19
»Beim Schwarzen Chunkrah!« rief ich und trat heftig in den Sand. »Wenn ich nur wüßte, was wir tun sollen!«
»Ich habe dir doch gesagt, Kohlkopf, wir sind ...«
»Ja, ja, Hühnchen. Schon gut. Aber es gefällt mir nicht, Mishuro alleinzulassen ...«
»Llodi ...«
»Ich weiß. Llodi wird mit der Situation schon fertig. Aber nimm einmal an, Hühnchen, nimm nur einmal an, unsere Zielperson wäre wirklich Mishuro.«
Der Tag ging dem Ende entgegen, die Zwillingssonnen Scorpios, Luz und Walig, fielen vor uns dem Horizont entgegen. Riesige ocker- und schokoladenbraune, goldene und zinnoberrote Gebilde füllten den Himmel mit Streifen und Bögen und riesigen Wolkenbänken. Es herrschte ein regenbogenartiges Durcheinander. Rote und grüne Schatten dehnten sich hinter uns.
»Nimm es einmal an.«
»Dann bringen die Everoinye uns zurück, Drajak!«
»Es hat zwischen mir und den Herren der Sterne Auseinandersetzungen gegeben. Sie sind nicht unfehlbar. Sie machen Fehler.«
»Kohlkopf! Um des süßen Gahamonds willen, halt an dich!«
»Ich meine doch nur, daß sie uns vielleicht zu spät zurückversetzen.« Ich schritt neben unserem Wagen her, der sich mit der kleinen Karawane durch tiefen Sand bewegte. Bald würden wir das Lager erreichen, und ich spürte eine große Unruhe in mir. »Wenn die Herren der Sterne nicht bald etwas unternehmen ...«
»Das bewiese doch nur, daß Mishuro nicht der Gesuchte ist.«
»Nicht unbedingt! Ich hab's dir eben schon gesagt: Die Everoinye machen Fehler. Sie sind alt. Sie haben mich schon öfter in größte Schwierigkeiten gebracht ...«
»Es würde mich nicht überraschen, wenn sie sich dazu entschlössen, dich zu maßregeln.«
»Ach, auch das haben sie schon getan! Aber hier und jetzt geht es mir darum, die Dinge so zu tun, wie sie sie haben wollen.« Wenn es unter den vielen Dingen, die ich nicht mag, etwas gibt, das ich am meisten verabscheue, dann ist es das Unvermögen, zu einer Entscheidung zu kommen. Ich nehme mir gern etwas fest vor und erledige es dann auch.
»Also schön, Hühnchen«, fuhr ich fort. »Unsere Zielperson könnte Mishuro sein. Aber auch Nanji und Floria. Eigentlich käme jeder in Frage, den du mit Rafael aus dem Feuer gezogen hast ...«
»Ja! Und das schließt dich ein!«
»Ja, das schließt mich ein. Wir sind zu zweit. Du hältst dich daran, was du für richtig hältst, ich gehe meiner Überzeugung nach.« Finster starrte sie mich an. »Mishuro ist offenkundig die wichtigste Person, mit der wir in Berührung gekommen sind ...«
»Was aber nicht unbedingt etwas bedeuten mußt, wie du selbst schon gesagt hast und wir beide sehr wohl wissen.«
»Richtig. Wenn du dir alle Kandidaten anschaust, käme jeder ...«
»Ja, ja!« fauchte sie. »Und?«
»Ja, ich kehre nach Makilorn zurück und behalte Mishuro im Auge.«
Sie war mit großen kräftigen Schritten gegangen und hatte dabei mehr als einmal hohe Sandfontänen aufgeworfen. Nun senkte sie den Kopf und warf mir einen kurzen Seitenblick zu, wie ein Vogel. »Wenn du es für das beste hältst, Kohlkopf. Meine Bündel sind beinahe voll nachgewachsen. Ich möchte nicht mit dir streiten oder dir Befehle geben, die du vielleicht für ungerechtfertigt hältst.«
Ich schloß meine Weinschnute mit lautem Knall. Sehen Sie! Wie hätte ich dieses Mädchen gemein behandeln können? Sie tat ihre Arbeit und versuchte sie gut zu tun. Und da war ich, ein haariger alter Graint, ein Leem-Jäger, ein ungezügelter Kämpfer, ein Zhan-Paktun und noch vieles mehr – und ich rollte wie eine selbstzerstörerische Lawine daher und drohte sie mit meiner miesen Stimmung niederzuwalzen.
