Tabu: Darüber spricht man (besser) nicht!
Als Tabuthemen werden Dinge bezeichnet, über die in einer Gesellschaft oder einer Gruppe nicht gesprochen werden soll.
Tabus sind etwas, das da ist, das von den Menschen aber so behandelt wird, als ob es nicht da wäre. Jemand zeigt z.B. ein bestimmtes Verhalten, das gesellschaftlich oder bei Einzelnen nicht akzeptiert ist und man negiert dies Thema und klammert es einfach aus. Am liebsten hätte »man«, es würde das Verhalten einfach nicht geben! Es ist wie bei einem Kind, das sich die Augen zuhält und ruft: »Ich bin nicht da!« Aber das Kind ist da und Tabus sind es auch.
Was wir als Tabu empfinden, hat viel mit inneren Werten zu tun oder mit Vorstellungen und Wünschen, wie wir Menschen oder die Welt gerne (anders) hätten. Aber auch damit, was eine Gesellschaft oder Gruppe von ihren Mitgliedern erwartet. Da solche Erwartungen sich im Laufe der Zeit ändern können, kommt es auch vor, dass Dinge, die früher einmal tabu waren, heute nicht mehr als Problem angesehen werden. Denken Sie zum Beispiel an das Thema Scheidung oder uneheliche Kinder.

Tabus und innere Konflikte

Tabus bringen sehr viele Menschen in innere Konflikte, denn es steht letzten Endes ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Familie oder Gesellschaft auf dem Spiel. So ein Tabu ist eine Art Alleinstellungsmerkmal: Man glaubt von sich, man hätte als Einzige diese Gedanken, Gefühle, Ideen, niemand sonst - eben weil es tabuisiert wird und jeder so tut, als würde es »das« nicht geben.
Wer mit einem Tabu lebt, fühlt sich schmerzvoll anders als seine Umwelt und hofft daher, es vor seinen Mitmenschen geheim halten zu können. Oder dass »es« endlich »weggeht« oder »aufhört«. Aber auch andere, die mitbeteiligt sind, fühlen Konflikte. Einerseits wird über etwas Bestimmtes nicht gesprochen, andererseits ist es aber da, steht mehr oder minder unterschwellig im Raum.
Ein Tabu zu brechen heißt, gegen (unausgesprochene) Regeln und Moralvorstellungen zu verstoßen, was meist Selbstabwertungen nach sich zieht. Entsprechend schwer kann es sein, ein Tabu offen zu legen, zumal man vorher nicht sicher weiß, wie der oder die anderen reagieren.
»Ich bin schwul«, sagte mein Cousin zu mir. »Gott sei Dank ist es raus,« atmete ich damals auf, denn ich ahnte es bereits seit vielen Jahren. »Endlich kann ich normal mit dir reden.« Es galt damals, und so ist es auch heute noch, als tabu, einen Mann neugierig zu fragen: »Bist du schwul?« Dieses Thema sollte vom Betroffenen angesprochen werden, denken viele. Irgendwann wird Schwulsein hoffentlich so natürlich behandelt werden, dass man sich genauso locker danach erkundigen kann, wie wir heute fragen: »Bist du Single oder liiert?« Single sein ist heute nicht mehr besetzt. Vor wenigen Jahrzehnten war es noch ein Makel und entsprechend ein Tabu, danach zu fragen.
Glücklicherweise fallen die Reaktionen bei vielen »brenzligen« Situationen oftmals viel positiver aus als erwartet, denn die meisten von uns erleben und fühlen Unerwünschtes und Ungereimtheiten im Leben, es wird meist nur nicht darüber geredet. Dann ist es raus und alles gar nicht so schlimm. Häufig genügt allein das Sprechen darüber, dass ein Tabu seine bedrohliche Macht verliert.
Mit diesem Kapitel möchte ich Sie anregen, über Tabus zu nachzudenken und zu sprechen - mit Ihrem Partner, Ihrer Freundin und mit Ihren Kolleginnen. Sie können Tabus auch als Ausgangspunkt für Brainstormings benutzen, im Sinne von: Wie könnten wir oder eine von uns reagieren, wenn etwas in dieser Art geschieht? Ohne, dass Sie sich selbst offenbaren müssen, können Sie von den Anregungen Ihrer Kolleginnen profitieren, und Hilfe wird möglich.

