Der Tunnel

Der Mann, der auf dem goldfarbenen, antiken Stuhl thronte, wandte langsam den Kopf und blickte durch das Fenster auf die schneebedeckten Hügel von Point Blanc. Dr.Hugo Grief war fast sechzig, hatte kurzes graues Haar und ein Gesicht, das fast genauso farblos war, schmale Lippen und selbst seine Zunge war grau. Dazu trug er eine runde Drahtbrille mit dunkelroten Gläsern. Die Wirkung war verblüffend. Die ganze Welt schien für ihn in Blut getaucht zu sein.

Er hatte lange, schmale Finger mit sorgfältig gefeilten Nägeln und trug einen dunklen Anzug, der bis zum Hals zugeknöpft war. Wenn es tatsächlich Vampire gab, dann sahen sie sicher so aus wie Dr.Hugo Grief.

»Ich habe beschlossen, die letzte Phase des Gemini-Projekts einzuleiten«, sagte er. Er sprach mit einem südafrikanischen Akzent, wobei er erst jedes Wort kaute, bevor er es aussprach. »Es darf keine weitere Verzögerung mehr geben.«

»Ich verstehe, Dr.Grief.«

Dem Doktor gegenüber saß eine Frau in einem eng sitzenden Lycra-Anzug mit einem Schweißband um die Stirn. Das war Eva Stellenbosch. Sie hatte gerade ihr morgendliches Work-out beendet – zwei Stunden Gewichtheben und Aerobicübungen – und war noch immer ganz außer Atem. Dabei ließ sie ihre beachtlichen Muskeln spielen. MrsStellenboschs Gesicht war ungewöhnlich. Sie hatte extrem aufgeworfene Lippen und kupferrote Haarbüschel hingen ihr in die hohe Stirn. Sie hielt ein Glas in der Hand, das eine milchig grüne Flüssigkeit enthielt. Ihre Stummelfinger hatten Mühe, es zu halten.

Sie nippte an dem Glas und runzelte die Stirn. »Sind Sie sicher, dass wir schon so weit sind?«, fragte sie.

»Wir haben keine Wahl. In den letzten beiden Monaten mussten wir zwei unbefriedigende Ergebnisse hinnehmen. Erst Iwanow, dann Roscoe in New York. Ganz abgesehen von den Kosten für die Liquidierungen ist es möglich, dass jemand die beiden Todesfälle miteinander in Zusammenhang gebracht hat.«

»Möglich, aber unwahrscheinlich«, erwiderte MrsStellenbosch.

»Die Geheimdienste sind träge und ineffizient, das stimmt. Die CIA in Amerika, der MI6 in England, sogar der KGB! Mit denen ist doch nichts mehr los. Aber trotzdem besteht die Möglichkeit, dass einer von ihnen zufällig auf etwas gestoßen ist. Je schneller wir diese Phase der Operation beenden, desto größere Chancen haben wir… unentdeckt zu bleiben.« Dr.Grief legte die Fingerspitzen zusammen und stützte das Kinn darauf. »Wann trifft der letzte Junge ein?«

»Alex?« MrsStellenbosch leerte ihr Glas und stellte es auf den Tisch. Dann öffnete sie ihre Handtasche, holte ein Taschentuch heraus und betupfte damit ihre Lippen. »Morgen reise ich nach England«, sagte sie.

»Ausgezeichnet. Und auf dem Weg hierher nehmen Sie den Jungen mit nach Paris?«

»Natürlich, Doktor. Wenn Sie es wollen.«

»Das will ich sogar sehr, MrsStellenbosch. Wir können dort die ganzen Vorarbeiten erledigen. Das spart Zeit. Und was ist mit dem Sprintz-Jungen?«

»Ich fürchte, wir brauchen noch ein paar Tage.«

»Das bedeutet, dass er und Alex zur gleichen Zeit hier sein werden.«

»Genau.«

Dr.Grief überlegte. Er musste das Risiko, dass die beiden Jungen aufeinandertrafen, gegen die Gefahr abwägen, zu schnell zu handeln. Zum Glück besaß er den Verstand eines Wissenschaftlers. Seine Rechnungen waren noch immer aufgegangen. »Sehr gut«, sagte er. »Der Sprintz-Junge kann noch ein paar Tage bei uns bleiben.«

MrsStellenbosch nickte.

»Alex Friend ist ein guter Fang«, bemerkte Dr.Grief.

