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Es war ein strahlender Morgen Ende Juli, als Grace Tynan ihre Straßenkarte der County Meath entfaltete. Die Topographie der Grafschaft erinnerte sie an Frankreich, und automatisch dachte sie an Weinberge und kleine, voll besetzte Straßencafés. Und Baguettes. Goldbraun und ofenwarm. Und Crêpes, vielleicht mit Schlagsahne und Puderzucker ... oh, sie wünschte, sie hätte sich heute früh Zeit zum Frühstücken genommen.
»Reiß dich zusammen«, ermahnte sie sich. Sie führte häufig Selbstgespräche beim Autofahren. An manchen Tagen waren es die einzigen vernünftigen Gespräche. Sie holte eine Tüte Cheesy Crisps aus dem Handschuhfach und riss sie auf. Es war eine der Gratisproben, die Ewan ständig anschleppte. Gratisproben waren eine Vergünstigung, die sein Job mit sich brachte. Wobei das mit der Vergünstigung so eine Sache war - die Kiste mit Mega Curry Beans war immer noch nicht leer.
Gott sei Dank - da kam ein alter Mann auf einem Fahrrad. Sie kurbelte das Fenster herunter und hupte begeistert. »Guten Tag!«
Sie hatte ihn kalt erwischt, und sein Rad geriet beängstigend ins Schwanken.
»Tut mir Leid«, entschuldigte sie sich. »Ich bin nur so froh, Sie zu sehen. Es ist nämlich ... ich habe mich offenbar verfahren. Können Sie mir sagen, wie ich nach Hackettstown komme?«
Der Blick, mit dem er sie musterte, verursachte ihr Unbehagen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, auf einer verlassenen Landstraße einen wildfremden Mann anzusprechen - vor allem in diesem Luxusschlitten und mit der Handtasche auf dem Beifahrersitz. Das war ja geradezu eine Aufforderung, sie zu überfallen. Sie würde nie wieder mit Lisa das Auto tauschen. Wahrscheinlich stimmte es gar nicht, dass sie sich einen Weisheitszahn ziehen lassen musste. Graces Berechnung nach wäre das der fünfte! Doch der Mann sagte nur: »Wenn Sie wirklich dahin wollen, dann fahren Sie noch zwei Meilen geradeaus, biegen an der Kreuzung links ab und an der nächsten rechts.« Mit einem »Viel Glück!« trat er wieder in die Pedale.
»Ich danke Ihnen!« Sie notierte sich seine Angaben auf der Rückseite eines Briefumschlags, denn wenn es um Wegbeschreibungen ging, konnte sie sich nicht auf ihr Gedächtnis verlassen. Sie war schon genug gefordert mit den Terminen der Schulfahrgemeinschaft, bestimmten Dingen, die sie im Supermarkt besorgen musste, und sage und schreibe neun PINs. Ach ja - da waren ja auch noch die verdammten Pässe! Sie würde Ewan anrufen müssen, sonst dächte er bestimmt nicht daran. Ein Hirn wie ein Sieb, ihr Ewan. Aber es war nicht immer so gewesen. Sein Erinnerungsvermögen schien sich im Laufe der Jahre verschlechtert zu haben, während ihres sich verbesserte, eine Entwicklung, die für ihn bequem war, wie ihr nicht entgangen war.
Hackettstown. Partnerstadt von Wart-Hausen.
Grace fuhr langsam an dem Ortsschild vorbei und eine hässliche Hauptstraße entlang, die sich mit Läden wie Go West Fashions und Brenda‘s Unisex Salon (montags 20% Ermäßigung auf Trockenschnitte) brüstete. Aber weiter oben gab es eine hell erleuchtete SPAR-Markt-Filiale und einen ganz hübschen, kleinen Platz mit Rosen in der Mitte. Allerdings waren ein paar Teenager gerade dabei, ihnen die Köpfe abzureißen und sich gegenseitig mit Taschenmessern zu bedrohen. Sie folgten dem silbernen BMW mit neidischen Blicken, als er lautlos vorüberglitt.
»Guten Morgen!«, rief sie ihnen ein wenig nervös zu und fuhr weiter.
Bridge Road 17 lag am Ortsrand. Es stand kein Auto in der Einfahrt, und das Haus wirkte verlassen. Grace parkte und zog den Zündschlüssel ab, womit sie das auf einen Sender nach dem Geschmack ihrer Söhne eingestellte Radio mitten im hämmernden Bumm-Bumm abwürgte. Sie hatte sich diesen Krawall nur angehört, weil eine der Mütter ihr am Schultor erzählt hatte, dass die ganze Klasse auf bestimmte Songs über Sex und Drogen abfuhr. Doch Grace war auch nach Wochen noch in keinem einzigen Song eine anstößige Formulierung begegnet. Wenn man von »deiner war lecker« absah, was sie einmal gehört hatte, aber es war ihr zu peinlich gewesen, um den anderen davon zu berichten. Außerdem war sie gar nicht sicher, dass wirklich damit gemeint war, was sie vermutete. Und dann ging ihr die Textstelle nicht mehr aus dem Kopf: deiner war lecker, deiner war lecker! Und das passierte einer verheirateten Frau, einer Mutter, von der man nicht erwartete, dass sie an Sex dachte! (Warum wollte sie dann die CD kaufen?)
