6

Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin saß in einem Stau und versuchte auszurechnen, einen wie großen Teil seines Lebens er schon in Staus gesteckt hatte. Als die Zahlen in astronomische Höhen zu steigen begannen, stellte er die Tätigkeit ein.

Allem Anschein nach hatte er mehr als ein Jahr in Staus verbracht. Der Gedanke war unerträglich. Er war dreiundsechzig Jahre alt, und von diesen dreiundsechzig Jahren hatte er mehr als eins in Autoschlangen festgesessen. Das war wohl, was man als Fortschritt bezeichnete.

Bei Norrviken in Sollentuna bog er auf die E4 ab, denn er wohnte auf einem äußerst begehrten Strandgrundstück am See Ravalen. Immer wieder tauchten schwer kriminelle Immobilienmakler auf und versuchten, das Grundstück zu einem Spottpreis zu kaufen. Den letzten hatte er mit einer spitz geschliffenen Harke davongejagt. Der schwer kriminelle Immobilienmakler hatte sich in die Hosen gemacht und mit tränenerstickter Stimme geschrien: »Harkenmörder!« Danach hatte Jan-Olov Hultin den ganzen Tag bereut. Es war noch kein Jahr her, daß er einen Menschen getötet hatte. In einem Hotelzimmer in Skövde. Außerdem hatte er einem unbewaffneten Mann seine Dienstpistole in den Mund gedrückt, und es hatte nicht viel gefehlt, daß er auch ihn erschossen hätte. Arto Söderstedt hatte ihn gehindert. Das war eine Schuld, die er wohl kaum würde zurückzahlen können. Ihm ohne Umstände zwei Monate Dienstbefreiung zu bewilligen war eine Selbstverständlichkeit gewesen – obgleich es gegen alle Regeln und Vorschriften verstieß.

Es geschah oft – viel zu oft –, daß Hultin sich wieder in jenem Hotelzimmer in Skövde befand. Natürlich konnte man es einen Traum nennen. Vermutlich war es ein Traum. Aber es kam ihm nicht so vor. Er war wirklich da. Es war sehr seltsam. Der gesamte Ablauf des Geschehens, bis ins letzte Detail, wiederholte sich, und am sonderbarsten war, daß er die ganze Zeit genau wußte, was geschehen würde. Dennoch konnte er nichts daran ändern. Er war gezwungen, Nacht auf Nacht – im vollen Bewußtsein dessen, was geschehen würde – den ganzen Verlauf durchzugehen. Paul Hjelm erschoß einen Schurken und wurde in den Arm geschossen, Kerstin Holm wurde am Kopf getroffen. Und Jan-Olov Hultin tötete einen Menschen und drückte einem anderen die Pistole in den Mund.

Es war nicht so einfach, einen Menschen zu töten.

Die Ereignisse in Skövde standen im Zusammenhang mit einer seltsamen, komplizierten und aufsehenerregenden Verbrechensserie im vergangenen Sommer. Die Medien hatten die früheren Fälle der A-Gruppe stets leicht zusammenfassen können, ›die Machtmorde‹, ›der Kentuckymörder‹, doch der dritte Fall war schwieriger, und zum Glück hatte die Presse nicht alle Wendungen, die der Fall genommen hatte, aufgeschnappt. Es kam zu einem Flickenteppich von eigentümlichen Bezeichnungen – ›die Kumla-Explosion‹, ›die Sickla-Schlacht‹, ›die Schießerei von Skövde‹, ›der Hornstull-Coup‹ –, und nicht einmal der wachste Leser vermochte die einzelnen Vorfälle zu einem Ganzen zusammenzufügen.

Denn ein Ganzes gab es. Und es war nicht schön.

Es war für alle ziemlich mühevoll gewesen, wieder in Gang zu kommen. Hultin selbst war als Operativer Chef der A-Gruppe zurückgekehrt aus seiner unfreiwilligen Pensionierung. Letztere würde er Waldemar Mörner, dem formalen Chef der Gruppe, nie verzeihen.

Es kam vor, daß die Staus schon anfingen, wenn er in Norrviken auf die E4 einbog. Das waren ärgerliche Vormittage. An diesem frühen Maimorgen dauerte es zum Glück bis Ulriksdal, bevor die Staufalle zuschnappte. Es regnete in Strömen, und er saß in einem absolut stillstehenden Stau und war sauer.

Nicht zuletzt deshalb, weil er sich in die Hose machte.

Das tat er anderseits ständig. Zu diesem Zweck trug er spezialgefertigte Windeln. Er litt an chronischer Inkontinenz, und was blieb ihm übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. Aufgeben und sich krankheitsbedingt pensionieren lassen oder sich den Deubel darum scheren. Es ignorieren. Er wählte letzteres.

Doch je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm der Zusammenhang zwischen der Krankheit und diesen aufflammenden Zornesausbrüchen, die bis vor einem Jahr lediglich zu einigen bei Kopfstößen aufgeplatzten Augenbrauen geführt hatten, danach jedoch eskaliert waren und ihren Höhepunkt in Skövde erreicht hatten. Während des letzten Jahres allerdings war es ihm gelungen, sich – mit Ausnahme des Harkenmördervorfalls – an sein Prinzip ›leben und leben lassen‹ zu halten. Selbst beim Unkraut im Garten, das gedieh wie nie zuvor.