Tabu: Sie können ein Kind Ihrer Gruppe nicht leiden

Ich kann mich noch gut an meine Zeit als Leiterin einer Familiengruppe erinnern. Es waren mehrere Kinder unterschiedlichen Alters und natürlich mit unterschiedlichen Geschichten. Ein Mädchen war mir von Anfang an unsympathisch und dieses Gefühl hat sich fast bis zum Ende meiner Tätigkeit nicht gelegt. Eigentlich ist mir heute noch unwohl, wenn ich an sie denke. Ich bin froh, dass ich mit ihr nichts mehr zu tun habe, und das zeigt mir, dass unsere Beziehung unverarbeitet geblieben ist. Damals, das muss ich hinzufügen, gab es bei uns noch keine Supervision oder Teamgespräche mit Psychologen. Wir erzogen so »vor uns hin«, waren engagiert, aber jung und hatten recht wenig Lebens- und Arbeitserfahrung. Für das Mädchen und mich waren es die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für eine gute Beziehungsgestaltung.
Ich habe meine Abneigung gegen das Mädchen damals verheimlicht. Meine Gefühle passten nicht zu den ethischen Grundpfeilern, die ich hinsichtlich meines Berufes hatte. Ich wollte eine gute Erzieherin sein und alle Kinder gleichermaßen lieben. Aber ich tat es nicht und fühlte mich deswegen unfähig und schlecht. Je länger ich dieses Gefühl mit mir herumtrug, desto schlechter ging es mir. Niemandem wurde dadurch geholfen. Weder mir noch dem Mädchen noch dem Team.
Wenn Sie ein Kind nicht mögen, dann wird es Gründe dafür geben. In meinem Fall war es komplette Überforderung. Ich war der Verhaltensauffälligkeit des Mädchens nicht gewachsen, sie provozierte mich und ich reagierte mit Abscheu und Wut. Betrachten wir nun mein damaliges Verhalten mit dem Abstand von vielen Jahren, könnten wir erkennen, dass ich Hilfe brauchte. Ich war einer pädagogischen Situation ganz klar nicht gewachsen und reagierte zwar menschlich, aber nicht mehr auf der Metaebene. Menschliche und gefühlsintensive Reaktionen sind in Ordnung, häufig aber längerfristig nicht hilfreich. Eine Kollegin oder eine Beraterin, die mir den Blick von der Metaebene ermöglicht und Verhaltensalternativen mit mir besprochen hätte, wäre unterstützender gewesen. So wie es den meisten Müttern Schuldgefühle verursacht, wenn sie nicht für alle Kinder dasselbe empfinden, geht es auch Erzieherinnen, die sich einem bestimmten Mädchen oder Jungen gegenüber reserviert fühlen. Und wenn Sie einmal fragen, werden Sie feststellen, dass kaum eine Ihrer Kolleginnen diese Erfahrung nicht kennt.
 
Wenn Sie betroffen sind
• Sprechen Sie mit einer erfahrenen Kollegin darüber, bestenfalls einer Kollegin, die nicht in Ihrem Kindergarten arbeitet.
• Suchen Sie sich Hilfe in der Supervision.
• Wenn Sie anonym bleiben wollen, bieten die Caritas- und Diakonie-Beratungsstellen sehr effektive Hilfe.
• Thematisieren Sie Ihren Konflikt im Team.
Sprechen Sie mit jemandem und versuchen Sie die Ursache herauszufinden. Was könnte Ihnen helfen, das Kind wieder mehr zu mögen und seine sympathischen Charaktereigenschaften zu entdecken? Die Arbeit wird Ihnen ab da leichter von der Hand gehen, wenn Sie etwas an dem Kind finden, das Sie »lieben«.

Tabu: Sie sind in den Vater eines Kindes verliebt

Als ehemalige Heiratsvermittlerin habe ich für verliebte Gefühle und Zuneigungen das allergrößte Verständnis. Allerdings fällt das Liebeskraut nicht immer auf den einfachsten Acker. In der Liebe schießt Amor manchmal etwas ungünstig: dann beispielsweise, wenn Sie sich in den Vater eines Kindes verliebt haben und der darüber hinaus auch noch gebunden ist.
Eigentlich ist es kein Wunder, dass das passieren kann, denn Sie sind den ganzen Tag mit Frauen und Kindern zusammen. Jeder Mann, der den Raum betritt, kann da zum Exot und Objekt der Begierde werden. Besonders dann, wenn Sie vielleicht Single sind oder in Ihrer Beziehung nicht sehr glücklich. Die Minuten sind kurz und Väter in der Abschieds- oder Begrüßungsphase mit ihrem Kind emotional und weich. Klar, dass da Ihr Herz in Flammen geraten kann. Wer möchte nicht liebevoll in den Arm genommen werden wie ein Kind, wenn die Seele durchhängt. Liebesgefühle finden so ein »Nest«. Diese Gefühle können tatsächlich echt sein oder, aus Mangel an Möglichkeiten, sich eben auf diesen Vater richten. Wenn es Sie aber wirklich »erwischt« hat, dann sind Sie sicher ganz schön durcheinander, unabhängig davon, ob dieser Mann von Ihren Gefühlen weiß oder nicht. Auch jetzt ist Beratung hilfreich. Mit einer Therapeutin werden Sie leichter herausfinden als allein, um welche Gefühle es sich handelt und was für Sie am besten und sinnvollsten ist.
Lieben darf man übrigens immer. Es ist ein wunderschönes Gefühl, nur für sich allein, und muss nicht immer beantwortet werden. Sie dürfen Liebe auch dann fühlen, wenn Sie keine Beziehung mit oder zu diesem Menschen pflegen.

