Eine Routineuntersuchung

Wenigstens hatten sie es nicht weit, ihn zu schnappen.

Zwei Männer holten Alex vom Kran herunter, einer über ihm auf der Leiter, der andere unter ihm. Die Polizei wartete unten. Von den fassungslosen Bauarbeitern beobachtet, wurde Alex von der Baustelle zu dem nahe gelegenen Polizeirevier gebracht. Als er am Konferenzzentrum vorbeikam, sah er, wie die Menschen in Scharen herausströmten. Vor dem Gebäude waren Krankenwagen vorgefahren. Eine schwarze Limousine brauste gerade mit dem Innenminister davon. Alex machte sich allmählich ernsthaft Sorgen und fragte sich, ob irgendjemand getötet worden war. So hatte er sich das Ende seiner Aktion nicht vorgestellt.

Auf dem Polizeirevier ging alles drunter und drüber: Türen wurden aufgerissen und zugeschlagen, Alex sah nur ausdruckslose Beamtengesichter, weiß getünchte Wände, Formulare und Telefone. Er wurde nach seinem Namen gefragt, seinem Alter, seiner Adresse. Er sah, wie ein Polizeisergeant die Einzelheiten in einen Computer eingab. Aber was dann passierte, verblüffte ihn völlig. Der Sergeant drückte auf ENTER und erstarrte. Dann wandte er sich um, blickte Alex ins Gesicht und erhob sich hastig. Als Alex das Polizeirevier betreten hatte, waren alle Augen auf ihn gerichtet gewesen, doch plötzlich mieden sie alle seinen Blick. Ein Vorgesetzter des Sergeants erschien und es gab einen lautstarken Wortwechsel. Dann wurde Alex einen Gang entlanggeführt und in eine Zelle gesteckt.

Eine halbe Stunde später erschien eine Polizeibeamtin und brachte ihm ein Tablett mit Essen. »Abendessen«, verkündete sie.

»Was ist los?«, fragte Alex. Die Frau lächelte unsicher, sagte jedoch nichts. »Ich hab mein Fahrrad an der Brücke gelassen«, bemerkte Alex.

»Keine Sorge, wir haben es in Sicherheit gebracht.« Dann ging sie eilig wieder hinaus.

Alex begann zu essen: Würstchen, Brot, ein Stück Kuchen. In der Zelle stand ein Bett und hinter einer Trennwand waren auch ein Waschbecken und eine Toilette. Er fragte sich, ob irgendjemand kommen und mit ihm reden würde, doch niemand kam. Schließlich schlief er ein.

Als er wieder aufwachte, war es sieben Uhr morgens. Die Tür stand offen und ein Mann, den er nur allzu gut kannte, stand in der Zelle und sah auf ihn herab.

»Guten Morgen, Alex«, sagte er.

»MrCrawley.«

John Crawley sah aus wie ein kleiner Bankbeamter. Als Alex ihn kennengelernt hatte, hatte Crawley tatsächlich so getan, als arbeite er für eine Bank. Der billige Anzug und die gestreifte Krawatte hätten aus der Kollektion »Langweiliger Geschäftsmann» stammen können. Tatsächlich arbeitete Crawley aber für MI6. Alex fragte sich immer, ob seine Kleidung nach seinem Geschmack oder vielmehr eine Art Tarnung war.

»Du kannst jetzt mit mir kommen«, sagte Crawley. »Wir gehen.«

»Bringen Sie mich nach Hause?« Alex fragte sich, ob man schon irgendjemanden über seinen Aufenthaltsort informiert hatte.

»Nein. Noch nicht.«

Alex folgte Crawley. Keine Polizeibeamten waren zu sehen. Draußen wartete ein Wagen mit einem Chauffeur. Crawley stieg mit Alex hinten ein.

»Wohin fahren wir denn?«, wollte Alex wissen.

»Das wirst du schon sehen.« Crawley schlug eine Ausgabe des Daily Telegraph auf, begann zu lesen und hüllte sich in Schweigen.