»Supermärkte?« Die Frau klang nicht sehr überzeugt.

»Sein Vater steht in enger Verbindung zum Premierminister. Er ist ein beeindruckender Mann. Ich bin davon überzeugt, dass sein Sohn all unsere Erwartungen erfüllen wird.« Dr.Grief lächelte. Dabei glühten seine Augen wie Kohlen. »Sehr bald schon werden wir Alex hier an unserer Schule haben. Und dann endlich ist das Gemini-Projekt abgeschlossen.«

Du sitzt nicht richtig«, nörgelte Fiona. »Dein Rücken ist nicht gerade. Deine Hände sollten weiter unten sein und deine Füße zeigen in die falsche Richtung.«

»Was spielt das für eine Rolle, Hauptsache, du hast deinen Spaß«, bemerkte Alex mit zusammengebissenen Zähnen.

Es war jetzt sein vierter Tag in Haverstock Hall und Fiona hatte ihn zu einem Ausritt mitgenommen. Alex fand’s grässlich. Vor dem Ausritt hatte er Fionas unvermeidliche Belehrungen über sich ergehen lassen müssen – allerdings hatte er kaum zugehört. Die Pferde stammten aus Spanien oder Ungarn und hatten jede Menge Goldmedaillen gewonnen. Alex war das egal. Er wusste nur, dass sein Pferd groß und schwarz war und von Fliegen umschwirrt wurde. Und dass er wie ein Sack Kartoffeln daraufsaß. Sie hatten den Vorfall im Wald kaum erwähnt. Als Alex zum Haus zurückgehinkt kam, durchnässt und fröstelnd, hatte ihm Fiona sogar ein Handtuch geholt und ihm eine Tasse Tee angeboten.

»Ihr habt versucht, mich abzuknallen«, sagte Alex.

»Red keinen Quatsch!« Fionas Blick verriet zu Alex’ Überraschung so etwas wie Mitleid. »Das würden wir nie tun. Rufus ist ein sehr netter Kerl.«

»Was…«

»Es war nur ein Spiel, ein bisschen Spaß.«

Und damit war das Thema abgehakt. Fiona hatte gelächelt, als ob damit alles geklärt worden sei. Dann war sie schwimmen gegangen. Alex hatte sich den restlichen Abend mit den Akten beschäftigt. Er versuchte, sich seine falsche Geschichte, die sich über vierzehn Jahre erstreckte, einzuprägen. Es gab Onkel und Tanten, Freunde in Eton, eine ganze Menge Leute, die ihm vertraut sein mussten, ohne dass er sie je kennengelernt hatte. Und er musste versuchen, sich an seinen luxuriösen Lebensstil zu gewöhnen. Deswegen war er hier, ritt mit Fiona aus – sie kerzengerade in ihrer Reituniform und er holperig hinterher.

Nachdem sie ungefähr eine Stunde geritten waren, kamen sie zu dem Tunnel. Fiona hatte versucht, Alex etwas Reittechnik beizubringen – zum Beispiel den Unterschied zwischen Schritt, Trab und Galopp. Eines stand für ihn jedenfalls schon fest: Reiten ödete ihn an. Er spürte sämtliche Knochen und sein Hintern war inzwischen so wund, dass er glaubte, nie mehr sitzen zu können. Fiona genoss seine Qualen. Wahrscheinlich hatte sie sogar einen besonders holprigen Weg ausgesucht, damit er besonders kräftig durchgeschüttelt wurde. Oder vielleicht war es einfach ein besonders nervöses Pferd.

Vor ihnen lag jetzt eine eingleisige Eisenbahnstrecke mit einem automatisch betriebenen beschrankten Bahnübergang mit Glocke und einer Ampel, die die Autofahrer vor näher kommenden Zügen warnten. Fiona lenkte ihr Pferd – einen kleineren Grauen – darauf zu. Alex’ Pferd folgte automatisch. Er vermutete, dass sie den Bahnübergang überqueren würden, aber als sie vor der Schranke angelangt waren, brachte Fiona ihr Pferd zum Stehen.

»Es gibt eine Abkürzung, die wir nehmen können, wenn du nach Hause willst«, bot sie an.

»Das wäre prima«, erwiderte Alex.

»Sie führt hier lang.« Fiona deutete die Bahnlinie entlang zum Tunnel, ein klaffendes, schwarzes, in den Berg eingelassenes Loch, eingefasst von dunkelrotem Ziegelstein.

