiß schon, was einem in Kürze abverlangt wird.}}
Daraufhin wurde Qara Köz sehr still, denn sie begriff, dass das
Schicksal aus dem Mund dieses rüpelhaften Jünglings zu ihr sprach.
«Ehe die Blume stirbt}}, sagte er, «vergeht ihr Duft. Und Euer
Aroma, edle Dame, hat bereits beträchtlich nachgelassen, nicht
wahr.}} Das war keine Frage. «Man redet nur noch selten von
Sphärenklängen, die in Eurer Nähe zu hören seien, von wundersamen
Heilungen und unverhofften Leibesfrüchten in unfruchtbaren Schößen.
Nicht einmal unsere leichtgläubigsten Bürger, nicht einmal die
Hungernden, die ihr Brot mit Kräutern essen, damit Halluzinationen
sie vom ewigen Magenknurren ablenken, nicht einmal die Bettler, die
so oft Verfaultes oder giftige Pflanzen essen, dass sie jeden Abend
Dämonen sehen, nicht einmal die reden noch von Euren magischen
Kräften. Wo sind Eure Zaubersprüche hin, edle Dame, wohin Eure
berauschenden Düfte, die in allen Männern verliebte Gedan-ken
wecken? Mir scheint, auch der Zauber der schönsten Frau
lässt
- wie soll ich es sagen - mit dem Alter deutlich nach.» Qara Köz
war achtundzwanzig Jahre alt, doch litt sie unter einer Mattigkeit,
die ihre Ausstrahlung dämpfte, unter einer Angespanntheit, für die
auch private Gründe verantwortlich waren, wie Lorenzo zu Recht und
mit aller Brutalität feststellte. «Sogar daheim», flüsterte er
hämisch, «steht nicht alles zum Besten, stimmt’s? Sechs Jahre
zusammen in Florenz, davor auch schon eine Weile, und Ihr habt
immer noch kein Kind. Man wundert sich über Eure eigene
Unfruchtbarkeit. Arzt, heilt Euch selbst.» Qara Köz wollte
aufstehen, doch Lorenzo packte sie fest am Arm und drückte sie
zurück auf den Stuhl. «Wie lange wird Euch Euer Beschützer noch
beschützen, wenn Ihr ihm keinen Sohn gebärt?», fragte er. «Falls er
denn überhaupt lebend aus den Kriegen zurückkehren sollte.»
Im selben Moment begriff sie, dass hier Verrat
im Spiel war, dass sich ein Mann unter Argalias Kommando,
vielleicht auch eine ganze Gruppe von Männern, bereit erklärt
hatte, ihn für eine in Aussicht gestellte Beförderung zu verraten,
was nur heißen konnte, dass ihm insgeheim ein Messer zwischen die
Rippen gestoßen werden sollte oder aber dass ihm eine öffentliche
Hinrichtung drohte. Ein Verrat zog oft einen anderen nach sich.
«Ihr werdet ihn niemals töten, solange seine Männer ihn
umgeben>, sagte sie leise, nur um im selben Moment das Gesicht
des Serben Konstantin wie eine Prophezeiung vor ihren Augen
auftauchen zu sehen. «Was habt Ihr ihm versprochen», fragte sie,
«dass er sich nach all den Jahren der Freundschaft zu einer solch
gemeinen Tat bereit erklärt hat?» Lorenzo beugte sich vor und
flüsterte ihr ins Ohr. «Alles, was er sich nur vorstellen konnte»,
lautete die grausame Antwort. Also war sie selbst der Köder
gewesen, und Konstantin, der so lange so aufmerksam über sie
gewacht hatte, war durch diese Nähe dazu verleitet worden, sich
nach noch größerer Nähe zu sehnen, mehr war nicht nötig gewesen.
Sie war Argalias Untergang. «Er wird es nicht tun», sagte sie.
Lorenzos Griff um ihren Arm verstärkte sich. «Nun, sollte er es
doch tun, Prinzessin», sagte er, «heißt das noch lange nicht, dass
der Täter auch seine Belohnung bekommt.» Ja, sie begriff. Das war
es also, ihr Schicksal. «Nehmen wir nur einmal an, die Männer
kehrten aus der Schlacht zurück, ihren toten Kommandanten auf dem
Schild», murmelte der Mann an ihrer Seite. «Schreckliche Tra-gödie,
gewiss, ein Grab neben den Gräbern der Helden unserer Stadt und
mindestens einen Monat offizielle Trauer. Nehmen wir darüber hinaus
einmal an, dass man Euch und Eure Dienerin sowie all Eure Habe vor
seiner Rückkehr von der Via Porta Rossa zur Via Larga gebracht
hätte. Nehmen wir an, Ihr wärt dort als mein Gast, da Ihr Trost in
Eurem entsetzlichen Kummer suchtet. Stellt Euch vor, was mit dem
Feigling geschähe, der den Helden von Florenz ermordet hat, Euren
Geliebten, meinen Freund. Ihr dürft Euch jede erdenkliche Folter
ausmalen, die wir anwenden sollen, und ich würde Euch garantieren,
dass er am Leben bliebe, bis er alle Qualen bis aufs äußerste
genossen hat.» Musik setzte ein. Man bat zum Tanz. Sie sollte eine
pavana mit dem Mörder ihrer Hoffnungen tanzen. «Ich muss
nachdenken», sagte sie, und er verbeugte sich. «Natürlich», sagte
er, «aber denkt rasch, und ehe Ihr nachdenkt, wird man Euch heute
Abend in meine Privatgemächer bringen, damit Ihr versteht, worüber
Ihr nachzudenken habt.» Sie blieb auf dem Tanzboden stehen und
schaute ihn an. «Bitte, edle Dame», schalt er sie und hielt ihre
Hand, bis sie sich erneut im Takt bewegte. «Ihr seid eine
Prinzessin aus dem königlichen Hause von Tamerlan und Dschingis
Khan. Ihr wisst, wie es in der Welt zugeht.»
An jenem Abend kehrte sie mit Spiegel heim, nachdem sie be-wiesen
hatte, dass sie wirklich wusste, wie es in der Welt zugeht. «Es
wurde getan, was getan werden musste, Angelica», sagte sie. «Machen
wir uns nun zum Sterben bereit, Angelica», erwiderte ihr Spiegel.
Dies war der Code, auf den sie und die Prinzessin sich vor langem
geeinigt hatten, und er bedeutete, dass es Zeit wurde,
weiterzuziehen, ein Leben abzustreifen und das nächste zu suchen,
den Fluchtplan umzusetzen und zu verschwinden. Damit der Plan
funktionierte, würde Spiegel, sobald sich die Stadt zur Ruhe begab,
in einem langen Kapuzengewand durch den Lieferanteneingang
schlüpfen, durch die schmale Gasse hinter dem Palazzo Cocchi deI
Nero laufen und sich ihren Weg in das Viertel Ognissanti und zur
Haustür von Ago Vespucci suchen. Doch zu ihrer Überraschung
schüttelte Qara Köz den Kopf. «Wir werden nicht gehen», sagte sie,
«ehe mein Mann nicht lebend zurückgekehrt ist.» Sie besaß keine
Macht über Leben und Tod, und so verließ sie sich nun auf eine
Macht, der sie nie zuvor getraut hatte, auf die Macht der
Liebe.
Am nächsten Tag führte der Fluss kein Wasser mehr. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich in der Stadt die Nachricht, dass Lo-renzo de’ Medici todkrank sei, und obwohl es niemand laut aussprach, war doch allgemein bekannt, dass er am grässlichen morbo gallico litt, an der Syphilis. Dass der Arno kein Wasser mehr führte, hielt man für ein schlimmes Omen. Lorenzos Ärzte kümmerten sich rund um die Uhr um ihren Herrscher, doch seit die Krankheit zum ersten Mal vor dreiundzwanzig Jahren in Italien aufgetaucht war, hatten schon so viele Florentiner an ihr sterben müssen, dass nur wenige Leute mit einem überleben des Herzogs rechneten. Wie immer lastete die eine Hälfte der Stadt diese Krankheit den französischen Soldaten an, während die andere Hälfte behauptete, die Matrosen des Christoph Kolumbus hätten sie von ihren Reisen mitgebracht, doch hatte Qara Köz für solches Geschwätz nichts übrig. «Das ging schneller, als ich erwartet habe», sagte sie zu Spiegel, «was bedeutet, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein dürfte, bis ein Verdacht auf mich fällt.» Manch einer hätte dies für eine seltsame Bemerkung gehalten, da Qara Köz nicht an Syphilis litt, was eine medizinische Untersuchung unschwer bewiesen hätte, auch sollte sie in ihrem späteren Leben nie an Syphilis erkranken. Tatsache aber war zudem, dass niemand auch nur vermutet hatte, dass sich Lorenzo 11. angesteckt haben könnte, was es besonders unverständlich machte, dass er plötzlich unter dieser Krankheit in ihrer schlimmsten Form litt. Der Fall war also höchst verdächtig, und in solchen Fällen musste rasch ein Verdächtiger - oder doch ein Sündenbock - gefunden werden. Wer weiß, welche Wende die Ereignisse noch genommen hätten, wäre Argalia der Türke nicht lebend heimgekehrt.
In der Nacht vor seiner Rückkehr konnte Qara
Köz erst nicht einschlafen, als sie dann aber doch schlief, träumte
sie von ihrer Schwester. Auf einem blauen Teppich mit rotgoldenem
Rand, in der Mitte ein rotgoldener Diamant, saß Khanzada Begum in
einem geräumigen Zeltpavillon aus rotgoldenem Tuch und starrte
einen Mann an, den sie nicht kannte, einen Mann in cremefarbenen
Seidengewändern mit rosagrünem Schal um die Schultern, auf dem Kopf
ein Turban in Blassblau, Weiß und ein wenig Gold. Ich bin dein
Bruder Babar, sagte der Fremde. Sie schaute ihm ins Gesicht, konnte
ihren Bruder aber nicht erkennen. Das glaube ich nicht, sagte sie.
Der Mann wandte sich an einen zweiten Mann, der ein wenig abseits
saß. Kukultash, sagte er, wer bin ich? Ihr, antwortete der zweite
Mann, seid ebenso gewiss Zahiruddin Muhammad Babar, wie wir hier in
Kundus sitzen. Khanzada Begum antwortete: Warum sollte ich ihm mehr
als Euch glauben? Ich kenne keinen Kukultash. Bruder und Schwester
blieben im Zelt, Dienerinnen warteten ihr auf, während er von
Soldaten mit Speeren und Bogen bewacht wurde. Gefühle wurden keine
gezeigt. Die Frau kannte ihren Bruder nicht. Sie hatte ihn seit
zehn Jahren nicht mehr gesehen. Noch während Qara Köz träumte,
begriff sie, dass sie selbst sämtliche Personen ihres Traums war.
Sie war ihre Schwester, die, der Familie entrissen, den Weg der
Erinnerung und Liebe nicht finden konnte, auf dem ihr eine Rückkehr
möglich gewesen wäre. Qara Köz war auch ihr Bruder Babar, der
grausam und zugleich so poetisch war, der am selben Nachmittag
Männern den Kopf abschlagen und die Schönheit eines bewaldeten
Berghanges preisen konnte, der aber kein Land besaß, keinen Flecken
Erde, den er sein Eigen nennen konnte, der unaufhörlich durch die
Welt zog, um Raum kämpfte, Orte einnahm und wieder verlor, der
jetzt im Triumph in Samarkand einmarschierte, jetzt in Kandahar,
und gleich darauf wieder vertrieben wurde; Babar, der rannte und
rannte, um ein Stückchen Erde zu finden, auf dem er verharren und
bleiben konnte. Sie war auch Kukultash, Babars Freund, ebenso die
Dienerinnen und die Soldaten, sie schwebte außerhalb ihrer selbst
und sah ihrer Geschichte zu, als passierte sie jemand anderem, und
sie fühlte nichts, erlaubte sich nicht, etwas zu fühlen. Dann
änderte sich der Traum. Baldachin und Zeltkuppel ver-wandelten sich
in roten Stein. Was auf Zeit, tragbar, veränderbar gewesen war,
wurde plötzlich dauerhaft und unveränderlich. Ein Palast aus Stein
auf einem Hügel, und ihr Bruder Babar machte es sich auf einem
steinernen Podest inmitten eines rechtwinklig angelegten
Wasserbeckens bequem, eines schönen Beckens, dem Besten aller
Möglichen Becken. Er war so reich, dass er in großzügiger Laune das
Wasser aus dem Becken lassen und es stattdessen mit Gold füllen
konnte, auf dass sein Volk kam und sich an seiner Freigebigkeit
erfreute. Er war wohlhabend und entspannt, ihm gehörte nicht nur
ein Wasserbecken, ihm gehörte ein Königreich. Nur war er nicht
Babar. Er war nicht ihr Bruder. Sie erkannte ihn nicht. Dieser Mann
war ihr fremd.
«Ich habe die Zukunft gesehen, Angelica,,, erzählte sie Spiegel
nach dem Aufwachen. «Die Zukunft ist in Stein gesetzt und der
Nachkomme meines Bruders ein beispiellos mächtiger Herrscher. Wir
sind Wasser, wir können uns in Luft auflösen und wie Rauch
verschwinden, doch die Zukunft ist Reichtum und Stein.» Sie wollte
auf das Eintreffen der Zukunft warten. Und dann würde sie ihr altes
Leben wiederaufnehmen, sich damit vereinen und wieder ganz sie
selbst werden. Sie wollte es besser machen als Khanzada. Sie würde
den König erkennen.
In ihrem Traum war eine Frau vorgekommen, die
nur von hin-ten zu sehen gewesen war, eine Frau mit langem, gelbem,
offen auf die Schultern fallendem Haar, die vor dem Herrscher saß,
redete und ein langes Gewand aus bunten Lederflicken trug. Außerdem
befand sich im Gebäude noch eine weitere Frau, die nie das
Sonnenlicht sah, die wie ein Schatten durch die Palastkorridore
wandelte und deren Bild mal schwächer wurde, mal stärker, dann
wieder schwächer. Dieser Teil des Traumes blieb ihr
unklar.
Qara Köz kannte sich aus mit dem Unterdrücken von Gefühlen. Seit
sie in die Privatgemächer von Lorenzo II. gebracht worden war,
hatte sie sich keine Gefühle mehr erlaubt. Er hatte getan, was er
tun wollte, und sie hatte ebenso kaltblütig ihre Absicht in die Tat
umgesetzt. Nach ihrer Rückkehr in den Palazzo Cocchi del Nero blieb
sie ruhig und gefasst, während Spiegel aufgeregt hin und her
huschte, um einige cassoni zu packen, jene großen Truhen, in denen
Frauen gewöhnlich ihre Aussteuer verwahrten. Sie wollte alles für
eine rasche Abreise vorbereiten, auch wenn ihre Herrin offenbar
fest entschlossen war zu bleiben. Qara Köz wartete im grand salon
am offenen Fenster und ließ sich von einer leichten Brise das
Stadtgeschwätz zutragen. Es dauerte nicht lange, bis sie jenes Wort
vernahm, von dem sie gewusst hatte, dass es ihr zu Ohren kommen
würde, das Wort, das es für sie zu unsicher machte, noch länger zu
bleiben. Dennoch dachte sie nicht an Aufbruch. Hexe. Sie hat ihn
verhext. Er lag bei der Hexe, wurde krank und starb.
Vorher ist er nicht krank gewesen. Hexerei. Sie hat ihn mit des Teufels Krankheit angesteckt. Hexe. Hexe. Hexe. Lorenzo II. war schon tot, als die Miliz von ihrem Sieg bei Cisano Bergamasco zurückkehrte, ordentlich in Reih und Glied trotz der Bestürzung, für die der mitten in der Schlacht unternommene Mordversuch des Serben Konstantin an General Argalia, ihrem gran condottiere, unter den Soldaten gesorgt hatte. Gemeinsam mit sechs weiteren Janitscharen, bewaffnet mit Luntenschlossflinten, Piken und Schwertern, hatte Konstantin feige von hinten angegriffen. Die erste Kugel traf Argalia in die Schulter und warf ihn aus dem Sattel, was ihm das Leben rettete, da der Kommandant am Boden von Pferden umringt war und die Verräter nicht zu ihm vordringen konnten. Die drei Schweizer Riesen kehrten sich von dem Feind vor ihnen ab, um sich den Verrätern in ihrem Rücken zuzuwenden, und nach heftigem Nahkampf wurde die Rebellion niedergeschlagen. Der Serbe Konstantin war tot, eine Schweizer Pike steckte in seinem Herzen, doch Botho hatte ebenfalls das Leben verloren. Bei Nachteinbruch war die Schlacht gegen die Franzosen gewonnen, aber der Sieg bereitete Argalia keine Freude. Von seiner ursprünglichen Mannschaft lebten nur noch siebzig Mann. Als sie sich der Stadt näherten, sahen sie überall Flammen auflodern wie damals am Tag der Papstwahl, und Argalia schickte einen Reiter voraus, der Näheres in Erfahrung bringen sollte. Bei seiner Rückkehr meldete der Kundschafter, dass der Herzog gestorben sei und die führerlosen Bürger Qara Köz vorwarfen, sie habe ihren Herrscher mit einem mächtigen Zauber verhext, der seinen Leib wie ein hungriges Tier zerfressen habe, angefangen bei den Genitalien und von dort aus sich in alle Richtungen ausbreitend. Argalia wies Otho an, einen der beiden noch lebenden, untröstlichen Schweizer Brüder, die Miliz im Eilschritt zurück in die Kasernen zu führen. Darauf sammelte er Clotho und die verbliebenen Janitscharen um sich, achtete nicht weiter auf seinen verwundeten rechten Arm und galoppierte davon wie der Wind. Und es wehte ein mächtiger Wind in dieser Nacht! Sie sahen, wie er Olivenbäume ausriss, wie er Eichen beiseitefegte, als wären sie kleine Schösslinge, wie er Walnussbäume, Kirschbäume und Erlen entwurzelte, sodass die Männer meinten, um sie herum flöge ein Wald durch die Luft, während sie im Galopp dahinpreschten; und als sie sich der Stadt näherten, hörten sie einen großen Tumult, wie ihn nur das Volk von Florenz zu veranstalten weiß. Doch dies war kein Freudentumult, vielmehr schien es, als hätte sich jeder Bewohner der Stadt in einen Werwolf verwandelt und heulte nun den Mond an.
Was für ein kurzer Weg von Zauberin zu Hexe. Gestern noch war sie die inoffizielle Schutzheilige der Stadt gewesen, jetzt sam-melte sich der Mob vor ihrem Haus. «Die Hintertür steht noch offen, Angelica», sagte der Spiegel. «Wir warten, Angelica», erwiderte Qara Köz. Sie saß auf einem Stuhl an einem Fenster des grand salon und sah seitwärts hinaus, sah, ohne gesehen werden zu können. Unsichtbarkeit war ihr Los. Sie blieb gefasst. Dann hörte sie Hufschläge und erhob sich. «Er ist da.» Und das war er auch.
Vor dem Palast Cocchi deI Nero verbreiterte
sich die Via Porta Rossa zu einem kleinen Platz, an dem auch der
Palazzo Davizzi und die Wohntürme der Foresi standen. Als Argalia
mit den Janitscharen den Platz erreichte, drohte sie die
dichtgedrängte Menge der Hexenjäger aufzuhalten, doch waren sie
wild entschlossen und schwer bewaffnet, weshalb man sie schließlich
durchließ. Kaum hatten die Reiter den Palast erreicht, räumten die
Janitscharen den Eingang frei und öffneten, sobald es sicher war,
die Türen. Eine Stimme aus der Menge brüllte: «Warum beschützt Ihr
die Hexe?» Argalia ignorierte den Ruf. Dann ertönte dieselbe Stimme
erneut: «Wem dient Ihr, condottiere, dem Volk oder Eurer Lust?