Zehn vor neun. Gut. Sie war früh dran. Grace lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Das Auto war ein guter Platz zum Nachdenken - oder zum Nichtsdenken. Sie könnte den ganzen Tag im Auto verträumen. Einmal hatte sie das tatsächlich getan. Was allerdings zu einer leichten Fehlinterpretation führte. »Oh, mein Gott, Harry - sie will sich umbringen!«
»Schnell - kannst du den Schlauch sehen? Es muss ein Schlauch vom Auspuff wegführen!«
»Aber kann man es ihr verübeln? Könnte man es irgendjemandem verübeln?«
»Sei still! Wir müssen den Schlauch rausziehen!« Als sie die Augen öffnete, hatte sie sich Hilda und Harry Brennan von nebenan gegenübergesehen, die mit Taschentüchern vor dem Mund ängstlich durch die Windschutzscheibe spähten. Immerhin waren sie um sie besorgt gewesen. Die Jungs wären bestimmt auch irgendwann aufgetaucht. Wenn nichts anderes, so hätte zumindest der Hunger sie veranlasst, nach ihrer Mutter zu suchen. Wäre Ewan gekommen? Wahrscheinlich. Je nachdem, wie beschäftigt er gerade war. Schließlich arbeitete er zu Hause und konnte nicht jedes Mal losrennen, wenn ein Familienmitglied beschloss, für zehn Minuten zu verschwinden, wie er es seinerzeit in milde tadelndem Ton formuliert hatte. Natürlich hatte er Recht, aber andererseits - wie lange müsste sie verschwunden sein, bis er sich in Bewegung setzte? Drei Tage? Eine Woche? Er fand diese Frage in höchstem Maße unfair, denn es würde ihm selbstverständlich auffallen, wenn sie eine Woche verschwunden wäre. An diesem Punkt des Gesprächs hatten die Brennans den Rückzug angetreten.
Grace hatte auch danach immer wieder gestohlene Augenblicke in ihrem Wagen genossen. Sie war kein ungeselliger oder unfreundlicher Mensch - aber, ehrlich, hatte man nicht manchmal die Nase voll von Leuten?
»Guten Morgen, Grace! Haben Sie gut hergefunden?« Ein rotgesichtiger Mann um die vierzig kam aus der Tür von Nummer siebzehn und auf ihren Wagen zugestürmt. Er hatte ein automatisches Maßband in der Hand, etwa fünfundzwanzig Zentimeter weit aus der Dose herausgezogen, und winkte ihr aufgeregt damit. »Ich muss Ihnen was zeigen!«
Grace stieg aus und durchforstete dabei im Schnelldurchgang die Datenbank ihres Kurzzeitgedächtnisses. Fergus? Nein. Fergus war gestern gewesen. Also war der hier Frank. Nach zehn Jahren in diesem Geschäft musste sie zu ihrer Schande gestehen, dass es ihr zusehends schwerer fiel, die Kunden auseinander zu halten.
»Frank - ich freue mich, Sie wiederzusehen.« Er war letzte Woche im Büro gewesen.
Er ignorierte ihre ausgestreckte Hand und hielt ihr das Maßband hin. »Der Typ aus Ihrer Firma hat das Haus falsch vermessen«, verkündete er anklagend. »Das Bad ist fast dreißig Zentimeter breiter als in der Broschüre angegeben.«
»Tatsächlich?«
»Neunundzwanzig Komma acht, um genau zu sein! Schauen Sie her!«
»Das tut mir Leid - aber ich glaube nicht, dass die Differenz eine große Rolle spielt.«
Grace sah ihm an, dass sie die Sache für seinen Geschmack entschieden zu leicht nahm.
»Für manche Menschen ist das Bad der wichtigste Raum«, sagte er. »Sandy verbringt jeden Tag durchschnittlich vier Stunden im Bad. Deshalb nimmt sie auch nie den Hörer ab, wenn man anruft. Sie hört das Klingeln nicht, wenn das Wasser in die Wanne oder in die Toilette läuft.« Grace war ihre Verblüffung offenbar anzusehen, denn er fügte hastig hinzu: »Sie ist Fisch, wissen Sie. Vom Sternzeichen her, meine ich. Und sie liebt das alles.«
»Und Sandy ist...«
»Meine Verlobte.«
»Oh! Ich wusste nicht, dass Sie verlobt sind.«
»Es besteht kein Grund, so ungläubig dreinzuschauen«, sagte er pikiert.
»Ich habe nicht ...«,.
»Sie denken, dass mich keine Frau heiraten will? Dass ich nicht zum Ehemann tauge?«
»Absolut nicht.« Grace bemühte sich verzweifelt, nicht den kleinen Pickel auf seiner Nasenspitze anzustarren, doch je mehr sie sich bemühte, umso mehr starrte sie darauf, bis sie nichts mehr sah als einen riesigen Pickel. Großer Gott hatte er etwa angefangen zu pulsieren? Unter Aufbietung aller Willenskraft riss sie ihren Blick los und richtete ihn auf das Objekt, um das es hier und heute ging. »Sie haben wirklich ein sehr hübsches Haus, Frank.«
Wieder eine Lüge. Es war ein scheußlicher, brauner Bungalow mit hässlichen Netzstores und unechten Ollampen über dem Eingang. Ein Zettel steckte in der Fassung der Glasscheibe in der oberen Hälfte der Haustür. Keine Besuche von Zeugen Jehovas, bitte.
