I.
März, 695 nach römischer Zeitrechnung
Für einen kurzen Augenblick hatte ich geglaubt, am anderen Ende der Talsohle drei Reiter zu erkennen. Germanische Reiter. Aber ich mußte mich getäuscht haben. Jetzt war nichts mehr zu sehen.
Ich lag bäuchlings auf dem flachen Felsvorsprung, hoch über dem Tal, und blinzelte in die Frühlingssonne. Ich dankte den Göttern, daß sie mich als raurikischen Kelten wiedergeboren hatten. Zufrieden schloß ich die Augen und versuchte die dampfende Minze eines knusprig gebratenen Schweinerückens zu riechen, gerösteten Kümmel und Pinienkerne, in Honig eingelegte Mandeln und Thymian, frisch gemahlenen Pfeffer und Selleriesamen, und ich stellte mir vor, wie eine nubische Sklavin mir dazu Fisch und griechischen Harzwein servierte. In meinem Handelshaus in Massilia fehlte es mir an nichts. Denn es existierte nur in meiner Phantasie.
Ich träumte oft in den Tag hinein. Der Druide Santonix hatte mir gesagt, daß ein Wunsch in Erfüllung geht, wenn man ihn sich nur oft genug in allen Einzelheiten vor Augen führt. Alle Sinne würden sich danach richten, und man würde mit der Zeit instinktiv das Richtige tun. Damit der Wunsch in Erfüllung geht.
Aber heute wollte mir nichts gelingen. Meine nubische Sklavin erstarrte zu einem römischen Mosaik und zerfiel wie ein altes Gebiß. In meiner Nähe stank es fürchterlich nach verfaultem Fisch. Schuld daran war Lucia. Sie lag wie eine schwarze Sphinx neben mir, die weißen Vorderbeine nach vorne gestreckt, den edlen, schmalen Kopf hoch aufgerichtet, als habe sie irgend etwas gesehen oder gerochen. Sie hatte feines, weißes Kurzhaar mit großen, tiefschwarzen Platten und über den Augen und an den Wangen rote Feuerflecken. Dreifarbige Hunde wie Lucia galten bei den Römern als mißraten. Deshalb hatte Kretos, ein griechischer Weinhändler aus Massilia, der sich römischer als ein Römer benahm, Lucia auf unserem Hof zurückgelassen. Das hatte ihm die Mühe erspart, sie zu ersäufen. Kretos kam einmal im Jahr in den Norden. In sechzig Tagen brachte er seine Weinamphoren über den Rhodanus, Arar und Dubis hinauf und machte in Vesontio, der Hauptstadt der keltischen Sequaner, halt. Hier verkaufte er den Großteil seines Weines und kaufte mit dem Erlös roten Wollstoff, Eisenwerkzeuge und Goldschmuck. Auf dem Landweg zog er dann weiter den Rhenus entlang. Während die meisten Bediensteten und Sklaven mit der Ware auf dem Wasserweg wieder südwärts fuhren, füllte Kretos den restlichen Wein in keltische Fässer und verkaufte ihn flußauf, flußab. Ja, sogar ins sagenumwobene wilde Germanien. Wie es die Römer nennen. Kretos war das alles egal. Für ihn gab es nur Käufer und Nichtkäufer. Und Ariovist, der germanische Suebenkönig, der sich kürzlich westlich des Rhenus niedergelassen hatte, war ein guter Käufer. Er verfügte über Unmengen Raubgold. Kretos' Handelsreise endete jeweils im Oppidum der raurikischen Kelten am Knie des Rhenus. Von hier aus zog er wieder Richtung Westen, Richtung Arar. Dort warteten seine Sklaven mit ihren vollbeladenen Schiffen auf ihn. Und auf diesem Weg kam er an unserem Hof vorbei. Seine chronischen Zahnschmerzen trieben ihn dazu. Kretos war überzeugt, daß nur der beschränkt haltbare Kräutersud des Druiden Santonix ihm Linderung verschaffen konnte. Onkel Celtillus hatte stets einen Schlauch bereit und tauschte diesen jeweils gegen ein Faß unverdünnten Weins, meistens vierjährigen Sabiner. Wir alle mochten Kretos. Kretos, das bedeutete brandneue Nachrichten, die nicht älter als ein halbes Jahr waren. Vorletzten Sommer war Kretos bereits in den frühen Morgenstunden wieder abgereist, weil er einen Umweg über Genava hatte machen wollen. In der Nacht hatte seine Hündin einen dreifarbigen Welpen geworfen. Kretos hatte ihn in unserem Dorf zurückgelassen. Aber wer in unserem Dorf einen Welpen seinem Schicksal überläßt, überläßt ihn mir. Denn wo ich bin, das hat sich mittlerweile unter den zahlreichen Hunden unserer Siedlung herumgesprochen, gibt es meistens etwas zu futtern. Ich habe den Welpen also ›Lucia‹ genannt und ihn mit Ziegenmilch hochgepäppelt. Seitdem ist Lucia nicht mehr von meiner Seite gewichen, und mittlerweile haben auch die anderen Hunde akzeptiert, daß Lucia stets den ersten Bissen kriegt. Ich weiß, kein Welpe überlebt ohne Mutter. Es sei denn, die Götter überlegen es sich anders.
Jetzt riß Lucia bereits zum zweiten Mal ihr kräftiges Scherengebiß gähnend auseinander, und der Fischgestank, der ihrem Maul entströmte, war ziemlich römisch. Ich vergrub den Kopf zwischen den Armen und versuchte erneut einzuschlafen. Ich wollte im Traum nach Massilia zurück. Doch Lucia ließ mir keine Ruhe. Sie drückte ihre nasse Nase unter meine Hände, leckte meine Stirn und knabberte an meinem Nacken. Es roch, als hätte ich in einer mit spanischer Fischsauce gefüllten Amphore gebadet. So lösten sich auch die letzten nubischen Sklavinnen wie Rauchfäden im Wind auf.
»Die Druiden kommen!« Ich schreckte hoch und schaute von meinem Felsen ins Tal hinunter, zu unserem Gehöft, das am Ufer eines Baches lag. Es war kälter geworden. Der Nebel hatte sich gelichtet. Jetzt sah ich die drei Reiter, die in scharfem Galopp zum Bach hinunter ritten. Lucia reckte stolz den Kopf und richtete ihre Nackenhaare auf. So sah sie fast wie ein Kelte aus, der seine Haare mit Kalkwasser dornenartig gestärkt hatte. Aber es waren nicht die Druiden, die sie beunruhigten. Sie roch irgend etwas. Und bei Epona, es war nicht Fisch. In der Ferne, dort wo der Rhenus das Land der Kelten vom Land der Germanen trennt, braute sich eine riesige schwarzgraue Wolke zusammen. Als ich die Augen zusammenkniff, sah ich, daß es Rauch war. Es kam aus Arialbinnum, dem Oppidum der Rauriker.
Etwas umständlich ließ ich mich von der Felsplatte gleiten und humpelte zu unserem Hof hinunter. Lucia stolzierte mit gestrecktem Rücken neben mir her und schaute immer wieder prüfend zu mir hoch. Sie hatte sich längst an meinen langsamen Schritt gewöhnt und auch daran, daß selbst ein Räuspern von mir eine Bedeutung hatte.
Unser Gehöft bestand aus acht strohbedeckten Langhäusern. Eine einfache, aber stabile Pfostenkonstruktion stützte die Gebäude. Die Wände waren aus lehmbeworfenem Flechtwerk, die Dächer aus Stroh. Obwohl unsere Kornspeicher und Vorratsgruben zum Bersten voll waren, hatten wir weder einen schützenden Erdwall mit Graben noch Palisaden. Seit wir vor zwei Generationen hierhergezogen waren, lebten wir in Frieden mit unseren Nachbarn. Bei großer Gefahr hätten wir uns in das Oppidum der Rauriker am Knie des Rhenus begeben. Das Oppidum lag bloß einen halben Tagesritt von hier – und jetzt stand es in Flammen.
Vor dem ersten Langhaus wurden die Druiden mit frischem Wasser empfangen. Es waren würdevolle Männer in langärmeligen, weißen Tuniken. Darüber trugen sie schwarze Wollumhänge mit Kapuze. Sie wurden wie Götter empfangen. Keltische Druiden waren nicht nur Priester, nein, keltische Druiden waren auch Lehrer, Richter, politische Berater, Astronomen, Erzähler, Mathematiker und Ärzte in einer Person, ja, sie waren das Tor zum Universum des Wissens. Sie waren die lebendigen Bücher der Kelten. Die Schrift war für uns etwas Unreines. Heiliges Wissen durfte nicht schriftlich festgehalten werden. Nur Kaufleute schrieben etwas auf, und zwar auf griechisch, weil die griechische Handelskolonie Massilia das Zentrum unserer Handelswelt war. Hier kaufte der Adel ein, oder Leute, die gerne dazugehört hätten. Ich muß wohl nicht erwähnen, daß ich nicht in Massilia einkaufte.
Ich war damals siebzehn und seit einigen Jahren in der Obhut des Druiden Santonix, der mich die Geschichte unseres Volkes lehrte. Ich hatte sie in Versform auswendig zu lernen. Aber selbst wenn ich eines Tages alles im Schlaf würde vortragen können, so konnte ich noch lange nicht sicher sein, einmal Druide zu werden. Das würde sich erst viel später entscheiden. Daß ich nicht adliger Abstammung war, erschwerte natürlich die Sache. Gut, es war kein grundsätzliches Hindernis. Behaupteten die Adligen. Aber ich kenne keinen Druiden, der nicht adliger Abstammung ist. Wie auch immer: Im schlimmsten Fall konnte ich immer noch Barde werden. Auch Barden waren Gelehrte und großartige Geschichtenerzähler, aber unsere Druiden waren natürlich mehr. Sie waren Mittler zwischen Himmel und Erde, zwischen Leben und Tod, zwischen Göttern und Menschen.
Die Druiden waren heute gekommen, um uns die letzten Anweisungen für unseren langen Marsch an die atlantische Küste zu geben. Es waren drei Druiden, denn die Zahl ›3‹ ist uns Kelten heilig. Doch ich kannte nur meinen alten Lehrmeister, den Druiden Santonix. Seine beiden Begleiter hatte ich noch nie gesehen. Santonix war ein gütiger und weiser Mann. Er war fast schon vierzig und ein begnadeter Lehrer. Obwohl ich unser Gehöft nie verlassen hatte, glaubte ich mit ihm schon das ganze Universum bereist zu haben. Er fand immer die richtigen Worte, um mir unaufdringlich den Weg zu neuen Einsichten zu weisen. Und im nachhinein hatte ich stets den Eindruck, ich sei von selbst darauf gekommen. Dann war ich stolz auf mich und fühlte mich gut. So wünschte ich mir sehnlichst, daß er mir heute mitteilen würde, er würde mich im nächsten Jahr auf die Insel Mona mitnehmen. Dort befand sich das große Druidenzentrum der Kelten, die einzige Druidenschule überhaupt, verborgen in einem dunklen Wald. Nur auserwählte Schüler wurden dorthin mitgenommen.
Santonix hob stumm die Hand und suchte den Himmel nach Zeichen ab. Seine beiden Begleiter senkten den Kopf und murmelten heilige Verse. Ihre schweren Roben waren mit farbigen Kordeln geschnürt. Das bedeutete, daß sie noch in der Ausbildung waren. Die Art und Weise, wie sie jetzt den Kopf hoben und den Umstehenden furchtlos in die Augen schauten, entlarvte sie als Söhne von Adligen, die ihren Status ihrer Geburt und nicht ihrer Leistung oder ihrem Können verdankten. Möglicherweise stand mir heute ein massiver Rückschlag bevor. Die beiden stolzen Pfauen in ihren Roben würden mir allemal vorgezogen werden. Ich hätte Santonix gerne darauf angesprochen, aber das wäre sehr unhöflich gewesen. Etwas auf den Punkt zu bringen ist nicht Sache der Kelten. Wir brauchen die Sprache zur Verständigung nicht. Nur zum Streiten. Abgesehen davon hätte ich heute ziemlich Mühe gehabt, Santonix zu sprechen. Alle drängten nach vorn und bestürmten ihn mit Fragen. Ich wurde von allen Seiten angerempelt, gestoßen, gehalten, geschubst, und wenn ich mich nicht an der jungen Sklavin Wanda hätte festhalten können, wäre ich bestimmt gestürzt. Denn ich hatte ein Problem mit meinen Beinen.
»Druide! Drängt Ariovist in den Süden?«
Heute wünschte man sich nicht Rechtsprechung in irgendeinem nachbarlichen Streit und auch keine Kräutermischung gegen blutigen Husten, nein, heute betrafen alle Fragen Ariovist, den germanischen Suebenführer, den die einen Fürst oder Herzog, die andern König nannten. Die Antwort sollten alle gemeinsam erhalten.
»Druide! Was bedeutet der Rauch über Arialbinnum?«
Die Leute auf unserem Hof waren sichtlich nervös. Jetzt, wo wir uns entschlossen hatten, den südwärts drängenden Germanen zu weichen und uns dem Zug der keltischen Helvetier an die atlantische Küste anzuschließen, wollten wir nicht noch in sinnlose Kämpfe verwickelt werden. Wir waren ja bereit, das Land zu räumen.
Santonix gab Postulus, unserem Dorfältesten, die Milchschale zurück und hob den Arm. Stille. Demütig senkten wir unsere Köpfe, als wollten wir vermeiden, den Druiden in die Augen zu sehen. Wenn sie eine Ansprache hielten, sprachen durch sie die Götter. Irgendwie war unser stürmischer Empfang eines Druiden unwürdig gewesen. Santonix stieg auf den erhöhten Fußboden des Getreidespeichers, der stets zum Schutz vor Ratten und Mäusen vier Fuß über der Erde eingezogen wurde, und begann mit lauter, sonorer Stimme eindringlich zu sprechen:
»Rauriker! Im Konsulatsjahr des Marcus Messala und Marcus Piso haben die keltischen Helvetier beschlossen, ihr Land zu verlassen und ins fruchtbare Land der Santonen an die atlantische Küste zu ziehen. Ihr, das Volk der keltischen Rauriker, habt euch entschlossen, es den keltischen Helvetiern gleichzutun und euch ihnen anzuschließen. So wie sich auch die keltischen Stämme der Tiguriner, der Latobriger und der Bojer den Helvetiern angeschlossen haben. Denn wir alle sind Kelten und opfern denselben Göttern. Unsere Vorratsgruben und Speicher sind voll. Jeder ausreisewillige Kelte hat genügend Mehl für drei Monate. Die Götter haben uns deshalb ein Zeichen gegeben, uns Ende März am Ufer des Rhodanus mit den anderen ausreisewilligen keltischen Stämmen zu vereinen. Von dort aus wird uns der große und ruhmreiche Fürst Divico an die atlantische Küste führen. Wir werden durch das Land der keltischen Allobroger ziehen, ohne Verwüstungen anzurichten. Das Stammesgebiet der Allobroger ist heute römische Provinz. Die Römer werden uns aber nicht daran hindern, ihre Provinz zu durchqueren, denn sie wissen, daß wir genügend Nahrungsmittel und den Atlanticus zum Ziel haben. Wir werden Gold und Geiseln stellen, um unsere friedlichen Absichten zu bekräftigen.«
Santonix hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Heute früh hat Ariovist mit seinen Reitern das Oppidum der tapferen Rauriker in Brand gesteckt. Wartet deshalb nicht, bis er euren Hof erreicht hat. Brennt bereits morgen alles nieder, was ihr nicht mitnehmen könnt. Zieht gen Süden. Wartet am Ufer des Rhodanus auf die Ankunft der anderen Stämme. Wenn morgen früh die Sonne aufgeht, müßt ihr euren Hof verlassen haben. Hier können euch selbst die Götter nicht mehr beschützen. Im Norden naht bereits Verstärkung für Ariovist. Zehntausend hungrige germanische Reiter. Aus dem Osten nahen die Daker unter ihrem König Barebista, und von Süden her breitet sich Rom wie ein bösartiger Eiterherd aus. Wollen unsere Stämme überleben, müssen sie noch diesen Sommer den Atlanticus erreichen. Die Santonen werden uns wie Brüder empfangen. Denn das fruchtbare Land, das sie uns abgetreten haben, ist bereits bezahlt. In Gold.«
Der Druide Santonix schaute in die Runde, als wolle er die Wirkung seiner Worte prüfen. Dann fuhr er fort: »Rauriker, heute nacht werden wir hier ein letztes Mal die Mistel schneiden und die Götter um Schutz bitten. Lug beschütze uns.«
»Lug beschütze uns«, wiederholten wir alle im Chor.
