Kapitel 4

Sie starrte ihn wie hypnotisiert an. »Ich warte, Francesca«, sagte er leise, und in diesem Moment klang die für ihn so typische, schleppende Sprechweise irgendwie bedrohlich. »Ich warte auf eine plausible Erklärung. Es würde mich wirklich interessieren, wie Sie in dieses Haus, neben diese Leiche geraten sind.« Seine funkelnden Augen ließen endlich von ihr ab und wandten sich Paul Randall zu. »Die Leiche eines Mannes, der noch gar nicht so lange tot ist, wie mir scheint.«

»Es gibt eine ganze einfache und auch sehr einleuchtende Erklärung dafür!«, rief sie. Braggs kühles Auftreten flößte ihr Angst ein. War es in diesem Salon wirklich so warm, oder kam es ihr nur so vor? Am liebsten hätte sie sich Luft zugefächelt. Er drehte sich zu Peter um, als habe er sie gar nicht gehört. »Treiben Sie einen Streifenpolizisten auf und setzen Sie sich mit dem Polizeipräsidium in Verbindung. Ich will mindestens einen Beamten hier am Tatort haben. Und Kennedy soll im Flur warten«, sagte er mit zunehmend scharfem Tonfall, woraufhin der große Mann nickte und mit einem unwilligen Joel im Schlepptau verschwand.

Francesca war instinktiv ein Stück zurückgewichen, während Bragg sprach. Er war ganz offensichtlich wütend, und sie war keine Närrin – sie wusste, dass seine Wut weniger damit zu tun hatte, dass man ihn mitten in der Nacht aus dem Bett geholt hatte, als vielmehr damit, dass er Francesca am Tatort vorgefunden hatte. Sie fühlte sich, als sähe sie einen Tornado auf sich zukommen.

War er nun besorgt um sie, oder regte er sich lediglich über sie auf?

Er warf ihr einen ausgesprochen finsteren Blick zu, trat auf die Leiche zu, hockte sich daneben und betrachtete die Kopfwunde. »Ich warte, Francesca«, wiederholte er, ohne aufzublicken. »Also gut!« Sie warf die Hände in die Luft. »Als ich aus dem Rooftop Garden kam, drückte mir eine ziemlich verzweifelt wirkende Frau eine Visitenkarte in die Hand, auf der sie mich um Hilfe bat. Da ich mit meinen Eltern dort war, konnte ich die Zeilen erst lesen, als ich zu Hause angekommen war. Ihr Name ist Georgette de Labouche, und sie wohnt hier. Die Nachricht war recht deutlich: Sie bat mich, noch heute Abend hierher zu kommen.«

Bragg hatte Randall ohne große Mühe die Geldbörse aus der Hosentasche gezogen und stand nun da und blickte hinein. »Also haben Sie sich zu mitternächtlicher Stunde aus dem Haus Ihrer Eltern geschlichen, um sich mit einer Fremden zu treffen, bloß, weil diese Sie darum gebeten hat?« Er zog die Visitenkarten aus der Börse und starrte sie an. Für einen kurzen Moment veränderte sich sein Gesichtsausdruck, aber Francesca vermochte das Aufblitzen in seinen goldbraunen Augen nicht zu ergründen.

»Die Botschaft klang verzweifelt, Bragg«, erwiderte sie nervös. »Hätte ich ihr da etwa ihre Bitte abschlagen sollen?«

Er wandte sich ihr zu. »Ehrlich gesagt hätten Sie genau das tun sollen! Ist es Ihnen denn nie in den Sinn gekommen, dass es sich um eine Falle handeln könnte? Und wo steckt diese Miss de Labouche überhaupt?«

»Sie ist oben, und ja, natürlich ist mir diese unerfreuliche – wenn auch meiner Ansicht nach abwegige – Möglichkeit in den Sinn gekommen.«

»Haben Sie irgendetwas angefasst, Francesca?«, fragte Bragg und betrachtete die Geldbörse von allen Seiten.