Sie fuhren in östlicher Richtung durch die Stadt zur Liverpool Street. Alex wusste sofort, wo er hingebracht wurde, und tatsächlich bog der Wagen in die Einfahrt eines siebzehnstöckigen Gebäudes in der Nähe des Bahnhofs ein und fuhr eine Rampe hinunter in eine Tiefgarage. Alex war schon einmal hier gewesen. Das Gebäude war angeblich die Zentrale der Royal & General Bank. In Wirklichkeit jedoch war dies hier der Stützpunkt der Abteilung für Spezialoperationen beim britischen Geheimdienst, MI6.

Der Wagen hielt an. Crawley faltete die Zeitung zusammen und stieg aus, Alex vor sich herschiebend. Mit dem Aufzug fuhren die beiden zur 16.Etage hoch.

»Hier lang.« Crawley deutete auf eine Tür, auf der 1605 stand. »Der Gunpowder Plot…«, dachte Alex. Plötzlich fielen ihm die Hausaufgaben für Geschichte ein, die er gestern eigentlich hätte machen sollen. 1605 – das Jahr, in dem Guy Fawkes versucht hatte, das Parlament in die Luft zu sprengen. Nun, es sah so aus, als müssten die Hausaufgaben noch etwas warten.

Alex öffnete die Tür und ging hinein. Doch Crawley folgte ihm nicht. Als Alex sich umdrehte, war er schon wieder weg.

»Schließ die Tür, Alex, und komm näher.«

Wieder einmal stand Alex dem verkniffenen, todernsten Mann gegenüber, der die Abteilung für Spezialoperationen beim britischen Geheimdienst, MI6, leitete. Grauer Anzug, graues Gesicht, graues Leben… Alan Blunt lebte in einer völlig farblosen Welt. Er saß in einem großen Büro, das zu jedem x-beliebigen Unternehmen gepasst hätte. In diesem Raum gab es nichts Persönliches, nicht einmal ein Foto auf dem Schreibtisch. Selbst die Tauben, die draußen auf der Fensterbank gelangweilt pickten, waren grau.

Blunt war nicht allein. Bei ihm war MrsJones, seine dienstälteste Beamtin. Sie saß auf einem Lederstuhl, trug eine braune Jacke und ein Kleid in derselben Farbe und lutschte – wie gewöhnlich – ein Pfefferminzbonbon. Mit ihren schwarzen Knopfaugen sah sie zu Alex hoch. Sie schien sich über Alex’ Anblick mehr zu freuen als ihr Chef. Sie hatte auch als Erste das Wort ergriffen. Blunt hatte Alex kaum registriert.

Doch dann musterte er Alex plötzlich durchdringend. »Ich hatte nicht damit gerechnet, dich so bald schon wiederzusehen«, sagte er.

»Das Gleiche wollte ich auch gerade sagen«, erwiderte Alex und setzte sich auf den einzigen freien Stuhl, der sich in dem Büro befand.

Blunt griff nach einem Blatt Papier auf seinem Schreibtisch und studierte es kurz. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, fragte er. »Die Geschichte mit dem Kran? Du hast einen Mordsschaden angerichtet, ein Konferenzzentrum im Wert von zwei Millionen Pfund praktisch zerstört. Ein Wunder, dass niemand dabei getötet wurde.«

»Die beiden Männer im Boot werden monatelang im Krankenhaus bleiben müssen«, fügte MrsJones hinzu.

»Du hättest den Innenminister töten können!«, fuhr Blunt fort. »Das hätte das Fass zum Überlaufen gebracht. Was zum Henker hast du dir dabei gedacht?«

»Sie waren Drogenhändler«, wandte Alex ein.

