Die Elenden

Victor Hugo

1862

1

Inhaltsverzeichnis

I  Fantine

Ein Gerechter

 Myriel

 Herr Myriel wird der Herr Bischof Bienvenu

 Ein tüchtiger Arbeiter findet viel zu thun

 Uebereinstimmung von Thaten und Worten

 Der Bischof Bienvenu trägt seine Sutanen zu lange

 Von wem er sein Haus bewachen ließ

 Cravatte

 Philosophie bei Tische

 Was die Schwester über den Bruder erzählt

 Eine neue Erleuchtung

 Eine Einschränkung

 Warum der Bischoff allein stand

 Sein Glaubensbekenntiß

 Seine Philosophie

Der Fehltritt

 Am Abend eines Tagemarsches

 Alltagsweisheit und Philosophie

 Heldenmüthiger Gehorsam

 Über die Käsereien in Pontarlier

 Furchtlose Seelenruhe

 Jean Valjean

 Wie es im Herzen eines Verzweifelten aussieht

 Ein Mann über Bord!

 Neue Mißhandlungen

 Das Erwachen

 Was er that

 Der Bischof bei der Arbeit

 Der kleine Gervais

Im Jahre 1817

 Das Jahr 1817

 Ein Doppelquartett

 Vier und Vier

 Tholomyés singt vor Freude ein spanisches Lied

 Bei Bombarda

 Wie man sich gegenseitig anbetet

 Die Weisheit des Tholomyès

 Tod eines Pferdes

 Das lustige Ende der Lustigkeit

In schlechten Händen

 Zwei Mütter

 Erste Skizze zweier verdächtiger Gestalten

 Die Lerche

Dem Abgrund zu

 Ein Fortschritt in der Glasindustrie

 Madeleine

 Bei Lafitte hinterlegte Gelder

 Madeleine trauert

 Schwarze Punkte am Horizont

 Vater Fauchelevent

 Fauchelevent kommt als Gärtner nach Paris

 Frau Victurnien giebt fünfunddreißig Franken für moralische Zwecke aus

 Was Frau Victurnien Schönes angerichtet hatte

 Weitere Erfolge der Frau Victurnien

 »Christus hat uns befreit.«

 Wie Herr Bamatabois sich amüsirte

 Ueber gewisse Polizeireglements

Javert

 Anfang der Ruhe

 Wie aus Jean Champ wird

Der Fall Champmathieu

 Schwester Simplicia

 Ein Schlaukopf

 Ein Sturm unter einem Schädel

 Die Form, die Seelenqualen während des Schlafes annehmen

 Hemmnisse

 Schwester Simplicia wird auf die Probe gestellt

 Der Angekommene trifft Maßregeln, um wieder umzukehren

 Eine Vergünstigung

 Ein Ort, wo man sich eine Überzeugung bildet

 Er legte sich aufs Leugnen

 Champmathieu wundert sich noch mehr

Der Rückschlag

 In was für einem Spiegel Madeleine sein Haar ansieht

 Fantine ist glücklich

 Javert freut sich

 Die Obrigkeit macht ihr Recht geltend

 Ein anständiges Begräbniß

II  Cosette

Waterloo

 Was man sieht, wenn man von Nivelles kommt

 Hougomont

 Am 18. Juni 1815

 A

 Das Quid obscurum der Schlachten

 Vier Uhr Nachmittags

 Napoleon bei guter Laune

 Eine Frage Napoleons an seinen Führer Lacoste

 Etwas Unerwartetes

 Die Hochfläche von Mont-Saint-Jean

 Ein Führer, von dem viel abhing

 Die Garde

 Die Katastrophe

 Das letzte Karré

 Cambronne

 Quot libras in duce?

 Ueber die Folgen der Schlacht bei Waterloo

 Die Wiederbelebung des Gottesgnadenthums

 Das Schlachtfeld bei Nacht

Der Orion

 Nr. 24601 wird Nummer 9430

 Zwei Verse, die der Teufel gedichtet haben soll

 Eine angefeilte Kette

Das eingelöste Versprechen

 Die Wasserpein in Montfermeil

 Vervollständigung zweier Charakterschilderungen

 Wein für die Menschen und Wasser für die Pferde

 Die Puppe

 Allein

 Daß Bousatruesse vielleicht Recht hatte

 Cosette und der Unbekannte

 Ein armer Mann, der reich zu sein scheint

 Thénardiersche Manöver

 Verrechnet

 Cosette gewinnt das große Loos mit Nr. 9430

Das Gorbeausche Haus

 Meister Gorbeau

 Das Nest des Uhus und der Lerche

 Unglück und Unglück zusammenaddirt giebt Glück

 Was die Vicewirtin beobachtete

 Ein Fünffrankenstück, das Lärm macht

Eine stumme Meute

 Strategischer Zickzack

 Ein Glück, daß auf dem Pont d’Austerlitz Wagen fahren

 Siehe den Plan von Paris aus dem Jahre 1727

 Umhertastend

 Ein Königreich für einen Strick!

 Anfang eines Räthsels

 Die Fortsetzung des Räthsels

 Immer mehr Räthsel

 Der Mann mit dem Glöckchen

 Wie es kam, daß Javert den Vogel nicht fing

Das Kloster Petit-Picpus

 In der Rue Picpus Nr. 62

 Die Obedienz Martin Verga’s

 Strenge Observanz

 Erholungen

 Zerstreuungen

 Das kleine Kloster

 Einige Silhouetten

 Post corda lapides

 Ein Jahrhundert im Kloster

 Der Ursprung der beständigen Anbetung

 Das Ende des Klosters Petit-Picpus

Eine Parenthese

 Das Kloster als abstrakte Idee

 Das Kloster als geschichtliche Thatsache

 Mit welchem Vorbehalt man die Vergangenheit achten kann

 Principielle Fragen über die Berechtigung des Klosterwesens

 Das Gebet

 Ueber die absolute Vorzüglichkeit des Gebetes

 Vorsicht beim Tadel

 Glaube und Gesetz

Die Kirchhöfe nehmen, was man ihnen giebt

 Wie man in ein Kloster hineinkommt

 Fauchelevent der Schwierigkeit gegenüber

 Mutter Innocentia

 Nach Austin Castillejo

 Auch Trunkenbolde sind nicht unsterblich

 Zwischen vier Brettern

 Eine verlorne Karte

 Ein gut bestandenes Verhör

 In der Klausur

III  Marius

Ein Atom von Paris

 Parvulus

 Einige von seinen Merkmalen

 Wie nett er ist!

 Vielleicht ist er zu etwas nütze

 Sein Wohngebiet

 Zur Geschichte der Kinder

 Die Straßenjugend — eine Kaste

 Ein Scherz des vorigen Königs

 Hin echter Gallier

 Ecce Lutetia, ecce homo

 Spotten heißt regieren

 Das Volk, der Träger der Zukunft

 Der kleine Gavroche

Ein Mann von altem Schrot und Korn

 Ein rüstiger Alter

 Wie der Hausherr, so die Wohnung

 Luc-Esprit

 Hundert Jahr

 Baske und Nicosette

 Die Magnon und ihre Kinder

 Nur des Abends Besuche empfangen

 Ungleiche Schwestern

Großvater und Enkel

 Ein Salon der alten Zeit

 Eines von den rothen Gespenstern jener Zeit

 Requiescant

 Der Tod des Räubers

 Wie Einer in der Kirche zum Revolutionär werden kann

 Was bei einer Begegnung mit einem Kirchenvorsteher Alles herauskommen kann

 Irgend eine Schürze

 Marmor und Granit

Die Freunde des A-B-C

 Eine Gesellschaft, die beinah eine Rolle in der Geschichte gespielt hätte

 Eine Leichenrede

 Marius wundert sich

 Im Hinterzimmer des Cafè Musain

 Eine Erweiterung des Horizonts

 Res angusta

Die Vortheile des Unglücks

 Marius im Elend

 Marius Armuth nimmt ab

 Marius als Mann

 Mabeuf

 Armuth und Elend halten gute Nachbarschaft

Die Zusammenkunft zweier Sterne

 Wie man zu einem Familiennamen kommen kann

 Und es ward Licht

 Eine Wirkung des Frühlings

 Der Anfang einer schweren Krankheit

 Arme Frau Burgon!

 Gefangen

 Vermuthungen über den Buchstaben U

 Ein glücklicher Invalide

 Eine Wolke am Horizont

Patron-Minette

 Minen und Mineure

 Die unterste Schicht

 Babet, Gueulemer, Claquesous und Montparnasse

 Die Organisation der Bande

Der böse Arme

 Eine merkwürdige Begegnung

 Ein Fund

 Vierstirnig

 Eine verkümmerte Rose

 Das Guckloch

 Ein Raubthier in seiner Höhle

 Strategik und Taktik

 Eine Lichtgestalt in der Hölle

 Jondrette weint beinahe

 Zwei Franken pro Stunde

 Das Elend bietet dem Kummer seine Dienste an

 Was für Leblancs fünf Franken angeschafft wurde

 Zwei, die nicht zusammen beten

 Zwei Terzerole

 Was Jondrette kaufte

 Ein Lied aus dem Jahre 1832

 Wozu Marius’ Fünffrankenstück gebraucht wurde

 Marius’ Stühle bilden vis-à-vis

 Im dunklen Hintergrunde

 In der Falle

 Immer erst den Angegriffenen arretiren!

IV  Eine Idylle und eine Epopöe

Ein wenig Geschichte

 Gut zugeschnitten

 Schlecht genäht

 Louis Philippe

 Schwache Grundmauern

 Unbeachtete geschichtliche Thatsachen

 Enjolras und seine Offiziere

Eponine

 Das Feld der Lerche

 Wie im Gefängniß Verbrechen ausgeheckt werden

 Was Vater Mabeuf für eine Erscheinung hatte

 Eponine und Marius

In der Rue Plumet

 Ein Haus mit einem Geheimniß

 Jean Valjean als Nationalgardist

 Foliis ac frondibus

 Ein anderes Gitter

 Die Rose merkt, daß sie gefährlich werden kann

 Der Krieg beginnt

 Immer mehr Trauer

 Die Galeerensklaven

Hülfe, die von unten ausgeht und von oben ankommt

 Aeußerliche Verwundung und innere Heilung

 Wie Mutter Plutarque ein Wunder erklärt

Schlechter Anfang, gutes Ende

 Die Kaserne neben der Einöde

 In tausend Ängsten

 Noch mehr Angst

 Ein Herz unter einem Stein

 Nach der Lektüre des Briefes

 Wenn Vater zur rechten Zeit ausgeht

Der kleine Gavroche

 Ein böser Schelmenstreich des Kindes

 Der kleine Gavroche zieht Vortheil aus einer Idee des Großen Napoleon

 Die Flucht

Die Gaunersprache

 Der Ursprung der Gaunersprache

 Die Etymologie der Gaunersprache

 Scherz und Ernst in der Gaunersprache

 Zwei Pflichten: Wachen und Hoffen

Freud und Leid

 Ein Wonnezustand

 Betäubt vom Glück

 Eine Trübung des Glücks

 Ein tapfrer Hund

 Nächtliches

 Marius fängt an praktisch zu werden

 Ein altes und ein junges Herz

Wohin?

 Jean Valjean

 Marius

 Mabeuf

Am 5. Juni 1832

 Oberflächliche Prüfung der Frage

 Die gründliche Prüfung der Frage

 Ein Begräbniß

 Wie es ehemals brodelte

 Die Eigenart der Stadt Paris

Eine Winzigkeit, die sich mit dem Orkan verbrüdert

 Gavroche’s Poesie

 Gavroche auf dem Marsche

 Gerechte Entrüstung eines Barbiers

 Die Jugend wundert sich über das Alter

 Der Alte

 Rekruten

Corinthe

 Geschichte des Restaurants Corinthe

 Eine vergnügliche Vorbereitung

 In Grantaire’s Seele wird es Nacht

 Ein Versuch die Wittwe Hucheloup zu trösten

 Die Vorbereitungen

 Auf der Wacht

 Der Rekrut von der Rue des Billettes

 Le Cabuc

Marius unter den Insurgenten

 Von der Rue Plumet nach der Rue Mondétour

 Paris aus der Eulenperspektive

 Am äußersten Rande

Die Großthaten der Verzweiflung

 Die Fahne. — Erster Akt

 Die Fahne. — Zweiter Akt

 Ein ungeladenes Gewehr

 Das Pulverfaß

 Der Tod eines Dichters

 Die Todesqualen nach den Lebensqualen

 Gavroche berechnet Entfernungen

Die Rue de l’ Homme-Armé

 Ein verrätherisches Löschblatt

 Ein Straßenjunge, der kein Freund des Lichtes ist

 Während Cosette und die Toussaint schlafen

 Gavroches Eifer für die gute Sache

V  Jean Valjean

Eine Schlacht zwischen vier Wänden

 Die Charybdis in der Vorstadt Saint-Antoine und die Scylla in der Vorstadt des Temple

 Angesichts des Verderbens

 Enttäuschte Hoffnungen

 Vier Mann weniger und Einer mehr

 Ein Ausblick von der Barrikade in die Zukunft

 Marius und Javert

 Die Lage verschlimmert sich

 Die Artillerie macht Ernst

 Ein guter Schütze

 Aurora

 Ohne zu töten

 Die Anordnung als Vertheidigerin der Ordnung

 Enttäuschte Hoffnungen

 Wie Enjolras’s Braut hieß

 Gavroche vor der Barrikade

 Der kleine Vater

 Mortuus pater filium moriturum expectat

 Der Verfolgte fängt den Verfolger

 Jean Valjean’s Rache

 Die Toten haben Recht und die Lebenden nicht Unrecht

 Die Heroen

 Der letzte Kampf

 Ein nüchterner Orestes und ein betrunkner Pylades

 Gefangen

Das Innere des Lewiathan

 Wie das Meer das Land ärmer macht

 Die Geschichte der Kloaken

 Bruneseau

 Unbekannte Einzelheiten

 Heute erzielte Fortschritte

 Zukünftige Fortschritte

In den Regionen des Koths

 Ueberraschungen in den Kloaken

 Die Erklärung

 Der Verfolgte

 Auch er trägt sein Kreuz

 In feinem Sande

 Das Schlammloch

 Bisweilen scheitert man, wo man zu landen glaubt

 Das abgerissene Stück Tuch

 Marius wird von Einem, der sich darauf versteht, für tot gehalten

 Die Rückkehr des verlornen Sohnes

 Eine Erschütterung des Absoluten

 Der Großvater

Javert geräth aus seinem Geleise

 Javert geräth aus seinem Geleise

Enkel und Großvater

 Wieder der Baum mit dem Zinkpflaster

 Nach dem Straßenkampf der häusliche Krieg

 Marius’ Attacke

 Fräulein Gillenormand findet das Buch, das Herr Fauchelevent unter dem Arm trägt, nicht übel

 Bei manchem Notar ist Geld nicht so gut aufgehoben, als in manchem Walde

 Die beiden Alten thun ihr Möglichstes, damit Cosette glücklich sein soll

 Reminiscenzen im gegenwärtigen Glück

 Zwei Unauffindbare

Eine schlaflose Nacht

 Am 16. Februar 1833

 Jean Valjean trägt den Arm noch immer in der Binde

 Der Handkoffer

 Immortale iecur

Der letzte Tropfen des Kelches

 Der siebente Kreis und der achte Himmel

 Die Zweifel, die eine Offenbarung hinterlassen kann

Es nachtet schwärzer

 Das Zimmer im Erdgeschoß

 Weiter rückwärts

 Sie erinnern sich des Gartens in der Rue Plumet

 Ein Niedergang

Durch Nacht zum Licht

 Seid mitleidig gegen die Unglücklichen, aber nachsichtig gegen die Glücklichen

 Das letzte Aufflackern der Lampe

 Wo ist die alte Hünenkraft geblieben?

 Ein Anschwärzer, der weiß brennt

 Die Nacht, hinter der der Tag steht

 Der Grabstein

VI  Nachtrag

So lange kraft der Gesetze und Sitten eine sociale Verdammniß existirt, die auf künstlichem Wege, inmitten einer hoch entwickelten Civilisation, Höllen schafft und noch ein von Menschen gewolltes Fatum zu dem Schicksal, das von Gott kommt, hinzufügt; so lange die drei Probleme des Jahrhunderts, die Entartung des Mannes durch das Proletariat, die Entsittlichung des Weibes infolge materieller Noth und die Verwahrlosung des Kindes, nicht gelöst sind; so lange in gewissen Regionen eine sociale Erstickung möglich sein wird, oder in andern Worten und unter einem allgemeineren Gesichtspunkt betrachtet, so lange auf der Erde Unwissenheit und Elend bestehen werden, dürften Bücher wie dieses nicht unnütz und unnötig sein.

Teil I

Fantine

Ein Gerechter

Myriel

Im Jahre 1815 war Charles François Bienvenu Bischof von Digne. Er zählte damals fünfundsiebzig Jahre und hatte sein hohes Amt seit 1806 inne.

Letzterer Umstand steht eigentlich in keiner wesentlichen Beziehung zu dem Inhalt unsrer Erzählung, aber vielleicht ist es nicht überflüssig, — wäre es auch nur der Genauigkeit wegen — hier zu berühren, was über ihn bei seiner Ankunft in der Diöcese erzählt und gemuthmaßt wurde. Was man von einem Menschen sagt, spielt ja, gleichviel ob es wahr oder falsch ist, in seinem Leben oft eine ebenso wichtige Rolle wie seine Thaten und Handlungen. Myriel war der Sohn eines Parlamentsraths der Stadt Aix, gehörte also zu dem Beamtenadel. Man erzählte sich, sein Vater, der ihm sein Amt vererben wollte, habe ihn schon, als er erst achtzehn oder zwanzig Jahr alt war, verheiratet, wie dies bei dem Parlamentsadel gebräuchlich war. Trotz dieser Heirat hätte aber Charles Myriel viel von sich reden gemacht. Er war gut gewachsen, wenn auch von kleiner Statur, hielt sehr auf sein Aeußres, hatte feine Manieren und viel Geist und brachte den ersten Abschnitt seines Lebens mit weltlichen Zerstreuungen und Liebesabenteuern hin.

Da brach die große Revolution von 1789 aus, und als bald wurden auch die Familien des Parlamentsadels in den Strudel hineingerissen und decimirt, aus dem Lande gejagt, verfolgt, auseinander gesprengt. Auch Charles Myriel emigrirte gleich zu Anfang der Revolution nach Italien. Hier starb seine Frau an einer Brustkrankheit, an der sie schon seit Jahren gelitten hatte. Kinder hatten sie nicht. War es der Zusammenbruch der alten Weltordnung, der Niedergang seiner Familie, die Dramen des Schreckensjahres 1793, die den Emigrirten aus der Ferne noch entsetzlicher erschienen als sie in Wirklichkeit waren, kurz, waren es die äußerlichen Umwälzungen, die ihn der Welt und ihren Freuden entfremdeten? Oder traf mitten in dem Strudel seiner Vergnügungen ihn persönlich ein Unglück, das die tiefsten Tiefen seines Herzens aufwühlte und seinem Denken eine andere Richtung wies? Diese Fragen wußte Niemand zu beantworten; nur so viel stand fest, daß er, aus Italien zurückgekehrt, Priester war.

Im Jahre 1804 war Myriel Pfarrer von Brignolles, wo er ein sehr zurückgezogenes Leben führte. Zu dieser Zeit, kurz nach Napoleons Kaiserkrönung, kam er einmal behufs Erledigung eines Amtsgeschäftes nach Paris und mußte unter Andern auch dem Kardinal Fesch seine Aufwartung machen. Während nun unser wackrer Pfarrer im Vorzimmer wartete, kam zufällig auch der Kaiser um den Kardinal, seinen Oheim, zu besuchen. Ihm fiel ein gewisser Ausdruck von Neugierde auf, mit dem die Augen des Pfarrers ihm folgten, und, sich umwendend, fragte er barsch:

»Wer ist denn der gute Mann, der mich so ansieht?«

»Majestät, sagte Myriel, sehen einen guten, und ich einen großen Mann. Beide Teile können profitiren.«

Der Kaiser fragte nachher den Kardinal sofort nach dem Namen dieses Pfarrers, und kurze Zeit darauf erfuhr Myriel zu seiner großen Verwundrung, daß er auf den Bischofssitz von Digne berufen sei.

Im Uebrigen wußte Niemand, ob an den Gerüchten, die über Myriels Vorleben in Umlauf waren, etwas Wahres sei. Nur wenige hatten seine Familie gekannt.

Selbstredend ging es Myriel wie jedem Neuangekommnen in jeder Kleinstadt, wo Jedermann einen Mund zum Reden, aber nur Wenige ein Hirn zum Denken haben. Er mußte die Leute reden lassen, obgleich und weil er Bischof war. Was man sich über ihn erzählte, waren nur Reden, nur leeres Wortgeklingel, und als er neun Jahre in Digne residirt hatte, war all der Klatsch, der anfangs alle kleinen Geister in dieser kleinen Stadt in große Aufregung versetzt hatte, der Vergessenheit anheimgefallen. Niemand wagte mehr davon zu sprechen, Niemand ihn zu gehässigen Zwecken auszubeuten.

Myriel brachte nach Digne ein altes Fräulein Namens Baptistine, mit, die seine Schwester und zehn Jahre jünger war als er. Die ganze Dienerschaft der beiden Geschwister bestand in einer Magd desselben Alters wie Fräulein Baptistine, Namens Frau Magloire, die ehedem nur die »Magd des Herrn Pfarrers« gewesen und nun zugleich als Kammerfrau des Fräulein Baptistine und als Wirtschafterin Sr. Bischöflichen Gnaden fungirte.

Fräulein Baptistine war eine hoch gewachsene, blasse, hagre Dame von sanftem Wesen, eine Verkörperung alles dessen, was ein weibliches Wesen achtungswert macht; denn auf Ehrfurcht Anspruch machen darf ja wohl nur das Weib, das Mutter ist. Hübsch war sie nie gewesen, aber da ihr ganzes Leben mit Werken frommer Liebestätigkeit ausgefüllt worden war, so war jetzt über ihre äußere Erscheinung eine Art lichter Klarheit ausgegossen, etwas, das man die Schönheit des Gemüths nennen kann. Was in ihrer Jugend Magerkeit gewesen, hatte sich jetzt zu engelhafter Durchsichtigkeit verklärt. Sie war mehr Seele noch als jungfräuliches Weib, gleichsam ein Schatten mit so viel Körper, daß man ihm noch ein Geschlecht beilegen konnte; ein wenig Stoff, der einen lichten Glanz einhüllte. Dazu große Augen, die sie immer zur Erde gesenkt hielt, als suche diese Seele einen Vorwand noch hienieden zu verweilen.

Frau Magloire war eine kleine, dicke Alte, die immer keuchte, weil sie sich im Hause tüchtig tummelte, und zweitens, weil sie engbrüstig war.

Als Myriel seinen Einzug in Digne hielt, wurde er mit den üblichen hohen Ehrungen, gemäß den kaiserlichen Dekreten, laut denen die Bischöfe im Range unmittelbar den Brigadegenerälen folgen, in dem bischöflichen Palast installirt. Der Maire und der Präsident machten ihm zuerst ihre Aufwartung, und er seinerseits besuchte zuerst den General und den Präfekten. Dann, nachdem die Installation vollzogen war, wartete die Stadt, wie ihr neuer Bischof seines Amtes walten würde.

Herr Myriel wird der Herr Bischof Bienvenu

Der bischöfliche Palast in Digne lag neben dem Hospital. Es war ein großes, schönes Gebäude, das zu Anfang des 18. Jahrhunderts von Henri Puget, Doktor der Theologie und 1712 Bischof von Digne, errichtet worden war. Alles in diesem wahrhaft fürstlichen Schlosse war in großem Stile angelegt: die Wohnzimmer des Bischofs, die Säle, die Kammern, der große Ehrenhof nebst den Wandelgängen, die sich, von altflorentinischen Arkaden überwölbt, um ihn herumzogen, die mit herrlichen Bäumen bepflanzten Gärten. In dem Speisesal, einer langen und prachtvollen Galerie, die im Erdgeschoß belegen war und sich nach den Gärten hinaus öffnete, hatte einst Henri Puget sieben hohe Würdenträger der Kirche feierlichst bewirtet. Die Bildnisse dieser sieben ehrfurchtgebietenden Prälaten schmückten den Sal, und das denkwürdige Datum, der 29. Juli 1714, war mit goldnen Buchstaben auf einer weißen Marmortafel eingegraben.

Das Hospital war ein enges, niedriges, einstöckiges Haus mit einem kleinen Garten.

Drei Tage nach seiner Ankunft besichtigte der Bischof das Hospital. Nach Beendigung der Visitation ließ er sofort den Direktor zu sich bescheiden.

»Herr Direktor, redete er ihn an, wieviel Patienten haben Sie gegenwärtig?«

»Sechsundzwanzig, Ew. Bischöfliche Gnaden.«

»Soviel habe ich auch gezählt«, bemerkte der Bischof.

»Die Betten«, hob der Direktor wieder an, »stehen recht dicht aneinander.«

»Das ist mir auch aufgefallen.«

»Statt Säle haben wir nur Stuben, die schwer zu lüften sind.«

»Das scheint mir auch so.«

»Und fällt einmal ein Sonnenstrahl in den Garten, so ist er zu klein, die vielen Rekonvalescenten zu fassen.«

»Das habe ich mir auch gesagt.«

»Wenn Epidemieen umgehen, wie z. B. dieses Jahr der Typhus und vor zwei Jahren Friesel und Schweißfieber, haben wir bisweilen an die hundert Kranke und wissen dann nicht, wo wir mit ihnen hin sollen.«

»Der Gedanke ist mir auch in den Sinn gekommen.«

»Aber allen diesen Uebelständen ist nun einmal nicht abzuhelfen«, sagte der Direktor. »Man muß sich fügen.«

Dieses Zwiegespräch fand in dem Speisesal des Erdgeschosses statt.

Der Bischof schwieg einen Augenblick und wandte sich dann wieder an den Direktor mit der hastigen Frage:

»Herr Direktor, wieviel Betten, meinen Sie, würde wohl dieser Sal allein schon fassen?«

»Der Speisesal Ew. Bischöflichen Gnaden?« rief der Direktor in maßlosem Erstaunen.

Der Bischof überschaute den Sal und schien mit den Augen Messungen anzustellen.

»Zwanzig Betten würden hier wohl Platz finden,« flüsterte er leise, als spreche er für sich. Dann, zu dem Direktor gewendet, fuhr er laut fort:

»Ich will Ihnen was sagen, Herr Direktor. Es liegt offenbar ein Irrthum vor. Ihr seid sechsundzwanzig Menschen in fünf bis sechs winzigen Zimmerchen. Unserer sind hier drei, und wir haben Platz für sechzig. Da liegt ein Irrthum vor, sage ich Ihnen noch einmal. Sie haben meine Wohnung, und ich die Ihrige. Geben Sie mir mein Haus wieder. Sie gehören hierhin.«

Am folgenden Tage waren die sechsundzwanzig armen Kranken in dem Palast des Bischofs untergebracht und der Bischof in das Krankenhaus übergesiedelt.

Myriel hatte, da seine Familie durch die Revolution ruinirt war, kein Vermögen. Seine Schwester bezog eine Leibrente von fünfhundert Franken, die seiner Zeit im Pfarrhause für ihre persönlichen Bedürfnisse ausgereicht hatten. Myriel erhielt vom Staate als Bischof ein Gehalt von fünfzehn Tausend Franken. Ueber diese Summe verfügte Myriel laut einer von ihm selber aufgestellten Rechnung, deren Original uns vorliegt, ein für alle Mal folgendermaßen:

Ausgaben für meinen Haushalt.

Für das kleine Seminar 1500 Franken

Für die Missionskongregation 100

Für die Lazaristen zu Montdidier 100

Für das Seminar der auswärtigen Missionen in Paris 200

Für die Kongregation des Heiligen Geistes 150

Für die religiösen Anstalten im Heiligen Lande 100

Für die Frauenvereine zur Unterstützung armer Wöchnerinnen 300

Für den Verein in Arles außerdem noch 50

Für die Verbesserung der Gefängnißeinrichtungen 400

Zur Unterstützung und Befreiung Gefangner 500

Für die Befreiung von Familienvätern aus dem Schuldgefängniß 1000

Zuschuß zu den Gehältern der armen Schullehrer der Diöcese 2000

Für das Getreidemagazin der Oberalpen 100

Für die Kongregation der Damen von Digne, Manosque und Sisteron zur Erteilung von unentgeltlichem Unterricht an bedürftige Mädchen 1500

Für die Armen 6000

Für meine persönlichen Ausgaben 1000

Summa 15,000

An dieser Einrichtung »seines sogenannten Haushaltes« änderte er nichts, so lange er den Bischofssitz zu Digne inne hatte.

Dieser Anordnung unterwarf sich auch Fräulein Baptistine ohne den geringsten Widerspruch. Für diese fromme Dame war Myriel nicht allein ihr Bruder, sondern auch ihr Bischof, ein Freund, den die Natur ihr zugesellt, und ein Vorgesetzter, den die Kirche ihr übergeordnet hatte. Sie brachte ihm nur Liebe und Ehrfurcht entgegen. Allen seinen Worten pflichtete sie bei; was er that, hieß sie gut. Nur die Magd, Frau Magloire, murrte ein wenig. Hatte doch, der Herr Bischof, — wie aus der oben angeführten Rechnung erhellt,- sich nur tausend Franken vorbehalten, was mit Fräulein Baptistines Pension fünfzehn Hundert Franken jährlich ergab. Mit diesen fünfzehn Hundert Franken bestritten die beiden Frauen und der alte Herr ihren ganzen Lebensunterhalt.

Und wenn ein Dorfpfarrer nach Digne kam, brachte es der Bischof noch fertig ihn anständig zu bewirten, dank Frau Magloire’s großer Sparsamkeit und Fräulein Baptistine’s weiser Haushaltungskunst. Eines Tages — er war damals seit etwa drei Monaten in Digne — sagte der Bischof: »Meine Einkünfte wollen doch gar nicht recht zulangen!«

»Das wollte ich meinen!« rief Frau Magloire. »Wenn Bischöfliche Gnaden sich wenigstens noch das Geld auszahlen ließen, das Ihnen das Departement als Vergütigung für Equipage und Reiseunkosten schuldig ist. Die Vorgänger Ew. Bischöflichen Gnaden haben’s doch immer so gehalten!«

»In der That, Sie haben Recht, Frau Magloire,« stimmte ihr der Bischof bei und reichte ein Gesuch bei der Stadtverwaltung ein.

Der Generalrath zog auch das Gesuch in Erwägung und warf einen Posten von dreitausend Franken jährlich aus, als Vergütung der Unkosten, die der Herr Bischof für seine Equipage in der Stadt und für seine Reisen mit der Post zu bestreiten habe.

Natürlich erhoben die Freidenker ein Zetergeschrei und ein Senator namentlich, ein ehemaliges Mitglied des Rathes der Fünfhundert, der dem Staatsstreich vom 18. Brumaire zugestimmt und von Napoleon ein bei Digne gelegnes großes Gut als Dotation erhalten hatte, erließ an den Kultusminister Bigot de Préameneu einen entrüsteten Schreibebrief, dem wir folgende Zeilen entnehmen:

»Wozu eine Equipage in einer Stadt, die keine viertausend Einwohner hat? Und Unkosten für Rundreisen? Was sollen denn solche Rundreisen für einen Zweck haben? Und wie reist man denn per Post in einem Gebirgslande? Wir haben hier ja überhaupt keine Chausseen. Man reist hier nur zu Pferde. Kaum daß die Brücke über die Durance bei Chateau-Arnoult ein Ochsenfuhrwerk tragen kann! Aber so sind die Priester alle! Geldgierig und geizig. Der hier hat sich Anfangs auf den Heiligen ausgespielt. Jetzt macht er’s wie die Andern. Er muß in einer Equipage fahren und in einer Postkutsche reisen! Er braucht Luxus wie die Bischöfe des alten Regime. O über dieses Pfaffengeschmeiß! Glauben Sie nur, Herr Graf, ehe uns der Kaiser die Schwarzröcke nicht vom Halse schafft, werden die Zustände nicht besser. Nieder mit dem Papst! (Frankreich stand damals mit Rom auf gespanntem Fuße). Ich für mein Theil bin dafür, daß Cäsar allein regiert. U.s.w. U.s.w.«

Desto mehr freute sich Frau Magloire.

»So ist’s recht, sagte sie zu Fräulein Baptistine. Se. Bischöfliche Gnaden haben bis jetzt nur für Andere gesorgt, aber schließlich haben Sie doch endlich auch an sich denken müssen. Die Armen sind nun versorgt, und die dreitausend Franken bleiben für uns. Es war auch Zeit, daß wir was kriegten!«

An dem Abend desselben Tages stellte der Bischof wieder eine Rechnung auf und gab sie seiner Schwester. Sie lautete folgendermaßen:

Unkosten für Equipage und Amtsreisen.

Zu Bouillon für die Kranken unseres Hospitals l,500 Franken Für den Frauenverein zu Arles 250 Für den Frauenverein zu Draguignan 250 Für die Findelkinder 500 Für die Waisenkinder 500

Summa3,000 Franken

Das war Myriels Budget.

Was die Nebeneinkünfte anbelangt, die Einnahmen für Abkauf von Aufgeboten, für Dispensationsscheine, Nothtaufen, Predigten, Einweihungen von Kirchen und Kapellen, Hochzeiten u.s.w., so trieb der Bischof diese Gelder von den Reichen mit um so größrer Strenge ein, da er sie sämtlich den Armen zuwandte.

Nach Verlauf einer kurzen Zeit flossen ihm denn auch Liebesgaben in reicher Menge zu. Begüterte und Bedürftige, Alle klopften an Myriels Thür, die Einen um Spenden bei ihm zu hinterlegen, die Andern um sie in Empfang zu nehmen. Aber so beträchtliche Summen ihm auch durch die Hände gingen, so fand er sich doch nicht veranlaßt seine Lebenshaltung in irgend einem Punkte zu ändern und sich außer dem Notwendigen auch Ueberflüssiges zu gestatten.

Im Gegentheil. Da in der menschlichen Gesellschaft allzeit unten mehr Elend als oben Wohlthätigkeitssinn vorhanden ist, so war alles schon weggegeben, ehe er es bekommen hatte, so fiel alles wie ein Tropfen auf einen heißen Stein. Man konnte ihm noch so viel Geld geben, nie hatte er etwas. In solchen Fällen gab er noch mehr von dem Seinigen her.

Der dankbare Instinkt des Volkes wählte denn auch unter den Vornamen, die sein Bischof dem Brauche gemäß in seinen Erlassen und Hirtenbriefen vollständig aufzählte, denjenigen heraus, der einen bedeutungsvollen Sinn darbot. Die armen Leute nannten ihn nur den Bienvenu (Willkommen, Segensreich). Wir wollen diesem Beispiel folgen und ihn gelegentlich gleichfalls so nennen. Ihm selber sagte übrigens diese neue Bezeichnung zu. »Der Name gefällt mir,« ließ er sich vernehmen. »Er mildert, was der Titel Bischöfliche Gnaden zu Stolzes hat.«

Daß diese Schilderung, die wir hier entwerfen, die Wahrscheinlichkeit für sich habe, wagen wir nicht zu behaupten, wohl aber ist sie der Wahrheit gemäß.

Ein tüchtiger Arbeiter findet viel zu thun

Der Bischof hatte zwar seine Equipage in Almosen umgewandelt, bereiste aber gleichwohl fleißig seinen Amtssprengel, was mit erheblichen Strapazen verbunden war. Die Diöcese Digne ist ein Land mit wenig Ebenen und viel Bergen, dabei fast ohne Chausseen, wie schon erwähnt. Sie umfaßt zweiunddreißig Pfarreien, einundvierzig Vikariate und zweihundert fünfundachtzig Filialkirchen. Dies Alles zu bewältigen, erheischte keine geringe Summe von Arbeitskraft, die aber unser Bischof aufzubringen verstand. War der betreffende Ort in der Nachbarschaft gelegen, so ging er zu Fuß; in den ebenen Gegenden fuhr er in einer Halbkutsche, im Gebirge ritt er auf einem Maulthier. Die beiden Frauen begleiteten ihn gewöhnlich, außer wenn die Strapazen das billige Maß überstiegen. In diesem Fall reiste er allein.

Eines Tages ritt er in Senez, einer alten Bischofsstadt, auf einem Esel ein. Ein andres Transportmittel hatte er wegen der starken Ebbe, die in seiner Börse aufgetreten war, nicht genehmigen können. Als er nun von seinem Esel abstieg, maß ihn der Bürgermeister, der sich zu seinem Empfange vor dem Bischofspalais eingefunden, mit Blicken, aus denen tiefe sittliche Entrüstung sprach, und einige Vorübergehende, die ihrer Kleidung nach zu urtheilen den bessern Ständen angehörten, blieben stehen und lachten.

»Meine Herren, sagte der Bischof, ich kann mir das Motiv Ihres Unwillens denken: Sie finden es anmaßlich, daß ein armer Priester sich des Reitthieres Jesu Christi bedient. Ich versichere Sie aber, ich thue es aus Noth, nicht aus Eitelkeit.«

Wohin er auch bei einer solchen Rundreise kam, stets zeigte er sich milde und nachsichtig gegen seine Untergebnen und in seinen Predigten schlug er vorzugsweise einen gemüthlichen Gesprächston an. Weither geholte Gründe und Beispiele liebte er nicht. Dagegen ermahnte er die Leute an einem Ort sich die Bewohner eines andern, benachbarten, zum Vorbild zu nehmen. Wo man hart gegen die Bedürftigen war, sagte er z.B.: »Nehmt Euch Eure Nachbarn in Briançon zum Vorbild. Sie haben den Armen, den Wittwen und Waisen die Erlaubnis ertheilt, ihre Wiesen drei Tage vor den Andern abmähen zu lassen und repariren ihnen ihre Häuser, wenn sie baufällig geworden sind, unentgeltlich. Deshalb hat aber auch der liebe Gott das Land gesegnet, denn volle hundert Jahre lang ist daselbst kein Mord vorgekommen.«

Zu Leuten, die bei der Ernte zu genau verfuhren, sagte er. »Seht Euch mal an, wie sie’s in Embrun machen. Hat ein Familienvater Söhne beim Militär oder Töchter, die in der Stadt dienen, und kann er wegen Krankheit oder aus einem andern Hindrungsgrunde die Einbringung seiner Ernte nicht besorgen, so empfiehlt ihn der Pfarrer der Gemeinde, dann kommen am Sonntag alle Leute aus dem Dorfe, die Männer, die Frauen, die Kinder, mähen ihm sein Getreide und schaffen es ihm, Korn und Stroh, in seine Scheune.« — Zu den Familien, die wegen Geld- und Erbschaftsangelegenheiten uneinig waren sagte er: »Schaut mal, wie sie’s in Devolny anfangen. Es ist das eine rauhe Gebirgsgegend, wo man den Gesang der Nachtigall kaum einmal in fünfzig Jahren zu hören bekommt. In diesem Lande also gehen die Söhne, wenn der Vater stirbt, in die Fremde, und überlassen das Erbe ihren Schwestern, damit diese sich verheirathen können.« — In den Kantonen, wo viel prozessirt wurde, sagte er: »Nehmt Euch die braven Bauern in Queyras zum Vorbild. Es sind ihrer dreitausend Seelen, und die Leute leben dort einträchtig, als bildeten sie eine kleine Republik für sich. Richter und Exekutor giebt’s dort nicht. Der Schulze besorgt da alles. Er veranlagt die Steuern, schätzt Jeden ein, wie er’s vor seinem Gewissen verantworten kann, schlichtet unentgeltlich Streitigkeiten, theilt Erbschaften ohne Honorar zu fordern, fällt Urteilssprüche ohne den Leuten Unkosten zu verursachen, und er findet Gehorsam, weil er ein gerechter Mann ist und unter einfachen Leuten lebt.« In den Dörfern, wo kein Schullehrer war, verwies er wieder auf das Beispiel der Bauern in Queyras: Wißt Ihr, wie die’s machen? »Da ein Dorf mit nur zwölf bis fünfzehn Häusern nicht immer die Mittel besitzt einen Magister zu ernähren, so thun sich die Bewohner des ganzen Thales zusammen und halten sich Schulmeister. Die gehen von Dorf zu Dorf und geben hier acht, dort zehn Tage lang Unterricht. Diese Magister finden sich ein, wo Jahrmarkt ist, und ich habe selber welche gesehen. Sie sind an den Schreibfedern, die sie in einer Schnurschleife am Hute tragen, zu erkennen. Die nur Unterricht im Lesen ertheilen, haben eine Feder; die im Lesen und Rechnen unterrichten, zwei; die Lesen, Rechnen und Latein lehren, drei. Diese Letzteren sind große Gelehrte. Aber welche Schande unwissend zu sein! Ahmt den Leuten in Queyras nach.«

In dieser eindringlichen und väterlichen Ausdrucksweise pflegte er mit den Leuten zu reden. Und die Ermanglung von Beispielen erfand er Gleichnisse, hob deutlich das hervor, worauf es an kam, und brauchte wenig Redensarten, aber desto mehr bildliche Wendungen, wie Jesus Christus, dessen Beredsamkeit zu Herzen ging, weil sie aus dem Herzen kam.

Uebereinstimmung von Thaten und Worten

Im Gespräch war er leutselig und heiter. Er paßte sich dem Verständniß der beiden Frauen an, die bei ihm lebten. Lachen konnte er so herzlich wie ein Schulknabe.

Frau Magloire nannte ihn gern Hoher Herr. Eines Tages nun erhob er sich von seinem Sessel, um ein Buch zu holen, konnte es aber, da es auf einem oberen Regal lag und er zu kleiner Statur war, nicht langen. Da rief er Frau Magloire: »Bringen Sie mir doch einen Stuhl. Die Hoheit des hohen Herrn reicht nicht bis an das Brett da.«

Eine entfernte Verwandte von ihm, die Gräfin von Lô, ließ es sich selten entgehn, in seiner Gegenwart die »Hoffnungen« ihrer drei Söhne ausführlich aufzuzählen, nämlich all die Glücksgüter und Vortheile, die sie von reichen alten Verwandten binnen voraussichtlich kurzer Zeit erben würden. Der jüngste Sohn erwartete von einer Großtante ein Jahreseinkommen von nicht weniger als hunderttausend Franken; dem zweiten mußte der Herzogstitel seines Oheims zufallen; der Aelteste hatte Anwartschaft auf die Pairie seines Großvaters. Diesen unschuldigen und verzeihlichen Prahlereien der zärtlichen Mutter hörte meistentheils der Bischof mit musterhaftem Stillschweigen zu. Bei einer Gelegenheit indeß hing er seinen eigenen Gedanken nach, während die Gräfin sich in weitschweifigen Erörterungen aller dieser Successionen und »Hoffnungen« erging. Plötzlich brach sie ungeduldig ab und fragte ärgerlich: »Aber, Vetter, woran denken Sie denn?« »An einen sonderbaren Ausspruch, versetzte er, der, wenn ich nicht irre, sich in den Werken des heil. Augustin findet: Setzet Eure Hoffnung auf Den, dem Niemand succedirt.«

Ein andres Mal, als er eine Todesanzeige mit einem langathmigen Verzeichnis der Würden des Verstorbnen und der Adelstitel aller Verwandten desselben erhalten hatte, rief er aus: »Was für einen starken Rücken Freund Hein haben muß, daß man ihm soviel gewichtige Titel aufpacken kann, und wie gescheidt die Menschen sind, da sie sogar in einem Grabe Gelegenheit zur Befriedigung ihrer Eitelkeit finden!«

Er verstand auch zu spotten, in harmloser Weise, aber fast immer mit einem ernsten Hintergedanken. So kam einmal während der Fastenzeit ein junger Vikar nach Digne und hielt eine recht beredte Predigt über die Mildthätigkeit. Er forderte die Reichen auf den Armen zu geben, um der Hölle zu entgehen, deren Schrecknisse er ihnen in den grellsten Farben ausmalte, und sich das Himmelreich zu erobern, das er als überaus lieblich und erstrebenswert hinstellte. Diese Schilderung machte auf einen seiner Zuhörer, der im Handel zwei Millionen zusammengerafft hatte, einen so nachhaltigen Eindruck, daß er von seiner Gepflogenheit niemals Almosen zu geben abließ und von der Zeit an jeden Sonntag an der Kirchenthür eine kleine Kupfermünze für sechs Bettlerinnen spendete. Eines Tages nun, als er wieder diesen Akt hochherziger Mildthätigkeit vollzog, sah ihn der Bischof und bemerkte lächelnd zu seiner Schwester: »Sieh mal, da kauft sich Herr Geborand für einen Sou ewige Seligkeit.«

Handelte es sich um Mildthätigkeit, so ließ er sich selbst durch eine abschlägige Antwort nicht abschrecken und verstand es mit einer treffenden, geistreichen Entgegnung den Widerspenstigen andern Sinnes zu machen. Einmal sammelte er in einer Gesellschaft für die Armen. Unter den Anwesenden befand sich der Marquis von Champtercier, ein reicher alter Geizhals, der das Kunststück fertig gebracht hatte zugleich ultraroyalistisch und ultravoltairianisch gesinnt zu sein. Denn es hat auch solche Käuze gegeben. Als der Bischof zu ihm gelangt war, berührte er ihn am Arm und sagte: »Herr Marquis, Sie müssen mir etwas geben.« Der Marquis wandte sich um und antwortete trocken: »Bischöfliche Gnaden, ich habe schon meine Armen.« »Dann geben Sie mir die,« entgegnete der Bischof.

Eines Tages hielt er im Dom folgende Predigt: »Theuerste Brüder, liebe Freunde, es giebt in Frankreich 1,320,000 Bauernhäuser mit nur drei, 1,817,000 mit zwei Oeffnungen, der Thür und einem Fenster, und endlich 346,000 Hütten mit einer einzigen Oeffnung, der Thür. Schuld daran ist etwas, das man die Thür- und Fenstersteuer nennt. Denkt Euch nun arme Familien, alte Frauen, kleine Kinder in solchen Behausungen und stellt Euch vor, was für Fieber, was für Krankheiten da herrschen müssen! Gott schenkt, das Gesetz verkauft den Menschen die Luft. Ich klage das Gesetz nicht an, aber Gottes Güte preise ich. In den Departements Isére, Bar, Ober- und Unteralpen haben die Landleute nicht einmal Schubkarren und tragen den Dünger auf dem Rücken; keine Talglichter, und brennen Kienspäne oder mit Harz bestrichene Stricke. So macht man es in dem ganzen Ober-Dauphiné. Das Brod backen sie auf ein halbes Jahr und heizen den Backofen mit getrocknetem Kuhmist. Im Winter zerschlagen sie dies Brod mit der Axt und lassen es vierundzwanzig Stunden in Wasser weichen, um es essen zu können. Seid barmherzig, liebe Brüder; bedenkt, wieviel Elend Euch umgiebt!«

Als geborner Provenzale war es ihm leicht geworden sich mit allen südfranzösischen Dialekten gründlich vertraut zu machen. Das gefiel dem gemeinen Volk sehr und trug nicht wenig dazu bei, daß er seine Gedanken dem Verständniß Aller näher bringen konnte. Er war in der Hütte und im Gebirge zu Hause. Er verstand es, die erhabensten Dinge mittels der trivialsten Redewendungen auszudrücken, und da er Jedermanns Sprache redete, so fand er auch Mittel und Wege seinen Ideen Eingang in Jedermanns Herz zu schaffen.

Uebrigens benahm er sich gleich gegen die Vornehmen und Geringen.

Nie übereilte er sich mit Verdammungsurtheilen, sondern zog stets die Umstände in Erwägung. »Erst wollen wir uns den Weg ansehen, pflegte er zu sagen, den das Vergehen entlang gekommen ist.«

Als »Exsünder«, wie er sich im Scherz nannte, trug er keine Strenge zur Schau und lehrte mit großem Freimuth und ohne seine Stirn nach Art der Tugendhelden in finstre Falten zu legen, Grundsätze, die man in folgenden Worten zusammenfassen könnte:

»Der Mensch ist ein Geist, der mit Fleisch bekleidet ist. Dieses Fleisch ist eine Last und eine Versuchung. Der Mensch trägt es und giebt ihm nach.«

»Er soll es im Auge behalten, es zurückdrängen, es niederhalten und ihm nur im äußersten Nothfall willfahren. Solch ein Gehorsam kann mit Schuld behaftet sein, aber solch eine Schuld findet Vergebung. Wer so nachgiebt, fällt, aber auf die Knie und kann sich mit Gebet loskaufen.«

»Ein Heiliger zu sein ist die Ausnahme, ein Gerechter zu sein ist die Regel. Irret, fehlet, sündiget, aber seid Gerechte.«

»So wenig Sünde wie möglich, lautet das Gesetz für den Menschen. Gar nicht zu sündigen ist das Ideal des Engels. Alles Irdische ist der Sünde unterworfen. Wir können uns von ihr ebenso wenig frei machen wie von dem Gesetz der Schwere.«

Hörte er ein allgemeines Zetergeschrei, sah er die große Menge ein hastiges Tadelsvotum abgeben, so spottete er: »Hier liegt gewiß eine Sünde vor, die Jedermann begeht. Sonst würden die Heuchler es nicht so eilig haben zu protestiren, um den Verdacht von sich abzulenken.«

Gegen die Frauen und die Armen, auf denen mit ihrer ganzen Wucht die menschliche Gesellschaft lastet, war er nachsichtig: »An den Vergehen der Frauen, der Kinder, des Gesindes, der Schwachen, der Bedürftigen und Unwissenden sind die Männer, die Eltern, die Herrschaften, die Starken, Reichen und Gelehrten Schuld.«

Ferner: »Die Unwissenden belehret, so gut Ihr es vermöget; die Gesellschaft ist zu tadeln, daß sie nicht den öffentlichen Unterricht unentgeltlich ertheilen läßt; sie ist verantwortlich für die Finsterniß, der sie die Entstehung giebt. Ist eine Seele umnachtet, so schleicht sich die Sünde in sie hinein. Nicht derjenige ist der Schuldige, der die Sünde begeht, sondern der die Nacht geschaffen hat.«

Man sieht, er hatte eine absonderliche und eigne Art die Dinge zu beurtheilen. Ich habe ihn stark in Verdacht, daß er diese Gedanken dem Evangelium entnommen hatte.

Eines Tages war er gerade zugegen, als in einer Gesellschaft von einem Kriminalprozeß gesprochen wurde, der damals die Gerichte beschäftigte. Ein armer Mensch hatte sich aus Liebe zu einer Frau und zu dem Kinde, das sie ihm geboren, der Falschmünzerei schuldig gemacht, da er sie auf andre Weise vor dem Hungertode nicht zu bewahren wußte. Dieses Verbrechen wurde damals noch in Frankreich mit der Todesstrafe geahndet. Die Frau war bei dem ersten Versuch ein von dem Manne fabrizirtes Geldstück in Umlauf zu setzen, verhaftet worden, aber Beweise um sie einer Schuld zu überführen, hatte man nicht. Sie allein konnte gegen ihren Liebhaber aussagen und durch ein Geständniß seine Verurtheilung ermöglichen. Sie leugnete aber aufs hartnäckigste. Da hatte der Staatsanwalt einen gescheidten Einfall. Er legte der Unglücklichen geschickt ausgewählte Bruchstücke aus Briefen des Mannes vor und brachte sie auf diese Weise zu dem Glauben, sie habe eine Nebenbuhlerin, mit der er sie hintergehe. Da klagte sie, getrieben von sinnloser Eifersucht, ihren Geliebten an, und lieferte die nöthigen Beweise. Nun war der Mann verloren und nächster Tage sollte ihm, samt seiner Mitschuldigen in Aix der Prozeß gemacht werden. Dieser Vorfall also bildete den Gegenstand der Unterhaltung, und Alle bezeigten das höchste Entzücken über die Schlauheit des Staatsanwalts. Dadurch, daß er die Eifersucht ins Spiel gezogen, auf die Rachsucht der gekränkten Eitelkeit spekulirt, habe er der Wahrheit und Gerechtigkeit zum Siege verholfen. Allen diesen Lobeshebungen hörte der Bischof bis zu Ende schweigend zu. Dann fragte er:

»Vor welches Gericht werden die Beiden gestellt werden?«

»Vor die Assisen.«

»Und der Staatsanwalt?«

Wir müssen hier noch einen andern tragischen Vorfall erwähnen, der sich in Digne zutrug. Es wurde ein Mann wegen Mordes zum Tode verurtheilt, ein Unglücklicher, der nicht gerade ein gebildeter Mann, aber auch nicht ganz unwissend war, und der sich als Akrobat und öffentlicher Schreiber sein Brod auf den Jahrmärkten verdiente. Der Prozeß erregte große Sensation. An dem Tage vor der Hinrichtung wurde der Gefängnißgeistliche krank, und da man einen Priester brauchte, der den armen Sünder auf seinem letzten Gange begleiten sollte, so schickte man nach dem Stadtgeistlichen. Dieser aber weigerte sich, wie es heißt, mit rücksichtsloser Deutlichkeit: »Das geht mich nichts an«, ließ er sich vernehmen, »ich werde es bleiben lassen, mich mit dem Hanswurst zu befassen. Außerdem bin ich selber krank, und es ist Überhaupt nicht mein Beruf.« Seine Aeußerungen wurden dem Bischof hinterbracht, und dieser sagte: »Der Herr Pfarrer hat Recht. Es ist nicht sein Beruf. Aber es ist der meinige.«

Er begab sich auch unverzüglich in das Gefängniß, ließ sich in die Zelle des »Hanswurstes« führen, redete ihn mit seinem Namen an, ergriff seine Hand und sprach zu ihm. Den ganzen Tag blieb er bei ihm, versagte sich Essen, Trinken und Schlaf, betete zu Gott für die Seele des Verurtheilten und ermahnte den Unglücklichen seines Seelenheils zu gedenken. Er predigte ihm die besten Wahrheiten, nämlich die einfachsten. Er sprach mit ihm wie ein Vater, ein Bruder, ein Freund; und kehrte den Bischof nur hervor, um ihn zu segnen. Er unterwies ihn, indem er ihn beruhigte und tröstete. Der Mann sah seinem letzten Augenblick mit Verzweiflung entgegen. Der Tod war ihm ein Abgrund, an dessen Rand er schaudernd zurückbebte. Er war nicht so roh, daß er völlig stumpf hätte sein können. Seine Verurtheilung hatte ihn bis in sein Innerstes erschüttert und gewissermaßen jene Schranke hie und da niedergerissen, die das Geheimniß der Dinge unsern Blicken entzieht, und die wir das Leben nennen. Durch die Breschen blickte er ohne Unterlaß über diese Welt hinaus und sah nur Finsterniß. Der Bischof aber zeigte ihm ein Licht.

Am andern Tag als der arme Sünde geholt wurde, war der Bischof gegenwärtig. Er ging neben ihm und zeigte sich den Augen der Menge im violetten Mantel, mit dem Bischofskreuze am Halse neben einem mit Stricken gefesselten Verbrecher.

Er stieg mit ihm auf den Karren, stieg mit ihm auf das Schaffot. Der Delinquent, der Tags zuvor niedergedrückt und verzweifelt gewesen, sah gefaßt aus. Er hatte das Gefühl, daß seine Seele Erlösung gefunden und bald mit ihrem Gott vereinigt sein werde. Der Bischof umarmte ihn und sagte in dem Augenblick, als das Fallmesser der Guillotine herabstürzen sollte: »Wen Menschen töten, den läßt Gott wiederauferstehn; wen seine Brüder verjagen, der findet den Vater. Bete, glaube, gehe in das ewigen Leben ein: der Vater ist da, dich aufzunehmen.« Als er vom Schaffot wieder herunterstieg, lag in seinem Blick ein Etwas, vor dem die Menge ehrfurchtsvoll zurückwich. Man wußte nicht, was man mehr bewundern solle, die Blässe oder die Heiterkeit seines Antlitzes. In der bescheidnen Wohnung angelangt, die er scherzend seinen Palast nannte, sagte er zu seiner Schwester: »Ich habe ein feierliches Hochamt gehalten.«

Da das Erhabenste oft am wenigsten Verständniß findet, so legten manche Leute das Verhalten des Bischofs als Affektation aus. Freilich nur Leute aus den bessern Ständen. Das Volk, das Werke der rechten Frömmigkeit nicht mißdeutet, war gerührt und bewunderte seinen Bischof.

Was den Bischof anbetrifft, so hatte ihn der Anblick aufs heftigste erschüttert, und es währte lange, ehe er diesen Eindruck verwand.

Das Schaffot weckt in der That, wenn man es vor sich aufgerichtet sieht, in der Phantasie unheimliche Gedanken und Bilder. Man kann gleichgültig denken über die Todesstrafe, sich jedes Urtheils enthalten, Ja und Nein sagen, so lange man die Guillotine nicht mit Augen gesehen hat; ihr Anblick aber bringt eine mächtige Erschütterung in unserm geistigen Innern hervor und zwingt zur Parteinahme. Die Einen bewundern sie dann, wie de Maistre, die Andern verfluchen sie, wie Beccaria. Die Guillotine ist das körperlich gewordene Gesetz, ihr Name ist Rache; sie ist nicht neutral und gestattet nicht, daß man neutral bleibt. Nichts Geheimnisvolleres als der Schauer, der uns bei ihrem Anblick durchzuckt! Alle socialen Probleme richten um das Fallmesser ihre Fragezeichen auf. Die Guillotine ist eine Vision. Sie ist kein Gerüst, keine Maschine, kein Mechanismus aus Holz, Eisen, Stricken! Sie gleicht einem beseelten, der Thätigkeit fähigen Wesen. Es ist, als sehe, als höre diese Maschine, als habe sie einen Verstand, als seien dieses Holz, dieses Eisen, diese Stricke mit Willen begabt. Die durch ihre Gegenwart geängstigte Phantasie zeigt sie uns als einen Unhold, der mit Bewußtsein handelt. Die Guillotine betheiligt sich an der Tötung, die der Henker vollzieht; sie verschlingt, frißt Menschenfleisch und säuft Blut. Die Guillotine ist ein von dem Richter und dem Zimmermann fabrizirtes Ungethüm, ein Gespenst, das sich fortwährend aus dem Tode ein scheußliches Leben schafft.

Deshalb war auch bei dem Bischof der Eindruck ein fürchterlicher und nachhaltiger; am Tage nach der Hinrichtung und viele Tage später sah er niedergedrückt aus. Die Seelenheiterkeit, die noch auf dem Schaffot bis zu einer gewaltsamen Höhe angewachsen war, hatte ihn verlassen; ihn peinigte das Phantom der socialen Gerechtigkeit. Er, der sonst auf seine Handlungen mit ungetrübter Seelenruhe zurückzublicken pflegte, schien sich dies Mal Vorwürfe zu machen. Zeitweise stellte er halblaut traurige Betrachtungen an. Einen solchen Monolog belauschte eines Abends seine Schwester und behielt ihn in ihrem Gedächtniß: »Nein, so schauerlich hatte ich es mir nicht vorgestellt. Es ist Unrecht den Blick so fest auf das göttliche Gesetz zu heften, daß man die menschlichen Gesetze darüber vergißt. Den Tod zu geben hat Gott allein das Recht: Warum befassen sich also die Menschen damit, da ihnen der Tod doch etwas Unbekanntes ist?«

Mit der Zeit wurden diese Eindrücke schwächer und erloschen vielleicht ganz. Nur fiel es auf, daß der Bischof es seitdem vermied über den Richtplatz zu gehen.

Zu jeder Stunde durfte man Myriel zu Kranken und Sterbenden rufen. Er war sich klar darüber, daß einem solchen Rufe zu folgen die dringendste und wichtigste Obliegenheit seines Amtes war. Zu Wittwen und Waisen ging er von selber: Sie brauchten ihn nicht erst zu sich zu bitten. Er vermochte es Stunden lang neben einem Mann, der eine geliebte Frau, bei der Mutter, die ihr Kind verloren, zu sitzen und zu schweigen. Ebenso aber, wie er zu schweigen verstand, erpaßte er auch richtig den Augenblick, wo es zu reden galt. Und welch ein Trostspender war er! Nicht dadurch suchte er den Schmerz zu verdrängen, daß er verlangte, man solle ihn der Vergessenheit anheimgeben; nein, er bestrebte sich ihn zu vertiefen und zu läutern, indem er zu hoffen lehrte. Er sprach: Achtet wohl darauf, wie ihr nach den Todten hinseht. Denket nicht an das, was verweslich ist. Blicket fest hin, so werdet Ihr den lebendigen Glanz Dessen, den Ihr beweint, droben schauen. Er kannte die Heilkraft des Glaubens, beruhigte die Verzweifelten, indem er sie auf die Geduld und die Ergebung in das Unabwendbare verwies, und lehrte den Schmerz, der auf ein Grab blickt, zu dem Himmel emporschauen.

Der Bischof Bienvenu trägt seine Sutanen zu lange

Myriels häusliches Leben bewegte sich innerhalb derselben Gedankenwelt wie seine Amtsthätigkeit. Die freiwillige Armuth, in welcher der Herr Bischof von Digne beharrte, wäre wohl für Jeden, der ihn hätte beobachten können, ein würdevolles und anmuthendes Schauspiel gewesen.

Wie alle alten Leute und wie die meisten Denker schlief er nur wenig. Dafür aber ziemlich fest. Des Morgens gab er sich eine Stunde religiösen Betrachtungen hin, dann las er die Messe entweder im Dom oder in seinem Hause. Nach der Messe nahm er sein Frühstück ein, das aus Roggenbrod und Milch bestand. Dann arbeitete er.

Ein Bischof ist ein sehr beschäftigter Mann. Er muß täglich den Bisthumssekretär und beinahe täglich seine Großvikare empfangen. Er hat Kongregationen zu kontrolliren, Privilegien zu ertheilen, alle neuen Erscheinungen auf dem Gebiete der geistlichen Litteratur zu prüfen, wie Meß- und Gebetsbücher, Katechismen u.s.w., Erlasse zu schreiben, Predigten zu autorisiren, Einigkeit zu stiften zwischen Pfarrern und Dorfschulzen, mit Geistlichen und mit den staatlichen Behörden zu korrespondiren. Kurz tausenderlei Geschäfte.

Die Zeit, die ihm diese vielen Geschäfte, seine Amtsverrichtungen und sein Brevier übrig ließen, widmete er in erster Linie den Armen, den Kranken und Unglücklichen; die Zeit, die ihm dann noch blieb, widmete er der Arbeit. Bald grub er dann in seinem Garten, bald las und schrieb er. Beide Arten von Arbeit schienen ihm gleichwertig, denn der Verstand, so lautete sein Wahrspruch, bedarf ebenso sehr der Pflege und Bearbeitung wie ein Garten.

Gegen Mittag, wenn schön Wetter war, ging er aus, aufs Land oder in die Stadt, und trat dabei oft in ärmliche Häuser ein. Die Leute sahen ihm dann gern nach, wie er allein vor sich hin ging, in tiefes Nachdenken versunken, auf seinen langen Stock gestützt, in seinem dick wattirten Rock, violetten Strümpfen, groben Schuhen und mit seinem flachen Hute, von dessen drei Ecken drei goldne Quasten herabhingen.

Sein Erscheinen wurde überall freudig begrüßt, als bringe er sozusagen, Licht und Wärme mit. Die Kinder und die Greise kamen auf die Thürschwelle, wie sie zu thun pflegten, wenn sie sich des Sonnenscheins erfreuen wollten. Er ertheilte seinen Segen, und sie wünschten ihm Glück und Segen. Jedem, der etwas bedurfte, zeigte man sein Haus.

Hier und du blieb er stehen, sprach mit den Kindern und lächelte ihren Müttern zu. So lange er Geld hatte, besuchte er die Armen; hatte er keins mehr, so ging er zu den Reichen.

Da ihm seine Sutanen recht lange vorhalten mußten, und er dies die Leute nicht allzu sehr merken lassen wollte, trug er bei seinen Gängen in der Stadt immer nur seinen dicken wattirten Rock, der ihm im Sommer manchmal recht lästig wurde.

Zu Hause angelangt, speiste er zu Mittag. Dieses Mahl glich dem Frühstück.

Um halb neun nahm er mit seiner Schwester die Abendmahlzeit ein, wobei Frau Magloire hinter ihnen stand und sie bediente. Es war ein ausnehmend frugales Mahl. Wenn jedoch der Bischof Einen seiner Pfarrer zu Besuch hatte, benutzte Frau Magloire die gute Gelegenheit, um Se. Bischöfliche Gnaden mit einem vorzüglichen Fisch oder einem delikaten Stück Wild zu regaliren. Jeder Pfarrer war ihr ein willkommner Vorwand ihren Herrn zu einer Abweichung von seiner strengen Diät zu verleiten, denn für gewöhnlich kam nur in Wasser gekochtes Gemüse und Suppe mit Oel auf den Tisch. Deshalb hieß es auch in der Stadt: »Wenn der Bischof nicht mit einem Pfarrer speist, ißt er wie ein Trappist.«

Nach dem Abendessen plauderte er eine halbe Stunde mit Baptistine und Frau Magloire; dann zog er sich auf sein Zimmer zurück und schrieb wieder, bald auf einzelne Blätter, bald an den Rand eines Folianten. Er war sehr belesen und besaß wissenschaftliche Bildung, Er hat auch fünf bis sechs merkwürdige Manuskripte hinterlassen, u.a. eine Abhandlung über den Vers im 1. Buch Moses: »Im Anfang schwebte der Geist Gottes über den Wassern.« Er verglich mit diesem Text drei Varianten, eine arabische: »Die Winde Gottes wehten;« die des Flavias Josephus: »Ein Wind von oben blies auf die Erde,« und die chaldäische Paraphrase des Onkelos: »Ein Wind kam von Gott und blies auf die Oberfläche der Gewässer.« In einer andern Dissertation prüft er die theologischen Werke des Bischofs Hugo von Ptolemais, Urgroßonkel Dessen, der dieses Buch schreibt, und wies nach, daß dieser Bischof der Verfasser der verschiednen im vorigen Jahrhundert unter dem Pseudonym Barleycourt veröffentlichten Abhandlungen sei.

Bisweilen schweifte sein Geist, während er irgend ein Buch vor sich hatte, von dem Inhalt desselben ab und überließ sich tiefsinnigen Betrachtungen, von denen er nur abließ um das Resultat seines Nachdenkens in dem Buche selbst niederzuschreiben. Natürlich standen derartige Aufzeichnungen oft in gar keiner Beziehung zu dem Buche, das sie enthielt. So lautet z.B. der Titel eines seiner Quartanten: Korrespondenz des Lord Germains mit den Generälen Clinton, Cornwallis und den Admirälen der Amerikanischen Station. Versailles, Verlag von Poincot, und Paris, Verlag von Pissot, Ouai des Augustins. In diesem Buche haben wir folgende von dem Bischof niedergeschriebne Zeilen gefunden:

»O Du, der Du bist!«

»Der Prediger Salomo nennt dich die Allmacht, die Bücher der Makkabäer den Schöpfer, die Epistel an die Epheser die Freiheit, Baruch die Unendlichkeit, die Psalmen Weisheit und Wahrheit, Johannes das Licht, das Buch der Könige Herr, der Exodus die Vorsehung, der Leviticus die Heiligkeit, Esra die Gerechtigkeit, die Schöpfung Gott, der Mensch Vater; Salomo heißt dich den Erbarmer, und dies ist der schönste unter Deinen Namen.« —

Gegen neun Uhr Abends begaben sich die beiden Frauen in ihre Zimmer im ersten Stock und ließen ihn bis zum andern Morgen im Erdgeschoß allein.

Hier müssen wir eine genaue Beschreibung der Wohnung unsres Bischofs einschalten.

Von wem er sein Haus bewachen ließ

Das Haus, das er bewohnte, bestand, wie schon erwähnt, aus einem Erdgeschoß und einem einzigen Stockwerk. Drei Räume im Erdgeschoß, drei Schlafzimmer im ersten Stock, darüber der Boden. Hinter dem Hause ein fünfundzwanzig Ouadratruthen großer Garten. Die beiden Frauen hatten den ersten Stock inne, unten wohnte der Bischof. Das erste Zimmer, das auf die Straße hinausging, diente als Speisesaal, das zweite als Schlaf- und das dritte als Betzimmer. In dieses Betzimmer konnte man nur gelangen, wenn man durch das Schlafzimmer ging, und dieses war nur durch den Speisesaal hindurch zugänglich. In dem Betzimmer war noch ein Alkoven, wo die von dem Bischof zu Gaste gebetnen Landgeistlichen schliefen.

Die ehemalige Apotheke des Hospitals, ein an das Haus angebautes und im Garten gelegenes Gebäude, enthielt jetzt die Küche und Vorrathskammer.

Außerdem befand sich im Garten noch ein Stall, der früher die Küche des Hospitals gewesen war, und in dem der Bischof zwei Kühe hielt. Wieviel Milch diese auch geben mochten, die Hälfte davon schickte er regelmäßig jeden Morgen den Kranken des Hospitals. »Das ist der Zehnt, den ich zahle,« pflegte er zu sagen.

Sein Schlafzimmer war ziemlich groß und schwer erheizbar. Da das Holz in Digne sehr teuer ist, so war er auf den Gedanken gerathen sich in dem Kuhstall einen Bretterverschlag machen zu lassen. In diesem Raum, den er seinen Wintersalon nannte, brachte er, wenn es sehr kalt war, den Abend zu.

In diesem Wintersalon, sowie in dem Speisezimmer waren keine andern Möbel, als ein viereckiger Tisch aus weißem Holz und vier Strohstühle. In dem Speisezimmer stand allerdings noch ein altes rosa angestrichnes Büffet. Aus einem eben solchen mit weißen Obertischtüchern und falschen Spitzen behangnen Büffet, hatte der Bischof den Altar gemacht, der in seinem Betzimmer prangte.

Seine reichen Beichttöchter und die frommen Frauen in Digne hatten oft Geld aufgebracht, um Sr. Bischöflichen Gnaden einen schönen neuen Altar für das Betzimmer zu verehren; dieses Geld hatte er auch angenommen und den Armen zugewendet. Der schönste Altar, entschuldigte er sich, ist die Seele eines getrösteten Unglücklichen, der dem Herrn dankt.

In dem Betzimmer standen zwei Betstühle aus Stroh und in seinem Schlafzimmer ein Armsessel gleichfalls mit Strohsitz. Hatte er zufällig sieben bis acht Besucher zugleich zu empfangen, den Präfekten, oder den General, oder den Stab des Regiments, das die Garnison von Digne bildete, oder Schüler des kleinen Seminars, so sah man sich genöthigt die Sessel und Stühle aus dem Wintersalon, dem Betzimmer, dem Schlafgemach zusammenzuholen. Auf diese Weise konnte man elf Stühle aufbringen.

Es kam aber auch vor, daß Zwölf zugleich kamen. Dann verdeckte der Bischof die Verlegenheit dadurch, daß er sich mit seinen Gästen stehend unterhielt.

Allerdings besaß er noch einen Stuhl in dem Alkoven, aber der Sitz war entzwei und es fehlte ein Bein, so daß man ihn an die Wand lehnen mußte, wenn man sich darauf setzen wollte. Desgleichen hatte noch Fräulein Baptistine in ihrem Zimmer eine sehr große Bergére, aus Holz, die vor Zeiten vergoldet gewesen und mit Pekingseide überzogen war, aber die hatte man durch das Fenster in das erste Stock hinaufwinden müssen, weil die Treppe zu schmal war. Sie konnte also nicht zur Aushülfe gebraucht werden, wenn es an Stühlen fehlte.

Fräulein Baptistine’s sehnlichster Wunsch wäre gewesen, Salonstühle u. Canapee aus gelbem Utrechter Sammt mit Rosetten geschmückt und aus Mahagoniholz, das in Form eines Schwanenhalses geschnitzt war, anschaffen zu können. Aber das hätte mindestens fünfhundert Franken gekostet, und da sie in fünf Jahren Summa Summarum nur zweiundvierzig und einen halben Franken zu diesem Zweck hatte sparen können, so gab sie den Gedanken auf. Wer erreicht denn je sein Ideal?

Etwas Einfacheres kann man sich nicht vorstellen, als das Schlafzimmer des Bischofs: eine Glasthür nach dem Garten; ihr gegenüber das Bett: ein eisernes Hospitalbett mit einem Himmel aus grüner Serge; im Schatten des Bettes, hinter einem Vorhang, Toilettengegenstände, die noch die feinen Gewohnheiten des ehemaligen Weltmannes verriethen; zwei Thüren, die eine in der Nähe des Kamins, die andre nach dem Betzimmer; ein großer Bücherschrank; ein marmorartig angestrichner Kamin aus Holz, wo gewöhnlich kein Feuer brannte mit zwei eisernen Feuerböcken; über dem Kamin ein kupfernes, ehemals versilbertes Krucifix, das auf schäbigem Sammet befestigt und von einem früher vergoldeten Holzrahmen umgeben war. In der Nähe der Glasthür ein großer Tisch mit Tintenfaß, unordentlich hingeworfnen Papieren und dicken Büchern. Vor dem Tisch der Strohsessel. Vor dem Bett ein dem Betzimmer entlehnter Betstuhl.

Neben dem Bett hingen auf jeder Seite zwei Porträts in ovalen Rahmen. Kleine Inschriften mit Goldbuchstaben zeigten an, daß das eine Porträt den Abt von Chaliot, Bischof von Saint-Claude, das andre den Abt Tourteau, Generalvikar von Agde, Abt von Grand-Champ, von dem Cistercienser Orden, darstelle. Diese Porträts hatte der Bischof, als er in dem Hospital Wohnung nahm, in dem ehemaligen Krankenzimmer vorgefunden und sie dort hängen lassen. Waren es doch Bildnisse von Priestern, die vielleicht dem Hospital Schenkungen gemacht hatten, zwei genügende Gründe die Portraits zu behalten. Alles, was er von diesen Prälaten wußte, war, daß der König sie an demselben Tage, dem 27. April 1785, in ihre Aemter eingesetzt hatte. Diese Notiz hatte der Bischof, als Frau Magloire die Bilder eines Tages heruntergenommen hatte, um sie abzustäuben, auf einem vergilbten, auf der Rückseite des einen Portraits aufgeklebten Stückchen Papier gefunden.

Am Fenster hing ein Vorhang aus grobem Wollstoff, der schließlich so alt wurde, daß, um keinen neuen anschaffen zu müssen, Frau Magloire sich genöthigt sah, mitten drin eine große Naht zu machen. Diese Naht bildete ein Kreuz, und der Bischof machte oft darauf aufmerksam, mit den Worten; »Wie gut sich das ausnimmt!«

Alle Schlafzimmer ohne Ausnahme waren wie Kasernenstuben und Hospitalsäle, weiß getüncht. Indessen fand, wie weiterhin ausführlicher erzählt werden soll, Frau Magloire unter den gestrichenen Tapeten in Baptistinens Zimmer Malereien vor. Das Gebäude war nämlich, ehe es als Hospital benutzt wurde, Rathhaus gewesen und aus jener Zeit stammte diese Verzierung des Zimmers. Der Fußboden in den Schlafkammern bestand aus rothen Ziegeln, die allwöchentlich gewaschen wurden und war vor den Betten mit Strohmatten belegt. Im Uebrigen herrschte in diesem Hause, wo zwei Frauen walteten, von oben bis unten die peinlichste Sauberkeit. Dies war der einzige Luxus, den der Bischof gestattete: »Das entzieht den Armen nichts«, sagte er.

Indessen muß eingestanden werden, daß ihm von seinem einstigen Reichthume sechs silberne Tafelbestecke und ein Suppenlöffel übrig geblieben waren, an deren Anblick Frau Magloire Tag für Tag ihre Augen zu weiden pflegte. Und da wir den Bischof so schildern wollen, wie er war, so müssen wir noch erwähnen, daß ihm mehr als einmal das Geständniß entschlüpft war: Es würde mir schwer werden, wenn ich dem Silbergeschirr entsagen müßte.

Außer diesem Tafelgeschirr besaß er noch zwei große Leuchter aus massivem Silber, die er von einer Großtante geerbt hatte. Diese Leuchter enthielten zwei Wachskerzen und prangten gewöhnlich auf dem Kaminsims. Hatte der Bischof einen Gast zu Tische, so zündete Frau Magloire die beiden Kerzen an und stellte die Leuchter auf den Speisetisch.

In dem Schlafzimmer des Bischofs selbst, über dem Bett, befand sich ein kleiner Wandschrank, in dem Frau Magloire jeden Abend das silberne Tafelgeschirr verschloß. Freilich, abgezogen wurde der Schlüssel nicht.

Den durch die schon erwähnten häßlichen Gebäude entstellten Garten durchkreuzten vier Alleen, die in der Mitte an einer Senkgrube zusammentrafen. Eine andre Allee zog sich um den Garten längs der Mauer herum. Diese Wege umschlossen vier mit Buchsbaum eingefaßte Quadrate. Auf dreien zog Frau Magloire Gemüse, das vierte Beet hatte der Bischof mit Blumen bepflanzt. Hier und da sah man auch Obstbäume. Eines Tages sagte Frau Magloire mit gutmüthiger Ironie zu dem Bischof: »Ew. Bischöfliche Gnaden wissen Alles recht schön auszunutzen, haben aber doch das Beet da mit Blumen bepflanzt, die nichts einbringen. Es wäre besser, wenn Salat darauf wüchse.« »Frau Magloire«, entgegnete der Bischof, »Sie haben da keine richtige Ansicht. Das Schöne ist ebenso nützlich, wie das Nützliche.« Dann nach einer Pause: »Vielleicht noch mehr.«

Dieses Beet, das aus drei oder vier Rabatten bestand, beschäftigte den Bischof beinah ebenso sehr, wie seine Bücher. Er arbeitete darauf täglich ein bis zwei Stunden, gätete Unkraut aus, beschnitt die Pflanzen, grub Löcher, in die er die Schößlinge steckte u. s. w. Aber die Insekten verfolgte er nicht so eifrig, wie es ein richtiger Gärtner für wünschenswerth gehalten hätte. Mit botanischen Kenntnissen glänzen zu wollen war auch nicht seine Sache; er kannte nicht die Klassifikazionen und den Solidismus, ließ sich nie darüber vernehmen, ob er es mit Tournefort halte oder für die natürliche Methode sei, ergriff nicht Partei für die Antherenschläuche gegen die Kotyledonen, noch für Jussieu gegen Linné. Er studierte nicht die Pflanzen, sondern liebte die Blumen. Er ließ Gelehrte und Ungelehrte unbehelligt, und begoß vor allen Dingen jeden Abend im Sommer sein Beet mit einer grünen Gießkanne.

Keine Thür im Hause war verschließbar. Die Thür des Speisezimmers, die, wie wir schon erwähnt haben, unmittelbar an den Domplatz stieß, war ehedem mit Schlössern und Riegeln versehen gewesen, wie eine Gefängnißthür. Alles dieses Eisenwerk hatte der Bischof abnehmen lassen, und seitdem blieb die Thür Tag und Nacht nur eingeklinkt. Der erste Beste, der des Weges kam, konnte sie aufmachen. Anfangs hatte diese unverschlossene Thür den beiden Frauen viel Sorge gemacht, aber der Bischof hatte gesagt: »Laßt Euch Riegel an Eure Thüren machen, wenn Ihr das wollt.« Schließlich hatten sie sich beruhigt oder stellten sich wenigstens so. Nur Frau Magloire hatte von Zeit zu Zeit noch Anwandlungen von Angst. Wie der Bischof über die Sache dachte, erhellt aus einigen Zeilen, die er in einer Bibel an den Rand geschrieben: »Der Unterschied ist der: Die Thür des Arztes soll niemals verschlossen, die des Geistlichen immerdar offen sein.«

In einem andern Buche, das den Titel »Philosophie der medizinischen Wissenschaft« führt, hat er geschrieben: »Bin ich nicht ebenso gut ein Arzt wie sie? Auch ich habe meine Kranken; zunächst ihre, die sie Patienten nennen, und dann meine eignen, die ich die Unglücklichen nenne.«

Und an einer andern Stelle: »Fraget nicht den, der Euch um ein Obdach bittet, nach seinem Namen. Gerade derjenige bedarf der Zufluchtstätte, dem sein Name Verlegenheiten bereitet.«

Es ereignete sich, daß ein würdiger Pfarrer, wahrscheinlich auf Antrieb der Frau Magloire, ihn fragte; ob Se. Bischöflichen Gnaden sicher seien nicht eine gewisse Unvorsichtigkeit zu begehen, indem Sie Tag und Nacht das Haus für Jeden, der hinein wollte, offen ließen, und ob Sie nicht fürchteten, es könne ein Unglück geschehen in einem so mangelhaft gehüteten Hause. Der Bischof klopfte ihn mit mildem Ernst auf die Schulter und citierte: »Wenn der Herr nicht das Haus behütet, wachen die Hüter umsonst.«

Er behauptete gern, der Priester habe so gut seine Tapferkeit, wie der Dragoneroberst. »Nur muß unsere Tapferkeit, fügte er hinzu, eine ruhige sein.«

Cravatte

Hier dürfen wir eine Begebenheit nicht unerwähnt lassen, die am deutlichsten die Charaktereigenthümlichkeiten des Bischofs von Digne erkennen läßt.

Nach der Vernichtung der Räuberbande, mit der Gaspard die Schluchten bei Allioules unsicher gemacht hatte, flüchteten sich die Ueberreste unter der Anführung eines gewissen Cravatte in das Gebirge. Nachdem er sich eine Zeitlang in der Grafschaft Nizza verborgen gehalten, glückte es ihm nach Piemont zu gelangen, und von dort aus erschien er plötzlich wieder in Frankreich, in der Gegend von Barcelonnette. Zuerst wurde er bei Jauziers, dann bei Tuiles gesehen. Darauf versteckte er sich in den Höhlen des Joug de l’Aigle, und von dort aus rückte er durch die Schluchten der Ubaye und der Ubayette bis nach Embrun vor und räumte eines Nachts die Sakristei des Domes aus. Seine Räubereien verbreiteten Schrecken über das ganze Land. Aber vergebens heftete sich die Gendarmerie an seine Fersen: Er entkam immer und bisweilen ließ er es sogar auf einen Kampf ankommen. In die Gegend nun, die Cravatte beherrschte, kam eines Tages der Bischof auf einer Reise nach Chastelar. Der Maire suchte ihn auf und rieth ihm umzukehren. Cravatte durchstreife das Gebirge bis nach l’Arche und darüber hinaus. Selbst eine Eskorte biete keine genügende Sicherheit. Man setze nur das Leben der armen Gendarmen unnützen Gefahren aus.

»Ich gedenke ja ohne Eskorte zu reisen,« erwiderte ihm der Bischof.

»Das kann nicht Ihr Ernst sein. Bischöfliche Gnaden.«

»Das ist so sehr mein Ernst, daß ich jede Begleitung entschieden ablehne und binnen einer Stunde aufbreche.«

»Bischöfliche Gnaden wollen wirklich eine so gefährliche Reise unternehmen?«

»Ganz wirklich.«

»Und allein?«

»Ganz allein.«

»Bischöfliche Gnaden, das werden Sie nicht thun.«

»Im Gebirge, erklärte der Bischof, ist eine bescheidne, ganz kleine Gemeinde, die ich seit drei Jahren nicht besucht habe. Es wohnen dort gute Freunde von mir, gutmüthige und rechtschaffne Hirten. Von dreißig Ziegen, die sie hüten, ist eine ihr Eigenthum. Sie verfertigen recht hübsche bunte Wollenschnüre und spielen Gebirgsmelodien auf der Flöte. Sie haben das Bedürfniß von Zeit zu Zeit das Wort Gottes zu hören. Was würden sie zu einem Bischof sagen, der sich fürchtet? Was würden sie sagen, wenn ich nicht zu ihnen käme?«

»Aber denken Bischöfliche Gnaden denn gar nicht an die Räuber?«

»Sie haben Recht, daß Sie mich an die erinnern. Ich könnte mit ihnen zusammentreffen. Auch sie haben es nöthig, daß sie etwas von Gott hören.«

»Herr Maire, vielleicht will mich unser Heiland grade über diese Heerde zum Hirten einsetzen. Wer kennt die Wege der Vorsehung?«

»Bischöfliche Gnaden, das Gesindel wird Sie ausplündern.«

»Ich habe ja nichts.«

»Sie werden Sie totschlagen!«

»Ei was! Einen harmlosen alten Priester, der seine Gebete murmelt? Was hätten sie davon?«

»Mein Gott, wenn Bischöfliche Gnaden den Kerlen begegneten!«

»Dann würde ich sie um eine milde Gabe für meine Armen ansprechen.«

»Um des Himmels Willen, Bischöfliche Gnaden, reisen Sie nicht! Sie setzen Ihr Leben aufs Spiel!«

»Weiter nichts? Ich bin nicht auf der Welt um mein Leben, sondern um die Seelen meiner Nebenmenschen zu behüten.«

Man mußte ihn also gewähren lassen. Er brach auf ohne andre Begleitung als einen Knaben, der sich erboten hatte, ihn zu führen. Seine Hartnäckigkeit machte großes Aufsehen und erregte große Besorgnisse.

Seine Schwester und Frau Magloire nahm er nicht mit. Er ritt auf einem Maulthier über das Gebirge, begegnete Niemandem und kam wohlbehalten bei seinen guten Freunden, den Hirten an. Er blieb vierzehn Tage bei ihnen, reichlich beschäftigt mit der Vollziehung seiner Amtspflichten. Kurz vor seiner Abreise beschloß er noch ein Tedeum abzuhalten und sprach mit dem Dorfpfarrer davon. Aber ach! Es war kein bischöflicher Ornat aufzutreiben. Ein paar alte verschossene Damastgewänder mit falschen Tressen war alles, was die ärmliche Dorfsakristei ihm zur Verfügung stellen konnte.

»Gleichviel! sagte der Bischof. Herr Pfarrer, wir kündigen unser Tedeum trotzdem an. Die Sache wird sich schon machen.«

Man hielt Umschau in allen benachbarten Kirchen, aber alle Herrlichkeiten, welche diese dürftigen Gemeinden hätten aufbringen können, würden nicht zur angemessenen Bekleidung eines Domkantors ausgereicht haben.

Während man sich noch in vollster Verlegenheit befand, wurde von zwei unbekannten Reitern, die sich sofort wieder aus dem Staube machten, in der Pfarrwohnung eine Kiste für den Herrn Bischof abgegeben. Dieselbe enthielt einen Chorrock aus Goldstoff, eine mit Diamanten besetzte Bischofsmütze, ein Erzbischofskreuz, einen kostbaren Krummstab, Pontifikalkleider, überhaupt sämtliche Gegenstände, die vier Wochen vorher in der Notredamekirche zu Embrun gestohlen worden waren. In der Kiste lag noch ein Zettel, auf dem geschrieben stand: »Von Cravatte an den Herrn Bischof Bienvenu.«

»Sagte ich’s nicht, daß die Sache sich machen würde? triumphirte der Bischof. Wer sich mit einem Pfarrerrock bescheidet, dem sendet Gott ein Erzbischofsgewand.«

»Gott — oder der Teufel«, entgegnete scherzend der Pfarrer, und schüttelte den Kopf.

Der Bischof sah den Pfarrer fest an und wiederholte mit Nachdruck: »Gott.«

Dieses Abenteuer hatte die Wirkung, daß er auf dem Rückwege und in Le Chastelar der Gegenstand der allgemeinen Neugierde war. Im Pfarrhause zu Le Chastelar traf er Fräulein Baptistine und Frau Magloire, die auf seine Rückkehr dort warteten, und sagte zu seiner Schwester: »Nun, hatte ich nicht Recht? Mit leeren Händen ist der arme Priester zu den armen Gebirglern gegangen und mit vollen Händen kommt er zurück. Ich nahm nur mein Gottvertrauen auf die Reise mit und bringe einen Domschatz nach Hause.«

Am Abend, ehe sie sich zur Ruhe begaben, sagte er noch:

»Fürchten wir nie die Räuber und Mörder. Die Gefahren, die uns von der Seite drohen, sind äußere, geringfügige. Fürchten wir uns vielmehr vor uns selber. Die Vorurtheile sind die wahrhaft gefährlichen Räuber, die Laster sind die Mörder. Die großen Gefahren lauern in uns. Gleichviel, wer unsre Habe und unser Leben bedroht! Denken wir nur an das, was unsre Seele gefährdet.«

Dann, zu seiner Schwester gewandt, fuhr er fort: »Liebe Schwester, der Geistliche darf nie Vorsicht gegen seinen Nebenmenschen gebrauchen. Was unser Nebenmensch thut, läßt Gott zu. Beschränken wir uns darauf zu Gott zu beten, wenn wir glauben, daß eine Gefahr uns naht. Beten wir nicht für uns, sondern, daß wir nicht unserm Bruder Veranlassung geben in eine Sünde zu verfallen.«

Im Ganzen war jedoch sein Leben arm an Ereignissen. Wir erzählen diejenigen, die zu unsrer Kenntnis gelangt sind; aber für gewöhnlich that er immer dieselben Dinge zu derselben Zeit.

Was wurde aber aus dem Schatz des Domes zu Embrun? Wir gestehen, daß diese Frage uns in arge Verlegenheit setzt. Diese verführerischen Kostbarkeiten legten nur allzu leicht den Gedanken nahe, sie zu stehlen und zum Vortheil der Armen in bares Geld umzumünzen. Gestohlen war sie ja schon so wie so. Zur Hälfte war die Sache schon gethan; das gestohlene Gut brauchte blos noch eine andre Richtung einschlagen und nur die kleine Strecke zu den Häusern der Armen zu wandern. Etwas Positives können wir darüber freilich nicht behaupten. Es hat sich nur unter den Papieren des Bischofs eine kurze Notiz vorgefunden, die sich vielleicht auf diese Angelegenheit bezieht. Sie lautet: »Die Frage ist, ob es dem Dom oder dem Krankenhaus zukommt.«

Philosophie bei Tische

Der Senator, von dem oben die Rede gewesen ist, war ein kluger Mann, der unbekümmert um gewisse Hindernisse, wie Gewissen, Treu und Glauben, Gerechtigkeit und Pflicht, sein Schifflein aufs Trockne gebracht hatte. Nie war er von dem richtigen Wege abgewichen, der ihn zu seinem Ziele, der Förderung seiner Interessen, führte. Dieser ehemalige Staatsanwalt, den der Erfolg gemächlich gemacht hatte, war kein schlechter Mensch, denn er erwies seinen Kindern, seinen Schwiegersöhnen, seinen Verwandten, ja sogar seinen Freunden alle nur möglichen Gefälligkeiten. Er hatte nur das, was das Leben Angenehmes bietet, Vergnügungen, Glücksgüter, Gelegenheiten sich emporzubringen, seiner Beachtung werth gefunden. Alles Uebrige kam ihm dumm vor. Er besaß Geist und war gerade belesen genug, um sich für einen Schüler Epikurs zu halten, während er seine Philosophie doch höchstens einem Pigault-Lebrun verdankte. Er spaßte oft und mit Behagen über alles Unendliche und Ewige, selbstverständlich auch über die »Grillen« des Herrn Bischofs. Und so sicher war er seiner Sache, daß er sich nicht scheute, seine Witze in Gegenwart des geduldigen Myriel selber zum Besten zu geben.

Bei einer halboffiziellen Festlichkeit mußte einst dieser Senator und der Bischof bei dem Präfekten diniren. Bei dem Dessert platzte der Senator, angeheitert wie er war, aber noch fähig eines gewissen Grades von Selbstbeherrschung, wieder einmal los:

»Seien wir gemüthlich, Herr Bischof, und plaudern wir frisch von der Leber weg. Ein Bischof und ein Senator können einander nicht leicht ansehen, ohne mit den Augen zu zwinkern. Wir sind zwei Augurn, und da, dächte ich, könnte ich Ihnen ja mal ein ausführliches Geständniß ablegen, wie ich als Philosoph die Welt betrachte. Ich philosophire nämlich auf meine eigene Weise.«

»Daran thun Sie recht, Herr Graf. Wie man philosophirt, so schläft man. Sie schlafen auf einem Purpurbett, Herr Senator.«

»Ich behaupte also, Herr Bischof, daß der Marquis d’Argens, Pyrrho, Hobbes und Naigeon keine Schafsköpfe sind. Ich halte ihre Werke in Ehren und besitze sie in meiner Bibliothek, in Gold gebunden. Diderot dagegen verabscheue ich. Der Kerl ist ein Ideologe, ein Phrasenmacher, ein Revolutionär, der im Grunde doch an Gott glaubt und bigotter ist wie Voltaire. Voltaire hat sich über Needham lustig gemacht, aber sehr mit Unrecht; denn Needhams Aale beweisen doch, daß Gott überflüssig ist. Ein Tröpfchen Essig in einen Löffel voll Mehl gegossen thut dieselben Dienste wie das fiat lux, das ‘Es werde Licht’ der Bibel. Denken Sie sich einen größern Tropfen und einen größern Löffel, so haben Sie die Welt. Der Mensch ist der Aal. Was brauchen wir also einen ›ewigen Vater?‹ Mir ist Jehowa lästig. Wer sein Gehirn mit dergleichen Hypothesen zermartert, wird mager. Sonst kommt nichts dabei heraus. Nieder mit dem ›All‹, das mir meine Ruhe nimmt! Es lebe das Nichts, das mich leben läßt, wie es mir gefällt! Unter uns gesagt, und um mein Herz auszuschütten, meinem Seelenhirten pflichtgemäß zu beichten, gestehe ich, daß ich es mit dem gesunden Menschenverstand halte. Ich bin nicht in Ihren Jesus vernarrt, der ewig und immer Entsagung und Selbstaufopferung predigt. Damit mag ein Geizhals arme Teufel abspeisen. Ich beiße auf so etwas nicht an. Wozu entsagen? Weswegen sich für Andere opfern? Ich sehe nicht, daß ein Wolf sein Leben für einen andern Wolf hingiebt. Halten wir uns doch an die Natur. Wir gehören zu den höheren Ständen, befleißigen wir uns also einer höhern Philosophie. Wozu steht man oben, wenn man nicht weiter sehen will, als es den unten Stehenden genehm ist? Genießen wir das Leben. Dieses Leben ist alles, was wir zu gewärtigen haben. Denn daß der Mensch eine andere Zukunft habe, anderswo, oben, unten, sei es wo es will, davon glaube ich kein Sterbenswörtchen. Also man empfiehlt mir Selbstverleugnung und Entsagung, ich soll immer hübsch darauf achten, daß ich richtig handle, soll mir den Kopf zerbrechen über das Gute und das Böse, das Gerechte und das Ungerechte, das fas und nefas! Warum? Weil ich über mein Thun Rechenschaft ablegen muß? Wann? Nach meinem Tode. Wer das glaubt, dem träumt. Den möchte ich sehen, der mich nach meinem Tode zu fassen kriegt. Ein Schatten soll es bleiben lassen ein Häufchen Asche zu packen. Sagen wir es offen heraus, was das Wahre ist: Wir gehören zu den Eingeweihten, die den Schleier der Isis gelüftet haben: Es giebt weder Gutes noch Böses; was existirt, ist das Werden. Halten wir es mit dem Reellen. Gehen wir den Sachen vollständig auf den Grund, Teufel auch! Man muß nach der Wahrheit wittern, sie aus der Tiefe herauswühlen und sie festhalten. Dann macht sie Einem Freude! Dann wird man schlau und kann lachen. Einem gescheidten Kerl wie mir macht man nichts vor. Herr Bischof, der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele ist eine unsolide Spekulation, ein fauler Wechsel. Auf das Versprechen fall’ ich nicht rein. Wir sind jetzt Seelen und dermaleinst werden wir Engel sein, mit blauen Flügeln an den Schulterblättern und — so behauptet ja wohl Tertullian — von Stern zu Stern wandern. Gut. Wir werden einst die Sprengsel des Sternenhimmels sein. Außerdem werden wir Gott schauen. Larifari! Laß mich doch Einer zufrieden mit dem läppischen Geschwätz vom Paradiese und vom lieben Gott! Selbstredend werde ich dergleichen Ansichten nicht mit meinem Namen in den Zeitungen abdrucken lassen. Man flüstert so was nur seinem guten Freunde inter pocula ins Ohr. Die Erde für den Himmel hingeben heißt einen guten Braten fallen lassen, um dem Schatten desselben nachzujagen. Mit dem Unendlichen imponirt man mir nicht. Ich bin ein Nichts. Ich heiße der Graf und Senator Nichts. War ich vor meiner Geburt? Nein. Werde ich nach meinem Tode sein? Nein. Was soll ich auf dieser Erde thun? Ich habe die Wahl. Leiden oder Genießen. Ich habe mich für das Genießen entschieden. Man muß fressen oder gefressen werden. Ich ziehe vor zu fressen. Lieber Hammer als Ambos. So lautet mein Wahlspruch. Nachher ist’s vorbei. Das Loch, in das uns der Totengräber legt, ist das Ende. Darüber hinaus liegt nur die Nacht, in der ein Nichts dem andern Nichts gleicht. Ob Einer ein Sardanapal oder ein St. Vincenz von Paula gewesen, Nichtse sind sie dann alle Beide. Dies ist die Wahrheit. Vor allen Dingen also soll man leben. Genieße dein Ich, so lange Du es hast. Ja ja, ich verstehe mich auf Philosophie; ich lasse mich nicht mit Alfanzereien an der Nase herumführen. Allerdings müssen die unten herumkriechen, die Hungerleider, die Unglücklichen, auch etwas haben. Denen tischt man Märchen auf, Phantastereien über die Seele, die Unsterblichkeit, den Himmel, die Sterne. Das schmieren sie auf ihr trockenes Brod. Wer nichts hat, der hat den lieben Gott. Den muß man ihm schon lassen. Damit bin ich auch einverstanden, aber Naigeon’s Philosophie ist mehr nach meinem Geschmack. Der liebe Gott ist gut genug für das Volk.«

»Das nenne ich reden«, antwortete der Bischof und klatschte in die Hände. »Das ist ja ganz etwas Ausgezeichnetes, solch ein Materialismus. Solche Ansichten kann nicht Jeder haben. Ja, wer diese Weisheit besitzt, der läßt sich nicht mehr täuschen, der ist nicht so dumm, sich in die Verbannung schicken zu lassen wie Cato; der wird nicht gesteinigt wie der heilige Stephanus, nicht lebendig verbrannt wie Johanna d’Arc. Die das Glück gehabt haben, sich zu einem so herrlichen Materialismus emporzuschwingen, haben die Freude, jeder lästigen Verantwortlichkeit los und ledig zu sein. Sie dürfen ohne Gewissensbisse zugreifen; Alles in die Tasche stecken; Aemter, Sinekuren, Titel, Macht, ob mit guten oder bösen Mitteln erworbene. Sie dürfen ihr Wort brechen und Verrath üben, wenn es ihnen Nutzen bringt, und nachher, wenn sie sich am Tisch des Lebens recht voll gegessen, ruhig in das Grab steigen. Wie angenehm das sein muß! Ich beziehe dies nicht speziell auf Sie, Herr Senator, kann aber nicht umhin, Ihnen zu gratuliren, Ihr großen Herren habt, wie ihr sagt, Eure eigne und eigens für Euch ausgedachte Philosophie, eine besonders ausgesuchte, feine, nur den Reichen zugängliche, die alle Lüste des Lebens vorzüglich würzt. Diese Philosophie ist von besonderen Forschern aus den Tiefen des wahren Seins hervorgeholt worden. Aber Ihr seid gemüthlich und habt nichts dagegen, daß der Glaube an den lieben Gott die Philosophie des Volkes sei, ungefähr so wie bei den Armen Gänsebraten mit Kastanien den Truthahn mit Trüffeln vertritt, der nur auf den Tisch der Reichen kommt.«

Was die Schwester über den Bruder erzählt

Um eine Vorstellung von der Häuslichkeit des Bischofs zu geben und zu zeigen, wie vollständig die beiden frommen Frauen ihre Handlungen und Gedanken, ja sogar ihre natürliche Furchtsamkeit, den Gewohnheiten und Wünschen des Bischofs unterordneten, ohne daß er sich auch nur die Mühe zu nehmen brauchte, ihnen Ausdruck zu verleihen, können wir nichts Besseres thun, als hier einen Brief Fräulein Baptistines an ihre Jugendfreundin die Frau Vicomtesse von Boischevron, wiederzugeben. Diesen Brief besitzen wir im Original.

Digne, den 16. Dec. 18 ..

Theuerste Freundin!

Es vergeht kein Tag, ohne daß wir von Ihnen sprächen. Es ist das unsere Gewohnheit, aber wir haben noch einen anderen Grund. Denken Sie Sich: Frau Magloire hat beim Waschen und Abstäuben der Wände Entdeckungen gemacht; unsre beiden Schlafzimmer mit ihren alten, weiß getünchten Tapeten würden jetzt ein Schloß wie das Ihrige nicht verunzieren. Frau Magloire hat die ganzen Tapeten heruntergerissen. Es war etwas dahinter. Mein Salon, in dem keine Möbel stehen, und der uns den Trockenboden für die Wäsche ersetzt, ist fünfzehn Fuß hoch, achtzehn im Geviert und hat eine bemalte und vergoldete Decke mit Balken, wie bei Ihnen. Als das Haus noch als Hospital diente, war ein Ueberzug aus Leinwand darüber. Dazu Holzwerk aus der Zeit unsrer Großmütter. Und mein Zimmer sollten Sie erst sehen! Frau Magloire hat unter wenigstens zehn darüber geklebten Tapeten Gemälde entdeckt, die ganz leidlich sind: Telemach, wie er von Minerva zum Ritter erhoben wird; derselbe in den Gärten, — ich kann mich nicht mehr besinnen, welchen; der Ort, wohin die Römerinnen sich einmal des Jahres begaben. Kurz, ich habe Römer, Römerinnen, (hier stand ein unleserliches Wort), und so weiter. Frau Magloire hat alles sauber abgewaschen und diesen Sommer wird sie einige unbedeutende Beschädigungen repariren, das Ganze überfirnissen, so daß mein Zimmer einem Museum gleichen wird. Außerdem hat sie auf dem Boden in einem Winkel zwei Consolen alten Stils gefunden. Sie sollten sechs Franken wieder zu vergolden kosten; aber es ist doch besser, wir geben das Geld den Armen. Auch sind sie nicht hübsch, und ich würde einen Mahagonitisch vorziehn.

Ich fühle mich recht glücklich, wie immer. Mein Bruder ist so gut! Er giebt alles, was er hat, den Bedürftigen und Kranken. Bei uns geht es auch infolge dessen sehr knapp zu. Das Klima ist hier im Winter sehr rauh, und man muß für Diejenigen, denen es am Notwendigen fehlt, doch etwas thun. Mit Licht und Heizung ist es in unserm Hause ziemlich gut bestellt, was doch gewiß große Annehmlichkeiten sind.

Mein Bruder hat so seine eignen Gewohnheiten. Er behauptet im vertraulichen Gespräch, ein Bischof müsse so sein. Denken Sie Sich: die Hausthür ist nie verschlossen. Jeder, der will, kann herein, und ist dann gleich in der Wohnung meines Bruders. Er fürchtet sich nicht, selbst des Nachts nicht. Das ist die Art Tapferkeit, die er haben muß, behauptet er.

Er will nicht, daß ich und Frau Magloire uns um ihn ängstigen. Er setzt sich allen Gefahren aus und duldet nicht einmal, daß wir thun, als bemerkten wir das. Man muß ihn eben verstehen.

Er geht bei Regenwetter aus, watet durch Wasser, reist zur Winterzeit. Er fürchtet sich nicht des Nachts, nicht vor gefährlichen Wegen und schlechten Menschen.

Verflossenes Jahr reiste er allein nach einer Gegend, wo sich Räuber herumtrieben. Uns nahm er nicht mit und blieb vierzehn Tage weg. Es widerfuhr ihm nichts, man hielt ihn für tot, aber er war gesund und munter. Er sagte: »Seht mal, wie die Räuber mich ausgeplündert haben«, und zeigte uns eine Kiste mit lauter Wertsachen, die in dem Dom von Embrun gestohlen waren. Die hatten ihm die Räuber geschenkt.

Bei der Rückfahrt konnte ich mich aber nicht bezwingen und schalt ihn ein Bischen, natürlich nur, während der Wagen rasselte, damit Niemand etwas hören sollte.

Anfangs dachte ich bei mir: Er läßt sich durch keine Gefahren zurückhalten, er ist schrecklich! Jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Ich winke immer Frau Magloire, sie soll ihm nicht widersprechen. Er setzt sich Gefahren aus, wie es ihm gerade beliebt. Ich gehe dann mit Frau Magloire hinaus, bete für ihn und lege mich schlafen. Ich bin ruhig, weiß ich doch, daß, wenn ihm ein Unglück zustieße, so wäre es auch mein Tod. Ich würde dann zum lieben Gott mit meinem Bruder und Bischof kommen. Frau Magloire ist es schwerer gewesen, sich an seine sogenannten Unklugheiten zu gewöhnen. Aber jetzt hat sie es auch gelernt. Wir beten alle Beide, fürchten uns zusammen und schlafen ruhig ein. Käme der Teufel in das Haus, er würde unbehelligt bleiben. Wozu sollten wir uns auch fürchten? Es ist ja immer Einer bei uns, der stärker ist als der Teufel.

Das genügt mir. Mein Bruder braucht mir jetzt kein Wort mehr zu sagen. Ich verstehe ihn, ehe er spricht, und wir verlassen uns auf die Vorsehung.

So muß man es machen mit einem Manne, dessen Sinn großartig angelegt ist.

Ich habe meinen Bruder wegen der Auskunft gefragt, die Sie über die Familie de Faux zu erhalten wünschten. Sie wissen ja, er weiß Alles und führt Gedenkbücher, denn er ist gut königlich gesinnt. Es ist in der That eine sehr alte normannische Familie aus dem Steuerbezirk Caen. Vor fünfhundert Jahren gab es einen Raoul de Faux, einen Jean de Faux und einen Thomas de Faux, alles Edelleute, einer darunter ein Seigneur de Rochefort. Der Letzte war Guy Etienne Alexandre und war Regimentsoberst und hatte noch einen andern Rang bei den Chevaux-legers in der Bretagne. Seine Tochter Marie Louise heiratete Adrien Charles de Gramont, Sohn des Herzogs Louis de Gramont, Pair von Frankreich, Obersten der Gardes-Françoises und General-Lieutenant.

Theuerste Vicomtesse, empfehlen Sie mich den Gebeten Ihres Vetters, des frommen Herrn Kardinals. Was Ihre theure Sylvanie betrifft, so hat sie sehr recht gethan, daß sie die kurze Zeit, die sie bei Ihnen zubringt, nicht damit verloren hat, mir zu schreiben. Sie befindet sich wohl, arbeitet Ihren Wünschen gemäß und hat mich lieb. Weiter verlange ich nichts. Sie haben mir Kenntniß davon zukommen lassen, wie es ihr geht, und mich damit ausnehmend erfreut. Mit meiner Gesundheit steht es nicht allzu schlecht, obgleich ich alle Tage magerer werde. Leben Sie wohl. Es fehlt mir an Papier, und ich muß aufhören. Tausend herzliche Grüße.

Baptistine.

P.S. Ihr Enkel ist ein reizender Knabe. Wissen Sie, daß er bald fünf Jahre alt ist! Gestern sah er ein Pferd, dem man Knieleder angelegt hatte. Er fragte: »Was hat denn das Pferd an den Knieen?« Er ist allerliebst. Sein Brüderchen zieht einen alten Besen als Wagen durch das Zimmer und ruft: »Hottehü!«

Wie aus diesem Briefe erhellt, wußten die beiden Frauen mit jenem ihrem Geschlecht natürlichen Takt, der sie befähigt, einen Mann besser zu verstehen, als er sich selbst, auf die Eigenheiten des Bischofs einzugehen. So sanft und treuherzig auch alle Zeit sein Gebahren war, so that er doch viel Großes und Kühnes, ohne daß er es selber zu ahnen schien. Die Frauen zitterten, aber sie ließen ihn gewähren. Bisweilen unterstand sich Frau Magloire, ihm Vorhaltungen zu machen, ehe er einen bedenklichen Entschluß ins Werk setzte, nachher aber nicht mehr. Nie wurde er, sobald er erst eine Sache begonnen hatte, belästigt, nicht einmal mit einer Gebärde der Mißbilligung oder Ungeduld. Die Frauen hatten zeitweise, ohne daß es einer Erklärung seinerseits bedurfte, ohne daß er selbst sich dessen bewußt wurde, eine gewisse Ahnung, daß er nur deshalb in der und der bestimmten Weise handle, weil seine Pflicht als Bischof es ihm befahl: sie verhielten sich dann so still und unaufdringlich, wie zwei Schatten. Sie bedienten ihn mit passivem Gehorsam, und wenn sie ihm nicht anders gefällig sein konnten, als daß sie sich entfernten und ihn allein ließen, so thaten sie auch dies mit Freudigkeit. Ihr bewunderungswürdiger Zartsinn sagte ihnen, daß manche Fürsorge lästig sein kann. Daher verstanden sie, selbst wenn sie glaubten, er schwebe in Gefahr, — ich will nicht gerade sagen, — seine Gedanken, wohl aber sein Wesen so vollständig, daß sie nicht mehr auf ihn Acht gaben. Sie vertrauten ihn der Obhut Gottes an.

Uebrigens sagte, wie wir eben gesehen, Baptistine, der Tod ihres Bruders werde auch ihr Ende alsbald nach sich ziehen. Frau Magloire sprach so etwas nicht aus, dachte es aber.

Eine neue Erleuchtung

Einige Zeit nach dem Datum des so eben citirten Briefes that der Bischof etwas, das nach dem Dafürhalten der ganzen Stadt ein noch gewagteres Stück war, als seine Reise in das Banditengebirge.

In der Umgegend von Digne wohnte in völliger Einsamkeit ein Mann, der — schaudernd müssen wir es bekennen — seiner Zeit Mitglied des Convents gewesen war. Er hieß G.

In der kleinen Welt, die sich die Stadt Digne nannte, sprach man von dem Conventsmitgliede G. nur mit einer Art Entsetzen und Abscheu. Ein Mitglied des Convents — nein, so etwas! Das gab es zu der Zeit, wo die Leute sich duzten und Bürger nannten. Der Mann war gewissermaßen ein moralisches Ungeheuer. Er hatte zwar nicht für den Tod des Königs gestimmt, aber viel hatte nicht daran gefehlt. Er war doch immer »beinah« ein Königsmörder. Jedenfalls war er ein Schreckensmann gewesen. Warum in aller Welt hatte man Den bei der Rückkehr der angestammten Königsfamilie nicht vor das Prevotalgericht gestellt? Man hätte ihm ja nicht gerade den Kopf vor die Füße zu legen brauchen, weil milde zu sein nun einmal die Pflicht des Richters ist; aber eine Verurtheilung zu lebenslänglicher Verbannung hätte nicht schaden können. Ein Beispiel zu statuiren wäre doch nöthig gewesen! U. s. w. Dann war der Mensch ja auch ein Atheist, wie die revolutionären Kanaillen alle. — Gänsegeklatsch über einen Geier!

War denn G. auch ein Geier? Ja, der Vergleich stimmte, wenn man ihn nach seiner Menschenscheu beurtheilte. Da er nicht für den Tod des Königs gestimmt hatte, so war er von den Verbannungsdekreten nicht getroffen worden und hatte in Frankreich bleiben dürfen.

Er wohnte drei Viertelstunden von der Stadt, weitab von jedem Dorfe, weitab von jedem Wege, in einem versteckten Winkel eines öden Thales. Er hatte dort, erzählte man, eine Art Feld, ein Loch, eine Hütte. Weit und breit war dort kein Haus zu sehen, nie kam Jemand dort vorüber. Seit er in der Schlucht seine Wohnung aufgeschlagen, war Gras über den Pfad, der dahin führte, gewachsen. Man sprach von dem Ort mit derselben Abscheu, als wenn da das Haus des Henkers gestanden hätte.

Der Bischof indessen dachte an das Conventsmitglied und richtete bisweilen seinen Blick nach der Baumgruppe, die fern am Horizont den Wohnort des Einsiedlers bezeichnete. »Dort befindet sich eine Seele die vereinsamt ist«, sagte er und fügte innerlich hinzu: »Ich bin ihm auch einen Besuch schuldig.«

Allein, gestehen wir es nur, dieser auf den ersten Blick selbstverständliche Gedanke kam ihm bei eingehender Prüfung absonderlich, unmöglich, ja widerwärtig vor. Denn im Grunde genommen, theilte er die allgemeine Empfindung und das Conventsmitglied flößte ihm, ohne daß er sich klare Rechenschaft darüber gab, ein Gefühl ein, das an der Grenzlinie des Hasses liegt und das durch das Wort Abneigung treffend ausgedrückt wird.

Darf jedoch der Hirt sich von einem Schaf abwenden, weil es räudig ist? Nein. Aber solch ein Schaf!

Der gute Bischof war in Verlegenheit. Manchmal richtete er seine Schritte nach der Gegend hin, kehrte aber auf halbem Wege wieder um.

Da verbreitete sich eines Tages in der Stadt das Gerücht, ein junger Hirt, der dem Conventsmitgliede G. in seinem Schlupfwinkel Handreichungen leistete, sei gekommen, einen Arzt zu holen; der alte Halunke liege im Sterben; die Lähmung, an der er litt, greife weiter um sich; er werde die Nacht nicht überleben. Gott sei Dank! meinten Viele.

Der Bischof nahm seinen Stock, zog einen Ueberrock an, weil, wie schon erwähnt, seine Sutane zu schäbig geworden war, und machte sich auf den Weg.

Die Sonne ging zur Rüste und stand schon dicht am Horizont, als der Bischof an dem vervehmten Ort anlangte. Das Herz klopfte ihm schneller, als er erkannte, daß er vor der Behausung des Elenden stand. Er schritt über einen Graben, stieg über eine Hecke, ging kühnen Schrittes durch einen vernachlässigten Garten und erblickte plötzlich hinter einem hohen Gesträuch, am andern Ende eines Brachfeldes, eine niedrige, armselige, kleine und saubere Hütte mit vergitterter Façade.

Vor der Thür saß da in einem einfachen Rollstuhl ein Mann mit weißen Haaren, der sich mit Behagen im Sonnenschein wärmte.

Neben dem Greise stand ein Hirtenknabe und hielt ihm eine Milchsatte hin.

Während der Bischof sie betrachtete, sagte der Alte: »Danke, ich brauche nichts mehr« und wandte seinen freundlichen Blick von der Sonne dem Knaben zu.

Der Bischof trat näher. Bei dem Geräusch der Schritts wandte sich der Greis, und sein Gesicht drückte so viel Erstaunen aus, als man nach einem langen Leben noch zu empfinden fähig ist.

»Seitdem ich hier wohne«, hob er an, »ist dies das erste Mal, das Jemand zu mir kommt. Wer sind Sie, mein Herr?«

»Ich nenne mich Bienvenu Myriel.«

»Derselbe, den das Volk Se. Gnaden Herrn Bienvenu nennt.«

»Der bin ich.«

Ein Lächeln umspielte den Mund des Greises.

»In diesem Fall sind Sie also mein Bischof?«

»Eigentlich!«

»Treten Sie näher, mein Herr!«

Das Conventsmitglied reichte dem Bischof die Hand hin.

Dieser aber gab ihm die seine nicht und bemerkte nur:

»Ich sehe mit Vergnügen, daß man mich falsch berichtet hat. Sie sehen keineswegs krank aus.«

»Bald wird mir besser sein«, antwortete der Greis.

Er hielt inne und fuhr dann fort:

»In drei Stunden sterbe ich. Ich habe mich etwas mit Medizin beschäftigt und kenne die Symptome, die das Herannahen des Todes melden. Gestern waren mir nur die Füße kalt; heute ist die Kälte bis zu den Knieen emporgestiegen; gegenwärtig fühle ich, daß sie durch den Unterleib empordringt; wenn sie das Herz erreicht, wird mein Leben still stehen. Schönes sonniges Wetter, nicht wahr? Ich habe mich ins Freie bringen lassen, um mir die Welt zum letzten Male anzusehen. Sie können reden, das Sprechen greift mich nicht an. Sie haben wohl gethan, zu einem Sterbenden zu kommen. Es ist besser, wenn ich im letzten Augenblick nicht allein bin. Man hat sonderbare Einfälle: Ich hätte gern bis Tagesanbruch gelebt. Aber ich weiß, daß ich höchstens noch drei Stunden Frist habe. Dann wird es Nacht. Aber was schadet das? Das Sterben ist eine einfache Sache. Dazu braucht man nicht die Morgensonne. Wenn die Sterne scheinen, geht es auch.«

Dann, zu dem Hirten gewandt, fuhr er fort:

»Geh’ schlafen. Du hast vorige Nacht gewacht. Du bist müde.« Der Knabe ging in die Hütte hinein.

Der Greis sah ihm nach und sagte halblaut, als spreche er mit sich selbst:

»Während er schläft, werde ich sterben. Der eine Schlaf wird den andern nicht stören.«

Dem Bischof war nicht so feierlich zu Muthe, wie wohl zu erwarten gewesen wäre. In dieser Art zu sterben lag nichts, was ihn Gottes Gegenwart ahnen ließ. Zudem — wir müssen dies offen heraussagen, denn auch die kleinen Widersprüche großer Seelen dürfen nicht übergangen werden — fühlte er sich, er, der gern über den Titel »Bischöfliche Gnaden« spottete, verletzt, weil er mit »Mein Herr« angeredet wurde, und war versucht, das Conventsmitglied »Bürger« zu tituliren. Er hatte nicht übel Lust, einen unceremoniellen derben Ton anzuschlagen, wie er Aerzten und Priestern ziemlich gewöhnlich ist, in seiner Art aber nicht lag. Der Mann da vor ihm, dieses Conventsmitglied, dieser Volksvertreter war einer der Mächtigen dieser Welt gewesen, und zum ersten Mal vielleicht in seinem Leben fühlte sich der Bischof geneigt, strenge zu verfahren.

Der Sterbende dagegen hatte etwas Bescheidenes, fast Demüthiges in seinem Wesen, als gehöre sich das so, wenn man nahe daran ist, in Staub zu zerfallen.

Der Bischof seinerseits, dem sonst Neugierde als eine Art Beleidigung erschien, beherrschte sich dieses Mal nicht und betrachtete das Conventsmitglied mit einer Aufmerksamkeit, die ihren Ursprung nicht in der Sympathie hatte und die sein Gewissen sonst getadelt hätte. Stand doch für ihn ein Conventsmitglied eigentlich außerhalb der Gesetze, ja sogar außerhalb des Gesetzes der Liebe.

G., mit seiner würdevollen Ruhe, seiner aufrechten Haltung, seiner kräftigen Stimme, war einer jener Achtzigjährigen, über die der Physiologe erstaunt. Die Revolution hat viele solche Männer gehabt, deren körperliche Kraft im Verhältniß stand zu der geistigen Kraft ihrer Zeit. Man merkte, daß der Greis ein Mann von erprobter Tüchtigkeit war. Er besaß, nahe wie er seinem Ende war, noch alle Merkmale der Gesundheit. Sein klarer Blick, seine feste Sprache, seine kräftigen Schulterbewegungen hätten den Tod in Erstaunen setzen können. Asrël, der mohamedanische Engel des Grabes, wäre umgekehrt und hatte geglaubt, er sei nicht vor die rechte Thür gekommen. Es war, als stürbe dieser Mann, weil es ihm so beliebte. Sein Todeskampf hatte etwas Freiwilliges. Nur die Beine waren unbeweglich und todt, der Kopf dagegen war voller Lebenskraft. G. glich in diesem feierlichen Augenblick jenem König in Tausend und eine Nacht, dessen Unterkörper in Marmor verwandelt war.

Der Bischof setzte sich auf einen Stein, der in der Nähe lag und begann ex abrupto:

»Ich muß es loben« — aber aus seiner Stimme klang ein Tadel, »daß Sie wenigstens nicht für den Tod des Königs gestimmt haben.«

Sein Gegner schien das Wort »wenigstens« nicht gehört zu haben. Er antwortete, indem er nicht mehr lächelte:

»Freuen Sie Sich nicht zu sehr: Ich habe für den Tod des Tyrannen gestimmt.«

»Welchen Tyrannen meinen Sie?«

»Der Mensch hat einen Tyrannen, die Unwissenheit. Gegen diese Tyrannei habe ich gestimmt. Denn diese Tyrannei hat das Königthum, die falsche Autorität, geboren. Die Wissenschaft ist die wahre Herrin des Menschen. Nur von ihr soll er sich lenken lassen.«

»Und von seinem Gewissen«, ergänzte der Bischof.

»Das ist dasselbe. Das Gewissen ist angeborene Wissenschaft.«

Der Bischof hörte mit einigem Erstaunen diese für ihn ganz neuen Gedanken.

Das ehemalige Conventsmitglied fuhr fort:

»Was Ludwig XVI. anbetrifft, so habe ich gegen seine Hinrichtung gestimmt. Ich halte mich nicht dazu befugt, einen Menschen zu töten, aber meine Pflicht gebietet mir, das Böse auszurotten. Ich habe für die Beseitigung der Tyrannei gestimmt. Die Prostitution des Weibes, die Sklaverei des Mannes, die Unwissenheit, die den Geist des Kindes umnachtet, soll ein Ende nehmen. Dies habe ich bezweckt, indem ich für die Republik stimmte. Brüderlichkeit, Eintracht, eine neue Zeit habe ich begründen wollen. Ich habe Vorurtheile und Irrthümer vertilgen helfen. Die Vernichtung der Vorurtheile und Irrthümer hat die Entstehung des Lichtes zur Folge. Wir haben die alte Weltordnung gestürzt, und indem die alte Welt, dieses Gefäß voller Leid und Elend, umstürzte, ist eine Freudenurne daraus geworden.«

»Die Freude ist eine sehr gemischte«, warf der Bischof ein.

»Sprechen Sie lieber von gestörter Freude, und gegenwärtig nach der verderblichen Wiederkehr der Vergangenheit im Jahre 1814 ist die Freude sogar verschwunden. Ja leider! Das Werk ist unvollendet geblieben, ich gestehe es. Wir haben die konkreten Institutionen der alten Weltordnung gestürzt, die Ideen, auf denen sie begründet war, haben wir nicht ganz austilgen können. Mißbräuche abschaffen genügt nicht, man muß die Menschen ändern. Die Mühle ist nicht mehr, aber der Wind weht immer noch.«

»Ihr habt das Alte zerstört. Das mag sein Gutes gehabt haben, aber ich habe kein Zutrauen zu einer Zerstörung, die der Zorn angestiftet hat.«

»Das Recht darf auch einmal in Zorn gerathen, denn der Zorn des Rechtes ist ein Element des Fortschritts. Gleichviel, man sage, was man wolle, seit dem Erscheinen Christi hat das Menschengeschlecht keinen so gewaltigen Schritt vorwärts gethan, als durch die große französische Revolution. Sie hat alle sozialen Uebelstände klar gelegt. Sie hat die Gemüther sanfter gestimmt; sie hat beruhigt, versöhnt, aufgeklärt; sie hat Ströme höherer Gesittung über alle Lande ausgegossen. Sie ist voller Güte gewesen. Die französische Revolution ist die Weihe der Menschheit.«

»Wirklich? Aber 1793?«

Der Mann des Convents richtete sich in seinem Stuhle mit erhabener Feierlichkeit auf und rief, so laut ein Sterbender irgend sprechen kann:

»Aha, da haben wir’s! Ich wußte, daß Sie mir mit 1793 kommen würden. Nun, es war einmal eine Wolke, die fünfzehn Hundert Jahre gewartet hat, ehe sie geplatzt ist, und nun klagen Sie den Blitz an.«

Der Bischof fühlte vielleicht, ohne daß er sich dessen klar wurde, daß seine Ueberzeugungen etwas erschüttert waren. Aber er wehrte sich noch:

»Der Richter spricht im Namen der Gerechtigkeit, der Priester im Namen des Mitleids, das nur eine höhere Art von Gerechtigkeit ist. Der Blitz soll sich nicht irren.« Und indem er den Mann des Convents fest ansah, fuhr er fort: »Z. B. Ludwig XVII.?«

Sein Gegner streckte die Hand aus und faßte ihn beim Arm.

