Verzögerungstaktik
In London herrschte mal wieder Dauerregen. Der frühe Abendverkehr stürzte die Stadt ins Chaos, nichts ging mehr. Alan Blunt stand am Fenster und blickte auf die Straße, als es an der Tür klopfte. Er wandte sich nur widerstrebend ab, als ob die Stadt mit ihrem deprimierenden Dauerregen irgendeine geheime Anziehungskraft auf ihn ausübte. MrsJones kam herein. Sie hielt ein Stück Papier in der Hand. Als sich Blunt hinter seinen Schreibtisch setzte, entdeckte er, dass ganz oben auf dem Blatt »Äußerst dringend« stand – rot umrandet.
»Wir haben Nachricht von Alex«, sagte MrsJones.
»Tatsächlich?«
»Smithers hat ihm einen Euro-Satelliten-Sender in einen tragbaren CD-Player eingebaut. Alex hat uns heute Morgen… zehn Uhr siebenundzwanzig nach seiner Zeit, ein Signal gesandt.«
»Und was bedeutet es?«
»Entweder steckt er selbst in der Klemme oder er hat genug herausgefunden, dass wir eingreifen können. Wie auch immer, wir müssen ihn rausholen.«
»Ich überlege…« Blunt lehnte sich in seinem Stuhl zurück und dachte nach. Als junger Mann hatte er an der Cambridge University in Mathematik eine große Auszeichnung erhalten. Noch dreißig Jahre später bestand das Leben für ihn aus einer Reihe komplizierter Berechnungen. »Wie lange ist Alex schon in Point Blanc?«, fragte er.
»Eine Woche.«
»Wenn ich mich recht erinnere, wollte er unter keinen Umständen auf die Akademie. Laut Sir David Friend war sein Benehmen auf Haverstock Hall, also gelinde gesagt, asozial. Wussten Sie, dass er Friends Tochter mit einem Betäubungspfeil außer Gefecht gesetzt hat? Außerdem hat er sie bei einem Vorfall in einem Eisenbahntunnel fast umgebracht.«
»Er hat eine Rolle gespielt«, verteidigte sie den Jungen. »Genau das, was Sie ihm aufgetragen haben.«
»Vielleicht hat er seine Rolle zu gut gespielt«, murmelte Blunt. »Vielleicht ist Alex nicht mehr hundertprozentig zuverlässig.«
»Er hat uns ein Signal geschickt.« MrsJones’ Stimme verriet deutliche Erregung. »Jedenfalls könnte er in ernsthaften Schwierigkeiten stecken. Wir haben ihm das Gerät als Alarmsignal mitgegeben. Damit er uns informiert, wenn er Hilfe benötigt. Und er hat es benutzt. Wir können uns nicht einfach zurücklehnen und Däumchen drehen.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.« Alan Blunt warf ihr einen neugierigen Blick zu.
»Sie hängen doch nicht etwa an Alex Rider, oder?«, erkundigte er sich.
MrsJones mied seinen Blick. »Sie reden Unsinn.«
»Sie scheinen sich Sorgen um ihn zu machen.«
»Alan, er ist erst vierzehn. Er ist doch noch ein Kind, um Himmels willen.«
»Sie haben schon öfter mit Kindern gearbeitet.«
»Ja.« MrsJones blickte ihm fest in die Augen. »Vielleicht macht das einen Unterschied. Aber selbst Sie müssen zugeben, dass er etwas Besonderes ist. Wir haben keinen Agenten, der mit ihm vergleichbar wäre. Ein vierzehnjähriger Junge! Die ideale Geheimwaffe! Meine Empfindungen haben nichts damit zu tun. Wir können es uns nicht leisten, ihn zu verlieren.«
»Ich will nur nicht in Point Blanc einbrechen, ohne Genaueres zu wissen«, sagte Blunt. »Erstens haben wir es hier mit Frankreich zu tun – und Sie wissen, wie die Franzosen sind. Wenn wir auf ihrem Territorium ertappt werden, setzen sie Himmel und Hölle in Bewegung. Zweitens hat Grief Jungen aus den reichsten Familien der Welt in seiner Akademie aufgenommen. Wenn wir mit der SAS-Einheit dort eindringen, könnte das Ganze zu einem größeren internationalen Konflikt ausarten.«
