8

»Nein!«, schreie ich und mache einen Satz nach vorn. Der herabsausende Arm lässt sich nicht mehr aufhalten, und ich weiß instinktiv, dass ich nicht die Kraft habe, ihn abzuwehren. Stattdessen werfe ich mich genau zwischen Gale und die Peitsche. Ich reiße die Arme hoch, um seinen geschundenen Köper so gut wie möglich zu schützen, da ist nichts, was den Schlag ablenken könnte. Mit voller Wucht trifft er mich auf der linken Gesichtshälfte.

Der Schmerz ist grausam und unmittelbar. Gezackte Lichtblitze erscheinen vor meinen Augen und ich falle auf die Knie. Mit einer Hand halte ich mir die Wange, während ich mich mit der anderen abstütze, um nicht umzukippen. Ich spüre schon, wie der Striemen dick wird und wie mein Auge zuschwillt. Die Steine unter mir sind nass von Gales Blut, der Geruch des Blutes liegt schwer in der Luft. »Hören Sie auf! Sie bringen ihn um!«, kreische ich.

Ganz kurz sehe ich das Gesicht meines Angreifers. Hart, mit tiefen Furchen, einem brutalen Mund. Graue Haare, der Kopf fast kahl rasiert, die Augen so schwarz, dass sie nur aus Pupillen zu bestehen scheinen, eine lange gerade Nase, rot von der Eiseskälte. Der kräftige Arm geht wieder hoch, jetzt hat der Mann mich im Visier. Meine Hand fährt an meine Schulter, jetzt ein Pfeil, aber natürlich sind meine Waffen im Wald verstaut. Ich beiße die Zähne zusammen und warte auf den nächsten Hieb.

»Aufhören!«, befiehlt da jemand. Es ist Haymitch, er stolpert über einen am Boden liegenden Friedenswächter. Darius. Eine gewaltige lilafarbene Beule schiebt sich auf seiner Stirn durch das rote Haar. Er ist bewusstlos, aber er atmet noch. Was ist passiert? Hat er versucht, Gale zu helfen, bevor ich kam?

Haymitch achtet nicht auf ihn und zieht mich grob hoch. »Na super.« Er fasst mir unter das Kinn. »Sie hat nächste Woche ein Fotoshooting, Hochzeitskleider vorführen. Was soll ich ihrem Stylisten erzählen?«

Ich sehe ein Zeichen des Erkennens über das Gesicht des Mannes mit der Peitsche huschen. Warm eingepackt, wie ich bin, ungeschminkt, den Pferdeschwanz nachlässig unter den Mantel gesteckt, bin ich wohl nicht ohne Weiteres als Siegerin der letzten Hungerspiele zu erkennen. Vor allem nicht mit einer geschwollenen Gesichtshälfte. Haymitch dagegen ist seit Jahren regelmäßig im Fernsehen zu sehen und ihn vergisst man nicht so leicht.

Der Mann lässt die Peitsche auf die Hüfte sinken. »Sie hat die Bestrafung eines geständigen Verbrechers gestört.«

Alles an diesem Mann, seine herrische Stimme, sein merkwürdiger Akzent, ist eine einzige Warnung vor einer unbekannten, schrecklichen Gefahr. Woher kommt er? Aus Distrikt 11 ? 3? Aus dem Kapitol selbst?

»Und wenn sie das verdammte Justizgebäude in die Luft gesprengt hätte! Gucken Sie sich ihre Wange an! Meinen Sie, die ist in einer Woche kameratauglich?«, fährt Haymitch den Mann an.

Die Stimme des Mannes ist immer noch kalt, doch ich höre leisen Zweifel heraus. »Das ist nicht mein Problem.«

»Nein? Na, das wird es aber noch, Freundchen. Wenn ich nach Hause komme, rufe ich als Erstes im Kapitol an«, sagt Haymitch. »Um rauszukriegen, wer Sie ermächtigt hat, das hübsche kleine Gesicht meiner Siegerin zu vermurksen!«

»Er hat gewildert. Was geht es das Mädchen überhaupt an?«, sagt der Mann.