»Das haben wir auch herausgefunden. Aber besser wäre es gewesen, die 999 zu wählen.«

»Ich konnte kein Telefon finden«, seufzte Alex. »Sie haben den Motor des Krans abgestellt«, erklärte er. »Ich war nämlich gerade damit beschäftigt, das Boot auf den Polizeiparkplatz herunterzulassen.«

Blunt blinzelte und schien das Ganze mit einer Handbewegung abzutun. »Zum Glück zeigte der Polizeicomputer deinen Sonderstatus an«, sagte er. »Sie haben uns angerufen – und wir haben alles Übrige in die Hand genommen.«

»Ich wusste nicht, dass ich einen Sonderstatus habe.«

»Oh doch, Alex. Und was für einen!« Blunt starrte ihn einen Moment lang an. »Deswegen bist du hier.«

»Sie werden mich also nicht nach Hause schicken?«

»Nein, Alex. Tatsache ist, dass wir sowieso mit dir Kontakt aufnehmen wollten. Wir brauchen dich mal wieder.«

»Du bist wahrscheinlich die einzige Person, die ausführen kann, was wir vorhaben«, fügte MrsJones hinzu.

»Moment mal!« Alex schüttelte den Kopf. »Ich hinke sowieso schon in der Schule hinterher. Angenommen, ich bin nicht interessiert.«

MrsJones seufzte. »Wir könnten dich natürlich wieder der Polizei übergeben«, sagte sie. »Die würde dich liebend gerne verhören.«

»Und wie geht es Miss Starbright?«, fragte Blunt.

Jack Starbright – Alex war sich nicht sicher, ob der Name eine Abkürzung von Jackie oder Jacqueline war – war die Haushälterin, die Alex versorgte, seit sein Onkel gestorben war. Sie war ein kluges, rothaariges, amerikanisches Mädchen, das nach London gekommen war, um Jura zu studieren, und dann einfach dort geblieben war. Alex wusste, dass Blunt sich nicht die Bohne für sie interessierte. Bei ihrem letzten Treffen hatte er seinen Standpunkt klipp und klar dargelegt: Solange Alex seinen Anweisungen folgte, konnte er weiterhin mit Jack im Haus seines Onkels leben. Tanzte er aus der Reihe, würde sie nach Amerika zurückgeschickt und Alex in ein Heim gesteckt werden.

Das war natürlich glatte Erpressung.

»Es geht ihr gut«, knurrte Alex wütend.

Jetzt ergriff MrsJones die Initiative. »Nun komm schon, Alex«, sagte sie. »Warum tust du so, als seist du immer noch ein normaler Schuljunge?«

Sie versuchte, freundlich zu klingen, eher wie eine Mutter. Auch Schlangen haben Mütter, dachte Alex.

»Du hast dich schon einmal bewährt«, fuhr sie fort. »Wir geben dir die Chance, es noch einmal zu tun.«

»Es wird wahrscheinlich nichts dabei herauskommen«, fuhr Blunt fort. »Es ist nur etwas, was überprüft werden muss. Das, was wir gewöhnlich eine Routineuntersuchung nennen.«

»Warum kann Crawley das nicht machen?«

»Wir brauchen einen Jungen.«

Alex sagte kein Wort mehr. Er ließ den Blick zwischen MrsJones und Blunt hin und her wandern. Er wusste, dass keiner von beiden auch nur eine Sekunde zögern würde, ihn von der Brookland-Schule zu nehmen und in die trostloseste Schule, die sie finden konnten, zu stecken. Und hatte er sich nicht gerade am Tag zuvor gewünscht, ein neues Abenteuer zu erleben? Eine weitere Chance, die Welt zu retten?

»Okay«, sagte er. »Worum geht es diesmal?«

Blunt nickte MrsJones zu, die ein Bonbon auswickelte und zu sprechen anfing.

»Weißt du zufällig etwas über einen Mann namens Michael J.Roscoe?«, fragte sie.

Alex überlegte einen Moment. »Roscoe war der Geschäftsmann, der in New York einen Unfall hatte.« Er hatte die Nachricht im Fernsehen gesehen. »Ist er nicht einen Aufzugsschacht hinuntergefallen, oder so was?«

»Roscoe Electronics ist eines der größten Unternehmen in Amerika«, erklärte MrsJones. »Ja sogar eines der größten der Welt. Computer, Videos, DVD-Recorder… einfach alles, vom Handy bis zu Waschmaschinen. Roscoe war sehr reich, sehr einflussreich –«

»Und sehr kurzsichtig«, unterbrach Alex sie.