Ich hatte eigentlich erwartet, daß alle wieder wild durcheinanderreden würden. Doch niemand rührte sich von der Stelle oder erhob die Stimme. Wir hörten nur noch das Gackern der Hühner und das Grunzen der Schweine, die nach Abfällen suchten. Ihnen war es einerlei, wer ihnen den Bauch aufschlitzte. Die Bewohner unseres Gehöfts schwiegen betreten. Bedeutungsvolle Blicke wurden gewechselt. Ein paar suchten mit skeptischem Blick den Himmel ab. Aber es gab keine Amsel, deren Flug man in irgendeiner Weise hätte deuten können. Fast lautlos wichen wir zur Seite und bildeten eine Gasse, damit die Druiden zum Langhaus konnten, das Onkel Celtillus zusammen mit mir und den Familien seiner Geschwister und Kinder bewohnte. Als die Druiden im Langhaus waren, steckten die Leute die Köpfe zusammen und tauschten vage Andeutungen aus, nickten oder lächelten stumm, als hätten sie soeben eine Eingebung der Götter erhalten. Nüchterne Kelten sind eben schwer verständlich.
Die ersten Ochsenkarren wurden vor die Getreidegruben geschoben. Ein paar junge Reiter ritten hinaus, um die Weidetiere zu holen. Alles war seit langem bis ins kleinste vorbereitet worden. Jeder wußte, was er zu tun hatte, welche Werkzeuge auf welchen Karren kamen, welche Lasttiere womit beladen wurden, wer wofür die Verantwortung trug und in welcher Reihenfolge die Ochsenkarren unseren Hof zu verlassen hatten. Ich setzte mich nachdenklich unter die dicke Eiche, unter der ich fast meine ganze Kindheit verbracht hatte, und legte meinen Arm auf Lucia, die sich eng an mich schmiegte und seufzend die Schnauze auf ihre Vorderläufe gleiten ließ.
Onkel Celtillus trat aus der Hütte und veranlaßte, daß man den Druiden frisches Obst und Milch brachte. Druiden aßen kein Fleisch und tranken keinen Wein. Ersteres war durchaus akzeptabel, aber letzteres war eher ein Argument, das gegen den Druidenberuf sprach und mich ein bißchen trösten würde, falls mir wegen meiner niedrigen Abstammung die Türen der Druidenschule auf der Insel Mona verschlossen blieben. Ich war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, in Massilia ein großer Händler zu werden, und dem Wunsch, als lebendiges Buch zwischen Himmel und Erde herumzustolzieren. Für Griechen und Römer wäre das kein Problem gewesen. Sie machen aus ihrem Wissen kein Geheimnis. Aber bei uns Kelten hüten die Druiden selbst den Kalender wie ihren Augapfel.
Onkel Celtillus befahl zwei erfahrenen Reitern vorauszureiten, um die Wege auszukundschaften. Vor zwei Tagen hatte es heftig geregnet. Möglicherweise waren Flüsse über die Ufer getreten und hatten einzelne Wege in schlammige Gruben verwandelt, in denen unsere schwerbeladenen Ochsenkarren steckenbleiben würden. Mein Onkel schien sich Sorgen zu machen.
»Celtillus?« rief ich zu ihm rüber. Er war es gar nicht mehr gewohnt, daß ich unter der alten Eiche lag. Ihre Äste waren so angeordnet, daß sie sich schützend und gleichmäßig wie ein Dach aus Flechtwerk nach allen Richtungen streckten. Ja, seit ich einigermaßen laufen konnte, war ich nur noch selten unter der Eiche.
Celtillus kam eilig zu mir herüber und machte ein richtiges Ziegenmilchgesicht: »Korisios, der Wagen steht für dich bereit«, sagte er knapp. Und seine Augen schienen zu sagen: »Mach dir bloß keine Sorgen, wir bringen dich schon zur Küste.« Aber er sagte bloß, daß der Wagen bereitstünde, was ich unschwer selber erkennen konnte, da meine Nahsicht vorzüglich war. Aber Onkel Celtillus legte mit einer beinahe dramatischen Bewegung seine Hand auf die hintere Holzplanke des Wagens und wiederholte, daß der Wagen bereitstünde. Dabei machte ich mir überhaupt keine Sorgen. Ich war nämlich überzeugt, daß sich die Götter – ähnlich wie die Senatoren in Rom – zu einem Rudel zusammengeschlossen hatten, um mich, Korisios, am Leben zu erhalten. Ich weiß wirklich nicht, wieso ich das dachte. Aber ich dachte es nicht nur, ich war felsenfest davon überzeugt. Sorgen waren nicht meine Spezialität. Na ja, es bekümmerte mich ein bißchen, daß ich an meinem Waffengurt nur noch zwei freie Löcher hatte. Denn wenn ein Kelte so dick wurde, daß der Gurt zu kurz war, mußte er eine Geldstrafe zahlen. Und ich hatte kein einziges Stück Keltengold mehr im Beutel.
Onkel Celtillus machte sich aber richtige Sorgen. Jetzt kniete er vor dem eisenbeschlagenen Holzrad des Karrens, und befriedigt stellte er fest, daß das Rad rollen würde. Welch überwältigende Erkenntnis. Sich Sorgen machen, das ist einfach keine keltische Tugend. Als Alexander der Große während seines Donaufeldzugs einen keltischen Gesandten fragte, wovor er sich am meisten fürchtete, sagte dieser zu seiner Verärgerung nicht, vor ihm, dem großen Alexander, sondern davor, daß der Himmel einstürzen könnte. Seitdem geht das Gerücht um, wir seien Großmäuler und Trunkenbolde. Aber auch furchtlos. Onkel Celtillus machte sich natürlich nicht Sorgen um sich. Sondern um mich, Korisios.
Denn ich war anders als andere Menschen. Mein linkes Bein war etwas steif und schwer zu gebrauchen, der linke Fuß stark nach innen verdreht, und so hatte ich beim Gehen Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht. Irgendwie waren meine Muskeln auch stets zu weich oder zu hart, so daß ich Mühe hatte, die Bewegung des Laufens richtig zu koordinieren. Es war eine Behinderung, die mich weiter nicht störte, denn ich war damit geboren und aufgewachsen. Ich hatte nie etwas anderes gekannt. Und Santonix hatte mich gelehrt, zu ändern, was ich ändern konnte, und anzunehmen, was ich nicht ändern konnte. Das war der Schlüssel zum Glück. Denn wenn man etwas Unangenehmes akzeptiert hatte, war man frei, sich den schönen Dingen des Lebens zuzuwenden. Diese Erkenntnis scheint mir sogar bedeutender zu sein als die keltische Schmiedekunst, die zwar selbst die Römer nachahmen, aber immer noch nicht beherrschen und deshalb in Bronzehelmen rumlaufen.
Ich war damals ein sehr glücklicher Mensch, neugierig und unternehmungslustig, und ich war noch nie jemandem begegnet, mit dem ich gerne getauscht hätte.
»Korisios«, begann mein Onkel Celtillus von neuem und erklärte mir nochmals, wie er mich an die Küste bringen wollte. Er erklärte mir, daß heftige Regengüsse die Wege unpassierbar machen könnten, und daß er für diesen Fall ein weiteres Pferd gekauft habe. Wanda würde mit mir reiten.
»Wanda!« schrie ich. »Was habe ich eigentlich den Göttern getan, daß sie mir diese germanische Sklavin aufgebürdet haben? Ich frage mich manchmal, wer hier eigentlich wessen Sklave ist!«
Celtillus schüttelte verärgert den Kopf: »Korisios, die Götter haben mich am Leben erhalten, damit ich dich an den Atlanticus bringe.«
»Aber Celtillus«, lachte ich laut auf, »ich frage mich in letzter Zeit öfter, ob du wirklich der Kerl bist, der zwanzig Jahre lang als Söldner in der römischen Armee gedient hat. Du hast in Spanien gekämpft, in Nordafrika, in Ägypten und auf Delos. Du hättest dir irgendwo eine Pilzvergiftung holen, mit einem Dreiruderer auf Grund laufen oder von einem parthischen Reiter geköpft werden können, aber du hast alle Widrigkeiten überlebt! Und du hast Angst?«
»Korisios, du hast deinen Vater leider nicht gekannt. Aber ich kann dir heute sagen: Dein Vater kannte keine Furcht, und dennoch hat er das Mittelmeer nie erreicht.«
Ich kannte die Geschichte in allen Einzelheiten, denn sie war in unserer Dorfgemeinschaft immer wieder erzählt worden. Mein Vater, der Schmied Korisios, war damals zusammen mit Onkel Celtillus über den Poeninus nach Rom gezogen, um als Söldner in Roms Armeen zu dienen. Keltische Schmiede waren als Söldner äußerst begehrt. Doch nach wenigen Tagen hatte sich mein Vater an einer Muschel einen Zahn ausgebissen, und obwohl der Legionsarzt den Zahn gezogen hatte, war die Backe angeschwollen wie eine Schweinsblase. Ein griechischer Arzt soll später gesagt haben, daß der Eiter ihm das Blut vergiftet habe. Meine Mutter habe ich auch nicht gekannt. Sie ist bei der Geburt gestorben. Das war ein Schicksal, das uns Kelten nicht schwer berührte, denn der Tod ist für uns lediglich ein Übergang ins nächste Leben. Deshalb ertragen wir auch die Scherze der Götter besser als andere Völker, denn wir wissen von der Wanderung der Seele, und somit ist ein schwieriges Leben nicht mehr als ein schwieriger Tag. Daher gibt es für uns auch keinen Grund, Behinderte zu ersäufen, und für Behinderte keinen Grund, sich selber zu ersäufen. In meinem Fall wäre das ohnehin aussichtslos gewesen. Denn ich bin ein ausgezeichneter Schwimmer, weshalb es schwierig für mich wäre, mich selbst zu ersäufen. Aber wie auch immer: Ich war damals siebzehn Jahre alt und sprühte nur so vor Lebensfreude und Energie. Daß ich ohne Eltern aufwuchs, habe ich nie als ungerecht empfunden, denn das kam häufig vor, und kein Kelte mußte deshalb einsam sein; durch Tod und Krankheit dezimierte Familien bildeten neue Großfamilien, und so lebte ich zusammen mit Onkel Celtillus und neunundzwanzig anderen Verwandten in einem einzigen Langhaus. War das Leben nicht wunderbar?
»Jaja«, murmelte Onkel Celtillus, »du bist jung, Korisios, aber was tust du, wenn dir Ariovist gegenübersteht?«
»Ich werde ihn zum Lachen bringen«, antwortete ich keck.
Celtillus schüttelte ungläubig den Kopf und fuhr sich ratlos über den buschigen Schnauzbart. Meiner war auch schon stattlich, aber er war leider noch nicht so borstig und buschig wie der von Celtillus. Aber vermutlich hatten die Druiden auch dafür irgendeine widerlich riechende Tinktur entwickelt. Es sollte mir recht sein, solange sie nicht mit Garum vermischt wurde.
»Korisios, ich spüre, daß die Kraft in meinen Armen nachläßt. Der Weg, der noch vor mir liegt, ist kurz. Ich werde den Atlanticus nicht mehr sehen. Und mein letzter Gedanke gilt dir, Korisios. Was soll aus dir werden?«
»Onkel«, sagte ich mit gespielter Empörung, »deine Mutlosigkeit grenzt an Götterlästerung. Entweder werde ich eines Tages im Carnuten-Wald zum Druiden erkoren, oder ich werde bis dahin in Massilia mein Handelshaus errichtet haben und alles, was die Römer herstellen, erfolgreich nachbauen und in ganz Gallien verkaufen. Ich werde die Römer ruinieren.«
Das mag übertrieben klingen, aber das mit dem Handelshaus war mir durchaus ernst. Es gab mittlerweile immer häufiger Tage, an denen ich die Laufbahn des Händlers dem Druidenberuf vorzog. Ich war wirklich unschlüssig. Ich wollte Ruhm und Ehre. Ob allerdings als Druide oder als Händler, das wußte ich noch nicht so genau.
Celtillus nickte. Er war alt geworden. Er war mittlerweile der Älteste in unserer Gemeinschaft. Schon weit über fünfzig. Seit er vor zehn Jahren wieder zu uns zurückgekehrt war, fühlte er sich für mich verantwortlich. Schließlich gehörten wir der gleichen Sippe an. Meinetwegen hatte er letztes Jahr die junge germanische Sklavin Wanda gekauft. Sie sollte ihn eines Tages ersetzen, wenn er ins nächste Leben überging. Aber ich brauchte keine Krücke aus Fleisch und Blut. Ich brauchte keine Sklavin. Und schon gar nicht Wanda. Sie war zwar für mich inzwischen wie eine Schwester, aber eben wie eine Schwester, die man am liebsten im Moor versenken möchte.
»Korisios«, murmelte Celtillus, »wenn ich nachts wach liege und über dies und jenes nachdenke, dann denke ich manchmal: Du magst recht haben, die Götter haben etwas Besonderes mit dir vor. Das alles muß seine Gründe haben.«
»Mindestens drei«, grinste ich.
Jetzt lachte auch Onkel Celtillus, so breit, daß man sogar die vier vom groben Korn abgeschliffenen Zähne sehen konnte, die ihm die Götter noch gelassen hatten. »Wer weiß, Korisios, dein Glaube an deinen Erfolg ist so unerschütterlich, daß ich mich langsam frage …«
»Was ist denn das Schlimmste, was mir passieren kann?« lachte ich.
Onkel Celtillus schaute mich überrascht an.
»Was ist schlimmer, Onkel? Daß mir Ariovist das Herz rausschneidet oder daß mich die Römer ans Kreuz nageln? Was es auch sei, es ist schnell vorbei, dann fahre ich mit dem Fährmann in mein neues Leben.«
Celtillus schien erleichtert. Ich hatte ihm Mut gemacht, dabei war mir im Augenblick gar nicht mehr so zumute, denn daß einer wie Celtillus sich Sorgen machte, beunruhigte mich nun doch etwas. Andererseits trank Onkel Celtillus seit Jahren einfach zuviel. Das Trinken steigert zwar den Mut, doch wenn die Wirkung des Weines nachläßt, wird man schreckhaft und ängstlich wie ein aufgescheuchtes Reh. Ich griff zum Eisengriff, den mir Celtillus am Eichenstamm befestigt hatte, damit ich mich einfacher hochziehen konnte, und stand auf.
»Wanda«, schrie ich verärgert, so, als müßte sie ständig an meiner Seite sein.
»Ja, Herr!« Sie saß hinter mir und hatte mich offenbar die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Ihr »Ja, Herr« klang übrigens in keiner Weise demütig oder gar unterwürfig. Im Gegenteil. Sie sagte ihr »Ja, Herr« derart selbstbewußt, daß es beinahe ironisch klang. Sie war im Grunde genommen ein unverschämtes Ding. Und eine Klette dazu. Das hatte ihr natürlich Onkel Celtillus befohlen. Er drohte ihr oft mit der Peitsche, aber ich glaube, er liebte sie mittlerweile wie seine eigene Tochter. Es gab auf jeden Fall keine Stelle an ihrem Körper, die auf Erziehung hindeutete.