»Er ist ihr Cousin.« Peeta nimmt jetzt meinen anderen Arm, aber sanft. »Und sie ist meine Verlobte. Wenn Sie ihn haben wollen, müssen Sie erst mal uns beide kleinkriegen.«

Wahrscheinlich sind wir drei die Einzigen im Distrikt, die so einen Auftritt zustande bringen. Wenn auch nur kurz, denn diese Sache wird ein Nachspiel haben. Aber im Augenblick will ich nichts als Gales Leben retten. Der neue Oberste Friedenswächter schaut zu seiner Truppe. Erleichtert entdecke ich dort die bekannten Gesichter, alte Freunde vom Hob. Ich sehe ihnen an, dass ihnen die Vorstellung nicht gefällt.

Eine Friedenswächterin tritt mit steifen Schritten vor, sie heißt Purnia und isst regelmäßig am Stand von Greasy Sae. »Ich glaube, für ein erstes Vergehen hat er genügend Hiebe erhalten. Es sei denn, Sie verhängen die Todesstrafe, die wir durch ein Erschießungskommando vollziehen würden.«

»Ist das hier das übliche Verfahren?«, fragt der Oberste Friedenswächter.

»Ja«, sagt Purnia, und mehrere nicken. Garantiert weiß das überhaupt keiner, denn wenn jemand mit einem Truthahn auf dem Hob auftaucht, ist das übliche Verfahren, dass sich alle um die Keulen reißen.

»Nun gut, Mädchen. Dann schaff deinen Cousin von hier fort. Und wenn er wieder zu sich kommt, erinnere ihn daran, dass ich, sollte er noch einmal im Gebiet des Kapitols wildern, höchstpersönlich das Erschießungskommando versammeln werde.« Darauf wischt der Oberste Friedenswächter mit der Hand über die Peitsche und bespritzt uns mit Blut. Dann wickelt er sie ordentlich auf und geht davon.

Die meisten anderen Friedenswächter folgen ihm in loser Formation. Eine kleine Gruppe bleibt zurück und hebt Darius an Armen und Beinen hoch. Ich fange Purnias Blick auf und sage lautlos »Danke«, ehe sie geht. Sie gibt keine Antwort, doch ich weiß, dass sie mich verstanden hat.

»Gale.« Ich drehe mich um, fummele an den Knoten, mit denen seine Handgelenke zusammengebunden sind. Jemand reicht ein Messer durch und Peeta durchtrennt die Seile. Gale sinkt auf dem Boden zusammen.

»Bringt ihn lieber zu deiner Mutter«, sagt Haymitch.

Wir haben keine Trage, doch die alte Frau am Kleiderstand verkauft uns das Brett, das ihr als Verkaufstheke dient. »Erzählt bloß keinem, wo ihr das herhabt«, sagt sie und packt schnell ihre restlichen Sachen zusammen. Der Platz ist jetzt fast leer, die Angst ist stärker als das Mitgefühl. Nach dem, was gerade passiert ist, kann ich es niemandem verdenken.

Als wir Gale mit dem Gesicht nach unten auf das Brett legen, sind nur noch eine Handvoll Leute übrig, die ihn tragen können. Haymitch, Peeta und ein paar Bergarbeiter, die in derselben Mannschaft arbeiten wie Gale, heben ihn hoch.

Ein Mädchen namens Leevy, das im Saum ganz bei uns in der Nähe wohnt, fasst mich am Arm. Meine Mutter hat ihrem kleinen Bruder letztes Jahr das Leben gerettet, als er die Masern hatte. »Brauchst du Hilfe auf dem Rückweg?« Der Blick ihrer grauen Augen ist ängstlich, aber entschlossen.

»Nein, aber kannst du Hazelle holen? Sie herschicken?«, frage ich.

»Ja«, sagt Leevy und läuft sofort los.