Der letzte Fall hätte sehr wohl zur Folge haben können, daß mehrere seiner Mitarbeiter abgesprungen wären; es war ein unerhört aufreibender Fall gewesen. Doch glücklicherweise waren alle noch da, und alle lebendig.

Ihm kam der Gedanke, daß er sie immer mehr als seine Kinder ansah. Er wußte, daß das ein Fehler war. Ausgerechnet er, der mehr als irgend jemand sonst in der Lage war, Arbeit und Privatleben zu trennen, fand, daß er auf seine alten Tage sentimental geworden war. Sie hatten so vieles gemeinsam erlebt und waren wie keine andere Gruppe, mit der er zuvor gearbeitet hatte, zusammengeschweißt worden.

Wenn der Teufel in die Jahre kommt, wird er religiös.

In einem kurzen Augenblick rückhaltloser Aufrichtigkeit stellte er fest, daß Paul Hjelm und Kerstin Holm, Jorge Chavez und Arto Söderstedt, Viggo Norlander und Gunnar Nyberg und selbst die neu dazugekommene Sara Svenhagen, des brüsken Brynolfs holde Tochter, ihm näherstanden als seine eigenen Söhne, die beide Junggesellen und großartige Geschäftsleute waren und höchstens Weihnachten zu Besuch kamen, aber dann nur ständig auf die Uhr schauten und die ganze Zeit mit ihren Handys telefonierten.

Jan-Olov Hultin versank in einer trüben Pfütze von gemischten Gefühlen. Jetzt reichte es aber mit der Gefühlsduselei. Und da war er schon beim Polizeipräsidium. Wohin die Zeit verschwunden war, würde er, so souverän er als Detektiv auch sein mochte, nie ergründen können. Diese Lücken in der Zeit gehörten zu den großen Rätseln des Lebens.

Wagen wurde geparkt. Kriminalkommissar schritt durch Polizeipräsidium. Kriminalkommissar erreichte Zimmer. Tasche wurde an Schreibtisch gestellt. Armbanduhr konsultiert. Toilette besucht. Windel gewechselt. Staubkorn aus linkem Auge entfernt. Korridor betreten. Tür geöffnet. Kampfleitzentrale leer. Stopp.

Die Welt nahm zwischendurch Telegrammstil an, wenn alles Routine wurde. Aber hier war stopp. Stopp. Wo befand sich sein Team? Warum war der triste Sitzungsraum, der – nicht ganz ohne Ironie – unter dem Namen »Kampfleitzentrale« fungierte, völlig leer?

Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin befragte erneut seine Armbanduhr. Es war drei Minuten nach halb neun. Um halb neun sollte die morgendliche Lagebesprechung anfangen. Selbst wenn die A-Gruppe kein Paradebeispiel für Pünktlichkeit war, sollte doch irgendeiner zur Stelle sein.

Resoluten Schritts begab sich Hultin an sein Katheder, wo er wie ein Oberstufenlehrer, der sich weigert, in Pension zu gehen, zu thronen pflegte. Er griff zum Telefon und wählte die Zeitansage. Mit ihrer menschlichen, allzu menschlichen Stimme sagte sie: »Acht Uhr, sechzehn Minuten und zehn Sekunden. Piep.«

Allerdings sagte sie vermutlich nicht ›piep‹.

Jetzt begann Jan-Olov Hultin über schwarze Löcher im Raum-Zeit-Kontinuum, gravitationelie Zeitdilatation und vergleichbare Phänomene nachzugrübeln. Hatte er sich, während seines Bads in der trüben Pfütze der gemischten Gefühle, in einer anderen, parallelen Zeit bewegt? Vierzig Jahre lang war seine Armbanduhr der Schweizer Qualitätsmarke Patek Philippe nie mehr als ein paar Sekunden vor- oder nachgegangen. Plötzlich ging sie eine Viertelstunde vor. Und dies genau in der Zeit, die verschwunden zu sein schien. Ihn fröstelte, und er ließ seinen Gedanken freien Lauf. Es ist bekannt, daß die Zeit innerhalb eines Gravitationsfelds langsamer geht als außerhalb. Je schwächer die Gravitation, desto schneller die Zeit. Eine Uhr auf dem Mount Everest geht schneller als eine Uhr im Marianengraben. Und was bei sehr hohen Geschwindigkeiten mit der Zeit geschieht, hat schon Einstein in der Relativitätstheorie gezeigt – und ganz so schnell hatte sich die Autoschlange wohl kaum durch Stockholm bewegt. Aber wenn es nun umgekehrt wäre. Wenn nun die Schlange so naturwidrig langsam war, daß sie für einen Augenblick die Schwerkraft aufhob und die Zeit dazu brachte, schneller zu gehen. Wenn es nun Gott war, der gesagt hatte: ›So, meine Kinder, jetzt reicht es mit euren Dummheiten. Ihr setzt euch allein in eure Autos, die Kohlendioxyd ausspucken, das die Welt verpestet. Außerdem bewegt ihr euch kaum noch vom Fleck. Ich muß euch ein Zeichen geben, auf daß ihr aufhört, euch wie die Idioten aufzuführen und zumindest Fahrtgemeinschaften bildet. Mindestens drei in jedem Wagen, und ihr dürft die Bus- und Taxispur benutzen.‹ So sprach der Mächtige zu dem nicht ganz so Mächtigen, der jetzt aufblickte und sechs mehr oder weniger aufmerksame Augenpaare auf sich gerichtet sah. Er schaute auf die Uhr. Sie zeigte drei Minuten nach halb neun. Und der Sekundenzeiger bewegte sich genau wie sonst.