»Ich möchte noch mal zum Felsen rauf.«
Wanda nickte, packte entschlossen meinen linken Arm und ging mit mir langsam den Hügel hinauf. Sie hatte sich längst an meinen langsamen Schritt gewöhnt. Sie war der Ersatz für mein linkes Bein. Obwohl sie unsere Sprache inzwischen beherrschte, suchte sie nie von sich aus das Gespräch. Immerhin hatte ich sie dazu gebracht, daß sie mit mir nur noch germanisch sprach. Ich war nämlich genauso süchtig nach neuem Wissen wie Onkel Celtillus nach unverdünntem römischem Wein. Celtillus hatte mir übrigens Latein beigebracht. Im Handumdrehen. Und Kretos, der stets von Zahnschmerzen geplagte Händler aus Massilia, hatte mir letztes Jahr bescheinigt, daß ich nun endlich die griechische Sprache in Wort und Schrift beherrschte. Diese Erfolge hatten mein Ansehen auf unserem Hof enorm gesteigert und mich angespornt, noch mehr zu lernen. Am liebsten hätte ich in Massilia eine Marmortafel anfertigen lassen, wo alles draufstand, was ich bereits wußte und beherrschte. Aber hier hätte es eh keiner lesen können …
Als wir den Felsen erreicht hatten, ließ Wanda meinen Arm los und zog sehr langsam ihre Hand zurück, so, als rechne sie jederzeit damit, daß ich das Gleichgewicht verlor und sie mich auffangen mußte. Das waren so die Augenblicke, in denen ich an das bereits erwähnte Moor dachte. Selbstverständlich würde ich nicht das Gleichgewicht verlieren! Ich stemmte mich mit beiden Händen auf die leicht erhöhte Felsplatte und zog mich hoch. Obwohl Wanda ganz genau wußte, daß ich es haßte, faßte sie sanft um meine Hüften und half nach. Ich haßte es wirklich. Mit einem kräftigen Sprung hatte auch Lucia die Felsplatte erreicht. Nun schaute sie zu Wanda hinunter und wimmerte leise. Aus unerfindlichen Gründen liebte Lucia Wanda über alles. Und da ich Lucia liebte, rief ich Wanda zu: »Komm hoch, hier scheint die Sonne.«
»Ja, Herr.« Gelenkig kletterte Wanda zu mir auf die Felsplatte. Sie hatte langes, strohblondes Haar, das sie seitlich geflochten trug. Dieser Zopf war ein Vermögen wert. Von Kretos wußte ich, daß man in Ägypten dafür viel Gold bezahlte. Angeblich ließen sich aus blondem Germanenhaar die besten Torsionstaue für Katapultmaschinen herstellen. Ich weiß nicht, ob Wandas Haar wirklich so hell war. Ich habe schon beobachtet, wie sie unten am Bach ihr Haar mit Talg und Asche einrieb. Ich lächelte sie an und glättete schelmisch meinen Schnurrbart. Sie hatte den Kopf leicht geneigt, traurig, als habe sie sich ihrem Schicksal ergeben. Und doch strahlten ihre wunderschönen Augen Würde aus. Wanda hatte ein hübsches, schmales Gesicht mit vollen Lippen, die stets nach frischem Wasser rochen. Sie trug einen ärmellosen Rock aus rotem Wollstoff, unter dem sich straffe Brüste wie zwei Halbkugeln abzeichneten. Den Stoff hatte sie so drapiert, daß er über den Schultern mit zwei Fibeln zusammengehalten werden konnte. Um die Taille war der Rock gegürtet. Seit sie den roten Wollstoff trug, sah sie wirklich nicht mehr wie eine Sklavin aus. Und wenn man einer Sklavin zwei Fibeln schenkte, konnte man sie genausogut freilassen. Aber so war nun mal Onkel Celtillus. Ich meine, das kommt davon, wenn man römischen Wein nicht verdünnt. Da feiert man das ganze Jahr die Saturnalien. Das war so ein römisches Fest, an dem die Römer ihre Sklaven wie Herren behandelten. Aber eben nur während des Festes.
Wanda schien meine Gedanken nicht zu erraten. Sie saß da und wartete geduldig. Mir fiel auf, daß sie am Handgelenk einen neuen gläsernen Armreif trug.
»Von Celtillus?« fragte ich.
Wanda nickte. In Sachen Gesprächsfreudigkeit unterbot sie wohl jeden Kelten. Auch die stummen.
»Sag mal, Wanda, angenommen, ich wäre Druide, was möchtest du von mir wissen.«
Wanda hatte die Beine übereinandergeschlagen und spielte mit dem Blatt einer Rotbuche.
»Wir Germanen brauchen keine Druiden.«
»Jaja, ich weiß, ihr habt keine Priester, das besorgen eure Stammeshäuptlinge …«, entgegnete ich unwirsch, »aber angenommen …«
»Bei uns«, unterbrach mich Wanda, »haben nur die Frauen seherische Fähigkeiten. Niemand käme auf den Gedanken, einen Mann zu befragen.« Das war Wanda!
»Also«, versuchte ich es nochmals, »angenommen, ich wäre eine Druidin, was möchtest du von mir wissen.«
»Du bist aber nicht Druidin«, sagte sie obenhin.
»Das weiß ich«, sagte ich, allmählich unwillig, »aber ich möchte wissen, was du wissen möchtest, wenn ich Druidin wäre!«
Sie hob den Kopf und schaute mir direkt in die Augen.
»Wieso kannst du nicht laufen, Herr?«
Für einen Augenblick war ich verwirrt. Das war wie ein Schluck Garum. Ich wollte eher vom rätselhaften Lauf der Gestirne oder von den sagenumwobenen Tiefen der Ozeane erzählen, und jetzt wollte sie etwas über mein linkes Bein hören. Was sollte ich dazu sagen? Ich war so geboren! Für mich war es das Selbstverständlichste auf der Welt, daß ich durch den Wald humpelte, ab und zu über eine Wurzel stolperte, der Länge nach hinfiel und bei steil abfallenden Böschungen regelmäßig das Gleichgewicht verlor und mit aufgescheuerten Knien durchs Ziel schoß. Na und? Jedem seinen persönlichen Auftritt.
»Ich möchte wissen, wieso du nicht laufen kannst«, wiederholte Wanda. Bei Epona! Wie ernst sie das sagen konnte! So sind die Germaninnen, sie grübeln und graben wie die Maulwürfe und versinken dann wie ein Stein im Moor, bis sie vor lauter Dunkelheit die Sonne nicht mehr sehen.
»Natürlich kann ich laufen! Was mach ich denn die ganze Zeit?« Ich lachte laut und fuhr dann fort, und zwar in germanischer Sprache: »Aber als ich im Leib meiner Mutter heranwuchs, verschwand plötzlich das Wasser, in dem werdende Kinder wie quirlige Fische im Flußwasser gedeihen. In diesem Wasser lernt man alle Bewegungen. Ohne Wasser konnte ich mich aber nicht mehr bewegen. Sehr, sehr lange. Deshalb konnte ich nichts lernen. Als ich endlich auf die Welt kam, war ich wie eine griechische Statue. Hübsch und gut gebaut«, ich hob dabei den Zeigefinger, »aber unbeweglich.«
Zu meiner Verblüffung hörte Wanda aufmerksam zu. Es schien sie wirklich zu interessieren. Ich wurde einfach nicht schlau aus ihr. Ich fuhr fort: »Bei euch Germanen hätte man mich ausgesetzt. Auch bei den Römern oder Griechen. Nur die Kelten und Ägypter ziehen behinderte Kinder groß. Denn sie glauben, daß in ihnen Götter wohnen.«
Ich grinste übers ganze Gesicht. Diese Deutung gefiel mir außerordentlich. Sie hätte von mir erfunden sein können.
»Warum glauben eure Priester, daß in dir die Götter wohnen, Herr?«
»Warum?« fragte ich erstaunt. »Warum wohl! Das ist doch ganz einfach: Die Götter haben dir zwei Beine gegeben, damit du sie gebrauchen kannst, damit du laufen kannst. Mit mir haben die Götter offenbar etwas anderes vor. Sie wollen nicht, daß ich für andere laufe. Verstehst du? Sie brauchen meinen Körper als Wohnung.« Ich hob den Kopf, wie es die Söhne der Adligen tun, die ich nicht ausstehen konnte. Aber so konnte mich Wanda wenigstens einmal im Profil sehen.
»Herr, du meinst, die Götter wollen, daß du Druide wirst?«
»Ich möchte soviel wissen wie ein Druide, aber nicht unbedingt Druide sein. Einem Druiden ist es ja verboten, Wein zu trinken. Wie soll er da neue Rezepturen erfinden können? Ich möchte vielmehr der bedeutendste Händler des Mittelmeers werden. Aber mit dem Wissen eines Druiden. Du siehst, für mich müßte man eine neue Druidengattung erfinden. Einen Handel treibenden Druiden.«
Wanda verbesserte meine Satzstellung, die mir immer noch Mühe bereitete, und schaute lächelnd übers Tal. Nach einer Weile sagte sie: »Wenn die Germanen dich als Sklaven nehmen, wirst du unsere Sprache vollkommen beherrschen, Herr.«
»Meinst du? – Was werden die Germanen mit mir anstellen?«
»Sie werden dich in den Salzbergwerken einsetzen. Da mußt du ohnehin auf allen vieren arbeiten. Und irgendwann werden sie dich töten«, antwortete Wanda, als sei dies die selbstverständlichste Sache der Welt.
»Bist du sicher, daß sie keine Dolmetscher brauchen? Oder Menschen, die sie zum Lachen bringen? Ich bring jeden zum Lachen.« Wanda schaute mich mit unbewegter Miene an.
»Fast jeden«, fügte ich hinzu. Plötzlich wurde ich etwas unruhig. Angestrengt starrte ich in die Ferne und sah, wie die Rauchwolke, die drüben am Knie des Rhenus emporstieg, immer schwärzer und größer wurde. Mir schien auch, ich hätte irgend etwas erkannt, das sich auf uns zubewegte. Aber es war noch sehr weit entfernt, und ich konnte nichts Genaueres erkennen. Obwohl meine Augen vorzüglich waren. Nicht jeder hatte dieses Glück. Es gab in Massilia wohl mehr Augenärzte als Hebammen.
»Wanda, sind das Reiter?« fragte ich auf keltisch. Ich hatte diese germanischen Sprachübungen satt.
»Nein, Herr. Aber du hast gesagt, du seist bei deiner Geburt aus Stein gewesen. Erzähl mir, wieso du nicht mehr aus Stein bist.«
Ich musterte Wanda mißtrauisch. Ich war sicher, daß sie Reiter gesehen hatte und mich jetzt ablenken wollte. Als hätte sie meine Gedanken geahnt, sagte sie: »Ich habe keine Reiter gesehen, Herr. Erzähl weiter.«
»Da ich es sehr eilig hatte, in Massilia mein Handelshaus zu eröffnen, kam ich zwei Monate zu früh auf die Welt. Meine Mutter starb bei der Geburt, mein Vater, der Schmied Korisios, wollte mit Onkel Celtillus als Söldner in die Armee Roms eintreten und starb schon auf der Hinreise an einem eitrigen Zahn. Ich war alleine mit all meinen Verwandten und verbrachte meine Tage auf einem Stück Fell. Ich konnte mich kaum bewegen. Wenn die Sonne schien, trug man mich hinaus an die Sonne, und wenn es regnete, trug man mich wieder hinein. Später, als ich zur Überraschung aller zu sprechen begann, wurde mein Leben etwas abwechslungsreicher. Ich hatte Leute, mit denen ich mich unterhalten konnte. Und aus purer Langeweile begann ich zu lernen. Während die andern Jungen in meinem Alter auf Bäume kletterten oder um die Wette liefen, ließ ich mir erklären, wie man Erz oder Salz gewinnt, wie man Schwerter schmiedet und wo die Säulen des Herakles stehen. Lernen wurde zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Später, als meine Freunde das Jagd- und Kriegshandwerk erlernten, äußerte ich den Wunsch, Druide zu werden. Doch der damalige Druide Fumix redete mir ein, ich sei krank. Die ganze Zeit versuchte er mich krank zu reden. Dabei fühlte ich mich kerngesund. Aber der Kerl wurde nicht müde, mir zu versichern, ich sei sogar ernsthaft krank und würde für ein schlimmes Unrecht büßen, das ich in einem früheren Leben begangen hatte. Obwohl ich nicht Druide bin, bin ich fast sicher, daß Fumix schon damals an einer Mistelvergiftung litt. Ich flehte also zu unserer Göttin Ellen, die für Krankheiten zuständig ist – nicht, daß ich gesund würde, das war ich ja, sondern daß dieser Fumix verenden solle, wie Makrelen an der Sonne. Zu meiner Überraschung starb er wenige Tage darauf, und ich trank zum ersten Mal römischen Wein. Und gleich Falerner. Allerdings vornehm römisch, das heißt mit Wasser verdünnt. Verstehst du, wieso ich immer behaupte, die Götter hätten sich zu meinen Gunsten miteinander verbündet?«
Wanda schaute mich skeptisch an. »Du warst doch bei deiner Geburt aus Stein. Haben deine Götter dir geholfen?«
Wandas Hartnäckigkeit erstaunte mich. Das hätte ich nie von ihr erwartet. Mir schien sie immer so teilnahmslos, ohne Neugier, willig in ihr Schicksal ergeben. Ich lächelte sie an, aber ich glaube, sie bemerkte es gar nicht. So erzählte ich weiter: »Onkel Celtillus hat mir geholfen. Er kam aus der Legion zurück und stellte mich auf die Beine. Der arme Kerl stellte sich tatsächlich vor, daß ich sieben Jahre auf dem Boden verbracht hatte, obwohl ich im Grunde genommen laufen konnte. Das war einfach so eine fixe Idee, wie man sie nur mit unverdünntem römischem Wein herbeisaufen kann. Onkel Celtillus hatte die Idee in Alexandria aufgeschnappt. Er hatte seinen Sold erhalten und die ganze Nacht durchgezecht. Dabei hatte ein Legionsarzt ägyptischer Abstammung erzählt, welche verheerenden Auswirkungen Kopfverletzungen auf die Bewegung von Armen und Beinen haben konnten. Er hatte erklärt, daß das Gehirn aus Millionen von Hieroglyphentafeln bestünde. Und wenn eine dieser Schrifttafeln zerbrach, müßte man das verlorene Wissen wieder von Grund auf neu erlernen. Er habe dabei auch von Kindern gesprochen, denen von Geburt an einzelne Schrifttafeln fehlten. Zum Beispiel die, die dem Kopf erklären, wie man die Beine in Bewegung setzt. Diese Kinder seien auch in Ägypten das Zuhause der Götter. Das könne man nicht ändern. Das sei auch gut so. Doch man könne nachträglich all jene Hieroglyphen einmeißeln, die bei der Geburt noch nicht vorhanden gewesen seien. Zum Beispiel das Geheimnis des Laufens. Das Gehirn könne das nachträglich lernen. Genauso wie der Mensch eine Sprache lerne, könne das Gehirn neue Fähigkeiten erlernen. Es käme ausschließlich auf die Dauer, Intensität und Häufigkeit der Bewegungen an. Wenn man jeden Tag stundenlang laufe, würde die Bewegung mit der Zeit gespeichert, in Stein gemeißelt und von da an richtig wiedergegeben. Wanda! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was Onkel Celtillus bei seiner Rückkehr mit mir anstellte. Es war grauenhaft! Ich lag friedlich unter meiner Eiche und aß die Beeren, die mir meine zahlreichen Freunde und Freundinnen aus dem Wald mit nach Hause brachten. Und da kam dieser Celtillus, den ich gar nicht kannte, behauptete, mein Onkel zu sein, kniete vor mir nieder, spreizte meine Beine und begann wie ein wild gewordener Galeerensträfling, meine Beine im Takt zu bewegen. Das löste auf unserem Hof große Heiterkeit aus, denn wozu sollte das gut sein, wenn ich mein linkes Bein nicht selber bewegen konnte? Wollte Celtillus mir in Zukunft auf allen vieren folgen und mein linkes Bein bewegen. Oder wollte er mir unter der linken Hüfte ein Holzrad einbauen? Doch zur allgemeinen Verblüffung schaffte ich es nach einem Jahr, das linke Bein ohne fremde Hilfe anzuziehen. Großartig, nicht? Aber Celtillus war damit nicht zufrieden. Stell dir das mal vor! Ich konnte selbständig mein linkes Bein anziehen, was meinen Alltag unheimlich abwechslungsreich machte, und dieser verhinderte Centurio und Menschenschinder war damit nicht zufrieden! Er stellte mich also auf die Beine und ließ mich los. Ich fiel wie ein steinerner Apfel vom Baum. Während andere Leute weich ineinander fallen und der Kopf aus geringer Höhe aufschlägt, stürzte ich steif wie eine Marmorsäule. Ich nahm das blutverschmierte Gesicht in Kauf, denn ich war überzeugt, daß Onkel Celtillus jetzt aufhören würde. Aber nein, statt dessen brachte er mir bei, wie man richtig fällt … Und dann ging es weiter, wie in einer Gladiatorenschule in Capua. Ich wünschte mir sehnlichst, die Mixtur zu kennen, die unseren toten Druiden Fumix zum Fährmann geschickt hatte, damit ich sie Celtillus in den Wein schütten konnte. Ich haßte Celtillus und wünschte ihm den sofortigen Tod. Wo war da die Gerechtigkeit? Wieso haben wir so viele Götter, wenn sich kein einziger meiner erbarmen konnte? Wieso mußten mein Vater und meine Mutter sterben, und dieser verfluchte Schinder war am Leben? Es war eine ziemlich schlimme Zeit, und ich spielte ernsthaft mit dem Gedanken, meine Götter gegen andere auszutauschen. Celtillus band mir Fellstreifen um die Knie, setzte mir einen ledernen Helm auf und stellte mich wieder auf die Beine. Ich torkelte, als hätte ich einen Bronzekessel unverdünnten Weins mit Cervisia vermischt und in einem Zug ausgetrunken. Kam ich an einer Feuerstelle vorbei, brachten die Leute ihre Tongefäße in Sicherheit. Man hätte meinen können, die Tonbrennerei südlich vom Rhenusknie bezahle mich für meine Rundgänge. Wo ich auftauchte, gab es Scherben. Und jedes Mal, wenn ich hinfiel, sagte dieser verhinderte Sklaventreiber: Korisios, man darf hinfallen, aber man darf nicht liegenbleiben. Und so stand ich wieder auf und wurde allmählich zum Schrecken des Hofes. Ich kam mir vor wie ein Seeungeheuer aus dem sagenumwobenen Nordmeer. Ziemlich peinlich war die Begegnung mit den Mädchen in unserer Gemeinschaft. Denn wenn ich hinfiel, versuchte ich mich stets irgendwo festzuhalten. Instinktiv. Und so war es nicht selten, daß ich mich an einem Leinenstoff festhielt und ihn mit zu Boden riß. Darum beneideten mich die anderen Jungen. Denn keiner war so oft von hübschen, nackten Mädchen umgeben wie ich.«
Wanda lachte leise.
