An der Straße nach Genua stand ein leerer
Gasthof mit verdunkelten Fenstern und offenen Türen, vom Wirt,
seiner Frau, den Kindern und sämtlichen Gästen wegen eines
Teiltoten Riesen verlassen, der kürzlich oben eingezogen war. Der
Riese war teilweise tot, weil er tagsüber vollständig tot war,
nachts aber zu furchterregendem Leben erwachte. «Wer in dem Haus
eine Nacht verbringt, wird bestimmt aufgefressen», warnten die
Nachbarn den jungen Argalia, als er des Weges kam, doch Argalia
kannte keine Angst, ging ins Haus und gönnte sich ganz allein ein
herzhaftes Mahl. Kaum war der Riese in jener Nacht zum Leben
erwacht, sah er Argalia und rief: «Aha, was für ein Leckerchen!
Ausgezeichnet!» Argalia aber erwiderte: «Wenn du mich frisst,
erfährst du nie mein Geheimnis.» Der Riese war ebenso neugierig wie
dumm, was bei Riesen ja oft der Fall ist, also sagte er: «Verrat
mir dein Geheimnis, kleines Leckerchen, und ich verspreche dir,
dich erst zu fressen, wenn ich es weiß.» Argalia machte eine tiefe
Verbeugung und begann: «Mein Geheimnis steckt in dem Kamin dort»,
sagte er, «und wer es zuerst entdeckt, wird der reichste Junge auf
der ganzen Welt sein.» - «Oder der reichste Riese», rief der
teiltote Riese. «Oder der reichste Riese», gab ihm Argalia recht,
klang aber nicht sonderlich überzeugt. «Du bist viel zu breit, du
passt nicht in den Kamin.» «Ist es ein großer Schatz?», fragte der
Riese. «Der größte auf Erden», erwiderte Argalia. «Deshalb hat ihn
der kluge Prinz, der ihn einst zusammengerafft hat, im Kamin eines
einfachen Gasthofs versteckt, da niemand vermuten würde, dass sich
ein so mächtiger Monarch ein so dämliches Versteck aussuchen
könnte.» - «Prinzen sind blöd», sagte der teiltote Riese. «Ganz im
Gegensatz zu Riesen», setzte Argalia nachdenklich hinzu. «Genau»,
erwiderte der Riese und versuchte, sich in den Kamin zu zwängen.
«Zu breit», seufzte Argalia. «Wie ich schon befürchtet habe.
Jammerschade.» Der Riese rief: «Bei den Göttern, noch gebe ich
nicht auf», und riss sich einen Arm ab. «Jetzt bin ich doch schon
ein bisschen schmaler, nicht wahr?», sagte er, passte aber immer
noch nicht in den Schornstein. «Vielleicht solltest du auch vom
anderen Arm ein Stück abbeißen?», riet ihm Argalia, und gleich
schlug der Riese seine mächtigen Zähne in den verbliebenen Arm, als
wäre es ein Lammkotelett. Doch das gewaltige Ungeheuer war immer
noch nicht schmal genug. «Ich habe eine Idee», sagte Argalia. «Wie
wäre es, wenn du deinen Kopf schon mal vorschickst, um nachzusehen,
was es oben im Kamin zu sehen gibt?» - «Ich hab bloß keine Arme
mehr, mein Leckerchen», sagte der Riese bekümmert, «die Idee ist
ausgezeichnet, aber ich kann meinen Kopf schließlich nicht einfach
abschütteln.» - «Lass mich helfen», rief Argalia eifrig, griff nach
dem Küchenbeil, sprang auf den Tisch und hieb dem Koloss mit einem
einzigen wuchtigen Schlag - ruckedizuck - den Kopf ab. Als der
Wirt, seine Frau, seine Familie und alle Gäste (die in einem nahen
Graben die Nacht verbracht hatten, erfuhren, dass Argalia den
teiltoten Riesen erschlagen hatte, sodass der jetzt bei Tage wie
bei Nacht vollständig kopflos war, fragten sie Argalia, ob er ihnen
nicht noch einmal helfen und auch den habgierigen Herzog im nahen
U. köpfen könne, der ihnen das Leben zur Hölle machte. «Das geht
mich nichts an», antwortete Argalia. «Löst eure Probleme selbst.
Ich wollte nur ein Bett für die Nacht. Jetzt mache ich mich wieder
auf den Weg zu Admiral Andrea Doria, um an seiner Seite mein Glück
zu suchen.» Und mit diesen Worten ließ er die Leute einfach stehen
und zog davon, seinem Schicksal entgegen … Die Geschichte war
natürlich vollständig erlogen, aber erlogene Geschichten können in
der wahren Welt manchmal sehr hilfreich sein, und es waren
Geschichten dieser Art - improvisierte Versionen aus dem schier
endlosen Strom an Geschichten, die ihm sein Freund Ago Vespucci
erzählt hatte -, die den Kopf des kleinen Nino Argalia retteten,
als man den Jungen auf dem Vordeck des Flaggschiffes von Andrea
Dorias Flotte unter einer Koje fand. Ninos Informationen waren
überholt gewesen
- die Goldbande hatte die Franzosen bereits vor einer ganzen Weile
vertrieben -, weshalb ihm klar wurde, dass der Zeitpunkt für
extreme Maßnahmen gekommen war, als man ihm sagte, Doria wolle in
See stechen, um gegen die Türken zu kämpfen. Die acht Trieren voll
grimmiger, bis an die Zähne mit Arkebusen, Entermessern, Pistolen,
Garotten, Dolchen, Peitschen und übelsten Schimpfworten bewaffneter
Söldner waren schon fünf Tage auf See, als man den blinden
Passagier, diesen halbverhungerten Wurm, am Ohr vor den großen
condottiere höchstpersönlich zerrte. Argalia sah wie eine
schmuddelige Lumpenpuppe aus, hatte Lumpen am Leib und presste ein
Lumpenbündel an die Brust. Andrea Doria war gewiss kein Mann von
gutem Charakter. Er kannte nicht die geringsten Skrupel, war eitel,
ein Tyrann und zu Taten äußerster Brutalität fähig. Seine
blutrünstige Armee von Glücksrittern hätte längst gegen ihn
aufbegehrt, wäre er nicht auch so ein großartiger Befehlshaber, ein
souveräner Meister der Strategie und absolut furchtlos gewesen.
Kurz, der Mann war ein wahres Ungeheuer, und wenn ihm etwas
missfiel, sah er mindestens so gefährlich wie ein Riese aus, ob nun
teilweise tot oder nicht.
«Du hast zwei Minuten», sagte er zu dem Jungen, «um mir ei-nen
Grund zu nennen, warum ich dich nicht auf der Stelle über Bord
werfen lassen sollte.»
Argalia sah ihm offen ins Gesicht. «Das wäre höchst unklug von
Euch», log er, «denn ich verfüge über einen Schatz äußerst seltener
und vielseitiger Erfahrungen. Weit und breit habe ich mein Glück
gesucht und auf meinen Reisen einen Riesen geköpft - ruckedizuck -,
den seelenlosen Zauberer erschlagen, nachdem ich ihm zuvor die
Geheimnisse seiner Kunst entlocken konnte, und ich beherrsche die
Schlangensprache. Ich habe den König der Fische getroffen und im
Haus einer Frau mit siebzig Söhnen, aber nur einem einzigen
Wasserkessel gelebt. Ich kann mich nach Belieben in einen Löwen
verwandeln, in einen Adler, einen Hund oder eine Ameise, weshalb
ich Euch mit der Kraft eines Löwen dienen, mit dem Auge eines
Adlers für Euch spionieren, Euch treu wie ein Hund und mich klein
und unscheinbar wie eine Ameise machen könnte, sodass Ihr nie den
Attentäter seht, der in Euer Ohr krabbelt, um Euch zu vergiften.
Kurz und gut, mit mir ist nicht zu spaßen. Ich mag klein sein, aber
ich bin es allemal wert, von Euch aufgenommen zu werden, denn ich
lebe mein Leben nach demselben Grundprinzip wie Ihr.»
«Und was wäre das für ein Grundprinzip, wenn ich fragen darf?»,
wollte Andrea Doria leicht amüsiert wissen. Er hatte einen seltsam
abstehenden Bart, einen sardonisch verzogenen Mund und glitzernde
Augen, denen nicht das Geringste entging.
«Dass der Zweck die Mittel heiligt»», erwiderte Argalia, ein Satz,
den Il Machia gern in jenen ethischen Debatten zum Besten gegeben
hatte, in denen es darum gegangen war, ob man die Alraune einsetzen
dürfe, um andernfalls unerreichbare Frauen zu verführen.
«Der Zweck heiligt die Mittel»», wiederholte Doria überrascht.
«Nun, das ist verdammt gut ausgedrückt.»» «Der Satz stammt von
min», sagte Argalia, «denn wie Ihr bin ich eine Waise, hatte wie
Ihr in meiner Jugend keinen Heller und musste wie Ihr notgedrungen
unser Handwerk erlernen. Waisen wissen außerdem: Wenn sie überleben
wollen, müssen sie tun, was immer nötig ist. Da gibt es keine
Grenzen.»» Was hatte Il Machia nochmal gesagt, als der Erzbischof
gehängt wurde? «Nur der Stärkere überlebt.»»
«Nur der Stärkere überlebt», sinnierte Andrea
Doria. «Noch so eine höllisch gefährliche Idee. Bist du da
ebenfalls von allein drauf gekommen?» In bescheidenem Stolz senkte
Argalia den Kopf. «Da auch Ihr eine Waise seid», hob er erneut an,
«wisst Ihr, dass ich zwar wie ein Kind aussehen mag, deshalb aber
noch lange kein hilfloser Säugling bin. Ein ‚Kind‘ ist behütet und
umsorgt, wird vor der wahren Welt geschützt und darf Jahre in
bloßem Spiel verbringen - es ist zudem ein Wesen, das glaubt,
Weisheit lasse sich in der Schule erwerben. ‚Kindheit‘ aber ist ein
Luxus, den ich mir nicht leisten kann, ebenso wenig wie Ihr es
konntet, denn die Wahrheit über die ‚Kindheit‘ liegt in den
verlogensten Geschichten dieser Welt verborgen. Kinder nehmen es
mit Ungeheuern und Dämonen auf und überleben nur, wenn sie keine
Furcht kennen. Kinder verhungern, wenn sie den Zauberfisch nicht
befreien, der ihnen drei Wünsche gewährt. Kinder werden bei
lebendigem Leib von Trollen gefressen, falls es ihnen nicht
gelingt, diese Unholde bis zum Sonnenaufgang aufzuhalten, da sie
sich dann wieder in Steine verwandeln. Ein Kind muss lernen, wie
man Bohnen wirft, um daraus die Zukunft abzulesen, wie man auch
Bohnen wirft, um sich Männer und Frauen gefügig zu machen, und wie
man die Bohnenstängel wachsen lässt, an denen sich die Zauberbohnen
finden. Waisen sind gleichsam zur Potenz erhobene Kinder, die ein
ebenso märchenhaftes wie extremes Leben führen.» «Gebt diesem
großmäuligen Philosophen zu essen», befahl Admiral Doria seinem
Bootsmann, einem furchterregenden Ochsen von Matrosen namens Ceva.
«Vielleicht ist er uns noch von Nutzen, ehe die Reise zu Ende geht,
und bis dahin werden mich seine koboldhaften Lügengeschichten
gewiss unterhalten.»
Der Bootsmann hielt Argalia immer noch fest am Ohr gepackt, als er
ihn aus der Kajüte des Kapitäns führte. «Glaub bloß nicht, dein
blödes Gequatsche hätte dich gerettet», sagte er. «Du bist nur aus
einem einzigen Grund noch am Leben.»
Ceva zog noch fester an seinem. Ohr. Auf die rechte Wange hatte er sich einen Skorpion tätowieren lassen, und er besaß die toten Augen eines Mannes, der niemals lachte. «Der Grund ist der, dass du irgendwie den Mumm oder die Unverschämtheit aufgebracht hast, ihm direkt ins Gesicht zu sehen, denn wenn ein Kerl ihm nicht in die Augen sieht, reißt er ihm die Leber raus und verfüttert sie an die Möwen.»
«Über kurz oder lang», erwiderte Argalia, «werde ich der Kommandant sein und solche Urteile fällen. Und du? Du solltest besser mir in die Augen sehen, sonst kannst du was erleben.»
Ohne die geringste Spur von Zuneigung verpasste Ceva ihm eine Kopfnuss. «Du wirst warten müssen, bis es so weit ist, Zwerg», sagte er, «denn wenn du deinen Schädel nicht in den Nacken legst, kannst du mir nicht in die Augen, sondern höchstens auf meinen Schwanz sehen.»
Im Gegensatz zu dem, was ihm Ceva der Skorpion
sagte, mussten Argalias verrückte Geschichten doch etwas mit seinem
Überleben zu tun gehabt haben, denn nur allzu bald stellte sich
heraus, dass der monströse Admiral Andrea wie jeder tumbe Riese
eine Schwäche für derartige Erzählungen besaß. Wenn sich abends das
Meer schwarz färbte und die Sterne Löcher ins Firmament brannten,
pflegte sich der Admiral unter Deck eine Opiumpfeife anzuzünden und
nach dem randvoll mit Geschichten gefüllten Jungen zu rufen. «Da
Eure Genueser Schiffe alle Trieren sind», begann Argalia, «solltet
Ihr auf dem ersten Deck Käse mit Euch führen, Brotkrumen auf dem
zweiten und fauliges Fleisch auf dem dritten. Kommt Ihr dann zur
Insel der Ratten, gebt ihnen den Käse, die Brotkrumen werden die
Bewohner der Ameisenin-sel erfreuen, und das faulige Fleisch, nun,
das lieben die Vögel der Geierinsel. Danach habt Ihr mächtige
Verbündete. Die Ratten nagen sich für Euch durch jedes Hindernis,
sogar durch Berge, und die Ameisen leisten Euch all die Dienste,
die für menschliche Hände zu delikat und fein sind. Wenn Ihr die
Geier aber nett bittet, fliegen sie Euch sogar auf den Gipfel des
Berges, auf dem der Quell ewiger Jugend entspringt.»
Andrea Doria grunzte. «Aber wo finde ich diese verdammten Inseln?»,
wollte er wissen.
«Admiral», erwiderte der Junge, «Ihr gebt den Kurs an, nicht ich.
Sie werden schon irgendwo auf Euren Karten eingetragen sein.» Trotz
dieser frechen Antwort lebte er noch am nächsten Tag, um eine
weitere Geschichte zu erzählen - Es waren einmal drei Apfelsinen,
und in jeder steckte ein wunderschönes Mädchen, das sterben musste,
wenn es nicht auf der Stelle Wasser bekam, sobald es die Apfelsine
verließ -, und der in Rauchwolken gehüllte Admiral murmelte ihm im
Austausch Vertraulichkeiten zu.
Das Meer war voller Mord und Totschlag. In diesen Gewässern
marodierten, plünderten und kidnappten die Berberpiraten, und seit
dem Fall von Konstantinopel war hier gleichfalls die osmanische
Marine aktiv, die Galeerenflotte der Osmanli-Türken. Diesen
maritimen Ungläubigen hielt Admiral Andrea Doria nun sein
pockennarbiges Gesicht entgegen. «Ich vertreibe sie vom Mare
Nostrum und mache Genua zur Herrin der Wellen», prahlte er, und
Argalia wagte keinen Widerspruch und kein skeptisches Wort. Andrea
Doria beugte sich zu dem still gewordenen Jungen vor, die Augen
milchig vor lauter afim. «Was du weißt und was ich weiß, das weiß
auch der Feind», flüsterte er ihm traumverloren in seinem
Opiumrausch zu. «Sogar der Feind folgt dem Gesetz eines
Waisenkindes.»
«Wen meint Ihr?», fragte Argalia. «Mahomet», erwiderte An-drea
Doria. «Mahomet, ihren Waisengott.» Argalia hatte nicht gewusst,
dass er seinen Waisenstatus mit dem Propheten des Islam teilte.
«Der Zweck heiligt die Mittel», fuhr Andrea Doria mit träger,
schwerer Stimme fort. «Verstehst du? Sie leben nach derselben Regel
wie wir. Das eine und einzige Gebot. Wir tun, was nötig ist. Ihre
Religion ist also dieselbe wie unsere.» Argalia holte tief Luft und
stellte gefährliche Fragen. «Wenn das stimmt», sagte er, «sind sie
dann wirklich unsere Feinde? Steht der wahre Gegner nicht immer im
Gegensatz zu uns? Kann das Gesicht, das wir im Spiegel sehen, unser
Feind sein?»
Admiral Doria versank schon fast in Bewusstlosigkeit. «Ganz recht»,
murmelte er noch, ehe er in den Sessel zurückfiel und zu schnarchen
begann. «Außerdem gibt es da einen Feind, den ich noch stärker
hasse als dieses mohammedanische Piratengesindel.»
«Und der wäre?», fragte Argalia.
«Venedig», sagte Doria. «Diese venezianischen Gecken mache ich auch
noch fertig.»
Während die acht Genueser Trieren in Kampfformation über das Meer
fuhren und ihre Beute jagten, begriff Argalia, dass die Religion
bei alldem keine Rolle spielte. Die Korsaren der Berberstaaten
dachten gar nicht daran, irgendwas zu erobern oder ihren Glauben zu
verbreiten. Sie interessierten sich ausschließlich für Lösegeld,
für Gewalt und Erpressung. Und was die Osmanen betraf, so wussten
sie, wenn die neue Hauptstadt Stambul überleben wollte, mussten
Lebensmittel von andernorts in den Hafen gelangen und die
Schifffahrtsrinnen offen bleiben. Zudem wurden sie allmählich
raffgierig und schickten Schiffe aus, um Hafenstädte, aber auch
Städte abseits der Ufer des Ägäischen Meeres anzugreifen; und für
Venezianer hatten sie erst recht nichts übrig. Macht, Reichtum,
Besitz, Reichtum und Macht. Argalia kamen nachts jetzt ebenfalls
Träume, in denen es vor exotischen Juwelen nur so wimmelte. Allein
in seiner Koje auf dem Vorderdeck, schwor er sich: «Niemals werde
ich als armer Mensch nach Florenz zurückkehren, nur als ein mit
Reichtümern beladener Prinz.» Sein Vorhaben war wirklich sehr
einfach. Die Natur der Welt hatte sich offenbart.
Wenn die Dinge am einfachsten scheinen,
erweisen sie sich unweigerlich auch als höchst tückisch. Nach einer
siegreichen Begegnung mit den Piratenschiffen der Barbarossa-Brüder
von Mytilene troff der Admiral auf höchst befriedigende Weise vor
Sarazenenblut und verfolgte selben Tags noch die Hinrichtung der
gefangenen Piraten - sie wurden geteert und bei lebendigem Leib auf
dem Marktplatz ihrer Heimatstadt verbrannt -, als ihm der tollkühne
Einfall kam, in die Ägäis vorzudringen und die Osmanen in ihren
heimischen Gewässern anzugreifen. Doch kaum befuhr die Goldbande
das sagenumwogte Meer, um sich den osmanischen Galeeren zu stellen,
da stieg ein seltsamer Nebel auf, beinahe so, als wäre olympischer
Unfug am Werk oder als hätten die alten Götter dieser Gegend,
frustriert von der langen Tristesse eines Zeitalters, in dem es
ihnen an unmittelbarem Einfluss auf die Gefühle und Treuepflichten
der Menschen mangelte, beschlossen, mit ihnen zu spielen und allein
um der alten Zeiten willen ihre Pläne zu durchkreuzen. Die acht
Genueser Trieren bemühten sich, die Kampfformation zu halten, doch
zu verwirrend war der mit dem Geheul von Ghulen, dem Gekreisch von
Hexen, dem Gejammer Ertrunkener und dem Gestank der Pestilenz
durchsetzte Nebel, weshalb selbst die abgebrühtesten Söldner bald
in Panik gerieten. Das System von Nebelhornsignalen, das Admiral
Doria sich eigens für einen solchen Tag ersonnen hatte, erwies sich
nur allzu bald als völlig wertlos. Jedem Schiff war eine Abfolge
kurzer und langer Hornstöße zugeordnet worden, doch angesichts
eines derartigen Miasmas des Todes und des Aberglaubens verloren
die Kommunikationsversuche der verstörten Söldner rasch an
Eindeutigkeit, ganz wie die Nebelhornsignale der Osmanen, sodass
schließlich niemand mehr wusste, wer Freund und wer Feind
war.
Abrupt begannen die Kanonen der Trieren zu feuern, ebenso die
mächtigen Drehbassen an Deck der osmanischen Galeeren, sodass die
roten Mündungsflammen und hellen Blitze der mächtigen Geschütze
inmitten dieses gestaltlosen Nebelinfernos wie kleine Ausblicke auf
das Höllenfeuer wirkten. Überall erblühte Gewehrfeuer, ein
flackernder Garten roter, tödlicher Blumen. Niemand wusste, wer auf
wen schoss oder wie man sich am besten verhielt; eine große
Katastrophe schien unvermeidlich. Doch dann, so plötzlich, als
hätten beide Seiten in genau demselben Moment die Gefahr erkannt,
wurde es still. Kein Schuss war mehr zu hören, keine rufende Stimme
ertönte, kein Nebelhorn. Überall in der weißen Leere begannen
leise, verstohlene Bewegungen. Argalia, der allein auf dem Deck des
Flaggschiffes stand, spürte, wie ihm das Schicksal die Hand auf die
Schulter legte, und merkte überrascht, dass diese Hand vor Angst
zitterte. Er wandte sich um. Nein, kein Schicksal stand hinter ihm,
sondern Ceva, der Bootsmann, nicht länger grimmig und
furchteinflößend, sondern so mutlos wie ein geschlagener Köter.
«Der Admiral braucht dich», flüsterte er dem Jungen zu und führte
ihn unter Deck, wo Andrea Doria ihn erwartete, in der Hand das
große Nebelhorn des Flaggschiffs. «Heute ist dein Tag, mein kleiner
Mann und Geschichtenerzähler», verkündete der Admiral leise. «Heute
wirst du mit Taten und nicht mit Worten wahre Größe
erlangen.»
Der Plan sah vor, dass Argalia in einer kleinen Jolle ins Wasser
gelassen wurde, um dann so rasch wie möglich vom Flaggschiff
fortzurudern. «Nach jedem hundertsten Ruderschlag», sagte der
Admiral, «stößt du in dieses Horn. Der Feind wird meine Raffinesse
für Arroganz halten und die Herausforderung von Andrea Dorias
cornetto annehmen, wird dich mit seinen Schiffen verfolgen und
glauben, große Beute zu machen - soll heißen, mich höchstpersönlich
gefangen zu nehmen! -, doch unterdessen bietet sich mir ein
Vorteil, und ich werde ihn vernichtend von einer Seite schlagen,
aus der er mich nicht erwartet.»
Argalia schien es ein schlechter Plan zu sein. «Und ich?», fragte
er mit Blick auf das Horn in seiner Hand. «Wenn die Schiffe der
Ungläubigen meinem kleinen Boot nachjagen, was soll ich dann tun?»
Ceva der Skorpion packte ihn, hob ihn hoch und warf ihn in die
Jolle. «Rudere», zischte er, «kleiner Held, rudere um dein
verdammtes Leben.»