Einen Moment lang zweifelte Jan-Olov Hultin. Er sah ein, daß er an einem Scheideweg stand. Es war eine Parallele zur Inkontinenz. Er hätte darin versinken können. Er hätte sein Leben der Suche nach Erklärungen dafür widmen können, daß ausgerechnet er von diesem boshaften, höhnischen, ununterbrochen peinlichen Zustand betroffen war. Doch er hatte eingesehen, daß er niemals eine Erklärung finden würde. Er hatte eingesehen, daß er in einen endlosen Abwärtssog von trostlosen Grübeleien geraten würde, der aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Sucht oder mit Selbstmord enden würde. Er hatte das unergründliche Spiel des Schicksals akzeptiert, sich die Windel eingelegt und sein Leben weitergeführt.

Und jetzt? Hatte er ein echtes mystisches Erlebnis gehabt? Eine moderne Variante von Meister Eckhart oder Franz von Assisi? Oder war es einfach nur seine Armbanduhr, die angefangen hatte zu spinnen?

Was war mit der Zeit geschehen?

Er faßte einen Beschluß. Er würde die Uhr zur Reparatur geben. Und wenn es noch einmal passierte, würde er sich einer Computertomographie unterziehen und nachsehen lassen, ob ein Schlaganfall sich anbahnte.

Denn Gottes Stimme hatte so sonderbar nach seiner eigenen geklungen.

Er blickte über die versammelte A-Gruppe, räusperte sich, blätterte den Papierstapel auf dem Katheder durch und sagte mit höchst alltäglicher Stimme:

»Na dann, meine Freunde: Das Tagewerk ruft.«

Er betrachtete sie verstohlen durch seine Eulenbrille, um zu sehen, ob sie etwas merkten. Sie sahen aus wie gewöhnlich. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, daß einer da unten etwas Ungewöhnliches bemerkt hatte. Er atmete aus und fuhr fort:

»Gestern hatten wir bekanntlich zum erstenmal seit langem wieder einige ungewöhnliche Vorkommnisse. Keiner von euch hat gezögert, die Spurensicherung kräftig einzuspannen, und die Rechnung wird dafür sorgen, daß sich Mörner der Magen umdreht. Aber natürlich habt ihr richtig gehandelt. Dies bedeutet also, daß wir drei Fälle in Arbeit haben, weil Viggo und Gunnar die ganze Vorortzugschlacht übernommen haben. Kommen wir da irgendwie weiter, Gunnar?«

Bevor Jan-Olov Hultin den Blick auf Gunnar richtete, ließ er ihn über seine Armbanduhr gleiten. Sie zeigte fünf nach halb. Die Zeit schien wieder an ihrem Platz zu sein.

Der darauf folgende Anblick von Gunnar Nybergs Gesicht war fast ebenso schockierend wie üblich. Doch nur fast. Inzwischen hatte sich Hultin wider alle Erwartungen tatsächlich daran gewöhnt, daß Schwedens größter Polizist abgedankt hatte. Von den hundertsechsundvierzig Kilo waren nur noch gut hundert übrig. Gunnar Nyberg hatte das Unmögliche wahr gemacht: Er hatte abgenommen. Und da der ehemalige Mister Sweden selten etwas halb tat, hatte er ordentlich abgenommen. Vierzig Kilo runter. Und das mit Hilfe des gesamten Registers: Gesundheitskost, Jogging, Schwimmen, sogar mit Akupunktur und Fußzonentherapie. Es war höchst imponierend.

Nyberg hatte mit aller wünschenswerten Deutlichkeit eingesehen, daß jeder Mensch auf der weiten Welt sein alles andere überschattendes Motiv durchschaut hatte; sie halfen ihm sogar auf die Sprünge. Doch noch hatte er kein richtiges Glück gehabt.

Er brauchte eine Frau.

Ja, doch, mehrere Kollegen aus der A-Gruppe hatten ihn mit weiblichen ›singles‹ aus ihrem Bekanntenkreis zusammengebracht. Er hatte mehrere ›dates‹ gehabt und begann all der angloamerikanischen Ausdrücke überdrüssig zu werden, die die Treffen mit dem anderen Geschlecht umgaben. Dagegen war er des anderen Geschlechts nicht im geringsten überdrüssig. Im Gegenteil. Ein zwei Jahrzehnte währendes selbstauferlegtes Zölibat war abgebrochen worden; Gunnar Nyberg mußte sich nicht mehr selbst kasteien wie ein mittelalterlicher Mönch. Er hatte sich mit seinen Kindern versöhnt und sogar mit seiner Exfrau, die er bei den dopingbedingten Ausrastern während seiner Bodybuilderzeit aufs gräßlichste mißhandelt hatte. Er traf regelmäßig seinen Enkel Benny in Östhammar, der inzwischen fast drei Jahre alt war und außerdem bald eine Schwester bekommen sollte, wie der Ultraschalltest unabsichtlich enthüllt hatte.