»Siehst du, Wanda, ich bringe jeden zum Lachen!« triumphierte ich. Ich hatte sie noch nie lachen sehen. Sie hatte ein frisches Lachen und ein schönes Gebiß mit kräftigen und regelmäßigen weißen Zähnen; während sie den Kopf lachend zurückwarf, öffnete sich ihr Mund wie eine Knospe, als erwarte sie einen leidenschaftlichen Kuß. Aber ich beherrschte mich. Schließlich war sie eine Sklavin. Trotz ihrer beiden Fibeln.
»Den Rest der Geschichte kennst du. Dann kamst du, und dann Lucia.«
Lucia schnurrte fast wie eine Katze. Ich bin sicher, daß sie wußte, wenn wir von ihr sprachen. Hunde werden einfach unterschätzt. Wanda fuhr ihr zärtlich über den Kopf und befühlte ihre weichen, langen, schwarzen Ohren.
»Weißt du, Wanda, das mit Lucia, das hat vermutlich auch mein Onkel Celtillus eingefädelt. Er versucht mein Leben wie einen Feldzug zu planen. Deshalb macht er sich jetzt auch solche Sorgen, weil er spürt, daß er als Feldherr aus meinem Leben scheiden muß. Aber in seinem nächsten Leben wird er bestimmt zu meinen Kunden gehören.«
Doch Wanda überhörte meine letzten Worte, setzte wieder die Miene der still erduldenden Sklavin auf und bohrte weiter: »Was meinst du, Herr, wer hat dir geholfen, Celtillus oder deine Götter? Oder haben deine Götter Celtillus dazu gebracht, dir zu helfen?«
»Wanda, wieso interessierst du dich so für unsere Götter? Bist du mit deinen nicht mehr zufrieden?«
Natürlich konnte eine germanische Sklavin mit ihren Schutzgöttern nicht zufrieden sein. Wanda wandte sich ab und schaute in die Ferne. Sie hatte irgend etwas gesehen. Aufmerksam suchte ich mit den Augen das Tal und die umliegenden Hügel ab. Nichts rührte sich. Und doch war ich sicher, daß da drüben irgend etwas war. Ich spürte wieder dieses seltsame Knistern in der Luft. Ich war ganz sicher, daß irgend etwas geschehen würde. Ich war so sicher wie damals, als ich Fumix den Tod wünschte und genau wußte, daß er sterben würde. Ich hatte so was wie Vorahnungen. Manchmal geschah etwas, irgend etwas Belangloses, und ich wußte, daß es später einmal von sehr großer Bedeutung sein würde.
»Laß uns zurückgehen«, sagte ich plötzlich.
Wanda nickte. Sie nickte so, als wolle sie sagen: »Ja, ich habe es auch gesehen.« Aber ich hatte leider gar nichts gesehen. Sie spürte, daß ich unruhig geworden war, ließ sich aber nichts anmerken. Sie glitt vom Felsen und zog mich dann an einem Bein zu sich hinunter. Ich mochte das überhaupt nicht, wenn man mich wie einen Ast hinunterzog, aber wie sollte ich ihr das wieder abgewöhnen? Vorsichtig ließ ich mich hinuntergleiten. Sie streckte ihre Arme in die Höhe und umfaßte meine Hüften. Als ich den Boden unter meinen Füßen spürte, drehte ich mich um. Ihr Gesicht war so nah, daß ich ihren Atem spürte.
»Du brauchst mich nicht immer festzuhalten«, sagte ich vorwurfsvoll. Ich meinte es nicht so, aber irgendwie muß man einer Sklavin immer wieder zu verstehen geben, daß sie die Sklavin ist. Sonst wächst sie einem über den Kopf. Ich kannte nämlich Geschichten von germanischen Sklavinnen, die ihrem Herrn vorschrieben, was er ihnen zu befehlen hatte. Ja, wirklich! Und es gibt auch germanische Sklavinnen, die tagelang mürrisch sind, bis ihr Herr dies oder jenes tun. Deshalb war ich manchmal etwas streng zu Wanda.
Wanda nahm meinen Arm und sagte: »Celtillus will es so, Herr.« Eigentlich hätte ich jetzt noch mal eins draufsetzen sollen. Denn schließlich hatte ich sie soeben getadelt. Und jetzt tat sie gerade das, was ich eigentlich nicht wollte. Aber ein richtiger Herr muß manchmal auch Güte walten lassen. Aber nicht zu oft.
Gemeinsam gingen wir den Weg zum Ufer hinunter.
Wir schwiegen beide. Die Geschichte, die ich Wanda erzählt hatte, hatte mich aufgewühlt. Nach einer Weile war ich jedoch froh, sie erzählt zu haben. Genauer gesagt: daß ich sie Wanda erzählt und sie zum Lachen gebracht hatte. Einmal mehr war mir bewußt geworden, wie weit und beschwerlich der Weg gewesen war, den ich bereits zurückgelegt hatte. Ich konnte zwar nach wie vor nicht auf einen Baum klettern, ein Schwert schmieden oder eine Lanze ins Ziel bringen, doch ich kannte jeden Baum, kannte die Wirkung der Kräuter, wußte, wie man Waffen, Schmuck und Tongefäße herstellt, wie man Metalle findet, gewinnt und verarbeitet, ich beherrschte die lateinische Sprache und die griechische Handelsschrift, ich kannte die Mythen, Götter und Sagen der verschiedenen Völker und den Lauf der Gestirne. Und wenn kein Druide im Dorf war, war ich bereits einer der wichtigsten Männer unserer Gemeinschaft. Wenn fremde Händler vorbeizogen, wurde ich stets gerufen. Seit kurzem – und darauf war ich besonders stolz – konnte ich sogar mit Pfeil und Bogen umgehen. Das Reiten hatte mir nie Probleme bereitet. Denn beim Reiten hatte ich einen Sattel mit vier Höckern, an denen man vorzüglichen Halt fand, und als Reiter hatte ich nicht ein steifes linkes Bein, sondern vier schnelle Hufe. Im Wasser bewegte ich mich wie ein Fisch. Ich liebte das Wasser. Am liebsten hätte ich jedoch Wanda geküßt. Ich weiß nicht, wieso. Aber die Art und Weise, wie sie mich an den Hüften von der Felsplatte heruntergezogen hatte, hatte mich seltsam berührt. Oder gar erregt. Ich mußte sie immer wieder von der Seite anschauen und konnte mich an ihrem Mund nicht satt sehen. Ich wollte sie nochmals lachen sehen. Sie war zwar meistens still und ruhig, aber in ihren Augen brannte ein Feuer, und man konnte nur ahnen, was passieren würde, wenn sie eines Tages ihre Ketten sprengen würde. Wie auch immer, ich war natürlich auch alt genug, um zu wissen, daß solche widersprüchlichen Gefühlsregungen für mein Alter nicht ungewöhnlich waren. Santonix hatte es mir erzählt. Plötzlich konnte man Bäume ausreißen, gleich darauf in Tränen ausbrechen und vor Selbstmitleid sterben, um wenig später einer germanischen Sklavin wie ein junges Fohlen hinterherzulaufen. Wissen konnte somit auch beruhigen. Und es gab auch keinen Grund, sich wegen zweier Fibeln verrückt zu machen. Wanda war und blieb eine germanische Sklavin. Ich beherrschte mich und stellte trocken fest:
»Das Leben ist großartig.«
Wanda schaute mich an, so wie man einen Wahnsinnigen anschaut, der die Rinde einer Rotbuche anknabbert. Wanda schmunzelte, ohne ihre Zähne zu zeigen. Dabei wartete ich die ganze Zeit auf ihr erotisches Lachen. Ich war süchtig danach. Ich versuchte es nochmals auf germanisch: »Sag mal, Wanda, ist es wahr, daß bei den Germanen die Jungen und Mädchen zwar zusammen baden, sie aber vor dem zwanzigsten Lebensjahr keinen Spaß haben dürfen?«
Wanda warf mir einen kurzen Blick zu, aus dem ich wie immer überhaupt nicht schlau wurde.
»Wieso fragst du, wenn du es weißt?«
»Wieso nicht?« antwortete ich aufbrausend. »Wenn ich Germanisch lernen will, muß ich ja über irgend etwas reden. Von mir aus kannst du es als Unterricht auffassen.«
»Dann setz den Unterricht fort, Herr.«
Bei dieser Antwort erübrigt sich wohl jede Bemerkung.
»Möchtest du frei sein, Wanda?«
»Ich bin die Sklavin deines Onkels, Herr.«
»Bei Epona! Was macht das Klima bloß aus euch Germanen. Fließt denn Eiswasser in euren Adern? Kannst du nicht mal einen Augenblick lang träumen?«
Wanda blieb stehen und schaute mir direkt in die Augen. So furchtlos und unverschämt, daß Onkel Celtillus ihr bestimmt die Peitsche gegeben hätte. Und zwar die mit den Eisennieten: »Du hast dich nicht geirrt, Herr. Es waren germanische Reiter. Späher.«
Jetzt hatte sie es doch noch geschafft. Ich spürte, wie sich meine Muskeln und Sehnen strafften. Es war, als ob jemand eiserne Schildbuckel über meine Gelenke preßte. Mein linker Fuß krümmte sich noch mehr einwärts und legte sich beim Aufsetzen quer vor den anderen Fuß. Ich stockte, strauchelte. Wanda packte meinen Arm, fing mich auf. Ich versuchte weiterzugehen. Der Rücken schmerzte, als hätte ich einen Speer verschluckt. Jetzt hatte ich Angst, richtig Angst. Es war mir nicht mehr zum Spaßen zumute. Wenn jetzt Ariovist mit seinen Reitern erschien, ich würde ihn bestimmt nicht zum Lachen bringen.
Auf unserem Hof standen bereits die Ochsenkarren in einer langen Kolonne zur Abreise bereit. Die Frauen trieben Pferde, Ochsen, Schweine, Rinder, Schafe, Hühner, Gänse und Hunde zusammen. Das Kleinvieh würde man auf die Karren hieven, zusammen mit prallgefüllten Weidenkörben, dem Saatgut und den Fässern, dem ganzen Hausrat. Doch es gab weder Aufruhr noch Gerede. Große Worte waren wie gesagt nicht Sache der Kelten. Ich war eine Ausnahme. Ich könnte pausenlos reden und soviel schreiben, daß im ganzen Mittelmeerraum Wachstafeln, Papyrus und Pergament knapp würden.
Onkel Celtillus kam auf mich zu und zeigte mir den Karren, auf dem ich die Fahrt nach Genava verbringen würde. Ich würde inmitten von gepökeltem Schweinefleisch und halbzylindrischen Bleibarren meinen Platz finden. Er hatte mir sogar ein paar Gabeln Stroh reingepreßt, damit ich auf der Reise nicht allzusehr durchgeschüttelt würde. Er wußte, daß Erschütterungen meine Muskeln verhärteten. Wir spazierten schweigend bis hinter das letzte Langhaus. Von hier aus hätte man nahende Reiter am schnellsten erkennen können. Doch es kamen keine Reiter. Der Wind hatte sich gedreht. Jetzt lag der Geruch von Verbranntem in der Luft, der Geruch des Todes. Arialbinnum brannte immer noch. Wir wußten beide, daß wir zum letzten Mal hier standen und daß morgen, in den frühen Morgenstunden, auch unser Hof in Flammen aufgehen würde. Aber durch unsere eigene Hand.
Wir setzten uns ins Gras. Lucia spielte mit dem Riemen meiner Lederschuhe. Ich wollte Celtillus sagen, daß Wanda immer frecher wurde und er ihr die beiden Fibeln wieder wegnehmen sollte. Doch ich schwieg. Onkel Celtillus drückte mir einen Lederbeutel in die Hand.
»Korisios«, begann Onkel Celtillus zögernd, »wenn ihr germanische Späher gesehen habt …« Celtillus stockte. Ich weiß nicht, was ihm mehr zu schaffen machte, die Zukunft oder der Wein, dem er offenbar in der Zwischenzeit wieder reichlich zugesprochen hatte. Er stank nach altem, klebrigem Weinsatz und mit Zwiebeln und Knoblauch gespicktem Fladenbrot.
»Ja«, sagte ich verärgert, »wir haben germanische Späher gesehen.«
»Wenn die Späher hier sind, sind die Reiter nicht mehr weit.« Onkel Celtillus stockte. Ich drehte den Lederbeutel in meinen Fingern und spürte, daß er eine Menge Keltengold enthielt. Der Beutel war schwer.
Celtillus starrte in die Ferne. »Sobald die Götter im heiligen Moor gesprochen haben, können wir aufbrechen. Noch vor Sonnenaufgang. In diesem Lederbeutel sind Keltengold und römische Silberdenare. Es ist nicht viel. Aber damit könntest du dich in Massilia niederlassen. Ich habe letztes Jahr mit Kretos darüber gesprochen. Er würde dich aufnehmen und ausbilden. Er hat es mir versprochen. Erinnere ihn daran!«
»Und der Atlanticus? Glaubst du nicht mehr daran, daß wir jemals den Ozean erreichen werden?«
»Ich hatte einen Traum, Korisios, ich sah dich in den Fluten schwimmen …«
»Dann werde ich den Atlanticus erreichen, Onkel!«
»Nein«, flüsterte Celtillus, »es war Blut, nichts als Blut. Ich verstand nicht, woher all dieses Blut kam, es mußte das Blut von Hunderttausenden von Menschen sein …«
»Aber ich habe überlebt …«, fragte ich zögernd.
Onkel Celtillus nickte.
»Und? Bin ich Druide geworden?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Celtillus.
»Glaubst du denn nicht, daß ich eines Tages Druide werde?« fragte ich erstaunt.
»Dafür liebst du den Wein zu sehr«, Celtillus grinste. Er reichte mir dabei ein goldenes Amulett, das ein Rad darstellte. Das Rad ist das Symbol des keltischen Sonnengottes Taranis.
»Taranis hat mich als Söldner immer beschützt. Er soll jetzt dich beschützen. Wer weiß, vielleicht lebst du eines Tages unter Römern.«
Es war nicht nötig, zu fragen, was diese Bemerkung zu bedeuten hatte.
»Eines Tages werden wir uns wiedersehen, Korisios. Wenn auch nicht in diesem Leben.«
Ich sah, daß dicke Tränen über seine ausgehöhlten Wangen liefen. Fast beschämt schaute ich auf Lucia hinunter, die nun meine Hand leckte. Ich dachte an all das, was Onkel Celtillus für mich getan hatte. Und als Celtillus mich plötzlich an sich drückte und fest umarmte, ließ auch ich meinen Tränen freien Lauf. Er war der beste Mensch, den mir die Götter jemals geschickt hatten.
Ich ging zum Bach und setzte mich rittlings auf einen ausgetrockneten Baumstamm, der vor vielen Jahren während eines Sturms entwurzelt worden war. Ich versuchte den Stimmen der Wassergötter zu lauschen, doch ich hörte nur das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Blätter im Wind. Ich war allein.
»Korisios?«
Ich hatte Basilus nicht nahen hören. Er setzte sich ebenfalls rittlings auf den Baumstamm, so, wie wir es seit unserer Kindheit immer getan hatten. Er war damals siebzehn, wie ich, aber etwas größer. Er galt als geschickter Jäger und furchtloser Krieger. Auf der Jagd war er einmal keltischen Sequanern in die Quere gekommen. Als er auf den Hof zurückkam, baumelten zwei Köpfe an seinem Zaumzeug. Aus unerfindlichen Gründen hatte er von klein auf meine Nähe gesucht. Wir waren Freunde auf Leben und Tod.
»Ich weiß nicht, Korisios, ob es wirklich eine gute Idee ist, ins Land der Santonen zu ziehen. Wir wollen doch nicht Bauern und Viehzüchter werden!«
»Die Götter werden schon wissen, was sie mit dir anstellen«, scherzte ich.