»Leevy!«, rufe ich. »Sie soll die Kinder nicht mitbringen.«

»Nein, ich bleibe bei ihnen«, sagt sie.

»Danke.« Ich nehme Gales Jacke und laufe hinter den anderen her.

»Kühl das mit Schnee«, befiehlt Haymitch über die Schulter hinweg. Ich nehme eine Handvoll Schnee und halte ihn an die Wange; das betäubt den Schmerz ein wenig. Mein linkes Auge tränt jetzt heftig und in dem Dämmerlicht kann ich nur den Stiefeln vor mir hinterherlaufen.

Während wir gehen, höre ich, wie Bristel und Thorn, Gales Kollegen, die Geschichte Stück für Stück erzählen. Offenbar war Gale zu Cray gegangen, wie er es schon hundertmal gemacht hat, weil er weiß, dass Cray für einen Truthahn immer einen guten Preis zahlt. Doch statt Cray hat er den neuen Obersten Friedenswächter angetroffen, einen Mann, von dem irgendwer sagte, er heiße Romulus Thread. Was mit Cray passiert ist, weiß niemand. Heute Morgen noch hat er auf dem Hob klaren Schnaps gekauft, da hatte er offenbar noch das Sagen im Distrikt, aber jetzt ist er unauffindbar. Thread hat Gale sofort verhaftet, und da Gale mit einem toten Truthahn in der Hand dastand, konnte er wenig zu seiner Verteidigung vorbringen. Es sprach sich schnell herum, dass er in der Klemme steckte. Er wurde auf den Platz gebracht, zu einem Schuldgeständnis gezwungen und zu einer Auspeitschung verurteilt, die sofort vollzogen wurde. Als ich kam, hatte er schon mindestens vierzig Peitschenhiebe hinter sich. Ungefähr bei dreißig verlor er das Bewusstsein.

»Ein Glück, dass er nur den Truthahn bei sich hatte«, sagt Bristel. »Wenn er seinen üblichen Fang gehabt hätte, war es ihm noch viel schlimmer ergangen.«

»Er hat Thread erzählt, er hätte den Truthahn gefunden, als er im Saum rumlief. Das Vieh war über den Zaun geflogen und er hätte es mit einem Stock abgestochen. Immer noch ein Verbrechen. Aber wenn sie gewusst hätten, dass er mit Waffen im Wald war, hätten sie ihn garantiert umgebracht«, sagt Thom.

»Was ist mit Darius?«, fragt Peeta.

»Nach ungefähr zwanzig Hieben ist er eingeschritten und hat gesagt, es sei genug. Nur hat er es nicht so geschickt und förmlich gemacht wie Purnia. Er hat Thread am Arm gepackt und da hat Thread ihm mit dem Griff der Peitsche auf den Kopf gehauen. Für Darius sieht es nicht besonders rosig aus«, sagt Bristel.

»Es sieht wohl für keinen von uns besonders rosig aus«, sagt Haymitch.

Es fängt an zu schneien, dicke nasse Flocken, dadurch kann ich noch schlechter sehen. Ich stolpere hinter den anderen her bis zu unserem Haus, lasse mich mehr von meinen Ohren leiten als von meinen Augen. Meine Mutter, die natürlich auf mich gewartet hat, nachdem ich einen langen Tag ohne Erklärung weggeblieben bin, versucht zu begreifen, was sie sieht.

»Neuer Oberster«, sagt Haymitch, und sie nickt nur kurz, als würde das alles erklären.