»N-nun ja ...«
»Wenn du es für richtig hältst. Ich gebe offen zu, daß ich mir um San Tuong Sorgen mache.«
»Gib mir ein Tier, irgendein Tier, und ich reite zurück.«
Sie lachte, was mich nun doch – auf sehr angenehme Weise überraschte.
»Schön, und wenn ich mich irre und die Everoinye eingreifen, bin ich noch vor dir in Makilorn!«
»Bei Zair! Du hast recht!«
Erst als ich auf dem Rücken des schäbigen kleinen weißen Preysanys saß, den Mevancy einem rotgesichtigen Kaufmann für wenig Geld abgeluchst hatte, beschäftigte ich mich mit dem Gedanken, daß die Everoinye womöglich nicht eingreifen würden. Mevancy war doch sicher in der Lage, allein zurechtzukommen, oder? Beinahe hätte ich Blanky herumgezogen und wäre zurückgeritten; dann bannte mich wieder der Gedanke an Mishuro. Mevancy mußte allein zurechtkommen, sollte das Schicksal sich gegen sie wenden.
Die vor mir liegende Wüste leuchtete im rosagoldenen Licht der Frau der Schleier. Dieser kregische Mond hatte meinem Herzen stets besonders nahegestanden, und ich wurde von einer besinnlichen Stimmung ergriffen. Aus dieser Stimmung heraus kann ich erwähnen, daß die Frau der Schleier der größte kregische Mond ist und daß er nur aufgrund seiner großen Entfernung vom Planeten kleiner wirkt als die Zwillinge und die Jungfrau mit dem Vielfältigen Lächeln.
Schatten huschten durch das Mondlicht.
Einen Augenblick lang spannte ich die Muskeln an und ergriff mein Schwert; dann sah ich den ungeordneten Schwarm der Umbler stocken; offensichtlich planten sie für die Nacht, ein Lager aufzuschlagen. Eine seltsame Diffrasse waren die Umbler, sprunghaft, unfähig, eine Schneise tolpatschigen Versagens hinter sich zurücklassend. Es ging ziemlich lärmend zu, während geflickte Zelte aufgestellt und Holz gesucht wurde und Kinder kreischend in allen Richtungen durcheinanderliefen. Bei der berüchtigten Ungeschicklichkeit der Umbler war es ein Wunder, daß sie überhaupt Nachkommen bekamen. Wahrlich, Kregen beherbergt eine erstaunliche, prächtige Vielfalt von Diffs!
Ich schüttelte den Kopf und ritt weiter und befand mich nach einiger Zeit bereits zwischen den Bewässerungsgräben Makilorns.
Umbler gehen anderen Leuten gern aus dem Weg. Allerdings ist die Auffassung weit verbreitet, daß sie nicht in der Lage wären, sich ohne Hilfe Häuser zu bauen, die sonst ausnahmslos wieder in sich zusammengefallen wären. Es gibt nur eine Fähigkeit, die die Umbler bekanntermaßen besitzen, und dafür sind sie auch gleich weltberühmt. Sie züchten die besten Ziegen. Es gibt auf Kregen viele Ziegenrassen mit einer Vielzahl von Namen. Umbler können mit diesen Tieren hervorragend umgehen.
Da die Tsungfariler im Augenblick aus keiner Richtung eine direkte militärische Invasion erwarteten, waren die Mauern Makilorns kaum bewacht. Das Mondlicht spiegelte sich auf wenigen Helmen auf den Mauerkronen. Ich hielt auf das Pancheen-Tor zu. Der intensive Duft der Mondblüten versüßte die Luft hinter einem offenen Abfluß. Ich hörte das Lärmen und nahm im gleichen Moment den Gestank wahr.
Allzu vertraut waren mir diese Geräusche, sehr verbreitet auf Kregen, aber doch schrecklich. Das Scharren von Stahl gegen Stahl, das schlurfende Stampfen von Sandalen, das dumpfe feuchte Auftreffen von Waffen, gefolgt von plötzlich abbrechenden Schmerzlauten – o ja, dies war das Kregen, das ich kannte.
Die braunbehängten Gestalten stiegen wie Phantome aus den Schatten auf, und das Mondlicht erzeugte schwarze und silberne Flecken auf ihren leuchtenden Klingen.
Ein kurzer Eindruck von hakennasigen Gesichtern, finster und schmal, das Gewirbel eines Umhangs, der klare Blick auf kunstvoll verzierte Abzeichen, die an den Turbanen leuchteten – mehr gewahrte ich nicht. Die Attentäter verschwanden.