Dient Ihr der Stadt und ihrem verhexten Herzog, oder steht Ihr im
Bann der Vettel, die ihn verhext hat?» Argalia riss sein Pferd
herum und blickte über die Menge. «Ich diene ihr», rief er, «das
habe ich immer getan und werde es immer tun.» Dann ritt er mit
ungefähr dreißig Mann auf den Hof des Palastes und überließ es
Clotho, sich um das Geschehen vor dem Haus zu kümmern. Die Reiter
hielten am Brunnen mitten im Hof, und der zuvor so stille Palast
war plötzlich mit Lärm erfüllt, dem Wiehern der Pferde, dem Klirren
der Waffen und dem Gebrüll der Männer, die sich Befehle zuriefen.
Die Bediensteten stürzten nach draußen, um Reitern und Rössern eine
Stärkung anzubieten. Und wie• eine Frau, die aus dem Schlaf
erwacht, begriff auch Qara Köz plötzlich, in welcher Gefahr sie
schwebte. Sie stand oben auf der Treppe, die in den Hof
hinabführte; Argalia stand unten und schaute zu ihr auf, seine Haut
weiß wie der Tod.
«Ich wusste, dass Ihr lebt», sagte sie, erwähnte aber mit keinem
Wort seinen verletzten Arm.
«Und Ihr müsst auch leben», sagte er. «Die
Menschenmenge wird immer größer.» Er sagte nichts von der Wunde in
seiner rechten Schulter, auch nichts von den Flammen, die von dort
durch seinen ganzen Körper loderten. Er sagte nichts davon, wie
heftig sein Herz hämmerte, als er sie anschaute. Nach dem langen
Ritt war er außer Atem. Seine weiße Haut fühlte sich heiß an. Er
sprach das Wort «Liebe» nicht aus. Zum letzten Mal in seinem Leben
fragte er sich, ob er seine Liebe nicht an eine Frau verschwendete,
die ihre Liebe nur schenkte, bis es Zeit wurde, sie zurückzunehmen.
Er schob den Gedanken beiseite. Er hatte dieses eine Mal in seinem
Leben sein Herz hingegeben und fand, es sei ein Segen, dass ihm
diese Gelegenheit gewährt worden war. Die Frage, ob sie seiner
Liebe würdig war, hatte keinerlei Bedeutung. Sein Herz hatte diese
Frage schon vor langer Zeit beantwortet.
«Ihr werdet mich beschützen», sagte sie.
«Mit meinem Leben», antwortete er und begann, ein wenig zu zittern.
Als er auf dem Schlachtfeld von Cisano Bergamasco zu Boden stürzte,
folgte dem Kummer über den Verrat des Serben Konstantin rasch die
Einsicht in die eigene Dummheit. Konstantin hatte ihn erwischt,
genau wie er in der Schlacht von Chaldiran einst Schah Ismail von
Persien erwischt hatte. Der Schwertkämpfer würde stets dem Mann mit
dem Gewehr unterliegen. Im Zeitalter der Luntenschlossflinte und
der leichten, transportablen Feldkanone gab es keinen Platz mehr
für Ritter in Rüstungen. Er gehörte der Vergangenheit an. Er hatte
diese Kugel verdient, so wie es die Alten verdienten, von den
Jungen beseitigt zu werden. Ihm war ein wenig schwindlig.
«Ich konnte nicht gehen», sagte sie, und ihrer Stimme war ein wenig
Überraschung anzumerken, so als hätte sie etwas Außergewöhnliches
über sich erfahren.
«Aber jetzt müsst Ihr gehen», erwiderte er ein wenig keuchend.
Sie gingen nicht aufeinander zu. Sie umarmten
sich nicht. Qara Köz trat auf Spiegel zu.
«Nun, Angelica, sollten wir uns zum Sterben bereit machen», sagte
sie.
Die Nacht stand in Flammen. Überall loderten
Feuer in den leuchtenden Himmel auf. Dicht über dem Horizont hing
ein voller Mond, rot getönt, riesig groß. Wie Gottes kaltes, irres
Auge blickte er herab. Der Herzog war tot, und allein das Gerücht
regierte. Dem Gerücht zufolge hatte der Papst «Angelica» zur
mordlüsternen Hure erklärt; er sandte einen Kardinal aus, der das
Kommando übernehmen und dieser rasenden Hexe Einhalt gebieten
sollte. Noch war die Erinnerung daran nicht verblasst, wie die drei
Anführer der Jammerer - Girolamo Savonarola, Domenico Buonvicini
und Silvestro Maruffi - auf der Piazza della Signoria verbrannt
worden waren, und es gab den ein oder anderen in der Menge, der es
kaum erwarten konnte, den Gestank brennenden Weiberfleisches zu
riechen. Doch Ungeduld gehört zur Natur des Mobs. Gegen Mitternacht
hatte sich die Menschenmenge verdreifacht, und die Stimmung wurde
gewalttätig. Steine flogen auf den Palast Cocchi del Nero. Zwar
hielt die Phalanx der Janitscharen unter Führung des Schweizers
Clotho noch das Tor, doch sogar Janitscharen werden müde, und manch
einer von ihnen musste sich um seine Wunden kümmern. In den frühen
Morgenstunden dann erreichten den tobenden Mob fatale Neuigkeiten.
Angestachelt von unbestätigten Berichten über den päpstlichen
Erlass wider die Hexe Angelica, schloss sich die florentinische
Miliz den aufgebrachten Massen an und marschierte in voller
Bewaffnung zur Via Porta Rossa. Als Clotho dies hörte, wusste er,
dass jetzt all seine drei Brüder tot waren, folglich sagte er sich,
er sei nun bereit, die Dinge zu ihrem Ende zu bringen.
«Für die Schweizer», rief er und stürzte sich mit aller Macht auf
die Menge, schwang in der einen Hand ein Schwert, in der anderen
eine mit eisernen Dornen bestückte Kugel an einer Kette. Seine
Janitscharen sahen ihm erstaunt nach, da die Menschen in der Menge
kaum Gefährlicheres mit sich führten als Stöcke und Steine, doch
Clotho war nicht aufzuhalten. Die Mordlust hatte ihn gepackt.
Menschen stürzten unter die Hufe seines Pferdes und wurden zu Tode
getrampelt. Die Menge war außer sich vor Wut und Angst, und anfangs
wichen alle vor dem irren AlbinoRiesen auf seinem Pferd zurück.
Dann folgte ein seltsamer Augenblick, ein Augenblick jener Art, wie
er das Schicksal von Nationen bestimmt, denn wenn eine Menge die
Angst vor einer Armee verliert, ändert sich die Welt. Mit einem Mal
wich niemand mehr zurück, und im selben Moment wusste Clotho, der
auf seinem Pferd gerade das Schwert zum Schlag erhoben hatte, dass
es um ihn geschehen war. «Janitscharen zu mir», brüllte er, doch da
brandete die Menge wie eine Flut heran, tausend und abertausend
kreischende Stimmen, grabschende Hände und hämmernde Fäuste, ein
Steinregen ging auf die Soldaten nieder, Männer sprangen sie wie
Katzen an, zerrten sie vom Pferd, starben unter den Hieben der
Krieger, andere drängten dennoch weiter vor, krallten sich fest,
zogen, klammerten, rissen, bis sie alle Soldaten von ihren Pferden
geholt hatten, doch immer weiter voran trampelte die Menge, die
erdrückende Macht der angeschwollenen, anschwellenden Menge, und
die ganze Welt war Blut.
Noch ehe die Miliz eintraf und die Menge sich wie ein Meer teilte,
um die bewaffneten Männer durchzulassen, gab es vor dem Palazzo
Cocchi del Nero keine Janitscharen mehr; und mit den Äxten der
gefallenen Krieger hieb die Menge auf die drei großen Holztore des
Palastes ein. Im Hof hinter diesen Toren stiegen Argalia, der
Türke, und die ihm verbliebenen Kämpen in voller Kriegsrüstung auf
ihre Pferde, um zum letzten Gefecht anzutreten. Es gibt keine
größere Schande, als durch die Hand jener Männer zu sterben, die
man im Krieg angeführt hat, dachte Argalia, aber wenigstens sterben
meine ältesten Gefährten an meiner Seite, und darin liegt doch auch
ein wenig Ehre. Dann vergaß er alle Fragen der Schande und Ehre, da
Qara Köz aufbrach und es Zeit für letzte Worte wurde.
«Zum Glück ist der Mob nicht besonders schlau», sagte sie, «sonst
hätten Ago und Spiegel nicht durch die Hintertür auf die Gasse
entweichen können. Und es ist ein Glück, dass ich auf den Rat Eures
Freundes Niccolo gehört habe, denn sonst gäbe es keinen Plan, und
niemand würde mit leeren Weinfässern auf uns warten, in denen wir
uns verstecken können, niemand hätte ei-nen Wagen und frische
Pferde besorgt, um uns fortzubringen.» «Am Anfang waren drei
Freunde», sagte Argalia, der Türke, «Antonio Argalia, Niccolo
<Il Machia> und Ago Vespucci. Und auch am Ende waren es drei.
Il Machia wartet mit noch schnelleren Pferden auf Euch. Geht
jetzt.» Das Fieber hatte ihn gepackt, der Wundschmerz war groß. Er
begann zu zittern. Das Ende war nicht mehr weit. Es würde ihm
schwerfallen, noch lange im Sattel zu bleiben.
Sie schwieg einen Moment. «Ich liebe dich», sagte sie
dann.
Stirb für mich.
«Ich liebe dich, wie ich noch keinen Mann geliebt habe», sagte sie. Stirb für mich.
«Du bist die Liebe meines Lebens», erwiderte
er. Mein Leben ist fast vorbei, doch was mir bleibt, opfere ich
dir. «Lass mich bleiben», sagte sie. «Gib mich auf. Dann hat dies
ein Ende.» Wieder war ihrer Stimme ein wenig Überraschung über das
anzuhören, was sie ihm zu sagen, anzubieten und zu fühlen
erlaubte.
«Dafür ist es zu spät.»
Der letzte Kampf der Unbesiegbaren von Florenz, ihre end-gültige
Niederlage und Vernichtung im Aufstand der Via Porta Rossa, fand im
Hof jenes Hauses statt, das danach nur noch der Blutige Palast
genannt wurde. Als die Schlacht zu Ende ging, waren die Hexe und
ihre Dienerin längst fort, und kaum entdeckte das Volk von Florenz
ihre Flucht, schien seine Wut sich in Luft aufzulösen; wie
Menschen, die aus einem schrecklichen Traum erwachen, verloren sie
jegliches Verlangen nach Mord und Tod. Sie kamen zu sich und waren
kein Mob mehr, sondern wieder eine Ansammlung souveräner
Individuen, die nun brummelnd zu-rück in ihre Häuser gingen,
betreten dreinsahen und sich wünschten, sie hätten kein Blut an den
Händen. «Wenn sie geflohen ist», sagte jemand, «dann fort mit ihr
und Schwamm drüber.» Man traf keine Anstalten, sie zu verfolgen.
Man empfand nur Scham. Als der Regent des Papstes in Florenz
eintraf, war der Palazzo Cocchi deI Nero verriegelt und verrammelt
und mit dem Siegel der Stadt versehen; länger als hundert Jahre
sollte niemand mehr dort wohnen. Und in dem Moment, als Argalia,
der Türke, fiel, niedergestreckt durch die Septhämie, die sich in
seinem Körper ausbreitete und ihn das Bewusstsein verlieren ließ,
als ihm die schändliche Pike eines Milizsoldaten in den Hals fuhr,
während er dem Wundbrand erlag, fand das Zeitalter der großen
condottieri ein Ende.
Wie von einer Hexe verflucht, führte der Arno ein Jahr und einen
Tag kein Wasser.
«Sie hatte kein Kind», stellte der Herrscher
fest. «Was sagt Ihr dazu?» «Es geht ja noch weiter», erwiderte der
andere.
Als die Morgendämmerung anbrach, sah Niccolo seinen Freund Ago in
der Ferne, sah ihn einen Karren mit zwei geladenen Weinfässern
lenken und gab den Plan auf, Drosseln fangen zu wollen. Er setzte
die Vogelkäfige ab und ging selbst, die Pferde zu satteln.
Eigentlich konnte er es sich nicht leisten, zwei Pferde zu
verschenken, aber er würde sie trotzdem hergeben, und dies ohne
Bedauern. Vielleicht würde man ihn so in Erinnerung behalten als
den Mann, der einer Mogulin half, ihren Verfolgern zu entkommen,
einer Prinzessin aus dem königlichen Hause von Tamerlan und
Dshingis Khan, einst Zauberin von Florenz. Er rief nach oben zu
seiner Frau, sie solle auf der Stelle etwas zu essen vorbereiten,
Wein holen und mehr einpacken, als man für eine Reise benötige; und
sie, die aus dem Klang seiner Stimme die Not heraushörte, sprang
aus dem Bett, tat wie ihr geheißen und beschwerte sich nicht,
obwohl es nicht sonderlich angenehm war, aus ungewöhnlich tiefem
Schlaf geweckt zu werden und barsche Befehle befolgen zu müssen.
Dann hielt Ago vor Machiavellis Haus, atemlos, verängstigt. Argalia
war nicht bei ihm. Wortlos fragten Il Machias Augenbrauen, doch Ago
Vespucci fuhr sich nur mit einem Finger über die Kehle und brach
dann vor lauter Furcht, Aufregung und Trauer in Tränen aus. «Jetzt
mach endlich die Fässer auf, Herrgott nochmal», rief Marietta
Corsini, sobald sie aus der Tür kam. «Die müssen da drinnen ja halb
zu Tode gerüttelt worden sein.»
Ago hatte die Fässer mit Polstern und Kissen
ausgestopft, an den Seiten mit Scharnieren versehene Klappen
angebracht und kleine Luftlöcher gebohrt, doch tauchten die beiden
Frauen trotz seiner Mühen arg gebeutelt aus ihrem Versteck auf,
schmerzverzerrt und außer Atem. Dankbar nahmen sie einen Schluck
Wasser an, wollten aber nichts essen, da die Reise nicht ohne
Wirkung auf ihre Mägen geblieben war. Ohne weitere Umstände baten
sie gleich um ein Zimmer, in dem sie sich umziehen konnten, und
Marietta führte sie ins Schlafgemach. Spiegel folgte Qara Köz, eine
Tasche in der Hand, und als die beiden Frauen eine halbe Stunde
später wieder auftauchten, sahen sie wie Männer aus, trugen kurze
Jacken - eine rotgoldene für Qara Köz, eine grünweiße für Spiegel-,
wollene Reithosen, Stiefel aus Sämischleder und ei-nen Gürtel um
die Hüfte. Das Haar hatten sie sich kurz geschnitten und unter eng
ansitzenden Scheitelkäppchen verborgen. Marietta schnappte nach
Luft, als sie ihre Beine in engen Hosen sah, sagte aber nichts.
«Wollt Ihr nicht ein wenig essen, ehe Ihr weiterreist?», fragte
sie, doch sie wollten nicht. Man dankte ihr für den Beutel mit
Brot, Käse und kaltem Fleisch, den sie vorbereitet hatte. Dann
gingen sie alle nach draußen, wo Il Machia und Ago warteten. Ago
hockte immer noch auf seinem Karren. Die Fässer waren abgeladen
worden, doch standen die beiden Truhen mit der Habe der Damen noch
auf der Ladefläche sowie eine Tasche mit Agos Kleidern und allem
Geld, das er hatte auftreiben können, darunter auch einige
Zahlungsanweisungen über größere Summen. «Wenn wir erst in Genua
sind, kann ich noch mehr besorgen», sagte er. «Ich habe einige
Wechsel dabei.» Er schaute Qara Köz in die Augen. «Ihr Damen könnt
schließlich nicht allein reisen», sagte er. Mit großen Augen
schaute sie ihn daraufhin an. «Aha», erwiderte sie, «als Ihr um
Hilfe gebeten wurdet und gesehen habt, in welch prekärer Lage wir
uns befanden, wart Ihr also auf der Stelle bereit, Euer Haus, Eure
Arbeit und Euer Leben hinter Euch zu lassen, um mit uns in eine
unbekannte Zukunft zu fliehen, mit einer Gefahr hinter Euch und
womöglich vielen neuen Gefahren vor Euch?» Ago Vespucci nickte.
«Ja, das war ich.» Sie ging zu ihm und ergriff seine Hände. «Dann,
mein Herr», sagte sie, «gehören wir jetzt zu Euch.»
Il Machia sagte seinem alten Gefährten Lebewohl. «Am An-fang waren
drei Freunde», erklärte er, «Antonino Argalia, Niccola Il Machia
und Ago Vespucci. Zwei der drei reisten gern, der dritte blieb
lieber daheim. Und von den zwei Reisenden ist nun einer auf immer
davon gegangen, der andere aber wird nie mehr fortgehen. Mein
Horizont ist geschrumpft, ich kann nur noch Enden schreiben. Doch
du, geliebter Ago, du, der Sesshafte, du brichst auf, um eine neue
Welt zu suchen.» Dann streckte er den Arm aus und drückte Ago drei
soldi in die Hand. «Die schulde ich dir noch», sagte er. Als einige
Minuten später zwei Reiter und der Mann auf dem Karren um eine
Wegbiegung verschwanden, küsste die frühe Morgensonne Ago Vespuccis
Haar, das schon so schütter war, so weiß. Doch im gelben Licht der
Frühe schien es, als habe er wieder das goldene Haar seiner Jugend,
in der er mit n Machia im Eichenhain von Caffagio auf Jagd gegangen
war, im Gehölz der vallata von Santa Maria dell’Impruneta, aber
auch in dem etwas weiter entfernt gelegenen Wald bei der Burg
Bibione, damals, als sie gehofft hatten, eine Alraune zu
finden.
Er sei ein Nachfahre Adams, nicht Mohammeds und nicht des Kalifen, sagte Abul Fazl; Legitimität und Autorität ergäben sich aus seiner Abstammung vom ersten Menschen, ih-rer aller Vater. Kein Glaube sei ihm genug, auch kein geographisches Gebiet. Größer als der König der Könige, der über Persien herrschte, ehe die Muslime kamen, überlegen der alten Hinduvorstellung von Chakravartin - jenem König, dessen Streitwagen überallhin zu rollen vermochte, dessen Bewegungen durch nichts behindert wurden -, sei er der Herrscher des Universums, König einer Welt ohne Grenzen oder ideologische Beschränkungen. Woraus folgerte, dass die menschliche Natur und nicht der göttliche Wille die treibende Kraft der Geschichte sei. Er, Akbar, sei der vollkommene Mensch, die Antriebskraft der Zeit.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der
Herrscher bereits auf den Beinen. Das im Schatten liegende Sikri
schien die großen Mysterien des Lebens darzustellen. Ihm kam die
Stadt wie eine flüchtige Welt voller Fragen vor, auf die er eine
Antwort finden musste. Dies war die der Meditation vorbehaltene
Stunde des Tages. Er betete nicht. Hin und wieder ging er in die
große Moschee, die er rund um Chishtis Schrein hatte errichten
lassen, um den Schein zu wahren und das Gerede spitzer Zungen
verstummen zu lassen. Badaunis Zunge. Die Zunge des Kronprinzen,
der noch weniger an Gott glaubte als sein Vater, sich aber ihm zum
Trotz mit den Frömmlern verbündete. Meist jedoch nutzte der
Herrscher diese frühe Stunde, ehe die Sonne die Steine Sikris und
die Gemüter ihrer Bewohner erhitzte, um über die hohen Dinge
nachzudenken, nicht über so banale Ärgernisse wie Prinz Salim. Er
meditierte erneut gegen Mittag sowie am Abend und um Mitternacht,
doch die Meditation in der Frühe gefiel ihm am besten. Musiker
kamen, um im Hintergrund leise religiöse Hymnen zu spielen, aber
oft scheuchte er sie fort und ließ sich von der Stille
umschmeicheln, einer Stille, die nur zur Dämmerung vom Singen der
Vögel unterbrochen wurde.