Alex warf ihr einen Blick zu, um zu prüfen, ob sie es ernst meinte. Das Mädchen schien fest entschlossen zu sein. Sein Blick kehrte zu dem Tunnel zurück. Er wirkte wie ein Gewehrlauf, der auf ihn gerichtet war und ihn warnte wegzubleiben. Er konnte sich fast den Riesenfinger am Abzug vorstellen, irgendwo hinter dem Hügel. Wie lang er wohl war? Als Alex näher hinblickte, entdeckte er am anderen Ende einen Lichtpunkt – ungefähr einen Kilometer entfernt.

»Das kann doch nicht dein Ernst sein«, sagte er.

»Ehrlich, Alex, ich scherze nie! Wenn ich etwas sage, meine ich es auch. Da bin ich genau wie mein Vater.«

»Dein Vater hat aber alle Tassen im Schrank«, murmelte Alex.

Fiona tat so, als höre sie ihn nicht. »Der Tunnel ist genau einen Kilometer lang«, erklärte sie. »Auf der anderen Seite gibt es eine Brücke, und dann wieder einen Bahnübergang. Wenn wir da entlangreiten, können wir in dreißig Minuten zu Hause sein. Wenn wir den gleichen Weg zurück nehmen, brauchen wir eine Stunde.«

»Dann reiten wir auf dem gleichen Weg zurück.«

»Oh Alex, du bist ein richtiger Angsthase!«, zischte Fiona ihm zu. »Auf dieser Linie fährt stündlich nur ein Zug und der nächste kommt in…« – sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr – »zwanzig Minuten. Ich bin schon hundertmal durch den Tunnel geritten, man braucht nur fünf Minuten. Wenn du im Galopp reitest noch weniger.«

»Aber es ist trotzdem Wahnsinn, auf den Schienen zu reiten.«

»Nun, wenn du umkehrst, musst du allein heimreiten.« Sie gab ihrem Pferd die Sporen. Es preschte vor, überquerte den Bahnübergang und ritt auf dem Gleis weiter. »Bis später.«

Aber Alex ritt hinter ihr her. Alleine hätte er nie zum Haus zurückgefunden. Er kannte den Weg nicht und konnte das Pferd kaum im Zaum halten. Sogar jetzt folgte es Fiona, ohne dass er es gelenkt hätte. Würden die beiden Pferde wirklich durch den dunklen Tunnel reiten? Es schien unglaublich, aber das Pferd tauchte auch tatsächlich, ohne zu zögern, in das dunkle Loch ein.

Alex wurde ziemlich unheimlich zumute, als es schlagartig dunkel hinter ihm wurde. Im Tunnel war es kalt und feucht. Es roch nach Ruß und Diesel. Die Hufe der Pferde klapperten, als sie zwischen den Schwellen den Schotter berührten. Was, wenn sein Pferd plötzlich stolperte? Alex verdrängte den Gedanken. Die Ledersättel knarzten. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Von hinten drang noch ein wenig Sonnenlicht in den Tunnel. Noch beruhigender war, dass der Weg hinaus direkt vor ihnen lag. Mit jedem Schritt wurde die Helligkeit stärker. Er versuchte, sich zu entspannen. Vielleicht war das Ganze doch nicht so übel.

Und dann fing Fiona an zu reden. Sie ritt jetzt im Schritt, sodass Alex sie einholen konnte. »Alex, machst du dir immer noch Sorgen wegen des Zugs?«, fragte sie. »Vielleicht möchtest du schneller reiten…«

Er hörte, wie die Reitgerte durch die Luft zischte und spürte, wie sein Pferd zuckte, als Fiona die Gerte auf seine Kruppe niedersausen ließ. Das Pferd wieherte und machte einen Satz nach vorn. Alex wurde zurückgerissen und wäre fast aus dem Sattel gefallen. Es gelang ihm mit Mühe, seine Beine an das Pferd zu pressen, aber sein Oberkörper war völlig verdreht und die Zügel rissen am Maul des Pferdes. Fiona lachte. Es war jetzt so finster, dass Alex nur noch den beißenden Wind und das Klappern der Pferdehufe wahrnahm. Staub brannte in seinen Augen und versperrte ihm die Sicht. Am meisten Angst hatte er, vom Pferd zu fallen.