Leider mußte er zugeben, daß die Dame, die die zweifelhafte Ehre hatte, ihn vom Zölibat zu befreien, keine Erinnerung bei ihm hinterlassen hatte. Nicht genug damit, daß ihm ihr Name entfallen war, er wußte auch nicht mehr, wie sie aussah. Er war so nervös gewesen, daß er die Wände hochging in seiner alten Jungesellenwohnung bei der Nacka Kyrka, wo er im Kirchenchor den tiefsten Baß sang. Was er noch wußte, war, daß Viggo Norlander das Ganze angezettelt hatte. Es war bestimmt eine Kollegin von Viggos neuer Lebensgefährtin Astrid vom Reichsarchiv, eine Dame in den Vierzigern. Sie wollten sich bei ihm zu Hause treffen, um zum Krug im Nacka-Zentrum zu gehen, so weit erinnerte er sich, doch dann ließ ihn seine Erinnerung im Stich. Er glaubte nicht, daß sie überhaupt in den Krug kamen. Statt dessen hatte er eine vage Vorstellung von überraschend unmittelbaren sexuellen Aktivitäten. Weiter erstreckte seine Erinnerung sich nicht. Sie hatten sich nie mehr getroffen, und sein einzig bleibender Eindruck war Viggo Norlanders Bemerkung ein paar Tage später, mit einem vielsagenden Lächeln hingeworfen: »Sie ist immer noch bettlägerig, du Schurke.«

Wahrscheinlich war dies als Lob gemeint und nicht als Tadel, doch Gunnar Nyberg hatte keine Ahnung. Sicherheitshalber traf er sie nie mehr. Dagegen traf er andere Frauen, und je schlanker er wurde, desto sicherer fühlte er sich, und zum gegenwärtigen Zeitpunkt empfand er nur frohe Erwartung angesichts der Freuden, die das andere Geschlecht zu bieten hatte. Er war bereit für etwas Festeres.

Er räusperte sich und sagte: »Ihr kennt ja die Einzelheiten der sogenannten Vorortzugschlacht. Der Nachtpendelzug von Kungsängen. Drei Profisprayer führen eine Totalrenovierung in einem Wagen durch, in dem eine Gang von Alkis sitzt. Fünf Vollblutalkoholiker um die Vierzig sind moralisch entrüstet über diesen Vandalismus und gehen auf die Sprayer los, sämtlich gut durchtrainierte junge Burschen von Anfang Zwanzig. Es gibt eine gewaltige Schlägerei. Zwei Alkis tragen Gehirnverletzungen davon, ein Sprayer stirbt, alle sind mehr oder weniger schwer verletzt. Als der Wagen in Karlberg eintrifft, steigt ein Pensionär mit einem Schoßhund in ein Blutbad ein. Es ist tatsächlich genauso langweilig, wie es sich anhört, rein polizeilich betrachtet. Ich hoffe, daß die neuen Ereignisse stimulierender sind. Viggo und ich haben also nichts Neues zu bieten. Alle Beteiligten sind festgenommen und angeklagt. Außer dem Pensionär, der einen Herzinfarkt bekam. Er ist endlich außer Lebensgefahr.«

Hultin warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Alles schien okay. Er nickte und dankte Nyberg. »Na, dann«, sagte er. »Die Vorortzugschlacht können wir dann wohl als abgeschlossen betrachten. Zeit für bestialische Marder.«

Jorge Chavez blickte aus diversen Papieren auf und warf einen Blick zu Paul Hjelm hinüber, der mit einer Geste andeutete, daß er aufs Wort verzichtete.

»Ja«, sagte Chavez. »Kennt ihr den Vielfraß?«

Niemand kannte offenbar den Vielfraß.

»Wie der Name schon sagt, ein großer Fresser. Ein Tier von maßloser Gier. Im Sommer ernährt es sich von Kleintieren, aber im Winter verschlingt es gern das eine oder andere Rentier. Vorgestern abend hatten vier Vielfraße in Skansen offenbar Wintergefühle, denn diese Wesen, die weniger als dreißig Kilo das Stück wiegen, haben da einen Mann mit Haut und Haaren verschlungen. Ganz buchstäblich. Übriggeblieben sind eine Menge Fasern von einem hellrosa Anzug, Segmente eines Wadenbeins und ein Doppelknoten an einem acht Millimeter dicken rot-lila gestreiften Polypropenseil, ein rechter Zeigefinger sowie dies hier.«

Er hielt eine ziemlich mitgenommene Spielkarte in die Höhe.

Es war die Pikdame.