Manchmal - denn er war ein Mann mit vielerlei Gelüsten
-wurden seine hehren Betrachtungen von Frauenbildern ge-stört:
Bildern von tanzenden Mädchen, von Konkubinen, sogar von seinen
königlichen Gattinnen. Früher hatten ihn meist Gedanken an Jodha
abgelenkt, an seine imaginäre Königin, ihre scharfe Zunge, ihre
Schönheit, ihr sexuelles Geschick. Er war kein vollkommener Mensch,
davon war er zutiefst überzeugt, doch hatte er sie lange für die
vollkommene Frau gehalten. Gefährtin, Vertraute, im Bett eine
Wildkatze, kein Mann konnte sich mehr wünschen. Sie war sein
Meisterwerk, zumindest hatte er das geglaubt, ein Fleisch
gewordener Traum, eine Reisende aus der Welt khaya~ der Phantasie,
die er über die Grenze in die Wirklichkeit gebracht hatte. In
letzter Zeit jedoch änderten sich die Dinge. Jodha besaß nicht mehr
die Macht, ihn in seinen Betrachtungen zu stören. Statt ihrer
suchte ihn eine andere Frau auf. Qara Köz, Dame Schwarzauge, die
verschwiegene Prinzessin: Lange weigerte er sich, sie wahrzunehmen,
weigerte sich zu verstehen, in welche Richtung sein Herz gezogen
wurde, denn es führte ihn zu etwas Unmöglichem, einer Leidenschaft,
die niemals Erfüllung finden konnte, die - in jeder Hinsicht dieses
Wortes - unschicklich war. Ihn verlangte es nach den Tönen der
Zu-kunft, sie aber war ein Echo ferner Vergangenheit. Vielleicht
war es das, was ihn verlockte, ihre nostalgische Schwerkraft, doch
sollte dies tatsächlich der Fall sein, war sie wahrlich eine
gefährliche Zauberin, die ihn zurück ins Gestrige zog und folglich
auch in jeder anderen Hinsicht zurückwarf, in seinem Denken, seinem
Glauben, seiner Hoffnung. Sie wäre schlecht für ihn. Sie würde ihn
ins Delirium einer un-möglichen Liebe locken, und stand er erst
einmal in ihrem Bann, würde er sich abwenden von der Welt der
Gesetze und der Tat, der Majestät und des Schicksals. Vielleicht
war sie in genau dieser Absicht ausgesandt worden, und Niccolo
Vespucci war ein Feind die Königinmutter Hamida Bano hing dieser
Theorie an -, ein Agent der christlichen Fremdwelt, aus der er
schließlich stammte, ein Attentäter mit dem Auftrag, ihn zu
vernichten, indem er dieses unzüchtige Weib in seine Gedanken
pflanzte, diese entwurzelte Überläuferin. Niemand vermochte Sikri
durch Waffengewalt einzunehmen, doch die verschwiegene Prinzessin
könnte ihn womöglich von innen heraus besiegen. Sie war schlecht
für ihn. Und doch war sie es, die immer häufiger zu ihm kam, und es
gab Dinge, die sie verstand, Jodha aber nie begriffen hatte. Zum
Beispiel verstand sie Stille. Wenn die verschwiegene Prinzessin zu
ihm kam, sagte sie kein Wort. Es war nicht ihre Art, ihn zu
schelten oder zu necken. Sie redete nicht, kicherte nicht, sang
nicht. Sie brachte den Duft von Jasmin mit sich und setzte sich
einfach neben ihn, ohne ihn zu berühren, und sie sah den Tag
beginnen, bis der östliche Horizont sich rot ränderte und eine
liebliche Brise aufkam. Im selben Moment wurden sie eins, vereinte
er sich mit ihr, wie er sich nie zuvor mit einer Frau vereint
hatte; danach erhob sie sich mit unendlichem Taktgefühl und ging,
während er allein auf die erste, liebevolle Berührung der Dämmerung
wartete.
Nein, sie war nicht schlecht für ihn, und er
würde jedem wi-dersprechen, der anderes behauptete. Er konnte an
ihr kein Übel erkennen, auch nicht an dem Mann, der sie zu ihm
brachte. Wie könnte ein solch abenteuerlicher Geist verdammt sein?
Qara Köz war eine Frau, wie er sie nie zuvor kennengelernt hatte,
eine Frau, die ihr eigenes Leben ohne Rücksicht auf Konventionen
formte, allein durch die Kraft ihres Willens, eine Frau wie eine
Königin. Dies war sein neuer Traum, eine ungeträumte Vision dessen,
wie eine Frau sein konnte. Was er sah, erschreckte ihn, erregte
ihn, berauschte ihn und nahm ihn gefangen. Ja, Qara Köz war
außergewöhnlich, und das, davon zeigte sich der Herrscher
überzeugt, war auch Vespucci oder Mogor dell’Amore. Der Herrscher
hatte ihn auf die Probe gestellt und große Vorzüge entdeckt. Er war
kein Feind, er war sein Günstling. Er verdiente es, gelobt und
nicht getadelt zu werden.
Akbar zwang seine Gedanken wieder in angemessene Bahnen.
Er war kein vollkommener Mensch, das war nur die Behauptung eines
Schmeichlers, und Abul Fazls Schmeicheleien führten ihn in ebendas,
was Mogor dell’Amore die Sümpfe der Paradoxa genannt hatte. Einen
Menschen zu gottgleichem Status zu erheben und ihm absolute Macht
zu verleihen, zugleich aber zu behaupten, dass der Mensch und nicht
Gott sein Schicksal lenke, barg einen Widerspruch, der keiner
näheren Betrachtung standhielt. Außerdem umgaben ihn auf allen
Seiten Hinweise darauf, wie sehr sich die Religion in menschliche
Angelegenheiten ein-mischte. Er hatte den Selbstmord der
Engelsstimmen Tana und Riri nicht vergessen können, die lieber
gestorben waren, als ihren Glauben zu kompromittieren. Ihm lag
nichts daran, göttlich zu sein. Hätte es nie einen Gott gegeben,
dachte der Herrscher, ließe sich vermutlich leichter sagen, was es
hieß, gut zu sein. Diese Sache mit der Anbetung, der
Selbstverleugnung im Angesicht des Allmächtigen, war eine
Verirrung, eine falsche Fährte. Was auch immer es bedeuten mochte,
gut zu sein, so hatte es doch gewiss nichts mit ritualisiertem,
gedankenlosem Gehorsam gegenüber einer Gottheit zu tun, mehr
dagegen schon mit dem langsamen, umständlichen, von Irrtümern
behafteten Aufspüren eines individuellen oder kollektiven Weges
.
Wieder verhedderte er sich sofort in
Widersprüche. Ihm lag nichts daran, göttlich zu sein, doch glaubte
er an die Gerechtigkeit der Macht, seiner absoluten Macht, und
angesichts dieses Glaubens musste jene seltsame Idee von der
Rechtschaffenheit des Ungehorsams, die ihm irgendwie in den Sinn
gekommen war, geradezu als aufrührerisch gelten. Dank seiner
Eroberungen besaß er Macht über das Leben der Menschen. Die
unausweichliche Schlussfolgerung, zu der jeder realistisch gesinnte
Fürst gelangen musste, lautete, dass Macht gerecht war, und bei
allem Übrigen, dieser endlosen Meditation über die Tugend zum
Beispiel, konnte es sich nur um schmückendes Beiwerk handeln. Der
Sieger war der Mann der Tugend, mehr brauchte dazu nicht gesagt zu
werden. Natürlich gab es Differenzen, es kam zu Exe-kutionen, zu
Selbstmorden, doch ließ sich jeder Widerstand bezwingen, und es war
seine Faust, die ihn bezwang. Was aber hatte es dann mit jener
Stimme auf sich, die ihm Morgen für Morgen von Harmonie
zuflüsterte, nicht von der Alle-Menschen-sindeins-Quacksalberei der
Mystiker, sondern von dieser seltsamen Idee, dass Unstimmigkeit,
Ungehorsam, Differenz und Widerspruch, Respektlosigkeit,
Bilderstürmerei und Anmaßung, gar Unverschämtheit der Quell alles
Guten sein könnten? Solche Gedanken geziemten sich nicht für einen
König.
Er dachte an die fernen Herzöge aus der Geschichte des Fremdlings.
Sie behaupteten ebenfalls nicht, göttlichen Anspruch auf ihr Land
zu haben, nur den Anspruch des Siegers. Und auch ihre Philosophen
sahen den Menschen im Mittelpunkt seiner Zeit, seiner Stadt, seines
Lebens, seiner Kirche, nur führten sie die Menschlichkeit des
Menschen törichterweise auf Gott zurück und verlangten in dieser
Angelegenheit, der höheren Angelegenheit des Menschen, göttliche
Sanktion, obwohl sie in den niederen Angelegenheiten der Macht
zugleich von der Notwendigkeit einer solchen Sanktion absahen. Wie
verwirrt sie doch waren und wie unbedeutend, herrschten gerade mal
über eine Stadt in der Toskana, vielleicht noch über ein römisches
Bistum, dabei nahmen sie sich so wichtig. Er war der Herrscher über
das grenzenlose Universum, und für ihn lagen die Dinge natürlich
klarer. Nein, korrigierte er sich, das taten sie nicht, und er gab
sich bloßer Bigotterie hin, wollte er anderes behaupten. Mogor
hatte recht. Es ist nicht der Fluch der menschlichen Rasse, dass
wir uns so sehr voneinander unterscheiden, sondern dass wir uns so
ähnlich sind.
Tageslicht ergoss sich über die Teppiche, und er stand
auf.
Es wurde Zeit, sich am jharokha-Fenster zu zeigen und die
Hul-digung der Menge entgegenzunehmen. Das Volk war heute in
Festtagslaune - auch dies hatte es mit der Bevölkerung jener
anderen Stadt gemein, durch deren Straßen er in seinen Träumen
wanderte, dieses Talent zum Feiern ~, denn heute war der
Sonnengeburtstag ihres Herrschers, der fünfzehnte Oktober, und
seine Majestät würde sich wiegen lassen, zwölf Mal insgesamt, so in
Gold, Seide, Parfüm, Kupfer, geseihter Butter, Eisen, Kom und Salz,
und die Frauen seines Harems spendeten jedem Haushalt einen Anteil
von diesem Überfluss. Die Viehzüchter erhielten jeder so viele
Schafe, Ziegen und Hühner, wie ihr Herrscher an Jahren zählte. Eine
gewisse Menge eigentlich für das Schlachthaus bestimmter Tiere
würde freigelassen. Und später nahm er im Harem dann an jener
Zeremonie teil, in deren Verlauf ein Knoten in den Faden seines
Lebens geknüpft wurde, jenes Fadens, der die Anzahl der Jahre
seines Lebens festhielt. Außerdem hatte er heute eine Entscheidung
hinsichtlich jenes Fremdlings zu fallen, der von sich behauptete,
ein «Mogul der Liebe» zu sein.
Dieses Individuum hatte für den Herrscher bereits eine Viel-zahl
von Gefühlen ausgelöst: Amüsement, Interesse, Enttäu-schung,
Ernüchterung, Überraschung, Erstaunen, Faszination, Irritation,
Vergnügen, Verwirrung, Misstrauen, Wohlwollen, Langeweile und immer
öfter auch, das musste er gestehen, Zuneigung und Bewunderung.
Eines Tages begriff er, dass Eltern ähnlich für ihre Kinder
empfinden, auch wenn er im Fall seiner eigenen Söhne nur wenige
Augenblicke der Zuneigung erleben durfte, aber immer wieder
Misstrauen, Enttäuschung und Ernüchterung hatte erfahren müssen.
Fast schon seit seiner Geburt intrigierte der Kronprinz gegen ihn,
und alle drei Jungen waren aus der Art geschlagen, doch der Mann,
der die Geschichte von Qara Köz erzählte, benahm sich stets
respektvoll, war zweifellos intelligent, furchtlos und konnte ein
gewaltiges Garn spinnen. Seit einiger Zeit hegte Akbar einen nahezu
skandalösen Gedanken hinsichtlich dieses so ausnahmslos
liebenswürdigen Vespucci, der sich derart gut dem Leben am Hofe
angepasst hatte, dass man ihn allgemein schon so behandelte, als
würde er von Rechts wegen dazugehören. Prinz Salim hasste ihn,
ebenso der religiöse Fanatiker Badauni, dessen geheimes Buch
giftiger Anschläge auf den Herrscher von Tag zu Tag dicker und
dicker, der Autor dagegen dünner und dünner wurde, doch gereichten
dem Fremdling solche Animositäten eher zur Ehre. Des Herrschers
Mutter sowie Königin Mariam-uz-Zamani, sein erstes, tatsächlich
real existierendes Weib, konnten den Fremden gleichfalls nicht
ausstehen, doch mangelte es den bei den an Phantasie, weshalb sie
sich jeglichem Vordringen einer Traumwelt in die Wirklichkeit
widersetzten.
Der beinahe skandalöse Gedanke hinsichtlich Vespucci machte Akbar
nun schon seit geraumer Zeit zu schaffen, wes-halb er ihm nachgehen
wollte und begann, den Fremdling in diverse Staatsangelegenheiten
einzubeziehen. Beinahe auf Anhieb meisterte der gelbhaarige «Mogul»
die schwierigen Details des mansabdari-Systems, mit dessen Hilfe
das Reich regiert wurde und von dem sein Fortbestand abhing, jene
Pyramide der Würdenträger, die entsprechend ihrem Rang berittene
Truppen befehligten und dafür Lehnsgüter erhielten, die ihren
Reichtum ausmachten. Schon nach Tagen kannte er die Namen aller
mansabdars im Reich auswendig - dabei gab es allein dreiund-dreißig
Offiziersränge, von königlichen Prinzen, die zehntausend Mann, bis
hinunter zu den einfachen Befehlshabern, die nur zehn Mann
kommandierten -, außerdem erkundigte er sich nach den Leistungen
einzelner Würdenträger und war so in der Lage, dem Herrscher sagen
zu können, welcher mansabdar eine Beförderung verdiente und wer
seine Aufgaben vernachlässigte. Der Fremdling war es auch, der
Akbar jene grundlegende Änderung in der Struktur des Systems
vorgeschlagen hatte, mit der die Stabilität des Reiches für weitere
einhundertfünfzig Jahre gesichert werden sollte. Ursprünglich waren
die meisten mansabs Turani, also Zentralasiaten mogulischer
Herkunft, die entweder selbst Perser waren oder deren Familien aus
der Gegend von Ferghana und Andijon stammten. Auf Mogors Rat begann
Akbar, eine größere Anzahl Abkömmlinge anderer Volksstämme
aufzunehmen, der Rajputen, Afghanen und indischen Muslime, sodass
keine Gruppe mehr die Übermacht besaß. Die Turani waren nach der
Reform zwar immer noch die größte Gruppe, besetzten aber nur noch
etwa ein Viertel aller Stellen. Folglich konnte keine Gruppierung
den übrigen Würdenträgern Vorschriften machen, und alle waren
gezwungen, miteinander auszukommen und zu kooperieren. Sulh-i-kul.
Vollkommener Friede. Alles nur eine Frage der
Organisation.
Er war also ein Mann, der mehr konnte, als nur einige Zauber-tricks
vorzuführen oder Geschichten zu erzählen. Der angenehm beeindruckte
Herrscher begann, auch die athletischen und militärischen
Fähigkeiten des jungen Mannes auf die Probe zu stellen, und fand
heraus, dass er ein ungesatteltes Pferd zu reiten, mit dem Pfeil
sein Ziel zu treffen und ein Schwert mit mehr als bloß passablem
Geschick zu führen wusste. Außer für seine Fähigkeiten im Umgang
mit den Waffen war er auch für seine Rede- kunst bekannt, und er
wurde rasch ein Experte in den beliebtesten Hausspielen des Hofes,
etwa dem Brettspiel chandal mandal oder dem Kartenspiel ganjifa,
dem er eine besondere Note verlieh, indem er die Figuren der bunten
Karten mit hohen Persönlichkeiten von Sikri gleichsetzte.
Ashwapati, der Meister der Pferde, die höchste Karte im Spiel, war
natürlich der Herrscher selbst. Dhanpati, der Schatzmeister, war
selbstverständlich der Finanzminister Raja Todar Mal, und Tiyapati,
die Königin der Damen, war natürlich Jodha Bai. Raja Man Singh war
Dalpati, der Meister der Schlacht, und Birbal, der von allen
Geliebte, der Erste unter seinesgleichen, musste wohl Garhpati
sein, Herr der Burg. Akbar fand diese Zuordnungen höchst amüsant.
«Und Ihr, mein Mogul der Liebe», sagte er, «Ihr seid bestimmt
Asrpati.» Das war der Meister der Flaschengeister, der König der
Zauberer und Magier. Woraufhin sich der Fremdling mit der Bemerkung
vorwagte: «Und Ahipati, der Herr der Schlangen, ]ahanpanah … könnte
das nicht der Kronprinz Salim sein?»
Kurz gesagt, dieser Mann war ein Mann mit
vielen ehrenwer-ten Eigenschaften, was die erste Voraussetzung für
jeden ehrenwerten Mann war. «Geschichten können warten», sagte der
Herrscher. «Erst müsst Ihr Euer Wissen darüber mehren, wie es hier
so zugeht.» Um in die Geheimnisse der Finanzen und der
Regierungsgeschäfte eingeweiht zu werden, wurde Mogor dell’ Amore
daher erst Raja Todar Mal und dann Raja Man Singh zur Seite
gestellt, und als Birbal gen Westen zu den Burgen von Chittorgarh
und Mehrangarh ritt, nach Ajmer und Jaisalmer, um in jenen Teilen
des Reiches bei Untertanen und Verbündeten nach dem Rechten zu
sehen, begleitete ihn der Fremdling in der Rolle eines hohen
Beraters und bewunderte staunenden Auges die Macht des Herrschers,
als er jene unbezwingbaren Palastanlagen sah, deren Fürsten
ausnahmslos ihr Knie vor dem König der Könige beugten. Die Monate
wurden zu Jahren, und bald begriff jedermann, dass der
großgewachsene, gelbhaarige Mann nicht mehr als Fremdling galt. Der
«Mogul der Liebe» war zum Berater und Vertrauten des großen Moguls
geworden.
«Behaltet den Herrn der Schlangen im Auge», wurde Mogor vom
Herrscher gewarnt. «Das Messer, das er mir gern in den Rücken
stoßen würde, könnte den Weg in Euren Rücken finden.» Dann starb
Birbal.
Der Herrscher machte sich Vorwürfe, da er dem Wunsch sei-nes Freundes nach einem militärischen Kommando stattgege-ben hatte. Doch Birbal hatte den Aufstand der Raushanai, der Illuminati der Afghanen, überraschend persönlich genommen gleichsam stellvertretend für seinen Herrscher. Ihr Anführer, der Prophet Bayazid, hatte Hinduismus und Islam zu einem pantheistischen Eintopf ekelhafter Amoralität zusammen gerührt. Birbal war empört. «Gott ist in jedem und allem, folglich sind alle Handlungen göttlich, weshalb es, da jegliches Tun und Treiben göttlich ist, keinen Unterschied mehr zwischen Falsch und Richtig gibt, Gut und Böse, und wir können tun, wonach immer uns der Sinn steht?», höhnte er. «]ahanpanah, vergebt mir, aber dieser unbedeutende Kriegsfürst macht sich über Euch lustig. Euer Verlangen, den einen Glauben in allen Religionen zu finden, verkehrt er Euch zum Spott ins Hässliche. Allein für diese Unverschämtheit gehört er bestraft, selbst wenn er nicht wie ein Barbar rauben und plündern würde. Plündern ist in seinen Augen natürlich erlaubt - haI -, da die Raushanai das erwählte Volk sind, von Gott erkoren, die Welt zu erben. Wer wollte also etwas dagegen einwenden, wenn sie sich schon ein wenig vorzeitig von ihrem Erbe bedienen?»