Wie immer erfüllt mich Ehrfurcht, als ich sehe, wie sie sich von der Frau, die mich ruft, damit ich eine Spinne töte, in eine Frau verwandelt, die immun ist gegen Angst. Wenn man ihr einen kranken oder sterbenden Menschen bringt... ich glaube, das sind die einzigen Momente, in denen meine Mutter weiß, wer sie ist. Im Nu ist der lange Küchentisch abgeräumt, ein steriles weißes Tuch wird darüber ausgebreitet und Gale hinaufgelegt. Meine Mutter gießt Wasser aus einem Kessel in eine Schüssel und lässt Prim verschiedene Medikamente aus dem Arzneischrank holen. Getrocknete Kräuter und Tinkturen und im Laden gekaufte Flaschen. Ich beobachte die Hände meiner Mutter, die langen, schmal zulaufenden Finger, die etwas in die Schüssel bröseln und Tropfen dazugeben. Sie tränkt ein Tuch in der heißen Flüssigkeit und weist Prim an, frisches Wasser aufzusetzen.

Meine Mutter schaut zu mir. »Bist du im Auge getroffen worden?«

»Nein, es ist nur zugeschwollen«, erkläre ich.

»Pack noch mal Schnee drauf«, sagt sie. Aber es gibt Wichtigeres als mich, das ist deutlich.

»Kannst du ihn retten?«, frage ich. Sie sagt nichts, während sie das Tuch auswringt und es in die Luft hält, damit es ein wenig abkühlt.

»Keine Bange«, sagt Haymitch. »Vor Crays Zeit wurde hier eine Menge gepeitscht. Wir haben sie immer alle zu deiner Mutter gebracht.«

An eine Zeit vor Cray kann ich mich nicht erinnern, an eine Zeit, als es einen Obersten Friedenswächter gab, der häufigen Gebrauch von der Peitsche machte. Da muss meine Mutter in meinem Alter gewesen sein und noch bei ihren Eltern in der Apotheke gearbeitet haben. Selbst damals hatten ihre Hände schon heilende Kräfte.

Ganz sanft beginnt sie das zerfetzte Fleisch auf Gales Rücken zu säubern. Ich fühle mich elend, nutzlos, der restliche Schnee tropft von meinem Handschuh und bildet auf dem Fußboden eine Pfütze. Peeta setzt mich in einen Sessel und hält mir ein Tuch mit frischem Schnee an die Wange.

Haymitch schickt Bristel und Thom nach Hause, und ich sehe, dass er ihnen Münzen in die Hand drückt, bevor sie gehen. »Keine Ahnung, was mit eurer Mannschaft passiert«, sagt er. Sie nicken und nehmen das Geld.

Da kommt Hazelle, atemlos, die Wangen gerötet und Schnee im Haar. Stumm setzt sie sich auf einen Hocker am Tisch, nimmt Gales Hand und drückt sie an die Lippen. Nicht einmal auf sie reagiert meine Mutter. Sie ist in diese gewisse Sphäre eingetreten, in der nur sie und der Patient Platz haben, hin und wieder auch Prim. Wir anderen können warten.

Trotz ihrer kundigen Hände dauert es lange, bis die Wunden gesäubert sind, bis das, was von der zerfetzten Haut noch zu retten ist, halbwegs hergerichtet, bis eine Salbe aufgetragen und ein leichter Verband umgelegt ist. Als das Blut weniger wird, sehe ich, wo jeder einzelne Peitschenhieb aufgekommen ist, und spüre den Nachhall in dem einen Striemen in meinem Gesicht. Ich multipliziere meinen eigenen Schmerz mit zwei, mit drei, mit vierzig und kann nur hoffen, dass Gale vorerst nicht zu Bewusstsein kommt. Das ist natürlich zu viel verlangt. Als die letzten Verbände angelegt werden, kommt ein Stöhnen über seine Lippen. Hazelle streicht ihm übers Haar und flüstert etwas, während meine Mutter und Prim ihren kärglichen Vorrat an Schmerzmitteln in Augenschein nehmen, Schmerzmittel, wie normalerweise nur Ärzte sie haben. Sie sind schwer zu bekommen, teuer und immer begehrt. Die stärksten muss meine Mutter für die schlimmsten Schmerzen aufbewahren, doch was sind die schlimmsten Schmerzen? Für mich sind es immer die Schmerzen, die gerade akut sind. Wenn ich zu bestimmen hätte, wären die Schmerzmittel in einem Tag aufgebraucht, weil ich es kaum ertragen kann, jemanden leiden zu sehen. Meine Mutter versucht sie für diejenigen aufzuheben, die im Sterben liegen, um ihnen den Abschied von der Welt zu erleichtern.