«Wenn sich der Nebel lichtet und der Feind besiegt ist», so das ein
wenig vage Versprechen des Admirals, «holen wir dich wieder an
Bord.» Ceva gab der Jolle einen kräftigen Stoß. «Genau», zischte
er, «das machen wir.» Dann waren da nur noch der weiße Nebel und
das Meer, Land und Himmel kaum mehr als uralte Fabeln. Das ganze
Universum bestand aus nichts als diesem blinden Dahintreiben. Eine
Weile tat er, was man ihm aufgetragen hatte, hundert Ruderschläge,
dann ein Stoß ins Horn, zweimal, dreimal, doch hörte er nie eine
Antwort. Die Welt blieb stumm und lebensgefährlich. Bald würde der
Tod in einer lautlosen Woge über ihn hereinbrechen. Die Schiffe der
Osmanen würden auf ihn zusteuern und ihn wie einen Käfer
zerdrücken. Er hörte auf, ins Horn zu blasen, denn er sah ein, dass
den Admiral sein Schicksal nicht interessierte, dass er seinen
«kleinen Geschichtenerzähler» so beiläufig geopfert hatte, wie
andere Männer über die Reling ins Meer spuckten. Für ihn war er
nicht mehr als ein Klecks Rotz, der eine Weile auf den Wellen
tanzte, ehe er unterging. Argalia versuchte, sich Geschichten zu
erzählen, um sich bei Laune zu halten, doch wollten ihm nur
Gruselgeschichten einfallen, ein aus der Tiefe aufsteigender
Leviathan, der das Boot mit seinen gigantischen Kiefern zermalmte,
sich windende Tiefseewürmer, Drachen, die unter Wasser ihren
feurigen Atem ausstießen. Bald versiegten auch diese Geschichten,
und er blieb wehrlos und schutzlos zurück, eine einsame menschliche
Seele, die auf unbestimmtem Kurs ins Weiß steuerte. Das war, was
von einem Menschen blieb, wenn man ihm sein Heim nahm, Familie,
Freunde, seine Stadt, sein Land, seine Welt: ein Wesen ohne
Zusammenhänge, dessen Vergangenheit verblasst, dessen Zukunft
trostlos war, ein seines Namens, seiner Bedeutung, seines
Lebenssinns beraubtes Wesen, nichts mehr als nur ein zeitweilig
schlagendes Herz. «Ich bin absurd», sagte er sich. «Ein Kakerlak in
einem dampfenden Haufen Scheiße ist bedeutsamer als ich.» Als er
viele Jahre später Qara Köz traf, die verschwiegene
Mogulprinzessin, und sein Leben endlich jene Bedeutung gewann, die
das Schicksal für ihn bereitgehalten hatte, entdeckte er in ihren
Augen den unermesslichen Zweifel des Verlassenseins und begriff,
dass auch sie sich der völligen Absurdität des menschlichen Daseins
gestellt hatte. Allein aus diesem Grund hätte er sie geliebt, doch
gab es dafür auch noch andere Gründe.
Der Nebel verdichtete sich, drang ihm in Augen, Nase und Hals. Er spürte, wie er nach Luft rang. Vielleicht sterbe ich jetzt, dachte er. Sein Lebenswille war gebrochen. Was ihm das Schicksal auch bringen mochte, er würde sich damit abfinden. So lag er in dem kleinen Boot und dachte an Florenz, sah seine Eltern, ehe die Pest sie entstellt hatte, erinnerte sich an Kindertage, an Ausflüge in den Wald mit seinen Freunden Ago und Il Machia und spürte, wie ihn angesichts dieser Erinnerung die Liebe überkam. Gleich darauf verlor er das Bewusstsein.
Als er aufwachte, hatte der Nebel sich
gelichtet, und auch die acht Trieren des Admirals Andrea Doria
waren verschwunden. Der große condottiere von Genua hatte den
Schwanz eingekniffen und war geflohen, das Nebelhorn in der Jolle
war bloß ein einfaches Ablenkungsmanöver gewesen. Hilflos
schaukelte Argalia in seinem kleinen Boot direkt vor der
versammelten osmanischen Marine wie eine von einem halben Dutzend
hungriger Katzen umstellte Maus. Argalia richtete sich auf, winkte
seinen Bezwingern zu und blies, so laut er konnte, ins Nebelhorn
des Admirals.
«Ich ergebe mich», schrie er. «Kommt doch und holt mich, ihr
gottlosen türkischen Schweine.»
Tm Kinderlager in Usküb (so der
Gedächtnispalast, wurden viele .1. Sprachen gesprochen, doch gab es
nur einen Gott. Jedes Jahr streifte die Presspatrouille durch das
wachsende Reich, um die devshinne-Steuer zu erheben, den
Knabenzins. Die stärksten, klügsten, hübschesten Jungen machte man
zu Sklaven und verwandelte sie in Organe des herrschaftlichen
Willens. Grundsatz des Sultanats war nämlich die Macht durch
Metamorphose. Wir nehmen die Besten aus eurem Nachwuchs, um sie
vollständig umzuwandeln. Wir sorgen dafür, dass sie euch vergessen,
und fonnen aus ihnen die Macht die euch unter unserer Knute hält.
Von euren eigenen verlorenen Kindern werdet ihr regiert werden. In
Usküb, wo der Prozess der Umwandlung begann, wurden viele Sprachen
gesprochen, doch gab es nur eine Uniform, die Pluderhosenkluft der
osmanischen Rekruten. Unserem Helden wurden die Lumpen abgenommen,
er wurde gewaschen, bekam zu essen, und man gab ihm klares Wasser.
Dann nahm man ihm auch sein Christentum und nötigte ihn, den Islam
überzustreifen wie einen neuen Pyjama. Es gab Griechen in Usküb und
Albanier, Bosnier und Kroaten und Serben, auch Mamelucken, weiße
Sklaven von überall aus dem Kaukasus, Georgier und Mingrelier,
Tscherkessen und Abchasen, und es gab auch Armenier und Syrier.
Unser Held war der einzige Italiener. Florenz zahlte keinen
Knabenzins, doch würde sich das nach Ansicht der Osmanen im Laufe
der Zeit gewiss ändern. Die neuen Herren taten, als hätten sie
Mühe, seinen Namen auszusprechen; al-ghazi, der Eroberer, wurde er
scherzhaft genannt, auch al-khali, die Leere, das Gefäß. Sein Name
aber war unwichtig. Argalia, Arcalia, Arqalia, AlKhaliya. Sinnlose
Laute, darauf kam es nicht an. Es war seine Seele, die, genau wie
die Seelen aller anderen Jungen, eine neue Führung brauchte. Auf
dem Paradeplatz ordneten sich mürrisch die neu eingekleideten
Kinder in Reih und Glied vor einem Mann in langer Kutte, dessen
weißer Hut so hoch war wie sein Bart lang, drei Fuß weit ragte der
eine über seinen Brauen auf, der andere fiel gleich tief von seinem
Kinn herab, was den Eindruck erweckte, er besäße einen immens
langen Kopf. Er war ein heiliger Mann, ein Derwisch vom Orden der
Bektaschi, und er sollte sie zum Islam bekehren. Mit ihren vielen
verschiedenen Akzenten plapperten die wütenden, verängstigten
Jungen den notwendigen arabischen Satz über den einen Gott und
seinen Propheten nach. Ihre Metamorphose hatte begonnen.
Selbst während er im Dienste der Republik unterwegs war, konnte Il
Machia nicht aufhören, an den Gedächtnispalast zu denken. Im Juli
galoppierte er in Richtung Ravenna nach Forli, um Gräfin Caterina
Sforza Riario zu überreden, ihren Sohn Ottaviano für weitaus
weniger Geld an der Seite der Florentiner kämpfen zu lassen, als
sie gefordert hatte, denn sollte sie sich weigern, würde sie den
Schutz der Stadt Florenz verlieren und folglich der Gnade des
grausamen Herzogs Cesare Borgia der Romagna ausgeliefert sein, des
Sohnes von Papst Alexander VI. Die «Madonna von Forli» war so
außerordentlich schön, dass selbst Il Machias Freund Biagio
Buonaccorsi für eine Weile aufhörte, sich mit Andrea di Romolo zu
verlustieren, um Niccolo zu bitten, ihm ein Bild von ihr
mitzubringen. Doch Niccolo dachte nur an die namenlose Französin,
die wie eine Marmorstatue im Boudoir des Hauses Mars von Alessandra
Fiorentina stand. «He, Machia», schrieb Ago Vespucci, «komm schnell
zurück, denn ohne Dich organisiert niemand unsere Kneipen- und
Kartenabende; außerdem steckt Deine Kanzlei bis oben hin voll mit
den blödesten Arschlöchern Italiens, die uns alle ohne Ausnahme
feuern wollen - also ist Deine ewige Herumreiterei auch schlecht
fürs Geschäft.» Aber Niccolo hatte keinerlei Gedanken übrig für
Ränkespiele oder Dolce Vita, gab es für ihn doch nur eine einzige
Frau, die er verführen wollte, falls er denn je den Schlüssel fand,
der ihm ihr geheimes Innerstes aufschloss, ihre unter dem
Gedächtnispalast verborgene Persönlichkeit.
Manchmal sah Il Machia die Welt allzu analog, sah eine Situation
analog zu einem gänzlich anderen Geschehen. Als Caterina seinen
Vorschlag ablehnte, hielt Il Machia dies daher für ein schlechtes
Omen. Vielleicht würde er beim Gedächtnispalast ebenfalls versagen.
Als Cesare Borgia dann bald darauf - wie von Niccolo vorhergesagt -
die Stadt Forli attackierte und eroberte, stellte sich Caterina
hoch oben auf die Stadtmauern, hielt dem Herzog von Romagna ihr
Genital hin und rief, er könne sie mal. Sie endete als Gefangene
des Papstes im Castel Sant’ Angelo, doch hielt Il Machia, der die
Welt manchmal ein wenig zu analog sah, ihr Schicksal für ein gutes
Zeichen. Als Gefangene in Papst Alexanders Burg schien ihm Caterina
Sforza Riario ein Spiegelbild jener Frau zu sein, die in einem
verdunkelten Zimmer in Königin Alessandras Haus Mars verwahrt
wurde. Und dass sie sich vor Borgia entblößt hatte, bedeutete
möglicherweise, dass der Gedächtnispalast einwilligte, selbiges vor
ihm zu tun. Also kehrte er zum Haus Mars zurück, und die Kupplerin
Giulietta erklärte sich widerstrebend bereit, ihm uneingeschränkten
Zugang zum Gedächtnispalast zu gewähren, da auch sie hoffte, es
gelänge ihm, die somnambule Dame aufzuwecken, damit sie sich
endlich wie eine normale Kurtisane und nicht länger wie eine
redende Statue benahm. Il Machia hatte die Omen korrekt gedeutet.
Kaum war er mit ihr allein im Boudoir, nahm er sie bei der Hand und
hieß sie sanft, sich auf das Himmelbett zu legen, das
passenderweise mit französischen, blassblauen Seidendraperien
verhängt war, bestickt mit den goldenen Lilien der Bourbonen. Sie
war eine hochgewachsene Frau, es würde einfacher sein, wenn sie
lag. Dann legte er sich neben sie, streichelte ihr das Haar,
wisperte ihr Fragen ins Ohr und knöpfte unterdessen das
Serailmieder auf. Ihre Brüste waren klein. Das war in Ordnung. Sie
verschränkte die Finger über der Taille und ließ seine Hände
widerstandslos gewähren, während sie Erinnerungen von sich gab, die
tief in ihr vergraben gewesen waren. Das schien sie zu erleichtern,
und je mehr Ballast sie ablud, desto leichter wurde ihr auch ums
Herz. «Erzähl mir alles», flüsterte ihr Il Machia ins Ohr und
küsste dabei die frisch aufgedeckte Brust, «dann wirst du frei
sein.»
Nachdem man den Knabenzins eingetrieben hatte (erzählte der
Gedächtnispalast,, wurden die Jungen nach Stambul gebracht und
unter angesehenen türkischen Familien aufgeteilt, damit sie ihnen
dienten und die türkische Sprache sowie die Feinheiten des
muslimischen Glaubens lernten. Danach folgte die militärische
Ausbildung. Später dann traten die Jungen entweder als Pagen unter
dem Titel eines Ich-Oghldn dem herrschaftlichen Serail bei, oder
sie kamen als Ajem-Oghldn, als einfache Rekruten, zum Korps der
Janitscharen. Im Alter von elf Jahren wurde der Held, der mächtige
Krieger, Träger der Verwunschenen Lanze und attraktivster Mann der
Welt, ein Janitschar, Gott sei gelobt, und darüber hinaus wurde er
zum größten Kämpfer der Janitscharen in der Geschichte des Korps.
Ach, die gefürchteten Janitscharen des Osmanli-Sultans, möge ihr
Ruhm sich über die gesamte Welt verbreiten! Sie waren keine Türken,
aber dennoch die Säulen des türkischen Imperiums. Juden wurden
nicht zugelassen, deren Glaube war zu stark, um geändert werden zu
können, auch keine Zigeuner, die waren Abschaum, selbst bei den
Moldawiern und den Walachen Rumäniens führte man keine Knabenlese
durch.
Während ihm der Gedächtnispalast von den
Janitscharen er-zählte, richtete sich Il Machias ganzes Augenmerk
auf ihre Lippen. Sie erklärte, wie man die Kadetten bei der Ankunft
in Stambul nackt inspizierte, doch erfreute ihn nur, wie schön ihr
Mund aussah, wenn sie das französische Wort nus aussprach. Sie
redete davon, wie man die Knaben zu Metzgern und Gärtnern
ausbildete, er aber fuhr nur mit dem Zeigefinger ihre Lippen nach.
Sie sagte, man tilgte ihre Vor- und Familiennamen; sie wurden zu
Abdullahs, Abdulmomins oder bekamen andere Namen, die mit Abd
begannen, denn das bedeutete Sklave und verriet ihren Status in der
Welt. Doch statt bekümmert zuzuhören, wie diese jungen Leben
verformt wurden, dachte er nur daran, dass ihm missfiel, wie sie
die Lippen spitzte, wenn sie die orientalischen Silben aussprach.
Er küsste ihre Mundwinkel, als sie ihm vom Obersten Weißen Eunuchen
und vom Obersten Schwarzen Eunuchen erzählte, die für die
Ausbildung der Knaben verantwortlich waren, und davon, dass der
Held, sein Freund, als oberster Falkner angefangen habe, ein
beispiellos ho her Rang für einen Kadetten. Er wusste, sein
verlorener Freund, der Junge ohne Kindheit, würde im Laufe ihrer
Geschichte heranwachsen, er würde mit jedem Satz älter werden, den
sie erzählte, und er wusste auch, dass Argalia hatte, was immer
Kinder haben, denen die Kindheit fehlt, dass er zu einem Mann wurde
oder was immer Kinder ohne Kindheit werden, wenn sie aufwachsen,
vielleicht zu einem Mann ohne Mannheit. Ja, Argalia erwarb
kriegerische Fähigkeiten, die Furcht und Bewunderung in anderen
Männern weckten, und er sammelte einen Kreis junger Krieger um
sich, Knabenzinskadetten aus fernen Ländern Europas, aber auch die
vier Schweizer Albino-Riesen Otho, Botho, Clotho und d’Artagnan,
Söldner, die in Schlachten gefangen genommen und auf dem
Sklavenmarkt von Tanger verkauft worden waren, dazu noch einen
wilden Serben namens Konstantin, den man bei der Belagerung von
Novo Brdo aufgegriffen hatte. Doch obwohl diese Informationen
wichtig waren, verfiel Il Machia in einen Tagtraum, als er die
kleinen Zuckungen betrachtete, die beim Reden über das Gesicht des
Gedächtnispalastes huschten. Ja, Argalia war irgendwo aufgewachsen
und hatte diverse Taten vollbracht, und all das waren
Informationen, über die er verfügen sollte, gewiss, aber vor allem
waren da diese sanft sich regenden Rundungen ihrer Lippen und
Wangen, die präzisen Bewegungen von Zunge und Kiefer, der Schimmer
ihrer Alabasterhaut.
Manchmal lag er in Percussina unweit vom Hof auf der blätterweichen
Erde im Wald und lauschte dem Zweitongesang der Vögel: hoch tief
hoch, hoch tief hoch tief, hoch tief hoch tief hoch. Dann wieder
sah er einem Waldbach zu, sah das Wasser übers Kieselbett
plätschern und betrachtete die winzigen Modulationen von Welle und
Strom. So war der Körper einer Frau. Beobachtete man ihn
aufmerksam, konnte man sehen, wie er sich im Takt der Welt bewegte,
erkannte einen tiefer liegenden Rhythmus, die Musik unterhalb der
Musik, die Wahrheit unterhalb der Wahrheit. Er glaubte an diese
verborgene Wahrheit, wie andere Menschen an Gott oder an die Liebe
glauben, glaubte, dass die Wahrheit eigentlich immer verborgen
blieb, dass das Offensichtliche, das Augenscheinliche unweigerlich
eine Lüge sein musste. Und da er jemand war, der das Präzise
liebte, wollte er die verborgene Wahrheit möglichst genau erfassen,
wollte sie deutlich sehen und festschreiben, die Wahrheit jenseits
unserer Vorstellungen von Gut und Böse, von Wahr und Falsch, Schön
und Hässlich, die alle nur Aspekte der oberflächlichen Beschreibung
unserer Welt sind und wenig mit dem zu tun haben, wie die Dinge
tatsächlich funktionieren, losgelöst von der Wesenheit, den
geheimen Codes, den verborgenen Formen, den Mysterien. Hier, am
Körper dieser Frau, ließ sich das eigentliche Mysterium erkennen,
an diesem scheinbar reglosen Wesen, dessen Persönlichkeit
ausgelöscht worden war oder unter einer schier unendlichen
Geschichte begraben lag, in labyrinthischen Geschichtenräumen, in
denen man mehr Erzählungen verborgen hatte, als er hören wollte.
Eine delikate Schlafwandlerin war sie, eine Leerstelle. Während er
sie betrachtete, während er aufknöpfte und streichelte, strömten
die auswendig gelernten Worte aus ihr heraus. Ohne alle
Gewissensbisse entblößte er ihre Nacktheit, berührte sie ohne jedes
Schamgefühl, streichelte sie ohne Reue. Er war der Wissenschaftler
ihrer Seele. Aus den kleinsten Bewegungen einer Braue, dem Zucken
eines Oberschenkelmuskels, einer plötzlichen Bewegung im linken
Winkel der Oberlippe schloss er, dass sie lebte. Ihre
Persönlichkeit, dieser allerhöchste Schatz, war unversehrt. Die
Frau schlief nur und konnte geweckt werden. Er flüsterte ihr ins
Ohr: «Dieses Mal erzählst du deine Geschichte ein letztes Mal. Lass
sie los, während du sie erzählst.» Langsam, Satz um Satz, Episode
um Episode, würde er den Gedächtnispalast abtragen und ein
menschliches Wesen befreien. Er knabberte an ihrem Ohr und sah wie
zur Antwort ein winziges Neigen ihres Kopfes. Er massierte ihren
Fuß, und grazil bewegte sich ein Zeh. Er streichelte ihre Brust,
und schwach, so schwach, dass es nur jemand sehen konnte, der nach
der tieferen Wahrheit suchte, krümmte sie den Rücken. Was er tat,
war nicht falsch. Er war ihr Erlöser. Sie würde ihm danken, wenn
die Zeit gekommen war.
Bei der Belagerung von Trapezunt regnete es Tag
um Tag. Tataren und andere Heiden lauerten in den Bergen. Der Weg
von den Hügeln herab wurde zum Schlammbad, das den Pferden bis an
den Bauch reichte. Man zerstörte die Vorratswagen und bettete ihre
Ladung auf Kamelrücken um. Ein Kamel stürzte, eine Schatztruhe
zerbrach; sechzigtausend Goldstücke fielen auf den Abhang und lagen
für jedermann sichtbar da. Sogleich zogen der Held, die Schweizer
Riesen und der Serbe ihre Säbel um den Reichtum zu bewachen, bis
der Herrscher eintraf Danach vertraute der Sultan dem Helden mehr,
als er seinen eigenen Verwandten traute.
Endlich schwand die Steifheit aus ihren Gliedern, und sie lag
locker und einladend auf seidenem Laken. Die Geschichten, die sie
jetzt erzählte, waren neueren Datums. Argalia war mittlerweile
erwachsen und beinahe ebenso alt wie n Machia und Ago. Ihre
Chronologien hatten sich wieder angeglichen. Bald würde sie zum
Ende kommen, und dann wollte er sie wecken. Giulietta, die
ruffiana, ein ungeduldiger Mensch, beschwor ihn, sie zu nehmen,
solange sie noch schlief. «Steckt ihn rein. Macht schon. Ihr
braucht nicht vorsichtig zu sein. Besorgt es ihr nur ordentlich.
Das wird ihr schon die Augen öffnen.» Doch er hatte beschlossen,
sie nicht zu schänden, sondern zu warten, bis sie von allein
erwachte, und Alessandra Fiorentina gab ihm recht. Der
Gedächtnispalast war eine außergewöhnliche Schönheit und wollte mit
Feingefühl genommen werden. So viel Respekt hatte sie verdient,
auch wenn sie nur Sklavin im Haus einer Kurtisane war. Gegen Vlad
111., Kazikli Bey, den Woiwoden der Walachei, gegen Vlad «Dracula»,
den «Drachen-Teufel», den Pfähler-Fürsten, konnte keine sterbliche
Macht bestehen. Über Fürst Vlad erzählte man sich, er trinke das
Blut seiner aufgespießten Opfer, noch während sie sich in
Todesqualen am Pfahl wanden, und dieses Blut lebendiger Männer und
Frauen verleihe ihm eine seltsame Macht über den Tod, weshalb er
nicht getötet werden, nicht sterben könne. Er sei die Bestie der
Bestien. Er schnitt getöteten Männern die Nasen ab und schickte sie
dem Fürsten von Ungarn, um mit seiner Tapferkeit zu prahlen. Solche
Geschichten versetzten die Armee in Angst und Schrecken, weshalb
sie sich nicht gerade auf den Marsch zur Walachei freute. Um die
Janitscharen anzufeuern, ließ der Sultan daher dreißigtausend
Goldstücke unter ihnen verteilen und sagte seinen Männern, wenn sie
siegten, erhielten sie Anspruch auf Besitz. sowie das Recht, wieder
ihre ursprünglichen Namen tragen zu dürfen. Vlad, der Teufel, hatte
schon ganz Bulgarien gebrandschatzt und fünfundzwanzigtausend
Menschen auf hölzerne Pfähle gespießt, dabei besaß er weniger
Soldaten als die osmanische Armee. Wenn er sich zurückzog,
hinterließ er verbrannte Erde, vergiftete Brunnen und
geschlachtetes Vieh. Als das Heer des Sultans folglich ohne Wasser
und Lebensmittel festsaß befahl der Teufelskönig
Überraschungsangriffe. Viele Soldaten verloren ihr Leben, und ihre
Leichen wurden auf gespitzte Pfähle gespießt. Dann wich Dracula
nach Targoviste aus, und der Sultan verkündete, hier müsse sich der
Teufel zur letzten Schlacht stellen.