Der Glaube, Plündern sei eine religiöse
Pflicht, mittels deren die Erwählten sich aneigneten, was ihnen
dank eines göttlichen Geschenks sowieso zustehe, fand bald Gefallen
bei den verschiedenen Stämmen des afghanischen Berglandes, sodass
die Zahl der Mitglieder dieser Sekte rasant anstieg. Dann aber
starb Bayazid überraschend und wurde als Anführer der Raushanai vom
sechzehnjährigen Jalaluddin ersetzt, seinem jüngsten Sohn. Birbal
reagierte auf diese Entwicklung mit ungezügelter Wut, denn
«Jalaluddin» war auch Akbars Geburtsname, ein Zufall, der die
Unverschämtheit der Raushanai über die Maßen mehrte. Jahanpanah, es
ist an der Zeit, diesen Beleidigungen die Antwort zu erteilen, die
sie verdienen», sagte er. Akbar, den diese so gänzlich
unmilitärische Wut sehr amüsierte, willigte ein und gab Birbal
freie Hand. Der Fremdling Mogor dell’ Amore sollte Birbal diesmal
aber nicht begleiten. «Für einen afghanischen Krieg ist er noch
nicht bereit», verkündete der Herrscher unter allgemeinem Gelächter
im Haus der privaten Anhörung. «Er soll bleiben, an unserem Hofe,
um uns Gesellschaft zu leisten.»
Der Aufstand war jedoch kein Spaß. Die Bergstraßen galten als
nahezu unpassierbar. Und kaum war Birbal eingetroffen, um den
Illuminati eine Lektion zu erteilen, geriet er am Malandrai-Pass in
einen Hinterhalt. Später kursierten fiese Gerüchte, die besagten,
der Minister sei von der Truppe fortgelaufen, um die eigene Haut zu
retten; andere Gerüchte aber, denen der Herrscher glaubte, sprachen
von Verrat. Vermutlich hatte der Kronprinz bei alldem eine Rolle
gespielt, doch konnte Akbar das nicht beweisen. Birbals Leiche
sollte nie gefunden werden. Achttausend Mann wurden
niedergemetzelt.
Nach der Katastrophe am Malandrai-Pass fühlte sich der Herrscher
lange Zeit sehr elend und war vor Kummer derart von Sinnen, dass er
nichts mehr trank und nichts mehr aß. Seinem gefallenen Freund zu
Ehren schrieb er ein Gedicht. Du gabst den Hilflosen, wann immer du
konntest, Birbal. Jetzt bin ich der Hilflose, aber du hast nichts
mehr, was du mir zu geben vermagst. Zum ersten und einzigen Mal
schrieb er in der ersten Person, nicht wie ein König, sondern wie
jemand, der um einen geliebten Freund trauert. Und während er noch
Birbals Tod beklagte, schickte er erst Todar Mal, dann Man Singh
aus, um den Aufstand niederzuknüppeln und die Raushanai zu
unterwerfen. Überall in den Palästen Sikris gähnte die Leere, leere
Stellen, die drei seiner Neun Juwelen eingenommen hatten und die
kein Geringer füllen konnte. Immer enger schloss er sich folglich
Abul Pazl an, verließ sich immer stärker auf ihn. Und dann hatte er
diesen Gedanken, diesen nahezu skandalösen Gedanken, den er auch
acht Monate nach Birbals Tod noch sorgsam erwog, am Tag seines
vierundvierzigsten Geburtstags, an dem er zur königlichen Waage
ging, um selbst gewogen zu werden.
Dies war die Frage, auf die er eine Antwort zu finden
versuchte:
Sollte er den Fremdling Mogor dell’Amore, auch als Niccolo Vespucci
bekannt, den Erzähler großartiger Geschichten, der so schamlos
behauptete, sein Onkel zu sein, und der bewiesen hatte, welch
fähiger Verwalter und Berater er war, sollte er jenen Mann also, an
dem er solch unerwarteten Gefallen gefunden hatte, zu seinem Sohn
ehrenhalber machen? Der Rang eines farzand gehörte zu den äußerst
selten verliehenen, heftig begehrten Auszeichnungen des Reiches,
und jeder, dem dieser Titel zugesprochen wurde, hatte von Stund an
Zugang zum innersten Kreis des Herrschers. Hatte dieser junge
Vagabund, der für ihn eher wie ein jüngerer Bruder als wie sein
Kind (oder sein Onkel, war, eine derartige Ehrung verdient? Und -
nicht weniger wichtig -, wie würde eine solche Lobeserhebung
aufgenommen werden?
Er zeigte sich am jharokha, und die Menge brach in laute Ju-belrufe aus. Dieser Mogul der Liebe, sinnierte Akbar, war beim Volk ebenfalls recht beliebt, doch nahm der Herrscher an, dass diese Popularität viel mit seinem Erfolg im Haus der Kurtisanen unten am See zu tun hatte, dem Hause Skanda, in dem Skelett und Matratze den Ton angaben, aber auch mit Qara Köz, ließ sich doch kaum leugnen, dass die Geschichte von der verschwiegenen Prinzessin Eingang in den Sagenschatz der Hauptstadt gefunden hatte und das Interesse der Menschen daran kaum nachließ. Außerdem wusste das Volk, welche Enttäuschung die Söhne des Königs für ihn waren. Die Zukunft des Herrscherhauses stellte also ein Problem dar. Der Legende zufolge zog Timur, der Vorfahre der Moguln, noch während seiner Zeit als kleiner Bandit in der Verkleidung eines Kameltreibers durch die Lande, als er von einem Bettelmönch angesprochen wurde, einem faqir, der ihn um ein wenig zu essen und einen Schluck zu trinken bat. «Gebt Ihr mir Nahrung, schenke ich Euch ein Königreich», versprach der faqir, der den Islam zugunsten des Hinduismus aufgegeben hatte. Timur gab dem Mönch, was er begehrte, woraufhin der faqir seinen Mantel über Timur warf und begann, ihn mit der flachen Hand auf den Hintern zu hauen. Nach elf Schlägen warf Timur wütend den Mantel ab. «Hättet Ihr länger ausgehalten», sagte der faqir, «hätte Eure Dynastie länger Bestand gehabt. So wird sie mit dem elften Nachfolger enden.» Akbar war der achte Nachfahre nach Timur dem Lahmen; falls man der Legende also Glauben schenken wollte, säßen die Moguln noch drei Generationen lang sicher auf dem Thron von Hindustan. Nur gab es mit der neunten Generation ein Problem. Die achtzehn, fünfzehn und vierzehn Jahre alten Söhne waren allesamt Trunkenbolde, einer von ihnen litt an der Fallsucht, und der Kronprinz, na ja, was wollte man schon über den Kronprinzen sagen: Er war ein entsetzliches Ärgernis, sonst nichts.
An seinem Geburtstag, in der Waagschale des
Lebens hockend, um zwölf Mal gegen Reismilch aufgewogen zu werden,
dachte der Herrscher über die Zukunft nach. Anschließend suchte er
die Kunstwerkstätten auf, doch war er in Gedanken nicht bei der
Sache. Sogar im Harem, in dem ihn seine Frauen umgaben, ihre
Sanftheit ihn umhüllte, war er abgelenkt. Er spürte, dass er an
einen Wendepunkt gelangt war und dass es dabei irgendwie um diese
Entscheidung hinsichtlich des Fremden ging. Ihn in die Familie
aufzunehmen wäre ein Zeichen dafür, dass er tatsächlich Abul Fazls
Idee eines Weltenkönigs verfolgte, da er ins eigene Haus - in sich
selbst - Personen, Orte, Erzählungen und Möglichkeiten noch
unbekannter Länder aufnahm, Länder, die ihrerseits unterworfen
werden konnten. Wenn ein Fremdling Mogul zu werden vermochte, dann
würden dies über kurz oder lang alle Fremden werden können.
Außerdem tat er damit einen weiteren Schritt auf dem Weg zur
Schaffung einer Kultur der Einbeziehung, ebenjener Kultur, die von
der Sekte der Raushanai allein durch ihre Existenz verspottet
worden war: seine wahre, Gestalt gewordene Vision, der zufolge alle
Rassen, Stämme, Clans, Glaubensrichtungen und Nationen Teil einer
großen Mogul-Synthese werden würden, der einen großen Vermengung
der Erde, ihrer Wissenschaften, ihrer Künste, ihrer Lieben,
Differenzen, Probleme, Eitelkeiten, ihrer Philosophien, ihrer
Spiele und Launen. All das brachte ihn zu dem Schluss, dass es ein
Akt der Stärke wäre, Mogor dell’ Amore mit dem Titel eines farzand
zu ehren.
Doch könnte es nicht wie Schwäche wirken? Wie Sentimenta-lität,
Selbstbetrug, Leichtgläubigkeit? Auf einen glattzüngigen Fremden
hereinzufallen, von dem man nichts weiter wusste als das, was er
selbst in seiner unvollständigen, chronologisch problematischen
Geschichte von sich zum Besten gegeben hatte? Denn wollte man ihn
offiziell anerkennen, wäre das, als wollte man sagen, die Wahrheit
sei nicht länger bedeutsam und es käme nicht mehr darauf an, ob
seine Geschichte bloß eine geschickt konstruierte Lüge war oder
nicht. Sollte ein Fürst es nicht tunlichst vermeiden, seine
Verachtung für die Wahrheit derart deutlich zu zeigen? Sollte er
sie nicht verteidigen und erst unter dem Schutz dieses Vorwandes
lügen, wann immer es ihm passte? Sollte ein Fürst also nicht
gefühlloser sein? Kälter? Unempfänglicher für Phantasien und
Visionen? Vielleicht war Macht die einzige Vision, die er sich
gestatten sollte. Nützte die Erhebung des Fremdlings der Macht des
Herrschers? Nun, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Und jenseits dieser Fragen taten sich größere Probleme auf, Fragen
aus der Welt der Magie, in der jedermann ebenso leidenschaftlich
lebte wie in der Welt fassbarer Stofflichkeit. Wenn Akbar die Menge
jeden Morgen am jahrokha-Fenster einen Blick auf sich erhaschen
ließ, nährte er diesen Glauben; unten drängten sich Verehrer,
Anhänger des aufkeimenden Kultes des Erhaschens, die gleich im
Anschluss Wundergeschichten verbreiteten. Jeden Tag wurden die
Kranken, die Sterbenden zu ihm gebracht, und wenn Akbars Blick auf
sie fiel, wenn er gar in dem Moment einen Blick auf sie erhaschte,
in dem sie ihrerseits einen Blick auf ihn erhaschten, dann war
sofortige Heilung das unweigerliche Ergebnis. Solches Erhaschen
übertrug des Herrschers Macht auf den Erhaschten. Magie strömte
ausnahmslos von der mit größerer Magie ausgestatteten Person
(Herrscher, Nekromant, Hexe, zu der mit weniger Magie behafteten,
so lautete eines ihrer Gesetze.
Es war wichtig, nicht gegen die Gesetze der Magie zu versto-ßen.
Wenn man von einer Frau verlassen wurde, dann geschah dies, weil
man sie nicht mit dem richtigen Zauber umgarnt hatte, weil jemand
anders einen stärkeren Zauberspruch kannte oder weil die Ehe unter
einem derart starken Fluch stand, dass dieser Fluch das Band der
Liebe zwischen Mann und Frau zerschnitt. Warum war Der-und-der
erfolgreich im Beruf, nicht aber So-undso? Weil er den richtigen
Zauber kannte. Etwas im Herrscher rebellierte gegen diesen ganzen
Humbug, denn es kam doch einer Infantilisierung gleich, wenn man
die Macht der eigenverantwortlichen Wirksamkeit aufgab und glaubte,
solche Macht gründe nicht innerhalb, sondern außerhalb von einem
selbst. Den gleichen Einwand brachte er auch gegen Gott vor, dass
nämlich dessen Existenz den Menschen um das Recht brachte, eigene
ethische Strukturen schaffen zu können. Doch Magie war überall und
konnte nicht abgestritten werden; zudem wäre er ein unbesonnener
Herrscher, wenn er sich darüber lustig machte. Religion ließ sich
überdenken, analysieren und ändern, vielleicht sogar abschaffen;
Angriffe auf die Magie aber blieben wirkungslos. Ebendeshalb
beschäftigte die Geschichte von Qara Köz ja die Phantasie der
Bewohner Sikris. Die verschwiegene Prinzessin hatte ihre Magie, die
Magie ihres Volkes, in eine andere Welt gebracht, eine Welt mit
ihrem eigenen Zauber, und die Hexenkraft von Qara Köz war stärker
gewesen, ihre Zauberkunst, der nicht einmal er, der Herrscher,
widerstehen konnte.
Die offenen magischen Fragen hinsichtlich des Fremdlings Niccolo
Vespucci, dieses selbsternannten Moguls der Liebe, ließen sich wie
folgt umschreiben: War seine Anwesenheit am Hofe ein Segen oder ein
Fluch? Würde seine Erhebung zu höherem Rang für das Reich zum
Vorteil sein, oder würde sie irgendein dunkles Gesetz der Fortune
verletzen und folglich ein Unglück für seine Herrschaft nach sich
ziehen? War Fremdheit an sich etwas, das man als eine belebende
Kraft begrüßen sollte, die ihren Anhängern Erfolg und Reichtum
versprach, oder verfälschte sie Wesentliches im Einzelnen wie in
der Gesellschaft als Ganzes, setzte sie einen Verfallsprozess in
Gang, der mit einem entfremdeten, unauthentischen Tod endete? Der
Herrscher hatte bei den Wächtern der unsichtbaren Reiche Rat
geholt, bei Handdeu-tern, Astrologen, Weissagern, Mystikern und
anderen Weisen, an denen es in der Hauptstadt niemals mangelte, vor
allem nicht rund um das Grabmal von Salim Chishti, doch war ihr Rat
widersprüchlich ausgefallen. Die Meinung von Pater Acquaviva und
Monserrate, der europäischen Landsleute des Fremden, hatte er erst
gar nicht erfragt, da deren feindselige Haltung zum
Geschichtenerzähler allgemein bekannt war. Und Birbal, ach, sein
geliebter, weiser Birbal, war nicht mehr.
Letzten Endes also blieb es ihm allein
überlassen. Nur er konnte entscheiden.
Der Tag ging zu Ende, und er hatte keine Entscheidung getroffen. Um
Mitternacht meditierte er unter dem Halbmond. Er kam zu ihm, ganz
in Silber, lautlos und leuchtend.
Schließlich wurde Jodha für viele Menschen
unsichtbar. In ih-ren Diensten stehendes Personal konnte sie
natürlich sehen, deren Lebensunterhalt hing schließlich davon ab,
doch die übrigen Königinnen, die schon immer etwas gegen ihre
Anwesenheit gehabt hatten, nahmen sie kaum mehr wahr. Jodha wusste,
dass Schlimmes mit ihr geschah, und hatte schreckliche Angst. Sie
fühlte sich schwächer, und manchmal, von Zeit zu Zeit, gleichsam
auch periodisch, so als käme und ginge sie, als würde ihr
Lebenslicht gelöscht, wieder angezündet, dann erneut gelöscht und
aufs Neue angezündet. Birbal war tot, und sie schwand dahin, dachte
Jodha. Die Welt wandelte sich zum Schlechteren. Der Herrscher
suchte sie dieser Tage immer seltener auf, und wenn er kam, wirkte
er abwesend. Sie hatte sogar den Eindruck, dass er an jemand
anderen dachte, wenn er sie liebte.
Der spionierende Eunuch Umar der Ayyar, der alles sah, auch so
manches, was noch gar nicht geschehen war, traf sie in der Hitze
des Nachmittags an, als sie sich in der Kammer des Windes ausruhte,
dem luftigen Zimmer im zweiten Stock, in dem drei der vier Wände
jalis zierten, filigran durchbrochenes Mauerwerk. Es war der Tag
nach dem Geburtstag des Herrschers, und von den Bewegungen des
Eunuchen ging etwas seltsam Drängendes aus, obwohl ihn doch sonst
eher träge Anmut und phlegmatische Gesten kennzeichneten. Heute
wirkte er dagegen ein wenig verstört, fast als hüpften die
Neuigkeiten in ihm hin und her und brächten ihn aus dem
Gleichgewicht. «Nun gut», verkündete er, «ein großer Augenblick für
Euch. Die Maria der Ewigkeit und die Maria des Hauses
- die Frau und die Mutter des Göttlichen Kalifen, des Einzigartigen
Juwels, des Khediven unserer Zeit statten Euch höchstpersönlich
einen Besuch ab.»
Die Maria der Ewigkeit war Mariam-uz-Zamani, die leibliche Mutter
des Kronprinzen Salim, Rajkumari Hira Kunwari, eine
Kachhwaha-Rajputen-Prinzessin aus Ajmer. Die Maria des Hauses,
Mariam Makani, war Hamida Bono, die Mutter des Herrschers. (Der
Kalif, das Juwel und der Khedive waren natürlich alle der Herrscher
selbst., Wenn diese beiden großen Damen, die der nichtexistenten
Königin bisher nie auch nur einen guten Tag gewünscht hatten, sie
in ihren Privatgemächern aufsuchten, stand Bedeutsames bevor. Jodha
sammelte sich und nahm eine unterwürfige Haltung ein, faltete die
Hände und senkte den Blick, um ihre Ankunft zu erwarten. Minuten
später rauschten sie herein, auf den Gesichtern ein Ausdruck sowohl
des Erstaunens wie der Verachtung. Bibi Fatima, Echo und Hofdame
der Königinmutter, war bei dieser Gelegenheit abwesend, zum einen,
weil sie kürzlich gestorben war, zum anderen, weil sich die Damen
gegen jede Begleitung durch irgendwelche Höflinge entschieden
hatten, von Umar dem Ayyar einmal abgesehen, dessen
Verschwiegenheit außer Zweifel stand. Verwirrt schauten sie sich um
und wandten sich dann hilfesuchend an den Ayyar. «Wo ist sie?»,
zischte Hamida Bono. «Ist sie aus dem Zimmer gegangen?» Umar
deutete mit einem leichten Kopfnicken in Jodhas Richtung. Die
Königinmutter sah sich verwirrt um, während die jüngere Dame
königlichen Geblüts nur verächtlich schnaubte und sich dann der
ungefähren Richtung zuwandte, in die der Spion gedeutet
hatte.