»Die Götter … Korisios, ich weiß nicht, womit sie im Augenblick beschäftigt sind, mit irgend etwas, aber nicht mit mir. Falls du den einen oder anderen sprechen solltest, sag ihm, daß dein Freund Basilus entweder mit dir zusammen nach Massilia ziehen oder als Söldner in die römische Armee eintreten will.«
»Wenn das die Alternativen sind, gehen wir am besten zusammen nach Massilia. Aber wenn du römischer Söldner wirst, werde ich Druide. So kommen wir uns nie in die Quere«, lachte ich.
»Ich werde nie verstehen, was du gegen die Römer hast, Korisios! Selbst ein freigelassener Sklave kann in Rom reich werden. Dein Vater konnte als Söldner Ruhm und Ehre ernten. Und heute kannst du dich sogar als Auxiliarreiter bewerben! Dann erhältst du nach Beendigung deiner regulären Dienstzeit das römische Bürgerrecht! Korisios, stell dir mal vor, meine Kinder kämen als römische Bürger auf die Welt und könnten römische Centurionen werden! Und du könntest in Roms Bibliotheken richtige Bücher lesen. Kein Druide könnte dich daran hindern!«
Ich winkte müde ab. Ich kannte seine Träumereien.
»Korisios! Ich bin Krieger! Mir ist es völlig egal, ob ich gegen Helvetier, Römer oder Griechen kämpfe. Du und meine Sippe, ihr seid die einzigen, gegen die ich nie das Schwert erheben würde. Aber ich bin ein Krieger, Korisios, und ich habe nicht vor, ein Leben lang Schweine zu füttern.«
Basilus strotzte vor Energie und Unternehmungsgeist. Sein großes Vorbild war der Kelte Brennus, der vor einigen hundert Jahren in Rom eingefallen war. Ruhm und Ehre bedeuteten Basilus alles. Dafür hätte er sein Leben gegeben. Er reichte mir die Hand und half mir, vom Baumstamm runterzusteigen. Es war Zeit. Ich glaube, Basilus war neben Onkel Celtillus der zweite Mensch, den mir die Götter geschickt hatten. Da aber bei uns Kelten erst die Zahl 3 eine besondere Bedeutung hat, mußte es noch einen weiteren Menschen geben. Wanda? Nein, dann schon eher Lucia.
Der geweihte Ort unserer Hofes lag nur einen kurzen Ritt vom Dorf entfernt, in einem schier undurchdringlichen Wald, der sich über zwei Hügelketten erstreckte. Es war bereits Nacht, als wir alle zusammen den Druiden zum schwarzen Wasser folgten. Stumm schlugen wir uns durch Birkengestrüpp und stachelige Büsche, überquerten moorigen Boden, der mit dunkelgrünem Moos durchsetzt war, und drangen immer tiefer ins Zentrum unseres Heiligtums ein, mit wachen Sinnen den vorangehenden Druiden folgend. Während andere Völker ihren Göttern riesige Pyramiden oder Tempel bauen, wohnen unsere Götter in der Natur: in Bäumen, Gewässern und Steinen. Deshalb belustigte es uns auch immer wieder zu hören, daß andere Völker ihre Götter in Form von Statuen abbildeten. Ich glaube deshalb, daß für einen Kelten ein Spaziergang über das Forum Romanum in Rom lebensgefährlich gewesen wäre. Er wäre vermutlich beim Anblick all dieser Götterstatuen vor Lachen gestorben. Auch wir haben natürlich Statuen. Aber sie stellen nicht Götter dar, sondern Verstorbene, die wir verehren.
Plötzlich blieben die anderen vor mir stehen und bildeten einen Kreis. In der Mitte einer Lichtung ruhte eine Felsplatte auf zwei runden Steinen. Dahinter lagen zwei vermooste und wild überwucherte Menhire. Der eine war umgestürzt, der andere steckte noch aufrecht im Waldboden. In der Dunkelheit wirkten sie wie stumme Silhouetten von übermächtigen Göttern. Es waren nicht unsere Menhire. Lange vor unserer Zeit hatte ein fremdes Volk sie hier aufgerichtet. Es war ein heiliger Ort. Santonix bestieg die Steinplatte und schaute in den sternenlosen Nachthimmel hinauf. Obwohl es am Boden keinerlei Zeichen gab, die den Beginn des heiligen Kreises markierten, wußten wir alle, daß wir keinen Schritt weitergehen durften. Es war ein heiliger Ort, der eine magische Kraft ausübte. Und es war so dunkel, daß man nicht mal das verkrustete Blut an der vermoosten Rinde der Esche sehen konnte.
Der Druide Santonix wandte sich gegen Osten und hob seine goldene Sichel in die schwarze Nacht. Dann wandte er sich gegen Westen und blieb unter der großen Esche stehen, unter der die Steinplatte aufgestellt worden war. Die Esche ist uns Kelten heilig. Genauso wie die Mistel. Sie lebt auf dem Baum wie der Geist im Körper. Sie ist wichtiger als ein Menschenleben.
Die Druiden erhoben erneut ihre Arme in die Nacht und begannen die Verse zu summen, die bereits unsere Vorfahren gesummt haben. Es war das Summen der Gestirne, als die Götter die Erde schufen. Die Druiden sangen nun die heiligen Verse unseres Volkes, erzählten die Geschichten unserer Vorfahren. Ich zweifelte schon damals an der Richtigkeit jener in Versform gesungenen Lobhudeleien, die ich als Druidenlehrling längst auswendig konnte. Ein Volk, das seine Geschichte nicht schriftlich festhält, hat keine Geschichte, sondern Mythen und Legenden.
Dennoch summte ich leise die Verse mit, denn ich hatte sie vor Jahren auswendig gelernt und habe bis heute kein einziges Wort vergessen. Als die Druiden zum ersten Mal den Namen Orgetorix erwähnten, war ein leises Raunen vernehmbar. Eigentlich hätte uns Orgetorix, einer der vermögendsten Helvetier, an den Atlanticus führen sollen. Aber als wir vor drei Jahren mit den Vorbereitungen anfingen, sickerte plötzlich durch, daß er König der Helvetier werden wollte. Heimlich hatte er je einen Fürsten der keltischen Sequaner und Häduer dazu überredet, ebenfalls die Königskrone an sich zu reißen. Zu dritt hatten sie Gallien beherrschen wollen. Allerdings haben keltische Geheimbünde einen Nachteil. Sie sind ungefähr so geheim wie die Erntezeit in Gallien. Orgetorix bestieg deshalb nicht den Thron, sondern die Fähre in die Anderswelt. Der greise Divico wurde zum neuen Führer gewählt. Vor rund fünfzig Jahren hatte er sich dem Zug der germanischen Kimbern angeschlossen, die damals von Norden her wie eine Lawine gen Süden rollten. An der Garumna hatte der junge Divico den römischen Konsul L. Cassius Longinus vernichtend geschlagen und seine Soldaten wie Vieh unter das Joch geschickt. Wie üblich hatten wir diesen Sieg nicht zu nutzen gewußt. Sklaven sammeln war für uns eher eine Freizeitbeschäftigung, und dieser Ausflug in den Süden war eine nette Art gewesen, den Sommer zu verbringen. Aus dieser Zeit stammen die freundlichen Beziehungen zu den Santonen am Atlanticus. Und die weniger freundlichen Beziehungen zu den Römern. Divico mußte mittlerweile über achtzig Jahre alt sein. Viele dachten, die Götter hätten Divico so alt werden lassen, damit er die Helvetier und die anderen Stämme an die atlantische Küste führe.
Der Druide Santonix hob beschwörend seine Stimme und ermahnte uns, Divicos Befehlen zu gehorchen. Ein kalter Schauer ließ mich erzittern. Zwölf keltische Oppida, vierhundert Dörfer und zahllose Einzelhöfe (wie der unsrige) sollten in wenigen Tagen in Flammen aufgehen. Einige brannten bereits. Mit heiserer Stimme drängte Santonix, bereits in der Nacht loszuziehen. Ich bin zwar kein gefühlsduseliger Mensch oder möchte vielmehr keiner sein, aber es machte mir schon ziemlich viel aus, hier zu stehen und zu wissen, daß wir diese Menhire und die in der Dunkelheit verborgenen Holzstatuen zum letzten Mal sahen. Und die Vorstellung, daß Ariovists Leute sie einfach anpinkeln würden, ärgerte mich maßlos. Ich wurde zunehmend ungeduldiger. Ich holte tief Luft und betete inbrünstig zur Wassergöttin Conventina, sie möge den Regen zurückhalten, damit unsere Wege trocken und für die schwerbeladenen Ochsenkarren passierbar blieben. Ich flehte unsere Pferdegöttin Epona an, sie möge meinen Ritt beschützen, denn ich hielt es für unwahrscheinlich, den ganzen Weg über wie gepökeltes Schweinefleisch in einem Ochsenkarren zu sitzen. Ich flehte Sucellus, den Todesgott mit dem Holzhammer, an, er möge es beim Nächsten versuchen, und auch die Hilfe von Cernunnos, Rudiannus und Segomo erflehte ich inbrünstig. Ich war glücklich, daß wir so viele Götter hatten, denn einer würde bestimmt Zeit finden für mein Anliegen, und wenn ich einen in der Vergangenheit verärgert haben sollte, dann gab es noch genug andere, die mich mochten.
Und sie waren da in jener Nacht, mitten unter uns. Plötzlich, als hätte einer der angeflehten Götter meine Bitte erhört, spürte ich eine wohlige Wärme in mir. Ich spürte Kraft und Zuversicht. Ich sehnte mich nach Licht und warmen Sonnenstrahlen, nach Wasser und römischem Wein. Ich dachte wieder an die germanischen Reiter, die Wanda und ich gesehen hatten. Aber jetzt hatte ich keine Angst mehr. Ich überlegte ernsthaft, ob ich nicht doch Druide werden sollte, anstatt mit Basilus nach Massilia zu gehen? Massilia!
»Korisios!« Erst jetzt bemerkte ich, daß mich Celtillus streng musterte. Er schien meine Gedanken zu erraten, was nicht sonderlich schwierig war, da ich gerade in meinem imaginären Handelshaus in Massilia hofhielt.
Ich rempelte Basilus kurz an und flüsterte ihm »Massilia« zu. »Schweig«, zischte Celtillus.
Meine Überlegungen und die Klarheit meiner Gedanken überraschten mich. Das mußte eine Eingebung der Götter sein. Ich wollte in Massilia ein großer Händler werden und nicht in irgendeinem heiligen Wald Moos ansetzen. Ich würde mich zwar weiterhin von ihnen unterrichten lassen. Aber langfristig würde mir das Schreiben von Rechnungen wohl mehr Spaß machen als das Schneiden der Mistel. Aber wozu sich Gedanken über Dinge machen, die die Götter längst beschlossen haben?
Es ist schon seltsam, aber in jener Nacht war ich vermutlich einer der wenigen in unserer Gemeinschaft, die sich keine Sorgen machten. Und dies, obwohl meine Chancen, die nächsten Tage zu überleben, relativ schlecht waren. Ich war zwar im Laufe des Tages für kurze Zeit bekümmert gewesen, ich hatte sogar geweint, hatte mich, als ich mit Wanda ins Dorf zurückgekehrt war, hilflos und wie versteinert gefühlt, aber jetzt spürte ich eine unheimliche Kraft in mir. Mit Teutates' Hilfe hatte ich mich an meinem Gedanken regelrecht berauscht. Ich wußte, daß ich die nächsten Tage überleben würde. Die Götter waren in mir und mit mir. Die Römer nennen das den ›Genius‹, den leitenden und behütenden Geist einer Person. Ich mußte ein ganzes Rudel davon haben. Und ich spürte, daß Epona, die Pferdegöttin, die treibende Kraft war. Und Taranis, der Vater des Dis, mußte auch mein Vater sein.
Die beiden Druiden, die Santonix begleiteten, führten nun zwei Ochsen auf die Lichtung. Man spürte förmlich, wie angespannt alle waren, der ganze Wald schien zu knistern. Jedes Mal, wenn ein Windstoß durch die Blätter fuhr, muß es den andern kalt über den Rücken gelaufen sein. Bei meinen Fettreserven war die Kälte allerdings kein Problem. Ich fühlte mich plötzlich ausgelassen und heiter, als hätte ich gegorene Beeren gegessen.
Celtillus starrte ängstlich auf den einen Ochsen; ich weiß nicht, wovor er Angst hatte: daß der Ochse dem Druiden auf die ledernen Schnabelschuhe kotete oder infolge geistiger Umnachtung den anderen Ochsen bestieg. Aber Celtillus machte sich Sorgen und litt. Es schmerzte mich, daß dieser Mensch, dem ich soviel Achtung entgegenbrachte, gebückt neben mir stand und schlotterte wie ein abgenagtes Skelett, das im Wipfel einer heiligen Eiche hing. Das mußte der römische Wein sein. Jetzt löste er die bronzeverzierte Fibel von seinem braunrot karierten Wollumhang, zog den Stoff fester über die Schulter und befestigte erneut die Fibel. Ja, seine Hände zitterten.
Aber Celtillus war auch alt. Alte Menschen zittern manchmal wie Ochsenkarren, die langsam auseinanderfallen. Und alte Menschen weinen auch öfter. Denn sie haben mehr gesehen und mehr gelitten und zeigen deshalb mehr Anteilnahme am Leid der anderen. Besonders wenn sie getrunken haben. Celtillus' einst so stolzer Schnurrbart war weiß und gelblich geworden. Auf seiner dunklen, wettergegerbten Stirn hatten sich tiefe Kummerfalten gebildet. In der Dunkelheit sah er so aus, als hätte er bereits ein paar Jahre im Moor gelegen. Jetzt atmete er tief durch, und so, wie jeder Hund sein Territorium mit seiner Duftmarke kennzeichnete, hatte auch Celtillus seine eigene Marke: Wein, Knoblauch und Zwiebeln. Gerne hätte ich ihm gesagt, daß er sich um mich keine Sorgen zu machen brauchte. Bei Teutates, Esus und Taranis! Wer waren denn die geachtetsten Menschen zwischen Asia Minor und den Britischen Inseln, zwischen Petra und Carthago, zwischen Delos und Sardinien, zwischen Massilia und Rom? Die Männer mit dem stärksten Schwertarm, die Männer mit den meisten Goldbarren, die Männer mit dem Geschlechtsteil eines Esels oder die Männer mit dem größten Wissen? Als Kelte mußte Onkel Celtillus doch wissen, daß das größte Vermögen eines Kelten sein Kopf ist. Bei uns Kelten ist doch der Kopf der wichtigste Körperteil überhaupt. Nur deshalb macht es uns Spaß, ihn dem Feind abzuschlagen. Die Römer haben das nie begriffen. Ein verletzter Römer kehrt zu seinem Centurio zurück, aber ein Römer ohne Kopf wird nie im Leben zu seiner Kohorte zurückfinden. Und wir erben seine Körperkraft!
Es schmerzte wirklich, Onkel Celtillus so leiden zu sehen. Aber vielleicht schätzte ich den heutigen Anlaß auch völlig falsch ein. Denn wir feierten heute nicht Samhain oder ein anderes Jahreszeitenfest, nein, wir erflehten Hilfe von unseren Göttern. Das Überleben unserer Gemeinschaft stand auf dem Spiel. Und Santonix allein würde uns erzählen, was die Götter ihm mitgeteilt hatten. Und wenn Santonix und die anderen Druiden sterben würden, wäre mit einem Schlag jahrtausendealtes Wissen verschwunden. Bei den Römern, Griechen oder Ägyptern würden Wachstafeln, Papyrusrollen, Pergamentrollen, Steintafeln, in Knochen, Metall oder Holz geschnitzte Inschriften zurückbleiben, die andere studieren und entziffern konnten. Bei uns wäre alles für immer ausgelöscht.
Ein Gedanke jagte den anderen. Wanda, Onkel Celtillus, Basilus, die germanischen Späher, griechische Wachstafeln, Massilia, Hieroglyphen, Amphoren, Wandas Brüste, ihre Lippen, das Amulett, Silberdenare, Ariovist, Rom …
Plötzlich war es totenstill. Alle waren verstummt. Santonix stand auf der Steinplatte und reckte erneut die Arme gen Himmel. Die beiden Hilfsdruiden entzündeten Fackeln. Der Wald schien sich plötzlich zu erheben. Das Rauschen der Blätter wurde stärker, drängender, als kündigten neue Götter ihr Nahen an. Alle Bewohner unseres Gehöfts standen am Rand des heiligen Bezirks und starrten auf die beiden weißen Ochsen. Kränze wurden auf ihre Hörner gelegt. Der eine Ochse schüttelte den Kranz wieder ab. Als sich der Hilfsdruide nach dem Kranz bückte, wehte ihn der Wind ein Stück weit fort. Ich sah Celtillus Augen, wie sie langsam glänzend und feucht wurden. Er wußte, was es zu bedeuten hatte. Unsere Gemeinschaft würde weggeblasen, wie ein Blatt im Wind. Aber hatte uns das nicht schon der Weinhändler Kretos prophezeit? Für ihn lag das Übel in der Lebensweise des keltischen Volkes. Wir Kelten kannten keine Zentralgewalt wie die Römer. Wir waren ein wilder Haufen untereinander zerstrittener Stämme. Für den römischen Adler wäre es ein leichtes, uns zu unterwerfen. Doch wenn es uns gelang, uns im Süden, am Ufer des Rhodanus, beim Oppidum der keltischen Allobroger, unter einer einzigen Führung zu vereinen, dann würde der gierige Schnabel des römischen Adlers an unseren Kettenhemden zersplittern, falls er es wagen sollte, nach uns zu hacken.