Grace holte ihr Klemmbrett aus dem Auto und zog ihre Unterlagen zu Rate. »Es werden heute Vormittag drei Paare zur Besichtigung kommen«, verkündete sie dann. »Das erste erwarte ich schon in zehn Minuten, und Sie sollten ...«
Er sah sie schweigend an.
»Haben Sie nicht vielleicht ein paar Besorgungen zu machen ...?«
Er sah sie immer noch schweigend an.
»Wenn Sie nichts vorhaben, können Sie ja einfach ein bisschen herumfahren«, sagte sie sanft.
Er hob trotzig das Kinn. »Ich brauche nicht ziellos durch die Gegend zu fahren. Mrs Carr von gegenüber zum Beispiel kann es gar nicht erwarten, mich bei sich zu begrüßen.«
Seltsamerweise klang das Letzte sarkastisch - oder bildete sie sich das nur ein? Grace folgte mit den Augen seinem ausgestreckten Arm. Das Haus, auf das er zeigte, wirkte wie aus einem Märchen. Offenbar hatte man im Lauf der Zeit immer wieder Türmchen und Erker und allen möglichen Schnickschnack angebaut, sodass ein heilloses Durcheinander entstanden war. Über der rosa gestrichenen Haustür hing ein altes Schild mit der Aufschrift Pension.
Ein Jammer, dass ich das nicht statt Franks braunem Monstrum verkaufen soll, dachte Grace. Sie verkauften in der Regel keine Häuser außerhalb von Dublin. Bei Franks hatten sie nur eine Ausnahme gemacht, weil er mit der Frau eines der Firmeninhaber verwandt war - angeheiratetermaßen, wie sie betont hatte.
Frank schaute missmutig über die Straße. »Sehen Sie sich diesen Grasstreifen vor dem Haus an!« Grace tat es. »Was gibt es daran zu bemängeln?«
»Gar nichts. Das ist es ja. Ich musste ihn heute früh mit meinem Rasenmäher mähen! Sie war nicht bereit dazu. Das ist sie nie. Aber ich wollte nicht, dass die Leute, die sich mein Haus ansehen kommen, denken, dass das hier ein Glasscherbenviertel ist, wo sich keiner darum kümmert, wie es aussieht.«
»Nun ja, die Leute schauen sich natürlich auch das Umfeld an«, gab Grace ihm Recht und tätschelte seinen Arm. Sie hatte im Lauf der Zeit begriffen, dass es in ihrem Job nicht nur darum ging, Häuser zu verkaufen. Je nach Situation musste sie moralische Unterstützung liefern, als Partnerberaterin fungieren, bei Streitigkeiten mit der Gemeinde intervenieren und manchmal auch nur aufmuntern. Laien war nicht klar, wie vielschichtig sich die Arbeit in der Immobilienbranche gestaltete. Sie dachten, es gehe dabei lediglich darum, Interessenten gegeneinander auszuspielen und dem Käufer dann das Fell über die Ohren zu ziehen.
»Bei aller Menschlichkeit dürfen wir nicht das Ziel aus den Augen verlieren, Grace«, hatte ein junger Hupfer aus dem Hauptbüro sie letzten Monat bei einer Schulung ermahnt. »Verkaufen, verkaufen, verkaufen!«
Offenbar nahm sie sich zu viel Zeit für die Kunden. Sammelte unnötige Details über ein Objekt, wie zum Beispiel die Tatsache, dass es einmal einem Cousin zweiten Grades von Paul McCartney gehört hatte. Ermutigte Klienten unerwünschterweise, nach dem Verkauf ihrer Häuser Kontakt mit der Agentur zu halten. Und dergleichen mehr.
»Das alles war vielleicht schön und gut, als Sie vor zehn Jahren als Trainee anfingen, Grace.« Aus seinem Mund klang es, als sei es hundert Jahre her. »Aber angesichts des harten Wettbewerbs können wir uns diesen Dienst am Kunden nicht mehr erlauben.«
Sie hatte ihn über den Tisch hinweg angesehen und ihm mit all der Erfahrung und Reife ihrer vierunddreißig Jahre erklärt, dass es hier um Häuser ging, die für die Menschen, die sie nun verkauften, ihr Heim gewesen waren, in dem sie gelacht und geweint und gestritten und gelebt hatten und, in einigen Fällen, auch gestorben waren (obwohl sie diesen Punkt, wie sie ihm versicherte, für gewöhnlich unerwähnt ließe). Aus einem Haus auszuziehen, sei für einige Leute, als würde einem das Herz aus der Brust gerissen. Er könne doch sicher verstehen, dass ihre Aufgabe sich nicht darauf beschränke, das Geld der Kunden zu kassieren, sondern auch ein gewisses Maß an Beistand beinhalte.
»Natürlich, natürlich«, hatte er gesagt und genickt und gelächelt und sie dann informiert, dass in Zukunft die Zeit für Kundengespräche und Besichtigungstermine stark gestrafft werde.
In Erinnerung daran ermutigte Grace Frank aus reinem Trotz mit einem Lächeln: »Fahren Sie fort.«
»Na ja - am Ende sagte sie, ich dürfe den Streifen mähen, aber ich solle mich ja von den Gartenzwergen fern halten.« Grace bemerkte die Gartenzwerge erst jetzt. Es waren drei, alle mit einem breiten Grinsen im Gesicht und einer Angelrute in den dicken, kurzen Fingern. Irgendjemand hatte die Angelruten bis zur Hälfte abgebrochen, und sie sahen jämmerlich aus.