»Also Ludwig XVII.? Sehr wohl. Worüber beklagen Sie sich? Daß ein unschuldiges Kind zu Tode gemartet worden ist? Gut, das beklage ich auch. Daß ein Königskind gemartert worden ist, das bitte ich mir erst überlegen zu dürfen. Für mich ist der Bruder Cartouche’s ein unschuldiges Kind, das auf dem Grève-Platze unter den Achseln aufgehängt wurde, bis es starb, — blos weil es der Bruder Cartouche’s war, eben so sehr ein Gegenstand des Mitleids, als der Enkel Ludwigs XV., das unschuldige Kind, das in dem Thurm des Temple zu Tode gemartert wurde, blos weil es der Enkel Ludwigs XV. war.«

»Herr, ich verbitte mir solche Zusammenstellungen.«

»Wem thut mein Vergleich Unrecht: Cartouche? Ludwig XV.?«

Es trat eine Pause ein. Der Bischof bedauerte fast, gekommen zu sein und doch fühlte er sich seltsam ergriffen.

Der Sterbende fuhr fort:

»Ja, ja, Herr Priester, Sie lieben die Derbheiten der Wahrheit nicht; Christus aber liebte sie doch. Er nahm eine Geißel und trieb das Gesindel zum Tempel hinaus. Diese Geißel sagte unangenehme Wahrheiten. Als er sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen, machte er keine Unterschiede. Er hätte keinen Anstand genommen, den Sohn des Barabbas und den Sohn des Herodes zusammen einzuladen. Ich meine, die Unschuld ist an sich eine Krone. Sie bedarf keiner hohen Titel und ist in Lumpen ebenso achtunggebietend, wie im Königsgewande.«

»Sehr wahr!« flüsterte der Bischof.

»Bleiben wir bei dem Thema, fuhr G. fort. Sie haben von Ludwig XVII. gesprochen. Sehen wir zu, ob wir uns richtig verstehen. Beklagen wir alle unschuldigen kleinen Märtyrer, die geringen ebenso sehr wie die vornehmen? Gut, das will ich thun. Aber dann müssen wir auch weiter hinaufgehen als 1793. Ich will mit Ihnen über die Kinder der Könige weinen, wenn Sie mit mir die Kinder des Volkes beweinen.«

»Sie sind alle des Mitleids werth«, bestätigte der Bischof.

»In gleicher Weise«, rief G., »und wenn eine Wagschale sich senken soll, so sei es die des Volkes. Seine Leiden sind die älteren.«

Wieder trat eine Pause ein. G. brach zuerst das Stillschweigen. Er stützte sich auf den einen Ellbogen, griff mit dem Daumen und Zeigefinger an die Wange, wie man unbewußt zu thun pflegt, wenn man einen Schuldigen verhört und zur Rede stellt, sah den Bischof strenge an und begann dann mit Heftigkeit:

»Ja, Herr Bischof, das Volk leidet schon lange. Aber noch Eins. Warum kommen Sie zu mir und reden über Ludwig XVII. Ich kenne Sie nicht. Seitdem ich in diese Gegend gekommen bin, habe ich in dieser Einöde gewohnt, allein in meiner Hütte, ohne je auszugehen, ohne Verkehr mit irgend Jemand, abgesehen von dem Hirtenjungen. Ihr Name ist allerdings zu mir gedrungen und er klang nicht schlecht, muß ich sagen; aber das will nicht viel sagen; die Klugköpfe haben so viele Mittel und Wege, dem guten Volk etwas vorzureden. Und nun ich daran denke: Ich habe Ihre Equipage nicht heranfahren hören. Sie haben sie gewiß hinter dem Gehölz am Kreuzweg halten lassen? Ich kenne Sie nicht, sage ich Ihnen. Sie haben mir gesagt, Sie wären ein Bischof, aber das klärt mich nicht auf über Ihr moralisches Ich. Also, ich wiederhole meine Frage: Wer sind Sie? Sie sind ein Bischof, d. h. ein Kirchenfürst, Einer von Denen, die Wappen, Renten, große Präbenden haben, — das Bisthum Digne bringt 15,000 Franken festes Gehalt und 10,000 Franken Nebeneinkünfte, macht 25,000 Franken pro Jahr. — Sie sind Einer von Denen, die Bedienten und Köche haben, die sich’s wohl sein lassen, die des Freitags Wasserhühner essen, in Palästen wohnen und im Namen Jesu Christi, der barfuß ging, in üppigen Galakutschen, mit Lakaien vorn und hinten, kutschiren. Alle diese Herrlichkeiten haben Sic und genießen Sie, aber das klärt mich nicht auf über Ihren inneren und wesentlichen Werth, den ich doch kennen muß; denn Sie sind doch offenbar mit der Absicht gekommen, mir Weisheit zu bringen. Mit wem spreche ich? Wer sind Sie?« Der Bischof senkte den Kopf und antwortete: »Vermis sum!«

»Ein Erdenwurm in einer Equipage!« murrte das Conventsmitglied. Jetzt war er hochfahrend und der Bischof bescheiden.

Letzterer hub mit sanfter Stimme wieder an:

»Sehr wohl. Aber erklären Sie mir doch, inwiefern meine Equipage da hinter den Bäumen, inwiefern meine üppige Tafel und die Wasserhühner, die ich des Freitags verspeise, inwiefern meine 25.000 Franken jährlich, inwiefern mein Palast und meine Lakaien beweisen, daß das Mitleid keine Tugend, daß Milde keine Pflicht ist und daß die Schreckensmänner des Jahres 1793 nicht unbarmherzig gewesen sind.«

Der Mann des Convents fuhr mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen trüben Gedanken verscheuchen.

»Bevor ich Ihnen antworte, bitte ich Sie um Verzeihung. Ich habe ein Unrecht begangen. Sie sind in meinem Hause, Sie sind mein Gast und ich bin Ihnen Höflichkeit schuldig. Sind Sie mit meinen Ansichten nicht einverstanden, so ziemt es sich, daß ich mich damit begnüge, Ihre Gegengründe zu widerlegen. Ihr Reichthum und Ihr Glück geben mir Waffen an die Hand, Sie zu bekämpfen, aber der Anstand erheischt, daß ich mich solcher Waffen nicht bediene. Ich entsage diesem Vortheil für die Zukunft.«

»Ich danke Ihnen«, antwortete der Bischof.

»Nun die Erklärung, die Sie von mir verlangten. Wo waren wir doch stehen geblieben? Sie behaupteten ja wohl, 1793 seien wir unbarmherzig gewesen?«

»Gewiß. Denken Sie an Marat, der beim Anblick der Guillotine in die Hände klatschte!«

»Denken Sie an Bossuet, der die Protestantenhetzen mit Tedeums feierte!«

Die Antwort war schroff, aber sie drang dem Bischof bis ins Innerste wie eine Degenspitze. Er fuhr zusammen, fand keine Erwiderung, aber es verdroß ihn, Bossuet in dieser Weise erwähnen zu hören. Auch die Verständigsten haben ihre Götzen und ärgern sich, wenn die Logik gegen dieselben unehrerbietig ist.

Dem Sterbenden fing der Athem an auszugehen und zwang ihn ab und zu seine Rede zu unterbrechen, aber noch leuchtete völlige Geistesklarheit aus seinen Augen. Er fuhr fort:

»Meinetwegen können wir noch, so gut es geht, ein paar Worte plaudern. Außer der Revolution, die als ein Ganzes betrachtet, eine große Kundgebung des Menschentums war, ist 1793 auch eine Erwiderung. Sie schmähen die erbarmungslose Schreckenszeit, wie war denn aber die ganze Königszeit? Carrier ist ein Bandit; aber welche Benennung verdient Montrevel? Fouquier-Tinville war ein erbärmlicher Mensch, aber was meinen Sie zu Lamoignon-Bâville? Mailland beging Grausamkeiten, aber wie urtheilen Sie über Saulx-Tavannes, wenn ich fragen darf? Vater Duhêne predigte einen blutdürstigen Fanatismus, aber welches Urtheil erlauben Sie mir über Vater Letellier? Jourdan-Coupe-Tête ist ein Ungeheuer, aber doch noch kein so scheußliches wie der Marquis von Louvois. Herr Bischof, ich beklage das Schicksal der Erzherzogin und Königin Marie-Antoinette, aber auch jene arme Hugenottin thut mir leid, die 1685, unter der Regierung Ludwigs des Großen, nackt bis auf die Hüften an einen Pfahl gebunden wurde und die Wahl hatte, ob sie ihren Glauben abschwören oder ihr Kind, das dicht vor ihr nach der Mutterbrust schrie und zappelte, dem Tode preisgeben wollte. Was meinen Sie zu dieser einer Mutter angepaßten Tantalusqual? Herr Bischof, merken Sie sich, die Revolution hatte ihre Berechtigungsgründe. Was man damals aus gerechtem Zorn gefehlt hat, wird von der Zukunft entschuldigt werden. Ist doch ihr Endergebniß eine allgemeine Besserung der Zustände. Sie hat derb zugeschlagen, aber sie hat sich als eine Wohlthat für die Menschheit erwiesen. Aber ich halte ein, die Vortheile in unserm Meinungskampfe sind zu groß auf meiner Seite und übrigens fühle ich auch, daß der Tod näher kommt.«

Und die Augen von dem Bischof abgewendet, beschloß er ruhevoll seine Rede mit folgenden Worten:

»Ja, die Zornesaufwallungen des Fortschritts heißen Revolutionen. Sind sie vorüber, so wird man inne, daß die Menschheit hart angefaßt worden ist, aber, daß sie einen Schritt weiter gekommen ist.«

Er ahnte nicht, daß er eine nach der andern alle Verschanzungen erobert hatte, hinter denen der Bischof sich gegen seine Angriffe vertheidigte. Eine indessen blieb noch übrig, von der aus sein Widersacher seine letzte Waffe gegen ihn entsandte:

»Der Fortschritt,« begann er wieder mit seiner anfänglichen Heftigkeit, »soll an Gott glauben. Das Gute kann keinen unheiligen Diener haben. Ein Gottesleugner eignet sich schlecht zum Führer der Menschheit.«

Der ehemalige Volksvertreter antwortete ihm nicht. Seinen Leib durchbebte ein Schauer. Aus seinem Auge quoll eine schwere Thräne die bleiche Wange hinab, und leise, den Blick in die Tiefen des Himmels versenkt, stammelte er vor sich hin:

»O Du! Ideal, Du allein bist!«

Der Bischof fühlte, in seinem Innern eine unbeschreibliche Erschütterung.

Nach einer Pause hob der Greis einen Finger gen Himmel und sagte:

»Das Unendliche ist, dort ist es. Hätte das Unendliche kein Ich, so hätte es an dem Ich eine Beschränkung, es wäre dann nicht unendlich; anders ausgedrückt, es wäre nicht. Es ist aber. Also hat es ein Ich. Dieses Ich des Unendlichen ist Gott.«

Der Sterbende hatte die letzten Worte mit lauter Stimme gesprochen, von den Schauern der Verzückung durchbebt, als schaue er ein höheres Wesen. Als er seine Rede beendet hatte, fielen ihm die Augen zu. Die Anstrengung hatte seine Kräfte erschöpft. Augenscheinlich hatte er in einer Minute die Lebenskraft verbraucht, die sonst noch für einige Stunden gereicht hätte. Was er soeben gesagt, hatte ihn dem nahe gebracht, der in dem Tode ist. Sein letzter Augenblick kam heran.

Der Bischof begriff dies, die Zeit drängte, als Priester war er doch gekommen. Die ursprüngliche Abneigung war allmählich in das entgegengesetzte Extrem, in die tiefste Rührung übergegangen; er blickte auf die geschlossenen Augen, die eiskalte runzlige Hand des Sterbenden und beugte sich zu ihm nieder:

»Dies ist die Stunde Gottes. Nicht wahr, es wäre bedauerlich, wenn wir umsonst zusammengekommen wären?«

Der Sterbende schlug die Augen auf. Auf seinem Antlitz lag ein Ausdruck von würdevollem Ernst, aber mit einem Anflug von Mißmuth.

»Herr Bischof,« sagte er und seine Worte kamen langsam hervor, wohl mehr vom Gefühl seiner Würde getragen, als weil seine Kräfte ihn verließen, »mein ganzes Leben war dem Studium und der Betrachtung geweiht. Ich war sechzig Jahre alt, als mein Vaterland mich rief und mir befahl, mich mit seinen Angelegenheiten zu beschäftigen. Ich gehorchte. Es bestanden Mißbräuche, ich habe sie bekämpft; Unterdrückung, ich habe sie beseitigt; Rechte und Grundsätze, ich habe mich ihrer angenommen. Feindliche Armeen drangen in Frankreich ein, ich wagte mein Leben um es zu vertheidigen. Ich war nicht reich und bin arm geblieben. Ich war einer der Herren des Staates, die Keller des Schatzes waren mit Gold und Silber erfüllt, so daß die Mauern gestützt werden mußten, — ich speiste in der Rue de l’Arbre-Sec für zweiundzwanzig Sous. Ich habe die Unterdrückten befreit und den Unglücklichen geholfen. Ich habe Altartücher zerrissen, aber nur um die Wunden des Vaterlands zu verbinden. Ich habe immer den Drang des Menschengeschlechts nach dem Lichte unterstützt und bisweilen mich dem Fortschritt entgegengestemmt, wenn er kein Erbarmen hatte. Ich habe gelegentlich meine Feinde, Euch Priester, beschützt. Da ist zu Petegsem in Flandern, an demselben Ort, wo die merowingischen Könige ihren Winterpalast hatten, ein Urbanistinnenkloster, die Abtei der heiligen Klara, die ich 1793 gerettet habe. Ich that meine Pflicht nach Maßgabe meiner Kräfte und so viel Gutes, wie ich konnte. Nachher bin ich verbannt, gehetzt, verfolgt, drangsalirt, verleumdet, verhöhnt, verflucht, proskribirt worden. Seit Jahrzehnten sehe ich, daß viele Leute mit Verachtung auf mich herabsehen, die arme unwissende Menge sieht auf meinem Gesicht Merkzeichen künftiger Verdammniß und ich ertrage, ohne zu hassen die Einsamkeit eines allgemein Gehaßten. Jetzt bin ich sechsundachtzig Jahre alt und im Begriff zu sterben. Was wollen Sie nun von mir!«

»Ihren Segen,« bat der Bischof und kniete nieder.

Als er den Kopf wieder aufrichtete, hatte das Gesicht des ehemaligen Conventsmitgliedes einen erhabenen Ausdruck angenommen. Er war verschieden. Der Bischof ging nach Hause, tief in Gedanken versunken und brachte die ganze Nacht im Gebet zu. Am nächsten Tage versuchten einige neugierigen Leutchen ihn über das Conventsmitglied G. auszufragen, aber statt aller Antwort zeigte er nach dem Himmel. Von derselben Zeit an bezeigte er den kleinen Leuten und den Unglücklichen noch einmal so viel Sanftmuth und Mildthätigkeit.

Jede Anspielung auf den »alten Halunken« den G. versetzte ihn in eigentümlich tiefes Nachdenken. Niemand weiß zu sagen, ob nicht die Begegnung mit einem weisen und edlen Manne von anderer Sinnesart, als der seinigen, ihn in seinem Streben nach Vollkommenheit bestärkte.

Natürlich gab dieser »Seelsorgerbesuch« Anlaß zu allerlei Gerede:

»Gehört denn ein Bischof an das Sterbebette eines solchen Menschen hin? Augenscheinlich stand eine Bekehrung ja doch nicht zu erwarten. Die Revolutionäre sind insgesammt rückfällig. Warum ist er also zu ihm gegangen? Was hatte er bei ihm zu suchen? Ist er denn so neugierig, daß er durchaus einmal dabei sein mußte, wenn der Teufel eine Seele holt?«

Eines Tages schoß eine alte Schachtel, eine von jenen, die ihre Ungezogenheit für Witz halten, folgende Bosheit auf ihn ab:

»Alle Welt ist neugierig, wann Ew. Bischöfliche Gnaden die rothe Mütze bekommen werden.«

»Oh, oh,« versetzte er, »das ist eine schlimme Farbe. Glücklicherweise achten Diejenigen sie, die sie an einer Mütze hassen, desto mehr an einem Hute.«

Eine Einschränkung

Man würde sich sehr täuschen, wenn man aus dem eben Erzählten schließen wollte, unser Bischof sei ein Philosoph oder ein »patriotischer Landgeistlicher« gewesen. Seine Begegnung mit dem Conventsmitgliede G. hinterließ bei ihm eine Art tiefes Erstaunen, das ihn noch weicher stimmte. Weiter nichts.

Obgleich Se. Gnaden Herr Bienvenu nichts weniger, als ein Politiker gewesen ist, ist hier vielleicht der Ort in aller Kürze anzugeben, wie er sich zu den Ereignissen der damaligen Zeit gestellt hat, vorausgesetzt, daß es. Se. Gnaden Herrn Bienvenu überhaupt beigefallen ist, Stellung zu irgend etwas zu nehmen.

Gehen wir also einige Jahre zurück. Kurze Zeit nach seiner Berufung zum Bischof hatte ihn der Kaiser zum Baron gemacht, zugleich mit mehreren andern Bischöfen. Bekanntlich fand die Verhaftung des Papstes in der Nacht vom 5. zum 6. Juli 1809 statt, und bei dieser Gelegenheit wurde Myriel von Napoleon in die zu Paris versammelte Synode der französischen und italienischen Bischöfe berufen. Diese Synode hielt ihre erste Sitzung am 15. Juni 1811 in der Notredame-Kirche unter dem Vorsitz des Kardinals Fesch. Myriel gehörte zu den Bischöfen, die an dieser Sitzung teilnahmen. Abgesehen von dieser, wohnte er nur noch drei oder vier Konferenzen bei. Als Bischof einer armseligen Gebirgs-Diöcese, der auch selber arm und schlichten Herzens war, brachte er Ideen mit, welche die hohen Herren unangenehm berührten. Er kam sehr bald nach Digne zurück. Wegen seiner eiligen Rückkunft befragt, antwortete er: »Ich war ihnen lästig. Ich brachte Luft von der Außenwelt mit, und kam ihnen vor, wie eine offen stehende Thür.«

Ein anderes Mal bemerkte er: »Die Herren sind Fürsten und ich bin ein armer Bauernbischof.«

In der That hatte er mißfallen. So war ihm u. a., als er sich eines Abends bei einem seiner vornehmsten Kollegen zu Besuch befand, die Aeußerung entschlüpft: »Was für schöne Uhren! Was für schöne Teppiche! Und die Livreen! Solch ein Luxus muß recht lästig sein! Dergleichen Ueberflüssigkeiten möchte ich nicht haben: Sie würden mir immer in die Ohren schreien: Es giebt Menschen, die hungern! Es giebt Menschen, die frieren! Es giebt Arme, Arme!«

Beiläufig gesagt, wäre der Haß des Luxus kein verständiger Haß. Solch ein Verdammungsurtheil würde auch die Künste treffen. Aber bei den Dienern der Kirche ist, abgesehen von der Repräsentation und dem Gottesdienst, der Luxus tadelnswerth. Er ist mit jeder umfassenderen Mildthätigkeit unvereinbar. Ein reicher Priester ist eine contradictio in adjecto. Der Priester soll Verkehr haben mit den Armen. Wie kann man aber unaufhörlich, Tag und Nacht in Berührung kommen mit allerlei Noth und Unglück und Dürftigkeit, ohne daß etwas von diesem Elend haften bleibt, wie Staub an dem Arbeiter? Kann man sich einen Menschen vorstellen, der bei einem Becken voll glühender Kohlen steht, und dem nicht warm ist? Kann man sich einen Arbeiter denken, der fortwährend bei einem Hochofen arbeitet, und dem nie ein Haar verbrannt, ein Nagel geschwärzt wird, dem nie Schweiß die Stirn feuchtet, dem kein Körnchen Asche ins Gesicht fliegt? Der Hauptbeweis einer wahrhaft mildthätigen Gesinnung ist bei einem Geistlichen die Armuth.

So dachte ohne Zweifel der Bischof von Digne.

Man glaube übrigens nicht, daß er über gewisse heiklige Fragen die Ideen seiner Zeit theilte. Er mischte sich wenig in die damaligen theologischen Streitigkeiten und äußerte sich nicht über das Verhältnis der Kirche zum Staat; hätte man aber nachdrücklich in ihn gedrungen, so würde es sich wohl herausgestellt haben, daß er mehr zum Ultramontanismus, als zum Gallikanimus hinneigte. Da wir eine getreue Schilderung entwerfen und nichts Wahres verhehlen mögen, so müssen wir eingestehen, daß Napoleons Niedergang ihn mehr als kühl ließ. Von 1813 an unterstützte er alle oppositionellen Kundgebungen durch seine persönliche Betheiligung oder mit seinem Beifall. Als der Kaiser von der Insel Elba zurückkehrte, lehnte es der Bischof ab ihm seine Aufwartung zu machen und während der Hundert Tage in den Kirchen für ihn beten zu lassen.

Er hatte noch an Geschwistern, außer seiner Schwester, zwei Brüder, von denen der Eine General, der Andere Präfekt war und mit denen er einen ziemlich lebhaften Briefwechsel unterhielt. Mit dem Ersteren nun brach er auf einige Zeit alle Beziehungen ab, weil der General nach der Landung Napoleons in Cannes sich an der Spitze von zwölfhundert Mann aufgemacht hatte, den Kaiser zu verfolgen, aber mit der Absicht ihn entwischen zu lassen. Mit dem andern Bruder, dem ehemaligen Präfekten, der zu Paris in Zurückgezogenheit lebte, blieb er in besserem Einvernehmen.

Unser Bischof hatte folglich auch eine Zeit, wo er in das politische Parteigetriebe verwickelt war und infolge dessen auch manche trübe Stunde. Auch auf seinen Pfad warfen die wild erregten Leidenschaften seiner Zeit ihren Schatten und störten ihn in seiner Betrachtung der ewigen Dinge. Gewiß hätte es ein solcher Mann verdient, daß ihm zu seinen vielen Vorzügen auch der zu Theil geworden wäre, keine politischen Meinungen zu haben. Man mißverstehe uns nicht: Wir verwechseln keineswegs was man politische Meinungen nennt, mit jenen begeisterten Fortschrittsbestrebungen, jenem idealen Glauben an das Vaterland, die Demokratie und die Menschheit, auf dem alle hochsinnig veranlagten Naturen unserer Zeit fußen. Ohne Fragen erörtern zu wollen, die zu dem Thema unseres Buches in keiner direkten Beziehung stehen, behaupten wir nur, es wäre schön gewesen, hätte unser Bischof nicht royalistische Politik getrieben und seinen Blick keinen Augenblick von jenen hehren Regionen ruhevoller Betrachtung abgewendet, wo hoch erhaben über dem stürmischen Wirrwarr der menschlichen Dinge, in reinem Glanze, die Wahrheit Gerechtigkeit und Liebe strahlen.

Wir geben ja zu, daß Gott den Bischof Bienvenu nicht für eine politische Laufbahn bestimmt hatte, hätten es aber begriffen und bewundert, wenn er im Namen des Rechtes und der Freiheit, als Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht stand, sich zu freimüthigem Tadel und mannhaftem Widerstand erkühnt hätte. Aber dasselbe Verfahren, das einem Mächtigen gegenüber berechtigt ist, mißfällt uns, wenn es gegen eine gefallene Größe eingeschlagen wird. Wir billigen nur die Auflehnung, so lange sie mit Gefahr verbunden ist, und in allen Fällen steht nur Denen, die zu Anfang lauten Einspruch erhoben und sich zum Kampf ermannt haben, das Recht zu, nachher das Richteramt zu übernehmen und das Urtheil zu vollstrecken, den Feind zu vernichten. Wir persönlich glauben, daß von der Zeit an, wo die Vorsehung sich gegen Napoleon erklärte, jede Opposition gegen ihn aufhören mußte. Schon Angesichts des Unterganges der Großen Armee im Jahre 1812 fühlen wir uns ihm gegenüber entwaffnet. Daß 1813 der gesetzgebende Körper, kühn gemacht durch diese Katastrophe, sein langjähriges feiges Stillschweigen brach, kann nur unseren Unwillen erregen und dieses Verhalten zu billigen, war ungeziemend. 1814, als die Marschalle ihren Kaiser verriethen, als der Senat sich in Erbärmlichkeiten nicht genug thun konnte, als er von der Vergötterung zur Beschimpfung überging, als die Götzendiener, von feiger Angst befallen, ihren Götzen anspieen, war es Pflicht, Abscheu zu bezeigen. 1815, als die Endkatastrophe schon in der Luft schwebte, als ganz Frankreich wie von einem Vorgefühl des Verhängnisses ergriffen war, als man schon Waterloo und Napoleons Sturz in den Abgrund ahnen konnte, da hatte die Begeisterung des Heeres und des Volkes für den vom Schicksal aufgegebenen Kaiser Nichts, was eine Veranlassung zu lachen bot, und bei allem Vorbehalt gegen den Despotismus, hätte das edle Gemüth des Bischofs von Digne vielleicht nicht verkennen sollen, was der Bund einer großen Nation und eines großen Mannes Angesichts des Abgrunds Erhabenes und Rührendes hat.

Abgesehen hiervon war er und benahm er sich in allen Dingen gerecht, wahr, billig, weise, bescheiden und würdevoll; wohlthätig und wohlwollend, was ja übrigens nur eine andere Form der Wohlthätigkeit ist. Er war ein rechter Priester, ein Philosoph und ein Mann. Selbst als Politiker war er — so sehr wir seine Haltung Napoleon gegenüber mißbilligen — duldsam und nachsichtig, vielleicht mehr als wir, die wir dieses mittheilen. — Der Kastellan des Rathhauses verdankte seine Anstellung dem Kaiser. Der Mann war ein alter Gardeunteroffizier, der sich das Kreuz der Ehrenlegion bei Austerlitz verdient hatte und ein verbissener Bonapartist. Dem armen Kerl entschlüpften hier und da unbedachte Aeußerungen, die das damalige Gesetz als aufrührerische Reden qualifizirte. Seitdem die Abzeichen der Ehrenlegion nicht mehr das Bildniß seines Kaisers trugen, zeigte er sich nie in Uniform, um nicht den Orden auch anlegen zu müssen. Er hatte selber mit aller Ehrerbietung das Bildniß aus dem Kreuz, das ihm Napoleon gegeben, herausgenommen und nie die drei Lilien an seine Stelle setzen wollen. »Eher sterben«, schwur er, »als die drei Kröten auf meinem Herzen tragen.« Er machte sich auch ganz laut über Ludwig XVIII. lustig. »Wenn doch der alte Podagrist sammt seinen englischen Gamaschen und seinem Zopf nach Preußen gehen möchte!« ulkte er, indem er in seine Verwünschung des Bourbonen das, was er am meisten auf der Welt haßte, Preußen und England hereinzog. Er trieb es so arg, daß er seine Stelle verlor und nun mit Weib und Kind dem größten Elend ausgesetzt war. Da ließ der Bischof ihn zu sich kommen, schalt ihn milde aus und stellte ihn als Thürhüter am Dom an.

In neun Jahren war unser Bischof dank seiner frommen Mildthätigkeit und seinem sanftmüthigen Wesen in der Stadt Digne ein Gegenstand inniger, kindlicher Verehrung geworden. Sogar sein Verhalten gegen Napoleon verzieh das gute schwache Volk, das seinen Kaiser vergötterte, aber andererseits auch seinen Bischof liebte.

Warum der Bischoff allein stand

Ein Bischof ist fast immer von einem Schwarm junger Geistlicher umdrängt, wie ein General von jungen Offizieren. Hat doch jedes Fach seine Streber, die sich um die am Ziel Angelangten schaaren. Kein Mächtiger, der nicht sein Gefolge; kein Glücklicher, der nicht seinen Hof hätte. Alle, die sich eine glänzende Zukunft schaffen wollen, gravitieren um eine glänzende Gegenwart. Jeder einigermaßen einflußreiche Bischof hat in seiner Nähe einen Trupp Seminaristen, die um ihn patrouilliren und darüber wachen, daß die Huld Sr. Gnaden keinen Andern, als ihnen zu Theil werde. Einem Bischof gefallen, verleiht die Anwartschaft auf das Unterdiakonat. Man will emporkommen; und eine fette Pfründe ist eine schöne Sache.

Wie unter den Beamten des Staates, so giebt es auch unter denen der Kirche, unter den Bischöfen solche, die über einen größeren Einfluß zu verfügen haben, als ihre Kollegen, diese Herren sind reich, gewandt, bei Hofe und in der höhern Gesellschaft gern gesehen, verstehen wohl zu Gott zu beten, aber auch die Großen dieser Welt zu bitten, die Vertretern ganzer Diöcesen nicht gern etwas abschlagen. Solche Bischöfe sind gewissermaßen Bindestriche zwischen der Kirche und der Diplomatie, mehr Welt- als Kirchenfürsten. Wohl Denen, die in ihrer Nähe weilen dürfen! Einflußreich wie sie sind, lassen sie auf ihre Günstlinge, auf all die jungen Priester, die sich bei ihnen einzuschmeicheln verstehen, einträgliche Pfarreien, Archidiakonate, Almosenämter und andere üppige Stellen und Stipendien niederregnen und ebnen für sie den Anfang des Pfades, der zur Bischofswürde führt. Indem sie selber vorrücken, fördern sie auch ihre Trabanten, wie eine Sonne mit ihren Planeten durch das Weltall vorwärts, immer vorwärts wandert. Das Licht, das sie von sich strahlen, beleuchtet ihr Gefolge im Verhältnis zu seiner Stärke: Je großer die Diöcese des Gebieters, desto einträglicher fällt die Pfarre des bevorzugten Dieners aus. Und nun erst Rom! Nimmt dich ein Bischof, der so gescheidt ist, sich zum Erzbischofsthron emporzuschwingen, oder ein Erzbischof, der es bis zum Kardinal gebracht, nach Rom als Conclavisten mit, so wird man in die Rota gewählt und bekommt das Pallium, wird Kammerherr und heißt »Monsignore«. Wer erst Se. Bischöfliche Gnaden heißt, steigt bald zur »Eminenz« empor, und zwischen Sr. Eminenz und Sr. Heiligkeit liegt auch nur eine Abstimmung. Kurz, jedes Priesterkäppchen kann gegen die Tiara eingetauscht werden. Der Priester ist heutzutage der Einzige, der regelrecht König werden kann, und was für ein König! Der oberste von allen Königen. Welch eine Pflanzschule von Hoffnungen ist daher auch ein Priesterseminar! Wieviel schüchterne Chorknaben, wieviel junge Abbés tragen auf ihrem Kopfe den berühmten Topf Milch des Märchens, den sie allmählich in Gedanken gegen immer theurere Waaren eintauschen! Wie leicht giebt sich der Ehrgeiz, — oft indem er in seliger Selbstbetrachtung sich zuerst täuscht — für edle Begeisterung aus!

Se. Gnaden Herr Bienvenu wurde wegen seiner Bescheidenheit, Armuth, Originalität nicht zu den Magnaten der Kirche gezählt. Das bekundete der Umstand, daß es in seiner Umgebung an jungen Priestern fehlte. Er hatte, wie oben erwähnt, in Paris mißfallen. Niemandem fiel es ein, diesen Alten als Edelreis zu benutzen, um damit den Baum seines Glückes zu occuliren. Niemand redete sich ein, daß unter solch einem Schatten das Pflänzlein des Ehrgeizes gedeihen könne. Seine Kanoniker und Großvikare waren gute, simple Leute wie er, denen die Diöcese keinen Ausweg, auf das Kardinalat bot, die am Ende ihres Weges angelangt waren, aber nicht wie er, ein schönes Ziel erreicht hatten. Daß der Bischof Bienvenu Niemand auf einen grünen Zweig bringe, war auch allgemein bekannt, und die von ihm geweihten jungen Priester verschafften sich deshalb, sobald sie das Seminar verlassen hatten, Empfehlungen an den Erzbischof von Aix oder Auch, worauf sie alsbald aus seinem Gesichtskreis verschwanden. Ein Heiliger, der an chronischer Selbstverleugnung leidet, ist ein gefährlicher Nachbar. Wie leicht steckt er Einen an! Er inficirt Einen mit einer unheilbaren Armuth, einer Rückensteife, die beim Vorwärtskommen sehr hinderlich werden kann. Deshalb wurde denn auch unser Bischof allgemein gemieden. Wir leben in einer argen Zeit. »Dränge dich empor!« heißt die Lehre, die sie uns auf Schritt und Tritt zuschreit.

Beiläufig gesagt, der Erfolg ist ein gräuliches Ding. Seine Ähnlichkeit mit dem Verdienst täuscht die Menschen. Für die große Menge hat ein glücklicher Mensch dasselbe Profil wie ein genialer. Daher ist es auch dem Erfolge, dem Zwillingsbruder des Talents gelungen, die Geschichte hinter das Licht zuführen, wogegen nur Juvenal und Tacitus zu protestiren gewagt haben. Zu unsrer Zeit ist eine beinah offizielle Philosophie in seinen Dienst getreten, trägt seine Livree und hantirt in seinem Vorzimmer. Ihre Theorie lautet: Sorge dafür, daß Du Glück hast. Bist Du glücklich, so ist das ein Beweis, daß Du Tüchtigkeit besitzest. Gewinne daß große Loos, so giltst du alsbald für einen gescheidten Mann. Wer triumphirt, wird geachtet. Wer »Schwein« hat, der hat Alles. Hast Du Erfolg, so bist Du ein großer Mann. Abgesehen von fünf oder sechs glänzenden Ausnahmen in einem Jahrhundert, ist die Bewunderung der Zeitgenossen eine kurzsichtige. Was nur obenhin leicht vergoldet ist, hält sie für massives Edelmetall. Der erste Beste ist der Beste, wenn er nur der Glücklichste ist. Der gemeine Haufe ist ein Narciß, der sich selbst bewundert und das Gemeine lobt. Jene großartige Tüchtigkeit, kraft deren Einer ein Moses, Aeschylus, Dante, Michel-Angelo, oder Napoleon wird, spricht die Menge ohne Weiteres Jedem zu, der in irgend einem Fache sein Ziel erreicht. Schwingt sich ein Notar zum Volksvertreter empor, schreibt ein Pseudo-Corneille einen »Tiridates«, legt sich ein Eunuch einen Harem zu, gewinnt ein unfähiger General durch einen Zufall eine Entscheidungsschlacht, liefert ein Apotheker einem Armeekorps Pappsohlen und erschwindelt er damit ein jährliches Einkommen von viermalhunderttausend Franken, legt sich ein Hausirer auf den Wucher und verdient er damit sieben oder acht Millionen, näselt ein Prediger so erbaulich, daß er höhern Ortes eines Bischofsthrons für würdig erachtet wird, ist ein Intendant, wenn er seinen Dienst quittirt, so reich, daß er Finanzminister werden kann, so nennen die Menschen das Genie, und verwechseln so zu sagen die Sterne, die Entenfüße in weichem Erdreich hinterlassen, mit den Sternen, die am Himmel prangen.

Sein Glaubensbekenntiß

Zu untersuchen, ob der Bischof von Digne auch den von der Kirche vorgeschriebnen Glauben besaß, kommt uns nicht zu. Einem so hochsinnigen Manne gegenüber ist ein andres Gefühl, als das der Hochachtung nicht am Platze. Dem Gerechten soll man auf sein Wort glauben. Uebrigens geben wir zu, daß alle Schönheiten menschlicher Vortrefflichkeit auch innerhalb eines von dem unsrigen verschiednen Glaubens die herrlichsten Blüthen entfalten können.

Was er von diesem Dogma und jenem Mysterium hielt? Dergleichen Geheimnisse des innern Bewußtseins kennt nur das Grab, in dem die Seelen ohne Hülle sind. So viel ist sicher, nie lösten sich für ihn Glaubensschwierigkeiten in Heuchelei auf. Der Fäulniß ist der Diamant nicht fähig. Er glaubte, so gut er konnte. »Ich glaube an den Vater!« rief er oft aus und schöpfte im Uebrigen aus den Werken der Liebesthätigkeit dasjenige Quantum von Befriedigung, das dem Gewissen genügt und uns die Ueberzeugung gewährt, daß Gott auch mit uns zufrieden ist.

Bemerken müssen wir wohl, daß der Bischof so zu sagen, abgesehen von seinem Glauben, und über seinen Glauben hinaus, ein Uebermaß von Liebe hatte. Dies war seine verwundbare Stelle, quia multum amavit, diejenige, auf die von den »gesetzten«, den »anständigen«, den »vernünftigen«, Leuten hingewiesen wurde, — so lauten ja die Lieblingsphrasen, die der Egoismus einer pedantischen Philosophie entlehnt. Was war jenes Uebermaß von Liebe? Ein heitres Wohlwollen, das nicht blos die Menschen umfaßte, sondern sich auch gelegentlich auf Dinge erstreckte. Ihm war nichts zu gering. Er war nachsichtsvoll gegen Gottes Geschöpfe. Jeder, auch der beste Mensch besitzt eine unbewußte Härte, die er nur den Thieren gegenüber zum Ausbruch kommen läßt. Der Bischof von Digne hatte diese Art Härte nicht, die sich doch viele Priester gestatten. Er ging in dieser Hinsicht nicht so weit, wie die Brahmanen, hatte aber den Ausspruch des Prediger Salomo beherzigt, der da lautet: »Weiß man, was nach dem Tode aus den Seelen der Thiere wird?« Das häßliche Aussehen mancher dieser Geschöpfe, ihre Grausamkeit und Wildheit machte ihn nicht irre und verdrossen ihn nicht. Er betrachtete sie mit Bedauern, ja mit Wehmuth. Dergleichen Erscheinungen regten ihn zu tiefem Nachdenken an, er wäre gern über diese sinnfälligen Aeußerlichkeiten hinaus zu ihrer Endursache, ihrer Erklärung oder moralischen Rechtfertigung vorgedrungen. Es war, als bete er zuweilen, Gott möge doch dergleichen Geschöpfe ändern, verbessern. Er prüfte ohne Zorn und mit der mühseligen Sorgfalt eines Sprachforschers, der einen Palimpsest entziffert, den Ueberrest von Unordnung und Verwirrung, der noch in der Natur vorhanden ist. Dergleichen Betrachtungen entlockten ihm oft sonderbare Aeußerungen. Eines Morgens z.B., als er in seinem Garten allein zu sein glaubte, aber von seiner Schwester beobachtet wurde, blieb er plötzlich stehen und beobachtete eine große, schwarze, haarige, abscheuliche Spinne, die an der Erde kroch. »Armes Thier!« hörte ihn da seine Schwester vor sich hinrufen; »es ist ja doch nicht ihre Schuld.«

Warum auch nicht solcher kindlichen Äußerungen einer fast göttlichen Güte Erwähnung thun? Nenne man dergleichen kindlich; aber solche Kindlichkeiten verbrach auch ein Franz von Assisi und ein Mark-Aurel. Eines Tages verrenkte er sich den Fuß, weil er nicht auf eine Ameise, die auf seinem Wege kroch, treten wollte.

So lebte dieser gerechte Mensch. Bisweilen geschah es, daß er in seinem Garten einschlief, und dann mußte Jeder bekennen, daß er noch nie einen so unvergleichlich ehrwürdigen Anblick gehabt hatte.

Unser Bischof war ehedem, wenn man den Erzählungen über seine Jugend und sogar sein Mannesalter Glauben schenken durfte, von leidenschaftlicher, ja heftiger Gemüthsart gewesen. Seine Milde war also weniger ein Geschenk der Natur als das Ergebniß zahlreicher Wahrnehmungen und Urtheile, die im Laufe der Zeit, wie Wassertropfen durch einen Felsen, sich Wege in sein Inneres gebahnt. Solche, durch allmähliche Arbeit langsam ausgehöhlte Rinnen bleiben bestehen.

Im Jahre 1815 war er, wie wir schon mitgetheilt zu haben glauben, fünfundsiebzig Jahre alt, allein man hätte ihn auf sechzig geschätzt. Er war nicht groß und etwas beleibt. Um letzteres Uebel zu bekämpfen ging er viel zu Fuß, auch trat er fest auf und seine Gestalt war nur wenig gebeugt durch die Jahre. Hieraus mögen wir allerdings keine Schlüsse ziehen, denn Gregor XVI. hatte noch im Alter von achtzig Jahren eine sehr gerade Haltung und Freude am Dasein, dies hinderte ihn aber nicht ein schlechter Priester zu sein. Se. Gnaden Herr Bienvenu war eine angenehme Erscheinung, angenehm besonders wegen der Liebenswürdigkeit, die sich in ihr ausprägte.

Plauderte er mit jener ihm so wohl anstehenden kindlichen Fröhlichkeit, die wir schon an ihm gerühmt haben, so schien sein ganzes Wesen Freude auszustrahlen. Mit seiner gesunden frischen Gesichtsfarbe, seinen hübschen, noch gut erhaltenen Zähnen, sah er dann recht treuherzig, bieder, gemüthlich aus, so daß Jeder, der ihn zuerst sah, einfach sagte: »Das muß ein guter Kerl, eine gute alte Seele sein.« Auch Napoleon hatte ihn ja »einen guten Mann« genannt. Verweilte man aber mehrere Stunden in seiner Nähe und war man dabei, wenn er nachdenklich wurde, so ging mit dem »guten Mann« eine Umwandlung vor; seine äußere Erscheinung wurde ehrfurchtgebietend und majestätisch, ohne daß der Ausdruck der Güte von ihm gewichen wäre: man hatte dann die Empfindung, als sehe man einen lächelnden Engel seine Flügel ausbreiten. Ein unbeschreibliches Gefühl der Hochachtung erfüllte dann allmählich das Herz des Beobachters. Man wurde dann inne, daß man einem Manne von gewaltigem Verstande gegenüber stand, einem Manne, der die höchsten Stufen der Erkenntnis erklommen hat, einem Manne, der da weiß, daß die Wahrheit nur der Liebe und Nachsicht zugänglich ist.

Wie man gesehen hat, füllten Gebet, seine Amtspflichten, Almosengeben, die Tröstung der Leidbedrückten, die Gärtnerei, Liebeswerke, Frugalität, Gastfreundschaft, Entsagung, Studium, Arbeit jeden seiner Tage aus. Füllten aus, sagten wir, denn übervoll war solch ein Tag an guten Gedanken, Worten und Werken. Indessen galt er ihm noch nicht für vollständig ausgenutzt, wenn ihn des Abends, nachdem die beiden Frauen sich zur Ruhe begeben hatten, feuchte oder kalte Witterung hinderte, noch eine oder zwei Stunden in seinem Garten zuzubringen. Es war ihm ein Bedürfniß sich Angesichts des Sternenhimmels der Betrachtung hinzugeben, um sich zum Schlaf vorzubereiten. Bisweilen hörten die beiden Frauen, wenn sie wach geblieben waren, noch spät in der Nacht seinen Schritt in den Alleen des Gartens. Allein mit seinen Gedanken, andächtig, friedevoll empfand er da in der Dunkelheit die sichtbare Herrlichkeit der Gestirne und die unsichtbaren Herrlichkeiten Gottes und ließ die Gedanken, die dem Unbekannten entströmen, in seine Seele ein. In solchen Augenblicken, wo die Nachtblumen ihren Kelch aufthun, ihren Duft auszuhauchen, bot auch er sein Herz dar, wie eine Lampe inmitten der Sternennacht und ergab sich der Begeisterung. Er hätte dann selbst nicht sagen können, was in seinem Geiste vorging, er fühlte blos, daß etwas von ihm ausging, und daß etwas in ihn herniederstieg. O des geheimnißreichen Verkehrs zwischen den Tiefen der Seele und des Weltalls! Sein Geist beschäftigte sich mit Gottes Größe und Gegenwart, mit dem wunderbaren Geheimniß der zukünftigen Ewigkeit und dem noch wunderbarern der Vergangenheit; mit all den Unendlichkeiten, die sich nach allen Richtungen seinen Augen darboten, und schaute, ohne das Unbegreifliche begreifen zu wollen. Er suchte nicht das Wesen Gottes mit dem Verstande zu erfassen, er versenkte sich in Entzückung um seiner theilhaftig zu werden. Er erwog die Zusammenstöße der Atome, die dem Stoff die Form verleihen, Kräfte offenbaren, Individuen in der Einheit, Proportionen im Raum, das Unzählbare im Unendlichen schaffen und mittelst des Lichtes die Schönheit hervorbringen. Diese Vereinigungen finden ohne Unterlaß statt und lösen sich wieder auf; daher der Ursprung des Lebens und des Todes.

Er setzte sich auf eine Holzbank, deren Lehne ein altersschwaches Gitter berührte und betrachtete die Gestirne durch die Laubkronen seiner armseligen Obstbäumchen. Dieses so dürftig bepflanzte, durch unschöne Gebäude und Schuppen eingeengte Stückchen Erde war ihm theuer und genügte ihm.

Was bedurfte dieser Greis auch mehr? War dieser enge Raum, den oben der Himmel überwölbte, nicht groß genug um Gott in seinen erhabensten Werken anbeten zu können? Ist dies nicht das Wichtigste, und wozu noch mehr begehren? Ein Gärtchen zum Spazierengehn und die Unendlichkeit als Spielraum für seine Gedanken! Vor den Füßen etwas zu pflegen und zu pflücken, über dem Haupte Stoff zu Studien und Betrachtungen; auf der Erde einige Blumen und am Himmel alle Sterne!

Seine Philosophie

Noch ein Wort.

Vielleicht verleiten einige der von uns angeführten Einzelheiten Manchen zu dem Schlusse, der Bischof von Digne sei ein Pantheist gewesen und habe sich, wie viele andre unsrer Zeitgenossen, eine Privatphilosophie für seinen eignen Gebrauch zurecht gemacht, die bei ihm die Stelle der Religion vertreten hätte. Solchen Vermuthungen gegenüber betonen wir, daß Niemand, der Herrn Bienvenu gekannt hat, eine solche Annahme für gerechtfertigt gehalten hätte. Dieser Mann regelte sein Denken nur nach den Eingebungen seines Herzens.

Kein System, nur Werke. Dem menschlichen Verstand, der sich mit tiefsinnigen Spekulationen über die Natur der Dinge befaßt, schwindelt leicht, und nichts deutet darauf hin, daß unser Bischof sich gern in apokalyptischen Räthseln ergangen habe. Ein Apostel darf kühn sein, einem Bischof geziemt Zurückhaltung. Er hätte wahrscheinlich Bedenken getragen, die, so zu sagen nur den übermenschlich veranlagten Geistern vorbehaltne Lösung gewisser Aufgaben zu unternehmen. Wohl stehen die Thore offen, aber den gewöhnlichen Wanderer durchschauert bei ihrem Anblick ein Schrecken, der ihn zurücktreibt. Wehe dem, der sich hineinwagt! Nur das Genie erhebt sich mittels der Abstraktion und des reinen Denkens über die Höhen des Dogmas und fragt Gott mit dem Gebet. Dies ist unvermittelte Religion; wer ihre steilen Höhen zu erklimmen wagt, der übernimmt schwere Verantwortlichkeit und qualvolle Sorgen.

Die innere Betrachtung achtet keiner Schranken. Sie unterfängt sich in ihre eignen Tiefen zu dringen und sendet das Licht, das sie dort findet, in die Natur hinauf. Die geheimnisvolle Welt, die uns umgiebt, erstattet, was sie empfangen, zurück. Es ist wahrscheinlich, daß die Betrachter betrachtet werden. Wie dem auch sei, es giebt auf der Erde Menschen, — wenn wir sie noch so nennen können, — die fern am Horizont des Ideals die Höhen des Absoluten schauen. Unser Bischof gehörte nicht zu diesen Menschen, er war kein Genie. Er wäre vor jenen Höhen zurückgeschreckt, von denen Einige, darunter recht große Geister, wie Swedenborg und Pascal, in die Tiefen des Wahnsinns hinabstürzten. Allerdings haben dergleichen großartige Träumereien ihren moralischen Nutzen und auf diesen steilen Pfaden steigt man zur idealen Vollkommenheit empor. Aber der Bischof schlug einen kürzern Weg ein, denjenigen, den das Evangelium zeigt.

Er hüllte sich nicht in den Mantel des Elias, beleuchtete nicht die Ereignisse der dunkeln Zukunft und war weder Prophet noch Magier. Er liebte, und dies genügte seinem bescheidenen Sinne.

Daß er das Gebet über das allgemein menschliche Maß ausdehnte, ist wahrscheinlich; aber man kann eben so wenig zu viel beten, als zu viel lieben, und wenn es eine Ketzerei wäre, anders zu beten, als die Bücher es vorschreiben, so müßte man die heilige Theresa und den heiligen Hieronymus Ketzer nennen.

Er ließ sich mitleidig herab zu Denen, die da seufzen zu Denen, die da büßen. Das Weltall erschien ihm wie ein großer Körper, der voller Krankheit ist. Ueberall Fieber, überall Schmerzen! Aber er versuchte nicht das Wesen der Krankheit zu ergründen, er bemühte sich nur, sie zu heilen. Das furchtbare Schauspiel der erschaffenen Dinge stärkte in ihm den Trieb des Mitleids. Er sann nun auf Mittel, wie er Unglückliche am trostreichsten beklagen, wie er ihr Leid am wirksamsten lindern, und wie er auch Andere diese Weisheit lehren könne. Alles, was da ist, war für diesen guten und seltenen Priester ein Gegenstand der Trauer, die nach Trost verlangt.

Es giebt Menschen, die sich mit der Gewinnung des Goldes aus den Tiefen der Erde beschäftigten. Er beschäftigte sich mit der Gewinnung des Mitleids aus den Tiefen des menschlichen Herzens. Das allgemeine Elend war der Schacht, in dem er arbeitete. Angesichts des großen Jammers, der überall herrscht, verwies er nur auf den Spruch: »Kindlein, liebet Euch unter einander.« In diesem Spruch war für ihn alle Weisheit enthalten. Eines Tages sagte der schon erwähnte Senator, der sich für einen »Philosophen« hielt: Aber so sehen Sie Sich doch das Schauspiel an, das die Welt bietet: Ueberall Krieg Aller gegen Alle; der Stärkste ist auch der Klügste. Ihr Wahlspruch: »Liebet Euch unter einander« ist eine Dummheit. »Sehr wohl« erwiderte der Bischof, ohne sich auf eine Widerlegung einzulassen: »Wenn das eine Dummheit ist, so soll sich die Seele darin einschließen, wie die Perle in die Auster.«

Der Fehltritt

Am Abend eines Tagemarsches

An einem der ersten Tage des Monats Oktober im Jahre 1815 betrat ungefähr eine Stunde vor Sonnenuntergang ein Wanderer die kleine Stadt Digne. Die wenigen Leute, die zu dieser Zeit am Fenster oder auf ihrer Thürschwelle standen, betrachteten den Mann mit ängstlichen Gefühlen. War es doch schwer sich einen elenderen Anblick vorzustellen, als dieser unbekannte Vorübergehende darbot. Es war ein untersetzter starker Mann, der sechsundvierzig bis achtundvierzig Jahre zählen mochte. Er trug eine Mütze, deren lederner Schirm sein sonnengebräuntes, mit Schweiß bedecktes Gesicht zum Theil barg. Sein grobes gelbes Hemd, das oben durch einen kleinen silbernen Anker zusammengehalten wurde, ließ seine haarige Brust sehen. Er trug ein, wie ein Strick zusammengedrehtes Halstuch, verschlissene Beinkleider aus blauem Zwillich, von denen das eine Bein am Knie weiß, daß andere durchlöchert war, einen alten grauen zerlumpten Kittel, dem am Ellenbogen ein mit Bindfaden genähter Flick aufgesetzt war, einen sehr vollen, gut zugeschnallten und ganz neuen Tornister, einen gewaltigen Knotenstock und eisenbeschlagene Schuhe ohne Strümpfe. Das Kopfhaar war sehr kurz geschoren, der Bart dagegen sehr lang.

Niemand kannte diesen müden, über und über mit Staub bedeckten Wanderer. Woher kam er? Von Süden, vielleicht vom Meere her. Denn er betrat die Stadt auf derselben Straße, die sieben Monate vorher den Kaiser Napoleon auf seinem Zuge von Cannes nach Paris hatte einziehen sehen. Der Fremde mußte offenbar den ganzen Tag marschiert haben. Einige Frauen aus dem unterhalb der Stadt gelegenen Flecken hatten gesehen, wie er unter den Bäumen des Boulevard Gassendi, am Ende der Promenade, stehen geblieben war, um aus der Fontaine zu trinken. Er schien recht durstig zu sein, denn zweihundert Schritte weiter wurde er von Kindern beobachtet, wie er aus der Marktfontaine abermals trank.

An der Ecke der Rue Poichevert angelangt, wandte er sich links und ging auf das Stadthaus zu. Hier trat er ein und kam nach einer Viertelstunde wieder heraus. Dicht bei der Thür saß ein Gendarm auf einer steinernen Bank, auf der am 4. März der General Drouot gestanden und dem verwunderten Volke die Proklamation des Kaisers Napoleon vorgelesen hatte. Unser Wanderer nahm seine Mütze ab und grüßte demüthig den Gendarmen.

Dieser sah ihn, ohne ihm zu danken, aufmerksam an, folgte ihm mit den Augen und ging dann in das Rathhaus hinein.

Es gab zu der Zeit in Digne eine sehr gute Herberge »zum Kreuze.« Der Wirt hieß Jacquin Labarre und erfreute sich in der Stadt einer besondern Hochachtung wegen seiner Verwandtschaft mit einem andern Labarre, der die Herberge zu den »Drei Dauphins« in Grenoble besaß und bei der Leibwache gedient hatte. Zur Zeit der Landung Napoleons bei Cannes waren über diese Herberge »zu den drei Dauphins« ganz sonderbare Gerüchte umgegangen. Es hieß, der General Bertrand sei, als Fuhrmann verkleidet, im Monat Januar oft dort eingekehrt, um an die Soldaten Ehrenkreuze und an die Civilisten Napoleond’ors zu vertheilen. Thatsächlich aber hatte der Kaiser bei seinem Einzug in Grenoble die Einladung, im Präfekturgebäude Wohnung zu nehmen, mit Dank abgelehnt, indem er zu dem Bürgermeister sagte: »Ich kehre bei einem rechtschaffenen Gastwirt, den ich kenne, ein« und hatte in den drei Dauphins logirt! Die große Ehre, die so dem Labarre in Grenoble zu Theil wurde, warf noch fünfundzwanzig Meilen weit einen Abglanz auf den Labarre in Digne. Man rühmte von diesem: »Er ist ein Vetter von dem in Grenoble.«

Nach dieser Herberge »zum Kreuze«, der besten in der der Stadt, lenkte unsrer Wanderer seine Schritte. Er trat in die Küche ein, deren Thür unmittelbar auf die Straße hinausging. Alle Kochherde und Backöfen waren im Gange, und im Kamin brannte ein lustiges Feuer. Der Wirt stand am Herde und hatte alle Hände voll zu thun mit der Zubereitung eines üppigen Abendessens, das für eine sehr vergnügte Gesellschaft von Frachtfuhrleuten in einem Nebenzimmer bestimmt war. Ißt und trinkt doch, wie Jedem, der viel gereist hat, bekannt ist, Niemand besser als die Fuhrleute. Am Kamin drehte sich am Bratspieß ein von Repphühnern flankirtes fettes Murmelthier und auf den Kochherden brieten zwei große Karpfen aus dem See von Lauzet und eine Forelle aus dem See von Alloz.

Als der Wirth die Thür gehen und einen neuen Gast hereinkommen hörte, fragte er ohne den Kopf umzuwenden:

»Was wünscht der Herr?«

»Ein Abendessen und ein Nachtlager.«

»Nichts leichter, als das«, erwiderte der Wirt. In demselben Augenblick aber wandte er sich um, überflog mit einem Blicke den Ankömmling von Kopf bis zu Fuß und ergänzte seine Antwort mit der Einschränkung: »Wer bezahlt!«

Der Fremde holte eine große lederne Börse aus einer Tasche seines Kittels hervor und antwortete:

»Ich habe Geld.«

»In dem Fall stehe ich zu Diensten.«

Der Mann steckte die Börse wieder ein, nahm seinen Tornister ab, stellte ihn in der Nähe der Thür an die Erde, behielt seinen Stock in der Hand und ließ sich auf eine Fußbank vor dem Kamin nieder. Digne liegt im Gebirge und die Oktoberabende sind daselbst kalt.

Währenddem musterte der Wirt, indem er überall herumhantirte, den Ankömmling.

»Wird bald gegessen?« fragte dieser.

»Gleich!« lautete der Bescheid des Wirtes.

Während der Gast sich am Kamin wärmte, zog der wackre Wirt Jaqcuin Labarre hinter seinem Rücken einen Bleistift aus der Tasche und riß von einer alten Zeitung, die sich aus einem kleinen Tisch am Fenster herumtrieb, eine unbedruckte Ecke ab. Auf diesen Fetzen Papier schrieb er ein paar Zeilen, faltete ihn ohne ihn zuzusiegeln und übergab ihn einem Jungen, den er in der Küche und als Laufburschen in seinem Dienst hatte. Diesem flüsterte er einige Worte ins Ohr, worauf der Junge spornstreichs davon eilte, nach dem Stadthaus zu.

Der Gast hatte von dem ganzen Vorgang nichts bemerkt.

Nach einer Weile fragte er wieder: »Wird bald gegessen!« und abermals antwortete der Wirt: »Gleich!«

Bald darauf kam der Küchenjunge mit dem Stück Papier zurück. Der Wirt faltete es hastig auseinander, wie Jemand, der die Antwort mit Ungeduld erwartet hat. Er schüttelte den Kopf, während er den Zettel las und sah eine Weile nachdenklich vor sich hin. Dann trat er vor den Gast, der in trübe Gedanken versunken schien.

»Guter Freund, ich kann Sie nicht aufnehmen.«

Der Gast richtete sich auf seinem Sitz empor.

»Wieso? Haben Sie Angst, daß Sie kein Geld von mir kriegen? Soll ich vorausbezahlen? Ich habe Geld, sage ich Ihnen.«

»Nicht darum.«

»Ja, warum denn aber?«

»Sie haben Geld …«

»Ja gewiß«, bestätigte der Fremde.

»Aber ich habe kein Zimmer für Sie.«

»Dann lassen Sie mich im Stall schlafen.«

»Geht nicht!«

»Warum nicht?«

»Weil die Pferde allen Platz im Stall brauchen.«

»Gut, dann weisen Sie mir irgend einen Winkel auf dem Boden an. Ein Bund Stroh werden Sie ja auch wohl noch haben. Wir können ja nach dem Essen darüber sprechen.«

»Ich kann Ihnen nichts zu essen geben.«

Diese in ruhigem Tone, aber mit Nachdruck abgegebene Erklärung machte den Gast stutzig. Er erhob sich von seinem Sitze.

»Das ist ja noch schöner! Ich falle um vor Hunger. Ich habe seit Sonnenaufgang marschirt. Wenn ich Geld habe, muß ich doch zu essen bekommen.«

»Ich habe aber nichts,« entgegnete der Wirt.

Der Fremde lachte laut auf und wies mit dem Kopf nach dem Kamin und dem Herde.

»Sie haben nichts! Ist das nichts?«

»Das ist alles bestellt.«

»Von wem?«

»Von den Herren Fuhrleuten.«

»Wie viele sind das?«

»Zwölf.«

»Damit können Zwanzig reichen.«

»Sie haben alles bestellt und vorausbezahlt.«

Der Fremde setzte sich wieder und fuhr, ohne heftig zu werden, fort:

»Ich bin in einer Herberge, ich habe Hunger, also bleibe ich.«

Jetzt beugte sich der Wirt zu ihm nieder und sagte mit einer Betonung, bei der sein Gast zusammenschrak! »Gehen Sie!«

Der Fremde hatte sich gerade niedergebückt und stieß mit der eisernen Zwinge seines Stockes einige Kohlen in das Feuer. Er wandte sich hastig um, aber als er den Mund zu einer Erwiderung aufthat, sah ihm der Wirt fest in die Augen und fuhr mit leiser Stimme fort: Lassen wir die überflüssigen Redensarten. Soll ich Ihnen sagen, wie Sie heißen? Jean Valjean. Und wer Sie sind? Vorhin, als Sie hereinkamen, habe ich schon einen richtigen Animus gehabt und habe auf dem Stadthaus nachfragen lassen. Können Sie lesen?

Bei diesen Worten überreichte er dem Fremden den Zettel, der zwischen dem Stadthaus und der Herberge hin- und hergewandert war … Der Gast überflog ihn mit einem Blicke. Dann fuhr der Wirt nach einer Pause fort:

»Ich bin aus Grundsatz gegen Jedermann höflich. Gehen Sie.«

Der Fremde ließ den Kopf auf die Brust sinken, hob den Tornister von der Erde auf und ging.

Er ging die Hauptstraße entlang. Vor sich hin, auf’s Gerathewohl, dicht an den Häusern, wie Einer, dem eine Demüthigung widerfahren, und der infolgedessen schwermüthig gestimmt ist. Er drehte sich nicht ein einziges Mal um. Hätte er es gethan, so würde er gesehen haben, wie der Gastwirt und um ihn herum alle seine Gäste, so wie andres Publikum ihm nachschauten, nach ihm zeigten, sich lebhaft unterhielten, und hätte aus ihren mißtrauischen und ängstlichen Blicken schließen können, daß binnen Kurzem seine Ankunft wie ein wichtiges Ereignis ausposaunt sein würde.

Aber er merkte nichts von alle dem. Die Unglücklichen sehen sich nicht um. Sie wissen auch so, daß das Unglück hinter ihnen geht.

So schlich er eine Zeitlang dahin, durch Straßen, die er nicht kannte, ohne seine Müdigkeit zu beachten, wie dies bei schwermüthiger Stimmung der Fall zu sein pflegt. Plötzlich aber meldete sich wieder der Hunger. Die Nacht brach herein. Er sah sich um, ob er nicht irgend einen Unterschlupf finden könne.

Aus dem feinen Gasthaus war er hinausgewiesen worden; er suchte also irgend ein bescheidenes Logirhaus, irgend ein armseliges Loch.

In dem Augenblick flammte gerade am Ende der Straße ein Licht auf, und ein Kiefernzweig an einem eisernen Ständer zeichnete sich an dem weißen Abendhimmel ab. Er ging darauf zu.

Es war in der That eine Schänke, die in der Rue de Chaffaut.

Der Fremde blieb einen Augenblick davor stehen und betrachtete durch das Fenster einen niedrigen Saal, der von einer kleinen Lampe und einem hellen Kaminfeuer beleuchtet war. Es waren einige Gäste darin. Der Wirt stand am Kamin und wärmte sich. Ueber dem Feuer hing ein eiserner Topf an einem Kesselhacken.

Diese Schänke, in der man auch logieren kann, hat zwei Thüren, von denen die eine nach der Straße hinausgeht, und die andere nach einem Hofe, in welchem Dünger liegt.

Zu der Straßenthür wagte der Fremde sich nicht hinein. Er schlich sich in den Hof, blieb nochmals stehen, drückte auf die Klinke und machte die Thür auf.

»Wer ist da?« rief der Wirt.

»Jemand, der um ein Abendessen und ein Nachtlager bittet.«

»Sehr wohl. Das kann man hier kriegen.«

Er trat ein. Alle Gäste sahen nach ihm hin, während die Lampe von der einen und das Kaminfeuer von der andern Seite in beleuchteten. So musterte man ihn eine Zeit lang, während er seinen Tornister aufschnallte.

Der Wirt sagte dann zu ihm: »Hier ist ein gutes Feuer. In dem Topf kocht das Abendbrod. Kommen Sie näher, guter Freund, und wärmen Sie Sich!«

Der Fremde setzte sich, hielt seine wund gelaufenen Füße an das Kaminfeuer und sog den angenehmen Duft ein, der dem Kochtopf entstieg. Derjenige Theil seines Gesichts, den seine tief heruntergezogene Mütze noch sehen ließ, drückte Behagen aus und erhellte einigermaßen die leidensvollen Falten, die fortgesetztes Elend um seinen Mund gebildet hatte.

Das Profil des Fremden deutete auf Festigkeit und Energie. Seine Züge ließen auf ein sonderliches Gemisch von Demuth und Strenge schließen. Die Augen leuchteten unter den Augenbrauen wie Feuer aus einem Gestrüpp hervor.

Zufälliger Weise befand sich unter den Gästen in diesem Lokal auch ein Fischhändler, der kurz zuvor sein Pferd bei Labarre untergebracht hatte. Der Mann erkannte in dem neuen Ankömmling ein verdächtiges Subjekt, dem er am Morgen eben dieses Tages zwischen Bras d’Asse und — wenn ich mich recht entsinne — Escoublon begegnet war. Dieser, der schon zu der Zeit sehr ermüdet schien, hatte ihn gebeten, ihn hinter sich auf sein Pferd zu nehmen, worauf der Fischhändler statt aller Antwort noch schneller gefahren war. Dieser Mann also, der eine halbe Stunde vorher mit Labarre auf der Thürschwelle gestanden und seine gefahrvolle Begegnung erzählt hatte, winkte jetzt heimlich dem Wirt. Derselbe trat an ihn heran und sie wechselten einige Worte im Flüsterton, während der Fremde am Feuer saß und seinen Gedanken nachhing.

Der Wirt kam alsbald wieder zu dem Kamin zurück legte derb seine Hand auf die Schulter des Fremden und herrschte ihn an:

»Mach, daß Du fortkommst!«

Der Fremde wandle den Kopf und erwiederte mit sanfter Stimme!

»Sie wissen also …?«

»Ja.«

»Ich bin aus der andern Herberge hinausgewiesen worden.«

»Und hier wirst Du auch weggejagt.«

»Wo soll ich denn hingehen?«

»Anderswohin.«

Der Fremde griff nach seinem Stock und Tornister und ging davon.

Als er herauskam, warfen ihn einige Kinder, die ihm von der ersten Herberge her gefolgt waren und hier auf ihn zu warten schienen, mit Steinen. Er lief ihnen wüthend nach und drohte mit dem Stock. Die Kinder stoben auseinander wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel.

Er kam an einem Gefängniß vorbei. An der Thür hing eine eiserne Kette, die an einer Glocke befestigt war. Er schellte.

»Herr Schließer«, bat er mit demüthig abgenommener Mütze, »würden Sie wohl die Güte haben mir aufzumachen und mir für diese Nacht Unterkunft zu geben?«

Eine Stimme antwortete:

»Ein Gefängnis ist keine Herberge. Erst müssen Sie arretirt sein. Dann wird Ihnen aufgemacht.«

Damit ging das Schiebefenster wieder zu.

Nun kam er in eine Straße, an der viele kleine Gärten liegen. Einige davon sind, statt mit hohen Mauern, nur von Hecken eingehegt, was der Straße ein hübscheres Aussehen verleiht. Hier erblickte er ein kleines einstöckiges Haus, dessen Fenster erleuchtet war. Er schaute hinein, wie kurz vorher in die Fenster der Schenke. Er sah ein großes weißgetünchtes Zimmer mit einem Bett, das mit Draperien aus bedrucktem Kattun behängt war, einer Wiege in einer Ecke, einigen Holzstühlen und einer Doppelflinte, die an der Wand hing.

In der Mitte des Zimmers stand ein gedeckter Tisch. Eine Lampe strahlte ihr Licht aus über das weiße grobe Tischtuch, die zinnerne Weinkanne, die wie Silber glänzte, und die dampfende braune Suppenschüssel. An diesem Tisch saß ein etwa vierzig Jahre alter Mann, der sehr vergnügt ein Kind auf seinen Knieen reiten ließ. Neben ihm säugte eine junge Frau ein andres Kind. Der Vater lachte, das Kind krähte vergnügt und die Mutter lächelte dazu.

Der Fremde sah einen Augenblick diesem anmuthenden und friedlichen Schauspiel zu. Was ging in seiner Seele vor? Er allein hätte es sagen können. Wahrscheinlich dachte er, daß in einem Hause, wo es so gemüthlich zuging, auch Gastfreundschaft geübt werden müsse. Vielleicht würde er hier, wo er so viel Glück sah, auch ein wenig Erbarmen finden.

Er klopfte ganz schwach an die Fensterscheibe.

Niemand hörte.

Er klopfte zum zweiten Mal.

Jetzt hörte er die Frau sagen: »Männchen, mir däucht, es klopft.«

»Bewahre!« antwortete der Mann.

Er klopfte zum dritten Mal.

Der Mann stand auf, nahm die Lampe, kam auf die Thür zu und schloß sie auf.

Es war ein hochgewachsener Mann, halb Bauer, halb Handwerker. Er trug eine große Lederschürze, die ihm bis zur linken Schulter hinaufreichte, und die über dem Gürtel von einem Hammer, einem rothen Tuch, einem Pulverhorn aufgebauscht war. Er hielt den Kopf nach hinten geneigt und sein weit offenes Hemd, dessen Kragen niedergeschlagen war, ließ seinen weißen, stiermäßig starken Hals sehen. Er hatte buschige Augenbrauen, einen gewaltigen schwarzen Backenbart, hervorstehende Augen, ein spitzes Kinn und über dem Ganzen war jener unbeschreibliche Ausdruck von Ruhe und Sicherheit ausgebreitet, welchen das Bewußtsein Herr eines eignen Heims zu sein, dem Menschen verleiht.

»Ich bitte um Verzeihung, lieber Herr,« begann der Wanderer. »Wenn ich bezahle, würden Sie mir wohl einen Teller Suppe abgeben und einen Winkel in dem Schuppen da, wo ich schlafen könnte. Ja, würden Sie das? Ich bezahle.«

»Wer sind Sie?« fragte der Hausherr.

Der Fremde antwortete: »Ich komme von Puy-Moisson. Ich bin den ganzen Tag zu Fuß gegangen. 48 Kilometer. Würden Sie das wohl? Ich bezahle.«

»Einem rechtschaffenen Menschen, der bezahlte, würde ich schon Unterkunft geben. Aber warum gehen Sie nicht in eine Herberge?«

»Die sind überfüllt.«

»Ist nicht möglich. Es war ja heute kein Markttag, kein Jahrmarkt. Sind Sie bei Labarre gewesen?«

»Ja.«

»Nun?«

Der Fremde antwortete verlegen: »Ich weiß nicht — Er hat mich nicht aufgenommen.«

Sind Sie bei Dingrich, in der Rue Chaffaut gewesen? Die Verlegenheit des Fremden nahm zu. Er stotterte:

»Der hat mich auch nicht aufgenommen.«

Das Gesicht des Bauern nahm einen Ausdruck von Mißtrauen an, er betrachtete den Fremden von oben bis unten und schrie plötzlich mit einer Art Entsetzen:

»Sind Sie etwa der Mann, der …«

Er warf einen prüfenden Blick auf den Fremden, trat einige Schritte zurück, stellte die Lampe auf den Tisch und hakte die Flinte von der Mauer los.

Bei den Worten: »Sind Sie etwa der Mann?« War die Frau von ihrem Sitz aufgestanden, hatte ihre beiden Kinder in die Arme genommen und sich eilig hinter ihren Mann geflüchtet, indem sie erschrocken nach dem Fremden blickte und etwas von »Räubern« murmelte.

Alles dies geschah in kürzerer Zeit, als erforderlich ist, sich den Vorgang vorzustellen. Nachdem er eine Zeit lang den Ankömmling im Auge behalten hatte, als hätte er eine Viper vor sich, kam der Hausherr in die Thür zurück und sagte:

»Mach’, daß Du fortkommst.«

»Ein Glas Wasser. Aus Erbarmen.«

»Eine Kugel durch den Kopf gehört Dir!«

Damit warf er die Thür heftig zu, und der Abgewiesene hörte, wie innen zwei starke Riegel vorgeschoben wurden. Einen Augenblick darauf wurden die Fensterladen zugemacht, und nach außen drang ein Geräusch, als wenn eine eiserne Stange innen vorgelegt würde.

Unterdessen kam die Nacht immer näher. Es wehte ein kalter Wind von den Alpen her. Bei dem Schein des verlöschenden Tageslichtes bemerkte der Fremde in einem der Gärten, die sich längs der Straße erstreckten, eine Art mit Rasen belegter Hütte. Er schwang sich schnell entschlossen über den Zaun in den Garten hinüber und ging auf die Hütte zu. Sie hatte statt der Thür eine schmale und niedrige Oeffnung und besaß Aehnlichkeit mit den Baracken, die sich die Chausseearbeiter längs der Landstraßen zu bauen pflegen. Er glaubte ohne Zweifel, sie gehöre wirklich einem Arbeiter; ihm fror und ihn hungerte. Den Hunger wollte er geduldig ertragen, aber er fand hier wenigstens ein Obdach gegen die Kälte. Dergleichen Behausungen sind für gewöhnlich des Nachts nicht bewohnt. Er legte sich platt auf die Erde hin und kroch in die Hütte hinein. Es war warm darin, und er fand ein gutes Strohlager vor. Auf diesem blieb er eine Zeitlang lang ausgestreckt liegen, ohne sich rühren zu können — so groß war seine Müdigkeit. Dann aber machte er sich daran seinen Tornister loszuschnallen, der Bequemlichkeit halber und um ihn als Kopfkissen zu verwerthen. In diesem Augenblick ließ sich ein grimmiges Knurren vernehmen. Er blickte auf. Im Eingang der Hütte zeichnete sich der Kopf einer gewaltigen Dogge ab.

Er war in eine Hundehütte gerathen.

Er konnte sich auf seine Kraft verlassen, und wagte sich, den Stock als Angriffs-, den Tornister als Schutzwaffe benutzend, aus der Hundehütte heraus, nicht ohne die Löcher in seinen Lumpen noch weiter aufzureißen.

Auch aus dem Garten kam er glücklich heraus, rückwärts und indem er mit einem geschickten, den Stockfechtern abgelernten Manöver die Dogge von sich abwehrte.

Als er, nicht ohne Mühe, seinen Rückzug über den Zaun bewerkstelligt hatte und sich wieder auf der Straße befand, allein, ohne Nachtlager, ohne Obdach, von dem Strohlager und aus der elenden Hütte verjagt, sank er mehr, als er sich setzte, auf einen Stein nieder und stöhnte.

»Ich habe es nicht einmal so gut wie ein Hund!«

Bald erhob er sich wieder und wanderte weiter, zur Stadt hinaus, in der Hoffnung einen Baum, einen Schober zu finden, der ihm ein schützendes Obdach gewähren würde.

So schleppte er sich eine Strecke dahin, den Kopf auf die Brust gesenkt. Als er sich weitab von jeder menschlichen Behausung fühlte, hob er die Augen auf und hielt Umschau. Er befand sich auf einem Acker, vor einem niedrigen Hügel, der mit Stoppeln bedeckt war und einem kurz geschornen Menschenkopf ähnlich sah.

Der Horizont war tief schwarz, nicht blos von dem Dunkel der heraufsteigenden Nacht, sondern es waren sehr niedrige Wolken, die auf dem Hügel selber zu lasten schienen und über den ganzen Himmel heraufstiegen. Da indessen der Mond zu scheinen begann und im Zenith noch etwas Abendhelle schwebte, bildeten diese Wolken oben eine Art weißliches Gewölbe, von dem sich ein Lichtglanz auf die Erde niedersenkte.

Die Erde war also heller erleuchtet, als der Himmel, was sich recht schaurig ausnahm, und der kläglich winzige Hügel hob sich matt und undeutlich von dem düstern Horizont ab.

Die ganze Aussicht war eine öde, abstoßende, armselige, unheimlich eingeengte. Auf dem Acker und auf dem Hügel nichts, als ein verkrüppelter Baum, der sich in einer Entfernung von wenigen Schritten, vom Winde durchschauert, hin und herkrümmte.

Unser Wanderer war sicherlich weit davon entfernt jene Empfindungs- und Denkweise zu besitzen, die das Gemüth feinerer Menschen für geheimnisvolle Natureindrücke empfänglich macht; allein dieser Himmel, dieser Hügel, diese Ebene, dieser Baum waren so schaurig, so wüst, daß er nach kurzem Besinnen seine Schritte hastig rückwärts lenkte. Es gibt Augenblicke, wo die Natur dem Menschen ein feindliches Gesicht zeigt.

Er kehrte auf demselben Wege wieder nach der Stadt zurück, und fand die Thore schon geschlossen. Denn Digne, das in den Religionskriegen Belagerungen ausgehalten hat, war noch 1815 von Mauern mit viereckigen Thürmen umgeben, die seitdem geschleift worden sind. Der Fremde ging durch eine Bresche in die Stadt hinein.

Es mochte jetzt acht Uhr Abends sein. Da ihm die Straßen unbekannt waren, marschierte er wieder ohne Plan und Ziel.

Auf diese Weise kam er an der Präfektur, dann an dem Seminar vorbei. Als er über den Domplatz ging, ballte er die Faust gegen die Kirche.

In der einen Ecke dieses Platzes befindet sich eine Druckerei. Dort wurden zum ersten Mal die Proklamationen des Kaisers und der kaiserlichen Garde an die Armee gedruckt, die von Napoleon selber auf der Insel Elba diktirt worden waren.

Vollständig erschöpft und hoffnungslos streckte sich der Obdachlose auf die steinerne Bank aus, die sich vor der Druckerei befindet.

In dem Augenblick trat eine alte Dame aus der Kirche und sah ihn im Schatten dort liegen. »Was machen Sie da, guter Freund?«

Er fuhr heftig auf: »Sie sehen ja, gute Frau, ich lege mich schlafen.«

Die gute Frau, die auf diese Benennung ein volles Recht hatte, war die Frau Marquise von R.

»Auf diese Bank?«

»Ich habe neunzehn Jahre lang auf einer hölzernen Matratze gelegen, so kann ich auch einmal auf einer steinernen schlafen.«

»Sie sind Soldat gewesen.«

»Ja wohl, gute Frau.«

»Warum gehen Sie nicht in eine Herberge?«

»Weil ich kein Geld habe.«

»Leider habe ich nur vier Sous bei mir.«

»Geben Sie sie mir.«

Die Marquise gab ihm das Geld und fuhr fort: »Mit so wenig können Sie keine Unterkunft in einer Herberge bekommen. Aber haben Sie’s wenigstens versucht? Sie können doch nicht die Nacht unter freiem Himmel zubringen, Sie haben ohne Zweifel Hunger und frieren. Man hätte Sie aus Mitleid aufnehmen können.«

»Ich habe an alle Thüren geklopft.«

»Und?«

»Sie haben mich überall hinausgeworfen.«

Die gute Frau berührte den Mann am Arme und zeigte ihm ein kleines niedriges Haus, das auf der andern Seite des Platzes neben dem bischöflichen Palast stand.

»Sie sagen, Sie haben an alle Thüren geklopft?«

»Ja.«

»Auch an die da drüben?«

»Nein.«

»Nun dann, klopfen Sie einmal da an.«

Alltagsweisheit und Philosophie

An demselben Abend war der Herr Bischof nach seinem Spaziergange in der Stadt lange auf seinem Zimmer geblieben. Er arbeitete damals gerade an einem größeren Werke über die Pflichten, das leider unvollendet geblieben ist. Zu diesem Zwecke sammelte er alles, was die Kirchenväter und andere Autoritäten über diesen bedeutungsvollen Gegenstand gesagt haben. Sein Buch zerfiel in zwei Theile; erstens die Pflichten Aller; zweitens die Pflichten des Einzelnen, je nach seinem Stande, Berufe, Alter, Geschlecht u. s. w. Die Pflichten Aller, lehrte er, sind die wichtigsten. Sie zerfallen in vier Unterarten, die uns Sankt Matthäus bezeichnet: die Pflichten gegen Gott (Ev. Matth. Kap. 6), gegen sich selbst (Ev. Matth. Kap. 5 V. 29 und 30), gegen den Nebenmenschen (Ev. Matth. Kap. 7 V. 12).

Was die übrigen Pflichten anbelangt, so hatte der Bischof sie in andern Schriften der Bibel gefunden; die der Herrscher und Unterthanen in der Epistel an die Römer; die der Richter, der verheirateten Frauen, Mütter und jungen Männer, in der Epistel des heiligen Petrus; die der Ehemänner, Eltern, Kinder und Diener in der Epistel an die Epheser; die der Gläubigen in der Epistel an die Ebräer; die der Jungfrauen in der Epistel an die Korinther. Alle diese Vorschriften faßte er mit mühseligem Fleiße zu einem übersichtlichen Ganzen zusammen, das er den Gläubigen widmen wollte.

An diesem Abend arbeitete er noch fleißig um acht Uhr und schrieb, ein großes offenes Buch über den Knieen, in unbequemer Haltung auf kleinen Zetteln, als Frau Magloire hereinkam, das Silbergeschirr aus dem Wandschrank zu holen. Ein Weilchen nachher, als er merkte, daß der Tisch gedeckt war und seine Schwester vielleicht auf ihn wartete, klappte er sein Buch zu, stand vom Tische auf und begab sich in das Speisezimmer.

Es war dies ein rechteckiger Raum mit Kamin, Eingangsthür nach der Straße zu und einem Fenster, das auf den Garten hinausging.

Frau Magloire hatte in der That schon gedeckt und plauderte, während sie im Zimmer hantierte, mit Fräulein Baptistine.

Auf dem Tische, der sich nahe dem Kamin befand, stand eine Lampe und in dem Kamin brannte ein leidlich gutes Feuer.

Man kann sich leicht eine Vorstellung machen von den beiden Frauen, die beide sechzig Jahre hinter sich hatten: Frau Magloire klein, gut beleibt, lebhaft; Fräulein Baptistine sanft, hager, schwächlich, etwas größer, als ihr Bruder, in einer Robe von flohfarbener Seide, wie es 1806 Mode war, die sie damals in Paris gekauft hatte, und die immer noch vorhielt. Um uns einer volksthümlichen Redewendung zu bedienen, — die aber trotz ihrer Kürze inhaltsvoller ist, als eine seitenlange Beschreibung, — so hatte Frau Magloire das Aussehen einer Bäuerin und Fräulein Baptistine das einer Dame. Frau Magloire trug eine in Röhrenfalten gelegte weiße Haube, um den Hals ein Sammetband mit einem goldnen Kreuz, auf dem ein Herz lag, dem einzigen Frauenjuwel übrigens, das sich im Hause befand. Bekleidet war sie mit einem schneeweißen Brusttuch, einem Kleide aus grobem schwarzen Wollstoff mit weiten kurzen Aermeln, einer roth und grün karrirten Kattunschürze, die mit einem grünen Bande um die Taille gebunden war, und deren gleichartiger Latz an den oberen Ecken durch zwei Stecknadeln festgehalten wurde. Dazu an den Füßen grobe Schuhe und gelbe Strümpfe, wie sie von den Frauen in Marseille getragen wurden. Fräulein Baptistines Robe war nach Mustern aus dem Jahre 1806 zugeschnitten; mit kurzer Taille, engem Rock, Achselbändern, Patten und Knöpfen. Ihre grauen Haare verbarg sie unter einer Kräuselperrücke à l’enfant. Frau Magloires Gesichtszüge ließen auf Klugheit, Lebhaftigkeit und Herzensgüte schließen; nach den ungleich aufgezogenen Mundwinkeln und nach der Oberlippe, die dicker war als die untere, zu urtheilen, mußte sie brummig und rechthaberisch sein. In der That führte sie Sr. Bischöflichen Gnaden gegenüber, wenn Dieselben schwiegen, eine bei allem Respekt freimüthige Sprache; aber sobald Sr. Gnaden das Wort ergriffen, gehorchte sie, wie wir schon oben gesehen haben, so passiv wie ihr gnädiges Fräulein. Fräulein Baptistine, that dann nicht einmal den Mund auf. Sie beschränkte sich darauf, zu gehorchen und ihrem Bruder zu Gefallen zu handeln. Auch in ihrer Jugend war sie nicht hübsch gewesen. Sie hatte große, blaue, hervorstehende Augen und eine lange, gebogene Nase; aber ihr ganzes Antlitz, ihr ganzes Wesen athmete eine unbeschreibliche Güte. Von jeher sanftmüthig veranlagt, hatte sie sich durch herzerwärmende Tugenden des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung allmählich zur Heiligen vervollkommnet. Von Natur nur ein Lamm, hatte die Religion sie zu einem Engel gemacht. Armes frommes Fräulein! Welche theure Erinnerungen weckt Dein sanftes Bild in dem Gedächtniß Derer, die Dich kannten!

Was sich nun an jenem Abend in dem Hause des Bischofs Alles ereignete, hat Fräulein Baptistine so oft erzählt, daß sich mehrere Leute, die noch heute leben, an alles bis auf die geringfügigsten Einzelheiten, genau erinnern können.

Frau Magloire sprach, als der Bischof in das Speisezimmer trat, mit großer Lebhaftigkeit über ihr Lieblingsthema, das ihr Herr geduldig über sich ergehen zu lassen pflegte, nämlich über die Klinke der Straßenthür.

Sie hatte während sie Einkäufe für das Abendessen besorgte, gar schlimme Neuigkeiten gehört. Es hieß ein Strolch, ein gefährlicher Landstreicher sei angekommen und treibe sich gegenwärtig in der Stadt herum, und wer heute Abend spät nach Hause komme, dem könne leicht etwas Unangenehmes begegnen. Die Polizei thue leider ihre Schuldigkeit nicht, indem der Herr Präfekt und der Herr Bürgermeister keine Freundschaft hielten und es gerne sähen, wenn ein Unglück passiere. Das würde ihnen eine prächtige Gelegenheit geben, den Andern als den schuldigen Teil hinzustellen. Die gescheidten Leute sollten also hübsch selber über ihre Sicherheit wachen. Selbstredend müsse ein Jeder sein Haus verschließen, verriegeln, verrammeln und ja die Thüren ordentlich zumachen.

Frau Magloire betonte das Wort Thüren mit großem Nachdruck; aber der Bischof, den in seinem ungeheizten Zimmer gefroren hatte, saß vor dem Kamin, und wärmte sich; abgesehen hiervon hing er noch andern Gedanken nach. Er beachtete also Frau Magloires energischen Wink nicht besonders, und sie sah sich genötigt, ihn zu wiederholen. Da mischte sich Fräulein Baptistine in das Gespräch und fragte, um es Frau Magloire recht zu machen, ihrem Bruder aber nicht zu mißfallen:

»Lieber Bruder, hast Du gehört, was Frau Magloire erzählt?«

»Zum Theil, ja!« antwortete er, drehte seinen Stuhl halb um, hielt die Hände auf die Kniee und wandte sein freundliches, gemüthlich heiteres Gesicht, das von unten durch den Lichtschein des Kaminfeuers hell beleuchtet war, der alten Magd zu. »Nun, erzählen Sie! Was geht denn vor? Was denn? Wir schweben also wirklich in einer furchtbaren Gefahr?«

Frau Magloire begann ihre ganze Geschichte von vorn, wobei sie, ohne sich dessen bewußt zu werden, die Farben recht stark auftrug. Es solle sich zur Zeit ein Bummler, ein zerlumpter Kerl, ein gefährlicher Bettler in der Stadt aufhalten. Er hätte bei Jacquin Labarre nächtigen wollen, der aber hätte ihn abgewiesen. Dann sei er auf dem Boulevard Gassendi gesehen worden und dann habe er in den Straßen herum gestrolcht. Ein Kerl mit einem wahren Galgengesicht!

»Was Sie sagen!« meinte der Bischof.

Daß er so bereitwillig auf ihr Gespräch einging, ermuthigte Frau Magloire. Deutete sie sich dies doch als ein Zeichen, daß er anfing, Furcht zu bekommen. Sie fuhr also triumphirend fort:

»Ja, ja. Bischöfliche Gnaden, so steht’s. Diese Nacht passirt ganz gewiß ein Unglück in der Stadt. Jeder sagt das. Leider thut die Polizei ihre Schuldigkeit nicht. (Diese Wiederholung, um einen wirksamern Eindruck zu machen.) Ein Gebirgsland, und nicht einmal des Nachts Laternen in den Straßen! Geht man aus, so umgiebt Einen eine Finsterniß, als stäke man in einem Sack. Und ich, Bischöfliche Gnaden, behaupte, und das gnädige Fräulein behauptet auch …«

»Ich behaupte gar nichts«, fiel ihr das Fräulein ins Wort. »Was mein Bruder thut, ist wohlgethan.«

Aber Frau Magloire beachtete nicht den erhobenen Einspruch.

»Wir behaupten also, daß dieses Haus ganz und gar nicht sicher ist, und wenn Bischöfliche Gnaden erlauben, hole ich den Schlosser, Paulin Musebois, und lasse ihn die alten Riegel wieder an der Thür anbringen. Sie sind noch da, und die Arbeit ist im Handumdrehen gemacht. Riegel brauchen wir, wäre es auch nur für diese Nacht. Denn eine Thür, die der erste Beste von außen aufklinken kann, nein, so was schreckliches giebt’s nicht mehr. Dabei haben Bischöfliche Gnaden die Gewohnheit und rufen immer gleich: Herein! Und in der Nacht — Herr, erbarme Dich! braucht auch Keiner erst um Erlaubnis zu bitten.«

In demselben Augenblicke wurde heftig an die Thür geklopft.

»Herein!« rief der Bischof.

Heldenmüthiger Gehorsam

Die Thür ging auf, heftig, weit auf, und hereintrat der uns schon bekannte Fremde, der Wandrer, den wir vorhin auf der Suche nach einem Obdach beobachtet haben.

Er trat ein, that noch einen Schritt und blieb stehen, ohne die Thür hinter sich wieder zuzumachen. Den Tornister auf dem Rücken, den Stock in der Hand, das entschlossene grimmige Gesicht vom Kaminfeuer beleuchtet, war er eine furchtbare, unheimliche Erscheinung.

Frau Magloire hatte nicht einmal so viel Kraft übrig, um laut aufzuschreien und stand wie angewurzelt mit offnem Munde da.

Fräulein Baptistine hatte sich beim Eintritt des Vagabunden nach ihm umgewendet. Sie fuhr zusammen vor Schreck, wandte aber dann allmählich das Gesicht nach dem Kamin hin, wo ihr Bruder saß, und alsbald nahmen wieder ihre Züge die gewohnte Ruhe und Heiterkeit an.

Der Bischof faßte den Ankömmling ruhig ins Auge.

In dem Augenblick, als er den Mund aufthat, wohl um nach dem Begehr des Fremden zu fragen, stützte Dieser beide Hände auf seinen Stock, ließ seine Augen über den greisen Herrn und die beiden Frauen irren und sprach, ohne die Anrede des Bischofs abzuwarten, mit lauter Stimme:

»Die Sache ist die. Ich heiße Jean Valjean. Ich bin ein ehemaliger Galeerensklave. Ich habe neunzehn Jahre im Bagno verlebt. Vor vier Tagen bin ich in Freiheit gesetzt worden und jetzt auf dem Wege nach Pontarlier, meinem Bestimmungsort. Vier Tage marschiere ich nun schon, von Toulon aus. Heute habe ich achtundvierzig Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Diesen Abend, wo ich in diesem Ort angekommen bin, habe ich in einem Gasthaus einkehren wollen, aber sie haben mich hinausgewiesen, von wegen meinem gelben Paß, den ich im Stadthaus vorgezeigt habe. Das mußte ich nämlich. Dann bin ich wieder in eine Herberge gegangen. Da hat’s wieder geheißen: Raus mit Dir. Keiner hat mich haben wollen. Dann bin ich nach einem Gefängniß gegangen. Der Schließer hat mir nicht aufgemacht. Dann bin ich in eine Hundehütte gekrochen. Da ist der Hund gekommen, hat mich gebissen und mich weggejagt, gerade als wäre er ein Mensch. Es war als wüßte er, was für Einer ich bin. Dann bin ich querfeldein gegangen und wollte unter freiem Himmel übernachten. Der Himmel war aber nicht frei, er hing voll Wolken und ich dachte, es würde regnen, und einen Gott, der den Regen nicht herunterfallen läßt, mir zu Gefallen, giebt’s ja doch nicht. Da bin ich wieder nach der Stadt zurückgegangen und wollte mir einen Thorweg suchen. Auf dem Platz hier habe ich mich auf eine Steinbank niedergelegt Da ist eine Frau gekommen, hat mir dies Haus gezeigt und hat gesagt: Klopfe mal da an. Das habe ich gethan. Was ist das für ein Haus? Eine Herberge? Ich habe Geld. Hundertneun Franken und fünfzehn Sous. Was ich mir in neunzehn Jahren, in meiner Sträflingszeit, mit meiner Arbeit verdient habe. Ich kann alles bezahlen. Mir soll’s nicht drauf ankommen. Ich habe ja Geld. Ich bin sehr müde, achtundvierzig Kilometer, und hungrig. Darf ich hier bleiben?«

»Frau Magloire,« sagte der Bischof, »noch ein Gedeck!«

Der Vagabund trat drei Schritte, an die Lampe heran, die auf dem Tische stand. »So ist das nicht,« hob er wieder an, »Sie verstehen mich gewiß nicht. Ich bin ein Galeerensklave, ich komme aus dem Bagno.« Er zog ein großes gefaltetes Papier aus der Tasche. »Hier,« und er faltete es aus einander, »mein Paß. Ein gelber. Das hat den Zweck, daß ich überall, wo ich hingehe, weggejagt werde. Wollen Sie ihn lesen? Ich kann lesen. Ich hab’s im Bagno gelernt. Da ist eine Schule, da können die hingehen, die’s wollen. Da können Sie’s lesen. ›Jean Valjean, aus dem Gefängniß entlassener Sträfling, gebürtig aus … Das ist Ihnen egal, ob Sie das wissen oder nicht … ist neunzehn Jahre im Bagno gewesen. Fünf Jahre wegen Diebstahl mit Einbruch, vierzehn Jahre, weil er vier Mal hat entspringen wollen. Ein sehr gefährliches Subjekt.‹ So! nun wissen Sie’s. Jedermann hat mich rausgeschmissen. Wollen Sie mich aufnehmen? Ist das hier eine Herberge? Kriege ich hier was zu essen und Unterkunft für die Nacht? Haben Sie einen Stall?«

»Frau Magloire, beziehen Sie das Bett im Alkoven mit neuen Laken.«

Wir haben schon auseinandergesetzt, wie die beiden Frauen zu gehorchen pflegten. Frau Magloire ging also hinaus, das zu thun, was ihr geheißen war.

»Herr Valjean, nehmen Sie Platz und wärmen Sie Sich. Wir speisen sofort, und während der Essenszeit wird Ihr Bett zurecht gemacht.«

Jetzt begriff der Vagabund. Auf seinem bisher finstern und grimmigen Gesicht war plötzlich eine unsagbare Verwundrung, Zweifel, Freude zu lesen. Mit einer Ueberstürzung, als wäre er irrsinnig geworden, stieß er die Worte hervor:

»Wahrhaftig! Sie behalten mich hier! Sie jagen mich nicht fort? Einen ehemaligen Sträfling? Sie sagen: Herr Valjean, nicht Du? Mach, daß Du fortkommst, Du Hund Du! So sagen sie immer zu mir. Ich glaubte wirklich, Sie würden mich rausjagen. Deswegen habe ich ja auch gleich gesagt, wer ich bin. Das ist mal eine gute Frau, die mich hierher gewiesen hat. Ich kriege was zu essen! Und ein Bett mit Matratze und Laken wie alle andern Leute! Ein Bett! Neunzehn Jahre habe ich in keinem Bett gelegen! Sie sagen nicht, daß ich wieder fortgehn soll. Ihr seid gute Leute. Aber ich habe Geld. Ich will alles richtig bezahlen. Verzeihung, Herr Gastwirt, wie heißen Sie? Ich bezahle, so viel Sie wollen. Sie sind ein braver Mann, Sie sind doch Gastwirt, nicht wahr?«

»Ich bin ein Priester, der hier wohnt.«

»Ein Priester! Ein guter braver Priester! Dann verlangen Sie kein Geld von mir? Sie sind der Pfarrer von der großen Kirche da drüben? Nun natürlich! Jetzt erst sehe ich Dummkopf das Käppchen,«

Während seiner Rede hatte er Tornister und Stock in eine Ecke gestellt, den Paß wieder eingesteckt und sich gesetzt. Fräulein Baptistine betrachtete ihn mit freundlichen Blicken. Er fuhr fort.

»Sie sind menschlich, Herr Pfarrer, Sie haben keine Verachtung gegen mich. Wie gut das ist, so ein guter Priester! Also haben Sie’s nicht nöthig, daß ich was bezahle?«

»Nein! Behalten Sie Ihr Geld. Wieviel haben Sie? Sagten Sie nicht hundertneun Franken?«

»Und fünfzehn Sous!«

»Hundertneun Franken und fünfzehn Sous. Und wieviel Zeit haben Sie gebraucht, das zu verdienen?«

»Neunzehn Jahre!«

»Neunzehn Jahre!«

Der Bischof seufzte tief.

Der Fremde fuhr fort. »Ich habe noch mein ganzes Geld. Seit vier Tagen habe ich nur fünfundzwanzig Sous ausgegeben, und die habe ich in Grasse verdient. Da wurden Wagen abgeladen und dabei habe ich geholfen. Da Sie Abbé sind, so muß ich Ihnen sagen, wir hatten auch einen Geistlichen im Gefängniß. Und einmal habe ich auch einen Bischof zu sehen gekriegt. So Einer, den Sie Ew. Bischöfliche Gnaden nennen. Er war aus Marseille. Das ist ein Pfarrer, der über den andern Pfarrern ist. Entschuldigen Sie, ich drücke mich schlecht aus, aber was versteht Unser Einer von so was! — Er hat die Messe gelesen, mitten im Bagno, vor einem Altar, er trug ein spitzes goldnes Ding auf dem Kopf. Das glänzte mal im Sonnenlicht: Wir waren an drei Seiten aufgereiht, uns gegenüber die Kanonen mit angezündeter Lunte. Wir konnten nicht gut sehn, er war zu weit ab, da hinten. Und was er gesagt hat; verstand man auch nicht. Das ist ein Bischof.«

Während er noch sprach, war der Bischof aufgestanden und hatte die offen gebliebne Thür zugemacht.

In demselben Augenblick kam auch Frau Magloire mit dem Gedeck wieder zurück.

»Möglichst nahe am Kamin!« befahl der Bischof. Und zu seinem Gast gewendet: »In der Nacht weht ein kalter Wind in den Alpen. Sie friert gewiß, Herr Valjean?«

Jedes Mal, wenn er mit seiner freundlichen Stimme das höfliche »Herr« aussprach, leuchtete es auf in dem Gesicht des Unglücklichen. Der Klang dieses Wortes wirkt auf einen Sträfling, wie der Anblick eines Glases Wasser, das man einem Verdurstenden darreicht. Wer in der Schande steckt, lechzt nach Achtung.

»Die Lampe leuchtet schlecht!« bemerkte mit einem Mal der Bischof.

Frau Magloire verstand den Wink, holte aus dem Schlafgemach Sr. Bischöflichen Gnaden die beiden silbernen Leuchter und stellte sie auf die Tafel.

»Herr Pfarrer,« sagte der Gast, »Sie sind recht gut. Sie verachten mich nicht. Sie stecken Ihre feinen Kerzen für mich an. Ich habe Ihnen aber doch nicht verschwiegen, wo ich herkomme, und daß ich ein elender Mensch bin.«

Der Bischof, der neben ihm saß, berührte sanft seine Hand. »Sie konnten es unterlassen mir zu sagen, wer Sie sind. Dies ist nicht mein Haus, sondern das Haus Jesu Christi. Wer hier herein will, den fragt diese Thür nicht, ob er einen Namen, sondern ob er einen Kummer hat. Sind Sie leidbedrückt, hungert und dürstet Sie, so sind Sie willkommen. Und danken Sie mir nicht, sagen Sie nicht, daß ich Sie in mein Haus aufnehme. Hier wohnt Niemand, außer wer einer Zufluchtsstätte bedarf. Ich sage Ihnen, Sie, der Sie hier vorbeigehen, haben mehr Anrecht auf den Schutz dieses Hauses, als ich selber. Alles, was hier ist, gehört Ihnen. Wozu brauche ich Ihren Namen zu wissen? Uebrigens haben Sie einen Namen den ich wußte, bevor Sie mir Ihren Namen nannten.«

Der Gast machte große Augen vor Verwundrung.

»Wahrhaftig? Sie wußten, wie ich heiße?«

»Ja, Sie heißen mein Bruder!«

»Hören Sie,« Herr Pfarrer, rief der Gast »Ich hatte gehörigen Hunger, als ich hier hereinkam, aber Sie sind so gut, daß ich — ich weiß nicht, wie das kommt, meinen Hunger nicht mehr fühle.«

Der Bischof sah ihn an und fragte:

»Sie haben wohl viel Schlimmes durchgemacht?«

»Ach ja! In der rothen Jacke, die Kanonenkugel am Bein, ein Brett zum Schlafen, Hitze, Kälte, Arbeit, Stockschläge. Eine doppelte Kette, wenn man so gut wie gar nichts verbrochen hatte. In die Einzelzelle, wenn man mal ein Bischen aufmuckte. Auch im Bett noch, wenn man krank war, behielt man die Kette. Die Hunde, die Hunde sind glücklicher. Neunzehn Jahre lang. Ich bin sechsundvierzig Jahre alt. Und jetzt zu guter Letzt der gelbe Paß. Ja ja!«

»Ja, Sie kommen aus einem Ort des Jammers. Hören Sie auf meine Worte. Es wird im Himmel mehr Freude herrschen über die Thränen eines reuigen Sünders, als über das weiße Gewand hundert Gerechter. Wenn Sie aus jenem Ort des Leidens mit Gedanken voll Haß und Groll gegen die Menschen kommen, so sind Sie zu bemitleiden; hegen Sie aber Gedanken des Wohlwollens, der Sanftmuth und der Friedfertigkeit, so sind Sie ein besserer Mensch, als der Beste von uns.«

Währenddem hatte Frau Magloire das Essen aufgetragen. Eine Suppe bestehend aus Wasser, Oel, Brod und Salz; etwas Speck, ein Stück Hammelfleisch, Feigen, frischer Käse, und ein großes Roggenbrod. Außerdem hatte sie aus eignem Antrieb eine Flasche alten Mauves spendirt.

Bei diesem Anblick überflog plötzlich die Züge des Bischofs jene Vergnügtheit, die gastfreundlichen Menschen eigen zu sein pflegt. »Zu Tische!« kommandierte er lebhaft. Er lud, wie er zu thun pflegte, wenn er einen Gast zu Tische hatte, den Vagabunden ein zu seiner Rechten Platz zu nehmen, und Fräulein Baptistine setzte sich ruhig und unbefangen links von ihm.

Dann sprach der Bischof das Tischgebet und schöpfte seiner Gewohnheit gemäß die Suppe aus. Der Gast fiel gierig über seinen Teller her.

Plötzlich bemerkte der Bischof: »Mich dünkt, es fehlt irgend etwas auf dem Tische.«

In der That hatte Frau Magloire nur die drei durchaus nothwendigen Bestecke auf die Speisetafel gelegt. Wenn aber der Bischof einen Gast hatte, so war es der Brauch des Hauses, daß die sechs silbernen Bestecke auf dem Tische prangen mußten. Diese kindliche Prahlerei mit einem so bescheidnen Luxus muthete angenehm an in diesem Hause, wo die Armuth für wohlanständig galt.

Frau Magloire verstand die Bemerkung des Bischofs, ging ohne ein Wort zu sagen hinaus und alsbald erglänzten auf dem Tischtuche die drei andern Bestecke.

Über die Käsereien in Pontarlier

Damit man sich eine Vorstellung machen könne, wie es an dieser Tafel herging, wollen wir eine Stelle aus einem Briefe von Fräulein Baptistine an Frau von Boischevron hier wiedergeben, in dem mit naiver Ausführlichkeit das Gespräch des Bischofs und des Galeerensklaven erzählt wird.

»Der Mann achtete auf Niemand und schlang immer nur sein Essen mit einer Gier hinunter, als wäre er nahe daran gewesen, vor Hunger umzukommen. Aber nach dem Abendessen sagte er:

›Lieber guter Herrgottspfarrer, das ist alles noch viel zu gut für mich, aber das muß ich sagen, die Fuhrleute, die mich nicht wollten mitessen lassen, leben besser als Sie.‹

Unter uns gesagt, die Bemerkung hat mich verdrossen. Mein Bruder antwortete ihm:

›Sie müssen sich auch mehr anstrengen, als ich.‹

›Nein,‹ meinte der Andre, ›sie haben mehr Geld. Ich sehe wohl, Herr Pfarrer, Sie sind arm. Sie sind vielleicht noch nicht einmal Pfarrer? Wenn der liebe Gott gerecht wäre, müßten Sie Pfarrer sein.‹

›Der liebe Gott ist mehr als gerecht‹, versetzte mein Bruder und fügte nach einer Weile hinzu:

›Also nach Pontarlier gehen Sie, Herr Valjean?‹

›Mit Zwangspaß.‹

So sagte er, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt.

Dann fuhr er fort:

›Morgen bei Tagesanbruch muß ich schon unterwegs sein. Das Marschieren ist jetzt beschwerlich. Wenn die Nächte kalt sind, so ist es am Tage heiß.‹

›Sie kommen da in eine gute Gegend‹, meinte mein Bruder. ›Zur Zeit der Revolution ist meine Familie ruinirt worden, und ich habe mich damals zuerst nach der Franche-Comté geflüchtet, wo ich von meiner Hände Arbeit lebte. Ich hatte guten Willen und fand auch Beschäftigung. Man hat dort zu Lande die Wahl. Es giebt dort Papiermühlen, Gerbereien, Branntweinbrennereien, Oelmühlen, Uhrfabriken, Stahl- und Kupferfabriken, wenigstens zwanzig Eisenwerke, darunter vier sehr bedeutende in Lods, Châtillon, Audincourt und Beure.‹

Ich müßte mich sehr irren, wenn dies nicht die Namen sind, die mein Bruder anführte. Hierauf aber brach er ab und wandte sich an mich:

›Liebe Schwester, haben wir nicht Verwandte in jener Gegend?‹

Ich antwortete:

›Früher, ja! Unter Andern Herrn von Lucenet, Hauptmann bei den Thürgardisten zu Pontarlier vor der Revolution.‹

›Ganz richtig‹, erwiderte mein Bruder, ›aber 1793 war es mit den Verwandten nichts, da mußte man sich auf sich selber und auf seine gesunden Arme verlassen. Ich habe gearbeitet. Sie haben in der Gegend von Pontarlier, wo Sie hingehen, Herr Valjean, eine ganz patriarchalische und ganz gemüthliche Industrie, liebe Schwester, nämlich Käsereien.‹

Darauf setzte mein Bruder dem Manne, während er ihn zum Essen nöthigte, sehr ausführlich auseinander, wie die Käsereien eingerichtet sind.

›Sie zerfallen in zwei Klassen‹, erläuterte er. ›Die großen, die den Reichen gehören, mit vierzig bis fünfzig Kühen, und die sieben bis acht Tausend Stück Käse pro Sommer liefern, und die kleinen, genossenschaftlich organisirten, die von den Armen gebildet werden. Zu diesen thun sich die Bauern aus dem Mittelgebirge zusammen und theilen den Gewinn. Sie engagieren einen Käser, der dreimal täglich von den Mitgliedern der Genossenschaft die Milch in Empfang nimmt und die Quantität auf einem doppelten Kerbholz markirt. Gegen Ende April fängt die Fabrikation an; Mitte Juni werden die Kühe auf die Berge getrieben.‹

Der Fremde wurde muntrer, während er aß. Mein Bruder schenkte ihm guten Mauves ein, von dem er selber nicht trinkt, weil es ein theurer Wein ist. Mein Bruder zeigte im Gespräche die Ihnen wohlbekannte Unbefangenheit und frohe Laune und richtete auch manche freundlichen Bemerkungen an mich. Auf die Beschäftigung des Käsers kam er oft zurück, als wollte er ihm aus zarte Weise zu verstehen geben, daß er sich so aus seiner Nothlage befreien könne. Eins ist mir noch aufgefallen. Ich habe Ihnen auseinandergesetzt, was das für ein Mensch war. Nun also, mein Bruder hat weder bei Tische noch überhaupt an dem ganzen Abend, mit alleiniger Ausnahme der Erwähnung Jesu Christi bei der Ankunft des Gastes, kein Wort fallen lassen, das den Mann erinnert hätte, wer er war, und ihn über den Stand meines Bruders belehrt hätte. Und es war doch eine schöne Gelegenheit, ein wenig Moral zu predigen und den Zuchthäusler seine bischöfliche Autorität nachdrücklichst fühlen zu lassen. Ein Andrer, der den Unglücklichen so in der Hand gehalten hätte, würde nicht blos getrachtet haben, ihm Nahrung für den Körper, sondern auch für die Seele zu spenden und hätte es für angemessen erachtet, ihm mit guten Rathschlägen und Ermahnungen gemilderte Vorwürfe zu machen oder hätte eine Aeußerung des Mitleids nebst einer Aufforderung sich fortan besser aufzuführen, fallen lassen. Mein Bruder dagegen fragte den Menschen nicht einmal nach seinem Geburtsorte oder seiner Lebensgeschichte. Denn seine Lebensgeschichte enthielt auch die Geschichte seines Vergehens, und mein Bruder ließ es sich offenbar angelegen sein, alles zu vermeiden, das Jenen an seine Schuld hätte erinnern können. Einmal sogar, als er von den Gebirglern bei Pontarlier sprach, deren Wohnungen dem Himmel nahe wären, die, weil schlicht und rechtschaffen, auch glücklich seien, brach er plötzlich seine Rede ab, aus Furcht, die ihm entschlüpfte Aeußerung könne seinem Gaste wehe thun. Ich habe hierüber gründlich nachgedacht und glaube jetzt zu verstehen, was in dem Herzen meines Bruders vorging. Er meinte offenbar, den Unglücklichen quäle der Gedanke an sein Elend auch ohnehin genug; es schien ihm geboten, ihm den Kummer zu verscheuchen, indem er ihn auf dieselbe Weise behandelte wie jeden Andern und ihn — wenn auch nur für einen Augenblick — in den Glauben wiegte, er wäre eben solch ein Mensch wie jeder Andre. Heißt das nicht die Pflicht der christlichen Liebe richtig verstehen, wenn man sich zartsinnig aller Moralpredigten und Anspielungen enthält und den wunden Punkt überhaupt nicht berührt? Dies war, dünkt mich, die Idee, von der sich mein Bruder leiten ließ. Allerdings hat er sich nichts merken lassen, auch mir gegenüber nicht. Er war durchaus derselbe, wie an jedem andern Abend und benahm sich Jean Valjean gegenüber ganz ebenso, als hätte er Hrn. Gédéon Le Prévost oder einen Landpfarrer zu Gaste gehabt.

Zu Ende der Mahlzeit, als wir eben die Feigen verspeisten, klopfte es an die Thür. Es war Mutter Gerbaud mit ihrem Kinde auf dem Arm. Mein Bruder küßte den Kleinen auf die Stirn und lieh sich von mir fünfzehn Sous, die ich gerade bei mir hatte, um sie Mutter Gerbaud zu geben. Der Fremde achtete auf alles dieses nicht. Er sprach nicht mehr und schien recht abgespannt zu sein. Dann sagte mein Bruder, nachdem die arme, alte Gerbaud fortgegangen, das Dankgebet und wandte sich zu dem Gast mit den Worten: ›Sie sehnen sich gewiß nach Ihrem Bett.‹ Frau Magloire deckte rasch ab und ich begriff, daß wir uns nach oben verfügen mußten, um ihn schlafen zu lassen. Indessen schickte ich Frau Magloire noch einmal hinunter mit einem Rehfell, das sie ihm auf sein Bett legte. Die Nächte sind eisig, und solch ein Fell hält warm. Schade, daß es so alt ist, die ganzen Haare fallen schon aus. Mein Bruder hat es zu der Zeit gekauft, wo er in Deutschland war, in Tottlingen, in der Nähe der Donauquellen, sowie auch das kleine Messer mit dem Elfenbeingriff, dessen ich mich bei Tische bediene.

Frau Magloire kam sofort wieder herauf, wir beteten in dem Zimmer, wo die Wäsche getrocknet wird und zogen uns dann, ohne ein Wort zu sprechen, jede in ihre Kammer zurück.«

Furchtlose Seelenruhe

Nachdem der Bischof seiner Schwester eine gute Nacht gewünscht, nahm er von dem Tische einen der beiden silbernen Leuchter, gab den andern seinem Gaste und sagte:

»Herr Valjean, ich werde Sie jetzt nach Ihrem Schlafzimmer geleiten.«

Der Fremde folgte ihm.

Wie schon bemerkt, waren die Räume so eingerichtet, daß man, um in das Betzimmer und den Alkoven zu gelangen, durch das Schlafzimmer des Bischofs hindurch mußte.

Als sie durch dieses Zimmer gingen, war Frau Magloire gerade im Begriff, das Silberzeug in dem, am Kopfende des Bettes befindlichen Wandschrank zu verschließen. Das war das Letzte, was ihr jeden Abend vor dem Schlafengehn zu thun oblag.

Der Bischof führte seinen Gast in den Alkoven, wo ein frisch bezogenes Bett bereit stand. Der Fremde stellte seinen Leuchter auf ein Tischchen.

»Nun schlafen Sie wohl,« sagte der Bischof. »Morgen früh, bevor Sie aufbrechen, sollen Sie noch eine Tasse ganz frische Milch bekommen.«

»Danke, Herr Abt,« erwiderte der Gast.

Kaum hatte er diese friedfertigen Worte ausgesprochen, als ihn plötzlich und ohne Uebergang eine sonderbare Regung anwandelte, welche die beiden frommen Frauen, wären sie zugegen gewesen, mit eisigem Schreck erfüllt hätte. Noch heute wird es uns schwer, uns Rechenschaft davon zu geben, was in jenem Augenblick in ihm vorging. Wollte er eine Warnung aussprechen, oder eine Drohung ausstoßen? Gehorchte er nur einem ihm unbewußten Triebe, den er selbst nicht verstand? Er wandte sich plötzlich um, verschränkte die Arme, betrachtete seinen greisen Wirt mit wilden Blicken und schrie mit rauher Stimme:

»Nanu, Sie geben mir wirklich ein Zimmer in Ihrem Hause, so dicht neben Ihrem?«

Er hielt inne, schlug eine laute Lache auf, die sich grausig anhörte und fuhr fort:

»Haben Sie Sich die Sache auch ordentlich überlegt? Woher wissen Sie, ob ich nicht vielleicht ein Raubmörder bin?«

Der Bischof antwortete:

»Das ist eine Sache, die den lieben Gott allein angeht.«

Damit hob er feierlich und indem er die Lippen, wie zum Gebet oder Selbstgespräch, bewegte, zwei Finger der rechten Hand empor, segnete den Gast, der sich nicht neigte und begab sich, ohne sich umzuwenden und rückwärts zu blicken, in sein Zimmer.

Wenn der Alkoven einen Bewohner hatte, war der Altar mit einem groben Vorhang, der sich durch das ganze Betzimmer hindurch zog, verhangen. Vor diesen Vorhang kniete der Bischof nieder und verrichtete ein kurzes Gebet.

Einen Augenblick darauf spazierte er in seinem Garten, versunken in die Betrachtung jener erhabnen, unerforschbaren Herrlichkeiten, die Gott des Nachts den Augen der Wachenden enthüllt.

Was den Gast betrifft, so war er dermaßen übermüdet, daß er nicht einmal Gebrauch machte von den frischen reinen Laken. Er blies nach Art der Zuchthäusler das Licht mit der Nase aus und sank vollständig angekleidet auf das Bett nieder, wo er sofort fest einschlief.

Es schlug Mitternacht, als der Bischof aus dem Garten in sein Schlafzimmer zurückkehrte.

Einige Minuten nachher schlief alles in dem Hause.

Jean Valjean

Um die Mitte der Nacht erwachte Jean Valjean.

Jean Valjean entstammte einer Bauernfamilie der Provinz La Brie. In seiner Kindheit hatte er nicht lesen gelernt. Als er das Mannesalter erreicht hatte, war er Baumputzer in Faverolles. Seine Mutter hieß Jeanne Mathieu, sein Vater Jean Valjean oder Valjean.

Jean Valjean war, wie dies den an Liebe reichen Naturen eigen ist, von nachdenklicher Gemüthsart, ohne jedoch melancholisch zu sein, im Großen und Ganzen aber doch etwas schläfrig und matt. Im ersten Kindesalter verlor er schon seine Eltern. Seine Mutter starb an einem vernachlässigten Milchfieber, sein Vater, der gleichfalls Baumputzer war, an den Folgen eines Sturzes. Es blieb ihm nur noch eine Schwester, die älter war, als er, eine Wittwe mit sieben Kindern. Diese Schwester hatte Jean Valjean erzogen und ihn, so lange sie einen Mann hatte, ernährt. Aber der Mann starb, als das älteste von den Kindern erst acht und das jüngste ein Jahr alt war. Nun vertrat Jean Valjean, der sein fünfundzwanzigstes Jahr erreicht hatte, die Stelle des Vaters und ernährte seine Schwester. Dies betrachtete er als eine selbstverständliche Pflicht und wurde sogar ärgerlich, wenn man ihm wegen seiner Gutmütigkeit Lob spendete. So brachte er seine Jugend in schwerer, schlecht bezahlter Arbeit hin. Mit einer »guten Freundin« war er nie gesehen worden. Er hatte keine Zeit, an die Frauen zu denken.

Des Abends kam er mit zerschlagenen Gliedern nach Hause und aß, ohne ein Wort zu sprechen, seine Suppe. Oft fischte ihm seine Schwester, Mutter Jeanne, das Beste aus seinem Napfe vor der Nase heraus, das Stück Fleisch, den Speck, das Herz von dem Kohl und gab es ihren Kindern, und er aß dabei ruhig weiter, vorn übergeneigt, den Kopf fast im Napfe, um den seine langen Haare herumhingen, und schien nichts zu sehen. In Faverolle wohnte unweit von Valjeans Hütte eine Bäuerin, Marie-Claude genannt. Zu dieser Frau kamen bisweilen die ewig hungrigen Valjean’schen Kinder und holten, angeblich im Namen ihrer Mutter, eine Pinte Milch auf Borg, um die sie sich dann hinter irgend einer Hecke, oder in einem andern Versteck balgten, wobei sie sich die Schürzen tüchtig begossen. Hätte die Mutter Wind bekommen von diesen Spitzbübereien, so hätten die Missethäter erbarmungslose Hiebe besehen. Aber der sonst so barsche und brummige Jean Valjean pflegte hinter dem Rücken der Mutter die Milch der Frau Marie-Claude zu bezahlen und die Kinder entgingen der Züchtigung.

Er verdiente als Baumputzer achtzehn Sous den Tag, nachher verdang er sich als Schnitter, als Handlanger, Hirt, Hausknecht. Er quälte sich redlich und seine Schwester arbeitete ihrerseits auch nach Kräften, aber sieben Kinder sind nicht leicht durchzubringen. Allmählich umklammerte das Elend die bejammernswerte Familie immer fester. Da geschah es einst, daß ein strenger Winter das Land heimsuchte und Jean keine Beschäftigung fand. Die Familie hatte kein Brot, buchstäblich kein Brot. Dabei sieben Kinder!

An einem Sonntag Abend schickte sich Maubert Isabeau, der Bäcker an dem Kirchenplatz in Faverolles, eben an, sich zur Ruhe zu begeben, als er ein starkes Geräusch vernahm, das von dem vergitterten Schaufenster seines Ladens herkam. Er kam noch zu rechter Zeit, um einen Arm zu sehen, der durch die soeben zertrümmerte Vergitterung und die Glasscheibe in den Laden langte und ein Brot herausholte. Isabeau stürzte eilig hinaus, hinter dem Dieb her, der spornstreichs davonrannte, und holte ihn ein. Das Brot hatte der Mann weggeworfen, aber sein Arm war noch ganz blutig. Es war Jean Valjean.

Dies trug sich im Jahre 1795 zu. Jean Valjean wurde wegen nächtlichen Diebstahls mit Einbruch in bewohntem Hause vor Gericht gestellt. Er besaß ein Gewehr, das er trefflich zu brauchen verstand, denn er wilderte gern, was ihm jetzt großen Nachteil brachte. Gegen Wilddiebe besteht ein berechtigtes Vorurtheil. Der Wilddieb ist ebenso wie der Schmuggler, sehr nahe mit dem Räuber verwandt. Indessen trennt diese Leute noch eine weite Kluft von dem abscheulichen Mörder in den Städten. Der Wilddieb lebt im Walde, der Schmuggler im Gebirge oder auf dem Meere. In den Städten kann der Mensch in Folge der Sittenverderbniß blutdürstig werden; im Gebirge, auf dem Meere, im Walde wohl scheu und verschlossen, jedoch ohne stets alle Menschlichkeit abzustreifen.

Jean Valjean wurde schuldig erklärt. Der Wortlaut des Strafgesetzbuches ließ keine mildernde Deutung zu. Unsre Civilisation hat furchtbare Strafen, diejenigen insbesondere, wo kraft eines Richterspruches eine menschliche Existenz Schiffbruch erleidet. Trauervoller Augenblick, wo die Gesellschaft sich abwendet und die nicht wieder gut zu machende Verstoßung eines denkenden Wesens vollzieht! Jean Valjean ward zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurtheilt.

Am 22. April 1796 wurde in Paris der Sieg ausgerufen, den bei Montenotte der Obergeneral der in Italien kämpfenden Armee davon getragen, jener General, den die Botschaft des Direktoriums an den Rath der Fünfhundert Buona-Parte nennt; an demselben Tage wurde im Gefängniß Bicêtre eine große Kette Galeerensträflinge gebildet, in die auch Jean Valjean eingefügt wurde. Ein ehemaliger, jetzt neunzigjähriger Schließer entsinnt sich noch sehr gut jenes Unglücklichen, der in der Nordecke des Hofes angeschmiedet wurde. Er saß, wie alle Andern, auf der Erde. Er schien nicht zu begreifen, was mit ihm vorging; nur dessen wurde er inne, daß es etwas Schreckliches war. Vielleicht hob sich auch von all den unklaren Gedanken, die in seinem armen, unwissenden Hirn herumwirbelten, derjenige etwas deutlicher ab, daß die ihm angethane Grausamkeit alles Maß überschreite. Während ihm hinter dem Kopfe mit kräftigen Hammerschlägen der Bolzen seines Halseisens eingetrieben wurde, weinte er, weinte so heftig, daß es seine Worte erstickte und nur von Zeit zu Zeit stieß er hervor: »Ich war Baumputzer in Faverolles.« Dann hob er, während er weiter schluchzte, die rechte Hand in die Höhe und senkte sie, jedes Mal etwas tiefer wie vorher, als wenn er sie nacheinander auf sieben Kinder verschiedner Größe legen wollte, und aus diesen Handbewegungen schloß man, daß er nur gefehlt hatte, weil er für sieben Kinderchen Nahrung und Kleidung hatte beschaffen wollen.

Er wurde nach Toulon geschickt, wo er nach einer siebenundzwanzigtägigen Reise, die Kette am Halse, auf einem Karren, eintraf. Hier wurde er in die rothe Jacke gesteckt, und sein ganzes Leben, einschließlich seines Namens, ausgelöscht: Er war nicht mehr Jean Valjean, sondern Nummer 24601. Was wurde aus der Schwester und den sieben Kindern? Wer fragt nach so etwas? Was wird aus den paar Blättern des Baumes, den die Säge von seiner Wurzel getrennt hat?

