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«Nun, Poirot?», fragte ich, als wir das Gartentor von Littlegreen House hinter uns geschlossen hatten. «Sind Sie jetzt zufrieden gestellt?»
«Ja, mein Freund, ich bin zufrieden gestellt.»
«Gott sei Dank! Die Geheimnisse sind erklärt. Das Märchen von der reichen Dame und der bösen Gesellschafterin ist widerlegt. Der verspätete Brief und sogar der berühmte Vorfall mit dem Ball des Hundes zeigen sich in ihrem wahren Licht. Alles ist zufriedenstellend gelöst.»
Poirot antwortete mit einem trockenen Hüsteln: «Ich würde das Wort ‹zufriedenstellend› nicht gebrauchen, Hastings.»
«Sie haben es soeben selber gebraucht.»
«Nein, nein, ich sagte nicht, die Sache sei zufriedenstellend. Ich sagte, meine persönliche Neugier sei zufrieden gestellt. Ich kenne die Wahrheit über den Vorfall mit dem Ball des Hundes.»
«Die war doch höchst einfach!»
«Nicht so einfach, wie Sie glauben.» Er nickte mehrmals und fuhr fort: «Ich weiß nämlich eine Kleinigkeit, die Sie nicht wissen.»
«Und die wäre?», fragte ich skeptisch.
«Ich weiß, dass in die Randleiste an der obersten Treppenstufe ein Nagel eingeschlagen ist.»
Ich starrte ihn an. Sein Gesicht war tiefernst. «Nun?», fragte ich nach einer Weile. «Warum denn nicht?»
«Warum denn ja, Hastings? Warum ist er dort?»
«Das weiß ich nicht, aber es wird seinen Grund im Hausbrauch haben. Ist das so wichtig?»
«Gewiss ist es wichtig. Ich wüsste auch nicht, welcher Hausbrauch es erfordert, dass an dieser Stelle ein Nagel in die Randleiste der Treppe eingeschlagen wird. Überdies ist er sorgfältig mit Fußbodenlack überstrichen, damit man ihn nicht sieht.»
«Poirot, wo wollen Sie hinaus? Kennen Sie den Grund?»
«Ich kann ihn mir denken. Um vor der ersten Stufe einen Bindfaden oder einen Draht handhoch über den Boden zu spannen, kann man ihn auf der einen Seite ans Geländer binden, aber an der inneren Mauer braucht man einen Nagel, um den Bindfaden daran zu befestigen.»
«Was heißt das, Poirot?», rief ich.
«Mon cher ami, ich rekonstruiere den Vorfall mit dem Ball des Hundes. Wollen Sie zuhören?»
«Machen Sie’s nicht so spannend!»
«Eh bien, die Sache war so. Jemand bemerkte Bobs Gewohnheit, den Ball am Treppenabsatz liegen zu lassen. Eine gefährliche Gewohnheit – sie kann einen Unfall verursachen.» Poirot schwieg eine Weile, dann fragte er in leicht verändertem Ton: «Wenn Sie jemanden umbringen wollten, wie würden Sie zu Werke gehen, Hastings?»
«Ich – tja – ich weiß nicht. Mir ein falsches Alibi verschaffen oder so ähnlich.»
«Ein ebenso schwieriges wie gefährliches Unterfangen. Aber Sie sind eben kein kaltblütiger Mörder. Leuchtet es Ihnen nicht ein, dass der leichteste Weg, einen Menschen zu beseitigen, der ist, sich einen Unfall zu Nutze zu machen? Jeden Augenblick geschieht ein Unfall. Und manchmal, Hastings, kann man ihm nachhelfen!»
Wieder schwieg er kurze Zeit, dann fuhr er fort: «Ich glaube, der zufällig liegen gebliebene Ball brachte den Mörder auf den Gedanken. Miss Arundell pflegte nachts ihr Schlafzimmer zu verlassen und im Haus umherzuwandern. Ihr Augenlicht war nicht mehr gut, und es lag im Bereich der Möglichkeit, dass sie über den Ball stolperte und die Treppe hinunterfiel. Aber ein gründlicher Mörder überlässt nichts dem Zufall. Ein Bindfaden, vor die oberste Stufe gespannt, wirkt viel sicherer. Sie wird die Treppe hinunterstürzen. Und wenn das ganze Haus zusammenläuft, liegt dort, deutlich sichtbar, die Ursache des Unfalls – Bobs Ball!»
«Grauenhaft!», rief ich.