»Vandalen!«, schnaubte Frank empört, und sein rotes Gesicht wurde noch röter.
»Es bringt nichts, sich wegen Gartenzwergen aufzuregen«, meinte Grace besänftigend und versuchte, ihn auf das Tor zuzudirigieren.
»Sie hat sich nicht wegen der Gartenzwerge aufgeregt, sondern wegen der Rosenbüsche.«
»Wie bitte?«, fragte Grace verdutzt.
»Ich habe sie nur ein wenig beschnitten. Na ja, etwas mehr als ein wenig. Aber ehrlich, Leute wie sie lassen alles wuchern und verkommen. Und das habe ich ihr gesagt. Elf Jahre wollte ich das schon tun!«, endete er resolut.
Grace hatte oft gehört, dass Leute kurz nach ihrem Einzug Streit mit den Nachbarn bekamen, aber nie, dass dies kurz vor dem Auszug passierte. Und auch noch nach gerade elf Jahren! Es war eine Tragödie. Dabei schien Mrs Carr eine umgängliche Person zu sein. Abgesehen von den Gartenzwergen hatte sie zwei hölzerne Stühle und einen wackeligen Plastiktisch in ihrem Vorgarten stehen, als ob sie es sich dort an schönen Abenden mit einer Flasche Wein gemütlich machte und dazu auch gerne Gäste einlud.
»Frank«, sagte Grace mit der aus Erfahrung in der Vermittlung zwischen uneinigen Parteien erwachsenen Ruhe, »was halten Sie davon, zu ihr hinüberzugehen und sich zu entschuldigen?«
»Sie hat gesagt, dass ich es nicht wagen soll, noch einmal auf ihrer Schwelle zu erscheinen.«
»Es würde sie bestimmt versöhnen, wenn Sie ihr neue Rosenbüsche brächten.«
»Das ist mir zu riskant. Sie hat mir das Gewehr ihres verstorbenen Mannes gezeigt und gedroht, es zu benutzen.«
»Vielleicht war das ja nur eine Attrappe.«
»Sie glauben, ich erkenne ein echtes Gewehr nicht?«
»Nun - meine Söhne haben Wasserpistolen, die von richtigen nicht zu unterscheiden sind.«
»Für Sie vielleicht nicht. Jedenfalls hat sie gesagt, dass sie wegen der Rosen so wütend auf mich sei, dass sie, wenn Leute zur Besichtigung meines Hauses kommen, in ihrem Vorgarten mit ihrem Schießeisen herumwedeln würde. Vielleicht sogar ein paar Schüsse in die Luft abgeben, wenn ihr gerade danach wäre. Sie sagte, dass niemand mein Haus kaufen wird, wenn die Leute sehen, dass gegenüber eine gefährliche Irre wohnt.« Nach einer kurzen Atempause setzte er hinzu: »Ich wollte Ihnen das eigentlich nicht erzählen, aber Sie sollten es wohl doch wissen.«
»Da haben Sie Recht«, stimmte Grace ihm mit leicht zittriger Stimme zu.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte er. Das Erste, was ihr einfiel, war, dass sie keine Zeit für diese Komplikation hatte. Sie wollte um drei von Dublin nach Heathrow fliegen und von dort weiter nach Orlando. Sie würde sich Disneyworld ansehen - hurra! Genau genommen erst ab morgen, aber immerhin. Die erste Nacht würden sie in einem Motel verbringen. Sie hatte noch nie in einem Motel übernachtet. Das Wort beschwor Schmuddeligkeit und sexuelle Ausschweifungen und Ehebruch in ihrer Vorstellung herauf, und zu ihrem Befremden fand sie das aufregend. Vielleicht war das ja normal, wenn man drei Jahre hintereinander Urlaub auf der Isle of Man gemacht hatte. Oder im Radio zu viele obszöne Songs gehört hatte.
»Wir holen die Polizei«, erklärte sie energisch. Die Situation fiel eindeutig in deren Zuständigkeitsbereich. Frank riss hinter seinen dicken Brillengläsern die Augen auf. »Es kommen jeden Moment Leute, um sich das Haus anzusehen. Da kann doch unmöglich ein Streifenwagen davor parken!«
»Vielleicht könnten wir sie bitten, mit einem Zivilfahrzeug zu kommen«, dachte Grace laut, während sie nach ihrem Handy griff. Sollte sie 999 wählen oder bei der örtlichen Wache anrufen? In letzterem Fall müsste sie sich allerdings erst über die Auskunft die Nummer besorgen. Aber 999 anzurufen hieße, eine große Sache aus einem nachbarlichen Kleinkrieg zu machen. Andererseits war eine Waffe in diesem Land eine große Sache. Okay - sie würde 999 wählen.
»Hören Sie«, versuchte Frank sie in flehendem Ton zu bremsen. »Ich kenne die Frau. Sie bellt gern, aber sie beißt nicht.«
»Trotzdem können wir ihre Drohung nicht einfach ignorieren.«
»Warum nicht?«
»Weil sie vielleicht doch Ernst macht und möglicherweise einen potenziellen Kunden niederschießt.« Ganz zu schweigen von ihr selbst. Aber Grace war vor allem anderen professionell.