Es ist immer dieselbe Geschichte, die armen Wesen, ihres Ernährers und Führers beraubt, gingen verloren auf dem Wege, auf dem die Menschheit einherwandert. Sie verließen ihre Heimat. Die Kirche, in der sie gebetet, das Feld, auf dem sie gespielt, vergaß sie; Jean Valjean selber vergaß sie nach einigen Jahren. Die Wunde in seinem Herzen vernarbte einfach. Kaum daß er während seiner ganzen Sträflingszeit ein einziges Mal von seiner Schwester Nachricht bekam. Dies geschah, wenn ich nicht irre, zu Ende des vierten Jahres seiner Gefangenschaft. Auf welchem Wege diese Botschaft zu ihm gelangte, weiß ich nicht mehr. Irgend Jemand, der sie beide gekannt hatte, war seiner Schwester begegnet. Sie wohnte in Paris, in einer armseligen Straße bei der Kirche Saint-Sulpice, in der Rue du Geindre. Sie hatte nur noch das jüngste Kind, einen Knaben bei sich. Wo die anderen waren, wußte sie wohl selber nicht. Alle Morgen ging sie in eine Druckerei in der Rue Sabot, wo sie als Falzerin und Hefterin beschäftigt war. Sie mußte um sechs Uhr Morgens da sein, noch ehe im Winter der Tag anbricht. In demselben Gebäude war eine Schule, wo sie jeden Tag ihren siebenjährigen Jungen hinbrachte. Da sie aber um sechs Uhr in die Druckerei mußte und die Schule erst um sieben geöffnet wurde, so wartete das Kind auf dem Hofe eine Stunde lang im Finstern und in der Kälte. In die Druckerei wollte man ihn nicht hereinlassen, weil er im Wege sei. Die Arbeiter sahen des Morgens das arme kleine Wesen, wie es kaum fähig die Augen aufzuhalten vor Müdigkeit, auf dem Pflaster saß, oder über seinen Korb gebeugt, in einer Ecke schlief. Wenn es regnete, erbarmte sich seiner die alte Portierfrau und ließ es herein in ihre armselige Wohnung, wo nur ein schlechtes Bett, ein Spinnrad und zwei Stühle standen. Da schlummerte das Kind in einer Ecke, dicht an die Katze geschmiegt, um nicht so zu frieren. Um sieben Uhr wurde die Schule aufgemacht, und der Kleine konnte hinein. Dies war es, was man Jean Valjean erzählte. Es war der einzige Blick, den er aus seinem Gefängniß auf das Schicksal seiner Lieben werfen durfte; dann hörte er nie wieder von ihnen sprechen.

Gegen Ende des vierten Jahres wurde Jean Valjean die Gelegenheit geboten, zu entspringen. Seine Kameraden halfen ihm, wie dies in einem solchen Ort des Elends gewöhnlich ist. Er entkam und irrte zwei Tage lang frei umher — vorausgesetzt, daß man es Freiheit nennt, wenn Einer wie ein wildes Thier gehetzt wird, jeden Augenblick sich angstvoll umwendet, beim geringsten Geräusch zusammenschrickt, sich vor allem Möglichen fürchtet, vor einem rauchenden Schornstein, einem Menschen, der vorbeigeht, einem bellenden Hunde, einem galloppierenden Pferde, vor dem Stundenschlag der Kirchturmuhr, vor dem Tageslicht, weil er dabei gesehen werden kann, vor der Nacht, weil er dann nichts sieht, vor den Chausseen, den Wegen, den Gebüschen, vor dem Schlaf. Am Abend des zweiten Tages wurde Jean Valjean wieder eingefangen, nachdem er die sechsunddreißig Stunden hindurch weder gegessen noch geschlafen hatte. Das Seetribunal verurtheilte ihn wegen dieses Vergehens zu einer Verlängerung seiner Strafzeit um drei Jahre, so daß er im Ganzen acht Jahre zu verbüßen hatte. Im sechsten Jahre kam die Reihe zu entspringen abermals an ihn. Er machte wieder einen Versuch, gelangte aber nicht einmal ins Freie. Er hatte beim Namensruf gefehlt. Es wurde der übliche Signalschuß abgefeuert, und in der Nacht fand ihn die Runde unter dem Kiel eines im Bau begriffenen Schiffes und nahm ihn trotz seines heftigen Widerstandes fest. Also Flucht und Widersetzlichkeit. Dieser von dem Strafgesetzbuch vorgesehene Fall wurde mit fünf Jahren bestraft. Machte dreizehn Jahre. Im zehnten Jahr kam er wieder an die Reihe, benutzte auch die Gelegenheit, hatte aber wieder keinen Erfolg. Drei Jahr für diesen Versuch. Summa: sechzehn Jahre. Endlich wagte er es im dreizehnten Jahre, wenn ich nicht irre, noch einmal und richtete weiter nichts aus, als daß er nach einstündiger Abwesenheit, wieder dingfest gemacht wurde. Drei Jahre für die vier Stunden, Summa: neunzehn Jahre. Im Oktober 1815 wurde er aus dem Gefängniß entlassen, in das er 1796 eingesperrt worden war, weil er eine Fensterscheibe eingeschlagen und ein Brot gestohlen hatte.

Eine kurze Anmerkung. Es ist das zweite Mal, daß dem Verfasser dieses Buches bei seinen Studien über die Strafgerechtigkeit die Entwendung eines Brodes als Ursache der Vernichtung einer menschlichen Existenz aufstößt, Claude Gueux hatte ein Brod gestohlen, Jean Valjean desgleichen. Laut einem statistischen Bericht ist in vier Fällen unter fünf der Diebstahl eine Folge des Hungers.

Jean Valjean hatte das Gefängniß schluchzend und Verzweiflung im Herzen betreten; als er es verließ, war er ein harter, finstrer Mann geworden.

Was war inzwischen in seiner Seele vorgegangen?

Wie es im Herzen eines Verzweifelten aussieht

Versuchen wir es klar zu legen.

Die Gesellschaft muß dergleichen Dinge ihrer Beachtung würdigen, denn sie giebt ja den Anlaß zu ihrer Entstehung.

Jean Valjean war, wie schon erwähnt, ohne Bildung; aber doch auch kein Dummkopf. Seinem Verstand erleuchtete ein natürliches Licht. Das Unglück, das aufhellend wirkt, verstärkte dieses schon vorhandene Licht. Die Stockschläge, die Last der Kette, die Qualen der Zellenhaft, die Ueberarbeitung, die Härte seiner Lagerstätte zwangen ihn Einkehr in sein Gewissen zu halten und nachzudenken.

Er unterwarf also seinen Fall einer sorgfältigen Prüfung und lud zunächst sich selber vor das Tribunal seines Gewissens.

Als Resultat der Untersuchung ergab sich, daß er kein ungerecht bestrafter Unschuldiger war. Er gestand sich ein, daß er zu weit gegangen, daß er sich etwas Tadelnswerthes hatte zu Schulden kommen lassen. Man hätte ihm das Brod vielleicht nicht abgeschlagen, wenn er darum gebeten hätte. Er konnte warten, bis man es ihm aus Mitleid schenkte, oder er es mit seiner Hände Arbeit verdiente. Der Einwand, daß ein Hungriger nicht warten könne, war auch nicht stichhaltig. Denn es ist selten, das; ein Mensch wörtlich Hungers stirbt. Glücklicher oder unglücklicher Weise kann der Mensch viel aushalten, in moralischer und physischer Hinsicht, ohne zu sterben. Er hätte sich also gedulden sollen, was auch im Interesse der Kinder das Beste gewesen wäre. Es war eine Thorheit, daß er, schwach wie er als Einzelner war, gewaltthätig gegen die Gesellschaft wurde und sich einbildete, der Diebstahl werde ihn aus dem Elend retten. Auf dem Wege, der zur Schande führt, konnte er doch nicht aus dem Elend herauskommen! Kurz er sah ein, daß er nicht recht gethan hatte.

Nun warf er die Frage auf, ob er allein schuld an seinem Unglück sei. Ob das nicht eine bedenkliche Sache war, daß es ihm, einem Arbeiter, an Arbeit, ihm, einem fleißigen Menschen, an Brod gefehlt habe. Ob ferner, nachdem das Vergehen begangen und eingestanden war, die Strafe nicht übertrieben hart ausfiel. Ob das Gesetz nicht zu weit gegangen in der Bestrafung, wie er in seiner Verschuldung. Ob nicht auf der einen Wagschale, derjenigen, auf der die Sühne lag, ein Uebergewicht vorhanden war. Ob nicht die übermäßige Härte der Strafe das Vergehen aufhob und nicht das Verhältnis umkehrte, so daß jetzt die richtende Gewalt die Stelle des Verbrechens einnahm, der Verurtheilte und Schuldige sich als derjenige Theil erwies, dem Unrecht widerfahren war, als Gläubiger, nicht mehr als Schuldner. Ob die Strafe, samt ihren, wegen der Fluchtversuche auferlegten Verschärfungen sich nicht schließlich zu einer Art Attentat des Stärkeren gegen den Schwächern, zu einem Verbrechen der Gesellschaft gegen ein Individuum zuspitzte, zu einem Verbrechen, das sich täglich wiederholte, das neunzehn Jahre lang begangen wurde.

Er fragte sich auch, ob die Gesamtheit das Recht habe, die Folgen der unvernünftigen staatlichen Einrichtungen und der unerbittlichen Härten des Gesetzes dem Einzelnen aufzubürden, und einen armen Teufel in die Enge zu treiben zwischen einem Zuwenig und einem Zuviel, zu wenig Arbeit und zu viel Strafe.

Ob es nicht eine Ungeheuerlichkeit sei, daß die Gesellschaft gerade die vom Zufall am wenigsten Begünstigten so behandle, also gerade diejenigen, die am meisten der Schonung bedürften.

Nachdem er diese Fragen gestellt und gelöst, sprach er das Urtheil über die Gesellschaft.

Es lautete, daß sie seines Hasses schuldig sei.

Er machte sie für sein unglückliches Loos verantwortlich und sagte sich, er werde vielleicht sich nicht bedenken, eines Tages Rechenschaft von ihr zu verlangen. Er erklärte in seinem Innern, es bestehe kein Gleichgewicht zwischen dem Schaden, den er verursacht, und demjenigen, den man ihm, zugefügt hatte. Er zog endlich das Facit, daß seine Bestrafung zwar keine Ungerechtigkeit, wohl aber eine Unbilligkeit war.

Der Groll kann thöricht und abgeschmackt sein, wer erzürnt ist, hat dazu nicht immer einen zulänglichen Grund; aber entrüstet ist man nur, wenn man in irgend einem Punkte Recht hat. Jean Valjean empfand Entrüstung.

Ueberhaupt hatte ihm die Gesellschaft nur Böses zugefügt. Wenn sie ihm ihr Antlitz zukehrte, geschah es nur um Zorn zu bekunden, auf ihn loszuschlagen, was sie »Gerechtigkeit« nannte. Die Menschen hatten sich um ihn nur bekümmert, um ihn zu martern. Bei jeder Berührung mit ihnen fiel ein Schlag auf ihn. Seit seiner Kindheit, seitdem er seine Mutter verloren, seitdem er von seiner Schwester getrennt war, nie war ihm ein freundliches Wort, nie ein wohlwollender Blick gespendet worden. Die endlosen Qualen befestigten in ihm schließlich die Ueberzeugung, das Leben sei ein Kampf, indem er den Kürzeren gezogen habe. Er hatte keine andre Waffe, als seinen Haß. Diese beschloß er im Gefängniß möglichst scharf zu machen und sie mitzunehmen, wenn er in die Welt hinausgehen würde.

In Toulon gab es eine, von den Ignorantinern gehaltne Schule, wo den Sträflingen, die sich freiwillig dazu meldeten, das Notwendigste gelehrt wurde. Jean Valjean nahm an diesem Unterricht theil, und lernte im Alter von vierzig Jahren lesen, schreiben und rechnen. Er hatte die Empfindung, daß eine Stärkung seines Verstandes auch seinen Haß stärken würde. Bildung und Klugheit eignen sich nicht blos zur Förderung des Guten, sondern machen auch das Böse mächtiger.

Leider richtete Jean Valjean nicht nur die Gesellschaft, die schuld an seinem Unglück war; er richtete und verurtheilte auch die Vorsehung, die die Gesellschaft geschaffen.

Auf diese Weise schritt er während seiner neunzehnjährigen Qual und Sklaverei auf dem Wege der Erkenntnis sowohl vorwärts, als auch rückwärts. Auf der einen Seite drang Licht, auf der andern Finsternis in seine Seele.

Jean Valjean, haben wir gesagt, war von Natur nicht schlecht. Als er ins Gefängniß kam, wer er noch gut. Er verurtheilte hier die Gesellschaft und fühlte, daß er bösartig, er verurtheilte die Vorsehung und fühlte, daß er gottlos wurde.

An dieser Stelle ist es schwer, einige Fragen, die sich mit Gewalt vordrängen, zurückzuweisen.

Aendert sich die menschliche Natur so vollständig und von Grund aus? Kann der Mensch, ein Geschöpf Gottes, das von Natur gut ist, durch Menschen in ein schlechtes Wesen umgewandelt werden? Kann die Seele durch die Ungunst des Schicksals ganz und gar umgemodelt werden? Kann das Herz eine Mißbildung erleiden und unter dem Druck eines übermäßigen Unglücks, unheilbar verunstaltet werden, wie das Rückgrat unter einem zu niedrigen Gewölbe? Glimmt nicht in jeder Menschenseele, glimmte nicht in Jean Valjeans Seele ein Funke, ein unzerstörbarer Bestandteil göttlichen Ursprungs, den das Gute beleben, zu strahlendem Glanze anfachen, das Böse aber nie vollständig auslöschen kann?

Die letzte dieser gewichtigen und schwierigen Fragen hätte wohl jeder Physiologe negativ beantwortet, und ohne sich zu bedenken, hätte er zu Toulon in den Ruhestunden, wenn Jean Valjean sich in seine Gedanken vertiefte, ihn gesehen, diesen trübseligen, ernsten, schweigsamen Galeerensklaven, diesen Paria der Gesetze, der auf die Menschen mit Zorn, diesen von der Civilisation Verstoßenen, der zum Himmel mit Unwillen emporblickte.

Sicherlich — wir können es uns nicht verhehlen — würde ein beobachtender Physiologe dieses Uebel für unheilbar erklärt haben; er hätte vielleicht diesen Kranken, der sein Leiden dem Gesetz verdankte, beklagt, aber eine Kur hätte er nicht versucht; er würde seinen Blick von den Abgründen abgewendet, die ihm aus dieser Seele entgegengähnten und wie Dante am Thor der Hölle, für dieses Dasein, das Wort »Hoffnung« ausgestrichen haben, das doch Gottes Finger auf die Stirn jedes Menschen geschrieben hat.

War sich Jean Valjean über seinen Seelenzustand so vollkommen klar, wie unsere Leser, wenn es uns gelungen ist, ihn richtig zu schildern? Erkannte er deutlich nach ihrer Entstehung alle die Stücke, welche die Bestandtheile seines sittlichen Elends bildeten? Hatte sich dieser rohe und unwissende Mensch klare Rechenschaft darüber gegeben, vermöge welcher Reihenfolge von Ideen er zu den öden, trostlosen Anschauungen gelangt war, die seinen geistigen Horizont einengten? War er sich dessen bewußt, was alles in ihm vorgegangen war und sich gegenwärtig in ihm regte? Diese Fragen wagen wir nicht zu beantworten; ja mir glauben, daß es nicht der Fall war. Es steckte zu viel Unwissenheit in Jean Valjean, als daß, selbst nach so viel Leiden, keine Unklarheit in ihm zurückgeblieben wäre. Zeitweise wußte er nicht einmal genau, was er eigentlich empfand. Jean Valjeans Geist war in Finsternis gehüllt und diese Finsternis verschleierte ihm sein Unglück sowohl, wie seinen Haß: Er haßte, sozusagen, blindlings darauf los. Er lebte und webte in diesem Dunkel, in dem er wie ein Blinder und Träumer umhertappte. Von Zeit zu Zeit nur, wenn urplötzlich in seinem Innern der Zorn wild auswallte, oder von außen ein neues Unglück über ihn hereinbrach, flammte in seiner Seele ein Licht auf und zeigte ihm all’ die Schrecknisse des schaurigen Weges, auf dem er vom Schicksal verdammt war, durch dieses Erdenleben zu wandern.

War das Licht erloschen, so umgab ihn wieder finstere Nacht und er wußte nicht mehr, wo er war.

Eine Besonderheit der erbarmungslosen, also verthierenden Strafen besteht darin, daß sie den Menschen dumpf und stumpf machen, ihn verdummen und verwildern, ja bisweilen in ein reißendes Thier verwandeln. Daß in der That eine solche Veränderung einer Menschenseele dem Gesetz auf Rechnung zu setzen ist, beweisen zur Genüge Jean Valjeans wiederholte und hartnäckige Fluchtversuche. Er hätte dieselben, so hoffnungslos und unsinnig sie auch waren, immer wieder erneuert, so oft sich eine Gelegenheit bot, ohne einen Augenblick an die Folgen und die vorigen schlechten Erfahrungen zu denken. Er riß so ungestüm aus, wie der Wolf, der seinen Käfig offen findet. Der Instinkt rief ihm zu: »Lauf weg!« Die Vernunft hätte geboten: »Bleibe hier!« Aber einer starken Versuchung gegenüber schwieg die Ueberlegung und es blieb nur der thierische Instinkt übrig. War der Flüchtling dann wieder eingefangen, so hatten die neuen Strafen nur die Folge, daß sie seinen Sinn noch mehr verwirrten und verstörten.

Noch müssen wir erwähnen, daß ihm an Körperkraft kein einziger seiner Leidensgefährten nahe kam. Galt es ein Tau zu spinnen, eine Winde zu drehen, so leistete Jean Valjean so viel, wie vier Mann zusammengenommen. Er konnte ungeheure Lasten heben und auf dem Rücken tragen und ersetzte gelegentlich eine Wagenwinde. Eines Tages, als der Balcon des Rathhauses zu Toulon reparirt wurde, gab eine der wunderbar schönen Karyatiden von Puget, die jenen Balcon tragen, nach und drohte herunter zu fallen. Da trat Jean Valjean, der gerade zugegen war, heran und hielt die Karyatide mit seinen Schultern fest, bis die Arbeiter kamen.

Seine körperliche Gewandtheit übertraf noch seine Kraft. Manche Zuchthäusler, die unausgesetzt auf Flucht sinnen, bilden die Verbindung der Kraft und Geschicklichkeit zu einer wahren Wissenschaft aus. Tagtäglich wird eine geheimnisreiche Statik von den Gefangenen ausgeübt, die ewig mit Neid an den Flug der Fliegen und der Vögel denken. An einer senkrechten Fläche emporklimmen, Stützpunkte finden, wo ein Andrer kaum eine Unebenheit sieht, war für Jean Valjean ein Spiel. Er brachte es fertig in einer Ecke, indem er seine Rücken- und Kniemuskeln spannte, Ellbogen und Hacken in die schwachen Vertiefungen des Steins stemmte, sich bis zu dem dritten Stock eines Gebäudes hinaufzuziehen. Manchmal hatte er so das Dach des Gefängnisses erreicht.

Er sprach wenig und lachte noch seltner. Es bedurfte einer besondern Erregung, um ihn zum Lachen zu bringen. Dann war es, als höre man den Wiederhall eines grausigen Dämonengelächters. Für gewöhnlich sah er aus, wie wenn er eine schreckliche Erscheinung betrachte.

Dies war auch, im Grunde genommen, der Fall.

Neben den krankhaften Einbildungen, die ihm sein unausgebildeter und geängstigter Verstand vorspiegelte, drängte sich ihm die Vorstellung auf, daß etwas Ungeheuerliches auf ihm laste. In dem geistigen Halbdunkel, in dem er umherkroch, sah er jedes Mal, wenn er den Hals umwendete und den Blick emporrichtete, mit Wuth und Schrecken Gesetze, Vorurtheile, Menschen und Thatsachen zu einem unendlich hohen, grausig steilen Berge aufgeschichtet, dessen Umrisse sich seinem Blick entzogen, dessen Umfang ihn entsetzte, und der nichts Andres war, als was wir die Civilisation nennen. In diesem formlosen Wirrwarr unterschied er, bald in der Nähe, bald in der Ferne und auf unnahbaren Höhen, irgend eine lebhaft beleuchtete Gruppe oder Einzelerscheinung, wie den Profoß mit seinem Stock, den Gendarmen mit seinem Säbel, den Erzbischof mit der Mitra und ganz oben, von grellem Licht Übergossen, den Kaiser mit der Krone auf dem Haupte. Ihm däuchte, diese fernen Glanzgestalten machten die Nacht um ihn, statt sie zu erhellen, noch grausiger und dunkler. Alles dies, Gesetze, Vorurtheile, Thatsachen, Menschen, Institutionen, bewegte sich über ihm hin und her, nach jenen verwickelten und geheimnisvollen Gesetzen, die Gott der Civilisation vorgeschrieben hat, schritt über ihn hinweg und erdrückte ihn, ruhevoll und gemüthlich bei all seiner Grausamkeit und herzlosen Gleichgiltigkeit.

Was für Betrachtungen mochte wohl Jecin Valjean anstellen, wenn er über sein Verhältnis zur Welt nachdachte? Doch wohl Betrachtungen ähnlicher Natur, wie die eines Getreidekornes zwischen zwei Mühlsteinen, wenn ein Getreidekorn denken könnte.

Das Durcheinander von Spuk und Wirklichkeit hatte schließlich seinen Geist in einen absonderlichen Zustand versetzt.

Von Zeit zu Zeit hielt er plötzlich mitten in der Arbeit inne und fing an zu grübeln. Seine Vernunft, die im Laufe der Zeit zugleich reifer geworden und an Klarheit verloren hatte, empörte sich. Alles, was ihm widerfahren war, kam ihm sinnlos, was ihn umgab, unmöglich vor. Er dachte bei sich: »Es ist ein Traum.« Er sah dicht in seiner Nähe den Profoß und hielt ihn für ein Phantom, aber plötzlich erhielt er einen Stockschlag von dem Phantom.

Die sichtbare Natur existirte kaum für ihn. Man könnte beinah behaupten, daß es für Jean Valjean keinen Sonnenschein, keine schönen Sommertage, keine kühle Morgenröthe gab. Seine Seele befand sich, so zu sagen, in einer Art Kellerdämmerung.

Um schließlich das Gesagte, so weit dies angeht, kurz zusammenzufassen, konstatieren wir, daß Jean Valjean, ein harmloser Baumputzer in Faverolles, ein gefährlicher Zuchthäusler in Toulon, dank dem neunzehnjährigen Aufenthalt im Gefängniß, jetzt im Stande war, zweierlei Arten von Schlechtigkeiten zu begehen. Erstens eine rasch beschlossene, unüberlegte, instinktiv schlechte Handlung, eine Art Rache für erduldetes Leid; zweitens eine vorbedachte, aus den falschen Begriffen des Unglücks abgeleitete. Seine Entschlüsse durchliefen nach einander die drei Stadien, die nur gewisse Naturen durchmachen: Ueberlegung, Wille, Eigensinn. Seine Beweggründe waren gewohnheitsmäßige Entrüstung, Verbitterung, Auflehnung gegen die ganze Menschheit, auch gegen die Guten, Schuldlosen und Gerechten, — wenn es solche giebt. Der Ausgangs- und Anfangspunkt aller seiner Gedanken war der Haß gegen das von Menschen gemachte Gesetz; dieser Haß artet, wenn er nicht durch irgend ein, von der Vorsehung gewolltes Ereigniß in seiner Entwickelung gehemmt wird, in Haß gegen die Menschheit überhaupt, dann gegen die Thiere aus und giebt sich kund durch ein instinktives, unaufhörliches, bestialisches Verlangen, irgend einem lebenden Wesen zu schaden. Also bezeichnete Jean Valjeans Paß ihn nicht ohne Grund als einen sehr gefährlichen Menschen.

Von Jahr zu Jahr war sein Herz langsam, aber mit Notwendigkeit allmählich vertrocknet, und ebenso seine Augen. Als er das Gefängniß verließ, waren es neunzehn Jahre her, daß er eine Thräne geweint hatte.

Ein Mann über Bord!

Ein Mann über Bord!

Wer kehrt sich daran? Das Schiff bleibt nicht stehen. Der Wind treibt es weiter, und es muß seinen Weg fortsetzen. Es fährt vorbei.

Der Mann verschwindet in den Wellen und taucht wieder empor. Er ruft, streckt die Arme aus. Niemand hört ihn. Matrosen und Passagiere denken nur an den Sturm, der das Schiff erbarmungslos schüttelt. Keiner sieht den Verlornen, sein unglückliches Haupt ist nur ein Punkt in der unendlichen Wasserwüste.

Wie grauenvoll ist für ihn der Anblick jenes Segels, das vor ihm flieht! Er stiert ihm nach mit der ganzen Kraft seiner Augen. Aber wehe! Es wird kleiner, immer kleiner. Eben noch war er mit den andern Matrosen auf dem Deck und hatte Theil am Leben und am Licht. Und jetzt! Er glitt blos aus, er fiel, und nun ist es vorbei mit ihm.

Jetzt ist er ein Spielball der Fluthen. Sie weichen und gleiten unter ihm dahin, steigen empor und umtosen ihn, spritzen ihre Gischt auf ihn, wirbelten ihn herum, tauchen ihn unter und zeigen ihm die Finsternisse der Tiefe, umstricken seine Füße mit unentwirrbaren, unbekannten Gewächsen, dringen durch alle Poren, durch Mund und Nase in ihn hinein und wetteifern ihn zu verhöhnen, zu verderben.

Wohl wehrt er sich gegen ihren Haß. Er bietet alle seine schwachen Kräfte auf, die unerschöpflichen Naturgewalten zu bekämpfen. Er schwimmt.

Wo ist denn das Schiff? Da hinten, kaum noch sichtbar im fahlen Dämmerlicht des Horizonts.

Der Sturm rast weiter, die Fluthen dringen stärker auf ihn ein. Er richtet die Augen empor und sieht nur noch die fahlen Wolken.

Es fliegen wohl Vögel über dem unendlichen Wasserschwall, wie die Engel einherschweben über all der Noth des Erdendaseins; aber was können sie thun, ihm zu helfen? Das fliegt, steigt und zwitschert, und er, er stöhnt und seufzt.

Jetzt bricht die Nacht herein. Stundenlang schwimmt er schon; seine Kräfte gehen zu Ende. Das Schiff, das Ding, in dem Menschen waren, ist verschwunden. Er ist allein in der grauenvollen, dämmrigen Oede. Er sinkt. Er hebt sich, windet und krümmt sich. Er fühlt unsichtbare Mächte, die ihn hinabreißen wollen, und ruft.

Menschen sind nicht da. Wo ist Gott?

Er ruft. Um ihn und über ihm ist nur der Raum, das Wasser, Algen, Klippen, der Himmel; aber die sind alle taub und stumm.

Da packt ihn die Verzweiflung. Des unnützen Kampfes müde, entschließt er sich zu sterben und versinkt in die Tiefe der Vernichtung.

Diesem Manne, der hilflos auf dem Meere untergeht, gleicht auch der Unglückliche, den das erbarmungslose Gesetz zu geistiger und moralischer Vernichtung verdammt.

Auch die Seele, die, von der Gesellschaft über Bord geworfen, sich selbst überlassen bleibt, kann ihr Leben verlieren, und wer wird sie wieder erwecken?

Neue Mißhandlungen

Als Jean Valjean das Zuchthaus verlassen durfte, als er die sonderbaren Worte vernahm: »Du bist frei!« durchbebte ihn ein unsägliches Wonnegefühl, und ihm war, als dringe endlich ein Strahl belebendes Licht tief in ihn hinein. Aber es währte nicht lange, so verblaßte der Schein. Der Gedanke an die Freiheit hatte ihn entzückt, er hatte gewähnt, nun beginne für ihn ein neues Leben. Bald aber merkte er, was für eine Freiheit das ist, die einen gelben Paß mitbekommt.

Die neuen Erfahrungen begannen schon im Zuchthaus selber. Nach seiner Berechnung mußte sich sein ersparter Verdienst aus hundertundeinsiebzig Franken belaufen. Freilich hatte er die Sonn- und Festtage abzuziehen vergessen, was einen Abzug von ungefähr vierundzwanzig Franken bedeutete. Wie dem aber auch sei, es wurden ihm noch andre Abzüge gemacht, soviel, daß er schließlich nur hundertundneun Franken fünfzehn Sous ausgezahlt bekam.

Er hatte diese Berechnung nicht verstanden und meinte, ihm sei Unrecht geschehen, oder um es ohne Umschweife zu sagen, er wäre geprellt worden.

An dem Tage, nachdem er in Freiheit gesetzt worden war, sah er in Grasse vor einer Destillation Leute, die Waarenballen abluden. Er bot seine Dienste an, und da die Arbeit drängte, wurde er ohne Weiteres engagirt, Er griff tapfer zu und sein Arbeitgeber schien mit ihn zufrieden zu sein. Da kam ein Gendarm des Weges, sah ihn und fragte nach seinen Papieren. Er mußte also seinen gelben Paß vorlangen. Dann machte er sich wieder an die Arbeit. Kurz zuvor hatte er einen von den Arbeitern gefragt, wieviel sie bei dieser Beschäftigung pro Tag verdienten. »Dreißig Sous«, lautete der Bescheid. Am Abend meldete er sich, da er genöthigt war, am nächsten Morgen in aller Frühe weiter zu marschieren, bei seinem Arbeitgeber und bat um Bezahlung. Dieser sprach kein Wort und gab ihm nur fünfzehn Sous. Er protestirte, erhielt aber die Antwort: »Für so Einen, wie Dich, ist’s genug.« Er wollte sich sein Recht nicht nehmen lassen. Da sah ihn der Destillateur scharf an und sagte: »Möchtest Du denn wieder ins Zuchthaus zurück?«

Auch hier konnte er sich als geprellt betrachten.

Hatte ihn der Staat, die Gesellschaft im Großen betrogen, so wurde er jetzt im Kleinen benachteiligt.

Die Entlassung bedeutete noch nicht die Freiheit. Kommt man aus dem Zuchthaus heraus, so hat man damit noch nicht die Verurtheilung abgeschüttelt.

So war es ihm in Grasse ergangen. Weiter oben haben wir gesehen, wie er in Digne aufgenommen worden war.

Das Erwachen

Also als die Domuhr zwei schlug, erwachte Jean. Er erwachte, weil das Bett zu gut war. Nahe an zwanzig Jahre waren dahingegangen, seitdem er in einem Bett geschlafen, und obschon er sich nicht ausgekleidet hatte, war die Empfindung doch zu neu, als daß sie nicht seinen Schlaf hätte stören sollen.

Er hatte etwas über vier Stunden geschlummert. Seine Müdigkeit war vergangen. Es lag nicht in seiner Art, viel Zeit mit Schlafen hinzubringen.

Er machte die Augen auf und ließ seine Blicke im Dunkeln um sich herumschweifen, dann schloß er sie, um wieder einzuschlafen.

Wenn den Tag über vielerlei Gedanken und Gefühle den Geist bestürmt haben, kann man am Abend wohl einschlafen; erwacht man aber, so ist dies nicht mehr möglich. Das erste Mal kommt der Schlaf leichter, als das zweite. Diese Erfahrung machte jetzt auch Jean Valjean. Er konnte nicht wieder einschlafen und fing an nachzudenken.

Er befand sich in einer Gemüthsverfassung, wo man nur verworrener Gedanken fähig ist. In seinem Hirn schwirrte alles hin und her und durcheinander; Altes und Neues nahm die mannigfaltigsten Gestalten und Proportionen an und verschwand dann wieder eben so rasch. Aber unter den vielen Gedanken, die seinen aufgeregten Geist beschäftigten, war einer, der sich beständig in den Vordergrund drängte und alle andern verscheuchte. Es war dies, um es sogleich zu sagen, die Erinnerung an die sechs silbernen Bestecke und den großen silbernen Löffel, die Frau Magloire auf den Tisch gebracht hatte.

Dieses Silbergeschirr ließ ihm keine Ruhe. Es war da. In seiner nächsten Nähe. In dem Augenblick, wo er durch das Zimmer nebenan hindurchgekommen, hatte es die alte Magd in den Wandschrank, neben dem Kopfende des Bettes, gelegt. Diesen Schrank hatte er sich gut gemerkt. Rechts, vom Speisezimmer aus. Massives Silber. Und altes Silber. Man würde mindestens zweihundert Franken dafür kriegen.

Eine ganze Stunde sann er so hin und hei, denn er gab sich einige Mühe, des bösen Gedankens Herr zu werden. Als es drei Uhr schlug, öffnete er die Augen wieder, richtete sich auf, tastete nach seinem Tornister, den er in eine Ecke des Alkovens gestellt hatte und blieb dann auf dem Bett sitzen.

In dieser Haltung verharrte er einige Zeit, und wer ihn gesehen hätte, in diesem stillen Hause, wo Alles schlief, der hätte sich schwerlich eines Schauders erwehren können. Plötzlich bückte er sich, zog seine Schuhe aus und stellte sie leise auf die Strohmatte, die vor dem Bett lag, richtete sich wieder empor und fuhr in seiner Grübelei fort.

Der abscheuliche Gedanke ließ sich nicht bannen. Er kam, ging, kam wieder; daneben aber hielt ihm seine Phantasie maschinenmäßig und mit unerklärlicher Hartnäckigkeit das Bild eines ehemaligen Leidensgefährten, Namens Brevet, vor die Seele. Dieser Brevet hatte Hosenträger mit nur einem Tragband, und das Mäandermuster dieses Tragbands tauchte beständig vor Jean Valjeans innern Augen auf.

So hätte er vielleicht noch bis Tagesanbruch regungslos dagesessen, wenn die Uhr nicht geschlagen hätte, ein Viertel oder halb. Ihm war, als hieße das: »Vorwärts!«

Er stand auf, zögerte noch einen Augenblick und horchte. Alles war still im Hause. Nun ging er mit kurzen Schritten gerade auf das Fenster zu. Die Nacht war nicht sehr dunkel; am Himmel schien der Vollmond, nur daß er ab und zu durch die vom Winde gejagten Wolken verdeckt wurde. Es fiel also in das Zimmer, auch wenn es draußen am dunkelsten war, noch ein dämmriges, fahles Licht, bei dem man die Gegenstände deutlich genug erkennen konnte. Am Fenster angelangt, sah Jean Valjean es genau an. Es war nicht vergittert, ging nach dem Garten hinaus und war, wie es dort zu Lande üblich ist, nur leicht verklinkt. Er öffnete es, aber da plötzlich ein kalter Luftzug in das Zimmer drang, machte er es eiligst wieder zu. Dann überschaute er aufmerksam den Garten. Eine weiße Mauer ringsherum, die ganz niedrig und leicht zu ersteigen war. Im Hintergrunde, jenseit der Mauer, gleichweit von einander abstehende Baumkronen, also war dort eine Allee oder eine mit Bäumen bepflanzte Straße.

Nach Beendigung dieser Umschau machte er eine entschlossene Bewegung, kehrte in seinen Alkoven zurück, wühlte in seinem Tornister, entnahm ihm einen Gegenstand, den er auf das Bett legte, steckte seine Schuhe in eine von seinen Taschen, schnallte den Tornister wieder zu, lud ihn sich auf den Rücken, setzte seine Mütze auf, zog den Schirm tief herab, tappte sich zu der Ecke hin, wo sein Stock stand und stellte ihn an das Fenster, kam dann wieder zu dem Bett zurück und ergriff entschlossen den Gegenstand, den er vorhin dort hingelegt hatte. Es sah aus wie eine kurze, an dem einen Ende spießartig zugespitzte Eisenstange.

In der Dunkelheit wäre es schwer gewesen zu erkennen, wozu dieses Eisen wohl dienen könne. Ob es ein Hebel war? Oder eine Keule?

Beim Tageslicht hätte man gesehen, daß es ein von Bergleuten gebrauchtes Werkzeug war. Das spitze Ende war dazu bestimmt, in die Felsen gebohrt zu werden und das Gestein loszubrechen. Zu dieser Arbeit verwendete man auch die Sträflinge in Toulon.

Jean Valjean nahm dieses Eisen in die rechte Hand und schlich mit verhaltnem Athem und leisen Schrittes auf die Thür zu, die in das Schlafzimmer des Bischofs führte. Sie stand halb offen. Der Bischof hatte sie nicht verschlossen.

Was er that

Jean Valjean horchte. Kein Geräusch.

Er stieß die Thür an.

Mit dem Ende des Fingers, leicht, so leise und ängstlich, wie eine Katze.

Die Thür gab dem Druck nach und wich geräuschlos etwas zurück.

Er wartete einen Augenblick, stieß dann wieder die Thür an, dies Mal dreister.

Sie gab abermals ohne Geräusch nach. Die Oeffnung war jetzt so weit, daß er hindurch gekonnt hätte. Aber neben der Thür, so daß er den Eingang versperrte, stand ein kleiner Tisch.

Jean Valjean erkannte die Schwierigkeit. Die Oeffnung mußte durchaus erweitert werden.

Er entschloß sich kurz und stieß wieder die Thür an, kräftiger, als die beiden ersten Male. Aber dieses Mal kreischte eine schlecht geölte Thürangel.

Jean Valjean erschrak. Das Geräusch klang seinem Ohr so scharf und furchtbar, wie die Posaune des jüngsten Gerichts.

In dem ersten Augenblick, wo der Schreck ihm alles phantastisch vergrößerte, bildete er sich beinahe ein, die Thürangel sei ein belebtes Wesen geworden, das bellen würde, wie ein Hund, um die Schläfer zu wecken und Hilfe herbeizurufen.

Er blieb stehen, zitternd vor Angst, und fiel auf seine Fersen zurück. Das Blut hörte er in seinen Schläfen hämmern und seinen Athem mit der Gewalt eines Sturmes aus seiner Brust herauskommen. Es dünkte ihm unmöglich, daß der schreckliche Lärm nicht das ganze Haus in seinen Grundfesten erschüttert haben sollte, wie ein Erdbeben. Der Alte würde auffahren, die Frauen ein Geschrei erheben; dann mußte Hülfe kommen, und in höchstens einer Viertelstunde war die Stadt in Aufruhr, die Gendarmerie auf den Beinen. Er hielt sich für verloren.

Er blieb stehen, wo er war, starr wie eine Bildsäule, regungslos.

So verstrichen einige Minuten. Die Thür war weit aufgegangen. Er wagte es endlich, einen Blick in das Zimmer zu werfen. Nichts hatte sich geregt. Er lauschte. Alles war still im Hause. Das Geknarr der verrosteten Thürangel hatte Niemand aufgeweckt.

Die erste Gefahr war vorbei, aber noch tobte ein heftiger Tumult in seinem Innern. Trotzdem ging er nicht zurück, so wenig, wie im ersten Augenblick, wo er geglaubt hatte, alles sei verloren. Entschlossen wollte er ein Ende machen. Er that einen Schritt vorwärts und befand sich in dem Zimmer.

Hier unterschied das Auge verworrene, unbestimmte Gegenstände, in denen man am Tage auf dem Tisch verstreute Papiere, offene Folianten, Bücher, einen Lehnstuhl, auf dem Kleidungsstücke lagen, einen Betstuhl erkannt hätte, die aber jetzt sich nur als dunkle Winkel und Ecken, oder weiße Flächen darstellten. Vorsichtig schritt Jean Valjean weiter, indem er es sorgfältig vermied, an die Möbel anzustoßen. Im Hintergrunde ließ sich der gleichmäßige Athem des Bischofs vernehmen, der fest schlief.

Plötzlich blieb Jean Valjean stehen. Er sah dicht vor sich das Bett. Er war dort früher angelangt, als er geglaubt hatte.

Die Natur scheint bisweilen in den Gang der menschlichen Handlungen eingreifen, in entscheidungsvollen Augenblicken uns warnen, zum Nachdenken zwingen zu wollen. So zertheilte sich, gerade, als Jean Valjean vor dem Bett stehen blieb, eine große Wolke, die seit einer halben Stunde den Himmel verdunkelte, so zu sagen mit Zweck und Absicht, und das Mondlicht überfluthete plötzlich das blasse Gesicht des Bischofs, der friedlich schlummerte. Er trug im Bett, wegen der Kälte, die des Nachts in den Unteralpen herrscht, ein braunwollenes Hemd, dessen Aermel bis zu den Handgelenken hinabreichten. Sein Kopf war nach oben gewendet; die mit dem Bischofsring geschmückte Hand hing aus dem Bett heraus. Aus allen Zügen seines edlen Antlitzes leuchtete klare Heiterkeit, Hoffnung, Seelenfriede, als schaue er im Schlafe den Himmel. Und ein Himmel war es ja auch, der sich auf seinem Antlitz abspiegelte: Sein Gewissen.

In dem Augenblick, wo sich das Mondlicht mit dieser innern Klarheit paarte, war der schlafende Bischof wie von einem Glorienschein umwoben. Aber dieses Licht war ein mildes, gedämpftes und die Umgebung, der Mond am Himmel, die schlummernde Landschaft, die Stille des Hauses standen in feierlich harmonischem Einklang mit dem majestätischen Anblick, den der hehre Greis in seinem kindlich festen Schlafe den Augen des Betrachters darbot.

Jean Valjean, der nie Aehnliches gesehen, dem eine solche friedfertige Sorglosigkeit unfaßbar war, starrte unbeweglich, mit Erstaunen, auf den Schlafenden. Er war empfänglich für das Erhabene, das Schöne, und seine Haltung sowohl, wie seine Mienen verriethen, daß dieses Schauspiel einen tiefen Eindruck auf sein Gemüth machten. Aber welches seine Gedanken waren, ließ sich nicht muthmaßen. Er konnte ebenso gut überlegen, ob er dem Greise den Schädel einschlagen, oder ihm die Hand küssen solle.

Nach einer kurzen Weile nahm er mit der linken Hand seine Mütze ab und ließ sie ebenso langsam wieder sinken. Dann versank er wieder in die Betrachtung des unerklärlichen Schauspiels, die Mütze in der linken, die eiserne Stange in der rechten Hand.

Plötzlich stülpte er die Mütze wieder auf den Kopf, ging hastig, ohne den Bischof anzusehen, das Bett entlang, auf den Wandschrank zu und setzte das Eisen an, um das Schloß aufzubrechen. Da bemerkte er, daß der Schlüssel darin steckte, schloß den Schrank auf, nahm den Korb mit dem Silberzeug heraus, ging mit raschem Schritt und ohne Obacht zu geben, ob er auch keinen Lärm machte, auf die Thür zu, in das Betzimmer zurück, riß das Fenster auf, packte seinen Stock, schwang sich über die Brüstung, steckte das Silberzeug in seinen Tornister, warf den Korb weg, rannte durch den Garten, sprang wie ein Tiger über die Mauern und eilte davon.

Der Bischof bei der Arbeit

Beim Sonnenaufgang, als der Bischof in seinem Garten spazieren ging, kam Frau Magloire mit verstörtem Gesicht herbeigeeilt.

»Bischöfliche Gnaden, wissen Bischöfliche Gnaden, wo der Korb mit dem Silbergeschirr ist?«

»Ja«, sagte der Bischof.

»Gott und der Heiland sei gepriesen! Ich wußte nicht, wo er hingekommen war.«

Der Bischof hatte den Korb auf einem Beet gefunden und reichte ihn jetzt der Magd.

»Hier ist er.«

»Ja, wo ist denn aber das Silberzeug?«

»Ach, das Silbergeschirr wollen Sie haben? Ja, wo das ist, weiß ich nicht.«

»Herr des Himmels, es ist gestohlen! Der Fremde hat es gestohlen!«

Im Handumdrehen eilte die flinke Alte in das Betzimmer und den Alkoven, und wieder zu ihrem Herrn zurück. Der Bischof stand gebückt und betrachtete seufzend eine Staude Löffelkraut, die unter dem Korb zerknickt worden war. Bei dem Geschrei, das Frau Magloire erhob, richtete er sich auf.

»Bischöfliche Gnaden, der Mann ist fort! Das Silber ist gestohlen.«

Zu gleicher Zeit fiel ihr Blick auf eine Ecke des Gartens, wo aus der Zinne der Mauer ein Stück abgebrochen war.

»Da, sehen Sie! Da ist er hinübergeklettert, in die Rue Cochefilet! O diese Schändlichkeit! Er hat uns unser Silberzeug gestohlen!«

Der Bischof verharrte eine Weile in seinem Stillschweigen; dann richtete er seine ernsten Augen auf Frau Magloire und fragte mit sanfter Stimme:

»Gehörte denn das Silber uns?«

Frau Magloire war sprachlos. Wieder trat eine Pause ein, dann hob der Bischof wieder an:

»Frau Magloire, dieses Silberzeug habe ich mit Unrecht und viel zu lange zurückbehalten. Es gehörte den Armen. Unser Gast war doch gewiß ein Armer.«

»Du lieber Himmel! Ich sage es ja nicht meinetwegen und nicht wegen dem gnädigen Fräulein. Uns ist es ja egal. Aber Bischöfliche Gnaden! Woraus sollen denn Bischöfliche Gnaden jetzt speisen?«

Der Bischof sah sie erstaunt an.

»Als wenn es keine zinnernen Bestecke gäbe!«

Frau Magloire zuckte die Achseln.

»Zinn riecht schlecht.«

»Dann kaufen wir eiserne.«

»Eisernes Geschirr hinterläßt einen Nachgeschmack.«

»Gut, dann nehmen wir hölzerne.«

Gleich darauf frühstückte er an demselben Tische, an den sich am Abend zuvor Jean Valjean gesetzt hatte, und während seine Schwester schwieg und Frau Magloire brummte, bemerkte er vergnügt, es bedürfe keines Löffels und keiner Gabel, auch keiner hölzernen, um ein Stück Brod in Milch zu tauchen.

»Nein, so was!« brummte Frau Magloire, während sie im Zimmer hantierte. »Einen solchen Menschen bei sich zu beherbergen! Und so dicht neben sich! Ein wahres Glück, daß er blos gestohlen. Erbarmen! Wenn man denkt, was hätte passieren können!«

Eben wollte der Bischof und seine Schwester sich von der Tafel erheben, als an die Thür geklopft wurde.

»Herein!« rief der Bischof.

Die Thür that sich auf und vier Menschen erschienen auf der Schwelle. Drei davon waren Gendarmen, die den Vierten, Jean Valjean, beim Kragen gepackt hielten. Auch ein Gendarmerie-Wachtmeister war zugegen. Er trat vor und salutierte militärisch den Bischof.

»Ew. Bischöfliche Gnaden« … begann er. Bei diesen Worten stutzte Jean Valjean, der düster und niedergeschlagen schien:

»Ew. Bischöfliche Gnaden! Dann ist es ja nicht der Pfarrer!«

»Maul gehalten!« herrschte ihn ein Gendarm an.

Unterdessen hatte sich der Bischof erhoben und kam, so rasch es ihm sein hohes Alter gestattete, heran.

»Ah! Da sind Sie!« sagte er zu Jean Valjean. »Das freut mich. Aber sagen Sie mal, ich hatte Ihnen die Leuchter auch geschenkt. Die sind gleichfalls von Silber und ihre zweihundert Franken wert. Warum haben Sie die nicht auch mitgenommen, so gut wie Ihre Bestecke?«

Jean Valjean riß die Augen weit auf und betrachtete den ehrwürdigen Bischof mit Empfindungen, die keine Sprache wiedergeben kann.

»Also, Bischöfliche Gnaden, ist es wahr, was der Mann zu uns gesagt hat? Wir sind ihm begegnet. Er sah aus wie Einer, der was begangen hat. Da haben wir ihn angehalten und visitiert. Er hatte dieses Silbergeschirr.«

»Und er hat Ihnen gesagt,« fiel der Bischof ein, »daß ein alter Priester es ihm geschenkt hat, bei dem er übernachtete. Ich verstehe schon. Und Sie haben ihn hierher gebracht? Ja ja! Aber Sie haben Sich geirrt.«

»Also,« fragte der Wachtmeister, »können wir ihn laufen lassen?«

»Ohne Zweifel!«

Die Gendarmen ließen Jean Valjean los, der zurücktrat.

»Also darf ich wirklich gehen?« sagte er mit fast unartikulierter Stimme und als wäre er im Schlafe.

»Na, kannst Du denn nicht hören? Gewiß kannst Du gehen,« bestätigte einer der Gendarmen.

»Guter Freund,« fuhr jetzt der Bischof wieder fort. »Hier, ehe Sie gehen, nehmen Sie die Leuchter.«

Er holte die beiden silbernen Leuchter von dem Kaminsims und überreichte sie Jean Valjean. Die beiden Frauen sahen ihm dabei zu, ohne mit einem Wort, einer Gebärde, einem Blick Einspruch zu erheben.

Jean Valjean zitterte an allen Gliedern. Er nahm mechanisch und mit irren Blicken die Leuchter in Empfang.

»Und nun gehen Sie in Frieden!« sagte der Bischof. »Noch Eins. Wenn Sie wiederkommen, lieber Freund, brauchen Sie nicht durch den Garten zu gehen. Die Straßenthür ist Tag und Nacht nur zugeklinkt.«

Und zu den Gendarmen gewendet, sagte er:

»Meine Herren, ich halte Sie nicht länger auf.«

Die Gendarmen entfernten sich.

Jean Valjean stand da wie Einer, der im Begriff ist ohnmächtig zu werden.

Der Bischof trat nahe an ihn heran und sprach leise: »Vergessen Sie nicht, vergessen Sie niemals, daß Sie mir versprochen haben, Sie wollten das Geld dazu gebrauchen, ein ehrlicher Mann zu werden.«

Jean Valjean, der sich nicht entsann, irgend ein Versprechen gegeben zu haben, fand kein Wort der Erwiedrung. Der Bischof hatte mit Nachdruck gesprochen. Er fuhr jetzt in feierlichem Tone fort.

»Lieber Bruder Jean Valjean, Sie gehören nicht mehr dem Geist des Bösen, sondern des Guten. Ich kaufe Ihnen hiermit Ihre Seele ab, entziehe sie den schlimmen Gedanken und weihe sie Gott.«

Der kleine Gervais

Jean Valjean eilte aus der Stadt hinaus, als hätte er Verfolger auf den Fersen, ins Freie, auf den Wegen und Pfaden, die sich ihm gerade darboten, ohne zu merken, daß er jeden Augenblick eine Strecke wieder zurückging. So irrte er den ganzen Vormittag umher, ohne zu essen und Hunger zu fühlen. Eine Menge neuer Empfindungen erhielten ihn in der heftigsten seelischen Aufregung. Er empfand zunächst eine Art Aerger, ohne zu wissen gegen wen. Auch hätte er nicht angeben können, ob er gerührt sei oder sich gedemüthigt fühle. Hin und wieder überkam ihn eine weichere Stimmung, gegen die er indeß ankämpfte mit seiner im Laufe von neunzehn Jahren zur Gewohnheit gewordnen Herzenshärte. Die Festigkeit der Ueberzeugungen, die Unglück und Ungerechtigkeit in ihm gezeitigt hatten, und seine finstre Entschlossenheit zum Bösen war erschüttert, und er fragte sich, wie er sie stützen werde. Manchmal wünschte er, die Gendarmen hätten ihn wieder ins Zuchthaus abgeführt, und daß es anders gekommen wäre; das hätte ihn nicht so erregt. Außerdem quälten ihn noch Erinnerungen an seine Kindheit, die durch den Anblick der Herbstblumen in den Hecken in ihm geweckt wurden. Wie lange war es her, daß er an diese Zeit nicht mehr gedacht hatte!

So häuften sich in seinem Geiste den ganzen Tag über unsäglich viele, ihm unverständliche Gefühle und Gedanken.

Als die Sonne zur Rüste ging, und schon die windzigsten Steinchen lange Schatten warfen, saß Jean Valjean hinter einem Strauch auf einer großen, öden Ebene. Am Horizont sah man nur die Alpen. Weit und breit nicht einmal ein Kirchthurm. Jean Valjean mochte ungefähr zwölf Kilometer von Digne entfernt sein. Einige Schritte von dem Strauch, wo er saß, war ein Fußsteig, der die Ebene durchquerte.

Während er hier sich mit seinen bösen Gedanken herumschlug, hörte er plötzlich fröhlichen Gesang.

Den Pfad entlang kam ein etwa zehnjähriger Knabe, ein Savoyarde mit dem üblichen Leierkasten und Murmelthier, einer von jenen gutmüthigen und vergnügten Jungen, die in zerlumptem Aufzuge von Land zu Land wandern.

Während er sang, unterbrach der Kleine von Zeit zu Zeit seinen Marsch und spielte Knöchelchen mit einigen Geldstücken, die wahrscheinlich sein ganzes Vermögen ausmachten. Darunter befand sich auch ein Zweifrankenstück.

Der Kleine blieb, ohne Jean Valjean zu bemerken, neben dem Strauch stehen und warf die Geldstücke, die er bisher immer sehr geschickt mit dem Rücken der Hand gefangen hatte, wieder in die Höhe.

Aber dies Mal entwischte ihm das Zweifrankenstück und rollte bis zu der Stelle hin, wo Jean Valjean saß. Dieser setzte den Fuß darauf.

Indessen war der Kleine dem Geldstück mit dem Blicke gefolgt und hatte ihn bemerkt.

Er that nicht verwundert und ging gerade auf ihn zu.

Es war eine vollständig menschenleere Gegend. So weit die Blicke reichten, weder in der Ebene noch auf dem Pfade war Jemand zu sehen. Man hörte nur das schwache Geschrei einer Schaar Zugvögel, die hoch oben am Himmel vorüberzogen. Der Kleine stand da, den Rücken der Sonne zugewendet, die sein Haar goldig durchflutete und Jean Valjeans grimmiges Gesicht blutroth bestrahlte.

Mit der aus Unkenntnis der Menschen und Unschuld zusammengesetzten Vertrauensseligkeit der Kindheit bat der Savoyarde: »Bitte um mein Zweifrankenstück.«

»Wie heißt Du?« fragte Jean Valjean.

»Der kleine Gervais.«

»Mach, daß Du fortkommst!«

»Geben Sie mir mein Zweifrankenstück wieder.«

Jean Valjean senkte den Kopf und antwortete nicht.

Der Kleine fing wieder an:

»Mein Zweifrankenstückl«

Jean Valjeans Augen blieben zur Erde gesenkt.

»Mein Zweifrankenstückl Mein Geld! Mein Geld!« schrie der Junge wieder.

Es war, als hörte Jean Valjean nicht. Der Kleine packte ihn am Kragen, schüttelte ihn und quälte sich, den groben, eisenbeschlagnen Schuh, der auf sein Geldstück drückte, wegzuschieben.

»Ich will mein Geld wiederhaben!«

Der Kleine weinte. Da hob Jean Valjean den Kopf wieder empor, blieb aber sitzen. Seine Augen waren trübe. Er betrachtete den Knaben mit einer Art Verwundrung, griff nach seinem Stock und schrie mit fürchterlicher Stimme: »Wer ist da?«

»Ich!« antwortete der Kleine. »Ich, der kleine Gervais. Ich! Ich! Bitte, geben Sie mir mein Zweifrankenstück wieder! Bitte, nehmen Sie Ihren Fuß weg!«

Jetzt gerieth der kleine Kerl in Wuth und drohte beinahe:

»Werden Sie bald Ihren Fuß wegnehmen? Vorwärts! Den Fuß weg!«

»Was! schrie jetzt Jean Valjean und stand plötzlich auf. Bist Du immer noch da? Willst Du wohl machen, daß Du fortkommst?«

Erschrocken sah der Knabe ihn an, fing an am ganzen Leibe zu zittern und rannte dann, nachdem er einige Sekunden wie angedonnert da gestanden, aus Leibeskräften davon, ohne sich umzuwenden oder einen Schrei auszustoßen.

Als er aber eine Strecke gelaufen war, zwang ihn die Ermüdung langsamer zu gehen, und Jean Valjean, obschon wieder in Grübeleien versunken, hörte ihn schluchzen.

Nach einigen Minuten war der Kleine verschwunden.

Unterdessen war die Sonne untergegangen, und es dunkelte. Jean Valjean hatte den ganzen Tag nichts gegessen; wahrscheinlich hatte er das Fieber.

Er hatte sich, seitdem der Knabe davon gerannt war, nicht vom Flecke gerührt. Sein Athem ging langsam und ungleich. Seine Augen waren tiefsinnig auf eine blaue Scherbe gerichtet, die zehn bis zwölf Schritte von ihm, im Grase lag. Plötzlich schauerte er zusammen; die Abendkälte hatte sich ihm bemerklich gemacht.

Er drückte die Mütze wieder auf seine Stirn, machte eine mechanische Bewegung, um seinen Kittel zuzuknöpfen, trat einen Schritt vor und bückte sich, um seinen Stock von der Erde aufzuheben.

In diesem Augenblick gewahrte er das Zweifrankenstück, das sein Fuß halb in die Erde hineingetreten, und das unter den Kieseln hervorglänzte.

Der Anblick wirkte auf ihn wie ein elektrischer Schlag. — »Was ist denn das?« stieß er zwischen den Zähnen hervor, fuhr drei Schritte zurück, blieb dann stehen und konnte seinen Blick nicht losmachen von jenem Punkte, auf dem sein Fuß so eben geruht hatte, als wenn das Ding, das da in der Dunkelheit glänzte, ein auf ihn geheftetes Auge gewesen wäre.

Nach einigen Minuten stürzte er sich konvulsivisch auf das Geldstück, raffte es auf, richtete sich rasch empor und schaute sich nach allen Seiten in der Ebene um, mit wilden Blicken, wie ein geängstigtes Reh, das einen Zufluchtsort sucht.

Aber er sah nichts. Die Nacht rückte näher, und auf der kalten, wüsten Ebene stiegen im fahlen Dämmerlicht violette Dünste empor.

»Ach!« rief er, eilte auf und davon, in der Richtung, wo der kleine Savoyarde seinen Blicken entschwunden war. Nach dreißig Schritten hielt er inne, ließ seine Blicke wieder nach allen Seiten umherschweifen und sah wieder nichts. »Kleiner Gervais! Kleiner Gervais! schrie er nun mit der ganzen Kraft seiner Lunge.«

Keine Antwort.

Seine Stimme verhallte ohne Wirkung in dein weiten, leeren Raum.

Ein eisiger Wind begann zu wehen und lieh den Dingen um ihn eine Art Leben, das etwas Grausiges hatte. Die Zweige der Bäume glichen mageren Armen, die wüthende Geberden machten.

Er marschierte weiter, setzte sich dann wieder in Trab, blieb ab und zu still stehen und schrie mit furchtbarer, angstvoller Stimme in die Oede hinein: »Kleiner Gervais! Kleiner Gervais!«

Hätte der Knabe ihn auch gehört, so würde er sich gefürchtet und sich nicht gezeigt haben. Aber er war gewiß schon weit fort.

Endlich begegnete er einem Priester, der des Weges geritten kam. Jean Valjean ging auf ihn zu und fragte ihn:

»Herr Pfarrer, haben Sie einen Jungen vorbeikommen sehen?«

»Nein,« sagte der Priester.

»Einen gewissen Gervais?«

»Ich habe Niemand gesehen.«

Er langte zwei Fünffrankenstücke aus seiner Geldtasche und gab sie dem Priester.

»Herr Pfarrer, nehmen Sie dies für Ihre Armen. — Herr Pfarrer, ein kleiner Junge, ungefähr zehn Jahre alt, mit einem Murmelthier glaube ich, und einem Leierkasten. Ein Savoyarde, wissen Sie?«

»Ich habe ihn nicht gesehen.«

»Der kleine Gervais? Ist er nicht aus dieser Gegend? Können Sie’s mir nicht sagen?«

»Wenn es so ist, wie Sie sagen, so ist er ein Fremder; die ziehen blos so durch, und Niemand kennt sie.«

Jean Valjean griff heftig nach zwei andern Fünffrankenstücken und gab sie dem Priester.

»Für Ihre Armen!«

Dann schrie er wie ein Irrsinniger:

»Herr Abt, lassen Sie mich arretieren. Ich bin ein Dieb.« Der Priester gab seinem Pferde die Sporen und ritt sehr erschrocken davon.

Jean Valjean eilte in der Richtung weiter, die er zuerst eingeschlagen hatte.

Auf diese Weise legte er eine große Strecke zurück, indem er sich fortwährend umsah, rief und schrie, aber er begegnete Niemandem. Zwei oder drei Mal rannte er auf etwas zu, das wie ein liegender oder hingekauerter Mensch aussah; aber es war nur Gestrüpp oder große Steine. Endlich blieb er an einem Kreuzweg stehen. Er ließ im Mondenlicht seine Blicke weithin schweifen und rief zum letzten Mal: »Kleiner Gervais! Kleiner Gervais! Kleiner Gervais!« Sein Ruf verhallte im Nebel, ohne auch nur ein Echo zu wecken. Dann rief er wieder, aber mit schwacher, kaum artikulierter Stimme: »Kleiner Gervais!« Es war die letzte Kraftanstrengung, der er fähig war; seine Kniegelenke knickten plötzlich unter ihm zusammen, als ob eine unsichtbare Macht ihn urplötzlich mit der Last seines bösen Gewissens niederdrücke; er sank erschöpft auf einen großen Stein nieder, die Fäuste in den Haaren und das Gesicht auf den Knieen, und rief: »Ich bin ein Elender!«

Dann lief sein übervolles Herz über und er fing an zu weinen. Es war das erste Mal seit neunzehn Jahren. —

Als Jean Valjean von dem Bischof entlassen worden war, fand er sich, wie schon erzählt, in eine neue Gedankenwelt versetzt. Er konnte sich nicht klar darüber werden, was in seiner Seele vorging. Er steifte sich hartnäckig gegen die christliche Milde des Bischofs. »Sie haben mir versprochen ein ehrlicher Mensch zu werden. Ich kaufe Ihnen Ihre Seele ab. Ich entziehe sie dem Geist des Bösen und weihe sie dem lieben Gott.« Diese Worte klangen ihm unablässig in den Ohren. Er setzte dieser himmlischen Nachsicht den Stolz entgegen, der gleichsam ein Bollwerk des Bösen in unserm Herzen ist. Er hatte eine gewisse Ahnung, daß die Verzeihung dieses Priesters der gefährlichste Angriff sei, den seine bösen Grundsätze bis jetzt auszuhalten gehabt hatten; daß seine Herzenshärte für immer die Oberhand behalten würde, wenn er dieser Milde Widerstand leistete; daß, wenn er nachgebe, er dem langjährigen Haß entsagen müsse, von dem sein Herz erfüllt war, und in dem er sich gefiel; daß er dieses Mal siegen oder besiegt werden müsse, und daß der Kampf zwischen seiner Bosheit und der Güte jenes Mannes ein gewaltiger und entscheidender sein werde.

Von diesem neuen Gedanken erleuchtet, ging er wie ein Betrunkner, mit verstörten Augen, einher. Hatte er wohl einen deutlichen Begriff von dem Endresultat, das sein Erlebniß in Digne für ihn haben könnte? Flüsterte ihm eine Stimme zu, daß die Entscheidungsstunde seines Schicksals geschlagen habe, daß es für ihn keinen Mittelweg mehr gab, daß, wenn er fortan nicht der beste Mensch sein wolle, er der allerschlechteste sein werde, daß er sich zu noch höherer Vollkommenheit emporschwingen müsse, als der Bischof, oder noch tiefer sinken, als ein Zuchthäusler.

Wieder drängen sich hier Fragen auf, die uns schon früher beschäftigt haben: Zog eine auch nur schattenhafte Ahnung von diesem Entweder — Oder durch seine Seele? Allerdings erzieht das Unglück den Verstand; indessen ist es zweifelhaft, ob Jean Valjean im Stande war, sich zu lichtvoller Klarheit über die erwähnten Punkte hindurchzuringen. Falls er diese Gedanken überhaupt hatte, so boten sie sich ihm in undeutlichen Umrissen dar und beunruhigten, quälten ihn nur. Als er der Finsterniß des Zuchthauses entronnen war, hatte der Bischof seiner Seele weh gethan, wie ein zu helles Licht den Augen wehethut. Das höhere Leben, das er fortan leben sollte, machte ihn zittern und zagen. Er wußte wirklich nicht mehr, woran er war. Wie eine Nachteule, die plötzlich die Sonne aufgehen sieht, so war der ehemalige Sträfling durch die Tugend geblendet.

So viel ist sicher, — obschon er selbst es nicht inne wurde, — daß er schon nicht mehr derselbe Mensch daß alles in ihm verändert war, daß er den empfangenen Eindruck nicht mehr aus seinem Geiste verwischen konnte.

In dieser Gemüthsverfassung war er dem kleinen Gervais begegnet und hatte ihm seine zwei Franken geraubt. Das Warum hätte er sicherlich selber nicht angeben können. War es die letzte Nachwirkung, die letzte Gegenwehr der schlechten Grundsätze, die er aus dem Zuchthaus mitgebracht, was man in der Statik die erworbene Kraft nennt? Dies war es in der That oder etwas noch Schlimmeres. Einfach ausgedrückt, nicht er hatte das Geldstück geraubt, nicht der Mensch, sondern die Bestie in ihm hatte aus Gewohnheit und Instinkt den Fuß darauf gesetzt, während sein klügeres Ich mit den neuen Ideen qualvoll rang. Als sein besseres Ich erwachte und sah, was die Bestie gethan hatte, fuhr Jean Valjean schaudernd zurück und schrie auf vor Entsetzen.

Denn sonderbarer Weise und nur weil er sich gerade in dieser Seelenstimmung befand, hatte er, indem er dem Knaben das Geldstück vorenthielt, etwas gethan, dessen er schon nicht mehr fähig war.

Wie dem auch sei, — diese letzte, schlechte Handlung übte auf ihn eine entscheidende Wirkung aus. Sie fuhr plötzlich durch das Chaos, das in seinem Geiste herrschte, hindurch und fegte es weg, sonderte das Dunkel und das Licht, wie die chemischen Reagentien, die eine trübe Mischung klären, indem sie ein Element niederschlagen und von dem andern trennen.

Im ersten Augenblick, noch ehe er sich prüfte und überlegte, bemühte er sich in sinnloser Angst, wie Einer, der sich aus einer Gefahr retten will, den Knaben wieder einzuholen, um ihm das Geld wiederzugeben; dann, als er erkannte, daß dies vergeblich und unmöglich war, erfüllte ihn die qualvollste Verzweiflung. Jetzt wurde er inne, was für ein Mensch er gewesen, jetzt hatte er sich schon von seinem frühern Ich geschieden, das ihm so zu sagen, wie eine Spukgestalt gegenüberstand. Es war ihm, als sehe er jetzt den ehemaligen Jean Valjean leibhaftig vor sich, mit dem Stock in der Hand, dem Kittel, dem Tornister mit den entwendeten Sachen, dem entschlossenen, finstern Gesicht und dem Zukunftsplan im Kopfe.

Das Uebermaß des Unglücks hatte ihn, wie schon bemerkt, gewissermaßen hellseherisch gemacht, und sein Hirn befand sich in jenem Zustand gewaltsamer Aufregung, wo die Phantasie die Wirklichkeit verdrängt. Man sieht dann nicht mehr die Gegenstände, die man vor sich hat, sondern es projicieren sich umgekehrt die, von der eignen Einbildungskraft erzeugten Gestalten nach außen.

Er betrachtete sich also, so zu sagen, von Angesicht zu Angesicht; zu gleicher Zeit erschaute er aber, durch die Erscheinung hindurch, in einer unergründlichen Tiefe ein Licht, das ihm anfangs von einer Fackel auszustrahlen schien. Als er dieses Licht aufmerksamer ansah, nahm es Menschengestalt an und er erkannte den Bischof.

Diese beiden, so nebeneinander gestellten Menschen, den Bischof und Jean Valjean verglich nun sein Gewissen, und allmählich, vermöge einer Eigenthümlichkeit derartiger Extasen, wuchs die Gestalt des Bischofs und erstrahlte in herrlicherem Glanze, während der ehemalige Jean Valjean abnahm, verblich und endlich ganz verschwand.

Da brach Jean Valjean in Thränen aus. Er weinte heiße Thränen und schluchzte, wie ein schwaches Weib, wie ein erschrocknes Kind.

Während er weinte, wurde es heller und heller in seinem Gehirn. Sein vergangenes Leben, sein erstes Vergehen, seine lange Haft, seine Verthierung und Verstockung, seine Rachepläne, seine Begegnung mit dem Bischof, was er zuletzt verbrochen, die feige und schändliche Entwendung des Zweifrankenstücks, nachdem ihm der Bischof Böses mit Gutem vergolten, alles dieses trat ihm vor die Seele, mit einer Klarheit, wie er sie bisher noch nie gekannt hatte. Er überschaute sein Leben und empfand Entsetzen; seinen moralischen Menschen und er erschrak. Gleichwohl milderte ein sanftes Licht diese Schrecknisse: Ihn dünkte, er sehe Satan überstrahlt von dem Glanz des Paradieses.

Wie viele Stunden er so weinte, was er nachher that, wo er hinging, hat man nie in Erfahrung bringen können. Nur eine sicher konstatierte Thatsache können wir melden: In derselben Nacht sah ein Fuhrmann, der von Grenoble um drei Uhr Morgens nach Digne kam, vor dem bischöflichen Hause im Schatten einen Mann knieen und beten.

Im Jahre 1817

Das Jahr 1817

1817 ist das Jahr, das Ludwig XVIII. mit stolzer Unverfrorenheit das zweiundzwanzigste Jahr seiner Regierung nannte. Es war auch das Jahr, wo Bruguière de Sorsum ein berühmter Mann war. Alle Friseurläden, wo man sich nach der Zeit des Puders zurücksehnte, waren blau angestrichen und mit den drei Lilien, dem Wappen der Bourbonen, bemalt. Es war die schöne Zeit, wo der Graf Lynch jeden Sonntag in der Kirche Saint-Germain-des-Prés in dem Beamtenstuhl thronte, in der Galatracht der Pairs von Frankreich, geschmückt mit dem rothen Band des Ludwigsordens, einer langen Nase und einem majestätischen Profil, wie es Vollbringern großer Thaten eigen zu sein pflegt. Die von dem Grafen Lynch verübte große That bestand darin, daß er als Bürgermeister von Bordeaux am 12. März 1814, also ein wenig zu früh, die Stadt dem Herzog von Angoulême übergeben hatte. Daher seine Erhebung in den Pairstand. 1817 steckte die Mode die vier bis sechsjährigen Knaben in gewaltige Mützen aus Maroquinleder, die der Kopftracht der Eskimos sehr ähnlich sahen. Die französische Armee trug weiße Uniformen, wie die Oesterreicher; die Regimenter hießen Legionen; statt der Nummern führten sie den Namen der Departements. Napoleon lebte als Verbannter auf der Insel St.-Helena, und ließ, da England ihm kein Tuch liefern wollte, seine alten Röcke wenden. 1817 florirte der Sänger Pellegrini, die Tänzerin Bigottini, regierte Potier, existierte Odry noch nicht. Frau Saqui war Foriosos Nachfolgerin. Preußische Truppen hielten noch französisches Gebiet besetzt. Delalot spielte eine große Rolle. Die rechtmäßige Regierung bewies ihr Dasein, indem sie Pleignier, Carbonneau und Tolleron erst die rechte Hand und dann den Kopf abhauen ließ. Der Oberstkämmerer, Fürst Talleyrand und der designirte Finanzminister Louis lachten sich vergnügt, wie zwei Augurn an. Hatten sie doch Beide am 14. Juli 1790 beim Föderationsfest auf dem Champ de Mars die Messe celebrirt, Talleyrand als Bischof und Louis als Diakonus; 1817 faulten im Gras, auf demselben Champ de Mars, blau angestrichne, dicke, runde Pfähle mit Resten von vergoldeten Adlern und Bienen, die von der, zwei Jahre zuvor aufgerichteten Tribüne des Kaisers stammten. Einige von diesen Pfählen waren nicht mehr vorhanden. Die Oesterreicher, hatten sie in ihrem Bivouac, bei dem Gros-Caillou, als Brennstoff benutzt, um sich ihre großen Hände zu wärmen. In demselben Jahre 1817, waren der Voltaire-Touquet und die Tabaksdose à la charte sehr beliebt. Großes Aufsehen machte in Paris das Verbrechen Dautun’s der den Kopf seines Bruders in das Bassin des Marché-aux-Fleurs geworfen hatte. Im Marineministerium beschäftigte sich eine Kommission mit der Unglücksfregatte Medusa. Der Oberst Selves ging 1817 nach Aegypten, wo er Soliman Pascha wurde. In dem Palais des Thermes hatte ein Böttcher seine Werkstatt aufgeschlagen. Oben auf dem achteckigen Thurm des Hotel de Cluny sah man noch eine Art Bretterbude, die Messier, Astronom der Marine zur Zeit Ludwigs XVI. als Sternwarte benutzt hatte. Die Herzogin von Duras las in ihrem, mit blausammtnen X-stühlen möblirten Boudoir ihren Freunden den damals noch neuen Roman Urika vor. Napoleons Anfangsbuchstabe wurde im Louvre überall ausgekratzt. Die Austerlitzer Brücke legte diesen stolzen Namen ab und taufte sich Pont du Jardin du Roi. Ludwig dem Achtzehnten machten, während er sich an seinem Horaz delektirte, die Helden, die sich zum Kaiser emporschwingen, und die Schuhflicker, die sich für Königssöhne und Thronerben ausgeben, wie Napoleon und Mathurin Bruneau, schwere Sorgen. Die französische Akademie stellte für eine Preisaufgabe das Thema: »Die Befriedigung, die das Studium gewährt.« Bellart lehrte die offizielle Beredsamkeit. Unter seiner Obhut entfalteten sich die Talente des zukünftigen Staatsanwalts Broë, der dem Spötter Paul-Louis Courier so reichen Stoff liefern sollte. Man hatte einen Pseudo-Chateaubriand, Namens Marchangy, der dann von einem Pseudo-Marchangy, Namens d’Arlincourt abgelöst wurde. Claire d’Albe und Malek Adel galten für literarische Meisterwerke: Frau Cottin, erklärte man, übertreffe alle Schriftsteller ihrer Zeit. Die Akademie duldete, daß Napoleon Bonaparte aus der Liste ihrer Mitglieder gestrichen wurde. Eine königliche Verordnung erhob die Stadt Angoulême zu einem Vorbereitungsort der Marine, denn in Anbetracht, daß der Herzog von Angoulême Großadmiral war, eignete sich die Stadt Angoulême von Rechts wegen zum Seehafen, sonst wäre das monarchische Prinzip geschädigt worden. Man erörterte im Ministerrath die Frage, ob man die Vignetten des Kunstreiters Franconi, die für alle Straßenjungen einen besonderen Reiz hatten, nicht verbieten solle. Paër, der Verfasser der Agnès dirigirte die Konzerte der Marquise von Sassenaye in der Rue Villee-l’Evêque. Alle jungen Mädchen sangen L’Ermite de Saint-Avelle, Text von Edmond Géraud. Das Café Lemblin hielt es mit dem Kaiser, während das Café Valois seine Kundschaft aus den Reihen der Anhänger der Bourbons rekrutierte. Die Gardes du Corps pfiffen Fräulein Mars aus. Die großen Zeitungen waren damals noch sehr klein, ihr Format bescheiden, aber ihre Freiheit ziemlich groß. Der Constitutionnel war für eine Constitution. La Minerve schrieb Chateaubriands Namen mit einem t, was ein großartiger Witz war. Feile Preßknechte insultierten die 1815 verbannten Revolutionäre. David sprach man sein Malertalent, Arnault allen Witz, Carnot alle Rechtschaffenheit ab. Soult, hieß es, habe nie eine Schlacht gewonnen. Und so gehörte es sich! Beschloß man doch, daß Napoleon kein genialer Mann sei. Bekanntlich bekommen Verbannte selten ihre Briefe von der Post, da die Polizei sie mit sorgsamer Gewissenhaftigkeit unterschlägt. Und dies ist nichts Neues, denn schon Descartes klagte darüber. Auch David beschwerte sich in einer belgischen Zeitung, daß er die an ihn adressierten Briefe nicht bekomme, forderte aber damit nur den Spott der königlich gesinnten Blätter heraus. An den Stichwörtern »Königsmörder« oder »Die dafür stimmten«, »die Feinde« oder unsre »Alliirten«, »Napoleon«, oder »Bonaparte« erkannte man zwei himmelweit verschiedene, politische Parteien. Alle sogenannten »gescheidten« Leute stimmten darin überein, daß die Aera der Revolutionen für immer geschlossen worden sei durch Ludwig XVIII, den »unsterblichen Urheber der Verfassungsurkunde.« An dem Sockel, der die Bildsäule Heinrichs IV. aufnehmen sollte, wurde das Wort Redivivus eingemeißelt. Piet stiftete in der Rue Therese Nr. 4 seinen Verein zur Befestigung der Monarchie. Canuel, O’Mahony und de Chappedelaine konspirirten und die Epingle Noire gleichfalls. Delaverderie knüpfte Unterhandlungen an mit Trogoff. Der in einem gewissen Grade liberale Decazes hatte eine leitende Rolle. Chateaubriand stand jeden Morgen vor seinem Fenster in der Rue Dominique Nr. 27 in Strumpfhosen und Pantoffeln, ein Madrastuch auf dem grauen Kopfe, die Augen auf einen Spiegel gerichtet, vor sich ein vollständiges Zahnarztbesteck und reinigte sich seine — sehr hübschen — Zähne, wobei er seinem Sekretär Pilorge Abänderungen zu der Monarchie selon la Charte diktierte. Die maßgebliche Kritik zog Lason dem Lieblingsschauspieler Napoleons, Talma, vor. Von Féletz unterzeichnete seine Schriften mit A, und Hoffmann mit Z. Die Ehescheidung war abgeschafft. Die Gymnasiasten, deren Rockkragen mit einer goldnen Lilie geschmückt war, keilten sich zu Ehren des Königs von Rom, Napoleons Sohn. Die Gegenpolizei des Schlosses denunzirte den gewichtigen Uebelstand, daß der Herzog von Orleans auf seinem überall ausgehängten Porträt, in seiner Uniform als Generaloberst der Husaren, sich besser ausnehme, als der Herzog von Berry in der Uniform eines Generaloberst der Dragoner. Die Stadt Paris ließ auf ihre Kosten den Dom der Invaliden von Neuem vergolden. Gesetzte Leute fragten sich, was wohl in der und der Lage Herr von Trinquelague thun würde; Clausel von Montal stimmte nicht in allen Punkten mit Clausel von Coussergues überein; von Salaberry war mißvergnügt. Der Schauspieler Picard, Mitglied der Akademie, die den Schauspieler Moliere nicht aufgenommen hatte, ließ »die beiden Philibert« im Odeon aufführen, an dessen Giebel man noch die Aufschrift ‘Theater der Kaiserin’ erkennen konnte. Man ergriff für oder gegen Cugnet de Montarlot Partei. Fabvier opponierte; Bavoux war Revolutionär. Pélicier gab Voltaires Werke heraus und setzte zu Voltaires Namen »Mitglied der Akademie« hinzu. »Das zieht Käufer an«, meinte der naive Schlaukopf. Allgemein war die Ansicht, Charles Loyson sei das größte Genie des Jahrhunderts; schon bekrittelte ihn der Neid, der alle großen Geister verfolgt. Der Kardinal Fesch weigerte sich abzudanken; de Pins, Erzbischof von Amasie, verwaltete die Diöcese Lyon. Der Streit um das Thal des Dappes zwischen der Schweiz und Frankreich begann mit einer Denkschrift des Hauptmanns Dufour. Saint-Simon, damals noch unbekannt, arbeitete an dem Aufbau seines großartigen Systems. In der Akademie der Wissenschaften gab es einen berühmten Fourier, den die Nachwelt vergessen hat, und in einer Bodenkammer wohnte ein unbekannter Fourier, dessen die Zukunft sich erinnern wird. Byrons Gestirn begann zu strahlen; in Frankreich machte eine Anmerkung zu einem Gedicht von Millevoye auf ihn aufmerksam mit den Worten: »ein gewisser Lord Baron.« David aus Angers versuchte sich in der Bildhauerkunst. Der Abt Caron erwähnte lobend im Seminar, in der Sackgasse des Feuillantines, einen unbekannten Priester Namens Felicite Robert, der später Lamennais genannt worden ist. Auf der Seine fuhr, an den Tuilerien vorbei, vom Pont Royal bis zum Pont Louis XV. ein Ding, das rauchte und im Wasser wie ein schwimmender Hund patschte, eine Maschine, mit der nicht viel los war, eine Art Spielzeug, das ein Träumer, ein Utopist erfunden hatte, ein Dampfboot. Die Pariser betrachteten das unnütze Ding mit Gleichgiltigkeit. De Vaublanc, der Reformator der Akademie, Schöpfer mehrerer Akademiker, konnte mit allen seinen Ukasen es nicht zu Wege bringen, daß er selber in das Institut aufgenommen wurde. Das Faubourg Saint-Germain und der Pavillon Marsan wünschte Delaveau als Polizeipräfekten, wegen seiner Frömmigkeit. Dupuytren und Récamier kabbelten sich in der Ecole de Medicine und bedrohten einander mit der Faust, um die Frage nach der Göttlichkeit Christi zur Entscheidung zu bringen. Cuvier schielte mit einem Auge nach dem ersten Buch Mose, mit dem andern nach der Natur und bemühte sich der kirchlichen Reaktion zu gefallen, indem er die Uebereinstimmung der Fossilien mit dem Text der Bibel nachwies und Moses von den Mastodonten liebkosen ließ. Francis de Neufchateau verlangte, die Kartoffeln sollten ihrem ersten Anbauer Pannentier zu Ehren Pannentieren genannt werden, hatte aber keinen Erfolg mit seinem Vorschlage. Der Abt Gregoire, ehemals Bischof. Mitglied des Convents und Senator, wurde in der realistischen Polemik der »schändliche Gregoire« tituliert. An dem Pont d’Jéna konnte man noch an seiner helleren Farbe den neuen Stein erkennen, mit dem man das, von Blücher gebohrte, Sprengloch zugestopft hatte. Ein Mann wurde vor Gericht gefordert, weil er beim Eintritt des Grafen von Artois in die Kirche Notre-Dame laut gesagt hatte: Hol’s der Teufel! Da lobe ich mir die Zeit, wo ich Bonaparte und Talma Arm in Arm in den Bal-Sauvage gehen sah. Natürlich sechs Monat Gefängniß für die aufrührerische Rede. Verräther, die vor einer Schlacht zum Feinde übergegangen waren, brüsteten sich frech mit den Orden, mit den Würden, Aemtern, Reichthümern, die sie zum Lohn für ihre Nichtswürdigkeit empfangen hatten.

Dies sind die hervorragendsten Thatsachen des Jahres 1817. Die Geschichte bekümmert sich um dergleichen nicht und kann es auch nicht, weil sie sich durch ihre unendliche Menge nicht hindurchzuarbeiten vermag. Aber diese Einzelheiten, die man mit Unrecht Kleinigkeiten nennt, — nichts Menschliches ist klein, so wenig, wie es kleine Blätter an den Bäumen giebt, — diese Einzelheiten haben ihren Werth. Besteht doch aus der Physiognomie seiner Jahre das Antlitz eines Jahrhunderts.

In dem Jahre 1817 leisteten sich vier junge Pariser »einen famosen Witz«.

Ein Doppelquartett

Von diesen Parisern war der eine aus Toulouse, der andere aus Limoges, der dritte aus Cahors und der vierte aus Montauban; aber sie waren Studenten, und wer in Paris studiert, wird zum echten Pariser.

Die Vier waren unbedeutende junge Menschen, Gesichter, wie sie Jedermann zu sehen bekommt, weder gut, noch schlecht; weder gelehrt, noch unwissend, weder Genies, noch Schafsköpfe; hübsch, denn sie erfreuten sich jenes Lenzes, den man die Jugend nennt. Vier Oskare, denn zu jener Zeit war der Vorname Arthur noch nicht Mode. Man schwärmte für Ossian, für die skandinavischen und kaledonischen Namen, die englischen gelangten erst später zur Herrschaft und der erste aller Arthurs, Wellington, hatte die Schlacht bei Waterloo erst vor Kurzem gewonnen.

Diese Oskare hießen Felix Tholomyès, Listolier, Fameuil und Blachevelle. Selbstredend hatte Jeder eine Geliebte. Blachevelle liebte eine Favourite, so genannt, weil sie in England gewesen war, Listolier verehrte Dahlia, Fameuil vergötterte Sephine, Abkürzung von Josephine, und Tholomyès betete Fantine, die Blonde, an.

Favourite, Dahlia, Sephine und Fantine waren vier reizende, frische, lebenslustige Mädchen, Arbeiterinnen, die ihre Nähnadel noch nicht weggeworfen hatten, die durch die Liebe wohl vom rechten Wege abgelenkt waren, aber auf dem Gesicht und im Herzen noch nicht den Stempel des Lasters trugen. Eine von den Vieren, die Jüngste, wurde die Junge genannt, eine andere die Alte: diese war dreiundzwanzig Jahr alt. Um nichts zu verschweigen, so waren drei von ihnen erfahrener, sorgloser, leichtsinniger, als Fantine, die Blonde, die sich noch mit ihrer ersten Illusion trug. Dahlia, Sephine und besonders Favourite dagegen, waren in ihrem Lebensroman weiter vorgeschritten; der Liebhaber, der im ersten Kapitel Adolf hieß, war im zweiten ein Alfons und im dritten ein Gustav. Armuth und Eitelkeit sind verderbliche Rathgeber; der eine schilt, der andere schmeichelt, und die hübschen Mädchen aus dem Volke leihen Jedem gern ein Ohr. Daher die Fehltritte, die sie begehen, und die Steine, mit denen man nach ihnen wirft. Man verweist sie auf die Herrlichkeit der unzugänglichen Tugend und Unschuld. Du lieber Himmel! Wer weiß, ob die Jungfrau in der Schweiz nicht weniger unnahbar wäre, wenn sie Hunger hätte?!

Favourite, die England gesehen, wurde deshalb von Sephine und Dahlia bewundert. Sie hatte früh eine eigene Wohnung gehabt. Ihr Vater war ein alter unverheiratheter Mathematiklehrer, der noch Privatstunden gab. Dieser Lehrer hatte in seiner Jugend eines Tages zugesehen, wie das Kleid einer Kammerjungfer an einem Kaminvorsetzer hängen blieb, und dieser Vorfall hatte in ihm Gefühle der Liebe geweckt, deren Ergebniß Favourite war. Sie begegnete hin und wieder ihrem Vater und sie sagten sich guten Tag. Eines Morgens war eine alte Frau zu ihr gekommen und hatte gefragt: »Fräulein, Sie kennen mich wohl nicht, Fräulein?« »Nein!« »Ich bin Deine Mutter.« Darauf war die Alte über den Speiseschrank hergefallen, hatte gegessen und getrunken, eine Matratze kommen lassen und sich bei ihr einlogiert. Diese griesgrämige und bigotte Alte redete nie ein gemüthliches Wort mit Favourite, aß für Vier und beklatschte beim Portier ihre eigene Tochter.

Was Dahlia in Listoliers Arme und in die Arme des Müßiggangs geführt hatte, war der Umstand, daß sie allerliebste rosa Nägel hatte, die durch zu viel Arbeit entstellt worden wären. Wenn man tugendhaft bleiben will, darf man mit seinen Händen kein Erbarmen haben. Sephine hatte es Fameuil angethan mit dem schelmischen Ausdruck, den sie in die Worte: »Ja, mein Herr!« zu legen wußte.

Die jungen Männer waren Kameraden, die jungen Mädchen Freundinnen. Dergleichen Liebe paart sich immer mit solcher Freundschaft.

Tugend und Philosophie sind zwei verschiedene Dinge, denn Favourite, Sephine und Dahlia waren Philosophinnen, aber Fantine tugendlich.

Tugendhaft, wenn sie ihren Tholomyès hatte? Salomo würde sagen, daß die Liebe ein Bestandtheil der Tugend ist. Wir beschränken uns auf die Bemerkung, daß Fantinens Liebe ihre erste, einzige und eine treue Liebe war.

Sie war die Einzige von den Vieren, die nur von Einem geduzt wurde.

Fantine gehörte zu den Wesen, die so zu sagen aus den untersten Schichten der Gesellschaft hervorwachsen. Sie trug den Stempel der Anonymität und des Unbekannten an der Stirne. In Montreuil-sur-Mer geboren, hatte sie nie Vater und Mutter gekannt. Sie nannte sich Fantine. Warum Fantine? Einen andern Namen hatte sie nie gehabt. Damals regierte noch das Direktorium. Kein Familienname, denn sie hatte keine Familie; kein Taufname, denn getauft wurde damals nicht. Sie bekam den Namen, den ihr der erste Beste beizulegen beliebte, als sie sich barfüßig auf der Straße herumtrieb. Ein Name fiel auf sie, wie die Regentropfen auf ihren Kopf. Sie hieß die kleine Fantine und damit basta! Das Geschöpfchen war nun einmal so auf die Welt gekommen. Im Alter von zehn Jahren verließ sie die Stadt und trat bei einem Bauern in Dienst. Als sie fünfzehn Jahre alt war, kam sie nach Paris, um ihr Glück zu machen. Sie war schön, bewahrte aber ihre Unschuld, so lange sie konnte. Die niedliche Blondine mit den hübschen Zähnchen besaß Gold und Perlen, das Gold trug sie auf ihrem Kopf, die Perlen im Munde.

Sie verdiente sich ihr Brot mit ihrer Hände Arbeit; aber die Liebe gehört auch zum Leben, und das Herz kennt auch einen Hunger. Daher geschah es, daß sie Liebe zu Tholomyès faßte.

Für ihn war dies Verhältniß ein Zeitvertreib, für sie eine Leidenschaft. Die von dem Gewimmel der Studenten und Grisetten belebten Straßen des Quartier latin sahen den Anfang dieses Liebesbundes. In jenem Straßengewirr auf dem Pantheonhügel, wo so viel Abenteuer sich abspielen, war Fantine manches Mal vor Tholomyès geflohen, hatte es aber immer so eingerichtet, daß er ihr wieder begegnen konnte. Kurz, die Idylle fand statt.

Blachevelle, Listolier und Fameuil bildeten eine Gruppe, die sich Tholomyès unterordnete. Er war der Klugkopf, der Gescheidteste von den Vieren.

Tholomyès war ein bemoostes Haupt mit einem üppigen Wechsel, denn ein Student mit viertausend Franken jährlich, galt damals für einen reichen Herrn. Obschon erst — oder schon — dreißig Jahre alt, hatte dieser Lebemann sich schlecht konserviert. Mit seinen Zähnen konnte er keinen Staat mehr machen, sein Gesicht wies Runzeln auf, und das Haupthaar war schon bedenklich gelichtet. Seine Verdauung ließ viel zu wünschen übrig, und das eine Auge litt an einem Thränenfluß. Aber sein körperlicher Verfall schien ihm wenig Kummer zu machen. Im Gegentheil. In dem Maße, wie seine Jugend ihm entschwand, wurde er fideler und witziger. An die Stelle seiner Zähne traten vergnügte Kalauer, den kranken Magen kurierte er mit Ironie, und sein Thränenauge lachte beständig. Floh seine Jugend schon vor der Zeit, so trat sie ihren Rückzug wenigstens in voller Ordnung an. Er dichtete einen Schwank für das Vaudeville, der allerdings abgewiesen wurde. Auch Gedichte verbrach er hin und wieder. Außerdem zweifelte er an allem Möglichen, was ja in den Augen der Schwachen eine große Ueberlegenheit ist. Also, da er ironisch veranlagt und kahl war, galt er für den Ersten unter den Vieren. Iron ist ein englisches Wort, das Eisen bedeutet. Sollte daher »Ironie« kommen?

Eines Tages nahm Tholomyès die drei Andern bei Seite, setzt eine wichtige Orakelmiene auf und sagte: »Es ist beinah ein Jahr, daß Fantine, Dahlia, Sephine und Favourite uns bitten, wir möchten ihnen eine Ueberraschung bereiten. Wir haben sie ihnen feierlich versprochen. Sie liegen uns damit unausgesetzt in den Ohren, besonders mir. Wie in Neapel die alten Weiber dem heil. Januarius zurufen: ›Gelbgesicht, thu Dein Wunder!‹ so mahnen unsere Schönen unablässig: ›Tholomyès, wann rückst Du mit Deiner Ueberraschung heraus?‹ Zu gleicher Zeit rufen uns unsere Eltern nach Hause. Wir sind also zwischen zwei Feuern, und die Zeit ist gekommen, einen Entschluß zu fassen.«

Hierauf senkte Tholomyès seine Stimme zu einem leisen Geflüster herab, und alsbald überstrahlte eine ungeheure Heiterkeit alle vier Gesichter zugleich.

»Das nenne ich eine famose Idee!« rief Blacheville.

Sie gingen in eine verräucherte Kneipe, die auf ihrem Wege lag, und aus ihrer geheimnisvollen Konferenz ergab sich eine großartige Landpartie, die am folgenden Sonntag die vier Paare zu gemeinsamem Vergnügen vereinigte.

Vier und Vier

Was vor fünfundvierzig Jahren eine Landpartie zwischen Studenten und Grisetten war, kann man sich heutzutage schwer vorstellen. Die Umgegend von Paris hat sich seit einem halben Jahrhundert beträchtlich erweitert. Wo früher kleine Thorwagen verkehrten, da ertönt jetzt der Pfiff der Lokomotive; wo früher das Postschiff einherschlich, fliegt jetzt ein Dampfer dahin. Für uns ist Fécamp bequemer zu erreichen, als Saint-Cloud für unsere Väter. Das Paris des Jahres 1862 ist eine Stadt, dessen Weichbild ganz Frankreich umfaßt.

Die vier Paare verübten gewissenhaft alle Thorheiten, die damals bei Spaziergängen üblich und möglich waren. Die Ferien hatten eben begonnen und es war ein warmer, schöner Sommertag. Am Tage vorher hatte Favourite, die Einzige, die schreiben gelernt, im Namen der vier Damen, in einem, aller Orthographie hohnsprechenden Schreibebrief Tholomyès auf die Annehmlichkeiten des Frühaufstehens nachdrücklichst aufmerksam gemacht und infolge dessen war man schon um fünf Uhr aufgebrochen. Sie fuhren per Landkutsche nach Saint-Cloud, bewunderten den großen Wasserfall, der gerade trocken lag, und meinten: »Das muß sehr schön sein, wenn Wasser da ist!« Darauf frühstückten sie in der Tête-Noire, genehmigten sich eine Fahrt auf dem Karussel bei dem großen Bassin, stiegen zur Laterne des Diogenes empor, spielten Roulett in Sèvres und gewannen Makronen, pflückten Blumen in Puteaux, kauften sich Pfeifen in Neuilly. aßen überall Apfelkuchen und amüsirten sich überhaupt königlich.

Die jungen Mädchen plapperten vergnügt, wie Spatzen im Frühjahrssonnenschein. Es war ein Freudentaumel. Vor Uebermuth gaben sie ihren Verehrern kleine Klappse. O selige Trunkenheit der Jugend! Schöne Jahre! Wer denkt nicht gern an sie zurück! Hast du, Leser, nicht auch im Walde die Zweige und Sträucher aus dem Wege gebogen, um Platz zu machen für ein hübsches Köpfchen hinter dir? Bist du nicht auch ausgeglitten auf einem feuchten Rasen und gehalten worden von einem lieben Wesen, das reizend jammerte: »Oh meine neuen Stiefeletten! Wie die aussehen!«

Indessen fehlte doch eine kleine Widerwärtigkeit, die den Reiz jeder Landpartie erhöht, eine Regenhusche. Eigentlich hätte sie kommen müssen, denn Favourite hatte mit mutterhafter Fürsorge eine Wetterprognose gestellt und schlechtes Wetter prophezeit: »Kinder, die Schnecken«, dozierte sie, »kriechen über die Wege. Das bedeutet Regen.«

Alle vier Mädchen waren entzückend lieblich. Ein wackerer klassischer Dichter, eine damalige Berühmtheit, der an jenem Tage unter den Kastanienbäumen zu Saint-Cloud lustwandelte, der Chevalier de Labouisse, sah sie um zehn Uhr Morgens vorübergehen und bemerkte: »Ich glaubte, es gebe blos drei Grazien,« Favourite, die Freundin Blacheville’s, die »Alte« lief voraus im Walde, sprang über die Gräben, stieg über die Sträucher und ermunterte, übermüthig wie eine junge Faunin, die Andern durch ihr Beispiel. Sephine und Dahlia, deren Reize sich gegenseitig vervollständigten und zu besserer Geltung brachten, hielten sich wohlweislich beisammen und ahmten, sich unterfassend, die Haltung feiner Engländerinnen nach; denn damals kamen die ersten keepsakes auf, die Frauen beflissen sich melancholischer Mienen, wie später der Byronismus bei den Männern Mode wurde, und trugen sentimentale Schmachtlocken. Fantinen erklärten Listolier und Fameuil den Unterschied, der zwischen ihren Professoren Delvincourt und Blondeau bestand.

Blachevelle schien eigens dazu geschaffen zu sein, des Sonntags Favourite’s, an einem Ende mit Palmen gezierten Kaschmirshawl zu tragen.

Tholomyès marschierte hinterdrein. Er war sehr aufgeräumt, aber man merkte es ihm an, daß er sich als den Diktator der kleinen Schaar fühlte. Sein Hauptschmuck waren Beinkleider mit sogenannten Elefantenbeinen, aus Nankin, mit Sprungriemen aus Kupferdrahtgeflecht. Dazu ein gewaltiger Spazierbaum, der seine zweihundert Franken gekostet haben mochte, in der Hand, und da er alles Neue haben mußte, ein sonderbares Ding, das man eine Cigarre nannte, im Munde. Der kecke Mensch rauchte!

»Das ist ein Kerl, der Tholomyès!« sagten die andern voller Bewunderung. »Diese Pantalons! Dieser Schneid!«

Was Fantinen betrifft, so war sie die personifizierte Freude. Ihre prächtigen Zähne hatte sie augenscheinlich von Gott speziell zu dem Zweck bekommen, daß sie fleißig lachen sollte. Ihr Strohhütchen mit den langen, weißen Bindebändern trug sie lieber in der Hand, als auf dem Kopfe. Ihr dickes blondes Haar, das leicht ausging und beständig wieder aufgesteckt werden mußte, erinnerte an Galatea, wie sie von Polyphen verfolgt, durch das Weidengebüsch dahinfloh. Ihre rosigen Lippen waren bezaubernd schön. Die etwas in die Höh’ gezogenen Mundwinkel, die auf Sinnlichkeit zu deuten schienen, sahen aus, als forderten sie Keckheiten heraus; aber die langen, bescheiden gesenkten Wimpern milderten diesen Ausdruck. Ihre ganze Toilette hatte einen Anflug von Heiterkeit. Sie trug ein malvenfarbenes Barégekleid, kleine Goldkäferschuhe mit hohen Absätzen, deren Bänder sich kreuzweise über den feinen durchbrochnen Strumpf legten, und eine eng anliegende Mousselin Spencerjacke. Ihre weniger sittsamen Freundinnen hatten tief ausgeschnittne Kleider an, aber Fantinens durchsichtige Mousselinjacke, die den Augen verrieth, was sie doch zu verhüllen bestimmt schien, war verführerischer und der berühmte Liebeshof der Vicomtesse von Cette mit den meergrünen Augen hätte wahrscheinlich den Preis der Koketterie für diese Jacke gegeben, die Fantinens Schamhaftigkeit wahren sollte. Die Naivität ist manchmal recht pfiffig!

Ein klares Gesicht, ein feines Profil, tiefblaue Augen, breite Augenlider, kleine stark geschweifte Füße, schön eingefügte Hand- und Fußgelenke, eine sehr weiße, von den blauen Verzweigungen der Adern durchschimmerte Haut, kindlich frische Wangen, ein Hals kräftig, wie der einer äginetischen Juno, ein starker geschmeidiger Nacken, Schultern, die wie von einem Coustou gemodelt schienen, mit einem reizenden, durch den Mousselin sichtbaren Grübchen; dies waren Fantinens statuenhafte Reize, denen ein Gemisch von Fröhlichkeit und Ernst Leben verlieh.

Ihrer Schönheit war sich Fantine nicht allzu sehr bewußt. Jene wenigen Idealisten, die nur die Vollkommenheit als schön anerkennen, hätten in dieser graziösen Pariserin die heilige Euphonie der Alten vermuthet. Diese Tochter des Volkes hatte Rasse. Ihre Schönheit besaß sowohl Stil wie Rhyrmus, der Form des Ideals und seine Bewegung.

Wir haben gesagt, Fantine war die personifizirte Freude, aber sie zeichnete sich nicht minder durch Schamhaftigkeit aus.

Einem aufmerksamen Beobachter wäre es nicht entgangen, daß trotz der Lebens- und Liebeslust, die aus allen ihren Zügen sprach, Sittsamkeit der Hauptzug ihres Wesens war. Es lag auf ihrem Gesichtchen jene Art Verwunderung die eine Psyche von der Venus unterscheidet. Fantinens lange, weiße und feine Finger erinnerten an die der keuschen Befralin, die mit goldner Nadel die Asche des heiligen Feuers durchforscht. Obgleich sie Tholomyés nichts versagt hatte, war ihr Gesicht ein durchaus jungfräuliches geblieben; bisweilen nahm es sogar einen Ausdruck von Ernsthaftigkeit, ja Herbheit an, der oft unvermittelt den des Frohsinns ablöste. Ihre Stirn, ihre Nase und ihr Kinn boten auch jene Harmonie der Linie dar, die mit der Harmonie der Proportion keineswegs zusammenfällt, und aus der sich die ästhetische Wirkung des Gesichts ergiebt; in dem charakteristischen Zwischenraum, der die Basis der Nase von der Oberlippe trennt, lag jene kaum merkliche und reizende Falte, die ein Kennzeichen der Keuschheit ist, und die Barbarossa an einer unter den Trümmer von Ikonium gefundenen Dianastatue so sehr bewunderte.

Allerdings ist die Liebe ein Vergehen; aber Fantine besaß noch eine Unschuld nach ihrem Fehltritt.

Tholomyés singt vor Freude ein spanisches Lied

Der ganze Tag, war von Anfang bis zu Ende fröhlich wie eine schöne Morgenröthe. Die ganze Natur schien ein Festgewand angelegt zu haben. Die Beete in Saint-Cloud athmeten süße Wohlgerüche aus; von der Seine stieg ein kühler Hauch empor; die Zweige gestikulierten im Winde; die Bienen plünderten die Jasminblüthen; das Bummlervölkchen der Schmetterlinge ließ sich auf die Schafgarbe, den Klee und den Taubhafer nieder, und in dem majestätischen Park des Königs von Frankreich trieb sich ein Haufe Vagabunden herum, die Vögel.

Unsere vier Paare freuten sich mit unermeßlichem Behagen des Sonnenscheins, des lieblichen Anblicks der Felder, Blumen und Bäume.

Und Angesichts des paradiesischen Kommunismus, den sie überall in der Natur sahen, konnten auch die Schönen nicht so grausam sein, nur das strenge Recht walten zu lassen und zwischen ihren Liebhabern und deren Freunden einen genauen Unterschied zu machen. Sie ließen sich Alle von Allen küssen, ausgenommen Fantine, die wahrhaft liebte und sich spröde verhielt. Ihr sinniges Wesen verdroß Favourite: »Du siehst immer absonderlich aus!« spöttelte sie.

Nach dem Frühstück sahen sich die vier Paare eine vor kürzer Zeit aus Indien bezogne Pflanze an, die zu jener Zeit ganze Schaaren von Parisern nach Saint-Cloud zog, ein sonderbares und reizendes Bäumchen, dessen unzählige und verworrene, überaus feine blätterlose Aestchen mit tausenden von weißen Röschen bedeckt waren.

Nach pflichtschuldiger Bewunderung des allerliebsten Gewächses riet Tholomyés: »Wie wär’s Kinder, wenn wir uns einen Eselritt genehmigten? Ich poniere.« Sie mietheten also einen Eseltreiber und kehren über Vanves und Issy zurück. In letzterem Ort schaukelten die Herren mit starken Armen ihre Schönen in dem großen Netz, das zwischen den zwei, von dem Abt de Bernis besungenen Kastanienbäumen ausgespannt ist. Während die Kleider malerisch im Winde flogen, sang Tholomyès, der als Toulousaner — Toulouse ist mit Tolosa verwandt — sich spanisch aufgelegt fühlte, ein zur Situation passendes spanisches Lied:

Soy de Badajoz.

Amor me blama

Coda mi alma

Es en mis ojos

Ovequé ensennas

A’ tus piernos

Nur Fantine wollte sich nicht schaukeln lassen, und wieder zankte Favourite: »Was das für eine Ziererei ist!«

Nach dem Ritt abermals ein großartiges Amüsement: Eine Kahnfahrt auf der Seine. Dann ging es zu Fuß von Passy nach der Barriere de l’Etoile. Trotzdem sie seit fünf Uhr Morgens auf den Beinen waren, begann hier das Vergnügen noch einmal. »Sonntag giebt’s keine Müdigkeit!« predigte Favourite, und um drei Uhr saßen die vier Paare in einem Wagen der Rutschbahn, die damals auf dem Hügel Beaujon stand, und deren Schlangenlinie die Bäume der Champs-Elysées überragte.

Trotz alledem fand Favourite, daß man nie glücklich genug sein kann. »Wie steht’s mit der Ueberraschung?« forschte sie von Zeit zu Zeit. »Geduld!« antwortete Tholomyès.

Bei Bombarda

Nachdem sie die Rutschbahn gründlich ausgekostet, stellte sich endlich Müdigkeit und Hunger ein und so fielen sie bei Bombarda hinein, dem berühmten Restaurateur in den Champs-Elysées, der auch in der Rue de Rivoli ein Lokal hatte.

Ein großes, aber häßliches Zimmer mit Alkoven und Bett im Hintergrunde (denn da das Restaurant überfüllt war, stand kein anderer Raum zur Verfügung); zwei Fenster, von denen aus man durch die Ulmen eine Aussicht auf den Fluß und das Ufer hatte; eine herrliche Augustsonne, deren Strahlen das Zimmer überflutheten; zwei Tische, auf dem einen ein stolzer Berg von Blumensträußen, Mannes- und Frauenhüten, auf dem andern ein lustiger Wirrwarr von Schüsseln, Tellern, Gläsern und Flaschen; wenig Ordnung auf diesem Tisch und einige Unordnung darunter: Dies war das Stadium, wo gegen halb fünf des Nachmittags unsere um fünf Uhr Morgens begonnene Idylle angelangt war. — Die Sonne neigte sich allmählig ihrem Untergange zu, und ebenso endlich auch der Appetit unserer jungen Freunde.

Die Champs-Elysées, vom Sonnenschein und von Menschenmengen durchwogt, waren voller Licht und Staub, der beiden Elemente des Ruhmes. Die marmornen Pferdestatuen von Marly, die zu wiehern scheinen, prangten in goldigem Glanze. Equipagen fuhren hin und her. Eine Schwadron prächtiger Gardes du Corps, mit den Hornisten voran ritt die Avenue de Neuilly herunter; auf der Kuppel der Tuilerien wehte, von der niedergehenden Sonne rosig gefärbt, die weiße Fahne. Die Place de la Concorde, die damals ihren alten Namen die Place Louis XV. wieder angenommen hatte, war mit frohen Spaziergängern überfüllt. Viele von ihnen trugen die silberne Lilie an dem moirierten weißen Bande, das 1817 noch nicht ganz aus den Knopflöchern verschwunden war. Mitten unter dem Publikum, das ihnen fleißig applaudirte, sah man kleine Mädchen, welche, die Hände zum Reigen verschlungen, ein damals beliebtes, zur Niederschmetterung der Anhänger Napoleons bestimmtes Lied sangen. »Gebt uns unsern Vater wieder!« lautete der Refrain.

Leute aus den Arbeitervierteln, von denen manche nach dem Beispiel des feineren Publikums das Abzeichen der Bourbonen, die Lilien, trugen, hatten sich gleichfalls hier eingefunden; sie ritten Karussel und stachen nach den Ringen; andere saßen vor den Schänken und zechten; manche — es waren Druckerlehrlinge — stolzierten mit Papiermützen auf dem Kopfe einher und waren seelensvergnügt. Alles athmete Frohsinn. Es war eine friedfertige Zeit, wo die Bourbonen sich in Sicherheit wiegen konnten, wo ein spezieller Bericht des Polizeipräfekten Anglès an den König über die Bevölkerung der Vorstädte mit folgenden Zeilen schl0ß: »Alles wohl erwogen, Majestät, ist von diesen Leuten nichts zu befürchten. Sie sind sorglos und indolent wie Katzen. Das gemeine Volk in den Provinzen ist unruhig, die Pariser nicht. Es sind alles Leute von kleiner Statur. Zwei von ihnen, auf einander gestellt, gehören dazu, um die Länge eines Grenadiers zu erreichen. Denn merkwürdiger Weise hat die Natur des pariser Volks seit einem halben Jahrhundert abgenommen. Kurz, die Pariser der Vorstädte sind ungefährliche, gute Kanaillen.«

Daß eine Katze zu einem Löwen werden kann, halten Polizeipräfekten nicht für möglich; das Volk von Paris hat aber dieses Wunder fertig gebracht. Uebrigens hatten auch die Republiken des Alterthums eine höhere Meinung von der Katze, als der Präfekt Anglès; sie war bei ihnen das Sinnbild der Freiheit und die Korinther ließen, gleichsam der ungeflügelten Minerva des Piraceus zum Trotze, auf ihrem Versammlungsplatze die kolossale broncene Statue einer Katze errichten. Von dem Pariser Volke hatte auch die naive Polizei der Restauration eine »zu vortheilhafte« Meinung. So gut, wie man gewöhnlich annimmt, ist diese Kanaille keineswegs. Der Pariser ist unter den Franzosen, was einst der Athener unter den andern Griechen war. Keiner kann träger und leichtsinniger sein. Keiner vergißt so leicht wie er; aber man lasse sich dadurch nicht täuschen; winkt ihm der Ruhm, so ist er der wildesten Energie fähig. Man gebe ihm eine Pieke, so stürmt er die Tuilerieen und stürzt das Königthum; ein Gewehr, so gewinnt er ruhmreiche Schlachten. Ein Napoleon sowohl, wie ein Danton verließen sich auf ihn. Ruft ihn das Vaterland, so wird er Soldat; ist die Freiheit bedroht, so baut er Barrikaden. Man sehe sich vor. Sein Zorn kann Stoff zu Epopöen liefern, sein Kittel sich in eine Chlamys verwandeln. Nehmt Euch in Acht. Aus der ersten besten Straße macht er einen caudinischen Engpaß. Der Vorstädter wird groß, wenn die Stunde schlägt; der Kleine steht auf, sein Blick wird furchtbar, sein Atem wird ein Sturm, der die Alpen umblasen kann. Dem Arbeiter der pariser Vorstädte verdankt es die Revolution, daß sie mittels der Armee Europa erobern kann. Seine Hauptfreude ist Gesang und findet man das Lied, das seiner Natur entspricht, so kann man Wunder sehen. So lange er nur die Carmagnole singt, kann er nur einen Ludwig XVI. stürzen; mit der Marseillaise befreit er die Welt.

Nach dieser Randbemerkung zu dem Bericht des Polizeipräfekten Anglès wollen wir zu unsern vier Pärchen zurückkehren. Das Diner also ging zu Ende.

Wie man sich gegenseitig anbetet

Tisch- und Liebesgespräche sind so wenig greifbar wie Wolkendunst und Rauch.

Fameuil und Dahlia trällerten; Tholomyés trank; Sephine lachte; Fantine lächelte. Listolier amüsierte sich mit einer hölzernen Trompete, die er sich in Saint-Cloud zugelegt hatte; Favourite sah Blachevelle mit schmachtenden Blicken an und flötete:

»Blachevelle, ich bete dich an!«

Dies veranlagte Blachevelle zu der Frage:

»Was würdest Du thun, Favourite, wenn ich aufhören würde dich zu lieben?«

»Was ich thun würde? Sage mir so etwas nicht einmal zum Spaß. Wenn Du aufhörtest mich zu lieben, würde ich dir nachstürzen, dich hauen, dich kratzen, dich mit Wasser begießen, dich arretieren lassen.«

Inniges geckenhaftes Vergnügen malte sich auf Blachevelles Antlitz ab. Favourite fuhr eifrig fort:

»Wirklich, auf die Wache ließe ich dich bringen! Das versichere ich dich, du infame Kanaille!«

Außer sich vor Wonne lehnte sich Blachevelle in seinem Stuhl zurück und schloß stolz die Augen.

Aber als Dahlia im allgemeinen Lärm Favourite die Frage zuflüsterte: »Bist Du wirklich so verschossen in deinen Blachevelle?« antwortete Fauvourite:

»Ich kann ihn nicht besehen. Er ist ein knickerig. Ich liebe einen kleinen, netten Menschen, der mir gegenüberwohnt Du kennst ihn wohl? Er beißt den Schauspieler heraus, und ich schwärme für die Schauspieler. Sobald er den Fuß ins Haus setzt, schreit seine Mutter ›Ach Du mein Gott, nun ist’s mit meiner Ruhe vorbei!‹ Jetzt wird er gleich wieder losbrüllen. Lieber Sohn, du sprengst mir noch mal den Kopf mit deinem Geschrei! Er geht nämlich stets auf den Boden, und so hoch hinauf, wie er irgend kann, und singt und deklamiert, daß man ihn unten hört. Und zwanzig Sous verdient er schon den Tag bei einem Rechtsanwalt, dessen Schikanen er abschreibt. Er ist der Sohn eines Kantors von der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas. Ein netter Mensch, kann ich dir sagen. Ich hab’s ihm so stark angethan, daß er einmal, als ich Kuchenteig knetete, zu mir gesagt hat: ›Fräulein, machen Sie aus Ihren Handschuhen da — damit meinte er den Teig, der an meinen Fingern klebte, — machen Sie Strudel aus Ihren Handschuhen, dann esse ich Ihre Handschuhe.‹ So was Feines und Galantes kann bloß ein Künstler sagen. Solch ein netter Mensch! Ich bin auf dem besten Wege mich in den Kleinen zu vernarren. Aber zu Blachevelle sage ich doch, daß ich ihn anbete. Nicht wahr? Ich verstehe mich aufs Lügen?«

Hier hielt Favourite inne, seufzte und fuhr fort:

»Dahlia, mir ist trübselig zu Muthe. Den ganzen Sommer ist es in einem Regen geblieben, und windig, und ich kann den ewigen Wind nicht ausstehen. Ganz krank werde ich davon. Blachevelle ist ein Filz. Kaum, daß Schoten auf dem Markt zu haben sind. Man weiß nicht, was man essen soll. Ich habe den Spleen, wie die Engländer sagen. Und die Butter ist theuer! Und das Allerschlimmste ist, wir essen in einem Zimmer, wo ein Bett steht. Das verekelt mir das Leben.«

Die Weisheit des Tholomyès

Währenddem sangen die Einen, Andre sprachen überlaut und Alle durcheinander, was einen wüsten Lärm ergab. Da gebot Tholomyès Ruhe.

»Reden wir nicht aufs Gerathewohl, und überstürzen wir uns nicht. Wer seine Zuhörer entzücken will, der überlege, was er spricht. Wer aus dem Stegreif redet, wird leicht öde. Also nicht zu hastig, meine Herren. Schlampampen wir mit Würde; würzen wir unsere Fresserei mit Andacht. Eile mit Weile. Seht Euch den Frühling an: Kommt er zu hitzig herbeigerannt, so bringt er zu viel Kälte mit, und wir erfrieren. Blinder Eifer thut der Gemächlichkeit Eintrag. Also keinen Eifer, meine Herren!«

Ein dumpfes Gemurmel unterbrach den Redner.

»Tholomyès, laß uns zufrieden!« rief Blachevelle.

»Nieder mit dem Tyrannen!« donnerte Fameuil.

»Der Ulk ist zollfrei!« mahnte Listolier.

»Siehe, wie gesetzt ich bin!« prahlte Fameuil.

»Auf einem magern Sitzorgan«, spottete Tholomyès. Alles lachte über den armen Fameuil, und Tholomyès ergriff wieder die Zügel der Herrschaft.

»Freunde, beruhigte er großmüthig, laßt Euch durch meinen Schlager nicht niederschlagen. Mein Kalauer war ein Geschenk des Himmels, und nicht alles, was vom Himmel fällt ist schön. So ist z. B. der Mist, den die Vögel gratis auf uns niederfallen lassen, fast ebenso ungenießbar, wie der Mist, den unsere Professoren reden und den wir mit schwerem Mammon bezahlen. Ich erlaube euch also Euer Verwundrungsmaul nicht zu weit aufzusperren, wenn mein Genie im Fluge sich eines Kalauers entledigt. Freilich würde ich mir andrerseits auch verbitten, daß ihr den Kalauer unterschätzt. Die erhabensten Erdensöhne und die allerniedlichsten Erdentöchter haben Wortspiele verübt. Gekalauert hat Christus über Petrus, Mooses über Isaak, Aeschylus über Polynices, Kleopatra über Oktavian. Ist dieses richtig demonstrirt und konstatiert, so kehre ich zu meiner Vermahnung zurück. Ich wiederhole es geliebte Brüder und geliebtere Schwestern: Kein Eifer, kein Sammelsurium, keine Ueberpurzelung mit Witzen, Wortspielen und anderen Ulken. Thuet Eure Ohren auf, nicht sehr weit auf, denn solches thun nur die Esel, nein! nur so weit, daß Ihr meine Rede vernehmen könnet. Denn ich gleiche dem Seher Amphiaraus an Weisheit und daß mein Kopf hell ist wie Caesars, könnt Ihr schon daraus erschließen, daß er ebenso kahl ist, wie seiner war. Ein jedes Ding hat seine Grenze, selbst ein Rebus oder auf lateinisch: Est modus in rebus. Folglich habe auch ein Diner seine Grenze. Die Vielfresserei bestraft den Vielfresser, indem sie ihm den Magen verdirbt. Und merkt Euch: Alle unsere Triebe und Leidenschaften, selbst die Liebe, haben einen Magen, der nicht überfüllt werden darf. Immer und überall muß man bei Zeiten Finis! sagen, seinen Appetit beim Schlafittchen kriegen, seine Gelüste und Begierden dingfest machen. Glaubet meinen Worten, habet Vertrauen zu meinem Gripps. Daraus, daß ich Examina bestanden, daß ich den Unterschied zwischen einem anhängigen und einem noch zu erhebenden Prozesse kenne, daß ich eine These auf lateinisch vertheidigt habe über die intelligente Applizierung der Folter durch den Quästor Alfantius Dummerianus, daraus folgt noch nicht unwiderleglich, daß ich ein Rindvieh bin. Befleißet Euch also der Mäßigkeit. So wahr ich Felix Tholomyès heiße, ich rede gut. Wohl dem, der sobald die Stunde geschlagen hat, einen heldenmütigen Entschluß faßt und wie Sulla oder der Origenes abdankt.«

Favourite hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu. »Felix! Ein hübscher Name. Das ist Lateinisch und bedeutet so viel wie Prosper.«

Tholomyès fuhr fort:

»Quiriten, gentlemen, caballeros, Freunde! Wollet Ihr die Begierden des Fleisches dämpfen und Amor ein Schnippchen schlagen? So vernehmet folgendes Rezept: Limonade, viel Bewegen, Bachulken, schindet Euch, sägt Holz, schlaft nicht, schlagt Euch den Leib voll mit salpetrigen Getränken, Seerosenthee, Mohnmilch, Keuschbaumemulsionen, würzet diese Genüsse mit einer knappen Diät, dazu kalte Bäder, Kräutergürtel, Abwaschungen mit Bleibaumlikor und Weinessigumschläge.«

»Etwas Weibliches ist mir lieber!« meinte Listolier.

»Den Weibern ist nicht zutrauen!« versetzte Tholomyès. »Das Weib liebt Veränderung, ist falscher Art und wandelt gern krumme Wege. Wenn sie die Schlangen nicht leiden kann, so thut sie das nur aus Konkurrenzneid.«

»Tholomyées«, rief Blachevelle, »Du bist besoffen!«

»Na ob!« räumte Tholomyès ein.

»Dann sei gemüthlich.«

»Meinetwegen.« Er füllte sein Glas bis zum Rande und erhob sich von seinem Sitze. »Es lebe der Wein! Nic, te, Bache, canam. Verzeihung, meine Damen, daß ich spanisch spreche. Beweis hierfür ist der Spruch: Wie ein Volk ist, so ist sein Weinmaß. Die kastilische Arroba faßt sechszehn Liter, der Cantaro von Alicante zwölf, die Almuda der kanarischen Inseln fünfundzwanzig, der Cuartin der Balearen sechsundzwanzig, der Stiefel Peters I. von Rußland dreißig. Ein Lebehoch dem Zaren, der ein großer Mann war, und ein noch höheres seinem noch größeren Stiefel! Einen guten Rath, meine Damen! Irren Sie Sich, wenn es Ihnen paßt, küssen Sie einen Andern. Irren ist menschlich, und von Einem zum Andern zu irren ist lieblich. Meine Damen, ich verehre Sie Alle, O Sephine, o Josephine. Sie sind reizend, schade nur, daß ihr Gesicht ein wenig schief gerathen ist. Es sieht aus, als hätte sich einmal Einer aus Versehen auf ihren Kopf gesetzt, und seitdem sind Ihre holden Züge etwas verschoben. Was Favourite anbetrifft, o Nymphen und Musen! Eines Tages sah Blachevelle ein schönes Mägdelein über einen Rinnstein schreiten. Sie hatte weiße knappe Strümpfe an, was in den Strümpfen steckte, war schön, und es gefiel ihm, und er empfand Liebe. Sie hieß Favourite. O Favourite, Du hast jonische Lippen. Es war einmal ein griechischer Maler, genannt Euphorion, dem hatte man den Beinamen ›der Lippenmaler‹ gegeben. Nur dieser Grieche wäre wert gewesen. Deine Lippen zu malen. Höre mich! Vor Dir gab es nichts Schönes auf Erden. Du verdienst den Apfel, den Paris der Venus gab, zu besitzen oder ihn aufzuessen wie Eva. O Favourite, ich höre auf Sie zu duzen, weil ich jetzt von der Poesie zur Prosa übergehe. Sie sprachen so eben von meinem Namen. Das hat mich tief gerührt; aber mißtrauen wir allen Worten und Namen. Es kann einer Reich heißen und sein Leben lang an unheilbarem Dalles kranken. Auch Ihnen, Fräulein Dahlia, möchte ich rathen, sich Rosa zu nennen. Die Rose riecht gut und der Wohlgeruch ist das Beste an der Blume, wie der Verstand an dem Weibe. Ueber Fantine will ich nichts sagen. Sie ist eine Träumerin, eine Denkerin, eine zarte Mimose; ein Schatten in Gestalt einer Nymphe und mit der Sittsamkeit einer Nonne, die als Grisette unter Grisetten lebt, aber sich in das Reich der Illusionen flüchtet, die singt und betet und zu der Azurbläue hinaufschaut, ohne zu wissen, was sie da sieht, und was sie thut; und ihre Augen über einen himmlischen Garten hinschweifen läßt, wo mehr Vögel herumfliegen, als es auf der Welt giebt, O Fantine. wisse: Ich Tholomyès, bin eine Illusion; aber sie versteht mich nicht, die blonde Tochter einer Chimaere. Im Uebrigen ist sie eitel Jugendfrische, Süßigkeit, Holdseligkeit, lichte Klarheit. O Fantine, Mägdelein du verdienst Margarete, das ist verdolmetscht Perle, zu heißen, denn du bist eine Perle von schönstem Wasser. Ein zweiter Rath, meine Damen. Heirathen Sie nicht. Die Ehe ist wie Pfropfreis. Es kann veredeln oder auch nicht. Vermeiden Sie dieses Risiko. Aber ach! ich rede in den Wind! Die jungen Mädchen können das Heiraspeln nicht lassen, und was wir Weisen auch reden mögen, wird keine Putzmacherin oder Schneiderin unterlassen von einem Diamantenprinzen zu träumen, der sie eines schönen Tages zum Ehegemahl erküren wird. Sei es drum; aber, Ihr Schönen, merket Euch folgende Lehre: Ihr esset zu viel Zucker, und dies ist ein großer Fehler, allerdings Euer einziger. Aber, Freundinnen, der Zucker ist ein Salz. Ein jedes Salz zieht das Wasser an und trocknet folglich aus. Der Zucker aber ist das austrocknendste unter allen Salzen. Er saugt die flüssigen Bestandtheile des Blutes auf; daher Gewinnung, dann Verdickung des Blutes; daher Tuberkulose und endlich der Tod. Deshalb ist die Zuckerkrankheit mit der Schwindsucht verwandt. Also naschet keinen Zucker, und Ihr werdet am Leben bleiben. Nun wende ich mich an das Mannsvolk. Meine Herren, machen Sie Eroberungen. Stibitzen sie sich gegenseitig Ihre Liebchen. Chassez-Croisez. In Liebessachen hört die Freundschaft auf. Handelt es sich um ein hübsches Mädchen, so sind die Feindseligkeiten eröffnet. Kein Pardon! Krieg bis aufs Messer! Ein hübsches Mädchen ist ein casus belli. In allen Invasionen der Geschichte spielt der Unterrock die Hauptrolle. Romulus hat die Sabinerinnen, Wilhelm die Angelsächsinnen, Caesar die Römerinnen geraubt. Der Mann, der nicht mit etwas Liebem versehen ist, schwebt wie ein Geier über den Liebchen Andrer, und ich für mein Theil rufe allen den Unglücklichen, die unbeweibt sind, Bonapartes großartige Proklamation zu: ›Soldaten, Euch mangelt es an Allem. Der Feind hat Alles. Greift zu.‹«

Tholomyès brach ab.