»Sie wollten Beweise dafür, dass die Schule mit dem Tod von Roscoe und Iwanow zu tun hatte«, sagte MrsJones. »Alex kann sie möglicherweise jetzt vorlegen.«
»Vielleicht ja, vielleicht nein. Ein Aufschub von vierundzwanzig Stunden dürfte nicht viel ausmachen.«
»Vierundzwanzig Stunden?«
»Wir stellen eine Einheit in Bereitschaft, die das Ganze unter Kontrolle hat. Wenn Alex in Schwierigkeiten steckt, werden wir es bald herausfinden. Es könnte uns von Nutzen sein, wenn es ihm gelänge, die Dinge ein wenig aufzumischen. Das ist es doch, was wir erreichen wollen: Grief dazu zu zwingen, seine Karten auf den Tisch zu legen.«
»Und was ist, wenn Alex nochmals Kontakt mit uns aufnimmt?«
»Dann greifen wir ein.«
»Vielleicht kommen wir dann zu spät.«
»Für Alex?« Blunt zeigte keinerlei Gemütsregung. »Aber MrsJones, ich bin davon überzeugt, dass Sie sich um ihn keine Sorgen zu machen brauchen. Er kann auf sich selbst aufpassen.«
Das Telefon läutete und Blunt griff nach dem Hörer. Das Gespräch mit MrsJones war beendet. Sie erhob sich und machte sich auf den Weg, um alles zu arrangieren, damit eine SAS-Einheit nach Genf fliegen konnte. Natürlich hatte Blunt Recht. Eine Verzögerungstaktik konnte vielleicht von Vorteil für sie sein. Man musste zuerst die Dinge mit den Franzosen klären und herausfinden, was vor sich ging. Es waren ja nur vierundzwanzig Stunden.
Sie konnte nur hoffen, dass Alex so lange am Leben bleiben würde.
Alex frühstückte heute ganz allein. Zum ersten Mal hatte James Sprintz sich dazu durchgerungen, mit den anderen Jungen zusammenzusitzen. Die sechs Jungen waren plötzlich die besten Freunde. Alex musterte den Jungen, der einst sein Freund gewesen war, nachdenklich und versuchte herauszufinden, was sich an ihm verändert hatte. Aber er kannte ja die Antwort. Es war alles und nichts. James war noch immer derselbe und doch völlig verändert.
Alex beendete sein Frühstück und stand auf. James rief ihm zu: »Alex, warum kommst du heute Morgen nicht zum Unterricht? Wir haben Latein.«
Alex winkte ab. »Latein ist reine Zeitvergeudung.«
»Meinst du das wirklich?«, fragte James mit unverhohlenem Spott in der Stimme. Eine Sekunde lang war Alex verblüfft. Es war ja gar nicht James, der gesprochen hatte. James hatte lediglich die Lippen bewegt. Dr.Grief hatte die Worte gesprochen.
»Viel Spaß«, rief Alex zurück und rannte hinaus.
Es waren fast vierundzwanzig Stunden vergangen, seit er am Discman die Schnellvorlauftaste betätigt hatte. Alex wusste nicht genau, was er erwartete. Eine Schwadron von britischen Helikoptern wäre beruhigend gewesen. Aber er hatte noch nichts von den Leuten von MI6 gehört. Er fragte sich sogar schon, ob das Alarmsignal überhaupt funktioniert hatte. Gleichzeitig war er wütend auf sich selbst. Er hatte gesehen, wie Grief Baxter im Operationssaal erschossen hatte und war in Panik geraten. Er wusste, dass Grief ein Killer war. Er wusste außerdem auch, dass die Akademie viel mehr als ein normales Pensionat war. Aber es fehlten ihm noch einige wichtige Antworten. Was genau tat Dr.-Grief? War er auch für den Tod von Michael J.-Roscoe und Victor Iwanow verantwortlich? Und wenn ja, warum?