Tabu: Ihre Kollegin hat ein Verhältnis mit einem Vater

Sie wissen oder ahnen etwas und das macht Sie zur Mitwisserin, selbst wenn Ihrer Kollegin noch nicht klar ist, dass Sie ein Teil des Spiels sind. Es wäre leicht, sich rauszuhalten und so zu tun, als ginge einen das alles nichts an. Aber bei Tabubrüchen dieser Art entwickelt sich ein Schatten, der sich häufig auch auf andere Bereiche legt, z.B. die Zusammenarbeit. In Ihnen entstehen vielleicht Fragen und Zweifel.
• »Sie kann ganz gut verheimlichen. Wo hat sie wohl mich schon angelogen?«
• »Wie kann Sie diese Mutter so hintergehen.«
• »Warum hört sie damit nicht auf?«
• »Hat sie keinen Anstand?«
Wenn Sie etwas wissen, dann ist es schwer so zu tun, als wüssten Sie nichts. Und es ist auch schwer, eine generelle Empfehlung zu geben, wie Sie handeln sollten, denn jede Liebessituation dieser Art unterscheidet sich von anderen. Aus meiner Sicht jedoch (und das trifft für mich auf alle Geschichten dieser Art zu) ist es nicht gut, wenn Menschen nicht mehr aufrichtig miteinander umgehen. Selbst wenn die Kinder in Ihrer Einrichtung davon nichts mitbekommen, ist es doch so, dass wir Erwachsenen vorbildhaft Lösungen vorleben sollten - auch in Sachen Konflikt. Ich bin mir sicher, dass Verschweigen und Verheimlichen ein Gift ist, das die Luft zwischen Menschen, kleinen und großen, langfristig verpestet. Wir sollten es »rein« zwischen uns halten, und dazu gehört auch, Tabus und Regelbrüche anzusprechen.
Wie können Sie das tun? Ich kann nun wieder nur von mir ausgehen, aber ich würde dringend um ein Vier-Augen-Gespräch außerhalb des Kindergartens bitten. Und dann würde ich sagen, was ich vermute, und offen und achtsam zuhören. Sie wissen sicher noch aus dem Kapitel über die Landkarten, dass wir viel zu schnell glauben zu wissen, wie ein anderer Mensch etwas erlebt. Im Grunde aber wissen wir nichts. Und Ihre Kollegin ist auch nicht verpflichtet, Ihnen etwas zu erzählen, bloß weil Sie angeblich etwas wissen. Es kann sogar sein, dass Sie auf Abwehr stoßen, auf Wegschieben und »Das stimmt doch gar nicht«. Letztendlich müssen Sie selbst fühlen und hören, was stimmen könnte und was nicht. Aber ganz sicher helfen auch hier Fragen weiter. Fragen, die nicht beschuldigend sind, sondern die Ihrer Kollegin aufzeigen, in welche Zwickmühle Sie durch Ihre ungewollte Mitwisserschaft geraten sind.
• »Ich habe damit primär nichts zu tun, aber ich kann der Mutter nicht mehr in die Augen schauen. Was soll ich tun?«
• »Wie kann ich damit leben, dass ich nun in deine Lügen miteingebunden bin? Was ist dein Wunsch, deine Empfehlung?«
• »Wie würdest du dich an meiner Stelle z.B. dem Team gegenüber verhalten?«
Liebe lässt sich nicht verhindern und verheimlichen. Das habe ich schon zu Tabu 2 geschrieben. Aber was dort gilt, gilt auch in diesem Fall: Eine Erzieherin, die sich in einen Vater wirklich verliebt und eine Verbindung mit ihm eingeht, sollte die Einrichtung wechseln, damit wieder Ruhe einkehren kann. Egal, ob das mit Schwierigkeiten verbunden ist oder nicht. Es ist der Preis, den diese Liebe zu zahlen hat. Wenn sich zwei Menschen ineinander verlieben, die bereits gebunden sind, dann gibt es immer einen Preis. That’s part of the game.