»Verpuste Dich, Tholomyès!« rieth Blachevelle.

Zu gleicher Zeit gab er der Rührung, die Tholomyès Weisheit in ihm erzeugt hatte, angemessenen Ausdruck, indem er, sekundirt von Listolier und Fameuil, ein erbauliches Lied anstimmte. Sinn hatte es nicht, denn es bestand aus zusammengewürfelten Wörtern; aber es wurde nach einer wehmüthigen, feierlichen Bänkelsängermelodie vorgetragen, die der weihevollen Stimmung des Augenblicks angepaßt war. Leider übte es keinen Einfluß auf Tholomyès, der wieder sein Glas füllte und fortfuhr:

»Nieder mit der Weisheit und Vernunft! Vergeßt Alles, was ich gesagt habe. Ich bringe einen Toast aus auf die Freude! Gesellen wir dem Jus den Ulk und den Suff zu. Vermählen wir Justinian mit der Fidelität! Freue dich, Weltall! Ich bin glücklich. Wie die Vögel sich amüsieren! Sei mir gegrüßt, Sommer. O Parke und Gärten, wie schön seid ihr, mit euern döseligen Kommisjungen und allerliebsten Kindermädchen, die nicht blos die Kinder, die schon da sind, warten, sondern auch das Fundament zu anderen legen! Die Pampas könnten mir gefallen, aber ich ziehe die Arkaden des Odeons vor. Umarme mich, Fantine!«

Er irrte sich aber und küßte Favourite.

Tod eines Pferdes

»Bei Bombarda ist es hübscher als bei Edon«, behauptete Sephine.

»Bewahre!« entgegnete Blachevelle. »Edon ist luxuriöser eingerichtet. Fast asiatisch. Bei Bombarda sind die Messerhefte aus Silber, bei Edon aus Horn.«

»Dort«, sagte Tholomyès und zeigte auf den Invalidendom, »sind Welche, die nicht für das Silber schwärmen. Diejenigen, denen man silberne Kinnbacken eingesetzt hat.«

Nach einer Pause fragte Fameuil:

»Wen ziehst Du vor, Descartes oder Spinosa?«

»Desaugiers!« entschied Tholomyès, trank sein Glas aus und fuhr fort:

»Ich habe nichts gegen das Leben einzuwenden. Es ist nicht alles zu Ende auf der Welt, so lange man noch Unsinn reden kann. Den unsterblichen Göttern danke ich dafür. Man lügt, aber man lacht. Man behauptet, aber man zweifelt. Aus dem Syllogismus entwickelt sich Unerwartetes, und das ist schön. Noch giebt es hienieden Menschen, die mit der Vexirschachtel des Paradoxes umzugehen wissen. Was Sie jetzt so gleichgültig trinken, meine Damen, ist Madeira, Coural das Freiras, das 317 Klafter über dem Meeresspiegel liegt, und diese 317 Klafter verkauft ihnen der splendide Restaurateur Bombarda für vier und einen halben Franken. Gepriesen sei Bombarda. Er könnte sich messen mit Munophis von Elephanta, wenn er mir eine Bajadere zulegen und Thygelion von Chäronea, wenn er mir eine Hetäre nachweisen könnte, denn, o meine Damen, es gab Bombardas in Griechenland und Aegypten. Dies theilt uns Apulejus mit. Immer dasselbe und nie etwas Neues! Das ist der Lauf der Welt. Nil sub sole novum, sagt Salomo. In der Liebe sind alle gleich! sagt Virgil.«

So hätte Tholomyès noch lange schwabbeln können, wenn nicht draußen auf dem Pflaster plötzlich ein Pferd gestürzt wäre, was einen Auflauf verursachte. Bei dem Lärm liefen Alle auf die Fenster zu und Tholomyès verstummte.

»Armes Thier!« seufzte Fantine.

Worauf Dahlia spöttelte:

»Jetzt jammert Fantine gar um ein Pferd! Wie kann man so dämlich sein!«

In dem Augenblick trat Favourite mit verschränkten Armen und zurückgeworfenem Kopfe vor Tholomyès hin und fragte mit energischem Ton:

»Wo bleibt denn die versprochene Ueberraschung?«

»Ja richtig. Der Augenblick ist gekommen. Meine Herren, die Stunde der Ueberraschung hat geschlagen. Meine Damen, warten Sie einige Minuten auf uns.«

»Zuerst ein Kuß!« erklärte Blachevelle.

»Auf die Stirn«, ergänzte Tholomyès.

Jeder drückte feierlich seiner Geliebten einen Kuß auf die Stirn; dann gingen sie im Gänsemarsch der Thür zu, indem sie den Zeigefinger auf den Mund hielten.

Favourite klatschte in die Hände.

»Das fängt ja spaßhaft an«, sagte sie.

»Bleibt nicht zu lange!« mahnte Fantine. »Wir warten auf Euch.«

Das lustige Ende der Lustigkeit

Als die jungen Mädchen allein waren, stellten sie sich zu zweien an die Fenster und neigten sich hinaus.

Die jungen Leute kamen aus dem Restaurant Bombardo Arm in Arm, wandten sich zu ihren Damen um, grüßten sie lachend und verschwanden in der Menge, die auf den Champs-Elysés hin- und herwogte.

»Bleibt nicht zu lange!« rief ihnen Fantine zu.

»Was werden sie uns wohl mitbringen?« fragte Sephine.

»Doch gewiß etwas recht Hübsches!« bestimmte Dahlia.

»Es muß etwas Goldenes sein!« sagte Favourite.

Ihre Aufmerksamkeit wurde bald in Anspruch genommen durch das rege Treiben, das sich jetzt an dem Ufer des Flusses einwickelte. Es war die Stunde, wo die Postkutschen ihre Fahrt antraten. Damals waren die Champs-Elysée der wichtigste Ausgangspunkt für den Postverkehr mit dem Osten und Westen und die meisten Deligencen fuhren an dem Fluß entlang zu dem Thor von Passy hinaus. Eins nach dem andern von diesen gelb und schwarz angestrichenen, gewaltigen, schwerfälligen, mit Gepäck überladenen, mit Menschen vollgestopften Fuhrwerke rasselte in rasendem Galopp, Funken sprühend und Staub aufwirbelnd durch das Menschengewirr. Dieser Lärm machte unsern jungen Mädchen Spaß. Favourite rief:

»Ein Lärm, als wenn Ketten auseinander gerissen werden!«

Eine Deligence, die man durch die Ulmenkronen schwer erkennen konnte, hielt plötzlich an und setzte sich dann wieder in Bewegung.

»Sonderbar!« meinte Fantine. »Ich glaubte, die Deligencen hielten nicht an.«

Favourite zuckte die Achseln.

»Die Fantine ist komisch. Ich besuche sie aus Neugierde, — weil sie mir Spaß macht. Ueber die einfachsten Dinge staunt sie. Gesetzt ich will mitfahren und sage: Ich gehe voraus. In der und der Straße steige ich ein. Gut. Ich warte also an der betreffenden Stelle, die Deligence kommt, hält an und ich steige ein. Das passiert alltäglich. Aber Du weißt nicht, wie’s in der Welt zugeht, kleine Fantine.«

So verging eine geraume Zeit. Endlich fuhr Favourite auf und rief ungeduldig:

»Wann kommt denn die famose Ueberraschung?«

»Sie bleiben sehr lange!« seufzte Fantine.

In diesem Augenblick trat der Kellner, der sie bedient hatte, herein, mit einem Papier, das wie ein Brief aussah.

»Was ist das?« fragte Favourite.

»Ein Billet, das die Herren hinterlassen haben und das ich den Damen geben sollte.«

»Warum ist das nicht gleich gebracht worden?«

»Weil die Herren befohlen haben, es sollte den Damen erst nach Verlauf einer Stunde zugestellt werden.«

Favourite riß dem Kellner den Brief aus der Hand:

Was? Keine Adresse. Aber statt dessen steht darauf:

Dies ist die Ueberraschung.

Sie erbrach hastig den Brief und las, denn sie konnte lesen:

»O theure Geliebte!

Wisset, daß wir Eltern haben. Was Eltern sind, davon habt Ihr keine rechte Wissenschaft. So was nennt der Civiloder Anstandskodex Vater und Mutter. Diese Eltern also seufzen, diese Alten sehnen sich nach uns, diese guten Männlein und Weiblein schelten uns verlorne Söhne, wünschen, daß wir zurückkehren, und erbieten sich uns zu Ehren Kälber zu schlachten. Da wir tugendhaft sind, gehorchen wir ihnen. Zur Zeit, wo ihr dieses leset, bringen uns fünf edle Rosse heimwärts, zu unsern Papas und Mamas. Wir schrammen ab, um uns der gewählten Ausdrucksweise unsrer Musterschriftsteller zu bedienen. Wir machen uns auf die Strümpfe, wir sind jetzt schon auf den Strümpfen. Die Deligence entreißt uns dem Abgrund, und der Abgrund seid Ihr, holde Kleinen! Wir kehren in die Gesellschaft, zur Pflicht, zur Ordnung im schnellsten Trabe, zwölf Kilometer per Stunde zurück. Es liegt im Interesse des Vaterlands, daß wir wie jeder Andre, Präfekten, Familienväter, Feldhüter und Staatsräthe werden. Heget also Ehrfurcht vor uns, denn wir üben Selbstverleugnung. Beweinet uns recht schnell und suchet baldigen Ersatz für uns. Wenn dieser Brief Euch das Herz zerreißt, so vergeltet ihm Gleiches mit Gleichem. Lebet wohl.

Nahezu zwei Jahre lang haben wir Euch glücklich gemacht. Tragt es uns nicht nach.

Unterzeichnet: Blachevelle.

Fameuil.

Listolier.

Felix Tholomyès.

P.S. Die Zeche ist bezahlt.«

Die vier jungen Mädchen sahen einander an.

Favourite brach zuerst das Stillschweigen.

»Es ist ein ganz guter Witz, das muß man sagen.«

»Es ist zum Lachen,« stimmte Sephine bei.

»Das ist ein Einfall von Blachevelle,« sagte Favourite. »Nun könnte ich mich in ihn verlieben. Die alte Geschichte. Sobald er weg ist, liebt sie ihn.«

»Bewahre!« entgegnete Dahlia. »Das hat Tholomyès ausgeheckt. Das ist doch leicht zu merken.«

»Dann nieder mir Blachevelle, und Tholomyès lebe hoch!« rief Favourite.

Es lebe Tholomyès! schrieen Dahlia und Sephine.

Und die drei lachten laut auf.

Fantine lachte mit.

Aber eine Stunde später, als sie nach Hause gekommen war, weinte sie. War doch Tholomyès wie schon erwähnt, ihre erste Liebe, und die Aermste ein Kind.

In schlechten Händen

Zwei Mütter

In dem ersten Viertel dieses Jahrhunderts war in Montfermeil bei Paris eine Gastwirtschaft, die gegenwärtig nicht mehr existiert. Die Inhaber hießen Thénardier, Mann und Frau. Sie lag in der Ruelle du Boulanger. Ueber der Thür sah man ein an der Mauer festgenageltes Brett. Darauf war etwas gemalt, das aussah wie ein Mann, der einen andern auf dem Rücken trägt, und dieser Andre hat große goldne Generalsepauletten mit breiten, silbernen Sternen; rothe Kleckse stellten Blut vor; das Uebrige war Rauch, und das Ganze sollte wohl eine Schlacht sein. Darunter las man die Aufschrift: Zum Sergeanten von Waterloo.

Nichts ist gewöhnlicher als ein Rollwagen oder Karren vor der Thür einer Herberge. Indessen das Fuhrwerk oder besser gesagt, das Bruchstück von Fuhrwerk, das an einem Abend des Frühjahrs 1818 vor dem »Sergeanten von Waterloo« sich breit machte, hätte sicherlich wegen seines gewaltigen Volumens die Aufmerksamkeit eines Malers auf sich gezogen, wenn ein Solcher hier vorbeigekommen wäre.

Es war das Vordergestell eines Blockwagens, wie man sie in Waldgegenden zum Transport von Bohlen und Baumstämmen benutzt. Dieses Gestell bestand aus einer massiven, eisernen Achse, in die eine schwere Deichsel eingezapft war und von ungeheuren Rädern getragen wurde. Das Ganze war entsetzlich schwerfällig und ungestaltet. Es ähnelte der Laffette einer Riesenkanone. Der Lehm, der im Laufe der Zeit an den Rädern, Felgen, Naben, an der Achse und Deichsel kleben geblieben war, bildete eine häßliche gelbe Schicht, die dem Anstrich alter Kirchen ziemlich ähnlich sah. Das Holz war unter dem Koth und das Eisen unter dem Rost kaum noch zu erkennen. Unter der Achse hing eine schwere Kette, die eines Goliaths im Zuchthause würdig gewesen wäre. Beim Anblick dieser Kette dachte man nicht an den Transport von Balken, sondern an ein Gespann von Mastodonten und Mammuthen. Oder sie erinnerte an ein Cyklopenzuchthaus. Homer hätte sie für seinen Polyphem und Shakespeare für Caliban beansprucht.

Weshalb stand dieses Vordergestell an diesem Orte? Erstens um auf der Straße hinderlich zu sein, und zweitens um weiter zu rosten. Es war ein Hemmniß ohne irgend welchen Berechtigungsgrund, aber kein so unsinniges als die, welche fortwährend die alten staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen dem Fortschritt in den Weg stellen.

Die Mitte der Kette hing unter der Achse so tief herab, daß sie fast den Erdboden berührte, und auf der Krümmung saßen, wie auf einer Schaukel an jenem Abend zwei allerliebste kleine Mädchen, von denen die älteste zwei und ein halbes Jahr, und die jüngste, die sie mit Ihren Armen umschlungen hielt, und anderthalb Jahre alt sein mochte. Ein kunstreich gebundnes Tuch verhinderte, daß sie herunterfallen konnten. Das Ungethüm von Kette war von einer Mutter dazu auserlesen worden, ihren Kindern als Spielzeug zu dienen.

Die recht niedlich und mit einer gewissen Eleganz geputzten kleinen Mädchen strahlten vor Freude; aus ihren Augen leuchtete übermüthiger Triumph und die frischen Bäckchen lachten. Die Eine hatte kastanienfarbiges Haar, die Andre war brünett. Ihre naiven Gesichtchen bekundeten entzückte Verwundrung; die jüngste zeigte ihr bloßes Bäuchlein mit der ganzen harmlosen Ungeniertheit der Kindheit. Unter und neben den beiden Köpfchen bildete die fast grausig anzuschauende Kette mit der Achse gleichsam den Eingang zu einer dunkeln Höhle. Wenige Schritte davon, saß auf der Schwelle der Herberge die Mutter, eine Frau von keineswegs einnehmendem Aeußeren, die aber zur Zeit einen rührenden Eindruck machte. Sie schaukelte die beiden kleinen mittels eines langen Bindfadens und überwachte ängstlich ihre Bewegungen mit jenem halb thierischen, halb himmlischen Gesichtsausdruck, der allen Müttern eigen ist. Bei jeder Schwingung kreischten die Eisenringe abscheulich auf; die Kleinen jubilierten, die untergehende Sonne that auch das Ihrige um das Schauspiel zu verschönern, und man konnte sich nichts Reizenderes denken, als die Laune des Zufalls, die eine Titanenkette zu einer Schaukel für Cherubim benutzte.

Während sie ihre beiden Kleinen hin und herwiegte, sang die Mutter mit falscher Stimme eine damals beliebte Romanze:

»Es muß geschehen, sprach ein Krieger.«

Was unterdessen auf der Straße vorging, konnte sie bei ihrer Beschäftigung nicht sehen.

Ehe Sie aber noch die erste Strophe beendet hatte, war jemand herangekommen, und plötzlich hörte sie dicht in ihrer Nähe eine Stimme, die zu ihr sagte:

»Sie haben da zwei hübsche Kinder, Madame.«

»Der schönen, zarten Imogine,« sang die Mutter weiter, wendete sich aber sogleich um.

Einige Schritte vor ihr stand eine Frau, die ein Kind auf den Armen trug.

Außerdem schleppte sie sich noch mit einem großen Reisesack, der ziemlich schwer zu sein schien.

Das Kind dieser Frau, ein zwei bis dreijähriges Mädchen war eins der reizendsten Wesen, das man sich vorstellen konnte. Auch in Bezug auf den Putz konnte sie den Vergleich mit den andern Kleinen aushalten. Sie trug ein feines Linnenhäubchen mit Valenziemer Spitzchen, und hatte Bänder am Mieder. Da das Kleidchen in die Höhe gerutscht war, konnte man die weißen fleischigen und drallen Schenkel sehen. Ihre Gesichtsfarbe war rosig gesund und die Bäckchen zum Anbeißen. Die Augen, konnte man, da sie schlief, nicht sehen, aber es waren gewiß recht große Augen mit schönen Liedern.

Die Mutter hingegen sah ärmlich und kummervoll aus. Gekleidet war sie wie eine Arbeiterin, die im Begriff ist, wieder Bäuerin zu werden. Sie war jung, vielleicht auch schön, aber in diesem Fall beeinträchtigte die armselige Kleidung ihre körperlichen Vorzüge. Ihr Haar, von dem nur eine blonde Locke sichtbar war, schien sehr dicht und stark zu sein, allein der Gedanke mit diesem schönen Naturschmuck Staat machen zu wollen, mußte ihr wohl fernliegen, denn es verschwand fast ganz unter einer unkleidsamen, eng anliegenden, unter dem Kinn festgebundenen Nonnenhaube. Ob Jemand schöne Zähne hat, kann man entscheiden, wenn er lacht; aber die Fremde war nicht zur Heiterkeit aufgelegt. Im Gegentheil. Ihren Augen nach zu urtheilen mußte sie erst vor kurzem geweint haben. Auch war sie blaß, sah müde und krank aus. Sie hatte wohl ihr Kind selber gesäugt, denn darauf deutete die Art hin, wie sie das schlafende Kind anblickte. Ein großes blaues Taschentuch, ähnlich wie es bei Invaliden gebräuchlich ist, verhüllte in ungraziöser Weise ihre Taille. Ihre Hände waren von der Sonne braun gebrannt, mit Sommersprossen bedeckt. Der rechte Zeigefinger hart und zerstochen. Bekleidet war sie mit einem halblangen Mantel aus braunem flockigem Wollstoff, einem Leinwandkleid und groben Schuhen. Es war Fantine.

Sie war schwer wieder zu erkennen. Indessen wenn man sie genauer ansah, hatte ihre Schönheit sie noch nicht verlassen. Allerdings zog sich über ihre rechte Wange eine Falte, aus der Schwermuth und leise Ironie sprach. Ihre luftige Kleidung voller Lustigkeit und Munterkeit war dahin, verschwunden wie die Thautropfen, die an der Sonne wie Diamanten glänzen, wenn sie aber verdunstet sind, die dunkle Farbe der Aeste und Zweige zum Vorschein kommen lassen.

Seit dem »famosen Witz« waren zehn Monate verstrichen.

Was hatte sich seitdem zugetragen? Man kann es errathen.

Seit Tholomyès Flucht, nichts als Sorgen und Noth. Favourite, Sephine und Dahlia hatte Fantine alsbald aus den Augen verloren, denn nach Lösung des Bandes, das die Männer mit den jungen Mädchen zusammenhielt, waren auch diese sofort auseinander gegangen, und hätte man ihnen vierzehn Tage später gesagt, sie seien Freundinnen, so würden sie sich sehr gewundert haben. Fantine war also allein und auf sich angewiesen. Das Schlimmste aber war, daß sie jetzt die Liebe zur Arbeit eingebüßt und sich Vergnügungssucht angewöhnt hatte; abgesehen davon, daß sie ihre ehemaligen Arbeitgeber vernachlässigt und Verbindungen aufgegeben, die sich jetzt nicht mehr anknüpfen ließen. Kein Ausweg! Fantine konnte kaum lesen, und schreiben auch nur gerade ihren Namen. Sie ließ also von einem öffentlichen Schreiber einen Brief an Tholomyès aufsetzen, dann einen zweiten und einen dritten. Denn selbstredend erhielt sie keine Antwort. Eines Tages hörte sie, wie ein paar Frauen im Hinblick auf ihr Töchterchen sagten: »Dergleichen Kinder zählen nicht mit. Ueber dergleichen Bälge zuckt man die Achseln.« Da war ihr Tholomyès eingefallen, der beim Gedanken an ihr Kind jetzt die Achseln zuckte, und ihr Herz erfüllte Bitterkeit gegen diesen Menschen. Aber woher Hilfe schaffen? Sie wußte nicht, an wen sie sich wenden sollte. Sie hatte sich ja eines Fehltritts schuldig gemacht, aber ihr innerstes Wesens war sittsam und tugendhaft. Sie sagte sich, sie gehe dem grausigsten Elend entgegen und werde sittlich verkommen, sie müßte sich also mit aller Gewalt aufraffen. Da dachte sie an ihre Vaterstadt Montreuil-sur-Mer. Dort würde vielleicht Jemand sie kennen und ihr Arbeit verschaffen. Schon gut. Aber dann mußte sie ihren Fehltritt verhehlen, und diese Notwendigkeit legte ihr den Gedanken an eine andre Trennung nahe, die noch schmerzlicher sein würde, als die von Tholomyès. Es schnitt ihr durchs Herz aber sie gewann den schweren Entschluß über sich. Besaß sie doch in hohem Grade jene hartnäckige Tapferkeit, die der Kampf um das Dasein erheischt. Schon hatte sie die Selbstüberwindung gehabt allem Schmuck zu entsagen, und während sie sich in Leinwand kleidete, alle ihre Seide, Bänder, Spitzen dazu verwendet ihr Töchterchen hübsch herauszuputzen, denn diese — edlere — Art von Eitelkeit behielt sie noch. Sie verkaufte dann alles, was sie hatte, und bezahlte von dem Erlös, zweihundert Franken, ihre Schulden, so daß ihr schließlich nur noch achtzig Franken blieben. Nun wanderte sie, im Alter von zweiundzwanzig Jahren, an einem schönen Frühlingsmorgen ihr Kind auf dem Rücken, aus Paris hinaus. Erbarmungswerter Anblick, den die Beiden darboten! Die Frau besaß auf der Welt nichts als ihr Kind, und das Kind nichts als seine Mutter. Fantine hatte ihr Kind selbst gestillt, und hatte damit ihre Brust angestrengt, so daß sie hüstelte.

Von Felix Tholomyès zu sprechen wird keine Veranlassung mehr vorliegen. Es genüge zu wissen, daß er zwanzig Jahre später, unter der Regierung Louis Philipps ein angesehener und reicher Rechtsanwalt in einer Provinzstadt, ein verständiger Wähler und sehr strenger Geschworener, dabei aber immer noch Lebemann war.

Um die Mitte des Tages war Fantine, nachdem sie für ein paar Sous eine Strecke gefahren war, in der Ruelle du Boulanger in Montfermeil angelangt.

Als sie hier vor der Herberge der Thénardiers vorbeikam, zogen die beiden kleinen Mädchen, die sich auf ihrem Ungethüm von Schaukel so schön amüsirten, die Augen der armen Wanderin auf sich und sie blieb stehen, ihre Augen an der Freude der Kleinen zu weiden.

Es giebt Dinge, die mit der Gewalt eines Zaubers auf den Menschen wirken. Einen solchen Eindruck machten jetzt die beiden Kinder auf Fantine, deren Mutterherz bei dem reizenden Schauspiel in Entzücken gerieth.

Sie betrachtete mit innigster Rührung die kleinen Engel, die doch wohl in einem Paradiese leben mußten und glaubte über der Thür der Herberge ein von der Vorsehung geschriebenes: »Hier ist es!« zu lesen. Die kleinen Wesen hatten es augenscheinlich recht gut! Dies waren die Gefühle, die ihr Herz bewegten, als sie die Mutter der Kleinen beim Singen unterbrach und ihr zurief:

»Sie haben da zwei allerliebste Kinderchen! Die gefühllosesten Kreaturen werden weicher gestimmt, wenn man ihre Sprößlinge lobt,« Die Angeredete blickte auf, dankte und lud die Fremde ein, auf der Bank Platz zu nehmen, während sie auf der Schwelle sitzen blieb.

»Ich heiße Frau Thénardier. Diese Gastwirthschaft gehört uns«, sagte sie und trällerte ihr Lied halblaut weiter.

Frau Thénardier war rothhaarig, übermäßig fleischig, von eckiger Gestalt, kurz, ein echtes Soldatenweib in des Wortes ungraziösester Bedeutung. Dabei aber hatte sie ein zieriges Wesen, das sie einer ausgedehnten Romanlektüre verdankte. Sie war noch jung, höchstens dreißig Jahre alt. Hätte sie aufrecht gestanden, so wäre vielleicht bei dem Anblick ihrer kolossalen Statur, die in einer Jahrmarktsbude als Kuriosität Ehre eingelegt hätte, die Fremde entsetzt zurückgewichen und das, was wir jetzt berichten wollen, wäre unmöglich geworden. Von dem Umstande, ob in einem gegebenen Augenblick Jemand eine sitzende oder stehende Haltung einnimmt, kann aber ein Menschenschicksal abhängen.

Die Fremde erzählte, indem sie sich einige Abweichungen von der Wirklichkeit gestattete, ihre Lebensgeschichte.

Sie sei eine Arbeiterin; ihr Mann wäre gestorben; in Paris finde sie keine Arbeit und suche gegenwärtig welche in ihrem Heimathsort; sie hätte heute früh Paris zu Fuß verlassen, aber da sie sich mit dem Kinde tragen mußte, sei sie müde geworden und in den Wagen, der nach Villemomble fuhr, gestiegen; den Weg von Villemomble bis nach Montfermeil sei sie zu Fuß gekommen; die Kleine wäre ein Bischen gegangen, aber sie habe sie natürlich bald wieder auf den Arm nehmen müssen und da wäre das Herzenskind eingeschlafen.

Dabei küßte sie ihr Töchterchen voller Inbrunst, so daß diese aufwachte. Die Kleine machte ihre großen blauen Augen weit auf und sah sich um mit jenem Ernst, welcher der lichtvollen Unschuld dieser kleinen Wesen den schon dunkel gewordenen Tugenden der Erwachsenen gegenüber so schön ansteht. Ist es doch, als wüßten sie, daß sie Engel und wir Menschen sind! Dann fing die Kleine an zu lachen, zappelte sich kräftig los aus den Armen der Mutter, die sie zurückhalten wollte, und glitt auf die Erde herab. Mit einem Mal wurde sie ihrer Altersgenossinnen auf der Schaukel ansichtig und ließ zum Zeichen ihrer Bewunderung die Zunge aus dem weit geöffneten Mündchen heraushängen.

Mutter Thénardier band ihre Kinder los, nahm sie von der Schaukel herunter und sagte:

»So, nun spielt alle drei zusammen!«

In dem Alter ist man zutraulich, und es dauerte nicht lange, so scharrten die beiden kleinen Thénardiers und ihre neue höchst vergnügte Kameradin mit gewaltigem Eifer Löcher in die Erde.

Unterdessen setzen die beiden Mütter das angefangene Gespräch fort.

»Wie heißt Ihre Kleine?«

»Cosette.«

Der wirkliche Name war Euphrasia, aber Mutter hatte ihre Euphrasia in Cosette umgetauft, vermöge jenes hübschen sprachlichen Instinktes der Mütter und des Volkes, der aus Josefa Pepita und aus Françoise Sillette macht, Ableitungen, die den Theorieen der Etymologen entschieden zuwiderlaufen.

»Wie alt ist sie?«

»Sie wird bald drei Jahre alt.«

»Wie meine Aelteste.«

Währenddem war den kleinen Mädchen etwas Wichtiges passirt. Es war nämlich ein dicker Regenwurm aus der Erde hervorkrochen, und sie betrachteten ihn voller Bangigkeit und Verwundrung.

Die drei Köpfchen dicht zusammengedrängt, bildeten sie eine allerliebste Gruppe.

»Wie rasch die Kinder Bekanntschaft mit einander machen!« rief Mutter Thénardier. »Sollte man nicht meinen, man hatte drei Schwestern vor sich?«

Diese Aeußrung war ein Funke, auf den die andre Mutter gewartet zu haben schien. Sie ergriff die Hand der Thénardier, sah ihr ins Auge und fragte:

»Wollen Sie mein Kind eine Zeit lang bei Sich behalten?«

Die Thénardier machte eine Gebärde des Erstaunens, die weder Ja noch Nein bedeutete.

Cosettens Mutter fuhr fort:

»Sehen Sie, ich kann die Kleine nicht mitnehmen. Ich würde keine Arbeit bekommen, denn in meiner Heimat sind sie lächerlich in dieser Hinsicht. Der liebe Gott hat mich zu Ihnen hergeführt. Als ich Ihre allerliebsten, so reinlich gehaltnen und vergnügten Kinderchen gesehen habe, da ist mir ganz eigen zu Muthe geworden. Ich habe gedacht, das muß eine gute Mutter sein. Sie haben Recht: Die drei passen zu einander, als wenn’s Schwestern wären. Außerdem bleibe ich auch nicht lange weg. Wollen Sie mir also bis dahin meine Kleine hier behalten?«

»Man müßte sich die Sache überlegen,« meinte die Thénardier.

»Ich würde sechs Franken den Monat geben.«

Hier ließ sich aus dem Hause eine Männerstimme vernehmen.

»Nicht unter sieben Franken. Und sechs Monate pränumerando.«

Sechs mal sieben macht zweiundvierzig, berechnete die Thénardier.

»Gut«, sagte die Fremde.

»Und außerdem fünfzehn Franken für die ersten Auslagen.«

»Im Ganzen siebenundfünfzig Franken, fuhr die Thénardier fort und sang ihre liebliche Romanze weiter:

Es muß sein, so sprach der Krieger.«

»Die sollen Sie haben,« sagte Fantine. »Ich habe achtzig Franken. Da bleibt mir noch Geld genug übrig, um nach meinem Ort zu reisen, — wenn ich zu Fuß gehe. Wenn ich dort ein wenig Geld verdient habe, komme ich wieder und hole mir mein Herzenskleinod ab.«

Aus dem Hause rief es wieder:

»Die kleine hat doch eine Ausstattung?«

»Mein Mann!« erklärte die Thénardier.

»Nun natürlich hat sie eine Ausstattung. Ich habe mir gleich gedacht, daß es ihr Mann war. Sogar eine sehr statiöse, großartige! Alles dutzendweise, und Seidenkleidchen, wie das feinste Fräulein sie nicht besser haben kann. Ich habe Alles bei mir, in dem Reisesack.«

»Das müssen Sie mitgeben!« rief der Mann wieder.

»Nun natürlich bekommt sie’s mit. Das wäre ja noch schöner, wenn ich meine Tochter ohne Kleider ließe!«

Jetzt trat der Hausherr aus dem Hintergrunde hervor.

»Ich bin’s zufrieden.«

Der Handel wurde also abgeschlossen. Fantine übernachtete in der Herberge, zahlte das Geld aus und machte sich ohne ihr Kind und mit dem stark zusammengeschrumpften Reisesack am nächsten Morgen wieder auf den Weg, indem sie darauf rechnete, bald wieder zurückkommen zu können. Eine solche Abreise läßt sich ruhigen Herzens beschließen, aber ist der Augenblick gekommen, so bringt sie Einen an den Rand der Verzweiflung.

Eine Nachbarin der Thénardier begegnete Fantinen, als sie ohne ihr Kind von dannen ging, und erzählte ihnen:

»Ich habe so eben auf der Straße eine Frau weinen sehen, daß es herzzerreißend war.«

Als Cosettens Mutter fort war, sagte Thénardier zu seiner Frau:

»Nun kann ich die hundert und zehn Franken bezahlen die morgen fällig werden. Es fehlten mir noch fünfzig Franken. Der Wechsel wäre mir faktisch protestirt worden, und wir hätten den Exekutor auf den Hals gekriegt. Die kleine Maus hast Du gut geködert mit deinen Jöhren.«

»Ohne mir was dabei zu denken,« entgegnete die Frau.

Erste Skizze zweier verdächtiger Gestalten

Es war ein armseliges Mäuschen, das sie da gefangen hatten! aber eine Katze freut sich auch über einen magern Fang.

Was waren die Thénardiers für Leute?

Entwerfen wir in kurzen Umrissen ein Bild von ihnen. Wir werden es in der Folge des Näheren ausführen.

Diese Wesen gehörten zu jener Zwitterart von Menschen, die aus ungebildeten Emporkömmlingen und heruntergekommenen gescheidten Leuten zusammengesetzt ist, zwischen dem sogenannten Mittelstande und den unteren Volksschichten steht und einige Fehler der letzteren mit fast allen Lastern des ersteren verbindet, ohne die gutherzigen Regungen des Arbeiters, noch die Ordnungsliebe der wohlhabenden Klassen zu bekunden.

Die Thénardiers waren sittlich unentwickelte Naturen, die unter dem Stachel irgend einer bösen Leidenschaft der ungeheuerlichsten Verbrechen fähig werden. Die Frau war mehr roh und dumm, der Mann mehr Lump und Gauner. Alle Beiden konnten es auf dem Wege, der zur Vollkommenheit im Schlechten führt, sehr weit bringen. Es giebt eben Krebsseelen, die beständig rückwärts gehen, nach der Finsterniß hin, die ihre Erfahrungen nur dazu benutzen, um ihre moralische Verkrüppelung noch zu vermehren und allmählig immer nichtswürdiger zu werden. Zu diesen Naturen gehörten auch die Thénardiers, Mann und Frau.

Er war eine ausnahmsweise unangenehme Erscheinung für den Physiognomiker. Manche Menschen braucht man blos anzusehen, um Mißtrauen gegen sie zu fassen, ein Mißtrauen, das sich nach zwei Seiten hin erstreckt, auf ihre Vergangenheit und auf ihre Zukunft. Ihre Blicke, ihre Gebärden zeugen davon, daß sie schlimme Handlungen hinter und vor sich haben.

Thénardier war, wenn man seinen Angaben Glauben schenken durfte, Soldat gewesen und hatte es bis zum Sergeanten gebracht. In dem Feldzuge des Jahres 1815 sollte er sich sogar besonders ausgezeichnet haben; aber wir werden später auseinander setzen, wie sich die Sache in Wirklichkeit verhielt. Eine seiner Waffenthaten war auf seinem Aushängeschild dargestellt. Er selber hatte das Bild gemalt, denn er verstand von Allem ein wenig, aber Alles schlecht.

Es war damals die Zeit, wo die Romanlitteratur, die sich einst eines Meisterwerks wie »Clölia« rühmen konnte, sich zu nichts Besserem als zu einer »Lodoiska« emporgeschwungen hatte, in der das Scepter von Fräulein von Scuderi und Frau von Lafavette auf Frau Bournon-Malarme und Frau Barthélemy-Hadot übergegangen war und sich dem Niveau des Volkes angepaßt hatte. In dieser Gestalt entflammte der damalige Roman: »Die liebesbedürftigen Seelen der pariser Portierfrauen« und richtete sogar in den angrenzenden Ortschaften arge Verwüstungen in Frauenhirnen an. Auch Frau Thénardier war gerade gescheidt genug, dergleichen Bücher zu lesen. Sie lebte und webte in diesem Unsinn, tauchte ihr bischen Verstand ganz darin unter und erschien in Folge dessen, so lange sie jung war und noch einige Zeit darüber hinaus, als eine sinnige Natur im Vergleich mit ihrem Manne, einem zugleich rohen und pfiffigen Halunken mit einer gewissen Kombinationsgabe und der auch eine gewisse Bildung besaß, es aber in Bezug auf Sentimentalität nur bis zu Pigault-Lebrun’s Anschauungen gebracht hatte und sich dem schönen Geschlecht gegenüber immer nur als ein vollendeter Knote betrug. Seine Frau war zwölf bis fünfzehn Jahre jünger, als er. Später aber, als ihre romantischen Schmachtlocken zu ergrauen anfingen, als sich aus einer Pamela eine Megäre entwickelte, war die Thénardier nur noch ein dickes, bösartiges Weibsbild, das sich an dummen Romanen erbaut hatte. Aber Albernheiten ließ man nicht ungestraft. Die Folge bei der Thénardier war, daß ihre älteste Tochter Eponine hieß. Die jüngste wäre beinahe von dem Unglück befallen worden, Gulnare getauft zu werden; glücklicher Weise bewirkte aber ein Roman von Ducray-Duminil eine Ablenkung zu Gunsten des armen Dinges, so daß es mit dem Namen Azelma davon kam.

Beiläufig gesagt war aber nicht Alles lächerlich und oberflächlich an dieser eigentümlichen Zeitepoche, die sich durch die Anarchie der Taufnamen charakterisirt. Neben dem so eben angedeuteten romantischen Element tritt ein andres auf, das symptomatisch ist für gewisse soziale Umwälzungen. Es ist heutzutage nicht selten, daß Ochsenjungen sich Arthur, Alfred, Alfons nennen, und Vicomtes — falls man solche Vicomtes noch sprechen kann, sich an dem simpeln Namen Thomas, Pierre, Jacques begnügen lassen. Diese Verbindungen der »feinen« und der plebejischen Taufnamen verdankt man dem neuen Gleichheitsdrange, dessen unwiderstehlicher Hauch jetzt alles durchweht. Auch diesem scheinbaren Mißklange liegt etwas Großes zu Grunde, die französische Revolution.

Die Lerche

Es gehört noch etwas mehr dazu als bloße Niederträchtigkeit, wenn man auf einen grünen Zweig kommen will. Die Gastwirtschaft ging mehr und mehr zurück.

Dank den siebenundfünfzig Franken, die Fantine hergegeben hatte, war es Thénardier geglückt dem Protest zu entgehen und seinen Wechsel zu honoriren. Den nächsten Monat brauchten sie wieder Geld, und Frau Thénardier versetzte deshalb in Paris Cosettens Ausstattung für sechzig Franken. Sobald dies Geld ausgegeben war, gewöhnten sich die Thénardiers daran in dem kleinen Mädchen nur ein Kind zu sehen, das sie aus Gnade und Barmherzigkeit bei sich behielten, und behandelten sie demgemäß. Nun sie keine Ausstattung mehr hatte, kleidete man sie in die alten Kleider und Hemden der kleinen Thénardiers, d. h. in Lumpen. Genährt wurde sie mit dem, was die Andern übrig ließen, ein wenig besser als der Hund und ein wenig schlechter, als die Katze. Die Katze und der Hund waren überhaupt des Kindes ständige Tischgenossen, denn Cosette aß wie sie unter dem Tisch aus einem hölzernen Napf, der den ihrigen ähnlich war.

Ihre Mutter, die sich in Montreuil-sur-Mer niedergelassen hatte, schrieb oder ließ vielmehr jeden Monat einen Brief an die Thénardiers schreiben, um sich nach ihrem Töchterchen zu erkundigen. Sie erhielt regelmäßig denselben Bescheid: »Cosetten geht es recht wohl.«

Nach dem Ablauf des ersten Halbjahres schickte die Mutter sieben Franken für den siebenten Monat und war überhaupt ziemlich pünktlich mit ihren Geldsendungen. Aber das Jahr war noch nicht zu Ende, als Thénardier eines Tages murrte: Das ist gerade was Rechtes, sieben Franken! Und er verlangte zwölf Franken. Die Mutter, der sie vorredeten, ihr Kind sei glücklich und gedeihe gut, fügte sich und zahlte das Verlangte.

Gewisse Naturen können nicht auf der einen Seite lieben ohne auf der andern zu hassen. Mutter Thénardier liebte ihre beiden Töchter leidenschaftlich, konnte aber in Folge dessen die fremde Kleine nicht ausstehen. Wie traurig, daß Mutterliebe sich auf eine häßliche Weise äußern kann! So wenig Platz Cosette auch in dem Hause einnahm, die Thénardier glaubte, dieser Platz fehle jetzt ihren Kindern, die Kleine atme Luft, die ihren Töchtern zukäme. Wie viele Frauen ihres Schlages verfügte sie nur über ein bestimmtes Quantum Liebkosungen und über ein gleichfalls begrenztes Quantum Schläge und Scheltworte pro Tag. Hätte sie nicht Cosette gehabt, so wären alle Mißhandlungen, so abgöttisch sie ihre Töchter auch liebte, auf diese niedergeprasselt; so aber hatten diese das Glück, daß die kleine Fremde alle Schläge auf sich ablenkte, während sie nur die Liebkosungen einheimsten. Cosette mochte thun, was sie wollte, immer erweckte sie unbarmherzige Züchtigungen. Was mußte sich wohl das sanfte, schwache Geschöpfchen von der Welt und von Gott für eine Vorstellung machen, wenn sie ohne Unterlaß gescholten wurde und damit das sonnige Glück verglich, dessen sich die beiden andern Kinder erfreuten!

Da die Mutter gegen Cosette niederträchtig war, so waren Eponine und Azelma es natürlich ebenfalls. Die Kinder sind in diesem Alter nur Abdrücke der Mutter, nur in kleinerem Format.

So verstrich ein Jahr und dann ein zweites.

Im Dorfe hieß es:

»Was die Thénadiers für gute Menschen sind. Haben selber nichts und erhalten ein armes Kind, das man ihnen auf dem Halse gelassen hat!«

Denn man nahm an, Cosette sei von ihrer Mutter vergessen worden.

Thénardier indessen, der auf irgend einem geheimen Umwege in Erfahrung gebracht hatte, daß die Kleine ein uneheliches Kind war, dessen Existenz von der Mutter verhehlt werden mußte, verlangte fünfzehn Franken Kostgeld. Die Kleine, behauptete er, wachse sehr und esse jetzt viel mehr.

»Wenn sie mich will darunter leiden lassen, daß sie unsaubre Geschichten zu verheimlichen hat, so komm ich ihr, ehe sie’s sich versieht, über den Hals und schmeiße ihr den Balg vor die Füße.«

Auch diese Steigerung ließ sich die Mutter gefallen.

Das Kind wuchs von Jahr zu Jahr, und sein Elend ebenfalls.

Anfangs bestand der Hauptzweck ihres Daseins darin, daß sie sich von Thénardiers Kindern beliebig mißhandeln lassen mußte; als sie aber fünf Jahre alt geworden, wurde sie auch noch die Dienstmagd des Hauses.

»Ein fünfjähriges Kind — Dienstmädchen? Nicht möglich!« wird man einwenden. Doch, doch! Leider! Das soziale Elend kehrt sich an kein Lebensalter. Haben wir doch kürzlich einen gewissen Dumolard vor Gericht gesehen, einen Banditen, der laut officiellen Urkunden, als verwaistes, fünfjähriges Kind, »von seiner Hände Arbeit und vom Diebstahl lebte.«

Cosette mußte alle Gänge machen, die Stuben, den Hof, die Straße fegen, das Geschirr abwaschen, ja Lasten tragen. Dies zu verlangen, hielten sich die Thénardiers um so mehr für berechtigt, als die Mutter, die noch immer in Montreuil-sur-Mer weilte, anfing weniger pünktlich zu zahlen. Mit einigen Monaten Kostgeld blieb sie sogar im Rückstände.

Wäre sie jetzt, nach Verlauf dreier Jahre, nach Montfermeil zurückgekehrt, so hätte sie ihr Kind nicht wiedererkannt. So niedlich und kräftig Cosette bei ihrer Ankunft im Thénardierschen Hause gewesen war, so mager und blaß sah sie jetzt aus. Dabei hatte sie etwas Aengstliches oder, wie die Thénardiers es nannten, Duckmäuserisches in ihrem Wesen.

Die Ungerechtigkeit brachte die Wirkung hervor, daß sie zänkisch wurde und, infolge des Elends, war sie häßlich geworden. Nur ihre schönen Augen waren ihr geblieben, aber in die konnte man nicht hineinsehen, ohne daß es einem weh ums Herz wurde. Schienen sie doch nur deshalb so groß zu sein, um recht viel Traurigkeit wiederspiegeln zu können.

Es war kläglich anzusehen, wenn dies, noch nicht sechsjährige Kind, zur Winterzeit, in alten Leinwandlumpen vor Kälte bebte und in den rothen, verfrorenen Händchen, mit Thränen in den großen Augen, einen mächtigen Besen hantierte.

In der Umgegend nannte man sie die Lerche. Diesen Namen hatte das Volk, das figürliche Redewendungen liebt, dem verschüchterten, scheuen Geschöpfchen beigelegt, das jeden Morgen zuerst im Hause und im Dorfe aufstand, das schon vor dem Tagesgrauen auf der Straße, oder auf dem Felde zu sehen war.

Schade nur, daß die Lerche nie sang.

Dem Abgrund zu

Ein Fortschritt in der Glasindustrie

Was war aber unterdessen aus der Mutter geworden, die, wie man in Montfermeil behauptete, ihr Kind im Stiche gelassen hatte? Wo hielt sie sich auf? Wie ging es ihr?

Nachdem sie ihr Töchterchen bei den Thénardiers zurückgelassen, war sie weiter gewandert, bis nach Montreuil-sur-Mer.

Es war, wie man sich entsinnen wird, im Jahre 1818.

Zehn Jahre waren jetzt verflossen, seitdem Fantine aus ihrer Provinz nach Paris gegangen war. In der Zeit hatte sich Montreail-sur-Mer stark verändert. Während Fantine allmählich immer tiefer im Elend versank, war ihre Heimatsstadt emporgekommen.

Seit zwei Jahren hatte sich daselbst ein Umschwung in der Industrie vollzogen, der für einen kleinen Ort ein großes Ereigniß bedeutet.

Dieser Umstand ist von Wichtigkeit, und wir müssen deshalb jetzt näher darauf eingehen.

Seit Menschengedenken beschäftigte man sich in Montreuil-sur-Mer mit der Nachahmung der englischen Gagate und der deutschen, schwarzen Glaswaaren, aber ohne besonderen Erfolg, da der hohe Preis der Rohstoffe jede wirksame Konkurrenz unmöglich machte. Doch zu der Zeit, wo Fantine nach Montreuil-sur-Mer zurückkam, hatte die Erzeugung der »schwarzen Waaren« eine unerhörte Umwälzung erfahren. Gegen das Ende des Jahres 1815 war ein Unbekannter gekommen und hatte bei der Fabrikation das Harz durch Gummilack und die blechernen, gelötheten Schieber an den Armbändern durch blos angefügte ersetzt. Diese geringfügigen Aenderungen brachten eine Revolution in der Glasindustrie zu Stande.

Denn dadurch kamen die Rohstoffe billiger zu stehen, und die Folge hiervon war erstens, daß der Arbeitslohn erhöht werden konnte, was ein Segen für den Ort war; zweitens eine Verbesserung des Fabrikats, was ein Vortheil für den Consumenten war; drittens eine Verbilligung der Waare, bei dreimal so großem Profit für den Fabrikanten.

Also drei Vortheile, die sich aus einer Erfindung ergaben.

In noch nicht drei Jahren war der Urheber der Idee reich geworden, und das war gut; andrerseits hatte er den Ort reich gemacht, und das war besser. Er war fremd in dem Departement. Woher er kam, wußte man nicht; wie er emporgekommen, auch nicht genauer.

Man erzählte sich, er habe sehr wenig Geld gehabt, als er in der Stadt ankam, höchstens einige Hundert Franken.

Auf diesem geringen Kapital, das er im Dienste einer gescheidten Idee verwertete und durch Ordnung und Nachdenken befruchtete, hatte er sein Glück und das der ganzen Umgegend aufgebaut.

Bei seiner Ankunft in Montreuil-sur-Mer schien er; seiner Kleidung, seiner Haltung und seiner Sprache nach zu urtheilen, ein Arbeiter zu sein.

Es hieß, an dem Tage, wo er — es war gegen Abend und im Monat Dezember — einen Tornister auf dem Rücken und einen Knotenstock in der Hand, unbeachtet in die Stadt hereinkam, habe gerade das Gemeindehaus in Flammen gestanden. Der Fremde stürzte sich mit Lebensgefahr in das brennende Haus und rettete zwei Kinder, die des Gendarmeriehauptmanns, weshalb man es unterlassen hatte, ihn nach seinem Paß zu fragen. In der Folge erfuhr man seinen Namen. Er hieß Vater Madeleine.

Madeleine

Vater Madeleine war ein Fünfziger, der sehr nachdenklich aussah und ein guter Mensch war. Das war Alles, was man über ihn sagen konnte.

Dank der, durch ihn bewirkten, Ummodelung der Glasindustrie war Montreuil-sur-Mer ein bedeutender Handelsplatz geworden. Von Spanien, das viel schwarzen Jet konsumirt, liefen daselbst jedes Jahr ansehnliche Bestellungen ein und Montreuil-sur-Mer machte sogar London und Berlin eine ziemlich fühlbare Konkurrenz. Der Nutzen, den Vater Madeleine aus seinem Geschäft zog, war so bedeutend, daß er schon im zweiten Jahr eine große Fabrik mit zwei sehr geräumigen Werkstätten erbauen konnte. Dorthin konnte ein Jeder kommen, der Noth litt, mit der sichern Aussicht Arbeit und Brot zu finden. Denn Vater Madeleine verlangte von den Männern nur guten Willen, von den Frauen Sittenreinheit, von Allen Ehrlichkeit. Werkstätten hatte er zwei eingerichtet, um die beiden Geschlechter von einander zu trennen und damit die jungen Mädchen und Frauen nicht der Verführung ausgesetzt seien. In diesem einzigen Punkte war er unbeugsam bis zur Unduldsamkeit. Allerdings war diese Strenge eine durchaus berechtigte, denn da Montreuil-sur-Mer eine Garnisonsstadt war, lief die Tugend seiner Arbeiterinnen große Gefahren. Ueberhaupt spielte er für die ganze Umgegend die Rolle einer gütigen Vorsehung. Vor seinem Auftreten lag Alles darnieder; jetzt verspürte man überall den materiellen und moralischen Segen der Arbeit und den kräftigen Pulsschlag eines neuen Lebens, das Alles durchdrang und Alles erwärmte. Arbeitslosigkeit und Elend waren unbekannte Dinge. Auch der Aermste hatte jetzt Geld in der Tasche, auch in die bescheidenste Hütte drang jetzt ein Strahl der Freude.

Inmitten all’ dieser Thätigkeit, deren Ursache und Angelpunkt er war, erwarb, wie schon erwähnt, Vater Madeleine ein bedeutendes Vermögen, aber merkwürdigerweise schien dies nicht seine Hauptsorge zu sein. Offenbar dachte er mehr an Andere, als an sich selber. 1820 wußte man, daß er bei dem Bankier Lafitte sechshundert dreißig Tausend Franken zu liegen hatte, aber ehe er dieses Geld für sich behielt, hatte er über eine Million für die Stadt und für die Armen hingegeben.

Das Krankenhaus war schlecht ausgestattet: Er hatte zehn neue Betten gestiftet. Montreuil-sur-Mer zerfällt in eine obere und eine untere Stadt. In letzterer, wo er wohnte, gab es nur eine Schule, die sich in einem elenden, baufälligen Zustande befand. Er ließ zwei neue bauen, eine für die Knaben, die andere für die Mädchen. Außerdem warf er den beiden Schullehrern eine Summe aus, die doppelt so groß war, als ihr Gehalt, und bemerkte, als sich Jemand über diese Freigebigkeit wunderte: »Die Amme und der Schulmeister sind die ersten Beamten des Staates.« Desgleichen gründete er auf seine Kosten eine Kleinkinderbewahranstalt, was damals in Frankreich noch etwas fast Unbekanntes war, und eine Unterstützungskasse für alte und invalide Arbeiter. Als um seine Fabrik herum ein neues Stadtviertel entstanden war, wo viele bedürftige Familien sich ansiedelten, gründete er eine Apotheke, in der Arzneien unentgeltlich verabfolgt wurden.

Anfangs hatte es von ihm geheißen: »Der Kerl ist ein Pfiffikus, der reich werden will.« Als dann der Ort eher reich wurde, als Vater Madeleine, machten dieselben Klugschmuse die Entdeckung, der Mann sei ein Streber. Diese Ansicht hatte allerdings eine große Wahrscheinlichkeit für sich, denn Madeleine war religiös und besuchte sogar mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Kirche, was damals wohl gelitten war, insbesondere wohnte er jeden Sonntag einer stillen Messe bei. Dem Deputirten, der Montreuil-sur-Mer in der Kammer vertrat und überall Nebenbuhler witterte, kam diese Religiosität verdächtig vor. Er war unter dem Kaiserreich Mitglied des gesetzgebenden Körpers gewesen und theilte in Bezug auf Religion die Ansichten eines Priesters vom Oratorium, Namens Fouché, Herzog von Otranto, dessen Kreatur und Freund er gewesen war: Er riß bei verschlossenen Thüren fidele Witze über den lieben Gott, Aber als er den reichen Fabrikanten Madeleine die stille Messe um sieben Uhr besuchen sah, beschloß er ihn zu überbieten, nahm sich einen Jesuiten zum Beichtvater und wohnte regelmäßig dem Hochamt und dem Nachmittagsgottesdienst bei. Denn zu jener Zeit stürmten die Streber ihrem Ziele mit dem Wetteifer zu, der Reiter bei einer Steeplechase beseelt. Glücklicher Weise profitirten die Armen so gut, wie der liebe Gott von dieser Konkurrenz, denn der ehrenwerthe Abgeordnete stiftete auch zwei Betten in dem Hospital, was im Ganzen zwölf ausmachte.

Unterdessen verbreitete sich 1819 eines Morgens in der Stadt das Gerücht, Vater Madeleine sei, in Anbetracht seiner Verdienste um das Wohl der Stadt, von den Herrn Präfekten dem Könige zum Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer vorgeschlagen worden. Dies war Wasser auf die Mühle Derer, die den neuen Ankömmling für einen Streber erklärt hatten, und sie ließen die schöne Gelegenheit nicht vorüber gehen, ohne sich ihre Weisheit bestätigen zu lassen. »Aha! Haben wir’s Euch nicht gesagt?« Ganz Montreuil-sur-Mer gerieth in Aufregung. Das Gerücht war begründet. Einige Tage darauf meldete der Moniteur Madeleine’s Ernennung zum Bürgermeister. Allein dieser — schlug die angebotne Ehre aus.

In demselben Jahre beschickte Madeleine die Gewerbeausstellung mit den neuen, von ihm erfundenen Erzeugnissen, und infolge des Berichtes der Jury ernannte der König den Erfinder zum Ritter der Ehrenlegion. Abermals Sensation und Spannung in der Stadt: »Ja so! Er hatte es auf das Kreuz abgesehn!« Aber Vater Madeleine schlug auch das Kreuz aus.

Räthselhafter Mensch! Indeß die Klugschmuse wußten sich zu helfen und meinten: »Na, er ist ein Abenteurer!«

Wir haben also gesehen, daß die Stadt ihm viel, die Armen Alles verdankten; er stiftete so viel Nutzen, daß man ihm schließlich Ehrungen erwies, und war so gütig, daß man ihn lieb gewinnen mußte; besonders seine Arbeiter vergötterten ihn, und er nahm ihre Verehrung mit einer Art schwermüthigen Ernstes entgegen. Als er reich geworden, grüßten ihn die feinen Leute und nannten ihn »Herrn« Madeleine; die Arbeiter und die Kinder freilich fuhren fort, ihn Vater Madeleine zu nennen und dieser Titel erregte sein besondres Wohlgefallen. Als er aus der Niedrigkeit höher und höher emporstieg, regnete es Einladungen bei ihm. Die »feinen Leute« suchten ihn in ihren Umgangskreis zu ziehen. Die Salons, in die er als armer Handwerker nie Zugang gehabt hätte, thaten ihre Thüren weit auf, ihn aufzunehmen, nun er Millionär geworden war. Aber auch diese Einladungen lehnte er ab.

Und wieder verstand es die kluge Welt eine plausible Deutung für dieses Verhalten zu finden: Er ist ein unwissender, ungebildeter Mensch. Wer weiß, welches seine Herkunft sein mag? Er versteht sich nicht in guter Gesellschaft zu bewegen. Es ist noch gar nicht sicher, ob er lesen kann. U. dgl. m.

Allein im Jahre 1820, fünf Jahre nach seiner Ankunft in Montreuil-sur-Mer, waren die Dienste, die er der Stadt erwiesen hatte, so augenfällig und die allgemeine Stimmung zu seinen Gunsten eine so entschiedene, daß der König ihn abermals zum Bürgermeister ernannte. Er lehnte die Ehre wieder ab, aber der Präfekt wollte diese Weigerung nicht gelten lassen, die Honoratioren der Stadt kamen zu ihm, das Volk auf der Straße bat ihn, das Amt anzunehmen, kurz von allen Seiten drang man so lebhaft in ihn, daß er schließlich nachgab. Einen entscheidenden Eindruck machte wohl auf ihn der ärgerliche Zuruf einer alten Frau aus dem Volke: »Ein guter Bürgermeister kann viel Nutzen stiften. Darf einer Nein sagen, wenn es gilt, was Gutes zu thun?«

Er hatte also jetzt die dritte Stufe erklommen. Erst Vater Madeleine, dann Herr Madeleine und jetzt »der Herr Bürgermeister.«

Bei Lafitte hinterlegte Gelder

Bei alledem war Vater Madeleine ein schlichter, einfacher Mann geblieben. Graue Haare, ernst blickende Augen, von der Sonne gebräunte, Züge ein nachdenklicher Gesichtsausdruck. Bekleidet war er gewöhnlich mit einem langen, hochgeschlossenen Rock aus grobem Tuch. Abgesehen von dem Verkehr, zu dem seine Pflichten als Bürgermeister ihn nötigten, lebte er einsam. Er sprach mit Wenigen, wich aus, wenn man ihn höflich grüßte, oder brach das angefangene Gespräch rasch ab, lächelte, um nicht reden, und schenkte Geld, um nicht lächeln zu müssen. Einen gutherzigen Bären nannten ihn die Frauen. Immer zog er dem Umgang mit Menschen, Ausflüge auf das Land vor.

Auch seine Mahlzeiten nahm er allein ein, las aber dabei; Seine Bibliothek war gut ausgewählt, und er hielt viel von den Büchern, den stillsten und sichersten Freunden des Menschen. Je mehr Muße ihm allmählich die stetige Vermehrung seines Reichthums verschaffte, desto eifriger befliß er sich, seine Kenntnisse zu erweitern. Dies Bestreben wirkte auf seine Art sich auszudrücken zurück, die von Jahr zu Jahr sich höflicher, gewählter und milder gestaltete.

Bei seinen Ausflügen in die Umgegend trug er gern eine Flinte, bediente sich ihrer aber höchst selten. Geschah dies dennoch, so schoß er mit einer Treffsicherheit, die schrecken erregen konnte. Nie tötete er ein unschädliches Thier, nie einen kleinen Vogel.

Obgleich er nicht mehr jung war, erzählte man sich, er besitze eine mächtige Körperkraft. Jedenfalls griff er gerne zu, wenn es galt, Hilfe zu leisten, ein gestürztes Pferd wieder aufzurichten, einen festgefahrenen Wagen aus dem Koth herauszuziehen, einen wüthenden Stier bei den Hörnern zu packen. Wie gutmüthig er war, sah man auch daraus, daß er stets viel kleines Geld mitnahm, wenn er ausging und jedesmal mit leeren Taschen zurückkam. Die zerlumpten Kinder in den Dörfern liefen ihm mit Freudengeschrei nach und umtanzten ihn, wie ein Schwarm Mücken.

Manche muthmaßten, daß er ursprünglich auf dem Lande aufgewachsen sein mußte, denn er lehrte die Bauern eine Menge nützlicher Geheimnisse. Er zeigte ihnen, wie man der Kornmotte zu Leibe geht, nämlich mit einer Auflösung von gewöhnlichem Salz, womit die Dielen begossen werden müssen. Er kannte »Rezepte« gegen das Rapünzchen, die Rade, die Wicke, den Kuhweizen und andre Schmarotzerpflanzen, die das Getreide ersticken. Um von einem Kaninchengehege die Ratten fern zuhalten, hieß er die Bauern ein Meerschweinchen hineinthun, dessen Geruch die Ratten nicht leiden können.

Eines Tages sah er Leute, die sich alle erdenkliche Mühe gaben, ein Feld von Nesseln zu befreien, er betrachtete die entwurzelten und zum Theil schon vertrockneten Pflanzen und bemerkte: »Nun ist das Alles tot. Aber wieviel Nutzen könnte man davon haben, wenn man damit umzugehen verstände. So lange sie jung sind, liefern die Brennnesselblätter ein vorzügliches Gemüse; später enthalten sie Fasern und Fäden, wie der Hanf und der Flachs. Gehackt geben Brennnesseln ein gutes Fressen für das Geflügel ab; zerrieben, für das Hornvieh. Dem Viehfutter beigemengt, bewirkt Brennnesselsamen, daß die Haut der Tiere einen schönen Glanz bekommt, mit Salz vermischt, erzeugen Brennnesselwurzeln eine schöne gelbe Farbe. Außerdem ist es ein gutes Heu, das man zweimal mähen kann. Und was braucht die Brennnessel? Wenig Platz, gar keine Abwartung und Pflege. Nur daß der Same nach und nach, sobald er reif geworden, zur Erde fällt und schwer einzusammeln geht. Aber weiter auch nichts. Wollte man sich bloß ein klein Bischen Mühe geben, so würde man aus den Brennnesseln großen Nutzen ziehn; man vernachlässigt sie aber, und da wird ein Unkraut daraus. Dann rottet man sie aus. Mit vielen Menschen macht man’s freilich nicht besser. Merkt Euch, Freunde! So was wie Unkraut giebt’s nicht, ebenso wie’s auch keine schlechten Menschen giebt. Man versteht blos nicht mit dem Kraut und den Menschen richtig umzugehen.«

Die Kinder hatten ihn auch noch gern, weil er aus Stroh und Kokosnüssen allerliebste Sächelchen zu machen verstand.

Sah er die Thür einer Kirche schwarz verhangen, so ging er hinein; er hatte für ein Begräbniß dieselbe Vorliebe, die andre für eine Taufe haben. Tod und Unglück zogen ihn an, wegen der milden Stimmung, die sie erzeugen; er mischte sich unter die traurigen Hinterbliebenen und die Geistlichen, die seufzend einem Sarge folgten. Es hatte den Anschein, als lege er gern seinen Gedanken den Text der Klagegesänge zu Grunde, die uns an das Jenseit erinnern. Die Augen zum Himmel aufgeschlagen, erhob er dann seine Seele zu dem geheimnißvollen Unendlichen.

Viele seiner guten Werke that er im Verborgenen, als handle es sich um etwas Böses. Er schlich sich z.B. heimlich in ein Haus ein. Es geschah dann wohl, daß ein armer Mensch seine Thür geöffnet, ja erbrochen fand. Er jammerte: »Bei mir hat Einer gestohlen!« Trat er aber in sein Zimmer hinein, so glänzte ihm ein Goldstück entgegen, das der Spitzbube, Vater Madeleine, zurückgelassen hatte.

Er war leutselig und schwermüthig. Das Volk sagte deshalb: »Er ist nicht stolz, trotzdem er reich ist! Er sieht nicht zufrieden aus, trotzdem er so viel Geld hat!«

Manche behaupteten, es hafte etwas Räthselhaftes an diesem Menschen und versicherten, er ließe Niemand in sein Zimmer, das, nach Art von Klausnerzellen, mit Menschenknochen und Todtenköpfen verziert sei. Dieses Gerücht trat mit einer solchen Bestimmtheit auf, daß eines Tages einige spottlustige, feine Damen zu ihm kamen, mit der Bitte, er möge ihnen doch sein Zimmer zeigen; es gehe die Rede, daß es darin ganz graulig aussehe. Er ließ sie lächelnd sofort hinein und sie fanden sich arg enttäuscht. Es war ein gewöhnliches, mit ordinären, unschönen Mahagonimöbeln und billigen Tapeten versehenes Zimmer. Nur ein paar Leuchter, die auf dem Kaminsims standen, fielen ihnen auf. Sie waren von »echtem Silber«, das stellten die Kleinstädterinnen fest, indem sie sich, gewissenhaft überzeugten, daß beide Leuchter gestempelt waren.

Trotz alledem hieß es noch immer, Niemand werde je in dieses Zimmer hineingelassen, und es sehe grausig aus, wie eine Einsiedlerhöhle, ein Grabmal.

Desgleichen munkelte man, er habe »kolossal« viel Geld bei Lafitte zu liegen und zwar sei merkwürdiger Weise Vorkehr getroffen, daß ihm auf sein Verlangen das ganze Geld sofort und mit einem Mal ausgezahlt werden müsse. Herr Madeleine könne also beispielsweise eines schönen Tages in Lafitte’s Komptoir kommen, eine Quittung unterschreiben, seine zwei oder drei Millionen binnen zehn Minuten in die Tasche stecken und davongehen. In Wirklichkeit reduzirten sich aber, wie schon gesagt, die zwei oder drei Millionen auf sechshundert dreißig oder vierzig Tausend Franken.

Madeleine trauert

Zu Anfang des Jahres 1821 meldeten die Zeitungen das Ableben des Bischofs Myriel von Digne im Alter von zweiundachtzig Jahren.

Sie vergaßen zu erwähnen, daß er seit mehreren Jahren blind gewesen, aber mit seinem Schicksal versöhnt war, da er seine Schwester bei sich hatte.

Beiläufig gesagt: Blind sein und geliebt werden, ist auf dieser Erde, wo nichts vollkommen ist, ein seltsam hohes Glück. Beständig neben sich eine geliebte Frau, eine Tochter, eine Schwester, irgend ein zartes, weibliches Wesen zu haben, das wir bedürfen und das uns nicht entbehren kann, stets den Grad ihrer Zuneigung an dem Quantum Zeit messen zu können, das sie uns widmet; in Ermangelung ihrer Gestalt, ihre Gedanken zu sehen; zu wissen, daß Eine uns treu bleibt, wo die ganze Welt uns im Stich läßt; ihr Kleid wie Engelflügel uns umrauschen zu hören; zu denken, daß man der Punkt ist, auf den sich alle ihre Thaten, Worte, Schritte beziehen; jeden Augenblick seine eigene Anziehungskraft zu äußern; sich um so mächtiger zu fühlen, je ohnmächtiger man ist; in dem Dunkel und wegen des Dunkels das Gestirn zu sein, um das der Engel gravitirt. Diesem Glück gleicht nicht leicht ein anderes. Das höchste Wonnegefühl gewährt die Ueberzeugung, daß man geliebt um seiner selbst willen, ja besser gesagt, trotz seines Selbst geliebt wird, und diese Ueberzeugung besitzt der Blinde. Jeder Dienst, den man ihm erweist, ist eine Liebkosung. Mangelt ihm irgend etwas? Nein. Der verliert nicht das Licht, der die Liebe hat. Sieht man nichts, so fühlt man doch, daß man angebetet wird, und lebt man in Finsterniß, so ist es eine Finsterniß, die ein Paradies erfüllt.

Aus diesem finstern Paradiese war der Bischof Bienvenu in das jenseitige hinübergegangen.

Gleich nachdem die Todesanzeige im Lokalblatt von Montreuil-sur-Mer erschienen war, legte Madeleine Trauerkleidung an.

Das gab wieder zu reden. Man munkelte, da er um den Bischof trauere, müsse er ein Verwandter von ihm sein und die vornehme Gesellschaft von Montreuil-sur-Mer betrachtete ihn alsbald mit größerem Wohlwollen und Respekt, die alten Damen grüßten ihn höflicher und die jungen lächelten ihm liebenswürdiger zu. Eines Abends endlich erkühnte sich eine alte Dame, die vornehmste in den vornehmen Kreisen der Stadt und die sich auch wegen ihres Alters etwas Neugierde gestatten durfte, zu der Frage: »Der Herr Bürgermeister sind wohl ein Vetter des verstorbenen Bischofs von Digne?«

»Nein, gnädige Frau!« erwiderte Madeleine.

»Sie trauern aber doch um ihn!« versetzte die Alte.

»In meiner Jugend bin ich Lakai in seiner Familie gewesen.«

Noch eins fiel an ihm als eine unerklärliche Absonderlichkeit auf. Jedes Mal, wenn ein kleiner Savoyarde nach Montreuil-sur-Mer kam, ließ ihn der Herr Bürgermeister zu sich bescheiden, fragte ihn nach seinem Namen und schenkte ihm Geld. Das erzählten sich die kleinen Savoyarden und es kamen eine ganze Menge nach Montreuil-sur-Mer.

Schwarze Punkte am Horizont

Im Laufe der Zeit nahmen alle Feindseligkeiten ein Ende. Vermöge einer Art Naturgesetz, dem alle Emporkömmlinge verfallen, waren Anfangs Niedertracht und Verleumdung über Madeleine hergefallen, dann schwächte sich der Haß zu Mißgunst und Spott ab, endlich verschwand er ganz und machte einer vollkommenen, einstimmigen, von Herzen kommenden Achtung Platz. 1821 kam eine Zeit, wo in und um Montreuil-sur-Mer die Worte »der Herr Bürgermeister« mit nahezu derselben Betonung ausgesprochen wurden, wie um 1815 »Se. Bischöfliche Gnaden« in Digne. Meilenweit kamen die Leute herbei, Madeleine um Rath zu fragen. Er schlichtete Streitigkeiten, verhinderte Prozesse, versöhnte geschworene Feinde. Man hatte die Empfindung, daß er in seinem Innern einen Kodex des natürlichen Rechtes trage.

Ein einziger in der Stadt und der Umgegend entzog sich vollständig dem Einfluß der öffentlichen Meinung und blieb, was auch Madeleine thun mochte, ihm feindlich gesinnt, als wenn eine Art unbestechlicher Instinkt ihn wach und in Unruhe hielt. Scheint doch in der That manchen Menschen ein geradezu thierischer Naturtrieb inne zu wohnen, der Zuneigung und Widerwillen erzeugt, mit Notwendigkeit verschiedne Naturen von einander fern hält, nicht schwankt, sich nicht beirren läßt, nie schweigt und sich nicht widerspricht, der klar sieht in seiner Dunkelheit, unfehlbar, unwiderstehlich, der Vernunft und Logik abhold ist, und, in welchen Verhältnissen sie auch zu einander stehen mögen, ein Mitglied einer Menschengattung deutlich benachrichtigen, wenn es einem Menschen einer andern Gattung gegenüber steht, so wie ein Hund eine Katze, ein Fuchs den Löwen wittert.

Oft, wenn Madeleine ruhig, leutselig, von Allen mit Achtung begrüßt auf der Straße ging, geschah es, daß ein großer Mann mit einem eisengrauen Rocke, einem dicken Spazierstock und einem Hut mit herabhängender Krämpe sich rasch nach ihm umdrehte und ihm mit den Augen folgte, bis er verschwunden war, dann die Arme verschränkte und mit der Unterlippe die obere bis an die Nase emporschob, als wolle er sagen: »Wer in aller Welt mag das sein? Ich habe ihn doch schon früher einmal gesehen. Jedenfalls lasse ich mir von dem nichts vormachen.«

Dieser Mann mit seinem unheimlich ernsten Gesicht gehörte zu denen, die einem Beobachter, auch wenn er ihn nur einmal flüchtig gesehen hat, zu denken geben.

Er hieß Javert und war Polizist.

Er bekleidete in Montreuil-sur-Mer einen mühevollen, aber nützlichen Posten, den eines Polizeiinspektors. Er hatte den Anfängen von Madeleine’s industrieller Karriere nicht beigewohnt. Seinen Posten verdankte er der Protektion Chabouillet’s, Sekretär des Ministers Graf d’Anglès, der damals Polizeipräfekt in Paris war. Als Javert nach Montreuil-sur-Mer versetzt wurde, hatte sich Vater Madeleine schon zu dem großen Fabrikanten Herrn Madeleine emporgeschwungen.

Manche Polizisten haben einen besondern Gesichtsausdruck, der neben einer gebieterischen Miene auch etwas Gemeines enthält. Diese Art Physiognomie hatte auch Javert, abgesehen von der Gemeinheit.

Unseres Erachtens würde sich, wenn man den Menschen in’s Innere schauen könnte, deutlich die sonderbare Wahrnehmung machen lassen, daß jedes Individuum der Gattung Mensch irgend einer Gattung von Thieren entspricht, daß von der Auster bis zum Adler hinauf, vom Schwein bis zum Tiger, alle Thiere im Menschen und jedes Thier in einem Menschen enthalten ist. Manchmal auch mehrere neben einander.

Die Thiere sind nichts, als Verkörperungen unsrer Tugenden und Laster, die vor unsern Augen umherschweifen, sichtbar gewordne Umrisse unsrer Seelen. Gott zeigt sie unsern Sinnen, um uns zum Nachdenken anzuregen. Desgleichen sind die Thiere, da sie nur Schatten sind, nicht erziehbar in der eigentlichsten Bedeutung dieses Wortes. Unsere Seelen aber, die Wirklichkeit und einen Endzweck haben, sind von Gott mit Verstand, d. h. mit Erziehbarkeit, begabt worden. Die Gesellschaft kann also, mittels der Erziehung, aus jeder beliebigen Menschenseele all den Nutzen ziehen, dessen sie von Natur fähig ist.

Wohl bemerkt, dies gilt nur von dem sichtbaren Erdenleben und entscheidet nicht die schwierige Frage, wie sich die Lebewesen, die nicht der Gattung Mensch angehören, vor und nachher verhalten. Das sichtbare Ich gestattet dem Denker keineswegs das verborgne Ich zu leugnen. Mit diesem Vorbehalt wollen wir weiter gehen.

Nimmt man nun mit uns an, daß jeder Mensch Theil hat an irgend einer Thiergattung, so wird es uns leicht sein, klar zu machen, was für ein Mensch Javert war.

Die asturischen Bauern sind der Meinung, unter der Brut einer Wölfin befinde sich immer ein Hund. Den töte die Wölfin, weil er sonst ihre andern Jungen auffressen würde.

Denkt man sich nun einen solchen von einer Wölfin gebornen Hund, mit einem Menschengesicht ausgestattet, so hat man Javert.

Javert war der Sohn einer Kartenlegerin, die ihn im Gefängniß gebar, während ihr Mann im Zuchthaus war. Als er erwachsen war, sagte er sich, er stehe außerhalb der menschlichen Gesellschaft und werde ewig von ihr ausgeschlossen bleiben. Ferner bemerkte er, daß die Gesellschaft konsequent zwei Klassen von Menschen sich fern hält, diejenigen, die sie angreifen, und diejenigen, die sie vertheidigen. Nur zwischen diesen beiden Klassen stand ihm die Wahl frei, und zudem war er sich strenger Grundsätze, entschiedner Ordnungsliebe und Rechtschaffenheit bewußt, und hegte einen grimmigen Haß gegen das Gesindel, dem er entstammte. Er wurde also Polizist, avancirte schnell und war im Alter von vierzig Jahren Inspektor.

In seiner Jugend war er in den Zuchthäusern im Süden angestellt gewesen.

Ehe wir fortfahren, wollen wir erklären, was wir mit dem Wort »Menschengesicht« in Bezug auf Javert meinten.

Javerts Menschengesicht enthielt eine Stumpfnase mit zwei tiefen Nüstern, zu denen ein gewaltiger Backenbart emporstieg. Wenn man zum ersten Mal diesen Bartwald und diese Nasenhöhlen sah, so ward Einem unheimlich zu Muthe. Wenn Javert lachte, was selten genug und schauderhaft anzusehen war, so gingen seine dünnen Lippen auseinander und legten nicht nur seine Zähne, sondern auch das Zahnfleisch blos, und es bildete sich dann um seine Nase eine grimmige Falte. Für gewöhnlich hatte er also den Typus einer Dogge, und wenn er lachte, den eines Tigers. Sein Schädel war klein, die Kinnbacken stark entwickelt, die Haare verdeckten die Stirn und reichten bis zu den Augenbrauen. Dazu zwischen den Brauen stetige, sternförmige Runzeln, undeutlich sichtbare Augen, ein fest zusammengekniffner Mund und eine grimmige Kommandomiene.

Den Charakter dieses Menschen bestimmten zwei sehr einfache und eigentlich sehr lobenswerte Gefühle, die er indessen übertrieb und beinah in ihr Gegenteil verkehrte: Achtung vor der Obrigkeit und Haß gegen jedwede Rebellion, und zwar waren in seinen Augen Diebstahl, Mord, überhaupt alle Verbrechen Rebellion, Auflehnung gegen die Obrigkeit. Alles, was irgend ein Amt im Staate bekleidete, war für ihn ein Gegenstand blinder Verehrung und felsenfesten Zutrauens. Dagegen kannte er nur Verachtung, Haß und Abscheu gegen Alles, was einmal die Schwelle der Legalität überschritten hatte. Ausnahmen von diesen Regeln ließ er nicht zu. Eines Theils sagte er: »Der Beamte kann sich nicht irren; der Richter hat nie Unrecht.« Andrerseits behauptete er: »Diese sind unrettbar dem Bösen verfallen. Nichts Gutes ist mehr von ihnen zu hoffen.« Er huldigte also der extremen Ansicht, das Gesetz besitze die Kraft, zu bewirken oder, wenn man lieber will, nachzuweisen, daß gewisse Menschen der Verdammniß verfallen seien; er war ein herber Stoiker, ein finsterer Träumer, ein zugleich demütiger und hochmütiger Fanatiker. Sein Blick glich einem Bohrer, so kalt und stechend war er. Den Inhalt seines Lebens bildeten zwei Worte: wachen und aufpassen. Was es auf der Welt Verschlungenstes giebt, wollte er gerade machen. Er besaß die innige Ueberzeugung, daß er dem Gemeinwohl nützte, Begeisterung für seinen Beruf und spionierte mit demselben gewissenhaften Eifer, der den Priester bei der Ausübung seines Amtes beseelt. Wehe dem, der ihm in die Hände fiel! Er hätte seinen Vater arretiert, wenn er ihn auf der Flucht aus dem Zuchthaus ertappt, und seine Mutter denunziert, wenn sie sich der polizeilichen Aufsicht hätte entziehen wollen. Und zwar mit jener inneren Befriedigung, die nur das Bewußtsein der erfüllten Pflicht gewährt. Dabei ein Leben voller Entbehrungen, kein geselliger Verkehr, Selbstverleugnung, Enthaltsamkeit, nie eine Zerstreuung. Er war die Fleisch gewordene, unerbittliche Pflicht und spartanische Rechtschaffenheit, ein mit einem Vidocq gepaarter Brutus.

Javerts ganze persönliche Erscheinung ließ einen Menschen ahnen, dessen Amt es ist, aufzulauern. Die Mystiker der Richtung Joseph de Maistre, die dazumal die ultraroyalistischen Zeitungen mit hoher Kosmogonie versorgte, würden Javert ein Symbol genannt haben. Man sah nicht seine Stirn, denn sie versteckte sich unter seinem Hut; nicht seine Augen, weil sie durch die Brauen beschattet waren; nicht sein Kinn, denn es verkroch sich hinter seinem Halstuch; nicht seine Hände, die sich in die Aermel zurückgezogen hatten; nicht seinen Stock, denn er trug ihn unter dem Rock verborgen. Kam aber die richtige Gelegenheit, so tauchte plötzlich aus all dem Schatten, wie aus einem Hinterhalt, eine eckige, schmale Stirn, ein unheimliches Augenpaar, ein grimmig energisches Kinn, ein Paar furchtbare Hände und ein fürchterlicher Knüttel.

In seinen seltenen Mußestunden las er, so wenig er ein Freund von Büchern war, und so kam es, daß er nicht ganz ungebildet war. Dies machte sich auch in seiner Sprechweise bemerklich.

Wie gesagt, er hatte kein Laster. War er einmal zufrieden mit sich, so gestattete er sich eine Prise Tabak. Dies war die einzige Schwäche, die er mit der übrigen Menschheit gemein hatte.

Demnach wird es begreiflich sein, daß Javert der Schrecken aller Vagabunden und sogenannten dunklen Existenzen war. Man konnte sie mit seinem Namen in die Flucht schlagen; tauchte sein Gesicht plötzlich vor ihnen auf, so waren sie wie versteinert.

So war der Mensch beschaffen, der beständig seine argwöhnischen Augen auf Madeleine gerichtet hielt. Dieser merkte es wohl, schien aber der Sache keine besondere Beachtung zu schenken. Er stellte Javert nicht zur Rede, suchte ihn nicht auf und ging ihm nicht aus dem Wege, ertrug den unangenehmen und lästigen Blick ohne Verdruß. Er sprach mit Javert wie mit jedem Andern, ungezwungen und freundlich.

Aus einigen Aeußerungen, die Javert entschlüpft waren, konnte man entnehmen, daß er, mit der halb instinktiven Neugierde der Leute seines Berufs, dem Vorleben Vater Madeleine’s nachgeforscht hatte. Er schien zu wissen und sagte unter der Blume, Jemand habe an einem gewissen Ort, über eine gewisse, verschwundene Familie Erhebungen angestellt. Einmal passirte es ihm, daß er im Selbstgespräch laut sagte: »Jetzt, glaub’ ich, weiß ich Bescheid.« Darauf blieb er drei Tage lang in tiefes Sinnen verloren und sprach kein Wort. Der Faden, den er schon in der Hand zu halten meinte, war wohl gerissen.

Uebrigens — wir korrigieren hiermit, was manche unserer Ausdrücke zu schroff ausdrücken können — hat ein menschliches Wesen keine Eigenschaft, die es wahrhaft unfehlbar machen könnte, und es liegt eben in der Natur des Instinkts, daß er sich irre machen und vom rechten Wege ablenken lassen kann. Sonst wäre er ja dem Verstände überlegen und das Thier wäre einer höheren Einsicht theilhaftig, als der Mensch.

Javert war offenbar durch Madeleine’s vollständig unbefangenes und ruhiges Wesen etwas aus der Fassung gebracht.

Dennoch schien sein sonderbares Benehmen eines Tages auf Madeleine Eindruck zu machen. Nämlich bei folgender Gelegenheit.

Vater Fauchelevent

Eines Morgens kam Madeleine in eine ungepflasterte Straße der Stadt. Da hörte er Lärm und sah in einiger Entfernung einen Auflauf. Er eilte hin. Es war da ein Pferd gestürzt und der Lenker, ein alter Mann, Vater Fauchelevent genannt, unter seinen Wagen zu liegen gekommen. Dieser Fauchelevent war einer der wenigen Feinde, die Madeleine damals noch hatte. Zur Zeit, wo Dieser nach Montreuil-sur-Mer kam, betrieb Fauchelevent, ein ehemaliger Gerichtsschreiber, ein Geschäft, das schlecht zu gehen anfing. Er hatte nun mit ansehen müssen, wie Madeleine, ein gewöhnlicher Arbeiter, reich wurde, während es mit ihm, der einen Titel, »Meister«, hatte, bergab ging. Das hatte ihn mit Neid erfüllt, und er that seitdem bei jeder Gelegenheit sein Möglichstes, um Madeleine zu schaden. Zuletzt war der Bankerott gekommen und, alt wie er war, ohne Mittel, abgesehen von einem Pferde und einem Wagen, ohne Familie, ohne Kinder, war er, um sich sein bischen Brot zu verdienen, Fuhrmann geworden.

Das Pferd hatte beide Beine gebrochen und konnte nicht aufstehen. Der Alte lag zwischen den beiden Rädern und so unglücklich war er gefallen, daß der ganze, schwer beladene Wagen mit seiner vollen Wucht auf ihm lastete. Der Arme stöhnte, daß es zum Erbarmen war. Ein Versuch, ihn hervorzuziehen, war mißglückt, und es blieb, um ihn zu retten, kein anderes Mittel übrig, als daß der Wagen von unten in die Höhe gehoben werden mußte. Aus diesem Grunde hatte denn auch schon Javert, der gleich zu Anfang der Katastrophe hinzugekommen war, Leute nach einer Wagenwinde geschickt.

Da kam Madeleine herzu. Alle traten achtungsvoll bei Seite.

»Hülfe! Hülfe!« jammerte Fauchelevent. »Wer hat Erbarmen mit einem armen Alten?«

Madeleine wandte sich an die Anwesenden mit der Frage:

»Ist eine Wagenwinde zur Hand?«

»Es sind Welche gegangen und wollen eine holen«, antwortete ein Bauer.

»Wieviel Zeit gehört dazu?«

»Sie haben’s nicht weit, blos bis nach Flachot, da ist ein Hufschmied; aber eine gute Viertelstunde wird’s wohl dauern.«

»Um Gottes Willen! Eine Viertelstunde!« rief entsetzt Madeleine. Es hatte am Tage zuvor geregnet, der Erdboden war aufgeweicht, der Karren sank allmählig immer tiefer ein und drückte immer schwerer auf die Brust des Greises. Noch ehe fünf Minuten vergangen waren, mußten seine Rippen brechen.

»Eine Viertelstande darf nicht gewartet werden!« hob Madeleine wieder an.

»Man wird wohl müssen!«

»Aber dann ist’s zu spät. Seht Ihr nicht, daß der Wagen in den Boden einsinkt?«

»Nun freilich! Aber —«

»Hört mal. Es ist noch so viel Platz unter dem Wagen, daß ein Mann hinunterkriechen und ihn mit dem Rücken hochheben kann. Eins halbe Minute, während der Zeit kann der arme Mensch vorgezogen werden. Ist unter Euch Einer der ein starkes Kreuz und Courage hat? Fünf Louisd’or soll er bekommen!«

Niemand rührte sich.

»Zehn Louisd’or!« rief Madeleine.

Alle schlugen die Augen nieder, und Einer bemerkte:

»Der müßte verteufelt stark sein. Und zu Brei gequetscht kann man dabei auch werden.«

»Vorwärts!« rief Madeleine wieder. »Zwanzig Louis’dor!«

Abermaliges Stillschweigen.

»Am guten Willen fehlt’s ihnen nicht!« rief plötzlich eine Stimme.

Madeleine wandte sich um und erkannte Javert, den er bisher nicht bemerkt hatte.

Javert fuhr fort.

»An Kraft fehlt’s ihnen. Es gehört ein fürchterlicher Kerl dazu, solch einen Wagen mit dem Rücken hoch zu heben.«

Bei diesen Worten sah er Madeleine schärfer an und fuhr mit besonderer Betonung fort:

»Herr Madeleine, ich habe in meinem Leben nur einen Menschen gekannt, der solch ein Kraftstück leisten konnte.«

Madeleine fuhr zusammen, worauf Javert, ohne ein Auge von Madeleine zu verwenden, und mit nachlässigem Tone hinzufügte:

»Es mal ein Galeerensklave.«

»Ach!« machte Madeleine. »In Toulon.«

Madeleine wurde blaß.

Währenddem sank der Wagen langsam immer tiefer, und Fauchelevent stöhnte und schrie:

»Ich ersticke! Meine Rippen brechen! Eine Winde! Oder was Andres! O-h!«

Madeleine sah sich abermals im Kreise um.

»Also Niemand will zwanzig Louis’dor verdienen und dem Armen das Leben retten?«

Keiner der Umstehenden rührte sich, und Javert wiederholte:

»Ich habe in meinem Leben nur einen Menschen, einen Zuchthäusler, gekannt, der eine Winde ersetzen konnte.«

»Ich kann’s nicht länger aushalten!« lamentirte der Alte.

Madeleine hob den Kopf, begegnete dem Blicke Javerts, der sein Falkenauge auf ihn geheftet hielt, sah die Bauern an, die unbeweglich da standen, und lächelte schwermüthig. Dann ließ er sich, ohne ein Wort zu sprechen, auf die Knie nieder und kroch, ehe die Menge Zeit gehabt hatte, auch nur einen Schrei auszustoßen, unter den Wagen.

Ein banger Augenblick, wo Alles den Athem anhielt, erfolgte.

Zweimal versuchte Madeleine, die Kniee den Ellbogen zu nähern. »Vater Madeleine!« riefen die Zuschauer. »Lassen Sie das!« Sogar der alte Fauchelevent sagte: »Herr Madeleine, es geht nicht. Es ist einmal bestimmt, daß ich jetzt sterben muß. Gehen Sie fort und lassen Sie Sich nicht auch zermalmen!«

Madeleine erwiderte Nichts.

Die Umstehenden keuchten vor Angst. Schon waren die Räder so tief eingesunken, daß Madeleine kaum noch unter dem Wagen hervorkonnte.

Plötzlich erzitterte die gewaltige Last, der Wagen stieg langsam in die Höhe und die Räder wurden zur Hälfte frei.

»Beeilt Euch!« stöhnte Madeleine mit schwacher Stimme. Sie griffen tapfer zu. Das gute Beispiel, mit dem Einer voranging, hatte Allen Kraft und Muth eingeflößt. Zwanzig Arme hoben den Wagen. Der alte Fauchelevent war gerettet.

Madeleine richtete sich empor. Er sah leichenblaß aus, obgleich er von Schweiß triefte. Seine Kleider waren zerrissen und mit Koth bedeckt. Alle weinten. Der Gerettete küßte ihm die Kniee und nannte ihn seinen Gott. Auf Madeleine’s Antlitz aber lag ein unbeschreiblicher Ausdruck tiefen Wehes und himmlischer Befriedigung, während er sein ruhiges Auge auf Javert richtete, der ihn noch immer unverwandt ansah.

Fauchelevent kommt als Gärtner nach Paris

Fauchelevent hatte sich bei seinem Sturze die Kniescheibe ausgerenkt. Vater Madeleine ließ ihn daher nach dem Lazareth bringen, das er für seine Arbeiter in dem Fabrikgebäude eingerichtet hatte, und wo zwei barmherzige Schwestern angestellt waren. Am folgenden Morgen fand der Alte auf seinem Nachttisch einen Tausendfrankenschein, mit einem Zettel von Madeleine, worauf geschrieben stand: »Ich kaufe Ihnen Ihren Wagen und Ihr Pferd ab.« NB., das Fuhrwerk war entzwei, und das Pferd war tot. Fauchelevent wurde wieder gesund, aber sein Knie blieb steif. Madeleine verschaffte ihm, mit Hülfe der barmherzigen Schwestern und seines Pfarrers, eine Anstellung als Gärtnerin einem Frauenkloster in dem Quartier Saint-Antoine zu Paris.

Dies geschah kurze Zeit, bevor Madeleine zum Bürgermeister ernannt wurde. Als Javert ihn zum ersten Mal mit der Schärpe, dem Abzeichen seiner hohen Würde, erblickte, fuhr er zusammen, etwa wie eine Dogge, die einen Wolf in den Kleidern ihres Herrn wittert. Von diesem Augenblick an vermied er es, so viel wie möglich, ihm zu begegnen. Zwangen ihn aber seine dienstlichen Pflichten, dem Herrn Bürgermeister unter die Augen, zu treten, so sprach er zu ihm in aller Ehrfurcht.

Die Hebung des Wohlstandes, die Montreuil-sur-Mer dem Vater Madeleine verdankte, gab sich, abgesehen von vielen augenfälligen Beweisen, durch ein Symptom kund, das wenig beachtet wurde, aber darum nicht minder bedeutsam war. Man kann mit Sicherheit Folgendes behaupten: Wenn die Bevölkerung Noth leidet, die Arbeit fehlt, der Handel darniederliegt, wehrt sich der Steuerzahler, läßt sich eine Frist nach der andern bewilligen, kommt schließlich seinen Verpflichtungen gar nicht nach und der Staat muß viel Geld verausgaben für die Eintreibung der Steuern, und die Zwangsvollstreckungen. Wenn es dagegen viel Arbeit giebt, wenn viel Geld verdient wird, kostet die Einkassirung der Steuern dem Staat sehr wenig. Man darf also behaupten, daß sich die Noth und der Reichthum eines Landes mit einem unfehlbaren Thermometer leicht feststellen lassen, nämlich den Unkosten der Steuererhebung. Zu jener Zeit nun hatten, in dem Arrondissement Montreuil-sur-Mer, diese um drei Viertel abgenommen, so daß der damalige Finanzminister de Villèle dieses Arrondissement allen Andern als ein nachahmenswerthes Vorbild zitirte.

So günstig lagen die Verhältnisse, als Fantine nach ihrer Vaterstadt zurückkehrte. Niemand erinnerte sich ihrer. Glücklicher Weise stand ihr die Thür der Madeleine’schen Fabrik offen. Sie meldete sich und bekam in der Frauenwerkstätte einen Platz. Die Arbeit war ihr durchaus neu, und sie konnte, da sie nicht viel fertig brachte, auch nicht viel verdienen, aber was sie verdiente, reichte zum Leben aus, und das Ziel ihrer Wünsche war erreicht.

Frau Victurnien giebt fünfunddreißig Franken für moralische Zwecke aus

Als Fantine sah, daß sie von ihrem Verdienst leben konnte, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Welche Gnade des Himmels! Die Lust zur Arbeit kehrte wieder zurück. Sie kaufte sich einen Spiegel, freute sich wieder an dem Anblick ihrer jugendlichen Miene, ihrer blonden Haare und weißen Zähne, vergaß Vieles, dachte fast nur noch an ihre Cosette und an die Möglichkeit einer besseren Zukunft; kurz, sie fühlte sich beinahe glücklich. Sie miethete ein kleines Zimmer und kaufte sich Möbel auf Kredit, denn diese Art Lüderlichkeit haftete ihr noch aus ihrer Vergangenheit an.

Da sie nicht sagen konnte, daß sie verheiratet sei, so hütete sie sich wohl ihres Töchterchens Erwähnung zu thun.

Indessen fiel es in der Werkstätte bald auf, daß sie »so viel Briefe schreiben ließ« und »fein thue.«

Niemand spürt so gut das Thun und Lassen seiner Nebenmenschen aus, als Diejenigen, die es nichts angeht. — »Warum kommt der Herr immer in der Dämmerstunde? Warum nimmt Herr So und So des Donnerstags immer seinen Schlüssel mit? Warum vermeidet er die Hauptstraßen? Warum steigt die gnädige Frau immer eine Strecke vor ihrem Hause aus der Droschke? Warum läßt sie sich besondres Briefpapier holen, während sie doch genug in ihrer Schreibmappe hat?« U. s. w. U. s. w. Manche Menschen vergeuden, um hinter derartige, ihnen übrigens völlig gleichgültige Geheimnisse zu kommen, mehr Geld, Zeit und Mühe, als zu zehn guten Handlungen nöthig sein würde; und zwar ohne irgend einen Zweck, zum Vergnügen, ohne andern Lohn für ihre Neugierde, als die Befriedigung dieser Neugierde. Sie schleichen diesem Herrn oder jener Dame Tage lang nach, stehen Stunden lang Schildwache an Straßenecken, unter Thorwegen, zu nachtschlafender Zeit, bei kaltem oder regnerischem Wetter, kneipen mit Droschkenkutschern und Lakaien, bestechen Dienstmänner, Kammerfrauen, Portiers. Wozu? Blos um etwas zu sehen, zu hören und auszuschnüffeln. Blos weil ihnen die Zunge juckt und sie Stoff zum Erzählen haben müssen. Und nicht selten zieht die Enthüllung solcher Geheimnisse schweres Unglück nach sich, Duelle, Fallissements, den Ruin ganzer Familien, allerdings zur großen Freude Derer, die »Alles entdeckt« haben, ohne Vortheil für sich und bloß zur Befriedigung eines Instinkts. Traurig!

Manche Menschen richten Schaden an, bloß weil sie dem Drange zu reden folgen müssen. Ihr Geschwätz gleicht gewissen Kaminen, die viel Holz verzehren. Diese Leute verbrauchen auch viel Brennmaterial, nämlich Menschenleben und Menschenglück.

In dieser Weise wurde auch Fantine beobachtet.

Außerdem war auch mehr, als eine unter ihren guten Freundinnen neidisch auf ihre blonden Haare und ihre weißen Zähne.

Es wurde konstatirt, daß sie während der Arbeit sich öfters bei Seite wandte, um verstohlen eine Thräne zu trocknen. Es waren dies Augenblicke, wo sie an ihr Kind oder vielleicht auch an den Mann, den sie geliebt hatte, dachte.

Fäden zu zerreißen, welche die Gegenwart mit einer düstern Vergangenheit verknüpfen, kostet dem Herzen viel Ueberwindung!

Fantinens gute Freundinnen brachten heraus, daß sie wenigstens zweimal monatlich an dieselbe Person schrieb und daß sie den Brief frankirte. Es gelang ihnen auch, sich die Adresse zu verschaffen. Sie lautete: An Herrn Thénardier, Gastwirth zu Montfermeil. Es wurde auch in der Kneipe der öffentliche Schreiber ausgeforscht, und es hielt nicht schwer, denn der alte Tropf gewann es nie über sich, Wein in seinen Magen zu gießen, ohne zugleich sein Hirn, das nun einmal nicht viel Geheimnisse, so wenig wie andere Dinge, zu fassen vermochte, gründlich auszupumpen. Kurz, man erfuhr, daß Fantine ein Kind hatte. »Nun natürlich! Das konnte man sich von vornherein sagen, daß an Der nicht viel dran war!« Zu guter Letzt fand sich dann noch eine gute Frau, die nach Montfermeil reiste, mit den Thénardiers sprach und nach Hause zurückgekehrt, triumphirte: »Es hat mir fünfunddreißig Franken gekostet, aber nun weiß ich doch, woran ich bin! Ich habe das Kind gesehen!«

Die Gevatterin, die diese Heldenthat fertig brachte, war eine Megäre, mit Namen Frau Victurnien, die sich als eine Hüterin der öffentlichen Moral aufspielte. Sie war sechsundfünfzig Jahr alt und noch weit häßlicher, als ihre Jahre eigentlich erlaubten. Dieses vermeckerte, alte Scheusal war merkwürdiger Weise auch einmal jung gewesen. In ihrer Jugend hatte sie 1793 einen Bernardiner Mönch geheirathet, der aus dem Kloster zu den Jakobinern übergegangen war. An diesen abtrünnigen Diener der Kirche, der ihr gegenüber mit Erfolg den »Herrn und Gebieter« in der energischsten Bedeutung dieser Formel hervorgekehrt hatte, dachte der heimtückische, boshafte, alte Sauertopf noch oft in süßem Weh, war aber unter der Restauration fromm geworden und zwar so entschieden, daß die Geistlichkeit ihr die Heirat mit dem Mönch verziehen hatte. Dafür erwies sie sich auch dankbar, indem sie ausposaunen ließ, sie habe einer religiösen Körperschaft ihr Vermögen hinterlassen. Diese Frau Victurnien also ging nach Montfermeil und meldete, sie habe das Kind gesehen.

Darüber ging natürlich Zeit hin. Fantine war beinahe ein Jahr in der Fabrik beschäftigt, als eines Morgens die Direktrice ihr im Namen des Herrn Bürgermeisters fünfzig Franken übergab und ihr sagte, für sie habe der Chef keine Arbeit mehr. Auch thäte sie gut daran, die Stadt zu verlassen.

Diese Kündigung erhielt sie gerade in dem Monat, wo die Thénardiers fünfzehn Franken Kostgeld, statt zwölf verlangten.

Es war ein Donnerschlag für Fantine. Sie konnte nicht die Stadt verlassen, weil sie ihre Miethe und das Geld für die Möbel schuldig geblieben war. Diese Schuld zu entrichten, dazu reichten fünfzig Franken nicht aus. Sie legte sich also auf’s Bitten, aber die Direktrice bedeutete ihr, sie habe sofort die Werkstätte zu verlassen. Noch mehr durch die Schande, als durch die Verzweiflung niedergedrückt ging sie nach Hause. Ihr Fehltritt war also jetzt ruchbar geworden!

Sie hatte nicht mehr die Kraft, gegen ihr böses Geschick anzukämpfen. Man rieth ihr, sich an den Herrn Bürgermeister persönlich zu wenden, aber sie getraute es sich nicht. Der Herr Bürgermeister hatte ihr die fünfzig Franken gegeben, weil er gut, und er entließ sie, weil er gerecht war. Diesem Urteilsspruch unterwarf sie sich.

Was Frau Victurnien Schönes angerichtet hatte

Die Wittwe des Mönches war also doch zu etwas gut gewesen.

Denn Madeleine hatte von der ganzen Sache kein Sterbenswörtchen erfahren. Fantinens Entlassung war einfach das Ergebnis einer Verbindung von Umständen, wie deren im Leben sich so viel ereignen. Madeleine betrat nur selten den Frauensaal. Die Direktrice, ein altes Fräulein, die ihm der Pfarrer empfohlen hatte, war eine sehr achtbare, energische, gerechte, rechtschaffne Person, die ein gutes Herz hatte, aber nur zu geben, nicht auch zu begreifen und zu verzeihen verstand. Auf dieses Fräulein verließ sich Madeleine in allen Dingen. Müssen doch die besten Menschen oft sich vertreten lassen! Die Direktrice also hatte aus eigner Machtvollkommenheit und in der festen Ueberzeugung, daß sie recht thue, selber den Prozeß gegen Fantine eingeleitet und verhandelt, das Urtheil gesprochen und vollstreckt.

Die fünfzig Franken hatte sie einem Fonds entnommen, den ihr Madeleine anvertraute, zu Almosen und Unterstützungen für die Arbeiterinnen. Ueber die Verwendung dieses Geldes brauchte sie nicht Rechenschaft abzulegen.

Fantine versuchte zunächst in Kondition zu treten. Aber Niemand wollte sie nehmen. Sie hatte die Stadt nicht verlassen. Der Trödler, von dem sie ihre erbärmlichen Möbel hatte, drohte, sie arretieren zu lassen, wenn sie fortginge. Der Hauswirt, dem sie Miethe schuldig geblieben war, hatte gesagt: »Wenn man jung und hübsch ist, wie Sie, kann man seine Schulden bezahlen.« Sie vertheilte die fünfzig Franken zwischen dem Wirt und dem Trödler, gab einige Möbel wieder ab und behielt nur das Allernothwendigste, das Bett. Dann fing sie ohne Arbeit zu haben, ohne Stelle und mit hundert Franken Schulden, das Leben von Neuem an.

Zunächst nähte sie Soldatenhemden und verdiente damit zwölf Sous täglich, von denen sie zehn für ihre Tochter abgeben mußte. Deshalb begann sie jetzt auch mit ihren Zahlungen an Thénardier im Rückstande zu bleiben.

Andrerseits aber lehrte sie eine alte Frau, die ihr des Abends ihr Talglicht anzündete, die Kunst im Elend zu leben. Hat man gelernt mit Wenigem Haus zu halten, so weiß man darum noch nicht mit Nichts auszukommen. Diese beiden Lebensweisen gleichen zwei Kammern, von denen die eine nicht hell und die andre dunkel ist.

Fantine lernte, wie man im Winter ganz ohne Heizung fertig werden kann, wie man einen Vielfraß von Stubenvogel abschafft, dessen Unterhalt Einem täglich auf einen Pfennig zu stehen kommt, wie man einen Unterrock als Bettdecke und eine Bettdecke als Unterrock benutzt, wie man Talglichte spart, indem man seine Mahlzeiten bei dem Licht der Fenster vis à vis einnimmt. Es ist eben unglaublich, wie manche arme und ehrliche Leute, in Folge vieler Uebung, ein Stück Kupfergeld zu verwerten verstehen. Auch Fantine erwarb sich dieses schöne Talent und faßte wieder etwas Muth.

Zu der Zeit war es, wo sie zu einer Nachbarin sagte: »Es ist nicht so gefährlich: Wenn ich nur fünf Stunden schlafe und die übrige Zeit fleißig nähe, werde ich’s schon dahin bringen, daß ich mir immer ein Stückchen Brod kaufen kann. Nicht genug, daß man davon satt wird. Aber glücklicher Weise ißt man weniger, wenn man Kummer hat. Also müßte es schaurig zugehn, wenn Einen die Sorgen und Brot zusammengenommen nicht satt kriegen sollten.«

In dieser Noth wäre es ein großer Trost gewesen, wenn sie ihr Töchterchen hätte bei sich haben können. Aber sollte sie auch die Kleine Entbehrungen aussetzen? Und wie das rückständige Geld aufbringen? Wie die Reisekosten erschwingen?

Die Alte, die ihr Unterricht in der Sparsamkeit ertheilte, war ein frommes Fräulein, die gegen die Armen und sogar auch gegen die Reichen gut war, und nicht einmal ihren Namen richtig schreiben konnte. Aber besaß sie nicht, da sie an Gott glaubte, die wahre Wissenschaft?

Solcher tief erniedrigter Tugenden giebt es viele hier auf Erden, aber sie werden erhöhet werden, denn auf dieses Leben folgt ein andres.

Anfänglich hatte Fantine vor Scham kaum gewagt, einen Fuß aus dem Hause zu setzen.

Wenn sie auf der Straße ging, fühlte sie, daß sich die Leute nach ihr umdrehten und mit Fingern auf sie wiesen. Jedermann starrte sie an, und Keiner grüßte. Diese Verachtung aber empfand sie wie einen eisigen Windhauch, der sie bis in’s Mark durchschauerte.

In den kleinen Städten ist ein gefallenes Mädchen wehrlos gegen den allgemeinen Hohn, gegen die unverschämte Neugierde. In Paris dagegen, wo Keiner den Andern kennt, kann man sich leicht verstecken. O, wie gern wäre sie nach Paris gegangen. Aber ach -!

Sie mußte sich also, wohl oder übel, an die allgemeine Mißachtung gewöhnen, so wie sie ja auch das Elend ertragen gelernt hatte. Allmählich fand sie sich auch hinein. Nach zwei, drei Monaten schüttelte sie die Scham ab und ging aus, als wenn nichts gewesen wäre. »Ist mir ganz egal!« sagte sie, kam und ging mit aufgerichtetem Kopfe, ein bittres Lächeln um die Lippen, und war sich bewußt, daß sie anfing frech zu werden.

So sah Frau Victurnien sie bisweilen von ihrem Fenster aus, bemerkte das Elend »des Geschöpfes«, daß sie »in die Schranken gewiesen« und wünschte sich Glück zu dieser guten That. Die schlechten Menschen sind eben auch fähig Glücksgefühle zu empfinden.

Das Uebermaß der Arbeit schadete Fantinens Gesundheit; sie hüstelte, und dies Leiden nahm allmählich zu. »Fühlen Sie doch, wie warm meine Hände sind!« sagte sie bisweilen zu ihrer Nachbarin.

Wenn sie aber des Morgens mit einem alten, zerbrochnen Kamm durch ihre schönen seidenweiche Haare fuhr, empfand sie doch eine stille Freude.

Weitere Erfolge der Frau Victurnien

Sie war gegen das Ende des Winters entlassen worden; der Sommer verging, aber der Winter kam wieder. Kürzere Tage, weniger Arbeit. Im Winter keine Wärme, kein Licht, kein Mittag, Abend und Morgen liegen nicht weit auseinander, Nebel, die Fenster sind zugefroren oder beschlagen und man sieht nicht hell. Der Himmel läßt nicht mehr Licht hindurch, als ein Kellerfenster in ein Souterrain. Schreckliche Jahreszeit! Der Winter versteinert das Wasser des Himmels und das Herz des Menschen. Fantinens Gläubiger ließen ihr keine Ruhe.

Sie verdiente zu wenig, so daß ihre Schulden zunahmen. Die Thénardiers, denen das Kostgeld nicht regelmäßig zuging, schrieben Briefe über Briefe, deren Inhalt sie betrübte und kränkte, und deren Porto in’s Geld lief. Eines Tages theilten sie ihr mit, Cosette habe keine Kleider mehr, sie brauche allerwenigstens ein wollnes Röckchen bei der Kälte, das nicht unter zehn Franken zu haben sein würde. Diesen Brief trug sie den ganzen Tag in der Hand herum. Am Abend ging sie zu dem Barbier, der an der Ecke wohnte, und zog den Einsteckkamm aus ihrer Frisur heraus, so daß ihr üppiges blondes Haar bis zu den Hüften herniederwallte.

»Schöne Haare!« rief der Barbier.

»Wieviel wollen Sie mir dafür geben?«

»Zehn Franken.«

»Gut.«

Für das Geld kaufte sie ein Tricotkleidchen und schickte dies den Thénardiers.

Diese geriethen in keine geringe Wuth. Sie hatten Geld haben wollen. Sie gaben das Kleid ihrer Eponine, und die arme Lerche war nach wie vor den Unbillen der Winterzeit ausgesetzt.

Fantine dachte: »Mein Kind friert nicht mehr. Ich habe sie mit meinen Haaren bekleidet.« Sie trug nun, ihren geschornen Kopf zu verhüllen, ein rundes Häubchen und sah auch so noch niedlich aus.

Unterdessen vollzog sich in Fantinens Herzen eine unheimliche Verwandlung. Sie empfand, als sie sich nicht mehr ihrer schönen Haare erfreute, einen wüthenden Haß gegen Alles, was sie umgab. Sie hatte lange Zeit die Verehrung Aller für Vater Madeleine getheilt; allein indem sie sich fortwährend wiederholte, daß er sie ihres Broderwerbes beraubt habe und an ihrem Unglück schuld sei, lernte sie auch ihn, ihn ganz besonders hassen. Sie lachte und sang, wenn sie an der Fabrik vorbeikam, und die Arbeiter vor der Thür standen, ihnen zum Trotz.

»Die nimmt ein schlechtes Ende!« bemerkte einst eine alte Arbeiterin, als sie Fantine bei diesem Gebahren beobachtete.

Schließlich nahm Fantine sich einen Liebsten, den ersten Besten, einen Mann, aus dem sie sich nichts machte, um die öffentliche Meinung herauszufordern, mit wilder Wuth im Herzen. Es war ein Taugenichts, ein Bettelmusikant, ein Faulpelz, der sie prügelte und sie bald überdrüssig bekam.

Aber sie liebte ihr Kind und, je tiefer sie sank, je düstrer Alles um sie wurde, desto heller erstrahlte in ihrem Herzen das Bild ihres süßen Engelchens. Dann dachte sie: »Wenn ich mal reich bin, lasse ich meine Cosette kommen«, und freute sich. Der Husten nahm nicht ab, und ihr Rücken bedeckte sich oft mit Schweiß.

Eines Tages erhielt sie von den Thénardiers einen Brief folgenden Inhalts: »Cosette hat eine Krankheit, die jetzt hier in der Gegend umgeht. Ein sogenanntes Frieselfieber. Die Arznei kostet viel Geld, und wir haben’s nicht dazu. Wenn Sie uns nicht binnen acht Tagen vierzig Franken schicken, ist es um die Kleine geschehen.«

Sie lachte wild auf und sagte zu ihrer alten Nachbarin: »Die sind gut! Vierzig Franken! Weiter nichts! Zwei Napoleond’or! Wo soll ich die denn hernehmen? Nein, was diese Bauern dumm sind!«

Indessen ging sie auf die Treppe, an eine Luke, und las den Brief noch einmal über.

Dann eilte sie die Treppe hinunter und lief springend, tanzend und immerzu lachend die Straße entlang.

Ein Bekannter begegnete ihr und fragte sie: »Was ist Ihnen denn passirt, daß Sie so vergnügt sind?«

Sie antwortete: »Ich lache über einen dummen Brief, den mir Leute vom Lande geschrieben haben. Denken Sie, die Schafsköpfe von Bauern wollen vierzig Franken von mir haben!«

Als sie über den Platz ging, sah sie eine große Menschenmenge um einen auffallenden Reklamewagen, auf dem ein roth gekleideter Mann stand und eine Rede hielt. Es war ein Quacksalber, der dem Publikum Gebisse, Opiate, Pulver und Elixire zum Kauf anbot.

Fantine mischte sich unter die Menge und lachte wie die Andern über den Redner, der, um dem Pöbel sowohl, wie den Gebildeten unter seinen Zuhörern gerecht zu werden, kunstvoll die kanaillösesten Ausdrücke mit großartig wissenschaftlichem Quatsch durch einander mengte. Der Zahnausreißer bemerkte sie bald mit seinen geübten Augen und rief ihr zu: »Sie da, Sie hübsche Kleine, wenn Sie mir Ihre zwei obern Schneidezähne verkaufen wollen, gebe ich Ihnen einen Napoleond’or für jeden.«

»Pfui, wie abscheulich!« rief Fantine.

»Zwei Napoleond’or!« brummte eine zahnlose Alte neben ihr. »Hat die ein Glück!«

Fantine lief davon und hielt sich beide Ohren zu, um nicht die heisre Stimme des Quacksalbers zu hören, der ihr nachschrie: »Ueberlegen Sie Sich die Sache, schöne Kleine! Zwei Napoleond’or sind nicht zu verachten. Wenn Ihnen mein Vorschlag zusagt, so kommen Sie heute Abend in die Herberge zum silbernen Schiff.«

Fantine rannte nach Hause und erzählte wüthend ihrer Nachbarin, was ihr passirt war. — »Was sagen Sie dazu? Ist so was nicht scheußlich? Wie kann blos die Obrigkeit solche Leute im Lande herumziehen lassen? Meine Vorderzähne ausziehen! Wie würde ich dann aussehen? Haare wachsen wieder, aber Zähne -! Solch ein Scheusal von Mensch! Da würde ich mich lieber fünf Stock hoch aus einem Fenster kopfüber auf das Pflaster stürzen. Heute Abend, sagte er, würde er in der Herberge zum silbernen Schiff zu treffen sein.«

»Wieviel hat er Ihnen denn geboten?« fragte Margarete.

»Zwei Napoleond’or.«

»Das macht vierzig Franken.«

»Jawohl, vierzig Franken.«

Sie wurde nachdenklich, und machte sich an ihre Arbeit. Nach Verlauf einer Viertelstunde, stand sie auf und las den Brief der Thénardiers noch einmal auf der Treppe.

Als sie zurückkam, fragte sie Margarete, die neben ihr arbeitete:

»Was ist denn das, ein Frieselfieber? Wissen Sie’s?«

»O ja! Eine Krankheit.«

»Da braucht man viel Arznei?«

»Gehörig viel!«

»Wo kommt denn das her?«

»Es ist eine Krankheit, die man so unversehens kriegt.«

»Das kriegen also die Kinder?«

»Besonders die Kinder!«

»Kann ein Kranker daran sterben?«

»O, ganz gut!« meinte Margarete.

Fantine stand auf und las den Brief noch einmal auf der Treppe.

Am Abend ging sie aus dem Hause und lenkte ihre Schritte der Pariser Straße zu, wo die Herbergen liegen.

Und als am nächsten Morgen Margarete vor Tagesanbruch — denn sie arbeiteten immer zusammen, um ein Talglicht zu ersparen — sich in Fantinens Zimmer einfand, saß Fantine bleich und halb erfroren auf ihrem Bett. Sie hatte sich nicht schlafen gelegt. Ihre Haube war auf ihre Kniee herabgefallen. Das Licht hatte die ganze Nacht gebrannt, und es war nur noch ein Stümpfchen davon übrig.

Margarete blieb halb versteinert vor Schrecken über die großartige Verschwendung und rief.

»Herr des Himmels! das Licht ist ja niedergebrannt! Was ist denn hier passirt?«

Dann blickt sie Fantine an, die ihren kurzhaarigen Kopf ihr zugewendet hielt. Die Unglückliche sah zehn Jahre älter aus, als den Tag zuvor.

»Herr, erbarme dich!« rief Margarete. »Was fehlt Ihnen, Fantine?«

»Nichts. Im Gegenteil. Mir ist wohl zu Muthe. Meine Cosette wird nicht aus Mangel an Arznei an der abscheulichen Krankheit sterben.«

Bei diesen Worten zeigte sie ihrer Freundin zwei Napoleond’or, die auf dem Tische lagen.

»Gott des Erbarmens! Das ist ja ein ganzes Vermögen? Wo haben Sie denn die Goldstücke her?«

»Ich habe sie bekommen,« antwortete Fantine.

Bei diesen Worten lächelte sie, ein blutiges Lächeln. Denn die Mundwinkel waren mit röthlichem Speichel benetzt, und in ihrem Oberkiefer sah man eine schwarze Lücke.

Die beiden Oberzähne waren ausgezogen.

Sie schickte die vierzig Franken nach Montfermeil. Im Uebrigen aber war Cosette nicht krank, und die Thénardiers hatten den Kniff gebraucht, um sich Geld zu verschaffen.

Alsdann warf Fantine ihren Spiegel zum Fenster hinaus. Aus ihrem Zimmerchen in einem zweiten Stock hatte sie sich schon längst in eine Dachstube geflüchtet, deren Fußboden mit der Decke in einem spitzen Winkel zusammengrenzte, und wo sie sich alle Augenblicke den Kopf stieß. Eine Bettstelle hatte sie nicht mehr, es war ihr nur ein großer Lumpen geblieben, den sie ihre Decke betitelte, ferner eine Matratze, die auf der bloßen Erde lag, und ein Stuhl, dessen Strohsitz entzwei war. In einer Ecke stand. noch ein Blumentopf, aber der Rosenstrauch darin war verdorrt. In einer andern Ecke sah man auch einen als Wasserbehälter benutzten Buttertopf, an dessen Innenfläche sich verschiedene Eisringe gebildet hatten. Hatte sie schon längst alle Scham verloren, so verlernte sie jetzt, auch auf ihr Aeußeres etwas zu geben und sank bald zur Schlumpe herab. Sie trug auf der Straße schmutzige Hauben, besserte aus Mangel an Zeit oder aus Gleichgiltigkeit ihre Wäsche nicht mehr aus, flickte ihr altes, abgenutztes Corset mit Kattunlappen, die bei jeder Bewegung wieder abrissen. Ihre Gläubiger bereiteten ihr öffentliche Auftritte und drangsalirten sie auf jede Weise. Sie lauerten ihr auf der Straße, auf der Treppe auf. Sie weinte und grübelte ganze Nächte hindurch. Ihre Augen glänzten grell und immer greller, und oben am linken Schulterblatt meldeten sich Schmerzen, die nicht weggehen wollten. Auch hustete sie immer stark. Sie arbeitete siebzehn Stunden jeden Tag, aber ein Unternehmer, der über billige Gefängnißarbeit verfügte, machte den andern Fabrikanten so starke Konkurrenz, daß der Arbeitslohn auf neun Sous herunterging. Neun Sous für siebzehn Stunden Arbeit! Nun peinigten sie ihre Gläubiger nur noch erbarmungsloser. Der Trödler namentlich, der ihr fast alle Möbel wieder abgenommen, zeterte fortwährend: »Wann wirst Du mich bezahlen. Du Kanaille, Du?« Was wollten sie denn eigentlich von ihr? So verängstigt wurde sie, daß sie in ihrem Wesen einem gehetzten Wild zu gleichen begann. Schließlich kündete ihr der schuftige Thénardier an, er habe in seiner Gutmüthigkeit nun wirklich zu lange gewartet, und sie müsse ihm umgehend hundert Franken schicken; sonst würde er Cosette, so schwach sie noch von ihrer Krankheit wäre, auf die Straße setzen und würde sich nicht daran kehren, was bei der Kälte aus ihr werden würde: seinetwegen könne sie krepiren, — »Hundert Franken!« dachte Fantine. »Wie macht man’s denn, wenn man hundert Sous täglich verdienen will?«

»Nun, dann muß ich das Einzige verkaufen, was mir noch übrig bleibt.«

Und die Unglückliche warf sich der Prostitution in die Arme.

»Christus hat uns befreit.«

Was lehrt uns Fantinens Lebensgeschichte? Wie die Gesellschaft sich eine Sklavin kauft.

Von wem? Von dem Elend.

Von dem Hunger, der Kälte, der Vereinsamung, der Noth. Jammervoller Handel. Eine Menschenseele für ein Stück Brod.

Jesu Christi heiliges Gesetz beherrscht unsere Zivilisation, durchdringt sie aber noch nicht. Es wird behauptet, die Sklaverei sei aus der europäischen Kulturwelt verschwunden. Das ist nicht richtig. Noch existirt sie, lastet aber nur noch auf den Frauen, und nennt sich die Prostitution.

Lastet auf den Frauen, d. h. auf der Anmuth, Schwäche, Schönheit, auf dem Mutterthum, zur größten Schande des Mannes.

In demjenigen Stadium, das Fantinens Elendsdrama jetzt erreicht hat, bleibt von dem, was sie einst gewesen ist, nichts mehr übrig. Nun sie gemein ist, wie der Koth, ist sie empfindungslos geworden, wie Marmor, kalt für jeden, der sie berührt. Wem sie sich hingegeben, den vergißt sie sofort: Die Schande ist keiner Liebesgluth, keiner Zärtlichkeit fähig. Das Leben, die Welt, die Gesellschaft haben ihr gegenüber ihr letztes Wort gesagt. Was ihr nun noch widerfahren wird, gleicht dem, was ihr schon widerfahren ist. Sie hat Alles ertragen. Alles durchgekostet. Alles erduldet. Alles verloren, Alles beweint. Sie hat jetzt eine Geduld, die der Gleichgiltigkeit so ähnlich sieht, wie der Tod dem Schlafe. Sie flieht, sie fürchtet sich vor nichts mehr. Ob Ströme Wassers aus den Wolken, ob der Ocean über sie hereinbricht, ihr ist es gleich: Sie ist wie ein Schwamm, der vollständig mit Wasser gesättigt ist.

Wenigstens lebt sie dieses Glaubens, aber den Brunnen des Schicksals kann man nicht ausschöpfen, nicht bis auf seinen Grund niedertauchen.

Warum werden doch solche Unglücklichen so wehr- und hilflos herumgeworfen? Was ist der Zweck ihres Daseins?

Das weiß nur der, der alle Finsterniß durchschaut, der Einzige in seiner Art, Gott.

Wie Herr Bamatabois sich amüsirte

In allen Kleinstädten, also auch in Montreuil-sur-Mer, giebt es junge Leute, die bei einem Einkommen von fünfzehn Hundert Franken jährlich ein Leben führen, wie Ihresgleichen in Paris bei zweimal Hunderttausend; ein Zwittergeschlecht, die aller moralischen Energie, alles mannhaften Ehrgefühls bar, auf Kosten der Gesamtheit lebt. Diese auf ihr Landgut und ihr bischen Verstand eingebildeten Menschen, die in einem feinen Salon sich wie flegelhafte Junker benehmen würden, halten sich in der Kneipe für Edelleute; sprechen von »ihren« Wiesen, »ihren« Forsten, »ihren« Leuten, pfeiffen Schauspielerinnen aus zum Beweise, daß sie gute Kunstrichter sind; suchen Händel mit Offizieren, um Zeugniß abzulegen von ihrer Courage; gehen auf die Jagd, rauchen, gähnen, trinken, spielen Billard, leben in der Kneipe, speisen im Restaurant, halten sich einen Hund und eine Liebste, knausern bei Allem, suchen modischer zu sein, als die feinsten Modeherrn, bewundern die Tragödie, verachten die Frauen, ahmen London nach Pariser Vorbildern, und Paris nach Vorbildern aus Pont à Mousson nach, werden im Alter Trottel, arbeiten nicht, sind zu nichts nütze und stiften nicht viel Schaden an.