Da Gale wieder zu Bewusstsein kommt, entscheiden sie sich für eine Kräutermischung, die er schlucken kann. »Das reicht ganz bestimmt nicht«, sage ich. Sie starren mich an. »Das reicht nicht, ich weiß, wie es sich anfühlt. Damit kommt man ja kaum gegen Kopfschmerzen an.«

»Wir kombinieren es mit Schlafsirup, Katniss, dann schafft er das schon. Die Kräuter sind eher gegen die Entzündung ...«, erklärt meine Mutter ruhig.

»Jetzt gib ihm schon die Medizin!«, schreie ich sie an. »Na los! Wer bist du überhaupt, dass du meinst, du könntest entscheiden, wie viel Schmerzen er ertragen kann!«

Gale bewegt sich unruhig, als er meine Stimme hört, er streckt die Arme nach mir aus. Durch die Bewegung tritt frisches Blut aus den Wunden und befleckt die Verbände, Gale stößt einen Schmerzenslaut aus.

»Bringt sie raus«, sagt meine Mutter. Haymitch und Peeta tragen mich buchstäblich aus dem Zimmer, während ich meine Mutter übel beschimpfe. Sie drücken mich auf ein Bett in einem der Gästezimmer und halten mich fest, bis ich mich nicht mehr wehre.

Während ich daliege und schluchze und die Tränen sich aus dem Schlitz quälen, der mein Auge ist, höre ich, wie Peeta Haymitch im Flüsterton von Präsident Snow und dem Aufstand in Distrikt 8 erzählt. »Sie will, dass wir alle fliehen«, sagt er, doch falls Haymitch dazu eine Meinung hat, behält er sie für sich.

Nach einer Weile kommt meine Mutter herein und behandelt mein Gesicht. Dann hält sie meine Hand und streichelt meinen Arm, während Haymitch ihr erzählt, was mit Gale passiert ist.

»Dann geht es also wieder los?«, sagt sie. »Wie damals?«

»Sieht ganz so aus«, sagt er. »Wer hätte gedacht, dass wir dem alten Cray mal nachtrauern würden?«

Cray wäre so oder so unbeliebt gewesen, weil er eine Uniform trug, aber außerdem wurde er im Distrikt für die Gewohnheit verabscheut, hungernde junge Frauen gegen Geld in sein Bett zu locken. In richtig schlechten Zeiten versammelten sich die Hungrigsten abends vor seiner Tür und wetteiferten um die Gelegenheit, ihren Körper für ein paar Münzen zu verkaufen und damit ihre Familien über Wasser zu halten. Wäre ich älter gewesen, als mein Vater starb, wäre ich vielleicht eine von ihnen geworden. Stattdessen lernte ich, wie man jagt.

Ich weiß nicht genau, was meine Mutter meint, wenn sie sagt, dass es wieder losgeht, aber ich habe zu große Schmerzen und zu viel Wut im Bauch, um zu fragen. Doch ich habe verstanden, dass wieder schlechte Zeiten kommen könnten, denn als es an der Tür klingelt, springe ich sofort aus dem Bett. Wer kann das zu dieser späten Stunde sein? Es gibt nur eine Möglichkeit. Die Friedenswächter.

»Sie kriegen ihn nicht«, sage ich.

»Vielleicht sind sie ja hinter dir her«, sagt Haymitch.

»Oder hinter dir«, erwidere ich.

»Ist nicht mein Haus«, bemerkt Haymitch. »Aber ich geh trotzdem zur Tür.«

»Nein, ich gehe schon«, sagt meine Mutter ruhig.