Sie konnte nur hoffen, dass er die Blutflecke nicht bemerken würde. »Nein.« Ihre Wangen brannten.

»Da ist Blut auf Ihren Schuhen. Und Blut auf der Börse«, sagte er mit ruhiger Stimme, doch sein Blick schien sie zu durchbohren.

Francesca verzog das Gesicht und wusste im ersten Moment nicht, was sie sagen oder tun sollte. Sie log nicht gern, doch sie konnte es auch nicht leiden, auf diese Weise vorgeführt zu werden.

Er wartete scheinbar geduldig.

»Ja!«, rief sie schließlich. »Natürlich habe ich einen Blick in seine Geldbörse geworfen!« Sollte sie ihm auch gestehen, dass sie Calder Harts Visitenkarte herausgenommen hatte? Aber das war ihre beste Spur!

»Es ist ein schweres Vergehen, die Arbeit der Polizei zu behindern«, sagte Bragg, wobei seine Stimme nicht mehr ganz so geduldig klang.

»Ich weiß, und es tut mir ja auch Leid, aber nachdem dieser Eindringling hier war, konnte ich einfach nicht anders!«

»Ein Eindringling?«, fragte Bragg mit scharfer Stimme.

Francesca nickte eifrig. »Kurz nachdem Joel gegangen war, hat jemand das Haus betreten, Bragg. Es war ein Mann. Ich habe ihn nicht richtig sehen können, da ich mich in der Küche versteckt hatte, wo ich gerade überprüfen wollte, ob es eine Hintertür gibt und ob sie verschlossen ist. Aber er ist auf jeden Fall den Flur entlanggegangen, hat die Leiche gesehen, hat bis auf einen leisen Fluch kein Wort gesagt und ist wieder verschwunden. Einfach so.« Sie hatte so schnell gesprochen, dass sie jetzt ganz atemlos war.

»Himmel noch mal!«, stieß Bragg hervor. Er knallte die Geldbörse auf den kleinen Tisch vor dem Sofa, trat auf Francesca zu und baute sich vor ihr auf. »Was, wenn das der Mörder gewesen ist? Meine Güte, Francesca, warum müssen Sie sich bloß immer wieder in Gefahr bringen?«

Sie blickte ihn mit großen Augen an. Seine Nähe führte dazu, dass die Anspannung in ihrem Inneren wuchs. »Wieso sollte Sie das kümmern?«, hörte sie sich sagen und wünschte sich sofort, sie könne ihre Worte zurücknehmen.

»Wie bitte?« Er starrte sie entgeistert an. »Wieso mich das kümmern sollte? Sie sind schließlich eine Freundin, und ich verspüre nicht das Bedürfnis, auf Ihre Beerdigung zu gehen!«

Bei dem letzten Satz war seine Stimme immer lauter geworden, bis er die letzten Worte beinahe herausgeschrien hatte. »Da lasse ich Sie bei einem orgiastischen Spektakel zurück – was an sich schon schlimm genug ist –, und was tun Sie? Sie landen im Haus irgendeiner Fremden neben einer Leiche! Eines Tages werden Sie einmal einen bedauernswerten Mann um den Verstand bringen, weil er sich so um sie sorgt! «

In diesem Moment schoss Francesca durch den Kopf, dass er einige Stunden zuvor ihre Verabredung für den folgenden Tag abgesagt hatte. Ihre Brauen wanderten in die Höhe. »Nun, zumindest besteht ja nicht die Gefahr, dass Sie dieser Mann sein könnten.«

Bragg blinzelte. »Wie bitte?«

»Schon gut«, murmelte sie und wandte sich ab.

Aber er packte sie am Arm. »Nein, ich möchte wissen, was diese Bemerkung zu bedeuten hat. Und zwar auf der Stelle!«

Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Sie behandeln mich recht unsanft, Commissioner.«

Er ließ sie sofort los. »Verzeihen Sie. Aber ich war eigentlich davon ausgegangen, dass Sie nun, da die Burton-Entführung aufgeklärt ist, wieder ein normales Leben führen würden.« Er schüttelte den Kopf. »Wie ich sehe, habe ich mich getäuscht. «

»Sie sollten mich eigentlich besser kennen, Bragg«, erwiderte sie leise.