Der arme Kerl, auf den sie es abgesehen hatte, brauchte sich über sein Schicksal hier auf Kregen keine Sorgen mehr zu machen. Sicher bemühte er sich gerade um den besten Weg, ungeschoren an den gespenstischen Slaptras und den alles lähmenden Geistern des Todesdschungels von Sichaz vorbeizukommen. Hier zeigte sich das harte, böse Gesicht dieser wunderbaren Welt, ein Gesicht, das manchmal so lange zu schlafen schien, daß man die Schrecknisse vergessen konnte. Irgendwann aber sprang das lauernde Tier wieder hervor und fauchte und schüttelte Blutstropfen von Reißzähnen, die bereits tief zugebissen und das strahlende Leben zerrissen hatten. Ich stand auf und versprach dem Ib des Toten, ihm Leute zu schicken, die für eine anständige Beerdigung sorgen würden. Dann ging ich weiter und meldete mich rufend bei den Wächtern, die mich schließlich durch die Pforte des Pancheen-Tors in die Stadt ließen.
Das seltsame Drängen, das ich während des ganzen Rittes in mir gespürt hatte, ließ mich bei der Annäherung an Mishuros Villa eilen. Undenkbar, wenn der San während meiner Abwesenheit ermordet worden wäre! Im Laufschritt erreichte ich das Tor und sah, wie sich ein Bewaffneter von dem kleinen Wachhäuschen abwandte. Ich zerrte mein Schwert heraus.
»Ach, Drajak – das brauchst du nicht. Es ist eine lange Wache, wenn man so allein ist und so. Pulvia leistet mir nur ein bißchen Gesellschaft.«
Das Funkeln strahlender Augen im Mondlicht, das Blitzen von Zähnen, ein Schopf wallender schwarzer Locken – ja, diese Pulvia war schon eine angenehme Zerstreuung während einer langweiligen, ereignislosen Wache. Trotzdem ...
Er schien meinen Gesichtsausdruck richtig zu deuten, denn er sagte hastig: »Ich weiß, ich weiß. Aber es tut sich ja nichts, seit Dame Mevancy fort ist. Es ist wirklich still und so.«
Ich atmete auf, wußte ich doch, daß es mir nicht zustand, Llodi zu tadeln oder zu bestrafen. Er war ein guter Kamerad. »Ich wünsche dir Mildes Mondlicht«, sagte ich und ging zur Villa. ›Mildes Mondlicht‹ – dies ist einer der vielen kregischen Begriffe, wenn man jemandem einen guten Abend wünschen will.
Die Dienstboten versicherten mir, daß San Mishuro sicher in seinem Bett liege.
Ich überprüfte diese Information natürlich und fand, daß sie zutraf.
Dennoch war ich nicht enttäuscht oder erleichtert. Der eilige Ritt durch die Wüste bei Mondschein, der blutrünstige Vorfall vor der Stadt, die vorübergehende, das Herz zusammenkrampfende Sorge, was aus Llodis Neckereien mit Pulvia hätte werden können ... und dann das Objekt aller dieser Sorgen wie ein Kind im Bett vorzufinden – all dies entfachte meine Sorge nur noch mehr. Meine Spannung stieg. Ich fühlte keine Erleichterung von der alles ergreifenden Erwartung der Gefahr. Meine Angst steigerte sich womöglich noch.
Die nächsten zwei oder drei Tage vergingen, als liefe das Leben in völlig normalen Bahnen. Mishuro hieß mich ohne Umstände wieder in seinem Haushalt willkommen. Wir aßen und tranken, schliefen und gingen spazieren, spielten Jikaida und unterhielten uns über anspruchsvolle Themen – und dies alles, als wäre mit unserer Existenz alles in Ordnung. Gleichzeitig zerrte ein innerer Sturm der Besorgnis an meinen Nerven und drohte mich zu einem Wrack zu machen.
Keine Nachricht von Mevancy.