«Ich bin hier zu meinem eigenen, nicht unbeträchtlichen
Er-staunen», sagte Königin Mariam-uz-Zamani und sprach zu laut und
zu langsam, als redete sie mit einem begriffsstutzigem Kind, «um
mich mit einer Frau zu unterhalten, die nicht existiert, deren
Abbild kein Spiegel wiedergibt und die für mich aussieht wie Luft
über dem Teppich. Ich bin mit der Mutter des Herrschers gekommen,
Witwe der Kuppel der Absolution, ehedem geliebte Gemahlin des
Herrschers Humayun, des Wächters der Welt, dessen Nest das Paradies
ist, denn wir fürchten, dass Schlimmeres als Ihr den Herrscher
beherrscht, meinen edlen Gatten, ihren illustren Sohn. Nach unserer
Auffassung hat ihn der Fremdling Vespucci verzaubert, der uns als
Sendbote des Ungläubigen, des Teufels geschickt wurde, ein Mann mit
schwarzem Herzen, der unsere Ruhe stört und uns demütigt, dessen
Zauber die Männlichkeit unseres Herrschers in den Bann schlägt und
so seinen gesunden Menschenverstand schwächt, was wiederum das
gesamte Reich in Gefahr bringt und folglich daher auch uns. Es ist
ein Zauber, von dem Ihr sicherlich gehört habt - wie es scheint,
weiß ganz Sikri bereits darüber Bescheid! Er nimmt die Form einer
Erscheinung von Qara Köz an, der sogenannten verschwiegenen
Prinzessin. Wir wissen … » und da stockte die Maria der Ewigkeit,
denn was sie zu sagen hatte, verletzte ihren Stolz -, «dass der
Herrscher Euch aus den ihm eigenen Gründen jeder anderen weiblichen
Gesellschaft vorzieht», sie weigerte sich, Königin zu sagen, «und
wir hoffen, dass Ihr, sobald Ihr erfahrt, in welcher Gefahr er
schwebt, begreifen werdet, wo Eure Verantwortung liegt. Kurz und
gut, wir wünschen, dass Ihr all Eure Macht über ihn nutzt, um ihn
aus diesem verhexten Zustand zu retten - vor seiner Lust für diesen
Höllendämon in weiblicher Gestalt -, und wir wollen Euch dabei
helfen, indem wir Euch alles beibringen, womit eine Frau jemals
Macht über einen Mann gewann, etwas, das der Herrschet als Mann
nicht wissen kann und Euch daher auch nicht beibringen konnte,
Euch, seinem ein wenig absurden und, wie mir scheint, fast nicht
wahrnehmbaren Geschöpf. Wir wissen, Ihr habt viele Bücher gelesen,
und ich bezweifle nicht, dass Ihr geflissentlich lerntet, was sie
Euch zu lehren wussten. Doch gibt es Dinge, die nie in Büchern
niedergeschrieben wurden, da sie seit Anbeginn aller Zeit nur auf
mündliche Weise von Frau zu Frau weitergegeben werden, in
flüsterndem Ton von Mutter zu Tochter. Haltet Euch an das, was wir
Euch lehren werden, so wird er wieder Euer Sklave sein, und der
Sieg der Dämonin über den Herrn von Fatehpur Sikri lässt sich
vielleicht noch verhindern. Denn Qara Köz ist, dessen sind wir
gewiss, ein böser Geist aus der Vergangenheit, ein Rachegeist, der
gegen sein langes Exil aufbegehrt und den Herrscher durch die Zeit
zurücksaugen will, um ihn zu besitzen und ihn zu unser aller
Schaden zu vernichten. Jedenfalls wäre es besser, uns bliebe, wenn
denn überhaupt möglich, der Anblick eines Herrschers von Hindustan
erspart, des Königs der Manifestation und der Wirklichkeit, des
Mannes mit makellosem Körper, des Herrn über den Glauben und das
Firmament, der in das Phantom seiner abtrünnigen und zudem längst
dahingeschiedenen Großtante vernarrt ist.»
«Denkt daran, was mit dem Maler Dashwanth passiert ist», warf die
Königinmutter ein.
«Ganz recht», stimmte ihr Mariam-uz-Zamani zu. «Wir mögen uns damit
abfinden, einen Künstler auf diese Weise zu verle-gen, den
Schirmherrn der Welt aber können wir nicht verlieren.»
Sie konnten die Frau tatsächlich nicht sehen, zu der sie spra-chen,
doch waren sie gewillt, sich auf ihren Teppichen niederzulassen,
sich auf ihren Polstern zu rekeln, den Wein zu trinken, den ihre
Mägde ihnen anboten, und der leeren Luft die sexuellen Geheimnisse
der Frauen aller Zeiten zu verraten. Nach einer Weile schwand das
Gefühl, sie hätten ihren Verstand verloren, und sie taten, als
wären es sie allein, nur sie beide, die sich miteinander
unterhielten und offen über das sprachen, was stets nur unter dem
Siegel der Verschwiegenheit weitergegeben worden war, nur sie
beide, die hilflos über die schockierende Komödie des Begehrens
lachen mussten, über die absurden Dinge, die Männer wollen, und die
ebenso absurden Dinge, die Frauen taten, um sie zufriedenzustellen,
bis die Jahre von ihnen abfielen und sie sich an ihre eigene Jugend
erinnerten, daran, wie ihnen diese Geheimnisse dereinst von anderen
grimmigen, ernst dreinblickenden Frauen erzählt worden waren, die
sich nach einer Weile dann ebenfalls in brüllendem Gelächter
gekrümmt hatten, bis das Gelächter im Raum zu guter Letzt das
Gelächter von Generationen war, das Gelächter aller Frauen und der
Geschichte.
Auf diese Weise unterhielten sie sich fünfeinhalb Stunden, und als
sie zum Ende kamen, fanden sie, es war der schönste Tag ihres
Lebens gewesen. Sie begannen, freundlichere Empfindungen als je
zuvor für Jodha zu hegen. Sie war jetzt eine von ihnen, Teil der
Frauenriege, und nicht mehr nur allein des Herrschers Geschöpf. In
gewisser Weise war sie jetzt auch die Ihre.
Es dämmerte. Die Kerzenlakaien kamen mit Kampferkerzen in silbernen
Kerzenständern. Fackelschalen in eisernen Halterungen an der
Rückwand des Zimmers wurden entzündet, und lustig flackerte die
Flamme über dem Baumwollsamenöl, sodass die Schatten der hohen
Damen über den roten Stein der jalis tanzten. In einem anderen Teil
von Sikri aber änderte sich des Herrschers Phantasie, sein khayal,
ein letztes Mal, und Umar der Ayyar hielt in der Kammer der Winde
den Atem an. Einen Augenblick später sahen die Maria der Ewigkeit
und die Maria des Hauses, was er gesehen hatte: nicht nur den
Schatten einer dritten Frau vor den jalis, sondern klare Konturen,
die sich aus dünner Luft formten, deutlicher wurden, sichtbarer,
die sich füllten, bis eine Frau vor ihnen stand, auf den Lippen ein
eigenartiges Lächeln. «Ihr seid nicht Jodha», entfuhr es der
Königinmutter matt. «Nein», erwiderte die Erscheinung mit
schwarzen, funkelnden Augen. «Jodhabai ist fort, der Herrscher hat
für sie keine Verwendung mehr. Ich werde von nun an seine Gefährtin
sein.» So lauteten die ersten Worte des Phantoms.
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen der beiden Königinnen verbreitete
sich in Windeseile die Neuigkeit in der ganzen Stadt, das Phantom
Qara Köz habe die imaginäre Königin Jodhabai verdrängt. Für manche
war dies der endgültige Beweis dafür, dass die verschwiegene
Prinzessin tatsächlich einst existiert hatte, dass sie ins Reich
der Fakten, nicht ins Reich der Fiktionen gehörte, denn eine Frau,
die nie am Leben gewesen war, konnte auch keinen Geist haben. Für
andere stärkte es dagegen Abul Fazls Behauptung, dass dem Herrscher
der Status eines Gottes zukomme, denn nun musste ihm angerechnet
werden, er habe nicht bloß eine gänzlich imaginäre Frau geschaffen,
die gehen, reden und ihn lieben konnte, obwohl sie gar nicht
existierte, sondern auch eine echte Frau von den Toten
zurückgeholt. Die vielen Familien, die fasziniert den Erzählungen
über die verschwiegene Prinzessin gelauscht hatten, Erzählungen,
aus denen rasch Geschichten geworden waren, die Eltern abends ihren
Kindern erzählten, diese Familien begeisterte die Aussicht, Qara
Köz vielleicht bald in der Öffentlichkeit sehen zu können. Einige
konservative Stimmen sprachen von einem Skandal und beharrten
darauf, dass Qara Köz einen Schleier tragen müsse, sooft sie die
königlichen Frauengemächer verlasse, und dass die nacktgesichtige
Schamlosigkeit, der sie offenbar auf den Straßen im Westen gefrönt
habe, für das anständige Volk der Moguln nicht hinnehmbar sei.
Die Selbstverständlichkeit, mit der dieser
übernatürliche Vor-fall akzeptiert wurde, verdankte sich natürlich
der Tatsache, dass Derartiges nichts Besonderes war, damals, als
das Reale und das Irreale noch nicht auf immer getrennt und
genötigt waren, unter verschiedenen Monarchen und in verschiedenen
Rechtssystemen zu leben. Überraschender war dagegen schon der
Mangel an Mitgefühl für die unglückselige Jodhabai, die auf so
brüske Manier vom Herrscher fallengelassen wurde und in der Kammer
der Winde vor den Augen der Königinmutter und der Ersten Königin
auf derart demütigende Weise ersetzt worden war. Einige
Stadtbewohner waren nicht sonderlich gut auf Jodha zu sprechen,
weil sie sich stets geweigert hatte, den Palast zu verlassen. Ihre
Entmaterialisierung sahen diese Leute daher als wohlverdiente
Strafe dafür an, dass sie über die Maßen arrogant und nicht
sonderlich volksnah gewesen war. Qara Köz wurde zur Prinzessin des
Volkes, Jodha wäre für derlei eine viel zu reservierte,
distanzierte Königin gewesen.
All dies berichtete Umar der Ayyar seinem Herrscher, fügte aber
auch eine Warnung hinzu. Längst nicht alle Reaktionen auf die
Neuigkeit seien positiv gewesen. Im Bezirk der Turani, im
persischen Viertel und in jener Gegend, in der die indischen
Muslime lebten, mache sich ein gewisses Maß an Ruhelosigkeit
bemerkbar. Unter den nichtislamischen Polytheisten, die zu viele
Götter besaßen, um sie aufzählen zu können, sorgte die Ankunft
eines weiteren wundersamen Wesens kaum für Aufregung, war doch die
Versammlung der Götter bereits zu groß, um jeden einzelnen auch nur
kennen zu können, denn in allem wohnte ein Gott, in Bäumen lebten
Geister, auch in Flüssen, weiß der Himmel, wo noch, bestimmt gab es
auch einen Müllgott und einen Gott der Toilette, jedenfalls war
eine weitere spirituelle Wesenheit kaum der Rede wert. Auf den
Straßen des Monotheismus dagegen löste Qara Köz’ Erscheinen einen
ziemlichen Schock aus. Leises Gemurmel setzte ein, ein Gemurmel,
das nur die spitzesten Ohren wahrnahmen, ein Gemurmel, das die
geistige Gesundheit des Herrschers in Frage stellte. In Badaunis
geheimem Journal, das Umar weiterhin Abend für Abend auswendig
lernte, während der Anführer der manqul-Partei schlief, war
plötzlich die Rede von Blasphemie, denn man könne zwar behaupten,
es verstoße gegen kein göttliches Gesetz, wenn Menschen ihre Träume
Wirklichkeit werden ließen, weshalb die Schöpfung Jodhas vielleicht
noch keine Schandtat sei, doch nur der Allmächtige habe die Macht
über die Lebenden und die Toten, weshalb der Herrscher, wenn er
eine Frau zum eigenen Vergnügen vom Tode erwecke, zu weit gehe,
viel zu weit; dafür gebe es keine Entschuldigung. Was Badauni
insgeheim aufschrieb, murmelten seine Anhän-ger sich zu. Allerdings
blieb der Geräuschpegel dieses Gemur-mels recht niedrig, da, wie
schon das alte Sprichwort sagt, am Hof des Großmoguls nur die
Kniefälligsten nicht hinfielen. Dennoch bestand nach Ayyars Ansicht
Grund zur Sorge, denn unterhalb des niedrigen Geräuschpegels hatte
er auf flachstem Niveau ein weit bedrohlicheres Gemurmel vernommen,
eine viel schlimmere Verdammung der neuen Beziehung zwischen Akbar
und Qara Köz. Auf diesem tiefen Niveau konnte Umar nur einige
schwache Laute aufschnappen, Laute, die es kaum wagten, laut zu
werden, von Lippen gesprochen, die sich kaum bewegten und sich
entsetzlich vor Lauschern fürchteten. In diesen quasi präau-ditiven
Vibrationen kam ein Wort vor, das mächtig genug war, der
allgemeinen Wertschätzung, die der Herrscher genoss, ernsthaften
Schaden zuzufügen, ja, seinen Thron vielleicht sogar ins Wanken zu
bringen.
Dieses Wort war Inzest. Und Umars Warnung kam gerade rechtzeitig,
denn kurz nach dem Erscheinen von Qara Köz in Fatehpur Sikri
verließ Kronprinz Salim die Hauptstadt, um in Allahabad die Fahne
der Rebellion zu hissen; und Blasphemie und Inzest lauteten die
Vorwürfe, mit denen er seine Revolte rechtfertigte. Obwohl es Salim
gelang, dreißigtausend Mann um sich zu scharen, war der Aufstand
eine klägliche Angelegenheit. Mehrere Jahre lang galoppierte er
durchs nördliche Hindustan und behauptete, seinen Vater stürzen zu
wollen, wagte es aber nie, sich dem großen Herrscher tatsächlich in
einer Schlacht zu stellen. Nur ein einziger schrecklicher Triumph
war ihm vergönnt, als er erfolgreich die Ermordung des engsten
Beraters veranlasste, der seinem Vater noch geblieben war, eines
Mannes, dem er vorwarf, den «Verstand meines Vaters zu verderben»,
ihn zu blasphemischen Taten zu ermuntern und dafür zu sorgen, dass
er seine Liebe von Gott und seinem heiligen Propheten abwende sowie
auch, dass er «immer spitze Bemerkungen mache» und den Herrscher
damit gegen den Kronprinzen aufbringe, gegen seinen Erben, seinen
Sohn. Wie Birbal starb Abul Fazl in einem Hinterhalt. Prinz Salim
hatte seinem Verbündeten Raja Bir Singh Deo Bundela von Orchha,
durch dessen Gebiet das Juwel von Sikri reiste, die Nachricht
gesandt, er möge den Mann ins Jenseits befördern, eine Bitte, der
Raja bereitwillig nachkam. Er ließ den unbewaffneten Minister
enthaupten und schickte den Kopf zu Salim nach Allahabad, wo der
ihn mit gewohntem Anstand und Taktgefühl in eine Feldlatrine werfen
ließ.
Akbar ruhte in der Kammer der Winde auf einem großen Keilkissen und
hatte wohl ein wenig zu viel Wein getrunken, während er dem
Abendphantom Qara Köz lauschte, das ihm traurige Liebeslieder sang
und sich dabei auf einer dilruba begleitete, als Umar der Ayyar die
Nachricht von Abul Fazls Tod überbrachte. Diese schreckliche
Information brachte den Herrscher zu Verstand. Er sprang auf und
verließ sogleich Qara Köz’ Gemächer. «Von jetzt an, Umar», schwor
er, «werden wir wieder als ein wahrhafter Herrscher des Universums
regieren und aufhören, uns wie ein pickliger, verliebter
Grünschnabel aufzuführen.»
Die Gesetze, die für einen Prinzen gelten, sind weder die Ge-setze
der Freundschaft noch die der Rache. Ein Prinz muss stets daran
denken, was für das Reich am besten ist. Akbar wusste, zwei seiner
drei Söhne durften ihm niemals auf den Thron folgen, da sie allzu
sehr dem Trunk erlegen waren und an diversen Krankheiten litten, an
denen sie sogar sterben könnten. Also blieb nur Salim; und was er
auch angestellt hatte, die Erbfolge musste gewahrt bleiben. Also
schickte Akbar seinem ältesten Sohn einen Boten, der ihm nicht nur
versprach, dass der Vater davon absehen wolle, Abul Fazls Tod zu
rächen, er erklärte auch des Monarchen unsterbliche Liebe für sein
erstgeborenes Kind. Für Salim hieß dies, dass er recht daran getan
hatte, Abul Fazl ermorden zu lassen. Und nun, da sein Vater das
fette Wiesel los war, nahm er ihn wieder mit offenen Armen auf.
Salim schickte Akbar Elefan-ten zum Geschenk, dreihundertfünfzig an
der Zahl, um den Elefantenkönig zufriedenzustellen. Dann willigte
er ein, nach Sikri heimzukehren, und im Hause seiner Großmutter
Hamida Bano sank er dem Herrscher zu Füßen. Der hob ihn auf, nahm
sich seinen Turban ab und drückte ihn dem Kronprinzen aufs Haupt,
um ihm zu zeigen, dass ihm nichts nachgetragen wurde. Salim weinte;
er war wirklich ein jämmerlicher junger Mann. Was jedoch Salims
geistigen Ziehvater Badauni betraf, so wurde er in die schmutzigste
Zelle des tiefsten Verlieses in Fatehpur Sikri geworfen, und außer
seinen Wärtern hat ihn kein Mann und keine Frau jemals wieder zu
Gesicht bekommen.
Nach dem Tod von Abul Fazl wurde der Herrscher
streng und unnachgiebig. Er hatte festzulegen, wie sein Volk leben
sollte, und allzu lange war diese Pflicht vernachlässigt worden.
Also verbot er den Verkauf von Alkohol ans gemeine Volk, sofern
dieser nicht vom Arzt verordnet wurde. Er ging gegen den großen
Schwarm Prostituierte vor, die wie Heuschrecken in die Stadt
eingefallen waren, ließ sie nach außerhalb in ein Lager namens
Teufelsstadt bringen und verordnete, dass jeder Mann, der zu einem
Teufel ging, Namen und Wohnadresse zu hinterlassen habe, ehe er die
Sperrzone betreten durfte. Er riet davon ab, Rindfleisch, Zwiebeln
und Knoblauch zu essen, und empfahl stattdessen Tiger, da er
hoffte, mit dem Fleisch würde sich der Mut der Bestie auf das Volk
übertragen. Er verkündete, dass die Einhaltung religiöser Pflichten
frei von allen Zwängen zu sein habe, welcher Religion man auch
angehöre, dass Tempel gebaut und lingams gewaschen werden konnten,
nur Bärte wollte er nicht tolerieren, denn Bärte zogen ihre Kraft
aus den Hoden, weshalb Eunuchen auch keine wuchsen. Er verbot
Kinderehen und missbilligte Witwenverbrennungen sowie Sklaverei. Er
riet seinem Volk, sich nach dem Liebesspiel nicht zu waschen. Und
er bat den Fremdling zum Anup Talao, dessen Wasser unruhig und
kabbelig dahinströmte, obwohl kein Wind wehte, ein Omen dafür, dass
jenes, was in Frieden ruhen sollte, aufgestört worden war. «Euch
umgeben immer noch zu viele Geheimnisse», sagte der Herrscher
aufgebracht. «Wir können uns nicht auf einen Mann verlassen, dessen
Lebensgeschichte wir nicht vollständig kennen. Also erzählt uns
alles, nur gleich heraus damit, und dann können wir entscheiden,
was mit Euch geschehen soll und wohin Euch Euer Schicksal führt,
hinauf zu den Sternen oder hinab in den Staub. Klar und deutlich,
bitte. Lasst nichts aus, heute wird ein Urteil gefallt.»
«Es könnte sein, dass Euch nicht behagt, was ich zu erzählen habe»,
erwiderte Mogor dell’Amore, «denn es betrifft Mundus Novus, die
Neue Welt, sowie die unbeständige Natur der Zeit in jenem kaum
erforschten Territorium.