Doch in Targoviste erwartete sie ein schrecklicher Anblick. Zwanzigtausend Männer, Frauen und Kinder waren vom Teufel auf einem Palisadenzaun rund um die Stadt aufgespießt worden, nur um der herannahenden Armee zu zeigen, was sie erwartete. Säuglinge klammerten sich an ihre gepfählten Mütter, in deren faulenden Brüsten Krähen ihre Nester bauten. Von diesem Anblick, diesem Wald aufgespießter Menschen, war der Sultan derart angewidert, dass er seinen entsetzten Truppen den Rückzug befahl. Anscheinend sollte der Feldzug mit einer Katastrophe enden, doch da trat der Held mit seinen Getreuen vor. «Wir tun, was getan werden muss», sagte er, und einen Monat später kehrte der Held nach Stambul zurück, in seinem Gepäck ein Krug Honig mit dem eingelegten Kopf des Teufels. Wie sich herausstellte, war Dracula trotz aller gegenteiligen Gerüchte doch sterblich gewesen. Seinen Leichnam hatte man aufgespießt, wie er selbst so viele Menschen aufgespießt hatte, und man überließ ihn den Mönchen des Klosters Snagov, auf dass sie ihn beerdigten, wann immer sie es für angemessen hielten. In diesem Augenblick begriff der Sultan endlich, dass es sich bei dem Helden um ein übermenschliches Wesen handelte, dem verzauberte Waffen gehörten und dessen Gefährten ebenfalls mehr als bloß menschlich waren. Man erkannte ihm die höchste Ehre des osmanischen Sultanats zu, den Rang des Trägers der Verwunschenen Lanze. Außerdem wurde er zum freien Mann erklärt. «Von jetzt an», sagte der Sultan, «bist du so sehr meine rechte Hand, wie es mir meine eigene Hand ist und du sollst auch keinen Sklavennamen mehr tragen, denn du bist nicht länger irgendeines Mannes Mameluck oder Abd; dein Name sei Pascha Arcalia, der Türke.» Welch schönes Ende, kommentierte Il Machia trocken in Gedanken. Hat unser alter Freund also doch sein Glück gemacht. Hier konnte der Gedächtnispalast den Bericht ebenso gut beenden wie an irgendeiner anderen Stelle. Also legte er sich zu ihr und stellte sich Nino Argalia als orientalischen Pascha vor, dem, umlagert von den Schönen des Harems, barbrüstige nubische Eunuchen frische Luft zufächelten. Er ekelte sich vor diesem Bild eines Renegaten, eines christlichen Konvertiten zum Islam, der sich an den Fleischtöpfen des verlorenen Konstantinopel gütlich tat, dem neuen Konstantiniyye, von den Türken auch Stambul genannt, der in der Moschee der Janitscharen betete, achtlos an der gefallenen, zerbrochenen Statue von Kaiser Justinian vorüberschritt und sich an der wachsenden Macht der Feinde des Westens erfreute. Solch eine verräterische Verwandlung mochte einen gutmütigen Naivling wie Ago Vespucci beeindrucken, der in Argalias Reise nur eines jener aufregenden Abenteuer sah, die er selbst nicht erleben wollte, doch für Niccolo sprengte sein Verhalten die Bande ihrer Freundschaft, weshalb sie sich, sollten sie einander je wieder begegnen, gewiss als Feinde gegenüberstünden, denn Argalias Abtrünnigkeit war ein Verbrechen gegen die tieferen Wahrheiten, gegen die ewigen Wahrhaftigkeiten von Macht und Verwandtschaft, diesen Triebkräften der menschlichen Geschichte. Argalia hatte sich gegen seinesgleichen gewandt, und der eigene Stamm zeigte sich gegenüber solchen Menschen niemals nachsichtig. Allerdings kam es Il Machia gar nicht in den Sinn - zumindest viele Jahre lang nicht -, dass er seinen Freund aus Kindertagen vielleicht niemals wiedersehen würde .
Die Zwergin Giulietta Veronese steckte den Kopf
durch die Tür. «Nun?» Niccolo nickte besonnen. «Ich schätze,
Signora, sie wird bald erwachen und wieder ganz sie selbst sein.
Was mich und meine kleinen Handreichungen betrifft, die geholfen
haben mögen, ihre Persönlichkeit wiederherzustellen - jene Würde,
die, wie uns der große Pico sagt, das Zentrum unserer
Menschlichkeit ausmacht -, so gestehe ich, durchaus ein wenig Stolz
zu empfinden.»
Vor schierer Verzweiflung blies die ruffiana laut durch ihre
Mundwinkel aus. «Wurde aber auch Zeit», sagte sie und zog sich
wieder zurück.
Fast im selben Moment begann der Gedächtnispalast, im Schlaf zu
murmeln. Die Stimme gewann an Kraft, und Niccolo begriff, dass die
letzte Geschichte erzählt wurde, jene Geschichte, die das Hirn
besetzt hielt, die beim Durchgang durch diese letzte Tür erzählt
werden musste, damit die Schöne wieder zu normalem Leben erwachen
konnte: die eigene Geschichte, rückwärtserzählt, so als liefe die
Zeit in umgekehrter Richtung ab. Mit wachsendem Entsetzen sah er
die Umstände ihrer Indoktrination vor sich Gestalt annehmen, sah
den Nekromanten von Stambul, den langhütigen, langbärtigen
Sufi-Mystiker des Bektaschi-Ordens, den Adepten der mesmerischen
Künste und des Baus von Gedächtnispalästen, der im Auftrag eines
frisch gekürten Paschas handelte und dessen Heldentaten dem
Gedächtnis dieser Gefangenen anvertraute, der ihr Leben löschte, um
Platz für Argalias fraglos sehr selbstverherrlichende Version
seiner Person zu schaffen. Der Sultan hatte ihm die versklavte
Schöne geschenkt, und er hatte nichts Besseres damit anzufangen
gewusst. Barbar! Verräter! Wäre er doch mit seinen Eltern an der
Pest krepiert! Wäre er doch ersoffen, als Andrea Doria ihn im
Ruderboot aussetzte! Selbst wenn ihn der walachische Vlad Dracula
gepfählt hätte, wäre das für ihn keine zu harte Strafe
gewesen.
Diese und andere wütende Gedanken tobten in Il Machias Kopf, als
wie aus dem Nichts ein ungewolltes Bild aus der Vergangenheit
aufstieg: Argalia, der Junge, der ihn wegen der Grießbreikur seiner
Mutter hänselte. «Nicht die Machiavelli, sondern die Polentini.»
Und ihm war, als hörte er Argalias altes Lied über ein
Grießbreimädchen. Wäre sie eine Sünde, würde ich sie begehen, wäre
sie to~ tät ich mich nach ihr sehnen. Il Machia merkte, wie ihm
Tränen über die Wangen rannen. Und er sang vor sich hin: Wäre sie
ein Bote, hätte ich sie gesandt, sang aber so leise, dass er die
Jungfer aus Fleisch und Blut nicht störte, die er aus dem Palast
des Kummers zurückgeholt hatte. Er war allein mit seinen Gedanken
an Argalia, mit seiner frischen Wut und der alten, süßen Erinnerung
an die Kindheit, und er weinte.
Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter von ]acques Creur de
Bourges, Kaufmann aus Montpellier. Ich heiße Angelique, und ich bin
die Tochter von ]acques Creur. Mein Vater war ein Händler und
brachte Nüsse, Seide und Teppiche aus Damaskus nach Narbonne. Man
beschuldigte ihn fälschlicherweise, die Mätresse des Königs von
Frankreich vergiftet ZU haben, also floh er nach Rom. Ich heiße
Angelique, und ich bin die Tochter von ]acques Creur; den der Papst
mit Ehren überhäufte. Man machte ihn zum Kapitän von sechzehn
päpstlichen Galeeren und sandte ihn zum Entsatz nach Rhodos, doch
erkrankte er unterwegs und starb. Ich heiße Angelique, und ich
gehöre zur Familie von ]acques Creur. Während meine Brüder und ich
in Geschäften mit der Levante unterwegs waren, wurde ich von
Piraten entführt und als Sklavin an den Sultan von Stambul
verkauft. Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter von ]acques
Creur. Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter von ]acques.
Ich heiße Angelique, und ich bin die Tochter. Ich heiße Angelique,
und ich bin. Ich heiße Angelique. In jener Nacht schlief er an
ihrer Seite. Wenn sie erwachte, wollte er ihr erzählen, was
geschehen war, wollte sanft und freundlich sein, und sie würde ihm
danken, würde ganz die Dame sein, die sie einst gewesen war, eine
Frau aus wohlhabendem Kaufmannshaus. Ihn bedrückte, welch Unglück
sie erlitten hatte. Zweimal war sie von den Berberpiraten gefangen
genommen worden, erst von den Franzosen, dann von den Türken; wer
weiß, welche Misshandlungen sie erdulden musste, wie viele Männer
sie besessen hatten und woran sie sich erinnerte. Aber noch war sie
nicht frei. Edel wie eine Aristokratin sah sie aus, aber sie war
bloß eine Gespielin im Haus der Freuden. Falls ihre Brüder noch
lebten, würden sie sich gewiss freuen, wenn sie zurückkehrte, ihre
verschollene Schwester, ihre verlorene, geliebte Angelique. Sie
würden sie Alessandra Fiorentina abkaufen, sodass sie nach Hause
zurückkonnte, wo immer ihr Zuhause auch sein mochte, in Narbonne,
in Montpellier oder in Bourges. Vielleicht durfte er sie vögeln,
ehe es dazu kam. Er wollte das am Morgen mit der ruffiana
besprechen. Schließlich war ihm das Haus Mars noch etwas schuldig,
da er den Wert beschädigter Ware vervielfachen konnte. Herrliche
Angelique, schmerzensreiche Angelique. Er hatte etwas Wunderbares
und beinahe Selbstloses vollbracht.
In jener Nacht kam ihm ein seltsamer Traum. Ein
orientalischer padishah saß bei Sonnenuntergang unter einer kleinen
Kuppel hoch oben in einem fünfstöckigen, pyramidenförmigen Gebäude
aus rotem Sandstein und blickte hinab auf einen goldenen See.
Leibdiener schwangen hinter ihm mächtige Federfächer, und neben ihm
stand ein europäisch aussehender Mann, vielleicht auch eine Frau,
jedenfalls eine Gestalt mit langem gelbem Haar in einem Mantel aus
bunten Lederflicken, und dieser Jemand erzählte eine Geschichte
über eine verschwiegene Prinzessin. Der Träumer sah die gelbhaarige
Gestalt nur von hinten, doch war der padishah klar zu erkennen, ein
großer, hellhäutiger Mann mit gewaltigem Schnurrbart, attraktiv,
schmuckbehängt, allerdings ein wenig zu fettleibig. Es waren
fraglos Traumgestalten, die er da heraufbeschworen hatte, denn der
Fürst konnte keinesfalls der türkische Sultan sein, und der
gelbhaarige Höfling hörte sich ganz und gar nicht wie ein erst
kürzlich ernannter italienische Pascha an.
«Ihr redet nur von der Liebe zweier Liebender», sagte der padishah,
«wir aber denken an die Liebe eines ganzen Volkes für seinen Herrn,
denn wir haben ein großes Verlangen danach, geliebt zu
werden.»
«Die Liebe ist launisch», erwiderte der andere Mann. «Heute liebt
man Euch, morgen vielleicht schon nicht mehr.»
«Was dann?», fragte der padishah. «Sollen wir zum grausamen
Tyrannen werden? Sollen wir so regieren, dass man uns zu hassen
beginnt?»
«Nicht zu hassen, aber zu fürchten», antwortete der Gelbhaarige.
«Denn allein die Furcht ist von Dauer.» «Seid kein Narr»,
entgegnete ihm der padishah. «Jedermann weiß, dass Furcht sich sehr
wohl mit Liebe verträgt.»
Geschrei, Licht und offene Fenster weckten ihn, und überall
hasteten Frauen umher, während die Zwergin Giulietta ihm ins Ohr
schrie: «Was habt Ihr mit ihr gemacht?» Kurtisanen ohne den
üblichen Schick, Haare zerzaust, Gesichter ungeschminkt und
ungewaschen, die Nachtgewänder verrutscht, rannten kreischend von
Zimmer zu Zimmer. Die Türen waren weit aufgerissen, und Tageslicht,
das Gegengift jeden Zaubers, strömte mit brutaler Helligkeit durch
das Haus Mars. Was für Drachen diese Weiber doch waren, welch
elende, unflätige Nager mit Mundgeruch und hässlichen Stimmen! Er
setzte sich auf und langte nach seinen Kleidern. «Was habt Ihr
getan?» Nichts hatte er getan. Er hatte ihr geholfen, ihr den Kopf
frei gemacht, ihren Geist erlöst und sie kaum angerührt. Der
ruffiana schuldete er jedenfalls bestimmt kein Geld. Warum setzte
sie ihm bloß so zu? Weshalb die ganze Aufregung? Am besten verließ
er gleich das Haus. Er würde zu Ago, Biagio und di Romolo gehen und
erst einmal frühstücken. Bestimmt gab es auch allerhand Arbeit zu
erledigen. «Ihr blöder Ochse», schrie Giulietta Veronese, «mischt
Euch in Dinge ein, von denen Ihr nichts versteht.» Irgendetwas war
geschehen. Er war jetzt anständig angezogen und eilte mit aller
Würde, die er aufbringen konnte, durch das entzauberte Haus Mars.
Kurtisanen verstummten, wenn er an ihnen vorüberkam. Manche zeigten
mit dem Finger auf ihn; ein, zwei Frauen fauchten wütend. Im großen
Salon war auf der Seite, die zum Arno ging, eines der Fenster
zerschlagen. Er musste in Erfahrung bringen, was vorgefallen war.
Doch plötzlich stand die Herrin des Hauses vor ihm, La Fiorentina,
auch ohne jede kosmetische Hilfe immer noch schön. «Herr Sekretär»,
sagte sie mit eisiger Höflichkeit. «Ihr werdet in diesem Haus nie
wieder willkommen sein.» Dann verschwand sie mit wehenden
Unterröcken, und das Geschrei, das Wehklagen begann aufs Neue.
«Gott verfluche Euch», sagte Giulietta, die kupplerische rufftana.
«Sie war einfach nicht aufzuhalten. Sie rannte aus dem Zimmer, in
dem Ihr wie ein verwesender Leichnam geschlafen habt, und keiner
konnte sich ihr in den Weg stellen.»
Solange du betäubt warst und von der Tragödie deines Lebens nichts
ahntest, konntest du leben, doch als die Einsicht zurückkehrte, als
sie gewissenhaft wiederhergestellt wurde, trieb sie dich in den
Wahnsinn. Die wiedererwachte Erinnerung machte dich irre, die
Erinnerung an Demütigungen, an so viele Aufdringlichkeiten, so
viele Eindringlichkeiten, die Erinnerung an Männer. Kein
Gedächtnispalast, sondern ein Bordell der Erinnerungen, und
jenseits dieser Erinnerungen das Wissen darum, dass jene, die dich
liebten, tot waren, dass es kein Entrinnen gab. Solches Wissen ließ
dich aufspringen und davonrennen. Ranntest du nur schnell genug,
gelang es vielleicht, der Vergangenheit zu entkommen, auch der
Erinnerung an all das, was dir angetan worden war, selbst der
Erinnerung an die Zukunft, an die drohende, unausweichliche
Trostlosigkeit. Gab es Brüder, die dich retten konnten? Nein, deine
Brüder waren tot. Vielleicht war die Welt selbst auch tot. Ja,
richtig. Wollte man zur toten Welt gehören, musste man sterben. Man
musste so schnell rennen, wie man konnte, bis man zur Grenze
zwischen den Welten kam, nur hörte man dann nicht auf, man rannte
über die Grenze, als gäbe es sie nicht, als wäre Glas bloß Luft und
die Luft Glas, als zerstöbe die Luft wie Glas, wenn man fiel. Die
Luft zerschlitzte einen, als bestünde sie aus lauter Messerklingen.
Es tat gut zu fallen. Es tat gut, aus dem Leben zu fallen. Es war
gut. «Argalia, mein Freund», sagte Niccolo zum Phantombild des
Verräters. «Du schuldest mir ein Leben.»
Nachdem Tansen das Lied des Feuers gesungen
hatte, jenen 1. V deepak raag, der in dem vom Skelett und der
Matratze geführten Haus Skanda allein durch die Macht der Musik
sämtliche Lampen anzündete, litt der Meister an ernsthaften
Verbrennungen. In der Ekstase seines Vortrags hatte er gar nicht
bemerkt, wie er sich selbst versengte, als er sich im wilden
Auflodern seines Genies erhitzte. In einer königlichen Sänfte
schickte Akbar ihn heim nach Gwalior und bat ihn, sich auszuruhen
und erst zurückzukehren, wenn seine Wunden verheilt wären. In
Gwalior suchten ihn zwei Schwestern auf, Tana und Riri, die seine
Verletzungen derart betrübten, dass sie megh malhar sangen, das
Lied des Regens. Und obwohl Mian Tansen geschützt im Schatten lag,
netzte ihn bald ein sanftes Nieseln. Es war kein gewöhnlicher
Regen. Kaum begannen Riri und Tana zu singen, nahmen sie ihm die
Verbände ab, damit die Tropfen die Wunden wuschen und seine Haut
heilten. Ganz Gwalior war verblüfft von diesem Wunder des
Regenliedes, und als Tansen nach Sikri zurückkehrte, erzählte er
dem Herrscher von den herrlichen Mädchen. Gleich sandte Akbar
Birbal aus, um die Schwestern an den Hof einzuladen, und er ließ
ihnen zum Dank Schmuck und Gewänder überbringen. Doch als Tana und
Riri sich mit Birbal trafen und hörten, was er ihnen zu sagen
hatte, wurden ihre Mienen ernst; sie zogen sich zum Gespräch zurück
und weigerten sich, die Geschenke des Herrschers anzunehmen. Erst
einige Zeit später ließen sie sich wieder blicken und sagten
Birbal, am nächsten Morgen würden sie ihm ihre Antwort geben.
Birbal verbrachte die Nacht als Gast des Maharadschas von Gwalior
und feierte und trank in dessen prächtigem Schloss; als er aber am
nächsten Tag zu Tana und Riri zurückkehrte, herrschte tiefe Trauer
im ganzen Haus. Die Schwestern hatten sich in einem Brunnen
ertränkt. Als strenggläubige Brahmaninnen hatten sie dem
muslimischen Herrscher nicht dienen wollen, aber gefürchtet, er
könne, wenn sie sich weigerten, Akbar zu Diensten zu sein, die
Absage als Beleidigung verstehen und ihre Familie darunter leiden
lassen. Um dies zu verhindern, hatten sie lieber ihr Leben
geopfert.
Die Neuigkeit vom Selbstmord der Schwestern mit den verzauberten
Stimmen stürzte den Herrscher in tiefe Depressionen, und wenn der
Herrscher deprimiert war, hielt die ganze Stadt den Atem an. Im
Zelt des Neuen Kults fanden die Wassertrinker und Weinliebhaber es
unmöglich, ihre Dispute fortzusetzen; sogar die königlichen Frauen
und Konkubinen hörten auf, sich zu zanken. Als die Tageshitze
nachließ, wartete Niccolo Vespucci, der sich Mogor dell’ Amore
nannte, vor den königlichen Gemächern, wie es ihm aufgetragen
worden war, doch hatte der Herrscher an diesem Tag nichts für seine
Geschichten übrig. Erst kurz vor Sonnenuntergang stürmte er in
Begleitung seiner Wachen und Fächerwedler aus seinem Gelass und
strebte dem Panch Mahal zu. «Ach, Ihn>, rief er beim Anblick
Mogors im Tone eines Mannes, der die Existenz seines Besuchers
vergessen hatte, und sagte dann, während er sich bereits wieder von
ihm abwandte: «Na schön, kommt mit.» Der Ring der Leiber, die den
Herrscher schützten, öffnete sich, und Mogor wurde in den Kreis der
Macht eingelassen. Er musste rasch ausschreiten. Der Herrscher
hatte es eilig.
Unter dem Dach der kleinen Kuppel hoch oben auf dem Panch Mahal
blickte der Herrscher von Hindustan über Sikris goldenen See.
Hinter ihm schwangen Leibdiener große Federfächer, und neben ihm
stand der gelbhaarige Europäer, der ihm eine Geschichte über eine
verschwiegene Prinzessin erzählen wollte. «Ihr redet nur von der
Liebe zweier Liebender», sagte der Herrscher, «wir aber denken an
die Liebe eines ganzen Volkes für seinen Herrn, nach der uns
verlangt, wie wir gestehen müssen. Diese Mädchen starben, weil sie
die Teilung der Einheit vorzogen, ihre Götter unseren Göttern, den
Hass der Liebe. Wir folgern daraus, dass die Liebe des Volkes
launisch ist. Und was folgt aus diesem Schluss? Sollen wir zum
grausamen Tyrannen werden? Sollen wir so regieren, dass alle Welt
uns fürchtet? Ist nur die Furcht von Dauer?»
«Als der große Krieger Argalia die überirdisch schöne Qara Köz traf», erwiderte Mogor dell’Amore, «begann eine Geschichte, die den Glauben aller Menschen erneuerte - Euren Glauben, Großer Mogul, Gatte aller Gatten, Liebhaber aller Liebhaber, König aller Könige, Mann aller Männer! -, an die unsterbliche Macht und außergewöhnliche Kraft des menschlichen Herzens zur Liebe.»
Als der Herrscher schließlich vom Panch Mahal
herabstieg, um sich zur Nachtruhe zu begeben, war der Mantel der
Traurigkeit von seinen Schultern geglitten. Der Stadt entfuhr ein
kollektiver Seufzer, und die Sterne am Himmel leuchteten ein wenig
heller. Wie jedermann weiß, gefährdet die Trauer eines Herrschers
die Sicherheit der Welt, da ihr die Fähigkeit zur Metamorphose
eignet, zur Verwandlung in Schwäche oder in Gewalt - oder in
beides. Die gute Laune des Herrschers aber ist die beste Garantie
für ein ereignisloses Leben, und falls der Fremde Akbars Stimmung
gebessert hatte, gebührte ihm großer Dank; er hätte sich das Recht
verdient, als Freund in der Not angesehen zu werden. Der Fremde,
und vielleicht auch die Heldin seiner Geschichte, die Dame
Schwarzauge, Prinzessin Qara Köz.
In jener Nacht träumte der Herrscher von der Liebe. Wieder einmal
war er in seinem Traum der KalifHarun al-Rashid, der unerkannt
durch die Straßen einer Stadt wandelte, diesmal durch Isbanir.
Plötzlich überfiel ihn, den Herrscher, ein Juckreiz:., den niemand
zu heilen vermochte. Unverzüglich kehrte er in seinen Palast nach
Bagdad zurück und kratzte sich pausenlos auf der zwanzig Meilen
langen Reise. Kaum daheim, badete er in Eselsmilch und bat seine
Lieblingskonkubinen, ihn am ganzen Körper mit Honig einzureiben.