«Ja, grauenhaft…», antwortete Poirot ernst. «Und erfolglos… Miss Arundell kam mit unbedeutenden Verletzungen davon, obwohl sie sich hätte den Hals brechen können. Eine große Enttäuschung für den unbekannten Täter! Aber Miss Arundell war eine alte Dame mit scharfem Verstand. Alle erklärten ihr, sie sei über den Ball gestolpert, und der Ball lag tatsächlich dort, aber sie selbst erinnerte sich, dass der Unfall anders geschehen war. Sie war nicht über den Ball gestolpert. Und noch etwas fiel ihr ein: Um fünf Uhr früh nach ihrem Sturz hatte sie Bob vor der Haustür um Einlass bellen gehört!
Das alles ist zwar größtenteils reine Vermutung, aber ich bin überzeugt, dass ich Recht habe. Miss Arundell hatte am Abend selber den Ball in der Schublade verwahrt. Dann wurde Bob ins Freie gelassen und kam nicht zurück. Es konnte daher nicht Bob gewesen sein, der den Ball auf die oberste Stufe gelegt hatte.»
«Das sind wirklich nur Vermutungen, Poirot», wandte ich ein.
«Nicht ganz, mein Freund. Wir haben da noch die vielsagenden Worte, die Miss Arundell in ihren Fieberfantasien hervorstieß – von Bobs Ball und dem ‹Bild mit der Dose›. Sie begreifen doch?»
«Nicht das Geringste!»
«Wieso nicht? Sie hörten doch selber von der Haushälterin, dass es in Littlegreen House kein einziges Bild gibt, auf dem eine Dose zu sehen ist. Ich erkannte gleich, dass Ellen die Worte der Sterbenden missverstanden haben muss. Aber im Salon bemerkte ich eine Porzellandose mit dem Bild eines Hundes. Und zwar eines Hundes, der die ganze Nacht nicht nachhause gekommen ist. Verstehen Sie den Gedankengang der Fiebernden? Sie meinte das Bild auf der Dose. Bob hatte es ebenso gemacht wie dieser Hund; er war die ganze Nacht ausgeblieben, daher konnte nicht er den Ball auf der Stufe liegen gelassen haben.»
Unwillkürlich rief ich: «Genial, Poirot! Wie Sie sich diese Sachen ausdenken, ist mir ein Rätsel.»
«Ich denke sie mir nicht aus, sie sind da – deutlich zu sehen. Eh bien, können Sie sich jetzt die Lage vergegenwärtigen? Miss Arundell muss nach ihrem Unfall das Bett hüten und schöpft Verdacht, einen vielleicht unbegründeten Verdacht, aber er lässt sich nicht vertreiben. ‹Seit dem Vorfall mit dem Spielball des Hundes bin ich in Zweifel und Sorge.› Und sie schreibt einen Brief an mich, der unglücklicherweise erst zwei Monate später in meine Hände gelangt. Sagen Sie, stimmt ihr Brief nicht aufs Haar mit diesen Tatsachen überein?»
«Allerdings», gab ich zu.
«Noch ein Punkt ist zu bedenken: Miss Lawson war bemüht, Miss Arundell nicht zu Ohren kommen zu lassen, dass Bob die ganze Nacht ausgeblieben war.»
«Sie glauben, dass – »
«Ich glaube, dass dieser Punkt Beachtung verdient.»
Ich dachte eine Weile darüber nach, dann sagte ich mit einem Seufzer: «Tja, das alles ist sehr interessant – als Denksport. Meine Hochachtung! Wirklich eine meisterhafte Rekonstruktion. Schade, dass die alte Dame gestorben ist.»
«Ja, schade. Sie schreibt mir, dass jemand sie zu ermorden versuchte – denn darauf läuft es doch hinaus –, und kurze Zeit nachher ist sie tot.»
«Es ist eine große Enttäuschung für Sie, Poirot, dass sie eines natürlichen Todes starb, nicht wahr? Geben Sie’s ruhig zu!»
Poirot zuckte die Achseln.
«Oder glauben Sie vielleicht, dass sie vergiftet wurde?», fragte ich boshaft.
Mit offensichtlicher Enttäuschung schüttelte er den Kopf. «Miss Arundell scheint tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben zu sein.»
«Und wir streichen die Segel und kehren geschlagen nach London zurück.»
«Pardon, mein Freund, wir kehren nicht nach London zurück.»
«Was?»
«Wenn Sie einem Hund ein Kaninchen zeigen, mein Freund, kehrt er nicht nach London zurück. Nein, er kriecht in den Kaninchenbau.»
«Was wollen Sie damit sagen?»
«Der Hund jagt Kaninchen. Hercule Poirot jagt Mörder. Wir haben hier einen Mörder, dessen Plan allerdings nicht gelang, aber gleichwohl einen Mörder. Und ich, mein Freund, werde in seinen – oder ihren – Bau dringen.»
