Strang 2 / Kapitel 19

 

„Verschwinde. Raus aus diesem Haus. Sofort!“ Wie eine Furie rauschte Eliane durch den grosszügigen Salon, ihre Tochter vor sich her treibend.

Sandrine beschloss, ihr die Stirn zu bieten. Sie blieb stehen und drehte sich um. Eliane konnte den drohenden Zusammenstoss gerade noch vermeiden. „Du wagst es…“

„Ja. Ich wage es.“ Sandrine richtete sich zu ihrer vollen Grösse auf. Sie straffte die hängenden Schultern und blickte ihrer Mutter fest in die Augen. „Ich trage nicht die volle Schuld daran. Ihr, Papa und du, seid ebenso schuldig wie ich.“

„Wie kannst du es wagen!“ Elianes Stimme überschlug sich. „Du undankbares Miststück!“

Sandrine schnürte es fast die Kehle zu, doch sie gab sich unbeeindruckt. „Willst du mir widersprechen, Mutter? Ist das dein Ernst? Wann wart ihr beide denn für mich da? Hm? Schon mein ganzes Leben lang wurde ich abgeschoben. Nein Sandrine, auf die Reise kannst du nicht mit. Das ist nichts für Kinder. Nein, Sandrine, das Hausmädchen passt auf dich auf. Wir müssen an einen Ball. Nein, Sandrine, ich begleite dich nicht zur Schule, das gehört sich nicht für grosse Mädchen. Nein, Sandrine, wir werden dich nicht ins Bett bringen, wir werden dann nämlich noch gar nicht zuhause sein. Nein, Sandrine, das Christkind hat in diesem Jahr nichts für dich. Du musst lernen, dass man nicht immer bekommt, was man will. Nein, Sandrine, du darfst nicht zu den anderen Kindern auf den Spielplatz, du könntest dir dein Kleid ruinieren. Spiel nicht im Garten, Sandrine, du machst dich schmutzig. Lass die Puppen, du hast Klavierunterricht. Eine öffentliche Schule kommt nicht in Frage, du gehst ins Internat. Lerne Bescheidenheit, Sandrine. Lerne Demut. Dann finde ich dir einen Ehemann, der in der Gesellschaft bereits einen festen Platz hat.“ Sandrine redete sich in Rage. All die angestaute Wut brach aus ihr heraus. „Kommt dir das bekannt vor, Mutter?“

Elianes Gesicht war purpurrot angelaufen. Sie sah aus, wie ein Dampfkessel vor der Explosion. „Du undankbares…“

„Miststück. Den hatten wir schon.“ Ungeduldig winkte Sandrine ab. „Liebste Mutter, ich habe dich enttäuscht. Aber hast du dich jemals gefragt, wie sehr du dein eigenes Kind enttäuscht hast? Tag für Tag? Ich durfte nichts. Ich war nur hübsche Dekoration. Ein weiteres Stück, das du dir zugelegt hast, um das Bild der perfekten Familie zu vervollständigen. Was glaubst du, wie sich das anfühlt? Mutter, gönne mir eine ehrliche Antwort. Nur dieses eine Mal.“ Sandrine griff nach den eisig kalten Händen ihrer Mutter und hielt ihren Blick fest. „Wolltest du überhaupt Kinder? Oder war das einfach ein notwendiges Übel, um das Ansehen in der Gesellschaft zu wahren?“

Elianes Körper schien zu beben. Sie sprach aus, was sie zu sagen hatte. Gepresst. Bedrohlich. „Ich wollte ein Kind. Ein gehorsames, dankbares Wesen. Aber nicht so etwas wie dich.“

Sandrine trat langsam zurück. Nicht vor Schreck. Auch nicht aus Betroffenheit. Sondern weil nun endlich alles gesagt war. „Na bitte. Du hättest besser daran getan, dir einen Hund zuzulegen“, gab Sandrine kühl zurück.

Das war zu viel. Der Kessel kochte über.

Die flache Hand landete schmerzhaft in Sandrines Gesicht. „Raus! Raus aus meinem Haus! Und lass dich hier niemals, niemals wieder blicken!“, kreischte Eliane.

„Diesen Gefallen werde ich dir tun.“ Sandrine rannte die Treppe in den oberen Stock hinauf. Sie nahm zwei Tritte auf einmal. Atemlos kam sie in ihrem Zimmer an. Sie riss den Schrank auf und holte ihren Koffer heraus. Achtlos warf sie ihn auf ihr Bett.

Das leise Klopfen hätte sie beinahe überhört.

„Nein. Jetzt nicht!“, schrie sie wütend die Tür an.

Entgegen ihrer Ansage schob sich aber vorsichtig ein Kopf zwischen Türblatt und Rahmen. „Kann ich Ihnen helfen?“

Louise. Das Hausmädchen. Die treuste Seele der Welt. Die einzige, die sich in diesem Haus jemals um Sandrine geschert hatte. Die einzige, die Sandrine unglaublich vermissen würde.