Dennoch trieb ihn der Juckreiz schier in den Wahnsinn, und die
Ärzte vermochten kein Heilmittel zu finden, obwohl sie ihn
schröpften und Blutegel ansetzten, bis sich die Pforten des Todes
vor ihm auftaten. Also entließ er die Quacksalber, und sobald er
wieder bei Kräften war, entschied er, wenn er schon nicht geheilt
werden konnte, bliebe ihm wohl nichts anderes übrig, als sich
derart gründlich abzulenken, dass er den Juckreiz nicht mehr
spürte.
Er rief die berühmtesten Narren seines Reiches zu sich, damit sie ihn zum Lachen brachten, außerdem die weisesten Philosophen, damit sie seine Verstandeskraft herausforderten. Liebestänzerinnen weckten sein Verlangen, das die geschicktesten Kurtisanen stillten. Er baute Paläste, Straßen, Schulen und Rennbahnen, und all dies war wohlgefällig, doch linderte es den Juckreiz nicht im Mindesten. Er ließ über ganz Isbanir Quarantäne verhängen und die Gossen ausräuchern, um die Juckplage an ihrer Wurzel zu packen, doch gab es in Wahrheit nur wenige Leute, die so schlimm wie er unter der juckqual litten. Als er dann eines Nachts heimlich und verstohlen durch die Straßen Bagdads lief, sah er hoch oben in einem Fenster eine Laterne, und während er aufblickte, erhaschte er das Gesicht einer Frau, von einer Kerze erhell~ weshalb es ihm wie aus Gold erschien. Für diesen einen kurzen Moment hörte der Juckreiz vollständig auf, in derselben Sekunde aber, da sie die Läden schloss und die Kerze ausblies, meldete er sich mit verdoppelter Stärke zurück. Erst jetzt begriff der Kalif, warum er diese Qualen litt. In Isbanir nämlich hatte er ebendieses Gesicht einen gleich kurzen Moment lang aus einem anderen Fenster blicken sehen, und danach begann das jucken. «Finde sie», sagte er seinem Wesir, «denn sie ist die Hexe, die mich verzaubert hat.»
Leichter gesagt als getan. Die Männer des
Kalifen brachten ihm an jedem der nächsten sieben Tage jeweils
sieben Frauen, doch wenn er ihnen befahl, ihm ihr Gesicht zu
zeigen, sah er sogleich, dass die Gesuchte nicht darunter war. Am
achten Tag jedoch kam eine verschleierte Frau ungebeten an seinen
Hof, verlangte eine Audienz und behauptete, diejenige zu sein, die
den Kalifen heilen könne. Harun al-Rashid bat sie gleich zu sich.
«Ihr seid also die Hexe!», rief er. «Ich bin nichts dergleichen»,
antwortete sie. «Doch seit ich in den Straßen von Isbanir einen
Blick auf das von einer Kapuze verdeckte Gesicht eines Mannes
geworfen habe, hat mich ein unerträgliches jucken überfallen. Ich
verließ sogar meine Heimatstadt und zog hierher nach Bagdad, in der
Hoffnung, der Umzug würde mein Leid lindern, doch nichts hat
geholfen. Ich habe versuch~ mich abzulenken, mich zu beschäftigen,
habe große Teppiche gewebt und viele Gedichte geschrieben, aber
genützt hat es nichts. Dann hörte ich, dass der Kalif von Bagdad
nach einer Frau such~ deren Anblick einen Juckreiz bei ihm
ausgelöst hatte, und da kannte ich die Antwort auf dieses
Rätsel.»
Mit diesen Worten schlug sie kühn den Schleier zurück, und auf der
Stelle legte sich der Juckreiz des Kalifen und wurde von einem
völlig anderen Gefühl verdrängt. «Bei dir auch?»fragte er, und sie
nickte. «Kein jucken mehr. Stattdessen etwas anderes.» - «Auch eine
Empfindung, die kein Mann heilen kann», sagte Harun al-Rashid. «Und
in meinem Fall keine Frau», erwiderte sie. Der Kalif klatschte in
die Hände und kündete seine bevorstehende Hochzeit an; und er und
die Begum lebten glücklich bis, ja bis der Tod kam, das Ende aller
Tage. Dies war der Traum des Herrschers. Kaum verbreitete sich in
den edlen Villen Sikris und den gemeinen Gassen der Stadt die
Geschichte der verschwiegenen Prinzes- sin, erfasste die Hauptstadt
ein träges Delirium. Ohne Unterlass begann man, von der Schönen zu
träumen, Frauen wie Männer, Höflinge wie Straßengören, sadhus wie
Huren. Die verschwundene Mogulzauberin aus dem fernen Herat, das
Argalia, ihr Geliebter, später einmal das «Florenz des Ostens»
nennen sollte, bewies, dass ihre Macht weder vom Lauf der Jahre
noch gar von ihrem höchstwahrscheinlichen Tod geschmälert worden
war. Sie verzauberte selbst die Königinmutter Hamida Bano, die
gewöhnlich gar keine Zeit für Träume hatte, jene Qara Köz aber, die
Hamida Bano im Schlaf sah, war der wahre Inbegriff muslimischer
Hingabe und züchtigen Benehmens. Keinem fremden Ritter wurde es
gestattet, ihre Reinheit zu beschmutzen; die Trennung von ihrem
Volk bereitete der Prinzessin großen Kummer, obwohl daran, das muss
hier gesagt werden, ihre ältere Schwester die Schuld trug. Die alte
Prinzessin Gulbadan hingegen erträumte sich eine gänzlich andere
Qara Köz, eine freigeistige Abenteurerin, deren ungenierte, gar
gotteslästerliche Fröhlichkeit ein wenig schockierend, doch stets
höchst unterhaltsam war, und die Geschichte ihrer Liaison mit dem
attraktivsten Mann der Welt war so köstlich, dass Prinzessin
Gulbadan sie beneidet hätte, wäre sie dazu in der Lage gewesen,
genoss sie es doch viel zu sehr, mehrere Nächte die Woche diese
Liebe gleichsam stellvertretend zu erleben. Für das Skelett
dagegen, die Herrin von Haus Skanda am See, wurde Qara Köz zur
Verkörperung weiblicher Sexualität schlechthin, zu einer Frau, die
allnächtlich schier unglaubliche gymnastische Verrenkungen zum
voyeuristischen Vergnügen der Kurtisane vollbrachte. Allerdings
bescherte die verschwiegene Prinzessin nicht nur angenehme Träume.
Dame Man Bai, die Geliebte des Thronfolgers, fand, das absurde
Theater um die verschwundene Frau lenke nur von ihr selbst ab, der
künftigen Königin Hindustans, die schon aufgrund ihrer Jugend und
ihrer Bestimmung Mittelpunkt der Phantasien ihrer Untergebenen sein
sollte. Und Jodha, Königin Jodha, die allein in ihren Gemächern
saß, unbesucht von ihrem Schöpfer und König, begriff, dass ihr die
Ankunft der verschwiegenen Prinzessin eine imaginäre Rivalin
bescherte, deren Macht sie vielleicht nicht standhalten
konnte.
Offenbar bedeutete Dame Schwarzauge vielen Menschen alles Mögliche,
sei sie ein Beispiel, eine Geliebte, Widersacherin oder Muse; in
ihrer Abwesenheit wurde sie wie ein Behältnis genutzt, in das die
Menschen ihre Vorlieben schütteten, ihre Abneigungen, Vorurteile,
Eigenarten, Geheimnisse, Bedenken und Freuden, aber auch die nicht
verwirklichten Seiten ihrer Persönlichkeit, ihre Schatten, ihre
Unschuld und Schuld, ihre Zweifel und Gewissheiten, die
großzügigsten und widerwilligsten Reaktionen auf ihrem Weg durch
die Welt. Und ihr Erzähler, Niccolo Vespucci, der «Mogul der
Liebe», der neue Günstling des Herrschers, wurde rasch zum
gefragtesten Gast der Stadt. Am Tage standen ihm sämtliche Türen
offen, und bei Nacht war die begehrteste aller nur erdenklichen
Auszeichnungen eine Einladung zu seinem bevorzugten Refugium, dem
Haus Skanda, dessen beiden Königinnen, der dürren und der dicken
Doppelgottheit, es längst freistand, unter Sikris Großen und
Mächtigen zu wählen. Vespuccis monogame Beziehung zum knochigen,
unermüdlichen Skelett Mohini fand man allgemein bewundernswert.
«Die Hälfte der Damen Sikris würde Euch die Hintertür öffnen»,
gestand sie ihm erstaunt. «Kann ich denn wirklich alles sein, was
Ihr begehrt?»
Beschwichtigend schloss er sie in seine Arme. «Du solltest wissen»,
sagte er, «dass ich den weiten Weg nicht gekommen bin, um hier
herumzuvögeln.»
Warum aber war er gekommen? Das war eine Frage, die viele der
klügsten Köpfe der Stadt wie auch einige ihrer gehässigsten Geister
beschäftigte. Das wachsende Interesse der Bürgerschaft an des
fernen Florenz’ Trinkgelage bei Tage und seinem sexbesessenen
Nachtleben, das Mogor dell’Amore während lang an-dauernder Bankette
in aristokratischen Villen und nach einigen Gläsern Rum in den
Feierabendspelunken der niederen Stände schilderte, weckte in manch
einem den Verdacht, es handele sich dabei um eine hedonistische
Verschwörung, die jegliche moralische Widerstandskraft des Volkes
schwächen sowie die moralische Autorität des Einen Wahren Gottes
untergraben sollte. Badauni, der puritanische Anführer der
Wassertrinker und Mentor des immer rebellischer werdenden
Kronprinzen Salim, hasste Vespucci, seit er mit dem Fremden im Zelt
des Neuen Kultes aneinander geraten war. Inzwischen hielt er ihn
für ein Werkzeug des Teufels. «Als hätte Euer zunehmend gottloser
Vater diesen satanischen Homunkulus heraufbeschworen, damit er ihm
helfe, das Volk zu verderben», sagte er zu Salim und fügte mit
drohendem Unterton hinzu: «Es muss etwas getan werden, falls denn
jemand Manns genug ist, es zu tun.»
Prinz Salims Gründe für seine Allianz mit Badauni waren allerdings
bloß jugendlicher Natur, hatte er sich doch mit Abul Fazls Gegner
allein deshalb verbündet, weil Abul Fazl der engste Vertraute
seines Vaters war. Puritanismus lag ihm fern, schließlich war er
Sybarit in einem Maße, das Badauni entsetzt hätte, wäre dem dünnen
Mann denn gestattet worden, darüber Bescheid zu wissen. Folglich
blieb Salim unbeeindruckt von Badaunis Theorie, der Herrscher
könnte aus der Hölle einen Dämon der Lust heraufbeschworen haben.
Er mochte Vespucci nicht, weil der Fremde als einziger Kunde des
Hauses Skanda frei über Madame Skelett verfügen konnte; und trotz
der immer hektischer werdenden Gefälligkeiten von Dame Man Bai war
des Kronprinzen Sehn-sucht nach Mohini im Laufe der Jahre noch
gewachsen. «Ich bin der nächste Herrscher», sagte er sich wütend,
«und dennoch verweigert man mir in diesem arroganten Lusthaus die
einzige Frau, nach der es mich verlangt.» Die Dame Man Bai
reagierte äußerst ungehalten, als sie erfuhr, dass ihr Verlobter
sich noch immer sehnlichst wünschte, die einstige Sklavin zu
vögeln. Ihre Wut paarte sich mit dem Hass auf jene Traumprinzessin,
die Vespucci heimlich in die Träume all ihrer Bekannten
geschmuggelt hatte, und schwoll zur suppenden Eiterbeule ihrer
Psyche an, die irgendwie, vermutlich mit Gewalt, aufgestochen
werden musste.
Als sich Salim das nächste Mal dazu herabließ, ihr einen Besuch
abzustatten, gab sie sich so verführerisch, wie sie nur konnte; sie
steckte sich eine Traube zwischen die Zähne, damit er mit der Zunge
danach angelte. «Wisst Ihr eigentlich, mein Lieber, welche Folgen,
welche weitreichenden und gefährlichen Folgen es für Euch hat, wenn
dieser Mogor den Herrscher von seiner Abstammung zu überzeugen
vermag,,, murmelte sie ihrem Geliebten fragend ins Ohr, «oder, was
noch wahrscheinlicher ist, wenn der Herrscher aus Gründen, die nur
er selbst kennt, an diese Abstammung zu glauben vorgibt?,, Prinz
Salim war für gewöhnlich darauf angewiesen, dass andere Menschen
ihm derart Komplexes wie die weitreichenden Folgen eines
Sachverhalts darlegten, weshalb er Dame Man Bai bat, sie ihm zu
erläutern. «Versteht Ihr denn nicht, 0 künftiger König von
Hindustan,,, schnurrte sie, «dass Eurem Vater dadurch die
Behauptung ermöglicht würde, ein anderer habe größeres Anrecht auf
den Thron als Ihr? Und was wäre - sollte das zu weit hergeholt
klingen -, wenn er diesen Speichellecker als seinen Sohn
adoptierte? Ist Euch der Thron etwa nicht mehr wichtig? Oder werdet
Ihr darum kämpfen, mein Lieber? Als die Frau, die sich nichts
sehnlicher wünscht, als künftig Königin an Eurer Seite zu sein,
täte es mir leid, wenn ich erfahren sollte, dass Ihr kein König in
spe mehr seid, sondern nur noch ein Käfer ohne
Rückgrat.,,
Sogar die engsten Vertrauten des Herrschers reagierten mit
zunehmender Skepsis und wachsendem Misstrauen gegenüber Mogor dell’
Amores wahren Absichten und seiner Anwesenheit am Hofe. Die
Königinmutter Hamida Bano hielt ihn für einen Agenten des
ungläubigen Westens, der geschickt worden war, ihr heiliges
Königreich zu schwächen und in Verwirrung zu stürzen. Nach Ansicht
von Birbal und Abul Fazl war er zweifellos ein übler Schurke, der
wegen einer grausigen Tat von daheim geflohen war, ein Betrüger,
der sich in ein neues Leben drängte, da ihm das alte nicht länger
lebenswert schien. Vielleicht wollte man ihn verbrennen, ihn
aufhängen, vierteilen oder doch zumindest foltern und einsperren,
falls er dorthin zurückkehrte, woher er kam. «Wir sollten uns nicht
wie die ahnungslosen, leichtgläubigen Menschen aus dem Osten
benehmen, für die er uns offenbar hält», sagte Abul Fazl. «Was zum
Beispiel den Tod von Lord Hauksbank betrifft, so habe ich nie an
seiner Schuld gezweifelt.»
Birbals Sorge galt dem Herrscher selbst. «Ich glaube nicht, dass er
Euch ein Leid zufügen will», sagte er, «doch hat er Euch mit einem
Zauber belegt, der Euch letzten Endes schaden mag, da er Euch von
jenen wichtigen Dingen ablenkt, denen Euer Augenmerk eigentlich
gelten sollte.»
Der Herrscher war keineswegs überzeugt und neigte zu Mitgefühl. «Er
ist ein Heimatloser, der einen Platz in der Welt sucht», sagte er
zu seinen Vertrauten. «Am Fuße des Hügels hat er sich im Haus
Skanda, einer Stätte des Vergnügens, eine Art Heim geschaffen und
lebt unter eheähnlichen Umständen mit einer klapperdürren Hure
zusammen. Wie sehr muss es ihn da nach Liebe verlangen! Einsamkeit
ist des Wanderers Los; er ist ein Fremdling, wohin er auch geht,
und überlebt allein durch pure Willenskraft. Wann hat ihn zuletzt
eine Frau gelobt und ihn ihren Schatz genannt? Wann hat er sich
zuletzt geliebt, geehrt oder auch nur geachtet gefühlt? Wenn einen
nicht nach einem anderen Menschen verlangt, beginnt etwas zu
sterben. Der Optimismus versiegt, 0 weiser Birbal. Abul Fazl, 0
behutsamer Beschützer, eines Menschen Kraft ist nicht
unerschöpflich. Ein Mann braucht des Tags einen Mann, der sich ihm
zuwendet, und eine Frau, die sich des Nachts in seine Arme
schmiegt. Wir glauben, unser Mogor hat eine solche Stärkung schon
lange nicht mehr erfahren. Es glühte ein Licht in ihm, als wir ihn
trafen, das war schon fast erloschen, doch leuchtet es in unserer -
oder in ihrer, der mageren Mohini - Gesellschaft von Tag zu Tag
heller. Vielleicht rettet sie ihm das Leben. Falls es stimmt,
wissen wir nicht, wie dieses Leben gewesen ist. Sein Name, erzählte
uns Pater Acquaviva, ist in seiner Stadt berühmt; sollte dem
wirklich so sein, fehlt ihm heute die entsprechende Protektion. Wer
weiß schon, warum er verstoßen wurde? Wir finden jedenfalls, dass
er uns erfreut, und vorläufig liegt uns nichts daran, seine
Geheimnisse zu ergründen. Mag sein, er ist ein Verbrecher,
vielleicht sogar ein Mörder, das können wir nicht sagen. Wir wissen
nur, dass er um die halbe Welt reiste, um eine Geschichte hinter
sich zu lassen und eine andere zu erzählen, dass die Geschichte,
die er uns brachte, sein ganzes Gepäck war und dass sein innerstes
Verlangen jenem von Dashwanth gleicht - soll heißen, er will in die
Geschichte eindringen, die er erzählt, und darin ein neues Leben
beginnen. Kurz und gut, er ist wie ein Geschöpf der Fabelwelt, und
ein gutes afsanah, ein Abenteuer, hat noch nie jemandem geschadet.»
«Mein Herr, ich hoffe, wir müssen zu unseren Lebzeiten nicht mehr
am eigenen Leibe erfahren, wie töricht diese Bemerkung ist»,
erwiderte Birbal mit ernster Miene. Der Ruf der verstorbenen
Khanzada Begum, der älteren Schwester der verschwiegenen
Prinzessin, verschlechterte sich in ebendem Maße, in dem die
Schwärmerei der Stadt für die jüngere Schwester zunahm. Jene große
Dame, die nach ihrer triumphalen Rückkehr aus Jahren der
Gefangenschaft bei Shaibani Khan zur Heldin am Hof von Akbars Vater
Babar avanciert war, um in der Folge eine starke Machtstellung im
Mogulhaushalt einzunehmen, eine Frau, die man in allen
Staatsangelegenheiten zu Rate weg, wurde nun zum Inbegriff aller
grausamen Schwestern, und ihr einst so verehrter Name verkam zu
einer Beleidigung, die Frauen sich wütend an den Kopf warfen, wenn
sie gegeneinander Vorwürfe der Eitelkeit, Eifersucht,
Engstirnigkeit oder des Verrats erhoben. Viele Menschen begannen
den Verdacht zu hegen, dass die verschwiegene Prinzessin sich
ebenso wegen der Behandlung, die ihrer Schwester in den Händen von
Khanzada widerfahren war, wie wegen ihrer Vernarrtheit in einen
ausländischen Pascha aus dem Hause getrieben fühlte, eine Wahl
übrigens, die auf rätselhaften, unbekannten Wegen in völlige
Vergessenheit geraten war. Der öffentliche Widerwille gegen die
«böse Schwester» sollte im Laufe der Zeit aber noch schlimme Folgen
haben. Etwas Garstiges stieg aus der Geschichte auf, ein
grünliches, pestilentes Wölkchen der Zwietracht schwebte aus der
Geschichte empor und infizierte die Frauen von Sikri, weshalb dem
Palast Berichte über bittere Streitigkeiten zwischen zuvor sich
liebenden Schwestern zu Ohren kamen, über Unterstellungen und
Klagen, unüberbrückbare Brüche und extreme Entfremdungen, über
Gezänk und gar über Messerstechereien, über das Aufbrodeln von
Unmut und einen Groll, von dem die fraglichen Frauen kaum etwas
geahnt hatten, ehe Khanzada Begum vom Fremden mit dem gelben Haar
die Maske vom Gesicht gezogen worden war. Dann breiteten sich die
Unruhen immer weiter aus, bis schließlich sogar Vettern und
Cousinen betroffen waren, danach entferntere Verwandte und
schließlich alle Frauen, ob nun verwandt oder nicht; und selbst im
Harem des Herrschers schwoll ein feindseliger Tumult in bislang
ungekanntem und schlichtweg inakzeptablem Maße an.
«Frauen haben von jeher über Männer geklagt», sagte Birbal, «die haben sie schließlich schon immer für launisch, verräterisch und schwach gehalten, doch jetzt erheben sie auch gegeneinander die schlimmsten Vorwürfe. Das eigene Geschlecht beurteilen sie nach strengeren Maßstäben, erwarten mehr von ihresgleichen -Treue, Verständnis, Glaubwürdigkeit und Liebe -, nur haben sie plötzlich offenbar alle gemeinsam entschieden, dass diese Erwartungen enttäuscht worden sind.» Mit höhnischem Unterton fügte Abul Fazl noch hinzu, dass des Herrschers Glaube an die Harmlosigkeit von Geschichten immer stärker ins Wanken gerate. Alle drei, die beiden Höflinge und der Herrscher, wussten, dass die Männer diesen Krieg der Frauen nicht beenden konnten. Also wurden die Königinmutter Hamida Bano und die alte Prinzessin Gulbadan zum Palast der Träume gebeten. Bei ihrer Ankunft stießen und schubsten sie sich, und jede der alten Damen klagte lauthals über die gehässige Tücke der anderen, was offensichtlich machte, wie sehr die Krise bereits außer Kontrolle geraten war.
Haus Skanda war einer der wenigen Orte in Sikri, der gegen dieses Phänomen immun geblieben war, weshalb Matratze und Skelett schließlich den Hügel hinanstiegen und eine Audienz beim Herrscher begehrten, kannten sie doch die Lösung des Problems. Selbsterhaltung war die mächtige Triebfeder für diese unerhörte Tat. «Wir müssen handeln», hatte Skelett Mogor nachts im Bett ins Ohr geflüstert, «sonst dauert es keine fünf Minuten mehr, bis jemand behauptet, die ganze Aufregung sei Euer Verschulden, und dann sind wir erledigt.» Den Herrscher amüsierte der Wagemut der Huren, doch war er zugleich so besorgt, dass er ihrer Bitte nach einer Audienz nachkam und sie zu sich an den Rand des Besten aller Möglichen Becken kommen ließ. Er ruhte auf einem takht-Bett mitten auf dem Wasser in kissenweicher Behaglichkeit und bat die Kurtisanen, gleich zur Sache zu kommen. jahanpanah, Schirmherr der Welt», sagte das Skelett, «Ihr müsst allen Frauen Sikris befehlen, die Kleider abzulegen.» Der Herrscher fuhr auf. Das wurde interessant. «Alle Kleider?», fragte er, nur um sich zu vergewissern, dass er sie auch richtig verstanden hatte. «Jedes Fitzelchen», sagte die Matratze mit tödlichem Ernst. «Unterwäsche, Socken, sogar die Bänder im Haar. Lasst sie für einen Tag splitternackt durch die Stadt laufen, und mit diesem ganzen Unsinn ist es im Handumdrehen vorbei.»