Doch dann folgen wir alle ihr durch den Flur zu dem durchdringenden Klingeln an der Tür. Sie öffnet, aber da steht kein Trupp von Friedenswächtern, sondern eine einzelne, verschneite Gestalt. Madge. Sie reicht mir eine kleine feuchte Pappschachtel.

»Die sind für deinen Freund«, sagt sie. Ich nehme den Deckel von der Schachtel ab und sehe sechs Ampullen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. »Sie gehören meiner Mutter. Sie hat gesagt, ich kann sie nehmen. Bitte gib sie ihm.« Sie läuft zurück in den Schneesturm, ehe ich sie zurückhalten kann.

»Verrücktes Mädchen«, murmelt Haymitch, während wir, meine Mutter voran, in die Küche gehen.

Was meine Mutter Gale auch verabreicht hat, ich hatte recht, es war nicht genug. Er beißt die Zähne zusammen und seine Haut glänzt vor Schweiß. Meine Mutter füllt eine Spritze mit der Flüssigkeit aus einer Ampulle und injiziert sie in seinen Arm. Fast augenblicklich entspannen sich seine Züge.

»Was ist das für ein Zeug?«, fragt Peeta.

»Es kommt aus dem Kapitol. Man nennt es Morfix«, sagt meine Mutter.

»Ich wusste gar nicht, dass Madge Gale kennt«, sagt Peeta.

»Wir haben ihr immer Erdbeeren verkauft«, erkläre ich fast wütend. Worüber bin ich eigentlich wütend? Ganz bestimmt nicht darüber, dass sie die Medizin gebracht hat.

»Die muss sie aber wirklich gern mögen«, sagt Haymitch.

Das ist es, was mich fuchst. Die Andeutung, da könnte etwas zwischen Gale und Madge sein. Das gefällt mir gar nicht.

»Sie ist meine Freundin.« Mehr sage ich nicht.

Jetzt, da Gale mit dem Schmerzmittel entschwebt ist, wirken alle ernüchtert. Prim drängt uns ein wenig Eintopf und Brot auf. Hazelle wird zum Übernachten eingeladen, aber sie muss nach Hause zu ihren anderen Kindern. Haymitch und Peeta sind bereit zu bleiben, doch meine Mutter schickt sie nach Hause ins Bett. Sie weiß, dass das bei mir zwecklos wäre, also nimmt sie es hin, dass ich mich um Gale kümmere, während sie und Prim sich ausruhen.

Als ich mit Gale allein in der Küche bin, nehme ich Hazelles Platz auf dem Hocker ein und halte seine Hand. Nach einer Weile finden meine Finger sein Gesicht. Ich berühre Stellen seines Körpers, die zu berühren ich bisher nie einen Grund hatte. Seine dichten dunklen Augenbrauen, die Wölbung seiner Wange, die Linie seiner Nase, die Mulde unten am Hals. Ich fahre über seine Bartstoppeln und gelange schließlich zu den Lippen. Weich und voll, leicht aufgesprungen. Sein Atem wärmt meine kalte Haut.

Sehen alle Menschen im Schlaf jünger aus? Denn in diesem Moment könnte er der Junge sein, dem ich vor Jahren im Wald in die Arme gelaufen bin, der Junge, der mir vorwarf, ich hätte aus seinen Fallen gestohlen. Was für ein Gespann wir waren - vaterlos, ängstlich und doch wild entschlossen, unsere Familien zu retten. Verzweifelt, aber von jenem Tag an nicht mehr allein, denn wir hatten einander gefunden. Ich denke an hundert Augenblicke im Wald - wie wir eines Nachmittags gemächlich fischen, wie ich ihm das Schwimmen beibringe, wie er mich nach Hause trägt, als ich mir das Knie verdreht habe. Wir haben uns aufeinander verlassen, einander Rückendeckung gegeben, uns gegenseitig gezwungen, mutig zu sein.