Solch ein Mensch würde auch Felix Tholomyès geworden sein, wenn er in seiner Provinz geblieben und nie nach Paris gekommen wäre.

Wären dergleichen Leute reicher, so würde es von ihnen heißen: »Gigerl!« Wären sie ärmer, so würde man sie arbeitsscheues Gesindel schimpfen. Es sind aber ganz einfach Leute, die nichts zu thun haben. Unter ihnen befinden sich Langweilige und Gelangweilte, Träumer und einige Schurken.

Zu jener Zeit bestand ein Gigerl aus einem Halskragen, einem dito Halstuch, einer Uhr nebst Gehänge, drei Westen, von denen die rothe und blaue von der andern bedeckt waren, einem olivenfarbigen Rock mit kurzer Taille und Schwalbenschwanz, zwei dicht aneinander bis an die Schulter emporsteigenden Reihen von Knöpfen und einem dito olivenfarbigen, aber etwas helleren Paar Beinkleidern, über deren Längsnähte Querstreifen in ungerader Zahl, einer bis höchstens elf, liefen. Dazu Stiefel mit Eisen am Hacken, ein hoher Cylinderhut mit schmaler Krämpe, gekräuselte Haare, ein gewaltiger Spazierbaum und eine mit minderwerthigen Kalauern gewürzte Rede. Das Ganze war dann noch mit Sporen und einem Schnurrbart geschmückt. Der Schnurrbart bekundete, daß man ein feiner Mann, und die Sporen, daß man ein Fußgänger war.

Die Gigerln in der Provinz trugen natürlich längere Sporen und grimmigere Schnurrbärte, als ihre Pariser Geistesverwandten.

Damals lagen die südamerikanischen Republiken, die sich unabhängig machen wollten, im Kampfe gegen den König von Spanien. Hie Bolivar! Hie Morillo! Die Royalisten kennzeichneten sich demgemäß durch schmalkrämpige Hüte oder Morillos; die Freiheitsfreunde dagegen prangten in breitkrämpigen oder Bolivars.

Acht bis zehn Monate also nach den weiter oben erzählten Ereignissen, in den ersten Tagen des Januar 1823, an einem Abend, wo es geschneit hatte, leistete sich ein Gigerl, ein Müßiggänger, ein »Gutgesinnter« mit einem Morillo und einem großen Mantel das Vergnügen, ein Frauenzimmer zu foppen, das, in einem dekolletirten Ballkleid und mit Blumen in den Haaren, sich vor dem Café der Offiziere herumtrieb. Selbstredend rauchte unser Gigerl, denn diese Mode griff damals stark um sich.

Jedesmal, wenn das Frauenzimmer an ihm vorbeikam, blies das Gigerl eine Rauchwolke aus seiner Cigarre nach ihr hin und uzte sie mit Reden, die ihm geistreich und lustig vorkamen: »Nein, bist Du häßlich!« »Du hast ja keine Zähne!« u.s.w. Der Herr hieß Bamatabois. Das Opfer seiner Bosheit tappte über den Schnee hin und her, antwortete ihm nicht, sah ihn nicht einmal an, und vollzog stillschweigend, mit schauerlicher Regelmäßigkeit ihren Spaziergang, der sie alle fünf Minuten unter das Witzfeuer ihres Feindes führte, wie ein Soldat, der Spießruthen läuft. Die Wirkungslosigkeit seiner Spähe verdroß den Müßiggänger. Er benutzte einen Augenblick, wo sie ihm den Rücken zuwendete, schlich ihr nach, indem er seine Heiterkeit unterdrückte, bückte sich, hob eine Handvoll Schnee auf und steckte ihn ihr rasch zwischen die nackten Schultern in das Kleid hinein. Die Dirne stieß ein Wuthgeschrei aus, wandte sich um und stürzte sich wie ein Panther auf ihren Gegner, bearbeitete sein Gesicht mit ihren Nägeln und überhäufte ihn mit den gemeinsten Schimpfworten. Jetzt, wo sie ihren nach Schnaps riechenden Mund aufthat, konnte man auch sehen, daß ihr allerdings zwei Oberzähne fehlten. Es war die unglückliche Fantine.

Der Lärm lockte die Offiziere aus dem Café, die Vorübergehenden blieben stehen, und bald weidete sich eine Menschenmenge an dem widerwärtigen Schauspiel, applaudirte und hetzte nach Herzenslust.

Plötzlich trat raschen Schrittes ein Mann von hoher Statur aus dem Zuschauerkreise heraus, packte die Dirne an ihrem mit Koth befleckten Mieder und sagte: »Komm mal mit!«

Sie sah empor; ihr Wuthgekreisch verstummte im Nu. Ihre Augen blickten starr, sie wurde leichenblaß und bebte vor Schrecken. Sie wußte, daß sie Javert vor sich hatte.

Das Gigerl aber hatte sofort den Zwischenfall benutzt, um sich aus dem Staube zu machen.

Ueber gewisse Polizeireglements

Javert drängte die Zuschauer bei Seite und ging mit raschen Schritten auf das Polizeibureau zu, das sich an dem Ende des Platzes befand, indem er die Unglückliche hinter sich her zog. Sie folgte ihm maschinenmäßig. Keines von Beiden sprach ein Wort. Ein großer Menschenschwarm, den das Schauspiel höchlichst amüsierte, marschirte mit und riß Witze über die Unglückliche.

Vor den Polizeibureaus angelangt, ging Javert hinein, schob Fantine in die niedrige Stube und machte die vergitterte Thür hinter sich zu, zum großen Aerger der Maulaffen, die sich vergeblich auf die Zehenspitzen stellten, den Hals reckten, ihre Augen anstrengten, um durch die Glasscheibe der Thür einen Blick in das Innere des Bureaus zu werfen. Die Neugierde ist ja die Feinschmeckerei der Augen.

Nachdem sie eingetreten waren, fiel Fantine in einer Ecke nieder und blieb da wie ein Hund, regungslos und stumm, liegen.

Der Sergeant des Postens brachte ein angezündetes Talglicht und stellte es auf den Tisch. Javert setzte sich, zog ein Blatt Stempelpapier aus der Tasche und schrieb.

Diese Klasse Frauen ist kraft unsrer Gesetze ganz und gar dem Belieben der Polizei anheimgegeben. Sie thut mit ihnen, was sie will, bestraft sie nach ihrem Gutdünken und konfiszirt willkürlich, die traurigen beiden Rechte, die sie ihr Gewerbe und ihre Freiheit nennen. Diese richterliche Machtvollkommenheit übte jetzt Javert aus. Er saß ruhig da; sein ernstes Gesicht verriet keine Aufregung. Gleichwohl war sein Geist von einer gewichtigen Aufgabe vollauf in Anspruch genommen. Er war sich bewußt, daß er ebenso gerecht, wie streng verfahren müsse, daß der ärmliche Schemel, auf dem er saß, ein Richterstuhl war. Er hatte in seinem Innern einen Prozeß zu verhandeln, und ein Urtheil zu sprechen. Deshalb bot er nun auch alle Ideen, die er überhaupt besaß, auf, um seiner schwierigen Pflicht gerecht zu werden. Je eingehender er aber die vorliegende Sache prüfte, desto mehr sittliche Empörung erfaßte ihn. Es war geradezu ein Verbrechen, was dieses Frauenzimmer da begangen hatte. So eben war die Gesellschaft in der Person eines Grundbesitzers und Wählers auf öffentlicher Straße beschimpft und thätlich angegriffen worden von einem Frauenzimmer, die außerhalb der Gesetze und der Welt stand. Eine feile Dirne hatte sich eines Attentats gegen ein Mitglied der höhern Stände erfrecht. Das hatte er, Javert, mit eignen Augen gesehen.

Als er mit Schreiben fertig war, faltete er das Papier zusammen und übergab es dem Sergeanten mit den Worten: »Nehmen Sie drei Mann und bringen Sie die da ins Loch.« Und zu Fantine gewendet: »Du hast sechs Monate abzusitzen.«

Die Unglückliche erschrack.

»Sechs Monat! Sechs Monat Gefängnis, wo ich täglich blos sieben Sous verdiene! Was soll dann aus meiner Cosette werden? Meine arme Tochter! Herr Inspektor, ich bin den Thénardiers noch hundert Franken schuldig!«

Dann kroch sie auf den Knieen über den, von den kothigen Stiefeln der Schutzleute beschmutzten Steinboden hin, faltete die Hände und flehte:

»Gnade, Herr Javert! Ich versichre Sie, ich habe keine Schuld. Wären Sie zu Anfang dabeigewesen, so würden Sie Sich davon überzeugt haben. Ich schwöre Ihnen bei unserm lieben Herrgott, daß ich keine Schuld habe. Der Herr, den ich nicht kenne, hat mir Schnee in den Rücken gesteckt. Hat man das Recht, uns Schnee in den Rücken zu stecken, wenn wir ruhig auf der Straße an den Leuten vorübergehn und ihnen nichts thun! Da hat mich die Wut von Sinnen gebracht. Ich bin nämlich krank, Herr Inspektor. Und vorher hatte er mich schon eine ganze Weile geschimpft: ›Du bist häßlich! Du hast keine Zähne!‹ Ich weiß recht gut, daß ich keine habe. Ich that nichts. Ich dachte, der Herr will sich einen Witz machen, verhielt mich anständig und sagte nichts. Da hat er mir Schnee in den Rücken gesteckt. Herr Inspektor! Gütiger Herr Inspektor! Ist denn Niemand da, der zugegen gewesen ist und sagen kann, ob es sich nicht wirklich so verhält, wie ich sage? Es war vielleicht unrecht von mir, daß ich wüthend geworden bin. Aber in dem ersten Augenblick kann man sich ja nicht beherrschen. Man läßt sich fortreißen. Und dann so was Kaltes am Leibe, wenn man sich’s garnicht versieht. Es war nicht in der Ordnung, daß ich dem Herrn seinen Hut ruiniert habe. Warum ist er fortgegangen? Ich hätte ihn ja um Verzeihung gebeten. Du mein Gott, es käme mir darauf nicht an. Erlassen Sie mir die Strafe nur dieses einzige Mal, Herr Javert. Sie wissen’s nicht, aber im Gefängnis verdient man nur sieben Sous den Tag; die Regierung hat keine Schuld, aber man verdient nur sieben Sous, und ich soll hundert Franken bezahlen, sonst schicken sie mir meine Tochter zurück. Und ich kann ja doch nicht das Kind um mich haben. Ich kann sie ja doch nicht mit ansehen lassen, was für ein abscheuliches Leben ich führe. Was soll denn aus meiner armen Cosette werden? Das süße Engelskind wird mir wie ein verlassenes Schäfchen in der Welt herumlaufen. Denn, sehen Sie, die Thénardiers, das sind Gastwirthe auf dem Lande, Bauern: Die haben kein Einsehen. Die wollen Geld haben. Stecken Sie mich nicht ins Gefängniß. Die sind im Stande und schmeißen das kleine Wesen auf die Straße: Nun geh, wo Du hingehen kannst. Mitten im Winter. Da müssen Sie Erbarmen haben, lieber, guter Javert. Wenn das größer wäre, könnte es ja arbeiten und sein Brod verdienen, aber so geht’s ja nicht. Ich bin kein schlechtes Frauenzimmer von Natur. Nicht Trägheit und Leckermäuligkeit haben mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Branntwein habe ich freilich getrunken, aber da ist das Elend dran schuld. Ich mag ihn nicht, aber er betäubt. Als es mir besser ging, da hätte man in meinem Kleiderschrank keinen überflüssigen Putz gefunden. Ich hatte hauptsächlich Wäsche, viel Wäsche. Haben Sie Mitleid mit mir, Herr Javert!«

So redete sie, in sich zusammengesunken, von heftigem Schluchzen geschüttelt, die Augen von Thränen geblendet, die Brust entblößt, mit gerungenen Händen, in ihrer qualvoll gestammelten Rede fortwährend von einem trocknen, kurzen Husten unterbrochen. Großes Herzeleid verklärt die Unglücklichen mit einem himmlischen, herrlichen Strahl. So war auch Fantine in diesem Augenblick wieder schön geworden. Aber so demüthig sie auch bat und dem Polizisten den Saum seines Rockes küßte, sie konnte sein steinernes Herz nicht rühren.

»Vorwärts! Ich habe Dich angehört. Bist Du zu Ende? Jetzt fort mit Dir! Du hast deine sechs Monate weg, und Gott im Himmel selber könnte sie Dir jetzt nicht mehr abnehmen!«

Bei dieser feierlichen Betheurung begriff sie, daß ihr Urteil unabänderlich war. Sie brach zusammen und stöhnte nur noch schwach: »Gnade!«

Javert drehte ihr den Rücken zu, und die Soldaten packten sie bei den Armen.

Aber seit einer Weile stand mit dem Rücken an der Thür ein Mann, der unbemerkt hereingekommen war und die verzweifelten Bitten der Unglücklichen mit angehört hatte.

In demselben Augenblick, als die Schutzleute sie ergriffen, da sie nicht aufstehen wollte, trat er aus dem Schatten hervor und sagte:

»Einen Augenblick, wenn’s beliebt.«

Javert sah ihn an und erkannte Herrn Madeleine. Er nahm den Hut ab und grüßte in ungeschickter Weise mit der Miene eines Menschen, der nicht zufrieden ist.

»Verzeihung, Herr Bürgermeister …«

Die Worte Herr Bürgermeister brachten bei Fantine einen merkwürdigen Eindruck hervor. Sie schnellte plötzlich vom Boden empor, wie ein Gespenst, das aus der Erde heraustaucht, schob mit den Armen die Schutzleute zurück, ging, ehe man sie daran hindern konnte, auf Madeleine zu, musterte ihn mit wilden Blicken und schrie:

»Ach! Du bist also der Herr Bürgermeister!«

Alsdann aber schlug sie eine Lache auf und spie ihm in’s Gesicht.

Madeleine trocknete sich das Gesicht und sagte:

»Inspektor Javert, setzen Sie diese Frau in Freiheit!«

Javert war einen Augenblick zu Muthe, als verliere er den Verstand. Heftigere Gemüthserregungen, als diejenigen, die ihn jetzt fast zu gleicher Zeit erschütterten, hatte er in seinem Leben noch nie empfunden. Daß eine öffentliche Dirne einem Bürgermeister in’s Gesicht spie, war etwas so Ungeheuerliches, daß derartiges auch nur zu träumen, ihm als ein Frevel erschienen wäre. Andrerseits überkam ihn plötzlich zu seinem größten Schrecken, in seinem tiefsten Innern der Gedanke, daß dieser Bürgermeister vielleicht zu derselben Menschenrasse gehörte, wie die Dirne, und daß also das entsetzliche Attentat gar nichts so Schlimmes sei. Aber als nun gar der Bürgermeister, der höchste Beamte der Stadt, sich ruhig das Gesicht abtrocknete und ihn die Elende in Freiheit setzen hieß, da war er wie betäubt vor Staunen, da versagte ihm seine Denkfähigkeit und die Sprache, da war das Maß der Verwunderung, das sein Geist fassen konnte, voll und er blieb stumm.

Auch auf Fantine hatten die Worte des Bürgermeisters nicht minder gewaltsam gewirkt. Sie umklammerte das Ofenrohr, als fürchte sie umzufallen, ließ ihre Blicke überall umherirren und sprach leise vor sich hin:

»In Freiheit! Ich darf gehn! Ich brauche nicht in’s Gefängniß. Wer sagte das? So was kann doch Keiner gesagt haben. Ich habe mich verhört. Der schändliche Mensch von Bürgermeister ist’s gewiß nicht gewesen. Haben Sie, lieber guter Herr Javert gesagt, daß ich frei ausgehn soll? Ich will’s Ihnen erklären, dann werden Sie mich gewiß gehen lassen. Sehen Sie, der alte Schurke von Bürgermeister da ist an Allem schuld. Denken Sie, Herr Javert, er hat mich aus der Fabrik weggejagt, weil ich von niederträchtigem Gesindel verklatscht worden bin. Ob das nicht eine Schändlichkeit ist! Ein armes Frauenzimmer entlassen, die rechtschaffen ihre Schuldigkeit thut und ihre Arbeit macht. Nachher habe ich nicht mehr genug verdient, und da ist das Unglück gekommen. Da wäre zunächst mal eine Verbesserung einzuführen. Das müßten die Herren von der Polizei besorgen. Da giebt es nämlich Unternehmer, die thun den armen Leuten Schaden. Lassen Sie’s Sich erklären, wie das zugeht. Man verdient also zwölf Sous mit Hemdennähen, und mit einem Mal kriegt man blos noch neun Sous. Keine Möglichkeit damit auszukommen. Man hilft sich dann, wie man kann. Ich hatte meine Cosette und da mußte ich doch ein schlechtes Frauenzimmer werden. Nun werden Sie einsehen, daß der Halunke von Bürgermeister das Unheil angerichtet hat. Darauf habe ich den Hut des Herrn vor dem Offizierscafé zu Schanden gemacht. Aber er hatte mir mit dem Schnee mein Kleid verdorben. Unsereins hat doch blos ein einziges seidenes Kleid für den Abend. Sehen Sie, Herr Javert, ich habe nie absichtlich etwas Böses gethan, Herr Javert, und ich sehe überall Frauen, die schlechter sind als ich, und doch sind sie viel glücklicher. Ach Herr Javert, Sie haben gesagt, daß ich gehen soll, nicht wahr? Erkundigen Sie Sich, sprechen Sie mit meinem Hauswirt, jetzt bezahle ich die Miethe pünktlich; die Leute werden Ihnen schon sagen, das ich kein unehrliches Frauenzimmer bin. O weh! Ich bitte um Verzeihung, ich habe aus Versehen die Ofenklappe gedreht, und nun raucht es.«

Madeleine hörte ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Während sie sprach, hatte er in seine Westentasche gegriffen, seine Börse hervorgelangt und sie geöffnet. Sie war leer, und er hatte sie wieder eingesteckt. Nun fragte er Fantine: »Wie viel haben Sie gesagt, daß Sie schuldig sind?« Fantine, die bisher immer Javert angesehen hatte, drehte sich nach ihm um mit den Worten:

»Wer redet denn mit Dir!«

Dann wandte sie sich an die Schutzleute:

»Haben Sie gesehen, wie ich dem — hast Du nicht gesehen? — ins Gesicht gespuckt habe? Also Du alter Bösewicht von Bürgermeister, Du kommst her und willst mir Angst einjagen. Aber vor dir fürchte ich mich nicht. Ich fürchte mich vor Herrn Javert, vor dem lieben, guten Herrn Javert.«

»Gerechtigkeit muß ja sein, Herr Inspektor, das sehe ich ja ein. Im Grunde genommen ist es ja was ganz Einfaches, daß sich ein Mann den Spaß macht und stopft einem Frauenzimmer Schnee in den Rücken. Darüber haben die Offiziere gelacht; ihr Vergnügen müssen die Herren ja doch haben, und Unsereine ist doch dazu da, daß Andre ihren Spaß daran haben. Sie kommen nun gerade dazu, und da müssen Sie doch Ordnung stiften. Sie arretiren das Frauenzimmer, weil es Unrecht gehabt hat, aber nachher überlegen Sie Sich die Sache, da sind Sie gut und befehlen, daß man mich laufen läßt, von wegen dem unschuldigen Kind, denn wenn ich sechs Monate lang sitzen müßte, könnte ich nicht für ihren Unterhalt sorgen. ›Aber thu’s nicht wieder, Du Kanaille!‹ So denken Sie. O ich thu’s gewiß nicht wieder, Herr Javert. Jetzt mag man mir anthun, was man will. Ich lasse mir Alles gefallen. Blos heute habe ich geschrieen, weil mir das weh that, und es kam so unerwartet. Und außerdem, wie gesagt, bin ich nicht ganz gesund, ich huste. Mir ist, als habe ich ein brennendes Eisen hier oben in der Brust, und der Arzt sagt auch, ich soll mich recht in Acht nehmen. Geben Sie mir Ihre Hand. So. Nun fühlen Sie. Hier.«

Sie weinte jetzt nicht mehr, und ihre Worte klangen schmeichlerisch, während sie Javerts rauhe, große Hand auf ihren zarten, weißen Busen hielt. Plötzlich aber brachte sie ihre Kleider hastig wieder in Ordnung, und ging auf die Thür zu, indem sie den Schutzleuten freundschaftlich zunickte und halblaut sagte:

»Kinder, der Herr Inspektor hat gesagt, ich darf gehen. Ich mache mich also davon.«

Schon legte sie die Hand auf die Klinke. Noch ein Schritt, so war sie draußen.

Die ganze Zeit über hatte Javert unbeweglich, gesenkten Hauptes, da gestanden wie eine Statue, die an einen unrechten Ort gestellt ist und wartet, daß sie wieder an ihre richtige Stelle kommt.

Das Geräusch, das die Klinke machte, weckte ihn. Er richtete sich empor mit einer grimmigen Gebietermiene. Solch eine Miene ist um so furchtbarer anzusehen, je niedriger die Intelligenz des betreffenden Wesens ist.

»Sehen Sie nicht, Sergeant, daß die Dirne davon geht? Wer hat Sie geheißen, sie gehen zu lassen?«

»Ich!« sagte Madeleine.

Als sie Javerts Stimme hörte, fuhr Fantine vor Schreck zusammen und ließ die Klinke fahren, wie ein Dieb, der auf der That ertappt wird. Als dann Madeleine antwortete, wandte sie sich nach ihm hin, und von diesem Augenblick an richteten sich ihre Blicke, ohne daß sie einen Laut dabei hören ließ, ohne daß sie auch nur frei zu athmen wagte, abwechselnd auf Madeleine und auf Javert, je nachdem Dieser oder Jener sprach.

Selbstredend mußte Javert, wie man sagt, ganz und gar aus dem Häuschen gerathen sein; sonst hätte er sich nicht erlaubt, den Sergeanten so anzuherrschen, nachdem der Bürgermeister angeordnet hatte, daß Fantine aus der Haft entlassen werden solle. War er so verwirrt, daß er die Anwesenheit des Herrn Bürgermeisters vergessen hatte? Erachtete er es jetzt für unmöglich, daß ein Mitglied der hohen Obrigkeit einen derartigen Befehl ertheilt hätte? Der Herr Bürgermeister hatte ganz gewiß etwas Andres gesagt, als er eigentlich wollte? Oder sagte er sich Angesichts der unsinnigen Vorgänge, denen er seit zwei Stunden beiwohnte, daß er einen großen Entschluß fassen, daß der kleine Beamte die Rolle des höheren übernehmen, der Spitzel sich in einen Richter verwandeln müsse, und daß in der vorliegenden Nothlage die Ordnung, das Gesetz, die Moral, die Regierung die ganze Gesellschaft sich in ihm, Javert, personifizirten?

Wie dem auch sei, als Madeleine das Wort »Ich!« ausgesprochen, wandte sich der Polizeiinspektor Javert, mit blassem, kaltem Gesicht, mit einem verzweifelten Blick, an allen Gliedern leise zitternd, an den Herrn Bürgermeister und wagte, was er noch nie gethan, ihm, einem Vorgesetzten, zu widersprechen. Gesenkten Hauptes, aber mit fester Stimme sagte er:

»Herr Bürgermeister, das geht nicht an!«

»Wieso?« fragte Madeleine.

»Dieses Frauenzimmer hat einen Mann von Stande insultiert.«

»Inspektor Javert,« erwiderte Madeleine in ruhigem und versöhnlichem Tone, »hören Sie, was ich zu sagen habe. Sie sind ein wackrer Mann, und ich nehme keinen Anstand, mich Ihnen gegenüber zu einer Erklärung herbeizulassen. Der Thatbestand ist folgender. Ich ging vorbei, als Sie die Frau eben verhaftet hatten, und erkundete mich bei Leuten, die auf dem Platz zurückgeblieben waren. Der andere Theil, der Herr, hat angefangen und hätte von der Polizei arretiert werden sollen.«

Javert entgegnete:

»Die Elende hat den Herrn Bürgermeister insultiert.«

»Das ist meine Sache. Ein mir angethaner Schimpf gehört doch wohl mir. Ich darf damit anfangen, was mir beliebt.«

»Ich bitte den Herrn Bürgermeister um Entschuldigung, die Beleidigung geht nicht ihn an, sondern die Gerechtigkeit.«

»Inspektor Javert,« antwortete Madelaine, »die oberste Gerechtigkeit ist Sache des Gewissens. Ich habe die Frau angehört und weiß, was ich thue.«

»Und ich, Herr Bürgermeister, weiß nicht, was das Alles bedeuten soll.«

»Sehr wohl, dann gehorchen Sie.«

»Ich gehorche meiner Pflicht, und die verlangt, daß die Dirne da sechs Monat Gefängniß bekommt.«

Madeleine antwortete mit sanftmüthiger Ruhe:

»Merken Sie sich, Javert, sie bekommt nicht einen Tag.«

Als dieser Entscheid gefallen war, unterfing sich Javert, den Bürgermeister fest anzusehen, und ihm — allerdings mit aller Ehrerbietung im Tone — zu erwiedern:

»Zu meiner größten Verzweiflung sehe ich mich genöthigt, Einspruch zu erheben. Es ist das erste Mal in meinem Leben, aber der Herr Bürgermeister werden mir gütigst gestatten zu bemerken, daß ich mich innerhalb der Grenzen meiner Befugnisse befinde. Ich halte mich auch, wie der Herr Bürgermeister es wünschen, an den Thatbestand. Ich war zugegen und habe gesehen, daß diese Dirne den Herrn Bamatabois thätlich insultirt hat, Herrn Bamatabois, einen Wähler und Besitzer des schönen, dreistöckigen Hauses aus Quadersteinen und mit einem Balkon, das an der Ecke der Esplanade steht! — Was doch nicht Alles auf der Welt passirt! Wie dein aber auch sei, Herr Bürgermeister, der Vorfall geht die Straßenpolizei, also mich an, und ich behalte die Frau in Haft.«

Da verschränkte Madeleine die Arme und entgegnete in einem strengen Tone, den bisher noch Niemand von ihm gehört hatte:

»Der Vorfall geht die Gemeindepolizei an. Laut Paragraph 9, 11, 15 und 66 der Kriminalgerichtsordnung habe ich darüber zu entscheiden, und ich ordne an, daß die Frau ihrer Haft entlassen wird.«

Javert machte aber noch einen letzten Versuch seinen Willen durchzusetzen.

»Aber Herr Bürgermeister …«

»Ich erinnere Sie an § 81 des Gesetzes vom 13. Dezember 1799 über willkürliche Inhaftirungen.«

»Gestatten Sie, Herr Bürgermeister …«

»Kein Wort mehr!«

»Indessen …«

»Hinaus!«

Javert empfing den Schlag aufrecht, von vorn und mitten in die Brust, wie ein russischer Soldat. Er verneigte sich tief und ging.

Fantine trat bei Seite um ihn vorbeizulassen, und sah ihn mit grenzenlosem Erstaunen an.

Auch sie war außer aller Fassung. Zwei einander feindliche Gewalten hatten sich um sie gestritten. Zwei Männer, die ihre Freiheit, ihr Leben, ihr Kind in ihrer Hand hielten, hatten gegeneinander gekämpft, der Eine, um sie in die Finsternis des Verderbens zu stürzen, der Andre, um sie dem Lichte zuzuführen. Während dieses Kampfes, den die Furcht ihr noch gewaltiger erscheinen ließ, hatten die beiden Männer etwas Übermenschliches für sie angenommen; der Eine war ein Dämon gewesen, der Andre erschien ihr ein Engel des Guten zu sein. Der Engel hatte den Dämon überwunden, und sie erbebte vom Kopf bis zu den Füßen bei dem Gedanken, daß sie gerade ihn, ihren Befreier haßte, den Bürgermeister, den sie seit langer Zeit als den Urheber ihres Unglücks betrachtet hatte, den Madeleine! Der hatte sie, gerade als sie ihn so abscheulich insultirte, gerettet. War sie denn in einem Irrthum befangen? Sollte sie mit ihrer ganzen Denkweise eine Aenderung vornehmen? Sie begriff das Alles nicht und zitterte. In sinnloser Geistesverwirrung stand sie da und bei jedem Wort, das Madeleine sprach, fühlte sie, wie die gräßliche Finsterniß des Hasses sich auflöste, und in ihr Herz wieder Freude, Hoffnung und Liebe einzogen.

Nachdem Javert hinausgegangen war, wendete sich Madeleine nach ihr hin und sprach mit langsamer Stimme, wie Einer, der seine Thränen unterdrückt:

»Ich habe Alles gehört. Ich wußte nichts von alle dem, was Sie erzählt haben. Ich glaube, ich fühle, daß es wahr ist. Mir war sogar unbekannt, daß Sie aus meiner Fabrik entlassen waren. Warum haben Sie Sich nicht an mich gewendet? Aber lassen wir das. Ich werde Ihre Schulden bezahlen und Ihre Kleine kommen lassen, oder Sie können zu ihr gehen. Bleiben Sie hier, oder gehen Sie nach Paris oder wo Sie sonst hin wollen. Die Sorge für Ihren und Ihres Kindes Unterhalt übernehme ich. Sie brauchen nicht mehr zu arbeiten, wenn Sie nicht wollen. Alles Geld, das Sie brauchen, bekommen Sie in Zukunft von mir. Sie werden wieder brav und gut werden, wenn sich Ihnen das Glück wieder zuwendet. Und um es gleich jetzt zu sagen, — wenn Alles sich so verhält, wie Sie behaupten, und ich zweifle nicht im Geringsten daran, — Sie haben nie aufgehört tugendhaft und Gott angenehm zu sein. Sie arme Frau!«

Das war mehr, als die arme Fantine fassen konnte. Cosette wieder zu bekommen! Ihren scheußlichen Lebenswandel aufgeben zu können! Frei, reich, glücklich, geachtet mit ihrer Tochter zu leben! Und alle diese Herrlichkeiten sich so unvermittelt aus dem tiefsten Elend entfalten zu sehen! Sie sah ihren Retter mit wirren, umflorten Blicken an und schluchzte nur: Oh! Oh! Dann versagten ihr die Kniee den Dienst, sie fiel Madeleine zu Füßen, und ehe er es verhindern konnte, ergriff sie seine Hand und drückte ihre Lippen darauf.

Javert

Anfang der Ruhe

Madeleine ließ Fantine nach dem Hospital schaffen, das er in seinem eignen Hause eingerichtet hatte. Er vertraute sie der Obhut der Schwestern an, die sie zu Bett brachten. Es stellte sich ein hitziges Fieber ein, und sie redete einen Theil der Nacht irre, schlummerte aber schließlich ein.

Am nächsten Morgen erwachte sie, hörte Jemand dicht bei ihrem Bett atmen, hielt den Vorhang bei Seite und sah Madeleine da stehen. Er betrachtete mit einem Blick voller Demuth, Mitleid und Angst ein an der Wand befestigtes Krucifix.

Madeleine war für Fantine jetzt ein höheres Wesen, eine verklärte Lichtgestalt. Er schien zu beten, und sie wagte lange Zeit nicht ihn zu stören. Endlich aber fragte sie furchtsam:

»Was machen Sie denn da?«

Madeleine stand eine Stunde so da. Er wartete, ob Fantine erwachen würde. Er ergriff ihre Hand, befühlte ihren Puls und sagte:

»Wie befinden Sie Sich?«

»Gut. Ich habe geschlafen. Es geht besser, glaube ich. Es wird nichts von Bedeutung sein.«

Nun erst beantwortete er Fantinens Frage:

»Ich betete zu dem Märtyrer da oben.«

»Für die Märtyrerin, die hier liegt,« fügte er in seinem Innern hinzu.

Madeleine hatte in der Nacht und am Morgen Erkundigungen über Fantine eingezogen und wußte jetzt Alles, kannte alle ihre traurigen Erlebnisse.

»Sie haben viel Schweres durchgemacht, Sie Arme. Aber beklagen Sie Sich nicht, denn Sie haben damit die Anwartschaft auf die Freuden des Paradieses erworben, und daß Ihnen die Menschen auf andre Weise dazu verhelfen würden, war nicht zu erwarten: Sie verstehen es nun einmal nicht besser. Die Hölle, aus der Sie jetzt herausgekommen sind, war die Vorhalle zum Himmel. Da mußten Sie zuerst hindurch.«

Er seufzte tief auf. Sie aber lächelte ihn selig an, und dies Lächeln war nicht mehr häßlich anzusehen, trotz der Zähne, die ihr fehlten.

Noch in derselben Nacht schrieb Javert einen Brief, den er in der Frühe in dem Postbüreau Montreuil-sur-Mer aufgab. Die Adresse lautete: An Herrn Chabouillet, Sekretär des Herrn Polizeipräfekten, in Paris. Da der Vorfall, der sich in dem Polizeibüreau abgespielt hatte ruchbar geworden war, so glaubte die Direktrice des Postbüreaus und einige andre Neugierige, die den Brief vor seiner Befördrung nach Paris sahen, daß Javert seine Entlassung eingereicht habe.

Madeleine beeilte sich an die Thénardiers zu schreiben. Er schickte ihnen statt der hundert und zwanzig Franken, die Fantine schuldig war, dreihundert, mit der Weisung, er solle sich bezahlt machen und das Kind nach Montreuil-sur-Mer bringen, wo die kranke Mutter ihrer warte.

Freund Thénardier stutzte. »Alle Wetter!« sagte er zu seiner Frau. »Das Balg halten wir fest. Aus der Lerche wird jetzt eine Milchkuh. Ich kann mir schon denken, was dahinter steckt. Irgend ein Schafskopf hat sich in die Mutter verliebt.«

Er parirte den Hieb mit einer gut zusammengestellten Rechnung über fünfhundert Franken. Auf derselben figurirten u. a. hauptsächlich zwei unanfechtbare Posten, nämlich die Quittung eines Arztes und die eines Apothekers, laut deren Thénardier ihnen dreihundert Franken ausgezahlt hatte — für Pflege und Arzneien, die Eponine und Azelma während langer Krankheit bekommen. Denn Cosette, wie schon erwähnt, war nicht krank gewesen. Es handelte sich blos um eine kleine Namensfälschung, Thénardier schrieb unter die Rechnung: Auf Abschlag erhalten … dreihundert Franken.

Madeleine schickte umgehend noch dreihundert Franken und schrieb: »Bringen Sie schleunigst Cosette.«

»Alle Hagel!« rief Thénardier. »Das Kind geben wir nicht raus.«

Mittlerweile machte Fantinens Wiederherstellung keine weiteren Fortschritte. Sie befand sich noch immer in dem Hospital.

Die barmherzigen Schwestern hatten Anfangs »die Dirne« nicht gut aufgenommen. Wer die Reliefs in der Kathedrale zu Reims je gesehen, wird bemerkt haben, daß bei den klugen Jungfrauen zum Unterschiede von den thörichten, die Unterlippe verächtlich emporgeschoben ist. Diese Geringschätzung, die Vestalinnen gegenüber Hetären zur Schau tragen, ist einer der am tiefsten eingewurzelten Instinkte weiblicher Würde, und auch die barmherzigen Schwestern hatten sie empfunden, und zwar um so stärker, als die Religion sie hierin bestärkte. Aber in wenigen Tagen wurden sie durch Fantinens demüthige und sanfte Art entwaffnet. Besonders rührend aber schien ihre Liebe zu ihrem Kinde. Eines Tages hörte man sie halb im Fieberdelirium sagen: »Ich bin eine Sünderin gewesen, aber wenn mein Kind wieder bei mir sein wird, dann ist das ein Zeichen, daß Gott mir vergeben hat. So lange ich ein schlechtes Leben führte, hätte ich meine Cosette nicht um mich haben mögen; ich würde es nicht ertragen haben, wenn sie mich mit erstaunten und betrübten Augen angesehen hätte. Und doch war es ihretwegen, daß ich mich versündigt habe, und deshalb verzeiht mir Gott. Wie mir das wohl thun wird, wenn ich erst in die unschuldigen Augen blicken werde. Sie weiß von nichts, der kleine Engel. In dem Alter, meine Schwestern, sind die Engelsflügel noch nicht abgefallen.«

Madeleine besuchte sie zweimal jeden Tag, und jedes Mal fragte sie:

»Werde ich bald meine Cosette sehen?«

»Vielleicht morgen früh,« pflegte er zu antworten. »Ich erwarte sie jeden Augenblick.«

Dann strahlte das blasse Gesicht der Mutter vor Freude.

»O, wie glücklich mich das machen wird!«

Wir haben schon berichtet, daß ihre Genesung keine Fortschritte machte. Im Gegentheil, ihr Befinden schien sich von Woche zu Woche zu verschlimmern. Die plötzliche Erkältung der Haut durch den Schnee hatte eine Unterdrückung der Transpiration bedingt, in Folge deren ihre alte Krankheit mit besondrer Heftigkeit herausgetreten war. Man folgte damals bei dem Studium und der Behandlung Brustkranker den schönen Indikationen Laënnec’s. Der Arzt auskultirte danach auch Fantine und — schüttelte den Kopf.

»Wie steht’s?« fragte ihn Madeleine.

»Sie hat ja wohl ein Kind, das sie zu sehen wünscht?«

»Ja.«

»Dann lassen Sie es bald kommen.«

Madeleine fuhr zusammen.

»Was hat der Arzt gesagt?« forschte Fantine.

Madeleine zwang sich zu lächeln.

»Er sagt, wir sollen das Kind baldigst holen. Das würde Ihnen die Gesundheit bald wieder geben.«

»Da hat er Recht. Was haben aber die Thénardiers blos, daß sie Cosette da behalten? Sie wird aber doch schließlich kommen, und dann wird das Glück in meiner Nähe sein.«

Freund Thénardier gab aber das Kind nicht heraus und wußte immer neue Ausflüchte. Cosette sei etwas leidend und könne bei der kalten Witterung nicht reisen. Dann wären auch noch einige Läpperschulden zu bezahlen, über die er noch die Bescheinigungen auftreiben müsse. U.s.w.

»Ich werde Jemand hinschicken,« sagte endlich Vater Madeleine. »Im Nothfall mache ich mich selber auf den Weg.«

Vorläufig aber setzte er noch einen Brief im Namen Fantinens auf und ließ ihn von ihr unterzeichnen:

»Herr Thénardier!

Uebergeben Sie Cosette dem Ueberbringer dieses Briefes.

Alle Ihre Ausgaben sollen Ihnen wiedererstattet werden.

Mit Hochachtung.

Fantine.«

Unterdessen aber ereignete sich ein bedeutungsvoller Zwischenfall. Mögen wir noch so geschickt an dem Marmorblock unseres Geschickes herummeißeln, die schwarze Ader des Unglücks tritt immer wieder vor.

Wie aus Jean Champ wird

Eines Morgens war Madeleine mit der Erledigung einiger dringlichen Angelegenheiten beschäftigt für den Fall, daß er sich genöthigt sehen sollte, die Reise nach Montfermeil anzutreten, als plötzlich der Polizeiinspektor Javert sich anmelden ließ. Bei der Erwähnung dieses Namens vermochte sich Madeleine nicht einer unangenehmen Erregung zu erwehren. Seit der Scene im Polizeibureau war ihm Javert mehr als je aus dem Wege gegangen, und Madeleine hatte ihn auch seitdem nicht wieder gesehen.

»Bitten Sie ihn, näher zu treten.«

Javert kam herein.

Madeleine blieb vor dem Kamin sitzen, blätterte und schrieb weiter an den Anmerkungen, die er zu Protokollen über Kontraventionen gegen Straßenpolizeiverordnungen hinzuzusetzen hatte. Er ließ sich in dieser Arbeit von Javert nicht stören. Denn er erinnerte sich der armen Fantine und es beliebte ihm seinen Untergebenen kühl zu empfangen.

Javert verneigte sich ehrerbietigst, aber der Herr Bürgermeister drehte sich nicht einmal um, ihn anzusehen.

Nun trat Javert vor, ohne das Stillschweigen zu brechen.

Ein Physiognomiker, der Javerts Charakter gekannt hätte, der längere Zeit diesem im Dienste der Civilisation stehenden Wilden, diese sonderbare Mischung von römischer, spartiatischer, mönchischer und soldatischer Strenge, diesen einer Lüge unfähigen Spion, diesen keuschen Spitzel studirt hätte, ein Physiognomiker, dem Javert’s geheime und hartnäckige Abneigung gegen Madeleine, sein Konflikt mit dem Bürgermeister wegen Fantine bekannt gewesen wäre, und der ihn in diesem Augenblick betrachtet hätte, würde sich gefragt haben: »Was ist mit dem Mann vorgegangen?« Wer seine Gradheit, seine Aufrichtigkeit, Rechtschaffenheit, Starrheit und Härte kannte, mußte sehen, daß Javert in seinem Innern einen heftigen Sturm überstanden hatte. Denn was in seiner Seele vorging, das spiegelte sich auch stets auf seinem Gesicht ab. Er war wie alle gewaltthätigen Menschen, unvermittelten Gemüthsumstimmungen ausgesetzt. Heute nun schien sein Gesichtsausdruck ganz absonderlich und eigenartig. Bei seinem Eintritt und während er sich verneigte, stand in seinen Augen weder Groll, noch Zorn, noch Mißtrauen zu lesen. Dann war er einige Schritte hinter dem Lehnstuhl des Bürgermeisters stehen geblieben und jetzt war seine Haltung eine fast diziplinarische, ruhige und kalte, die eines Menschen, der nie sanftmüthig und immer geduldig gewesen ist; er wartete, ohne ein Wort zu sprechen, mit echter Demuth und stiller Ergebenheit, daß es dem Herrn Bürgermeister belieben möge, sich umzuwenden, den Hut in der Hand, die Augen zur Erde gesenkt, halb wie ein Soldat vor seinem Offizier, halb wie ein Angeklagter vor seinem Richter. Alle Gefühle, wie alle Erinnerungen, die man ihm hätte zuschreiben können, waren nicht mehr vorhanden. Auf seinem marmorharten und simplen Gesicht lagerte nur eine düstere Traurigkeit. Alles an ihm athmete Erniedrigung und Festigkeit, so wie eine mit Muth gepaarte Niedergeschlagenheit.

Endlich legte der Bürgermeister die Feder nieder und wandte sich halb nach ihm um:

»Nun, was wünschen Sie, Javert? Was giebts?«

Javert schwieg eine Weile, als sammle er seine Gedanken, und sprach dann traurig und feierlich, aber doch auch in schlichter Weise:

»Ein schweres Vergehen, Herr Bürgermeister.«

»Was für eins?«

»Ein niederer Beamter hat es an dem Respekt fehlen lassen, den er einer hohen, obrigkeitlichen Person schuldete. Ich bin gekommen, Herr Bürgermeister, diese Thatsache, wie es meine Pflicht ist, zu ihrer Kenntniß zu bringen.«

»Wer ist der Beamte?« fragte Madelaine.

»Ich.«

»Und welche obrigkeitliche Person hätte sich über Sie zu beklagen?«

»Sie, Herr Bürgermeister.«

Madeleine richtete sich jetzt in seinem Lehnstuhl hoch auf, während Javert mit strengem Ernst und mit gesenkten Augen fortfuhr:

»Herr Bürgermeister, ich ersuche Sie, meine Absetzung zu veranlassen.«

Voller Staunen that Madeleine den Mund auf, aber Javert kam ihm zuvor:

»Der Herr Bürgermeister werden einwenden, daß ich meine Entlassung nachsuchen könnte, aber das genügt nicht, das wäre ein Abschied mit Ehren. Ich habe aber gefehlt und verdiene Strafe. Es gehört sich, daß ich mit Schimpf und Schande fortgejagt werde.«

Und nach einer Pause fuhr er fort:

»Herr Bürgermeister, Sie sind neulich mit Unrecht streng gegen mich gewesen; lassen Sie heute eine gerechte Strenge walten.«

»Wozu denn aber? Was reden Sie da Alles zusammen? Worin besteht das Vergehen, dessen Sie Sich mir gegenüber schuldig gemacht hätten? Was haben Sie verbrochen? Sie klagen Sich an und wollen Ihren Posten aufgeben …«

»Abgesetzt werden, Herr Bürgermeister.«

»Gut. Sehr schön. Aber ich werde nicht klug daraus.«

»Ich werde Ihnen die Sache erklären, Herr Bürgermeister.«

Javert seufzte tief auf und sprach trauervoll und kalt:

»Herr Bürgermeister, vor sechs Wochen habe ich mich jener Dirne wegen über Sie geärgert und habe Sie denunzirt.«

»Denunzirt?«

»Bei der Pariser Polizeipräfektur denunzirt.«

Madeleine pflegte nicht öfter zu lachen als Javert, aber dies Mal lachte er.

»Weil ich als Bürgermeister mir einen Eingriff in die Rechte der Polizei gestattet hätte?«

»Als ehemaligen Galeerensklaven.«

Der Bürgermeister wurde kreideweiß.

Javert, der die Augen nicht erhoben hatte, fuhr fort.

»Ich hatte es mir eingebildet. Die Sache ging mir schon lange Zeit im Kopf herum. Eine äußerliche Aehnlichkeit, der Umstand, daß Sie in Faverolles Erkundigungen haben anstellen lassen. Ihre große Körperkraft, Ihre Treffsicherheit im Schießen, Ihre Gewohnheit, das eine Bein etwas nachschleppen zu lassen, und wer weiß was noch! Lauter Unsinn! Aber ich hielt Sie nun einmal für einen gewissen Jean Valjean.«

»Für einen gewissen … Wie nannten Sie ihn?«

»Jean Valjean. Ein Galeerensklave, den ich vor zwanzig Jahren in Toulon gesehen habe. Ich war damals Aufsehergehülfe. Nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus hat dieser Jean Valjean, heißt es, einen Diebstahl im Hause eines Bischofs begangen, und nachher noch auf einer öffentlichen Landstraße mit bewaffneter Hand einen Savoyardenjungen beraubt. Er war seit acht Jahren verschwunden und wurde vergeblich gesucht. Ich hatte mir eingeredet … Kurz, ich habe mich endlich von der Wuth hinreißen lassen, Sie zu denunzieren.«

Madeleine, der seit einer Weile den Aktenstoß wieder vorgenommen hatte, fragte mit vollständig gleichgültigem Tone:

»Was hat man Ihnen geantwortet?«

»Ich wäre verrückt.«

»Nun, und …«

»Die Herren hatten Recht.«

»Ein Glück, daß Sie das zugeben.«

»Ich muß es wohl, denn der richtige Jean Valjean ist wieder aufgefunden.«

Das Blatt, das Madeleine gerade in der Hand hielt, entfiel ihm, er hob den Kopf, sah Javert fest an und sagte mit einer räthselhaften Betonung: »Ei was?«

»Die Sache verhält sich folgendermaßen, Herr Bürgermeister. In der Gegend von Ailly-le-Haut-Clocher lebte ein Kerl, den sie Champmathieu nannten. Ein bitterlich armer Wicht, den man nicht beachtete. Dergleichen Leute leben, man weiß nicht, wie. Kürzlich, im vergangenen Herbst, ist dieser Vater Champmathieu arretirt worden. Er hatte Aepfel gestohlen bei … Ich weiß nicht mehr wem. Es kommt auch nicht darauf an. Kurz und gut: Diebstahl, Ersteigung einer Mauer, und Beschädigung eines Baumes. Mein Champmathieu wird arretirt, und man findet ihn noch im Besitz eines Astes von dem Apfelbaum. Der Kerl wird hinter Schloß und Riegel gebracht. Bis dahin war dies nur eine Sache, die das Polizeigericht anging. Aber nun ereignet sich ein merkwürdiger Zufall. Das Gefängniß war baufällig, und der Untersuchungsrichter läßt Champmathieu nach Arras bringen. In dem Gefängniß zu Arras sitzt aber ein ehemaliger Galeerensklave Namens Brevet, der wegen seiner guter Aufführung zum Zimmeraufseher ernannt worden ist, und dieser Brevet wird den Champmathieu kaum ansichtig, so schreit er: ›Herrjeh, den kenne ich! Sieh mich mal an, guter Freund! Du bist Jean Valjean.‹ — ›Jean Valjean? Was für ein Jean Valjean?‹ fragt Champmathieu und thut ganz erstaunt. ›Spiele doch nicht den wittschen Kaffer‹, sagt Brevet. ›Du bist Jean Valjean. Du hast im Schurf’ zu Toulon gesessen. Vor zwanzig Jahren. Mit mir zusammen.‹ Freund Champmathieu leugnet. Selbstverständlich! Die Herren aber gehen der Sache auf den Grund und finden Folgendes: Champmathieu war vor dreißig Jahren Baumputzer gewesen und hatte sich an verschiedenen Orten aufgehalten, besonders in Faverolles. Da aber verlor sich seine Spur, und man findet ihn erst lange Zeit nachher in der Auvergne wieder, dann in Paris, wo er — so behauptet er — Stellmacher war und eine Tochter hatte, die Waschfrau war; aber dies ist nicht bewiesen. Endlich in hiesiger Gegend. Was war nun aber Jean Valjean, ehe er ins Zuchthaus kam? Baumputzer. Wo? In Faverolles. Noch eins. Besagter Jean Valjean hieß mit seinem Taufnamen Jean, und seine Mutter führte ihren Familiennamen Mathieu. Was ist also natürlicher, als die Annahme, daß er sich nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus nach seiner Mutter — Jean Mathieu — genannt hat, um seine Spur zu verwischen. Er geht nach der Auvergne. Dort zu Lande wird Jean wie Chan ausgesprochen, und die Leute nennen ihn Chan Mathieu. Unser guter Freund läßt sich die Sache gefallen und wird nun Champmathieu. Sie folgen meiner Rede, Herr Bürgermeister, nicht wahr? Es werden Erhebungen in Faverolles angestellt. Jean Valjeans Familie ist dort nicht mehr zu ermitteln und kein Mensch weiß, wo sie geblieben ist. Bei den niederen Leuten kommt es ja oft vor, daß ganze Familien verschwinden. Sind solche Leute nicht wie der Koth, so sind sie wie Staub. Der wird weggeweht, man weiß nicht wohin. Und da der Anfang dieser Geschichte dreißig Jahre zurückgeht, so ist auch in Faverolles kein Mensch mehr zu finden, der Jean Valjean gekannt hätte. Nun werden Nachforschungen in Toulon angestellt. Abgesehen von Brevet sind nur noch zwei Sträflinge da, die Jean Valjean gesehen haben, Cochepaille und Chenildieu, zu lebenslänglichem Zuchthaus Verurtheilte. Die läßt man also von Toulon kommen und stellt sie dem angeblichen Champmathieu gegenüber. Sie sind keinen Augenblick im Zweifel. Für sie wie für Brevet ist der Mann Jean Valjean. Dasselbe Alter — vierundfünfzig Jahre -dieselbe Größe, dieselben Züge, kurz derselbe Mann. Gerade zu jener Zeit sandte ich meine Denunziation bei der pariser Präfektur ein. Ich bekomme zur Antwort, ich wäre nicht gescheidt, Jean Valjean wäre in Arras und in den Händen der Gerechtigkeit. Sie begreifen, daß ich verwundert war. Glaubte ich doch, Jean Valjean hier zu haben. Ich schreibe an den Herrn Untersuchungsrichter. Er läßt mich kommen, der Champmathieu wird vorgeführt …«

»Und?« fiel ihm Madeleine ins Wort.

Javert fuhr mit derselben festen und schwermütigen Miene fort:

»Herr Bürgermeister, die Wahrheit ist die Wahrheit. Ich habe ihn ebenfalls erkannt.«

»Sind Sie dessen sicher?« fragte Madeleine sehr leise.

Javert lachte wie Einer, der zu seinem Leidwesen von einer unumstößlichen Thatsache nur zu fest überzeugt ist, und antwortete:

»O vollkommen sicher!«

Er versank in tiefes Nachdenken und spielte dabei mechanisch mit dem Sägemehl in dem Streufaß, das auf dem Tische stand; dann fuhr er fort:

»Und jetzt, wo ich den wahren Jean Vahean gesehen habe, begreife ich nicht, wie ich jemals mich so gröblich irren konnte. Ich bitte Sie deswegen um Verzeihung, Herr Bürgermeister.«

So demüthig sich diese Bitte von dem sonst so hochmütigen Manne anhörte, so einfach und würdevoll war dabei doch seine Haltung. Madeleine antwortete aber nur mit der hastigen Frage:

»Und was sagt der Mann?«

»Ja, der Fall liegt sehr schlimm. Ist er Jean Valjean, ist ein Rückfall vorhanden. Wenn ein kleiner Junge über eine Gartenmauer klettert, Aeste zerbricht, Aepfel stibitzt, so ist das ein dummer Streich; thut’s ein Erwachsener, so nennt man’s ein Vergehen; ist der Erwachsene ein ehemaliger Zuchthäusler, ein Verbrechen, ein ›Diebstahl mit Einbruch.‹ Der Fall gehört dann nicht mehr vor das Zuchtpolizei-, sondern vor das Schwurgericht. Mit ein paar Tagen Gefängniß kommt solch ein Kerl nicht davon, er wandert auf Lebenszeit ins Zuchthaus. Und außerdem wird die Beraubung des kleinen Savoyarden doch hoffentlich auch zur Verhandlung kommen. Da wäre es nicht zu verwundern, wenn der Kerl sich gehörig wehren und ein großes Halloh machen würde, nicht wahr? Aber so dumm ist Freund Jean Valjean nicht. Der leugnet nicht, der streitet nichts ab. Er thut, als begreift er gar nicht, worum es sich handelt, und sagt: ›Ich bin Champmathieu, weiter kann ich nichts sagen.‹ Er setzt eine erstaunte Miene auf und stellt sich dumm, wie ein Stück Vieh. Das ist viel gescheidter. Aber das macht nichts, man hat Beweise in Händen. Er ist von vier Zeugen wiedererkannt worden, der alte Schuft, und ist seiner Verurtheilung sicher. Die Sache wird vor dem Schwurgericht zu Arras verhandelt werden, und ich bin als Zeuge vorgeladen.«

Madeleine hatte sich mittlerweile wieder nach seinem Schreibtisch umgedreht, seinen Aktenstoß vorgenommen, blätterte darin, las und schrieb mit großer Emsigkeit. Jetzt wandte er sich wieder nach Javert um und sagte:

»Genug, Javert. Im Grunde genommen interessirt mich die ganze Geschichte herzlich wenig. Wir verlieren unsre Zeit und haben dringliche Sachen zu besorgen. Begeben Sie Sich jetzt auf der Stelle zu Frau Buseaupied, der Gemüsehändlerin an der Ecke der Rue Saint-Saulve. Sagen Sie ihr, sie möchte ihre Klage gegen den Pierre Chesnelong einreichen. Der rohe Mensch hat neulich die arme Frau samt ihrem Kinde übergefahren, und verdient Strafe. Dann gehen Sie zu Herrn Charcellay in der Rue Montre-de-Champigny. Der beschwert sich, daß eine Gosse des Nachbarhauses das Regenwasser auf sein Grundstück leitet und sein Haus unterwäscht. Nachher konstatiren Sie Kontraventionen, auf die ich aufmerksam gemacht worden bin, bei der Wittwe Doris in der Rue Guibourg und bei Frau René le Bossé in der Rue du Garraud-Blanc, und nehmen Sie Protokoll auf. Aber da gebe ich Ihnen viel Arbeit auf, und Sie sagten mir ja wohl vorhin, Sie müßten in acht oder zehn Tagen verreisen? … Nach Arras …«

»Früher, Herr Bürgermeister.«

»Wann denn?«

»Ich glaubte dem Herrn Bürgermeister gesagt zu haben, die Sache käme morgen zur Verhandlung, und daß ich heute Abend mit der Post abreisen würde.«

Madeleine machte eine kaum bemerkbare Bewegung.

»Wieviel Zeit wird die Verhandlung in Anspruch nehmen?«

»Höchstens einen Tag. Das Urtheil wird spätestens in der Nacht ausgesprochen werden. Aber ich werde es nicht abwarten, — schon weil ich vorher weiß, wie es ausfallen wird, und gleich nach meiner Vernehmung zurückkommen.«

»Sehr wohl!« bemerkte Madeleine und bedeutete Javert mit einer Handbewegung, daß er entlassen sei.

Aber Javert ging nicht.

»Verzeihung, Herr Bürgermeister, …«

»Was giebt’s denn noch?« fragte Madeleine.

»Herr Bürgermeister, ich muß Sie noch an etwas erinnern.«

»Woran denn?«

»Daß ich abgesetzt werden muß.«

Madeleine erhob sich von seinem Sitze.

»Javert, Sie sind ein Ehrenmann, den ich hoch achte. Sie übertreiben Ihr Vergehen. Uebrigens ist das auch wieder eine Beleidigung, die mich allein angeht. Sie verdienen Befördrung, nicht Absetzung. Ich will, daß Sie auf Ihrem Posten bleiben.«

Javert richtete auf Madelaine seine ehrbaren Augen, auf deren Grunde sein wenig erleuchtetes, aber strenges und reines Gewissen unverhüllt zu erkennen war, und sagte mit ruhiger Stimme:

»Das, Herr Bürgermeister, kann ich Ihnen nicht zugestehn«.

»Ich wiederhole Ihnen, daß die Sache mich angeht.«

Aber Javert, der unentwegt nur seinen eigenen Gedankengang verfolgte, fuhr fort:

»Was das Uebertreiben anbelangt, so ist das völlig ausgeschlossen. Nach meinein Verstande verhält sich die Sache folgendermaßen. Ich habe Sie in falschem Verdacht gehabt. Das will freilich nichts besagen. Der Verdacht ist eine unsrer Berufspflichten, obschon es gewiß über das erlaubte Maß hinausgeht, wenn Einer einen Verdacht auf seinen Vorgesetzten wirft. Aber ich habe Sie ohne Beweise, in einem Anfall von Wuth, um mich zu rächen, als einen Zuchthäusler denunziert, Sie einen hochgestellten Mann, einen Bürgermeister, eine hohe Gerichtsperson! Das ist das Schlimme. Das ist sehr schlimm. Ich, ein Diener der Obrigkeit, habe die Obrigkeit in Ihrer Person beleidigt. Hätte Einer von meinen Untergebenen etwas Derartiges sich zu Schulden kommen lassen, so hätte ich den Menschen für unwert erklärt, Beamter zu bleiben und hätte ihn mit Schimpf und Schande fortgejagt. Also -! — Noch Eins, Herr Bürgermeister. Ich bin oft in meinem Leben strenge gewesen. Gegen Andere. So verlangte es die Gerechtigkeit und ich that wohl daran. Wäre ich nun jetzt nicht strenge gegen mich, so würde alles, was ich Gerechtes gethan habe, ungerecht sein. Darf ich mich mehr schonen als Andre? Nein. Wie? Ich hätte nur dazu getaugt, Andre zu bestrafen und nicht auch mich! Dann wäre ich ja ein Nichtswürdiger, und Diejenigen, die mich einen Halunken nennen, hätten Recht. Herr Bürgermeister, ich wünsche nicht, daß Sie mich mit Güte behandeln. Ihre Güte gegen Andre hat mir das Blut schon genug in Wallung gebracht; gegen mich also wäre sie vollends nicht angebracht. Die Güte, die darin besteht, daß man einer öffentlichen Dirne Recht giebt gegen einen wohlsituirten Bürger, einem Polizeibeamten gegen den Bürgermeister, Dem, der unten steht, gegen den Hochgestellten, eine solche Güte nenne ich eine schlechte Güte. So etwas untergräbt die Ordnung. Du lieber Himmel! Gut sein ist leicht, aber gerecht sein ist schwer. Seien Sie versichert, wären Sie Der gewesen, für den ich Sie hielt, ich würde nicht gut gegen Sie gewesen sein! Ich hätte es Ihnen besorgt! Also, Herr Bürgermeister, ich muß gegen mich so sein, wie ich gegen jeden Andern sein würde. Wenn ich mit Gesindel und Verbrechern kurzen Prozeß machte und sie empfindlich abstrafte, habe ich oft zu mir selber gesagt: ›Du, wenn Du mal über die Stränge schlägst, wenn ich Dich je auf einem Vergehen ertappe, dann bist Du Deiner Sache sicher!‹ Jetzt habe ich über die Stränge geschlagen, jetzt habe ich mich vergangen, — folglich gehört es sich auch, daß ich kassirt, daß ich weggejagt werde. Ich habe gesunde Arme und kann arbeiten. Herr Bürgermeister, das Interesse des Dienstes erheischt, daß ein Beispiel statuirt wird. Ich beantrage also die Absetzung des Polizeiinspektors Javert«

Der halb demüthige, halb stolze Ton, die Verzweiflung und Sicherheit, womit er alles dieses sagte, drückte dem wunderlichen Heiligen ein Gepräge echter Seelengröße auf.

»Wir wollen sehen,« sagte Madeleine und reichte ihm die Hand.

Javert fuhr zurück und entgegnete herb abweisend:

»Verzeihung, Herr Bürgermeister, das geht nicht an. Ein Bürgermeister darf keinem Spitzel die Hand geben.«

»Ja wohl — Spitzel,« murmelte er zwischen den Zähnen vor sich hin. »Ein schlechter Polizeibeamter verdient, daß man ihn einen Spitzel schimpft.«

Darauf verneigte er sich tief und ging auf die Thür zu. Hier aber wandte er sich noch einmal um und sagte, wieder mit gesenkten Augen:

»Herr Bürgermeister, ich werde so lange meinen Dienst thun, bis mein Posten durch einen Andern besetzt ist.«

Er ging hinaus, und Madeleine horchte nachdenklich auf das Geräusch seines festen und sichern Trittes, das allmählich auf dem Flur verhallte.

Der Fall Champmathieu

Schwester Simplicia

Die Ereignisse, die wir jetzt berichten werden, sind nicht sämtlich in Montreuil-sur-Mer bekannt geworden; aber das Wenige, das an die Oeffentlichkeit gedrungen ist, hat einen so tiefen, nachhaltigen Eindruck gemacht, daß unsre Erzählung eine bedenkliche Lücke aufweisen würde, wollten wir nicht Alles recht ausführlich berichten.

Vielleicht wird der Leser Manches darunter für unwahrscheinlich halten; die Achtung für die Wahrheit zwingt uns aber, auch derartige Einzelheiten als Thatsachen zu vertreten.

Am Nachmittag des Tages, wo Javert bei ihm gewesen, ging Madeleine seiner Gewohnheit gemäß zu Fantine in den Krankensaal.

Ehe er indessen denselben betrat, fragte er nach Schwester Simplicia.

Die beiden Nonnen, die den Dienst in Madeleines Hospital übernommen hatten, und wie alle barmherzigen Schwestern der Kongregation des heiligen Lazarus angehörten, hießen Schwester Perpetua und Schwester Simplicia.

Perpetica war eine einfache unverfeinerte Bäuerin, die bei dem Herrgott mit demselben Sinne in Dienst gegangen, wie man sonst bei irdischen Herrschaften in Kondition tritt. Nonne und Köchin war für sie der Hauptsache nach dasselbe. Dieser Menschenschlag ist bei den geistlichen Orden in zahlreichen Exemplaren vertreten; läßt sich doch aus dieser groben Masse leicht genug ein Kapuziner, beziehungsweise eine Ursulinerin, bilden. Solch ein derbes Menschenmaterial eignet sich vorzüglich für die niederen Arbeiten. Der Uebergang vom Ochsenhirten zum Karmeliter ist kein gewaltsamer, mühevoller. Die auf dem Dorfe und im Kloster herrschende Unwissenheit ist eine bequeme Vorbereitung und stellt den Dörfler von vornherein auf dieselbe Stufe wie den Mönch. Man braucht bloß den Bauernkittel etwas länger zu machen, so wird eine Mönchskutte daraus. So war auch Schwester Perpetua aus Marines bei Pontoise eine derbe, rothbackige zungenfixe Nonne, die nach wie vor ihren Bauerndialekt redete, und die aller Zartheit und Leisetreterei entschieden abhold, die Kranken anranzte, und wenn sie irgendwie geärgert worden war, ihre brummige Laune auch Sterbenden gegenüber nicht zum Schweigen brachte.

Schwester Simplicia war weiß wie ein Wachsbild, im Vergleich mit Perpetua eine Kerze neben einem Talglicht. Sie erinnerte an die feierliche Beschreibung, die St. Vincenz von Paula von der vollkommnen barmherzigen Schwester entwirft, eine Schildrung, die sowohl der mühseligen Sklaverei als auch der Freiheit ihres Lebens beredten Ausdruck leiht: »Ihr Kloster soll nur das Haus der Kranken sein, ihre Zelle nur ein gemiethetes Zimmer, ihre Kapelle nur die Kirche ihres Sprengels, ihre Klausur nur die Straßen der Stadt oder die Säle der Krankenhäuser, ihr Sprechgitter nur die Furcht Gottes, ihr Schleier nur die Sittsamkeit.« Dieses Ideal war in Schwester Simplicia zur Wirklichkeit geworden. Wie alt sie war, wußte Niemand zu sagen; sie war nie jung gewesen, und es sah nicht aus, als ob sie je alt sein werde. Sie war ein sanftes Wesen, Weib wagen wir nicht zu nennen — von strengster Sittenreinheit, von feiner Bildung, und größter Wahrhaftigkeit. Trotz ihrer Sanftmuth konnte sie fest sein, wie der Granit. Ihre Rede kam dem Stillschweigen sehr nahe, denn sie sprach nur das Allernothwendigste, und ihre Worte klangen so weich und lieblich, daß sie nicht nur im Beichtstuhl, sondern auch in einem Salon das Wohlgefallen ihrer Zuhörer hätte erregen können. Fein gewöhnt, wie sie war, gefiel ihr die grobe Wolle, in die sie gekleidet war, weil dieser rauhe Stoff sie beständig an den Himmel und an Gott erinnerte. Ein Zug verdient noch besonders hervorgehoben zu werden. Sie hatte nie gelogen, niemals aus irgend einem Grunde, niemals auch nur leichthin irgend etwas gesagt, das nicht die Wahrheit, die lauterste Wahrheit, gewesen wäre: Hierin bestand Schwester Simplicias wesentlichstes Merkmal, das Hauptkennzeichen ihrer Tugend. Wegen dieser unerschütterlichen Wahrheitsliebe war sie sogar berühmt in ihrer Kongregation, und der Abt Sicard erwähnt sie auch aus diesem Grunde in einem Brief an den Taubstummen Massieu. So aufrichtig und lauter auch unsre Gesinnung sein mag, immer haftet ihr der Flecken der unschuldigen, kleinen Lüge an. Bei ihr nicht. Giebt es denn unbedeutende, unschuldige Lügen? Die Lüge ist etwas absolut Böses. Man kann nicht »ein Bischen« lügen; eine Lüge ist so verlogen, wie jede andre; die Lüge ist das Wesen des Dämons, und Satan hat zwei Namen, Satan und Lüge. So dachte sie. Und wie sie dachte, so handelte sie auch. In Folge dessen strahlte auch in ihren Zügen, ja auf ihren Lippen und in ihren Augen eine makellose Reinheit und Klarheit. Ihr Gewissen war von keinem Staub, keinem Schmutz befleckt. Uebrigens war auch der Name, den sie bei ihrem Eintritt in den Orden angenommen, ein mit Absicht gewählter. Denn bekanntlich ist die heilige Simplicia aus Sicilien jene Heilige, die sich lieber die Brüste ausreißen ließ, als daß sie sich zu der Lüge herabließ, sie sei in Segesta — statt in Syrakus — geboren, einer Lüge, die sie gerettet hätte. Schwester Simplicia hätte sich also keine für sie passendere Schutzheilige wählen können.

Schwester Simplicia hatte, seitdem sie Mitglied ihres Ordens war, zwei Fehler, die sie allmählich abgelegt hatte; sie naschte und empfing gern Briefe. Jetzt las sie nur ein lateinisches Gebet mit großen Lettern. Verstand sie nicht Latein, so verstand sie doch das Buch.

Das fromme Mädchen hatte Fantine lieb gewonnen, wahrscheinlich weil sie ihr verborgne Tugendhaftigkeit anmerkte, und hatte ihre Pflege speziell übernommen.

Diese Schwester Simplicia also nahm Madeleine jetzt bei Seite und empfahl ihr Fantine mit einem eigenthümlichen Nachdruck, an den sie sich später erinnerte.

Dann trat er an Fantinens Bett.

Diese wartete jeden Tag auf Madeleine’s Erscheinen, wie auf einen wärmenden Freudenstrahl. »Ich lebe nur, wenn der Herr Bürgermeister da ist,« pflegte sie zu den Schwestern zu sagen.

An diesem Morgen fieberte sie gerade sehr stark. Als sie Madeleine erblickte, fragte sie hastig: »Wo bleibt Cosette?«

Er antwortete lächelnd.

»Sie kommt bald.«

Madeleine benahm sich gegen Fantine dieses Mal so wie sonst. Nur daß er zu ihrer größten Freude eine volle Stunde blieb, statt einer halben, wie es sonst seine Gewohnheit war. Auch bat er dringend das ganze Personal, es der Patientin an Nichts fehlen zu lassen, sie recht gut zu pflegen und dergl. mehr. Es fiel ferner auf, daß sein Gesicht sich einmal verdüsterte. Aber dies erklärte sich daraus, daß der Arzt ihm leise ins Ohr geflüstert hatte: »Es geht rasch mit ihr zu Ende.«

Dann kehrte er nach dem Stadthaus zurück, und der Büreaudiener sah ihn, wie er eine Postkarte von Frankreich, die in seinem Arbeitskabinett an der Wand hing, aufmerksam studirte. Dann schrieb er mit Bleistift einige Ziffern auf einen Zettel.

Ein Schlaukopf

Aus dem Stadthaus begab er sich dann bis an das Ende der Stadt zu einem Flamänder, Meister Scaufflaire, der Pferde und Fuhrwerke vermiethete.

Der kürzeste Weg zu diesem Scaufflaire führte durch eine wenig begangne Straße, in der sich das Pfarrerhaus befand. Der Pfarrer galt für einen guten, sehr achtbaren und sehr klugen Mann, den seine Pfarrkinder gern um Rath fragten. In dem Augenblick nun, wo Madeleine an diesem Hause vorbeikam, war nur ein einziger Mensch in der Straße, und dieser war Zeuge folgenden Vorgangs: Der Bürgermeister blieb, nachdem er schon an dem Pfarrhaus vorbeigegangen war, nachdenklich stehen, kehrte um und hob den eisernen Thürklopfer empor. Da hielt er wieder inne, als besinne er sich, legte endlich den Klopfer sacht in seine gewöhnliche Lage zurück und eilte dann schneller, als er gekommen war, von dannen.

Scaufflaire besserte gerade ein Geschirr aus, als Madeleine seine Werkstatt betrat.

»Haben Sie ein gutes Pferd, Meister Scaufflaire?«

»Herr Bürgermeister, sagte der Flamänder, alle meine Pferde sind gut. Was verstehen Sie unter einem guten Pferde?«

»Ein Pferd, das zwanzig Meilen an einem Tage zurücklegen kann.«

»Alle Wetter! zwanzig Meilen?«

»Ja.«

»Mit einem Kabriolett?«

»Ja.«

»Und wie lange darf es sich nachher ausruhen?«

»Nöthigen Falls muß es schon den nächsten Tag wieder reisefähig sein.«

»Und wieder dieselbe Strecke zurücklegen?«

»Ja.«

»Teufel auch! Also zwanzig Meilen?«

Madeleine zog den Zettel aus der Tasche, wo er nach der Betrachtung der Wegkarte die Ziffern 5, 6, 8 aufgeschrieben hatte.

»Hier sehen Sie,« sagte er. »Summa 19 Meile, oder sagen wir lieber gleich zwanzig.«

»Herr Bürgermeister«, begann jetzt der Flamänder, »ich habe ein Pferd, das für Sie passen wird. Mein kleiner Schimmel, den Sie wohl schon bisweilen gesehen haben. Ein Thierchen aus der Gegend von Boulogne. Ueber alle Maßen feurig. Es sollte erst zum Reiten dressirt werden. Das paßte ihm aber nicht. Es schlug aus und warf Jeden ab. Nun glaubte man, das Thier sei zu nichts zu gebrauchen. Da hab’ ich es gekauft und vor ein Kabriolett gespannt. Das war nach seinem Sinn. Es ist sanft wie ein kleines Mädchen und rennen thut’s wie der Wind. Allerdings auf den Rücken darf man ihm nicht steigen. Es hat sich nun einmal in den Kopf gesetzt, daß es sich nur als Zugpferd gebrauchen lassen will.«

»Und wird es die Fahrt leisten?«

»Zwanzig Meilen in scharfem Trabe und in noch nicht acht Stunden. Aber nur unter gewissen Bedingungen.«

»Welchen?«

»Erstens müssen Sie es, wenn es die Hälfte des Weges hinter sich hat, eine Stunde verschnaufen lassen. Während der Zeit muß es fressen und es muß jemand dabei sein und aufpassen, daß der Hausknecht der Herberge ihm nicht den Hafer stiehlt. Ich habe bemerkt, daß mehr Hafer in einer Herberge von dem Hausknecht versoffen, als von den Pferden gefressen wird.«

»Gut, es soll darauf aufgepaßt werden.«

»Zweitens … Werden der Herr Bürgermeister selber die Fahrt machen?«

»Ja.«

»Können der Herr Bürgermeister lenken?«

»Ja.«

»Gut. Dann müssen der Herr Bürgermeister allein und ohne Gepäck fahren.«

»Zugestanden.«

»Aber da Herr Bürgermeister Niemand mitnehmen, werden Sie Sich selbst bemühen und aufpassen müssen, daß mein Pferd seine richtige Ration bekommt.«

»Soll geschehen.«

»Dann gebühren mir dreißig Franken pro Tag. Für die Ruhetage wird gleichfalls bezahlt. Keinen Heller weniger und der Hafer geht auf Rechnung des Herrn Bürgermeisters.«

Madeleine nahm drei Napoleond’or aus seiner Börse und legte sie auf den Tisch.

»Für zwei Tage pränumerando.«

»Viertens würde ein Kabriolett für eine so weite Fahrt zu schwer sein und das Pferd zu sehr strapazieren. Der Herr Bürgermeister müßten also die Güte haben und einen kleinen Tilbury nehmen, den ich Ihnen zur Verfügung stellen kann.«

»Sehr wohl.«

»Es ist ein leichter Wagen, er hat aber kein Verdeck.«

»Ist mir egal.«

»Haben der Herr Bürgermeister bedacht, daß es Winter ist? …«

Madeleine gab keine Antwort. Der Flamänder fuhr fort:

»Daß es regnen kann?«

Madeleine hob den Kopf in die Höhe und sagte:

»Morgen früh um halb fünf müssen Pferd und Wagen vor meinem Hause stehn.«

»Zu Befehl, Herr Bürgermeister,« antwortete Scaufflaire, kratzte mit dem Daumennagel einen Flecken aus, der den Tisch verunzierte und sagte leichthin, als denke er sich nichts Besondres dabei:

»Aber da fällt mir mit einem Mal ein, daß der Herr Bürgermeister mir noch nicht gesagt haben, wo Sie hingehen …«

Er dachte an nichts so angelegentlich als an diesen Punkt seit dem Anfang des ganzen Gesprächs, aber er wußte nicht, weshalb er sich noch nicht getraut hatte, die Frage zu thun.

»Hat Ihr Pferd gute Vorderbeine?« fragte Madeleine.

»Ja wohl. Stützen Sie es gefälligst etwas, wenn es bergab geht. Giebt es viel solche Stellen auf dem Wege, den der Herr Bürgermeister fahren wollen?«

»Vergessen Sie nicht, sich morgen früh ganz pünktlich bei mir einzustellen,« antwortete Madeleine und ging.

Der Flamänder war ganz »paff«, wie er selber später erzählte.

Nach zwei oder drei Minuten ging die Thür auf und der Bürgermeister war wieder da, und wieder mit derselben ruhigen tiefsinnigen Miene.

»Herr Scaufflaire, fragte er, wie hoch schätzen Sie Ihr Pferd und Ihren Tilbury zusammengenommen?«

»Wollen der Herr Bürgermeister sie mir abkaufen?«

»Nein, aber ich will aus Vorsorge Sie für jeden Fall sicher stellen. Sie geben mir das Geld nach meiner Rückkehr wieder. Wieviel also für Pferd und Wagen?«

»Fünfhundert Franken, Herr Bürgermeister.«

»Hier.«

Mit diesen Worten legte Madeleine einen Kassenschein auf den Tisch und ging fort, ohne wieder zurückzukehren.

Meister Scaufflaire bedauerte in der Folge ganz fürchterlich, daß er nicht tausend Franken gesagt hätte. Uebrigens waren Pferd und Fuhrwerk Summa Summarum höchstens dreihundert Franken wert.

Der Flamänder rief gleich seine Frau und erzählte ihr die Sache. »Wo zum Teufel mag der Herr Bürgermeister hinfahren wollen?« Die Frage verursachte ihnen viel Kopfzerbrechen. »Nach Paris«, meinte die Frau. »Das glaube ich nicht«, widersprach ihr Mann, nahm den Zettel mit den Ziffern, den Madeleine auf dem Kaminsims hatte liegen lassen und studirte ihn aufmerksam. »Fünf, sechs, acht ein halb? Damit müssen Entfernungen zwischen Poststationen gemeint sein. — Ich hab’s!« rief er dann plötzlich. »Nun?« »Von hier bis Hesdin sind fünf, von Hesdin bis Saint-Pol sechs, von Saint-Pol bis Arras acht und eine halbe Meile.«

Mittlerweile war Madeleine nach Hause zurückgekehrt.

Er hatte einen großen Umweg gemacht, als wenn der Anblick des Pfarrhauses Anlaß zu einer gefährlichen Versuchung hätte geben können. Zu Hause schloß er sich in seinem Zimmer ein, was nichts Auffälliges hatte, denn er begab sich gern frühzeitig zur Ruhe. Indessen beobachtete die Portierfrau der Fabrik, die zugleich auch den Dienst in Madeleine’s Haushalt versah, daß sein Licht um halb neun ausgelöscht wurde, und richtete deshalb an den Kassirer, der gerade nach Hause kam, die Frage:

»Sollte der Herr Bürgermeister unpäßlich sein? Er sah heute Abend ganz eigentümlich aus.«

Das Zimmer des Kassirers lag unter den Madeleines. Er beachtete die Worte der Portierfrau nicht weiter, legte sich zu Bett und schlief ein. Gegen Mitternacht aber erwachte er plötzlich in Folge eines Geräusches über seinem Kopfe. Er horchte auf. Es war, als ob Jemand in dem Zimmer über ihm hin und her gehe, und bald erkannte er auch Madeleines Tritt. Das kam ihm sonderbar vor, denn gewöhnlich ließ sich vor der Stunde, wo Madeleine aufzustehen pflegte, kein Geräusch vernehmen. Gleich darauf schien es dem Kassirer, als würde oben ein Schrank auf- und dann wieder zugemacht. Dann wurde ein Möbel von seiner Stelle gerückt, es trat Stille ein, und wiederum wurden Schritte hörbar. Der Kassirer, der jetzt vollständig munter geworden war, richtete sich im Bett auf und sah durch das Fenster an dem gegenüberstehenden Hause das grelle Abbild eines hell erleuchteten Fensters. Nach der Richtung der Lichtstrahlen zu urtheilen konnte es sich nur um das Fenster von Madeleines Zimmer handeln. Der Lichtschein zitterte, als rühre er etwa von einem Kaminfeuer, nicht von einer Lampe, her. Da ferner das Fensterkreuz in dem lichten Abbilde fehlte, so war anzunehmen, daß Madeleines Fenster weit offen stehen mußte. Das war in Anbetracht der Kälte, die in der betreffenden Nacht herrschte, sonderbar genug. Bald aber schlief der Kassirer wieder ein, um zwei oder drei Stunden später wieder zu erwachen. Abermals vernahm er ein Geräusch, wie wenn Jemand auf und abgehe.

Noch immer zeichnete sich das Fenster an dem Hause gegenüber ab, aber matter und ruhiger wie von dem Wiederschein einer Lampe oder einer Kerze. Auch jetzt noch mußte Madeleines Fenster offen stehn.

Folgendes aber ging in dem oberen Zimmer vor.

Ein Sturm unter einem Schädel

Der Leser hat gewiß schon errathen, daß Madeleine kein Andrer ist, als Jean Valjean.

Wir hatten schon einmal einen Blick in die Tiefen dieser Menschenseele geworfen; jetzt ist der Augenblick gekommen, daß wir abermals hineinschauen. Wir vermögen es nicht ohne Angst und Grauen. Giebt es doch nichts Furchtbareres, als eine Betrachtung dieser Art! Das Auge des Geistes findet nirgend grelleres Licht und schwärzere Finsterniß, als im Menschen; es kann nichts begegnen, das furchtbarer, verworrener, rätselhafter und unendlicher wäre. Es giebt etwas, das großartiger anzuschauen ist, als das Meer: der Himmel; etwas, das großartiger ist, als der Himmel: des Menschen Geist.

Wer das Innere des Menschenhirns, auch nur eines Menschenhirnes, ja auch nur des unbedeutendsten beschreiben könnte, würde das Höchste und Schwerste damit geleistet haben. Welch ein Chaos von Wahnbildern, Begierden, Bestrebungen, Träumen! Welch ein Schlupfwinkel für Gedanken, die sich ihrer selbst schämen! Welch ein Pandämonium von Sophismen! Welch ein Schlachtfeld der Leidenschaften! Könnte man nur in gewissen Stunden mit den Blicken hineindringen in das Innere eines Menschen, den seine Gedanken peinigen! Man würde dann hinter der äußern Ruhe des fahlen Antlitzes homerische Riesenkämpfe, wilde Schlachten zwischen Drachen und Hydren, wie in Miltons Paradies, sich abspielen, dicht gedrängte Schaaren von Schreckbildern, wie in Dantes göttlicher Komödie, aufsteigen sehen. Wie schauerlich ist jene unendliche Welt von Ideen und Empfindungen, die jeder Mensch in sich trägt, und an der er mit Verzweiflung die Bestrebungen seines Hirns und die Thaten seines Lebens mißt!

Alighieri sah eines eine Thür, vor der er zurückbebte. Auch wir stehen jetzt vor der Schwelle einer solchen Thür. Wagen wir aber dennoch, sie zu öffnen. Wir haben nur noch wenig zu dem hinzuzufügen, was unseren Lesern über Jean Valjean’s Schicksale seit seiner Begegnung mit dem kleinen Gervais schon bekannt ist. Wie schon geschildert, war er von Stunde an ein andrer Mensch. Was der Bischof aus ihm machen wollte, das setzte er in Wirklichkeit um. Sein ganzes Wesen läuterte und verklärte sich.

Es gelang ihm zu verschwinden, er verkaufte das Silbergeschirr des Bischofs mit Ausnahme der Leuchter, die er zum Andenken behielt, schlich sich von Stadt zu Stadt durch ganz Frankreich hindurch bis nach Montreuil-sur-Mer, wo er sich eine unangreifbare Stellung schuf. Hier gab er sich dem Glücksgefühl hin, daß seine schreckliche Vergangenheit durch eine friedvolle, sichre Gegenwart ausgelöscht sei, und der Hoffnung, er würde jetzt verborgen bleiben und einen heiligen Lebenswandel führen können, seinen irdischen Verfolgern entfliehen und zu Gott zurückkehren.

Diese beiden Gedanken waren in seinem Geiste so eng mit einander verschlungen, daß sie ein einziges Ganzes bildeten, sie nahmen gebieterisch sein ganzes Sein in Anspruch und bestimmten seine geringfügigsten Handlungen. Meistentheils herrschte Eintracht zwischen diesen zwei Prinzipien; sie bestimmten ihn, sich bescheiden der Welt und ihrem Glanze zu entziehen, machten ihn wohlwollend und schlicht, und flößten ihm beide dieselben Gedanken ein. Bisweilen jedoch kam es vor, daß sie mit einander in Kampf geriethen. Dann trug der Mann, den ganz Montreuil-sur-Mer nebst Umgegend Herrn Madeleine nannte, kein Bedenken, das erste dem zweiten, seine persönliche Sicherheit seiner Tugend, zu opfern. So hatte er, aller Vorsicht und allen Geboten der Klugheit zum Trotze, die Leuchter des Bischofs in seinem Besitz behalten, seinen Wohlthäter betrauert, alle Savoyardenjungen zu sich beschieden und ausgefragt, Erkundigungen über Familien in Faverolles eingezogen, dem alten Fauchelevent trotz Javerts argwöhnischen Bemerkungen das Leben gerettet. Nach dem Vorbilde aller Weisen, Frommen und Gerechten dachte er, daß die Pflichten gegen sich selbst nicht die ersten sind.

Doch war ihm bisher ein so schwieriger Gewissensfall, wie dieser, noch nicht vorgekommen. Noch nie war der Widerstreit zwischen den beiden Grundsätzen, die den Unglücklichen lenkten, ein so heftiger und gefährlicher gewesen. Dies begriff er zwar unklar, aber nachhaltig, bei den ersten Worten Javerts. Als der Name, den er so tief vergraben hatte, unter so sonderbaren Umständen vor ihm ausgesprochen wurde, erfaßte ihn starres Entsetzen, war er wie betäubt, erbebte er wie die Eiche, wenn ein Gewitter naht, wie ein Soldat vor der Schlacht. Er sah in seinem Geiste düstre Wolken über sich, aus denen bald Blitz und Donner hervorbrechen würden. Während er Javerts Worten lauschte, wandelte ihn der Gedanke an, er müsse hineilen, sich angeben, Champmathieu aus dem Gefängniß befreien und seine Stelle einnehmen. Es war schmerzhaft und peinvoll, wie ein Schnitt in sein eigen Fleisch, aber es ging vorüber, und er dachte: Aber — aber! Er unterdrückte also diese erste edle Regung und schrak zurück vor dem heldenmüthigen Opfer.

Freilich, nach den frommen Ermahnungen des Bischofs, nach so langer Reue und Selbstverleugnung, bei dem wunderbar tiefen Reuegefühl, das ihn beseelte, hätte er selbst Angesichts einer so gräßlichen Gefahr nicht einen Augenblick schwanken und ruhig dem Abgrund zuschreiten sollen, der zum Himmel führte; aber so schön dies gewesen wäre, so wenig würde dies der Wahrheit entsprechen, die wir doch allein im Auge behalten müssen. Der Trieb der Selbsterhaltung gewann fürs Erste die Oberhand; er sammelte rasch seine Gedanken, drängte seine Empfindungen zurück, nahm sich vor dem gefährlichen Javert zusammen, schob jede Entscheidung mit der Hartnäckigkeit der Angst für eine spätere Zeit auf, betäubte sein Gewissen und schirmte sich wieder mit seiner alten Ruhe, gleich einem Krieger, der den ihm entfallenen Schild aufhebt.

Den ganzen Tag über verharrte er in diesem Zustande: Innen ein Wirbelsturm, nach Außen eine unbewegliche Maske, — und alle Maßregeln, die er ergriff, waren solche, die ihm die Wege nach den beiden entgegengesetzten Seiten hin offen ließen. In seinem Hirn wogten alle Gedanken wirr durcheinander, er konnte keine klare Vorstellung fassen, und er selber hätte über sich nichts aussagen können, als daß er einen furchtbaren Schlag erhalten. Er begab sich wie gewöhnlich an das Schmerzensbett Fantinens und dehnte seinen Besuch recht lange aus, indem er sich von seiner Herzensgüte dazu getrieben fühlte, alle möglichen Vorkehrungen für den Fall, wo er verreisen würde, zu treffen. Er hatte die Empfindung, daß er vielleicht sich nach Arras verfügen müsse, und ohne sich diese Reise fest vorzunehmen, sagte er sich doch, da er keinen Argwohn zu fürchten habe, sei es ihm unbenommen der Gerichtsverhandlung beizuwohnen und bestellte bei Scaufflaire den Tilbury, um auf alle Fälle vorbereitet zu sein.

Demgemäß ließ er sich auch sein Abendessen leidlich gut schmecken.

Nachdem er sich in sein Zimmer zurückgezogen, sammelte er sich.

Er überdachte seine Lage und fand sie so unerhört fürchterlich, daß er unter einem ihm selber unerklärlichen Impulse plötzlich sich von seinem Stuhl erhob und seine Thür verriegelte. Er fürchtete, es würde noch etwas hereinkommen. Er verbarrikadirte sich gegen mögliches Unheil.

Gleich darauf blies er das Licht aus. Es war ihm unheimlich. Er fürchtete, es könne ihn Jemand sehen.

»Was für ein Jemand?«

Ach! das, was er zur Thür hinausgewiesen hatte, war hereingekommen; was er hätte blenden mögen, sah ihm jetzt ins Auge: Sein Gewissen.

Sein Gewissen, oder in andern Worten Gott.

Indessen in den ersten Augenblicken gab er sich einer beruhigenden Täuschung hin; es überkam ihn die Empfindung, daß er allein und in Sicherheit sei. Nun er den Riegel vorgeschoben, hielt er sich gegen einen Ueberfall gesichert; nachdem er das Licht ausgelöscht, dünkte er sich unsichtbar. Da gewann er die Herrschaft über sich wieder, stützte die Ellbogen auf den Tisch, vergrub den Kopf in seine Hände und begann in der Dunkelheit angestrengt nachzudenken.

»Was geht denn mit mir vor? Träume ich nicht? Was habe ich erfahren? Ist es wirklich wahr, daß ich Javert gesprochen, und daß er mir das Alles erzählt hat? Was mag denn der Champmathieu für ein Mensch sein? Also er ähnelt mir? Wie ist das möglich? Wenn ich denke, wie ruhig ich gestern noch lebte, wie fern mir alle Furcht lag! Was that ich doch gleich gestern zu derselben Zeit? Wie wird sich die Sache weiter entwickeln? Was thun?«

So tobte der Sturm in seinem Innern. Sein Hirn verlor die Fähigkeit, die Gedanken fest zu halten; sie rollten davon wie Wellen, die der Wind vor sich her jagt, und er drückte, als wolle er ihnen die Flucht unmöglich machen, seine Hände fester gegen seine Stirn.

Dieser Aufruhr der Gedanken und Empfindungen, die er in die Form einer klaren Erkenntniß, eines festen Entschlusses zwängen wollte, endeten nur in schwerer Seelenpein.

Der Kopf brannte ihm. Er ging und riß das Fenster weit auf. Dann setzte er sich wieder an den Tisch nieder.

So verlief die erste Stunde.

Allmählich jedoch traten einige Gedanken in schärferen Umrissen auf, und er konnte mit Bestimmtheit, zwar nicht die ganze Sachlage, aber doch gewisse Einzelheiten erkennen. Vor allen Dingen sagte er sich jetzt, daß er den Ausgang der Dinge vollständig in seiner Hand habe.

Das setzte ihn noch mehr in Erstaunen.

Abgesehen von dem religiösen Endzweck seiner Handlungen war Alles, was er bis zu diesem Tage gethan, nur eine Grube, in die er seinen Namen verscharren wollte. Was er immer am meisten gefürchtet hatte, in schlaflosen Nächten oder wenn er sonst Muße gefunden, nachzudenken, war der Gedanke, daß er irgend einmal diesen Namen wieder vernehmen würde. Dann hatte er gedacht, würde alles mit ihm vorbei sein; an dem Tage, wo der Name wieder auftreten würde, müßte das Glück seines zweiten Lebensabschnittes, ja vielleicht sogar die Reinheit seines neuen Wandels ihm entschwinden. Ihm schauderte dann immer bei dem bloßen Gedanken an eine so fürchterliche Umwälzung. Hätte ihm Jemand gesagt, einst werde der gefürchtete Name an sein Ohr klingen, das entsetzliche Licht, das sein Geheimniß aufhellen konnte, würde unversehens über seinem Haupte erglänzen, und dennoch würde der Name keine Drohung für ihn sein, das Licht würde die Finsternis, in die er sich gehüllt, nur verdichten, das Erdleben werde seinen Bau befestigen, dieses wunderbare Ereigniß werde, wenn er es nur wolle, sein Leben aufhellen und doch zugleich besser verhüllen und als Folge seiner Begegnung mit dem Phantom Jean Valjean werde sich nur noch mehr Ehre, Frieden und Sicherheit für den braven hochgestellten Herrn Madeleine ergeben, — wenn Jemand ihm dies gesagt hätte, so würde er den Kopf geschüttelt und solches Gerede für thöricht erklärt haben. Und nun war alles dies eingetreten, dieser Haufen von Unmöglichkeiten hatte sich zu einer vollendeten Thatsache verdichtet, und Gott hatte erlaubt, daß die Verrücktheiten zu Wirklichkeiten geworden waren.

Nun faßte er auch allmählich seine Lage klarer auf.

Ihm war, als erwache er aus einer Art Schlaf, als sehe er erst jetzt, daß er in Gefahr geschwebt hatte in einen Abgrund hinabzugleiten. Er bemerkte jetzt in dem Dunkel, das seinen Geist umnachtet hatte, deutlich einen Fremden, einen Unbekannten, den das Schicksal mit ihm verwechselte und an seiner Stelle in den Abgrund schleuderte. Ein Opfer mußte es bekommen, ob ihn oder seinen Doppelgänger, galt dem Schicksal gleich.

Er brauchte also bloß die Dinge ihren Gang gehen zu lassen. Die Klarheit in seinem Geiste wurde in Folge dieser Einsicht eine vollständige, und er gestand sich Folgendes: Sein Platz im Zuchthaus sei leer geblieben, und müsse, ob er es wolle oder nicht, wieder besetzt werden, da der an dem kleinen Gervais verübte Raub Sühnung erheische. Nun hatte sich aber ein Ersatzmann für ihn gefunden; einen gewissen Champmathieu habe sein Unstern zu dieser Rolle bestimmt, und er hatte, nun er im Zuchthaus durch diesen Champmathieu, in der guten Gesellschaft durch Herrn Madeleine vertreten war, nichts mehr zu befürchten. Dazu brauchte er bloß über dem Haupt seines Doppelgängers den Stein der Schande besiegeln lassen, der wie der Grabstein, der eine Totengrube verschließt, nur einmal niedergesenkt und dann nie wieder entfernt wird.

Alles dies war so gewaltsam und absonderlich, daß sich ein im menschlichen Leben seltenes Gefühl in ihm regte, eine Art Konvulsion des Gewissens, die aus Ironie, Freude und Verzweiflung besteht und ein innerliches Gelächter genannt werden könnte.

Er zündete rasch das Licht wieder an.

»Wovor fürchte ich mich denn so?« sagte er. »Wozu brauche ich mir Gedanken zu machen? Ich bin gerettet. Die Geschichte ist zu Ende. Nur ein Thor stand noch offen, durch das meine Vergangenheit in mein jetziges Leben hineindringen konnte, und dies ist nun für immer geschlossen. Javert, der mich seit so langer Zeit verfolgt, der mit seinem schrecklichen Instinkt mich erkannt zu haben schien, — was schien? — der mich erkannt hatte, dessen feine Spürnase ist jetzt von meiner Fährte völlig abgelenkt. Er eilt einem andern Wilde nach, er wird es einfangen, zufrieden sein, mich zufrieden lassen. Er hat jetzt seinen Jean Valjean. Wer weiß, ja es ist wahrscheinlich, daß er von Montreuil-sur-Mer fortgehen wird. Und alles dies ist ohne mein Zuthun geschehen! Ich habe nicht die Hand dabei im Spiele gehabt. Was in aller Welt ist denn Schlimmes dabei? Sähe mich jetzt Einer, er würde wahrhaftig glauben, mir sei ein fürchterliches Unglück zugestoßen: So thöricht geberde ich mich! Wenn die Sache für irgend Jemand schlecht abläuft, so ist das doch nicht meine Schuld! Die Vorsehung hat es gewollt. Habe ich das Recht ihre Anordnungen rückgängig zu machen? Was will ich denn eigentlich? Womit befasse ich mich? Mit etwas, das mich nichts angeht. Wie komme ich dazu, unzufrieden zu sein? Was will ich denn noch? Das Ziel, dem ich seit so vielen Jahren zustrebe, der Traum meiner Nächte, um was ich den Himmel täglich bitte, Sicherheit, das fällt mir jetzt von selber zu. So will es Gott, gegen den ich mich nicht auflehnen kann. Und warum will es Gott so? Damit ich fortfahre, was ich angefangen. damit ich Gutes thue, damit ich dermaleinst ein schönes und ermuthigendes Beispiel sei, damit endlich einmal erkannt werde, daß auch die Buße und die Tugend das Glück erringen können! Wahrhaftig, ich begreife nicht, weswegen ich vorhin mich besonnen und dem guten Pfarrer nicht gebeichtet ihm nicht alles erzählt habe. Er hätte mir ganz gewiß denselben Rath gegeben! Also, es bleibt dabei, ich lasse die Dinge gehen, wie Gott will.«

So sprach er in seinem innersten Herzen, stand dann auf und ging in seinem Zimmer auf und nieder.

»Also,« begann er wieder, »daß hab’ ich hinter mir. Der Entschluß ist gefaßt.«

Aber er empfand leine Freude.

Im Gegentheil.

Man kann seinen Gedanken ebenso wenig verwehren zu demselben Gegenstande zurückzukehren, wie dem Meer verbieten, daß es gegen seine Ufer brandet. Was für den Seemann sie Fluth ist, das sind für den Schuldbewußten die Gewissensbisse. Gott wühlt, wie den Ocean, so auch die Seele auf.

Nach Ablauf weniger Sekunden verfiel er wieder in das Gespräch, indem er zugleich redete und zuhörte, was er gern verschwiegen hätte, aussprach. Trieb ihn doch unwiderstehlich jene geheimnißvolle Macht, die ihm gebot zu denken, wie sie einst einem anderen Verdammten befohlen hatte, fortan ruhelos zu wandern.

Bevor wir weiter gehen und um besser verstanden zu werden, müssen wir eine nothwendige Bemerkung machen.

Es ist gewiß, daß man mit sich selber spricht. Es giebt kein denkendes Wesen, daß dieses Gefühl nicht gehabt hätte. Man sagt etwas zu sich, man spricht mit sich selber, ohne daß darum das Stillschweigen nach außen hin gebrochen würde. Bei dem heftigsten innerlichen Tumult spricht Alles in uns, nur der Mund nicht. Denn mögen die Thatsachen des Innern auch nicht sichtbar oder greifbar sein, Thatsachen sind sie darum doch.

Er stellte sich also jetzt die Frage, welche Bedeutung der »gefaßte« Entschluß habe. Er bekannte sich selber, daß, was er sich so eben in seinem Geist zurecht gelegt habe, eine Ruchlosigkeit sei, daß die »Dinge gehen zu lassen, wie sie gingen, dem lieben Gott nicht entgegen zu treten« einfach eine abscheuliche Verirrung wäre. Diesen Irrthum des Geschicks und der Menschen sich vollziehen lassen, ihn durch sein Stillschweigen nähren, kurz nichts thun hieß Alles thun! Das war der höchste Grad der Heuchelei und Nichtswürdigkeit! Das war ein gemeines, feiges, heimtückisches, erbärmliches, grauenvolles Verbrechen!

Zum ersten Mal seit acht Jahren verspürte jetzt der Unglückliche den bittern Geschmack eines bösen Gedankens, einer schlechten Handlung.

Er wies ihn mit Widerwillen von sich, und befragte sich weiter: »Was hatte er gemeint mit den Worten: Mein Zweck ist erreicht!« Er erklärte, sein Leben habe in der That einen Zweck. Aber welchen? Seinen Namen zu verhehlen, die Polizei hinters Licht zu führen? Weiter hatte er nichts gewollt? Bezweckte er nicht etwas Höheres, Edleres? Schwebte ihm nicht ein schöneres Ziel vor das einzig wahre? Nicht seinen Leib, sondern seine Seele retten, rechtschaffen und gut werden, ein gerechter sein, das hatte er doch immer gewollt, einzig und allein gewollt, das hatte ihm der Bischof befohlen. Die Thür seiner Vergangenheit zuschließen? Herr, erbarme dich — er schloß sie eben nicht, er that sie wieder auf, wenn er eine schändliche Handlung beging; er wurde wieder ein Dieb, der hassenswerteste aller Diebe; er stahl einem Andern sein Dasein, sein Leben, seinen Frieden, seinen Antheil am Sonnenlicht! Er wurde ein Mörder, denn er tötete moralisch einen Unglücklichen, er fügte ihm einen lebendigen Tod zu, den gratlosen Tod, den man die Zuchthaushaft nennt! Im Gegentheil. Sich dem Arm der Gerechtigkeit überliefern, das Opfer des gräßlichen Irrthums retten, seinen wahren Namen wieder annehmen, aus Pflichtgefühl wieder Jean Valjean werden, das hieß vollends auferstehen und die Hölle, der er entronnen war, zudecken. Was dem Anschein nach sein Verderben war, bedeutete in Wirklichkeit seine Rettung. So mußte er handeln! That er das nicht, so hatte er gar nichts gethan. Dann war sein ganzes Leben unnütz, seine Reue verloren, und er konnte dann nur noch sagen: Wozu alles höhere Streben? Er fühlte, daß der Geist des Bischofs auf ihn niederblicke, daß fortan der Bürgermeister Madelaine mit allen seinen Tugenden ihm ein Greuel, und der Zuchthäusler Jean Valjean dagegen achtungswürdig und rein sein würde, daß die Menschen seine Maske sähen, der Bischof sein wahres Gesicht; daß die Menschen auf sein Leben, der Bischof in sein Inneres schaue. Es galt also nach Arras zu gehen, den falschen Jean Valjean zu befreien, den Wahren anzuzeigen. Ach! es war das schwerste Opfer, der schmerzlichste Sieg, der letzte Schritt, der zu thun war, aber es maßte sein. Welch ein trauriges Geschick war das seine! Er konnte von Gott nicht erhöht werden, wenn er nicht von Seiten der Menschen die tiefste Erniedrigung erfuhr!

»Gut sagte er, es sei beschlossen! Ich will meine Schuldigkeit thun, ich will ihn retten!«

Diese letzten Worte sprach er ganz laut, ohne es zu bemerken.

Er nahm seine Rechnungsbücher vor, sah sie durch und brachte sie in Ordnung. Dann warf er eine Menge Schuldscheine, die seine Forderungen an kleine Handelsleute belegten, ins Feuer. Hierauf setzte er einen Brief auf, versiegelte ihn und schrieb auf den Umschlag die Adresse: An den Herrn Bankier Laffitte, Rue d’Artois. Paris.

Endlich entnahm er einem Schreibpult ein Portefeuille mit Kassenscheinen und den Paß, den er in demselben Jahr gebraucht hatte, um zur Wahl zu gehen.

Wer ihn hierbei beobachtet, wer seine tiefernste Miene gesehen hätte, würde nicht geahnt haben, was in seiner Seele vorging. Nur von Zeit zu Zeit bewegten sich seine Lippen; dann hob er wieder das Haupt empor und richtete seinen Blick auf irgend eine Stelle der Wand, als sei dort etwas, das er ergründen oder befragen wollte.

Nachdem er den Brief an Laffitte fertig gemacht, steckte er ihn, wie auch das Portefeuille in die Tasche und fing wieder an auf und abzugehen.

Seine Gedanken hatten keine andre Richtung angenommen. Noch immer stand vor den Augen seines Geistes in lichtvollen Schriftzeichen das Gebot geschrieben: »Geh! Nenne, denunzire dich!«

Desgleichen erkannte er so deutlich, als hätte sie eine sinnlich wahrnehmbare Gestalt angenommen, ihrem Wesen nach, die beiden Grundsätze, die bisher die Richtschnur seines Lebens gewesen waren: Die Verheimlichung seines Namens und die Heiligung seiner Seele. Zum ersten Mal sah er ein, daß sie durchaus verschieden waren. Er begriff, daß eins dieser Prinzipien ein nothwendig gutes sei, während das andre zum Bösen führen konnte, daß das eine soviel wie Selbstaufopferung, das andre Selbstsucht bedeute; daß das eine dem Licht, das andre der Finsterniß entstammen.

Sie bekämpften sich und er sah diesen Kampf. In dem Maße, wie er über sie nachdachte, waren sie in den Augen seines Geistes größer geworden, zu Kolossen angewachsen, von denen der eine ihm als ein Gott, der andre als ein Titan erschien.

Er war entsetzt, aber es dünkte ihn, daß der edle Grundsatz den Sieg davontrage.

Er fühlte, daß er an dem zweiten Wendepunkt seines innern Lebens und seines äußern Schicksals angelangt sei. Hatte die Begegnung mit dem Bischof den ersten Abschnitt seines neuen Lebens bestimmt, so sollte jetzt die Befreiung Champmathieus’ den Anfang der zweiten Periode kennzeichnen. Nach der großen Krisis die große Prüfung.

Indessen trat das Fieber, das einen Augenblick nachgelassen hatte, wieder auf. Tausend Gedanken durchkreuzten sein Hirn, bestärkten ihn aber nur in seinem Entschlusse.

Eine Zeit lang hatte er den Einwand erhoben, er nahm es vielleicht zu genau, vielleicht verdiene Champmathieu keine Theilnahme, der Mensch sei ja doch nur ein Spitzbube.

Diesen Einwurf widerlegte er sich aber: — Hatte der Mann wirklich ein paar Aepfel gestohlen, so gehörte ihm ein Monat Gefängnis, was sehr verschieden ist von lebenslänglicher Zuchthausstrafe. Und hat er denn überhaupt gestohlen? Liegen Beweise vor? Der Name Jean Valjean klagt ihn an und erläßt alle Beweise. Verfahren die Staatsanwälte nicht immer so? Sie halten Einen für einen Dieb, weil er Zuchthaussträfling gewesen ist.

Einmal ließ er sich den Gedanken beikommen, wenn er sich den Gerichten stelle, würde man ihm vielleicht die heldenmüthige Selbstüberwindung, und seinen rechtschaffenen Lebenswandel während der letzten sieben Jahre, seine Verdienste um die Stadt anrechnen und Gnade für Recht ergehen lassen.

Aber diese Hoffnung verflüchtigte sich rasch, und er erinnerte sich mit bittrem Lächeln, daß der Raub der vierzig Sous ihn zu einem rückfälligen Verbrecher stemple. Dieser Fall würde sicherlich anhängig gemacht werden und dann verfiel er dem klaren Wortlaut des Gesetzes gemäß, einer Verurtheilung zu lebenslänglichem Zuchthaus.

Er entsagte also jedweder trügerischen Hoffnung, lenkte seinen Sinn mehr und mehr von allem Irdischen ab und suchte anderswo Trost und Kraft. Er sagte sich, er müsse seine Schuldigkeit thun, vielleicht würde er nach Erfüllung seiner Pflicht nicht unglücklicher sein, als wenn er sie umginge; wenn er die Dinge ihren Gang gehen ließe, wenn er in Moatreuil-sur-Mer bleibe, würde sein guter Ruf, seine guten Werke, die Hochachtung und Verehrung, die man ihm zollte, sein Reichthum, die Beliebtheit, der er sich erfreute, seine Tugendhaftigkeit durch ein Verbrechen entwertet sein. Vollbringe er aber das Opfer, so würde ihm das Leben im Zuchthaus mit dem Halseisen, der Kette, der grünen Mütze, der harten Arbeit, der Schande, und Verachtung durch den Gedanken an den Himmel versüßt werden.

Die Erwägung so vieler schrecklicher Zweifel schwächte nicht seinen Muth, ermüdete aber sein Gehirn. Wider Willen verfiel er auf andre, unwichtigere Gedanken.

Das Blut hämmerte heftig in seinen Schläfen und er ging noch immer auf und ab. Jetzt schlug die Kirchthurmuhr, dann die Uhr des Rathhauses Mitternacht. Er zählte beide Male die Schläge und verglich den Ton der Glocken. Ja, es fiel ihm sogar der höchst gleichgültige Umstand ein, daß er vor einigen Tagen bei einem Eisenhändler eine alte Glocke mit der Aufschrift: »Antoine Albin, Romainville« gesehen hatte.

Ihn fror. Er zündete Feuer im Kamm an. Das Fenster zuzumachen, daran dachte er nicht.

Währenddem war er wieder in dumpfe Gedankenlosigkeit versunken, und es kostete ihm ziemlich viel Mühe, um sich auf das zu besinnen, was seinen Geist vor Mitternacht beschäftigt hatte.

»Ach so!« sagte er bei sich, »ich hatte beschlossen mich den Gerichten anzugeben.«

Da fiel ihm plötzlich Fantine ein.

»Ja, was soll denn aber aus der werden?«

Dieser Gedanke führte eine neue Krisis herbei.

Er wirkte, wie ein unerwarteter Lichtstrahl, der urplötzlich alle Gegenstände ganz anders erscheinen läßt.

»Was soll das heißen? Ich habe ja bis jetzt immer nur an mich gedacht, nur auf mein Belieben Rücksicht genommen. Es beliebt mir zu schweigen oder mich zu denunzieren, meine Person in Sicherheit zu bringen oder meine Seele zu retten, ein verächtlicher und geachteter Beamter oder ein verachteter und Ehrfurcht verdienender Sträfling zu sein, aber ob das Eine, oder das Andere, immer beziehe ich Alles nur auf mich, auf mich allein! Du mein Gott! das ist Alles Selbstsucht. Verschiedene Formen des Egoismus, aber immer Egoismus. Wie wenn ich auch einmal ein wenig an Andre dächte? Das ist doch die allererste Pflicht. Ich will doch mal die Sache auch unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Wenn ich nicht mehr da bin, wie wird’s dann hier aussehen? — Wenn ich mich dem Gericht stelle, so stecken sie mich wieder in’s Zuchthaus. Gut. Aber es ist doch noch der Bezirk, die Stadt, die Fabriken, eine neu geschaffene Industrie, die Arbeiter mit ihren Familien, die armen Leute da! Das Alles habe ich in’s Leben gerufen und erhalte ich im Gange, überall, wo ein Kamin raucht, habe ich das Feuer angezündet und Fleisch in den Kochtopf gethan; ich habe den Wohlstand, den Verkehr, den Kredit ermöglicht; vor mir war das Alles nicht; ich habe das ganze Land gehoben, belebt, beseelt, befruchtet, angeregt, bereichert; gehe ich, so fehlt dem Ganzen die Seele. Und die Arme, die so viel erduldet, die sich trotz der Schande so tapfer gezeigt hat, deren Unglück ich ohne meine Schuld veranlaßt habe! Und das Kind, das ich holen und der Mutter bringen wollte! Schulde ich ihr nicht auch etwas für all das Unheil, das ich über sie gebracht habe. Verschwinde ich — was geschieht dann? Die Mutter stirbt, und das Kind ist dem Schlimmsten ausgesetzt. Alles dies passirt, wenn ich mich anzeige. Wenn ich mich nicht anzeige — nun?«

Nachdem er diese Frage aufgeworfen, hielt er inne; zauderte eine Weile und zitterte; aber dies währte nicht lange und er beantwortete die Frage mit großer Ruhe:

»Nun dann kommt Champmathieu allerdings in Zuchthaus, aber warum zum Teufel hat er denn gestohlen? Ich mag reden, so viel ich will: Gestohlen hat er. Ich bleibe hier und setze mein Werk fort. Im Laufe von zehn Jahren verdiene ich zehn Millionen; die verschenke, die verwende ich zum Nutzen des Gemeinwohls. Ich behalte nichts für mich; mein Vortheil bleibt bei Allem, was ich thue, aus dem Spiel. Der allgemeine Wohlstand nimmt beständig zu; neue Erwerbszweige entstehen und beleben sich gegenseitig; die Fabriken vermehren sich; die Familien, Hunderte, Tausende von Familien werden glücklich; das Land bevölkert sich; es entstehen Dörfer, wo früher nur vereinzelte Gehöfte standen; Gehöfte, wo jetzt Einöden sind; das Elend verschwindet und mit dem Elend die Lüderlichkeit, die Prostitution, Diebstahl, Mord, alle Laster, alle Verbrechen. Bleibe ich also, so kann die arme Mutter ihr Kind groß ziehen und die Bevölkerung eines ganzen Landes wird wohlhabend und brav. War ich denn ganz des Teufels, ganz verdreht, daß ich mich denunziren wollte? Ich muß mir wirklich die Sachen sorgfältiger überlegen und nichts überstürzen. Wie? Weil es mir belieben würde mit einer melodramatischen Seelengröße zu prahlen, weil ich nur an mich denken würde, wer weiß, was für einen Kerl, einen Spitzbuben, jedenfalls aber einen Thunichtgut vor einer zu harten, aber im Grunde genommen verdienten Strafe retten möchte, sollte ich ein ganzes Land zu Grunde gehen lassen, müßte ein armes Weib im Spital, ein armes kleines Mädchen auf der Straße umkommen, als wenn es Hunde wären! Das wäre ja ganz was Abscheuliches! Bevor die Mutter ihre Tochter wieder gesehen, die Tochter ihre Mutter kennen gelernt hat! Und alles dies einem lumpigen alten Apfeldieb zu Liebe, der, wenn nicht deswegen, doch gewiß für irgend etwas Anderes Zuchthaus verdient hat. Nette Gewissenhaftigkeit, wenn man einen Schuldigen rettet und unzählige Unschuldige hinopfert! Wie kann ein alter Strolch, der nur noch wenige Jahre zu leben hat und im Zuchthaus sich nicht viel unglücklicher fühlen wird, in Betracht kommen gegen ein ganzes Volk von Müttern, Frauen, Kindern! Die arme kleine Cosette hat nur noch mich auf der ganzen Welt und hat in diesem Augenblick die bitterste Kälte zu leiden! Uebrigens auch herrliches Gesindel, die Thénardiers! Diese Unglücklichen alle sollte ich also im Stich lassen! Und gesetzt auch, ich beginge ein Unrecht, ich setzte mich Gewissensbissen aus, so würde ich mir ein großes Verdienst erwerben, indem ich, um das Wohl Anderer zu fördern, mit einer schlechten Handlung mein Seelenheil gefährdete!«

Mit diesen Worten, stand er auf und ging wieder im Zimmer hin und her. Dies Mal glaubte er mit sich zufrieden zu sein.

Wie man die Diamanten nur in den Tiefen der Erde findet, so entdeckt man auch die Wahrheit nur, wenn man ihr lange und fleißig nachgräbt. So glaubte auch Madeleine jetzt, nachdem er so lange gegrübelt, endlich die Wahrheit zu Tage gefördert zu haben, und freute sich an dem blendenden Glanze des herrlichen Kleinodes.

»Ja ja, dachte er, so ist’s richtig. Das Problem ist gelöst. Ich weiß jetzt, woran ich mich zu halten habe. Jetzt nicht mehr gewankt und geschwankt! Das Interesse Aller erheischt es so, nicht das meinige. Ich bin Madeleine und will Madeleine bleiben. Wehe Dem, der Jean Valjean ist! Ich bin’s nicht mehr! Ich kenne den Menschen nicht, weiß nicht, wer er ist. Fügt es sich jetzt so, daß Einer Jean Valjean heißt, so mag er zusehen, wie er fertig wird. Mich geht das nichts an. Es ist nun einmal ein Unglücksname, der herrenlos in der Luft schwebt, und fällt er auf irgend Jemand herab, so kann ich es nicht ändern!«

Er besah sich in dem kleinen Spiegel, der über dem Kamin hing und sagte:

»Sieh’ da! Der Entschluß hat mir Erleichterung verschafft. Ich sehe jetzt weit besser aus.«

Wieder that er einige Schritte und blieb dann stehen: »Vorwärts! Jetzt heißt es, die Konsequenzen des gefaßten Entschlusses ziehen. Noch giebt es Fäden, die mich mit Jean Valjean verbinden! Die muß ich zerschneiden! In eben diesem Zimmer befinden sich noch Gegenstände, die mich anklagen, stumme Zeugen, die gegen mich aussagen könnten. Die müssen vernichtet werden!«

Er griff in seine Tasche, holte seine Börse heraus und entnahm ihr einen kleinen Schlüssel.

Diesen steckte er in ein Schlößchen, das durch ein dunkles Feld der Tapete fast ganz bedeckt und kaum sichtbar war, und öffnete eine kleine Thür zu einem versteckten Wandschrank. Es befanden sich darin nur einige zerlumpte Kleidungsstücke, ein blauer Leinwandkittel, ein paar alte Beinkleider, ein alter Tornister und ein an beiden Enden mit Eisen beschlagener Knotenstock. Die Jean Valjean im Oktober des Jahres 1815 in Digne gesehen hatten, würden leicht die verschiedenen Stücke dieser elenden Ausrüstung wieder erkannt haben.

Er hatte sie, wie die Leuchter, zur Erinnerung an seinen Ausgangspunkt aufbewahrt, mit dem Unterschiede, daß er, was er aus dem Zuchthaus mitgebracht, versteckte, und das Geschenk des Bischofs sehen ließ.

Nun warf er einen verstohlenen Blick nach der Thür, als fürchtete er, sie könnte, trotzdem der Riegel vorgeschoben war, sich öffnen; dann raffte er hastig Alles zusammen, ohne alle diese Gegenstände, die er so lange Jahre so sorgsam und mit so viel Gefahr aufbewahrt hatte, auch nur eines Blickes zu würdigen und warf alles in’s Feuer.

Dann verschloß er wieder den Wandschrank und schob mit durchaus überflüssiger Vorsicht — denn der Versteck war ja jetzt seines Inhalts entleert — ein schweres Möbel vor.

Nach Verlauf einiger Sekunden erhellte das Zimmer und das gegenüberliegende Haus ein grelles rothes Flammenfeuer. Alles brannte. Der Knotenstock knisterte und sprühte bis in die Mitte des Zimmers helle Funken.

In der Asche, die der verbrannte Tornister nebst den darin enthaltenen greulichen Lumpen zurückließ blieb etwas Glänzendes zurück, ein Geldstück, wahrscheinlich das dem Savoyarden gestohlene Zweifrankenstück.

Er aber beachtete nicht das Feuer, sondern ging mit gleichen Schritten auf und nieder.

Plötzlich blieben seine Augen an den beiden silbernen Leuchtern haften, die vom Wiederschein des Feuers matt erglänzten.

»Halt! dachte er. Das genügt Jean Valjean zu verderben. Das muß auch weg.«

Das Feuer im Kamin war stark genug, die Leuchter in eine unförmliche Masse umzuschmelzen.

Er bückte sich und wärmte sich einen Augenblick, was ihm wohl that. »Wie gemüthlich solch’ ein Feuer ist!« dachte er.

Dann rührte er in der Kohlengluth mit einem der Leuchter herum und warf sie dann beide in die Flammen.

In dem Augenblick war es ihm, als rufe in seinem Innern eine Stimme:

»Jean Valjean! Jean Valjean!«

Die Haare standen ihm zu Berge. Er hörte mit Entsetzen zu.

»So ist’s recht! So fahre fort! rief die Stimme. Vollende dein Werk! Vernichte dieses Andenken! Vergiß den Bischof! Vergiß Alles! Verderbe Champmathieu! Sehr gut! Darauf kannst Du stolz sein. Die Sache ist also entschieden beschlossen, abgemacht! Der alte Mann, der nicht weiß, was man von ihm will, der vielleicht nichts Böses gethan, ein Unschuldiger, den dein Name in’s Unglück stürzt, auf dem dein Name wie ein Verbrechen lastet, soll an deiner Statt verurtheilt werden, soll sein Leben in Jammer und Elend beschließen! Sehr schön! Bleibe der Herr Bürgermeister, bleibe ein ehrenwerthes und geehrtes Mitglied der guten Gesellschaft, mache die Stadt reich, ernähre die Bedürftigen, erziehe Waisen, sei glücklich, tugendhaft und bewundert. Während Du hier im Lichte und in Freuden lebst, wird ja Einer mit Schande für dich die rothe Jacke tragen, deine Kette herumschleppen! So ist es schön eingerichtet! O Du Nichtswürdiger!«

Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er starrte entsetzt die Leuchter an. Aber die Stimme in ihm fuhr fort:

»Jean Valjean! Es werden sich um dich viel Stimmen erheben, die dich preisen und segnen werden, und nur eine, die Niemand hören, und dich im Dunkel der Verborgenheit verfluchen wird! Nun höre, Du Elender: All die Segenswünsche werden, ehe sie den Himmel erreichen, wieder zurückfallen, und nur der Fluch wird zu Gott emporsteigen!«

Diese — anfänglich schwache — Stimme seines innersten Gewissens war allmählich so gewaltig und schrecklich geworden, daß er sie mit seinem äußeren leiblichen Ohr zu hören glaubte, und sich bei den letzten Worten erschrocken umwandte:

»Ist Jemand hier?« fragte er laut.

Gleich darauf lachte er wie ein Idiot.

»Bin ich dumm! Es kann ja Niemand hier sein.«

Es war doch Einer da, Einer, den Menschenaugen nicht wahrnehmen können.

Er stellte die Leuchter auf das Kamingesims.

Dann nahm er den eintönigen Marsch im Zimmer wieder auf, der den in ihm schlafenden Menschen aus seinen Träumen aufschreckte.

Die körperliche Bewegung that ihm wohl und berauschte ihn zu gleicher Zeit. Es ist, als empfinde man bisweilen in der höchsten Seelenangst das Bedürfniß, alles Mögliche, was man bei einem Gange auf seinem Wege sieht, um Rath zu fragen. Aber nach Verlauf weniger Sekunden wußte Madeleine nicht mehr, wie er bekehrt war.

Jetzt flößten ihm alle beiden Alternativen gleichen Schrecken ein. Welch ein fürchterlicher Zufall! Daß dieser Champmathieu mit einem Mal auftauchen und mit ihm verwechselt wurde! Daß er gerade durch das Mittel, das die Vorsehung anfänglich zu seiner Sicherung gebraucht hatte, jetzt zu Fall gebracht wurde!

Es trat ein Augenblick ein, wo er sich die Zukunft ausmalte. Großer Gott! Wie würde das werden, wenn er sich den Gerichten auslieferte! Mit grenzenloser Verzweiflung zählte er sich Alles auf, was er verlassen und was er wieder aufnehmen sollte. Es handelte sich also darum, dem angenehmen, schönen, glänzenden Dasein, das er geführt hatte, der allgemeinen Achtung, der Ehre, der Freiheit Lebewohl zu sagen! Er sollte nicht mehr auf den Feldern lustwandeln, die Vöglein im Monat Mai nicht mehr singen hören, die Kinder nicht mehr mit Almosen beglücken können! Er sollte nicht mehr die Annehmlichkeit der liebevollen und dankbaren Blicke empfinden, die ihm zu folgen pflegten! Er sollte das Haus, das er gebaut, sein trauliches Zimmer für immer verlassen! Jetzt gefiel ihm Alles so sehr! Er würde nicht mehr in seinen Büchern lesen, nicht mehr an dem kleinen Schreibtisch arbeiten. Die alte Portierfrau würde ihm nicht mehr des Morgens seinen Kaffee heraufbringen. Stattdessen — barmherziger Gott! — das Zuchthaus, das Halseisen, die rothe Jacke, die Kette am Fuß, schwere Arbeit, die Dunkelzelle, das Feldbett; Qualen, die ihm nur zu sehr bekannt waren! In seinem Alter und nachdem er so viel Besseres kennen gelernt hatte! Wenn er wenigstens noch jung gewesen wäre! Aber wenn man alt ist, geduzt, vom Aufseher visitirt werden, von dem Profoß Stockschläge bekommen, mit bloßen Füßen in eisenbeschlagenen Schuhen gehen, jeden Morgen und jeden Abend das Bein dem Hammer des Aufsehers darbieten, der den Eisenring zu untersuchen hat! Ein Gegenstand der Neugierde zu sein für die Fremden, denen man erzählen würde: »Der da ist der berühmte Jean Valjean, der Bürgermeister in Montreuil-sur-Mer gewesen ist.« Am Abend in Schweiß gebadet, todtmüde, die grüne Mütze über den Augen unter der Peitsche des Sergeanten die Treppe zu dem schwimmenden Bagno emporsteigen! Wie grauenvoll! Kann denn das Schicksal boshaft sein, wie ein mit Vernunft begabtes Wesen und ausarten wie das Menschenherz?