»Es war sicherlich ein ebenso seltsamer wie leichtsinniger Unfall«, stimmte MrsJones ihm zu. »Der Aufzug war defekt. Roscoe hat nicht darauf geachtet, wo er hintrat. Er fiel in den Aufzugsschacht und starb. Das ist die offizielle Version. Wir sind uns da aber nicht so sicher.«

»Wieso nicht?«

»Zunächst gibt es da eine ganze Reihe von Einzelheiten, die nicht zusammenpassen.

An dem Tag, an dem Roscoe starb, kam Sam Green, ein Wartungsingenieur, in den Roscoe Tower in der Fifth Avenue. Wir wissen, dass es Green war – oder jemand, der ihm sehr ähnlich sah –, weil wir ihn gesehen haben. Sie haben Überwachungskameras und er wurde beim Hineingehen gefilmt. Die Firma, für die er arbeitete, bleibt aber dabei, dass es kein defektes Kabel gab, und Green auch nicht in deren Auftrag handelte.«

»Warum reden Sie nicht mit ihm?«

»Das würden wir gerne. Aber Green ist spurlos verschwunden. Wir glauben, dass er vielleicht getötet wurde und jemand seine Stelle eingenommen und irgendwie den Unfall inszeniert hat, bei dem Roscoe ums Leben kam.«

Alex zuckte die Schultern. »Tut mir leid wegen MrRoscoe. Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Darauf komme ich noch.« MrsJones schwieg einen Moment lang. »Das Seltsamste ist, dass Roscoe einen Tag bevor er starb hier im Büro anrief. Ein persönlicher Anruf. Er wollte MrBlunt sprechen.«

»Ich habe Roscoe an der Cambridge University kennengelernt«, fuhr Blunt fort. »Es ist lange her. Wir wurden Freunde.«

Das überraschte Alex. Blunt gehörte für ihn nicht zu der Sorte Mann, die Freunde hat. »Was hat er gesagt?«, fragte er.

»Leider war ich nicht hier, als er anrief«, antwortete Blunt, »wollte aber am nächsten Tag mit ihm sprechen. Aber da war es schon zu spät.«

»Haben Sie irgendeine Ahnung, was er wollte?«

»Ich habe mit seiner persönlichen Assistentin gesprochen«, sagte MrsJones. »Sie konnte mir zwar nicht viel sagen, aber soviel sie wusste, machte sich Roscoe große Sorgen um seinen Sohn. Er hat einen vierzehnjährigen Sohn, Paul Roscoe.«

Einen vierzehnjährigen Sohn. Alex kapierte allmählich, worauf die Sache hinauslief.

»Paul war sein einziger Sohn«, erklärte Blunt. »Die beiden hatten ein ziemlich schwieriges Verhältnis. Roscoe ließ sich vor einigen Jahren scheiden, und obwohl der Junge sich dafür entschied, bei seinem Vater zu bleiben, kamen sie nicht besonders gut miteinander aus. Es handelte sich um die üblichen Pubertätsprobleme, aber bei Millionärssöhnen scheinen diese Probleme manchmal noch gravierender zu sein. Paul war ein schlechter Schüler. Er schwänzte die Schule, suchte sich die falschen Freunde aus. Es gab sogar einen Zwischenfall mit der New Yorker Polizei – nichts Ernstes. Roscoe gelang es, die Sache zu vertuschen, aber das Ganze ging ihm unter die Haut. Ab und zu telefonierten wir miteinander. Er machte sich Sorgen um Paul und hatte das Gefühl, dass der Junge ihm über den Kopf gewachsen war, schien aber nicht viel dagegen unternehmen zu können.«

»Aha, dafür haben Sie mich also vorgesehen«, unterbrach Alex ihn. »Sie wollen, dass ich diesen Jungen treffe und mit ihm über den Tod seines Vaters rede?«

»Nein.« Blunt schüttelte den Kopf und reichte MrsJones eine Akte, die sie sogleich aufschlug.