»An der Pikdame finden sich Reste der wahrscheinlichen Ursache für die Gier der Vielfraße. Kokain. Analysen von Fleisch- und Blutresten zeigen dasselbe: Unser Opfer hat kurz vor seinem Tod ansehnliche Mengen Kokain konsumiert. Weil die Droge sich im Blut befand, steigerte sie die Gier der Vielfraße. Wir wissen ja, daß die schlimmsten Grausamkeiten zum Beispiel im Krieg unter Drogeneinfluß begangen werden. Offensichtlich unterscheidet sich die Tierwelt in dieser Hinsicht nicht besonders von der Menschenwelt. Die Vielfraße wurden von dem Kokain ganz einfach wahnsinnig und brachten es fertig, so gut wie das gesamte Skelett zu vertilgen, den Schädel inbegriffen. Er ist auf jeden Fall nicht gefunden worden. Dagegen haben die Mannen meines Schwiegervaters es geschafft, nicht nur eine DNA-Analyse, sondern auch einen durchaus brauchbaren Fingerabdruck zu produzieren. Keins von beiden findet sich jedoch in schwedischen Registern, deshalb haben wir sie weitergeschickt an Interpol und Europol. Die Fingerabdrücke des Opfers finden sich auch nicht an dem Eisengitter um das Gehege der Vielfraße. Keiner von den dort vorgefundenen Fingerabdrücken findet sich übrigens im Kriminalregister. Der Finger, der ziemlich zerschnitten war, wies Erdspuren auf, die von einem Erdhaufen in der südlichen Ecke des Vielfraßgeheges stammen, wo es zu den Zuschauerplätzen am steilsten ist. An einer besonderen Stelle an diesem Erdhaufen wurden Blut- und Hautreste des Opfers gefunden, und zwar in fünf Buchstaben, die er allem Anschein nach mit dem Finger in die Erde schreiben konnte. Das Wort, wenn es sich um ein Wort handelt, kann man als ›Epivu‹ lesen. Das E ist eine Versalie, der Rest sind kleine Buchstaben. Kann einer von euch damit etwas anfangen?«

Keiner reagierte.

»Nein«, sagte Chavez. »Wir auch nicht. Fehlanzeige auch im Internet, kann ich euch verraten. Kein einziger Treffer.«

»Soweit das Vielfraßgehege«, fuhr Paul Hjelm fort. »Das Seil ums Bein führte dazu, daß wir vorschnell vermuteten, er sei dorthin gebracht worden, möglicherweise bewußtlos oder bereits tot. Eigentlich dauerte es viel zu lange, bis ich reagiert habe. Ich kam aus dem Astrid-Lindgren-Krankenhaus, wo ich ein kleines Mädchen besucht hatte, das von einem unbekannten Täter kurz nach zehn Uhr vorgestern abend angeschossen worden war. In Djurgården, nicht weit entfernt von der östlichen Seite von Skansen. Wenn man die Bahn der Kugel schätzt und ihr folgt, gelangt man auf Höhe des Wolfsgeheges an den Zaun von Skansen. Den wenig begeisterten Kollegen von der Spurensicherung blieb damit nichts anderes übrig, als ihren Untersuchungsbereich auf die Wolfsgrube auszuweiten. Schließlich wurden drei Dinge gefunden: das Blut unseres Opfers hoch oben am Zaun, sogar am Stacheldraht darüber, außerdem auf der Mauer, die hinüberführt zu den Zuschauerplätzen auf der anderen Seite, eine zerrissene dicke Halskette aus achtzehnkarätigem Gold sowie eine mit Schalldämpfer versehene Neun-Millimeter-Pistole der guten alten Marke Luger vom Kaliber 9.0. Das Magazin war leer. Probeschüsse haben eine perfekte Übereinstimmung mit der Kugel ergeben, die aus dem Oberarm der zehnjährigen Lisa Altbratt entfernt wurde. Sie wird übrigens keine bleibenden Schäden davontragen.«

»Zusammenfassung also«, übernahm Chavez wieder.

»Wer ist unser Mann? Er trägt einen sommerlich leichten hellrosa Anzug und eine dicke Halskette aus Gold, er zieht sich von einer Pikdame Kokain rein und ist mit einer mit Schalldämpfer versehenen Luger bewaffnet. Abdrücke des einzigen bewahrten Fingers – der rechte Zeigefinger glücklicherweise – finden sich auf allen dreien: der Halskette, der Spielkarte und der Pistole. Das ist glasklar. Wer ist er?«

»Schutzgeldeintreiber?« sagte Nyberg.

»Drogenhändler«, erwiderte Norlander.

»Pornodarsteller?« konterte Nyberg.

»Zuhälter?« platzten Holm und Svenhagen wie aus einem Munde heraus.

Die beiden Frauen sahen sich eine Weile an.

»Wir warten noch damit«, sagte Chavez selbstherrlich.

»Auf jeden Fall stinkt es förmlich nach Unterwelt. Er ist nicht in unserer Verbrecherkartei, also ist er wahrscheinlich Ausländer. Wenn er Schwede wäre, hätten die Fingerabdruckdinger wahrscheinlich Sturm geläutet.«

»Aber was ist da eigentlich abgelaufen?« fuhr Hjelm fort.

»Er wird zwischen die Bäume in Djurgården gejagt. Er schießt, aber es gibt keine Anzeichen dafür, daß er außer Lisa Altbratt jemanden trifft. Er gelangt zum Zaun und entschließt sich, hinüberzuklettern, obwohl unmittelbar neben dem Zaun ein kleiner Weg entlangführt. Worauf läßt das schließen? Verzweiflung, vielleicht panische Angst. Er zerschneidet sich am Zaun die Finger, greift hemmungslos in den Stacheldraht, bekommt die Stacheln tief in die Hände, wirft sich hinüber zu den Wölfen, die aber zum Glück satt und zufrieden gewesen zu sein scheinen.«

»Nur ein Gedanke«, sagte Kerstin Holm nachdenklich.