»Nicht, wenn wir sie direkt vor dem Haus parken lassen und anweisen, mit eingezogenem Kopf zur Tür zu rennen«, meinte Frank. »Wenn sie erst mal drin sind, ist die Gefahr gebannt, und Sie können sie in aller Ruhe herumführen. Und anschließend bringen wir sie in der gleichen Weise zu ihren Autos zurück und schärfen ihnen ein, sofort loszufahren.«
»Vielleicht können wir ja auch noch eine Abbuchungserlaubnis für den Kaufpreis von ihnen bekommen, bevor sie erschossen werden«, ergänzte Grace trocken.
»Ach. kommen Sie. Die Frau ist eine Verrückte. Wie viele Verrückte haben Sie in Ihrem Beruf schon kennen gelernt?« Er sah sie mit leicht irrem Blick an. »Wenn Sie die alle ernst nehmen wollten, würden Sie verrückt, stimmt‘s?« Grace wog ihr Handy unschlüssig in der Hand. Wahrscheinlich hatte er Recht damit, dass Mrs Carr ihm nur Angst machen wollte.
»Rufen Sie doch in Ihrer Firma an«, schlug Frank vor. »Die werden wissen, was in einem solchen Fall zu tun ist.« Grace konnte es nicht ausstehen, wenn man ihr sagte, was sie tun sollte.
»Es gibt bei uns keine Richtlinien für das Verhalten im Fall einer drohenden Erschießung, Frank.« Außerdem war es inzwischen neun Uhr. Die leitenden Angestellten würden in der Konferenz sitzen, in der an jedem letzten Freitag des Monats die Geschäftsabschlüsse resümiert und neue Ziele gesetzt wurden. Die übrige Belegschaft wäre, wie sie, unterwegs. Einige von ihnen führten schon seit sieben Uhr früh Häuser vor, um Interessenten die Besichtigung noch vor deren Arbeitsbeginn zu ermöglichen, und würden es bis sieben Uhr abends tun, um den Leuten entgegenzukommen, die die Besichtigung auf dem Heimweg von der Arbeit erledigen wollten. Grace dachte manchmal, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sie rund um die Uhr für Kunden zur Verfügung stehen müssten.
Und wenn sie in der Firma anriefe, würde sie höchstwahrscheinlich an sich selbst verwiesen. Sie hatte den Ruf einer »patenten Person«, was allerdings immer ein wenig abwertend klang. Wenn jemand mit einer Schießerei zurechtkäme, dann Grace, würde man ihr erklären. Sie wusste nicht, weshalb. Schließlich hatte sie nicht täglich in Mittelschichtwohnzimmern mit Gewalt zu tun. Ihr Job war kaum als riskant einzustufen. Nicht körperlich zumindest. Finanziell gesehen waren die Risiken immens, wie sie Ewan schon oft erklärt hatte. Was Franks Haus anging, beispielsweise. Die Käufer müssten sich bis ins hohe Alter verschulden, um den geforderten Preis bezahlen zu können. Dabei war es Graces Meinung nach nur die Hälfte davon wert. Höchstens drei Viertel. Aber das durfte man den Leuten natürlich nicht sagen. Häuser zu verkaufen bereitete ihr in zunehmendem Maße moralisches Unbehagen.
»Dann versuch doch mal, Leuten einen Schokoriegel zu verkaufen, der ihnen beim Abnehmen hilft«, hatte Ewan düster erwidert.
»Du hast den Auftrag also bekommen?« Es wäre nett gewesen, wenn sie nur ein einziges Mal ein Gespräch über ihren Job hätten beenden können, bevor sie zu seinem wechselten. Aber offenbar war der Verkauf gebrauchter Häuser nicht so aufregend wie das Entwerfen von Werbekampagnen fürs Fernsehen, und es hatte keinen Sinn, so zu tun, als ob es anders wäre. Zumindest tat es niemand in Graces Familie und hatte es auch seit Jahren nicht getan. »Ganz knapp«, hatte Ewan geantwortet. »Und jetzt liebäugele ich mit ›Slimchoc - der köstliche Schokoriegel, der Ihre Pfunde zum Schmelzen bringt‹.«
»Und - tut er es?«
»Tut er was?«
»Die Pfunde zum Schmelzen bringen?«
»Keine Ahnung. Ich bezweifle es. Wir müssen uns noch juristisch beraten lassen. Vielleicht müssen wir ›im Zusammenhang mit einer kalorienreduzierten Ernährung hinzufügen.«
Seine düstere Stimmung war wie weggeblasen. Sie gehörte zu einer Rolle, die er in regelmäßigen Abständen spielte, um vorzugeben, dass er zu dem Teil der Menschheit gehörte - dem größeren -, der seinen Job hasste und verabscheute. Aber er hielt sie nie lange durch. Der Mann hüpfte am Montagmorgen buchstäblich die Treppen zu seinem Arbeitszimmer hinauf und summte dabei kleine Jingles vor sich hin oder versuchte, einen Reim auf »Bubblegum« zu finden. Es gab keinen, erklärte er ihr fröhlich. Zumindest keinen, der nicht obszön war.
»Also - was hältst du davon?« Er wartete gespannt auf ihre Meinung. Es hatte ihr immer geschmeichelt - bis er ihr eines Tages eröffnete, dass sie für die Werbung die Verkörperung des demografischen Ideals darstellte: eine weiße Mittelschichtfrau von Mitte dreißig mit zwei produkthungrigen Kindern und einem Verdienst, der den Erwerb von Luxusgütern und Spontaneinkäufe erlaubte. Sie verwahrte sich dagegen. Du bist ein repräsentativer Wirtschaftsfaktor, hatte er gesagt. Worüber beschwerst du dich, zum Teufel? Sie wusste es nicht genau. Irgendwie fand sie, dass sie damit snobistisch wirkte.