Er starrte sie nur an.

Dann fuhr sie fort: »Mit Ihnen ist es auch nicht immer leicht.« Verwunderung schlich sich in seinen Blick. »Wie darf ich das nun wieder verstehen?«, fragte er und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust.

»Nun, wenn man einen ganzen Tag auf ein bestimmtes Ereignis hin ausrichtet und dieses Ereignis dann plötzlich nicht stattfindet, dann ist das ziemlich lästig, finden Sie nicht auch?«, fragte sie in zuckersüßem Tonfall und lächelte ihn unschuldig an.

Er stemmte die Hände in die Hüften. »Verstehe. Jetzt begreife ich, warum Sie so schlecht gelaunt sind. Sie sind wütend, weil ich morgen nicht diesen Ausflug mit Ihnen unternehmen kann. Typisch Frau! « Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

»Von wegen typisch Frau! Ich habe bereits andere Pläne gemacht, vielen Dank auch.«

»Oh, wollen Sie etwa die Bibliothek besuchen, um zu lernen? Damit Sie sich wieder selbst abfragen können?«

Francesca errötete. Außer Connie und Evan wusste niemand, dass sie heimlich am College studierte. Bragg war ihr einmal beinahe auf die Schliche gekommen, doch sie hatte ihm erzählt, dass sie sich zum Vergnügen mit verschiedenen Themen beschäftige und hin und wieder selbst abfrage. »Ich habe einige Verehrer«, behauptete sie, was eine Lüge war.

»Francesca, es reicht. Es tut mir Leid, wenn Sie kein Verständnis für den Druck haben, unter dem ich in meiner Position als Polizei-Commissioner stehe. Aber ich verspreche Ihnen, dass wir den Ausflug eines Tages nachholen werden.« Er blickte sie ein letztes Mal an und wandte sich dann wieder der Leiche zu.

Er wollte den Ausflug also »eines Tages« nachholen. Francesca konnte es einfach nicht glauben. Hatte sie seine Absichten denn wirklich derart missverstanden? Es klang ganz und gar nicht so, als habe er irgendein Interesse an ihr oder als beabsichtige er, ihr den Hof zu machen – weder jetzt noch am nächsten Tag oder sonst irgendwann.

Ich darf jetzt nicht enttäuscht sein, ermahnte sie sich selbst und wandte sich ab. Immerhin hatte sie ihren ersten Fall zu lösen, einen wichtigen Fall.

»Was haben Sie aus der Geldbörse herausgenommen, Francesca?«, fragte Bragg, der sich in dem Salon umschaute.

»Nichts«, log sie. Sie schob ihre Enttäuschung beiseite. Natürlich würde sie ihm irgendwann etwas von Calder Harts Visitenkarte erzählen müssen, aber vielleicht würde Hart ihr einen Hinweis liefern, durch den sie imstande wäre, den Fall zu lösen – ohne Braggs Hilfe. Was machte es schon, dass sie sich in ihrer Fantasie ausgemalt hatte, mit ihm zusammenzuarbeiten? »Erzählen Sie mir, was nach Ihrem Eintreffen im Haus geschehen ist«, sagte Bragg, während er die Sitzpolster und Kissen anhob, um darunter nach Spuren zu suchen.

Francesca nahm in einem der Sessel Platz. »Was suchen Sie denn?«, fragte sie neugierig.

»Ein Mörder lässt oft Beweise zurück, und häufig handelt es sich dabei um die Tatwaffe.« Er ging zu einem Tisch hinüber, auf dem einige Fotografien und Nippes standen. »Ich wäre nicht überrascht, wenn wir die Mordwaffe in einem Umkreis von einem halben Häuserblock um dieses Haus fänden.«

Das war eine interessante Information, und Francesca beschloss, sie sich einzuprägen.