Offenbar teilten die Götter, die nun durch Santonix sprachen, meine tollkühnen Phantastereien nicht. Es gab nämlich drei Gründe, die gegen uns sprachen: die Germanen im Norden, die Daker im Osten, die Römer im Süden. Zwischen diesen drei Völkern würden wir zerrieben werden, wie das Korn unter dem Mühlstein. Das hatten uns die Götter soeben prophezeit.
Santonix erhob seine Stimme in der Nacht: »Kelten, der Mann des Verderbens, der uns prophezeit ist, wird kommen. Er reitet unter dem Adler, und auf den Schilden seiner Männer sind die in Blut getränkten Schlangenblitze seines Gottes abgebildet. Zahlreich sind seine Feinde. Auch unter den Göttern. Sie haben einen Menschen bestimmt, ihn zu vernichten. Er lebt unter uns. Denn wäre er unter dem Adler geboren, hätten ihn die seinen ersäuft, wie den dreifarbigen Gott, der ihn begleitet.«
Bloß das nicht! Santonix starrte auf mich. Ich spürte, wie die Hitze in meinen Kopf stieg. Vermutlich leuchtete ich bereits wie ein Lagerfeuer. Alle starrten ehrfürchtig zu mir rüber. Mit dem Mann, der unter dem Adler reitet, konnte kein Geringerer als der hoch verschuldete römische Konsul Gaius Julius Cäsar gemeint sein, der in der neu entstandenen Provinz Gallia Narbonensis das Amt des Prokonsuls angetreten hatte und sich die Zeit in den Betten verheirateter Senatorenfrauen vertrieb. Daß in Lucia, die sich wieder vor allem für die Riemen meiner Lederschuhe interessierte, ein Gott wohnte, war hingegen schon etwas abenteuerlich. Völlig abwegig war hingegen, daß ausgerechnet ich in die Nähe dieses Mannes geraten sollte. Wie sollte ein keltischer Druidenlehrling, dem die Götter Muskeln aus hartem Eisen geschenkt hatten, einen römischen Prokonsul töten? Etwa mit seinem Humor? Damit auch der Dümmste in unserer Dorfgemeinschaft merkte, wer damit gemeint war, überreichte mir ein Hilfsdruide ein bronzenes Opfermesser mit einem vergoldeten Kopf am Ende des Griffes und sagte: »Wenn der elfenbeinerne Halbmond an deiner Sandale hängt, wirst du den Adler töten.«
Ich muß an dieser Stelle mal ausdrücklich betonen, daß diese Geschichten vom guten Menschen, den die Götter auf die Erde schicken, um einen Stamm von einem bösen Mann zu befreien, vermutlich so alt sind wie die menschliche Sprache. Diese Geschichten entspringen stets der Hoffnung nach außerirdischer Hilfe und werden auch noch in zweitausend Jahren erzählt werden. Sie geben Kraft und spenden Hoffnung. Und niemand ist verärgert, wenn die Prophezeiungen nicht eintreffen, denn die Götter wechseln genauso oft ihre Meinung wie wir Menschen.
Der Hilfsdruide kehrte zu seinem Ochsen zurück, nahm den Kranz wieder auf und streifte ihn dem Ochsen, beschwörend einen heiligen Vers murmelnd, nochmals über die Hörner. Santonix nahm es regungslos zur Kenntnis. Er hob seine goldene Sichel erneut in den pechschwarzen Nachthimmel empor. Mit einer zeremoniellen Handbewegung schnitt er einen Mistelzweig vom Baum. Die beiden Hilfsdruiden standen unter ihm und hielten das weiße Laken ausgebreitet. Ein kräftiger Windstoß blies wie ein erzürntes Raunen durch den Wald. Der Fall des Mistelzweiges wurde etwas gebremst, doch er fiel sanft auf den weißen Leinenstoff.
Wenn der elfenbeinerne Halbmond an deiner Sandale hängt, wirst du den Adler töten, ging es mir immer wieder durch den Kopf. Der Adler war mir verständlich, was aber der elfenbeinerne Halbmond an meiner Sandale bedeuten sollte, war absolut unverständlich. Ich trug Lederschuhe, sogenannte Caligae, die mein Onkel in Massilia für mich hatte anfertigen lassen. Sie waren an der Ferse verstärkt, um dem Fuß mehr Halt zu geben, und die Sohle war in der Mitte und am äußeren Rand so angehoben, daß der Fuß nicht platt auflag. Es waren keine Sandalen, und von einem elfenbeinernen Halbmond konnte keine Rede sein. Das Symbol war mir auch nicht geläufig. Ich hätte es noch am ehesten mit Carthago in Zusammenhang gebracht. Aber Carthago lag seit über hundert Jahren in Schutt und Asche, die Mauern waren geschleift, und die Ackerfurchen mit Salz gefüllt, auf daß nie mehr etwas gedeihen sollte. Carthago war nach römischer Art befriedet.
Den beiden Ochsen waren bereits über dem mit Misteln bedeckten weißen Laken die Köpfe abgeschlagen worden. Nach einigen wilden Zuckungen erschlafften die Körper. Stoßweise schoß das warme Blut hervor. Ein stinkender Dampf legte sich über die heilige Lichtung. Das Opfer genügte nicht. Santonix wollte mehr. Er behauptete, die Götter verlangten mehr. Verbrecher konnten wir leider keine anbieten. Die hatten wir längst alle geopfert. Bloß keine Jungfrau, schoß es mir durch den Kopf. Seit ich Wanda hatte lachen sehen, bestand mein ganzer Ehrgeiz darin, sie nochmals zum Lachen zu bringen. Ich wußte nicht, ob die Götter auch Sklavinnen akzeptierten. Hier hatte ich eine Wissenslücke, aber ich konnte mir vorstellen, daß das Jungfernhäutchen wichtiger war als die gesellschaftliche Stellung der Auserwählten. Es mußte einfach etwas Reines sein, das einem von uns verdammt viel bedeutete. Ich hätte Wanda heute nachmittag eben doch besser so lange geküßt, bis sie nicht mehr Jungfrau gewesen wäre. Wanda – das wäre so, als würden sie mir mein linkes Bein abhauen. Das konnte nicht der Wunsch der Götter sein, wenn sie mehr im Kopf hatten als einen Haufen weicher Pferdeäpfel. Also wenn ich Druide wäre, durch meinen Mund würde kein Gott derartigen Schwachsinn erzählen. Ich muß an dieser Stelle mal darauf hinweisen, daß unsere Götter keine unfehlbaren Gemüter sind, nein, wir haben auch eine Menge Schlitzohren, Halsabschneider und übles Gesindel in unserem Götterrudel.
Basilus hielt sanft meinen rechten Arm fest. Meine Gedanken waren die seinen. Jetzt hielt jemand auch noch meinen linken Arm fest, Celtillus. Mit einer unwirschen Bewegung versuchte ich sie abzuschütteln. Wozu mich festhalten? Ich hätte Wanda nicht retten können. Wäre ich vorwärts gehumpelt, man hätte mich schon nach wenigen Schritten mit Pfeilen durchlöchert. Wofür hätte ich das tun sollen? Für eine Sklavin? Für eine Germanin? Nein, für mein linkes Bein!
Ich schaute zu Wanda hinüber, die abseits stand und eher gelangweilt mit ihrem gläsernen Armreif spielte. Ich muß gestehen, wenn ich einen üblen Charakterzug habe, dann den, daß ich mir manchmal Dinge ausmale, vor denen ich mich fürchte, und vor lauter Detailbesessenheit gar nicht mehr auf den Gedanken komme, daß ich mir ja alles nur eingebildet habe. Unsere Druiden sagen, daß man auf diese Weise nicht nur das Gute herbeizwingen könne, sondern auch das Schlechte. Ich riß mich deshalb mit aller Kraft zusammen und trichterte mir ein, daß Wanda wohlauf war und mit einer Armspange spielte, die ihr gar nicht zustand. Aber gut zu ihren beiden Fibeln paßte, die ihr noch weniger zustanden.
Der Druide hob nochmals die Arme in den sternlosen Nachthimmel. Der Schatten seiner goldenen Sichel flackerte unruhig in den Baumkronen. Ich fror. Es war plötzlich sehr kalt. Ich fühlte einen pochenden Kloß im Hals, der rasant anschwoll und wie ein Feuer brannte. Ich spürte, wie sich die Muskeln in meinem Rücken wie Krallen um meine Gelenke schlossen. Ich hatte das Gefühl zu versteinern. Zuerst war es nur das linke Bein. Es war wieder wie früher. Ich konnte es nicht mehr bewegen. Und nach und nach versteifte sich mein ganzer Körper. Es war, als würde man mir ein Kettenhemd nach dem andern überziehen. Ich spürte, daß etwas geschehen würde. Wie damals bei unserem Druiden Fumix. Aber ich wußte nicht, was. Jetzt verkündete der Druide, daß man den Göttern opfern mußte. Für jeden von uns, der überleben wollte, müsse dem Kampfgott Caturix ein anderer geopfert werden. Das konnte ja heiter werden. Gebannt starrten wir auf die heilige Lichtung. Der Druide schien auf etwas zu warten. Er stand immer noch mit erhobenen Armen da. Doch sein Körper hatte sich seltsam gekrümmt, und aus seiner Brust ragte etwas Dünnes, Langes. Jetzt drehte er sich langsam herum, und wir alle sahen, daß dieses dünne, lange Ding ein Speer war. Er hatte ihn durchbohrt! Hatten ihn die Götter gerichtet? Der Druide warf den Kopf zurück und drehte sich im Kreis. Es war ein hölzerner Speer, von dem er getroffen worden war. Mit solchen Speeren kämpften nicht die Götter. Die Germanen!
Plötzlich bebte der ganze Wald. Wir hörten wildes Geschrei. Von überall her flogen Geschosse auf uns zu. Wir hörten das laute Aufschlagen von Schwertern auf Holzschilden. Ariovist! Und plötzlich waren sie mitten unter uns. Auf ihren struppigen, kleinen Pferden umkreisten sie uns wie eine Schafherde und warfen ihre Speere in unsere Reihen. An den Mähnen der Pferde hingen junge Burschen, deren Oberkörper rabenschwarz bemalt waren. Blitzschnell ließen sie die Mähnen los und sprangen geschmeidig wie junge Katzen auf die Fliehenden, die in heilloser Panik zu unserem Gehöft zurück rannten. Das war zwar ziemlich unkeltisch, aber ohne Waffen macht der Kampf wenig Spaß. Da ich durchaus ein geselliger Mensch bin, wollte ich mich den Fliehenden anschließen, doch ich stolperte über die erstbeste Wurzel, fiel der Länge nach hin und spürte dann, wie etwas Schweres auf mich niederkrachte, das fürchterlich nach Knoblauch stank. Onkel Celtillus. Ich wagte mich nicht mehr aufzurichten. Mein Kopf war zur Hälfte in die feuchte Erde gedrückt, aber mit dem freien Auge sah ich, daß alle in den Wald rannten. Wie aufgescheuchtes Wild. Und die Germanen rannten hinterher, wie Jäger, die nur noch ein Auge für das fliehende Wild haben. Und nicht für die tapferen Kerle, die bereits mit halbem Kopf unter der Erde ruhten. Daß man mich einfach übersah, war natürlich für einen stolzen, jungen Kelten wie mich eine außerordentliche Kränkung. Aber ich sah darüber hinweg. Überall schrien, brüllten und stöhnten Menschen vor Wut und Schmerz. Doch allmählich entfernten sich die Stimmen. Ich hörte nur noch das leise Wimmern der Sterbenden. Es war wie ein Platzregen, der überraschend einsetzt und ebenso schnell wieder vorbei ist. Mühsam zerrte ich meinen rechten Arm unter mir hervor und versuchte mich auf beiden Händen hochzustemmen. Ich glitt in der lehmigfeuchten Erde aus. Onkel Celtillus rollte von meinem Rücken herunter. Jetzt lag er neben mir und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ein Schwerthieb hatte ihm die Brust vom Hals bis zum Nabel geöffnet. In der Hand hielt er die rotblonde Mähne eines abgetrennten Germanenkopfes.
Auf der heiligen Lichtung erkannte ich die blutdurchtränkten weißen Togen der Druiden. Alle waren ermordet worden. Irgendwo hörte ich das erstickte Schreien einer Frau. Wanda? Ich rappelte mich hoch und sah, daß ein Germane hoch zu Roß eine junge Frau an den Haaren aus dem Gestrüpp zerrte. Es war Wanda. »Wanda!« brüllte ich. Ich weiß nicht, wieso. Es war wirklich sehr töricht. Absolut töricht! Der Germane ließ Wanda fallen und riß sein Pferd herum. Jetzt hatte er mich gesehen. Er zog sein Schwert und hielt die Zügel etwas straffer. Sein Brauner tänzelte nervös. Gleich würde er ihm die Fersen in die Flanken drücken und auf mich losstürmen. Ich wußte, daß er nicht ruhen würde, bis er mich niedergestreckt hatte. Auch er hatte Gesicht und Oberkörper schwarz bemalt, und die lange blonde Mähne, die bis auf die muskelbepackten Schultern hinunterreichte, verlieh ihm etwas Wildes und Unerschrockenes. Er zog sein Eisenschwert und schwang es brüllend in der Luft. Wenn der Kerl sich eine Waffe aus Eisen leisten konnte, war er kein gewöhnlicher Germane. Ich zog sofort meinen Dolch. Ich kam mir dabei ziemlich albern vor, denn den Dolch hatte ich bisher nur zum Tranchieren von knusprig gebratenem Schweinerücken benutzt. Der Germane lachte dröhnend und rauh, und ich gestehe ungern, daß sich vor Schrecken meine Blase entleerte. Während es mir warm die Schenkel hinunterlief, griff ich mit der freien Hand nach dem Opfermesser, das mir der Hilfsdruide gegeben hatte. Doch ich griff daneben. Dieser verfluchte Germane hatte meinen Muskeltonus derart in die Höhe getrieben, daß mir nur noch wilde, grobe Bewegungen gelangen. Der Germane beobachtete mich spöttisch und machte seinen Braunen so richtig scharf, indem er ihn einerseits zurückhielt und ihm gleichzeitig mit gezieltem Schenkeldruck zu verstehen gab, daß er gleich auf mich lospreschen würde. Jetzt hielt ich endlich beide Messer in den Händen und schwankte wie ein Betrunkener, der gleich das Gleichgewicht verlieren wird. Die Gefahr, daß ich mich bei einem erneuten Sturz selber verletzte, war auf jeden Fall größer als die Gefahr, von diesem Germanen getötet zu werden. Der Germane brüllte irgend etwas zu den Baumkronen hinauf und hob das Schwert zum Angriff. Vermutlich hatte er mich soeben einem Gott gewidmet. Ich hätte mich viel lieber mit ihm über die hohe Kunst des Angelns unterhalten, freundlich und kultiviert, doch dieser Koloß von Mann preschte nun auf seinem eher zu klein geratenen Pferd auf mich zu. Ich hoffte, daß das Pferd unter seinem Gewicht zusammenbrach. Doch statt dessen streckte der Gaul laut wiehernd beide Vorderläufe nach vorne. Lucia stand plötzlich vor mir und tat so, als stamme sie von einem hochgezüchteten molossischen Kampfhund ab. Eigentlich atypisch, denn Hunde greifen Pferde stets von hinten an, beißen in die Fesseln oder in den Bauch. Lucia bellte, kläffte, und ihre Lefzen bebten vor Aggressivität und Erregung, während sich alle ihre Rückenhaare steil nach oben richteten wie die kalkgetränkte Dornenfrisur eines richtigen Kelten. Die steif nach vorne gestreckten Vorderbeine des aufgeschreckten Pferdes gruben sich tief in den weichen Boden. Der Germane flog über den Pferdehals hinweg, direkt auf mich zu. Sein Schädel prallte wie ein Katapultgeschoß gegen meine Brust. Ich wurde zu Boden gerissen. Das war das Ende. Mit dem Hinterkopf klatschte ich in eine Pfütze. Für einen Augenblick noch freute ich mich, daß ich nicht auf einem Stein aufgeschlagen war. Ich schnappte verzweifelt nach Luft. Der Kerl, der mich unter sich begraben hatte, wog bestimmt soviel wie zwei Kelten zusammen. Ich versuchte verbissen, die beiden Dolche unter seinem Körper hervorzuziehen, aber es war zwecklos. Ich schuftete und ruderte, aber nichts bewegte sich. Nichts?