»Ach ja - ich habe übrigens Gratisproben mitgebracht«, setzte er hinzu. »Jamie hat schon einen probiert. Er findet, das Ding schmeckt wie Spülmittel.« Also würden diese Gratisproben sich zu den anderen gesellen, die sich in der Garage türmten. Obwohl sie ihn deswegen regelmäßig anmeckerte, war Ewan nicht bereit, sie wegzuwerfen. In mancher Hinsicht kam er ihr wie ein kleiner Junge vor, der alle möglichen Schätze hortete. Wenn sie seine Taschen leerte, bevor sie Hosen in die Reinigung brachte, fand sie darin keine geheimnisvollen Telefonnummern oder Kreditkartenquittungen von teuren Wäschegeschäften, sondern Gummiringe, angebissene Schokoladenprodukte und Bleistiftspitzer. Und einmal eine Schaumgummieinlage eines Büstenhalters. Die hatte dann doch ihr Misstrauen erregt - bis er ihr erklärte, dass die Einlage zusammen mit der, die sein Kollege Mick in der Hosentasche hatte, genau die richtige Form für die neue Ostereier-Kampagne bildete, an der sie arbeiteten. Sie konnten nämlich kein echtes Ei nehmen, da dessen Form sich absolut nicht verkaufen ließ. Sie hatte ihm geglaubt. Niemand konnte sich so eine Geschichte ausdenken. Außerdem hätte Ewan weder die Zeit noch die organisatorischen Fähigkeiten, die eine Affäre erforderten. Er war Grace nicht treu, weil er sie so heiß und innig liebte. Oh ja, er liebte sie, das wusste sie. Aber manchmal hatte sie den Verdacht, dass er jede Frau lieben würde, die sich bereit erklärt hätte, ihn zu heiraten - solange er größtenteils machen dürfte, was er wollte, und sie ihn nicht zu oft behelligte. Sonst würde er sie vielleicht nicht so mögen. »Oh, mein Gott!«, quiekte Frank neben ihr. »Gehen Sie in Deckung!«
»Was?«
»Sie richtet ihr Gewehr auf uns!«
Grace fuhr zu Mrs Carrs Haus herum. Einer der Seitenflügel des Panoramafensters stand offen und etwas Langes, Glänzendes ragte unter dem Netzstore hervor in ihre Richtung. »Sind Sie sicher, dass das ein Gewehr ist?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen.
»Was könnte es sonst sein?«
»Ich weiß nicht...«
»Das Rohr ihres Staubsaugers, vielleicht?«
»Ich meine ja nur ...«
»Schwafeln Sie nicht, um Himmels willen - gehen Sie in Deckung!«
Ohne die Gebote der Höflichkeit zu beachten, stieß er sie beiseite und tauchte hinter ihren Wagen ab. Grace stand allein und ungeschützt in seiner kopfsteingepflasterten Einfahrt und starrte zu Mrs Carrs Haus hinüber. Es war das erste Mal, dass Netzstores ihr bedrohlich erschienen.
»Guten Morgen!«, versuchte sie es mit Freundlichkeit und winkte dazu. Sie hatte irgendwo gelesen, dass man einen Aggressor manchmal besänftigen konnte, wenn man eine persönliche Beziehung zu ihm herstellte. »Es wird ein schöner Tag!«
Das Rohr wurde noch ein paar Zentimeter weiter herausgeschoben.
Wenn man es recht bedachte, war es wirklich feige von Mrs Carr, ihnen nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, fand Grace. Aber wie auch immer - Grace hatte zwei Kinder zu Hause, die sie brauchten (wenigstens ab und zu), und einen Mann, der sie liebte (wenigstens hatte er das Weihnachten vor zwei Jahren gesagt), und sie sollte hier nicht die Heldin spielen. Also würde sie in Deckung gehen, aber nicht in sichtbarer Panik. Grace setzte sich langsam in Bewegung und schlenderte mit den Händen auf dem Rücken gemächlich an Franks Vorgarten entlang wie auf einem Sonntagsspaziergang. Als in einem Busch ein Rotkehlchen zwitscherte, hob sie den Kopf und gestattete sich ein Lächeln. »Was treiben Sie da?«, bellte Frank unterdrückt. »Wollen Sie sich den Kopf runterschießen lassen?« Diese Aussicht veranlasste sie, ihre Schritte zu beschleunigen und sich ihrem Auto, wie sie hoffte, unauffällig zu nähern. Kurz davor schaute sie nach unten, tat so, als entdecke sie, dass ihr Schnürsenkel aufgegangen war (sie trug Sandalen), schnalzte vernehmlich mit der Zunge und bückte sich, als wolle sie ihren Schuh wieder zubinden. Dann hechtete sie mit einem Satz hinter ihren Wagen und landete auf Frank. »He!«
»Tut mir Leid.«
Aber das stimmte nicht. Ihr Blut pumpte ungewohnte Mengen von Adrenalin durch ihren Körper, und ihr Gesicht fühlte sich heiß an. Sie kam sich vor wie in einem Western oder zumindest wie in Hawaii 5-0, obwohl der Aggressor im Fernsehen immer eher ein geheimnisvoller, attraktiver Mann war und keine wunderliche, alte Frau. Grace konnte es kaum erwarten, den Jungs von diesem Abenteuer zu erzählen. Stellt euch vor - ich musste mich vor einem Gewehr retten! Das würde die beiden bestimmt beeindrucken. Vielleicht auch nicht. Seit ihre Söhne acht geworden waren, hatte sie das Gefühl, dass diese sie mehr oder weniger als Hintergrundgeräusch empfanden. Nein, das war wahrscheinlich unfair - es hatte ihr nur so wehgetan und tat es noch immer. Innerhalb von sechs Monaten hatten sie sich von pfirsichwangigen Babys in halbwüchsige Ungeheuer verwandelt, die sich Spielzeugmaschinenpistolen zum Geburtstag wünschten und die meiste Zeit damit verbrachten, einander grün und blau zu prügeln. Nicht mehr erwünscht waren die mütterliche Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit. Nie würde sie den vernichtenden Moment vergessen, als Jamie sich mit einem fast angewiderten Ausdruck ihrer Umarmung entwand. Jetzt war es Ewan, dem sie auf Schritt und Tritt folgten, den sie baten »Schau mal, was ich kann!« und »Kommst du mit uns nach draußen? Bittebittebitte!« Grace wurde auf der Türschwelle stehen gelassen wie eine Hausangestellte, die für warme Mahlzeiten und saubere Socken zu sorgen hatte.