Also, wie sehr er auch sein Hirn zermarterte, immer starrte ihm die fürchterliche Frage entgegen, ob er im Himmel bleiben und zu den Teufeln herabsinken oder ob er in die Hölle zurückkehren und ein Engel werden wolle.

Was thun, großer Gott! Was thun?

Der Sturm in seinem Innern, aus dem er sich mit so großer Schwierigkeit gerettet hatte, raste von Neuem los. Seine Begriffe fingen an sich zu verwirren. Sein Hirn wurde dumpf und arbeitete maschinenmäßig, ein Zustand, der bei verzweifelter Gemüthsstimmung einzutreten pflegt. Der Name Romainville nebst zwei Versen eines Liedes, das er ehedem hatte singen hören, tauchte jetzt fortwährend in seinem Gehirn auf. So heißt ein Gehölz bei Paris, wo junge Liebespaare im Monat April Flieder pflücken.

Auch körperlich fühlte er sich jetzt schwach und schwankte beim Gehen, wie ein kleines Kind, das seine ersten Schritte allein macht.

Ab und zu versuchte er wohl gegen seine Ermattung anzukämpfen und die Herrschaft über seine Gedanken wiederzugewinnen. Zum letzten Male und um zu einem endgiltigen Entschlusse zu gelangen, stellte er sich die Frage, die sein Hirn abgemattet hatte: Soll ich mich ausliefern oder schweigen? Er konnte aber zu keiner Klarheit gelangen. Die Ergebnisse seines mühevollen Nachdenkens verloren alle scharfen Umrisse und verflogen in das Nichts, Nur so viel wurde ihm klar: Wie er sich auch entscheiden würde, ein Theil seines Ichs mußte nothgedrungen und unabwendbarer Weise sterben; in ein Grab stieg er immer, ob er sich nach rechts oder nach links wandte; es war mit seinem Glück oder mit seiner Tugend zu Ende,

Ach! die Unschlüssigkeit war wieder da. Er war nicht weiter, als zu Anfang,

So qualvoll rang der Unglückliche mit seinen Zweifeln. Achtzehnhundert Jahre vor ihm hatte in derselben Weise, das geheimnisvolle Wesen, in dem sich alle Tugenden und alle Leiden der Menschheit konzentrirten, umrauscht von den Oelbäumen Gethsemanes lange den Kelch von sich gewiesen, auf dessen Grund sein Auge die dichte Finsterniß der Hölle und das heitere Licht des Himmels schaute.

Die Form, die Seelenqualen während des Schlafes annehmen

Drei Uhr hatte es so eben geschlagen und fünf Stunden lang wandelte er nun schon, fast ununterbrochen, in dem Zimmer auf und nieder, als er endlich auf seinen Stuhl sank und einschlief.

Da hatte er einen Traum, der wie die meisten Träume mit der gegenwärtigen Lage nur eine ganz lose, aber beängstigende Beziehung hatte, aber er machte Eindruck auf ihn, so daß er ihn niederschrieb. Diese Erzählung ist unter seinen andern Papieren aufgefunden worden, und wir halten es der Mühe wert, ihn hier wörtlich wiederzugeben.

Wie man auch über diesen Traum denken möge, — die Geschichte dieser Nacht würde unvollständig bleiben, wollten wir ihn mit Stillschweigen übergehen. Es ist ein düstres Erlebnis eines kranken Gemüths.

Auf dem Umschlag, in dem sich das betreffende Papier befindet, lesen wir die Worte: Der Traum, den ich in jener Nacht gehabt habe.

Die Erzählung lautet folgendermaßen:

»Ich war auf einem großen Felde, einer Einöde, in der kein Gras wuchs. Es sah weder aus, ob Tag, noch ob Nacht wäre.

Ich machte einen Spaziergang mit meinem Bruder, dem Bruder meiner Kindheit, an den ich — wohl bemerkt — nie denke, und auf den ich mich nicht mehr recht besinnen kann.

Wir plauderten und begegneten Leuten. Wir sprachen von einer Frau, die in dem Hause nebenan wohnte und bei offnem Fenster zu arbeiten pflegte. Während des Gesprächs fror uns, weil das Fenster offen stand.

Auf dem Felde wuchsen keine Bäume.

Da sahen wir einen Mann, der an uns vorbeikam. Er war ganz nackt, aschfarben und ritt auf einem erdfahlen Rosse. Er hatte keine Haare und man konnte seinen Schädel so wie die Adern darauf sehen. In der Hand hielt er eine Ruthe, die biegsam war wie eine Weinranke und schwer wie Eisen. Er ritt vorüber und sprach nicht zu uns.

Da sagte mein Bruder: ›Wir wollen durch den Hohlweg gehen.‹

In dem Hohlweg sah man keinen Strauch, kein Moos. Alles war erdfarben, sogar der Himmel. Als ich einige Schritte gegangen war, bekam ich keine Antwort mehr, wenn ich sprach. Da bemerkte ich, daß mein Bruder nicht mehr bei mir war.

Ich ging in ein Dorf, das ich sah. Ich dachte mir, es müßte Romainville sein. (Warum Romainville?) Diese Parenthese ist von Jean Valjeans Hand.

Die erste Straße war menschenleer. Ich kam in die zweite. Da stand dicht an der, von der ersten und dieser Straße gebildeten Ecke ein Mann an die Mauer gelehnt. Diesen Mann fragte ich: Was ist das für ein Ort? Wo bin ich? Aber er antwortete nicht.

Da sah ich eine offene Hausthür und ging hinein.

Das erste Zimmer war leer. Ich trat in das zweite. Hinter der Thür dieses Zimmers stand ein Mann an die Wand gelehnt. Diesen Mann fragte ich: Wem gehört dieses Haus? Wo bin ich? Er antwortete nicht.

Das Haus hatte einen Garten. Ich ging aus dem Hause hinaus und in den Garten hinein. Hinter dem ersten Baum stand ein Mann. Diesen fragte ich: Was ist das für ein Garten? Wo bin ich? Er antwortete nicht.

Ich irrte in dem Dorf herum und bemerkte, daß es eine Stadt war. Alle Straßen waren menschenleer, alle Thüren standen offen. Kein lebendes Wesen ging auf der Straße, in den Zimmern, in den Gärten. Aber hinter jeder Straßenecke, hinter jeder Thür, hinter jedem Baum stand ein Mann, der still schwieg. Man sah immer nur je einen. Diese Leute sahen mich an, wenn ich an ihnen vorüberging.

Nun ging ich zur Stadt hinaus und marschirte querfeldein.

Nach einer Weile wendete ich mich um und erblickte eine große Menge Menschen, die hinter mir gingen. Ich erkannte in ihnen die Leute, die ich in der Stadt gesehen hatte. Sie hatten sonderbare Gesichter. Es hatte nicht den Anschein, als beeilten sie sich und dennoch kamen sie rascher vorwärts, als ich. Sie machten kein Geräusch beim Gehen. Im Nu holte mich diese Menschenmenge ein und umringte mich. Die Gesichter dieser Leute waren erdfahl.

Da sprach der erste, den ich in der Stadt gesehen und gefragt hatte, zu mir: Wo gehst Du hin? Weißt Du nicht, daß Du schon lange tot bist?

Ich that den Mund auf, ihm zu antworten und bemerkte, daß Niemand mehr da war.«

Er wachte auf. Ihm war eisig kalt. Der Morgenwind bewegte die Fensterflügel, die offen geblieben waren. Das Kaminfeuer war ausgegangen, das Stearinlicht dem Erlöschen nahe. Noch herrschte finstere Nacht.

Er stand auf und trat an das Fenster. Auch jetzt noch stand kein Stern am Himmel.

Von seinem Fenster aus konnte man den Hof und die Straße überblicken. Plötzlich veranlaßte ihn ein scharfes und knappes Geräusch, das sich unten vernehmen ließ, die Augen niederzusenken.

Er sah unter sich zwei rothe Sterne, deren Strahlen in der Dunkelheit seltsam hin und her zuckten.

Da sein Gehirn noch halb von Traumnebeln umfangen war, kam er auf den sonderbaren Einfall: »Es stehen keine Sterne am Himmel, dafür sind aber jetzt welche auf der Erde.«

Indessen kehrte jetzt sein Bewußtsein völlig zurück, er sah wieder hin und bemerkte, daß die beiden Sterne die Laternen eines Wagens waren. Bei der Helle, die sie um sich verbreiteten, konnte er die Form des Gefährts erkennen. Es war ein Tilbury, der mit einem kleinen Schimmel bespannt war. Das Geräusch, das er so eben vernommen hatte, kam von Hufschlägen her.

»Was mag denn das für ein Wagen sein?« dachte er bei sich. »Wer kommt denn so früh?«

In demselben Augenblick wurde leise an seine Thür geklopft.

Er erbebte am ganzen Körper und fragte mit zorniger Stimme:

»Wer ist da?«

»Ich, Herr Bürgermeister.«

Er erkannte die Stimme der alten Portierfrau.

»Nun, was giebt’s?«

»Herr Bürgermeister, es ist gleich fünf Uhr.«

»Was schiert das mich?«

»Herr Bürgermeister, der Wagen!«

»Was für ein Wagen?«

»Der Tilbury.«

»Was für ein Tilbury?«

»Haben der Herr Bürgermeister nicht einen Tilbury bestellt?«

»Nein!«

»Der Kutscher sagt, er wäre hierher geschickt?«

»Was für ein Kutscher?«

»Der Kutscher von Herrn Scaufflaire.«

»Herr Scaufflaire?«

Bei der Nennung dieses Namens fuhr er zusammen, als wäre ein Blitz vor ihm niedergefahren.

Hätte die alte Frau ihn in diesem Augenblicke sehen können, sie wäre entsetzt gewesen.

Es trat eine ziemlich lange Pause ein. Er starrte stumpfsinnig in die Flamme der Kerze und nahm mechanisch von dem Docht das heiße Wachs ab, das er zwischen seinen Fingern rollte. Die Alte wartete unterdessen. Endlich aber fragte sie sehr laut:

»Herr Bürgermeister, was soll ich antworten?«

»Daß Alles in Ordnung ist, und daß ich herunterkomme.«

Hemmnisse

Die Postfuhrwerke, die damals noch seit Napoleons Zeit zwischen Arras und Montreuil-sur-Mer den Briefverkehr besorgten, waren zweirädrige Kabriolette, die inwendig mit falbem Leder ausgeschlagen waren, auf Schraubenfedern ruhten und nur zwei Sitze hatten, einen für den Kourier, den andern für den Fahrgast. Die Räder waren mit langen Naben bewaffnet, die dazu dienten, andere Fuhrwerke in respektvoller Entfernung zu halten, und die man noch auf deutschen Landstraßen zu sehen bekommt. Der Depeschenkoffer, ein riesiger langer Kasten, war hinten angebracht und aus einem Stück mit dem Kabriolett. Der Koffer war schwarz, das Kabriolett gelb angestrichen.

Diese Wagen, die heutzutage vollständig abgekommen sind, sahen ungestaltet und bucklig aus. Wenn man sie aus der Ferne sah, glichen sie jenen Kriechthieren, die man, glaube ich, Termiten nennt und einen dünnen Vorderleib haben, während der hintere Theil des Körpers sehr stark ist. Sie fuhren übrigens sehr schnell. Die Briefpost, die um ein Uhr Nachts von Arras nach der Ankunft des Pariser Kouriers, abfuhr, traf in Montreuil-sur-Mer vor fünf Uhr Morgens ein.

In jener Nacht stieß das Postkabriolett auf dem Wege von Hesden nach Montreuil-sur-Mer bei der Biegung einer Straße; eben als es in die Stadt einfahren wollte, mit einem kleinen Tilbury heftig zusammen, der nach der entgegengesetzten Richtung fuhr und in dem nur eine Person saß, ein Mann in einen Mantel gehüllt. Der Kurier rief ihm zu, er solle anhalten; aber der Andre hörte nicht auf ihn und eilte in scharfem Trabe weiter.

»Der hat’s verteufelt eilig!« meinte der Kurier.

Der sich so beeilte, war derselbe Mann, dessen bemitleidenswerten Seelenkampf wir oben beschrieben haben.

Wo wollte er hin? Er hätte es nicht sagen können. Warum eilte er so? Er wußte es nicht. Er fuhr auf’s Gerathewohl vor sich hin? Wohin? Ohne Zweifel nach Arras; aber vielleicht auch noch anderswohin. Zeitweise fühlte er dies und erschrack. Er fuhr in die dunkle Zukunft, wie in einen Abgrund hinein. Es trieb, es zog ihn etwas hin. Was in ihm vorging, könnte Niemand sagen; Alle aber werden es verstehen. Welcher Mensch hat nicht wenigstens ein Mal in seinem Leben die dunkle Höhle des Unbekannten betreten?

Er hatte überhaupt nichts beschlossen, nichts entschieden, nichts geregelt, nichts abgemacht. Keiner der Akte seines Gewissens war ein endgültiger. Er stand immer am Anfang.

Warum begab er sich nach Arras?

Er wiederholte sich unaufhörlich seine Auffassung der Lage, wie er sie sich schon, als er den Wagen bei Scaufflaire bestellte, gebildet hatte. Wie die Sache auch ablaufen würde, dachte er, es könne nicht schaden, wenn er Alles mit seinen eigenen Augen sähe und selber die Entwickelung der Dinge beurtheile. Das gebiete ihm sogar die Vorsicht. So sei er der Gefahr ausgesetzt, zu ängstlich, zu skrupulös zu verfahren. Wüßte er erst, weß Geistes Kind Champmathieu sei, wäre es ein schlechter Kerl, so würde er sich kein Gewissen mehr daraus zumachen brauchen, daß er ihn an seiner Statt in’s Zuchthaus wandern ließe. Allerdings würde Javert und Brevet, Chenildieu, Cochepaille zur Stelle sein; aber die würden ihn sicherlich nicht wiedererkennen. Das wäre! Javert lagen dergleichen Vermuthungen wer weiß wie fern. Alle hätten nun einmal Verdacht auf Champmathieu, und solch ein Verdacht sei schwer zu entwurzeln. Es sei also nichts zu befürchten. Eine schwere Prüfung wäre es freilich, aber er würde sie überstehen. Hänge doch sein Schicksal, möge ihm noch so Schlimmes drohen, von ihm ab. Namentlich an diesen Gedanken klammerte er sich.

Im Grunde genommen, freilich hätte er lieber nicht nach Arras gehen mögen.

Trotzdem ging er.

Während er sich diesen trübsinnigen Grübeleien hingab, peitschte er von Zeit zu Zeit sein Pferdchen, das wacker seine Schuldigkeit that.

In dem Maße, wie sein Wagen vorwärts kam, fühlte er etwas in sich, das mehr und mehr zurückwich.

Bei Tagesanbruch befand er sich auf freiem Felde; Montreuil-sur-Mer lag weit hinter ihm. Der Horizont färbte sich weiß, vor Madeleines Augen glitten, ohne daß er sie recht gewahrte, all die frostigen Gestalten hin, die dem Blick des Beschauers das Grauen eines Wintertages darbietet. Man kann auch des Morgens, eben so gut wie des Abends, graulige Dinge zu sehen bekommen. Er, freilich, sah sie nicht, aber ohne, daß er es inne wurde, so zu sagen auf physische Weise, verfinsterten die schwarzen Schatten der Bäume und Hügel sein wild aufgeregtes Gemüth noch mehr.

Jedesmal, wenn er an einem der hier sehr dünn gesäten Häuser vorbeikam, dachte er sich: »Wie glücklich, die schlafen dürfen!«

Der Hufschlag des Pferdes, das Geklingel der Glöckchen, das Rädergerassel, einförmige Geräusche, die sich angenehm und gemüthlich anhören, wenn man guter Dinge ist, hatten für sein Ohr einen grausigen Klang.

Es war heller Tag, als er in Hesdin ankam. Er hielt vor einer Herberge an, um seinen Schimmel verschnaufen und füttern zu lassen.

Das Pferd war, wie Scaufflaire richtig gesagt hatte, von boulognischer Race, die verschiedne Fehler z. B. einen zu starken Kopf und zu starken Bauch hat, aber dafür besaß es eine breite Brust, ein starkes Kreuz, magre und schlanke Beine und solide Füße, so unschön diese Race auch sein mag sie ist kräftig und gesund. Das brave Thierchen hatte in zwei Stunden seine fünf Meilen zurückgelegt und kein Tropfen Schweiß war an seinem Kreuz zu sehen.

Madeleine war in dem Wagen sitzen geblieben. Da bückte sich plötzlich der Stallknecht, der den Hafer herbeibrachte und musterte scharf das linke Rad.

»Fahren Sie weit?« forschte er dann.

Zerstreut entgegnete Madeleine:

»Warum?«

»Kommen Sie weither?« forschte der Stallknecht weiter.

»Fünf Meilen habe ich jetzt hinter mir.«

»Hm!«

»Was haben Sie denn?«

Der Stallknecht beugte sich abermals nieder, schwieg eine Weile und richtete sich dann wieder in die Höhe mit den Worten:

»Ja, sehen Sie, das Rad da mag ja fünf Meilen hinter sich gekriegt haben; jetzt aber hält es keine Viertelmeile mehr.«

Madeleine sprang vom Wagen herab:

»Was sagen Sie da?«

»Ich sage, es ist ein wahres Wunder, daß Sie fünf Meilen gefahren und daß Sie sammt Ihrem Pferde nicht im Chausseegraben zu liegen gekommen sind. Sehen Sie mal her.«

Das Rad war allerdings stark beschädigt. Zwei Speichen waren entzwei und die Schraube, mit der die Nabe an die Achse befestigt war, saß nicht mehr fest.

»Guter Freund«, erkundigte sich Madeleine, »giebt es hier einen Stellmacher?«

»Gewiß, mein Herr.«

»Erweisen Sie mir den Gefallen und holen Sie ihn.«

»Er wohnt nebenan. Heda! Meister Bourgaillard!«

Meister Bourgaillard, der Stellmacher, stand gerade auf der Schwelle seiner Thür. Er kam, untersuchte das Rad und machte dabei eine Grimasse, wie ein Chirurg, der ein gebrochenes Bein ansieht.

»Können Sie dieses Rad auf der Stelle ausbessern?«

»Ja, mein Herr.«

»Wann werde ich weiter fahren können?«

»Morgen.«

»Morgen?«

»Ja, die Reparatur wird reichlich einen Tag Arbeit kosten. Hat der Herr Eile?«

»Große Eile. Ich muß spätestens in einer Stunde wieder aufbrechen.«

»Das geht nicht, mein Herr.«

»Ich bezahle, was verlangt wird.«

»Es geht nicht.«

»Nun dann gebe ich Ihnen zwei Stunden Zeit.«

»Heute geht’s nicht mehr. Es sind zwei Speichen und eine Nabe zu repariren. Vor morgen früh kann der Herr nicht fahren.«

»Mein Geschäft duldet keinen Aufschub bis morgen. Statt das Rad auszubessern, könnte man es nicht durch ein anderes ersetzen?«

»Wie denn?«

»Sie sind Stellmacher?«

»Gewiß, mein Herr.«

»Haben Sie kein Rad, das Sie mir verkaufen könnten? Dann brauchte ich die Fahrt nicht zu unterbrechen.«

»Ich habe kein Rad vorräthig, das zu ihrem Wagen passen würde. Zu einem Paar gehören zwei Räder. Ein einzelnes Rad paßt nicht so leicht zu einem beliebigen andern.«

»Gut. Dann verkaufen Sie mir ein Paar.«

»Alle Räder passen nicht zu allen Achsen.«

»So versuchen Sie’s doch.«

»Das hätte keinen Zweck. Ich habe nur große Wagenräder. Es ist ein kleiner Ort.«

»Haben Sie ein Kabriolett, das Sie vermiethen könnten?«

Der Stellmachermeister hatte auf den ersten Blick erkannt, daß der Tilbury ein Miethwagen war. Er zuckte die Achseln.

»Sie richten die Wagen, die Sie miethen, gut zu. Hätte ich einen, ich würde ihn Ihnen nicht anvertrauen.«

»Gut, so kaufe ich Ihnen einen ab.«

»Ich habe keinen.«

»Was! Auch keine Halbkutsche? Sie sehen, ich bin leicht zufrieden zu stellen.«

»In einem kleinen Ort kann man das Alles nicht bekommen. Ich habe allerdings da in der Remise eine alte Kalesche, die einem Herrn in der Stadt gehört. Er hat sie mir zur Aufbewahrung übergeben und gebraucht sie alle Jubeljahr ein Mal. Mir käm’s nicht darauf an, sie Ihnen zu geben, aber der Einwohner dürfte nichts davon wissen. Und dann gehören auch zwei Pferde zu einer Kalesche.«

»So werde ich zwei Postpferde miethen.«

»Wohin reist der Herr?«

»Nach Arras.«

»Und der Herr muß heute schon da sein?«

»Ja freilich.«

»Mit Postpferden?«

»Warum denn nicht?«

»Ist es dem Herrn egal, wenn er heute Nacht um vier Uhr in Arras ankommt?«

»Durchaus nicht.«

»Ja, sehen Sie, mit den Postpferden ist das so ’ne Sache … Der Herr hat seinen Paß mit?«

»Ja.«

»Nun, mit Postpferden wird der Herr nicht vor morgen früh in Arras ankommen. Unser Ort liegt an einem Querweg; da hat man nicht die Ordnung, die sich gehört. Die Pferde sind jetzt alle auf den Feldern. Es ist nämlich die Zeit, wo gepflügt wird und starke Thiere gebraucht werden. Da nimmt man die guten Pferde, wo man sie kriegt, auch die von der Post. Der Herr wird auf jeder Station drei bis vier Stunden warten müssen. Noch dazu geht’s im Schritt. Es sind viel Anhöhen in unserer Gegend.«

»Gut, dann werde ich hin reiten. Spannen Sie den Wagen aus. Ein Sattel wird doch hoffentlich hier zu haben sein.«

»Gewiß. Aber ist das auch ein reitbares Pferd?«

»Richtig! Sie erinnern mich daran. Es ist nur ein Wagenpferd.«

»Ja dann …«

»Aber ich werde doch im Dorfe ein Reitpferd finden, das ich miethen kann?«

»Das die ganze Strecke bis Arras hintereinander weg galoppieren soll?«

»Ja wohl.«

»Solch ein Pferd ist hier zu Lande nicht zu haben. Sie müßten’s auch kaufen, denn Sie sind hier Keinem bekannt. Aber ob Sie’s nun kaufen oder miethen ob Sie fünfhundert Franken bieten, oder tausend, Sie würden keins auftreiben können!«

»Was fange ich blos an?«

»Je nun, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin, das Beste ist, ich setze das Rad wieder in Stand, und Sie schieben Ihre Abfahrt bis morgen auf.«

»Morgen ist es zu spät.«

»Ja dann!«

»Wann kommt die Postkutsche nach Arras hier durch!«

»Diese Nacht. Die hin, und die zurückfährt, fahren des Nachts.«

»Also Sie brauchen wirklich einen Tag dazu, ein Rad auszubessern?«

»Einen Tag mindestens.«

»Mit zwei Gesellen?«

»Auch wenn ich zehn hätte.«

»Wie wäre es, wenn man die Speichen mit Stricken bände?«

»Die Speichen, ja! Bei der Nabe geht das nicht. Uebrigens ist die Felge auch in schlechter Verfassung.«

»Giebt es in der Stadt einen Wagenvermiether?«

»Nein.«

»Einen andern Stellmacher?«

»Nein!« antworteten der Stallknecht und der Stellmacher einstimmig und schüttelten den Kopf.

Madeleine empfand eine grenzenlose Freude. Die Vorsehung mischte sich offenbar ins Spiel. Sie hatte es so gefügt, daß der Tilbury beschädigt wurde und die Reise nicht weiter fortgesetzt werden konnte. Er hatte den ersten Wink, den sie ihm gab, unbeachtet gelassen; hatte Alles, was in seinen Kräften stand, gethan um weiter fahren zu können, und redlich und gewissenhaft alle möglichen Mittel probiert; hatte weder die Winterkälte, noch Strapazen, noch Geldausgaben gescheut; kurz, sein Gewissen durfte ihm keine Vorwürfe machen. Wenn er nicht weiter fuhr, so ging ihn das nichts mehr an. Es war nicht seine Schuld. Nicht er, die Vorsehung hatte es so gewollt.

Er athmete auf, zum ersten Mal seit Javerts Besuch, frei und aus voller Brust. Ihm war, als löse sich die eiserne Hand, die ihm seit zwanzig Stunden das Herz zusammendrückte, und lasse ihn los.

Gott war jetzt für ihn und ließ es ihn wissen.

Jetzt, wo er alles Mögliche gethan, durfte er doch wohl ruhig nach Hause zurückkehren.

Wenn sein Gespräch mit dem Stellmacher in einem Zimmer der Herberge stattgefunden hätte, so würde es keine Zeugen gehabt haben. Niemand hätte etwas gehört, und die Dinge hätten eine ganz andre Wendung genommen. Madeleine und der Stellmacher standen aber auf der Straße und es finden sich immer Neugierige, die gern zuhören, wenn ein Fremder etwas fragt. So hatte sich auch allmählich um die Beiden eine Schaar Menschen angesammelt und unter ihnen ein kleiner Knabe auf den Niemand Acht gab. Dieser hörte einige Minuten dem Gespräch zu und eilte dann plötzlich spornstreichs davon.

Bald darauf, als Madeleine eben schlüssig geworden und im Begriff stand umzukehren, kam der Knabe mit einer alten Frau zurück.

»Lieber Herr,« begann die Alte, »mein Junge sagt mir, Sie wünschten ein Kabriolett zu miethen.«

Diese einfachen Worte einer greisen, von einem Kinde geführten Frau preßten ihm heftigen Angstschweiß aus. Er glaubte die Hand wieder zu sehen, die ihn eben erst freigelassen. Sie wollte ihn jetzt wieder packen.

»Ja wohl, gute Frau,« antwortete er, »ich brauche ein Kabriolett. Aber —« setzte er eilig hinzu — »es ist hier keins zu bekommen.«

»Doch, doch!« erwiderte die Alte.

»Wo denn!« fragte der Stellmacher.

»Bei mir,« lautete der Bescheid.

Madeleine erschrak. Die Hand des Schicksals hielt ihn wieder fest.

Die Greisin besaß in der That in einem Schuppen eine Halbkutsche. Davon wollten aber der Stallknecht und der Stellmacher, die es ärgerte, daß der reiche Fremde ihnen entwischen sollte, nichts wissen.

Solch’ ein greulicher Rumpelkasten! Das Jammergestell ruhte auf der bloßen Achse, hatte keine Federn! Dafür freilich hingen die Sitze im Innern an Lederriemen!! Es regnete hinein. Die Räder waren vom Rost zerfressen. Das Ding würde nicht viel weiter kommen. Der Herr sollte keine Fahrt damit riskiren u.s.w., u.s.w.

Das war Alles wahr, aber der alte Klapperkasten war ein Ding mit zwei Rädern, in dem man nach Arras kommen konnte.

Er bezahlte, was man von ihm verlangte, ließ den Tilbury bei dem Stellmacher, bis er wiederkommen würde ihn abzuholen, hieß seinen Schimmel an die Halbkutsche spannen, stieg auf und setzte seine Reise fort.

In dem Augenblick, wo sich der Wagen in Bewegung setzte, gestand er sich ein, daß der Gedanke, nicht weiter reisen zu können, ihm eine gewisse Freude verursacht hatte. Ueber diese Freude dachte er mit einer Art Verdruß nach und fand sie abgeschmackt. Freude über die Umkehr! Wozu? Hatte er denn die Reise nicht aus freiem Willen unternommen? Es zwang ihn ja Niemand dazu.

Es würde doch immer das geschehen, was ihm beliebte.

Als er zum Dorfe hinausfuhr, hörte er Jemand rufen: »Halt! Halt!« Er hielt sofort an mit einem krampfhaften, hastigen Ruck, denn vielleicht bedeutete die Verzögerung etwas Gutes.

Es war der Junge der alten Frau.

»Mein Herr, ich bin Derjenige, der Ihnen den Wagen verschafft hat.«

»Nun?«

»Sie haben mir nichts dafür gegeben.«

Er, der sonst so bereitwillig gab, fand diese Forderung unverschämt und beinahe niederträchtig.

»Also Du warst es? Du infamer Lümmel, Du kriegst nichts.«

Damit peitschte er auf sein Pferd los und jagte im schnellsten Trabe davon.

Er hatte in Hesdin viel Zeit versäumt, die er wieder einbringen wollte. Das Pferdchen besaß Courage und zog so gut, wie zwei; aber es war im Februar, es hatte geregnet und die Wege befanden sich in schlechtem Zustande. Dann war der Wagen, in dem er jetzt saß, nicht so leicht, wie der Tilbury. Außerdem eine Menge Steilungen auf dem Wege.

Er brauchte vier Stunden, um von Hesdin nach Saint-Pol zu gelangen. In vier Stunden sechs Meilen!

In Saint-Pol kehrte er in der ersten besten Herberge ein und ließ das Pferd in den Stall führen. Dem Versprechen gemäß, das er Scaufflaire gegeben hatte, hielt er sich, während das Pferd seinen Hafer verzehrte, in der Nähe der Krippe auf und hing trübseligen, verworrenen Grübeleien nach.

Da kam die Frau des Gastwirtes in den Stall und fragte:

»Will der Herr nicht frühstücken?«

»Richtig, richtig! — Ich habe sogar ganz tüchtigen Appetit.«

Er folgte der Wirtin, die ein munteres, vergnügtes Aussehen hatte.

»Beeilen Sie sich,« mahnte er. »Ich habe Eile«.

Eine dicke flamländische Magd deckte rasch den Tisch. Er sah sie mit einem Gefühl des Behagens an.

»Das hat mir gefehlt,« meinte er. »Ich habe heute noch nicht gefrühstückt.«

Als das Essen aufgetragen wurde, fiel er über das Brot her, aß einen Bissen davon und legte es dann langsam auf den Tisch zurück.

»Wie kommt es, daß das Brot hier so bitter ist?« fragte er einen Fuhrmann, der an einem andern Tisch mit gutem Appetit speiste.

Der Fuhrmann aber war ein Ausländer und verstand ihn nicht.

Nun kehrte er in den Stall zu seinem Schimmel zurück.

Eine Stunde später hatte er Saint-Pol hinter sich und fuhr auf Tinques zu, das von Arras nur noch fünf Meilen entfernt ist.

Was that er während dieser Fahrt? Woran dachte er? Er sah sich, wie am Morgen, die Bäume, die Strohdächer, die Aecker an, wie sie an ihm vorüberwanderten, und die Landschaft, die an jeder Biegung des Weges eine andere wurde. Eine solche Betrachtung genügt bisweilen dem Menschen und befreit ihn fast von der Nothwendigkeit zu denken. Nichts Trübsinnigeres, nichts, das die Tiefen des Herzens stärker aufwühlt, als tausenderlei Dinge zum letzten Male sehen! Reisen heißt, jeden Augenblick an seinen Anfang und an sein Ende erinnert werden. Vielleicht beschäftigte sich sein Geist mit unbestimmten Vergleichen zwischen den Veränderungen des Horizontes und den Wechselfällen des menschlichen Lebens. Bei unserer Reise durch das Dasein sehen wir beständig alle Gegenstände uns fliehen. Helles und Dunkles wechseln mit einander ab. Man sieht etwas vorüberkommen, streckt eilig die Hände aus, es zu erfassen; jedes Ereigniß bezeichnet eine Biegung des Weges und ehe man sich dessen versieht, ist man alt geworden. Dann fühlt man einen Ruck, Alles ist finster, man erblickt ein dunkles Thor, das Pferd des Lebens, das Einen gezogen hat, bleibt stehen und ein tief vermummter Unbekannter spannt es in der Finsterniß aus.

Es dämmerte schon, als die Kinder, die in Tinques aus der Schule kamen, den Fremden vorbeifahren sahen. Allerdings waren die Tage noch kurz zu dieser Jahreszeit. Madeleine hielt an diesem Orte nicht an. Aber als er eben im Begriff stand, aus dem Dorf hinauszufahren, richtete sich ein Chausseearbeiter, der Steine einrammte, in die Höhe und sagte:

»Das Pferd da ist schön müde!«

In der That ging das arme Thier nur noch im Schritt.

»Fahren Sie nach Arras?« forschte der Arbeiter.

»Ja.«

»Wenn Sie Sich nicht mehr beeilen, werden Sie nicht früh ankommen.«

Madeleine hielt an und fragte ihn:

»Wie weit ist es noch von hier bis Arras?«

»Beinah gute sieben Meilen.«

»Wie so? Nach dem Postbuch sind es nur fünf und eine Viertelmeile.«

»Ja so, Sie wissen wohl nicht, daß der Weg neu gepflastert wird? Eine Viertelstunde weiterhin ist er gesperrt. Da geht’s nicht weiter«

»Wirklich?«

»Sie schlagen den Weg links ein, nach Caremcy, fahren über den Fluß, und wenn Sie in Camblin sind, wenden Sie Sich rechts. Dann sind Sie auf dem Wege, der von Mont-Saint-Eloy nach Arras führt.«

»Aber es dunkelt schon: Ich werde mich verirren.« »Sie sind wohl nicht aus dieser Gegend.«

»Nein.«

»Na ja! Und dabei lauter Querwege. — Mein Herr, wollen Sie einen guten Rat von mir annehmen. Ihr Pferd ist müde. Kehren Sie um. In Tinques ist eine gute Herberge, wo Sie dann übernachten können. Morgen fahren Sie dann weiter.«

»Ich muß noch heute Abend dort sein.«

»Das ist was Andres. Dann fahren Sie aber trotzdem bis zur Herberge zurück und holen Sie Sich noch ein Pferd zur Aushülfe. Sie können sich dann auch ein Stück führen lassen.«

Madeleine befolgte den Rath, kehrte um und kam eine halbe Stunde später an derselben Stelle wieder vorüber, aber in schnellem Trabe und mit einem guten Aushülfspferde. Ein Stallknecht der sich Postillon titulierte saß auf der Deichsel.

Indessen merkte Madeleine, daß die Zeit verging.

Schon war es finstre Nacht.

Sie fuhren in den Querweg hinein, der schlecht im Stande war. Der Wagen stürzte von einem Geleise in’s andre. Madeleine feuerte den Postillon an:

»Immer Trab und doppeltes Trinkgeld.«

Da zerbrach in Folge eines heftigen Stoßes das Ortscheit.

»Mein Herr, ich weiß nicht mehr, wie ich mein Pferd anspannen soll. Auf diesem Wege führt es sich sehr schlecht bei Nacht; wenn Sie in Tinques übernachten wollen, können wir morgen in aller Frühe in Arras sei.«

»Hast Du einen Strick und ein Messer?« erwiederte er.

»Ja, mein Herr.«

Er schnitt einen Baumast ab und machte sich daraus ein Ortscheit zurecht.

So wurden wieder zwanzig Minuten Zeit versäumt; aber sie konnten nun im Galopp die Fahrt fortsetzen. Die Ebene war in Dunkelheit gehüllt. Ein niedriger kurzer und schwarzer Nebelstreifen lagerte auf den Hügeln und stieg stellenweise wie Rauchwolken empor. In den Wolken sah man hie und da weißliche, lichte Flecken. Ein starker Seewind rumorte überall am Horizont, als fuhrwerke er mit großen Möbeln herum. Alles, was man bemerken konnte, sah graulig aus. Womit treibt auch nicht der gewaltige Nachtwind sein Spiel!

Die Kälte drang ihm bis in’s Mark. Seit dem Tage vorher hatte er nichts gegessen. Es fiel ihm wieder jene Nacht ein, wo er ziellos über die große Ebene bei Digne hin und hergeirrt war. Das war acht Jahre her, und es kam ihm vor, als sei es gestern gewesen.

Aus der Ferne ließ sich eine Thurmuhr hören.

»Was schlägt die Uhr?« fragte er den Stallknecht.

»Sieben, mein Herr. Um acht sind wir in Arras. Wir haben nur noch drei Meilen zurückzulegen.«

Erst jetzt fiel ihm ein — und er wundert! sich, daß er nicht früher auf den Gedanken gekommen war -. Daß all die Mühe vielleicht umsonst aufgewandt wäre; daß er nicht einmal wußte, zu welcher Stunde die Verhandlung des Prozesses angesetzt war; daß er sich danach hätte erkundigen sollen; daß er thöricht sei, so darauf los zu fahren, ohne danach zu fragen, ob es auch einen Zweck habe. Dann rechnete er: Gewöhnlich fingen die Sitzungen des Schwurgerichts um neun Uhr Vormittags an. Die Verhandlung der Anklage wegen des Apfeldiebstahls konnte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Dann kam die Feststellung der Personalien an die Reihe, vier bis fünf Zeugen zu vernehmen, die Reden des Staatsanwalts und des Vertheidigers, die alle Beide nicht viel zu sagen haben würden. Kurz er rechnete aus, daß er erst nach Beendigung der Verhandlung eintreffen würde.

Der Postillon trieb die Pferde zu noch größerer Eile an. Sie waren über den Fluß gefahren und hatten Mont-Saint-Eloy hinter sich.

Die Nacht wurde immer dunkler.

Schwester Simplicia wird auf die Probe gestellt

Mittlerweile schwamm Fantine in einem Meer von Wonne.

Sie hatte die Nacht schlecht zugebracht. Heftige Anfälle von Husten, stärkeres Fieber, wüste Träume. Am Morgen, als der Arzt kam, phantasirte sie. Er machte eine sehr ernste Miene und bat, daß man ihn sofort benachrichtigen möchte, sobald Herr Madeleine kommen würde.

Den ganzen Vormittag war sie trübsinnig, sprach wenig und fältelte ihr Laken, indem sie dabei Rechnungen — wahrscheinlich von Entfernungen — anstellte. Ihre Augen waren tief eingesunken und starr. Sie schienen fast erloschen, flammten aber von Zeit zu Zeit stark auf und glänzten wie Sterne; als erfüllte sie, je mehr sie sich dem irdischen Licht unzugänglich wurden, himmlische Klarheit.

Jedes Mal wenn Schwester Simplicia sich nach ihrem Befinden erkundigte, antwortete sie: »Mir geht es gut. Nur möchte ich Herrn Madeleine sehen.«

Vor einigen Monaten, damals, als Fantine des letzten Ueberbleibsels ihrer Erden- und Daseinsfreude verlustig ging, glich sie nur noch einem Schatten von dem was sie vor Zeiten gewesen, jetzt war ihr Anblick ein Schrecken erregender. Die körperlichen Leiden hatten das Werk, daß die moralischen begonnen, vollendet. Diese Fünfundzwanzigjährige besaß eine runzlige Stirn, welke Wangen, zusammengefallene Nasenlöcher, eingeschrumpftes Zahnfleisch, einen bleifarbnen Teint, einen knochigen Hals, magre Arme und Beine, eine glanzlose Haut, und ihre blonden Haare waren mit grauen vermischt. Ach! wie sehr ähnelt doch die Krankheit dem Alter.

Um zwölf kam der Arzt wieder, schrieb einige Rezepte, erkundigte sich, ob der Herr Bürgermeister in den Krankensaal gekommen sei, und schüttelte den Kopf.

Madeleine besuchte die Patientin gewöhnlich gegen drei Uhr Nachmittags. Da Pünktlichkeit seinerseits sie glücklich machte, so war er pünktlich.

Gegen halb drei wurde Fantine unruhig. Sie fragte in zwanzig Minuten die Nonne mehr als Zehn Mal: »Schwester, wieviel Uhr ist es?«

Endlich schlug es drei Uhr. Beim dritten Schlage richtete sie sich, die sich für gewöhnlich vor Schwäche kaum zu rühren vermochte auf, faltete krampfhaft ihre fleischlosen, gelben Hände, und die Nonne hörte sie so stark aufseufzen, als wolle sie eine Last von ihrer Brust wälzen. Dann wandte sie sich seitwärts und heftete ihre Augen auf die Thür.

Es kam Niemand, die Thür that sich nicht auf.

So saß sie, regungslos, als athmete sie kaum, die Augen unverwandt auf die Thür gerichtet. Die Schwester wagte nicht zu ihr zu sprechen. Da schlug es ein Viertel auf vier, und Fantine ließ den Kopf wieder auf das Kissen zurücksinken.

Sie sprach kein Wort und fing wieder an, Falten in ihr Laken zu machen.

Es schlug halb, dann voll. Niemand kam. Jedes Mal, wenn die Kirchturmuhr sich vernehmen ließ, richtete sich Fantine auf, blickte nach der Thür und sank dann wieder auf ihr Kissen zurück.

An wen sie dachte, ließ sich leicht errathen, aber sie nannte seinen Namen nicht, klagte nicht, tadelte nicht. Nur, daß sie schrecklich hustete. Tiefe Trübsal hatte sie befallen. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen und ihre Lippen waren blau. Zeitweise lächelte sie.

Als es fünf Uhr schlug, hörte die Schwester, wie sie sanft vor sich hin flüsterte: »Da ich morgen fort muß, könnte er doch heute noch einmal kommen!«

Schwester Simplicia selber wunderte sich, daß Madeleine nicht kam. A

Jetzt schaute Fantine zu ihrem Betthimmel empor und schien sich auf etwas zu besinnen. Dann sang sie plötzlich mit schwacher Stimme ein Wiegenlied, womit sie ehedem ihre kleine Cosette in den Schlaf gesungen und an das sie seit fünf Jahren nicht mehr gedacht hatte. So schwermüthig sanft klang das Lied in ihrem Munde, daß der an Leid Und Jammer gewöhnten Nonne Thränen in die Augen traten.

Nun schlug es sechs Uhr. Fantine achtete aber nicht darauf. Sie schien Alles, was sie umgab, vergessen zu haben.

Schwester Simplicia aber trug einer Magd auf, sich bei der Portierfrau zu erkundigen, ob der Herr Bürgermeister nach Hause gekommen sei und ob er nicht bald in den Krankensaal hinaufkommen würde. Die Magd kam nach einigen Minuten zurück und erzählte, während Fantine unbeweglich da lag und ihren Gedanken nachzugehen schien, der Schwester Simplicia: der Herr Bürgermeister wäre heute Morgen vor sechs Uhr, trotz der Kälte, in einem, mit einem Schimmel bespannten Tilbury fortgefahren, ganz allein, ohne Kutscher. Man wüßte nicht, wohin. Einige sagten, er hätte den Weg nach Arras eingeschlagen; Andere versicherten, sie wären ihm auf der Landstraße nach Paris begegnet. Bei seinem Weggange wäre er so wie sonst gewesen, sehr leutselig und hätte nur zur Portierfrau gesagt, man solle ihn heute Nacht nicht erwarten.

Während die beiden Frauen, den Rücken Fantinen zugewendet, im Flüsterton mit einander sprachen, kniete diese mit jener Lebhaftigkeit, die sich bei gewissen schweren Krankheiten bisweilen noch kurz vor dem Tode regt, auf ihrem Bett und horchte, die geballten Fäuste auf das Kissen gestützt und mit dem Kopf zwischen den beiden Theilen des Vorhangs. Plötzlich schrie sie:

»Sie sprechen da von Herrn Madeleine! Warum so leise? Was ist mit ihm? Warum kommt er nicht?«

Ihre Worte klangen so hastig und rauh, daß die beiden Frauen eine Männerstimme zu hören glaubten, und sich erschrocken umdrehten.

»So antworten Sie doch!« schrie Fantine.

Die Magd stammelte:

»Die Portierfrau hat mir gesagt, er könnte heute nicht kommen.«

»Kind, verhalten Sie Sich ruhig!« redete ihr die Schwester zu. »Legen Sie Sich hin.« Aber ohne ihre Stellung zu verändern, rief Fantine wieder laut und in herrischem, angstvollem Tone:

»Er kann nicht kommen? Warum nicht? Sie wissen den Grund. Sie haben eben heimlich mit einander darüber gesprochen. Ich will es wissen.«

Die Magd raunte der Nonne hastig ins Ohr: »Antworten Sie, er wohnt einer Sitzung der Stadtverordneten bei.«

Schwester Simplicia errötete leicht; muthete ihr doch die Magd eine Lüge zu. Andrerseits war sie sich klar darüber, daß die Wahrheit ein schrecklicher Schlag für die Kranke sein würde, und bei Fantinens Zustand eine gefährliche Wirkung haben könnte. Aber die Röthe verflog rasch, und mit einem mitleidigen Blick antwortete sie:

»Der Herr Bürgermeister ist verreist.«

Fantine richtete sich auf und kauerte im Bett. Ihre Augen funkelten. Eine unbeschreibliche Freude leuchtete aus allen Zügen ihres vergrämten Gesichts.

»Verreist!« jubelte sie. »Er holt Cosette!«

Darauf hob sie die gefalteten Hände zum Himmel empor und betete leise.

Nachher sagte sie: »Schwester, ich will Ihnen gehorchen und mich wieder hinlegen und Alles thun, was Sie von Mir verlangen. Eben bin ich recht häßlich gewesen. Es war schlecht von mir, daß ich so aufgefahren bin, und ich bitte Sie um Verzeihung, gute Schwester. Aber wenn Sie wüßten, wie ich mich jetzt freue! Der liebe Gott ist gut, Herr Madeleine ist gut. Denken Sie doch: er ist nach Montfermeil gegangen und holt meine Cosette.«

Sie legte sich nieder, half der Nonne das Kissen wieder in Ordnung bringen und küßte ein kleines silbernes Kreuz, das sie am Halse trug, ein Geschenk der Schwester Simplicia.

»Kind,« mahnte jetzt die Schwester, »liegen Sie jetzt ruhig und sprechen Sie nicht.«

Fantine griff nach der Hand der Schwester, die bei der feuchten Berührung ein schmerzliches Mitleid erfaßt.

»Er ist heute früh nach Paris gefahren. Eigentlich braucht er nicht ganz so weit zu gehen. Montfermeil liegt links von hieraus. Erinnern Sie Sich noch, daß er gestern, als ich von Cosette sprach, sagte: Bald! Bald! Ueberraschen will er mich. Sie wissen doch, ich habe einen Brief unterschreiben müssen, daß die Thénardiers sie herausgeben sollen. Dagegen können sie nichts machen, nicht wahr? Sie werden sie frei lassen. Sie haben ja ihr Geld gekriegt. Die Obrigkeit duldet doch nicht, daß man ein Kind behält, wenn man sein Geld gekriegt hat. Schwester, verbieten Sie mir nicht, daß ich spreche. Ich bin über die Maßen glücklich; ich fühle mich wohl; es thut mir nichts mehr weh, nun ich Cosette wiedersehen werde; ich habe sogar Hunger. Es sind nahezu fünf Jahre, daß ich sie nicht gesehen habe. Sie, Schwester, Sie können Sich nicht vorstellen, wie sehr man an einem Kinde hängen kann. Sie wird auch sehr niedlich und nett sein, Sie werden sehen! Wenn Sie wüßten, was für hübsche rosige Fingerchen sie hat! Ueberhaupt bekommt sie mal sehr schöne Hände. Als sie ein Jahr alt war, hatte sie ganz lächerlich kleine Hände. — Jetzt muß sie schon groß sein. Ja ja, das ist nun schon seine sieben Jahre alt und ist schon ein Fräulein. Ich nenne sie Cosette, aber sie heißt eigentlich Euphrasia. Heute früh, wie ich nach dem Staub auf dem Gesims hinsah, kam mir der Gedanke, ich würde Cosette bald wiedersehen. Lieber Gott? Es ist unrecht, daß man Jahre hingehen läßt und sieht seine Kinder nicht. Man sollte doch bedenken, daß man nicht ewig lebt. Ach, wie gut ist der Herr Bürgermeister, daß er die Reise unternommen hat. Ist das wahr, daß es so kalt ist? Hatte er wenigstens seinen Mantel um? Morgen ist er wieder zurück, nicht wahr? Morgen ist ein Festtag für mich. Schwester, erinnern Sie mich morgen früh daran, daß ich mein Häubchen mit den Spitzen aufsetze. Montfermeil ist ein Dorf. Da bin ich seiner Zeit zu Fuß durchgekommen. Das war sehr weit für mich. Aber mit der Post geht’s schnell. Morgen wird er mit Cosette hier sein. Wie weit ist es von hier bis Montfermeil?«

Die Schwester, die keine Ahnung von der Entfernung hatte, antwortete:

»Oh, morgen, glaube ich, kann er schon zurück sein.«

»Morgen! Morgen!« jubelte Fantine, »morgen werde ich sie wiedersehen. Himmlische, gute Schwester, ich bin nicht mehr krank. Ich bin blos närrisch. Ich könnte tanzen, wenn man’s verlangte.«

Wer sie eine Viertelstunde zuvor gesehen hatte, dem wäre es unmöglich gewesen, zu begreifen, was mit ihr vorgefallen war, so verändert war sie. Sie hatte ein rosiges Aussehen, sprach lebhaft und natürlich, ihr ganzes Wesen athmete Fröhlichkeit. Ab und zu lachte sie vergnügt vor sich hin. Mutterfreude gleicht fast der Freude des Kindes.

»Nun Sie also glücklich sind,« mahnte die Nonne wieder, »folgen Sie mir und sprechen Sie nicht.«

Fantine legte ihren Kopf auf das Kissen nieder und sagte halblaut: »Ja, leg’ Dich hin, sei vernünftig, Du bekommst ja jetzt Dein Kind wieder. Schwester Simplicia hat Recht. Alle haben hier Recht.«

Dann ließ sie, ohne sich zu bewegen, ihre weit geöffneten Augen fröhlich überall herumirren und sprach kein Wort mehr.

Die Schwester zog den Vorhang zu, in der Hoffnung, sie würde schlafen.

Zwischen sieben und acht Uhr kam der Arzt. Da er kein Geräusch hörte, glaubte er, Fantine schlafe, kam leise herein und ging auf den Fußspitzen an das Bett heran. Als er aber den Vorhang zurückschlug, sah er beim Schein des Nachtlichts Fantines ruhige Augen auf sich gerichtet.

»Nicht wahr, Herr Doktor,« fragte sie, »ich darf sie neben mir haben, in einem kleinen Bett?«

Er glaubte, sie phantasire. Sie fuhr fort:

»Da, sehen Sie, es ist gerade Platz genug.«

Der Arzt nahm Schwester Simplicia bei Seite und ließ sich den Hergang von ihr erklären. Herr Madeleine sei auf ein paar Tage verreist und da man nicht wisse, woran man sei, so habe man es nicht für rathsam erachtet, die Patientin, die der Hoffnung lebe, der Herr Bürgermeister sei nach Montfermeil aufgebrochen, eines Andern zu belehren; es wäre ja möglich, daß sie richtig gerathen hätte. Der Arzt billigte ihr Verhalten.

Er ging dann wieder zu Fantine, die redselig fortfuhr:

»Ich kann ihr dann nämlich, wenn das liebe Mäuschen aufwacht, guten Morgen sagen und sie des Nachts schlafen hören. Ich schlafe ja nicht. Ihren leisen Athem zu hören wird mir wohl thun.«

»Geben Sie mir Ihre Hand!« sagte der Arzt.

Sie hielt lachend ihren Arm hin.

»Ja so, Sie wissen noch nicht, daß ich jetzt wieder vollständig gesund bin. Cosette kommt morgen.«

Der Arzt war sehr verwundert. Es ging ihr besser. Die Beklemmung hatte abgenommen, der Puls war kräftiger. Eine neue Lebenskraft beseelte jetzt den siechen Körper.

»Herr Doktor,« fragte sie, »hat Ihnen die Schwester mitgetheilt, daß der Herr Bürgermeister gegangen ist, mir mein Püppchen zu holen?«

Der Arzt empfahl, daß sie nicht sprechen und daß sie vor jeder heftigen Aufregung behütet werden solle. Er verordnete einen Aufguß von reiner Chinarinde und, falls das Fieber in der Nacht wieder auftreten würde, einen beruhigenden Trank. Als er Abschied nahm, sagte er zur Schwester: »Es geht besser. Wenn es das Glück wollte, daß der Herr Bürgermeister wirklich mit dem Kinde zurückkäme, — wer weiß, was der Ausgang sein würde? Es kommen erstaunliche Krisen vor, Krankheiten, die durch eine große Freude in ihrem Laufe plötzlich aufgehalten werden. Ich weiß ja recht gut, daß hier ein organisches, weit vorgeschrittenes Leiden vorliegt; aber der menschliche Körper ist ein so geheimnißvolles Ding. Am Ende würden wir sie vielleicht doch noch retten.«

Der Angekommene trifft Maßregeln, um wieder umzukehren

Es war nahe an acht Uhr Abends, als die Halbkutsche, die wir bis dicht vor ihren Bestimmungsort begleitet hatten, in den Thorweg des Postgebäudes zu Arras einfuhr. Madeleine stieg aus, gab auf die diensteifrigen Fragen der Kellner zerstreute Antworten, schickte das Aushülfspferd zurück und führte persönlich den Schimmel in den Stall; dann stieß er die Thür eines Billardsaales im Erdgeschoß auf, setzte sich und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Er hatte statt sechs Stunden vierzehn zu dieser Reise gebraucht. Es war nicht seine Schuld, das durfte er sich sagen; aber in seines Herzens Grunde bedauerte er es nicht.

Die Wirtin kam herein und fragte:

»Bleibt der Herr die Nacht hier? Will der Herr hier speisen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Aber der Stallknecht sagt, daß dem Herrn sein Pferd sehr müde ist.«

Jetzt brach er das Stillschweigen:

»Wird das Pferd nicht morgen früh wieder reisefähig sein?«

»Bewahre! Das Thier braucht mindestens zwei Tage Ruhe.«

»Ist das hier nicht das Postbüreau?«

»Ja, mein Herr.«

Die Wirthin führte ihn nach dem Büreau hin. Er zeigte seinen Paß vor und erkundigte sich, ob es sich möglich machen ließe, noch in derselben Nacht nach Montreuil-sur-Mer zurückzukehren. Da der Platz neben dem Kurier gerade noch nicht besetzt war, so belegte er ihn und bezahlte. »Mein Herr,« ermahnte ihn der Beamte, »seien Sie recht pünktlich. Die Abfahrt findet Punkt ein Uhr Nachts statt.«

Nachdem er dies besorgt, verließ er das Hotel und wanderte die Straßen entlang.

Er war in Arras nicht bekannt und ging in der Dunkelheit auf’s Gerathewohl vor sich hin. Es hatte den Anschein, als wolle er durchaus nicht nach dem Wege fragen. Er ging über den kleinen Fluß Crinchon und gerieth in einen Wirrwarr von engen Gassen, wo er sich verirrte. Da sah er einen Herrn mit einer Stocklaterne und bequemte sich dazu, diesen zu fragen, sah sich aber erst nach allen Seiten um, als fürchte er, Jemand könne seine Frage mit anhören.

»Verzeihung, wie komme ich hier nach dem Gerichtsgebäude?«

»Sie sind nicht von hier, mein Herr,« antwortete der Angeredete, der ein ziemlich bejahrter Mann war. »Kommen Sie mit mir. Ich gehe gerade in die Gegend, wo das Gerichtsgebäude, d. h. die Präfektur, gelegen ist. Das Gerichtsgebäude wird nämlich jetzt reparirt, und vorläufig werden die Gerichtssitzungen im Präfekturgebäude abgehalten.«

»Dort tagt doch auch das Schwurgericht?«

»Gewiß, mein Herr. Was nämlich gegenwärtig die Präfektur ist, das war vor der Revolution der bischöfliche Palast. Herr de Conzié, der 1782 Bischof war, hat dazumal einen großen Saal darin bauen lassen, und in dem Saal werden jetzt die Verhandlungen geführt.«

Unterwegs bemerkte Madeleines Führer im Laufe des Gesprächs:

»Wenn der Herr einem Prozeß beizuwohnen wünscht, so ist es ein wenig spät dazu. Gewöhnlich sind die Sitzungen um sechs Uhr aus.«

Als sie indessen auf dem großen Platz ankamen, wies der Herr auf vier hohe Fenster eines düstern Gebäudes, die erleuchtet waren.

»Sieh Einer an! Sie kommen noch zurecht! Sie haben Glück. Die vier Fenster da gehören zu dem Saal, wo das Schwurgericht seine Sitzung hält. Sie sind hell. Also ist die Verhandlung noch nicht zu Ende. Die Sache wird sich in die Länge gezogen haben, und nun halten sie eine Abendsitzung. Sie interessiren Sich für die Sache? Ist es ein Kriminalprozeß? Sind Sie als Zeuge vorgeladen?«

Er antwortete:

»Ich komme nicht wegen eines Prozesses. Ich wollte nur einen Rechtsanwalt sprechen.«

»Das ist was Andres. Die Thür da, wo die Schildwache steht. Sie brauchen dann blos die große Treppe hinaufzugehn.«

Er folgte der Weisung und befand sich nach wenigen Minuten in dem Saal, wo viel Leute waren und Zuhörer aus dem Publikum sich hier und da leise mit Anwälten unterhielten.

Es schnürt einem immer das Herz zusammen, wenn man diese schwarz gekleideten Männer in Gerichtssälen beisammen sieht. Wie selten sind Erbarmen und Mitleid das Ergebniß solcher Gespräche! Statt dessen fast immer im Voraus beschlossene Verurtheilungen. Der Beobachter denkt leicht an Hummeln, die mit Gebrumm in der Erde dunkle Gänge wühlen.

Der Raum, in dem er sich befand, und der nur von einer Lampe erleuchtet wurde, war nur ein Vorzimmer. Eine, in dem Augenblick, verschlossene, zweiflügelige Thür trennte ihn von dem Saal, wo das Schwurgericht seine Sitzung abhielt.

Die Dunkelheit war so groß, daß Madeleine kein Bedenken trug, sich an den ersten Advokaten zu wenden, dem er gerade begegnete:

»Wie weit ist die Verhandlung gediehen, wenn ich fragen darf?«

»Sie ist zu Ende.«

»Zu Ende!«

Dies kam mit solcher Betonung heraus, daß der Advokat sich umwendete:

»Verzeihung, mein Herr, Sie haben wohl ein persönliches Interesse an dem Fall?«

»Nein, ich kenne Niemand hier. Hat es eine Verurteilung gegeben?«

»Gewiß. Anders konnte die Sache nicht werden.«

»Zuchthaus?«

»Auf Lebenszeit«

Mit so schwacher Stimme, daß man ihn kaum verstehen konnte, fuhr Madeleine fort:

»Seine Identität ist also festgestellt worden?«

»Was für eine Identität?« Es handelte sich überhaupt nicht um dergleichen. Die Sache lag sehr einfach. Die Frau hatte ihr Kind umgebracht, der Kindesmord ist nachgewiesen worden, die Geschworenen haben die Frage, ob die That vorsätzlich war, verneint und sie auf Lebenszeit verurtheilt.

»Also eine Frau?«

»Ja freilich. Die unverehelichte Limosin. Wovon sprachen Sie eigentlich?«

»Wenn die Verhandlung aber zu Ende ist, wie kommt es dann, daß noch Licht im Saal ist?«

»Das betrifft die andre Verhandlung, die vor ungefähr zwei Stunden angefangen hat.«

»Welche andre Verhandlung?«

»O, auch ein Fall, der klar genug ist. Da handelt es sich um einen rückfälligen Verbrecher, einen ehemaligen Galeerensklaven, der einen Diebstahl begangen hat. Auf seinen Namen kann ich mich jetzt nicht besinnen. Sieht der Kerl banditenmäßig aus! Den würde ich blos seiner Physiognomie wegen zu Zuchthaus verdonnern.«

»Verzeihung, kann man wohl in den Saal hineingelangen?«

»Kaum. Der Andrang ist ein gar zu starker. Aber jetzt ist ein Teil Leute weggegangen. Wenn die Sitzung wieder aufgenommen wird, können Sie es versuchen.«

»Wo ist der Eingang?«

»Die große Thür da!«

Der Rechtsanwalt ging davon. Während der wenigen Augenblicke, die das Gespräch gedauert hatte, waren alle nur möglichen Empfindungen fast zu gleicher Zeit auf den unglücklichen Madeleine eingestürmt. Die Worte des Advokaten hatten ihm abwechselnd wie Eisnadeln und glühendes Eisen das Herz durchbohrt. Als er erfuhr, daß die Sache noch nicht zum Abschluß gediehen war, athmete er auf; aber er hätte nicht angeben können, ob ihm bei dieser Kunde wohl oder wehe um’s Herz war.

Er näherte sich mehreren Gruppen und hörte, was man sich erzählte. Da in dieser Sitzungsperiode sehr viel Prozesse zu erledigen waren, so hatte der Vorsitzende für den heutigen Tag zwei einfache Fälle angesetzt. Mit dem Kindsmord hatte man angefangen und jetzt beschäftigte man sich mit dem Rückfälligen. Der Mann sollte Aepfel gestohlen haben; aber für diese Beschuldigung waren keine ausreichenden Beweise erbracht; nur das war jetzt festgestellt, daß er schon im Zuchthause zu Toulon gesessen hatte. Das verschlimmerte seine Sache. Uebrigens war das Verhör des Angeklagten und die Vernehmung der Zeugen beendigt; aber die Rede des Vertheidigers und des Staatsanwalts mußte noch gehört werden; vor Mitternacht konnte die Sache nicht vorbei sein. Der Kerl wurde ganz gewiß verurtheilt; denn der Staatsanwalt war ein schneidiger Mann, dem die Angeklagten nicht so leicht entschlüpften. Ein gescheidter Mann, der dichtete!

Madeleine fragte den Gerichtsboten, der vor der Eingangsthür des Schwurgerichtssaales stand:

»Wird die Thür bald aufgemacht?«

»Sie wird überhaupt nicht aufgemacht werden.«

»Wie! Sie wird nicht aufgemacht, wenn die Verhandlung beginnt? Sie ist doch jetzt unterbrochen?«

»Die Verhandlung hat schon wieder angefangen, aber die Thür wird nicht wieder aufgemacht.«

»Warum?«

»Weil der Saal schon überfüllt ist.«

»Was? Kein Platz mehr?«

»Kein einziger. Die Thür ist zu. Es darf Niemand mehr hinein.«

Nach einer Pause fügte er hinzu: »Zwei oder drei Plätze hinter dem Herrn Vorsitzenden sind wohl noch frei, aber die vergiebt der Herr Vorsitzende nur an hohe Beamte.«

Mit diesen Worten drehte ihm der Gerichtsbote den Rücken zu.

Madeleine ging mit gesenktem Haupte davon, durch das Vorzimmer hindurch und die Treppe hinunter mit langsamen Schritten, als zaudere er. Offenbar pflog er Rath mit sich selber. Der heftige Kampf, der seit dem Tage vorher in seinem Innern tobte, war noch nicht zu Ende und nahm in jedem Augenblick nur eine neue Form an. Als er auf dem Treppenabsatz angelangt war, lehnte er sich an das Geländer und kreuzte die Arme über die Brust. Plötzlich knöpfte er seinen Rock auf, zog sein Portefeuille hervor, entnahm ihm einen Bleistift, riß ein Blatt ab und schrieb bei dem Licht der Laterne: Madeleine, Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer. Dann stieg er eilig die Treppe wieder hinauf, drängte sich durch das Publikum an den Gerichtsboten heran und sagte mit gebieterischem Ton: »Ueberbringen Sie diesen Zettel dem Herrn Vorsitzenden.«

Der Gerichtsbote nahm den Zettel in Empfang, warf einen Blick darauf und gehorchte.

Eine Vergünstigung

Der Bürgermeister war, ohne daß er eine rechte Ahnung davon hatte, eine Art Berühmtheit. Nachdem die ganze Gegend um Boulogne seines Lobes voll geworden, verbreitete sich der Ruf seiner Tüchtigkeit und Herzensgüte auch über die drei oder vier angrenzenden Departements. Abgesehen von dem großen Verdienst, daß er in dem Hauptorte seiner Gegend die Glasindustrie in Flor gebracht hatte, gab es unter den hunderteinundvierzig Kommunen des Arrondissements Montreuil-sur-Mer nicht eine, die ihm nicht irgend eine Wohlthat verdankte. So hatte er seiner Zeit mit seinem Kredit und seinem Kapital die Tüllfabrik in Boulogne, die Flachsspinnerei zu Frévent und die hydraulische Leinwandfabrik in Boubers-sur-Canche gehalten. Ueberall sprach man den Namen des Herrn Madeleine mit Hochachtung aus. Arras und Douais beneideten das glückliche kleine Montreuil-sur-Mer um seinen Bürgermeister.

Der Gerichtsrath, der während dieser Sitzungsperiode in Arras den Vorsitz führte, kannte wie jeder Andere den Namen des so hoch und so allgemein verehrten Mannes. Als daher der Gerichtsbote leise die Thür öffnete, sich von hinten über den Stuhl des Vorsitzenden beugte und ihm den erwähnten Zettel überreichte, mit den Worten: »Der Herr wünscht der Sitzung beiwohnen zu dürfen«, nickte der Vorsitzende lebhaft und mit einem Ausdruck der Hochachtung, ergriff eine Feder, schrieb einige Worte auf den Zettel und übergab ihn dem Gerichtsboten mit der Weisung: »Ersuchen Sie den Herrn Bürgermeister näher zu treten.«

Der Unglückliche, dessen Geschichte wir erzählen, war mittlerweile an derselben Stelle und in derselben Haltung stehen geblieben. Da wurde er aus seinen Gedanken durch eine Stimme geweckt, die zu ihm sagte: »Wollen der Herr Bürgermeister mir die Ehre erweisen und mir folgen?« Es war derselbe Gerichtsbote, der ihm kurz zuvor den Rücken zugedreht und der sich jetzt bis zur Erde verneigte, indem er ihm den Zettel überreichte. Madeleine faltete ihn auseinander und las bei dem Schein der Lampe, in deren Nähe er gerade stand, die Worte: »Der Vorsitzende des Schwurgerichts heißt den Herrn Bürgermeister mit ergebender Hochachtung willkommen.«

Er zerknitterte das Papier in seiner Hand, als enthielten diese Worte für ihn einen herben, unangenehmen Sinn.

Dann folgte er dem Gerichtsboten.

Ein paar Minuten nachher stand er allein in einem von zwei Kerzen erleuchteten, mit Tafelwerk verkleideten Kabinett von strengem Aussehen. Noch klangen ihm die Worte des Gerichtsboten in den Ohren: »Der Herr Bürgermeister befinden Sich im Berathungszimmer. Sie brauchen blos die Thür da aufzuklinken, so befinden Sie Sich in dem Sitzungssaal hinter dem Stuhl des Herrn Vorsitzenden.« Mit diesen Worten vermischte sich noch eine unklare Erinnerung an enge Treppen und dunkele Korridore, durch die er so eben hindurchgekommen.

Der Gerichtsbote hatte ihn also allein gelassen, und der Augenblick der Entscheidung war gekommen. Er bemühte sich jetzt seine Gedanken zu sammeln, aber vergeblich. Denn gerade, wenn man sie am nöthigsten braucht, um sie mit der Wirklichkeit zu verknüpfen, reißen die Fäden der Ideen im Gehirn. Madeleine befand sich jetzt an dem Ort selber, wo die Richter berathen und verurtheilen. Er sah sich mit stumpfer Gemüthsruhe in diesem stillen und fürchterlichen Zimmer um, wo so viele Existenzen vernichtet worden waren, wo bald sein Name ausgesprochen werden, in dem sein Geschick an einen Wendepunkt gelangen sollte. Er sah die Wände, sah sich selber an und staunte, daß er hier stand.

Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts genossen, und war auf den holprigen Wegen empfindlich gerüttelt worden; aber er fühlte jetzt keinen Hunger, keine Müdigkeit, überhaupt nichts.

An der Wand hing in einem schwarzen Rahmen und unter Glas ein alter Brief von Jean Nicolas Pache, Bürgermeister von Paris und Minister, wohl irrthümlich vom 9. Juni des Jahres 2 datirt, worin Pache der Commune das Verzeichniß der bei ihm in Haft gehaltnen Minister und Abgeordneten übersandte. Diesen Brief studierte Madeleine, und wer ihn dabei hätte beobachten können, würde leicht auf den Gedanken gekommen sein, er müsse ihn sehr interessiren, denn Madeleine verwandte kein Auge davon und las ihn zwei bis drei Mal durch. Gleichwohl verstand er nicht, was er las. Er dachte in dem Augenblick an Fantine und Cosette.

In diese Gedanken versunken wandte er sich von dem Briefe ab, und sein Blick fiel auf die Thür, die ihn von dem Sitzungssaal trennte. Er hatte sie so gut wie vergessen. Bei diesem Anblick wurden seine Augen allmählich starr und nahmen einen Ausdruck der Bestürzung — des Entsetzens an. Angstschweiß trat zwischen seinen Haaren hervor und rieselte über seine Schläfen herab.

Einen Augenblick machte er mit Entschiedenheit jene Gebärde, die da bedeutet: Bin ich denn dazu gezwungen? Dann wandte er sich rasch um, sah die Thür, zu der er hereingekommen, ging darauf zu und eilte hinaus. Jetzt war er nicht mehr in dem Schreckenszimmer, sondern draußen, in einem langen schmalen Korridor mit Treppenstufen und Schaltern, wo Laternen ein trübes Licht verbreiteten, demselben, wo er eben hergekommen war. Er athmete auf, lauschte. Kein Geräusch vorn noch hinten. Nun rannte er, als hätte er Verfolger hinter sich.

Als er um mehrere Ecken herumgebogen war, horchte er wieder. Immer noch dieselbe Stille und dasselbe düstere Halbdunkel. Er war außer Athem und schwankte, so daß er sich an die Wand anlehnen mußte. Die Steine waren kalt, der Schweiß auf seiner Stirn eisig, und er richtete sich wieder auf, indem ihn schauderte.

Hier stand er nun, bebend vor Kälte und wohl noch aus einem andern Grunde, und sann nach.

Die ganze Nacht, den ganzen Tag über hatte er so gesonnen, und jetzt hörte er in seinem Innern nur noch eine Stimme, die zu ihm sprach: »Es muß sein!«

So verfloß eine Viertelstunde. Endlich senkte er den Kopf auf die Brust, seufzte qualvoll, ließ die Arme hängen und kehrte um, langsam und überwältigt von seinem Schmerz. Es war, als hätte ihn ein Verfolger auf der Flucht eingeholt und bringe ihn jetzt zurück.

Er ging also nach dem Berathungszimmer zurück. Das Erste, worauf sein Blick fiel, war die glänzende Klinke, die ihm wie ein Unglücksstein in die Augen leuchtete. Er sah sie an, wie ein Lamm in das Auge eines Tigers blickt.

Er konnte die Blicke nicht davon abwenden.

Ab und zu that er einen Schritt und kam näher heran.

Hätte er aufgehorcht, so wäre aus dem Saale nebenan ein verworrenes Gesumme an sein Ohr gedrungen; aber er hörte nicht hin.

Endlich, ohne zu wissen wie, stand er vor der Thür, griff krampfhaft nach der Klinke und öffnete die Thür.

Er befand sich in dem Sitzungssaal.

Ein Ort, wo man sich eine Überzeugung bildet

Madeleine trat vor, machte mechanisch die Thür hinter sich zu und blieb stehen, um in dem Saale Umschau zu halten.

Es war ein großer schwach erleuchteter, bald mit Lärm erfüllter, bald stiller Raum, wo die Gerechtigkeit in ärmlicher und schauriger Majestät mitten unter dem Volke prangte.

An dem einen Ende des Saales, wo er selber stand, zerstreute Richter im abgetragenen Amtskleid, mit dem Abknabbern ihrer Nägel oder mit Schlafen beschäftigt; an dem anderen Ende zerlumpter Pöbel; Advokaten in allen möglichen Stellungen; Soldaten mit ehrlichen und groben Gesichtern dazu; altes fleckiges Getäfel; ein schmutziger Plafond; einige mit gelb gewordener, grüner Sersche überzogene Tische; schmuddlige Thüren; mit Nägeln in dem Getäfel befestigte Lampen, die mehr Rauch, als Helligkeit verbreiteten; auf den Tischen Talglichter in kupfernen Leuchtern; Mangel an Licht, an Zierrath, an Heiterkeit, und darüber waltete die strenge Erhabenheit des von Menschen geschaffenen Gesetzes und der von Gott gewollten Gerechtigkeit.

Niemand beachtete ihn. Alle Augen waren auf einen Punkt gerichtet, eine, an eine kleine Pforte gelehnte Bank, linker Hand von dem Stuhl des Vorsitzenden. Aus dieser Bank, die von mehreren Talglichtern beleuchtet war, saß ein Mann zwischen Gendarmen.

Dieser Mann war »Er.«

Madeleine sah ihn, ohne daß er ihn zu suchen brauchte. Seine Augen richteten sich von selbst dahin, als hätten sie gewußt, wo er saß.

Madeleine glaubte sich selber zu sehen, gealtert, allerdings nicht dasselbe Gesicht, aber dieselbe Haltung und dieselbe Erscheinung, dasselbe starre Haar, derselbe scheue und wilde Ausdruck der Augen, derselbe Kittel; kurz so, wie er damals in Digne umherirrte, mit haßerfülltem Herzen.

Ihn schauderte bei dem Gedanken, daß er wieder so werden könne.

Der Mensch sah aus, als sei er mindestens sechzig Jahre alt. Zudem roh, stumpf, verschüchtert.

Als Madeleine eintrat, waren Alle ausgewichen, ihm Platz zu machen. Der Präsident hatte sich umgewendet, und da er errieth, daß der Ankömmling der Herr Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer sei, sich verneigt. Der Staatsanwalt, den öfters Amtsgeschäfte mit ihm zusammenführten, erkannte ihn und verneigte sich gleichfalls. Er beachtete das kaum. War er doch gleichsam von Traumnebeln umsponnen und mit dem Schauspiel vor ihm beschäftigt.

Richter, Gerichtsschreiber, Gendarmen, grausame Zuschauer, das hatte er schon einmal gesehen, ehemals, vor siebenundzwanzig Jahren. Diese Schrecknisse fand er jetzt wieder; sie waren da vor ihm, sie existirten. Nicht eine Arbeit seines Gedächtnisses hatte sie da hingezaubert, es waren wirkliche Gendarmen und Richter, wirkliche Zuschauer, Menschen aus Fleisch und Blut. Damit lebte seine ganze gräßliche Vergangenheit wieder auf; der alte Abgrund gähnte ihm entgegen.

Er schrak zurück, drückte die Augen zu und rief in seinem innersten Herzen: »Nun und nimmermehr!«

Und die Tragik seines Geschicks, die alle seine Gedanken bis zum Wahnsinn verwirrte, fügte es, daß ein anderes Ich von ihm da vor ihm saß! Den Mann auf der Anklagebank nannten Alle Jean Valjean!

Vor seinen Augen führte sein Phantom ein ungeheuerliches Schauspiel auf, das den schrecklichsten Augenblick seines Lebens darstellte.

Alles war hier wieder vertreten, dasselbe Gepränge, dieselbe nächtliche Stunde, fast dieselben Gesichter. Nur daß über dem Präsidenten ein Kruzifix hing, was zur Zeit seiner Verurtheilung nicht der Brauch war. Als sein Urtheil gefällt wurde, war Gott nicht da.

Entsetzt über den Gedanken, daß man ihn sehen könnte, sank er auf einen Stuhl nieder, der hinter ihm stand, und machte sich einen Haufen auf einander geschichteter Cartons, die auf dem Tisch der Richter lagen, zu Nutze, um sein Gesicht zu verstecken. Er konnte jetzt sehen, ohne gesehen zu werden. Allmählich erholte er sich von seinem Schrecken, bekam wieder Fühlung mit der Wirklichkeit und wurde ruhiger, so daß er der Verhandlung folgen konnte.

Unter den Geschwornen erblickte er Bamatabeis.

Er sah sich auch nach Javert um, konnte ihn aber nicht entdecken, weil ihm der Tisch des Gerichtsschreibers die Bank, auf der die Zeugen saßen, verdeckte. Zudem war, wie schon erwähnt, der Saal mangelhaft erleuchtet.

Als Madeleine hereinkam, war der Rechtsbeistand des Angeklagten gerade mit seiner Rede fertig geworden. Die allgemeine Aufmerksamkeit war aufs äußerste gespannt. Seit drei Stunden häufte sich eine erschreckliche Anzahl von Beweismomenten auf dem Haupte jenes unbekannten Menschen, jenes verkommenen, entweder überaus stumpfsinnigen oder überaus pfiffigen Patrons. Der Mann war, wie wir schon gesagt haben, ein Strolch, den man auf einem Felde aufgegriffen hatte, als er aus einem benachbarten Garten einen Ast voll reifer Aepfel davon trug. Wer war dieser Mensch? Erhebungen waren angestellt, Zeugen waren vernommen worden; die Aussagen stimmten überein, die ganzen Erörterungen hatten Klarheit geschafft. Die Anklagebehörde sagte: »Wir haben hier nicht blos einen Apfeldieb vor uns, sondern einen Räuber, einen bannbrüchigen, rückfälligen Verbrecher, einen ehemaligen Zuchthausinsassen, ein überaus gefährliches Subjekt, einen Uebelthäter Namens Jean Valjean. auf den die Gerechtigkeit seit langer Zeit fahndet, und der vor acht Jahren, als er eben aus dem Zuchthaus entlassen war, auf öffentlicher Landstraße einen kleinen Savoyarden Namens Gervais mit bewaffneter Hand beraubt hat, ein §383 des Strafgesetzbuches vorgesehenes Verbrechen, für das er sich späterhin zu verantworten haben wird, wenn erst die Frage nach der Identität des Angeklagten gelöst ist. Er hat sich eines neuen Diebstahls schuldig gemacht. Also handelt es sich hier um einen Rückfall. Verurteilen Sie ihn wegen des letzten Vergehens; der ältere Fall möge später abgeurtheilt werden.« — Diese Anklagen, diesen Zeugenaussagen gegenüber nahm der Angeklagte eine verdutzte Miene an, machte Gebärden, die Nein bedeuten sollten, oder er blickte zur Decke empor. Das Sprechen wurde ihm schwer, seine Antworten bekundeten Verlegenheit, aber von Kopf bis zu Fuß war sein ganzes Wesen eine einzige Ableugnung. Er saß wie ein Blödsinniger unter all diesen Feinden, die mit ausgesuchter Schlauheit Armeen von Gründen gegen ihn ins Feld führten, und wie ein Fremder in der Gesellschaft, die über ihn herfallen wollte. Dabei drohte ihm die äußerste Gefahr, die Wahrscheinlichkeit erklärte sich mehr und mehr gegen ihn, und Alle erwarteten mit mehr Spannung, als er selber, ein schreckliches Urtheil. Stand ihm doch möglicher Weise nicht etwa blos das Zuchthaus, sondern sogar die Todesstrafe bevor, wenn die Identitätsfrage gegen ihn entschieden wurde, und wenn der Fall Gervais mit einer Verurtheilung endete. Welcher Art in aller Welt war der Stumpfsinn dieses Menschen? Schwachsinn oder Pfiffigkeit? Begriff er die Sache zu gut oder gar nicht? Alles Fragen, die von dem Publikum und, allem Anschein nach, auch von den Geschwornen verschieden beantwortet wurden. Dieser Prozeß hatte nicht nur etwas Furchtbares, sondern auch Räthselhaftes; die Entwicklung des Dramas war nicht blos eine grausige, sondern auch eine unklare.

Der Vertheidiger des Angeklagten hatte also schon seine Rede gehalten, eine Rede in jenem feierlichen und pompösen Stil, dessen sich ehemals alle Advokaten bedienten und der heutzutage nur noch bei den Staatsanwälten beliebt ist. — Der Vertheidiger also hatte sich über den Apfeldiebstahl des Weiteren ausgelassen, einen simplen Gegenstand, zu dessen Erörterung elegante Floskeln nicht paßten; aber Bénigne Bossuet selber hat einst, mitten in einer hochfeierlichen Leichenrede, eine Anspielung auf ein vulgäres Huhn machen müssen und mit Pomp die schwierige Aufgabe gelöst. Der Verteidiger hatte gezeigt, daß der Diebstahl nicht materiell bewiesen war. Sein Klient, den er als Vertheidiger mit gutem Bedacht Champmathieu nannte, war von Niemand bei dem angeblichen Einbruch in den Garten gesehen worden. Man hatte den Zweig in seinem Besitz gefunden, aber er behauptete, der Zweig habe an der Erde gelegen, und er habe ihn einfach aufgehoben. Wo sei ein Beweis für das Gegentheil? Gewiß war der Zweig von einem Diebe, der über die Mauer geklettert war, abgerissen und dann weggeworfen worden. Aber womit beweise man, daß Champmathieu dieser Dieb war? Nur mit dem Umstande, daß er ehemals im Zuchthaus gesessen habe. Der Rechtsanwalt leugnete nicht, daß diese Thatsache leider richtig erwiesen sei. Denn der Angeklagte sei in Faverolles wohnhaft gewesen, habe das Handwerk eines Baumputzers betrieben; auch könne der Name Champmathieu sehr wohl aus Jean Mathieu umgewandelt sein; alles dies sei richtig; endlich hätten vier Zeugen mit Sicherheit in Champmathieu den Sträfling Jean Valjean wiedererkannt; diesen Ermittelungen und Aussagen könne er, der Vertheidiger, nur die Thatsache gegenüberstellen, daß sein Klient Alles bestreite. Zwar habe er ein Interesse daran, zu leugnen. Aber gesetzt auch, er sei der Sträfling Jean Valjean, wäre damit bewiesen, daß er die Aepfel gestohlen habe? Das sei doch nur eine Muthmaßung; keinesfalls ein Beweis. Allerdings, das müsse er, um der Wahrheit die Ehre zu geben, gestehen, daß der Angeklagte ein schlechtes Vertheidigungssystem angenommen habe. Er leugne hartnäckig Alles, daß er den Diebstahl begangen, und daß er ein ehemaliger Galeerensklave sei. Das Eingeständnis letzterer Thatsache wäre vernünftiger gewesen und würde ihm Ansprüche auf die Nachsicht der Richter verschaffen; er habe ihm auch dazu gerathen; aber Angeklagter habe sich dessen hartnäckig geweigert, in der Meinung, er könne Alles retten, wenn er nichts gestehe. Das sei unrecht; aber solle man nicht Rücksicht nehmen auf die Unzulänglichkeit seiner Intelligenz? Die lange Haft im Zuchthaus, das lange Elend nachher hätten den Unglücklichen abgestumpft, verthiert. U.s.w., u.s.w. Angeklagter vertheidige sich schlecht; sei dies aber ein Grund ihn zu verurteilen? Was den Fall Gervais betreffe, so befasse er sich nicht damit, da er nicht zur Sache gehöre. Der Vertheidiger beschloß also seine Rede mit einer inständigen Bitte an die Geschworenen und den Gerichtshof, sie möchten, wenn ihnen Jean Valjeans Identität gehörig erwiesen scheine, über ihn die Polizeistrafen als bannbrüchigen Verbrecher verhängen, nicht aber die entsetzliche Strafe, die rückfällige Verbrecher trifft.

Jetzt antwortete der Staatsanwalt dem Vertheidiger in einer energischen und blumenreichen Rede, nach Art aller Staatsanwälte.

Er wünschte dem Vertheidiger Glück zu seiner »Aufrichtigkeit« und machte sie sich weidlich zu Nutze. Aus allen Zugeständnissen seines Vorredners schmiedete er sich Waffen gegen den Angeklagten. Der Vertheidiger gebe offenbar zu, daß der Angeklagte Jean Valjean sei. Dies nahm er ad notam. Der Angeklagte sei also Jean Valjean. Dieser Punkt sei hiermit erwiesen und lasse sich nicht mehr anfechten. Hier schweifte der Herr Staatsanwalt mittels einer geschickten Antonomasie vom Thema ab, indem er auf die Quellen und Ursachen der Verbrechen zu sprechen kam, und donnerte machtvoll gegen die Unsittlichkeit der Romantiker, denen die Kritiker der Quotidienne und der Oriflamme den Titel »satanische Schule« angehängt hatten. Auf den Einfluß dieser schändlichen Schriftsteller führte er mit einer großartigen Logik Champmathieus oder richtiger Jean Valjeans Vergehen zurück. Nach gründlicher Erörterung dieses Punktes ging er zu Jean Valjeans Persönlichkeit über. Beschreibung Jean Valjeans: »Ein Ungeheuer, wie die Hölle nie ein scheußlicheres ausgespieen« u.s.w. Frei nach Racine, dessen berühmte Episode zwar für den Gang der betreffenden Tragödie überflüssig ist, der gerichtlichen Beredtsamkeit aber als eine unschätzbare Fundgrube tagtäglich schätzbare Dienste leistet. Selbstredend erbebten auch Publikum und Geschworene bei dieser schönen Charakterisirung Jean Valjeans. Darauf eine schwungvolle Wendung, die im höchsten Grade geeignet war, dem Redner die Bewunderung des Journal de la Préfecture zu sichern: Und ein solcher Mensch u.s.w. u.s.w., ein Landstreicher, ein Bettler u.s.w. u.s.w., ohne Existenzmittel u.s.w., der durch sein Vorleben zu allen Schandthaten fähig geworden und durch seinen Aufenthalt im Zuchthaus nicht gebessert ist, wie das an dem kleinen Gervais begangene Verbrechen sattsam beweist, u.s.w. u.s.w., ein solcher, beim Diebstahl auf frischer That, in der Nähe der soeben überkletterten Gartenmauer, im Besitz des Diebstahlsobjektes ertappter Mensch leugnet das delictum fragrans, Diebstahl, Einbruch, leugnet Alles, leugnet seinen Namen, seine Identität. Hundert anderer Beweise, auf die wir nicht mehr zurückkommen, zu geschweigen, erkennen ihn vier Zeugen wieder, Javert, der pflichtgetreue Polizei-Inspektor Javert, und drei von den ehemaligen Genossen seiner Schande, Brevet, Chenildieu und Cochepaille. Was setzt er dieser erdrückenden Einstimmigkeit entgegen? Er streitet Alles ab. Welche Verstocktheit! Meine Herren Geschworenen, ich lebe und sterbe der Ueberzeugung, Sie werden den Arm der Gerechtigkeit nicht aufhalten wollen u.s.w. u.s.w. Dieser Rede hörte der Angeklagte mit offenem Munde, höchlich erstaunt und nicht ohne eine gewisse Bewunderung zu. Es überraschte ihn augenscheinlich, daß Jemand so schön reden könne. Hin und wieder, bei den »energischsten« Stellen, wenn der sittliche Unwille des Staatsanwalts überquoll und eine Fluth kräftiger Schimpfworte über den Angeklagten ergoß, wiegte Dieser langsam den Kopf von einer Seite zur anderen, eine Art schwermüthiger und stummer Protest, mit dem er sich seit dem Anfang der Verhandlung begnügte. Zwei oder drei Mal hörten die ihm zunächst saßen, wie er halblaut sagte: Das kommt davon, daß er Herrn Baloup nicht gefragt hat! — Auf dieses stumpfsinnige, offenbar berechnete Verhalten machte der Staatsanwalt die Geschworenen auch aufmerksam. Es bekunde nicht etwa Dummheit, nein! Schlauheit, List, seine Gewohnheit, die Gerechtigkeit zu hintergehen und lege die »tiefe Verderbtheit« dieses Menschen zu Tage. Er endigte mit einem Vorbehalt bezüglich des Falles Gervais und beantragte eine strenge Verurtheilung, also lebenslängliches Zuchthaus.

Nun erhob sich der Vertheidiger, machte dem Herrn Staatsanwalt Komplimente über sein »bewunderungswürdiges Rednertalent«, widerlegte ihn, so gut er konnte, aber nur schwach. Augenscheinlich fühlte er keinen festen Boden unter seinen Füßen.

Er legte sich aufs Leugnen

Die Verhandlung nahte sich hiermit ihrem Ende. Der Vorsitzende hieß den Angeklagten aufstehen und richtete an ihn die herkömmliche Frage: »Haben Sie etwas zu Ihrer Vertheidigung hinzuzufügen?«

Der Mann stand da, drehte seine greuliche Kappe in den Händen herum und schien nichts zu hören.

Der Vorsitzende wiederholte nun seine Frage:

Dies Mal hörte der Angeklagte. Es schien, als begriff er, worum es sich handelte, er machte Bewegungen wie Jemand, der aus dem Schlaf erwacht, ließ seine Blicke nach allen Seiten schweifen, sah das Publikum, die Gendarmen, seinen Rechtsbeistand, die Geschwornen, den Gerichtshof an, legte seine ungeheure Faust auf die Randleiste des Getäfels, das vor seiner Bank war, schaute sich wieder um, heftete dann seinen Blick auf den Staatsanwalt und begann plötzlich zu reden. So gewaltsam, mit solcher Ueberstürzung brachen die Worte aus seinem Munde hervor, daß es schien, als drängten sie sich alle zugleich aus seine Lippen, um alle zu gleicher Zeit herauszukommen.

»Ich habe zu sagen, daß ich Stellmacher in Paris gewesen bin, bei Herrn Baloup nämlich. Schwere Arbeit. Als Stellmacher arbeitet man immer im Freien, auf Höfen, bei guten Meistern unter einem Schuppen, nie in einem geschlossenen Raum, weil nämlich Platz dazu gehört. Im Winter friert Einen so, daß man die Arme übereinander schlagen muß, damit Einem warm wird, aber das wollen die Meister nicht, sie sagen, das nimmt Zeit weg. Eisen in den Händen halten, wenn das Wasser auf der Straße zu Eis gefriert, das ist eine eklig unangenehme Sache. Das nutzt einen Menschen rasch ab. Da wird mau schon alt bei, wenn man noch jung ist. Ist Einer vierzig Jahr alt geworden, dann ist er fertig. Ich hatte es auf dreiundfünfzig gebracht, und hatte meine liebe Noth, Dann sind auch die Arbeiter so boshafte Menschen. Ist ein armer Kerl nicht mehr jung, dann heißt’s bei jeder Gelegenheit Alter Stiefel!

Alter Dusel! Ich verdiente nur noch dreißig Sous den Tag; man bezahlte mich so schlecht wie möglich, die Meister machten’s sich nämlich zu Nutze, daß ich alt war. Ich hatte noch eine Tochter, die Waschfrau war. Die verdiente auch ein Bischen. Wir Beide zusammen, da ging es einiger Maßen. Placken mußte sie sich auch. Den ganzen Tag mit dem halben Leibe im Wasser, ob’s regnet, ob’s schneit, ob’s windig ist; wenn’s friert, trotz alledem, immer waschen! Manche Leute haben nicht viel Wäsche und warten drauf; werden ihre Sachen nicht gleich gewaschen, so kommen sie nicht wieder, und man verliert ihre Kundschaft. Dann sind die Bretter schlecht zusammengefügt, und überall fallen Tropfen. Die Kleider werden von oben und von unten naß. Da dringt Einem die Kälte bis ins Mark. Sie hat auch im Waschhaus der Enfants-Rouges gearbeitet, wo eine Wasserleitung ist. Da stehen die Frauen nicht im Zuber. Die Wäsche wird am Hahn gewaschen, und hinter den Waschfrauen stehen Gefäße, wo sie gespült wird. Da arbeiten sie nun nicht im Freien und frieren nicht, weil’s ein geschlossener Raum ist. Aber der heiße Wasserdunst ist schrecklich und ruiniert die Augen. Sie kam um sieben Uhr Abends nach Hause und ging bald zu Bett, so müde war sie. Ihr Mann keilte sie. Sie ist gestorben. Wir sind nicht sehr glücklich gewesen. Sie war ein recht braves Frauenzimmer; die ging nicht tanzen und war sehr still. Ich besinne mich noch auf eine Fastnacht, da lag sie schon um acht Uhr im Bett. So verhält sich die Sache. Ich spreche die Wahrheit. Erkundigen Sie Sich nur. Ja so, Erkundigungen! Ich bin ein Schafskopf. Paris ist wie ein Ameisenhaufen. Wer kennt da den Vater Champmathieu? Aber wenden Sie Sich nur an Herrn Baloup. Was Sie sonst noch von mir wollen, weiß ich nicht.«

Er schwieg und blieb stehen. Er hatte seine Rede mit lauter, rauher, harter, heisrer Stimme gehalten, in naivem, gereiztem und unwirschem Ton. Ein Mal hatte er seine Rede unterbrochen, um Einen unter den Zuhörern zu grüßen. Die Behauptungen, die er aufs Gerathewohl so zu sagen vor sich hinwarf, kamen ruckweise heraus, wie Schluckser, und er bekräftigte sie mit Gebärden, die an einen Holzhauer erinnerten. Als er zu Ende war, brachen die Zuhörer in ein Gelächter aus. Er sah das Publikum an, begriff nicht, warum die Leute lachten, und lachte dann mit.

Das war schaurig mit anzusehen für einen denkenden Zuschauer.

Der Vorsitzende, ein aufmerksamer und wohlwollender Mann, erhob die Stimme und erinnerte die Herren Geschwornen, daß der Herr Baloup, ehemaliger Stellmacher, bei dem Angeklagter gearbeitet zu haben angab, vergeblich vorgeladen worden sei. Er sei fallit erklärt, und sein Verbleib habe nicht ermittelt werden können. Dann wandte er sich zu dem Angeklagten und forderte ihn auf, ja zu beachten, was er ihm zu sagen hätte: »Sie befinden Sich in einer Lage, wo es sich der Mühe verlohnt, daß man nachdenkt. Eine Menge Umstände sprechen gegen Sie, und das kann die schlimmsten Folgen haben. Ich fordere Sie also zum letzten Mal auf, Angeklagter, sich klar und ausführlich über folgende zwei Fragen zu äußern: Haben Sie, ja oder nein, die Mauer des Pierronschen Gartens erklettert, den Ast abgebrochen und die Aepfel gestohlen, Sich also eines qualificirten Diebstahls schuldig gemacht? Zweitens, sind Sie oder sind Sie nicht der aus dem Zuchthaus entlassene Jean Valjean?«

Der Angeklagte schüttelte den Kopf verständnißinnig wie Einer, der sehr wohl begriffen hat, was man ihn gefragt, und der da weiß, was er zu antworten hat. Er that den Mund auf, wandte sich zu dem Vorsitzenden und sagte:

»Ueberhaupt …«, blickte auf seine Mütze, dann zur Decke empor und schwieg.

»Angeklagter,« fiel der Staatsanwalt mit strenger Stimme ein, »nehmen Sie Sich zusammen, Sie antworten auf nichts von alle dem, was man Sie fragt. Ihre Befangenheit verurtheilt Sie. Es ist sonnenklar, daß Sie nicht Champmathieu heißen, daß Sie der ehemalige Sträfling Jean Valjean sind, daß Sie zuerst den Namen Ihrer Mutter Mathieu geführt, daß Sie Sich in der Auvergne aufgehalten, daß Sie in Faverolles geboren sind, wo Sie Baumputzer waren. Es ist ferner sonnenklar, daß Sie reife Aepfel im Pierron’schen Garten gestohlen haben. Die Herren Geschworenen werden ein richtiges Urtheil zu finden wissen.«

Der Angeklagte, der sich gesetzt hatte, fuhr jetzt in die Höhe und rief dem Staatsanwalt zu:

»Sie sind ein sehr bösartiger Mensch! Jetzt will ich Ihnen sagen, was ich sagen wollte. Vorhin konnte ich blos nicht die richtigen Worte finden. Ich habe nichts gestohlen. Ich bin Einer, der nicht alle Tage satt zu essen hat. Ich kam von Ailly her. Es hatte gehörig geregnet, der Erdboden war ganz gelb, und die Wege standen unter Wasser; blos die Grashalme ragten heraus. Da habe ich einen abgebrochenen Zweig an der Erde gefunden und wußte nicht, daß mir das Ungelegenheiten machen würde. Nun sitze ich seit drei Monat im Gefängniß und werde überall rumgeschleppt. Sonst weiß ich nichts. Da wird mir alles Mögliche vorgeschmissen und dann heißt’s: Antworten Siel Der Gendarm, ein gemütlicher Mann, stößt mich auch mit dem Ellbogen an und flüstert: So antworte doch! Ich kann mich nicht ausdrücken, ich habe nichts gelernt, ich armer Teufel. Es ist unrecht, daß Keiner das einsieht. Ich habe nicht gestohlen; ich habe was aufgehoben, was auf der Erde lag. Sie sprechen von Jean Valjean und Jean Mathieu. Die Leute kenne ich nicht, die sind vom Lande. Ich habe in der Stadt bei Meister Baloup, Boulevard de l’Hopital gearbeitet. Ich heiße Champmathieu. Wenn Sie mir sagen können, wo ich geboren bin, so müssen Sie sehr kluge Leute sein. Ich weiß es nicht. Nicht Jeder hat ein Haus oder eine Wohnung, wo er zur Welt kommen kann. Das wäre zu bequem. Meine Eltern, glaube ich, waren Leute, die auf der Landstraße lebten. Aber ich weiß es nicht sicher. Als ich noch ein Kind war, hieß ich ›Kleiner‹, jetzt nennen sie mich ›Alter‹. Das sind meine Taufnamen. Glauben Sie das oder glauben Sie’s nicht. In der Auvergne und in Faverolles bin ich natürlich gewesen. Was ist denn aber dabei? Kann Einer denn nicht in der Auvergne und in Faverolles gewesen sein und muß er dann auch im Zuchthaus gesessen haben? Ich versichere Sie, ich habe nicht gestohlen und ich bin Vater Champmathieu. Ich habe bei Herrn Baloup gearbeitet und bin domizilirt gewesen. Lassen Sie mich jetzt zufrieden mit Ihrem Unsinn! Warum fällt denn Alles über mich her, als wenn die ganze Welt verrückt geworden wäre?«

Der Staatsanwalt, der stehen geblieben war, wendete sich jetzt an den Vorsitzenden:

»Herr Vorsitzender, Angesichts der verworrenen, aber schlauen Ableugnungen des Angeklagten, der den wilden Mann spielt, uns aber nicht täuschen wird, beantragen wir, daß die Sträflinge Brevet, Cochepaille und Chenildieu, sowie der Polizei-Inspektor Javert noch einmal in den Saal gerufen und zum letzten Mal befragt werden, ob sie in dem Angeklagten den ehemaligen Zuchthaussträfling Jean Valjean wiedererkennen.«

»Ich mache den Herrn Staatsanwalt darauf aufmerksam, daß der Inspektor Javert gleich nach seiner Vernehmung den Sitzungssaal und überhaupt die Stadt verlassen hat, da seine Berufsgeschäfte seine Anwesenheit in dem Hauptort eines benachbarten Arrondissements nothwendig machten. Wir haben ihn, mit Einwilligung des Herrn Staatsanwalts und des Herrn Vertheidigers dazu ermächtigt.«

»Sehr wohl, Herr Vorsitzender; dann glaube ich in Abwesenheit Herrn Javerts, den Herren Geschworenen seine Aussage wiederholen zu dürfen. Folgendermaßen lauteten seine Worte: ›Ich bedarf durchaus keiner moralischen Verdachtgründe noch thatsächlicher Beweise, um die Behauptungen des Angeklagten Lügen zu strafen. Ich erkenne ihn mit Sicherheit. Der Mann heißt nicht Champmathieu, er ist ein sehr bösartiger und gefürchteter, ehemaliger Zuchthaussträfling Namens Jean Valjean. Man hat ihn seiner Zeit nach Verbüßung seiner Strafe nur mit Widerstreben seiner Haft entlassen. Er war wegen qualifizirten Diebstahls zu neunzehn Jahren Zuchthaus verurtheilt. Fünf oder sechs Mal hat er versucht zu entspringen. Abgesehen von der Beraubung des kleinen Gervais und dem Diebstahl im Pierron’schen Garten, habe ich ihn noch im Verdacht, daß er sich im Hause Sr. Bischöflichen Gnaden des verstorbenen Bischofs zu Digne einen Diebstahl hat zu Schulden kommen lassen. Ich habe ihn zur Zeit, wo ich Aufsehergehülfe in Toulon war, oft vor Augen gehabt. Ich wiederhole, daß ich ihn mit Sicherheit erkenne.‹«

Nach Verlesung dieser bestimmten Erklärung, die auf Publikum und Geschworene lebhaften Eindruck zu machen schien, beschloß der Staatsanwalt seine Rede mit dem Antrage, daß in Ermangelung Javerts, die drei Zeugen Brevet, Chenildieu und Cochepaille noch einmal vernommen werden sollten.

Der Vorsitzende gab dem Gerichtsboten einen Befehl und kurze Zeit darauf öffnete sich die Thür des Zeugenzimmers. Der Gerichtsbote brachte in Begleitung eines Gendarmen den Sträfling Brevet herein.

Brevet trug die in den Centralgefängnissen übliche, schwarzgraue Jacke. Er war ungefähr sechzig Jahre alt und sah zugleich wie ein Geschäftsmann und ein Schurke aus, Eigenschaften, die sich ja manchmal mit einander vertragen. Im Gefängniß, wohin ihn neue Verschuldungen wieder zurückgebracht hatten, war er zum Zimmeraufseher ernannt worden. Er war Einer, dem seine Vorgesetzten nachrühmten, er suche sich nützlich zu machen, und der Geistliche lobte ihn wegen seiner Religiosität. Denn man vergesse nicht, daß sich dies unter der Restauration ereignete.

»Brevet«, begann der Vorsitzende, »Sie sind zu einer entehrenden Strafe verurtheilt und können also keinen Eid schwören.«

Brevet schlug die Augen nieder.

»Indessen kann auch in einem Menschen, den das Gesetz bestraft hat, noch Empfänglichkeit für Ehre und Gerechtigkeit vorhanden sein, wenn Gott in seiner Barmherzigkeit es gestattet. An diese Empfänglichkeit für das Gute wende ich mich in dem jetzigen entscheidungsvollen Augenblick. Sind Sie, wie ich hoffen will, einer solchen Regung noch fähig, so besinnen Sie Sich, ehe Sie antworten, so fassen Sie mit aller Vorsicht jenen Mann, den ein Wort von Ihnen unglücklich machen kann, ins Auge, und versuchen Sie gewissenhaft das Gericht aufzuklären. Auf Ihre Aussage kommt viel an, und Sie können noch immer Ihr Wort zurücknehmen, wenn Sie glauben, Sich geirrt zu haben. — Angeklagter, stehen Sie auf. — Brevet, sehen Sie Sich den Angeklagten an, sammeln Sie Ihre Erinnerungen und sagen Sie uns, ob Sie gewiß und wahrhaftig in diesem Mann Ihren ehemaligen Mitsträfling Jean Valjean wiedererkennen.«

Brevet betrachtete den Angeklagten und wandte sich dann zu dem Gerichtshof.

»Ja, Herr Vorsitzender. Ich habe ihn zuerst erkannt und bleibe bei meiner Aussage. Dieser Mann ist Jean Valjean, der von 1796 bis 1815 im Zuchthaus zu Toulon gesessen hat. Ich bin ein Jahr nach ihm entlassen worden. Jetzt sieht er dumm, wie ein Stück Vieh aus, wahrscheinlich von wegen dem Alter; aber damals war er ein geriebener Bursche. Ich erkenne ihn ganz bestimmt.«

»Setzen Sie Sich!« befahl der Vorsitzende. »Angeklagter, bleiben Sie stehen!«

Jetzt wurde Chenildieu hereingeführt, der, wie seine rothe Jacke und seine grüne Mütze bekundeten, ein zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilter Verbrecher war. Er verbüßte seine Strafe in Toulon und war behufs seiner Vernehmung nach Arras gebracht worden. Er mochte fünfzig Jahre alt sein, war von kleiner, schwächlicher Statur, lebhaft, voller Runzeln, von gelblicher Gesichtsfarbe, und keck und unruhig in seinem Gebahren. Seine Kameraden hatten ihm den Spitznamen Leugnegott gegeben.

Der Vorsitzende richtete an ihn so ziemlich dieselbe Ansprache, wie an Brevet. Als er ihn erinnerte, daß seine Bestrafung ihn des Rechtes beraube, den Zeugeneid schwören zu dürfen, richtete Chenildieu den Kopf empor und sah das Publikum dreist an. Der Vorsitzende forderte ihn dann auf, seine Gedanken zu sammeln und fragte ihn, ob er wirklich den Angeklagten kenne.

Chenildieu brach in eine laute Lache aus.

»Na ob! Wo werde ich denn nicht! Haben wir doch fünf Jahre lang dieselbe Kette geschleppt. Sage mal, Alterchen, bist Du denn böse auf mich?«

»Setzen Sie Sich!« gebot der Vorsitzende.

Nun führte der Gerichtsbote Cochepaille herein. Auch Dieser war, wie Chenildieu zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilt und roth gekleidet. Er war ursprünglich ein Bauer aus der Gegend von Lourdes, hatte in den Pyrenäen das Vieh gehütet und war dann unter die Räuber gegangen. Cochepaille war nicht weniger verwildert, als der Angeklagte und sah noch dümmer aus. Er gehörte zu jenen Unglücklichen, die von der Natur als wilde Thiere geschaffen und von der menschlichen Gesellschaft zu Zuchthäuslern vervollkommnet werden.

Der Vorsitzende versuchte mit einer eindringlichen, feierlichen Ansprache Eindruck auf ihn zu machen und fragte ihn, wie die beiden Andern, ob er ohne Bedenken versichern könnte, daß er den Mann da kenne.

»Das ist Jean Valjean! Wir nannten ihn auch noch die Winde, weil er so stark war.«

Nach jeder der drei Aussagen, die augenscheinlich in gutem Glauben abgegeben wurden, war ein Gemurmel durch die Zuhörerschaft gegangen, das dem Angeklagten nichts Gutes weissagte, und das jedes Mal stärker wurde und länger anhielt. Der Angeklagte seinerseits hörte immer mit demselben Erstaunen zu, das die Anklagebehörde als sein hauptsächlichstes Vertheidigungsmittel bezeichnete. Bei der Vernehmung des ersten Zeugen hatte er zwischen den Zähnen gemurmelt: »Na ja, da haben wir’s!« Das zweite Mal sagte er etwas lauter und mit einer Art Befriedigung: »Sehr schön!« Zuletzt schrie er: »Famos!«

Jetzt interpellirte ihn der Vorsitzende mit den Worten:

»Angeklagter, Sie haben gehört. Was haben Sie zu erwiedern?«

Er antwortete:

»Ich erwiedre: Famos!«

Im Publikum wurden Stimmen laut, und sie fanden fast Wiederhall bei den Geschwornen. Es war augenscheinlich, daß der Angeklagte verloren war.

Der Vorsitzende gebot Stillschweigen und erklärte, daß die Debatte geschlossen sei.

Da hörte man Jemand neben dem Vorsitzenden laut rufen:

»Brevet, Chenildieu, Cochepaille! Seht hierher!«

Alle, die es hörten, überrieselte ein eisiger Schauer, so wehmuths- und schreckenvoll klang die Stimme. Aller Augen wandten sich nach der Stelle hin. Da stand ein Mann, der bisher unter den bevorzugten Zuhörern hinter den Mitgliedern des Gerichtshofs gesessen hatte und jetzt bis in die Mitte des Saales vorgetreten war. Der Vorsitzende, der Staatsanwalt, Bamatabois, zwanzig Andere noch erkannten ihn und riefen zu gleicher Zeit:

»Herr Madeleine!«

Champmathieu wundert sich noch mehr

Er war es in der That. Die Lampe des Gerichtsschreibers warf ihren Schein auf sein Gesicht. Er hielt den Hut in der Hand, seine Kleidung war nicht in Unordnung, sein Rock sorgfältig zugeknöpft. Er war sehr blaß und zitterte etwas. Seine Haare, die bei seiner Ankunft in Arras grau gewesen, waren jetzt weiß.

Alle richteten sich auf. Die Aufregung erreichte ihren höchsten Grad, aber noch begriff Niemand die Bedeutung und Tragweite des Vorfalls. Der Schrei war herzzerreißend gewesen, und doch war Derjenige, der ihn ausgestoßen hatte, so ruhevoll in seinem Gebahren, daß man sich fragte, wer den Ausruf gethan.

Aber diese Unentschiedenheit währte nur wenige Sekunden. Noch ehe der Vorsitzende und der Staatsanwalt einen Laut vorbringen, noch ehe Gendarmen und Gerichtsboten eine Bewegung machen konnten, war Madeleine auf die Zeugen zugeschritten und fragte:

»Erkennt Ihr mich nicht?«

Alle Drei blieben stumm und machten eine verneinende Bewegung mit dem Kopfe. Cochepaille antwortete schüchtern mit einem militärischen Gruße. Da wandte sich Madeleine zu den Geschworenen und den Richtern mit den Worten:

»Meine Herren Geschworenen, lassen Sie den Angeklagten in Freiheit setzen. Und mich lassen Sie arretiren, Herr Vorsitzender. Ich bin der Mann, den Sie suchen, nicht er. Ich bin Jean Valjean.«

Keiner konnte athmen. Auf das erste Erstaunen folgte jetzt Grabesstille. Alle durchschauerte jene religiöse Andacht, die den Menschen Angesichts des Erhobenen zu ergreifen pflegt.

Aber auf dem Gesicht des Vorsitzers spiegelte sich Mitleid und Trauer ab, Er winkte dem Staatsanwalt und flüsterte den beisitzenden Räthen einige Worte zu. Dann wandte er sich an das Publikum mit einer Frage, deren Bedeutung Alle erriethen:

»Ist vielleicht ein Arzt hier?«

Nach ihm ergriff der Staatsanwalt das Wort:

»Meine Herren Geschworenen, der merkwürdige und unerwartete Zwischenfall, der die Sitzung stört, flößt uns wie Ihnen nur ein Gefühl ein, über dessen Natur wir uns wohl nicht weiter auszusprechen brauchen. Sie Alle kennen, wenigstens von Hörensagen, den ehrenwerthen Herrn Madeleine, Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer. Wenn unter den Anwesenden sich ein Arzt befindet, so ersuchen wir ihn, gemeinschaftlich mit dem Herrn Vorsitzenden, Herrn Madeleine seinen Beistand zu leihen und ihn nach seiner Wohnung zurückzubringen.«

Madeleine ließ den Staatsanwalt nicht zu Ende reden, sondern fiel ihm mit einem eben so milden, wie entschiedenen Einspruch ins Wort. Was er sagte, ist gleich nach der Sitzung von einem Ohrenzeugen niedergeschrieben worden, so daß wir in der Lage sind, es wörtlich wiedergeben zu können.

»Ich danke Ihnen, Herr Staatsanwalt, aber ich bin nicht krank, wie Sie sofort einsehen werden. Sie standen im Begriff einen schweren Irrthum zu begehen. Lassen Sie den Mann frei. Ich erfülle eine Pflicht, denn ich bin der unglückliche Sträfling. Ich bin der Einzige, der den Sachverhalt kennt, und ich sage Ihnen die Wahrheit. Was ich in diesem Augenblick thue, sieht Gott dort oben, und das genügt. Sie können mich abführen. Und doch habe ich alles Menschenmögliche gethan. Ich habe mich hinter einem falschen Namen verborgen, bin reich, bin Bürgermeister geworden. Ich wollte ein ehrlicher und anständiger Mann werden. Aber das scheint nicht möglich zu sein. Ich kann leider nicht Alles auseinandersetzen und ich will Ihnen nicht meine Lebensgeschichte erzählen, aber es wird Alles einmal bekannt werden. Ich habe allerdings bei Sr. Bischöflichen Gnaden einen Diebstahl verübt; ich habe allerdings den kleinen Gervais beraubt. Es ist richtig, daß Jean Valjean ein sehr bösartiger Verbrecher war. Vielleicht ist nicht er allein daran schuld. Hören Sie mich, meine Herren Richter, wenn auch ein so tief gesunkener Mensch, wie ich, nicht das Recht hat, die Vorsehung zu belehren und der Gesellschaft einen Rath zu geben, aber die Schmach, die ich von mir abzuwälzen versuchte, ist ein verderbliches Ding. Das Zuchthaus vermehrt die Zahl der Zuchthäusler. Merken Sie sich das, wenn Sie wollen. Vorher war ich ein armer, unintelligenter Bauer, eine Art Idiot; aber im Zuchthaus ist eine Veränderung mit mir vorgegangen. Aus dem Dummkopf wurde ein bösartiger Mensch, aus dem Klotz ein Feuerbrand. Später hat mich Nachsicht und Güte gerettet, nachdem die Strenge mich verderbt hatte. Aber, verzeihen Sie, Sie können nicht verstehen, was ich da Alles sage. Sie werden bei mir zu Hause in der Asche des Kamins das Zweifrankenstück finden, das ich vor sieben Jahren dem kleinen Gervais genommen habe. Weiter habe ich nichts hinzuzusetzen. Führen Sie mich ab. Mein Gott, Herr Staatsanwalt, Sie schütteln den Kopf und denken bei sich: Madeleine hat den Verstand verloren. Sie glauben mir nicht. Das ist schlimm. So verurtheilen Sie wenigstens nicht den Mann da! Was! Die hier erkennen mich nicht! Wäre doch Javert hier! Der würde mich schon erkennen.«

Keine Beschreibung könnte die wohlwollende und verzweifelte Schwermuth wiedergeben, die aus dem Ton seiner Worte hervorklang.

Jetzt wandte er sich an die drei Sträflinge:

»Nun, ich kenne Euch! Brevet, erinnern Sie Sich …« Er hielt zögernd einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Erinnerst Du Dich noch an Deine Tricothosenträger mit dem Damenbrettmuster?«

Brevet fuhr verwundert zusammen und sah ihn vom Kopf bis zu den Füßen voller Schrecken an. Madeleine aber fuhr fort:

»Chenildieu, mit dem Beinamen Leugnegott, Deine rechte Schulter trägt tiefe Brandmale, weil Du Dich eines Tages auf eine Kohlenpfanne gelegt hast, um die drei Brandmarkungsbuchstaben auszubrennen, aber es gelang Dir nicht, und man kann sie noch immer deutlich erkenne. Antworte, ist das wahr?«

»Ja wohl!« bestätigte Chenildieu.

Madeleine wendete sich jetzt an Cochepaille:

»Cochepaille, dicht bei der Aderlaßstelle Deines linken Armes ist ein mit Schießpulver blau eingebranntes Datum, der 1. März 1815, der Tag, wo Kaiser Napoleon in Cannes landete. Krempele Deinen Aermel auf.«

Cochepaille legte seinen Arm blos, auf den sofort Alle ihre Augen richteten, und ein Gendarm leuchtete mit einer Lampe. Das Datum stand in der That da.

Der unglückliche Mann wandte sich jetzt zu dem Publikum und den Richtern, mit einem zugleich triumphirenden und verzweiflungsvollen Lächeln, das Allen das Herz, zerschnitt.

»Sie sehen also, ich bin Jean Valjean.«

In dem Saale waren jetzt weder Richter, noch Ankläger, noch Gendarmen. Keiner dachte an die Pflicht, die er zu erfüllen hatte; der Staatsanwalt hatte vergessen, daß er da war, Strafanträge zu stellen; der Vorsitzende, daß er die Verhandlung leiten sollte; der Rechtsbeistand, daß er eine Verteidigung übernommen hatte. Merkwürdig, keine Frage wurde gethan, keine Behörde griff ein. Es ist dem Erhabenen eigen, daß es alle Herzen gefangen nimmt. Keiner vielleicht gab sich Rechenschaft von seinen Empfindungen; Keiner sicherlich wurde sich bewußt, daß vor seinem geistigen Auge ein hehres Licht strahlte; aber innerlich geblendet fühlten sich Alle.

Es war nicht zu bezweifeln, daß man Jean Valjean vor sich hatte. Das sprang sonnenklar in die Augen. Daß der Mann da sich gezeigt hatte, das brachte Klarheit in die ganze Sache, über der eben noch das dichteste Dunkel geschwebt. Ohne daß es einer weiteren Erklärung bedurft hätte, blitzte in dem Hirn der Zuhörer das Verständnis des Vorgangs auf, der sich vor ihren Augen abgespielt hatte, für die einfache, herrliche Thatsache, daß ein Mann sich dem Gericht auslieferte, damit nicht ein Anderer an seiner Stelle verurtheilt werde. Diesem klaren Sachverhalt gegenüber hatten Einzelheiten und Zweifel nichts mehr zu bedeuten.

Dieser Eindruck verging schnell, aber in dem Augenblick war er unwiderstehlich.

»Ich will die Sitzung nicht länger stören,« fuhr jetzt Jean Valjean fort. »Ich gehe, da Niemand mich verhaftet. Ich habe mehrere Angelegenheiten zu erledigen. Der Herr Staatsanwalt weiß, wer ich bin und wo ich hingehe; er kann mich festnehmen lassen, wenn er will.«

Damit ging er auf die Ausgangsthür zu. Keiner erhob seine Stimme, Keiner streckte den Arm aus, ihn aufzuhalten. Alle machten ihm Platz. Es lag etwas Göttliches in seiner Erscheinung, etwas, wovor die Menge scheu und ehrfurchtsvoll zurückweicht. Er entfernte sich langsam. Wer ihm die Thür aufmachte, hat man nie erfahren; aber er fand sie offen, als er bis dahin gekommen war. Hier wendete er sich noch ein Mal um und sagte:

»Herr Staatsanwalt, ich stehe Ihnen zur Verfügung.«

Und zu den Zuhörern:

»Sie Alle, die hier zugegen sind, Sie finden, daß ich Mitleid verdiene, nicht wahr? Du lieber Himmel, wenn ich bedenke, was ich beinahe gethan hätte, so halte ich mich jetzt für beneidenswerth. Indessen wäre es mir lieber gewesen, daß alles dies nicht geschehen wäre.«

Er ging hinaus und es fand sich wieder ein Unbekannter, der die Thür hinter ihm zumachte. Wer Großes und Herrliches vollbringt, ist dienstwilligen Beistandes immer sicher.

Noch ehe eine Stunde verstrichen war, sprachen die Geschworenen Champmathieu von allen Anklagen frei und er wurde auch sofort in Freiheit gesetzt. Sein Erstaunen war nun noch größer; er glaubte, alle Welt sei verdreht geworden und wußte nicht recht, ob er wache oder träume.

Der Rückschlag

In was für einem Spiegel Madeleine sein Haar ansieht

Der Morgen graute. Fantine hatte die Nacht über gefiebert und nicht geschlafen, aber doch umgaukelt von heitern Zukunftsbildern; gegen Morgen schlief sie endlich ein. Schwester Simplicia, die bei ihr gewacht hatte, benutzte die Gelegenheit, um einen neuen Trank zu bereiten. Die Wackre befand sich seit einigen Minuten im Laboratorium und beugte sich sehr tief über ihre Arzneien und Fläschchen, weil sie wegen der Dunkelheit nicht deutlich sehen konnte. Plötzlich wandte sie den Kopf seitwärts und stieß einen leisen Schrei aus. Madeleine stand vor ihr. Er war ganz still hereingekommen.

»Sie, Herr Bürgermeister!«

Er fragte leise:

»Wie geht es der Armen?«

»Augenblicklich nicht schlecht. Aber sie hat uns nicht wenig Sorge gemacht!«

Sie setzte ihm auseinander, was vorgegangen war. Fantine sei am Tage zuvor sehr krank gewesen; jetzt aber ginge es besser, weil sie glaubte, der Herr Bürgermeister sei gegangen, ihr Kind aus Montfermeil zu holen. Die Schwester getraute sich nicht, den Herrn Bürgermeister zu fragen; aber sie sah ihm an, daß er nicht dorther kam.

»Das ist recht,« bemerkte er. »Sie haben gut daran gethan, sie nicht eines andern zu belehren.«

»Ja, aber jetzt, wo sie den Herrn Bürgermeister ohne ihr Kind sehen wird, — was fangen wir da an?«

Er sann einen Augenblick nach.

»Gott wird uns etwas eingeben.«

»Man könnte aber doch nicht lügen,« erwiederte halblaut die Schwester.

Mittlerweile war es in dem Zimmer heller geworden, und das Tageslicht fiel gerade auf Madeleines Gesicht. Da hob zufälliger Weise die Schwester ihre Augen auf.

»Um Gottes Willen, Herr Bürgermeister! Was ist mit Ihnen vorgegangen, daß Ihr Haar ganz weiß geworden ist?«

»Weiß?« wiederholte er.

Schwester Simplicia hatte keinen eigenen Spiegel. Sie entnahm daher einen dem Besteck des Arztes, und überreichte ihn Madeleine. Dieser betrachtete sich darin und sagte:

»Sieh da!«

Aber so gleichgültig und leichthin, als denke er an etwas Andres.

Die Schwester ahnte, daß etwas Furchtbares vorgefallen sein mußte, und ein kalter Schauer überlief sie.

»Kann ich jetzt zu ihr?« fragte er nun.

»Werden der Herr Bürgermeister nicht das Kind zurückholen lassen?« forschte die Schwester furchtsam.

»Ja freilich, aber dazu gehören mindestens zwei bis drei Tage.«

»Wenn sie den Herrn Bürgermeister bis dahin nicht zu sehen bekäme, so würde sie nicht wissen, daß Sie zurück sind, man könnte ihr gut zureden, und sie würde sich gedulden. Und käme dann das Kind zurück, so würde sie naturgemäß glauben, daß der Herr Bürgermeister mit dem Kinde zurückgekommen wäre. Man brauchte ihr dann nichts vorzulügen.«

Madeleine sann eine Weile nach, und sagte dann mit ruhiger Entschiedenheit:

»Nein, liebe Schwester, ich muß zu ihr. Vielleicht fehlt mir später die Zeit dazu.«

Die Nonne schien das geheimnißvolle und sonderbare »Vielleicht« nicht zu beachten, und antwortete leiser und mit gesenkten Augen:

»Sie schläft, aber der Herr Bürgermeister können hinein.«

Er machte eine Bemerkung über die Thür, die schlecht zuging, und deren Geknarr die Kranke im Schlaf stören konnte, trat dann in Fantinens Zimmer, und schlug den Vorhang ihres Bettes auseinander. Sie schlief. Ihr Athem brachte, indem er sich ihrer Brust entrang, jenes Geräusch hervor, das solchen Kranken eigenthümlich ist, und ihre Angehörigen so ängstigt, wenn sie des Nachts sorgenvoll an ihrem Bette wachen. Aber diese mühevolle Athmung beeinträchtigte nur wenig die über ihrem Gesicht verbreitete, heitre Ruhe, die sie in ihrem Schlafe verklärte. Sie war sehr weiß geworden mit Ausnahme der hochrothen Wangen. Ihre langen, blonden Wimpern, die einzige Schönheit, die ihr von ihrer Jungfräulichkeit und Jugend übrig geblieben, zitterten, während sie doch geschlossen und gesenkt waren. Ihr ganzer Körper regte sich leise, als wollten sich unsichtbare Flügel ausbreiten und ihn davon tragen. Nie hätte man glauben können, daß eine nahezu hoffnungslose Krankheit sie in Todesgefahr gebracht hätte.

Wenn eine Hand sich einer Pflanze nähert, ihr eine Blüthe zu entreißen, so erbebt sie und scheint zugleich zurückzufahren und dem Räuber entgegenzukommen. So erzittert auch ein Menschenleib, wenn die Finger des Todes sich anschicken, die Seele zu pflücken.

Madeleine stand eine Weile unbeweglich vor dem Bett und betrachtete abwechselnd die Kranke und das Krucifix, wie vor zwei Monaten, als er sie zum ersten Mal in diesem Zufluchtsort aufgesucht. Genau so wie damals verhielten sie Beide sich auch heute: Sie schlief und er betete, nur daß ihr Haar jetzt grau und seins weiß geworden war.

Die Schwester war nicht mit hereingekommen. Und doch hielt er den Zeigefinger auf den Mund, als wäre in dem Zimmer Jemand, dem er Stillschweigen gebieten wolle.