In der Tat bewegte sich der Germane nicht mehr. Sein Kopf lag seitlich auf meiner Brust, und er muß dabei für jeden Beobachter einen sehr anhänglichen Eindruck gemacht haben. Ich hörte, wie sich Lucia steigerte und ihr Bellen noch lauter und aggressiver wurde. Das konnte eigentlich nur bedeuten, daß die Gefahr vorüber war. Jetzt hatte sich der Kopf des Germanen bewegt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an, und seine fettigen, blonden Haarstoppeln rieben sich an meinem Kinn. Die Wangen waren knochig und tief eingefallen. Auch die Germanen waren ein vom Schicksal gebeuteltes Volk, das vom Hunger südwärts getrieben wurde. Gequält öffnete sich sein Mund, und ein Schwall warmen Breis ergoß sich über meinen Hals. Darauf wurden seine Züge weicher, fast versöhnlich. Lautlos rollte er von meinem Körper und blieb im Schlamm auf dem Rücken liegen, der leere Blick auf die Baumkronen gerichtet, wo kein Gott gesessen hatte. In seinem Oberkörper steckten meine beiden Dolche.
Ich kniete vor dem Germanen und starrte ihn an. Noch nie im Leben hatte ich einen derart großen Menschen gesehen. Er hatte auffallend schmale Hüften und einen Brustkasten, der den Muskelpanzer eines jeden römischen Offiziers verspottet hätte. Er trug eine Hose aus Hirschleder, die bis zu den Knien reichte und aus mehreren Stücken zusammengenäht worden war. Der breite Gurt hatte keine Schnalle, sondern einen bronzenen Haken. Im Gurt steckte ein Messer, der Griff ein Stück Geweih. Seine Füße waren nackt. Ich nahm seine Hand und fühlte seinen Puls, so, wie es mir der Druide Santonix beigebracht hatte. Es war eine schöne Hand, groß und stark, wie aus Eisen gegossen. Der kleine Finger fehlte. Ich fühlte keinen Puls. Der Germane war tot. Er war bereits in der Anderswelt. Ich strich ihm versöhnlich die blonde Mähne aus dem Gesicht. Wie ein wildes, freiheitsliebendes Tier lag er da. Der Mund weit offen, als würde er sich über irgend etwas wundern. Die vorderen Zähne fehlten. Ich büschelte seine Haare zu einem Zopf und schnitt sie ab. Ich knöpfte das Haar an meinen Gurt.
»Wieso schlägst du ihm nicht den Kopf ab?«
Mein Freund Basilus kam zwischen den Bäumen hervor. Er saß auf einem hellbraunen Germanenpferd. In der Hand die Zügel einer schwarzen Stute. Ich weiß wirklich nicht, wie er das anstellte, aber von Kindesbeinen war er stets in der Nähe, wenn ich in der Klemme saß.
»Ich habe ihn den Göttern geopfert«, antwortete ich. Basilus sah das Opfermesser, das in der Brust des großen Germanen steckte, und nickte. Es kostete einen Kelten viel Überwindung, seinem toten Feind den Kopf auf den Schultern zu lassen. Denn im Kopf ist der Geist und die Kraft, und es gibt nichts Edleres, als den Geist und die Kraft seines Feindes mit nach Hause zu nehmen. Und jedem Besucher zeigte man die abgeschlagenen Köpfe und brüstete sich mit den Angeboten, die man für die einzelnen Köpfe bereits erhalten hatte. Wollte man einem Kelten ein Kompliment machen, bot man ihm Eisenwaffen, hübsche Sklavinnen oder Vieh für einen abgeschlagenen Kopf an. Möglichst viel. Damit der Besitzer dankend ablehnen und später von seiner Standfestigkeit berichten konnte. Je höher der angebotene Preis, desto ehrenvoller die Standfestigkeit.
»Nimm das Pferd, Korisios, und reite nach Süden. Wir treffen uns beim See. Ich will noch ein paar Köpfe sammeln.«
»Reite gescheiter ins Oppidum der Tiguriner, Basilus, und warne Divico.«
»Was kümmert mich der alte Divico? Ich will kämpfen.«
Plötzlich hörten wir Stimmen. Basilus gab mir ein Zeichen, mich zu verkriechen. Lautlos streifte er die Zügel des zweiten Pferdes über eine Astgabel. Ich konnte mein Glück gar nicht richtig fassen. Irgendwie paßte alles zusammen wie bei einem römischen Mosaik. Die Druiden, die den Kelten mit dem dreifarbigen Hund erwähnen, das Opfermesser, das man mir, dem Auserwählten, überreicht. Ich war nahe daran, diese abstruse Geschichte selbst zu glauben. In puncto Aberglauben und Vorahnungen stehen wir Kelten ja bekanntlich den Römern in nichts nach. Ständig sind wir auf der Suche nach irgendwelchen Zeichen am Himmel, nach irgendwelchen Merkwürdigkeiten, und wenn ein Hund pinkelt, während der Hahn kräht, sind wir durchaus imstande, daraus den nächsten Erntebericht abzulesen.
Basilus wendete sein Pferd und ritt langsam über die Lichtung. Erst jetzt sah ich, daß sein Gesicht schmerzverzerrt war. Zwischen seinen Rippen steckte der abgesplitterte Holzschaft eines germanischen Speeres.
»Laß den Speer drin, bis du das nächste Oppidum erreicht hast«, flüsterte ich ihm zu, »sonst läufst du aus wie ein angestochenes Faß. Wenn ich dich hier verarzte, brauche ich Feuer und heißes Wasser, und du mußt mindestens drei Tage liegenbleiben …«
»Mach dir um mich keine Sorgen, Korisios«, murmelte Basilus, »ich habe geträumt, ich würde eine römische Standarte erbeuten. Also werde ich leben.«
»Du wirst leben«, lachte ich leise. »Und ich habe von Massilia geträumt. Aber du warst nicht dabei. Und auch die nubischen Sklavinnen fehlten.«
»Du hättest in deinem Traum im großen Bad nachschauen sollen. Dort hättest du mich gefunden. Zusammen mit den nubischen Sklavinnen, die Fisch und weißen Harzwein anbieten«, grinste Basilus. »Aber sag mir die Wahrheit, Korisios, werden wir uns wiedersehen?«
Basilus hielt sehr viel von meinen seherischen Fähigkeiten. Ich weiß allerdings nicht, ob ich welche besaß. Sicher ist, daß ich mit meinen Prophezeiungen fast immer richtig lag. Aber reichten Erfahrung, Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe nicht meistens schon aus, um sich ein Bild von der Zukunft zu machen?
»Ja«, schrie ich Basilus erfreut zu, »wir werden uns wiedersehen, Basilus.«
Basilus drückte dem Pferd sanft die Ferse in die Seite. Ich wollte noch etwas hinzufügen. Ich wollte ihm sagen, daß wir uns wohl wiedersehen würden, aber nicht an der atlantischen Küste. Das Rauschen des Ozeans war verstummt. Die Götter hatten es ausgelöscht und eine Unruhe in mir zurückgelassen, die ich noch nicht deuten konnte. Basilus war in der Dunkelheit verschwunden.
Ich blieb alleine mit all den Toten auf der Lichtung. Germanen und Kelten. Im Grunde genommen hatten wir das gleiche Schicksal. Viele Germanen tragen sogar keltische Namen. Wir Kelten unterscheiden zwischen Sippen und Stämmen, aber nicht zwischen Kelten und Germanen. Es ist Rom, das diese Unterscheidung herbeischrieb. Rom war unser gemeinsamer Feind, aber im Gegensatz zu den Römern waren wir ein bunter Haufen von kampflustigen Abenteurern. Der Kampf war uns wichtiger als der Gegner. Das ist für Römer schwer verständlich. Sie begreifen heute noch nicht, wieso Germanen und Kelten der römischen Reiterei beitreten und dann gemeinsam mit ihnen gegen Germanen und Kelten kämpfen.
Ich nahm den Schwertgurt mit der Eisenwaffe und der lederüberzogenen Holzscheide des Germanen an mich und ging zu Onkel Celtillus. Sein Tod hatte nichts Schreckliches. Mit dem abgeschlagenen Germanenkopf in der Hand schien er ziemlich zufrieden. Ich empfand keine Trauer, weil ich wußte, daß wir uns wieder begegnen würden. Ich legte ihm eine griechische Silberdrachme unter die Zunge. Für den Fährmann. Hinter ihm lag der kopflose Körper eines jungen Germanen. Es war einer von denen gewesen, die sich beim Angriff an der Mähne eines Pferdes festgehalten hatten. Er trug eine einfache Felltunika, ein Schaffell, wie arme Germanen es trugen. Neben ihm lag ein hölzerner Schild, lang und schmal und schwarz bemalt. Ich nahm ihm den Köcher ab und den Bogen, den er noch umklammert hielt. Dann ging ich zu meinem toten Germanen zurück, als wollte ich mich noch mal davon überzeugen, daß ich ihn wirklich getötet hatte. Er lag da wie ein gefällter Baum mit kurzgeschorener Krone.
Ein Geräusch ließ mich herumwirbeln, ich verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Hintern auf meinem toten Germanen auf.
Am Waldrand löste sich etwas Menschenähnliches aus der Dunkelheit. Es war Wanda. Sie hatte offenbar die ganze Zeit auf dem Bauch gelegen und meinen heroischen Zweikampf beobachtet. Ihr Gesicht war weiß wie Kalk. Sie glotzte mich regelrecht an, mit halboffenem Mund, und stotterte ungläubig: »Herr!« Offenbar hatte sie mir eine derartige Leistung, die in Rom wohl eine ganze Arena begeistert hätte, nicht zugetraut. Sie starrte den toten Germanen unter mir an und murmelte meinen Namen. »Ich laß mir meine Sklavin nur ungern wegnehmen«, sagte ich trotzig. Ich wollte nicht, daß sie auf dumme Gedanken kam. Wenn eine Sklavin den Eindruck hatte, ihr Herr empfände Gefühle für sie, war es höchste Zeit, sie zu verkaufen. Jetzt lachte sie vor Erleichterung auf, und ich sah endlich wieder ihre wunderschönen Zähne. Sie erhob sich und reichte mir die Hand, eine Hilfeleistung die irgendwie lächerlich war, zumal ich soeben einen adligen Germanen im Zweikampf besiegt hatte. Gemeinsam gingen wir zwischen den Leichen hindurch und suchten nach Verletzten. Doch wer verletzt war, war geflohen. Wer liegengeblieben war, war tot. Überall lagen leblose, blutüberströmte Körper, Kelten, Germanen, Frauen, Männer, mit zertrümmerten Schädeln und riesigen Fleischwunden, von Speeren und Pfeilen durchbohrte Leiber und abgetrennte Körperteile. Einige sahen aus, als seien sie von Raubtieren zerrissen worden. Wanda nahm einem Germanen einen keltischen Eisenhelm ab und sammelte darin die Geldbeutel, die sie jeweils mit einer flinken Handbewegung von den Gurten der Toten schnitt. Dicke Regentropfen klatschten hernieder. Es hatte angefangen zu regnen. Der Regen wischte das Blut von den Gesichtern der Toten.
Als wir nach einer Stunde den Waldrand im Norden erreichten, hörten wir Pferdehufe und Stimmen. Es waren Germanen, die sich in unserem Gehöft besoffen hatten und jetzt Ausschau nach Überlebenden hielten. Fast geräuschlos krochen wir ins dichte Unterholz. Es war immer noch Nacht, und die Chance, in der Dunkelheit unentdeckt zu bleiben, wäre durchaus groß gewesen. Wenn Lucia nicht gewesen wäre. Sie begann leise und drohend zu knurren. Nachdem sie ein Pferd erfolgreich verscheucht hatte, wollte sie es offenbar mit der ganzen germanischen Reiterei aufnehmen. Sanft nahm ich sie zu mir und hielt ihr die Schnauze zu. Blitzschnell entzog sie sich meinem Griff und begann wieder zu knurren. Die Reiter kamen näher. Sie brummten etwas im Chor, und da es einigermaßen melodiös klang, nehme ich an, daß es sich dabei um einen Gesang handelte.
In Rom sagt man, daß die Kelten nichts lieber täten als saufen und kämpfen, stets bis zum letzten Mann kämpfen und sehr verärgert sind, wenn ihnen die Gegner ausgehen. Ich bin da wohl eine Ausnahme. Ich packte Lucia energisch am Nacken und drückte sie auf den Boden. Wanda hielt ihr die Schnauze zu. Die Reiter nahten. Jetzt konnten wir sie sehen. Sie ritten direkt auf uns zu. Es waren große, hagere Gestalten mit schwarzbemalten, muskulösen Oberkörpern. Sie waren betrunken. Lucia wurde immer unruhiger. Die Germanen waren nun sehr nah. Wir konnten bereits ihre verschwitzten Pferde riechen. Jetzt tänzelten sie nervös und schnaubten. Sie hatten Lucia gerochen. Die Germanen hielten ihre Pferde an. Der eine grölte irgend etwas, worauf die anderen in ein orkanartiges, heiseres Gelächter ausbrachen. Lucia wehrte sich immer heftiger. Plötzlich stieß sie einen Schrei aus. Es klang wie das Quietschen einer Maus. Die Germanen nahmen den Speerarm etwas zurück und grinsten. Bereit zum Wurf. In diesem Augenblick wand Lucia sich wie ein glitschiger Fisch aus der Umklammerung und raste wie von einer Schleuder getroffen aus dem Unterholz. Zwischen den Pferden der Germanen hindurch auf die Felder hinaus. Die Germanen fluchten. Sie schienen enttäuscht. Dann entdeckte einer von ihnen unser Pferd. Sie nahmen es mit und ritten weiter. Nachdem ich sehnlichst gehofft hatte, Lucia würde bei uns bleiben, hoffte ich nun, sie würde nicht gleich zu uns zurückkehren.
Wanda flüsterte etwas, aber ich verstand es nicht. Wir rückten näher zusammen, so, daß unsere Köpfe eng nebeneinander lagen.
»Kommt sie zurück?« fragte Wanda.
»Nein«, sagte ich, »in den letzten Tagen hat es soviel geregnet, daß massenhaft Mäuse in ihren Löchern ersoffen sind. Das ist ein göttliches Bankett für Lucia.«
»Willst du auf sie warten?«
»Ja«, antworte ich, »aber wieso bist du nicht geflohen?«
Wanda machte ein abschätziges Geräusch.
»Das sind germanische Sueben«, sagte sie verächtlich. Offenbar zählte bei den Germanen auch nur die Sippe, der engste Clan. Ansonsten waren sie mit den anderen germanischen Nachbarn genauso zerstritten wie die Kelten untereinander.
»Was hast du jetzt vor, Herr?«
Eine schwierige Frage. Wanda war meine Sklavin. Aber konnte ich in meiner jetzigen Situation noch den Herrn spielen? Konnte ich von ihr verlangen, daß sie einen Kelten, der nur noch zwei freie Knopflöcher im Waffengurt hatte, nach Genava brachte? Wie würde sie reagieren, wenn ich ihr etwas befahl? Gibt es eine größere Demütigung als die Gehorsamsverweigerung einer Sklavin, die der Herr nicht bestrafen kann? Ich beschloß diese Frage einfach zu ignorieren. Ich schloß die Augen. Und horchte. Nichts. In der Luft hing der Gestank von verkohltem Holz und Menschenhaar. Wir schwiegen und warteten.
Die Stunden vergingen. Manchmal nickten wir ein. Einmal schreckte ich hoch und stellte fest, daß ich Wanda im Schlaf umschlungen hatte. Ich war fast ein bißchen erstaunt, daß sie noch da war. Es wurde allmählich hell. Irgendein Geruch hatte mich aus einem unruhigen Traum gerissen. Der penetrante Geruch einer spanischen Fischsauce. Und Aas: Lucia! Lucia drückte ihre nasse Schnauze an meine Stirn und leckte mit ihrer warmen Zunge mein Gesicht. Sie mußte eine ganze Menge verwester Mäuse gefressen haben. Es stank abscheulich! Ich hätte nie gedacht, daß Göttinnen derart stinken können. Wir horchten und beobachteten noch eine Weile die Umgebung, dann brachen wir auf.