«Der Ärger hat sich nur deshalb nicht auf das Bordell ausgedehnt», erklärte das Skelett, «weil wir Damen der Nacht keine Geheimnisse voreinander haben. Wir waschen uns gegenseitig die Geschlechtsteile und wissen genau, welche Hure die Syph hat und welche sauber ist. Wenn die Frauen der Stadt einander nackt in den Straßen sehen, nackt in der Küche, nackt im Basar, nackt überall, aus jedem Blickwinkel, wenn all ihre Makel und geheimen Haarigkeiten erkennbar sind, müssen sie über sich selbst lachen und werden begreifen, wie närrisch die Annahme war, diese merkwürdigen, komischen Figuren könnten ihre Widersacherinnen sein.,,
«Was nun die Männer betrifft», ergänzte Mohini, dasSkelett, «müsst Ihr ihnen befehlen, sich die Augen zu verbinden, und Ihr müsst es ihnen gleichtun. Einen Tag lang darf kein Mann in Sikri eine Frau anschauen, während die Frauen, die sich gleichsam unverborgen sehen, wieder miteinander auszukommen lernen.»
«Falls Ihr glaubt, ich würde da mitmachen», sagte Hamida Bano, «hat Euch der Fremde wirklich das Hirn aufgeweicht.» Akbar schaute seiner Mutter in die Augen. «Wenn der Herrscher etwas befiehlt», sagte er, «ist der Tod die Strafe für Ungehorsam.»
Der Himmel zeigte sich gnädig am Tag der
nackten Frauen. Die Sonne blieb immerzu hinter Wolken verborgen,
und es wehte ein kühler Wind. An diesem Tag ließen die Männer von
Sikri ihre Arbeit ruhen, kein Geschäft wurde geöffnet, niemand ging
aufs Feld, die Türen der Künstlerateliers und Werkstätten waren
geschlossen. Edelleute blieben im Bett, Musiker wie Höflinge
wandten das Gesicht zur Wand. Und in der Abwesenheit der Männer
lernten die Frauen der Hauptstadt aufs Neue, dass sie nicht aus
Lügen und Verrat, sondern bloß aus Haar, Haut und Fleisch
bestanden, dass sie alle gleichermaßen unvollkommen waren und
nichts Besonderes voreinander verbargen, keine Gifte und Intrigen,
ja, dass letzten Endes sogar Schwestern eine Möglichkeit finden
konnten, sich miteinander zu vertragen. Als die Sonne unterging,
zogen die Frauen sich wieder an; die Männer nahmen ihre Augenbinde
ab, und ein Mahl ähnlich den Speisen am Ende der Fastenzeit wurde
aufgetischt, ein Abendbrot aus Wasser und Früchten. Von jenem Tage
an war das Haus von Skelett und Matratze das einzige
Nachtetablissement, das des Herrschers Siegel der Anerkennung trug,
und die Hausdamen selbst wurden zu Akbars Ehrenratgeberinnen
ernannt. Es gab nur zwei schlechte Neuigkeiten; die erste betraf
den Kronprinzen Salim. Beim Zechen am Abend prahlte er vor allen,
die ihm zuhören wollten, er habe die Anweisung seines Vaters
missachtet, die Augenbinde abgenommen und stundenlang die nackte
Frauenschar angestiert. Kaum erfuhr Akbar davon, befahl er, seinen
Sohn zu verhaften. Abul Fazl schlug für des Prinzen Vergehen die
angemessenste Strafe vor. Am nächsten Morgen wurde Salim auf einem
großen Platz vor dem Harem nackt ausgezogen und von den
Haremswachen verprügelt, sowohl von Eunuchen als auch von Frauen
mit Ringerinnenfigur. Sie schlugen ihn mit Stöcken und bewarfen ihn
mit kleinen Steinen und mit Erdklumpen, bis er um Gnade und
Vergebung winselte. So blieb es nicht aus, dass sich der
trunksüchtige, opiumverwirrte Prinz eines Tages an Abul Fazl und
auch dem Herrscher von Hindustan rächen wollte.
Ein zweites, trauriges Ergebnis des Tages der Nackten war, dass
sich die alte Prinzessin Gulbadan eine Erkältung zuzog, und von da
an ging es rasch mit ihr bergab. Kurz vor ihrem Ende bat sie den
Herrscher zu sich und versuchte, den Ruf der verstorbenen Khanzada
Begum zu retten. «Als Euer Vater aus den langen Jahren des
persischen Exils heimkehrte und Euch endlich wiedersah», sagte sie,
«war es Khanzada Begum, die sich um Euch kümmerte, denn Hamida Bano
war natürlich nicht da. Vergesst nie, wie sehr Khanzada Euch
geliebt hat. Sie hat Eure Hände und Füße geküsst und gesagt, sie
erinnerten sie an die Hände und Füße Eures Großvaters. Was immer
also mit Qara Köz gewesen sein mag, vergesst nicht, was Khanzada
für Euch getan hat. Eine schlechte Schwester kann eine liebevolle
Großtante sein.» Gulbadan hatte sich stets bemüht, Klarheit in die
Vergangenheit zu bringen, doch jetzt begann sie, verwirrt zu
werden, und sprach Akbar manchmal mit «Humayun» an, dem Namen
seines Vaters, manchmal sogar mit dem seines Großvaters. Es war,
als versammelten sich in Gestalt Akbars alle drei Mogulherrscher an
ihrem Bett, um Wache zu halten, wenn ihre Seele diese Welt verließ.
Nach Gulbadans Tod packte Hamida Bano schreckliche Reue. «Ich habe
sie geschubst», sagte sie. «Habe sie so gestoßen, dass sie beinahe
hingefallen wäre, dabei war sie von uns beiden die Ältere. Ich habe
sie nicht geehrt, und jetzt lebt sie nicht mehr.»
Akbar tröstete seine Mutter. «Sie weiß, wie sehr Ihr sie geliebt
habt», sagte er. «Sie wusste, dass eine Frau eine schlechte
Schubserin, aber eine gute Freundin sein kann.»
Doch die Königinmutter blieb untröstlich. «Sie hat immer so jung
gewirkt», sagte sie. «Dem Engel ist ein Fehler unterlaufen. Ich bin
diejenige, die nur darauf wartet, sterben zu können.»
Sobald die vierzig Tage der Trauer für Gulbadan vorüber waren, rief
der Herrscher den Fremdling zum Palast der Träume. «Ihr braucht zu
lange», sagte er zu Mogor dell’Amore. «Ihr könnt das nicht ewig
hinziehen, wisst Ihr. Höchste Zeit, dass der Bericht zum Ende
kommt. Erzählt einfach die ganze verdammte Geschichte, so schnell
Ihr könnt - und bitte, bringt nicht wieder die ganze Frauenwelt
gegen Euch auf.»
«Schirmherr der Welt», erwiderte Mogor mit einer tiefen Verbeugung,
«nichts täte ich lieber, als meine ganze Geschichte zu erzählen,
denn nach nichts verlangt den Menschen mehr als eben danach. Doch
um Dame Schwarzauge in die Arme von Argalia, dem Türken, zu führen,
muss ich erst gewisse militärische Entwicklungen bei den
mächtigsten Machthabern zwischen dem Land Italien und jenem von
Hindustan erklären, womit natürlich Wurmholz Khan, der Kriegsherr
der Usbeken, Schah Ishmael oder Ismail, der Safawidenkönig Persiens
und der Sultan des Osmanischen Reiches gemeint sind.» «Ach,
verflucht seien alle Geschichtenerzähler», rief Akbar verärgert und
nahm einen kräftigen Schluck aus dem rotgoldenen Pokal. «Und die
Pest über Eure Kinder.»
Die alten Kartoffelhexen am Kaspischen Meer
setzten sich hin und weinten. Laut schluchzten sie und stießen
wilde Klagelaute aus. Ganz Transoxanien trauerte, denn der große
Shaibani Khan, der mächtige Lord Wurmholz, Herrscher über das wilde
Chorasan, Herr über Samarkand, Herat und Buchara, Spross jenes
einzigen wahren Stammes, dem Dschingis Khan entsprang, Überwinder
von Babar, dem Emporkömmling unter den Moguln … «Es ist vielleicht
keine so gute Idee», sagte der Herrscher leise, «in unserer
Gegenwart die Prahlereien dieses Schurken über meinen Großvater zu
wiederholen. » … Shaibani, der Verächtliche, der primitive Gauner,
gefallen in der Schlacht von Marv, erschlagen von Persiens Schah
Ismail, der seinen Schädel in Gold fassen ließ, um einen Pokal
daraus zu machen, und Gliedmaßen des besiegten Feindes in alle Welt
versandte, um seinen Tod zu beweisen. So endete der erfahrene, aber
auch entsetzliche, ungebildete und barbarische Krieger von gut
sechzig Jahren: angemessen und zugleich beschämend, enthauptet und
zerstückelt von einem noch unreifen, kaum vierundzwanzigjährigen
Jüngelchen.
«So ist es viel besser», sagte der Herrscher und ließ den Blick
zufrieden auf seinem eigenen Pokal ruhen. «Denn man kann niemanden
einen fähigen Regenten nennen, der die eigenen Untertanen tötet,
Freunde betrügt, keinen Glauben kennt, keine Gnade, keine Religion;
so mag man Macht erringen, doch gewiss keinen Ruhm.» «Niccolij
Machiavelli von Florenz hätte es nicht schöner formulieren können»,
pflichtete ihm der Geschichtenerzähler bei.
In Astrachan an den Ufern der Atil, später Wolga genannt, wurde die
Kartoffelhexerei geboren, zur Welt gebracht von der apokryphen
Hexenmutter Olga der Ersten, doch waren ihre Anhänger längst
zerstritten, wie auch die Welt zerstritten war, weshalb an der
Westküste des Kaspischen Meeres, die man die chasarische nannte,
unweit von Ardabil, wo Schah Ismails Safawidendynastie im
Mystizismus der Sufis wurzelte, die Hexen nun zu den Schiiten
gehörten und sich an den Triumphen des neuen Zwölferschiitenreiches
Persiens erfreuten, während jene, die bei den Usbeken an der
Ostküste lebten, die wenigen armen, fehlgeleiteten Kreaturen, auf
seiten von Wurmholz Khan standen. Später dann, als Schah Ismail
durch die osmanische Armee eine Niederlage hin-nehmen musste,
behaupteten diese sunnitischen Kartoffelhexen des östlichen
Chasarenmeeres, ihre Flüche seien stärker gewesen als die Magie
ihrer schiitischen Schwestern im Westen. Denn die chorasanische
Kartoffel ist allmächtig, riefen sie viele Male die Worte ihres
heiligsten Glaubensbekenntnisses, durch sie ist alles
möglich.
Bei richtiger Anwendung sunnitisch-usbekischer Kartoffelflüche ließ
sich ein passender Gatte finden, eine hübschere Rivalin vertreiben
oder der Sturz eines Schiitenherrschers herbeiführen. Schah Ismail
war das Opfer des selten ausgeführten
Großenubekischen-Anti-Schiiten- Kartoffel-und -Störfisch -Zaubers,
für den Kartoffeln und Kaviar in rauen Mengen nötig waren, die sich
nur schwerlich auftreiben ließen, der aber auch ein einhelliges
Vorgehen aller Sunni-Hexen voraussetzte, das nicht weniger schwer
erlangt werden konnte. Als die östlichen Kartoffelhexen schließlich
die Nachricht von Ismails vernichtender Niederlage vernahmen,
wischten sie sich die Tränen aus den Augen, hörten zu jammern auf
und tanzten. Eine Pirouetten drehende chorasanische Hexe ist ein
wahrhaft seltener Anblick, und nur wenige, die diesen Tanz zu
Gesicht bekamen, sollten ihn je wieder vergessen. Außerdem riss der
Kaviar-und-Kartoffel-Fluch eine Kluft in die Schwesternschaft der
Kartoffelhexen, die sich bis heute nicht wieder geschlossen
hat.
Allerdings mag es noch den ein oder anderen prosaischeren Grund für den Ausgang der Schlacht von Chaldiran gegeben haben, etwa jenen, dass die osmanische Armee der persischen zahlenmäßig weit überlegen war oder dass die Osmanen Ge-wehre trugen, Waffen also, die in den Augen der Perser nichts für echte Männer waren, weshalb sie sich weigerten, sie zu tragen, und folglich in großer Zahl einen zweifellos höchst männlichen Tod starben, oder auch jenen Grund, dass der Anführer der osmanischen Streitkräfte ein unbesiegbarer Janitscharengeneral war, der Schlächter von Vlad, der Pfähler, der Drachendämon der Walachei, Argalia nämlich, der florentinische Türke. Für wie groß Schah Ismail sich auch hielt - und niemand konnte ihm in seiner hohen Meinung von sich selbst das Wasser reichen -, vermochte er dem Träger der Verwunschenen Lanze doch nicht lange standzuhalten.
Schah Ismail von Persien, dem selbsternannten
Stellvertreter des Zwölften Imams auf Erden, sagte man nach, dass
er arrogant sei, egoistisch und ein fanatischer Konvertit des Ithna
Ashari, also des Zwölferschiitentums. «Ich breche die Poloschläger
meiner Gegner», prahlte er mit den Worten des Sufi-Heiligen Shaykh
Zahid, «und dann gehört mir das Feld.» Gleich darauf erhob er mit
eigenen Worten einen noch weit größeren Anspruch. «Ich bin der
wahre Gott aus wahrem Gott! Kommt, 0 ihr Blindäugigen, die ihr den
rechten Pfad verloren habt, vernehmt die Wahrheit! Ich bin der
Absolute Vollbringer, von dem die Menschheit spricht.» Man nannte
ihn Vali Allah, den Vikar Gottes, und für seine «rothaarigen»
Kizilbasch-Soldaten war er tatsächlich ein Gott. Bescheidenheit,
Großzügigkeit, Freundlichkeit: Diese Tugenden gehörten nicht gerade
zu seinen Charaktereigenschaften. Doch als er das Schlachtfeld von
Marv in südlicher Richtung verließ, im Gepäck ein Honigglas mit dem
Kopf von Shaibani Khan, um im Triumph in Herat einzuziehen, wurde
er mit ebendiesen Worten von jener Prinzessin beschrieben, die die
Geschichte vergessen hatte, von Dame Schwarzauge, von Qara Köz.
Schah Ismail war ihr erster Schwarm. Sie war siebzehn Jahre
alt.
«Also stimmt es doch», rief der Herrscher. «Der Fremde, um
dessentwillen sie sich weigerte, mit Khanzada an den Hof meines
Großvaters zurückzukehren, der Grund also, warum sie mein edler Ahn
aus den Annalen der Geschichte getilgt hatte - der Verführer, von
dem unsere geliebte Tante Gulbadan sprach -, es war nicht Euer
Arcalia oder Argalia, sondern der Schah von Persien
höchstpersönlich.»
«Sie beide waren Kapitel in ihrer Geschichte, 0 Schirmherr der
Welt», erwiderte der Geschichtenerzähler. «Eines nach dem anderen,
erst der Sieger, dann des Siegers Bezwinger. Frauen sind nicht
vollkommen, das wird man zugeben müssen, und wie es schein~ hatte
die junge Dame eine Schwäche für Gewinner.»
Herat, die Perle von Chorasan, Heimstatt des Künstlers Behzad, des
Malers unvergleichlicher Miniaturen, sowie des Dichters Jami, des
unsterblichen Philosophen der Liebe und letzter Ruheplatz der
Patronin der Schönheit, der großen Königin Gauhar Shad, was so viel
bedeutet wie Glückliches oder Leuchtendes Juwel. «Ihr alle gehört
jetzt Persien», rief Schah Ismaillaut, als er durch die eroberten
Straßen ritt. «Eure Geschichte, die Oasen, Bäder, Brücken, Kanäle
und Minarette gehören jetzt alle mir.» Zwei gefangene Prinzessinnen
aus dem Herrscherhaus der Moguln beobachteten ihn von einem hohen
Palastfenster aus. «Heute werden wir sterben oder die Freiheit
gewinnen», sagte Khanzada und unterdrückte dabei ein Zittern in der
Stimme. Shaibani Khan hatte sie zu seiner Frau gemacht, und sie
hatte ihm einen Sohn geboren. Ihr fiel das versiegelte Gefäß auf,
das gleich hinter dem Pferd des Eroberers an einem gewöhnlichen
Speer hing, und sie wusste, was sich darin befand. «Wenn der Vater
tot ist», sagte sie, «ist auch das Schicksal meines Sohnes
besiegelt.» Ihre Analyse war korrekt, und als Schah Ismail an die
Tür der Prinzessin klopfte, hatte man den Jungen bereits zu seinem
Vater gesandt. Der persische König verbeugte sich tief vor
Prinzessin Khanzada. «Ihr seid die Schwester eines großen Bruders»,
sagte er, «also lasse ich Euch frei. Ich gedenke, Euch mit vielen
Geschenken der Freundschaft zu König Babar zurückzusenden, der sich
zurzeit in Kundus aufhält; und Ihr, meine Damen, werdet das größte
aller Geschenke sein.»
«Bis gerade eben», erwiderte Khanzada, «war ich nicht bloß Schwester, sondern auch Mutter und Eheweib. Da Ihr mir zwei Drittel meiner selbst genommen habt, könnt Ihr den Rest auch heimkehren lassen.» Nach neun Jahren als Wurmholz Khans Königin und acht Jahren als Mutter eines Prinzen wurde ihr das Herz in Stücke gerissen. Doch nicht einen Moment lang ließ sie zu, dass Herz oder Stimme ihre wahren Gefühle verrieten, weshalb Schah Ismail sie kalt und gefühllos fand. Angeblich war Khanzada mit neunundzwanzig noch eine große Schönheit, und der Perser fühlte sich sehr versucht, hinter ihren Schleier zu schauen, doch zügelte er seine Begierde und wandte sich stattdessen an das jüngere Mädchen. «Und Ihr, Gnädigste», sagte er mit aller Höflichkeit, die er aufzubringen vermochte, «was habt Ihr Eurem Befreier zu sagen?»
Khanzada Begum nahm ihre Schwester am Arm, als
wollte sie mit ihr fortgehen. «Danke, aber meine Schwester und ich
sind einer Meinung», sagte sie; Qara Köz schüttelte jedoch ihre
Hand ab, riss den Schleier fort und schaute dem jungen König direkt
ins Gesicht.
«Ich möchte lieber bleiben», sagte sie.
Es gibt eine Schwäche, die Männer am Ende einer Schlacht überfallt,
die sie spüren lässt, wie leicht Leben vernichtet wird, weshalb sie
es wie eine Kristallschale an die Brust drücken und seine
Kostbarkeit ihnen allen Mut nimmt. In solchen Momenten ist jeder
Mann ein Feigling, der an nichts anderes denken kann als an die
Umarmung einer Frau, an nichts anderes als die heilenden Worte, die
allein eine Frau zu flüstern vermag, an das Vergnügen, sich in den
fatalen Labyrinthen der Liebe zu verlieren. Im Banne dieser
Schwäche kann ein Mann tun, was seine besten Pläne durchkreuzt; er
kann Versprechen geben, die seine Zukunft ändern. Und so geschah
es, dass Schah Ismail von Persien in den schwarzen Augen einer
siebzehnjährigen Prinzessin ertrank.
«Dann bleibt», sagte er.
«Der Drang nach einer Frau, die uns von der Einsamkeit nach dem
Morden befreit», sagte der Herrscher erinnerungsschwer, «die das
schlechte Gewissen nach dem Sieg lindert Dünkel nach der
Niederlage, das Zittern in den Knochen. Die uns in ihren Armen
hält; wenn wir spüren, wie der Hass verebbt und einer höheren Form
von Verlegenheit weicht. Die uns mit Lavendelduft netz; um den
Blutgeruch an unseren Fingerspitzen zu überdecken, den
Schlachtgestank unseres Bartes. Der Drang nach einer Frau, die uns
sagt, dass wir ihr allein gehören, und die unsere Gedanken vom Tod
ablenkt. Die jene Neugierde darauf dämpft, wie es vor dem Stuhl des
Jüngsten Gerichtes wohl sein mag, die uns den Neid auf jene nimm;
die vor uns dahingegangen sind, um dem Allmächtigen von Angesicht
zu Angesicht gegenüberzutreten, und die alle Zweifel beschwichtigt,
die uns den Magen umdrehen, Zweifel an einem Leben nach dem Tod
oder gar an Gott selbst~ wirkt doch der Geschlagene so vollkommen
to~ und kein höherer Sinn scheint in Sicht.»
Später, als er sie bereits auf immer verloren hatte, redete Schah
Ismail von Hexerei. Es habe ein Zauber in ihrem Blick gelegen, der
nicht ganz menschlich gewesen sei, sagte er; eine Teufelin habe in
ihr gesteckt und ihn in seinen Untergang geführt. «Dass eine derart
schöne Frau keine Zärtlichkeit kennt», sagte er zu seinem
taubstummen Leibdiener, «hatte ich nicht erwartet. Ich hatte auch
nicht erwartet, dass sie sich so beiläufig von mir abkehrt, beinahe
so, als wechselte sie bloß die Schuhe. Ich hatte erwartet, der
Geliebte zu sein, nicht aber, majnun-Layla zu sein, liebestoll. Und
ich hatte nicht erwartet, dass sie mir das Herz bricht.»
Als Khanzada Begum ohne ihre Schwester zu Babar
nach Kundus kam, wurde ihre Ankunft mit großen Paraden und vielen
Tänzen gefeiert, mit Trompetenschall und Gesängen; Babar selbst kam
ihr gar zu Fuß entgegen, als sie der Sänfte entstieg. Doch
insgeheim kochte er vor Wut, und es geschah in jener Zeit, dass er
befahl, Qara Köz aus den Annalen der Geschichte zu tilgen. Eine
Weile ließ er Schah Ismail noch in dem Glauben, dass sie beide
Freunde seien. Zum Beweis prägte er Münzen mit Ismails Antlitz, und
Ismail entsandte Truppen, mit deren Hilfe er die Usbeken aus
Samarkand vertrieb. Dann aber konnte er Ismail plötzlich nicht
länger ertragen, und er befahl ihm, seine Truppen zu nehmen und
nach Hause zu verschwinden.
«Das ist interessant», sagte der Herrscher. «Der Entschluss unseres
Großvaters, die Safawidenarmee nach der Rückeroberung Samarkands
heimzuschicken, ist uns nämlich stets ein Rätsel geblieben. Damals
hatte er übrigens auch aufgehört an seinem Lebensbuch zu schreiben,
das er erst elf Jahre später wieder zur Hand nehmen sollte, weshalb
ihm persönlich zu dieser Angelegenheit nichts überliefert ist. Kaum
waren die Perser abgezogen, verlor er Samarkand wieder und musste
nach Osten fliehen. Wir hatten stets geglaubt, er habe persische
Hilfe abgelehnt weil ihm Schah Ismails religiöser Bombast zuwider
war: die endlosen Proklamationen seiner eigenen Göttlichkeit die
Zwölferschiiten-Verherrlichung. Wenn der wahre Grund aber Babars
schwelender Ärger über die verschwiegene Prinzessin war; zog ihre
Entscheidung wahrlich viele große Entwicklungen nach sich! Denn nur
weil er Samarkand verließ, kam Babar nach Hindustan und errichtete
hier seine Dynastie, und wir selbst sind der dritte Herrscher in
seiner Nachfolge. Wenn die Geschichte also stimm~ dann lässt sich
der Beginn unseres Reiches unmittelbar auf den Eigensinn von Qara
Köz zurückführen. Sollten wir sie nun verdammen oder sie loben? War
sie eine Verräterin, die auf immer verachtet gehört? Oder unsere
genetrix, unsere Gebärerin, die unsere Zukunft formte?