Alex konnte einen kurzen Blick auf ein Foto werfen, auf dem ein dunkelhäutiger Mann in einer Militäruniform abgebildet war. »Vergiss nicht, was wir dir über Roscoe gesagt haben«, sagte sie. »Ich will dir nämlich noch etwas über einen anderen Mann berichten.« Sie schob ihm das Foto so hin, dass Alex es sehen konnte. »Das hier ist General Viktor Iwanow. Ex-KGB. Bis zum Dezember letzten Jahres war er Leiter des Geheimdienstes und wahrscheinlich Russlands zweit- oder drittmächtigster Mann, nach dem Präsidenten. Aber dann hatte er einen Bootsunfall auf dem Schwarzen Meer. Sein Boot explodierte – keiner weiß warum.«

»War er ein Freund von Roscoe?«, fragte Alex.

»Sie sind sich wahrscheinlich nie begegnet. Aber wir haben hier eine Computerabteilung, die rund um die Uhr Nachrichten aus aller Welt erhält. Dabei sind unsere Männer auf einen sehr merkwürdigen Zufall gestoßen. Iwanow hatte ebenfalls einen vierzehnjährigen Sohn, Dimitry. Und das Eine steht fest: Der junge Iwanow kannte den jungen Paul Roscoe ganz bestimmt, denn sie besuchten dieselbe Schule.«

»Paul und Dimitry…« Alex wunderte sich. »Was hat denn ein russischer Junge in einer Schule in New York zu suchen?«

»Er war nicht in New York«, ergriff Blunt erneut das Wort. »Wie ich dir gesagt habe, hatte Roscoe Ärger mit seinem Jungen. Ärger in der Schule. Ärger zu Hause. Also beschloss er letztes Jahr, etwas zu unternehmen. Er schickte Paul nach Europa, auf eine Schule in Frankreich, eine Art Pensionat. Weißt du, was ein Pensionat ist?«

»Ich dachte immer, dorthin schickten früher reiche Leute ihre Töchter«, sagte Alex. »Um Tischmanieren zu lernen.«

»Gewissermaßen ja. Aber diese Schule besuchen nur Jungen, und zwar keine gewöhnlichen. Das Schulgeld kostet zehntausend Pfund pro Semester. Hier ist die Broschüre. Schau sie dir mal an.« Er reichte Alex eine umfangreiche Broschüre. Auf dem schwarzen Umschlag standen in goldenen Buchstaben zwei Wörter:

Point Blanc

»Die Schule liegt direkt an der französisch-schweizerischen Grenze«, erklärte Blunt. »Südlich von Genf. Direkt oberhalb von Grenoble, in den französischen Alpen. Wird Point Blanc ausgesprochen.« Er betonte die Wörter mit einem französischen Akzent. »Wörtlich übersetzt: weißer Punkt. Das Haus wurde von irgendeinem Spinner im 19.Jahrhundert als Privathaus erbaut. Nachdem er starb wurde es ein Irrenhaus. Im Zweiten Weltkrieg übernahmen es dann die Deutschen. Sie nutzten es als Erholungsheim für die höheren Dienstgrade. Danach verfiel es, bis der heutige Besitzer, ein Mann namens Grief, Dr.Hugo Grief, es kaufte. Er ist der Schulleiter oder Direktor.«

Alex schlug die Broschüre auf und hatte eine Ansicht von Point Blanc vor sich. Blunt hatte Recht. So etwas hatte er noch nie gesehen. Diese Schule war einmalig, ein Mittelding zwischen einer deutschen Burg und einem französischen Schloss, wie aus dem Märchenbuch. Doch was Alex noch mehr den Atem verschlug, war die Umgebung. Die Schule war direkt in den Hang gebaut, inmitten schneebedeckter Berglandschaft. Sie passte da nicht so recht hin, schien aus einer alten Stadt hierher versetzt worden zu sein.

Zu dieser Schule führten offensichtlich keine Straßen. Bis zum Eingangstor war alles mit Schnee bedeckt. Doch bei genauerem Hinsehen entdeckte Alex zwischen den Zinnen einen modernen Hubschrauberlandeplatz. Vermutlich war das der einzige Weg, dorthin zu gelangen… und wieder fortzukommen.