Als wir das Tal erreichten, war die Sonne im Osten bereits aufgestiegen. Vor uns lag ein Schlachtfeld, wie ich es noch nie gesehen hatte. Leichen, so weit das Auge reichte. Hier hatte offenbar das Gemetzel stattgefunden, hier waren die Fliehenden umzingelt, niedergemacht, entkleidet und ausgeraubt worden.
»Du bist vielleicht der einzige, der überlebt hat.«
»Nein«, antwortete ich, »Basilus hat auch überlebt. Er ist verletzt, aber ich hoffe, daß er das Oppidum der Tiguriner erreicht hat. Und du hast auch überlebt.«
»Ich bin eine Sklavin«, entgegnete Wanda. Sie sah mich dabei derart keck an, daß ich ihr kein Wort glauben konnte.
»Du bist frei, Wanda«, murmelte ich, ohne sie anzusehen.
Ihre Stimme klang so, als würde sie lächeln.
»Bin ich dir lästig, Herr?«
Ich schaute sie an.
»Oder hast du Angst, Herr, Angst, daß ich plötzlich verschwinde und dich damit kränke?«
»Wir Kelten kennen keine Angst, Wanda. Wir fürchten höchstens, daß uns der Himmel auf den Kopf fällt.«
»Ich weiß, Herr, du bist sehr tapfer. Du hast heute nacht einen germanischen Fürsten getötet und seine Seele den Göttern geschenkt.«
Na ja, ich hätte ihr natürlich erklären können, daß ich meines linken Beines wegen nicht hatte fliehen können. Und ohne Lucia hätte das Pferd des Germanen nicht plötzlich den Gehorsam verweigert und dieser Baumstamm von Mann wäre nicht wie ein Katapultgeschoß in meine beiden Dolche gestürzt. Und den Kopf habe ich ihm auf den Schultern gelassen, weil ein derartiges Gewicht an meinem Gurt mich beim Gehen nur behindert hätte. Aber große Erklärungen sind nicht Sache eines Kelten.
»Ich bin lieber die Sklavin eines keltischen Raurikers als die Sklavin eines germanischen Sueben oder eines helvetischen Druiden«, sagte Wanda, während sie ratlos auf den mit Geldbeuteln gefüllten Eisenhelm starrte, den sie in ihrem Schoß hielt.
»Herr, warte hier auf mich, ich bin bald zurück.«
Wanda stand auf und ging. Den Eisenhelm nahm sie mit. Ich wußte nicht, ob ich ihr glauben sollte oder nicht. Wenn man wirklich in der Klemme sitzt, alles auf dem Spiel steht und das nackte Überleben von einem einzigen Menschen abhängt, wird man doch etwas argwöhnischer. Und ich hatte genügend Zeit, darüber nachzudenken und richtig mißtrauisch zu werden.
Die Stunden vergingen. Wanda kam nicht zurück. In der Ferne sah ich ab und zu Reiter. Germanische Reiter. Vielleicht suchten sie weiter nach Überlebenden. Für den Sklavenmarkt. Lucia wurde zunehmend unruhiger. Jedes Geräusch ließ mich hochschrecken. Irgendwie saß ich hier fest, inmitten von Leichen. Und Wanda kam nicht zurück. Allmählich beschlich mich ein ziemlich ungutes Gefühl. Mit ihrer Bemerkung, sie sei lieber Sklavin eines Kelten als Sklavin eines germanischen Sueben, hatte sie mich vielleicht bloß in Sicherheit wiegen wollen. Es gab doch noch was anderes, als Sklavin zu sein. Die Freiheit! Und mit all den Geldbeuteln, die sie den Toten abgenommen hatte, war sie eine reiche Frau. Sie hatte mich ganz einfach im Stich gelassen!
Die Erkenntnis traf mich wie ein Stein. Plötzlich hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden, ich glaubte zu spüren, wie irgendwo ein Pfeil aufgelegt wurde. Vor lauter Angst begann ich in der Ferne wabernde Gestalten zu erkennen, die sich plötzlich wieder in Luft auflösten. Jeder Ast schien sich in den Schwertarm eines Germanen zu verwandeln, und in jedem Dickicht schien sich die schwarzbemalte Brust eines suebischen Kriegers abzuzeichnen. Ich mußte von hier verschwinden. Richtung Süden. Wie besoffen irrte ich über das Schlachtfeld, stürzte, rappelte mich hoch und humpelte weiter. Überall lagen Menschen, die ich gekannt hatte, mit auseinandergerissenen Leibern, Menschen, die mir Gutes getan hatten, in dunklen Blutlachen, bis auf die nackte Haut gefleddert, Menschen, die ich geliebt hatte, in unmöglichen Verkrümmungen. Im Schlamm. Sie waren auf eigentümliche Art und Weise alle miteinander vereint. In jenem Ausdruck des Schmerzes. Trotzig kämpfte ich mich den Hügel hinauf. Ich weiß nicht, ob ich weinte, weil mich die Erinnerung, die mich mit diesen Menschen verband, bewegte, oder ob ich weinte, weil ich gerührt war, daß sie bereits ins Totenreich unterwegs waren. Ich war wütend auf mich. Wieso hatte ich so lange auf Wanda gewartet? Auf eine Sklavin! Bald würde es dunkel werden. Dann saß ich endgültig fest. Es regnete wieder. Gerade rechtzeitig erreichte ich die letzte Anhöhe. Der Weg, den ich gegangen war, war wenig später eine knöcheltiefe Schlammgrube. Es war, als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet, um uns Menschen wie Ratten zu ersäufen. Von hier aus konnte ich die beiden naßgrauen Täler überblicken. Das eine Tal führte nach Westen, ins Gebiet der keltischen Sequaner, das andere nach Norden, zum Rhenus. Wo einst unser Hof gestanden hatte, war ein schwarzer Fleck in der Landschaft. Rauch. Das Gehöft war vollständig niedergebrannt. Der Regen hatte zu spät eingesetzt. Unser Gehöft war nicht mehr, und das Land, das wir bebaut hatten, war jetzt germanisches Gebiet. Über dem Wald stieg gleichmäßiger Rauch auf. Vermutlich saßen die Germanen an einem großen Lagerfeuer und aßen das gepökelte Schweinefleisch, das wir für unsere Reise aufgespart hatten. Und vermutlich tranken sie auch Onkel Celtillus' Falerner und urinierten an unsere heiligen Baumstatuen.
Erschöpft setzte ich mich auf einen Felsbrocken und streckte die Beine aus. Der Regen wollte nicht mehr aufhören. Ich weiß nicht, was sich die Götter dabei gedacht haben, aber einige von unseren Göttern sind boshaft und haben nicht mehr im Hirn als Rattenkacke. Meine karierte Wollhose und meine ärmellose Tunika klebten bereits wie eine zweite Haut an meinem Körper. Aber es genügte offenbar nicht, das Nordmeer über unserem Land auszuschütten, nein, die Götter schickten noch eine eisige Brise hinterher, die mich steif und unbeweglich wie einen Bleibarren aus Carthago Nova machte.
»Was meinst du, Lucia? Fällt dir ein Gott ein, der uns helfen könnte?«
Lucia bewegte sich wie ein trabendes Pferd zu mir herüber und beschnupperte meinen Hals, den mir der Germane vollgekotzt hatte. Irgendwie hatte ich eine Stinkwut in mir.
Selbst wenn ich vier Tage wie ein Verrückter marschierte, was ich ohnehin nicht konnte, würde mich jeder Reiter an einem einzigen Morgen einholen. Ich brauchte für eine Meile fünfmal so lange wie ein nicht gehbehinderter Mensch. Es hatte überhaupt keinen Sinn weiterzugehen. Ich brauchte ein Pferd. Ich wollte mich auf dem erbeuteten Schwert des toten Germanen aufstützen, doch die Spitze bohrte sich sofort in die aufgeweichte Erde, so daß mir nichts anderes übrigblieb, als auf allen vieren durch den lehmigen Brei zu rutschen, während der Regen orkanartig auf mich niederprasselte. Für Leute mit steifen Muskeln ist kalter Regen eine Tortur. Eine Folter! Er schmerzt wie Peitschenhiebe. Aber ich wollte nicht aufgeben, selbst wenn die Götter eiergroße Hagelkörner hinunterschleudern sollten. Ich wollte Richtung Süden, und ich wollte so lange weitergehen, bis ich einen sicheren Hof erreichte, um mir ein Pferd zu kaufen, oder starb. Meine Chancen waren nicht mehr sonderlich gut. Ich wußte es. Die Germanen waren noch in der Nähe. Aber im Gegensatz zu den Römern verstanden es die Germanen nicht, einen Sieg zu nutzen. Auch in dieser Beziehung waren sie uns Kelten recht ähnlich. Wir wollen Spaß und kein Weltreich. Das war meine Chance. Ich schöpfte neue Hoffnung. Im Schlamm stieß ich auf einen Ast. Ich richtete mich auf und versuchte nun so schnell wie möglich den Kamm entlangzugehen. Meine Füße wurden dabei immer schwerer. Jeder Schritt forderte Kraft, um die immer tiefer einsinkenden Füße aus dem Dreck zu ziehen. Riesige Lehmklumpen hingen bereits an meinen Sohlen. Plötzlich blieb ich mit meinem berühmten linken Fuß stecken und verlor erneut das Gleichgewicht. Ich rutschte über eine Böschung und rollte wie ein Faß immer schneller einen nicht mehr endenwollenden glitschigen Abhang hinunter. Ich schlug mit den Knien auf einem Felsen auf und landete schließlich kopfüber in einem Bach. Als hätte ich nicht schon genug Wasser gehabt! Das Wasser war trüb, aber es roch nicht faul. Ich hielt dies für einen aufmunternden Wink unserer Wassergötter. Ich tauchte kurz unter und reinigte meinen Hals. Als ich wieder hochkam, sah ich etwas, das an der Wasseroberfläche auf mich zutrieb. Es war unser Dorfältester Postulus. Er lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser. In seinem Rücken steckten vier Pfeile. Offenbar hatte man ihn auf der Flucht niedergestreckt. Ich zog ihn ans Ufer und nahm ihm die Insignien seiner adligen Abstammung ab, den Torques, einen aus massivem Gold gefertigten Halsring. Ich legte Postulus eine griechische Silberdrachme für den Fährmann unter die Zunge. Ich hoffte, Onkel Celtillus würde ihn begleiten und der Fährmann würde ihnen beiden einen Becher Falerner anbieten. Bei insgesamt zwei griechischen Silberdrachmen mußte das einfach drin sein. Am anderen Ufer entdeckte ich die Leiche eines Germanen. In seiner Achselhöhle steckte das Schwert von Postulus. Um mich bei den germanischen Göttern anzubiedern, legte ich auch ihm einen Obolus unter die Zunge. Allerdings nur einen römischen Kupfer-As. Für einen Stehplatz sollte es allemal reichen.
Mein ganzer Körper war von blutigen Schrammen gezeichnet. Das germanische Schwert hatte ich unterwegs verloren, aber Pfeil und Bogen waren mir geblieben. Auch meine beiden Dolche, der Geldbeutel von Onkel Celtillus und der blonde Zopf an meinem Gurt. Instinktiv griff ich nach dem Amulett an meinem Hals. Das Rad des Taranis hing noch an meinem Hals. Ich hielt es fest und erflehte in Gedanken die Hilfe meines Onkels. Aber ich spürte, daß er die Anderswelt noch nicht erreicht hatte. Er war noch unterwegs. Mit dem Fährmann. Zornig blickte ich in den Himmel hinauf, während sich in der Ferne grollend der Donner entlud. Ich stand bis zur Brust im Wasser, und es schüttete immer noch, als wollten mich die Götter umgehend ersäufen.
»Taranis!« brüllte ich, so laut ich konnte. »Hör endlich mit dieser Scheiße auf!«
Feurige Blitze waren die Antwort. Es war Taranis, der seine gezwirnten Donnerkeile auf die Erde schleuderte. War er unzufrieden, weil ich ihm den Kopf des Germanen nicht geopfert hatte?
»Taranis!« brüllte ich, so laut ich konnte. »Wenn du mein Opfer brauchst, dann nimm mich, aber hüte dich vor Epona, denn ich genieße ihren Schutz!«
Taranis setzte den Himmel unter Feuer. Seine feurigen Donnerblitze zerrissen das finstere Himmelsgewölbe und ließen Mensch, Tier und Baum erzittern. Mühsam entwirrte ich die nassen Lederschnüre, mit denen ich den Geldbeutel von Onkel Celtillus an meinem Gurt befestigt hatte. Ich öffnete den Beutel und nahm ein paar Goldmünzen heraus. Ich streckte sie Taranis entgegen.
»Taranis! Gott der himmlischen Feuer! Deine Donnerblitze bringen uns den Regen, der die Erde befruchtet, damit alles in ihr keimen und wachsen kann. Deine Donnerblitze bringen aber auch Tod und Verderben für Mensch und Tier. Taranis! Gott der himmlischen Feuer, bedenke, daß auch die Sonne brennt, wenn du sie scheinen läßt. Taranis, Herr der Sonne, laß die Sonne wieder scheinen!«
In diesem Augenblick schlug der Blitz krachend in einen Baum ein, der oben an der Böschung stand, und spaltete ihn wie mit einer Axt. Ich fiel vor Schreck rückwärts ins Wasser. Die Goldmünzen flogen durch die Luft. Die Götter bedienten sich selbst. Als ich wieder auftauchte, brannte der vom Blitz getroffene Baum lichterloh. Es schien, als hätten sich die Götter völlig zerstritten. Zornig fegte ein eiskalter Wind über das Land. Die Flüsse verwandelten sich in reißende Ströme und rissen die das Ufer säumenden Bäume mit sich. Und in diesem Inferno hörte ich plötzlich etwas Vertrautes. Es klang leise, bitter und herzzerreißend. Lucia! Sie stand zitternd und bebend am Ufer und bellte kläglich.
Ich befestigte den Geldbeutel wieder an meinem Gurt und schwamm ans Ufer. Lucia ließ mir nicht mal Zeit, mich aufzurichten. Sie sprang jammernd auf meinen Kopf und schleckte mein Haar ab. Endlich konnte ich sie wieder in meine Arme schließen. Wie ich den Geruch ihres nassen Felles liebte! Jaulend befreite sie sich aus meiner Umklammerung und sprang ein paar Schritte davon. Dann blieb sie wieder stehen, schüttelte sich und bellte mich an. Sie wollte mir irgend etwas mitteilen.
Plötzlich hörte ich ganz in der Nähe das Wiehern eines Pferdes. Ich schaute die Böschung hoch. Sorgfältig suchte ich das Ufer ab. Ich blieb auf den Knien und nahm einen Pfeil aus meinem Köcher, legte ihn auf und spannte den Bogen. Kniend würde ich mein Ziel kaum verfehlen. Oberhalb des Ufers war ein Trampelpfad. Von dort kam das Wiehern. Jetzt hörte ich es wieder. Angestrengt suchte ich die Böschung ab. Der Himmel war beinahe schwarz. Die Götter hatten den Tag zur Nacht gemacht.
»Herr! Ich bin's, Wanda.«
Ich erschrak. Einen Steinwurf von mir entfernt erblickte ich Wanda. Sie stand oben auf der Böschung und hielt zwei keltische Pferde am Zügel.
»Beeil dich, Herr, die Germanen fleddern die Toten. Sie werden bald hiersein.« Sie warf mir ein Seil zu und band das andere Ende an einem der vier Sattelhöcker fest. Ich schlang das Seil ein paar Mal um meinen rechten Arm, packte Lucia mit der Linken und ließ mich dann die Böschung hinaufziehen. Da die lehmige Böschung vom Regen aalglatt geworden war, glitten wir förmlich den Hang hinauf. Wanda nahm mich in Empfang und half mir hoch.
»Herr, du bist ja wie aus Stein.«
»So fühl ich mich auch, Wanda, wenn ich nicht bald etwas Wärme kriege, kannst du mich in Massilia als Apollo-Statue verkaufen.«
Sie faltete ihre Hände zu einem Steigbügel zusammen und half mir aufs Pferd.
»Halt dich fest, Herr«, flüsterte sie, meine Klage ignorierend, und reichte mir Lucia nach, die ich quer über den Sattel legte. Offenbar hatten sich die Reitwege bereits in derart tiefe Schlammgruben verwandelt, daß Hunde von Lucias Größe keine Chance mehr hatten vorwärtszukommen. Etwas ungläubig schaute ich zu Wanda hinüber, die nun das zweite Pferd bestieg. Sie war tatsächlich zurückgekommen.
Seite an Seite ritten wir Richtung Süden. Direkt in den Schnabel des gefräßigen römischen Adlers.