»Bitte erzählen Sie mir, was nach Ihrem Eintreffen geschehen ist«, forderte sie Bragg erneut auf, der gerade die bis zum Boden reichenden Vorhänge des einzigen Fensters anhob, um einen Blick dahinter zu werfen.

»Miss de Labouche war ziemlich außer sich, als ich hier ankam«, berichtete Francesca. Wenn sie Bragg doch nur bei der Suche nach der Waffe hätte helfen können! »Sie war nicht sehr erfreut, dass ich Joel mitgebracht hatte«, fügte sie hinzu.

Der Commissioner wandte sich mit den Händen in den Hüften zu ihr um. »Und wie kommt es, dass unser kleiner Taschendieb mit von der Partie war?«

»Ich glaube, er hat sich gebessert, Bragg«, sagte Francesca, der es gar nicht gefiel, dass der Commissioner in dem Jungen immer nur das Schlechte sah.

Er schnaubte verächtlich. »Er ist also ganz zufällig hier aufgetaucht?«

»Ich habe ihn abgeholt. Ich hatte Angst, ganz allein in der Stadt umherzuziehen.«

Er lächelte sie mit einem viel sagenden »Habe ich es Ihnen nicht gesagt?«-Lächeln an.

»Als ich hier ankam, zeigte Miss Labouche mir die Leiche und bat mich, ihr dabei zu helfen, den Toten zu verstecken«, berichtete Francesca mit großen, unschuldig dreinblickenden Augen weiter, wobei sie sich sehr wohl bewusst war, welche Reaktion ihre bühnengerechte Erzählung hervorrufen würde.

»Wie bitte?«, rief Bragg entgeistert. »Grundgütiger! Und die Frau ist dort oben?« Er machte sich auf den Weg zur Tür. »Sie ist unschuldig, Bragg! «, rief Francesca hinter ihm her und erhob sich. »Sie ist – sie war – Randalls Mätresse und hat Angst, Sie könnten sie für die Mörderin halten. Deshalb wollte sie die Leiche unbedingt verstecken.«

»Und Sie haben ihr geglaubt? Francesca, Sie sind wirklich naiv! «

»Sie war in der Badewanne, als der Schuss fiel! Mit erotischem Spielzeug, wenn ich das hinzufügen darf.«

Bragg blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich zu ihr um. »Ich wiederhole lediglich, was sie mir erzählt hat«, erläuterte Francesca.

»Verstehe.« Er starrte sie entgeistert an. »Nun, ich glaube, es ist an der Zeit, einmal mit Miss de Labouche zu sprechen.« Mit energischen Schritten verließ Bragg den Salon.

»Der Mord ist gegen sieben Uhr am heutigen Abend passiert«, rief Francesca, die ihm in den Flur gefolgt war.

Er blieb am Fuß der Treppe stehen, wandte sich um und blickte Francesca an. »Sie haben die Verdächtige also bereits befragt?«

»Ich betrachte sie als eine Zeugin«, gab Francesca zurück. »Sie sind keine Polizistin«, sagte Bragg mit fester Stimme. »Und Ihre Meinung ist nicht relevant. Es ist mein Ernst, Francesca«, fügte er warnend hinzu. »Dieser Fall geht Sie nichts an.«

Sie fragte sich, wie oft er ihre Gefühle an diesem Abend wohl noch verletzen wollte. »Ich habe Ihnen doch dabei geholfen, die Burton-Entführung aufzuklären«, sagte sie leise. »Das haben Sie selbst gesagt.«

»Ja, das habe ich. Und ich werde Ihnen dafür auch immer dankbar sein. Aber Sie werden mir auf keinen Fall dabei helfen, den Randall-Mord aufzuklären, Francesca. Auf gar keinen Fall!« Seine Augen funkelten. »Und wenn ich Sie dafür zu Hause einsperren lassen muss!«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, verkniff sich aber eine Antwort.

»Nun?«, fragte er.