Disneyworld war ihre Idee gewesen - als eine Möglichkeit, die Familie wieder richtig zusammenzubringen. Also hatte sie sich einen Monat Urlaub genommen, die Tickets besorgt und sie in selbst gebackenen Glückskeksen versteckt, die sie eines Abends als Nachtisch servierte. »Einen ganzen Monat sollen wir dort verbringen? Da werden wir ja irre«, erklärte Ewan.
»Ist das während des Schuljahres?«, erkundigte sich Neil, der um zweiundzwanzig Minuten jüngere, aber viel kräftigere Zwilling.
»Mein Ticket ist angekokelt«, beschwerte sich Jamie, der andere.
Grace schaute in die Runde. Sie hätten sich für den Preis dieser Reise ein neues Auto leisten können oder auf die Malediven fliegen und einen Monat lang am Strand faulenzen (was ihr sehr viel besser gefallen hätte, als durch den verdammten Enchanted Tiki Room zu latschen). Also knallte sie, anstatt sie mit Engelszungen zu bereden, die Prospekte auf den Couchtisch und lehnte sich wortlos zurück. Natürlich schlugen sie sie auf und sahen die phantastischen Wasserrutschen und Dschungelexkursionen, und plötzlich waren sie Feuer und Flamme. Eine schrille Stimme riss die Morgenstille in Fetzen. »Frank Gorman! Sie halten sich von meinem Haus fern, verstanden?«
Frank zitterte sichtbar. »Großer Gott! Sie wird mich erschießen!«
»Seien Sie nicht albern.« Grace tippte die Nummer 999 in ihr Handy ein und richtete sich so weit auf, dass sie durch das Wagenfenster über die Straße schauen konnte. Irgendjemand hatte einen Kaugummi an die Innenseite der Scheibe geklebt. Wahrscheinlich Neil. Sie würde ihn umbringen. »Provozieren Sie sie bloß nicht«, warnte Frank. Drüben wurde der Netzstore ein Stückchen zur Seite gezogen, und Grace sah hoch aufgetürmte weiße Haare über etwas, das wie ein zerknittertes Kleid aussah. Es konnte auch ein Bademantel sein. Der Anblick erinnerte sie an eine der Hexen aus Macbeth. Der Gewehrlauf ragte jetzt weit aus dem Fenster. Er wackelte einen Moment lang hin und her und wurde dann gen Himmel gerichtet. »Trinkt sie?«, fragte Grace. »Wie ein Fisch«, antwortete Frank. Der Netzstore fiel an seinen Platz zurück, als sei Mrs Carr es müde geworden, ihn festzuhalten. Vielleicht ging sie sich ja auch etwas zu trinken holen. Der Gewehrlauf blieb in Position.
Grace begannen die Füße wehzutun. Das passierte in diesen hochhackigen Sandalen immer nach einiger Zeit, aber damit musste sie leben. Wenn man Häuser verkaufte, vor allem Häuser in besseren Gegenden, musste man ein bestimmtes Image wahren. Darum auch die vielen eleganten Kostüme in ihrem Kleiderschrank. Deren Farblosigkeit zielte darauf ab, sich nicht von dem Dekor eines Objektes abzuheben. Einmal war sie so perfekt damit verschmolzen, dass ein Interessent sie, obwohl im selben Raum mit ihr, nicht wahrgenommen hatte. Sie stand vor einer Wand, während er sich um seine eigene Achse drehte und murmelte: »Wo zum Teufel ist das Weib geblieben?«
»Notrufzentrale«, schepperte die Stimme der 999-Vermittlung in ihr an ihrem Handy klebendes Ohr. »Die Polizei, bitte«, sagte Grace.
Nach einer kurzen Stille fragte eine Männerstimme in der Zentrale der Polizei, was man für sie tun könne. »Ich bin in der Bridge Road Nummer 17«, erklärte sie präzise, »und aus dem Haus gegenüber bedroht uns eine Frau mit einem Gewehr.«
»Mit einem Gewehr?« Er klang alarmiert.
»Ja.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut.«
Sie hörte den Mann etwas zu jemandem im Hintergrund sagen und schaute Frank bedeutungsschwanger an. So etwas wie das hier passierte nicht alle Tage. Zumindest ihr nicht.