»Gibt es eigentlich Verfolger? Kann es nicht eine Drogenpsychose sein? Das einzige, was für ein Verbrechen spricht, ist wohl das Seil ums Bein. Kann er das nicht aus irgendeinem anderen Grund da gehabt haben, ich weiß nicht, sexuellen, als einen aufreizenden Schmuck? Vielleicht wird er nur von seinen eigenen Dämonen gejagt und stolpert in schierer Panik zu den Vielfraßen hinein?«

Einen Moment lang war es still. Chavez zog seine Papiere zu Rate. »Das Seil war durchgenagt«, sagte er leise. »Es gibt keinen Beweis dafür, daß es um beide Beine geschlungen war. Es kann also um ein Bein gelegen haben, als Schmuck. Aber«, fügte er etwas lauter hinzu, »ist das wirklich wahrscheinlich?«

»Entscheidend ist doch, ob es überhaupt irgendwelche sonstigen Spuren gibt«, fuhr Kerstin Holm fort. »Das kann ja an verschiedenen Stellen sein, wenn ich mich nicht irre: außerhalb von Skansen, am Zaun, bei den Wölfen, an der Mauer, die von den Wölfen hinaufführt, auf dem Asphalt zwischen Wölfen und Vielfraßen und bei den Vielfraßen drinnen. Das letzte ist vielleicht weniger wahrscheinlich, aber der Rest? Wenn er den Zaun mit seinem Blut beschmiert, warum nicht seine Verfolger? Warum hinterlassen sie keine einzige Spur?«

Chavez kämpfte mit seinen Papieren. »Er hinterläßt offenbar selbst keine eindeutigen Fußabdrücke. Bei den Wölfen sind auf dem Weg zwischen Zaun und Mauer fast nur Steine. Auf dem Asphalt sind keine Spuren. Und auch nicht an dem Zaun hinunter zu den Vielfraßen.«

»Aber unten bei den Vielfraßen müssen doch seine Fußspuren sein«, sagte Holm. »Er schreibt doch in den Boden. Der muß doch porös sein. Wie sehen denn die Spuren da bei den Buchstaben aus?«

Chavez nickte – wie ein Mann nickt, der geschlampt hat.

»Ja du, Kerstin. Seine Spuren sind nicht da. Vielfraßspuren, ja, ein allgemeines Chaos, ja, vermutlich Spuren des Schmauses, aber keine Fußspuren. Wir müssen auch bedenken, daß es letzte Nacht geregnet hat.«

»Aber nicht genug, um die Buchstaben unkenntlich zu machen …«

»Er kann straff gefesselt hineingeworfen worden sein«, sagte Paul Hjelm. »Vielleicht wird er dabei verletzt. Er schafft es nur noch, dieses Wort zu schreiben, was aus irgendeinem Grund wichtiger für ihn ist, als sich aufzurichten. Dann kommen die Vielfraße.«

»Und überhaupt keine Spuren von irgendwelchen anderen?« bohrte Kerstin Holm nach. »Nicht einmal an dem scharfkantigen Wolfszaun?«

»Nein«, sagte Chavez verbissen.

»Laßt uns trotzdem versuchen zu rekonstruieren, was bei den Wölfen passiert ist«, sagte Hjelm. »Okay, er wirft die Pistole fort, denn er hat das Magazin leer geschossen. Nicht gerade raffiniert, aber begreiflich. Blinde Wut. Aber warum zerreißt er seine teure Halskette, diese galante Penisverlängerung, und wirft sie zu den Wölfen hinein?«

»Noch ein Anzeichen für eine Drogenpsychose«, sagte Holm, und Hjelm meinte sie gut genug zu kennen, um zu merken, daß sie jetzt dazu übergegangen war, sich ein bißchen mit Jorge anzulegen, dessen Gesicht immer finsterer wurde.

Und es wurde auch nicht besser dadurch, daß Hultin schlußfolgerte: »Wir wissen also nicht einmal, ob ein Verbrechen vorliegt …«

»Doch«, sagte Chavez, äußerst erregt. »Dies ist ein Mord. Und wenn es keiner ist, dann springe ich zu den Vielfraßen hinein, das verspreche ich euch.«

Die A-Gruppe starrte ihn an. Sie wünschten sich zwar alle einen richtigen Fall, keine neuen Vorortzugschlachten, doch niemand wünschte sich das inständiger als Jorge Chavez, das war klar.

»Das kann eine prima Sommerattraktion auf Skansen werden«, sagte Viggo Norlander und schnaubte sich die Nase. »Lasse Berghagen präsentiert zwischen den Gesangsnummern den unerschrockenen Vielfraßpolizisten.«

»Schnauze«, sagte Chavez.

»Ich dachte, das wäre mein Wort«, sagte Norlander.