Er öffnete die Gartentür.
«Wohin, Poirot?»
«In den Kaninchenbau, mein Freund. Hier wohnt Doktor Grainger, der Miss Arundell während ihrer letzten Krankheit behandelte.»
Der Arzt war ein Mann in den Sechzigern, mit hagerem Gesicht und streitlustigem Kinn, buschigen Brauen und schlau blickenden Augen. Er sah scharf von mir zu Poirot und fragte unvermittelt:
«Sie wünschen?»
«Entschuldigen Sie die Belästigung, Doktor Grainger. Ich möchte gleich gestehen, dass ich Sie nicht beruflich in Anspruch nehmen will.»
«Freut mich», antwortete er trocken. «Sie sehn ganz gesund aus.»
«Der Zweck meines Besuchs ist der», fuhr Poirot fort. «Ich schreibe ein Buch, eine Biografie General Arundells, der seine letzten Lebensjahre in Basing verbracht haben soll.»
Der Arzt machte ein etwas überraschtes Gesicht. «Ja, General Arundell lebte hier bis zu seinem Tod. In Littlegreen House – gleich nach der Bank –, vielleicht haben Sie es gesehn?», Poirot nickte. «Aber das war ziemlich lange vor meiner Zeit. Ich kam 1919 nach Basing.»
«Aber Sie kannten seine Tochter, die verstorbene Miss Arundell?»
«Ja, ich kannte Emily Arundell sehr gut.»
«Es war natürlich eine große Enttäuschung für mich, dass sie vor kurzem gestorben ist.»
«Am ersten Mai.»
«Ja, das habe ich erfahren. Ich rechnete nämlich damit, von ihr persönlich Aufschlüsse und Erinnerungen für die Biografie ihres Vaters zu erhalten.»
«Gewiss, gewiss. Aber was kann ich dabei tun?»
«Hatte General Arundell andere Kinder, die noch leben?»
«Nein. Alle fünf tot. Vier Töchter und ein Sohn.»
«Und Enkel?»
«Charles Arundell und seine Schwester Theresa. Mit denen können Sie sich in Verbindung setzen, aber ich bezweifle, dass Ihnen damit gedient sein wird. Der heutige Nachwuchs schert sich nicht viel um seine Großväter. Dann wäre da noch eine Mrs Tanios, aber auch sie wird Ihnen kaum etwas Verwendbares sagen können.»
«Vielleicht sind Familienpapiere in ihrem Besitz?»
«Vielleicht. Bezweifle es aber. Nach Miss Emilys Tod wurde viel verbrannt.»
Poirot seufzte enttäuscht. Der Arzt sah ihn neugierig an.
«Was finden Sie denn so interessant an dem alten Arundell? Habe nie gehört, dass er ein hohes Tier gewesen ist.»
«Ich bitte Sie!» Poirots Augen leuchteten begeistert. «Die Geschichte wird oft ihren bedeutendsten Männern nicht gerecht. Kürzlich sind Akten zum Vorschein gekommen, die ein ganz neues Licht auf den Großen Aufstand in Indien werfen. Geheimgeschichte. Und dabei spielt John Arundell eine große Rolle. Das Ganze ist faszinierend – faszinierend!»
«Hm!» machte Dr. Grainger. «Der alte General sprach, wie ich hörte, so viel über den Großen Aufstand, dass es den Leuten schon zum Hals heraushing.»
«Von wem wissen Sie das?»
«Von einer gewissen Miss Peabody. Vielleicht suchen Sie sie auf? Niemand ist schon so lange in Basing ansässig wie sie – kannte die Arundells gut. Klatsch ist ihr liebster Zeitvertreib. Ein Besuch würde sich lohnen, sie ist ein Original.»
«Das ist eine ausgezeichnete Idee. Können Sie mir vielleicht auch sagen, wo der junge Mr Arundell, der Enkel des Generals, wohnt?»
«Charles? Ja, seine Adresse kann ich Ihnen geben. Aber er ist ein respektloser Draufgänger. Die Familiengeschichte ist ihm schnuppe.»
«Er ist noch sehr jung?»
«In den Augen eines alten Knackers wie ich allerdings», antwortete der Arzt zwinkernd. «Anfang dreißig. Das schwarze Schaf der Familie. Hat viel Charme, aber das ist auch alles. Wurde in die ganze Welt geschickt und hat nirgends gut getan.»
«Seine Tante hatte ihn trotzdem gern?», fragte Poirot. «Das kommt nämlich häufig vor.»