Der Polizist erkundigte sich nach Einzelheiten.
»Es gab da einen Streit wegen Rosenbüschen, wissen Sie.«
»Wegen Rosenbüschen?«
»Das ist richtig. Frank hatte sie zu stark beschnitten, und da wurde die Frau wütend.«
»Frank?«
»Mrs Carrs Nachbar.«
»Okay. Wer ist Mrs Carr?«
»Die Frau mit dem Gewehr...« Grace spürte sein Interesse erlahmen. »Es ist ein bisschen kompliziert, wissen Sie. Tatsache ist, dass sie ein Gewehr hat und droht, es zu benutzen, wenn ihr danach ist - und das kann jeden Moment passieren.«
Damit hatte sie seine Aufmerksamkeit wieder. Bedrohte die Frau sie im Moment direkt?
»Allerdings«, bejahte Grace nachdrücklich.
»Sie können das Gewehr tatsächlich sehen?«
»Ja, ich sehe es.«
Auf der anderen Straßenseite wurde der Lauf des Gewehres abrupt zurückgezogen und das Fenster zugeknallt. Nach einer kleinen Pause sagte Grace: »Nicht zu fassen jetzt ist es weg.«
»Und was ist mit der Frau?«, wollte der Polizist nach einer seinerseitigen kleinen Pause wissen. »Sie ist auch weg ... aber vor einer Sekunde war sie noch da. Mit dem Gewehr. Ich habe sie ganz deutlich gesehen.« Grace spürte, wie sie am anderen Ende der Leitung als Spinnerin abgehakt wurde, bei der man, wenn mal zehn Minuten Luft wären, einen Streifenwagen vorbeischicken würde.
»Schicken Sie einen Wagen?«, fragte sie.
Er versprach es.
»Wann?«
Bald. Bis dahin solle sie bleiben, wo sie sei, sich der Frau unter keinen Umständen nähern und nicht versuchen, in irgendeiner Form mit ihr Kontakt aufzunehmen. Das gelte auch für diesen Frank.
»Okay. Ich danke Ihnen, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben«, beendete Grace das Gespräch. Das tat sie immer mit diesem Satz. Sie hatte es sich in der Arbeit angewöhnt. Selbst wenn Leute ihre Zeit beanspruchten, sagte sie das am Schluss.
»Hoffentlich wirkt sich diese Geschichte nicht negativ auf den Verkauf aus«, sorgte sich Frank.
»Sicher nicht.« Um ihn abzulenken, fragte sie: »Und wo ziehen Sie hin?« Sie erwartete als Antwort Navan oder vielleicht Dunboyne.
»Nach New York.«
»Oh!«
»Sandy ist Amerikanerin. Hatte ich das nicht erwähnt? Ich nenne sie immer Yankee Doodle. Sie liebt das, amüsiert sich jedes Mal königlich. Sie sagt, ich hätte einen herrlichen Humor. Wie auch immer - sie lebt in Brooklyn und arbeitet als Kinderkrankenschwester, doch nur bis sie eigene Kinder hat, sagt sie. Dann will sie kündigen und nur noch Hausfrau und Mutter sein. Aber im Moment ist sie glücklich in ihrem Job, und am Wochenende macht sie Ausflüge mit behinderten Kindern und dienstags und donnerstags gibt sie abends in der Suppenküche Essen an die Obdachlosen aus.« Angesichts dieser Fülle von Aufgaben fragte Grace sich, wie Sandy es bewerkstelligte, täglich auch nur fünf Minuten im Bad zuzubringen, geschweige denn vier Stunden, wie Frank erzählt hatte. Aber sie sagte nur: »Wow! Eine viel beschäftigte Frau.«
»Zu beschäftigt.« Frank runzelte die Stirn. »Das sage ich ihr immer wieder. Ich sage, Sandy, du musst auch mal an dich denken, aber sie hört nicht auf mich. Es ist kein Wunder, dass sie in letzter Zeit immer müde ist.«
»Wann gehen Sie rüber?«
»In zwei Wochen. Ich wäre ja schon längst drüben, aber es ist schwierig für mich, einen Job zu finden.«
»Was machen Sie denn?«
»Vögel.«
»Wie bitte?«
»Ich bin Ornithologe. Ich arbeite für Tierschutzorganisationen, Zoos und dergleichen. Und ich bin dabei, ein Buch zusammenzustellen: Vögel für Anfänger. Sandy findet die Idee großartig. Sie sagt, bevor sie mich kannte, hatte sie keine Ahnung, dass der Kuckuck seine Eier in fremde Nester legt. Nun, das tut er zwar tatsächlich, aber das ist noch nicht alles. Sandy sagt, sie könnte den ganzen Tag zuhören, wenn ich über Vögel rede.«
»In New York ... da gibt es Tauben, nicht wahr?«, sagte Grace.
»Jedenfalls warte ich jetzt nicht länger«, fuhr Frank fort, als habe er sie nicht gehört. »Sandy sagt, sie unterstützt mich finanziell, bis ich Arbeit gefunden habe.« Wie sie das von ihrem Gehalt als Kinderkrankenschwester bewerkstelligen würde, erläuterte er nicht. Ein verträumter Ausdruck lag auf seinem roten Mondgesicht. »Sie ist einfach phantastisch, wissen Sie.«
Nun, jedenfalls war sie es für Frank, und das allein zählte, dachte Grace.