Aber dann waren sie, wie durch ein Wunder, draußen im Licht. Alex kämpfte ums Gleichgewicht. Es gelang ihm wieder, nach den Zügeln zu greifen und die Knie fest in die Flanken des Pferdes zu drücken. Er holte tief Luft, fluchte kräftig und wartete auf Fiona.

Sein Pferd stand jetzt auf der Brücke, von der Fiona gesprochen hatte. Auf dicken Eisenpfeilern überspannte sie einen Fluss. Es hatte einen Monat lang stark geregnet und ungefähr fünfzehn Meter unter ihm strömte das Wasser vorbei, bedrohlich tief und dunkel. Behutsam wendete er das Pferd und blickte zurück zum Tunnel. Wenn er hier die Kontrolle über das Pferd verlor, konnte er leicht über den Rand der Brücke fallen, der auf beiden Seiten nur knapp einen Meter hoch war.

Er hörte, wie Fiona sich näherte. Sie war ihm hinterhergaloppiert, hatte sich vermutlich den ganzen Weg halb totgelacht. Er blickte in den Tunnel – und in diesem Augenblick galoppierte der Graue heraus, raste an ihm vorbei und verschwand hinter dem Bahnübergang auf der anderen Seite der Brücke.

Nur: Fiona saß nicht auf dem Pferd.

Das Pferd war alleine herausgekommen.

Alex brauchte ein paar Sekunden, um zu kapieren. In seinem Kopf drehte sich alles. Sie war vermutlich vom Pferd gefallen. Vielleicht war das Tier gestolpert und sie lag im Tunnel, auf den Schienen. Wann kam der nächste Zug? Zwanzig Minuten, hatte sie gesagt – vor mindestens fünf Minuten und vielleicht hatte sie übertrieben. Was sollte er tun? Er hatte nur drei Möglichkeiten:

Zu Fuß in den Tunnel zurückzukehren.

Zu Pferd in den Tunnel zurückzukehren.

Nach Hause zu reiten und sie zu vergessen.

Nein, er hatte nur zwei Möglichkeiten, und das wusste er. Er fluchte, dann griff er nach den Zügeln. Irgendwie würde er das Pferd dazu bringen, ihm zu gehorchen. Er musste Fiona rausholen, und zwar schnell.

Vielleicht übertrug sich seine Verzweiflung auf das Gehirn des Pferdes. Das Tier wirbelte herum und versuchte zu bocken. Aber als ihm Alex die Sporen gab, stolperte es vorwärts und ging widerstrebend in den dunklen Tunnel zurück. Alex gab ihm erneut die Sporen. Er wollte ihm nicht wehtun, aber er wusste nicht, wie er es sonst dazu bringen konnte, ihm zu gehorchen.

Das Pferd trabte weiter. Alex blickte sich um. »Fiona!«, rief er laut. Aber kein Laut war zu hören. Er hatte gehofft, sie würde ihm entgegenkommen, aber er hörte keine Schritte. Wenn es nur heller gewesen wäre!

Das Pferd blieb stehen. Und da lag sie vor ihm, direkt auf den Schienen. Wenn jetzt ein Zug kam, würde sie in Stücke gerissen werden. Es war zu dunkel, um ihr Gesicht zu erkennen, aber als sie zu reden anfing, hörte er den Schmerz in ihrer Stimme.

»Alex«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe mir den Knöchel gebrochen.«

»Was ist passiert?«

»Da war ein großes Spinnennetz oder etwas ähnliches. Ich habe versucht, dicht hinter dir herzureiten. Es war plötzlich in meinem Gesicht und ich verlor das Gleichgewicht.«

Sie hatte versucht, ihn einzuholen. Sie klang, als mache sie ihm einen Vorwurf – dabei hatte sie wohl vergessen, dass schließlich sie seinem Pferd eins mit der Reitgerte übergezogen hatte.

»Kannst du aufstehen?«, fragte Alex.

»Ich glaube nicht.«

Alex seufzte. Er hielt die Zügel fest und stieg vom Pferd. Fiona hätte keinen besseren Zeitpunkt wählen können. Sie war mitten im Tunnel vom Pferd gefallen. Er zwang sich, nicht in Panik zu geraten. Ihren Berechnungen zufolge kam der nächste Zug in ungefähr zehn Minuten. Er griff hinunter, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sein Fuß berührte das Gleis… und plötzlich spürte er, dass die Schienen vibrierten.

Der Zug näherte sich!