An einem Vormittag, da die Strahlung der Zwillingssonne von einem hohen dünnen Dunstschleier, der sich als Wolke ausgab, neblig gebrochen wurde, fragte mich Mishuro, ob ich ihn zur Villa von Oberherr Kuong begleiten wolle. Ich freute mich über die Abwechslung und erklärte mich einverstanden. Inmitten des seltsam bunten Lichts machten wir uns auf den Weg. Mishuro erzählte, daß Kuong Vang Talin, Trylon von Taranik, vor kurzem das Alter erreicht hatte, in dem es für angemessen gehalten wurde, daß er die Verwaltung seiner Besitzungen selbst in die Hand nahm. Als Paol-ur-bliem war er unter der Anleitung seines Bewahrers San Caran zum Mann herangewachsen. Ich gewann den Eindruck, daß Mishuro keine hohe Meinung von San Caran hatte. »Er hat noch zahlreiche Leben auf dieser sündigen Welt vor sich«, sagte Mishuro. »Nicht daß dies seine Strafe wäre. Kuong ist ein liebenswerter Bursche.«
Trylon Kuong entpuppte sich tatsächlich als ein gutgelaunter, zugänglicher junger Mann. Er hatte einen klaren Blick und rötliche Wangen und volle Lippen. Ich konnte mir vorstellen, daß ihm die Herzen vieler Mädchen zufliegen würden. Er begrüßte uns zuvorkommend. San Tuong wollte eben das Gespräch eröffnen, als San Caran den Raum betrat.
Also, wie soll ich ihn beschreiben?
Wenn man einer Katze in der falschen Richtung über das Fell streicht, kann es Funken geben.
Doch wurde die Begegnung auf beiden Seiten mit ausgesuchter Höflichkeit zu Ende gebracht. San Caran deutete San Tuong auf sehr indirekte Weise an, er solle verschwinden und sich nicht länger in Dinge einmischen, die ihn nichts angingen. San Tuong antwortete, er sei nicht glücklich über die Art und Weise, wie San Caran die Geschäfte des Trylons führte. Die Herren befleißigten sich einer hübschen Sprache, aber ich gewann schließlich doch den Eindruck, daß Caran, der die Besitztümer so lange verwalten durfte, seine Macht nicht so ohne weiteres an den Jungen abtreten wollte, den er schon als kleines Kind betreut hatte.
Mit zynischem Spott, der mich selbst nicht ausnahm, konnte ich mir vorstellen, daß Trylon Kuong zufrieden und wohl versorgt war und von Mädchen gejagt wurde. Immerhin hatte er Geld und Besitztümer, bei Krun! Warum sollte er sich nicht vergnügen? Wenn diese Art zu leben seine Strafe war, so sollte man meinen, müßten sich die Menschen doch in langer Schlange anstellen, um sich eine solche Strafe abzuholen. Die Wirklichkeit sah natürlich ganz anders aus. Kein Tsungfariler war gewillt, ein Leben um das andere zu warten, bis ihm der Eintritt ins Gilium gewährt wurde. So prächtig das Leben eines Paol-ur-bliems auch sein mochte, das Paradies des Gilium bot unvorstellbare Verzückungen.
San Caran hatte den Vorteil in zweifacher Hinsicht.
Er genoß die Freuden eines üppigen Lebens im Hier und Jetzt, und sein Eintritt in das Gilium war gebucht und gesichert.
O nein. Er war nicht gewillt, einem Jüngling seine Macht und seinen Luxus abzutreten.
San Caran trug eine gelbbraune Robe mit grünen Pantoffeln und entsprechender Schärpe; sein langes Gesicht zeigte einen bekümmerten Ausdruck. Ich konnte mir nicht darüber klar werden, ob der schmerzliche Ausdruck der eines Märtyrers war oder der eines Mannes, der einen unangenehmen Geruch in der Nase hatte.
Der Besuch zeitigte nicht das geringste Ergebnis. Kuong war vor kurzem nach Makilorn zurückgekehrt, nachdem er eine gewisse Zeit in Taranik verbracht hatte, das im Westen lag. San Tuong brummte mir kopfschüttelnd zu, daß es dort Ärger, großen Ärger geben werde. »Und das schon ziemlich bald!«
»Ich nehme an, San Hargon und San Caran sind enge Freunde?«
»Und ob!«
»Vielleicht legt das jetzige System«, sagte ich vorsichtig, »eine zu große Macht in die Hand des Bewahrers.«
»Unbedingt. Die Königin hat ein offenes Ohr gehabt für Argumente, die darauf abzielen, das Gesetz zu ändern. Aber so etwas dauert immer seine Zeit.«
»Und unterdessen ...«
Er unterbrach mich, denn ihm schien ein weiterer Gedanke gekommen zu sein. »Caran weiß sehr wohl, daß ich die Königin beeinflussen will, das Gesetz zu ändern. Wenn Hargon einen neuen Paol-ur-bliem zu versorgen hätte, könnte er Caran und die anderen Bewahrer unterstützen. Doch Grund zur Sorge haben wir vor allem wegen der derzeitigen Politik der Königin gegenüber Tarankar.« Er schien plötzlich etwas außer Atem zu sein. »Nun ja, es steht uns nicht zu, uns da einzumischen. Was die Königin will, das will sie nun mal.«
Später am gleichen Tage mußte Mishuro an einer Versammlung teilnehmen, und ich hatte eine Zeitlang nichts vor. Nachdem ich mit Meister Twangs prächtigem Bogen einige Übungsschüsse abgegeben hatte, spürte ich den Wunsch nach einem kleinen Getränk. Das abendliche Geschäft begann gerade, auch wenn sich Makilorn doch sehr von Ruathytu oder Vondium unterschied, und noch mehr von Sanurkazz, wofür Mutter Zinzu meine Zeugin sei!