Er blätterte um.

»Willkommen in der Akademie von Point Blanc« stand in der Einleitung. Sie war in einer altmodischen Schrift gedruckt, die Alex auf der Speisekarte eines teuren Restaurants erwartet hätte.

»… einer einzigartigen Schule, die viel mehr ist als eine Schule für Jungen, die mehr benötigen, als das gewöhnliche Erziehungssystem zu bieten hat. Heutzutage bezeichnet man unsere Schule als eine Einrichtung für ›schwierige Jungen‹, aber wir halten diesen Begriff für unzutreffend. Es gibt Probleme und es gibt Jungen. Unser Ziel ist es, beides auseinanderzuhalten…«

»Du brauchst nicht das ganze Zeug zu lesen«, sagte Blunt. »Du musst nur wissen, dass die Akademie Jungen aufnimmt, die von allen anderen Schulen geflogen sind. Es sind immer nur wenige Jungen dort. Nur sechs oder sieben gleichzeitig. Es werden nämlich nur die Jungen der Superreichen aufgenommen…«

»Kein Wunder bei zehntausend Pfund pro Semester«, bemerkte Alex.

»Du würdest dich wundern, wie viele Eltern sich darum beworben haben, ihre Söhne dorthin zu schicken«, fuhr Blunt fort. »Aber du brauchst nur die Zeitung aufzuschlagen, um zu lesen, wie leicht auch Millionärssöhnchen auf die schiefe Bahn geraten. Es spielt keine Rolle, ob es sich um Politiker oder Popstars handelt. Reiche und berühmte Eltern bringen häufig Probleme für die Kinder mit sich… und je erfolgreicher die Eltern sind, desto größer scheint der Druck zu sein. Die Akademie hat es sich zum Ziel gesetzt, die jungen Leute wieder auf den richtigen Weg zu bringen, und nach allem, was man hört, ist sie sehr erfolgreich damit.«

»Sie wurde vor zwanzig Jahren gegründet«, erklärte MrsJones. »Du würdest kaum glauben, welche Prominenten ihre Söhne dorthin geschickt haben. Natürlich werden die Namen nicht weitergegeben. Aber ich kann dir versichern, dass zu den Eltern, die ihre Kinder dorthin geschickt haben, ein amerikanischer Vizepräsident, ein Nobelpreisträger und ein Mitglied unserer eigenen Königsfamilie gehören!«

»Und außerdem Roscoe und dieser Mann, Iwanow«, ergänzte Alex.

»Ja.«

Alex zuckte mit den Schultern. »Also ist es ein Zufall. So wie Sie gesagt haben. Zwei reiche Väter mit zwei reichen Kindern auf derselben Schule. Sie kommen beide bei einem Unfall ums Leben. Warum ist das so interessant für Sie?«

»Weil ich keine Zufälle mag«, erwiderte Blunt. »Ich glaube nicht an Zufälle. Was andere für Zufall halten, ist für mich eine Verschwörung, die ich aufdecken muss. Das ist mein Job.«

Na meinetwegen, dachte Alex. Laut fuhr er fort: »Glauben Sie tatsächlich, die Schule und dieser Grief hätten etwas mit den beiden Todesfällen zu tun? Warum? Haben die vergessen, das Schulgeld zu bezahlen?«

Blunt lächelte nicht. »Roscoe ruft mich an, weil er sich Sorgen um seinen Sohn macht. Am nächsten Tag ist er tot. Wir haben außerdem aus russischen Geheimdienstquellen erfahren, dass Iwanow eine Woche bevor er starb, einen heftigen Streit mit seinem Sohn hatte. Offensichtlich machte sich Iwanow wegen irgendetwas Sorgen. Siehst du nun den Zusammenhang?«

Alex überlegte einen Moment lang. »Sie wollen also, dass ich auf diese Schule gehe«, sagte er. »Wie wollen Sie das hinkriegen? Ich habe keine Eltern mehr und sie waren im Übrigen auch nicht reich.«

»Das haben wir schon alles geregelt«, sagte MrsJones. Alex erkannte, dass sie das Ganze schon vor der Geschichte mit dem Kran geplant haben mussten. Auch so hätten sie ihn holen lassen. »Wir haben dir einen wohlhabenden Vater besorgt. Er heißt Sir David Friend.«

»Friend… wie die Friends Supermärkte?« Alex hatte den Namen oft genug in den Zeitungen gesehen.