In Mundus Novus jenseits des Ozeanischen Meeres
waren die gewöhnlichen Gesetze von Zeit und Raum außer Kraft
gesetzt. Was den Raum betraf, so konnte er sich an einem Tag extrem
ausdehnen, am nächsten aber wieder zusammenziehen, sodass die Größe
der Erde entweder verdoppelt oder halbiert schien. Forscher
brachten radikal verschiedene Berichte über die Proportionen der
Neuen Welt heim, über die Eigenart ihrer Bewohner sowie über die
Art und Weise, wie es auf diesem neuen Quadranten des Kosmos
zuging. Es gab Berichte über fliegende Affen und Schlangen, lang
wie Flüsse. Und was die Zeit betraf, so war sie völlig aus den
Fugen. Sie beschleunigte und verlangsamte sich nicht nur ganz nach
Belieben, es gab auch Perioden - allerdings vermag das Wort
«Perioden» diese Phänomene nur recht unzulänglich zu umschreiben -,
in denen sie überhaupt nicht verging. Die Einheimischen, jedenfalls
jene wenigen, die eine europäische Sprache beherrschten,
bestätigten, dass es keinerlei Veränderung in ihrer Welt gebe, dass
dies ein Ort der Stasis sei, außerhalb der Zeit, und just so war es
ihnen sehr recht. Möglicherweise - zumindest gab es einige
Philosophen, die lautstark diese These vertraten -, möglicherweise
also war die Zeit erst durch europäische Reisende und Siedler
zusammen mit der ein oder anderen Krankheit nach Mundus Novus
gebracht worden. Deshalb funktionierte sie auch nicht richtig. Sie
hatte sich der neuen Lage noch nicht angepasst. «Mit der Zeit»,
sagten die Leute in Mundus Novus, «wird Zeit sein.» Vorläufig hatte
man sich jedoch mit der fluktuierenden Natur der Uhren der Neuen
Welt abzufinden. Eine der alarmierendsten Auswirkungen dieser
chronologischen Ungewissheit bestand darin, dass die Zeit für
manche Leute in unterschiedlichem Tempo verging, selbst innerhalb
einzelner Familien und Haushalte. Kinder konnten rascher als ihre
Eltern altem, bis sie älter als ihre Altvorderen wirkten. Für
manche Eroberer, Seeleute und Siedler schien der Tag nie lang genug
zu sein, andere dagegen hatten alle Zeit der Welt.
Während der Herrscher Mogor dell’ Amores Geschichte lauschte, ging
ihm auf: Die Länder des Westens waren in einem Maße exotisch und
surreal, wie es das Verständnis der einfachen Völker des Ostens
weit überstieg. Im Osten arbeiteten die Menschen hart, lebten gut
oder schlecht, starben einen edlen oder einen sinnlosen Tod und
glaubten an Religionen, die große Kunst hervorbrachten, große
Lyrik, große Musik und die neben ein wenig Trost auch viel
Verwirrung stifteten. Ganz gewöhnliche leben eben. In jenen
fabelhaften Gefilden des Westens aber schien das Volk für Hysterien
anfällig zu sein - etwa die Jammerer-Hysterie in Florenz -, die
ihre Länder wie Krankheiten heimsuchten und ein jegliches ohne
Vorwarnung bis aufs äußerste veränderte. In letzter Zeit hatte die
Goldverehrung eine besonders extreme Spielart der Hysterie
hervorgebracht, die zur treibenden Kraft der Geschichte geworden
war. Vor seinem geistigen Auge sah Akbar die aus Gold errichteten
Tempel des Westens, drinnen goldene Priester, draußen goldene
Gläubige, die zum Beten kamen und goldene Gaben brachten, um ihre
goldenen Götter zufriedenzustellen. Sie aßen Gold und tranken Gold,
und wenn sie weinten, rann geschmolzenes Gold über ihre
schimmernden Wangen. Es war dieses Gold, das die Matrosen trotz der
Angst, über den Rand der Welt zu fallen, immer weiter nach Westen
über das Ozeanische Meer getrieben hatte. Gold und auch Indien, von
dem sie glaubten, es berge fabelhafte Schätze. Indien fanden sie
nicht, doch sie fanden … Land im Westen. In diesem Westland
entdeckten sie Gold und suchten mehr, suchten goldene Städte und
Flüsse aus Gold, dabei trafen sie auf Lebewesen, die noch
unglaublicher, noch aufsehenerregender waren als sie selbst,
bizarre, unfassbare Männer und Frauen mit Federn, Haut und Knochen,
die sie Indianer nannten. Akbar fand das ziemlich ärgerlich. Männer
und Frauen, die ihren Göttern Menschenopfer darbrachten, wurden
Indianer genannt! Manche dieser «Indianer» in der anderen Welt
waren offenbar kaum besser als die Urmenschen, und selbst jene, die
Städte und Reiche erbaut hatten, versanken, so schien es dem
Herrscher, tief in Blutideologien. Ihr Gott war halb Vogel, halb
Schlange; ihr Gott war aus Rauch. Sie kannten einen Gemüsegott,
einen Gott für Rüben und Getreide. Sie litten unter der Syphilis
und hielten Steine, Regen und Sterne für lebende Wesen. Auf den
Feldern arbeiteten sie langsam, beinahe träge, und sie glaubten
nicht an Veränderung. Diese Menschen Indianer zu nennen war nach
Akbars tief empfundener Überzeugung eine Beleidigung für die edlen
Männer und Frauen von Hindustan. Der Herrscher wusste, er hatte in
seinem Denken eine Schranke erreicht, eine Grenze, über die hinaus
ihn seine Kräfte der Empathie und des Interesses nicht tragen
konnten. Da waren Inseln, die sich zu Kontinenten wandelten, und
Kontinente, die sich als bloße Inseln erwiesen. Da waren Flüsse und
Dschungel, Landzungen und Landengen, doch hol sie der Teufel.
Vielleicht waren Hydren in jenen Gefilden, Greife oder Drachen, die
Schatzhaufen bewachten, wie sie angeblich im tiefen Dschungel
ruhten. Er gönnte sie den Spaniern, den Portugiesen. Allmählich
dämmerte diesen närrischen Exoten nämlich, dass sie keinen Weg nach
Indien gefunden hatten, sondern ganz woanders waren, weder in Ost
noch in West, irgendwo zwischen dem Westen, dem großen Gangesmeer
und Taprobane, der sagenumwobenen Insel der Schätze, hinter der die
Königreiche Hindustan, Cipangu und Cathay lagen. Sie hatten
entdeckt, dass die Welt größer war, als sie vermuteten. Nun, viel
Glück jenen, die den Ozean durchzogen von Insel zu Insel zur Terra
Firma, um am Skorbut zu verrecken, am Hakenwurm, an Malaria,
Schwindsucht und den Himbeerpocken. Der Herrscher war ihrer aller
überdrüssig. Und doch war sie dorthin aufgebrochen, die
pflichtvergessene Prinzessin des Hauses Timur und Temüdschin,
Babars Schwester, Khanzadas Schwester, Blut von seinem Blut. Keine
Frau in der Geschichte der Welt hatte je eine Reise wie die ihre
unternommen, dafür liebte er sie und bewunderte sie auch, doch
wusste er genau, dass ihre Reise über das Ozeanische Meer ein
Sterben gewesen war, ein Tod vor dem Tod, denn auch der Tod war ein
Segeln aus dem Bekannten ins Unbekannte. Sie war in die
Unwirklichkeit gesegelt, in eine Welt der Phantasie, die noch in
die Existenz geträumt wurde. Das Phantasma, das seinen Palast
heimsuchte, war wirklicher als jene Frau aus Fleisch und Blut, die
einst die reale Welt für eine unmögliche Hoffnung aufgegeben hatte,
so wie sie zuvor die natürliche Welt der Familie und der
Verpflichtung für ihre egoistische Liebe aufgegeben hatte. Indem
sie davon träumte, den Weg zurück zu ihren Ursprüngen zu finden,
mit ihrem früheren Selbst wiedervereint zu werden, verlor sie sich
auf immer.
Der Weg nach Osten war ihr versperrt. Die
Piraten in den Gewässern machten eine Überfahrt viel zu riskant. In
der osmanischen Welt und im Königreich von Schah Ismail hatte sie
ihre Schiffe verbrannt. In Chorasan, so fürchtete sie, würde sie
von jenem gefangen genommen werden, der heute die Lücke füllte, die
Shaibani Khan einst hinterlassen hatte. Und wo Babar war, wusste
sie nicht, doch stand ihr auch der Weg zu ihm nicht offen. In
Genua, im Strandhaus von Andrea Doria, wohin sie Ago Vespucci
gebeten hatte, sie mitzunehmen, entschied sie, nicht jene Route
einzuschlagen, die sie gekommen war, noch konnte sie angesichts des
Zorns der Florentiner in der Stadt am Arno bleiben. Der mürrische
alte Seebär Doria, den das neue, männliche Aussehen von Qara Köz
und ihrem Spiegel schockierte, auch wenn er sich darüber jede
Bemerkung verkniff, hieß sie auf galante Weise willkommen - denn
noch war Qara Köz durchaus imstande, den Galan im Manne zu wecken,
sogar in Männern, die für ihre Grobheit und Brutalität berüchtigt
waren - und versicherte den beiden Damen, kein Mensch werde ihnen
ein Leid antun, solange sie unter seinem Schutz standen. Doria war
der Erste, der die Möglichkeit erwähnte, dass Qara Köz und ihr
Spiegel doch auf der anderen Seite des Meeres ein neues Leben
beginnen könnten.
«Wenn ich nicht so viele Berberpiraten zu töten hätte», sagte er,
«ließe ich mich vielleicht überreden, die Reise selbst zu
unternehmen und in die Fußstapfen von Signor Vespuccis gefeiertem
Vetter zu treten.» Zu dieser Zeit hatte er bereits eine ganze Menge
Piraten getötet, und seine persönliche Flotte, die meist aus den
gekaperten Kähnen der Piraten bestand, umfasste zwölf Schiffe,
deren Mannschaften nur Doria allein Treue schworen, doch hielt er
sich nicht mehr für einen echten condottiere, da es ihn nicht im
Mindesten reizte, auch an Land zu kämpfen. «Argalia war der Letzte
von uns», erklärte er. «Ich bin nur ein verwässerter Rest.» In
seiner Freizeit, wenn er keinen Krieg führte, schlug er in Genua
politische Schlachten mit seinen Rivalen in den Familien Adorni und
Fregosi, die ständig aufs Neue versuchten, ihm den Zugang zur Macht
zu verwehren. «Aber mir gehören die Schiffe», sagte er und setzte
dann noch hinzu - unfähig, sich zu bremsen, obwohl Damen anwesend
waren (vielleicht auch nur, weil die Damen wie junge Herren
gekleidet waren, - «dabei haben sie nicht mal einen Schwanz in der
Hose, nicht wahr, Ceva?» Ceva der Skorpion, dieser tätowierte Ochse
von einem Leutnant, errötete sogar, ehe er verlegen antwortete:
«Nein, Admiral, jedenfalls nicht, soweit ich sehen
konnte.»
Doria führte die. Gäste in seine Bibliothek und zeigte ihnen, was
keiner von ihnen je zuvor gesehen hatte, nicht einmal Ago, obwohl
bei diesem Werk ein Blutsverwandter beteiligt gewesen war: die
Cosmographiae Introductio des Benediktinermönchs Waldseemüller aus
dem Kloster Saint Die-des-Vosges, eine riesige Karte, die
ausgebreitet beinahe den ganzen Boden bedeckte, eine Karte, deren
Name ebenso endlos schien, die Universalis cosmographia secundum
Ptholomaei traditionem et Americi Vespucii aliorumque lustrationes,
also die vollständige Kosmographie nach der Über-lieferung des
Ptolomäus und des Amerigo Vespucci sowie auch nach anderen
Abbildungen. Auf dieser Karte glichen Ptolomäus und Amerigo wahren
Kolossen, wie Götter blickten sie herab auf ihre Schöpfung, und auf
einem großen Segment von Mundus Novus stand der Name America. «Es
ist nicht einzusehen», schrieb Waldseemüller in seiner Introductio,
«warum jemand es verbieten sollte, das neue Land nach seinem
Entdecker Amerigo zu benennen, einem besonders scharfsinnigen
Mann.»
Als Ago Vespucci dies las, begriff er tief bewegt, dass ihn das
Schicksal in Gestalt seines Vetters schon immer auf diese Neue Welt
zugeführt hatte, obwohl er doch stets ein Sesselhocker gewesen war,
der den verrückten Amerigo für eine ziemliche Plaudertasche
gehalten hatte, weshalb dessen Berichte über die eigenen Taten auch
nur mit einer Prise Misstrauen zu genießen waren. Allerdings hatte
er Amerigo nicht besonders gut gekannt und nie versucht, ihn besser
kennenzulernen, da sie nur wenig miteinander verband. Nun aber war
dieser seefahrende Vespucci ein scharfsinniges Genie geworden,
dessen Name zum Namen einer Neuen Welt geworden war, und das allein
verdiente Respekt.
Langsam, schüchtern, verzagt und viele Male wiederholend, dass er
von Natur aus kein Reisender sei, begann Ago, mit Admiral Doria
über die Entdeckungsfahrten seines Vetters zu reden. Es fielen die
Namen Venezuela und Vera Cruz. Inzwischen studierte Qara Köz die
Karte der Welt. Beim Klang der neuen Ortsnamen war ihr, als hörte
sie beschwörende Worte, eine Zauberformel, die ihr die Wünsche
ihres Herzens erfüllte. Und sie wollte mehr davon hören, immer
mehr. Valparaiso, Nombre de Dios, Cacafuego, Rio Eseondido, sagte
Ago. Er lag auf Händen und Knien und las. Tenoehtitldn,
Quetzaleoatl, Teuatlipoea, Montezuma, Yueatdn, fügte Andrea Doria
hinzu, ebenso Espanola, Puerto Rieo, Jamaika, Kuba, Panama. «Worte,
die ich noch nie gehört habe», sagte Qara Köz, «beschreiben mir
meinen Weg nach Hause.»
Argalia war tot - «Wenigstens starb er in
seiner Heimatstadt und verteidigte, was er liebte», sprach Doria
und hob prostend sein Glas Wein zu diesem barsch vorgebrachten
Nachruf Ago war ein kümmerlicher Ersatz für einen solchen Mann,
doch wusste Qara Köz, er war alles, was ihr geblieben war. Mit Ago
würde sie ihre letzte Reise antreten, mit Ago und Spiegel. Sie
waren ihre letzten Wächter. Von Doria erfuhren sie, was die meisten
gen Westen segelnden Seefahrer glaubten - auch die Herrscher
Spaniens und Portugals -, dass man nämlich bald eine Passage nach
Indien finden würde, eine Öffnung durch die Landmasse von Mundus
Novus ins Gangesmeer, breit genug für Schiffe. Viele Männer suchten
eifrig nach dieser Mittelpassage. In den Kolonien Espaiiola und
Kuba ließ es sich längst sicher leben, und Panama, das neue Land,
würde bestimmt noch sicherer sein. In diesen Gegenden hatte man die
meisten Indianer unter Kontrolle, eine Million auf Espaiiola, über
zwei Millionen auf Kuba, viele darunter bekehrte Christen, obwohl
sie keine christliche Sprache beherrschten. Die Küsten jedenfalls
waren sicher, und auch das Landesinnere wurde erschlossen. Wer das
nötige Geld besaß, konnte sogar eine Kabine auf einer von Cadiz
oder Palos de Moguer ausfahrenden Karavelle buchen.
«Dann werde ich fahren», verkündete die Prinzessin ernst, «und
warten. Denn die Öffnung zur Neuen Welt, nach der so viele
hervorragende Männer so eifrig fahnden, wird eines Tages gewiss
gefunden werden.» Sie stand aufrecht da, die Arme an den Ellbogen
abgewinkelt und das Gesicht von überirdischem Glanz erhellt,
weshalb Andrea Doria bei ihrem Anblick an Christus denken musste,
an den Wunder vollbringenden Nazarener, an Jesus, der Brot und
Fische vermehrte oder Lebende von den Toten auferstehen ließ. Qara
Köz’ Gesicht zeigte die gleiche angestrengte Miene, die es während
der Verzauberung von Florenz getragen hatte, doch wurde sie nun
durch Kummer und Verlust noch zusätzlich verdüstert. Ihre Macht
ließ nach, aber ein letztes Mal sollte sie noch ausgeübt werden,
wie sie nie zuvor ausgeübt worden war, um der Geschichte der Welt
jenen Verlauf aufzuzwingen, den Qara Köz sich wünschte. Allein
durch die schiere Macht ihrer Zauberkunst und ihres Willens würde
sie die Mittelpassage ins Dasein rufen. Andrea Doria schaute auf
die junge Frau in olivgrüner Jacke und Hose, auf das kurz gestutzte
schwarze Haar, das ihr wie ein dunkler Heiligenschein vom Kopf
abstand, und er war überwältigt. Er fiel vor ihr auf die Knie,
beugte sich, berührte mit der Hand das Sämischleder ihrer Stiefel
und verharrte mit gesenktem Haupt wohl länger als eine Minute. In
den folgenden Jahren sollte Doria, der ein hohes Alter erreichte,
jeden einzelnen Tag an diesen Vorfall denken und sich doch nie
sicher sein, ob er gekniet hatte, um einen Segen zu empfangen oder
um ihn zu geben, ob er gemeint hatte, sie anbeten oder sie
beschützen zu müssen, ob er sie in ihrer letzten Glorie bewundern
oder sie vom sicheren Untergang bewahren wollte. Er dachte an
Christus in Gethsemane und daran, wie der Herr auf seine Jünger
herabgeschaut haben mochte, als er sich auf den Tod
vorbereitete.
«Mein Schiff wird Euch nach Spanien bringen», sagte er.
An der Pier ihres neuen Herrn Andrea Doria
setzte das legen-däre Korsarenschiff Cadolin an einem weißnebligen
Morgen in Fassolo die Segel und hisste die Flagge Genuas, das Kreuz
des heiligen Georg; an Bord drei Passagiere und am Ruder Ceva der
Skorpion. Als er Lebewohl sagte, gelang es Andrea Doria, jene
Gefühle im Zaum zu halten, die ihn kurz zuvor noch auf die Knie
gezwungen hatten. «Die Bibliothek eines Mannes der Tat wird nur
selten genutzt», sagte er Qara Köz, «aber Ihr habt meinen Büchern
neue Bedeutung verliehen.» Nachdem er die Cosmographiae Introductio
gelesen und Waldseemüllers große Karte studiert hatte, war ihm, als
dringe die Prinzessin leibhaftig in das Buch ein, als verlasse sie
diese Welt von Erde, Luft und Wasser, um ein Universum aus Papier
und Tinte zu betreten, als segelte sie über das Ozeanische Meer und
käme nicht in Espafiola in Mundus Novus an, sondern auf den Seiten
einer Geschichte. Er nahm nicht an, dass er sie in dieser oder der
Neuen Welt je wiedersehen würde, denn wie ein Falke hockte der Tod
auf ihrer Schulter, um sie eine Weile zu begleiten, bis ihn die
Ungeduld packte und er vom Reisen genug hatte.
«Lebt wohl», sagte sie und verschwand ins Weiß. Als Ceva die
Cadolin zu gegebener Zeit nach Fassolo zurückbrachte, machte er den
Eindruck, als sei nun auch der letzte Funke Lebensfreude in ihm auf
immer erloschen. Fast zwei Jahre später hörte Doria von Magellans
Entdeckung jener sturmumtosten Meeresenge, durch die Seefahrer, so
sie denn Glück hatten, den südlichen Zipfel der Neuen Welt umrunden
konnten. In seinen Albträumen sah er die schöne Prinzessin mit
ihren Gefährten in der Magellanstraße untergehen, doch sollte
während seines ganzen langen Lebens keine verlässliche Nachricht
über ihren Aufenthaltsort oder ihr Schicksal zu ihm vordringen.