Bei unsicheren Wetterverhältnissen gab es hier wohl ein- oder zweimal in einem Jahrzehnt Wolken zu sehen. Die anfänglichen Dunstschleier waren nicht von der Sonne aufgezehrt worden, sondern hatten sich so weit verdichtet, daß der Abend früher kam als sonst. Ich kam gerade an Tongwan dem Langsamen vorbei, der an der Tür Wache stehen mußte, als ein Bündel Stoff auf uns zuhuschte. Wir gewahrten einen Schopf dunklen Haars, leuchtende Augen, schlanke Beine, die sich eilig unter angehobenen Röcken bewegten. »San Tuong!« rief das Mädchen. »Mord! Man ermordet Trylon Kuong!«
Tongwan packte sie und drehte sie herum. Ich erkannte das Mädchen, das Mishuro und mir während unseres Besuches bei Kuong Erfrischungen gereicht hatte. Tränen schimmerten in ihren Wimpern, aber sie war zornig wie ein Leem.
»Beeilt euch! Schickt Männer!« Sie versuchte sich aus Tongwans Griff zu lösen, doch er hielt sie fest. »Du Lummox! Worauf wartest du noch?«
»Gib dem San Bescheid!« befahl ich kurzentschlossen. »Ich bin unterwegs.«
Mit diesen Worten eilte ich aus der Villa und machte mich im Laufschritt auf den Weg zu Kuongs Anwesen.
Unterwegs legte ich mir die Grundzüge der Verschwörung zurecht, wie sie offenbar ablief. Mishuro hatte San Caran nervös gemacht, der sofort zu handeln beschloß. Wenn Trylon Kuong tot war, mußte ein neuer Trylon Kuong gefunden werden. Als Bewahrer würde Caran das Kind versorgen und anleiten. Mishuro hatte davon gesprochen, daß der bindende Eid, den alle Dikaster leisten mußten, wenn sie Tsung-Tan beim Wahrsagen und Bewahren dienen wollten, für Hargon oder Caran nicht sonderlich bindend zu sein schien. Ihn schien dieser Verlust an Zuverlässigkeit und Treue zu bekümmern. Wahrscheinlich konnte sich Mishuro nicht vorstellen, daß eine Person, die sich als Dikaster vereidigen ließ, vielleicht gar nicht wirklich an das Paol-ur-bliem glaubte. Statt dessen würde eine solche Person vor allem an die Macht und den zunehmenden Reichtum glauben. Bei Krun, ja!
Eine oder zwei Leute musterten mich seltsam; niemand versuchte mich aufzuhalten.
Ich stürmte durch Kuongs Vordertür und fand dort keine Wachen. Caran hatte viele Perioden Zeit gehabt, sie für sich einzunehmen. Ich fürchtete schon, daß ich zu spät kommen würde.
Carans Tat schien mir schließlich von einer zu großen Vorsicht bestimmt zu sein. Anstatt die Wachen des Trylons dazu zu bringen, ihn zu erledigen, hatte Caran berufsmäßige Attentäter angeworben und dafür gesorgt, daß die Wächter von den wichtigen Posten abgezogen wurden. Auf diese Weise konnte niemand einen anklagenden Finger auf den Bewahrer richten.
So selbstsicher war Caran und – offensichtlich – auch so geizig, daß er nur zwei Stikitche beauftragt hatte. Als ich nun in Trylon Kuongs Gemächer stürmte, boten die beiden mit ihren schwarzen Mänteln und Masken und reichlichem Waffenarsenal einen bunten Anblick.