Tabu: Eine Kollegin greift die Kinder »zu fest« an

Der kleine Klaps auf den Hintern. Der etwas zu feste Griff am Arm. Das große Gesicht genau vor dem kleinen und die zu laute Stimme dabei. Die Ankündigung: »Hörst du, was ich sage? Wenn du nicht aufhörst, dann … Hörst du? Dann, dann...«
Nicht alle Erzieherinnen, die zu laut werden oder Kinder zu fest anfassen, sind gewalttätig - aber überfordert sicherlich und sei es nur bei diesem Kind und in diesem Moment. Die Grenzen von Kindern auf körperlicher oder seelischer Ebene zu missachten ist auch kein Tabu, sondern hier wird Menschenrecht missachtet. Auch Kinder haben Rechte! Wenn Sie regelmäßig Teamsupervisionen oder Fallbesprechungen durchführen, hat das sehr günstige Auswirkungen, auch auf die Überforderung einzelner Erzieherinnen. Gespräche und beratende Situationen sind wie ein Ventil. Hier können sich Kolleginnen austauschen und gemeinsam nach besseren Wegen suchen. Sie fühlen sich nicht mehr so alleine gelassen und auf sich gestellt. In Supervisionen können Kolleginnen voneinander erfahren, wie die Einzelnen mit Stress und wütenden Gefühlen umgehen, oder sie können im Team überlegen, was nun hilfreich wäre.
 
Auch hier hilft es, achtsam und wertschätzend Fragen zu stellen
• »Ich erlebe dich sehr geduldig bei Anna und ich frage mich, was du brauchst, damit du auch bei Leon wieder geduldiger sein kannst?«
• »Ich empfinde dich die letzten Wochen sehr dünnhäutig, und ich würde gerne wissen, ob das stimmt, und wenn ja, ob ich dich in irgendeiner Art unterstützen kann?«
• »Was können wir für uns tun, um mit dem Stress besser umzugehen?«
• »Karoline, du bist auch aggressiven Kindern gegenüber immer ganz ruhig. Wie machst du das? Hast du eine bestimmte innere Haltung?«
• »Wir haben sehr viele laute Jungs im Kindergarten und sind nur Frauen. Was könnte uns helfen, mit den Jungs besser umzugehen?«
Wenn wir miteinander ins Gespräch kommen, uns angenommen und verstanden fühlen, ist das erste Tor zur Lösung bereits geöffnet. Wenn Sie also spüren, dass in Ihrem Kindergarten bei einzelnen Erzieherinnen oder im Team die Stimmung immer rabiater wird, schreiten Sie umgehend ein! Im Falle einer angehenden oder tatsächlichen Kindesmisshandlung durch eine Erzieherin muss dieses Verhalten sofort durch die Führungsebene geklärt werden und Konsequenzen folgen.

Tabu: Eine Kollegin trinkt Alkohol

Der Griff zum Alkohol ist leicht. Das tröstende Glas Rotwein am Abend, der Schnaps zur Verdauung, das Glas Prosecco, weil »es uns gerade gut geht«, die Flasche Champagner »zur Feier des Tages«, der Glühwein, weil es bitterkalt ist, die Bowle, weil es warm ist, der Grog, um die Erkältung abzuwehren, das Hefeweizen, weil es Sommer ist... Es gibt unzählige Gründe, »etwas« zu trinken. »Lass uns was trinken gehen«, sagt man ja auch so salopp und es ist klar, dass kein Apfelsaft damit gemeint ist.
Ein Glas Wein macht aus einem Menschen noch keinen Alkoholiker. Doch wenn sich die Gedanken um dieses Glas Wein zu drehen beginnen oder die Flasche gelehrt werden muss, weil es anders nicht geht, dann ist es höchste Zeit für Hilfe. Wenn das passiert, sind Sie als Kollegin nicht dabei. Aber vielleicht riechen Sie Alkohol nach der Mittagspause oder Sie bemerken, dass Ihre Kollegin sehr oft verkatert ist und sich das auf die Arbeit mit Ihnen und den Kindern auswirkt. Alkohol hat im Kindergarten nichts verloren. Alkohol verzerrt den Blick auf die Verantwortung und die Arbeit, die jede Erzieherin zu leisten hat. Wenn Sie mitbekommen, dass eine Kollegin trinkt, müssen Sie reagieren. Sprechen Sie die Kollegin vorsichtig, am besten außerhalb des Kindergartens darauf an, und sollte das nicht weiterführen, sollten Sie Ihren Verdacht mit einer Vertrauensperson, am besten einem Coach besprechen, um alle Facetten zu durchdenken. Es kann sein, dass Ihre Wahrnehmung nicht stimmt oder Ihr Maß ein anderes als das der Kollegin ist, es kann jedoch auch sein, dass Ihre Kollegin tatsächlich ein Alkoholproblem hat. Das betrifft dann aber nicht nur das Team, sondern auch die Kinder, für die Sie Fürsorge tragen. Und natürlich betrifft es auch Ihre Kollegin, die in ihrer Situation eine helfende Hand benötigt. Selbst wenn Sie diese Hand nicht geben können, wissen Sie möglicherweise eine Tür.