Da that Fantine die Augen auf und fragte mit einem ruhigen Lächeln:

»Nun, wo bleibt Cosette?«

Fantine ist glücklich

Keine Ueberraschung, keine Aufwallung der Freude. Sie war die Freude selbst. Aus ihrer einfachen Frage: »Wo bleibt Cosette?« klang so viel Zuversicht, so feste Gewißheit, eine so selbstverständliche Ueberzeugung heraus, daß Madeleine kein Wort der Erwiderung fand. Sie fuhr fort:

»Ich wußte, daß Sie da waren. Ich schlief und sah Sie doch. Ich sehe Sie schon längst. Ich bin Ihnen die ganze Nacht hindurch mit den Augen gefolgt. Sie waren von Himmelsglanz umgeben und lauter Engelsgestalten schwebten um Sie.«

Er erhob die Augen zum Krucifix.

»Sagen Sie mir aber doch«, fragte sie, »wo ist Cosette? Warum haben Sie sie mir nicht auf das Bett gelegt, bis ich aufwachen würde?«

Er stammelte unwillkürlich und unbewußt einige Worte, deren er sich später nicht mehr entsinnen konnte.

Glücklicher Weise war inzwischen der Arzt hinzugekommen und half jetzt Madeleine aus der Verlegenheit.

»Mein Kind, beruhigen Sie sich! Ihr Kind ist da.«

Fantinens Augen leuchteten auf und verbreiteten Heiterkeit über ihr ganzes Gesicht. Sie faltete die Hände und in allen ihren Zügen spiegelten sich die sanftesten und die heftigsten Empfindungen ab, denen der Mensch im Gebet Ausdruck zu leihen vermag.

»O bringen Sie sie her!«

»Noch nicht, in diesem Augenblick noch nicht. Sie fiebern noch etwas. Der Anblick Ihres Kindes würde Sie aufregen und Ihnen schaden. Erst müssen Sie gesund sein.«

Sie fiel ihm heftig ins Wort:

»Ich bin ja gesund! Ich versichere Sie, ich bin gesund! Was der Mann für ein Esel ist! Ich will mein Kind haben, verstanden?«

»Sehen Sie, wie aufgeregt Sie sind! So lange Sie in diesem Zustande sind, werde ich dagegen sein, daß Sie Ihr Kind zu Gesicht bekommen. Es genügt nicht, daß Sie mit ihr zusammenkommen; Sie müssen für sie leben. Sobald Sie vernünftig sind, werde ich selbst sie Ihnen zuführen.«

Die arme Mutter ließ den Kopf hängen.

»Ich bitte Sie recht sehr um Verzeihung, Herr Doktor. Früher wären mir solche Worte nicht entfahren; aber es ist mir so viel Unglück passirt, daß ich oft nicht weiß, was ich rede. Ich begreife, daß Sie die Aufregung fürchten und werde warten, so lange es Ihnen beliebt. Ich sehe sie, ich verwende kein Auge von ihr seit gestern Abend. Wenn sie mir jetzt gebracht würde, so würde ich mit ihr ganz ruhig sprechen. So sehr bin ich schon mit dem Gedanken sie wiederzusehen vertraut. Ist es nicht ganz natürlich, daß ich Sehnsucht nach dem Kinde habe, das man mir eigens aus Montfermeil geholt hat? Ich bin nicht wüthend. Ich weiß, daß ich glücklich sein werde. Die ganze Nacht habe ich immerzu was Weißes gesehen und Leute, die mich anlächelten. Wann es dem Herrn Doktor beliebt, wird er mir meine Cosette bringen. Ich habe kein Fieber mehr, ich bin gesund; ich fühle, daß mir nichts mehr fehlt; aber ich werde thun, als wäre ich krank und still liegen, den Damen hier zu Gefallen. Wenn man sehen wird, daß ich mich ruhig verhalte, wird man einsehen, daß man mich meine Tochter sehen lassen darf.«

Madeleine hatte sich auf einen Stuhl neben dem Bett niedergelassen. Sie wandte sich nach ihm hin, um sich mit ihm zu unterhalten und bemühte sich dabei sichtlich recht ruhig und »artig« zu sein, wie sie sich ausdrückte. Kam sie sich doch wegen ihrer Krankheit schwach, wie ein kleines Kind vor. Indem sie sich aber diesen Zwang anthat, konnte sie doch nicht umhin Madeleine mit Fragen zu überhäufen.

»Haben Sie eine angenehme Reise gehabt, Herr Bürgermeister? Ach, wie gut sind Sie doch, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, sie zu holen! Erzählen Sie mir wenigstens, wie sie aussieht. Hat sie die Fahrt gut ausgehalten? Schade, daß sie mich nicht wiedererkennen wird! Es ist so lange her, da hat das arme Dingelchen mich vergessen. Kinder haben ja kein Gedächtniß. Das hat ein Hirn, wie ein Vögelchen. Heute sieht das dies, morgen jenes und übermorgen hat es Beides verschwitzt. Hatte sie denn auch reine Wäsche? Hielten die Thénardiers sie hübsch ordentlich und sauber? Gaben sie ihr auch genug zu essen? Ach, wenn Sie wüßten, wie viel Sorgen ich mir die ganze Zeit über um das alles gemacht habe! Aber jetzt ist’s ja vorbei. Ich bin überglücklich. Ach, wie gerne möchte ich sie sehen! Herr Bürgermeister, wie denken Sie? Ist sie hübsch? Nicht wahr, meine Tochter ist ein schönes Kind? Sie müssen im Postwagen sehr gefroren haben. Könnte man sie nicht auf ein ganz kleines Weilchen her bringen? Ich würde sie dann gleich wieder fortlassen. Was meinen Sie? Sie haben ja zu befehlen, und wenn Sie wollten …«

Er ergriff ihre Hand: »Cosette ist hübsch geworden. Sie ist gesund und munter. Aber beruhigen Sie sich. Sie sprechen zu lebhaft. Auch halten Sie Ihre Arme aus dem Bett und davon wird Ihr Husten schlimmer.«

In der That unterbrachen starke Hustenanfälle sie fortwährend in ihrer Rede.

Fantine murrte nicht und begann, da sie fürchtete, sie hätte durch allzu leidenschaftliche Klagen das Vertrauen zu ihrer Standhaftigkeit erschüttert, von gleichgültigen Dingen zu reden.

»Montfermeil ist ein recht hübscher Ort, nicht wahr? Die Pariser machen viel Landpartieen dorthin. Verdienen die Thénardiers viel Geld? Ich glaube, es kommen da nicht viel Reisende durch. Ihre Gastwirthschaft ist eine erbärmliche Winkelkneipe.«

Madeleine hielt noch immer ihre Hand fest und sah sie schwermüthig an; offenbar war er gekommen, ihr Dinge zu sagen, mit denen er sich jetzt nicht hervorwagte. Der Arzt war fortgegangen und nur Schwester Simplicia war bei ihnen geblieben.

Plötzlich brach Fantine das allgemeine Schweigen mit dem Ausruf:

»Ich höre sie! O Gott, ich höre sie!«

Sie machte eine Bewegung mit dem Arm, als wollte sie um Stillschweigen bitten, hielt den Athem an und lauschte mit Entzücken.

Draußen auf dem Hof spielte ein Kind, die Tochter der Portierfrau oder irgend einer Arbeiterin. Dergleichen Zufälle treten ja immer auf und leiten in geheimnißvoller Weise schreckliche Schicksalswenduugen ein. Die Kleine draußen spielte, lief, tummelte sich, um warm zu werden, lachte und sang.

»Oh!« rief Fantine, »das ist meine Cosette! Ich erkenne sie an der Stimme.«

Das kleine Mädchen ging, wie es gekommen war, und ihre Stimme verhallte. Fantine horchte noch einige Zeit, dann verdüsterte sich ihr Gesicht und Madeleine hörte sie leise sagen: »Das ist recht schlecht von dem Doktor, daß er mein Kind nicht zu mir läßt. Er sieht überhaupt recht bösartig aus.«

Indessen gewann die Heiterkeit wieder die Oberhand bei ihr. Sie fing, indem sie sich wieder hinlegte, ein Selbstgespräch an.

»Wie glücklich wir leben werden! Herr Madeleine hat uns ein Gärtchen versprochen. Da wird mein Töchterchen spielen können. Sie wird jetzt schon die Buchstaben kennen, und ich werde sie lesen lehren. Im Garten kann sie den Schmetterlingen nachlaufen. Wie werde ich mich freuen, wenn ich ihr erst dabei zusehen werde! Dann wird sie auch konfirmirt werden. Richtig; aber wie lange ist das noch hin?«

Sie zählte an den Fingern:

»Eins, zwei, drei, vier … Sie ist sieben Jahr alt … Also in fünf Jahren. Da trägt sie einen weißen Schleier, durchbrochene Strümpfe und sieht schon beinahe wie eine Erwachsene aus. Liebste Schwester, Sie können sich nicht vorstellen, wie dumm ich bin. Jetzt denke ich gar an die Konfirmirung meiner Tochter!«

Und sie lachte.

Madeleine hatte inzwischen Fantinens Hand, losgelassen und hörte ihr zu, wie man dem Winde zuhört, in tiefsinnige Gedanken versunken. Plötzlich hielt sie inne mit sprechen; er hob mechanisch den Kopf in die Höhe und sah Fantine an.

Sie sprach nicht, sie athmete nicht mehr; sie saß halb aufgerichtet da, die mageren Schultern halb entblößt; ihr kurz zuvor so seliges Gesicht war jetzt erdfahl, und sie starrte, rötlich erschrocken, mit weit aufgerissenen Augen nach dem anderen Ende des Zimmers hin.

»Um Gottes Willen, Fantine, was fehlt Ihnen?« rief Madeleine.

Sie antwortete nicht, wandte nicht die Augen von dem Gegenstand, den sie anblickte, sondern berührte nur mit der einen Hand seinen Arm und bedeutete ihm mit der anderen, daß er sich umsehen solle.

Er wandte sich und sah — Javert.

Javert freut sich

Folgendes hatte sich nämlich ereignet.

Es hatte so eben halb eins geschlagen, als Madeleine den Sitzungssaal des Schwurgerichts verließ. Er war in seiner Herberge gerade noch zur rechten Zeit gekommen, um mit der Briefpostkutsche abzufahren. In Montreuil-sur-Mer traf er dann kurz vor sechs Uhr Morgens ein und ließ es sich vor allen Dingen angelegen sein, den Brief an Laffitte aufzugeben. Dann war er nach dem Krankensaal gegangen, um Fantine zu besuchen.

Kaum hatte er sich aber aus dem Sitzungssaal entfernt, als der Staatsanwalt zur Besinnung gelangt war und das Wort ergriffen hatte, um sein Bedauern über die Erkrankung des ehrenwerthen Bürgermeisters von Montreuil-sur-Mer auszusprechen, zu betonen, daß seine Ueberzeugung durch den — noch aufzuklärenden — Zwischenfall in keiner Weise erschüttert sei und die Verurtheilung Champmathieus, des wirklichen Jean Valjean, zu beantragen. Diese Hartnäckigkeit des Staatsanwalts lief aber ersichtlich der allgemeinen Ansicht, der Stimmung des Publikums, des Gerichtshofes und der Geschworenen, zuwider. Es wurde dem Vertheidiger denn auch nicht schwer, ihn zu widerlegen und nachzuweisen, daß in Folge der von Madeleine, d. h. dem wahren Jean Valjean, gemachten Enthüllungen, der Fall eine wesentlich andere Gestalt angenommen und die Geschworenen jetzt einen Unschuldigen vor sich hätten. Selbstredend hatte er die schöne Gelegenheit wahrgenommen, einige mustergültige, aber leider nicht ganz neue Epiphonemata über Irrthümer der Justiz u. s. w. u. s. w. zum Besten zu geben; der Vorsitzende war der Ansicht des Vertheidigers beigetreten und nach wenigen Minuten hatten die Geschworenen Champmathieu von der Instanz entbunden.

Indessen brauchte aber doch der Staatsanwalt einen Jean Valjean und da ihm Champmathieu aus den Händen entwischte, so hielt er sich an Madeleine.

Gleich nach der Freilassung Champmathieus schloß er sich mit dem Vorsitzenden ein. Sie konferirten über die Nothwendigkeit, den Bürgermeister von Montreul-sur-Mer verhaften zu lassen. Nun die erste Erschütterung vorüber war, hatte der Vorsitzende auch wenig dagegen einzuwenden. Man mußte doch der Gerechtigkeit ihren Lauf lassen. Außerdem aber war, um die volle Wahrheit zu sagen, der Vorsitzende zwar ein guter und einsichtsvoller Mann, aber zugleich auch gut königlich gesinnt und es hatte ihn verletzt, daß Madeleine von der Landung des »Kaisers Napoleon« und nicht von »Buonaparte« gesprochen hatte.

Es wurde also der Haftbefehl ausgefertigt, den der Staatsanwalt durch einen Expressen an Javert gelangen ließ.

Wir haben schon angegeben, daß Dieser unmittelbar nach seiner Vernehmung nach Montreuil-sur-Mer zurückgekehrt war.

Javert stand eben aus dem Bett auf, als der Expresse eintraf und ihm den Verhaft- und den Vorführungsbefehl übergab. Selber ein gewiegter Polizist, setzte er Javert in wenigen Worten auseinander, was in Arras vorgefallen war. Der von dem Staatsanwalt unterzeichnete Verhaftsbefehl lautete: »Dem Polizei-Inspektor Javert wird hiermit aufgegeben, den Bürgermeister von Montreuil-sur-Mer, Madeleine, der in der heutigen Sitzung als der entlassene Zuchthaussträfling Jean Valjean agnoscirt worden ist, gefänglich einzuziehen.«

Niemand hätte unserem Javert ansehen können, was in ihm vorging, als er das Vorzimmer zu dem Krankensaal betrat. Er hatte sein gewöhnliches Aussehen, war kalt, ruhig, ernst und so bedächtig wie immer die Treppe hinaufgestiegen. Aber die ihn genauer kannten, hätten einen gewaltigen Schreck bekommen. Man denke: Die Schnalle seines Halskragens saß statt im Genick am linken Ohr! Dieses Toilettendetail bedeutete, daß in Javert’s Seele ein gewaltiger Sturm tobte.

Javert war ein ganzer Mann, der es mit seiner Toilette so streng nahm, wie mit seiner Pflicht.

Wenn also eine Schnalle an seiner Uniform nicht richtig saß, so mußte etwas ganz Ungewöhnliches, eine großartige Umwälzung in seinem Innern vorgegangen sein.

Er hatte sich aus dem nächsten Wachtposten einen Korporal nebst vier Mann geholt, hatte dann seine Leute auf dem Hof warten heißen und sich von der arglosen Portierfrau, die daran gewöhnt war, Leute in Waffen bei dem Herrn Bürgermeister zu sehen, den Weg zu Fantinens Zimmer zeigen lassen.

Hier angelangt, schloß er die Thür auf und schlich sich leise, wie eine Krankenwärterin oder ein Spion hinein.

Genau genommen trat er nicht in das Zimmer ein. Er blieb auf der Thürschwelle stehen, den Hut auf dem Kopfe, die linke Hand in dem, bis ans Kinn zugeknöpften Rock. Sein Ellbogen umfing den Bleiknopf seines gewaltigen Stocks, der hinter seinem Rücken verschwand.

So stand er etwa eine Minute lang, ohne bemerkt zu werden. Plötzlich aber hob Fantine den Kopf hoch, erblickte ihn und zeigte ihn Madeleine.

In dem Augenblick, wo des Bürgermeisters Blick dem seinen begegnete, nahmen Javerts Züge einen grausigen Ausdruck an. Sein Gesicht glich dem Antlitz eines Teufels, der ein verloren geglaubtes Opfer wiederfindet.

Die Gewißheit, daß er endlich Jean Valjean in seinen Klauen hielt, ließ alle Empfindungen, die er im Herzen hegte, nach außen hervortreten. Der aufgewühlte Grund stieg an die Oberfläche. Den Aerger darüber, daß er eine Zeit lang einer falschen Fährte nachgegangen, beschwichtigte die stolze Genugthuung darüber, daß er von Anfang an das Richtige geahnt und lange Jahre hindurch einem bessern Instinkt gefolgt war. Seine Zufriedenheit gab sich in seiner hochmüthigen Haltung kund, und die ganze Widerwärtigkeit und Scheußlichkeit des boshaften Triumphes lagerte auf seiner engen Stirn.

Javert war selig, als wäre er im Himmel. Ohne sich klare Rechenschaft davon zu geben, war er sich doch einigermaßen bewußt, daß er, Javert, die Gerechtigkeit, die Aufklärung, die Wahrheit verkörpere, insofern sie Feinde alles Bösen sind. Er schwebte als Schutzengel im Glorienschein der Autorität, der Vernunft, der Ordnung, die seiner bedurften und dankbar zu ihm aufschauten, und schleuderte den Strahl der Rache auf das Verbrechen, das Laster, die Rebellion, die Hölle. Aber so verdammenswert Javerts Gefühle waren, Gemeines haftete ihnen nicht an.

Redlichkeit, Aufrichtigkeit, Ueberzeugungstreue, Pflichtgefühl sind Eigenschaften, die, irre geleitet, sich auf eine abscheuliche Art äußern können, die aber auch dann noch die Merkmale des Großen, Majestätischen behalten. Die erbarmungslose ehrliche Freude eines Schwarmgeistes, der im Dienste eines edlen Prinzips einen scheußlichen Frevel verübt, hat immer etwas, das Achtung gebietet. Javert war, ohne es zu ahnen, beklagenswert, wie jeder Unwissende, der einen Triumph davonträgt und beweist, wie böse das Gute sein kann.

Die Obrigkeit macht ihr Recht geltend

Seit dem Tage, wo der Bürgermeister sie aus den Händen Javerts befreite, hatte Fantine ihn nicht wieder gesehen. Als er jetzt vor ihr auftauchte, konnte ihr kranker, schwacher Kopf keinen andern Gedanken fassen, als daß er gekommen sei, sie zu holen. Sie konnte den Anblick des fürchterlichen Menschen nicht ertragen, vergrub ihr Gesicht in ihre Hände und schrie angstvoll:

»Herr Madeleine, retten Sie mich!«

Jean Valjean — wir werden ihn fortan nicht anders nennen — hatte sich erhoben und sagte jetzt mit seiner sanftesten und mildesten Stimme zu Fantine:

»Seien Sie unbesorgt. Er kommt nicht Ihretwegen.«

Dann wandte er sich zu Javert mit den Worten:

»Ich weiß, was Sie wollen.«

»Vorwärts marsch!« brüllte Javert.

Er verfuhr nicht wie gewöhnlich, gab nicht an, weswegen er gekommen sei, zeigte nicht den Vorführungsbefehl vor. Für ihn war Jean Valjean ein räthselhafter, unfaßbarer Gegner, ein teufelhafter Ringer, mit dem er sich nun schon fünf Jahre herumbalgte, ohne ihn werfen zu können. Diese Verhaftung war nicht die Einleitung zu einem Kampfe, nein, das Ende. Deshalb unterließ er alle weitläufigen Erklärungen und donnerte nur: »Vorwärts marsch!«

Dabei trat er keinen Schritt vor, sondern warf auf Jean Valjean nur seinen Raubthierblick, mit dem er die unglücklichen Opfer des Elends zu fasciniren und an sich heranzuziehen gewohnt war.

Dies war der Blick, der vor zwei Minuten Fantine bis ins innerste Mark durchschauert hatte.

Als Javert aufschrie, hatte Fantine die Augen wieder geöffnet. Aber der Herr Bürgermeister war da. Was hatte sie also zu fürchten?

Jetzt trat Javert bis in die Mitte des Zimmers vor und sagte:

»Nun, wirst Du bald kommen?«

Die Unglückliche blickte um sich. Es war Niemand da, als die Nonne und der Herr Bürgermeister. Wem galt das verächtliche Du? Doch nur ihr! Sie zitterte.

Da sah sie etwas Ungeheuerliches, wie sie Ungeheuerlicheres auch nicht im ärgsten Fieberwahnsinn erschaut hatte.

Sie sah, wie der Spitzel Javert den Herrn Bürgermeister am Kragen packte, sah den Herrn Bürgermeister demüthig das Haupt neigen. Ihr war, als ginge die Welt unter.

»Herr Bürgermeister!« rief sie aus.

Javert lachte teuflisch auf.

»Mit der Bürgermeisterschaft ist’s vorbei!«

Jean Valjean wehrte sich nicht gegen die Hand, die seinen Rockkragen fest hielt, und sagte blos:

»Javert …«

»Herr Inspektor!« »hast Du mich zu nennen.«

»Herr Inspektor, ich möchte Ihnen ein Wörtchen unter vier Augen sagen.«

»Laut! Sprich laut! Mit mir spricht man laut!«

Jean Valjean aber fuhr noch leiser fort:

»Ich habe Ihnen eine Bitte vorzutragen.«

»Ich sage Dir, Du sollst laut sprechen!«

»Es darf aber kein Andrer hören als Sie.«

»Ist mir egal! Ich will nichts hören.«

Jean Valjean wandte sich nach ihm um und sagte rasch und ganz leise:

»Gewähren Sie mir drei Tage Frist! Blos drei Tage, damit ich die kleine Tochter der armen Frau da herholen kann. Ich bezahle, was nöthig ist. Sie können mich begleiten, wenn Sie wollen.«

»Du spaßt!« schrie Javert. »Hör’ mal, für dämlich habe ich Dich bis jetzt nicht gehalten! Drei Tage Frist willst Du haben, damit Du mir abschrammen kannst. Und da sagt er, das Kind will er holen! Der Spaß ist gut! Donnerwetter, der Spaß ist gut!«

Fantine erschrak.

»Mein Kind holen! Sie ist also nicht hier? Antworten Sie, Schwester: Wo ist Cosette? Ich will mein Kind haben! Herr Madeleine! Herr Bürgermeister!«

Javert stampfte mit dem Fuß auf.

»Nun fängt Die auch noch an! Wirst Du’s Maul halten, Kanaille! Nettes Land, wo man die Zuchthäusler zu Bürgermeistern ernennt und wo Dirnen wie Gräfinnen gehalten werden. Aber das wird jetzt anders werden. Es war auch Zeit.«

Er sah Fantine fest an, packte Halstuch, Hemde und Kragen seines Arrestanten noch derber und sagte:

»Von einem Herrn Madeleine und einem Herrn Bürgermeister ist hier nicht die Rede. Hier handelt’s sich um einen Spitzbuben, einen Räuber, einen Galgenvogel, Namens Jean Valjean. Den führe ich jetzt ab. Verstanden?«

Fantine stemmte die Hände vor sich auf das Bett und fuhr jäh in die Höhe. Dann starrte sie Jean Valjean, Javert, die Nonne an; riß den Mund auf, um zu sprechen, stieß aber nur ein Röcheln aus der Kehle hervor, schlug die Zähne aneinander, streckte angstvoll die Hände aus und griff mit den geöffneten Händen um sich, wie ein Ertrinkender und fiel endlich auf das Kissen zurück. Dabei schlug ihr Kopf heftig auf den eisernen Rand des Bettgestells auf und sank auf ihre Brust herab.

Sie war tot.

Jean Valjean ergriff Javert’s Hand und zwang ihn ohne Mühe, als hätte er mit einem Kinde zu thun, ihn loszulassen.

»Sie haben sie umgebracht!« rief er.

»Wirst Du bald ein Ende machen?« antwortete wüthend Javert. »Ich bin nicht hier, um Redensarten zu hören. Das können wir uns ersparen. Unten steht die Wache. Fix oder Du kriegst die Daumenschrauben zu kosten.«

In einer Ecke des Zimmers stand eine alte eiserne Bettstelle, die stark demolirt war, obgleich sie noch von den Schwestern des Nachts benutzt wurde. Auf diese Bettstelle schritt Jean Valjean jetzt zu, brach im Nu, was für einen Mann von seiner Muskelkraft leicht genug war, die Querstange am Kopfende, die ohnehin nicht mehr fest saß, ab und faßte Javert scharf ins Auge. Der fand es rathsam, sich rückwärts nach der Thür hin zu konzentriren.

Nun schritt Jean Valjean, die eiserne Stange in der Faust, langsamen Schrittes auf Fantinens Bett zu. Hier wendete er sich um und sagte mit kaum hörbarer Stimme:

»Ich möchte Ihnen nicht rathen, mich jetzt zu stören.«

Javert zitterte.

Er wollte einen Augenblick die Wache rufen, aber während der Zeit konnte Jean Valjean ihm entwischen. Er blieb also, faßte seinen Stock bei dem dünnen Ende und lehnte sich an die Thürbekleidung, ohne Jean Valjean aus den Augen zu lassen.

Jean Valjean seinerseits stützte den Ellbogen auf den Knauf der Bettstelle und die Stirn auf seine Hand. Dann betrachtete er stumm, in tiefe Gedanken versunken, die tote Fantine und auf seinem Gesicht war nur ein Ausdruck unendlichen Mitleids zu lesen. Nachdem er so eine Weile verharrt hatte, beugte er sich zu der Leiche nieder und sprach leise zu ihr:

Was sagte er zu ihr? Was konnte der Verstoßene wohl der Toten sagen? Niemand auf Erden hat seine Worte gehört. Vielleicht die Tote? Ueber allem Zweifel erhaben ist aber, daß Schwester Simplicia, die einzige Zeugin dieses Vorgangs, oft erzählt hat, in dem Augenblick, wo Jean Valjean sich zu Fantinens Ohr niederneigte, habe ein seliges Lächeln die blassen Lippen der Toten umspielt.

Dann nahm Jean Valjean Fantinens Kopf in seine Hände, legte ihn sorgsam, wie eine Mutter ihr Kind bettet, auf das Kissen nieder, band ihr Hemd oben zu und schob ihr Haar unter ihre Haube zurück. Hierauf drückte er ihr die Augen zu.

Fantinens Antlitz überstrahlte in diesem Augenblick eine seltsame Helle, die des Jenseits.

Nun kniete Jean Valjean vor der Toten nieder, ergriff sanft ihre Hand und küßte sie.

Dann stand er aus und sagte zu Javert:

»Jetzt machen Sie mit mir, was Sie wollen.«

Ein anständiges Begräbniß

Javert führte Jean Valjean in das Stadtgefängniß ab.

Madeleines Verhaftung verursachte in Montreuil-sur-Mer ein außerordentliches Aufsehen, eine allgemeine Aufregung. Zu unserem größten Leidwesen können wir nicht verhehlen, daß so ziemlich alle Welt ihn im Stich ließ, blos weil er im Zuchthaus gesessen hatte. Allerdings kannte man noch nicht den Hergang, wie er sich in Arras abgespielt hatte. Den ganzen Tag über konnte man in der ganzen Stadt Unterhaltungen folgenden Kalibers hören:

»Wissen Sie schon, er war ein entlassener Galeerensklave? Wer denn? — Der Bürgermeister. — Ach was! Herr Madeleine? — Ja ja! — Wirklich? — Er hieß gar nicht Madeleine, sondern Bejean, Bojean oder Boujean; na, kurz, ein ganz gemeiner Name. — Gott erbarme sich! — Er ist dingfest gemacht! — Dingfest! — Vorläufig sitzt er im Stadtgefängniß. — Vorläufig? — Ja wohl. Er kommt vor’s Schwurgericht wegen eines Straßenraubes. — Nun, das wundert mich gar nicht. Der Mann war zu gut, zu vollkommen, zu fromm. Er schlug das Ordenskreuz aus, gab allen Betteljungen Almosen u. s. w. Ich habe mir immer gedacht, daß etwas Unterköthiges sich dahinter verbarg!«

Die vornehme Welt besonders stimmte diesen Ton an.

Unter Anderem machte eine alte Dame, eine Abonnentin des royalistischen Drapeau blanc, folgende unergründlich tiefsinnige Bemerkung:

»Mir thut es weiter nicht leid. Ist es doch eine gute Lehre für die Bonapartisten!«

So verschwand das Phantom, das den Namen Madeleine geführt hatte, aus der Stadt Montreuil-sur-Mer. Nur drei oder vier Leute in der ganzen Stadt bewahrten ihm ein treues Andenken. Eine von ihnen war die alte Portierfrau, die bei ihm gedient hatte.

Diese brave Alte saß am Abend des Tages, wo er verhaftet worden war, in ihrer Wohnung, noch ganz bestürzt und voll trübsinniger Gedanken. Die Fabrik war den ganzen Tag geschlossen gewesen, der Thorweg verriegelt, die Straße verödet. In dem Hause befanden sich nur die beiden Nonnen, Schwester Perpetua und Schwester Simplicia, die an dem Bette Fantinens wachten.

Zu der Zeit, wo Madeleine nach Hause zu kommen pflegte, stand die alte Portierfrau, der Gewohnheit gehorchend, auf, nahm den Schlüssel zu seinem Zimmer aus einer Schublade, so wie den Leuchter, den er des Abends gebrauchte, wenn er in sein Zimmer hinaufstieg; hängte dann den Schlüssel an den Nagel, wo ihn Madeleine zu finden gewohnt war und stellte den Leuchter daneben, als ob sie ihn erwartete. Hierauf setzte sie sich wieder hin und hing ihren Gedanken nach. Alles dies that die arme Alte, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Erst zwei Stunden später erwachte sie aus diesem Zustande mit dem Ausruf: »I du mein Gott! Wie komme ich bloß dazu, daß ich seinen Schlüssel an den Nagel gehängt habe?«

In demselben Augenblick ging die Thür auf, eine Hand langte herein, ergriff Schlüssel und Leuchter und zündete die Kerze an dem brennenden Talglicht der Portierfrau an.

Diese sah mit weit aufgerissenem Munde und mit verhaltenem Athem zu.

Sie kannte die Hand, den Arm, den Rockärmel.

Es war Madeleine.

Es währte einige Sekunden, ehe sie sprechen konnte. So starr war sie vor Schrecken, wie sie später erzählte.

»Mein Gott, Herr Bürgermeister,« rief sie aus, »ich glaubte, Sie wären …«

Sie wagte nicht fortzufahren, denn das Ende ihrer respektvoll begonnenen Rede wäre respektwidrig ausgefallen, und für sie war Jean Valjean noch immer der Herr Bürgermeister.

Er beendete den Satz, den sie angefangen:

»Im Gefängniß, meinen Sie. Nun ja, da war ich auch. Aber ich habe eine Stange der Fenstervergittrung herausgebrochen, habe mich von einem Dach hinabfallen lassen und hier bin ich. Ich gehe jetzt auf mein Zimmer und Sie, holen Sie Schwester Simplicia. Sie ist gewiß bei der Leiche der armen Fantine.«

Die Alte gehorchte in aller Eile.

Er gab ihr keine Verhaltungsregeln. War er doch sicher, daß sie ihn besser hüten würde, als er sich selbst.

Wie er es angestellt hat, um in den Hof zu gelangen, da die Hauptthür des Hauses verriegelt war, hat man nie erfahren können. Er hatte einen Schlüssel zu einer kleineren seitlichen Thür, den er immer bei sich trug; aber diesen Schlüssel hatte man ihm doch wohl abgenommen, als er bei seiner Verhaftung visitirt wurde. Jedenfalls ist dieser Punkt nie aufgeklärt worden.

Er stieg also die Treppe, die zu seinem Zimmer führte, hinauf. Oben angelangt, ließ er das Licht auf einer der letzten Stufen zurück, schloß leise die Thür auf, machte im Dunkeln das Fenster und den Fensterladen zu und holte erst jetzt den Leuchter.

Diese Vorsicht war nicht überflüssig; denn sein Fenster konnte, wie man sich erinnern wird, von der Straße aus gesehen werden.

Nun blickte er um sich, nach dem Tisch, dem Stuhl, dem Bett, das seit drei Tagen unbenutzt dastand. Von der Unordnung, die er vor zwei Tagen angerichtet hatte, war keine Spur mehr zu sehen. Die Portierfrau hatte das Zimmer in der gewohnten Weise »aufgeräumt und rein gemacht.«

Nur hatte sie aus der Asche die beiden Stockzwingen und das vom Feuer geschwärzte Zweifrankenstück aufgelesen und säuberlich auf den Tisch gelegt.

Madeleine nahm jetzt ein Blatt Papier und schrieb: »Dies sind die beiden Zwingen von meinem Knotenstock und das dem kleinen Gervais abgenommene Zweifrankenstück, dessen ich in der Verhandlung Erwähnung that.« Auf dieses Blatt Papier legte er dann das Geldstück und die beiden Zwingen, so daß sie jedem, der in das Zimmer trat, recht in die Augen fallen mußten. Darauf entnahm er einem Schrank ein altes Hemd, daß er in zwei Stücke zerriß, und wickelte die beiden Leuchter ein, aber ohne Hast und in aller Ruhe, denn er aß während dieser Arbeit noch ein Stück schwarzes Brod, wahrscheinlich das Gefängnißbrod, das er bei seiner Flucht mitgenommen hatte.

Dies erkannte man an den Brodkrümchen, die man später bei der Haussuchung fand.

Da klopfte es zweimal an die Thür.

»Herein!« rief er.

Es war Schwester Simplicia.

Sie war bleich, hatte rothe Augen, und der Leuchter, den sie in der Hand hielt, zitterte heftig. Schwere Schicksalsschläge haben die Eigentümlichkeit, daß sie, so vollkommen oder so abgestumpft wir auch sein mögen, unser Innerstes aufwühlen und das wesentlich Menschliche zu Tage legen. Tief erregt durch die Ereignisse dieses Tages war die Nonne wieder Weib geworden, hatte geweint und zitterte.

Jean Valjan schrieb noch einige Zeilen auf ein zweites Stück Papier und überreichte es der Nonne mit den Worten:

»Ehrwürdige Schwester, geben Sie diesen Zettel dem Herrn Pfarrer.«

Das Papier war nicht zusammengefaltet, und sie ließ einen Blick darauf fallen.

»Sie können es lesen!« sagte er.

Sie las; »Ich ersuche Se. Hochehrwürden Alles, was ich hier zurücklasse, an sich zu nehmen, und damit die Kosten meines Prozesses und die Beerdigung der heute verstorbenen Fantine zu bestreiten. Das Uebrige sollen die Armen bekommen.

Die Schwester wollte sprechen, aber sie konnte fast nur unverständliche Laute hervorbringen. Zuletzt aber brachte sie doch einige zusammenhängende Worte heraus:

›Wünschen der Herr Bürgermeister nicht die Leiche der armen Fantine noch einmal zu sehen?‹

›Nein!‹ antwortete er. ›Die Polizei ist mir auf den Fersen. Würde ich in ihrem Zimmer arretirt werden, so könnte das ihre Ruhe stören.‹

Diese Worte hatte er kaum zu Ende gesprochen, als sich auf der Treppe ein starkes Geräusch vernehmen ließ. Schwere Tritte kamen herauf, und die alte Portierfrau schrie so laut und durchdringend sie konnte:

›Ich schwöre Ihnen beim lieben Herrgott, daß den ganzen Tag und den ganzen Abend Niemand gekommen ist. Ich habe sogar die ganze Zeit über keinen Fuß aus meiner Wohnung gesetzt.‹

›Es ist aber Licht in dem Zimmer,‹ antwortete eine Männerstimme, an der sie Javert erkannten.

Die Zimmerthür war so angebracht, daß sie, wenn sie aufgemacht wurde, die Ecke rechts verdeckte. In diese Ecke stellte sich jetzt Jean Valjean, nachdem er das Licht ausgeblasen hatte.

Schwester Simplicia sank neben dem Tisch auf die Kniee.

Nun ging die Thür auf und Javert kam herein, während man vom Korridor her Geflüster und die lauten Reden der Portierfrau vernahm.

Die Nonne erhob nicht die Augen. Sie betete.

Das Licht stand auf dem Kaminsims und erleuchtete das Zimmer nur schwach.

Als Javert die Schwester bemerkte, blieb er verdutzt stehen.

Der Hauptzug von Javerts Charakter, sein Element, die Sphäre, in der er lebte und webte, war, wie wir schon auseinandergesetzt haben, Achtung vor jedweder Autorität. Hiergegen ließ er weder einen Widerspruch noch eine Einschränkung gelten. Selbstverständlich war für ihn die Autorität der Geistlichkeit die allerhöchste; er war religiös und in dieser Hinsicht, wie in jedem andern Punkte äußerst korrekt. In seinen Augen war ein Priester eine Intelligenz, die sich nicht irrt; eine Nonne ein Wesen, das nicht sündigt. Er sah in ihnen Seelen, die von der Welt durch eine unübersteigbare Mauer getrennt waren, und in dieser Mauer war ein Thor, das sich nur aufthun konnte, um die Wahrheit hinauszulassen.

Als er die Schwester bemerkte, wollte er sofort umkehren.

Aber dieser ersten Regung stellte sich eine andere entgegen, sein Pflichtgefühl, das ihn gebieterisch nach einer anderen Seite hintrieb. Er blieb also und wollte wenigstens sich erlauben, eine Frage zu thun.

Er stand vor jener Schwester Simplicia, die nie in ihrem Leben gelogen hatte. Dies wußte Javert und hegte deshalb für sie eine besondere Ehrfurcht.

›Ehrwürdige Schwester, sind Sie in diesem Zimmer allein?‹

Es trat eine kurze, aber peinliche Pause ein, wo die arme Portierfrau vor Angst zu vergehen glaubte.

›Ja!‹ hauchte endlich die barmherzige Schwester, indem sie die Augen aufhob.

›Also haben Sie nicht — ich bitte um Verzeihung wegen meiner Aufdringlichkeit, aber meine Pflicht verlangt es — Jemand hier gesehen, einen Mann, der aus dem Gefängniß entsprungen ist und von der Polizei gesucht wird, einen gewissen Jean Valjean?‹

Die Schwester antwortete: ›Nein!‹

Sie log, log zweimal hintereinander. Schlag auf Schlag, ohne Bedenken, rasch wie Einer, der sein Leben zum Opfer bringt.

›Ich bitte ergebenst um Verzeihung‹, sagte Javert und zog sich mit einer tiefen Verbeugung zurück.

Fromme Schwester, seit vielen Jahren weilst Du nicht mehr auf dieser Welt! Du bist in das Reich des Lichtes emporgestiegen, wieder zu Deinen Schwestern, den Jungfrauen, und Deinen Brüdern, den Engeln versammelt. Möge Dir diese Lüge im Paradiese angerechnet sein!

Die Versicherung der barmherzigen Schwester hatte solche Beweiskraft für Javert, daß er nicht einmal die sonderbare Kerze auf dem Tische beachtete, die erst eben ausgeblasen war und noch schwelte.

Eine Stunde später wanderte ein Mann durch Nacht und Nebel in der Richtung von Montreuil-sur-Mer nach Paris. Dieser Mann war Jean Valjean. Laut Her Aussage einiger Fuhrleute, die ihm begegneten, trug er ein Bündel und war mit einem Kittel bekleidet. Wo er diesen Kittel her hatte, hat man nie erfahren. Aber vor wenigen Tagen war in dem Hospital der Fabrik ein alter Arbeiter gestorben, der nur einen Kittel hinterließ. Vielleicht war es dieser.

Noch ein Wort über Fantine, das letzte.

Wir haben Alle eine Mutter, die Erde. Dieser Mutter wurde Fantine wiedergegeben.

Der Pfarrer glaubte richtig zu handeln, — und vielleicht hatte er Recht — indem er von Jean Valjean habe so viel Geld wie möglich für die Armen behielt. Um wen handelte es sich denn? Um einen Zuchthäusler und ein öffentliche Dirne. Deshalb vereinfachte er Fantinens Beerdigung und begnügte sich für sie mit dem Allernothwendigsten, der gemeinsamen Totengrube.

Fantine wurde also in der Ecke des Friedhofs zur Ruhe bestattet, die nichts kostet, die Allen und Keinem gehört, und wo die Leichen der Armen auf einen Haufen und durch einander geworfen werden. Zum Glück verwechselt Gott die Seelen nicht. Auch Fantine wurde bei nächtlicher Dunkelheit auf die ersten besten Knochen gelegt, und ihre Asche mit anderer Asche vermischt.

Teil II

Cosette

Waterloo

Was man sieht, wenn man von Nivelles kommt

An einem schönen Maimorgen des Jahres 1861 wanderte Jemand, — Derjenige, der diese Geschichte erzählt, — von Nivelles in der Richtung nach La Hulpe. Eine Viertelstunde hinter einem Wirtshause, auf dessen Schild! ›Zu den vier Winden. Echabeau, Privatcafé‹ zu lesen war, gelangte er auf der welligen Chaussee in ein kleines Thal, wo rechts vom Wege eine Herberge lag. Hier zog sich seitwärts neben einem Ententeich ein schlecht gepflasterter Pfad, den der Wanderer betrat. Nachdem er daselbst an einer spitzgiebeligen Mauer aus dem 15. Jahrhundert eine Strecke entlang gegangen, sah er ein großes gewölbtes Thor mit geradem Kämpfer, in dem majestätischen Stil Ludwigs XIV., mit einem flachen Rundbild an jeder Seite. Auf der Wiese, die sich vor dem Thor ausdehnte, lagen drei Eggen, durch deren Oeffnungen alle möglichen Maiblumen hindurchgewachsen waren.

Der Wanderer bückte sich und betrachtete aufmerksam das untere Ende des Gurtpfeilers, wo ihm eine merkwürdige rundliche Aushöhlung auffiel. In demselben Augenblick öffneten sich auch die beiden Thorflügel und eine Bäuerin trat heraus.

›Das ist von einer französischen Kanonenkugel!‹ bemerkte sie zu dem Fremden. ›Und das Loch weiter oben, in der Thür, hat eine Kartätschenkugel gemacht. Die ist nicht durchgegangen.‹

Wie heißt dieser Ort?« fragte der Wanderer.

»Hougomont.«

Der Fremde richtete sich wieder auf, warf einen Blick über die Hecken und bemerkte am Horizont, durch die Bäume hindurch, eine Art Hügel und auf diesem Hügel etwas, das aus der Ferne einem Löwen ähnlich sah.

Er stand auf dem Schlachtfeld von Waterloo.

Hougomont

Hougomont war das erste Hindernis, auf das Napoleon, Europas großer Baumfäller, bei Waterloo stieß; der erste Knast, den seine Axt nicht durchhauen konnte.

Ehedem war es ein Schloß, jetzt nur noch ein Gehöft. Hougomont ist für den Alterthumskenner eine von Hugo, dem Herrn von Somerel, erbaute Burg.

Der Wanderer stieß die Thür auf und trat in den Hof. Hier sah er eine Mistgrube, Spaten und Karste, einige Karren, einen alten Brunnen mit Traufrinne und eisernem Drehkreuz, ein hüpfendes Füllen, einen Truthahn, eine Kapelle mit einem Türmchen, einen Birnbaum. Dies also war der Hof, dessen Eroberung für Napoleon ein unerreichbares Ideal blieb! Dieser Fleck Erde würde ihm, wenn er ihn hätte bekommen können, zur Weltherrschaft verholfen haben.

Hier bewiesen die Engländer eine bewundernswert Tapferkeit. Hier erwehrten sich die vier Kompagnien der Cooke’schen Garden sieben Stunden lang einer ganzen Armee.

Auf der Karte stellt sich Hougomont als ein unregelmäßiges Rechteck dar, dessen eine Ecke abgestumpft ist. Hier befindet sich das Südthor. Denn Hougomont hat zwei Thore, ein südliches, das Schloßthor, und ein nördliches, das in das Gehöft führt. Gegen diesen Ort also sandte Napoleon seinen Bruder Jérôme; hier trafen die Divisionen Guilleminot, Foy und Bachelu zusammen, fast das ganze Armeekorps Reille wurde hier verwendet und zurückgewiesen; Kellermanns Kanonen richteten nichts aus gegen dies tapfere Stück Mauer und es bedurfte der größten Anstrengungen seitens der Brigade Bauduin, um von Norden in Hougomont einzudringen, während die Brigade Soye im Süden sich nur eines geringen Theils bemächtigen konnte.

Ein Bruchstück des Nordthors hängt noch an der Mauer. Es besteht aus vier Brettern samt den zwei Querhölzern, worauf die Bretter aufgenagelt sind; an diesem Bruchstück sieht man noch die Spuren, die von dem Kampfe beredtes Zeugnis; ablegen. Auch der Thürpfosten wies noch lange Zeit nachher Abdrücke von blutigen Händen auf. An dieser Stelle wurde Bauduin getödtet.

Im Jahre 1815 standen auf diesem Hof eine Menge Gebäude, die in der Schlacht als Redouten, Fleschen, Schanzen benutzt wurden. Die Franzosen konnten sie nicht nehmen, nicht behaupten. Von allen Seiten, den Böden, den Kellern, den Fenstern herab beschossen, brachten die Angreifer Faschinen herbei, um die Gebäude in Brand zu stecken, aber ohne Erfolg.

In dem zerfallenen Schloßflügel sieht man durch vergitterte Fenster demolirte Wachtstuben und eine zweistöckige, vom Erdgeschoß bis zum Dach hinauf geborstene Wendeltreppe. Auf den oberen Stufen dieser Treppe belagert, zerstörten die englischen Gardisten die unteren, deren Trümmer, große blaue Fliesen, noch heute zwischen den Brennnesseln liegen.

Auch in der Kapelle haben Franzosen und Engländer sich gemordet. Drinnen sieht es seltsam genug aus. Die Messe ist hier seit dem Gemetzel nicht mehr gelesen worden. Aber der Altar ist stehen geblieben. Vier weiß getünchte Wände, dem Altar gegenüber eine Thür, zwei gewölbte Fensterchen, oben an der Thür ein Krucifix, darüber ein viereckiges mit Heu verstopftes Loch, in einer Ecke ein alter Fensterrahmen: So sieht diese Kapelle jetzt aus. In der Nähe des Altars ist eine Holzstatue der heil. Anna aus dem 15. Jahrhundert angenagelt; der Kopf des Jesuskindes wurde von einer Kanonenkugel abgeschlagen.

Auch durch Feuer ist das Gotteshaus beschädigt worden. Die Franzosen, die sich desselben schon bemächtigt hatten, wurden hinausgetrieben, kehrten aber wieder zurück und warfen Feuer hinein. Das ganze Gebäude brannte wie ein Hochofen, die Thür, die Dielen brannten, nur das hölzerne Christusbild nicht. Zwar die Füße hat das Feuer arg mitgenommen, aber sonst ist es unbeschädigt geblieben. Ein Wunder! sagen die Leute der Umgegend. Ja, aber das Jesuskind, dem der Kopf abgerissen wurde, ist doch nicht so glücklich gewesen, wie das Christusbild!

Die Wände der Kapelle sind mit Inschriften bedeckt. Nahe den Füßen des Christusbildes liest man den Namen Henquinez. Und viele andere: Conde de Rio Maior, Marques y Marquesa de Almagro (Habana). Auch französische Namen mit wüthenden Ausrufungszeichen.

An der Thür der Kapelle wurde ein Leichnam aufgelesen, der eine Axt in der Hand hielt. Es war die Leiche des Unterlieutenants Legros.

Tritt man hinaus, so sieht man links einen Brunnen. Auf dem Hofe ist noch ein anderer. Man fragt: »Wozu zwei Brunnen? Warum ist der hier nicht mit Rolle und Eimer versehen?« »Ja, der ist voller Skelette!«

Der Letzte, der Wasser aus diesem Brunnen geschöpft hat, hieß Wilhelm van Kylsom. Er war ein Bauer, der in Hougomont wohnte und die Gärtnerei betrieb. Seine Familie flüchtete sich am 18. Juni 1815 in den Wald, der damals mehrere Tage und Nächte die obdachlose Bevölkerung der Umgegend aufnahm und noch viele Jahre nachher Spulen dieses Aufenthalts, namentlich verkohlte alte Baumstümpfe, aufwies.

Wilhelm van Kylsom dagegen blieb in Hougomont, um »das Schloß zu hüten« und — verkroch sich in einen Keller. Hier entdeckten ihn die Engländer, holten ihn aus seinem Schlupfwinkel heraus und bedeuteten ihm, indem sie mit den flachen Klingen auf ihn losschlugen, daß sie Wasser haben wollten. Dies brachte er ihnen dann aus dem erwähnten Brunnen.

Nach der Schlacht hatte man Eile, die Leichen wegzuschaffen. Denn der Tod verfolgt auch nachher noch den Sieger, indem er die Pest gegen ihn ausschickt. Der Typhus ist eine Ergänzung des Triumphes. Da kam also den Siegern der Brunnen, der sehr tief ist, recht gelegen. Er nahm dreihundert Leichen auf. Waren auch Alle, die hineingeworfen wurden, wirklich schon Leichen? Manche behaupten »Nein!« Die Nacht darauf liehen sich im Brunnen schwache Stimmen, die um Hilfe riefen, vernehmen.

Ein Haus auf dem Gehöft ist noch bewohnt, An der Thür dieses Hauses ist eine kunstvolle Klinke, Diese ergriff der hannoversche Lieutenant Wilda, um sich in das Haus zu flüchten, als plötzlich ein Sappeur ihm die Hand abhieb.

Die Familie, die in diesem Hause wohnt, stammt von dem erwähnten Gärtner Wilhelm van Kylsom, der nun schon längst gestorben ist. Eine Frau in grauen Haaren erzählte mir, als ich mich 1861 dort aufhielt! »Ich war damals drei Jahre alt, Meine Schwester, die größer war als ich, fürchtete sich und weinte. Man trug uns weg, in den Wald, Mich nahm meine Mutter auf den Arm, Alles legte sich platt auf die Erde und horchte. Ich machte den Kanonendonner nach: Bumm! Bumm!«

Durch die eine Thür des Hofes gelangt man in den Garten, einen wahren Schreckensort,

Er besteht aus drei Theilen. In dem einen, dem Blumengarten, der tiefer gelegen ist, fingen sich sechs Voltigeure des ersten Regiments der Chevaux-legers wie Bären in einer Grube, und nahmen den Kampf gegen zwei Kompagnieen Hannoveraner auf, von denen die eine mit Karabinern bewaffnet war. Die Angreifer, zweihundert an der Zahl, legten sich hinter das Steingeländer, das den Blumengarten umgiebt, und schossen von oben auf die Sechs hinab, die, nur von den Sträuchern geschützt, sich eine Viertelstunde lang wehrten, ehe sie unterlagen.

Von dem Blumen- zu dem Obstgarten hinauf führen einige Stufen. Hier fielen binnen einer Stunde, auf einem Raum, der nur wenige Quadratklaster mißt, fünfzehnhundert Mann, Noch steht die Mauer so vertheidigungsfähig wie damals, mit den achtunddreißig Schießscharten, die von den Engländern in verschiedenen Höhen angebracht wurden. Vor der Mauer, nach Süden zu, ist eine hohe Hecke, die sie dem Blick entzieht, und als die Franzosen den Ort stürmten, glaubten sie, sie hätten es nur mit diesem Hindernis zu thun. Plötzlich aber sahen sie die Mauer vor sich, und aus den Schießscharten prasselte ein fürchterliches Kanonen- und Gewehrfeuer auf sie hernieder, so daß der Angriff der Brigade Soye hier scheiterte. So fing Waterloo an.

Dennoch wurde der Baumgarten genommen. Da sie keine Leitern hatten, krallten sich die Franzosen mit den Nägeln ein. Dann wurde Mann gegen Mann unter den Bäumen gekämpft. Alles Gras bethaute sich mit Blut. Ein Nassausches Bataillon, siebenhundert Mann stark, wurde da über den Haufen geschossen. Nach außen zu, wo Kellermann das Gemäuer mit zwei Batterien bearbeitete, trägt es die Spuren von Kartätschenkugeln.

Dieser Garten ist im Monat Mai so idyllisch und friedlich wie jeder andere. Hier blühen Maßliebchen, werden Pferde, trocknen Frauen ihre Wäsche, wühlen Maulwürfe ihre Gänge unter der Erde. Aber im Grase liegt ein entwurzelter, noch lebensfähiger Baumstamm. An diesen hat sich damals der Major Blackman angelehnt, um zu sterben. Unter einem andern großen Baum fiel der deutsche General Duplat, ein Sprößling einer französischen Hugenottenfamilie, die durch das Edikt von Nantes heimatlos wurde. Neben diesem Baum steht ein anderer, ein Apfelbaum, dem nach der Schlacht ein Verband aus Stroh und Lehm angelegt wurde, und so wie er erhielten alle andern Bäume mehr oder minder schwere Wunden durch Gewehr- und Kanonenkugeln.

Also Bauduin getötet, Foy verwundet, Brand, Mord, Ströme von französischem, englischem, deutschem Blut, ein Brunnen voll Leichen, das Regiment Nassau und das Regiment Braunschweig vernichtet, Duplat, Blackman getötet, die englische Garde decimirt, zwanzig Bataillone von den vierzig des Reille’schen Armeekorps niedergemacht, dreitausend Menschen allein in der alten Baracke Hougomont niedergesäbelt, -geschossen; -gestochen und verbrannt, und wozu das alles? Damit jetzt ein Bauer zu einem Fremden sagen kann: »Mein Herr, wenn Sie mir drei Franken geben, zeige ich Ihnen das Schlachtfeld von Waterloo!«

Am 18. Juni 1815

Kehren wir, wie es das Recht des Erzählers ist, in die Vergangenheit zurück, versetzen wir uns in das Jahr 1815 und sogar noch vor die Zeit, wo die in dem ersten Theil dieses Buches erzählte Handlung beginnt.

Hätte es nicht in der Nacht vom 17. auf dem 18. Juni 1815 geregnet, so hätte sich die Zukunft Europas anders gestaltet. Einige wenige Tropfen Wasser haben die Wagschale des Geschicks zu Ungunsten Napoleons geneigt. Damit Austerlitz in Waterloo ausmündete, bedurfte die Vorsehung ein wenig Regen, und eine Wolke, die in einer gewöhnlich heitern Jahreszeit über den Himmel strich, genügte eine Welt zu zertrümmern.

Die Schlacht bei Waterloo hat erst um halb zwölf Uhr Morgens ihren Anfang nehmen können, was Blücher die Zeit gab, zur rechten Stunde hinzuzukommen. Warum nicht früher? Weil der Erdboden aufgeweicht war Man mußte warten, bis er wieder etwas fester wurde, und die Artillerie manövriren konnte.

Napoleon war ursprünglich Artillerieoffizier, und davon blieb zeitlebens etwas an ihm haften. Das Wesen seines gewaltigen Feldherrngenies lag schon in dein Bericht, den er über Abukir verfaßte: »Manche von unsern Kanonenkugeln haben je sechs Mann getötet.« Alle seine Schlachtpläne haben die Leistungsfähigkeit der Geschütze zur Voraussetzung. Die Artillerie auf einen gegebenen Punkt wirken zu lassen, darin bestand das Geheimnis seiner Siege. Er überschüttete den schwachen Punkt der feindlichen Schlachtordnung mit Kartätschen, durchbrach die Reihen seiner Gegner, zermalmte, zerstreute sie mit Kanonenschüssen. Eine furchtbare Methode! Im Verein mit dem Genie hat sie fünfzehn Jahre lang diesen gewaltigen Kriegesathleten unbesiegbar gemacht.

Am 18. Juni 1815 verließ er sich um so mehr auf die Artillerie, als er in dieser Hinsicht dem Gegner überlegen war. Wellington verfügte nur über hundertneunundfünfzig Feuerschlünde, Napoleon über zweihundertvierzig.

Wäre der Erdboden trocken gewesen, hätten die Geschütze die erforderliche Manövrirfähigkeit besessen, so konnte die Schlacht um sechs Uhr Morgens anfangen. Sie war dann um zwei Uhr Nachmittags beendet, drei Stunden, ehe die Preußen in den Kampf eingriffen.

Wieviel Schuld an den Verlust der Schlacht muß Napoleon beigemessen werden? Hat hier der Lootse den Schiffbruch veranlaßt?

Bedingte damals bei Napoleon der entschiedene Verfall seiner körperlichen Gesundheit zugleich eine Schwächung seiner Geisteskräfte? Hatten die zwanzig Kriegsjahre die Klinge ebenso stark, wie die Scheide, Leib und Seele gleich abgenutzt? Machte sich der Veteran in dem Feldherrn bemerkbar? Kurz, verdunkelte sich sein Genie, wie viele tüchtige Geschichtskenner angenommen haben? Verlor er die Herrschaft über sich selbst und suchte er sich über seinen moralischen Niedergang hinwegzutäuschen? Rechnete er zu sehr auf den Zufall? War er sich, was bei einem Feldherrn gefährlich ist, nicht mehr der Gefahr bewußt? Giebt es bei den großen Männern der materiellen That ein Alter, wo ihr Genie seine Sehkraft einbüßt? Den idealen Genies kann das Greisenalter nicht beikommen; die Dantes und die Michelangelos wachsen, je älter sie werden: Ist bei einem Hannibal und einem Bonaparte Altern gleichbedeutend mit Abnehmen? Und war Napoleon als Sechsundvierziger nur noch ein thörichter Wagehals?

Wir glauben das nicht.

Sein Schlachtplan war, wie allgemein zugestanden wird, ein Meisterwerk. Gerade auf das Centrum der verbündeten Armeen losgehen, ein Loch in den Feind bohren, ihn in zwei Stücke zerhauen, die brittische Hälfte nach Hai und die preußische nach Tongres hindrängen, Mont-Saint-Jean nehmen, auf Brüssel marschiren, den Deutschen in den Rhein und den Engländer in das Meer werfen, darauf kam es Napoleon an. Nachher wollte er weiter sehen.

Selbstredend maßen wir uns hier nicht an, eine Beschreibung der Schlacht bei Waterloo liefern zu wollen. Ein, für unsere Erzählung wichtiges Ereigniß bildet nur eine Scene in dem großen Schlachtendrama. Die Geschichte dieser Schlacht selbst aber wollen wir nicht schreiben, weil sie schon geschrieben ist, einerseits von Napoleon und, von einem andern Standpunkt aus, von einer ganzen Plejade von Historikern, Walter Scott, Lamartine, Vaulabelle, Charras, Quinet, Thiers. Was uns anbetrifft, so lassen wir die Geschichtsschreiber ihren Streit unter sich ausmachen; wir sehen nur von Ferne zu, wandern über das blutgetränkte Gefilde von Waterloo als Neugieriger und halten vielleicht Schein für Wirklichkeit; wir haben nicht das Recht im Namen der Wissenschaft einer Gesamtheit von Thatsachen zu widersprechen, die höchst wahrscheinlich dem Forscher Wahngebilde vorspiegeln, und besitzen weder militärische Praxis, noch theoretische Kenntnisse, um uns ein System zu machen. Unseres Erachtens leitete bei Waterloo ein besondere Verkettung von Zufällen die beiden Feldherren, und wir urtheilen, wenn es sich um eine Anklage gegen das geheimnißvolle Schicksal handelt, wie das naive Volk.

A

Wer sich ein klares Bild von dem Schlachtfeld bei Waterloo machen will, der stelle sich ein aus die Erde gelegtes, lateinisches A vor. Der linke Schenkel bedeutet dann die Landstraße von Nivelles, der rechte, die Straße von Genappe, der Verbindungsstrich ist der Hohlweg zwischen Ohain und Braine-l’Alleud. Die Spitze des A stellt Mont-Saint-Jean vor, wo Wellington stand; an dem linken unteren Ende liegt Hougomont, dort war Reille und Jérôme Bonaparte; das rechte untere Ende ist La Belle-Alliance. Etwas unter dem Punkt, wo der Verbindungsstrich den rechten Schenkel schneidet, liegt La Haie-Sainte. In der Mitte des Querstrichs ist der Punkt, wo das letzte Wort der Schlacht gesprochen wurde. Dort hat man das Denkmal aufgerichtet, einen Löwen, ein unfreiwilliges Symbol des heldenmüthigen Widerstandes der kaiserlichen Garde.

Das von den beiden Schenkeln und dem Querstrich gebildete Dreieck ist die Hochebene von Mont-Saint-Jean. Um den Besitz dieser Hochebene drehte sich die ganze Schlacht.

Die Flügel der beiden Armeen dehnten sich rechts und links von den beiden Landstraßen, der von Nivelles und der von Genappe, aus. D’Erlon stand Picton und Reille Hill gegenüber.

Hinter der Spitze des A, also hinter dem Plateau von Mont-Saint-Jean, liegt der Wald von Soignes.

Was die Ebene betrifft, so denke man sich ein welliges Terrain, wo die nächste Erhöhung immer mehr emporsteigt, als die vorhergehende, bis sie hinter Mont-Saint-Jean, in dem Walde, enden.

Beide Generäle hatten die Ebene von Mont-Saint-Jean, die man heutzutage die Ebene von Waterloo nennt, auf’s sorgfältigste studirt, Wellington schon im Jahre vorher, für den Fall einer großen Entscheidungsschlacht. Er hatte sich auch die vortheilhafteste Seite gewählt; denn am 18. Juni standen die Engländer oben und die Franzosen unten.

Hier ein Bild von Napoleons äußerer Erscheinung zu Pferde, mit dem Fernrohr in der Hand, zu entwerfen, ist fast überflüssig. Man kann ihn nicht mehr zeigen, alle Welt hat ihn schon gesehen. Das ruhige Profil unter dem kleinen Hute, die grüne Uniform mit den weißen Aufschlägen, der Rock, das rothe Ordensband, die Lederhose, der Schimmel mit der purpurnen Sammtschabracke, dem gekrönten N und den Adlern, die Reitstiefel über den langen seidenen Strümpfen, die silbernen Sporen, der Degen, den er einst bei Marengo getragen; kurz, die ganze Gestalt des letzten Cäsar steht vor dem Geiste Aller Derer, die ihn in den Himmel erheben, und Derer, die ihn verdammen.

Diese Gestalt erschien lange nur in ungetrübtem Glanze, weil der Ruhm der meisten Helden aus einem Gewebe von Sagen besteht, das die Wahrheit verschleiert; aber heutzutage ist dieser Schleier gefallen.

Die Geschichte ist unerbittlich und bringt, eben weil sie das Licht ist, oft Schatten dorthin, wo man bisher nur blendende prahlen sah. Aus einem Menschen macht sie zwei, die einer den andern bekämpfen und richten, der schändliche Despot den ruhmgekrönten Feldherrn. So gewinnen die Völker einen Maßstab, mit dem sie die großen Männer richtig und endgültig beurtheilen. Der Brand Babylons mindert Alexanders Größe; Roms Ketten machen Caesar Vorwürfe; Jerusalems Zerstörung ist ein Flecken aus Titus Ehrenschild,

Das Quid obscurum der Schlachten

Jedermann kennt das erste Stadium der Schlacht bei Waterloo, mit seinen unaufgeklärten und schwer verständlichen Einzelheiten, die für beide Theile, am meisten aber für die Engländer, eine bedrohliche Gestalt zeigten.

Es hatte die ganze Nacht geregnet; die Wege waren grundlos; alle tieferen Stellen der Ebene waren wie Waschbecken mit Wasser angefüllt; hier und da versenken die Trainfuhrwerke bis an die Achsen im Schlamm, und wenn nicht die Menge Wagen das Getreide niedergedrückt und so die Geleise ausgefüllt, sich eine Unterlage geschaffen hätten, so wäre jedes Vorrücken, namentlich in der Gegend von Papelotte, unmöglich gewesen. Der Kampf begann spät, denn Napoleon, der erst die gesammte Artillerie bei der Hand haben wollte, hatte beschlossen zu warten, bis die Geschütze sich schnell und sicher bewegen könnten. Dazu war aber nöthig, daß die Sonne schien und die Erde trocknete. Allein die Sonne, die dem Kaiser bei Austerlitz geleuchtet, ließ sich nicht blicken, und so trat eine verhängnisvolle Verzögerung ein. Als der erste Kanonenschuß gelöst wurde, sah der englische General Colville nach seiner Uhr und konstatirte, daß es fünfunddreißig Minuten nach elf war.

Das Gefecht entbrannte mit großer Heftigkeit, heftiger, als es Napoleon wohl wünschte; auf dem linken Flügel der Franzosen, der Hougomont angriff. Zur selben Zeit drang Napoleon gegen das feindliche Centrum vor, indem er die Brigade Quiot auf La Haie-Sainte stürzte, und Ney rückte mit dem rechten Flügel gegen den linken der Engländer, der sich an Papelotte anlehnte.

Der Angriff auf Hougomont bezweckte eine Täuschung Wellingtons: Er sollte sich nach links ziehen. Der Plan wäre auch gelungen, wenn die vier Kompagnien der englischen Garde und die tapfern Belgier der Division Perponcher nicht erfolgreichen Widerstand geleistet und sich in ihrer Stellung behauptet hätten. So aber konnte Wellington, statt das Gros seiner Armee dorthin zu verschieben, sich mit der Absendung von vier andern Gardekompagnien und einem Bataillon des Regiments Braunschweig als Verstärkung begnügen.

Der Angriff des rechten Flügels auf Papelotte sollte die Entscheidung herbeiführen. Es galt den linken Flügel der Engländer zurückzudrängen, die Straße nach Brüssel zu besetzen, den Preußen den Weg zu verlegen, Mont-Saint-Jean zu erstürmen, Wellington auf Hougomont, von dort auf Braine-l’Alleud und von da auf Hal zurückzutreiben. Abgesehen von einigen Zwischenfällen gelang der Angriff auch. Papelotte und La Haie-Sainte wurden genommen.

Eine beachtenswerte Merkwürdigkeit: Die englische Infanterie, besonders die Brigade Kempt, bestand zum großen Theil aus Rekruten. Diese jungen Menschen hielten sich gut gegen unsere tüchtigen, alten Infanteristen. Unerfahren, wie sie waren, wußten sie sich zu helfen, indem sie als Tirailleure in aufgelöster Ordnung fochten. In einem solchen Kampfe ist aber der Soldat mehr auf sich selbst angewiesen, wird so zu sagen sein eigener General, und die englischen Rekruten bewiesen so etwas wie französische Initiative und Schneidigkeit. Dies nun mißfiel Wellington!

Nach der Erstürmung von La Haie-Sainte gerieth die Schlacht ins Stocken.

Die Geschichte dieses Tages enthält eine Art Lücke; wie zwischen zwölf und vier Uhr die verschiedenen Theile der beiden Armeeen sich bewegten, läßt sich nicht verfolgen. Dergleichen wirre, unbestimmbare Details, quid obscurum, quid divinum, weist eine jede Schlacht auf. Wie sorgfältig auch die beiden Heerführer am Studirtisch Alles vorausberechnet haben mögen, im Gefecht erleidet ein Plan durch den andern die mannigfaltigsten Abänderungen. Dieser Theil des Schlachtfeldes verschlingt mehr Kämpfer, als jener, wie auch der Erdboden an einer Stelle schwammiger ist und mehr Wasser einsaugt, als an einer andern. Man muß also an einen solchen Punkt mehr Soldaten nachschicken, als man möchte, hat Ausgaben, die nicht vorgesehen waren. Die Schlachtordnung verschiebt sich hier nach vorn, dort nach hinten; das Blut fließt unlogisch; die beiden Fronten wallen hin und her, bilden Buchten und Vorgebirge. Wo die Infanterie war, kommt Artillerie hin; auf die Artillerie folgt Kavallerie; Bataillone zerstieben wie Rauch. Endlich artet auch jede Schlacht früher oder später in ein Handgemenge aus, löst sich in eine Menge Einzelkämpfe auf, die, um mit Napoleon selbst zu reden, eher der Biographie der Regimenter als der Geschichte des Heere angehören. Der Historiker muß also das Recht haben, die Thatsachen kurz zusammenzufassen. Er kann eine Schlacht nur in ihren Hauptumrissen schildern, und kein Erzähler, so gewissenhaft er auch sein mag, vermag alle Vorgänge, aus denen sie sich zusammensetzt, aufzählen, so wenig ein Meteorologe die fortwährenden Gestaltverändrungen einer Wolke feststellen kann.

Dies gilt von allen großen Treffen, besonders aber von der Schlacht bei Waterloo.

Zu einer gewissen Stunde des Nachmittags indessen nahm sie eine konkretere Gestalt an.

Vier Uhr Nachmittags

Gegen vier Uhr war die Lage der englischen Armee eine recht kritische. Der Prinz von Oranien kommandirte das Centrum, Hill den rechten, Picton den linken Flügel. »Nassau! Braunschweig! Nur nicht rückwärts!« rief der unerschrockne Oranien den Holländern und Belgiern zu; Hill, der schwere Verluste erlitten hatte, lehnte sich jetzt an Wellington an; Picton war gefallen. Eine Kugel hatte ihn in demselben Augenblick niedergestreckt, wo die Engländer die Fahne des 105. französischen Linienregiments eroberten. Wellingtons Schlachtlinie hatte als Stützpunkte Hougomont und La Haie-Sainte; Das erstere hielt sich, aber La Haie-Sainte war nicht mehr im Besitz der Engländer. Von dem deutschen Bataillon, das letzteren Ort vertheidigt hatte, waren nur zweiundvierzig Mann übrig; alle Offiziere, mit Ausnahme von fünfen, waren tot oder gefangen. Dreitausend Mann waren in dieser Scheune ums Leben gekommen. Ein Gardesergeant, Englands erster Boxer, der bei seinen Kameraden für unverwundbar galt, ward hier von einem kleinen französischen Trommler getötet. Baring hatte seine Stellung geräumt, Alten war niedergehauen worden. Mehrere Fahnen waren verloren, darunter eine von der Division Alten und eine vom Bataillon Lüneburg, die ein Prinz des Hauses Zweibrücken getragen hatte. Die grauen Schotten existirten nicht mehr; Ponsonby’s schwere Dragoner waren in Stücke gehauen. Diese tapfere Kavallerie wurde von Bro’s Lanzenreitern und Travers’ Kürassieren niedergeworfen; von zwölfhundert Pferden waren nur noch sechshundert übrig geblieben; von den drei Oberstlieutenants lagen zwei an der Erde, Hamilton verwundet, Mater getötet. Ponsonby war, von sieben Lanzenstichen durchbohrt, gefallen, Gordon tot, Marsch gleichfalls. Zwei Divisionen, die fünfte und die sechste, vernichtet.

Allein der Knotenpunkt der feindlichen Stellung, das Centrum, war noch unerschüttert. Wellington verstärkte es noch. Er zog Hill aus Merbe-Braine und Chassé aus Braine-l’ Alleud an sich.

Das Centrum der englischen Armee, das eine konkave Gestalt hatte und eng zusammengedrängt war, hatte eine sehr starke Stellung. Es hielt das Plateau von Mont-Saint-Jean besetzt und hatte hinter sich das Dorf, vorn den Abhang, der damals ziemlich steil war. Es lehnte sich an einen starken Steinbau, an dem die Kanonenkugeln ohnmächtig abprallten. Um das ganze Plateau herum hatten die Engländer stellenweise Lücken in die Hecken gehauen und Kanonen darin aufgepflanzt. Diese mit wahrhaft punischer, aber im Kriege zulässiger Heimtücke ausgeklügelten Fallen waren so gut versteckt, das Haro, den der Kaiser um neun Uhr Morgens zur Rekognoscirung der feindlichen Batterieen ausgesandt hatte, keine Lunte roch und Napoleon meldete, es sei kein Hindernis vorhanden, außer den beiden Verhauen auf der Landstraße von Nivelles und von Genappe. Es war die Zeit, wo das Korn sehr hoch steht, und am Saume des Plateaus lag, versteckt im Getreide, ein mit Karabinern ausgerüstetes Bataillon der Brigade Kempt, das fünfundneunzigste.

Die Stellung des englischen Centrums war also vorzüglich gesichert.

Doch hatte sie auch eine schwache Seite, den Wald von Soignes, der damals bis an das Schlachtfeld reichte, und der von den Teichen Groenendael und Boitsfort durchschnitten war. Bei einem etwaigen Rückzüge hätte in diesem Walde die englische Armee ihren Zusammenhang nicht bewahren können; die Infanterie hätte sich aufgelöst, die Geschütze wären in den Sümpfen stecken geblieben, and eine wilde Flucht das Ende gewesen.

Wellington verstärkte das Centrum mit einer Chasséschen Brigade, die er dem rechten, und einer Winckeschen Brigade, die er dem linken Flügel entnahm, und außerdem mit der Division Clinton. Mit seinen Engländern, dem Halkettschen Regiment, der Mitchellschen Brigade, den Maitlandschen Garden vereinigte er die Braunschweigsche Infanterie, das Nassausche Kontingent, Kielmannsegge’s Hannoveraner und Ompteda’s Deutsche. So hatte er hier sechsundzwanzig Bataillone beisammen. Es wurde, wie Charros bemerkt, der rechte Flügel hinter das Centrum gezogen. An der Stelle, wo heute das sogenannte Museum von Waterloo steht, befand sich eine gewaltige, mit Erdsäcken maskirte Batterie. Außerdem lagen in einer Bodenfalte, Somerset’s Gardedragoner, vierzehnhundert Mann stark. Es war diejenige Hälfte der berühmten englischen Kavallerie, die nach Ponsonby’s Vernichtung übrig geblieben war.

Die Batterie, die, fertig gebaut, fast eine Redoute abgegeben hätte, lag hinter einer niedrigen Gartenmauer, die mit einer starken Erdschicht bekleidet war; Palissaden zu pflanzen hatte es an Zeit gefehlt.

Wellington, der sehr besorgt, aber äußerlich ruhig war, saß den ganzen Tag über auf dem Pferde, vor der alten Mühle von Mont-Saint-Jean, die heute noch steht, unter einer Ulme, die seitdem ein Engländer, ein begeisterter Vandale, für zweihundert Franken gekauft, abgesägt und nach England mitgenommen hat. Wellington bewies hier einen kaltblütigen Heldenmuth. Es hagelte Kugeln um ihn. Der Adjutant Gordon wurde an seiner Seite getötet. Da fragte ihn Lord Hill, indem er auf eine eben geplatzte Granate hinwies: »Mylord, welche Instruktionen und Befehle geben Sie uns für den Fall, daß Sie getötet werden?« »Dasselbe zu thun wie ich,« antwortete Wellington. Zu Clinton sagte er lakonisch: »Bis zum letzten Mann ausharren.« Die Schlacht nahm eine gefährliche Wendung, und er feuerte seine alten Waffenbrüder, mit denen er bei Talavera, Vittoria, Salamanca gesiegt hatte, mit dem Zuruf an: »Kinder, Ihr werdet doch nicht weichen? Denkt an das Vaterland!«

Gegen vier Uhr fingen die Engländer an zurückzugehen. Plötzlich sah man auf dem Kamm des Plateaus nur noch Artillerie und Schützen; die von dem französischen Geschützfeuer vertriebenen Regimenter hatten sich in den Thalgrund verzogen. — »Der Anfang des Rückzuges!« rief Napoleon.

Napoleon bei guter Laune

Obgleich krank und durch eine lokale Beschwerde am Reiten behindert, war Napoleon nie so gut aufgelegt gewesen, wie an jenem Tage. Der Mann, der bei Austerlitz ein düsteres Gesicht gezeigt, lächelte bei Waterloo.

»Lacht Cäsar, so wird Pompejus weinen«, meinten die Soldaten der Legio fulminatrix. Dies Mal brauchte Pompejus nicht zu weinen, aber so viel steht fest, daß der Cäsar lachte.

Am Abend und in der Nacht zuvor, als er im Gewitterregen mit Bertrand die Hügel bei Rossomme rekognoscirte und die Feuer der Engländer von Frischemont bis Braine-l’Alleud den Horizont erleuchten sah, hatte er gemeint, das Schicksal, das er zu diesem Tage auf das Feld von Waterloo bestellt habe, sei pünktlich gewesen, darauf sein Pferd angehalten und die fatalistischen Worte gesprochen: »Wir sind einig.« Er irrte sich. Das Schicksal und er waren nicht mehr einig.

Er hatte keine Minute geschlafen und war die ganze Nacht hindurch so lustig gewesen, daß er in allem Möglichen Anlaß fand, die Dinge im rosigsten Lichte zu schauen. So hatte er um halb drei bei dem Gehölz von Hougomont ein Geräusch von Schritten gehört: »Das ist die englische Nachhut«, meinte er, »die will ausreißen. Ich werde die sechstausend Engländer, die in Ostende gelandet sind, abfassen.« Ueberhaupt war er sehr redselig und hatte seine alte Lebhaftigkeit wiedergewonnen, dieselbe, die er bei seiner Landung in Cannes bewies, als er dem Großmarschall einen enthusiastischen Bauern zeigte mit den Worten: »Sehen Sie, Bertrand, da kommt schon Verstärkung!« In der Nacht vom 17. zum 18. Juni spöttelte er ebenso vergnügt über Wellington: »Das Engländerchen bedarf einer Lektion!«

Aber schon um halb vier zerstob eine Illusion: der Feind, so meldeten zur Rekognoscirung ausgesandte Offiziere, rührte sich nicht. Kein Bivouacfeuer erlosch. Die englische Armee schlief. Tiefes Stillschweigen herrschte auf der Erde, nur im Himmel rumorte es. Um vier Uhr brachten ihm Streifreiter einen Bauer, der einer englischen Kavalleriebrigade als Führer gedient hatte. Um fünf meldeten ihm belgische Ueberläufer, die englische Armee sei auf die Schlacht vorbereitet. — »Desto besser!« rief Napoleon. »Ich werde sie um so gründlicher verhauen können!«

Am Morgen stieg er an der Biegung des Weges, der nach Planceroit führt, ab, ließ sich aus dem Pachthof von Rossomme einen Küchentisch und einen Stuhl bringen, nahm ein Bund Stroh als Teppich unter seine Füße und entfaltete auf dem Tisch den Plan des Schlachtfeldes, indem er zu Soult sagte: »Ein hübsches Schachbrett!«

In Folge des nächtlichen Regens hatten die Wagen mit den Lebensmitteln nicht am Morgen eintreffen können; der Soldat hatte nicht geschlafen, war durchnäßt und ausgehungert; aber auch das hatte den Kaiser nicht mißgestimmt, und er bemerkte vergnügt zu Rey: »Wir haben neunzig Chancen gegen zehn.« Um acht Uhr wurde ihm ein Frühstück angerichtet, bei dem mehrere seiner Generäle zu Gaste waren. Bei Tische wurde erzählt, Wellington sei am zweiten Abend zuvor auf dem Ball der Herzogin von Richmond in Brüssel gewesen und Soult scherzte: »Der Ball ist heute!« Ueber Ney, der gesagt hatte: »Wellington wird nicht so einfältig sein, Ew. Majestät zu erwarten«, lachte Napoleon. Uebrigens war dies seine Art. »Er scherzte gern«, sagt Fleury de Chaboulon. »Er war von Natur sehr lustig«, erzählt Gourgaud. »Er liebte zu spaßen, aber seine Späße waren eher sonderbar, als witzig«, behauptet Benjamin Constant. Auf diesen Charakterzug des Gewaltigen näher einzugehen, verlohnt sich wohl der Mühe. »Alte Brummbären!« titulirte er seine Grenadiere, kniff sie ins Ohr, zupfte sie am Schnurrbart. »Der Kaiser hatte immer einen kleinen Schabernack mit uns vor«, erzählte Einer von ihnen. Als während der verstohlenen Ueberfahrt von der Insel Elba nach Frankreich die französische Brigg der »Zephyr« dem »Inconstant« begegnete, auf dem sich Napoleon befand, und sich nach Napoleon erkundigte, hatte Napoleon lachend das Sprachrohr ergriffen und selber geantwortet: »Der Kaiser befindet sich wohl.« Wer so scherzt, steht auf vertraulichem Fuße mit dem Schicksal.

Nach diesem Frühstück, wo es sehr lustig herging, sammelte er eine Viertelstunde lang seine Gedanken und diktirte dann zwei Generälen den Schlachtplan.

Um neun Uhr, als die französische Armee staffelförmig aufgestellt in fünf Kolonnen, die Divisionen auf zwei Linien, die Artillerie zwischen den Brigaden, die Musikbanden vorn, mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel sich entfaltet hatte, da rief Napoleon bei dem Anblick des Gewoges von Helmen, Säbeln und Bajonetten: »Herrlich! Herrlich!«

Zwischen neun und halb elf stellte sich die Armee in sechs Linien auf, die, wie Napoleon sich ausdrückte, die Gestalt von sechs V aufwiesen.

In der sichern Erwartung des Sieges hatte er den Sapeuren, die gleich nach der Erstürmung von Mont-Saint-Jean den Ort befestigen sollten, bei ihrem Vorbeimarsch ermuthigend zugelächelt. Derselben Stimmung entstammte auch das hochmüthige Mitleid, das er beim Anblick der grauen Schotten und ihrer prächtigen Pferde empfand: »Schade!« rief er aus.

Nur stieg er zu Pferde und nahm Stellung vor Rossomme, auf einer schmalen, grasigen Kuppe, rechts von der Landstraße, die von Genappe nach Brüssel führt. Dies war die zweite Stelle, von der aus er den Gang der Schlacht beobachtete. Der dritte Standort, wo er sich um sieben Uhr Abends befand, ein Hügel, der zwischen La Belle-Alliance und La Haie-Sainte gelegen ist, war ein sehr gefährlicher. Um diese Erhöhung fielen Kanonenkugeln nieder, die von dem Pflaster der Chaussee abgeprallt waren. Dicht bei der Stelle, wo die Füße seines Pferdes standen, sind rostige Kugeln und Säbelklingen aufgelesen worden. Vor einigen Jahren grub man auch eine Granate aus, deren Zünder abgebrochen war. An demselben Ort sagte Napoleon zu seinem Führer Lacoste, der, an den Sattel eines Husaren festgebunden, sich hinter ihn zu verstecken suchte, wenn Kugeln geflogen kamen: »Schafskopf! Schämst Du Dich nicht? Willst Du denn durchaus eine Kugel von hinten bekommen?«

Die wellenartigen Erhöhungen der nach verschiedenen Seiten abgedachten Ebenen, wo Napoleon und Wellington sich begegneten, sind, wie allgemein bekannt, nicht mehr so, wie sie am 18. Juni 1815 waren. Um Material zu einem Denkmal herbeizuschaffen, hat man dem Gelände seine ursprüngliche Gestalt genommen, so daß der Historiker sie nicht wiedererkennt. Um das Schlachtfeld zu verherrlichen, hat man es entstellt. Wellington, als er zwei Jahre nachher Waterloo wieder besuchte, rief aus: »Man hat mein Schlachtfeld verändert.« Wo gegenwärtig die große Erdpyramide mit dem Löwen steht, war damals ein Höhenzug, der nach der Landstraße von Nivelles sanft abfiel, aber nach der Chaussee von Genappe sehr steil war. Seitdem aber tausend und abertausend Wagenladungen Erde zur Errichtung des hundert und fünfzig Fuß hohen Denkmalhügels verwendet worden sind, ist die Hochfläche von Mont-Saint-Jean sanft abgedacht, während sie am Tage der Schlacht, besonders nach La-Haie-Sainte hin, sehr schroff abfiel. Hier konnten die englischen Kanoniere nicht den unten im Thal gelegenen Pachthof sehen, der den Mittelpunkt des Kampfes bildete. Am 18. Juni 1815 hatte noch dazu der Regen in dieser Schroffe tiefe Rinnen gewühlt. Endlich zog sich oben, am Rande des Höhenzuges, ein Graben hin, den man aus der Ferne nicht wahrnehmen, noch errathen konnte.

Was war dies für ein Graben? Wir müssen ihn etwas näher beschreiben. Die Dörfer Braine-l’Alleud und Ohain sind in einer Vertiefung gelegen und durch einen etwa sechs Kilometer langen Weg miteinander verbunden. Hie und da windet er sich zwischen zwei Hügeln hindurch, so daß an diesen Stellen tiefe Schluchten entstehen. 1815, wie noch heutzutage, durchschnitt dieser Weg den Kamm des Plateaus von Mont-Saint-Jean zwischen den Chausseen von Genappe und Nivelles; nur daß er heutzutage, seitdem man, behufs Errichtung des Denkmalhügels, seine Böschungen abgetragen hat, auf gleichem Boden mit der Ebene liegt; damals war er ein Hohlweg, der gut versteckt lag und in Folge dieses Umstandes am Tage der Schlacht zu einer fürchterlichen Bedeutung gelangte.

Eine Frage Napoleons an seinen Führer Lacoste

Also Napoleon war guter Dinge am Morgen der Schlacht bei Waterloo.

Er hatte Recht, war doch der von ihm entworfene Schlachtplan vorzüglich.

Die für ihn ungünstigen Vorfälle, der vergebliche Sturm auf Hougomont, La Haie-Sainte’s hartnäckiger Widerstand, Bauduin’s Tod, Foy’s Verwundung, der Mißerfolg der Brigade Soye vor der Mauer, deren Existenz man nicht geahnt hatte, Quilleminot’s Leichtsinn, der Petarden und Pulversäcke mitzunehmen vergessen hatte, die schwere Beweglichkeit der Geschütze im Koth, die geringe Wirksamkeit der Bomben, die fast nur den Schlamm um sich herumspritzten, die unnütze Demonstration Pirés gegen Braine-l’ Alleud, die Vernichtung von fünfzehn Schwadronen, die Geringfügigkeit der Erfolge gegenüber den beiden Flügeln der feindlichen Linie, die Formirung geschlossener Kolonnen bei Ney’s Truppentheil, der auf diese Weise der feindlichen Artillerie die Möglichkeit gewährte, ausgiebige Resultate zu erzielen, die plötzliche Demaskirung der schrägen Batterie in der einen Flanke, die gefährliche Lage Bourgeois’, Donzelot’s und Durutte’s, die Zurückweisung Quiot’s, die Einklemmung der Division Marcognet zwischen feindliche Infanterie und Kavallerie, die Aussagen eines preußischen schwarzen Husaren, der zwischen Wavre und Plancenoit von französischen Streifreitern abgefangen worden war, Grouchy’s Verzug, die Niedermetzlung von fünfzehnhundert Mann im Garten von Hougomont, der Verlust von achtzehnhundert beim Sturm auf La Haie-Sainte, — alle diese unglücklichen Vorfälle hatten Napoleon nicht irre gemacht in seiner Sicherheit. War er doch gewöhnt, dem Kriege ruhig ins Auge zu sehen, sich nicht mit der Addition kleiner Posten zu befassen. Was kümmerten ihn die einzelnen Summanden, wenn sie nur das Facit Sieg ergaben! Mochte auch, der Anfang der Schlacht mißrathen, wenn er nur des Ausgangs sicher war. Er verstand zu warten, so ruhig, als ginge ihn die Sache nichts an, und als sei das Schicksal nur Seinesgleichen, als könne es sich nicht an ihn heranwagen.

Wenn aber ein Feldherr Schlachten, wie die an der Beresina, bei Leipzig und bei Fontainebleau hinter sich hat, so sollte man meinen, er hätte bei Waterloo ein gelindes Mißtrauen hegen können. Der Himmel hatte doch schon angefangen, ihn finster anzublicken.

Als Wellington zurückzuweichen begann, schrak Napoleon freudig zusammen. Er sah die feindliche Front verschwinden. Die englische Armee versammelte sich enger, entzog sich aber seinen Blicken. Der Kaiser richtete sich in den Steigbügeln empor, und Siegesfreude blitzte in seinen Augen auf.

Wurde Wellington in den Wald von Soignes zurückgedrängt, so war er verloren, so wurde England von Frankreich für immer überwunden, so waren die Niederlagen bei Crécy, Poitiers, Agincourt, Malplaquet und Ramiéllies gerächt.

Jetzt richtete der Kaiser zum letzten Mal sein Fernrohr auf alle Punkte des Schlachtfeldes und überlegte, während seine Garde, hinter ihm das Gewehr ab, mit andächtiger Ehrfurcht zu ihm emporblickte. Er überschaute die Abhänge, durchforschte die Waldstücke und Getreidefelder, folgte den Pfaden, zählte so zu sagen, jeden Strauch. Besonders aufmerksam betrachtete er die englischen Verhaue an den Chausseen. In der Nähe des einen sah er die weiß angestrichene, alte Kapelle des heil. Nikolaus, die an dem Querweg nach Braine-l’Alleud liegt, und neigte sich zu seinem Führer Lacoste nieder, um leise eine Frage an ihn zu richten. Dieser schüttelte den Kopf, als sagte er nein, wahrscheinlich ein hinterlistiges Nein.

Dann richtete der Kaiser sich wieder empor und sammelte seine Gedanken.

Nun Wellington zurückwich, konnte es sich nur noch darum handeln, ihn zu vernichten.

Plötzlich wandte sich der Kaiser um und fertigte eine Stafette nach Paris aus, mit der Meldung, daß die Schlacht gewonnen sei.

Der Blitz, der Wellington zerschmettern sollte, war fertig. Napoleon befahl Milhaud’s Kürassieren das Plateau von Mont-Saint-Jean zu nehmen.

Etwas Unerwartetes

Es waren ihrer dreitausend fünfhundert, Riesenmenschen auf Riesenpferden. Sie bildeten sechsundzwanzig Schwadronen und zur Verstärkung folgten ihnen die Division Lefebvre-Desnouettes, die hundertsechs Elitegendarmen, die Gardejäger, 1197 Mann, die Lanzenreiter der Garde, 880 Mann stark. Die Kürassiere trugen einen Helm ohne Busch und einen Küraß aus Schmiedeeisen, Sattelpistolen in Halftern und Pallasch.

Der Adjutant Bernard überbrachte dieser Truppe den Befehl des Kaisers, Ney trat mit gezogenem Degen an ihre Spitze und die gewaltige Masse setzte sich in Bewegung.

Es war ein imposantes Schauspiel.

Mit erhobenem Pallasch, mit entfalteten Standarten und unter Trompetengeschmetter stürzte die Menschenmasse in zwei Kolonnen mit der Präzision eines Sturmblockes den Hügel von La Belle-Alliance hinab, verschwand in Thalgrund, tauchte auf der anderen Seite des Thales wieder empor und sprengte, noch immer in festgeschlossener Ordnung, den kothigen Abhang nach Mont-Saint-Jean hinauf, während die feindliche Artillerie und Infanterie sie mit einem Hagel von Kugeln überschüttete.

Oben, hinter dem Kamm der Hochfläche, warteten ihrer sechsundzwanzig Bataillone in dreizehn Carrés und in zwei Treffen, das Gewehr im Anschlag, stumm, unbeweglich, kaltblütig. Sie sahen die Kürassiere, und diese sahen sie nicht. Sie hörten nur, wie die Menschenfluth heranbrauste, hörten das Pferdegetrappel, das Säbelgeklirr, das grimme Gekeuche und Geschnauf von Menschen und Thieren. Dann tauchten plötzlich über den Höhenkamm Säbel, Arme, Helme empor, Trompeten erklangen, Standarten wehten im Winde und tausendstimmig hallte der Ruf: »Es lebe der Kaiser!«

Plötzlich bäumte sich zur Linken der Engländer, die Spitze unserer rechten Kolonne mit Schreckensgeschrei zurück. Auf der Höhe angelangt, bemerkten die Kürassiere zwischen sich und den Engländern einen Graben, eine Grube. Es war der Hohlweg von Ohain.

Keine Möglichkeit zurückzugehen, anzuhalten! Die zweite Reihe stieß die erste, die dritte die zweite hinein und erst, als der Graben mit toten und lebendigen Menschen und Pferden gefüllt war, konnte der Rest hinüberkommen. Fast ein Drittel der Brigade Dubois ging so zu Grunde.

Dies war die Einleitung zum Verlust der Schlacht.

In der Umgegend des Schlachtfeldes geht eine Sage um, in dem Hohlweg von Ohain seien auf diese Weise zweitausend Pferde und fünfzehnhundert Menschen gestürzt. Wahrscheinlich begreift diese Zahl alle Leichname ein, die Tags darauf in diese Schlucht geworfen wurden.

Napoleon hatte wohl, bevor er Milhauds Kürassiere zur Erstürmung des Plateaus aussandte, das Terrain sorgfältig durchforscht, konnte aber den Hohlweg, der vollständig verdeckt war, nicht sehen. Allerdings machte ihn die Lage der Kapelle stutzig, die den Kreuzungspunkt des Hohlwegs und der Chaussee von Nivelles bezeichnet. Deshalb fragte er auch den Führer Lacoste, wahrscheinlich, ob dort ein Hindernis sei. Dieser hatte Nein geantwortet und vielleicht hat das Nein dieses Bauern Napoleons Untergang heraufbeschworen.

Noch andere Eingriffe des Schicksals standen bevor.

War es möglich, daß Napoleon die Schlacht gewann?

Wir antworten: Nein! Nicht weil er Wellington oder Blücher, sondern weil er Gott zum Feinde hatte.

Ein Sieg Bonapartes bei Waterloo hätte zu der Entwicklung und Umwälzung, die das neunzehnte Jahrhundert bringen sollte, nicht gepaßt. Es war Zeit, daß der Ungeheure fiel. Er wog zu schwer in der Wagschale der Weltgeschichte. Es häufte sich in diesem einen Kopf ein zu großer Theil der Lebenskraft des Menschengeschlechts an, als daß die Civilisation nicht darunter hätte leiden sollen. Der höchste Richter mußte Abhülfe schaffen. Wahrscheinlich beschwerten sich die Mächte, von denen die moralische Ordnung abhängt, über das viele Blutvergießen. Auf diese Anklage hin wurde Napoleons Sturz beschlossen. Er fiel, weil er dem Herrgott im Wege war.

Die Hochfläche von Mont-Saint-Jean

Zu derselben Zeit, wo die Schlucht sichtbar wurde, demaskirte sich auch die englische Batterie.

Außer den dreizehn Infanteriecarrés beschoß die Artillerie mit sechzig Geschützen die Kürassiere aus nächster Nähe. Der unerschrockene General Delord grüßte die Batterie.

Aber die Kürassiere hielten mit ihrem Ansturm nicht inne. Die Katastrophe im Hohlwege hatte sie dezimirt, aber nicht entmuthigt. Im Gegentheil. Sie gehörten zu Denen, deren Muth wächst, wenn ihre Zahl zusammenschmilzt.

Auch war nur die Kolonne Wathier in den Graben gestürzt; Delord’s Division hatte Ney nach links abschwenken lassen, und so war sie unversehrt geblieben.

Jetzt stießen die Kürassiere auf die englischen Carrés. In gestrecktem Galopp, mit verhängtem Zügel, den Pallasch zwischen den Zähnen, die Pistolen in den Fäusten, so griffen sie den Feind umfassend, von allen Seiten zugleich an.

Aber die englische Infanterie empfing sie mit unerschütterlicher Ruhe. Die erste Reihe lag auf den Knieen und streckte dem Feind die Bajonette entgegen, die zweite Reihe schoß, hinter der zweiten Reihe luden die Kanoniere ihre Geschütze, dann öffnete sich die Front des Carrés, die Feuerschlünde spieen ihre Kartätschen aus und das Carré schloß sich wieder. Die Kürassiere ihrerseits suchten die Engländer niederzureiten. Ihre gewaltigen Pferde bäumten sich hoch auf, sprangen über die Bajonette mitten zwischen die vier Menschenmauern hinein. Ganze Reihen wurden von den Pferden niedergeworfen oder erdrückt, und die Bajonette schlugen den französischen Centauren, so gräßliche Wunden, wie man deren sonst wohl nicht gesehen hat.

Das äußerste Carré zur Rechten, das am meisten gefährdet war, weil es von den übrigen zu weit ab lag, wurde gleich bei dem ersten Zusammenstoß fast völlig vernichtet. Es bestand aus dem 75. Hochländerregiment. Hier saß in der Mitte, unbekümmert um Alles, was um ihn vorging, die Augen schwermuthsvoll auf die Erde gerichtet und Bilder der heimathlichen Berge und Seen in der Seele, ein Musikant und spielte auf dem Dudelsack, den er unter dem Arm hielt. Da fiel ein Pallasch nieder, hieb den Arm samt dem Dudelsack ab und machte dem Sänger, wie dem Gesang ein Ende.

Nicht mehr sehr zahlreich, hatten die Kürassiere fast mit der ganzen englischen Armee zu thun; aber sie verstanden ihre Zahl zu multipliciren, indem Jeder für Zehn kämpfte. Einige hannoversche Bataillone wichen auch zurück. Wellington sah es und dachte an seine Kavallerie. Hätte Napoleon sich ebenso seiner Infanterie erinnert, so wäre die Schlacht gewonnen worden. Daß er dies versäumte, war der verhängnisvollste Fehler, den er beging.

Plötzlich wurden die Angreifer ihrerseits von der englischen Kavallerie im Rücken angegriffen. Vor ihnen die Carrés, hinter ihnen Somerset mit vierzehnhundert Gardedragonern, mit deutschen Chevaux-legers und belgischen schweren Reitern. Von Infanterie und Kavallerie hinten, vorn in den Flanken angefallen, wendeten sich die Kürassiere nach allen Seiten. Was kümmerte sie die Zahl der Feinde? Sie wirbelten nur um so schneller herum und kämpften noch heroischer.

Außerdem hatten sie das Geschützfeuer der schrägen Batterie auszuhalten. So mußte es wohl kommen, wenn solche Männer Wunden im Rücken davontragen sollten. Noch kann man im Museum von Waterloo einen hinten von einer Kartätschenkugel durchschossenen Küraß sehen.

Gegen solche Franzosen bedurfte es solcher Engländer.

In wenigen Augenblicken waren von den vierzehnhundert Dragonern nur noch achthundert übrig; ihr Oberstlieutenant Fuller stürzte tot vom Pferde. Jetzt griff auch Ney ein mit Lefebvre-Desnouettes’ Lanzenreitern und Jägern. Das Plateau von Mont-Saint-Jean wurde genommen, verloren, wieder gewonnen, wieder verloren. Die Kürassiere wandten sich von der feindlichen Kavallerie ab, um sich die Infanterie wieder vorzunehmen, oder besser gesagt, die beiden Gegner ließen Einer den Andern, nicht los. Zwölf Angriffe hatten die Carrés auszuhalten. Ney wurden vier Pferde unter dem Leibe getötet, und die Hälfte der Kürassiere blieb auf dem Platze. Zwei Stunden lang dauerte der Kampf.

Die englische Armee wankte stark. Wären ihre Verluste in dem Hohlweg nicht so groß gewesen, so hätten die Kürassiere sicherlich das Centrum der Engländer zurückgeschlagen und die Schlacht entschieden. Ueber diese großartige Kavallerie war Clinton, der doch die Schlachten bei Talavera und Badajoz mitgemacht, starr vor Staunen, und Wellington ehrte, als echter Held, die Männer, die ihm beinah den Sieg entrissen, mit dem Ausruf: »Famos.«

Die Kürassiere sprengten sieben Karrés unter dreizehn, nahmen, oder vernagelten sechzig Geschütze, und eroberten sechs Fahnen, die drei Kürassiere und drei Gardejäger nach dem Pachthof La Belle-Alliance zu dem Kaiser brachten.

Wie weit die Kürassiere vordrangen, weiß Niemand zu sagen. Gewiß ist nur, daß am nächsten Tage ein Kürassier mit seinem Pferde an einem Punkte gefunden wurde, wo die Straßen von Nivelles, Genappe, La Hulpe und Brüssel sich schneiden. Der Mann war durch die englischen Linien hindurchgedrungen. Wellington fühlte, daß die Entscheidung nahe war.

Allerdings war die Offensive der Kürassiere insofern gescheitert, als das englische Centrum nicht durchbrochen war. Da Jeder das Plateau hatte, gehörte es Keinem und zum größten Theil verblieb es im Besitz der Engländer. Ney behauptete sich nur auf dem Kamm und dem Abhang. Beide Theile waren wie fest gewurzelt in dem blutgetränkten Boden.

Aber die Verluste der Engländer überstiegen das Maß des Schrecklichen. Als Kempt auf dem linken Flügel Verstärkungen verlangte, antwortete Wellington: »Ich kann ihm keine schicken. Er soll ausharren bis auf den letzten Mann.« Fast in derselben Minute ließ auch Ney Napoleon um Infanterie bitten und auch Napoleon rief: »Infanterie? Wo soll ich Infanterie hernehmen? Soll ich denn welche aus der Erde stampfen?«

Indessen hatte die englische Armee am schwersten gelitten. Hier bezeichnete eine Fahne, um die ein paar Mann standen, die Stelle, wo zuvor ein Regiment gekämpft hatte; dort kommandirte nur ein Hauptmann oder ein Lieutenant ein ganzes Bataillon; die schon bei La Haie-Sainte arg mitgenommene Division Alten war vernichtet; die unerschrockenen Belgier der Brigade Van Kluze lagen im Roggen, längs der Straße von Nivelles; von den holländischen Grenadieren, die 1811 in unseren Reihen gegen die Spanier gekämpft hatten, waren nicht mehr viel übrig. Auch die Verluste an Offizieren beliefen sich sehr hoch. Endlich — und dies war das Schlimmste — begann die englische Armee sich aufzulösen. Cumberland’s hannoversche Husaren, ein ganzes Regiment unter Oberst Hacke, der später kassirt wurde, hatte das Hasenpanier ergriffen und floh durch den Wald von Soignes nach Brüssel zu. Von Vert-Coucou bis Groenendael war Alles mit Flüchtlingen überfüllt. So groß war die Panik, daß sie sich dem Prinzen Condé in Mecheln und Ludwig XVIII. in Gent mittheilte. Mit Ausnahme der schwachen Reserven, die hinter der Ambulanz bei Mont-Saint-Jean stand, und der Brigaden Vivcan und Vandeleur hatte Wellington keine Kavallerie mehr. Desgleichen waren ganze Batterien demontirt. Trotz dieser entsetzlichen Verluste bewahrte der eiserne Herzog seine äußere Ruhe, aber aus seinen Lippen war alles Blut gewichen. Um fünf Uhr sah er nach der Uhr und murmelte: »Wenn doch Blücher oder die Nacht käme!«

Aber um diese Zeit sah man auch in der Ferne auf den Höhen bei Frischemont eine langgestreckte Reihe von Bajonetten funkeln. Ihnen war es beschieden den Knoten des großen Dramas zu zerhauen.

Ein Führer, von dem viel abhing

Jedermann hat von dem traurigen Irrthum gehört, der Napoleon verleitete, Blücher mit Grouchy, das Verderben mit der Rettung zu verwechseln.

Das Schicksal ist verschwenderisch mit derartigen Ueberraschungen. Man greift nach der Weltherrschaft und erhascht ein Gefängniß auf Sankt Helena.

Wenn der Hirtenjunge, der Bülow, Blüchers Stellvertreter, führte, ihm gerathen hätte, über Frischemont, statt unter Plancenoit aus dem Walde herauszumarschieren, so hätte die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts eine andere Gestalt angenommen, denn alsdann würde die Entscheidung bei Waterloo zu Gunsten Napoleons gefallen sein. Auf jedem anderen Wege nämlich, als dem bei Plancenoit, wäre das preußische Heer auf eine Schlucht gestoßen, die für die Artillerie unüberschreitbar war und Bülow wäre nicht zur rechten Zeit gekommen.

Nur noch eine Stunde Verzögerung, so war Wellington, wie der preußische General Muffling erklärt, über den Haufen gerannt, die Schlacht verloren.

Es war also hohe Zeit, daß Bülow eintraf. Er hatte übrigens viel Aufenthalt gehabt. Zwar war er schon mit dem Morgengrauen von Dion-le-Mont aufgebrochen, aber die Fahrzeuge konnten sich nur mit Mühe durch den Koth hindurcharbeiten. Außerdem mußte die Dyle auf der engen Brücke in Wavre überschritten werden; die Straße aber, die zur Brücke führte, war von den Franzosen in Brand gesteckt worden und mit der Munition konnte man sich nicht zwischen zwei brennende Häuserreihen wagen. Man muhte also warten, bis der Brand gelöscht war. Um zwölf Uhr Mittags hatte Bülows Vorhut noch nicht Chapelle-Saint-Lambert erreicht.

Hätte die Schlacht zwei Stunden früher angefangen, so wäre sie um vier Uhr zu Ende gewesen und Blücher hätte die Schlacht schon zu Napoleons Gunsten entschieden gefunden. Von derartigen räthselhaften Zufällen läßt Gott das Schicksal von Nationen abhängen.

Schon um Mittag hatte der Kaiser mit seinem Fernrohr am Rande seines Gesichtsfeldes etwas bemerkt, das ihm auffiel, — »Ich sehe da eine dunkle Masse. Das müssen Soldaten sein.« Darauf fragte er den Herzog von Dalmatien: »Soult, was sehen Sie in der Gegend von Chapelle-Saint-Lambert?« »Vier bis fünftausend Mann. Doch ganz gewiß Grouchy.« Aber die »dunkle Masse« rührte sich nicht und viele Generalstabsoffiziere meinten, es seien blos Bäume. Um die Wahrheit zu erfahren, schickte der Kaiser dann Domon mit einer Division leichter Kavallerie zur Recognoscirung nach der betreffenden Richtung.

In der That hatte Bülow, der mit der schwachen Vorhut nichts ausrichten konnte, sich nicht weiter vorgewagt. Er mußte auf das Gros der Armee warten; aber um fünf Uhr befahl ihm Blücher, in Anbetracht der gefährlichen Lage Wellingtons, die Offensive zu ergreifen. »Wir müssen der englischen Armee Luft schaffen«, ermahnte er.

Die Garde

Was nun geschah, ist allbekannt. Eine dritte Armee erschien auf dein Kampfplatz, eine neue Schlacht begann, als schon sie Nacht hereinbrach, gegen unsere erschöpften und stark zusammengeschmolzenen Regimenter; die ganze englische Armee nahm die Offensive wieder auf, die französische Armee wurde durchbrochen. Da, als Alles verloren war, rückt die Garde vor.

Wohl wissend, daß sie in den Tod geht, ruft sie: »Es lebe der Kaiser!« Die Geschichte kennt nichts Ergreifenderes, als diesen Zuruf.

Den ganzen Tag über war der Himmel bedeckt gewesen.

Jetzt, um acht Uhr Abends, zertheilte sich am Horizonte das Gewölk und durch die Ulmen der Landstraße von Nivelles flutheten unheimlich die rothen Strahlen der untergehenden Sonne. Bei Austerlitz hatte man sie aufgehen sehen.

Jedes Bataillon der Garde war bei diesem letzten Waffengange von einem General kommandirt. Friant, Michel, Roguet, Harlet, Mallet, Poret de Morvan waren da. Als die hohen Mützen mit dem Adler auf dem Metallschild in untadeliger Ordnung, kühn und stolz, durch den Wirrwar heranschritten, empfand der Feind Achtung vor Frankreich, Traten doch die Sieger von zwanzig Schlachten auf den Kampfplatz! Da wichen, die schon die Schlacht gewonnen hatten, als hielten sie sich für die Besiegten, aber Wellington rief seiner Garde zu: »Aufgestanden und zielt gut, Kinder!« Darauf erhob sich das rothe Garderegiment, das hinter Hecken lag; ein schreckliches Feuer prasselte auf die Franzosen los und ein allgemeines Gemetzel begann. In der Dunkelheit sah, fühlte die kaiserliche Garde, wie Alles um sie her floh, hörte den Angstschrei: »Rette sich, wer kann!« und rückte dennoch vor, während der Tod bei jedem Schritt, den sie that, immer gräßlicher in ihren Reihen wüthete. Keiner wich oder wankte. Der Gemeine eben so wenig, wie der General. Nicht ein Soldat entzog sich dem großen Selbstmord dieser Elitetruppe.

Vor Allen bot Ney, die Brust von edlem Stolz geschwellt, dem Tode, der ihn in diesem rasenden Wirrwarr auf allen Seiten umtobte, eine kühne Stirn. Sein fünftes Pferd wurde ihm hier unter dem Leibe getötet. Mit Schweiß, Koth und Blut bedeckt, Schaum auf den Lippen, mit wild flammenden Augen, mit aufgeknöpfter Uniform und abgerissenen Epauletten, den zerbrochenen Degen in der Hand, rief er: »Seht, wie ein Marschall von Frankreich auf dem Schlachtfeld stirbt!« Und Drouet d’Erlon fragte er: »Du willst doch auch hier sterben?« Aber so verstört er auch herumraste, den Tod zu suchen, er fand ihn nicht. »Ist denn für mich keine Kugel da? O wenn mir doch all’ die englischen Kartätschen in den Leib fahren möchten!«

Unglücklicher, du wurdest für französische Kugeln aufgespart!

Die Katastrophe

Hinter der Garde herrschte unterdessen schauerliche Verwirrung.

Das französische Heer ging auf allen Punkten zu gleicher Zeit zurück, aus Hougomont, aus La Haie-Sainte, aus Papelotte, aus Plancenoit. Erst hieß es: »Verrath!« Dann schrie man: »Rette sich, wer kann!« Eine Armee, deren Gefüge auseinander geht, gleicht der Eisdecke eines Flusses bei eintretendem Thauwetter. Zuerst zerbricht sie in größere Stücke, dann krachen und bersten auch diese, die nun ihrerseits sich in immer kleinere Theile auflösen und, nachdem sie unzählige Male auf einander geprellt, verschwinden.

Vergebens mühen sich einzelne Heerführer ab, der allgemeinen Verwirrung Einhalt zu gebieten. Ney leiht sich ein Pferd, schwingt sich hinauf und stellt sich ohne Hut, ohne Halstuch, ohne Degen mitten auf die Brüsseler Chaussee, um die Engländer und Franzosen zugleich aufzuhalten. Er will die Flüchtlinge aufhalten, ruft sie zurück, schimpft sie aus. Aber die Fluth wogt an ihm vorüber. Die Soldaten laufen vor ihm mit dem Ruf: »Es lebe der Marschall Ney!« Zwei Regimenter des Generals Durutte eilen, sinnlos vor Schrecken, zwischen den preußischen Ulanen und den englischen Brigaden Kempt, Best, Pack und Rylandt hin und her, wie Bälle, die kräftige Spieler einander zu schleudern. Und nun der Kampf gegen den Feind zu Ende ist, töten sich die Freunde unter einander, um sich einen Weg zur Flucht zu bahnen; Schwadronen und Bataillone stoßen auf einander, durchbrechen und durchkreuzen sich, wie die Wogen auf dem sturmgepeitschten Meere und Lobau’s Division an dem einen wie Reille’s an dem anderen Ende werden in den Strudel hineingezogen. Umsonst stemmt sich Napoleon mit den Ueberbleibseln seiner Garde dem Strom entgegen; umsonst setzt er die Schwadronen seiner Leibwache ein. Quiot wird von Vivian, Kellermann von Vandeleur, Lobau von Bülow, Morau von Pirch, Domon und Subervic von dem Prinzen Wilhelm von Preußen zurückgedrängt. Guyot, der mit den Schwadronen des Kaisers gegen den Feind vorgegangen ist, fällt unter die Hufe der englischen Dragonerpferde. Napoleon galoppirt an dem Schwarm der Flüchtlinge entlang, mahnt, droht, bittet. Sie, die am Vormittag nicht müde werden konnten »Es lebe der Kaiser!« zu rufen, starren ihn jetzt mit offenem Munde an und erkennen ihn kaum. Da stürmt die preußische Kavallerie heran und haut ein. Die Fahrzeuge und Kanonen stürzen fort, aber die Trainsoldaten spannen die Pferde aus, um auf ihnen davon zu reiten, und umgestürzte Wagen halten die Flüchtlinge auf, die vom Feinde eingeholt und niedergemacht werden. Einer reißt oder tritt den Anderen zu Boden und Keiner fragt, ob wer an der Erde liegt, tot ist oder noch lebt, er marschirt über ihn hinweg. Die geängstigte, wie von einem Schwindel ergriffene Menge erfüllt die Straßen, die Pfade, die Brücken, die Berge, die Thäler, die Wälder. Ihrer vierzig Tausend, wälzen sie sich mit Verzweiflungsgeschrei dahin, werfen Tornister und Gewehr ins Korn, fragen nicht mehr nach ihren Kameraden, ihren Offizieren, ihren Generälen. Nur der Schrecken herrscht unter ihnen. Frankreichs Söhne werden von den Ziethen’schen Husaren niedergesäbelt, die Löwen sind zu Rehen geworden: So endete die Schlacht.

In Genappe wurde ein Versuch gewagt, Halt zu machen, dem Feind die Stirn zu bieten, ihn aufzuhalten. Lobau brachte dreihundert Mann zusammen, errichtete einen Verhau am Eingang des Dorfes, aber bei dem ersten Kanonenschuß, den die Preußen auf die Verschanzung abfeuerten, wandte sich Alles wieder zur Flucht und Lobau wurde gefangen genommen. Noch heute sieht man die Spur dieser Kartätschenkugeln am Giebel eines alten Gebäudes, das rechts von der Landstraße noch eine Strecke vor Genappe liegt. Die Preußen drangen in das Dorf ein und waren um so wüthender, je weniger ruhmvoll ihr Sieg gewesen war. Die Verfolger machten sch einer entsetzlichen Ruchlosigkeit schuldig: Blücher gab den Befehl, daß kein Pardon gegeben werden solle. Allerdings war ihm Roguet mit einem schauderhaften Beispiel vorangegangen: Er hatte jeden französischen Grenadier, der ihm einen gefangenen Preußen zuführen würde, mit dem Tode bedroht. Allein Blücher überbot Roguet. Der General der jungen Garde Duhesme, der von den Verfolgern an das Thor der Herberge zu Genappe gedrängt wurde, übergab seinen Degen einem schwarzen Husaren. Dieser nahm den Degen an und — tötete seinen Gefangenen. Die Feinde krönten ihren Sieg mit der Ermordung der Besiegten. Sprechen wir, da uns, als Vertretern der Geschichte, diese Befugniß zusteht, das Urtheil über sie aus: Der alte Blücher befleckte seine Ehre. In Folge dieser erbarmungslosen Grausamkeit des Feindes nahm die Verwirrung noch mehr zu. Von Verzweiflung gepackt, rannten die Flüchtlinge über Genappe, Quatre-Bras, Gosselies, Frasnes, Charleroi, Thuin der Grenze zu. Und die so flohen, waren einst die große Armee!

Hat diese Haltlosigkeit, diese Angst, dieser Verfall der größten Tapferkeit, die je die Welt in Erstaunen gesetzt, keine Ursache? Nein. Auf das Gefilde von Waterloo fiel der Schatten einer allgewaltigen Hand, die in das Geschick des Tages eingriff. Hoc erat in fatis. Die Besieger Europas fühlten, daß Gott gegen sie war und deshalb warfen sie ihre Waffen weg.

Beim Hereinbruch der Nacht hielten auf einem Felde bei Genappe Bernard und Bertrand einen Mann an seinen Rockschößen fest, der, von der Masse der Flüchtlinge fortgerissen, soeben vom Pferde abstieg. Jetzt nahm er den Zügel unter den Arm und wollte allein nach Waterloo zurückkehren. Es war Napoleon, der noch immer vorwärts wallte, von dem Traum der Weltherrschaft verlockt, der ihn doch so vollständig betrogen hatte.

Das letzte Karré

Einige Karrés der Garde hielten sich unerschütterlich, wie Felsen, bis die Nacht hereinbrach. Von der Armee im Stich gelassen, von der Dunkelheit umfangen, erwarteten sie muthvoll den Tod, die einen auf den Anhöhen bei Rissomme, die andern auf der Hochebene von Mont-Saint-Jean.

Hier blieb gegen neun Uhr Abends nur noch eins übrig, das in dem Grunde des Todesthals am Fuß des von den Kürassieren erstiegnen Abhangs rings von feindlicher Artillerie und Infanterie umzingelt, einen hoffnungslosen Kampf kämpfte. Es war von einem sonst unbekannten Offizier, Namens Cambronne, befehligt. Bei jeder Salve wurden die Seiten des Karrés kleiner und das Gewehrfeuer, womit sie auf die Kartätschen antworteten, schwächer.

Als diese Legion zu einem geringen Häuflein zusammengeschmolzen, als ihre Fahne zu einem Lumpen zerschossen, als aus Mangel an Munition ihre Gewehre nutzlos wie Stöcke geworden, als der Leichen mehr waren, wie der Lebenden, ergriff die Sieger ehrfurchtsvolle Bewunderung und die englische Artillerie stellte einen Augenblick ihr Feuer ein. Ueberall von drohenden Kanonenrohren umgeben, von feindlichen Reitern umwimmelt, wußten die Helden, daß über ihnen der Tod schwebte. Sie hörten, wie die Geschütze geladen wurden, konnten mit den Blicken den angezündeten Lunten folgen, die wie Tigeraugen auf sie niederschauten, sahen, wie die Zündstöcke den Kanonen genähert wurden. In diesem fürchterlichen Augenblick trat ein englischer General, nach den Einen war es Colville, nach den Andern Maitland — vor und rief: »Tapfere Franzosen, ergebt Euch!« Die Antwort Cambronnes lautete: »Sch-ße.« Nicht: »Die Garde stirbt, sie ergiebt sich nicht!« wie in allen Geschichtsbüchern zu lesen ist. Der Kaiser brauchte das Wort ganz gewöhnlich, wenn er wüthend war, und seinem Beispiel folgten die Generäle, Offiziere u. s. w. Daß Victor Hugo es in die höhere Litteratur einführte, ist ihm von vielen seiner Landsleute als eine Großthat angerechnet worden. (Der Uebersetzer).

Cambronne

Da der Leser auf Anstand hält, so soll das großartigste Wort, das wohl je ein Franzose ausgesprochen hat, nicht vor ihm citirt werden. Die Bücher der Geschichte sind Oerter, die nicht verunreinigt werden dürfen.

Wir wagen es, dieses Anstandsgebot zu übertreten.

Unter diesen Giganten war ein Titan, Cambronne.

Dieses Wort sprechen und dann sterben — Giebt es etwas Großartigeres? denn auch hier gilt der gute Wille für die That: Es war nicht seine Schuld, wenn die feindlichen Kugeln ihn verfehlten.

Die Schlacht bei Waterloo hat nicht Napoleon gewonnen, der fliehen mußte; nicht Wellington, der um vier Uhr zurückging und um fünf Uhr sich der Verzweiflung hingab; nicht Blücher, der überhaupt nicht gekämpft hat. Die Schlacht bei Waterloo hat Cambronne gewonnen.

Mit einem solchen Wort feindliche Donnerkeile pariren, heißt siegen.

Der Katastrophe eine solche Antwort entgegensetzen, so dem Schicksal heimleuchten, dem zukünftigen Löwendenkmal eine solche Grundlage geben, solch eine Widerlegung dem verhängnißvollen Regen, der tückischen Mauer von Hougomont, dem Hohlweg von Ohain, der Verzögerung Grouchy’s, der Ankunft Blüchers entgegenschleudern, im Grabe den Feind verhöhnen, stolz vor der Nachwelt sich wieder aufrichten, nachdem man unterlegen ist, das verbündete Europa mit zwei Silben erdrücken, mit der Schlagfertigkeit des französischen Genius das gemeinste Wort zu dem erhabensten machen, die Waterloosche Tragödie keck mit einem Fastnachtswitz beschließen, Leonidas’ Heldenkühnheit mit Rabelais’schem Ulk verquicken, den Sieg der Feinde so kurz und treffend mit einem unmöglichen Wort charakterisiren, das Schlachtfeld verlieren und die Geschichte für sich gewinnen, nach einem solchen Blutbad die Lacher auf seine Seite bringen, — das ist eine ungeheure Leistung. Das ist aeschyleisch!

Cambronne’s Antwort entstammt einem Gefühl der Verachtung, das mit urplötzlicher Gewaltsamkeit erquillt. Wer hat gesiegt? Wellington? Nein. Ohne Blücher war er verloren. Blücher? Nein. Hätte Wellington die Schlacht nicht angefangen, so würde Blücher sie nicht haben beenden können. Die Waterloosche Katastrophe, der Sieg der Verbündeten ist mit einem Widerspruch, einer Lüge behaftet. Dies fühlt Cambronne, der bescheidene unbekannte Soldat, diese winzigste unter den Kriegsgrößen, und in dem Augenblick, wo er vor Wuth darüber platzen möchte, bietet man ihm, wie zum Hohne, das Leben an. Wer sollte da nicht wild werden? Sie stehen ihm gegenüber, die Könige Europas, die glücklichen Generäle, die Jupiter mit ihren Donnern, sie haben da hunderttausend siegreiche Soldaten und hinter denen noch eine Million Anderer, sie halten ihre Kanonen bereit, sie haben ihren Fuß auf die kaiserliche Garde und die große Armee gesetzt, Napoleon niedergeworfen, und Cambronne allein steht noch aufrecht. Kein Anderer ist mehr übrig, der protestiren könnte, als er, ein Wurm. Gut, so wird er diese Pflicht erfüllen. Während er nun schon lange über einen passenden schneidigen Ausdruck für seinen Protest nachsinnt, wird er plötzlich zur Wuth gereizt, und da platzt das richtige Wort heraus. Gegen diesen absonderlichen und erbärmlichen Sieg, gegen diesen Sieg, wo Keiner Sieger ist, lehnt er verzweifelt sich auf; er muß das ungeheuerliche Ereignis über sich ergehen lassen, aber nicht ohne den Unwert dieser Art Sieg konstatirt zu haben. Er läßt sich nicht daran genügen, darauf zu speien: Er nimmt Exkremente, um den von der Uebermacht und dem plumpen Stoffe erdrückten Geist zu rächen. Wir wiederholen es: Solch einen Ausdruck finden, solch eine Antwort geben, heißt Sieger sein.

Gottes Odem war es, der in dem entscheidenden Augenblick diesen unbekannten Mann durchwehte und ihm das rechte Wort eingab, wie er seiner Zeit Ruoget de l’ Isle zur Dichtung der Marseillaise begeisterte. Mit diesem Wort der Verachtung spricht er nicht nur Europa Hohn, im Namen des napoleonischen Kaiserthums, was wenig genug wäre; nein, er trotzt damit auch den reaktionären Mächten der Vergangenheit im Namen der großen Revolution. Cambronnen erinnert an die Geistesriesen, die jene große Zeit erzeugt hat an Dantons Donnerreden und an Kleber’s Wuth.

Als Cambronne seine Antwort ertheilt, kommandirte der Engländer: »Feuer!« und es flammte aus den ehernen Schlünden, der Hügel erbebte, eine Rauchvolke stieg im Mondenlicht empor, und als sie sich verzogen, war Alles vorbei. Das Häuflein Helden war vernichtet, die Garde war tot. Die vier Mauern des lebendigen Bollwerks lagen auf der Erde; kaum, daß sich hier und da noch etwas in dem Leichenhaufen bewegte. So verschieden die französischen Legionen, ruhmvoller als einst die römischen, bei Mont-Saint-Jean auf dem vom Regen durchweichten, mit Blut besprengten Boden an dem Wege, wo heutzutage um vier Uhr Morgens der Postillon Joseph seine Pferde zu schnellem Trabe anfeuert und ein Liedchen dabei pfeift.

Quot libras in duce?

Die Schlacht bei Waterloo ist ein Räthsel, das den Siegern eben so dunkel war, wie den Besiegten. Napoleon behauptete, er habe den Sieg schon in Händen gehabt, als ein panischer Schreck alle seine erfolgreichen Maßnahmen vernichtete. Blücher konnte sich keinen Vers aus der Geschichte machen. Wellington kapirte nichts. Man lese nur die officiellen Berichte, die konfusen Depeschen, die verworrenen Beschreibungen der Historiker. Jomini theilt die Schlacht in vier Stadien; Wuffling konstatirt drei Phasen; nur Charras hat, obwohl wir in einigen Punkten von ihm abweichen, mit scharfem Auge diesen Kampf eines großen Menschengenies gegen den von Gott gesandten Zufall, in seinen Hauptzügen richtig erfaßt. Alle andern Gesichtsschreiber sind gleichsam wie geblendet und tappen unsicher nach der Wahrheit herum. Wie ein Blitz allerdings kam das große Ereigniß, der Untergang der Militärmonarchie, die, zum Entsetzen der höchlich erstaunten Könige, in ihrem Sturze auch die Herrschaft der Gewalt und des Krieges vernichtete.

An dieser von einem höheren Willen herbeigeführten Katastrophe haben Menschen keinen Antheil.