Tatsache war, dass er nicht genug wusste. Und bis die Leute von MI6 hier sein würden, war Baxters Leiche sicher längst irgendwo in den Bergen begraben und es gab keine Beweise mehr, dass etwas nicht stimmte. Alex würde wie ein Idiot dastehen. Er konnte sich geradezu lebhaft vorstellen, wie Dr.Grief seine eigene Version der Geschichte vorbringen würde…
»Ja, es gibt hier einen Operationssaal, der schon vor Jahren eingerichtet worden ist. Der zweite und dritte Stock sind unbenutzt. Ja, es gibt auch einen Aufzug, der lange vor unserer Zeit installiert wurde. Wir haben Alex erklärt, was es mit den bewaffneten Wachen auf sich hat. Sie sind hier zu seinem Schutz. Aber wie Sie sich selbst überzeugen können, meine Herren, geschieht hier nichts, was Anlass zur Beunruhigung geben könnte. Den anderen Jungen geht es gut. Baxter? Nein, ich kenne niemanden dieses Namens. Alex hat offensichtlich schlecht geträumt. Ich kann mich nur wundern, dass er hierhergeschickt wurde, um uns auszuspionieren. Und ich würde Sie daher doch sehr bitten, ihn mitzunehmen, wenn Sie gehen…
Alex musste noch mehr herausfinden – und das bedeutete, dass er nochmals in den zweiten Stock gehen musste. Oder vielleicht hinunter. Alex erinnerte sich an die Buchstaben in dem geheimen Lift. R stand für Rez-de-chaussée, also Erdgeschoss. S bedeutete dann wohl Sous-sol, das französische Wort für Untergeschoss.
Er ging zu dem Klassenzimmer, in dem gerade Latein gebüffelt wurde, und warf einen Blick durch die halb offene Tür. Dr.Grief war nicht zu sehen, aber Alex vernahm seine Stimme.
»Felix qui potuit rerum cognoscere causas…«
Alex hörte das Quietschen der Kreide an der Tafel. Sechs Jungen saßen an ihren Tischen und lauschten aufmerksam. James saß zwischen Hugo und Tom und machte sich Notizen. Alex warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Der Unterricht dauerte noch eine Stunde. Und diese Zeit musste er nutzen.
Er ging wieder den Gang hinunter und schlüpfte in die Bibliothek. Als er heute Morgen aufgewacht war, hatte er immer noch einen leichten Rußgeschmack im Mund gehabt. Er wollte unter keinen Umständen nochmals den Kamin hochklettern. Stattdessen ging er zur Rüstung. Er wusste jetzt, dass in der Nische zwei Aufzugstüren verborgen waren, die von innen geöffnet werden konnten. Sicher gab es auch von außen eine Steuerungsmöglichkeit.
Er brauchte nur ein paar Minuten, um die drei Knöpfe zu finden, die in die Brustplatte der Rüstung eingelassen waren. Selbst aus der Nähe wirkten sie wie ein Teil der Rüstung – etwas, was der mittelalterliche Ritter benutzt haben könnte, um die Rüstung zu schließen. Aber als Alex auf den mittleren Knopf drückte, bewegte sich die Rüstung. Einen Augenblick später teilte sie sich und er sah in den offenen Aufzug.
Dieses Mal wählte er den unteren Knopf. Der Aufzug schien einen langen Weg zurückzulegen, als ob das Kellergeschoss des Gebäudes sehr tief unten liegen würde. Endlich glitten die Türen wieder auf. Alex schaute in einen gewölbten Gang mit gefliesten Wänden, die ihn ein wenig an die Londoner U-Bahn erinnerten. Es war kühl hier unten. Der Durchgang wurde von nackten Glühbirnen, die an die Decke geschraubt waren, beleuchtet.
Er beugte sich aus dem Aufzug heraus und zuckte sofort wieder zurück. Am Ende des Gangs saß eine Wache an einem Tisch und las Zeitung. Hatte der Mann gehört, wie sich die Aufzugstüren geöffnet hatten? Alex beugte sich erneut vor. Der Mann war in die Sportseite vertieft und hatte sich nicht gerührt. Alex trat aus dem Lift und ging auf Zehenspitzen den Gang hinunter, aus dem Blickfeld der Wache. Er bog um eine Ecke in einen zweiten Gang, in dem es verschiedene Stahltüren gab. Weit und breit war niemand in Sicht.
Wo befand er sich? Offenbar gab es hier unten etwas, was bewacht werden musste. Alex steuerte die nächste Tür an. Er blickte durch das Guckloch in eine kahle, weiße Zelle mit zwei Pritschen, einer Toilette und einem Waschbecken. In der Zelle hielten sich zwei Jungen auf. Den einen hatte er noch nie zuvor gesehen, aber den anderen kannte er. Es war der rothaarige Junge namens Tom McMorin. Aber den hatte er doch erst vor ein paar Minuten im Lateinunterricht gesehen! Was um Himmels willen tat er jetzt hier?