»Mal ehrlich jetzt«, sagte Holm. »Dieses unbegreifliche ›Epivu‹ und die Tatsache, daß er das schreibt, statt seine Haut zu retten, läßt das nicht den Schluß zu, daß er wahnsinnig ist?«

»Doch«, sagte Hjelm. »Ich glaube auch, daß er wahnsinnig ist. Er steht unter Drogen und ist wahnsinnig vor Angst. Aber ich glaube, daß seine Angst begründet ist.«

»Aber der Verfolger ist offenbar nicht zu den Wölfen hineingeklettert«, sagte Holm. »Gibt es einen anderen Weg dorthin?«

Hjelm und Chavez tauschten Blicke aus, und das war kein schöner Anblick.

»Das müssen wir uns noch genauer ansehen«, sagte Hjelm trocken.

Hultin gab sich einen Ruck, schielte heimlich zur Uhr und sagte: »Na, das hat lange gedauert. Wir haben ja noch einen Vorfall durchzugehen. Kerstin?«

Kerstin Holm wirkte ein wenig ermattet. Sie befingerte die kahle Stelle an ihrer Schläfe und glaubte förmlich fühlen zu können, wie die Gedanken sich hinter dem verdünnten Schädelknochen aufzulösen begannen. »Kannst du anfangen, Sara?« fragte sie.

Sara Svenhagen, die die ganze Zeit still dagesessen hatte, sah überrascht aus. Sie verstand sich als Kerstin Holms Untergebene und hatte höchstens damit gerechnet, die eine oder andere ergänzende Bemerkung beisteuern zu können. Sie nahm einen Schluck von dem eiskalten Kaffee, verzog das Gesicht und sammelte sich: »Acht Asylbewerberinnen, die mit großer Wahrscheinlichkeit als Prostituierte gearbeitet haben, sind in der Nacht auf gestern aus dem Nebengebäude einer Flüchtlingsunterkunft, dem Norrboda Motell in Slagsta, wo sie wohnten und arbeiteten, verschwunden. Die Frauen kamen alle aus Osteuropa, drei aus der Ukraine, zwei aus Bulgarien, zwei aus Rußland und eine aus Weißrußland. In Zimmer 224 wohnten die Russinnen Natalja Vaganova und Tatjana Skoblikova, in Zimmer 225 die Ukrainerinnen Galina Stenina und Lina Kostenko, in Zimmer 226 die Ukrainerin Velentina Dontsjenkound die Weißrussin Svetlana Petruseva und schließlich in Zimmer 227 die Bulgarinnen Stefka Dafovska und Mariya Bagrjana. Daran werdet ihr euch bestimmt erinnern.

Wir haben den gestrigen Tag bis spät in den Abend hinein damit verbracht, mit den Zimmernachbarn zu sprechen. Offenbar war es ein ziemlich öffentliches Geheimnis, daß sie Prostituierte waren. Wir haben eine ganze Reihe Namen von Kunden und konnten uns überhaupt ein ziemlich gutes Bild davon verschaffen, wie es überhaupt möglich war, daß das Geschäft dort betrieben wurde. Der Vorsteher Jörgen Nilsson drückte nicht nur beide Augen zu, es gibt auch eine Reihe von Anzeichen dafür, daß er beteiligt war. Als Kunde. Ich kann mir nicht denken, daß er noch lange in der Branche tätig sein wird.«

Kerstin Holm hatte sich erholt und übernahm: »Zwei Fragen standen im Mittelpunkt. Wann sind die Frauen verschwunden? War ihrem Verschwinden irgend etwas vorausgegangen, eine Art Ankündigung? Mehr als darüber etwas zu erfahren konnten wir unter den gegebenen Umständen nicht erwarten. Was wir bisher herausbekommen haben, ist folgendes: In der letzten Woche waren die Frauen unruhiger als gewöhnlich; es muß etwas passiert sein, was sie nervös gemacht hat. Darin sind sich die Zimmernachbarn einig. Allem Anschein nach waren die acht Frauen den ganzen Mittwochabend anwesend. Ein Zeuge behauptet, er habe sie noch um halb drei in der Nacht auf Donnerstag in einer fremden Sprache reden hören, wahrscheinlich Russisch. Als die Frauen sich am Morgen um neun melden sollten, waren sie verschwunden. Keiner der Zimmernachbarn – und mit den meisten dürften wir inzwischen gesprochen haben – hat gesehen oder gehört, wie sie verschwanden. Alles dies unter dem Vorbehalt, daß die meisten Verhöre mit Dolmetscherhilfe geführt wurden.«

»Wir wissen also nicht einmal, ob ein Verbrechen vorliegt«, sagte Chavez rachelüstern.

Kerstin Holm betrachtete ihn amüsiert. Sara Svenhagen betrachtete ihn zornig. Wie eine Ehefrau, wenn ihr Mann sich kindisch benimmt.