Vierundfünfzig Jahre nach dem Tag, an dem die verschwiegene
Prinzessin in Italien Segel gesetzt hatte, tauchte allerdings ein
gelb haariger Galgenstrick, kaum zwanzig Jahre alt, am Tor der
Villa Doria auf und behauptete, ihr Sohn zu sein. Da war Andrea
Doria schon dreizehn Jahre tot, und das Haus gehörte seinem
Großneffen Giovanni, Fürst von Melfi und Gründer des großen Hauses
derer von Doria, Parnphili und Landi. Falls Giovanni die Geschichte
der verlorenen Prinzessin aus dem Hause Timur und Temüdschin je
gekannt haben sollte, hatte er sie längst vergessen, weshalb er den
zerlumpten Kerl von seiner Tür fortscheuchen ließ. Der junge
«Niccolo Antonino Vespucci», so benannt nach den zwei besten
Freunden seines Vaters, machte sich danach auf, die Welt zu sehen,
segelte hierhin und dorthin, mal als angeheuertes Mitglied der
Mannschaft, mal als blinder Passagier, lernte viele Sprachen,
eignete sich eine Reihe von Fertigkeiten an, deren Ausübung nicht
immer im Einklang mit dem Gesetz stand, und hortete einen eigenen
Geschichtenschatz, wilde Erzählungen von seiner Flucht vor den
Kannibalen auf Sumatra, von eiergroßen Perlen in Brunei, davon, wie
er im Winter vor dem Großen Türken die Wolga hinauf nach Moskau
geflohen war, wie er in einer bloß von Stricken zusammengehaltenen
Dhau das Rote Meer durchquerte, von der Vielmännerei in jenem Teil
von Mundus Novus, in dem Frauen sieben oder acht Ehegatten hatten
und es keinem Mann gestattet war, eine Jungfrau zu heiraten, davon,
wie er unter dem Vorwand, Muslim zu sein, die Pilgerfahrt nach
Mekka angetreten hatte, sowie davon, wie er mit dem großen Dichter
Camöes nahe der Mündung des Mekong Schiffbruch erlitt und die
Lusiaden rettete, indem er die Blätter mit Camöes’ Gedicht hoch
über Wasser hielt, während er nackt an Land schwamm.
Über sich selbst sagte er den Männern und Frauen, denen er auf
seinen Reisen begegnete, dass seine Geschichte weit seltsamer als
jedes Seemannsgarn sei, doch könne er sie nur einem einzigen Mann
auf Erden anvertrauen, dem er eines Tages in der Hoffnung
gegenübertreten wolle, dass ihm gegeben werde, was ihm von Rechts
wegen zustehe, und dass er von einem mächtigen Zauber beschützt
werde, der jene segnete, die ihm halfen, und verfluchte, wer ihm
ein Leid zufügte.
«Schirmherr der Welt, es ist die schlichte Wahrheit, dass meine
Mutter, die Zauberin, auf grund der Unbeständigkeit chronologischer
Konditionen in Mundus Novus», erzählte er dem Herrscher Akbar am
Ufer des Anup Talao, «also auf grund der unsteten Natur der Zeit in
besagtem Erdenteil, ihre Jugend beträchtlich zu verlängern
vermochte und wohl an die dreihundert Jahre alt geworden wäre,
hätte sie nicht ihr Herz und die Hoffnung verloren, je wieder
heimkehren zu können, weshalb sie zuließ, dass eine tödliche
Krankheit sie befiel, auf dass sie sich im Jenseits wenigstens mit
den bereits verstorbenen Familienmitgliedern wiedervereinen konnte.
Als sie ihren letzten Atemzug tat, flog ein Falke durch das Fenster
und hockte sich auf das Totenbett. Das war ihr letzter Zauber, die
Herbeirufung dieses ruhmreichen Vogels von jenseits des Ozeanischen
Meeres in die Neue Welt. Als der Falke aus dem Fenster flog,
wussten wir alle, dass ihre Seele uns verließ. Zum Zeitpunkt des
Todes war ich neunzehneinhalb Jahre alt, doch wie sie dalag, sah
sie wie meine ältere Schwester aus, nicht wie meine Mutter. Vater
und Spiegel waren allerdings normal gealtert. Die Magie von Qara
Köz war nicht mehr stark genug, auch für sie den temporalen Kräften
zu widerstehen, so wie sie auch nicht mehr stark genug war, die
Geographie der Erde zu ändern. Keine Mittelpassage wurde gefunden,
und so blieb sie in der Neuen Welt gefangen, bis sie zu sterben
beschloss.»
Der Herrscher verharrte stumm, seine Miene war undurch-dringlich,
das Wasser des Anup Talao weiterhin aufgewühlt.
«Zu guter Letzt und nach allem, was geschehen ist, sollen wir Euch
also glauben», sagte der Herrscher schließlich mit schwerer Stimme,
«dass sie gelernt hat, die Zeit zu verlangsamen?»
«Nur in ihrem Körper», erwiderte sein Gegenüber, «und nur für sich
allein.»
«Das wäre wahrlich eine erstaunliche Tat, sollte sie denn möglich
sein», sagte Akbar, stand auf und ging zurück in den Palast.
An jenem Abend saß Akbar allein auf der
obersten Terrasse des Panch Mahal und lauschte in die Dunkelheit.
Er glaubte nicht an die Geschichte des Fremden, und er wollte ihm
eine bessere erzählen. Er war der Herrscher der Träume; er konnte
die Wahrheit aus der Dunkelheit klauben und ans Licht bringen. Er
hatte mit dem Fremden alle Geduld verloren und blieb am Ende, wie
immer, allein, also schickte er seine Phantasie wie einen
Heroldvogel über die Welt, bis er ihm Antwort brachte. Dies war nun
seine Geschichte.
Vierundzwanzig Stunden später rief er Vespucci zurück an das Beste
aller Möglichen Becken, dessen Wasser vor lauter Verwirrung noch
immer aufgewühlt war. Mit grimmiger Miene hob Akbar an: «Signor
Vespucci», fragte er, «seid Ihr mit Kamelen vertraut? Hattet Ihr
Gelegenheit, die Eigenarten dieser Tiere zu beobachten?» Seine
Stimme klang wie leiser Donner, der über das unruhige Wasser
rollte. Der Fremde wusste nicht, was er erwidern sollte.
«Warum die Frage, Jahanpanah?», wollte er
schließlich wissen, und die Augen des Herrschers blitzten ihn
verärgert an.
«Wagt ja nicht, uns Fragen zu stellen, Signor. Wir wiederholen noch
einmal: Gibt es Kamele in der Neuen Welt, Kamele, wie wir sie hier
in Hindustan haben? Gibt es Kamele unter all den Greifen und
Drachen?», fragte Akbar, und als sein Gegenüber den Kopf
schüttelte, befahl er ihm mit gehobener Hand zu schweigen und fuhr
mit lauter werdender Stimme fort: «Die physische Freiheit eines
Kamels, so haben wir oft gedacht, bietet uns gewöhnlichen
Sterblichen eine Lektion in Amoralität, denn unter Kamelen ist
nichts verboten. Ein junges männliches Kamel mag schon bald nach
der Geburt versuchen, mit der eigenen Mutter zu kopulieren. Ein
erwachsenes männliches Tier kennt keinerlei Skrupel, die eigene
Tochter zu schwängern. Enkel, Großeltern, Geschwister, sie alle
kommen in Frage, wenn ein Kamel einen Partner sucht. Für ein Tier
hat der Begriff Inzest keinerlei Bedeutung. Wir dagegen sind keine
Kamele, nicht wahr? Inzest verbieten uns uralte Tabus, und strenge
Strafen erwarten Paare, die dagegen verstoßen - Strafen, die zu
Recht bestehen, wie Ihr uns hoffentlich zustimmen
werdet.»
Ein Mann und eine Frau segeln in den Nebel und verlieren sich in
einer formlosen neuen Welt, in der niemand sie kennt. Auf dem
ganzen weiten Erdenkreis haben sie nur einander und die Dienerin.
Der Mann ist selbst auch ein Diener, ein Diener der Schönheit, und
seine Reise ist eine Reise der Liebe. Sie gelangen an einen Ort,
dessen Name so unwichtig ist, wie ihre eigenen Namen es sind. Die
Jahre vergehen, und ihre Hoffnungen sterben. Überall um sie herum
leben tatkräftige Menschen. Eine wilde Welt im Süden, eine im
Norden, die nach und nach gebändigt werden. Gesetz, Form und
Gestalt werden dem aufgezwungen, was ursprünglich unveränderlich
war, doch ist es ein langer Prozess. Nur mühsam schreitet die
Eroberung voran. Man rückt vor, weicht zurück und rückt erneut vor,
es gibt kleine Siege, kleine Niederlagen und dann wieder ein wenig
Gewinn. Kein Mensch fragt, ob dies gut oder schlecht ist. Das ist
keine zulässige Frage. Gottes Werk wird verrichtet, und Gold wird
ebenfalls geschürft. Je größer der Tumult um sie herum, desto
dramatischer die Siege, je schrecklicher die Niederlage, desto
blutiger die Rache der Alten an der Neuen Welt, und desto stiller
werden sie, die drei unbedeutenden Menschen, der Mann, die Frau,
die Dienerin. Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr um Jahr werden sie
kleiner und unwichtiger. Dann schlägt die Krankheit zu, und die
Frau stirbt, aber sie hinterlässt ein Kind, ein Mädchen. Dem Mann
bleibt nichts auf Erden als das Kind und die Dienerin, dieses
Spiegelbild seiner toten Frau. Gemeinsam ziehen sie die Tochter
groß. Angelica, das magische Mädchen. Der Name der Dienerin wird
gleichfalls zu Angelica. Der Mann sieht, wie das Kind heranwächst,
wie es zu einem zweiten Spiegelbild wird, dem Spiegel ihrer Mutter,
ihr genaues Ebenbild.
Die nun schon ältere Dienerin erkennt die
verblüffende Ähnlichkeit des heranwachsenden Mädchens mit ihrer
Mutter, die Wiedergeburt der Vergangenheit; und spürt das wachsende
Verlangen des Vaters. Wie einsam sie sind, die drei, einsam in
dieser Welt; die noch nicht gänzlich Gestalt geworden ist; in der
Worte wie Taten noch bedeuten können, was sie bedeuten sollen, in
der man sein Leben leben muss, so gut es eben geht. Mann und
Dienerin sind wie Komplizen, denn auf ihre alten Tage liegen sie
beieinander, sie alle drei, und sie vermissen die dahingeschiedene
Dritte. Das neue Leben, das wiedergeborene Leben wächst heran und
füllt die Leere, die einst das alte Leben einnahm.
Angelica, Angelica, es kommt der Moment; da wandelt sich die
gemeinsame Sprache, ein Moment, nach dem gewisse Worte ihre
Bedeutung verlieren, so wird zum Beispiel das Wort Vater vergessen,
auch die Worte für Kind. Sie leben im Naturzustand, einem Stand der
Unschuld, in einem Paradies, in dem die Frucht vom Baum noch nicht
gegessen wurde, weshalb sie Gut und Böse nicht kennen. Die junge
Frau wächst zwischen Mann und Dienerin heran, und was zwischen
ihnen dreien geschieh; geschieht ganz natürlich und fühlt sich rein
an sie ist glücklich. Sie ist eine Prinzessin aus dem königlichen
Haus Timur und Temüdschin, und sie heißt Angelica, Angelica. Eines
Tages wird die Mittelpassage gefunden werden, und mit ihrem
geliebten Mann wird sie dann ihr Königreich betreten. Bis dahin
wohnen sie in ihrem unsichtbaren Heim, führen ihr anonymes Leben
und rekeln sich auf diesem Bet; so liebevoll, so oft, so lange, sie
alle drei, der Mann, die Dienerin und das Mädchen. Dann wird ein
Kind geboren, ihr Kind, Abkömmling dreier Eltern, ein Junge mit
Haar so gelb wie das seines Vaters. Der Mann nennt den Sohn nach
seinen engsten Vertrauten. Am Anfang waren drei Freunde. Indem er
ihre Namen über das Ozeanische Meer hol; ist ihm, als hätte er sie
selbst herübergeholt. Sein Sohn - in ihm leben seine
wiedergeborenen Freunde. Die Jahre verstreichen. Aus unbekanntem
Grund erkrankt das Mädchen. Etwas stimmt nicht in ihrem Leben. Wer
bin ich, fragt sie. In ihrem letzten Gespräch mit ihrem Sohn sagt
sie ihm, er solle seine Familie finden, sich mit ihr vereinen,
solle auf immer mit dem verbunden bleiben, was er ist, und es nie
mehr verlassen, er solle nie wieder aus Liebe, aus Abenteuerlust
oder auf der Suche nach sich selbst aufbrechen in die weite Welt.
Er ist ein Prinz aus dem königlichen Hause der Moguln. Er muss
ausziehen und seine Geschichte erzählen. Ein Falke fliegt durch das
Fenster und fliegt mit ihrer Seele wieder hinaus. Auf der Suche
nach einem Schiff geht der junge Mann mit gelbem Haar zum Hafen.
Der alte Mann und die Dienerin bleiben zurück. Sie sind nicht
länger von Bedeutung. Ihre Tat ist getan. «So ist es nicht
geschehen», sagte Mogor dell’ Amore. «Meine Mutter war Qara Köz,
die Schwester Eures Großvaters, eine mächtige Zauberin; und sie
hatte gelernt, wie man die Zeit anhält.»
«Nein», erwiderte der Herrscher Akbar, «hat sie nicht.»
Im Palast ihrer Familie in Ajmer und in
Anwesenheit von padi-shah Akbar, ihrem huldvollen Herrscher, dem
Schirmherrn der Welt, heiratete Dame Man Bai, Nichte von
Mariam-uz-Zamani und Schwester von Raja Man Singh, ihre Jugendliebe
Kronprinz Salim an ebendem Tag, den die Hofastrologen dafür
festgelegt hatten, dem fünfzehnten Isfandarmudh des Jahres
entsprechend dem neuen, vom Herrscher eingeführten Sonnenkalender,
also am dreizehnten Februar. Als sie nach dem üblichen Balsamieren
und Massieren des prinzlichen Gliedes mit ihrem Gatten in der
Hochzeitsnacht endlich allein war, stellte sie zwei Bedingungen,
ehe sie ihn in sich eindringen ließ. «Zuallererst einmal», sagte
sie, «solltest du deinen Penis nachts besser in eine Rüstung
stecken, wenn du noch ein einziges Mal zu dieser Hure gehst, diesem
Skelett, denn du weißt nie, wann die Nacht meiner Rache anbrechen
wird. Und zum Zweiten musst du dich um den gelbhaarigen Fremden
kümmern, Skeletts siffigen Liebhaber, denn solange er in Sikri
weilt, könnte dein Vater verrückt genug sein, ihm zu geben, was von
Rechts wegen dir zukommt.»
Nach dem, was er am Anup Talao erfahren hatte, gab der Herrscher
den Gedanken auf, Niccolo Vespucci in den Rang eines farzand, eines
Ehrensohnes, erheben zu wollen. Zutiefst von der Richtigkeit seiner
eigenen Version der Geschichte des Fremdlings überzeugt, war er zu
dem Schluss gekommen, dass der Abkömmling einer derart
unmoralischen Verbindung nicht zum Mitglied der königlichen Familie
ernannt werden könne. Trotz Vespuccis offensichtlicher Unschuld in
dieser Angelegenheit und obwohl er sich der wahren Umstände seiner
Herkunft selbst nicht bewusst zu sein schien, auch ganz unabhängig
davon, wie groß sein Charme sein mochte und wie zahlreich seine
Talente waren, machte ihn das eine Wort Inzest zur Unperson. Falls
gewünscht, ließ sich für einen so fähigen Menschen gewiss eine
Beschäftigung finden, und der Herrscher erteilte die Anweisung,
eine solche Arbeit ausfindig zu machen und anzubieten, doch der
vertraute Umgang zwischen ihnen musste sofort eingestellt werden.
Wie zur Bestätigung, dass er die richtige Entscheidung gefallt
hatte, zeigte sich das Wasser des Anup Talao wieder in gewohnt
beschaulicher Ruhe. Von Umar dem Ayyaren wurde Niccolo Vespucci
mitgeteilt, dass es ihm gestattet sei, in der Hauptstadt zu
bleiben, doch müsse er sofort aufhören, sich den Beinamen «Mogor
dell’ Amore» zu geben. Der ungehinderte Zugang zur Person des
Herrschers, den er bislang genossen hatte, sei, das müsse er
verstehen, nun auch Teil der Vergangenheit. «Von heute an»,
informierte ihn der Ayyar, «wird man Euch wie einen gewöhnlichen
Sterblichen behandeln.»
Die Rachsucht der Prinzen kennt keine Grenzen. Selbst ein so tiefer
Sturz wie der von Vespucci stellte Dame Man Bai nicht zufrieden.
«Wenn sich die Einstellung des Herrschers derart rasch von
Zuneigung in Abweisung wandelt», argumentierte sie, «kann das
Pendel gleich schnell auch wieder in die Gegenrichtung
ausschlagen.» Solange der Fremdling in der Stadt blieb, war die
Thronfolge von Prinz Salim nicht gesichert. Zu ihrem großen
Verdruss aber unternahm Prinz Salim nichts weiter gegen seinen
gestürzten Rivalen, der sich weigerte, jenen bürokratischen Posten
anzunehmen, den Akbars Funktionäre für ihn ausgesucht hatten, um
lieber im Hause Skanda bei Skelett und Matratze zu bleiben und sich
ganz dem Vergnügen der Gäste zu widmen. Voller Verachtung sagte Man
Bai: «Skrupellos hast du einen großen Mann wie Abul Fazl getötet,
was also hält dich davon ab, dich um diesen Zuhälter zu kümmern?»
Doch Salim fürchtete das Missfallen seines Vaters und hielt sich
zurück. Bald darauf aber gebar ihm Man Bai einen Sohn, Prinz
Khusraw, und das änderte alles. «Jetzt musst du nicht nur deine
eigene Zukunft, sondern auch die deines Erben sichern», sagte Dame
Man Bai, und diesmal wusste ihr Salim nichts
entgegenzusetzen.
Dann starb Tansen. Die Musik des Lebens war verstummt.
Der Herrscher brachte den Leichnam des Freundes zurück in dessen
Heimatstadt Gwaliot, ließ ihn neben dem Schrein sei-nes Lehrers
bestatten, des faqir Scheich Mohammed Ghaus, und kehrte voller
Verzweiflung heim nach Sikri. Ein strahlendes Licht nach dem
anderen war erloschen. Vielleicht hatte er dem Mogul der Liebe doch
Unrecht getan, sinnierte Akbar auf dem Rückweg, vielleicht war
Tansens Tod die entsprechende Strafe. Kein Mensch konnte
schließlich für das Fehlverhalten seiner Vorfahren verantwortlich
gemacht werden. Außerdem hatte Vespucci seine Loyalität zum
Herrscher allein schon dadurch bewiesen, dass er nicht aus Sikri
fortgezogen war. Also konnte er kein bloßer Opportunist sein.
Womöglich wurde es Zeit, ihn zu rehabilitieren, immerhin waren mehr
als zwei Jahre vergangen. Als die Karawane des Herrschers Hiran
Minar passierte und den Hügel hinauf zum Palastgelände zog, fasste
er einen Entschluss und schickte einen Läufer zum Hause Skanda, um
den Fremdling zu bitten, sich doch am nächsten Morgen im
Pachisi-Hof einzufinden.