Es wollte ihr nicht so recht gelingen, ihn anzulächeln. »Miss de Labouche ist meine Klientin«, sagte sie. Was allerdings nicht ganz der Wahrheit entsprach, da ihre Vereinbarung nicht wirklich offiziell war. Aber Miss de Labbouche würde zweifellos zustimmen, Francescas Dienste in Anspruch zu nehmen, wenn sie ihr anbot, umsonst zu arbeiten.

Sie konnte förmlich sehen, wie Braggs Blutdruck in die Höhe schoss.

Ohne ein Wort zu verlieren, stapfte er die Treppe hinauf, und Francesca eilte ihm nach. Auf dem Treppenabsatz fuhr er herum, sodass sie beinahe zusammengestoßen wären. »Gehen Sie wieder nach unten!«, zischte er.

Sie hatte keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit ihm. »Na schön. Aber es besteht kein Grund, sich so aufzuregen, Bragg.«

»In den zwei Wochen, seit wir uns kennen, habe ich schon etliche graue Haare bekommen«, erwiderte er.

Francesca wandte sich lächelnd ab, denn sonderbarerweise freute sie sich über diese Antwort. Sie hörte, wie Bragg nach Miss de Labouche rief, doch die Dame des Hauses antwortete nicht.

Im oberen Stockwerk des Hauses befanden sich lediglich ein Schlafzimmer und das Bad, was nicht ungewöhnlich war, da es sich um eines jener großen Stadthäuser handelte, die in mehrere Wohnungen unterteilt worden waren.

Als Bragg die Tür zum Schlafzimmer öffnete, beschloss Francesca, einen Blick in das Badezimmer zu werfen. Es war eindeutig, dass hier ein Bad hastig unterbrochen worden war: Auf einem kleinen Hocker standen eine geöffnete Champagnerflasche und zwei Gläser, eines davon halb voll, ein Handtuch lag auf dem Boden, und einige Kerzen waren bis auf die Dochte heruntergebrannt. Die Wände des kleinen, aber recht hübschen Badezimmers waren in einem dunklen Roséton gestrichen. In einer Ecke stand ein bunt bemalter Wandschirm, und an einigen Wandhaken hingen mehrere Spitzen-Negligees. Es gab keine Toilette; diese befand sich in einem angrenzenden, separaten Raum.

Francesca starrte in die Badewanne, eine Porzellanwanne, die auf vergoldeten Klauenfüßen stand. Im Wasser schwamm ein großer Gegenstand in einer undefinierbaren Farbe. An seiner Form war allerdings nichts Undefinierbares, im Gegenteil, es bestand kein Zweifel daran, was er darstellen sollte. Francesca spürte, wie ihr heiß wurde.

Großer Gott! Plötzlich begriff sie, was Miss de Labouche gemeint hatte, als sie von erotischem Spielzeug gesprochen hatte. Ihr wurde schwindlig.

»Ich kann sie nicht finden. Aber ich habe gesehen, dass es eine Hintertreppe gibt, die zur Küche hinunterführt – wahrscheinlich ist Miss de Labouche auf diesem Weg geflohen«, ertönte in diesem Augenblick Braggs Stimme hinter ihr. Er verharrte auf der Schwelle der Badezimmertür.

»Oh!«, entfuhr es Francesca. Sie wich durch die offene Tür zurück, wobei sie ihn in ihrer Hast flüchtig streifte.

»Oh Gott!«, sagte Bragg, der ebenfalls erkannt hatte, was in der Wanne schwamm, und trat rasch wieder auf den Flur.

Francesca vermochte ihm nicht in die Augen zu sehen. »Nun, sie war ganz eindeutig im Bad«, sagte sie.

»Aber das heißt noch lange nicht, dass sie keine Mörderin ist«, gab Bragg betont gelassen zurück.

Francesca vermied es immer noch, ihn anzusehen, und warf stattdessen einen Blick ins Schlafzimmer. Die Farbe Rot dominierte den Raum, an dessen Wänden einige chinesische Gemälde hingen. Die Vorhänge am Fenster waren goldfarben, und in der Ecke stand ein orientalischer Wandschirm. Auf dem großen Bett lag eine rote Tagesdecke.