Zu meiner Überraschung war San Caran persönlich anwesend; er kauerte neben einem hohen Krug voller Blüten. Ihr süßes Parfüm durchwehte die Räume.
»Nun macht schon!« kreischte er, als ich über die Schwelle eilte. »Er ist doch nur ein Junge!«
Der Junge hatte ein Schwert in der Faust und leistete energisch Widerstand.
San Caran kreischte: »Tötet ihn! Tötet ihn!« Er stand dermaßen im Bann seiner Leidenschaft und Ungeduld, daß ihm Schaum aus den Mundwinkeln trat. Als er mich sah, rief er: »Hinter euch! Noch einer! Streckt beide nieder!«
Obwohl ich keine sehr hohe Meinung von dem Können der hiesigen Attentäter hatte, ließen sie es immerhin nicht zu, daß ich sie von hinten überraschte. Einer setzte sich weiter mit dem Trylon auseinander, der andere fuhr herum, um mich zu erledigen. Er war nicht schnell genug und sank mit klaffender Halswunde zu Boden. Daraufhin stieß Caran einen unmenschlich lauten Schrei aus und stürzte sich auf mich; der lange Dolch in seiner Faust funkelte bedrohlich.
Kuong erlitt einen Kratzer an der Wange, wich keuchend zurück und streifte sich mit der Linken das Haar aus dem Gesicht. Sein Attentäter bedrängte ihn stumm triumphierend; im gleichen Augenblick erreichte uns Caran. Ich hatte keine Zeit zum Denken. Ich sah, wie die Dinge standen, ich sah die beiden Angreifer, die beiden Aufgaben, die sich mir stellten – und ich handelte.
Ein schneller Sprung ließ mich gegen den Attentäter rempeln, als mein Schwert Carans Hieb abwehrte. Die Klinge zuckte wie aus eigenem Antrieb vor und glitt Caran zwischen die Rippen. Im gleichen Augenblick fuhr meine linke Faust herum und versetzte dem Attentäter einen Hieb hinter das Ohr. Er sackte nicht zu Boden. Caran stieß ein gurgelndes Seufzen aus und sank in die Knie. Der Attentäter, der sich von Kuong abwandte und sein Gleichgewicht zurückgewann, bekam dies alles mit.
Er traf eine Entscheidung, die ihm in diesem Augenblick als die richtige erschienen sein mußte, und machte Anstalten, die Flucht zu ergreifen. Meine Klinge pfiff in einem flachen niedrigen Bogen herum und traf ihn am Unterleib. Er stieß einen kurzen Schrei aus und brach zusammen.
»Das war ...«, sagte Kuong. »Du bist sehr schnell.«
»Also, Trylon«, sagte ich, »jetzt haben wir einen toten Bewahrer am Hals.«
Kuong nahm sich spürbar zusammen. Ein Hauch der normalen Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. Er hob eine Hand an die Stirn. Dann sagte er: »Bekümmere dich nicht, Walfger Drajak. Caran hat durch seine Tat die Ehre und den Schutz verspielt, die seine Stellung ihm boten. Du hast vom Kolleg nichts zu befürchten.«
Ich gebe zu, daß ich ehrlich erleichtert war. Es war riskant, sich in die Gesetze und Gebräuche anderer Menschen einzumischen. Bedenken Sie, was mir zuvor widerfahren war – dabei hatte ich einen Bewahrer nur mit ein paar scharfen Worten bedacht!
Als eine Horde von Wächtern und Dienstboten hereinstürmte, hatte sich Kuong wieder ganz im Griff. Tongwan ließ ungebärdig seinen Speer hin und her fahren. »Diesmal war ich nicht langsam, bei Yakwang!«
Ich lobte ihn wegen seiner Schnelligkeit. Dann schaute ich mich um und fragte: »Wo ist Llodi?«
»Er bewacht die innere Haupttür«, antwortete Chiako der Bauch, dem es darum ging, bei diesen wichtigen Ereignissen seine Autorität klarzustellen. »Ich vernachlässige doch nicht meine Pflichten.«
Etwa in diesem Augenblick wurde mir das Schrecknis bewußt.
Ich sah klar.
Ohne mir die Mühe zu machen, einen Ruf auszustoßen, und ohne ein erklärendes Wort stürmte ich so schnell wie möglich aus dem Zimmer. Ich wußte bereits, daß der Plan gelungen war und daß ich so blind war wie der dümmste aller Idioten.