»Kunstgalerien. Fußballmannschaften. Kaufhäuser. Supermärkte.« MrsJones atmete kurz durch. »Friend gehört mit Sicherheit dem gleichen Club an wie Roscoe. Dem Club der Milliardäre. Und er ist auch in Regierungskreisen zu Hause, als persönlicher Berater des Premierministers. In diesem Land passiert kaum etwas, ohne dass Sir David irgendwie seine Finger im Spiel hat.«

»Wir haben dir also eine neue Identität verschafft«, erklärte Blunt. »Ich möchte, dass du dich von nun an als Alex Friend betrachtest, den vierzehnjährigen Sohn von Sir David.«

»Das wird nicht funktionieren«, sagte Alex. »Es ist doch sicherlich bekannt, dass Friend keinen Sohn hat.«

»Keineswegs.« Blunt schüttelte den Kopf. »Er gibt sehr wenig über sein Privatleben preis, und wir haben einen Sohn geschaffen, über den kein Vater gerne reden würde. In Eton rausgeflogen. Vorbestraft… Ladendiebstahl, Vandalismus und Drogenbesitz. Das bist du, Alex. Sir David und seine Frau Caroline wissen nicht, was sie mit dir anstellen sollen. Also haben sie dich bei der Akademie angemeldet. Und du bist angenommen worden.«

»Und Sir David ist damit einverstanden?«, fragte Alex.

Blunt rümpfte die Nase. »Er war nicht gerade begeistert davon, einen so jungen Menschen wie dich da hineinzuziehen. Aber ich habe mich lange mit ihm unterhalten, und er war schließlich einverstanden, uns zu helfen.«

»Wann gehe ich auf die Akademie?«

»In fünf Tagen«, sagte MrsJones. »Aber zuerst musst du dich mit deinem neuen Leben vertraut machen. Wenn du hier weggehst, wirst du zu Sir David gebracht. Er hat ein Haus in Lancashire. Dort lebt er mit seiner Frau – und einer Tochter. Sie ist ein Jahr älter als du. Du wirst den Rest der Woche mit der Familie verbringen, hast also Zeit, alles zu lernen, was du wissen musst. Es ist wichtig, dass du eine gute Tarnung hast. Danach fährst du direkt nach Grenoble.«

»Und was mache ich, wenn ich dort bin?«

»Wir werden dir rechtzeitig genaue Anweisungen geben. Vor allem musst du so viel wie möglich herausfinden. Vielleicht handelt es sich um eine ganz normale Schule und es gibt tatsächlich keinerlei Verbindung zwischen den beiden Todesfällen. In diesem Fall nehmen wir dich wieder von der Schule. Aber wir wollen uns sicher sein.«

»Wie nehme ich mit Ihnen Kontakt auf?«

»Das werden wir schon regeln.« MrsJones musterte Alex und wandte sich dann an Blunt. »Wir müssen uns um sein Aussehen kümmern«, sagte sie. »Im Moment ist es nicht gerade auf die Rolle zugeschnitten.«

»Kümmern Sie sich drum«, sagte Blunt.

Alex seufzte. Es war wirklich seltsam. Er wechselte einfach von einer Schule zur nächsten. Von einer Londoner Gesamtschule zu einem Pensionat in Frankreich. Das war nicht gerade das Abenteuer, das er erwartet hatte.

Er stand auf und folgte mürrisch MrsJones. Als sie das Zimmer verließen, war Blunt bereits wieder in seine Unterlagen vertieft, so als habe er Alex schon wieder völlig vergessen.