Anschließend begutachtete Francesca die Hintertreppe, die offenbar tatsächlich zur Küche hinunterführte. Von unten war sie ihr im Dunkeln gar nicht aufgefallen. »Sie hat ein Bad genommen, Bragg, genau wie sie gesagt hat«, sagte Francesca.

Er seufzte, legte eine Hand auf ihre Schulter und führte sie die Hintertreppe hinunter. Auf dem Weg nach unten hörten sie Stimmen, die aus dem Flur kamen. »Francesca, Sie sind jung und eine Dame von Stand noch dazu und können sich solche Dinge vielleicht nicht vorstellen – aber möglicherweise hat diese Frau ja nach dem Mord an ihrem Liebhaber ein Bad genommen.«

»Sie hat mit ihrem Spielzeug gebadet, Bragg«, erwiderte Francesca mit scharfer Stimme.

Mittlerweile waren sie in der Küche angekommen. Francesca entzündete die Gaslampe, und Bragg wiederholte: »Wie ich schon sagte: Möglicherweise hat sie nach dem Mord an Randall gebadet.«

Jetzt begriff Francesca die Bedeutung seiner Worte und starrte ihn entgeistert an. »Aber das ist ja krank!«

»Ja, das ist es.« Er ließ sie in der Küche stehen und ging durch das Esszimmer in die Diele.

Francesca entschloss sich, für den Moment nicht weiter über eine solch schockierende Möglichkeit nachzudenken, und eilte ihm nach. Bragg wies bereits zwei Streifenbeamte an, das Gebiet abzusperren, während zwei weitere Beamte auf ihre Instruktionen warteten. »Ich glaube, dass der Mord mit einer kleinen Waffe begangen wurde, möglicherweise mit einer Damenpistole oder auch mit einer Derringer. Das Haus und das Grundstück – wenn nötig der gesamte Straßenblock – müssen sofort durchsucht werden. Ich erwarte, dass die Waffe noch heute Nacht gefunden wird.« Die beiden Streifenbeamten eilten mit ernsten und entschlossenen Gesichtern davon.

Francesca schnitt eine Grimasse. Sie hatte ganz vergessen, dass Bragg dreihundert seiner Leute degradiert hatte, wodurch sich die gesamte Behörde in einem einzigen Durcheinander befand und die Leute zweifellos auch erbärmliche Angst vor ihrem Commissioner hatten. Sie warf einen Blick auf die beiden anderen Männer, die stocksteif vor Bragg standen und auf ihre Befehle warteten. Sie sahen nicht besonders glücklich aus, machten aber den Eindruck, als wären sie notfalls bereit, durch einen Reifen zu springen, wenn Bragg es ihnen befahl.

In diesem Moment traten zwei Kriminalbeamte in Zivil durch die Haustür. Einen von ihnen erkannte Francesca wieder: Inspector Murphy, ein Mann mit einem dicken Bauch und einem mächtigen Schnurrbart. »Die Leiche liegt im Salon«, sagte Bragg. »Aber zunächst müssen wir Georgette de Labouche ausfindig machen, die Herrin des Hauses. Verhaften Sie sie noch nicht, aber bringen Sie sie zum Verhör ins Präsidium. Ich werde sie mir dort persönlich vernehmen. Francesca, bitte beschreiben Sie Miss de Labouche.«

»Bragg ...«, protestierte sie.