«Sie war ein schönes, eigensinniges Mädchen», erwiderte Mogor
dell’Amore, «und ihre Macht über Männer derart groß dass sie selbst
anfänglich wohl nicht wusste, wie groß ihr Zauber tatsächlich
war.»
Qara Köz: Man stelle sie sich in Täbris vor, der Hauptstadt der
Safawiden, umschmeichelt von den feinsten Teppichen des Schahs,
darauf hingestreckt wie Kleopatra auf Cäsars Persern. In Täbris
waren sogar die Berge mit Geknüpftem ausgelegt, da auf ihren
Flanken die Teppiche zum Trocknen ausgebreitet wurden. In den
königlichen Gemächern wälzte sich Dame Schwarzauge auf
Perserteppichen, als wären sie die Leiber ihrer Geliebten. Und
immer stand in einer Ecke ein dampfender Samowar. Gierig schlang
sie mit Pflaumen und Knoblauch gefülltes Huhn in sich hinein, aß
Garnelen mit Tamarindenpaste oder Kebab mit Duftreis, doch blieb
sie rank und schlank. Mit Spiegel, ihrer Leibdienerin, spielte sie
Backgammon und wurde zur besten Spielerin am persischen Hof,
allerdings vergnügte sie sich mit Spiegel auch noch bei anderen
Spielen, kicherten und glucksten die beiden Mädchen doch hinter den
verschlossenen Türen ihres Schlafgemachs, weshalb nicht wenige
Höflinge sie für ein Liebespaar hielten, auch wenn kein Mensch,
weder Frau noch Mann, dergleichen laut zu sagen wagte, da ein
solches Gerücht den Kopf gekostet hätte. Wenn Qara Köz dem jungen
König beim Polo zusah, stieß sie Seufzer erotischer Ekstase aus,
sooft er seinen Schläger schwang, und das Volk begann zu glauben,
ihr Stöhnen und juchzen verzaubere den Ball, der unweigerlich ins
Tor traf, während die Schläger der Verteidiger harmlos durch die
Luft schnitten. Sie badete in Milch. Sie sang wie ein Engel. Sie
las keine Bücher. Sie war einundzwanzig Jahre alt und wurde nicht
schwanger. Eines Tages, als Ismail davon sprach, dass sein Gegner
im Westen, der Osmanensultan Bayezid H., immer mächtiger werde,
murmelte sie ihm tödlichen Rat ins Ohr. «Schickt ihm einfach Euren
Pokal», sagte sie, «jenen, der aus dem Schädel von Shaibani Khan
gefertigt wurde, gleichsam zur Warnung, damit er weiß, was ihm
blüht, wenn er vergisst, welcher Platz ihm gebührt.»
Sie fand seine Eitelkeit verführerisch und war in seine Schwächen
verliebt. Ein Mann, der sich für einen Gott hielt, schien ihr genau
der richtige Mann zu sein. Gut möglich, dass ihr ein König nicht
genügte. «Wahrhaftiger Gott!», rief sie, wenn er sie nahm. «Mein
absoluter Vollbringer!» Das gefiel ihm natürlich, und da er für Lob
anfällig war, bedachte er nie die Autonomie großer Schönheit, die
keinem Menschen gehört, die nur sich selbst gehört und dahin
treibt, wohin der Wind sie weht. Obwohl Qara Köz alles für ihn
aufgegeben hatte und ihre Welt mit einem einzigen Blick veränderte,
ihre Schwester, ihren Bruder und ihre übrige Familie verließ, um in
Gesellschaft eines hübschen Fremden gen Westen zu reisen, hielt
Schah Ismail in seiner ungeheuren Selbstverliebtheit solch
radikalen Entschluss für ganz natürlich, tat sie es doch um
seinetwillen. Folglich konnte er das Wandernde in ihr nicht sehen,
das Entwurzelte. Löst sich aber eine Frau so leichthin aus allen
Zusammenhängen, kann sie derlei jederzeit wieder tun.
Es gab Tage, da wollte sie Bosheit: seine und ihre. Im Bett
flüsterte sie, sie habe eine böse Seite, ein böses Ich, und wenn
diese Seite die Oberhand gewinne, sei sie für ihre Handlungen nicht
länger verantwortlich, dann könne sie alles tun, einfach alles. Das
erregte ihn aufs äußerste. In der Liebe war sie ihm mehr als
ebenbürtig, da war sie seine Königin. Nach vier Jahren hatte sie
ihm noch keinen Sohn geboren. Egal. Sie war ein Fest für die Sinne,
eine Frau, für die Männer töteten. Er lechzte nach ihr und war
zugleich ihr Lehrer. «Ihr wollt also, dass ich Bayezid den
ShaibaniPokal schicke?», raunte er mit belegter Stimme wie im
Rausch. «Dass ich ihm den Schädel eines anderen Mannes
schicke?»
«Trinkt Ihr aus dem Schädel Eures Feindes, ist das für Euch ein
großer Triumph», wisperte sie, «trinkt aber Bayezid aus dem Schädel
Eures besiegten Gegners, wird Furcht sein Herz erfüllen.» Da
begriff er, dass sie den Becher mit einem Angstzauber belegt hatte.
«Also schön», sagte er. «Wir werden tun, was Ihr empfehlt.»
Der fünfundvierzigste Geburtstag Argalias war gekommen und vergangen. Er war ein großgewachsener, blassgesichtiger Mann, dessen Haut trotz der vielen Kriegsjahre noch weiß wie die eines Weibes schimmerte, Frauen wie Männer staunten, wie weich sie war. Er liebte Tulpen und ließ sie sich auf seine Tuniken und Mäntel sticken, da er die Blumen für Glücksbringer hielt, und von den fünfzehnhundert verschiedenen Tulpensorten Konstantinopels füllten vor allem sechs seine Palastgemächer: Paradieslicht, Unvergleichliche Perle, Lustmehrerin, Passionsstillerin, Diamantenneid und Rose der Morgenröte. Sie waren seine Lieblingsblumen, und sie verrieten, welch sinnlicher Mensch im Kriegerpanzer steckte, ein in der Haut eines Mörders verborgenes Lustgeschöpf, Weibliches im Männlichen. Zudem besaß er die Vorliebe einer Frau für äußere Pracht: Trug er keine Rüstung, behängte er sich mit Seide und Juwelen; außerdem hegte er eine große Schwäche für exotische Pelze, für den schwarzen Fuchs und Luchs aus dem Moskowiterland, die über Theodosia auf der Krim geliefert wurden. Sein Haar war lang und schwarz wie das Böse, die Lippen voll und so rot wie Blut.
Um Blut und Blutvergießen drehte sich sein Leben. Bei mindestens einem Dutzend Feldzügen hatte er Sultan Mehmed 11. gedient und jede Schlacht gewonnen, in der er seine Arkebuse in Anschlag brachte, sein Schwert aus der Scheide zog. Wie einen Schild hatte er einen Zug Janitscharen um sich geschart, darunter als seine Leutnants die Schweizer Riesen Otho, Botho, Clotho und d’ Artagnan, und obwohl am osmanischen Hof eine Intrige die andere jagte, hatte er sieben Attentate unbeschadet überstanden. Nach Mehmeds Tod geriet das Reich an den Rand eines Bürgerkriegs zwischen den beiden Söhnen Bayezid und Cem. Als Argalia erfuhr, dass sich der Großwesir entgegen aller muslimischen Tradition drei Tage lang weigerte, den Leichnam des verstorbenen Sultans zu beerdigen, damit Cem nach Stambul gelangen und den Thron an sich reißen konnte, eilte er mit den Schweizer Riesen zu den Gemächern des Wesirs und brachte ihn um. Dann führte er Bayezids Armee gegen den Möchtegern-Usurpator und trieb ihn ins Exil. Bald darauf wurde er zum Oberbefehlshaber des neuen Sultans ernannt. Er focht gegen die Mamelucken Ägyptens zu Lande und zu Wasser, und als er die Allianz aus Venedig, Ungarn und dem Vatikan bezwang, kam sein Ruf als Admiral nur noch seinem Ruhm als Krieger zu Lande gleich.
Danach bereiteten ihm die Kizilbasch aus Anatolien die größten Probleme. Sie trugen rote Kopfbedeckungen mit zwölf Zwickeln, um ihre Vorliebe für die Zwölferschiiten kundzutun, weshalb sie schließlich auch von Schah Ismail von Persien angegriffen wurden, dem selbsternannten Wahrhaftigen Gott. Bayezids dritter Sohn, Selim der Grimmige, wollte sie restlos vernichten, aber sein Vater war zurückhaltender. Daraufhin begann Selim der Grimmige seinen Vater für einen Schwächling und Zauderer zu halten. Als der Pokal von Schah Ismail aus Stambul eintraf, fasste Selim ihn als tödliche Beleidigung auf. «Diesem Ungläubigen, der sich selbst Gott nennt, werden wir Manieren beibringen», verkündete er und nahm das Gefäß entgegen, wie ein Duellant einen Handschuh annimmt, mit dem ihm ins Gesicht geschlagen wurde. «Aus diesem Pokal trinke ich das Blut des Safawiden», versprach er seinem Vater. Argalia, der Türke, trat vor: «Und ich werde ihm den Trank einschenken», sagte er. Als Bayezid diesem Krieg die Genehmigung verweigerte, änderte sich die Lage für Argalia. Nur wenige Tage später schloss er sich mit seinen Janitscharen Selim dem Grimmigen an, und Bayezid wurde vom Thron gejagt. Man versetzte den alten Sultan in den vorzeitigen Ruhestand und schickte ihn zurück nach Didymoticho in Thrakien, seinem Geburtsort, doch starb er unterwegs zum Glück an gebrochenem Herzen, denn für Männer, die die Nerven verloren haben, hat die Welt keinen Platz. Mit Argalia an der Seite spürte Selim seine Brüder Ahmed, Korkud und Shahinshah auf und tötete sie ebenso wie all deren Söhne. So war die Ordnung wiederhergestellt und die Gefahr eines Staatsstreichs gebannt. (Als Argalia viele Jahre später Il Machia von diesen Taten erzählte, rechtfertigte er sich mit den Worten: «Wenn ein Fürst die Macht an sich reißt, sollte er die schlimmsten Ta-ten gleich zu Beginn begehen, denn seinen Untertanen wird danach jedes weitere Vorgehen wie eine Besserung vorkommen.»
Als Il Machia dies hörte, schwieg er eine Weile
nachdenklich und nickte dann versonnen. «Schrecklich», antwortete
er Argalia, «aber wahr.», Dann wurde es Zeit, gegen Schah Ismail
vorzugehen. Argalia und seine Janitscharen wurden nach Rum in
Nordanatolien gesandt, um Tausende Kizilbaschs zu verhaften und
noch weit mehr niederzumetzeln, auf dass die Bastarde Ruhe gaben,
wenn die Armee durch ihr Land zog, um Schah Ismail den Brief Selims
des Grimmigen zu überbringen. In seiner Botschaft hatte Selim
geschrieben: «Ihr haltet Euch nicht länger an die Gebote und
Verbote göttlicher Gesetze. Ihr habt Eure abscheuliche
Schiitengemeinde zu unduldbaren sexuellen Ungeheuerlichkeiten
aufgehetzt und unschuldiges Blut vergossen.» Einhunderttausend
Soldaten der Osmanen schlugen ihr Lager in Ostanatolien am Van-See
auf, um Schah Ismail diese Worte in seinen blasphemischen Rachen zu
stopfen. Zu ihnen gehörten zwölftausend Arkebusiere der
Janitscharen unter Argalias Kommando. Außerdem hatten sie
fünfhundert miteinander verkettete Kanonen dabei, eine schier
unüberwindbare Barriere.
Die persischen Truppen stellten sich ihnen bei Chaldiran am
nordöstlichen Ufer des Van-Sees. Schah Ismails Armee zählte nur
vierzigtausend Mann, fast ausnahmslos Reiter, doch wusste Argalia,
der ihre Schlachtordnung musterte, dass eine zahlenmäßige
Überlegenheit durchaus nicht immer die Schlacht entschied. Wie Vlad
Dracula in der Walachei hatte Ismail die Strategie der verbrannten
Erde angewandt. Anatolien war verkohlt und leer geräumt; die über
Sivas nach Arzinjan vorrückende Armee der Osmanen fand nur wenig zu
essen und zu trinken. Selims Soldaten waren folglich müde und
hungrig, als sie nach langem Marsch am See rasteten, und eine
solche Armee ist immer besiegbar. Als Argalia sich mit der
verschwiegenen Prinzessin später über diesen Tag unterhielt,
erklärte sie ihm, warum ihr früherer Geliebter bezwungen worden
war.
«Ritterlichkeit», sagte sie. «Trottelige
Ritterlichkeit - und weil er auf einen dummen Neffen statt auf mich
gehört hat.»
Unwahrscheinlich, wie es klingen mag, ist es doch wahr, dass die
Zauberin Persiens mit Spiegel, ihrer Sklavin, auf dem
Feldherrnhügel über dem Schlachtfeld zugegen war; eine Brise wehte
ihr den dünnen Gewandschleier ins Gesicht und derart aufreizend
gegen die Brüste, dass ihre Schönheit, so wie sie dort vor des
Königs Zelt stand, alle Gedanken der Soldaten an Krieg verdrängte.
«Er muss verrückt gewesen sein, als er Euch herbrachte}}, sagte ein
blutverdreckter und des Schlachtens müder Argalia, sobald er sie am
Ende eines totenreichen Tages fand. «Ja», erwiderte sie in
sachlichem Ton. «Ich habe ihn verrückt vor Liebe
gemacht.}}
Was allerdings strategische Fragen betraf, konnten all ihre
Zauberkünste nicht bewirken, dass er ihr Gehör schenkte. «Seht}},
rief sie, «noch arbeiten sie an ihren Verteidigungsanlagen. Greift
jetzt an, solange sie nicht bereit sind.» Und: «Seht», rief sie,
«sie haben fünfhundert Kanonen aneinandergekettet; dahinter stehen
zwölftausend Gewehrschützen. Galoppiert nicht einfach drauflos,
sonst mähen sie Euch nieder.}} Und: «Habt Ihr keine Gewehre? Ihr
wisst doch, was Gewehre sind? Um Himmels willen, warum habt Ihr
keine Gewehre mitgebracht?}} Worauf Durmish Khan, der Narr, der
Neffe des Schahs, antwortete: «Es wäre aber nicht fair, wenn wir
angriffen, solange sie noch nicht kampfbereit sind.» Und: «Es wäre
auch nicht edel, wenn unsere Männer sie von hinten überfielen.»
Und: «Das Gewehr ist keine Waffe für einen Mann. Das Gewehr ist für
Feiglinge, die sich vor dem Nahkampf fürchten. Wie viele Gewehre
sie aber auch immer haben mögen, wir werden den Kampf zu ihnen
tragen, bis sie sich im Handgemenge verteidigen müssen. Heute
entscheidet der Mut, nicht diese - halt - diese Arkebusen.}} Mit
einem verzweifelten Lachen wandte sie sich zu Schah Ismail um.
«Sagt diesem Mann, er ist ein Trottel», befahl sie ihm, doch Schah
Ismail! von Persien antwortete: «Ich bin kein Karawanendieb, der
sich im Schatten verkriecht. Gottes Wille wird
geschehen.»
Sie weigerte sich, der Schlacht zuzusehen, und blieb im königlichen
Zelt sitzen, das Gesicht vom Eingang ab gewandt. Spiegel saß neben
ihr und hielt ihre Hand. Schah Ismail führte den Angriff über den
rechten Flügel, der den linken der Osmanen zermalmte, doch hielt
die Zauberin auch weiterhin ihr Gesicht abgewandt. Beide Armeen
erlitten schreckliche Verluste. Die persische Kavallerie mähte die
Blüte der osmanischen Reiterei nieder, die Illyrer, Mazedonier,
Serben, Epiroten, die Thessalier und Thraker. Auf der Seite der
Safawiden sank ein Befehlshaber nach dem anderen nieder, und sobald
sie starben, murmelte die Zauberin im Zelt ihre Namen. Muhammad
Khan Ustajlu, Husain Beg Lala Ustajlu, Sam Pira Ustajlu und so
weiter. Als könnte sie sehen, ohne zu sehen. Und Spiegel warf ihre
Worte zurück, sodass die Namen der Toten durch das’ königliche Zelt
widerzuhallen schienen. Amir Nizam al-Din Abd al-Baqi … al-Baqi … ,
der Name des Schahs aber, der sich für Gott hielt, wurde nicht
ausgesprochen. Die Mitte der Osmanen hielt, nur war die türkische
Kavallerie kurz davor, in Panik auszubrechen, als Argalia endlich
die Artillerie nach vom befahl. «Ihr Bastarde», schrie er seine
eigenen Janitscharen an, «sehe ich auch nur einen davonlaufen,
lasse ich die Kanonen auf euch richten.» Die Schweizer Riesen
liefen bis an die Zähne bewaffnet neben der Gefechtslinie her, um
Argalias Drohungen Nachdruck zu verleihen. Dann setzte der Donner
der Geschütze ein. «Der Sturm beginnt», sagte die im Zelt sitzende
Zauberin. «Der Sturm», wiederholte Spiegel. Es war unnötig, die
persische Armee in ihrem Todeskampf zu sehen, doch wurde es Zeit,
ein trauriges Lied anzustimmen. Schah Ismaillebte, der Tag aber war
verloren.
Er war vom Schlachtfeld geflohen, verwundet, ohne sie zu holen. Das
wusste sie. «Er ist fort», sagte sie zu Spiegel. «Ja, er ist fort»,
stimmte die Sklavin zu. «Wir sind der Gnade des Feindes
ausgeliefert», sagte die Zauberin. «Gnade», wiederholte
Spiegel.
Die vor dem Zelt postierten Wachen waren ebenfalls geflohen. Zurück blieben zwei Frauen, allein auf einem grauenhaften Blutfeld. So fand Argalia sie: Unverschleiert, den Blick vom Eingang des königlichen Zeltes ab gewandt, saßen sie allein, hoch aufgerichtet, am Ende der Schlacht von Chaldiran, und sie sangen ein trauriges Lied. Prinzessin Qara Köz wandte sich zu ihm um, ohne sich auch nur zu bemühen, ihr nacktes Antlitz vor seinen Blicken zu verbergen, und von diesem Moment an hatten sie bloß noch Augen füreinander und waren für den Rest der Welt verloren.
Er sah aus wie eine Frau, dachte sie, wie eine
große, blasshäutige, schwarzhaarige Frau, die sich mit Tod
vollgestopft hat. Wie weiß er war, weiß wie eine Maske. Darauf,
gleich einem Blutfleck, diese roten, so roten Lippen. Ein Schwert
in der Rechten, in der Linken ein Gewehr. Er war beides,
Schwertkämpfer und Schütze, Mann und Frau, er selbst und sein
Schatten. Sie verließ Schah Ismail, so wie er sie verlassen hatte,
und wählte erneut. Diesen fahlgesichtigen Fraumann. Später würde er
sie und Spiegel als Kriegsbeute beanspruchen, und Selim der
Grimmige würde einverstanden sein, doch da hatte sie ihn längst
gewählt, und es war ihr Wille, der in Gang setzte, was
folgte.
«Habt keine Angst», sagte er auf Persisch.
«Niemand hier kennt die wahre Bedeutung von
Angst», erwiderte sie, erst auf Persisch, dann noch einmal auf
Tschagatai, ihrer turkmenischen Muttersprache. Und unhörbar unter
diesen Worten die eigentlichen Worte:
Wollt Ihr der Meine sein? Ja, ich gehöre Euch.
Nach der Plünderung von Täbris wollte Selim bleiben, um in der Hauptstadt der Safawiden zu überwintern und das übrige Persien im Frühjahr zu erobern, doch Argalia sagte ihm, falls er darauf bestehe, würde die Armee meutern. Sie hatten gesiegt und einen Großteil von Ostanatolien und Kurdistan eingenommen, hatten die Größe des Osmanischen Reiches fast verdoppelt, jetzt war es genug. Man möge das mit der Schlacht von Chaldiran eroberte Gebiet als neues Grenzland zwischen den Osmanen und den Safawiden anerkennen. Täbris sei außerdem leer. Weder für seine Männer noch für die Pferde der Reiterei oder für die Lastkamele finde sich Nahrung. Die Armee wollte heim. Selim begriff, dass ein Ende erreicht war. Acht Tage nach dem Einmarsch der osmanischen Armee in Täbris führte Selim seine Männer aus der Stadt und schlug den Weg nach Westen ein.
Ein besiegter Gott ist kein Gott mehr. Und ein Mann, der seine Gefährtin auf dem Schlachtfeld zurücklässt, ist kein Mann mehr. Innerlich gebrochen, kehrte Schah Ismail in seine besiegte Stadt zurück und gab sich während der letzten zehn Jahre seines Lebens dem Suff und der Melancholie hin. Er trug schwarze Kleider und einen schwarzen Turban, sogar die Standarten der Safawiden wurden schwarz gefärbt. Nie wieder ritt er in eine Schlacht und schwankte unablässig zwischen hemmungslosen Ausschweifungen und tiefster Trauer, sodass jedermann seine Schwäche und das Ausmaß seiner Verzweiflung erriet. War er betrunken, rannte er durch die Räume seines Palastes und suchte sie, die nicht mehr dort war, die nie wieder zurückkehren würde. Als er starb, zählte er keine siebenunddreißig Jahre. Dreiundzwanzig Jahre lang war er der Schah von Persien gewesen, doch hatte er alles verloren, was ihm wichtig gewesen war.
Als sie Argalia entkleidete und sah, dass seine
Unterwäsche mit Tulpen bestickt war, begriff sie, wie sehr er an
seinem Aberglauben hing und dass er wie jeder Mann, der einer
todbringenden Arbeit nachging, alles nur erdenklich Mögliche tat,
um seinen letzten Tag hinauszuzögern. Als sie ihm die Unterwäsche
auszog und Tulpentätowierungen auf seinen Schultern entdeckte, auf
den Hinterbacken und gar auf dem dicken Penisschaft, da wusste sie
mit letzter Gewissheit, dass sie die Liebe ihres Lebens gefunden
hatte. «Ihr braucht diese Blumen nicht mehr», sagte sie und
streichelte seine Tulpen. «Jetzt habt Ihr ja mich als Euren
Glücksbringer.»
Er dachte: Ja, ich habe Euch, doch nur, bis ich Euch nicht mehr
habe, nur, bis Ihr beschließt, mich ZU verlassen, so wie Ihr Eure
Schwester verlassen habt, bis Ihr erneut das Pferd wechselt, wie
Ihr von Schah Ismail zu mir gewechselt seid. Ein Pferd ist
schließlich nur ein Pferd. Sie las seine Gedanken, und da sie
spürte, dass er weitere Zusicherungen brauchte, klatschte sie in
die Hände. Spiegel kam ins blumenvolle Schlafgemach. «Sag ihm, wer
ich bin», befahl sie. «Sie ist die Frau, die Euch liebt», sagte
Spiegel. «Mit ihrem Zauber kann sie die Schlangen aus ihren
Erdlöchern locken, die Vögel aus den Bäumen, und die Tiere
verlieben sich in Euch, doch nun hat sie sich selbst in Euch
verliebt, weshalb Ihr alles haben könnt, was Ihr begehrt.» Als die
Zauberin leicht mit der Augenbraue zuckte, ließ Spiegel ihre
Kleider zu Boden fallen und schlüpfte ins Bett. «Sie ist mein
Spiegel», sagte die Zauberin. «Sie ist der schimmernde Schatten.