Zum ersten Mal stelle ich mir die Situation umgekehrt vor. Ich stelle mir vor, Gale hätte sich bei der Ernte freiwillig gemeldet, um Rory zu retten, er wäre aus meinem Leben gerissen worden, der Geliebte eines fremden Mädchens geworden, um zu überleben, und dann mit ihr zurückgekehrt. Wäre in ein Haus neben ihr eingezogen. Hätte ihr einen Heiratsantrag gemacht.

Der Hass, den ich für ihn empfinde und für das imaginäre Mädchen, der Hass auf alles ist so echt und unmittelbar, dass er mir die Luft abschnürt. Gale gehört mir. Ich gehöre ihm. Alles andere ist undenkbar. Warum musste er erst halb totgepeitscht werden, damit ich es begreife?

Weil ich selbstsüchtig bin. Und feige. Ich bin ein Mädchen, das, wenn es sich wirklich mal nützlich machen könnte, wegläuft, um am Leben zu bleiben, und alle, die nicht mitkommen können, leiden und sterben lässt. Das ist das Mädchen, das Gale heute im Wald getroffen hat.

Kein Wunder, dass ich die Spiele gewonnen habe. Kein anständiger Mensch gewinnt je die Spiele.

Du hast Peeta gerettet, denke ich schwach.

Aber jetzt stelle ich selbst das infrage. Ich wusste sehr wohl, dass mein Leben in Distrikt 12 unerträglich gewesen wäre, wenn ich diesen Jungen hätte sterben lassen.

Ich lege den Kopf auf die Tischkante, überwältigt von Selbsthass. Wäre ich doch in der Arena gestorben. Hätte Seneca Crane mich doch in die Luft gejagt, wie er es nach Präsident Snows Meinung hätte tun sollen, als ich Peeta die Beeren hinhielt.

Die Beeren. Mir wird bewusst, dass die Antwort auf die Frage, wer ich bin, in dieser Handvoll giftiger Früchte liegt. Wenn ich sie herausgeholt habe, weil ich wusste, dass ich verstoßen werde, wenn ich ohne Peeta zurückkehre, bin ich zu verachten. Wenn ich es getan habe, weil ich ihn liebe, bin ich zwar selbstsüchtig, aber es wäre verzeihlich. Doch wenn ich es getan habe, um dem Kapitol die Stirn zu bieten, bin ich etwas wert. Das Problem ist, dass ich nicht genau weiß, was in dem Moment in mir vorging.

Könnte es sein, dass die Leute in den Distrikten recht haben? Dass es ein Akt der Rebellion war, wenn auch unbewusst? Denn im tiefsten Innern weiß ich doch, dass es nicht reicht, wegzulaufen und mich, meine Familie und meine Freunde in Sicherheit zu bringen. Selbst wenn ich könnte. Es würde nichts ändern. Es würde nicht verhindern, dass Menschen so etwas angetan wird wie Gale heute.

Das Leben in Distrikt 12 unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem in der Arena. An einem bestimmten Punkt darf man nicht mehr weglaufen, dann muss man sich umdrehen und sich dem stellen, der einen tot sehen will. Aber man muss den Mut aufbringen, es zu tun, das ist die Kunst. Für Gale ist es keine Kunst. Er ist der geborene Rebell. Ich bin diejenige, die Fluchtpläne schmiedet.

»Es tut mir so leid«, flüstere ich. Ich beuge mich vor und küsse ihn.

Seine Lider flattern und er schaut mich durch einen Opiumschleier an. »Hey, Kätzchen.«

»Hey, Gale«, sage ich.

»Ich dachte, du wärst schon weg«, sagt er.

Die Wahl fällt mir nicht schwer. Ich kann wie ein gejagtes Tier im Wald sterben oder ich kann hier bei Gale sterben. »Ich gehe nirgendwohin. Ich bleibe hier und mache eine Menge Ärger.«

»Ich auch«, sagt Gale. Er bringt noch ein kurzes Lächeln zustande, bevor die Drogen ihn wieder in die Tiefe ziehen.