»Du musst aufstehen«, sagte er und versuchte, nicht ängstlich zu klingen. In seiner Vorstellung sah er den Zug bereits auf sie zudonnern. Wenn er in den Tunnel einfuhr, würden sie von einem fünfhundert Tonnen schweren Torpedo zermalmt werden. Er hörte das Knirschen der Räder, das Donnern der Lokomotive. Blut und Dunkelheit. Ein grauenvoller Tod.

Aber er hatte noch Zeit. »Kannst du deine Zehen bewegen?«, fragte er.

»Ich glaube schon.« Fiona klammerte sich an ihn.

»Dann ist dein Knöchel vermutlich verstaucht, aber nicht gebrochen. Los, komm.«

Er zog sie hoch und überlegte, ob es möglich sein würde, im Tunnel am Rand der Schienen zu bleiben. Wenn sie sich an die Mauer pressten, würde der Zug an ihnen vorbeifahren. Aber Alex wusste, dass nicht genug Platz war. Und selbst wenn der Zug sie verfehlen würde, würde er das Pferd erwischen. Und was war, wenn er entgleiste? Dutzende von Menschen konnten getötet werden.

»Was für ein Zug fährt hier vorbei?«, fragte er. »Ist es ein Passagierzug?«

»Ja«, wimmerte Fiona mit Tränen in den Augen. »Es ist der Hochgeschwindigkeitszug nach Glasgow.«

Alex seufzte. Und wie üblich Pech für ihn: Der Zug war pünktlich.

Fiona erstarrte. »Was ist das?«, wollte sie wissen.

Sie hatte das Bimmeln einer Glocke gehört. Was war das? Natürlich – der Bahnübergang. Der Zug näherte sich und die Schranke ging gerade herunter.

Und dann hörte Alex noch ein Geräusch, das ihm für einen Augenblick den Atem verschlug. Er war wie gelähmt, als ob in seinem Kopf etwas explodiert wäre.

Er hörte den schrillen Pfeifton eines Zuges. Er war noch einen Kilometer oder mehr entfernt, aber in dem Tunnel ging Alex der Ton durch und durch. Und jetzt hörte er schon das schnaubende Donnern der Lokomotive, die auf sie zuraste. Unter seinen Füßen vibrierten die Schienen immer stärker.

Alex schnappte nach Luft und riss sich zusammen. »Steig aufs Pferd«, rief er. »Ich helfe dir.«

Alex achtete nicht darauf, ob er Fiona Schmerzen verursachte, sondern zwang sie aufzusteigen. Das Geräusch wurde immer lauter. Die Schienen vibrierten jetzt wie eine riesige Stimmgabel. Sogar die Luft im Tunnel schien sich zu bewegen, drehte nach links und nach rechts, als versuchte sie hinauszukommen.

Fiona schrie und Alex ließ sie auf den Sattel gleiten. Das Pferd wieherte und trat zur Seite. Einen Moment lang befürchtete Alex, sie würde ohne ihn losreiten. Im schwachen Licht erkannte er die Umrisse von Pferd und Reiterin. Er sah, wie Fiona nach den Zügeln griff und das Pferd wieder im Zaum hatte. Alex klammerte sich an die Mähne und schwang sich vor Fiona in den Sattel. Das Getöse des herannahenden Zugs wurde immer lauter. Zement bröckelte von den Wänden. Der Luftstrom wurde immer stärker, die Schienen bebten. Einen Augenblick lang waren Fiona und Alex ineinander verkeilt, aber dann griff er nach den Zügeln und sie schlang die Arme um seine Brust.

»Los«, brüllte er und gab dem Pferd die Sporen.

Das Pferd brauchte die Anfeuerung gar nicht. Es galoppierte dem Licht entgegen, die Schienen entlang, sodass Alex und Fiona hin und her gerüttelt wurden.

Alex wagte es nicht zurückzublicken, aber er spürte, wie der Zug zum Eingang des Tunnels gelangte und mit einer Geschwindigkeit von hundertfünfzig km/h hineindonnerte. Eine Schockwelle schlug auf sie ein. Der Zug verdrängte die Luft und füllte den Raum mit hartem Stahl. Das Pferd erkannte die Gefahr und galoppierte schnell wie der Wind über die Schwellen. Vor ihnen war schon die Tunnelöffnung, aber Alex befürchtete, dass sie es trotzdem nicht schaffen würden. Und selbst wenn sie aus dem Tunnel herauskämen, würden sie zwischen den Brückengeländern gefangen sein. Der zweite Bahnübergang war noch hundert Meter weiter. Sie schafften es vielleicht aus dem Tunnel heraus, dann würden sie draußen zermalmt werden.