Wer mich gewinnt, bekommt auch sie.» In diesem Moment gab Argalia,
der große Krieger, sich geschlagen. Angesichts einer solchen
Umfassungsbewegung bleibt einem Mann nur die bedingungslose
Kapitulation.
Er war es, der sie in «Angelica» umbenannte. Bezwungen vom Namen
Qara Köz, seinem glottalen Schlusslaut und der ungewohnten
Klangfolge, verlieh er ihr jenen seraphischen Namen, unter dem ihre
neuen Welten sie kennenlernen sollten. Und sie wiederum gab diesen
Namen an ihren Spiegel weiter. «Wenn ich Angelica sein muss», sagte
sie, «wird mein Schutzengel auch eine Angelica sein.»
Seit vielen Jahren schon kam ihm als Günstling des Sultans die Ehre zu, in der Wohnstätte der Glückseligkeit residieren zu dürfen, im Topkapi, statt mit den spartanischen Behausungen der Janitscharen-Kasernen vorliebnehmen zu müssen. Doch erst seit seinen Gemächern der Zauber einer weiblichen Hand anzumerken war, fühlte er sich hier wahrhaft daheim. Für Männer wie Argalia ist der Glaube an ein Zuhause allerdings schon immer eine beunruhigende, gefährliche Idee gewesen. Wie in einer Schlinge konnten sie sich darin verfangen. Selim der Grimmige war nicht Bayezid und nicht Mehmed, er hielt Argalia nicht für seine unverzichtbare rechte Hand, sondern für einen möglicher-weise gefährlichen Rivalen im Kampf um die Macht, für einen beliebten General, der seine Janitscharen durchaus ins Innerste Allerheiligste des Palastes führen mochte, wie er dies bereits einmal getan hatte, damals, als er den Großwesir ermordete. Ein Mann, der den Großwesir auf dem Gewissen hatte, war auch zum Königsmord fahrig. Bei einem solchen Mann überwog die Gefahr möglicherweise den Nutzen. Kaum waren sie zurück in Samarkand, begann der Sultan, der seinen italienischen Oberbefehlshaber in der Öffentlichkeit mit Lob überschüttete, insgeheim Argalias Untergang zu planen.
Die Neuigkeit, dass seine Stellung am Hofe
gefährdet war, kam Argalia zu Ohren, weil Qara Köz beschloss, ihm
auch weiterhin mit Tulpen eine Freude zu bereiten. Überall in der
Wohnstätte der Glückseligkeit gab es Gärten, ummauerte Gärten,
versunkene Gärten, bewaldete Bereiche, in denen sich das Rotwild
ungehindert bewegte, aber auch Uferrasenflächen, die sich hinab bis
zum Goldenen Horn erstreckten. Die Tulpenbeete fanden sich im
vierten Hof, nahe dem flachen Hügel am Nordende des
Topkapi-Serails, dem höchsten Punkt des gesamten Anwesens, wo
überall kleine hölzerne, Kiosk genannte Lustpavillons standen. Dort
wuchsen die Tulpen in großer Zahl und schufen eine Atmosphäre
duftender Heiterkeit und tiefen Friedens. Prinzessin Qara Köz und
ihr züchtig verhüllter Spiegel gingen oft in diesen Gärten
spazieren, ruhten sich in einem der Kioske aus, tranken süße Säfte
und unterhielten sich in leisen, sanften Tönen mit den vielen
Palast-bostancis, den Gärtnern, die Blumen für Herrn Argalia
sammeln sollten; und so müßig, wie Frauen dies gern tun, schwatzten
und tratschten sie mit ihnen über den arglosen Klatsch des Tages.
Bald war das gesamte Gartenpersonal, vom einfachsten Unkrautzupfer
bis zum bostanci-basha, dem Obergärtner, in die beiden Damen
verschossen, und so lösten sich die Zungen, wie dies bei wahrhaft
Liebenden oft geschieht. Viele wunderten sich, wie rasch die beiden
ausländischen Damen doch die türkische Sprache erlernt hatten,
beinahe über Nacht, zumindest kam es ihnen so vor. Wie durch
Zauberei, sagten die Gärtner.
Qara Köz’ wahre Absichten waren jedoch alles andere als arg-los.
Sie wusste, wie dies alle neuen Bewohner der Wohnstätte der
Glückseligkeit nur allzu bald wussten, dass die tausendundeinen
bostancis nicht bloß die Gärtner des Sultans, sondern auch dessen
offizielle Scharfrichter waren. Wurde eine Frau eines Vergehens
überführt, war es ein bostanci, der sie lebend in einen mit Steinen
beschwerten Sack einnähte und in den Bosporus warf. Und sollte ein
Mann getötet werden, packte ihn eine Gruppe Gärtner und unterzog
ihn einer rituellen Strangulation. So also wurde Qara Köz die
Freundin der bostancis und lernte kennen, was die Gärtner mit
schwarzem Humor die Tulpennachrichten nannten. Schon bald
verdrängte der Gestank des Verrates den zarten Duft der Blumen. Man
warnte sie, dass ihr Herr, der große General, der Diener dreier
Sultane, Gefahr laufe, sich falschen Beschuldigungen ausgesetzt zu
sehen und zum Tode verurteilt zu werden. Der Obergärtner selbst
teilte ihr dies mit. Der bostanci-basha der Wohnstätte der
Glückseligkeit war auch des Sultans oberster Scharfrichter, der
nicht allein seiner hortikulturellen Fähigkeiten wegen, sondern
auch wegen seines Lauf tempos ausgewählt wurde, denn wenn man einen
Günstling des Hofes zum Tode verurteilte, bekam er eine Chance, die
keinem gewöhnlichen Sterblichen gewährt wurde. Lief er schneller
als der bostanci-basha, durfte er weiterleben, die Strafe würde in
Verbannung umgewandelt. Nur war der bostanci-basha berühmt dafür,
dass er schnell lief wie der Wind, weshalb die Chance eigentlich
keine war. Diesmal allerdings stimmte den Gärtner der Gedanke an
das, was er zu tun haben würde, nicht froh. «Ich müsste mich
schämen, einen so großen Mann umzubringen», sagte er. «Dann»,
erwiderte die Zauberin, «sollten wir möglichst einen Weg aus diesem
Dilemma finden.»
«Gerüchte schwirren durch den Garten», erzählte sie Argalia bei der
Ankunft daheim. «Er wird Euch bald umbringen.» Mit ernster Miene
fragte Argalia: «Unter welchem Vorwand?» Die Prinzessin nahm sein
blasses Gesicht in beide Hände. «Ich bin der Vorwand», sagte sie.
«Ihr habt Euch eine Mogulprinzessin als Kriegsbeute erkoren. Das
wusste er nicht, als er Euch ziehen ließ, aber jetzt weiß er es.
Die Gefangennahme einer Mogulprinzessin ist eine kriegerische
Handlung gegen den Herrscher, weshalb er behaupten wird, Ihr
hättet, da Ihr das Osmanenreich in eine solche Lage brachtet,
Hochverrat begangen und müsstet folglich den Preis dafür zahlen.
Das jedenfalls verkünden die Nachrichten der Tulpen.» Derart
gewarnt, hatte Argalia Zeit, sich vorzubereiten, und an dem Tag, an
dem sie kamen, ihn zu holen, waren Qara Köz und Spiegel bereits im
Schutze der Nacht mit vielen Truhen voller Schätze, die er in manch
erfolgreichem Feldzug angesammelt hatte, sowie in Begleitung der
vier Schweizer Riesen und darüber hinaus der gesamten Schar seiner
treuesten Janitscharen, insgesamt einigen hundert Mann, nach Bursa
vorausgeschickt worden, damit sie südlich der Hauptstadt auf ihn
warteten. «Wenn ich mit euch fliehe», hatte er gesagt, «wird Selim
uns jagen und wie tollwütige Hunde niedermetzeln. Also muss ich den
Prozess über mich ergehen lassen und nach meiner Verurteilung das
Rennen gegen den Gärtner gewinnen.» Qara Köz hatte gewusst, dass er
dies sagen würde. «Wenn Ihr so fest zum Sterben entschlossen seid»,
sagte sie, «werde ich Euch wohl gewähren lassen müssen.» Womit sie
meinte, sie wolle ihm das Leben retten, auch wenn es nicht einfach
werden würde, da sie beim großen Rennen nicht dabei sein
konnte.
Kaum hatte Selim der Grimmige im Thronsaal der Wohnstätte der
Glückseligkeit über den Verräter das Todesurteil verhängt, machte
Argalia, der die Regeln kannte, auf dem Absatz kehrt und lief um
sein Leben. Vom Thronsaal bis zum Angelhaustor ist es durch den
Palastgarten knapp einen Kilometer, und er musste dort vor dem
nacktbrüstigen bostanci-basha mit seiner roten Schädelkappe und den
weißen Musselinpluderhosen ankommen, der ihm bereits dicht auf den
Fersen war und mit jedem Schritt aufholte. Sollte er gefangen
genommen werden, würde er am Angelhaus sterben und in den Bosporus
geworfen werden, in den man alle Leichen warf. Wie er an den
Blumenbeeten vorbeirannte, sah er vor sich das Angelhaustor, hörte
die Schritte des bostancibasha näher kommen und wusste, er würde es
nicht schaffen. «Das Leben ist absurd», dachte er. «Da überlebt man
so viele Kriege und wird am Ende von einem Gärtner erwürgt. Zu
Recht heißt es, es gebe keinen Helden, der nicht vor seinem Tod die
Sinnlosigkeit allen Heldentums erkenne.» Und ihm fiel ein, wie ihm
als kleinem Jungen zum ersten Mal die Absurdität des Lebens
aufgegangen war, damals, allein in einem Ruderboot inmitten einer
Seeschlacht und bei dichtem Nebel. «All die Jahre später», dachte
er, «muss ich dieselbe Lektion noch einmal lernen.»
Nie wurde eine befriedigende Erklärung dafür gegeben, war-um der schnellfüßige Obergärtner Sultan Selims des Grimmigen nur dreißig Meter vor dem Ende des Gärtnerrennens urplötzlich zu Boden stürzte oder warum er sich den Bauch hielt und einen Anfall übelster Darmwinde erlitt, die je ein Mensch gerochen hat, warum er Fürze laut wie Kanonenschläge von sich gab und vor Schmerz wie eine entwurzelte Alraune schrie, während Argalia am Zielpfosten des Angelhauses vorbeilief, ein dort wartendes Pferd bestieg und ins Exil davongaloppierte. «Habt Ihr da etwa Eure Hand im Spiel gehabt?», fragte Argalia seine Geliebte, als sie sich in Bursa wiedersahen.
«Aber was hätte ich meinem lieben kleinen basha denn antun sollen?», antwortete sie mit weit aufgerissenen Augen. «Ihm einen Brief zuschicken, in dem ich ihn im Voraus dafür danke, Euch, meinen entsetzlichen Entführer, ermordet zu haben, und ihm als Zeichen meiner Dankbarkeit einen Krug anatolischen Weins zukommen lassen, das ist eine Sache, ganz recht, aber genau zu berechnen, wie lange ein dem Wein beigemischtes Gift bräuchte, bis es die gewünschte Wirkung zeigte, nun, das ist natürlich völlig unmöglich.»
Er schaute ihr in die Augen, konnte darin aber
nicht die geringste Andeutung auf Lug und Trug entdecken, keinen
Hinweis darauf, dass sie oder ihr Spiegel oder beide gemeinsam
irgendetwas getan haben mochten, das den Gärtner dazu verführt
haben könnte, seine Pflicht zu versäumen, im Voraus zu einer
bestimmten Stunde vom anatolischen Wein zu kosten, gar zum
Ausgleich für einen Moment der Freuden, der für einen Mann wie ihn
ein Leben lang vorhalten würde. Nein, sagte sich Argalia, während
ihn die Blicke von Qara Köz in ihren Bann zogen, nichts dergleichen
konnte geschehen sein. Seht die Augen meiner Geliebten, wie arglos
sie schauen, wie voll der Liebe und der Wahrheit.
Admiral Andrea Doria, Kapitän der genuesischen Flotte, wohnte, so
er denn er an Land weilte, in der Vorstadt Fassolo vor dem
San-Tommaso-Tor gleich außerhalb der Stadtmauern am nordwestlichen
Eingang zum Hafen. Von einem Edelmann aus Genua mit Namen Jacobo
Lomellino hatte er sich dort eine Villa gekauft, da er sich darin
wie einer der alten, Toga tragenden, mit Lorbeerkranz geschmückten
Römer fühlte, die ehedem in prächtigen Strandvillen wie etwa jener
in Laurentinum gewohnt hatten, beschrieben vom jüngeren Plinius,
aber auch wegen des Ausblicks auf den Hafen, der es ihm
ermöglichte, genau im Auge zu behalten, wer zu welcher Zeit in die
Stadt kam oder wer sie verließ. Für den Fall, dass rasches Handeln
vonnöten sein sollte, ankerten seine Galeeren unmittelbar vor dem
Haus. Und so kam es, dass er zu den Ersten zählte, die jenes Schiff
aus Rhodos erspähten, das Argalia zurück nach Italien brachte, und
mit Hilfe seines Fernglases machte er an Bord eine große Anzahl
schwerbewaffneter Männer in der Uniform osmanischer Janitscharen
aus. Vier von ihnen waren offenbar Albino-Riesen. Von seinem Platz
auf der Terrasse schickte er einen Boten zu seinem Leutnant Ceva
und wies ihn an, dem Schiff aus Rhodos entgegenzusegeln und
herauszufinden, was die Besucher im Schilde führten. So also
geschah es, dass Ceva der Skorpion aufs Neue dem Menschen
gegenübertrat, den er einst in feindlichem Gewässer zurückgelassen
hatte.
Der Mann, in dem der Skorpion Argalia noch nicht wieder erkannt
hatte, trug, wie er da vor dem Mast des rhodischen Schiffes saß,
einen gewaltigen Turban sowie die weiten, fließenden Brokatgewänder
eines wohlhabenden osmanischen Prinzen. Hinter ihm standen seine
Janitscharen, kampfbereit und bis an die Zähne bewaffnet, und an
seiner Seite harrten die zwei schönsten Frauen, die Ceva je gesehen
hatte, ihr Liebreiz unverschleiert und für jedermann sichtbar, das
schwarze Haar offen im Wind wie die Locken einer Göttin; jegliches
Sonnenlicht schien allein auf sie gerichtet, sodass die übrige Welt
dagegen kalt und dunkel wirkte. Sobald Ceva an Bord des rhodischen
Transportschiffes kam, eine Abteilung der Goldbande im Rücken,
wandten sich die Frauen zu ihm um, und er fühlte, wie ihm das
Schwert aus der Hand glitt. Ein sanfter, doch unerbittlicher Druck
auf beide Schultern, ein Druck, dem zu widerstehen er zu seinem
eigenen Erstaunen nicht die geringste Lust verspürte, zwang ihn zu
Boden, und plötzlich kniete er mit all seinen Männern zu Füßen der
Besucher, und über seine Lippen sprudelten ungewohnte Worte der
Begrüßung: Seid willkommen, edle Damen, und all jene, die über Euch
wachen.
«Vorsicht, Skorpion», sagte der osmanische Prinz in perfektem
florentinischem Italienisch und wiederholte dann Cevas eigene
Worte, «denn wenn ein Kerl mir nicht in die Augen sieht, reiß ich
ihm die Leber raus und verfüttere sie an die Möwen.»
Da wusste Ceva, wen er vor sich hatte. Er wollte aufspringen und
nach seiner Waffe greifen, merkte aber, dass er wie auch all seine
Männer aus irgendeinem Grund am Boden zu haften schien.
«Andererseits», fügte Argalia nachdenklich hinzu, «könnt Ihr mir
gar nicht in die Augen, sondern höchstens auf meinen verdammten
Schwanz sehen.»
Der große condottiere Doria, dem der Bart in mächtigen Wellen vom
Kinn herabfloss, posierte gerade für den Bildhauer Bronzino als
Meeresgott Neptun und stand nackt auf der Terrasse seiner Villa,
einen Dreizack in der Rechten, während der Künstler eine Skizze
seiner Blöße anfertigte, als zu seiner nicht unbeachtlichen
Bestürzung ein schwerbewaffneter Schurkentrupp den privaten
Anlegesteg zu seinem Haus heraufkam. Wundersamerweise marschierte
Ceva allen voran, sein eigener Mann, und führte sich wie ein
kriecherischer Speichellecker auf, während sich inmitten der Gruppe
offenbar zwei weibliche, Kapuzen tragende Personen befanden, deren
Identität und Eigenart er nicht zu bestimmen wusste. «Wenn ihr
glaubt, eine Bande Briganten mitsamt ihren Huren genüge, Andrea
Doria kampflos gefangen zu nehmen», brüllte er, packte mit der
einen Hand sein Schwert, mit der anderen den Dreizack, «dann wollen
wir doch einmal sehen, wer hier mit dem Leben davonkommt.» Im
selben Augenblick schlugen die Zauberin und ihre Sklavin die
Kapuzen zurück, und Admiral Doria brachte mit einem Mal nur noch
ein rotgesichtiges Gestammel zustande. Seine Hose suchend, wich er
vor der herannahenden Gruppe zurück, doch schienen die Frauen
seiner Blöße nicht die geringste Beachtung zu schenken, was die
Schande irgendwie noch mehrte. «Ein Junge, den Ihr für tot
zurückgelassen habt, kehrt zurück, um einzufordern, was ihm
zusteht», sagte Qara Köz. Sie sprach akzentfrei Italienisch, das
hörte Doria, doch war sie offenkundig keine Italienerin. Sie war
eine Besucherin, für die ein Mann sein Leben opfern konnte, eine
Königin, die man anbeten musste, und ihre Gefährtin, die der
königlichen Dame wie ein Spiegelbild glich, dem Original in
Schönheit und Charme nur unwesentlich unterlegen, war ebenfalls von
anbetungswürdiger Wohlgestalt. Im Beisein solcher Wunder konnte man
unmöglich ans Kämpfen denken. Admiral Doria warf sich einen Mantel
über und stand mit offenem Munde da, während sich die Fremden
näherten, ein Meeresgott im Banne der dem Wasser entstiegenen
Nymphen.
«Wie versprochen», sagte Qara Köz, «ist er als wohlhabender Prinz
zurückgekehrt. Den Wunsch nach Rache hat er überwunden, für Eure
Sicherheit ist also garantiert, doch fordert er jene Belohnung ein,
die ihm angesichts der in der Vergangenheit geleisteten Dienste und
seines gegenwärtigen Gnadenerweises wohl auch fraglos
zusteht.»
«Und was genau wäre das?», wollte Andrea Doria wissen. «Eure
Freundschaft», erwiderte die Zauberin, «sowie ein gutes Mahl und
sicheres Geleit durch diese Gewässer.»
«Sicheres Geleit wohin?», fragte der Admiral. «Wohin will er mit
solch einer blutrünstigen Schar?»
«Nach Hause heißt es für den Seemann, Andrea», sagte Argalia, der Türke. «Nach Hause für den Krieger. Ich habe die Welt gesehen, habe mein Scherflein Blut vergossen und auch mein Glück gemacht; jetzt will ich es genießen.»
«Ihr seid ein Kind geblieben», erwiderte Andrea Doria. «Ihr glaubt immer noch, Euer Zuhause am Ende einer langen Reise sei ein Ort, an dem ein Mensch seinen Frieden finden kann.»
16. Als wären alle Florentiner Kardinäle …Als wären alle Florentiner Kardinäle, kamen die verachteten Armen der Stadt den rotgewandeten Eminenzen zuvor, die in der Sixtinischen Kapelle in Klausur saßen, und zündeten vor lauter Begeisterung über die Wahl eines Medici zum Papst Freudenfeuer an. Die Stadt war so voller Flammen und Rauch, dass man aus der Ferne meinen konnte, sie würde niedergebrannt. Ein Reisender, der diesen Weg bei Sonnenuntergang entlangkam - ebenjener Reisende, der jetzt diesen Weg entlangkommt, den Weg vom Meer hierher, dessen zusammengekniffene Augen, weiße Haut und das schwarze lange Haar ihn nicht wie einen zurückkehrenden Landsmann, sondern wie ein exotisches Geschöpf aus einer fernöstlichen Legende aussehen ließen, wie einen Samurai von der Insel Cipangu oder Zipangu vielleicht, will sagen von Japan, einen Nachfahren der furchterregenden Kiushu-Krieger, die einst die einfallenden Horden des chinesischen Herrschers Kubilai Khan besiegten -, ein solcher Reisender könnte meinen, sich dem Schauplatz einer Katastrophe zu nähern, und innehalten, das Pferd zügeln und gleich einem General gebieterisch die Hand heben - wie jemand eben, der es gewohnt ist, dass ihm gehorcht wird -, um sich einen Überblick zu verschaffen. Argalia sollte sich in den folgenden Monaten noch oft an diesen Augenblick erinnern. Die Freudenfeuer waren entzündet worden, noch ehe die Entscheidung der Kardinäle gefallen war, doch erwies sich ihre Prophezeiung als zutreffend, und ein Medici, Kardinal Giovanni de’ Medici, wurde in jener Nacht tatsächlich zum Papst gewählt, Papst Leo X., um seine Macht mit der seines Bruders Herzog Giuliano in Florenz zu vereinen. «Hätte ich gewusst, dass diese Bastarde wieder im Sattel sitzen, wäre ich in Genua geblieben, um mit Doria auf seinen Kampfschiffen zu segeln, bis die Welt wieder zur Vernunft kommt», sagte er Il Machia bei ihrem Wiedersehen, «in Wahrheit aber wollte ich mit ihr angeben.»
«Die Liebe macht einen Mann zum Narren»}
gestand der Herrscher Mogor delfAmore. «Der Welt das unverhüllte
Gesicht der Geliebten zu zeigen ist der erste Schritt auf dem Weg,
sie zu verlieren.»
«Kein Mensch befiehlt Qara Kö~ ihr Gesicht zu enthüllen»} sagte der
Reisende. «Auch hat sie es ihrer Sklavin nicht befohlen. Sie traf
ihre Entscheidung aus freien Stücken} ebenso wie ihr
Spiegel.»
Der Herrscher verstummte. Über Zeit und Raum hinweg begann er, sich
zu verlieben.
Im Alter von vierundvierzig Jahren spielte Niccolo «Il Machia» an
einem späten Nachmittag in der Taverne von Percussina Karten mit
Frosino Uno, dem Müller, mit dem Metzger Gabburra und dem
Schankwirt Vettori, die sich Beleidigungen an den Kopf warfen, aber
sorgsam darauf achteten, den Dorfherrn dabei auszusparen, auch wenn
er trunken im Lärm an ihrem Tisch hockte und sich wie jemand
ihresgleichen benahm, zweimal mit der Faust auf den Tisch schlug,
sooft er ein Blatt verlor, dreimal, wenn er gewann, der fluchte wie
sie alle, es im Trinken mit jedem aufnahm und sie seine geliebten
Scheißkerle nannte, als Gaglioffo, der unflätige, nichtsnutzige
Holzfäller, in ungewohnter Hast angelaufen kam, die Augen weit
aufgerissen, und außer Atem hinter sich zeigte. «Hundert Männer
oder mehr», japste er, wies auf die Tür und rang nach Luft. «Fickt
mich zweimal in den Arsch, wenn ich lüge. Schwer bewaffnet, dazu
berittene Riesen, und sie kommen hierher!»