»Nein«, sagte Sara beherrscht. »Aber wir fragen uns natürlich, ob es reiner Zufall ist, daß ein unbekannter zuhälterhafter Mann in den Tod gehetzt worden ist, und ein paar Stunden später lösen sich acht Prostituierte in einer Flüchtlingsunterkunft in Luft auf. Man kann ja ein bißchen spekulieren. War er beispielsweise ihr Zuhälter? Falls ja, ist es wahrscheinlich, daß der ganze Laden von Konkurrenten vernichtet worden ist. Dann ist es durchaus möglich, daß die acht Frauen tot sind. Und dann haben wir einen wirklichen Sexkrieg am Hals. Und Schlachten zwischen verschiedenen Zuhälterringen bedeuten in der Regel auch Drogenkrieg. Oder war es umgekehrt, ein konkurrierender Zuhälter wurde von dem Zuhälter der acht beseitigt, bevor dieser seine Mädchen nahm und mit ihnen untertauchte?«

»Also, mal langsam jetzt«, räusperte sich Hultin. »Was tust du da eigentlich, Sara? Gibt es irgendwelche konkreten Berührungspunkte zwischen den beiden Fällen, die vielleicht nicht einmal Fälle sind?«

»Nichts Konkretes«, sagte Sara etwas kleinlaut. »Nur eine Ahnung.«

»Alle diese vagen Ahnungen gehen mir allmählich auf den Geist«, artikulierte der Große Häuptling mit großer Deutlichkeit und schielte wieder auf die Uhr.

»Also dann ein wenig konkreter«, sagte Kerstin Holm.

»Unbekannter Mann mit diesem protzigen Hohe-Position-in-der-Unterwelt-Äußeren ist ungewöhnlich; in der Regel kennen wir sie ganz einfach. Also ist er höchstwahrscheinlich frisch angekommen. Seit einer Woche herrschte bei den Frauen in Slagsta eine gewisse Unruhe. Es ist wohl nicht gänzlich absurd, das eventuelle Auftauchen eines Kokain schnupfenden Mannes mit hellrosa Anzug und dicker Goldkette in der Nähe des Norrboda-Motels in der letzten Woche abzuchecken? Dann bekommen wir vielleicht außerdem eine Personenbeschreibung.«

»Das hört sich schon besser an«, murmelte Hultin.

»Vielleicht ist es Lasse Berghagen höchstpersönlich«, sagte Viggo Norlander.

»Und wenn wir die ganze Argumentation ein bißchen umdrehen?« sagte Gunnar Nyberg plötzlich. »Haben vielleicht die Damen ihren Zuhälter verfolgt und ihn zu den Philosophen hineingeworfen?«

»Vielfraßen«, korrigierte Chavez säuerlich.

»Kaum«, sagte Holm. »Sie waren bis mindestens um halb drei in der Nacht an Ort und Stelle in Slagsta. Mehrere Zeugen haben sie gerade gegen zehn Uhr am Abend gesehen und gehört, als unser Mann über den Wolfszaun kletterte.«

»Haben sie denn Kunden empfangen?« fragte Hjelm. »War business as usual?«

Kerstin Holm wandte sich ihm zu und gab ihm einen kaum zu deutenden Blick, der ihn fast zurückschrecken ließ. Ihr Verhältnis war seit Skövde vor einem Jahr etwas angespannt. Da war er am Arm und sie am Kopf getroffen worden, und sie lagen nebeneinander, und ihr Blut vermischte sich unter einem Himmel, der alle Schleusen weit geöffnet hatte, und sie, völlig fertig, völlig durchnäßt, völlig blutig, hatte geflüstert: »Paul, ich liebe dich.«

Damit war nicht leicht umzugehen. Nicht zuletzt für einen verheirateten Mann.

Schließlich antwortete sie: »Wir sehen da noch nicht ganz klar. Auch das muß näher überprüft werden. Möglicherweise gibt es Anzeichen dafür, daß die Prostitutionstätigkeit als solche in den letzten Tagen eingeschränkt worden ist.«

»Na dann«, sagte Hultin und klappte diverse Mappen zusammen. »Dann zeichnen sich ja die Konturen der heutigen Aufgaben ab. Paul und Jorge gehen zurück nach Skansen und untersuchen eventuelle Alternativwege zur Überwindung des Wolfszauns. Wir müssen ganz einfach Klarheit bekommen, ob wir es nun mit einem Mord zu tun haben oder nicht. Kerstin und Sara reißen sich Viggo und Gunnar unter den Nagel und vernehmen weitere Personen, die etwas mit diesem Slagsta-Bordell zu tun haben. Auch da müssen wir tatsächlich erst einmal nachfragen, ob es sich überhaupt um ein Verbrechen handelt. Vielleicht sind wir auf dem völlig falschen Dampfer. Außerdem kann ich mitteilen, daß wir das hier bekommen haben.«

Er hielt eine Ansichtskarte voller Weinflaschen in die Höhe.

»Aha«, sagte Chavez, immer noch stinkig. »Die Erben.«

»Von Arto Söderstedt im Chianti, ja«, sagte Hultin, zog die Eulenbrille hinunter auf die Nasenspitze und las: ›Ihr Racker. Hier schuftet man sich ab mit dem Keltertreten, während Ihr Euch in dem frühlingshaften Stockholm einen Lenz macht. Tja, ungleich sind des Schicksals Lose. Wißt Ihr übrigens, wie man fünf Wassermelonen auf sieben Personen verteilt? Alle Vorschläge werden dankbar entgegengenommen. Zerschneiden gilt nicht. Grüße von einem warmen, pinienduftenden und Vin Santo-vernebelten Abend.‹

»Scheißkerl«, sagte Viggo Norlander.

Tiefer Schmerz
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