«Hm, ich weiß nicht. Emily Arundell war nicht auf den Kopf gefallen. Soviel mir bekannt ist, gelang es ihm nie, Geld von ihr zu kriegen. Sie war sehr dickköpfig. Ich konnte sie gut leiden. Schätzte sie sehr.»
«Starb sie plötzlich?»
«Ja und nein. Sie kränkelte seit Jahren, aber sie überstand mehrere schwere Krankheiten.»
«Es heißt, dass sie sich mit ihrer Familie entzweite?»
«Entzweite – eigentlich nicht», antwortete der alte Arzt langsam. «Nein, soviel ich weiß, kam es zu keinem offenen Bruch.»
«Verzeihen Sie, wenn ich indiskret bin!»
«Durchaus nicht. Das weiß doch der ganze Ort.»
«Sie hinterließ ihr Vermögen nicht den Angehörigen, wie ich erfuhr.»
«Nein, sie vermachte alles ihrer Gesellschafterin, einem scheuen, verschreckten Huhn. Merkwürdig! Mir unbegreiflich. Sah ihr gar nicht ähnlich.»
«Nun ja», meinte Poirot nachdenklich. «Man kann sich leicht vorstellen, wie es kam. Eine alte Dame, schwach und leidend, abhängig von der Person, die sie pflegt und betreut. Eine kluge Frau mit einiger Willenskraft kann sich da leicht Einfluss verschaffen.»
Diese Behauptung wirkte wie ein rotes Tuch auf einen Stier. «Einfluss!», knurrte Dr. Grainger. «Keine Spur! Emily Arundell behandelte Minnie Lawson schlimmer als einen Hund. Aber Frauen, die sich als Gesellschafterinnen durchbringen, zeichnen sich meist nicht durch besondere Geisteskräfte aus, sonst würden sie auf andere Art ihren Lebensunterhalt verdienen. Emily Arundell hatte keine Geduld mit dummen Menschen. Jedes Jahr verbrauchte sie so ein armes Ding. Einfluss – keine Rede davon!»
Poirot beeilte sich, diesen schlüpfrigen Boden zu verlassen. «Befinden sich vielleicht Familienpapiere und dergleichen im Besitz von Miss Lawson?»
«Kann sein», antwortete Dr. Grainger. «Im Haus einer alten Jungfer sammelt sich immer eine Unmenge Zeug an. Miss Lawson wird wahrscheinlich noch nicht einmal die Hälfte durchstöbert haben.»
Poirot erhob sich. «Ich danke Ihnen vielmals, Doktor Grainger. Es war sehr freundlich von Ihnen.»
«Nichts zu danken. Leider kann ich nicht mehr für Sie tun. Am besten, wenn Sie sich an Miss Peabody wenden. Wohnt in Morton Manor, keine zwei Kilometer von hier.»
Poirot hatte sich über einen großen Strauß Rosen auf dem Schreibtisch des Arztes gebeugt und roch an ihnen. «Köstlich!», murmelte er.
«Wahrscheinlich. Rieche nichts. Vor Jahren den Geruchssinn verloren, nach einer Grippe. Peinlich, wenn ein Arzt das gestehen muss, eh? Sehr lästig. Auch das Rauchen macht mir dadurch nicht mehr soviel Vergnügen.»
«Sehr bedauerlich. Übrigens, darf ich Sie um die Anschrift des jungen Arundell bitten?»
«Gleich!» Dr. Grainger führte uns in die Halle und rief: «Donaldson!»
«Mein Assistent», erklärte er. «Er muss sie kennen. Er ist mit Charles’ Schwester Theresa verlobt. – Donaldson!»
Ein junger Mann trat aus einem Hinterzimmer. Er war mittelgroß; seine farblose Erscheinung und sein sachliches Wesen bildeten den denkbar größten Gegensatz zu Doktor Grainger. Der alte Arzt fragte ihn nach Charles Arundells Anschrift. Dr. Donaldsons sehr helle blaue, etwas vorquellende Augen glitten prüfend über uns hinweg. Dann antwortete er: «Ich weiß nicht, wo Charles wohnt, aber ich kann Ihnen Miss Theresa Arundells Anschrift geben. Sie wird Ihnen bestimmt sagen können, wo ihr Bruder zu erreichen ist.»
Er schrieb die Adresse auf ein Blatt seines Notizbuchs, riss es heraus und reichte es Poirot, der sich höflich bedankte. Wir verabschiedeten uns. Als wir das Haus verließen, bemerkte ich, dass Dr. Donaldson in der Halle stand und uns mit leicht erstaunter Miene nachsah.