Dame Man Bai verfügte in jedem Stadtviertel über ein Netz von
Informanten, um für ebendiesen Moment gerüstet zu sein, und kaum
eine Stunde nach Ankunft des Läufers im Hause Skanda war die Frau
des Kronprinzen darüber informiert, dass der Wind sich gedreht
hatte. Gleich ging sie zu ihrem Mann und schalt ihn, wie eine
Mutter ein störrisches Kind ausschimpft. «Heute Abend», sagte sie,
«kannst du beweisen, was du für ein Mann bist.» Die Rachsucht der
Prinzen kennt keine Grenzen. Um Mitternacht saß der Herrscher still
oben auf der Terrasse des Panch Mahal und erinnerte sich an jenen
legendären Abend, an dem Tansen im Hause Skanda den deepak raag
gesungen und nicht nur alle Öllampen, sondern auch sich selbst
entflammt hatte. Noch in dem Moment, da er dieser Erinnerung
nachhing, flackerte tief unter ihm am Uferrand des Sees eine roten
Flammenblüte auf, und erst nach einem dumpfen Moment des
Nichtverstehens begriff er, dass in der Nacht ein Haus brennen
musste. Sobald er herausfand, dass das Haus Skanda bis auf die
Grundmauern niedergebrannt war, packte ihn flüchtiges Entsetzen, da
er sich fragte, ob das Feuer in seinen Gedanken irgendwie dieses
andere, tödlichere Feuer ausgelöst haben könnte. Trauer erfüllte
ihn bei der Vorstellung, Niccolo Vespucci müsse tot sein. Doch als
die qualmende Ruine durchsucht wurde, fand man keine Spur vom
Leichnam des Fremdlings. Unter den verkohlten Trümmern waren auch
keine Überreste von Skelett und Matratze zu finden, ja, sämtliche
Damen des Etablissements sowie alle Kunden des Hauses schienen
rechtzeitig entkommen zu sein. Dame Man Bai war nicht die einzige
Person in Fatehpur Sikri, die ihre Ohren weit aufgesperrt gehalten
hatte. Das Skelett hatte ihre frühere Dienstherrin schon viel zu
lange gefürchtet.
Als der Herrscher vom Verschwinden des Fremdlings hörte, von der
mysteriösen Art und Weise, mit der er sich mitten aus einem
brennenden Haus heraus in Luft aufgelöst hatte - was viele Bürger
der Stadt bereits veranlasste, ihn für einen Zauberer zu halten -,
fürchtete er das Schlimmste. Jetzt werden wir ja sehen, dachte er,
ob es mit all seinem Gerede über Flüche etwas auf sich hatte. Am
Morgen nach dem Feuer fand man am anderen Ufer des Sees das flache
Transportschiff Gunjayish, versenkt durch ein großes Loch im Rumpf,
das offenbar voller Wut mit einer Axt hineingeschlagen worden war.
Niccolo Vespucci, der Mogul der Liebe, hatte sich auf immer
davongemacht, doch nicht durch Zauberei, sondern an Bord eines
Schiffes, und die beiden Frauen hatte er mitgenommen. Eine
Eislieferung aus Kaschmir traf ein, doch gab es kein Schiff, sie
über den See von Sikri zu bringen. Die komfortableren
Passagierschiffe Asayish und Arayish mussten zu diesem Dienst
herangezogen werden, und sogar das kleine Kurierskiff Farmayish
belud man bis an die Wasserkante mit Eisblöcken. Er straft uns mit
Wasser, dachte der Herrscher. Nun, da er fort ist, lässt er uns
nach seiner Gegenwart dürsten. Als Prinz Salim auf Drängen von Dame
Man Bai bei ihm vorsprach, um das ver-schwundene Trio anzuklagen,
es habe das eigene Haus in Brand gesetzt, konnte der Herrscher das
schlechte Gewissen seines Sohnes wie ein Leuchtfeuer auf dessen
Stirn brennen sehen, doch sagte er kein Wort. Was geschehen war,
war geschehen. Er gab Anweisung, den Fremden und seine Frauen
entkommen zu lassen. Er wollte sie nicht verfolgen, wollte nicht,
dass sie sich für das versenkte Schiff verantworten mussten.
Sollten sie in Frieden ziehen. Er wünschte ihnen alles Gute, diesem
Mann in einem Mantel aus bunten Lederflicken, der Frau, die dünn
wie eine Messerklinge war, sowie ihrer gummiballdicken Gefährtin.
War die Welt gerecht, würde sich selbst für Menschen, die so schwer
wie jene drei zufriedenzustellen waren, ein geruhsames Eckchen
finden lassen. Vespuccis Geschichte war zu Ende. Nach der letzten
Seite war er hinüber auf die leere Seite gewechselt, hatte die
illuminierten Grenzen der bestehenden Welt verlassen und das Reich
der Untoten betreten, jener armen Seelen, deren Leben endet, ehe
sie zu atmen aufhören. Der Herrscher am Seeufer wünschte dem Mogul
der Liebe ein sanftes Fortdauern im Jenseits und einen schmerzlosen
Tod; dann wandte er sich ab. Man Bai hasste die unfertige Natur
dessen, was ihr zu Ohren drang, doch lechzte sie vergebens nach
Blut. «Schick ihnen Männer hinterher, die sie umbringen», schrie
sie ihren Gatten an, doch der befahl ihr zu schweigen, und zum
ersten Mal in seinem bislang so unbedeutenden Leben ließ er
erahnen, welch bedeutender Herrscher er einst werden würde. Die
Vorfälle der letzten Tage hatten ihn verstört, und Neues regte sich
in ihm, etwas, das es ihm ermöglichen würde, die rebellische Jugend
hinter sich zu lassen und ein edler, kultivierter Mensch zu werden.
«Die Tage, in denen ich getötet habe, sind vorbei», sagte er. «Von
jetzt an halte ich es für eine größere Tat, ein Leben zu retten,
als eines zu vernichten. Bitte mich nie wieder, ein derartiges
Unrecht zu tun.» Der Gesinnungswandel des Kronprinzen kam zu spät.
Die Zerstörung von Fatehpur Sikri hatte begonnen. Früh am nächsten
Morgen stieg panischer Lärm zu den Schlafgemächern des Herrschers
auf, und kaum hatte dieser sich den Hügel hinab, durch den Tumult
am Wasserwerk und die noch lautere Kakophonie in der Karawanserei
tragen lassen, sah er, dass etwas mit dem See vor sich ging.
Langsam, von Minute zu Minute, gleichsam im Schritttempo, zog sich
das Wasser zurück. Er ließ die füh-renden Ingenieure der Stadt
kommen, doch vermochten sie das Phänomen nicht zu erklären. «Der
See verlässt uns», schrien die Menschen, der goldene, Leben
spendende See, den einst ein zur Dämmerung eintreffender Reisender
für einen See aus geschmolzenem Gold gehalten hatte. Ohne den See
würden die Eisblöcke dem Palast kein frisches Gebirgswasser
liefern. Ohne den See würden die Bürger der Stadt, die sich kein
Eis aus Kaschmir leisten konnten, nichts zu trinken haben, nichts
zum Waschen, nichts zum Kochen, und ihre Kinder würden bald
sterben. Ohne den See war die Stadt nur eine dürre, welke Hülse.
Das Wasser lief immer weiter ab. Der Tod des Sees war auch das Ende
von Sikri. Ohne Wasser sind wir nichts. Selbst ein Herrscher würde
ohne Wasser alsbald zu Staub zerfallen. Wasser ist der wahre
Monarch, und wir sind seine Sklaven.
«Evakuiert die Stadt», befahl der Herrscher Akbar.
Für den Rest seines Lebens sollte der Herrscher
glauben, das unerklärliche Verschwinden des Sees von Fatehpur Sikri
sei die Tat jenes Fremdlings gewesen, den er zu Unrecht verschmäht
hatte, den er erst wieder an sein Herz ziehen wollte, als es
bereits zu spät gewesen war. Der Mogul der Liebe hatte Feuer mit
Wasser bekämpft und gewonnen. Es dürfte Akbars verheerendste
Niederlage gewesen sein, doch war sie nicht sein Ruin. Moguln waren
auch zuvor schon Nomaden gewesen und konnten wieder zu Nomaden
werden. Die Zeltarmee stand bei Fuß, jenes Heer der Künstler
faltbarer Heimstätten, zweieinhalbtausend Mann, dazu Kamele und
Elefanten, bereit loszumarschieren, sobald der Befehl kam, und die
Stoffpavillons dort zu errichten, wo er zu ruhen gedachte. Sein
Reich war zu riesig, die Truhen zu prall gefüllt, die Armee zu
stark, um durch einen einzigen Streich vernichtet werden zu können,
und sollte es auch ein so mächtiger Streich wie dieser sein. Im
nahen Agra gab es Paläste und ein Fort, ein weiteres in Labore. Der
Reichtum der Moguln war unermesslich. Er musste Sikri verlassen,
musste seine geliebte rote Stadt aus Rauch und Schatten einsam in
einer Gegend zurücklassen, die plötzlich vertrocknet war, musste
sie auf alle Zeit als ein Symbol der Vergänglichkeit hinterlassen,
als ein Symbol der Unvermitteltheit, mit der auch den
einflussreichsten Herrscher und machtvollsten Monarchen Änderungen
überfallen konnten. Doch er würde überleben. Metamorphosen zu
überstehen, das war es schließlich, was es hieß, Fürst zu sein. Und
als Fürst war er nur ein Bürger an prominenter Stelle, ein in den
Rang des nahezu Göttlichen erhobener Mann, denn auch das gehörte
zum Menschsein: Metamorphosen zu überstehen und weiterzumachen. Der
Hof würde fortziehen, und viele Diener, viele Edelleute würden
mitkommen, nur für die Bauern war kein Platz in jener letzten
Karawane, die je die Karawanserei verlassen sollte. Den Bauern
blieb nur, was sie schon immer gehabt hatten: nichts. Sie würden
sich im riesigen Hindustan in alle Himmelsrichtungen verstreuen,
und ihr Überleben war allein ihre Angelegenheit. Und trotzdem
erheben sie sich nicht~ um uns niederzumetzeln, dachte der
Herrscher. Sie finden sich mit ihrem armseligen Los ab. Wieso nur?
Wieso? Sie sehen doch, wie wir sie im Stich lassen, und dienen uns
immer noch. Auch dies bleibt ein Rätsel.
Es dauerte zwei Tage, den großen Umzug vorzubereiten. Und für zwei
Tage blieb ihnen noch genug Wasser. Am Ende dieser Zeit war der See
leer, und nur eine morastige Senke zeigte an, wo einst Süßwasser
geglitzert hatte. Noch zwei Tage, und auch der Morast würde
staubtrocken und sonnengebacken sein. Am dritten Tag zogen die
königliche Familie und ihre Höflinge auf der Straße nach Agra
davon, der Herrscher aufrecht auf seinem Ross, in ihren Sänften die
kostbar gekleideten Königinnen. Dem herrschaftlichen Tross folgten
die Edelleute, daran schloss sich die ungeheure Kavalkade der
Diener und Leibeigenen an. Den Abschluss machten die Ochsenkarren,
die von den Handwerkern mit ihrem Werkzeug und ihren Waren beladen
worden waren. Metzger, Bäcker, Bildhauer, Huren. Für talentiertes
Personal war immer Platz. Handwerkliches Können ließ sich
transportieren, Land nicht. Die Bauern, die wie mit Fesseln an das
jetzt dürre, sterbende Land gebunden waren, sahen der großen
Prozession hinterher. Dann aber, als wäre die Menge fest
entschlossen, sich eine Nacht zu verlustieren, ehe das Elend ihres
übrigen Lebens begann, marschierten die im Stich gelassenen
Menschen den Hügel hinauf zum Palast. Heute Nacht, nur diese eine
Nacht, wollte das gemeine Volk Menschen-Pachisi im königlichen Hof
spielen und wie einst der Herrscher oben im steinernen Baum im Haus
der Privataudienz hocken. Heute Nacht konnte ein Bauer auf der
höchsten Terrasse des Panch Mahal sitzen und Monarch über allem
sein, was ihm zu Füßen lag. Wer wollte, konnte heute Nacht sogar in
den Schlafgemächern des Herrschers ruhen.
Morgen jedoch würden sie einen Weg finden müssen, dem Tod ein
Schnippchen zu schlagen.
Nur ein Mitglied des königlichen Haushaltes sollte Fatehpur Sikri nicht mehr verlassen. Nachdem das Haus Skanda nieder-gebrannt war, fiel Dame Man Bai in einen Zustand geistiger Umnachtung; erst kreischte sie und schrie nach Blut, dann aber, gemaßregelt durch Prinz Salim, versank sie in Melancholie, in eine tiefe Trauer, die sie abrupt verstummen ließ. Mit Sikris Tod endete auch ihr Leben. Von Schuld übermannt, vielleicht auch von der Last ihrer Verantwortung für das Ende der Hauptstadt des Mogulreiches, nutzte sie im Chaos jener letzten Tage einen Augenblick der Einsamkeit, verzog sich in eine Ecke ihres Palastes, wo sie von keiner Dienerin gesehen werden konnte, aß Opium und starb. Und so begrub Prinz Salim noch sein geliebtes Weib, ehe er sich in Trauer zu seinem Vater an der Spitze des großen Zuges gesellte. Auf diese Weise fand die lange Feindschaft zwischen Man Bai und dem Skelett ein tragisches Ende. Als aber Akbar an jenem Kraterbecken vorüberritt, den Sikris lebensspendender See hinterlassen hatte, begriff er, unter wel-cher Art Fluch er litt. Es war die Zukunft, die verwünscht worden war, nicht die Gegenwart. In der Gegenwart blieb er unbesiegbar. Wenn ihm der Sinn danach stand, konnte er zehn neue Sikris bauen lassen. Doch wenn es ihn einmal nicht mehr gab, würde alles, was er gedacht hatte, was zu schaffen er getrachtet hatte, seine Philosophie und seine Lebensweise, wie Wasser verdunsten. Die Zukunft würde nicht so sein, wie er sie sich erhofft hatte, sondern ein trockner, feindseliger, widriger Ort, an dem Menschen überlebten, so gut sie es eben vermochten; sie würden ihre Nachbarn hassen, würden Gotteshäuser niederreißen und einander wieder in der neu entfachten Hitze jener großen Fehde erschlagen, die er auf immer zu beenden gehofft hatte, den Streit um und über Gott. Nicht die Zivilisation, sondern Rücksichtslosigkeit würde in der Zukunft den Ton angeben. «Wenn das Eure Lektion für mich ist, Mogul der Liebe», sprach er stumm den geflohenen Fremdling an, «dann ist der Titel falsch, den Ihr Euch gegeben habt, denn in dieser Version der Welt ist nirgendwo Liebe zu finden.,, An jenem Abend aber kam Qara Köz in sein Brokatzelt, die verschwiegene Prinzessin, schön wie eine Flamme. Dies war nicht die maskuline, kurzgeschorene Kreatur, in die sie sich verwandelt hatte, um aus Florenz zu fliehen, sondern die Prinzessin in all ihrer jugendlichen Schönheit, jenes unwiderstehliche Geschöpf, das schon Schah Ismail von Persien und auch Argalia bezaubert hatte, den Türken, den Florentiner Janitscharen, den Träger der Verwunschenen Lanze. An jenem Abend auf Akbars Rückzug von Sikri sprach sie ihn zum ersten Mal an. Es gibt da etwas, sagte sie, da habt Ihr Euch geirrt.
Sie war unfruchtbar. Sie war die Geliebte eines Königs und eines großen Kriegers gewesen, doch hatte es in beiden Fällen keine Nachkommen gegeben. Und auch in der Neuen Welt hatte sie kein Mädchen geboren, sie war also ohne Kind geblieben.
Wer dann war des Fremdlings Mutter, verlangte der Herrscher erstaunt zu wissen. In den Spiegeltafeln an den Wänden des Brokatzeltes fing sich das Kerzenlicht, dessen Widerschein in seinen Augen tanzte. Ich hatte einen Spiegel, sagte die verschwiegene Prinzessin. Sie war mir wie mein eigenes Widerbild im Wasser, wie das Echo meiner Stimme. Wir haben alles miteinander geteilt, auch unsere Männer, doch konnte sie eines sein, was ich nie zu werden vermochte. Ich war eine Prinzessin, sie aber wurde Mutter.
«Der Rest ist ungefähr so gewesen, wie Ihr es
Euch gedacht habt», sagte Qara Köz. «Spiegels Tochter war das
Spiegelbild ihrer Mutter und jener Frau, deren Spiegelbild Spiegel
gewesen war. Und es hat Tode gegeben, ja. Die Frau, die jetzt vor
Euch steht, die Ihr zum Leben zurückgebracht habt, ging als Erste.
Später erzog Spiegel ihr Kind in dem Glauben, sie sei, wer sie
nicht war, die Frau, die einst die Mutter des Mädchens gespiegelt
und auch geliebt hatte. Das Verwischen der Generationen, der
Verlust der Wörter Vater und Tochter, die Substitution anderer,
inzestuöser Wörter. Ihr Vater, der ihr Mann wurde. Das Verbrechen
wider die Natur ist begangen worden, doch nicht von mir, und ich
habe kein Kind, das man derart geschändet hat. In Sünde geboren,
starb die Kleine früh, ohne je zu erfahren, wer sie war. Angelica,
ja, Angelica, so lautete ihr Name. Ehe sie starb, schickte sie
ihren Sohn aus, damit er Euch aufspüre und um das bitte, was er nie
hätte fordern dürfen. Am Totenbett blieben die Verbrecher stumm,
als Spiegel und Herr aber vor ihrem Gott standen, wurden sämtliche
Taten offenbar.» Das also war die Wahrheit. Niccolo Vespucci, den
man in dem Glauben erzogen hatte, ein Prinz zu sein, war ein Kind
des Spiegels Kind. Beide aber, er wie seine Mutter, hatten keinen
Anteil an diesem Betrug. Sie waren die Betrogenen.
Der Herrscher verstummte und dachte über die von ihm be-gangene
Ungerechtigkeit nach, für die er mit dem Untergang seiner
Hauptstadt bestraft worden war. Der Fluch des Unschuldigen hatte
den Schuldigen getroffen. In Demut neigte er sein Haupt. Qara Köz,
Dame Schwarzauge, die verschwiegene Prinzessin, setzte sich ihm zu
Füßen und strich ihm sanft über die Hand. Die Nacht entschwand. Ein
neuer Tag begann. Die Vergangenheit war bedeutungslos. Es gab nur
die Gegenwart - und ihre Augen. Unter ihrem unwiderstehlichen Blick
verwischten sich die Generationen, sie überblendeten sich, lösten
sich auf. Doch sie war für ihn verboten. Nein, nein, sie konnte
nicht verboten sein. Wie sollte das, was er für sie empfand, ein
Vergehen wider die Natur sein können? Wer wollte es wagen, dem
Herrscher zu verbieten, was sich der Herrscher selbst gestattete?
Er war der Richter über das Gesetz, seine Verkörperung, und in
seinem Herzen war keine Sünde.
Er hatte sie von den Toten zurückgeholt und ihr die Freiheit der
Lebenden gewährt, hatte sie erlöst, auf dass sie wählen und gewählt
werden konnte, und sie hatte ihn erwählt. Als wäre das Leben ein
Fluss und Menschen die Trittsteine in seinem Strom, hatte sie die
fließenden Jahre überquert und war zurückgekehrt, um seine Träume
zu füllen, den Platz einer anderen Frau in seiner khayal
einzunehmen, in seiner gottgleichen, omnipotenten Phantasie.
Vielleicht war er nicht mehr sein eigener Herr. Was, wenn er ihrer
müde wurde? - Nein, er würde ihrer niemals müde werden. - Doch
konnte sie überhaupt verbannt werden? Entschied sie allein, ob sie
ging oder blieb? «Letztlich bin ich also doch noch heimgekehrt»,
sagte sie. «Ihr habt es mir erlaubt, und so bin ich hier, am Ende
meiner Reise. Und nun, Schirmherr der Welt, gehöre ich
Euch.»
Bis du nicht mehr bist, dachte der allumfassende Herrscher. Bis du
nicht mehr bist, meine Liebe.