Das Pferd galoppierte ins Freie. Endlich Licht! Fiona schrie und klammerte sich so fest an ihn, dass Alex kaum atmen konnte. Er konnte sie nicht verstehen. Das Dröhnen des Zuges war direkt hinter ihm. Als das Pferd über die Brücke hetzte, warf er einen Blick zurück. Er sah, wie das riesige Metallungeheuer aus dem Tunnel donnerte, sich hinter ihnen auftürmte, seine Wagen in leuchtendem Rot bemalt. Der Lokführer starrte entsetzt durchs Fenster. Es ertönte ein zweiter Pfeifton, durchdringend. Alex wusste, was er tun musste. Er zerrte an einem Zügel und gab gleichzeitig auf der anderen Seite die Sporen. Er hoffte, das Pferd würde verstehen, was er wollte.

Und irgendwie funktionierte es. Das Pferd wirbelte herum. Es stand jetzt frontal vor dem Geländer. Ein letztes ohrenbetäubendes Pfeifen ertönte. Der Dieselgestank war unerträglich.

Das Pferd sprang.

Der Zug brauste vorbei, verfehlte sie um ein Haar. Aber jetzt waren sie im freien Fall neben der Brücke. Die Waggons donnerten immer noch vorbei, ein roter Fleck. Fiona schrie wieder gellend. Als sie fielen, schien sich alles in Zeitlupe abzuspielen. Einen Moment lang waren sie noch neben der Brücke, im nächsten schon darunter, fielen und fielen… und unter ihnen der grüne Fluss.

Pferd und Reiter flogen durch die Luft und landeten klatschend im Fluss. Alex fand gerade noch Zeit, Luft zu holen. Er hatte Angst, das Wasser könnte nicht tief genug sein und sie würden sich alle Knochen brechen. Aber dann tauchten sie unter in das eiskalte Wasser. Fiona wurde von Alex weggerissen. Das Pferd befreite sich selbst. Blasen stiegen aus Alex’ Mund auf und er merkte, wie er lautlos schrie.

Schließlich gelangte er wieder an die Oberfläche. Das Wasser strömte an ihm vorbei und mühsam schwamm er auf das nächste Ufer zu.

Der Lokführer hatte den Zug nicht angehalten. Vielleicht war er zu schockiert gewesen. Vielleicht wollte er so tun, als sei nichts geschehen. Der Zug war längst verschwunden.

Alex war jetzt am Ufer angelangt und kämpfte sich zitternd aufs Gras. Er hörte hinter sich ein Platschen und Keuchen. Es war Fiona. Sie hatte ihre Reitkappe verloren und ihr langes schwarzes Haar hing ihr ins Gesicht. Alex sah, dass es auch dem Pferd gelungen war, an Land zu schwimmen. Es schüttelte sich und schien unverletzt zu sein. Alex war froh darüber. Schließlich hatte das Pferd ihr Leben gerettet.

Alex stand auf. Seine Kleidung triefte und sein Körper war wie taub. Er überlegte, ob das kalte Wasser oder der Schock schuld daran waren. Er ging auf Fiona zu und half ihr hoch.

»Bist du in Ordnung?«, fragte er sie.

»Ja.« Sie warf ihm einen seltsamen Blick zu. Sie zitterte und er streckte die Hand aus, um sie zu beruhigen. »Danke«, sagte sie.

»Ist schon in Ordnung.«

»Nein.« Sie hielt seine Hand fest. Ihre Hemdbluse hatte sich geöffnet. Sie warf den Kopf zurück und strich sich das Haar aus den Augen. »Was du da getan hast… war fantastisch. Alex, es tut mir leid, ich war die ganze Woche so ekelhaft zu dir. Ich hielt dich für einen Schmarotzer. Aber ich habe mich wohl in dir getäuscht. Du bist toll. Und ich weiß, dass wir jetzt Freunde werden.« Sie schloss halb die Augen, ging auf ihn zu, die Lippen leicht geöffnet. »Wenn du magst, kannst du mich küssen.«

Alex ließ sie los und wandte sich ab. »Danke, Fiona«, sagte er. »Aber ehrlich gesagt würde ich lieber das Pferd küssen.«