Niccolo erhob sich, die Karten noch in der Hand. «Dann, meine
Freunde, bin ich ein toter Mann», sagte er. «Der große Herzog
Giuliano hat also doch beschlossen, mich erledigen zu lassen. Ich
danke euch für die vergnüglichen Abende, die mir halfen, am Ende
harter Arbeitstage den Schimmel von meinen Hirnwänden zu kratzen,
aber jetzt muss ich gehen und mich von meiner Frau verabschieden.
»
Gaglioffo krümmte sich keuchend und presste sich vor Seitenstechen die Hände in den Leib. «Nein, mein Herr», keuchte er, «vielleicht nicht. Sie tragen eine andere Livree. Verdammte Ausländer, Herr, kommen bestimmt aus Ligurien oder von noch weiter her. Und Frauen sind auch dabei. Frauen, ausländische Frauen, Herr, wenn man die beiden Hexen ansieht, packt einen das Fickverlangen wie die Schweinepest. Fickt mich, Herr, wenn ich lüge.»
Diese Leute waren gute Leute, dachte Il Machia, diese wenigen Leute, seine Leute, aber im Allgemeinen waren die Florentiner Verräter. Sie waren es, die die Republik verraten und die Medici zurückgeholt hatten. Leute hatten ihn verraten, denen er als wahrhafter Republikaner zu Diensten gewesen war, als Sekretär der Zweiten Kanzlei, reisender Diplomat und Gründer der florentinischen Miliz. Nach dem Sturz der Republik und der Entlassung des Gonfaloniere Piero Soderini, des Vorsitzenden des Regierungsrates der Republik, war auch Il Machia entlassen worden. Nach vierzehn Jahren treuer Dienste bewies das Volk, dass es nichts auf Treue gab. Die Leute waren närrisch nach Macht. Sie hatten zugelassen, dass man Il Machia in die Eingeweide der Stadt zu den wartenden Folterknechten schleppte. Solchen Leuten kam es nicht zu, dass man sich um sie sorgte. Sie verdienten keine Republik. Solche Leute verdienten einen Despoten. Vielleicht waren alle Menschen so, überall, nur seine Bauern nicht, mit denen er trank, Karten und Tricktrack spielte, ein paar alte Freunde vielleicht auch nicht, Agostino Vespucci zum Beispiel; zum Glück hatten sie Ago nicht gefoltert, er war nicht stark und hätte alles und jedes gestanden, und dann hätte man ihn umgebracht, natürlich nur, falls er nicht schon unter der Folter gestorben wäre. Doch von Ago, der jünger als Il Machia war, hatten sie nichts gewollt. Il Machia war es, den sie töten wollten.
Sie hatten ihn nicht verdient. Seine Bauern
verdienten ihn, doch im Allgemeinen verdiente das Volk seine
grausamen, seine geliebten Fürsten. Der Schmerz, der ihm durch den
Leib fuhr, war kein bloßer Schmerz, sondern eine Erkenntnis. Es war
ein erzieherischer Schmerz, der die letzten Bruchstücke seines
Vertrauens ins Volk tilgte. Er hatte dem Volk gedient, und er hatte
mit Schmerzen gezahlt, dort, an jenem lichtlosen, unterirdischen
Ort, einem Ort ohne Namen, an dem namenlose Menschen Leibern, die
ebenfalls keinen Namen besaßen, namenlose Dinge antaten, da Namen
dort nicht zählten, nur der Schmerz zählte, Schmerz, dem das
Geständnis folgte, dann der Tod. Die Leute wollten seinen Tod,
zumindest kümmerte es sie nicht, ob er lebte oder starb. In der
Stadt, die der Welt die Idee vom hohen Wert und von der Freiheit
der individuellen Menschenseele schenkte, gab man nichts auf ihn
und scherte sich die Bohne um die Freiheit seiner Seele, ebenso
wenig wie um seine Unverletzlichkeit. Vierzehn Jahre seiner
ehrlichen und achtbaren Dienste hatte er ihnen gewidmet, doch sie
hatte sein Leben keinen Deut gekümmert, sein Recht, am Leben
bleiben zu dürfen. Solche Leute musste man einfach übersehen. Zu
Liebe oder Gerechtigkeit waren sie nicht fähig, und deshalb waren
sie auch nicht weiter von Bedeutung. Auf solche Leute kam es nicht
an. Sie waren weder primär noch sekundär, nur Despoten zählten. Die
Liebe des Volkes war launisch und unbeständig, nach solcher Liebe
zu streben war dumm. Es gab keine Liebe. Es gab nur die
Macht.
Nach und nach war ihm alle Würde genommen worden. Man verbot ihm,
den Stadtbezirk von Florenz zu verlassen, dabei war er ein Mensch,
der gern reiste. Man verbot ihm, den Palazzo Vecchio zu betreten,
in dem er doch so viele Jahre gearbeitet hatte, in den er gehörte.
Von seinem Nachfolger, einem gewissen Michelozzi, Speichellecker
der Medici und widerlicher Kriecher, wurde er wegen möglicher
Veruntreuung verhört, doch war er ein ehrlicher Diener der Republik
gewesen, weshalb man kein Anzeichen irgendeiner Missetat entdecken
konnte. Dann fand man seinen Namen auf einem Stück Papier in der
Tasche eines Mannes, den er nicht kannte; also wurde er eingesperrt
und an den namenlosen Ort gebracht. Der Mann hieß Boscoli, ein
Idiot, einer von vier Idioten, dessen Komplott gegen die Medici so
überaus idiotisch war, dass es aufflog, ehe sie damit auch nur
begonnen hatten. In Boscolis Tasche steckte eine Liste mit
zweihundert Namen:
Feinde der Medici in den Augen eines Idioten. Einer der Namen
lautete: Machiavelli.
Wer einmal in einer Folterkammer war, dessen Sinne können gewisse
Dinge nie mehr vergessen: die klamme Dunkelheit, den abgestandenen
Gestank menschlicher Exkremente, die Ratten, die Schreie. Wer
einmal gefoltert wurde, in dem hört ein Teil nie auf, Schmerz zu
fühlen. Die unter dem Namen strappado bekannte Strafe gehört zu den
quälendsten Foltern, die man einen Menschen erleiden lassen kann,
ohne ihn gleich zu töten. Die Handgelenke waren hinter seinem
Rücken gefesselt, und das Seil führte über einen an der Decke
hängenden Flaschenzug. Wenn er daran hochgezogen wurde, war der
Schmerz in seinen Schultern die ganze Welt. Nicht bloß die Stadt
Florenz und ihr Fluss, nicht bloß Italien, nein, Gottes gesamte
Schöpfung wurde durch diesen Schmerz ausgelöscht. Schmerz war die
neue Welt. Kurz ehe er aufhörte, an irgendwas zu denken, und um
nicht daran denken zu müssen, was danach geschehen würde, dachte Il
Machia an die Neue Welt und an Agos Vetter Amerigo, an Gonfaloniere
Soderinis Freund, an Amerigo, den Wilden, den Wanderer, der mit
Kolumbus bewiesen hatte, dass im Ozean keine Ungeheuer lebten,
welche ein Schiff mit einem einzigen Bissen zerteilen konnten, dass
die Schiffe nicht in Flammen aufgingen, wenn sie den Äquator
erreichten, dass sie nicht im Morast stecken blieben, wenn sie zu
weit nach Westen segelten, und der, wichtiger noch als alles
andere, so klug war zu begreifen, was dieser Trottel von Kolumbus
nicht kapierte, nämlich dass die Landmasse auf der anderen Seite
des Ozeans keine indischen Inseln waren, dass sie mit Indien nichts
zu tun hatte, sondern eine gänzlich neue Welt darstellten. Würde
diese Neue Welt nun auf Befehl der Medici geleugnet werden, würde
sie per Erlass ausgelöscht und nur zu einem dieser unglückseligen
Hirngespinste werden - so wie Liebe, Rechtschaffenheit oder
Freiheit -, um mit der Republik unterzugehen, von Soderini und all
den übrigen Verlierern in die Tiefe gezerrt, ihn selbst
eingeschlossen? Der glückliche alte Seebär, dachte Il Machia,
steckt wohlbehalten in Sevilla, wo ihm sogar der Arm der Medici
nichts anhaben kann. Amerigo mochte alt und krank sein, aber er war
in Sicherheit und durfte nach seinen vielen Reisen immerhin in
Frieden sterben, dachte Il Machia; und dann wurde das Seil zum
ersten Mal angezogen, und Amerigo verschwand, dann die Alte Welt
und schließlich auch die Neue.
Sechs Mal zog man mich hoch, aber ich habe nichts gestanden, weil
ich nichts zu gestehen hatte. Nach der Folter wurde er wieder in
die Zelle gesperrt, und man tat, als wolle man ihn dort vergessen
und langsam im rattigen Dunkel krepieren lassen. Dann aber, ganz
unverhofft, die Freilassung, in die Schmach entlassen, ins
Vergessen, ins Eheleben. Frei, um nach Percussina zurückzukehren.
Mit Ago Vespucci spazierte er durch die Wälder und suchte nach
Alraunen, aber sie waren keine Kinder mehr. Ihre Hoffnungen lagen
aufgegeben hinter ihnen, schimmerten nicht länger leuchtend in der
Zukunft. Die Zeit für Alraunen war vorbei. Einmal hatte Ago
versucht, La Fiorentinas Liebe zu erringen, indem er Alraunenpulver
in ihr Glas schüttete, doch die gewiefte Alessandra war nicht so
leicht zu erobern, sie zeigte sich immun gegen Alraunenzauber und
ersann für Ago eine schreckliche Strafe. In der Nacht, nach der sie
das Alraunenelixier getrunken hatte, wich sie von ihren sonst so
peinlich genau eingehaltenen Lebensgewohnheiten ab und ließ Ago,
diesen unbedeutenden Tropf, hochmütig in ihr Bett, doch kaum hatte
er fünfundvierzig Minuten lang das ungetrübte Glück des Paradieses
genossen, stieß sie ihn ohne weitere Umstände wieder hinaus,
allerdings nicht ohne ihn zuvor an den geheimen Fluch der Alraune
zu erinnern, dass nämlich jeder Mann, der eine im Banne der Alraune
stehende Frau geliebt hatte, innerhalb von acht Tagen sterben
müsse, falls sie nicht sein Leben rettete, indem sie ihm
gestattete, eine ganze Nacht mit ihr zu verbringen, «und darauf,
mein Lieber», sagte sie, «kannst du lange warten». Ago, der
abergläubische Schisshase, der wie alle Welt felsenfest an die
Magie glaubte, verbrachte acht Tage in der Gewissheit, dass sein
Ende nahe war, fühlte den Tod die Glieder hinaufkriechen, spürte,
wie kalte Finger ihn liebkosten und seine Hände langsam, ganz
langsam Hoden und Herz mit eisernem Griff umklammerten. Als er am
neunten Morgen lebend erwachte, war er keineswegs erleichtert. «Ein
lebender Tod», erklärte er Il Machia, «ist schlimmer als ein toter
Tod, denn im lebenden Tod kann man immer noch den Schmerz eines
gebrochenen Herzens fühlen.»
Niccolo wusste Bescheid über den lebenden Tod,
denn obwohl er selber nur knapp dem Tod der Toten entronnen war,
war er jetzt doch ein toter Hund, ein ebenso toter Hund wie der
arme Ago, da sie beide aus dem Leben entlassen worden waren, aus
ihren Stellungen, aus den grands salons wie jenem von Alessandra
Fiorentina, obwohl sie doch allen Grund gehabt hatten, dies für ihr
wahres Leben zu halten. Ja, sie waren Hunde mit gebrochenem Herzen,
weniger noch, sie waren verheiratete Hunde. Abend für Abend starrte
er seine Frau über den Esstisch an und merkte, dass er ihr nichts
zu sagen hatte. Marietta, das war ihr Name, und hier saßen auch
seine Kinder, ihre Kinder, ihre vielen, vielen Kinder, also hatte
er sie gewisslich geheiratet und wie ein richtiger Mann Kinder mit
ihr gezeugt, doch das war zu einer anderen Zeit gewesen, der Zeit
pflichtvergessener Grandeur, als er noch jeden Tag ein anderes
Mädchen vögelte, um vital und agil zu bleiben, und seiner Frau
hatte er es auch besorgt, mindestens sechs Mal. Marietta Corsini,
sein Weib, die ihm die Unterhosen und Handtücher stopfte und nichts
über nichts wusste, die seine Philosophie nicht verstand und auch
nicht über seine Scherze lachen konnte. Jedermann hielt ihn für
witzig, doch sie nahm ihn stets wörtlich, sie glaubte, ein Mann
meine, was er sagte, und Anspielungen und Metaphern setzten Männer
nur ein, um Frauen zu täuschen, um sie denken zu lassen, sie
wüssten nicht, was gespielt würde. Er liebte sie, gewiss. Er liebte
sie wie ein Mitglied seiner Familie. Wie eine Verwandte. Wenn er
mit ihr schlief, fühlte es sich sogar irgendwie falsch an. Es kam
ihm inzestuös vor, als vögelte er seine Schwester. Genau genommen
war es allein diese Vorstellung, die ihn erregen konnte, wenn er
bei ihr lag. Ich ficke meine Schwester, sagte er sich und
kam.
Sie kannte seine Gedanken, wie jede Frau die Gedanken ihres Mannes
kennt, und sie litt darunter. Niccolo war zuvorkom-mend und hatte
auf seine Weise viel für sie übrig. Madonna Marietta und ihre sechs
Kinder, Münder, die es zu stopfen galt. Die absurd fruchtbare
Marietta, einmal angefasst, schon blähte ein Kind sie auf und
purzelte bald darauf aus ihr heraus, ein Bernardo, ein Guido, eine
Bartolomea, ein Totto, eine Primavera und noch ein]unge, wie hieß
er gleich, Lodovico, die Vaterschaft wollte offenbar nie enden,
dabei war dieser Tage das Geld so knapp. Signora Machiavelli. Da
kam sie auch schon in die Taverne gestürzt und sah aus, als stünde
ihr Haus in Flammen. Sie trug eine Rüschenhaube, das Haar hing ihr
wirr in ungebändigten Löckchen ums eiförmige Gesicht mit dem
kleinen Mund, den vollen Lippen, und sie flatterte mit den Händen
wie eine flügelschlagende Ente, ja, doch da er schon einmal beim
Thema Enten war, musste auch zugegeben werden, dass sie ein wenig
watschelte. Seine Frau watschelte. Er war mit einer watschelnden
Frau verheiratet. Unvorstellbar, dass er je wieder ihr Geschlecht
berühren würde. Es konnte einfach keinen Grund geben, sie jemals
wieder anzufassen.
«Niccolo mio», rief sie mit einer Stimme, die,
nun ja, wirklich ein wenig quakte, «hast du gesehen, was da auf der
Straße zu uns kommt?»
«Was denn, geliebtes Weib?», fragte er beflissen.
«Was Schlimmes für die ganze Gegend», sagte sie. «Sieht aus wie der leibhaftige Tod zu Pferde mitsamt riesigen Unholden und in Begleitung grausiger Teufelsköniginnen.»
Die Ankunft jener Frau in Sant’ Andrea in
Percussina, die dereinst als l’ammaliatrice Angelica berühmt, wenn
nicht gar berüchtigt werden sollte, der sogenannten Zauberin von
Florenz, ließ die Männer von den Feldern herbeieilen, während die
Frauen aus den Küchen liefen und sich die teigverklebten Finger an
ihren Schürzen abwischten. Holzfäller kamen aus den Wäldern, der
Sohn des Metzgers Gabburra rannte mit blutigen Händen aus dem
Schlachthaus, und die Töpfer ließen ihre Brennöfen im Stich.
Frosino Uno, der Zwillingsbruder des Müllers Frosino Due, trat
mehlbestäubt aus der Mühle. Die lederhäutigen, wundnarbigen
Janitscharen von Stambul boten allerdings einen überwältigenden
Anblick, und auch ein Quartett Schweizer Albino-Riesen auf weißen
Pferden sah man in diesem Krähenwinkel nicht gerade alle Tage,
während die imposante Gestalt an der Spitze der Kavalkade mit der
so überaus weißen Haut und dem so überaus schwarzen Haar, der
bleiche Anführer, in dem Signora Machiavelli den Sensenmann
höchstpersönlich zu erkennen gemeint hatte, zweifellos ziemlich
erschreckend wirkte, weshalb die Kinder auch vor ihm zurückwichen,
denn ob nun Todesengel oder nicht, hatte er doch eindeutig mehr
Menschen sterben sehen, als gut für ihn oder sonst irgendjemanden
sein konnte. Doch auch wenn er wirklich der Todesengel war, wirkte
er zugleich seltsam vertraut, und er sprach den Dialekt der Gegend,
weshalb sich manch einer fragte, ob der Tod gleichsam immer
regionale Gestalt annahm, die eigene Mundart sprach, die innersten
Geheimnisse kannte und noch über die ureigensten Witze lachte,
während man von ihm bereits in die Schattenwelt gekarrt
wurde.
Allerdings waren es die beiden Frauen, Marietta Corsini
Machiavellis «Teufelsköniginnen», die jedermanns Aufmerksamkeit am
stärksten erregten. Sie ritten, wie Männer reiten, saßen rittlings
auf ihren Rössern, was ihr weibliches Publikum aus einem und die
zuschauenden Männer aus ganz anderem Grund aufkeuchen ließ, und in
ihren Gesichtern leuchtete das Licht der Offenbarung, als ob sie in
jenen frühen Tagen ihres Unverschleiertseins fähig gewesen wären,
das Licht aus allen Augen, die sie anschauten, aufzusaugen, um es
dann als ihr eigenes Leuchten mit mesmerischer, Phantasien
weckender Wirkung zurückzuwerfen. Die Gebrüder Frosino, selbst
Zwillinge, musterten sie mit entrückten Mienen und dachten an eine
Doppelhochzeit in nicht allzu ferner Zukunft. Trotz dieser
Wahnvorstellungen aber erkannten sie scharfen Blickes, dass diese
erstaunlichen Damen nicht ganz identisch, ja vermutlich nicht
einmal miteinander verwandt waren. «Erstere ist die Herrin,
Letztere die Dienerin», sagte der mehlbestäubte Frosino Due und
setzte dann, da er der poetischere der beiden Brüder war, noch
hinzu: «Sie sind wie Sonne und Mond, wie Klang und Echo, wie der
Himmel und sein Spiegelbild im See.» Sein Bruder gehörte eher zur
direkten Sorte. «Also nehme ich mir die Erste, und du kannst die
Zweite haben», sagte Frosino Uno. «Denn die Zweite ist zwar auch
schön, keine Frage, mit der machst du einen guten Fang, aber neben
meiner wirkt sie fast unsichtbar. Man muss schon ein Auge
schließen, um mein Mädchen auszublenden, wenn man sehen will, dass
deines auch ganz passabel ist.» Da er der um elf Minuten ältere
Bruder war, gestand er sich das Recht der freien Auswahl zu.
Frosino Due wollte bereits aufbegehren, als die erste Dame, die
Herrin, sich direkt zu den Brüdern umwandte und ihrer Gefährtin in
vollendetem Italienisch zumurmelte: «Was meinst du, meine
Angelica?»
«Sie haben durchaus einen gewissen simplen
Charme, meine Angelica.»
«Natürlich ist es verboten, meine Angelica.»
«Natürlich, meine Angelica, aber vielleicht kommen wir ja in
ihren
Träumen zu ihnen.»
«Wir beide, kommen wir beide zu ihnen, meine Angelica?» «Dann,
meine Angelica, werden die Träume schöner.»
Also waren sie Engel. Keine Teufelinnen, sondern Gedanken lesende Engel, die ihre Flügel zweifellos ordentlich gefaltet unter ihren Kleidern verbargen. Die Gebrüder Frosino zuckten zusammen, wurden rot und warfen wilde Blicke um sich, doch hatte außer ihnen offenbar niemand vernommen, was ihnen die Engel auf Pferdesrücken anvertraut hatten. Das war natürlich unmöglich und ein weiterer Beweis dafür, dass etwas gleichsam Göttliches geschehen sein musste. Etwas Göttliches oder Übersinnliches. Dies hier waren jedenfalls Engel, wahre Engel. Angelica, der Name, den sie miteinander teilten, war kein Name für Dämonen. Sie waren Traumengel, die den Müllern Freuden versprochen hatten, von denen Männer wie sie wahrlich nur träumen konnten. Die Freuden des Paradieses. Ein Kichern quoll urplötzlich aus ihrem Mund, als die Brüder sich umdrehten und, so rasch ihre Beine sie tragen konnten, zurück in die Mühle rannten. «Wo wollt ihr hin?», rief ihnen Gabburra nach, der Metzger, doch wie hätten sie ihm erklären können, dass sie sich ganz dringend hinlegen und die Augen schließen mussten? Wie erklären, weshalb es so wichtig war, weshalb es nie zuvor so wichtig gewesen war zu schlafen? Vor Vettoris Taverne verharrte die Prozession. Stille breitete sich aus, die nur vom leisen Wiehern müder Pferde unter-brochen wurde. Wie jedermann, so starrte auch Il Machia die Frauen an, weshalb es ihm, als er Argalias Stimme aus dem Mund des bleichen Kriegers dringen hörte, vorkam, als zerrte man ihn vom Altar der Schönheit in eine stinkende Jauchegrube. «Was ist, Niccola», sagte die Stimme, «weißt du nicht mehr, dass es heißt, man würde sich selbst vergessen, wenn man seine Freunde vergisst?» Marietta klammerte sich angsterfüllt an ihren Gatten. «Wenn der Tod sich heute dein Freund nennt», zischte sie ihm ins Ohr, «sind deine Kinder noch vor Nachteinbruch Waisenkinder.» Il Machia schüttelte sich, als müsste er sich von der Nachwirkung berauschender Getränke befreien. Dann blickte er dem Reiter fest, doch ohne einen Funken Wärme in die Augen. «Am Anfang waren drei Freunde: Niccola ‚Il Machia‘, Agostino Vespucci und Antonio Argalia. Die Welt ihrer Kindheit war ein Zauberwald. Dann wurden Ninos Eltern von der Pest dahingerafft. Er ging, um sein Glück zu suchen, und sie haben ihn nie wieder gesehen.» Marietta blickte zwischen ihrem Mann und dem Fremden hin und her, und allmählich ging ihr ein Licht auf.
«Dann», schloss Niccolo, «nach langen Jahren verräterischer Taten gegen sein Land und gegen seinen Gott, die seine Seele zur Hölle verdammten und seinem Leib das Streckbett verdienten, kehrte Argalia, der Pascha - Arcalia, Arqalia, Al-Ghaliya, selbst der Name war zur Lüge geworden -, an jenen Ort zurück, der nicht länger seine Heimat war.»