Alex ging weiter zur nächsten Zelle. Auch hier befanden sich zwei Jungen. Der eine war ein blonder, sportlich aussehender Junge mit blauen Augen und Sommersprossen. Den anderen kannte er. Es war James Sprintz. Alex untersuchte die Tür. Es gab zwei Bolzen, aber soweit er erkennen konnte, keinen Schlüssel. Er schob die Bolzen zurück und drückte die Klinke hinunter. Die Tür öffnete sich und er ging hinein.
James erhob sich, erstaunt, ihn zu sehen. »Alex, was tust du denn hier?«
Alex schloss die Tür hinter sich. »Wir haben nicht viel Zeit«, sagte er. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern, obwohl kaum Gefahr bestand, belauscht zu werden. »Was ist mit dir passiert?«
»Vorgestern Nacht zerrten sie mich aus dem Bett«, sagte er, »und schleppten mich in die Bibliothek. Es gab da eine Art Aufzug…«
»Hinter der Rüstung.«
»Genau. Ich wusste nicht, was sie vorhatten, dachte, sie wollten mich töten. Aber dann schlossen sie mich hier ein.«
»Du bist schon seit zwei Tagen hier?«
»Ja.«
Alex schüttelte den Kopf. »Vor fünfzehn Minuten habe ich dich noch oben beim Frühstück gesehen.«
»Sie haben Doppelgänger von uns gemacht.« Der andere Junge im Raum hatte zum ersten Mal das Wort ergriffen. Er sprach mit einem amerikanischen Akzent. »Von uns allen. Ich weiß nicht, wie oder warum sie es gemacht haben. Doch fest steht, dass sie es getan haben.« Er warf einen wütenden Blick zur Tür. »Ich bin schon seit Monaten hier. Mein Name ist Paul Roscoe.«
»Roscoe? Dein Dad ist…«
»Michael Roscoe.«
Alex schwieg. Er brachte es nicht fertig, dem Jungen zu berichten, was seinem Vater zugestoßen war, und blickte betreten auf seine Fußspitzen, weil er Angst hatte, Paul könnte die Wahrheit in seinen Augen erkennen.
»Wie bist du hierhergekommen?«, erkundigte sich James.
»Hör zu«, sagte Alex. Er sprach jetzt sehr schnell. »Ich wurde von MI6 hierhergeschickt. Ich heiße nicht Alex Friend, sondern Alex Rider. MI6 hat alles im Griff. Sie werden schon bald Leute hierherschicken und euch dann alle befreien.«
»Du bist… ein Spion?« James war völlig verblüfft.
Alex nickte. »Ja, so könnte man es wohl nennen«, erwiderte er.
»Du hast ja die Tür geöffnet, also können wir rausgehen!« Paul Roscoe erhob sich, bereit, das Zimmer zu verlassen.
»Nein!« Alex machte eine abwehrende Geste. »Ihr müsst warten. Es gibt keinen Weg den Berg hinunter. Wartet ab, ich komme zurück und bringe Hilfe. Versprochen! Das ist unsere einzige Chance.«
»Ich kann nicht…«
»Aber du musst. Vertrau mir, Paul. Ich muss euch wieder einschließen, damit niemand weiß, dass ich hier gewesen bin. Aber es wird nicht lange dauern. Ich komme zurück.«
Alex durfte sich nicht länger auf Diskussionen einlassen. Also machte er kehrt und öffnete die Tür.
Vor ihm stand MrsStellenbosch.
Er hatte kaum Zeit zu registrieren, wie sehr er durch ihren Anblick schockiert war. Er versuchte, sich mit einer Hand zu schützen und seinen Körper in Stellung zu bringen, um ihr einen Karatetritt zu versetzen. Aber es war bereits zu spät. Sie ließ ihren Arm wie ein Geschoss vorschnellen und versetzte ihm einen Handkantenschlag mitten ins Gesicht. Alex hatte das Gefühl, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Er spürte alle Knochen. Weißes Licht explodierte hinter seinen Augen und dann verlor er das Bewusstsein.