Erst jetzt erkannte auch Murphy Francesca, und seine Augen weiteten sich vor Überraschung. »Beschreiben Sie bitte Miss de Labouche«, wiederholte Bragg. »Im Augenblick ist schnelles Handeln geboten.«

Francesca war sich zwar fast sicher, dass es nicht Georgette war, die Paul Randall getötet hatte, aber sie sagte gehorsam: »Sie ist Anfang dreißig, etwas mollig und hübsch anzusehen, hat lockiges, rotes Haar und braune Augen. Sie trug ein blaues Kostüm, dessen Jacke recht gewagt war, große, aquamarinfarbene Tropfenohrringe und eine große, aquamarinfarbene Brosche in der Form eines Schmetterlings. Außerdem trug sie an beiden Händen mehrere große Ringe, von denen einer möglicherweise ein in Silber gefasster Granat war.«

»Vielen Dank«, sagte Bragg. Dann fuhr er an Murphy gewandt fort: »Sie kann noch nicht weit sein. Geben Sie die Beschreibung heraus. Ich möchte Miss de Labouche noch vor Morgengrauen in meinem Büro sitzen haben. Fangen Sie mit der Befragung der Nachbarn an. Vielleicht hat jemand gesehen, wie die Dame das Haus verlassen hat oder wann Randall eingetroffen ist.«

»Jawohl, Sir«, sagte Murphy und trat durch die Haustür. Als sie seinen Tonfall vernahm, war Francesca erstaunt, dass er nicht auch noch salutierte.

»Ich würde mir gern einmal die Leiche ansehen«, sagte der andere Detective.

»Bitte«, gab Bragg zurück und deutete Richtung Salon. Der Detective ließ sie an der Tür zurück und schritt durch den Flur davon. Francesca hörte das Klappern von Pferdehufen auf Kopfsteinpflaster und das Knirschen von Wagenrädern. Sie trat zur Seite und warf einen Blick durch das Fenster neben der Haustür. Ein Polizei-Fuhrwerk war eingetroffen, von dem mehrere Polizisten hinuntersprangen. Jemand hatte bereits eine Barrikade an einem Ende der Straße platziert, und Francesca sah, dass ein Streifenbeamter gerade eine zweite Barrikade vor das Haus schleppte. In den Fenstern auf der gegenüberliegenden Straßenseite gingen nach und nach die Lichter an. Plötzlich wurde eines der Fenster geöffnet, und ein Mann brüllte: »Was zum Teufel ist da los?«

»Peter?«, sagte Bragg in diesem Moment leise.

Francesca drehte sich verdutzt um und sah, dass der große Mann aus dem Schatten neben der Treppe trat. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass er noch im Flur war. Er hatte eine Hand auf Joel Kennedys schmale Schulter gelegt. Joel warf Francesca einen verärgerten Blick zu, der sich rasch in einen flehentlichen verwandelte. Seine Körpersprache war eindeutig: Er wollte so schnell wie möglich weg von der Polizei. Sie lächelte ihm beruhigend zu.

»Peter, bitte bringen Sie Miss Cahill nach Hause und sorgen Sie dafür, dass sie auch wirklich ins Haus geht«, sagte Bragg. »Der Junge kann ebenfalls gehen.«

Francesca war bestürzt. Sie wäre viel lieber am Ort des Geschehens geblieben. Immerhin war Georgette verschwunden, man hatte die Mordwaffe noch nicht gefunden, und Bragg würde sich schon bald mit Murphy und den anderen Kriminalbeamten zusammensetzen, um den Fall zu besprechen. Und was war mit den Nachbarn? Francesca wollte unbedingt hören, was sie zu sagen hatten!

Schließlich war dies ihr Fall, und nun wollte man sie einfach ausschließen.

»Gute Nacht, Francesca«, sagte Bragg mit fester Stimme.

Sie starrte ihn für einen Moment stumm an. Dann nickte sie, denn ihr wurde klar, dass er ihr keine andere Wahl ließ. »Gute Nacht, Bragg«, verabschiedete sie sich mit süßlicher Stimme. Als sie Peter zur Tür folgte, sagte Bragg: »Eins noch, Francesca.«

Sie blieb stehen und betrachtete ihn mit einem unschuldigen Blick.

»Falls Ihre Klientin versuchen sollte, Kontakt zu Ihnen aufzunehmen, werden Sie mich doch umgehend darüber in Kenntnis setzen, nicht wahr?«, sagte er.

Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Gewiss doch«, erwiderte sie.

»Es ist mir ernst damit«, sagte er warnend.

»Mir auch.«