„Nein. Ist schon gut. Wenn Sie mir helfen, werden Sie sich nur Ärger einhandeln. Das kann ich nicht verantworten.“ Sandrine trat schnell zur Tür, öffnete sie ganz und umarmte Louise spontan. Dann schickte sie sie wieder weg.

Unkoordiniert warf Sandrine diverse Sachen in ihren Koffer. Als kein Platz mehr war, klappte sie ihn zu und hievte ihn vom Bett. Er war schwerer als angenommen. Mit beiden Händen schaffte sie es, ihn anzuheben und die Treppe hinunterzutragen.

Eliane stand neben der Haustür und erwartete sie mit steinerner Miene. „Und wo willst du hin? Du hast kein Geld. Du hast nichts.“

„Da irrst du dich gewaltig.“

„Was? Du glaubst, dieser Hurenbock nimmt dich auf?“, spottete Eliane. „Der hatte seinen Spass. Er wird dich liegen lassen wie einen gebrauchten Lappen.“

Wollte Eliane Sandrine treffen, dann hatte sie es jetzt geschafft. Angriffe gegen ihre eigene Person prallten ab. Doch Attacken gegen Menschen, an denen ihr etwas lag, konnte sie nicht abwehren.

Sandrine schluckte schwer. Sie würde nicht weinen. Diese Genugtuung würde sie ihrer Mutter nicht geben. Trockenen Auges das Haus verlassen - was anschliessend kam, war egal. Tapfer setzte Sandrine den Koffer neben der Garderobe ab. Sie öffnete wortlos den Schrank, wühlte nach ihrer dicksten Jacke und zog sie über. Erneut hob sie den Koffer an und ging zur Haustür.

Sie verliess das Haus. Ohne einen Blick zurück.

 

Erst als sie im Zug sass, brachen die Tränen aus ihr heraus. Sie konnte sie kaum mehr trocknen. Es schien, als wollten sie nicht mehr versiegen.

Inständig hoffte Sandrine, die Nachricht von ihrer bevorstehenden Ankunft wäre angekommen. Sie würde es nicht verkraften am Bahnhof einzutreffen und festzustellen, dass sie auch hier alleine war.

Ihre Sorge bestätigte sich nicht.

Sandrine traf pünktlich in Weiler ein. Mit feuchtem Gesicht, geröteter Nase und geschwollenen Augen stolperte sie aus dem Zug.

Gregor entdeckte sie, bevor sie ihn sah. Er rief kurz nach ihr und hob bereits die Hand zum Gruss. Aber als er Sandrines Zustand bemerkte, tat er etwas, was der überlegte Gregor noch nie getan hatte. Er rannte ohne nachzudenken los. Beinahe hätte er zwei andere Reisende umgerannt, aber das war nicht wichtig. Er schob sie einfach beiseite und murmelte beiläufig eine Entschuldigung.

Ehe Sandrine begriff, war er bei ihr und zog sie fest in die Arme.

Da wurde auch der letzte Rest an Zurückhaltung weggespült. Sandrine schluchzte auf, dass es Gregor das Herz zerriss.

Eine ganze Weile standen sie so da. Er hielt sie fest und sie weinte, bis sie keine Tränen mehr übrig hatte.

Es bedurfte keiner Worte.

Als das Beben ihres Körpers nachliess, wagte es Gregor, einen Arm von Sandrine zu lösen. Aber nur, um sich ihren Koffer zu nehmen. Sanft schob er sie an. Zusammen gingen sie zu Gregors Motorrad. Wie gewohnt schnallte er ihren Koffer auf den Gepäckträger.

Nur war es dieses Mal für immer.

 

Die Kilometer schienen nicht weniger werden zu wollen. Gregor hatte so sehr das Bedürfnis Sandrine nach Hause zu bringen, dass ihm der Weg dorthin ewig erschien.

Nach Hause. Dorthin, wo sie genauso zu Hause war wie er selbst. Und genauso willkommen.

So war es dann auch. Mit offenen Armen wurden sie empfangen.

Ruth stand unten am Weg bereit, um Sandrine in Empfang zu nehmen. Egal, was geschehen war, egal, gegen welche Regeln der Gesellschaft ihr Sohn und Sandrine verstossen hatten, sie würde es niemals übers Herz bringen einen der beiden zu verstossen.

Und sie würde sich wehren wie ein Stier, wenn es auch nur annähernd jemand wagen sollte, die beiden an den Pranger zu stellen.

Liebe und deren Folgen war kein Verbrechen. Solange das Ehegelöbnis geleistet wurde. So schrieb es die Kirche vor, so sah es die Gesellschaft. Alles andere war Sünde und was Sünde war, war ein Verbrechen.

Aber es gab weit schlimmere Sünden, als die beiden begangen hatten.

Oder etwa nicht?

 

 

Unscheinbar
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