Nimmt, wer Wellington und Blücher den Sieg bei Waterloo abspricht, den Engländern und Deutschen etwas? Nein. Weder der Ruhm Englands, noch die Achtung, auf die Deutschland Anspruch macht, kommen bei dem Waterlooschen Problem in Frage. Beide sind, — dem Himmel sei’s gedankt — auch abgesehen von den thränenreichen Kriegesabenteuern große Nationen. Zu jener Zeit, wo der Name Waterloo nur durch Säbelgeklirr berühmt wurde, hatte Deutschland einen größern Mann als Blücher, Goethe, und England’s Wellington wurde von seinem Byron in den Schatten gestellt. Unserm Jahrhundert ist eine Fülle von neuen Ideen eigenthümlich, die zum ersten Male mit ihrem Licht die Welt erhellen, und nicht wenige von diesen Ideen sind von England und Deutschland hervorgebracht worden. Diese beiden Länder gebieten uns Ehrfurcht, weil sie im Reiche des Geistes glänzen. Wenn sie das Niveau der Zivilisation erhöht haben, so verdanken sie dies sich selber, nicht einem Zufall. Der Zuwachs an geistiger Größe, den sie im neunzehnten Jahrhundert erzielten, ist nicht auf ihren Sieg bei Waterloo zurückzuführen. Nur barbarischen Völkern verleihen Erfolge auf dem Schlachtfelde eine — rasch vergängliche — Größe, wie ein Gewitterregen armselige Bäche auf eine kurze Spanne Zeit schwellt. Civilisirte Nationen, besonders zu heutiger Zeit, werden durch das Glück oder Unglück eines Feldherrn nicht größer und nicht kleiner. Es gehört etwas mehr dazu, als eine Schlacht, wenn sie in der Wagschale des Menschengeschlechts schwerer wiegen sollen, als andere Völker. Ihre Ehre, ihr Ansehen, ihre Bildung, ihr Genie sind keine Einsätze, die Helden und Eroberer von den Launen eines Lotteriespiels abhängig machen können. Oft hat der Verlust einer Schlacht einen Fortschritt auf geistigem und moralischem Gebiet zur Folge. Je weniger Ruhm, desto mehr Freiheit. Schweigt die Kriegstrommel, so kommt die Vernunft zu Worte. Wer verliert, gewinnt. Bewahren wir also auf beiden Seiten, wenn wir auf Waterloo zu sprechen kommen, hübsch unsere Ruhe. Geben wir dem Zufall, was des Zufalls, und Gott, was Gottes ist: Bei Waterloo erkämpften die Verbündeten nicht einen Sieg, sondern hatten einen glücklichen Treffer, den Frankreich bezahlen mußte.

Darum ein Löwenbildniß zu errichten, verlohnte wahrlich nicht der Mühe.

Nichts Sonderbareres übrigens, als die Begegnung zweier solcher Menschen wie Napoleon und Wellington. Nicht zwei Feinde, zwei Gegensätze traten bei Waterloo einander gegenüber. Niemals sonst hat Gott, der doch Antithesen liebt, zwei so schroffe Kontraste neben einander gestellt. Auf der einen Seite die eingefleischte Vorsicht, mathematische Präcision, kluge Sicherung des Rückzuges und Zurückhaltung der Reserven, Hartnäckigkeit und Kaltblütigkeit, starre Methodik, wohl überlegte Strategik, die das Terrain, richtig zu wählen, verständige Taktik, die richtig die Bataillone zu vertheilen weiß, sorgfältige Berechnung, die nichts dem Zufall überläßt, und absolute Korrektheit. Auf der anderen Seite ein übermenschlich sicherer Instinkt, Erfindergenie, eine auf’s höchste gesteigerte Fähigkeit, Alles rasch zu überschauen und das Richtige auszuwählen, tiefsinnige Kunst bei kühnem Ungestüm, ein mystisches Vertrauen auf Naturmächte, auf Flüsse, Ebenen, Wälder, Hügel, die dem Willen des Despoten gehorchen sollen, der Glaube an das Schicksal neben gründlichster Kenntniß der Strategik, die durch diesen Glauben geadelt, aber auch getrübt wird. Wellington war der Baêrme, Napoleon der Michelangelo des Krieges und dies Mal wurde das Genie von dem Rechenmeister überwunden.

Beide hofften auf eine Verstärkung: Das Glück begünstigte den exakten Rechner. Napoleon wartete auf Grouchy, der nicht kam; Wellington auf Blücher, — Der kam!

In Wellingtons Person nahm die althergebrachte Kriegswissenschaft ihre Rache. Diese war von Bonaparte in Italien widerlegt worden. Die alte Eule war vor dem jungen Geier geflohen. Und die alte Taktike war nicht blos über den Haufen gerannt, sie hatte auch tiefe sittliche Entrüstung über den Sieger und seine Methode empfunden. Was war denn das für ein Mensch, dieser sechsundzwanzigjährige Korse? Wie kam der Ignorant dazu, unter den allerungünstigsten Bedingungen, ohne Lebensmittel, ohne Munition, ohne Geschütze, ohne Stiefel, mit einer Handvoll Menschen über das verbündete Europa herzufallen und auf eine ganz unvernünftige Weise die unmöglichsten Siege zu gewinnen? Wo hatte der Tollkopf die Kriegskunst erlernt, der fast, ohne Athem zu schöpfen und mit denselben Karten in der Hand, nach einander fünf Armeen des Kaisers von Deutschland zermalmte? Diese Erfolge konnte der alte Cäsarismus dem neuen, die Mathematiker dem Genie nicht vergeben. Am 18. Juni 1815 machte dieser lang verhaltene Groll sich Luft und tilgte die Schmach von Lodi, Montebello, Montenotte, Mantua, Marengo, Arcole mit dem Ruhm von Waterloo, ein Triumph der Mittelmäßigkeit, an dem die Majoritäten ihre Freude haben. Das Schicksal hieß diese Ironie gut. Es stellte Napoleon vor seinem Untergang wieder einem verjüngten Wurmser gegenüber.

Denn Wellington gleicht dem alten Pedaater Wurmser auf ein Haar, — wenn man ihn sich mit grauen Haaren denkt.

Bei Waterloo wurde eine Schlacht ersten Ranges geschlagen und von einem Feldherrn zweiten Ranges gewonnen.

Bewunderungswürdig zeigte sich bei Waterloo England, die englische Standhaftigkeit, Entschlossenheit, Kaltblütigkeit. Das Herrlichste, das England dort aufwies, war, ob es dies nun wahr haben will oder nicht, Englands eigenstes Selbst. Nicht sein Feldherr, sondern seine Armee.

Mit einem seltsamen Undank erklärt Wellington in einem Briefe an Lord Bathurst, seine Armee, dieselbe, die am 18. Juni 1815 kämpfte, sei eine erbärmliche Armee gewesen. Was wohl die auf Waterloos Gefilden verscharrten Gebeine dazu sagen würden, wenn sie es vernehmen könnten?

England ist Wellington gegenüber zu bescheiden gewesen. Wellington allzu sehr erhöhen, heißt England zu tief erniedrigen. Wellington war nur ein Tapferer, wie es deren Viele giebt. Wahrhafte Größe dagegen zeigten die grauen Schotten, die Gardekavallerie, Maitland’s und Mitchells Regimenter, Pack’s und Kempt’s Infanterie, Ponsonby’s und Somerset’s Reiter, die Hochländer, die unter dem Geschützfeuer den Dudelsack spielten, Rylandt’s Bataillone, jene jungen Rekruten, die kaum die Gewehrgriffe kannten und doch den graubärtigen Veteranen Napoleons Stand hielten. Wellington hat sich ja als einen zähen Gegner gezeigt und es fällt uns nicht ein, ihm dies Verdienst streitig zu machen, aber der geringste seiner Leute war eben so hartnäckig, wie er. Der eiserne Soldat ist eben so tüchtig gewesen, wie der eiserne Herzog. Lag also überhaupt Veranlassung zur Errichtung einer Trophäe vor, so gebührt die Ehre England. Die Säule von Waterloo hätte mehr Berechtigung, wenn sie statt der Statue eines Individuums, die eines Volkes in den Himmel emporheben wollte.

Ueber diese unsere Behauptung wird sich allerdings das große England ärgern. Es ist trotz seines 1688 und unseres 1789 noch immer in feudalen Anschauungen befangen. Es hat noch die Primogenitur und die Ordnung der Stände. Dieses Volk, das von keinem andern an Macht und Ruhm überboten wird, achtet sich nur in seiner Gesamtheit; der Einzelne hält nicht viel auf sich. In England läßt sich der Arbeiter Verachtung, der Soldat Stockschläge gefallen. In der Schlacht bei Inkermann, erzählt man, rettete ein Sergeant die ganze Armee, durfte aber von Lord Raglan nicht in seinem Bericht erwähnt werden. Verbieten doch die Gesetze der militärischen Hierarchie in einem Bericht den Namen eines Helden anzuführen, der dem Range nach unter den Offizieren steht.

Was wir an der Geschichte der Schlacht bei Waterloo vor Allem bewundern, ist die wunderbare Kunst, womit der Zufall die eigentümlichsten Ereignisse hervorgebracht und zu einem Ganzen verwoben hat. Der nächtliche Regen, die Mauer von Hougomont, der Fahrweg von Ohain, Grouchy’s Saumseligkeit, die Täuschung Napoleons durch seinen Führer, Bülow besser zurecht gewiesen von dem seinigen, Alles dies mußte wohl eine Katastrophe herbeiführen.

Im Großen und Ganzen fand auch bei Waterloo mehr ein Schlachten, als eine Schlacht statt.

Nie haben sich zwei Heere mit einer so schmalen Front und in solcher Tiefe gegenübergestanden, als bei Waterloo. Daher denn auch das furchtbare Gemetzel.

Man beachte folgende Berechnung: Bei Austerlitz betrugen die Verluste der Franzosen vierzehn Procent ihres Gesamtbestandes, die der Russen dreißig Procent, die der Oesterreicher vierundvierzig. — Bei Wagram verloren die Franzosen dreizehn Procent, die Oesterreicher vierzehn. — An der Moskwa die Franzosen siebenunddreißig, die Russen vierundvierzig Procent. — Bei Bautzen die Franzosen dreizehn, die Russen und Preußen vierzehn Procent. — Bei Waterloo dagegen stiegen die Verluste der Franzosen auf sechsundfünfzig, die der Verbündeten auf einunddreißig Procent. Es kamen also, da jeder Theil 72,000 Mann im Felde hatte, auf 144,000 Kämpfer 60,000 Tote.

Ueber die Folgen der Schlacht bei Waterloo

Eine sehr achtbare Fraktion der liberalen Partei ärgert sich nicht über die Waterloosche Katastrophe, Wir gehören nicht zu ihr. Unseres Erachtens ist dieses Unglück nur vermöge eines staunenswerten Zufalls der Freiheit förderlich gewesen. Nichts Merkwürdigeres in der That, als daß aus solch einem Ei ein herrlicher Adler gekrochen ist!

Formulirt man die Frage richtig, so muß die Antwort lauten, daß für die Sieger die Schlacht bei Waterloo einen Sieg der Gegenrevolution bedeutete. Nun, meinten sie, konnte Frankreich entwaffnet werden, nun erlag der Fortschritt der Reaktion, der unbändigen französischen Freiheitsliebe konnte man jetzt beikommen. Seit sechsundzwanzig Jahren tobte nun schon dieser Vulkan, jetzt konnte der so lange gehegte Wunsch, ihn auszulöschen, in Erfüllung gehen. Die Braunschweig, die Nassau, die Romanow, die Hohenzollern, die Habsburger hatten ja dieselben Interessen mit den Bourbons. Allerdings mußte das Königthum, da das Kaiserthum despotisch gewesen war, vermöge eines natürlichen Rückschlags, sich wohl oder übel liberal gebaren, und so ergab sich, als Folge der Schlacht bei Waterloo, zum größten Leidwesen der Sieger eine konstitutionelle Verfassung. Die Revolution kann ja nicht wirklich unterdrückt werden, sie ist ein Werk der Vorsehung und des Schicksals, sie drängt sich immer wieder vor und bedient sich vor der Schlacht bei Waterloo Bonapartes, um die alten Königsthrone umzuwerfen, nachher Ludwigs XVIII., der eine Verfassung oktroyirt und duldet. Bonaparte setzt einen Postillon auf den Thron von Neapel und einen Sergeanten auf den Thron von Schweden, um vermittelst der Ungleichheit das Recht auf Gleichheit darzuthun. Ludwig XVIII. seinerseits unterzeichnet in Saint-Ouen die Erklärung der Menschenrechte. Wollt Ihr Euch klar machen, was die Revolution bedeutet, so nennt sie »Fortschritt«, und wollt ihr verstehen, was der Fortschritt ist, so nennt ihn »Morgen«. Das Morgen thut unaufhaltsam sein Werk und thut es schon heute. Auf die eine oder andere, gewöhnlich aber seltsame Weise kommt es zum Ziel. Es gebraucht Wellington, um aus Foy, der bis dahin nur ein Soldat war, einen Redner zu machen. So geht der Fortschritt zu Werke. Er ist ein Handwerker, dem kein Werkzeug zu schlecht ist. Der Sieg bei Waterloo hat also zwar den Königen Ruhe vor dem Schwert des Erobrers verschafft, aber das Werk der Revolution ist dann nach einer andern Richtung hin weiter geführt worden. Auf die Herrschaft der Säbelhelden folgte die Herrschaft der Denker.

Was also bei Waterloo triumphirte, was Wellington mit Marschallsstäben belohnte, sogar, heißt es, mit dem französischen, was vergnügt Erde und Menschengebeine zu dem Löwendenkmal aufhäufte, was von dem Plateau von Mont-Saint-Jean raubgierig auf Frankreich herabsah, das war die Gegenrevolution. Die Gegenrevolution war es, die ruchlos die Losung: »Zerstücklung Frankreichs« ausgab. In Paris angelangt, sah sie den Krater aus der Nähe, fühlte die Asche unter ihren Füßen brennen und besann sich eines Andern. Sie ließ sich jetzt die bescheidene Verfassungsurkunde gefallen.

Messen wir also der Schlacht bei Waterloo nicht eine Bedeutung bei, die sie nicht hat. Eine mit Ueberlegung gewollte Freiheit ist nicht aus ihr hervorgegangen. Die Gegenrevolution war gegen ihren Willen liberal, so wie vermöge eines ähnlichen Phänomens Napoleon wider Willen revolutionär verfuhr. Am 18. Juni 1815 wurde der »Robespierre zu Pferde« aus dem Sattel geworfen.

Die Wiederbelebung des Gottesgnadenthums

Mit dem Ende der Diktatur brach ein ganzes Staatensystem zusammen, und das Dunkel, das sich auf einige Zeit über die Welt verbreitete, glich demjenigen, das nach dem Sturz des römischen Reiches die Civilisation umnachtete. Nur daß die Barbarei von 1815, d. h. die Gegenrevolution, kurzatmig war und nicht weit kam. Dem Kaiserthum wurden, wir müssen es gestehen, Thränen, und zwar von Heldenaugen, nachgeweint. Wenn die Verwandlung eines Schwertes in ein Scepter etwas Ruhmreiches ist, so ist das napoleonische Kaiserthum der verkörperte Ruhm gewesen. Es hatte über die Erde alles Licht verbreitet, das die Tyrannei spenden kann, allerdings ein Licht, das die Seele nicht befriedigt. Ja, wir dürfen sogar sagen, ein schwaches Licht, ein Licht, das mit dem Tag verglichen, sich wie Nacht ausnimmt.

Und doch war es, nachdem diese Nacht beseitigt war, als sei eine tiefe Finsterniß eingetreten.

Ludwig XVIII. kehrte nach Paris zurück. Die Verbannten gelangten zur Herrschaft. Von den Schlachten bei Bouvines und Fontenoy wurde gesprochen, als hätten sie Tags zuvor stattgefunden, während Austerlitz als etwas Altes angesehen wurde. Altar und Thron schlossen feierlich Bruderschaft. Und diese große Umwälzung geschah, all diese Könige stiegen wieder auf ihre Throne, der Gebieter Europas wurde eingekerkert, das alte Regime wurde das neue, Licht und Schatten wechselten ihre Plätze, blos weil eines schönen Nachmittags in einem Walde ein Hirt zu einem Preußen sagte: »Gehen Sie da und nicht da lang!«

1815 leitete eine Periode der Verlegenheit ein. Alte Mißbräuche kleideten sich in ein neues Gewand. Das Gottesgnadenthum vermählte sich mit der Revolution, indem es eine Verfassung bewilligte; die Vorurtheile, der Aberglaube und tückische Hintergedanken überfirnißten sich mit Liberalismus. Kurz, eine Schlangenhäutung!

Napoleon hatte die Menschheit zugleich erhoben und erniedrigt. Dem Idealen war unter seiner Regierung, wo die Materie glanzvoll herrschte, der seltsame Name Ideologie angehängt worden. Wie unklug, so die Zukunft zu verhöhnen. Und dennoch sehnte sich das Volk nach dem Mann, der es so trefflich verstanden, es als Kanonenfutter zu verwenden. Wo ist er? Was treibt er? »Napoleon ist gestorben?« meldete Jemand einem Invaliden, der bei Marengo und Waterloo mitgekämpft hatte. »Der soll gestorben sein? Da kennen Sie ihn schlecht!« entgegnete der Soldat. Die Phantasie der Menschen erhob den Gestürzten zu einem Gotte.

Napoleons Fall bewirkte eine große Lücke, in die sich, die Könige drängten. Sie benutzten die gute Gelegenheit, eine »Heilige Allianz« zu schließen. Der Name La Belle-Alliance, eines Ortes bei Waterloo ward also symbolisch.

Angesichts dieses wiederbelebten alten Europas begann Frankreich eine neue Gestalt anzunehmen. Die von dem Kaiser bespöttelte Zukunft hielt ihren Einzug. Auf ihrer Stirn leuchtete der Stern der Freiheit. Begeistert wandte sich ihr die Tugend zu. Merkwürdiger Weise schwärmte man zu gleicher Zeit für die Zukunft, nämlich für die Freiheit, und für die Vergangenheit, Napoleon. Seine Niederlage hatte den Besiegten in den Augen der Menge erhöht. Nach seinem Falle erschien Bonaparte größer, als Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht. Den siegreichen Verbündeten wurde bange. England ließ ihn durch Hudson Lowe bewachen und Frankreich durch Montchenu bespioniren. Passiv wie er sich verhielt, zitterten doch die Könige vor ihm. Alexander von Rußland nannte ihn seinen Schlafstörer. War und blieb er doch ein Vertreter der Revolution! Dies erklärt und rechtfertigt auch den liberalen Bonapartismus. Man konnte mit seinem Namen die Welt erschrecken.

Während Napoleon zu Longwood langsam hinstarb, verwesten gemüthlich die Sechzigtausend, die auf dem Gefilde von Waterloo dahingesunken waren, und die Friedfertigkeit ihrer Grabesruhe theilte sich der Welt mit. Daraus entstanden die Wiener Verträge des Jahres 1815, die Europa die Restauration betitelte.

Dies ist die Bedeutung der Schlacht bei Waterloo.

Aber ob der Unendliche all dies Getriebe beachtete? Ist doch in seinen Augen ein Blattfloh, der von einem Grashalm auf einen andern hüpft, so viel wert wie ein Adler, der die Türme von Notre-Dame umfliegt.

Das Schlachtfeld bei Nacht

Kehren wir noch einmal, da der Gang unserer Erzählung uns diese Notwendigkeit auferlegt, im Geiste auf das Schlachtfeld zurück.

In der Nacht des 18. Juni 1815 war Vollmond. Dies begünstigte die Blutgier Blüchers, indem so die Verfolger in Stand gesetzt wurden, die Fährten der Flüchtlinge leichter aufzuspüren, und die preußische Kavallerie ihnen bequemer nachsetzen konnte.

Nach dem letzten Kanonenschuß war die Ebene von Mont-Saint-Jean menschenleer. Die Engländer rückten in die Gegend vor, die im Besitz der Franzosen gewesen; so will es ja der Brauch, daß der Sieger im Bett des Besiegten schläft. Sie lagerten jenseits von Rossomme, während die Preußen gegen die geschlagene Armee losgelassen wurden. Wellington begab sich nach dem Dorfe Waterloo, um dort seinen Bericht an Lord Bathurst abzufassen.

Wenn jemals Virgils Sic vos non vobis auf irgend etwas gepaßt hat, so war dies sicherlich das Dorf Waterloo. Waterloo hat mit der Schlacht gar nichts zu thun, nichts zu leiden gehabt. Mont-Saint-Jean ist kanonnirt, Hougomont, Papelotte, Plancenoit niedergebrannt, La Haie-Sainte erstürmt worden, La Belle-Alliance hat sehen müssen, wie die beiden siegreichen Feldherren sich in die Arme sanken; aber wie viele kennen diese Namen? Und Waterloo, das nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde, ist die ganze Ehre zugefallen.

Wir gehören nicht zu denen, die den Krieg nur zu loben verstehen; wir sagen ihm, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, unschmackhafte Wahrheiten. Ist ihm viel grausig Schönes eigen, das wir nicht verhehlt haben, so hat er auch einige recht häßliche, abscheuliche Seiten. In letzterer Hinsicht ist die erstaunliche Thatsache hervorzuheben, daß nach dem Siege die Toten so rasch ausgeplündert werden. Die Sonne, die am Morgen nach einem Schlachttage aufgeht, bescheint immer nackte Leichen.

Wer begeht diesen Frevel? Wer besudelt so den Triumph? Wer sind die Spitzbuben, die sich hinter dem Siege herschleichen und den Ruhm ausbeuten? Einige Philosophen, unter Andern Voltaire behaupten, eben diejenigen, die sich Ruhm erworben haben. Am Tage ein Held, bei Nacht ein Vampyr. Wer einen Andern kalt gemacht, dem gehört doch wohl die Leiche und — Alles, was der Leiche gehört hat. Was uns anbelangt, so können wir dies nicht glauben. Lorbeeren pflücken und einem Toten die Stiefel ausziehen ist, dünkt uns, ein und derselben Hand unmöglich.

Soviel ist sicher, den Siegern folgen die Spitzbuben auf dem Fuße.

Jede Armee zieht Gesindel hinter sich her, und hier sind die Schuldigen zu suchen. Den Fledermäusen vergleichbare menschliche Wesen, die von dem Kriege lebten, halb Räuber, halb Diener, Leute in Uniform, die keine Kombattanten waren, falsche Kranke, sehr gefährliche Krüppel, zweideutige Marketender mit ihren Frauen, Bettler, die sich den Offizieren als Führer anboten, Troßbuben, Maraudeure folgten ehemals in Menge jeder Armee — denn wir lassen die Heere der Gegenwart außer Spiel — und wurden mit der Benennung Nachzügler bezeichnet. Für diese Halunken konnte man keine Nation, keine Armee verantwortlich machen; Kerle, die italienisch sprachen, zogen mit deutschen Heeren; Andere sprachen französisch und folgten Engländern. Von einem dieser Elenden, einem Spanier, wurde der Marquis von Fervacques, der sich durch sein pikardisches Kauderwälsch täuschen ließ und ihn für einen Franzosen hielt, auf hinterlistige Weise bei Cerisoles ermordet und ausgeplündert.

Diesen Auswuchs des Krieges verdankte man dem Grundsatz, eine Armee müsse sich immer von ihren Feinden ernähren lassen. Nur eine strenge Disciplin konnte hier Abhülfe schaffen, aber sonst sehr tüchtige Generäle traten in dieser Hinsicht nicht energisch auf, was ihnen bei ihren Soldaten große Beliebtheit verschaffte. Turenne z. B. war der Abgott seiner Leute, weil er Plünderung erlaubte. Wer Böses zuläßt, gilt für gut und Turenne war so gut, daß er in der Pfalz seine Soldaten sengen und brennen ließ. Daher marschirten auch hinter einer Armee mehr oder weniger Maraudeure her, je milder oder strenger der Befehlshaber war. Hoche’s und Marceau’s Heeren folgten keine Nachzügler. Wellington ließ es, um der Gerechtigkeit die Ehre zu geben, in dieser Hinsicht auch nicht an der nöthigen Energie fehlen.

Dennoch wurden in der Nacht vom 18. auf den 19. Juni die Leichen geplündert. Wellington trat dagegen mit großer Strenge auf und befahl Jeden zu erschießen, der auf der That ertappt würde; aber derartiges Raubgesindel ist zähe. Wurden die Spitzbuben von dem einen Theil des Schlachtfeldes verscheucht, so stahlen sie anderwärts.

Kurz, der Mond bekam schauerliche Dinge in jener Nacht zu sehen.

Um Mitternacht ging oder schlich und kroch vielmehr solch’ ein Unhold, weder ein Engländer noch ein Franzose, weder ein Bauer noch ein Soldat, in der Nähe des Fahrwegs von Ohain herum. Er trug einen Kittel, der eine gewisse Verwandtschaft mit einem Regenmantel hatte. Einen Sack hatte er nicht, wohl aber große Taschen. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen, ließ seine Blicke über die Ebene schweifen, ob ihn auch Niemand sehe, bückte sich dann rasch, hantirte einen unbeweglichen Gegenstand an der Erde, richtete sich dann empor und machte sich davon.

Nicht weit davon erkannte man durch den Nebeldunst hinter dem Gebäude, das an der Vereinigung der Chaussee von Nivelles des Mont-Saint-Jean und Braine-l’Alleud verbindenden Weges gelegen war, eine Art Marketenderwagen mit einem getheerten Verdeck aus Weidengeflecht. Die vorgespannte dürre Mähre fraß Brennnesseln, und in dem Wagen saß eine Frau auf Koffern und Packeten. Vielleicht stand das Fuhrwerk in Beziehung zu dem Strolch.

Die Nacht war eine heitere, ruhige. Keine Wolke am Zenith. Was macht es aus, wenn die Erde geröthet ist; der Mond bleibt darum so weiß, wie sonst. Diese Gleichgültigkeit bekundet der Himmel ja oft. Von Kugeln durchgebrochene, aber vom Baum noch nicht abgefallene Zweige und Aeste schaukelten sich leicht im Winde, und die Sträucher wogten hin und her.

Aus der Ferne ließ sich ein unbestimmtes Geräusch vernehmen. Es waren die Patrouillen und Majorsronden des englischen Lagers.

In Hougomont und La Haie-Sainte brannte es noch, und zwischen diesen beiden großen Feuerherden zogen sich, gleichsam wie zwischen zwei Karfunkeln aufgereihte Rubinen, in einem mächtigen Halbkreise, die Wachtfeuer der Engländer hin.

Wir haben die Katastrophe, die sich im Hohlweg von Ohain abspielte, beschrieben. Das Herz schnürt sich zusammen bei dem Gedanken, wie den Tapfern bei ihrem Sturz zu Muthe gewesen sein muß.

Wenn es etwas so Schreckliches giebt, daß auch die kühnste Phantasie es sich nicht mehr auszumalen vermag, so ist es dies: Leben, sich des Sonnenlichts erfreuen, im Vollbesitz der Manneskraft, gesund und munter sein, dem Ruhm entgegenstürmen, der freundlich winkt, eine kräftige Lunge und ein muthiges Herz in seiner Brust fühlen, Vernunft und Willen haben, sprechen, denken, lieben, hoffen können, eine Mutter, Weib und Kind haben — und dann in der Zeit, die der Mensch braucht, einen Ruf zu thun, im Laufe von noch nicht einer Minute in einen Abgrund stürzen, hinabkollern, erdrücken und erdrückt werden, nach Halmen, Blumen, Blättern greifen, ohne einen Halt zu finden, sich wehr- und hilflos fühlen, Menschen- und Pferdeleiber über und unter sich haben, einen Hufschlag gegen die Brust bekommen, daß die Rippen brechen, Fußtritte, daß Einem die Augen aus dem Kopfe fliegen, voller Angst und Wuth um sich beißen — auf ein Hufeisen in irgend etwas, — schreien, sich krümmen, ersticken und dabei denken: »So eben lebte ich noch!«

An der Stelle, wo so Viele so grausig verröchelt hatten, herrschte jetzt tiefe Stille. Der Hohlweg war mit Leichen bis zum Rande ungefüllt, wie ein gestrichen gemessener Scheffel Getreide. Von diesem Leichenhaufen rieselte das Blut nach dem tiefer gelegenen Theil des Fahrwegs, bis auf die Landstraße hinab und sammelte sich in einer Vertiefung vor dem Verhau, an einer Stelle, die man noch heute den Fremden zeigt. Wo der Fahrweg am tiefsten war, nach der Landstraße von Genappe zu, war die Leichenschicht am dicksten; in der Mitte, wo Delord mit seiner Division hinüberritt, nahm sie ab.

Nach dieser Stelle hin lenkte der unheimliche Geselle, den wir dem Leser so eben vorgestellt haben, seine Schritte, durchforschte, die Füße im Blut, das große Grab, musterte die Toten.

Plötzlich blieb er stehen.

Einige Schritte vor ihm, an der Grenze des Leichenhaufens, ragte eine vom Mondlicht beschienene Hand hervor.

An dem einen Finger dieser Hand glänzte etwas, ein goldener Ring.

Der Räuber bückte sich, und als er sich wieder aufrichtete, war der Ring vom Finger verschwunden.

Ganz richtete er sich freilich nicht auf. Er lag vielmehr auf den Knieen und stützte sich, nach vorn gebeugt, auf seine beiden Zeigefinger, während er den Kopf über den Rand des Hohlwegs erhob und in die Ferne blickte. Schakale laufen eben auf vier Füßen.

Endlich entschied er sich dafür aufzustehen.

Da fuhr er vor Schreck heftig zusammen. Hinten hielt ihn Jemand fest.

Er drehte sich um; die eben noch offene Hand hatte sich geschlossen und krampfhaft seinen Mantelzipfel gepackt.

Ein ehrlicher Mensch hätte sich gefürchtet. Der hier lachte.

»I, das ist ja nur der Tote. Besser, als wenn es ein Gendarm wäre.«

Aber jetzt sank die Hand kraftlos herab und ließ ihn los.

»Nanu!« rief der Strolch. »Ist denn der Tote lebendig? Da will ich doch mal näher zusehen.«

Er beugte sich abermals nieder, durchwühlte den Leichenhaufen, schob alles, was ihm hinderlich war, weg, packte die Hand, den Arm, machte den Kopf frei und schleifte den Leblosen oder wenigstens Ohnmächtigen einige Schritte weit fort. Es war ein Kürassieroffizier von höherem Range, wie man schon an den goldenen Epauletten erkannte. Er hatte keinen Helm mehr und über sein Gesicht zog sich eine weit klaffende Wunde, die von einem Säbelhieb herrührte. Zerbrochen war wohl nichts, weder Arme noch Beine, und dank einem glücklichen Zufall — wenn in solch’ einem Zusammenhange das Wort glücklich gebraucht werden darf — hatten einige Leichen über ihm eine Art Dach gebildet und ihn so vor dem Erstickungstode bewahrt.

Auf dem Küraß trug er das silberne Kreuz der Ehrenlegion.

Dieses Kreuz riß der Spitzbube ab und ließ es in eine seiner ungeheuren Taschen hinabgleiten.

Darauf betastete er die Hosentasche des Offiziers, fühlte eine Uhr und eignete sie sich an. Dann kamen die Westentaschen an die Reihe. Er fand die Börse und steckte sie gleichfalls ein.

Während er noch dem Verwundeten diese Sorte Hülfeleistung angedeihen ließ, schlug dieser die Augen auf und sagte mit schwacher Stimme:

»Vielen Dank!«

Durch die heftigen Manipulationen, die der Spitzbube mit ihm vorgenommen hatte, die Kühle der Nacht, die Zufuhr an frischer Luft, war er wieder zum Bewußtsein gebracht worden.

Statt zu antworten, hob der Räuber den Kopf empor. Es wurden in der Ebene Schritte, wahrscheinlich von einer Patrouille, vernehmbar.

Der Offizier fuhr mit noch immer schwacher Stimme fort:

»Wer hat die Schlacht gewonnen?«

»Die Engländer«, antwortete der Strolch.

»Suchen Sie in meinen Taschen. Sie werden eine Börse und eine Uhr finden. Nehmen Sie die.«

Das war nun schon besorgt, aber der Spitzbube stellte sich, als thue er, wie ihm geheißen war.

»Ich finde nichts.«

»So bin ich bestohlen worden. Das thut mir leid.«

Die Schritte kamen näher und näher.

»Da kommen Leute«, sagte der Strolch und machte Anstalt zu gehen.

Der Offizier hob mühsam den Arm und hielt ihn zurück.

»Sie haben mir das Leben gerettet. Wer sind Sie?«

Der Strolch antwortete rasch und mit leiser Stimme:

»Ich gehörte wie Sie der französischen Armee an. Ich muß Sie verlassen. Wenn man mich hier fände, würde ich erschossen werden. Ich habe Ihnen das Leben gerettet. Helfen Sie Sich jetzt selber weiter.«

»Welchen Rang haben Sie?«

»Ich bin Sergeant.«

»Wie heißen Sie?«

»Thénardier.«

»Ich werde den Namen nicht vergessen«, versicherte der Offizier. »Und Sie, behalten Sie meinen. Ich heiße Pontmercy.«

Der Orion

Nr. 24601 wird Nummer 9430

Jean Valjean war wieder eingefangen worden.

Man wird uns Dank wissen, wenn wir die widerwärtigen Einzelheiten dieses Vorfalls mit Stillschweigen übergehen. Wir beschränken uns darauf, zwei diesbezügliche Zeitungsnotizen anzuführen.

Sie sind ein wenig kurz gehalten, denn eine »Gerichtszeitung« gab es dazumal noch nicht.

Die erste Notiz entnehmen wir dem Drapeau blanc vom 25. Juli 1823:

»Ein Arrondissement des Pas-de-Calais ist so eben der Schauplatz eines ungewöhnlichen Vorfalls gewesen. Ein im Departement unbekannter Mann, Namens Madeleine, hatte daselbst seit einigen Jahren vermittelst eines neuen Verfahrens eine alte Lokalindustrie, die Fabrikation der Jet- und schwarzen Glasartikel, gehoben. Er hatte dabei sich selber und, wie zugegeben werden muß, auch das Arrondissement bereichert. Zum Lohn für diese seine Verdienste war er zum Bürgermeister ernannt worden. Jetzt ist nun die Polizei dahinter gekommen, daß Madeleine ein bannbrüchiger, ehemaliger Zuchthaussträfling Namens Jean Valjean war, der 1796 wegen Diebstahl verurtheilt wurde. Jean Valjean also ist wieder in das Bagno zurückgebracht worden. Vor seiner Festnahme soll es ihm noch geglückt sein, eine Summe von mehr als einer halben Million, die er bei Laffitte hinterlegt hatte, zu erheben. Man versichert, daß er dieses Geld in seinem Geschäft ehrlich verdient habe. Wo Jean Valjean dasselbe verborgen hat, ehe er wieder dingfest gemacht wurde, hat man nicht in Erfahrung bringen können.«

Der zweite, ausführlichere Artikel steht im Journal de Paris von demselben Tage:

»Ein ehemaliger, aus der Haft entlassener Zuchthaussträfling, Namens Jean Valjean, ist kürzlich unter ganz eigenartigen Umständen im Departement des Var vor Gericht gestellt worden. Diesem Bösewicht war es gelungen, die Wachsamkeit der Polizei zu täuschen. Er hatte einen falschen Namen angenommen und es dahin gebracht, daß er zum Bürgermeister einer kleinen Stadt in Nordfrankreich ernannt wurde. Hier betrieb er auch ein schwunghaftes Geschäft. Er hatte zur Konkubine eine öffentliche Dirne, die bei seiner Festnahme vor Schreck gestorben ist. Der Elende, der mit herkulischer Körperkraft begabt ist, fand Mittel und Wege zu entspringen, wurde aber drei oder vier Tage darauf wieder aufgegriffen, gerade als er in eine Diligence stieg, um sich nach Montfermeil (im Departement Seine-et-Oise) zu begeben. Es heißt, er habe die drei oder vier Tage, wo er in Freiheit war, dazu benutzt, eine von ihm bei einem unserer bedeutendsten Banquiers hinterlegte Summe, die sich auf sechs bis sieben mal hunderttausend Franken belaufen haben soll, zu erheben. Die Anklageakte versichert, er habe dieses Geld an einem ihm allein bekannten Orte vergraben und man hat es nicht beschlagnahmen können. Sei dem, wie ihm wolle, gegen Jean Valjean wird gegenwärtig vor dem Schwurgericht des Departement des Var eine Anklage wegen eines Straßenraubes verhandelt, den er vor etwa acht Jahren an einem kleinen Savoyaraen verübt haben soll.

Der Bandit hat darauf verzichtet, sich zu vertheidigen. Es ist durch die Anklagebehörde festgestellt worden, daß Jean Valjean diesen Raub in Gemeinschaft mit Andern ausgeführt hat und Mitglied einer Räuberbande war. Demgemäß ist Jean Valjean, nachdem er seiner Schuld überführt war, zum Tode verurtheilt worden. Der Verbrecher hat es abgelehnt, die Nichtigkeitsbeschwerde einzureichen. Se. Majestät der König haben vermöge Allerhöchstihrer unerschöpflichen Milde geruht, ihn zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe zu begnadigen, demzufolge Jean Valjean unverzüglich in das Bagno von Toulon überführt worden ist.«

Unsere Leser werden sich erinnern, daß Jean Valjean in Montreuil-sur-Mer die Kirche besuchte. Daher deuteten denn auch einige Zeitungen, u. A. der Constitutionnel, diese Begnadigung als einen Triumph der »Pfaffen«.

Jean Valjean wechselte im Zuchthaus seine Nummer. Er hieß jetzt Nr. 9430.

Mit Herrn Madeleine verschwand übrigens auch der Wohlstand seines Arrondissements; was er in der oben geschilderten Schreckensnacht vorausgesehen, verwirklichte sich; sobald er fehlte, fehlte dem Ganzen die Seele. Nach seinem Sturze kam es sofort zu einer egoistischen Theilung, einer Zerstückelung seiner großen Schöpfung, wie Aehnliches fortwährend in der Welt vorkommt, von der Geschichte aber nur in einem Falle beachtet worden ist, weil es sich nämlich nach dem Tode Alexanders des Großen zugetragen hat. Wie damals Generäle sich zu Königen krönten, so etablirten sich Madeleines Werkmeister als selbständige Fabrikanten und befehdeten sich auf’s grimmigste. Seine großartige Fabrik wurde geschlossen und seine Arbeiter zerstreuten sich. Die Einen zogen aus der Gegend weg, Manche ergriffen einen anderen Erwerbszweig. Die Industrie nahm einen kleinlichen Charakter an und diente der Gewinnsucht, nicht mehr dem Guten. Keine Zentralisation mehr, überall die verbissenste Konkurrenz. Früher hatte Madeleine Alles beherrscht und nach einem einheitlichen Gesichtspunkt gelenkt; jetzt wollte Jeder die Decke an sich reißen; es trat ein Kampf Aller gegen Alle an die Stelle der ursprünglichen festen Organisation, gegenseitiger Haß und Brodneid an die Stelle des Wohlwollens, das der Neubegründer der Industrie Allen gleichmäßig hatte angedeihen lassen. Die von Madeleine geknüpften Fäden geriethen in Verwirrung und rissen; die Fabrikate wurden durch Anwendung von Verfälschungen entwertet, das Vertrauen vernichtet; die Nachfrage nahm ab; die Löhne gingen herunter, die Arbeit stockte und schließlich kam der Bankerott.

Der Staat selber bekam es zu fühlen, daß ein tüchtiger Mann niedergetreten war. Noch nicht vier Jahre, nachdem die Frage nach der Identität Madeleine’s und Jean Valjean’s zu Gunsten des Bagnos entschieden wurde, waren die Steuererhebungsunkosten im Arrondissement Montreuil-sur-Mer verdoppelt, und der Minister de Villèle konstatirte im Februar 1827 diese Tatsache in der Kammer.

Zwei Verse, die der Teufel gedichtet haben soll

Ehe wir weiter gehen, erachten wir es für rathsam, ausführlich eine sonderbare Geschichte zu berichten, die sich zu derselben Zeit in Montfermeil zutrug, und die vielleicht zu den erwähnten Vermuthungen der Staatsanwaltschaft in irgend einer Beziehung steht.

In und bei Montfermeil besteht eine Sage, die um so beachtenswerther und kostbarer ist, als eine Sage in der Nähe von Paris so selten vorkommt, wie eine Aloepflanze in Sibirien. Da wir aber seltene Pflanzen zu schätzen wissen, wollen wir die Sage, die in Montfermeil zu Hause ist, erzählen. Der Teufel soll seit unvordenklichen Zeiten den dortigen Wald zu einem Versteck für seine Schätze auserkoren haben. Brave Gevatterinnen versichern, nicht selten begegne man in der Abenddämmerung an einsamen, abgelegenen Stellen des Waldes einem schwarzen Manne, der wie ein Fuhrmann oder Holzfäller aussehe, Pantinen trage, mit einer leinenen Hose und dito Kittel bekleidet sei, und der sehr leicht daran zu erkennen wäre, daß er statt Mütze oder Hut zwei ungeheure Hörner auf dem Kopfe trage. Allerdings ein deutliches Erkennungszeichen! Dieser Mann sei gewöhnlich, wenn man ihn zu Gesicht bekomme, im Begriff ein Loch in die Erde zu graben. Drei Arten gebe es, sich diese Begegnung zu Nutze zu machen. Erstens könne man auf den Mann zugehen und ihn anreden. Dann bemerkt man, daß es ein gewöhnlicher Bauer ist. Schwarz sieht er aus von wegen der Abenddämmerung. Er gräbt auch nicht, er mäht blos Gras zu Kuhfutter, und was man für Hörner angesehen hat, sind die Zinken einer Mistgabel, die er auf dem Rücken trägt, und die über seinen Kopf emporragt. Nach einer solchen Begegnung stirbt der Betreffende im Laufe von acht Tagen. Die zweite Methode besteht darin, daß man den Mann beobachtet, wartet, bis er mit seinem Loch fertig ist, es wieder zugeschüttet hat und weggegangen ist; dann rennt man schnell hin, macht die Grube wieder auf und nimmt sich den Schatz, den der schwarze Mann unfehlbar dort geborgen hat. In diesem Fall stirbt der Betreffende spätestens nach vier Wochen. Drittens kann man auch den schwarzen Mann nicht anreden, ihn nicht belauern und spornstreichs davonlaufen. Dann stirbt man im Laufe eines Jahres.

Da alle drei Methoden ihre Unannehmlichkeit haben, bevorzugt man gewöhnlich die zweite, die wenigstens den Vortheil hat, daß man in den Besitz eines Schatzes gelangt, wenn auch nur auf vier Wochen. Tollkühne Leute haben demgemäß, wie versichert wird, oft genug die von dem schwarzen Mann gegrabenen Löcher wieder aufgemacht und den Teufel zu bestehlen versucht. Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen aber stets überaus dürftige gewesen sein. Wenigstens versichert dies die Lokalsage und zwei in barbarischem Latein abgefaßte Verse eines normannischen Mönches, eines schlechten Kerls, der sich mit Zauberei befaßte und Tryphon hieß. Besagter Tryphon ist in der Abtei Saint-Georges de Bocherville bei Rouen begraben, und auf seinem Grabe werden Kröten geboren.

Man quält sich also gottserbärmlich ab mit diesen gewöhnlich sehr tiefen Gruben, schwitzt, wühlt, schippt die liebe lange Nacht hindurch, denn so was muß bei Nacht gemacht werden, verbrennt Lichter, ruinirt seinen Spaten, und ist man endlich unten angelangt, so besteht der Schatz des Teufels in — einer Kupfer-, manchmal Silbermünze, einem Stein, einem Skelett, einem blutenden Leichnam, auch wohl einem Gespenst, das vierfach zusammengeklappt ist, wie man einen Bogen Papier zu vier Blättern faltet. Manchmal findet man auch gar nichts. Dies besagen auch Tryphons Verse:

Fodit et in fossa thesauros condit opaca,

As, nummos, lapides, cadaver, simulacra nihilque.

Heutzutage, heißt es, findet man auch bald eine Pulverbüchse nebst Kugeln, bald ein altes fettiges, vergilbtes Spiel Karten, dessen sich offenbar der Teufel bedient hat. Tryphon erwähnt diese beiden Fundobjekte nicht, da er im zwölften Jahrhundert lebte, und der Teufel nicht so gescheidt gewesen ist, das Pulver vor Roger Bacon und die Spielkarten vor König Karl VI. zu erfinden.

Spielt man übrigens mit dergleichen Karten, so ist man sicher, Alles, was manu besitzt, zu verspielen, und das Schießpulver hat die Eigenschaft, daß ein damit geladenes Gewehr platzt und Einem die Stücke ins Gesicht fliegen.

Kurze Zeit nun, nachdem der ehemalige Zuchthaussträfling Jean Valjean sich laut der Versicherung des Staatsanwalts in der Nähe von Montfermeil herumgetrieben hatte, bemerkte man, daß in eben demselben Dorfe ein alter Chausseearbeiter, ein gewisser Boulatruelle, sich viel im Walde zu schaffen machte. Man behauptete in der Umgegend, Boulatruelle habe gesessen; jedenfalls stand er unter Polizeiaufsicht, und da er nirgends Beschäftigung fand, so verwandte ihn die Verwaltung — gegen geringeren Lohn — als Erdarbeiter auf der Chaussee zwischen Gagny und Lagny.

Dieser Boulatruelle wurde von den Leuten der ganzen Gegend scheel angesehen. Man fand ihn zu höflich, zu bescheiden. Er nahm vor Jedermann die Mütze ab und war zu ängstlich oder zu freundlich gegen die Gendarmen. Jedenfalls stand der Kerl in Beziehung zu Räuberbanden und war im Stande, ehrlichen Leuten im Wald des Abends aufzulauern. Nur ein Umstand sprach zu seinen Gunsten: Er soff.

Man glaubte also folgende Beobachtungen gemacht zu haben:

Seit einiger Zeit kam Boulatruelle sehr früh von der Arbeit und begab sich mit seinem Spaten in der Wald. Man begegnete ihm des Abends auf den einsamsten Lichtungen und in den wildesten Dickichten, und es sah aus, als suche er etwas. Manchmal faßte man ihn auch dabei ab, wie er Löcher grub. Die Frauen, die ihn dabei antrafen, hielten ihn anfangs für Beelzebub, erkannten ihn dann aber und — ängstigten sich nicht minder. Dergleichen Begegnungen mißfielen aber unserem Boulatruelle ebenfalls. Es war augenscheinlich, daß er Heimlichkeiten hatte.

Im Dorfe raunte man sich zu, es sei sonnenklar, daß der Teufel in dem Walde gewesen wäre. Boulatruelle habe ihn gesehen und suche nun. »Solch’ ein schlechtes Subjekt«, meinten Alle, »bringt es wohl auch fertig und findet was.« Die Freigeister aber spöttelten: »Wird sich Boulatruelle den Schatz des Teufels langen oder langt sich der Teufel den Boulatruelle?« Kurz, es war ein Gesprächsgegenstand, das den alten Frauen Veranlassung genug gab sich zu bekreuzigen.

Schließlich nahm die Geheimnißkrämerei, die Boulatruelle im Walde trieb, doch ein Ende, und er ging seiner Arbeit auf der Chaussee in der gewohnten Weise nach. Bald sprach man nicht mehr von der Sache.

Mit Ausnahme einiger Neugieriger, die sich eigene Gedanken machten. Diese meinten, es werde sich wohl nicht um einen sagenhaften Schatz gehandelt haben, nicht um Tresorscheine aus der Druckerei des Teufels, sondern um etwas Solideres und Greifbareres, das Boulatruelle halb und halb ausgeschnüffelt habe. Am meisten ging die Sache dem Gastwirt Thénardier, der als Freund Jedermanns auch mit Boulatruelle verkehrte, so wie dem Schulmeister, im Kopf herum.

Eines Abends behauptete der Schullehrer gesprächsweise, früher würde das Gericht Ermittelungen angestellt haben, was Boulatruelle im Walde treibe. Man würde schon ein Geständnis erzwungen haben. Man hätte z. B. in solchen Fällen dem Delinquenten das Haar abgeschoren und ihm langsam einen Tropfen Wasser nach dem andern auf den Kopf geträufelt. Die Qual könnte auch der stärkste und hartnäckigste Mann nicht lange aushalten.

»Hm!« meinte Thénardier, »so können wir’s nicht machen. Aber vielleicht bringt man etwas aus ihm heraus, wenn man ihm Wein in die Kehle träufelt.«

Boulatruelle wurde also jetzt oft freigehalten. Er trank viel und sprach wenig. So bedeutende Quantitäten Wein man ihm auch durch seine weite Saufgurgel jagen mochte, er war verschwiegen wie ein Untersuchungsrichter. Aber die Verschwörer ließen ihm keine Ruhe und brachten ihn doch dahin, daß er ab und zu eine dunkle Aeußerung fallen ließ, so daß schließlich Thénardier und der Schulmeister sich folgende Geschichte zurecht legen konnten.

Boulatruelle erblickte eines Morgens, als er auf Arbeit ging, unter einem Strauch eine Schaufel und eine Hacke, und es kam ihm so vor, als hätte der Betreffende die Absicht gehabt sie zu verstecken. Indessen bildete er sich ein, die beiden Werkzeuge müßten Vater Six-Fours, dem Wasserträger, gehören und schlug sich die Sache aus dem Sinn. Aber am Abend desselben Tages sah er, ohne selber gesehen zu werden, da er hinter einem dicken Baum stand, wie Jemand, der die Landstraße heraufkam, sich seitwärts schlug nach der Gegend hin, wo der Wald am dichtesten war. Der Kunde, behauptete Boulatruelle, wäre Einer gewesen, der nicht in der Gegend heimisch sei, ihm aber sehr gut bekannt gewesen. In Thénardiers Sprache übersetzt, er war ein ehemaliger Zuchthauskamerad Boulatruelles. Dieser aber weigerte sich hartnäckig, den Namen zu nennen. Der »Kunde« trug etwas, das wie eine große Schachtel oder wie ein kleiner Koffer oder Truhe aussah. »Nanu!« dachte Boulatruelle. Aber erst nach sieben oder acht Minuten, behauptete er, kam er auf den Gedanken, dem Kunden nachzugehen. Aber zu spät! Der Kunde war im Dickicht verschwunden, es dunkelte auch schon, und Boulatruelle bekam ihn nicht mehr zu Gesicht. Nun hatte er sich aber am Saum des Waldes aufgestellt. Der Mond schien hell, und zwei bis drei Stunden darauf sah Boulatruelle seinen Kunden wieder aus dem Wald herauskommen, ohne Koffer, aber mit einer Schaufel und einer Hacke. Er ließ ihn vorbeigehen, ohne ihn anzureden; denn er wußte, daß der Andere dreimal so stark wie er, mit einer Hacke bewaffnet war und ihn sicherlich totschlagen werde, wenn er ihn wiedererkennen und sich erkannt sehen würde. Aber beim Anblick der Schaufel und der Hacke war unserm Boulatruelle ein Licht aufgegangen. Er rannte nach dem Strauch hin, wo er am Morgen die beiden Werkzeuge gesehen hatte, und da sie nicht mehr da waren, schloß er daraus, daß sein »Kunde« den Koffer vergraben hatte. Nun war aber der Koffer zu klein, um eine Leiche aufzunehmen; er mußte also Geld enthalten. Daher die Nachforschungen im ganzen Walde. Aber vergeblich. Er hatte keinen Schatz gehoben.

Nun dachte in Montfermeil Niemand mehr an die Sache. Nur einige alte Weiber meinten: »Der Mann hat den ganzen Techtelmechtel nicht so mir nichts dir nichts angestellt; er hat sicher gewußt, daß der Teufel da gewesen ist.«

Eine angefeilte Kette

Gegen Ende Oktober 1823 sahen die Einwohner von Toulon den »Orion« in ihren Hafen einfahren, ein Schiff, das damals zu dem Mittelmeergeschwader gehörte und später in Brest als Schulschiff verwendet wurde.

So arg das Meer dieses Fahrzeug auch zugerichtet hatte, so imponirte sein Anblick doch sehr. Es führte, ich weiß nicht, was für eine Flagge, die mit elf Salutschüssen begrüßt werden mußte, und es erwiderte elf andere Schüsse. Summa: Zweiundzwanzig Schüsse. Man hat berechnet, daß die Höflichkeitssalven, der Austausch von Anstandslärm, Etikettesignale, Formalitäten auf den Reeden und seitens der Citadellen, Sonnenbegrüßungen Morgens und Abends durch die Festungen und Kriegsschiffe, Oeffnung und Schluß von Thoren täglich auf der Erde die Lösung von 150,000 über flüssigen Kanonenschüssen erfordern. Rechnet man den Schuß auf je sechs Franken, so kommen 900,000 Franken täglich heraus und im Jahr 300 Millionen, die zu Rauch werden. Aber das ist Nebensache. Während der Zeit verhungern so und so viel Arme.

Das Jahr 1823 bezeichnet jene Epoche, welche von den Anhängern der Restauration nach dem Kriege in Spanien benannt worden ist.

Dieser antiliberale Krieg, der von den französischen Bourbons zu Gunsten der spanischen geführt wurde, kostete Frankreich wenig Blut, weil nirgends gefährliche Gegenwehr geleistet wurde, brachte Wenigen Ehre, Niemandem Ruhm, Manchem Schande ein. Und ebenso unzufrieden wie der Soldat, der da glaubte, die spanischen Generäle und Festungskommandanten seien von Frankreich bestochen gewesen, ebenso unwillig war die französische Demokratie. Dieser Feldzug hatte die Unterwerfung eines Nachbarvolkes unter das Joch eines Despoten zum Zweck gehabt. Ein abscheulicher Widerspruch! Frankreichs Beruf ist die Seele der Völker zu wecken, nicht sie ersticken. Seit 1792 sind alle Revolutionen in Europa Folgen der großen französischen Revolution; Frankreich strahlt Freiheit aus. Dies ist eine sonnenklare Thatsache. »Wer das nicht sieht, ist blind!« sagte Bonaparte.

Den Bourbons wurde der Krieg des Jahres 1823 verderblich. Sie wähnten, einen großen Erfolg errungen zu haben und begriffen nicht, wie gefährlich es ist, eine Idee durch eine Armee töten zu wollen. Sie beriefen sich, um die Wirksamkeit von Gewaltstreichen zu beweisen, auf diesen Krieg und gewöhnten sich an eine abenteuerliche Politik. Da Frankreich, dachten sie dann 1830, in Spanien das absolute Königthum mit Gewalt wieder eingeführt hat, so mühte dies in Frankreich erst recht möglich sein. Sie verfielen in den gefährlichen Irrtum, daß sie den passiven Gehorsam des Soldaten für die Einwilligung der Nation hielten. Ihr Sturz im Jahre 1830 war also im Keime schon in dem Feldzug des Jahres 1823 enthalten.

Kommen wir nun zu dem Orion zurück.

Dieses Kriegsschiff gehörte, wie schon erwähnt, zu dem Geschwader, das, während die Armee in Spanien kämpfte, auf dem Mittelländischen Meere kreuzte.

Ein Kriegsschiff in einem Hafen fesselt immer die Aufmerksamkeit der Menge. Ist es doch etwas Großes, und das Volk liebt das Große.

Ein Linienschiff ist eine der herrlichsten Waffen, die das Genie des Menschen sich gegen die Mächte der Natur geschmiedet hat.

Es besteht zu gleicher Zeit aus dem leichtesten und aus dem schwersten Material, weil es gegen die drei Formen der Substanz, gegen Festes, Flüssiges und Gasförmiges, anzukämpfen hat. Es hat elf eiserne Klauen, um sich an dem Granit des Meeresbodens festhalten zu können, und eine Unzahl von Flügeln, um den Wind aufzufangen. Seinen Athem haucht es durch hundert und zwanzig Kanonen, seine Trompeten, aus und wetteifert stolz mit dem Blitze. Der Ocean versucht es mit der Einförmigkeit seiner Wasserwüste irre zu führen, aber das Schiff hat eine Seele, den Kompaß, der es leitet. In finsteren Nächten vertreten seine Laternen die Sterne. So vertheidigt es sich gegen den Wind mit Tauen und Leinwand, gegen das Wasser mit Holz, gegen Felsen mit Eisen, Kupfer und Blei, gegen die Finsternis mit Licht, gegen die Unendlichkeit des Raumes mit einer Nadel.

Will man sich einen Begriff machen von den gigantischen Bestandtheilen eines Linienschiffes, so sehe man sich unsere Werften in Brest und Toulon an. Dieser kolossale Balken ist eine Raae, jene kaum übersehbare Säule ist ein Mast. Er ist sechzig Klafter lang und mißt unten drei Fuß im Durchmesser. Der Hauptmast erhebt sich 217 Fuß hoch über die Wassertracht. Die Marine unserer Väter verwendete Kabel, wir brauchen Ketten. Legt man die Ketten eines Schiffes, das hundert Kanonen trägt, auf einen Haufen, so mißt dieser vier Fuß in die Höhe, zwanzig Fuß in die Länge, acht Fuß in die Breite. Und wieviel Holz gehört dazu, ein solches Schiff zu bauen? Dreitausend Kubikmeter, ein ganzer Wald.

Und dabei handelt es sich, wohlbemerkt, nur um die Kriegsschiffe, wie sie vor vierzig Jahren gebaut wurden, nämlich um Segelschiffe, denn seit jener Zeit hat die Anwendung der Dampfkraft, mit der man dazumal noch nicht recht umzugehen verstand, das Wunder, das man ein Kriegsschiff nennt, bedeutend vervollkommnet. Gegenwärtig besitzt man z. B. Schraubenschiffe, deren Segelwerk dreitausend Quadratmeter mißt und deren Dampfkessel zweitausend fünfhundert Pferdekräfte stark ist.

So widerstandsfähig aber solch ein Wunderwerk von Schiff auch sein mag, es kommt doch einmal eine böse Stunde, wo eine Bö die sechzig Fuß lange Raa wie einen Strohhalm zerbricht, wo der Sturm den vierhundert Fuß hohen Mast wie ein Schilfrohr niederbeugt, wo der schwere Anker von den Wogen hin und hergeschoben wird, wie eine Angel in dem Rachen eines Hechtes, wo die ungeheuren Kanonen vergeblich um Hilfe brüllen, wo all die Menschenmacht und Herrlichkeit vor einer höheren Gewalt sich beugen muß.

Jedesmal, wenn eine große Kraft sich entfaltet, um in einer eben so großen Schwäche zu enden, werden die Menschen nachdenklich. Daher die vielen Neugierigen, die sich um die Häfen versammeln, um die wunderbaren Kriegsmaschinen anzustaunen.

Tagtäglich also fanden, von früh bis spät, in den Uferstraßen und auf den Dämmen, Schaaren von Müßiggängern und Maulaffen, deren Beschäftigung es war, sich den Orion anzusehen.

Das Schiff bedurfte schon seit längerer Zeit der Reparatur. Es hatten ich ehedem mächtige Schichten von Muscheln um den Kiel herum gebildet, was seiner Schnelligkeit erheblichen Eintrag that. Es war auch deswegen ein Jahr zuvor trocken gelegt worden, behufs Beseitigung der Muscheln, und war dann wieder in See gegangen. Leider hatte aber unter der Operation die Verbolzung des Kieles gelitten. In Folge dessen bildete sich ein Leck, und da zu jener Zeit, die Wegeringen nicht aus Blech gemacht wurden, ließ das Schiff Wasser ein. Dann hatte ein heftiger Windstoß das Galion und eine Stückpforte am Backbord eingestoßen und die Fockruste beschädigt. Es mußte also reparirt werden und war zu diesem Zwecke nach Toulon zurückgekehrt.

Hier lag es beim Arsenal vor Anker, der Rumpf schien am Steuerbord unversehrt geblieben, nur war die Verkleidung hier und da losgemacht, um Luft hereinzulassen.

Da spielte sich eines Morgens vor einer zahlreichen Zuschauermenge ein aufregender Vorfall ab.

Die Mannschaft war mit der Festmachung der Segel beschäftigt, als der Marsgast, der das Nockrohr des Steuerbordshauptmarssegels zu befestigen hatte, das Gleichgewicht verlor. Er schwankte und stürzte, den Kopf nach unten gerichtet, mit ausgestreckten Händen hinab, bekam aber die falsche Pertleine zu fassen und blieb so in schwindliger Höhe über dem Wasser hängen, von dem heftig erschütterten Strick hin und her geschaukelt.

Ihm zu Hülfe kommen hieß sich einer großen Gefahr aussetzen, und keiner von den erst kürzlich ausgehobenen Matrosen mochte sich einem solchen Wagniß unterziehen. Allmählich aber nahmen die Kräfte des Marsgastes ab, was an seinen Bewegungen zu erkennen war, denn sein Gesicht konnte man nicht sehen. Jeder Versuch, den er machte wieder hinaufzukommen, hatte keinen besseren Erfolg, als daß die Leine noch mehr schwankte. Der Arme schrie nicht, um keine Kraft unnütz zu verlieren, aber Alles machte sich darauf gefaßt, daß er bald fallen würde, und Manche wendeten schon die Augen ab, um das Schreckliche nicht zu sehen.

Plötzlich bemerkte man einen Menschen, der mit der Behendigkeit einer Tigerkatze an dem Mast emporkletterte. Er war roth gekleidet, also ein Sträfling, und trug eine grüne Mütze, war also ein auf Lebenszeit Verurtheilter. Als er beim Mars angelangt war, riß ihm ein Windstoß die Mütze vom Kopf, und man konnte sein weißes Haar sehen. Es war kein junger Mann mehr.

In der That hatte gleich im ersten Augenblick ein auf das Schiff zur Arbeit kommandirter Sträfling, während die Matrosen zitterten und unthätig zusahen, sich an den Wachtoffizier gewendet und ihn gebeten, er möge ihm erlauben sein Leben für den Marsgast zu wagen. Sein Anerbieten wurde angenommen, und alsbald entledigte er sich mit einem Hammerschlag der an seinem Fuß befestigten Kette, nahm einen Strick und kletterte im Nu bis zur Raa empor.

Er blieb einige Sekunden auf der Raa stehen und maß sie mit den Augen. Diese Sekunden, wo der Wind den Marsgast hin und her schaukelte, kamen Denen, die zusahen, von unten so lang vor wie Ewigkeiten. Endlich hob der Sträfling die Augen zum Himmel empor und that einen Schritt vor. Die Zuschauer athmeten auf. Nun lief er die Raa entlang bis zur Spitze, wo er den mitgebrachten Strick mit dem einen Ende festknüpfte und das andere herabfallen ließ. Dann klimmte er an diesem Strick hinab, zum größten Entsetzen der Zuschauer, denn nun hingen, statt eines Menschen, zwei über der Tiefe.

Man konnte, wenn man ihn so leicht klettern sah, an eine Spinne denken, nur daß diese Spinne das Leben, nicht den Tod, brachte. Kein Schrei, kein Wort entrang sich den geängstigten Zuschauern; Alle starrten mit fest zusammengezogenen Brauen auf die beiden Männer; Alle hielten den Athem an, als hätte sonst der Wind, der die Unglücklichen da oben herumschleuderte, stärker werden können.

Endlich war der Sträfling bei dem Matrosen angelangt. Es war auch die höchste Zeit; eine Minute später hätte der Unglückliche loslassen müssen und wäre in die Tiefe gestürzt. Jetzt band ihn der Sträfling mit dem Strick fest, an dem er sich mit der einen Hand hielt, während er mit der anderen sein Rettungswerk vollbrachte. Dann klomm er wieder bis auf die Raa empor und zog den Matrosen in die Höhe, ließ ihn eine Weile ausruhen, nahm ihn dann in die Arme und trug ihn auf der Raa bis zum Eselshaupt und von dort nach dem Mars, wo er ihn seinen Kameraden übergab.

Jetzt brach die Menge in stürmischen Beifall aus; alte Stockmeister weinten, die Frauen am Ufer sanken sich in die Arme, und Alles verlangte mit gerührtem hartnäckigem Eifer, der Mann solle begnadigt werden.

Dieser hatte sich mittlerweile angeschickt wieder hinunterzusteigen, Um schneller unten anzukommen, glitt er in das Takelwerk hinab und lief eine Raa entlang. In einem gewissen Augenblick wurde den Zuschauern bange um ihn; es schien, als wankte er, sei es, weil er müde war, sei es, weil ihn schwindelte. Plötzlich entrang sich Allen ein Angstschrei: Der Sträfling fiel ins Meer.

Es war ein gefährlicher Sturz. Neben dem Orion lag eine Fregatte, der Algesiras, vor Anker, und der Unglückliche war zwischen die beiden Schiffe gefallen. Es stand zu befürchten, daß er unter den Rumpf des einen oder des anderen gerathen könnte. Hastig sprangen vier Mann in ein Boot. Die Zuschauer feuerten sie mit Zurufen an, und abermals stand Alles eine unbeschreibliche Angst aus. Aber der Verschwundene kam nicht wieder an die Oberfläche, und so viel man auch nach ihm tauchte, sondirte, suchte, nicht einmal seine Leiche wurde gefunden.

Am nächsten Tage las man im Journal de Toulon folgende Zeilen:

»Toulon, 17. Novbr. 1823. — Gestern ist ein auf dem Orion beschäftigter Sträfling, nachdem er eben einem Matrosen das Leben gerettet hatte, ins Meer gefallen und ertrunken. Die Leiche ist nicht gefunden worden. Man vermuthet, daß er zwischen die Grundpfähle des Arsenals gerathen ist. Der Mann war in das Register unter Nr. 9430 eingetragen und hieß Jean Valjean.«

Das eingelöste Versprechen

Die Wasserpein in Montfermeil

Montfermeil liegt zwischen Livry und Chelles, an dem südlichen Saum des hohen Plateaus, das Ourcq von der Marne scheidet. Heutzutage ist es ein ziemlich bedeutender Ort, aber 1823 gab es in Montfermeil nicht so viel weiße Landhäuser und nicht so viel wohlhabende Leute wie jetzt. Es war nur ein mitten in einem Walde gelegenes Dorf. Hier und dort sah man wohl einige Villen aus dem 18. Jahrhundert, die sich mit ihren kunstvollen, eisernen Balkons und ihren hohen Fenstern recht vornehm ausnahmen. Aber Montfermeil war darum doch nur ein Dorf. Die Rentiers und Sommerfrischler hatten es noch nicht entdeckt. Es war ein stiller, reizender, aber abgelegener Ort, wo es sich gemüthlich und billig leben ließ. Nur war das Wasser selten wegen der Höhe des Plateaus.

Man mußte es ziemlich weit herholen. Das eine Ende des Dorfes, dasjenige, das nach Gagny hin liegt, versorgte sich aus den herrlichen Teichen, die im Walde sind; die am anderen Ende um die Kirche und nach Chelles hin wohnten, mußten bis zu einer kleinen Quelle gehen, die eine Viertelstunde von Montfermeil an der Chaussee nach Chelles liegt.

Die Versorgung mit Wasser war also eine sehr umständliche. Die größeren Haushaltungen, wie die aristokratischen Familien u. s. w., ließen sich das Trinkwasser von einem Mann bringen, der sich damit acht Sous pro Tag verdiente; aber dieser arbeitete im Sommer nur bis sieben Uhr Abends und im Winter nur bis fünf. Wer sich bis dahin nicht vorgesehen hatte, und Durst bekam, mußte selbst gehen und welches holen, oder sich den Durst vergehen lassen.

Das Wasserholen war der Schrecken der kleinen Cosette, die nachdem die Mutter für sie das Kostgeld zu zahlen aufgehört hatte, trotzdem bei den Thénardiers blieb, Sie konnten das arme Wesen zu häuslichen Arbeiten gut gebrauchen. Unter Anderm mußte sie das Wasser herbeischleppen, das im Hause gebraucht wurde. Die Kleine paßte auch bei Tage gut auf, daß es nie an Wasser fehlte, weil sie sich sehr grauelte und nicht in der Dunkelheit zur Quelle wandern mochte.

Im Jahre 1823 ging es gegen Weihnachten in Montfermeil sehr lustig zu. Der Anfang des Winters war ein sehr milder gewesen, und es hatte bisher weder gefroren noch geschneit. Pariser Akrobaten ersuchten den Herrn Bürgermeister um die Erlaubnis; ihre Buden in der Hauptstraße des Dorfes aufrichten zu dürfen und eine Menge Händler hatten sich die Gelegenheit zu Nutze gemacht, und auf dem Platz der Kirche und bis in die Rue du Boulanger hinein, wo Thénardier sein Geschäft betrieb, ihre Waare zum Verkauf auszustellen. Das brachte Leben in das stille Dorf und füllte die Schänken mit neuen Kunden. Als gewissenhafter Geschichtsschreiber müssen wir sogar noch hinzufügen, daß in einer Menagerie von gräulichen zerlumpten Clowns einer jener schrecklichen, brasilianischen Geier gezeigt wurde, die in unserm königlichen Museum erst seit 1845 zu sehen sind. Dieser Vogel führt eine dreifarbige Kokarde im Auge. Die Naturforscher nennen ihn Caracara polyborus; er gehört zur Ordnung der Apicidac und zur Familie der Vultures. Selbstredend gingen die im Dorf ansässigen, alten bonapartistischen Soldaten hin und sahen sich andachtsvoll das Wunderthier an, das sie an ihren Kaiser erinnerte. Die Menageriebesitzer aber versicherten, es handle sich hier um ein Unicum, das der liebe Gott nur für sie speziell geschaffen hätte.

Am Weihnachtsabend saßen mehrere Fuhrleute und Hausirer um einen mit Talglichtern beleuchteten Tisch und zechten. Frau Thénardier sah nach dem Abendessen, das an einem hellen Kaminfeuer briet, und ihr Mann unterhielt sich mit feinen Gästen über Politik und Geschäfte.

Cosette befand sich an ihrem gewöhnlichen Platze, nämlich unter dem Küchentisch, der in der Nähe des Kamins stand. Sie trug zerlumpte Kleider und an ihren bloßen Füßen Holzschuhe und strickte beim Schein des Kaminfeuers wollene Strümpfe für Ténardiers kleine Tochter. Ein junges Kätzchen spielte unter den Stühlen, und in der Nebenstube lachten und plapperten Eponine und Azelma.

Ueber dem Kamin hing an einem Nagel ein Kantschu.

Zeitmeise übertönte den Lärm, den die Gäste machten, das durchdringende Geschrei eines kleinen Kindes, das irgendwo im Hause sein mußte. Es war ein Knabe, mit dem Frau Thénardier ihren Gemahl vor drei Jahren beschenkt hatte. Die Mutter hatte ihn gesäugt, konnte ihn aber nicht leiden. Wurde das Geschrei zu unangenehm, so meinte er wohl zu seiner Frau: »Du, Dein Sohn gnaut. Sieh doch mal nach, was er will!« »Ach was!« pflegte sie dann zu antworten. »Laß ihn. Es fehlte auch noch, daß ich mir mit dem Balg soviel Umstände machte.«

Und das arme Ding jammerte weiter.

Vervollständigung zweier Charakterschilderungen

Wir haben bis jetzt die Thénardiers nur ein wenig im Profil betrachtet; aber jetzt ist der Augenblick gekommen, wo wir uns das Pärchen genauer ansehen müssen.

Thénardier war über die Fünfziger hinaus; seine Frau stand vor den Vierzigern. D. h. es bestand, da die Frauen schneller altern, kein erwähnenswerther Unterschied zwischen ihnen.

Unsere Leser erinnern sich vielleicht noch der äußeren Erscheinung dieses weiblichen Ungethüms. Sie besorgte die ganze Wirtschaft, machte die Betten, die Zimmer, wusch, kochte u. s. w. ohne andere Bedienung, als die kleine Cosette. Ein Mäuschen im Dienste einer Elephantin! Alles zitterte beim Klange ihrer Stimme, die Fensterscheiben, die Möbel und auch die Menschen. Ihr breites, mit Sommersprossen reichlich versehenes Gesicht ähnelte einem Sieb. Auch Bart hatte sie, und man hätte glauben können, man habe einen als Frau verkleideten Lastträger vor sich. Sie fluchte grandios und prahlte gern damit, daß sie eine Nuß mit der Faust zerschlagen konnte. Hätte sie keine Romane gelesen und nicht zeitweise zierlich und zimperlich gethan, so wäre nie Jemand auf die Idee gekommen, das Ungeheuer wäre ein Frauenzimmer. Hörte man sie reden, so dachte man an Gendarmen; sah man sie trinken, an Fuhrleute; mißhandelte sie die arme Cosette, an Folterknechte.

Er war ein kleiner, schmächtiger, magerer, blasser Mann, der krank aussah und sich der besten Gesundheit erfreute. Schon mit seinem Aeußeren betrog er also die Leute. Er lächelte gewöhnlich Vorsichtshalber und war gegen Jedermann höflich, sogar gegen den Bettler, dem er ein Almosen abschlug. Der Blick seiner Augen hatte etwas Marderartiges und auf seine Miene hin hätte man ihn für einen Litteraten halten können. Er paradirte gern vor den Fuhrleuten mit seinen Leistungen im Trinken, und Niemand hatte ihn je unter den Tisch bringen können. Er rauchte eine lange Pfeife. Gewöhnlich trug er einen Kittel und darunter einen alten schwarzen Rock. Er spielte sich gern auf den litterarisch und philosophisch gebildeten Mann heraus, citirte zur Bekräftigung seiner Behauptungen Voltaire, Raynal, Parny und sonderbarer Weise auch den heil. Augustin. Natürlich hatte er ein eigenes materialistisches System. Kurz, er war ein mit einem Gauner verbrämter Philosoph. Er behauptete, Soldat gewesen zu sein und erzählte gern mit großer Ausführlichkeit, daß er bei Waterloo als Sergeant bei dem sechsten oder neunten Chevaux-legers-Regiment allein einer Schwadron preußischer schwarzer Husaren Stand gehalten und einen schwer verwundeten General aus dem Kugelregen herausgetragen hätte. Daher sein buntes Wirtshausschild und die Bezeichnung seiner Herberge als Gasthaus zum Sergeanten von Waterloo.

In Wirklichkeit war der Halunke ein Flamänder aus Lille, der sich in Paris als Franzose, in Brüssel als Belgier gebarte und aller Wahrscheinlichkeit nach war er zur Zeit der Schlacht bei Waterloo ein Marketender, der mit seiner Frau den Armeen, und zwar immer den siegreichen, nachfuhr und stahl, wessen er habhaft werden konnte. Nach dem Feldzug war er mit dem »Draht«, den er angesammelt hatte, nach Montfermeil gekommen, um dort ein Geschäft zu eröffnen.

Aber all’ die gestohlenen Börsen, Taschenuhren, goldenen Ringe, silbernen Kreuze hatten doch nicht so viel Draht ergeben, daß er es damit hätte weit bringen können.

Thénardier waren Gebärden und Flüche eigen, die an die Kaserne erinnerten, und das Zeichen des Kreuzes machte er so sachverständig und elegant, wie ein Seminarist. Auch suchte er etwas darin, sich gewählt auszudrücken und hatte durchaus nichts dagegen, wenn man ihn für einen Gelehrten hielt. Indessen hatte der Schullehrer ihn auf Schnitzern ertappt, und so viel er sich auch auf seine schön stilisirten Rechnungen zu Gute that, geübte Augen entdeckten doch Verstöße gegen die Rechtschreibung darin. Thénardier war duckmäuserig, leckermäulig und gefräßig, faul und pfiffig. Auch verschmähte er seine Dienstmädchen nicht, in Folge dessen seine Frau keine mehr hielt. Die Riesin war eifersüchtig. Sie bildete sich ein, alle Frauen seien lüstern nach ihrem vermeckerten Mann.

Thénardier, in dessen Charakter Hinterlist und Verschlagenheit die Hauptzüge ausmachten, gehörte zu der Gattung der Leisetreter, der sanften Schufte, also der schlimmsten, weil sie Heuchler sind.

Nicht, als ob er nicht gelegentlich im Stande gewesen wäre, in Zorn zu gerathen, nicht minder wie seine Frau; aber so etwas kam nicht oft vor, und dann konnte er gefährlich werden. Denn er haßte tiefinnerlich die ganze Menschheit und gehörte zu Denen, die Jeden und Alle für ihre Mißerfolge im Leben verantwortlich machen und beständig eine Gelegenheit suchen, ihre Wuth an irgend Jemand auszulassen. Wenn dann einmal all’ der zurückgehaltene Groll herausplatzte, sich in Worten und Gebärden äußerte, war Freund Thénardier fürchterlich anzusehen, und wehe dem Wehrlosen, der ihm dann unter die Finger gerieth!

Zu seinen geistigen Gaben gehörte noch scharfe Beobachtung und ein durchdringender Verstand, so wie die Fähigkeit, zur rechten Zeit zu schweigen und zur rechten Zeit zu reden. Er war ein Diplomat.

Wer zum ersten Mal das Gasthaus betrat, kam beim Anblick der Frau Thénardier sofort auf den Gedanken: »Die ist Herr im Hause« Bewahre! Sie war nicht einmal die Herrin. Er war der Herr und die Herrin im Hause. Sie brachte nur seine Anordnungen zur Ausführung. Er lenkte das Ganze vermöge inner Art unsichtbarer und ununterbrochener magnetischer Kraftwirkung. Ein Wort, manchmal auch nur ein Wink, und der Mastodon parirte. Er war für sie, ohne daß es ihr recht zum Bewußtsein gelangte, eine Art besondres, höheres Wesen. Sie besaß denn auch die Tugenden, die sich aus einer solchen Denkweise mit Nothwendigkeit ergeben. Nie hätte sie, auch wenn sie über irgend einen Punkt mit ihm nicht übereinstimmte, was aber auch nicht möglich war, ihm öffentlich Unrecht gegeben; nie, um uns einer parlamentarischen Redensart zu bedienen, die geheiligte Person des Monarchen in die Debatte gezogen. Obwohl das Zusammenwirken der Beiden nur das Böse zum Zweck hatte, so entstammte doch die Unterwürfigkeit der Frau einer wirklichen Hochachtung und verzückten Bewunderung, der Ehrfurcht, die der Stoff der intellektuellen Kraft zollt. So grotesk, so häßlich aber solche Regungen des Menschenherzens sich auch äußern mögen, sie sind doch immer Betätigungen des Schönen, Thénardier hatte Theil an dem Göttlichen, und deshalb herrschte er über seine Frau. Bald sah sie in ihm ein strahlendes Licht, bald zitterte sie vor ihm.

Sie war ein gräuliches Geschöpf, dem nur ihre Kinder Liebe, nur ihr Mann Furcht einflößte. Mutter war sie, weil sie zur Species der Säugethiere gehörte, und diese ihre Mutterschaft erstreckte sich nur auf ihre Mädchen, und reichte nicht an die Knaben heran. Er dagegen lebte und webte nur in dem Gedanken, wie er es anfangen müsse, um reich zu werden.

Er kam aber auf keinen grünen Zweig, es fehlte diesem großen Talent der rechte Wirkungskreis. In Montfermeil wartete seiner nur der Ruin, — wenn Einer, der nichts hat, sich ruiniren kann; in der Schweiz oder in den Pyrenäen hätte er es zu etwas Ordentlichem gebracht. Aber das Schicksal sagte nun einmal zu ihm: »Bleibe im Lande!« und da nährte er sich ebenso dürftig wie unredlich.

Im Jahre 1823 hatte Thénardier ungefähr fünfzehnhundert Franken Schulden, die ihm den Hals brechen konnten, und das machte ihm Sorgen.

So hartnäckig ihm das Schicksal grollen mochte, so verstand sich Thénardier doch im höchsten Grade auf etwas, das bei den Barbaren eine Tugend und bei den Kulturvölkern eine Waare ist, nämlich auf die Gastfreundschaft. Außerdem glänzte er als Wilddieb und war berühmt wegen seiner Treffsicherheit. Dabei hatte er ein gewisses kaltes und ruhiges Lächeln, das recht unheimlich war.

Interessant war die Auffassung seiner Berufspflichten, welche er gelegentlich seiner Frau einzuprägen versuchte. »Die Pflicht des Gastwirts,« raunte er ihr eines Tages ärgerlich zu, »ist, dem ersten Besten für Eß- und Trinkbares, Schlaf, Licht, Wärme, schmutzige Betttücher, Liebe, Flöhe und Freundlichkeit Geld abzunehmen, die Vorüberwandernden in sein Haus hereinzuziehen, mit Anstand kleine Börsen leer und schwere Börsen leicht zu machen; sich Alles und Jedes bezahlen zu lassen, das Recht durch das Fenster zu blicken, es auf- und zuzumachen, am Kamin, auf dem Lehnstuhl, auf dem Schemel zu sitzen, die Abnutzung des Spiegels, je nachdem der Gast öfter oder weniger oft hineinsieht. Alles, Alles, sogar die Fliegen, die sein Hund frißt.

Während der Mann so über die Mittel sich zu bereichern sann und tiftelte, dachte sie nicht im Geringsten an die Gläubiger, machte sich keine Sorgen um ihre Vergangenheit oder Zukunft und lebte ganz dem Augenblick.

Zwischen zwei solchen Unholden war also die arme Cosette festgequetscht, wie zwischen einer Thür und einer Wand. Sie drückten, Jedes auf seine Weise. Die Prügel kamen von ihr; wenn sie im Winter barfuß gehen mußte, so verdankte sie das ihm. Kein Erbarmen, so furchtbar das kleine Ding sich auch quälen mochte. Im Thénardierschen Hause war ein Ideal der Tyrannei verwirklicht, war die Dienstmagd so wehrlos gegen ihre Herrschaft, wie die Fliege in einem Spinnengewebe.

Wie mag es wohl in so einem Seelchen, das eben erst aus Gottes Schoß hervorgegangen ist, aussehen, wenn die Menschen ihm von vornherein so grausam die Flügel beschneiden?

Wein für die Menschen und Wasser für die Pferde

Vier neue Gäste hatten sich eingestellt.

Cosette war in trübsinnige Gedanken versunken; denn ob sie gleich erst acht Jahr alt war, hatte sie schon so viel Ungemach in ihrem Leben erduldet, daß sie schwermüthig, wie eine Greisin, grübeln konnte.

Dazu kam, daß ihr das eine Auge dick aufgelaufen war. Das machte sie nicht hübscher, und Frau Thénardier, deren kräftiger Faust sie die Beule verdankte, konstatirte auch mit inniger Genugthuung, wie häßlich der Ekel mit dem blauen Auge aussah.

Cosette dachte also daran, daß es Nacht, finstere Nacht war, daß wegen der unerwarteten Ankunft der vier Gäste viel Wasser in ihre Karaffen und Kannen gefüllt werden mußte, und daß demzufolge der Wasserbehälter so ziemlich leer war.

Etwas beruhigte sie allerdings, daß man bei den Thénardiers nicht viel Trinkwasser konsumirte. An großem Durst mangelte es ja den Gästen nicht, aber der galt einem andern Getränk als dem Wasser. Wer sich hier mit einem Glas Wasser zu den vielen Weintrinkern gesetzt hätte, wäre für einen ungemüthlichen Kauz gehalten worden. Dennoch geschah es einmal, daß die kleine Cosette Angst bekam, nämlich als die Thénardier den Deckel von einer Kasserolle hochhob, ein Glas ergriff und hastig an den Wasserbehälter ging. Sie drehte den Hahn, während die Kleine sie aufmerksam beobachtete, und nur ein dünner Strahl Wasser floß heraus und füllte das Glas nur zur Hälfte. ›I, es ist ja kein Wasser mehr da!‹ rief sie und schwieg ein Weilchen, während das Kind vor Angst verging.

›Ach was!‹ meinte sie dann plötzlich. ›Es geht auch wohl so.‹

Cosette nahm ihre Arbeit wieder auf, aber eine ganze Viertelstunde lang klopfte ihr das Herz, als wollte es ihr die Brust zersprengen.

Sie zählte die Minuten, die so verstrichen, und wünschte, sie hätte erst die Nacht hinter sich.

Zeitweise warf einer der Trinker einen Blick durch das Fenster und rief: ›Draußen ist es dunkel, wie in einem Backofen!‹ oder: ›Bei der Dunkelheit wagt sich kaum eine Katze auf die Straße!‹ Und jedesmal lief es dann der Kleinen eiskalt über den Rücken.

Plötzlich trat ein Logirgast in die Stube und sagte unwirsch:

›Mein Pferd hat kein Wasser gekriegt.‹

›Doch, doch!‹ versicherte Frau Thénardier.

›Ich sage aber nein!‹ entgegnete der Gast.

Inzwischen war Cosette unter dem Tisch hervorgekrochen und rief jetzt eifrig:

›Wirklich, das Pferd hat zu saufen gekriegt. Es hat den Eimer, den ganzen Eimer ausgesoffen. Ich selber habe ihm das Wasser gebracht.‹

Es verhielt sich nicht so. Cosette log.

›Denkst Du, Käsehoch, Du kannst schon erwachsenen Leuten die Hucke voll lügen?‹ Ich sage Dir noch mal, Du infames Balg, mein Pferd hat noch kein Wasser gekriegt. Es schnauft auf eine gewisse Weise, und ich weiß, was es damit sagen will.«

Cosette wollte das Spiel nicht verloren geben und antwortete, heiser vor Angst:

»Es hat eine ganze Menge Wasser gesoffen!«

»Laß das!« rief ärgerlich der Gast. »Ich will, daß mein Pferd was zu saufen kriegt, und damit basta!«

Jetzt retirirte Cosette unter den Tisch.

»Ja freilich!« meinte die Thénardier; »sein Wasser muß das Thier kriegen.«

Dabei sah sie sich um und fragte:

»Nanu! wo hat sie sich denn verkrümelt?«

Sie bückte sich und erblickte Cosette, die sich bis unter die Füße der Zecher an das andere Ende des Tisches verkrochen hatte.

»Wirst Du vorkommen!« schrie sie.

Cosette tauchte aus ihrem Versteck hervor.

»So, Du Nichtsnutz, jetzt gehst Du und bringst dem Pferd sein Wasser hin.«

»Es ist ja kein Wasser da!« jammerte das Mädchen mit kaum hörbarer Stimme.

»Nun, dann hole welches!« kommandirte Frau Thénardier und riß die Straßenthür weit auf.

Cosette ließ das Köpfchen hängen und holte einen leeren Eimer, der in der Nähe des Kamins stand.

Der Eimer war größer als sie, und sie hätte sich bequem hineinsetzen können.

Die Thénardier trat jetzt wieder an ihren Kochofen und kostete mit einem Holzlöffel den Inhalt der Kasserolle.

»Hm! Das trifft sich ja ganz gut. Ein Bischen mehr Wasser zu den Zwiebeln kann nicht schaden.«

Darauf wühlte sie in einer Schublade, wo sich kleines Geld, Pfeffer und Schalotten befanden.

»Hier, Du Ungeziefer, hast Du fünfzehn Sous. Bringe, wenn Du zurückkommst, ein großes Brod mit.«

Cosette steckte stillschweigend das Geldstück in ihre Schürzentasche, rührte sich aber mit ihrem Eimer nicht von der Stelle. Es war, als warte sie darauf, daß ihr irgendwie Hülfe werden solle.

»Willst Du wohl machen!« schrie die Thénardier.

Cosette ging, und die Thür schloß sich hinter ihr.

Die Puppe

Es war nahe au Mitternacht, wo die Leute zur Weihnachtsmesse gehen mußten, und die Buden, die von der Kirche bis zu Thénardiers Haus reichten, waren hell erleuchtet mit Talglichtern in Papiertrichtern, was eine »magische Wirkung« hervorbrachte, nach der Ansicht des Schulmeisters, der sich auch in der Schänke befand. Dafür war aber kein Stern am Himmel zu sehen. In der letzten Bude, die gerade vor Thénardiers Haus stand, prangte allerhand Flitter, bunte Glassachen, blitzendes Blech- und Zinngeschirr. Ganz vorn aber hob sich gegen einen Fond von weißen Servietten ein beinahe zwei Fuß hohes Prachtexemplar von einer Puppe ab. Die Herrliche war mit einer rosa Krepprobe bekleidet, hatte wirkliche Haare und Emailleaugen. Den ganzen Tag war das Wunderwerk der Augenschmaus aller kleinen Mädchen von Montsermeil gewesen, aber noch hatte sich keine Mutter gefunden, die so reich oder so spendabel gewesen wäre, ihre Tochter damit zu beglücken. Eponine und Azelma hatten, in andächtige Betrachtung versunken. Stunden lang vor der schönen Bude gestanden, und auch Cosette unterstand sich, wenn auch nur verstohlen, die unvergleichliche Puppe anzusehen.

Als sie nun jetzt mit dem Eimer in der Hand aus dem Hause trat, konnte sie, so trübsinnig und niedergedrückt sie auch war, nicht umhin, die Augen zu der feinen Puppe, der Dame, wie Cosette sie nannte, zu erheben. Wie versteinert blieb das arme Ding stehen. Sie hatte die Puppe noch nicht aus so großer Nähe gesehen! Das war ja eine überirdisch herrliche Erscheinung, und die Bude kam ihr so grandios vor, wie Andern der schönste Palast. Hier strahlten urplötzlich, umwoben von mährchenhafter Pracht, Reichthum, Glück und Freude dem von düsterm Elend umnachteten Kinde entgegen. Mit der naiven und wehevollen Ueberlegung der Kindheit maß sie die Kluft, die sie von der Puppe trennte. Nur eine Königin oder mindestens eine Prinzessin konnte sich »so was Schönes« genehmigen. Nein, dieses reizende rosa Kleid, dieses schöne glatte Haar! »Muß die Puppe glücklich sein!« Kein Auge konnte sie von der zauberhaften Bude abwenden. Und je länger sie hinsah, desto mehr blendete sie all der Glanz. Ihr däuchte, sie schaue das Paradies. Hinter der großen Puppe standen noch andere, die ihr wie Feen und Genien vorkamen. Der Verkäufer, der im Hintergrund seiner Bude auf und ab ging, sah auch beinah so aus, als könnte er der Herrgott selber sein.

So von Ehrfurcht befangen vergaß sie Alles, sogar den Auftrag, den man ihr gegeben hatte, Plötzlich rief Frau Thénardiers unliebliche Stimme sie in die Wirklichkeit zurück. »Was! Du Nöhlliese, Du bist noch nicht fort? Na warte! Dir werde ich Beine machen! Da frage ich einen Menschen, was sie du zu thun hat! Nein, dieser Nichtsnutz!«’

Nun rannte Cosette so schnell sie konnte, mit ihrem Eimer davon.

Allein

Da das Thénardier’sche Gasthaus in demjenigen Theil des Dorfes lag, der die Kirche umgiebt, so mußte Cosette zu der Quelle im Walde, nach Chelles zu, gehen.

Sie sah sich keine Bude mehr an. So lange sie in der Rue du Boulanger und in der Nähe der Kirche war, beleuchteten die Lichter in den Buden ihren Weg, aber die Freude dauerte nicht lange. Bald umgab sie tiefe Dunkelheit, und ihr wurde bange ums Herz. Dies Gefühl bekämpfte sie aber tapfer, indem sie den Eimerhenkel schwenkte. Das verursachte ein Geräusch, welches ihr Gesellschaft leistete.

Je weiter sie trippelte, desto schwärzer wurde die Finsterniß. Es war kein Mensch mehr auf der Straße zu sehen. Nur einer Frau begegnete sie, die stehen blieb und vor sich hinmurmelte: »Wo mag denn das kleine Mädchen hingehen? Ob das vielleicht ein Wechselbalg ist?« — Dann aber erkannte sie Cosette und rief: »I, das ist ja die Lerche!«

So durchwanderte die Kleine den Wirrwarr von krummen und öden Straßen, in den das Dorf Montfermeil hier endet. Sie blieb noch ziemlich dreist, so lange sie auf beiden Seiten Häuser oder auch nur Gartenmauern hatte. Denn von Zeit zu Zeit fiel ein Lichtstrahl durch einen Fensterladen. Dahinter war doch etwas Lebendiges, waren doch Leute! Allein je weiter sie kam, desto langsamer ging sie und als sie an der Ecke des letzten Hauses angelangt war, blieb sie ganz stehen. Es war ihr schwer genug gefallen, über die letzte Weihnachtsbude hinauszugehen; aber das letzte Haus hinter sich zu lassen, das grenzte an das Unmögliche. Sie stellte den Eimer auf die Erde, fuhr mit der Hand in ihre Haare und kraute sich langsam den Kopf, ein Zeichen von Angst und Unentschlossenheit bei Kindern. Vor ihr lagen die Felder, eine schwarze Oede. Sie sah mit Entsetzen in die Dunkelheit hinein, wo kein Mensch mehr war, nur Thiere und vielleicht auch Gespenster. So angestrengt blickte sie hinein, daß sie die Thiere im Grase gehen hörte, daß sie ganz deutlich die Gespenster in den Aesten sah. Da nahm sie, kühn entschlossen vor lauter Furcht, den Eimer auf, meinte: »Ach was! Ich sage ihr, es war kein Wasser mehr da« und kehrte tapfer in das Dorf zurück.

Kaum hatte sie aber hundert Schritte zurückgelegt, als sie wieder stehen blieb und sich das Köpfchen kratzte. Jetzt sah sie im Geiste die scheußliche Thénardier mit ihrem Hyänenmaul und ihren wuthentflammten Augen. Das Kind blickte kläglich vor sich und hinter sich. Was thun? Wohin gehen? Hierhin oder dorthin? Endlich siegte die Angst vor der Thénardier. Sie rannte, rannte in der Richtung der Quelle, rannte ohne sich umzuschauen, ohne auf irgend etwas zu horchen. Erst als ihr der Athem ausging, hielt sie in ihrem Lauf inne, blieb aber nicht stehen, sondern ging, nur etwas langsamer, weiter. Sie hätte weinen mögen, aber sie marschirte, halb bewußtlos vor Angst, geradeaus durch die finstere Nacht, durch den grausigen Wald.

Von dem Saum des Waldes bis zur Quelle hatte sie nur sieben bis acht Minuten zu gehen. Sie kannte auch den Weg, den sie ja täglich mehrere Mal zurückzulegen hatte. Sie verirrte sich auch nicht trotz ihrer Angst. Ein Rest von Instinkt führte sie richtig, denn sie blickte weder rechts noch links, aus Furcht, sie könnte was Grauliges im Gesträuch und in den Baumkronen sehen. So kam sie endlich bei der Quelle an.

Es war ein ungefähr zwei Fuß tiefes, natürliches Becken, das sich das hervorquellende Wasser in dem Thonboden gebildet hatte und das mit großen Steinen gepflastert worden war. Moos und Doldenpflanzen umgaben es.

Cosette gönnte sich nicht die Zeit, Athem zu schöpfen. Es war zwar sehr finster, aber sie war ja gewohnt zur Quelle zu kommen. Sie tastete also mit der linken Hand nach einer über das Wasser geneigten Eiche, bekam einen Ast zu fassen, hing sich daran, neigte sich nieder und tauchte den Eimer in das Wasser. Die Aufregung verdreifachte ihre Kräfte. Aber während sie sich bückte, vergaß sie auf ihre Schürzentasche zu achten und das Fünfzehnsousstück fiel ins Wasser. Cosette sah und hörte es nicht, zog den fast bis zum Rande gefüllten Eimer heraus und stellte ihn auf die Erde hin.

Jetzt wurde sie inne, daß sie vor Mattigkeit nicht weiter konnte. Sie wäre gern sogleich aufgebrochen; aber die Anstrengung, die sie eben durchgemacht hatte, war so groß gewesen, daß sie keinen Schritt thun konnte. Sie kauerte sich also in das Gras nieder und machte, ohne zu wissen weshalb, die Augen bald zu, bald wieder auf.

Ueber ihr war der Himmel mit großen schwarzen Wolken überzogen, die Rauchsäulen ähnlich sahen. Am Rande des Gesichtsfeldes stand der Jupiter im Begriff unterzugehen. Die Kleine sah mit verstörten Augen dem großen Stern nach, den sie nicht kannte, und vor dem sie Angst hatte. Seine Strahlen fielen jetzt durch eine dicke Dunstschicht, so daß sie eine grausige, rothe Farbe annahmen und der Planet sehr groß erschien. Er sah aus, wie eine blutige Wunde.

Ein kalter Wind wehte von der Ebene her. Die Blätter an den Bäumen rauschten schaurig; die Sträucher neigten sich mit einem zischenden Geräusch; die Grashalme wallten heftig auf und nieder und schlängelten sich wie Aale; die Dornen krümmten sich wie lange mit Klauen bewaffnete Arme, die nach Beute umhertasteten. Einige trockene Blätter und Halme sausten, vom Winde gepeitscht, durch die Luft, als wollten sie vor einem Verfolger fliehen. Nach allen Seiten hin ein schauervoll bewegtes Treiben!

Der Mensch bedarf des Lichtes, um Herr seines Bewußtseins zu bleiben. In der Dunkelheit schnürt sich das Herz zusammen, schwindet auch dem Stärksten der Muth. Sieht das Auge wenig und unklar, so trübt sich auch der Verstand, so wird das Gleichmaß der Geisteskräfte gestört. Die Phantasie gewinnt die Oberhand und zaubert in das finstere Nichts eine chimärische Welt hinein, vor der die Wirklichkeit entweicht. Einige kläglich wenige und undeutliche Umrisse vervollständigt sie zu ausführlichen, genauen Bildern, die, unter dem Eindrucke der Furcht entstanden, auch Fürchterliches darstellen. Besonders auf das Gemüth der Kinder, die wehrloser sind als die Erwachsenen, deren Verstand schwächer ist, übt die Nacht eine unsäglich qualvolle, gefährliche Wirkung aus.

Ohne sich über ihre Empfindungen Rechenschaft geben zu können, fühlte auch Cosette, daß die finsteren Naturmächte sie unter ihrem Bann hielten. Es überkam sie etwas, das noch fürchterlicher war, als die Furcht. Ein seltsamer eisiger Schauer durchrieselte sie bis ins Mark hinein, und eine Art wilder Irrsinn bemächtigte sich ihrer.

Erschrocken über diesen Gemüthzustand, den sie nicht verstand, begann sie, um ihn abzuschütteln, instinktmäßig zu zählen. Eins, zwei, drei, vier — bis zehn und dann wieder von vorn an. Dies gab ihr den Sinn für die Wirklichkeit wieder. Sie fühlte jetzt die Kälte an ihren Händen, die sie sich beim Wasserschöpfen benetzt hatte. Rasch stand sie auf. Die Furcht hatte sie wieder gepackt, eine natürliche, unüberwindliche Furcht. Sie hatte nur noch einen Gedanken, davonlaufen, Hals über Kopf, durch den Wald, über Stock und Stein bis zu den Häusern, bis zu den Fenstern, wo Licht brannte. Da fiel ihr Blick auf den Eimer, und wieder siegte die Angst vor Frau Thénardier über jede andere Empfindung. Sie umklammerte den Henkel mit beiden Händen und machte sich auf den Heimweg.

So that sie etwa ein Dutzend Schritte, aber der Eimer war voll und entsetzlich schwer; sie mußte ihn wieder niedersetzen. Sie schöpfte Athem, packte den Henkel recht fest und ging dies Mal eine etwas größere Strecke, ehe sie sich wieder ausruhen mußte. Nach einigen Sekunden Aufenthalt brach sie wieder auf. Sie marschirte mit vornüber geneigtem Oberkörper und gesenktem Kopfe wie eine alte Frau; der schwere Eimer spannte ihre magern Aermchen aufs Aeußerste, die Berührung des eisernen Henkels verklammte ihre nassen Finger immer mehr, und jedes Mal, wenn sie den Eimer niedersetzte, schwappte er über und benetzte ihre nackten Beine. Dies trug sich zu in einem Walde, bei Nacht, im Winter, weitab von jedem menschlichen Auge, und es war ein achtjähriges Kind! Gott allein sah die traurige Scene.

Und vielleicht auch die Mutter.

Denn es giebt Dinge, die auch die Toten im Grabe zwingen, ihre Augen aufzumachen.

Cosette keuchte, daß es sich wie ein qualvolles Röcheln anhörte; ein heftiges Geschluchz schnürte ihr die Kehle zu; aber sie wagte nicht zu weinen, so sehr fürchtete sie sich vor der Thénardier, selbst wenn sie nicht gegenwärtig war. Pflegte sie sich doch immer vorzustellen, ihre Peinigerin sei da.

Indessen konnte sie auf diese Weise nicht schnell vorwärts kommen, und sie ging sehr langsam. Mochte sie die Pausen noch so sehr verkürzen und jedes Mal eine große Strecke zurücklegen, sie brauchte doch immer eine Stunde zu dem Heimwege und dachte mit Angst an die Schläge, die sie bekommen würde. Schon war sie ganz hin vor Schwäche und hatte doch noch nicht den Wald hinter sich. Bei einem ihr bekannten Kastanienbaum angelangt, hielt sie endlich recht lange an, um sich gründlich auszuruhen und marschirte dann wieder tapfer darauf los. Aber doch entrang sich dem gequälten, armen Wesen der Jammerruf: »O mein Gott! mein Gott!«

In dem Augenblick fühlte sie plötzlich das Gewicht des Eimers vermindert. Eine Hand, die ihr mächtig groß schien, hatte ihn ergriffen und half ihn tragen. Sie schaute empor. Neben ihr ging ein Mann, der von hinten gekommen war.

Bei allen Begegnungen mit Unbekannten regt sich der Instinkt. Der kleinen Cosette sagte er jetzt, daß sie sich nicht zu fürchten brauche.

Daß Bousatruesse vielleicht Recht hatte

An dem Nachmittag desselben Weinachtstages ging in dem einsamsten Theil des Boulevard de l’Hôpital zu Paris ein Mann umher, der eine Wohnung zu suchen schien. Vorzugsweise wählte er sich zu diesem Zweck die bescheidensten Häuser dieses armen Stadtviertel Saint-Marceau aus.

Wir werden weiterhin sehen, daß er in der That ein Quartier in dieser abgelegenen Gegend gemiethet hatte.

In seiner Kleidung sowohl, wie in seiner Person, verwirklichte dieser Mann den Typus jener Menschen, die man »die anständigen Bettler« nennen könnte, jene Vereinigung der äußersten Armuth und der peinlichsten Sauberkeit, die verständnisvollen Seelen doppelte Achtung einstößt. Er trug einen sehr alten, stark abgebürsteten Hut, einen fadenscheinigen Rock aus groben Tuch und, was damals nichts Auffälliges hatte, von ockergelber Farbe, eine große, vorsintflutliche Weste, schwarze Kniehosen, die am untern Rande grau geworden waren, lange, schwarze, wollene Strümpfe und schwere Schuhe mit kupfernen Schnallen. Kurz, er sah aus, wie ein ehemaliger Hauslehrer aus einer vornehmen Familie, der mit der Emigration nach Frankreich zurückgekehrt war. Seine weißen Haare, seine gefurchte Stirn, seine fahlen Lippen, die Mattigkeit und der Lebensüberdruß, der aus allen seinen Zügen sprach, ließen vermuthen, daß er weit über sechzig Jahre hinter sich hatte. Aber wer den festen, obschon langsamen Gang und die merkwürdige Energie seiner Bewegungen beachtete, mußte ihn auf höchstens fünfzig schätzen. Die Runzeln auf seiner Stirn waren hübsch vertheilt und nahmen aufmerksame Beobachter zu seinen Gunsten ein. Um seine Lippen lagerte eine Falte, die auf den ersten Blick strenge schien und doch auf Bescheidenheit deutete. In der Tiefe seiner Augen lag ein Ausdruck von wehmuthsvoller Seelenruhe. Er trug in der linken Hand ein Packet in einem Taschentuch; seine Rechte stützte sich auf einen Stock, der aus einer Hecke herausgeschnitten schien. Derselbe war mit einer gewissen Sorgfalt gearbeitet und sah nicht übel aus; die Benutzung der Knoten im Holz zeugte von Kunstsinn, und der rothe Siegellack, der Korallen vorstellen sollte, nahm sich recht gut aus. Es war ein furchtbarer Knüttel und sah wie ein feiner Spazierstock aus.

Auf dem Boulevard de l’Hôpital ist, besonders im Winter, der Verkehr ein geringer. Aber auch den Wenigen, denen unser Unbekannter begegnete, schien er scheu aus dem Wege zu gehen.

Zu jener Zeit fuhr König Ludwig XVIII. fast täglich nach Choisy-le-Roy. Es war dies eine seiner Lieblingspromenaden. Gegen zwei Uhr Nachmittags eilte die königliche Equipage in gestrecktem Galopp den Boulevard de l’Hôpital entlang.

So pünktlich, daß die armen Leute, die keine Uhr hatten, die Zeit danach berechneten. »Jetzt ist es zwei, er fährt eben nach den Tuilerieen zurück.«

Dann liefen die Einen herbei, während Andere auswichen; denn einen König sieht das Publikum gern vorbeifahren. Uebrigens sah auch eine Fahrt Ludwigs XVIII. durch die Straßen von Paris majestätisch genug aus. Dieser König, den die Gicht des richtigen Gebrauchs seiner Gliedmaßen beraubte, liebte schnelle Bewegung und hätte seine Equipage am liebsten vom Blitze ziehen lassen. Seine schwerfällige, über und über vergoldete und mit Lilien bemalte Berline war von einer großen Kavalkade umgeben. Kaum, daß man die Zeit hatte, einen Blick hineinzuwerfen. Man sah dann in dem rechten Winkel des Rücksitzes, auf weißen, kapitonnirten Atlaskissen, ein breites und röthliches Gesicht, ein Paar stolze, feste und kluge Augen, ein intelligentes Lächeln, zwei große Epauletten, einen Civilrock, den Orden des goldenen Vließes, ein Ludwigskreuz, das Kreuz der Ehrenlegion, den silbernen Stern des heiligen Geistes, einen dicken Bauch und eine blaue Schnur. Bei der Fahrt vor den Thoren von Paris nahm er seinen Federhut ab und hielt ihn auf seinen mit hohen englischen Gamaschen bedeckten Knieen; kehrte er in die Stadt zurück, so setzte er ihn wieder auf und grüßte nur selten. Das Volk sah er kalt an, und es vergalt ihm Gleiches mit Gleichem. Als er sich zum ersten Mal in dem Stadtviertel Saint-Marceau sehen ließ, trug er keinen weiteren Erfolg davon, als daß ein Arbeiter zu seinem Freunde sagte: »Du, der Dicke da ist die Regierung.«

Diese pünktliche Durchfahrt des Königs durch das Viertel Saint-Marceau war also das Hauptereigniß des Tages auf dem Boulevard de l’Hôpital.

Der Spaziergänger mit dem gelben Rock war offenbar in dem Viertel nicht heimisch und vielleicht nicht einmal ein Pariser, denn er wußte nichts von dieser Gewohnheit des Königs. Als nun um zwei Uhr die königliche Equipage, umgeben von einer Schwadron silberbetreßter Gardes-du-Corps um die Salpêtrière auf den Boulevard sprengte, schien der Fremde erstaunt und fast erschrocken. Es befand sich gerade kein Anderer als er in der Seitenallee und doch trat er hastig hinter einen Winkel der Umwallungsmauer, was den Herzog von Havré nicht hinderte, ihn zu bemerken. Der Herzog saß als dienstthuender Gardehauptmann in der Equipage dem König gegenüber: »Der Mensch sieht verdächtig aus!« bemerkte er zu Sr. Majestät. Einigen Polizisten, die dem königlichen Wagen vorausgegangen waren, fiel der Fremde gleichfalls auf, und Einer von ihnen erhielt Befehl, ihm zu folgen. Aber der Unbekannte verschwand in den kleinen Straßen der Vorstadt und, da der Tag zur Neige ging, verlor der Polizist seine Spur, laut einem noch am Abend desselben Tages verfaßten Bericht an den Polizeipräfekten und Staatsminister Grafen Anglès.

Als der Mann mit dem gelben Rock den Schutzmann von seiner Fährte abgebracht hatte, ging er schneller, nicht ohne sich recht oft umgesehen zu haben, ob ihm auch Niemand folge. Um ein Viertel auf fünf, also als die Nacht schon hereingebrochen war, kam er an dem Theater der Porte-Saint-Martin vorbei, wo an jenem Tage das Stück: »Die beiden Sträflinge« gegeben wurde. Dieser Titel fesselte seine Aufmerksamkeit, denn so eilig er es zu haben schien, blieb er doch stehen, um den Theaterzettel zu lesen. Einen Augenblick darauf befand er sich in der Sackgasse de la Planchette und trat in den Plat d’Etain, wo damals ein Postbüreau war. Vor der Thür stand reisefertig die Diligence, die nach Lagny fuhr, und die Passagiere kletterten eilig die hohe eiserne Treppe zu dem Deck empor.

»Haben Sie noch einen Platz?« fragte der Mann mit dem gelben Rock den Kutscher.

»Einen einzigen, neben mir auf dem Bock.«

»Gut, den belege ich.«

»Dann steigen Sie herauf.«

Aber ehe der Wagen abfuhr, musterte der Kutscher die bescheidene Kleidung und das winzige Bündel des Passagiers und fand es gerathen, ihm das Fahrgeld vorher abzuverlangen.

»Fahren Sie bis Lagny?« fragte ihn der Kutscher.

»Ja.«

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Als er aus der Stadt heraus war, versuchte der Postillon ein Gespräch mit dem Passagier anzuknüpfen. Dieser aber verhielt sich sehr einsilbig, und der Kutscher mußte sich daran genügen lassen, zu pfeifen und auf seine Pferde zu schimpfen.

Gegen sechs Uhr Abends war man in Che les angelangt, und der Postillon hielt, um seine Pferde verschnaufen zu lassen, vor der Herberge an, die in den alten Gebäuden der königlichen Abtei installirt ist.

»Ich steige hier ab!« bemerkte der Passagier mit dem gelben Rock, ergriff seinen Stock und sein Bündel, sprang vom Wagen hinab und war einen Augenblick darauf verschwunden.

In die Herberge war er nicht hineingegangen, und als nach einigen Minuten die Diligence nach Lagny weiterfuhr, begegnete sie ihm nicht in der Hauptstraße von Chelles.

Der Kutscher wandte sich zu den Insassen des Innern:

»Der Mann ist nicht aus dieser Gegend, denn ich kenne ihn nicht. Er sieht aus, als hatte er keinen rothen Heller, und doch kommt es ihm aufs Geld nicht an; er bezahlt bis Lagny und fährt nur bis Chelles, Es ist Nacht, alle Häuser sind geschlossen, er geht nicht in die Herberge, und doch sieht man ihn nirgends. Er muß geradezu in die Erde versunken sein.«

Der Passagier war nicht in die Erde versunken, sondern hatte mit eiligen Schritten die Hauptstraße von Chelles durchmessen und war vor der Kirche in den Feldweg links eingebogen, der nach Montfermeil führt, mußte also wohl in dem Ort Bescheid wissen.

Auch auf diesem Wege ging er sehr rasch. An der Stelle, wo sich der Weg mit der alten Chaussee kreuzt, die Lagny mit Gagny verbindet, hörte er Leute kommen, verbarg sich eilig in einem Graben und wartete, bis sie sich entfernt hatten. Die Vorsicht war freilich so gut wie überflüssig, denn es war, wie schon gesagt, eine sehr dunkle Decembernacht. Kaum, daß ein paar Sterne am Himmel schienen.

Hier beginnt der Boden anzusteigen, aber der Fremde ging nicht weiter auf dem Wege nach Montfermeil, sondern schlug sich seitwärts und eilte querfeldein dem Walde zu.

Erst hier ging er langsamer, indem er sorgfältig alle Bäume betrachtete, als bezeichneten sie ihm einen, nur ihm bekannten Weg. Einmal blieb er auch unschlüssig stehen, fand sich aber doch zurecht und gelangte an eine Lichtung, wo ein großer Haufen Steine lag. Auf diese rannte er zu und sah sie gleichfalls sehr genau an, als habe er sie früher gezählt und wolle sehen, ob keiner fehle. Nicht weit von diesem Steinhaufen stand ein dicker Baum, der mit Auswüchsen, so zu sagen pflanzlichen Warzen, bedeckt war. An den trat er jetzt heran und ließ seine Hand über die Rinde hingleiten, als suche er die Auswüchse wiederzuerkennen.

Diesem Baum, einer Esche, gegenüber stand eine Kastanie, der ein Theil der Rinde abgefault war, und der man deshalb einen Streifen Zink aufgenagelt hatte. Nach diesem griff er und betastete ihn gleichfalls, indem er sich auf die Fußspitzen erhob.

Dann stampfte er eine Weile auf dem zwischen dem Baum und den Steinen gelegnen Boden herum, als ob er sich hätte versichern wollen, daß die Erde nicht frisch aufgewühlt worden sei.

Als auch dies abgemacht war, orientierte er sich und marschirte weiter durch den Wald.

Dies war der Mann; der Cosette den Eimer abgenommen hatte.

Cosette und der Unbekannte

Cosette also hatte sich vor dem Unbekannten nicht gefürchtet.

»Das ist eine schwere Last für Dich, mein Kind!« sagte er ernst und halblaut.

Cosette sah ihn an und erwiderte:

»O ja, lieber Herr!«

»Gieb ihn her. Ich werd’ ihn Dir tragen.«

Cosette ließ den Eimer los, und der Unbekannte ging damit neben ihr her.

»Das ist wirklich eine schwere Last!« sagte er halb für sich. — »Wie alt bist Du, Kleine?«

»Acht Jahr.«

»Kommst Du weither mit dem Eimer?«

»Von der Quelle im Walde.«

»Und wie weit hast Du noch zu gehen?«

»Eine gute Viertelstunde.«

Der Unbekannte schwieg eine Weile und fragte dann plötzlich:

»Hast Du denn keine Mutter?«

»Ich weiß nicht,« antwortete das Kind. — »Ich glaube nicht. Die andern Kinder haben eine Mutter, ich nicht.«

Und nach einer Pause fuhr sie fort:

»Ich glaube, ich habe nie eine gehabt.«

Ihr Begleiter blieb stehen, stellte den Eimer hin, beugte sich über sie und hielt beide Hände auf ihre Schultern, während er sich bemühte, ihre Züge in der Dunkelheit zu erkennen.

»Wie heißt Du?«

»Cosette.«

Den Unbekannten durchzuckte es wie ein elektrischer Schlag. Er betrachtete Cosettes blasses und mageres Gesichtchen bei dem schwachen Licht des Himmels, ließ dann ihre Schultern los, nahm den Eimer wieder in die Hand und marschirte weiter.

»Kleine, wo wohnst Du?« hob er nach einiger Zeit wieder an.

»In Montfermeil, wenn Sie das kennen.«

»Dort geht unser Weg hin?«

»Ja, lieber Herr.«

Wieder schwieg er eine Weile.

»Wer hat Dich denn so spät in den Wald nach Wasser geschickt?«

»Frau Thénardier.«

In einem Ton, der gleichgültig klingen sollte, aber eigenthümlich zitterte, forschte er dann:

»Was ist das für eine Frau?«

»Bei der bin ich im Dienst. Sie hat eine Gastwirtschaft.«

»Eine Gastwirtschaft? Gut, dann will ich diese Nacht da einkehren. Führe mich hin.«

»Wir sind auf dem Wege,« beschied ihn die Kleine.

Er ging ziemlich schnell. Aber Cosette konnte mitkommen. Sie fühlte keine Müdigkeit mehr. Zeitweise schlug sie die Augen mit einem unbeschreiblich ruhigen Vertrauen zu ihrem Begleiter empor. Nie hatte jemand sie gelehrt, sich an die Vorsehung zu wenden und zu beten. Aber diesem Fremden gegenüber empfand sie etwas, das mit der Hoffnung, der Freude verwandt war, das zum Himmel stieg.

So verstrichen einige Minuten, bis er wieder fragte:

»Hat Frau Thénardier keine Magd?«

»Nein.«

»Bist Du allein?«

»Ja.«

Wieder trat eine Pause ein. Da rief Cosette:

»D. h., es sind zwei kleine Mädchen da.«

»Was für kleine Mädchen?«

»Ponine und Selma.«

Dies waren Cosettens Abkürzungen für die Romannamen, die Frau Thénardier ihren Töchtern beigelegt hatte.

»Wer ist das, Ponine und Selma?«

»Die Fräuleins von Frau Thénardier. Was man ihre Töchter nennt.«

»Was haben Die zu thun?«

»O, die haben schöne Puppen, hübsche Sachen, wo Gold und schöne Geschichten dran sind. Sie spielen, sie amüsiren sich.«

»Den ganzen Tag?«

»Ja wohl.«

»Und Du?«

»Ich arbeite.«

»Den ganzen Tag?«

Das Kind schlug ihre großen Augen empor, in denen eine Thräne glänzte, und antwortete:

»Ja, lieber Herr.«

Dann setzte sie nach einer Pause hinzu:

»Manchmal, wenn ich mit der Arbeit fertig bin und man mir’s erlaubt, amüsire ich mich auch.«

»Wie fängst Du das denn an?«

»Wie ich kann. Viel Spielsachen habe ich nicht. Ponine und Selma wollen nicht, daß ich mit ihren Puppen spiele. Ich habe nur einen bleiernen Säbel. So lang ist er«, und sie zeigte ihren kleinen Finger.

»Und scharf ist er auch nicht, nicht wahr?«

»Doch, man kann Salat und Fliegen damit durchschneiden.«

So gelangten sie in das Dorf, wo Cosette den Fremden führte. Sie kamen auch an dem Bäckerladen vorbei, aber die Kleine vergaß hineinzugehen und das verlangte Brot mitzunehmen. Ihr Begleiter hatte aufgehört, sie auszuforschen und beobachtete ein düsteres Stillschweigen. Als sie aber die Kirche hinter sich hatten, fragte er beim Anblick der vielen Buden:

»Ist denn hier Jahrmarkt?«

»Nein, Weihnachten.«

Dicht bei der Herberge angelangt, berührte Cosette ihren Begleiter furchtsam am Arm.

»Lieber Herr …«

»Was denn, mein Kind?«

»Jetzt sind wir gleich zu Hause?«

»Nun, und …?« »Wollen Sie mir jetzt den Eimer wiedergeben?«

»Wozu denn?«

»Ja, wenn die Frau sieht, daß ich ihn mir habe tragen lassen, dann haut sie mich.«

Er gab ihr den Eimer und gleich darauf befanden sie sich vor dem Hause.

Ein armer Mann, der reich zu sein scheint

Cosette warf noch einen Blick seitwärts nach der schönen Puppe in der Bude und klopfte dann. Die Thür ging auf, und die Thénardier erschien mit einem Licht in der Hand.

»Ach, Du bist’s. Du Lumpenmatz! Du hast ja eine recht hübsche Zeit vertrödelt. Sag’ mal, wo hast Du Dich denn rumgetrieben?«

»Es ist ein Herr da,« antwortete Cosette zitternd. »Er will die Nacht hier logiren.«

Schleunigst setzte Frau Thénardier ihre liebenswürdigste Miene auf, eine physiognomische Verwandlung, die Gastwirte bekanntlich sehr rasch zu vollziehen verstehen.

»Der Herr?« forschte sie.

»Ganz richtig!« antwortete der Fremde, indem er den Hut abnahm.

Einer solchen Höflichkeit pflegen reiche Gäste sich nicht zu befleißigen. Als die Thénardier nun noch die Kleidung und das Gepäck des Ankömmlings einer raschen Okularinspektion unterzogen hatte, that sie sich keinen Zwang mehr an und ließ ihre natürlich unwirsche Laune wieder vortreten.

»Kommen Sie herein, Mann.«

Der Mann trat ein. Die Thénardier musterte ihn zum zweiten Mal, besonders den schäbigen Rock und den etwas demolirten Hut; dann sah sie, indem sie den Kopf schüttelte, die Nase rümpfte und mit den Augen zwinkerte, zu ihrem Mann hinüber, der noch immer mit den Fuhrleuten kneipte. Er machte statt aller Antwort ein kaum bemerkbares Zeichen mit dem Zeigefinger, was zugleich mit einer gewissen Schwellung der Lippen: »Vollständiger Dalles!« bedeutete. Dann wandte sich die Théniardier wieder zu dem Ankömmling mit den Worten:

»Thut mir leid, lieber Mann, aber ich habe kein Zimmer mehr.«

»Bringen Sie mich unter, wo Sie wollen, auf dem Boden, im Stall. Ich werde so viel zahlen, als wenn Sie mir ein Zimmer gäben.«

»Zwei Franken.«

»Meinetwegen.«

»Zwei Franken!« sagte ein Fuhrmann leise zu Frau Thénardier. »Ein Zimmer kostet doch blos einen Franken!«

»Für den zwei!« flüsterte die Thénardier, »Armen Leuten rechne ich zwei Franken an.«

»So ist’s recht,« setzte der Mann in sanftem Ton hinzu. »Solche Gäste schaden Einem.«

Mittlerweile hatte der Ankömmling sein Bündel und seinen Stock auf eine Bank gelegt und sich an einem Tisch niedergelassen, auf den Cosette mit eifriger Dienstwilligkeit eine Flasche Wein und ein Glas gestellt hatte. Den Eimer Wasser hatte der Hausirer seinem Pferde selbst in den Stall gebracht, und Cosette saß jetzt wieder an ihrem gewohnten Platze und strickte.

Der Fremde nippte kaum an dem Wein, den er sich eingeschenkt hatte, und betrachtete Cosette mit eigenthümlicher Theilnahme.

Das Kind war häßlich. Wäre es ihr besser gegangen, so hätte sie hübsch sein können. Wir haben die äußere Erscheinung des unglücklichen kleinen Wesens schon beschrieben.

Sie war acht Jahre alt, und wer es nicht wußte, schätzte sie auf sechs. Ihre großen tief eingesunkenen Augen waren glanzlos von den vielen Thränen, die sie geweint. An ihren Mundwinkeln konnte man jene Krümmung wahrnahmen, die beständige Angst kennzeichnet, und namentlich verurtheilten Verbrechern, so wie unheilbar Kranken eigenthümlich ist. Ihre Hände waren, wie ihre Mutter geahnt, mit Frostbeulen übersät. Ihre schreckliche Magerkeit wurde bei dem Schein des Kaminfeuers, das die spitzen Knochen schärfer hervorhob, noch auffälliger, als gewöhnlich. Besonders die Vertiefungen am Schlüsselbein waren erbarmenswerth anzusehen. Da sie immer fröstelte, hatte sie sich auch gewöhnt, die beiden Kniee gegen einander zu drücken. Ihre Kleidung bestand aus lauter Lumpen, deren Anblick im Sommer Mitleid und im Winter Entsetzen einflößte. Sie hatte nur durchlöcherte Leinwand, keinen Fetzen Wolle am Leibe. Stellenweise konnte man die bloße Haut sehen, nebst braunen Flecken, den Striemen und Beulen, Spuren von Frau Thénardiers Mißhandlungen. Ihre dünnen Beinchen waren roth gefroren. Ihr ganzes Benehmen, alle ihre Bewegungen, ihre Sprache, ihr Stillschweigen, ihre Blicke, Alles, Alles zeugte, daß dies Wesen in fortwährender Furcht lebte.

Furcht durchdrang sie vollständig, bestimmte ihre Geberden. Die Furcht bewirkte, daß sie die Ellbogen an die Hüften drückte, und die Fersen unter ihren Rock zog, damit sie recht wenig Platz einnehme, und beständige Furcht sah man ihr an den Augen an.

So groß war diese Furcht, daß Cosette, bei ihrer Heimkunft nicht gewagt hatte, sich am Feuer zu trocknen, sondern sofort wieder an ihre Arbeit gegangen war.

Der Blick dieses achtjährigen Kindes war immer so hoffnungslos und bisweilen so tragisch, daß man hätte meinen können, sie sei im Begriff blödsinnig oder teuflisch bösartig zu werden.

Sie wußte, wie gesagt, nicht was Beten heißt; nie hatte sie einen Fuß in die Kirche gesetzt. »Hab’ ich die Zeit dazu?« sagte die Thénardier.

Der Mann mit dem gelben Rock verwandte kein Auge von Cosette.

Plötzlich rief Frau Thénardier:

»Wo ist denn aber das Brod, das Du mitbringen solltest.«

Wie immer, wenn die Thénardier keifte, kroch Cosette rasch unter dem Tisch hervor.

Das Brod hatte sie vollständig vergessen, und nahm ihre Zuflucht zu dem gewöhnlichen Rettungsmittel aller übermäßig verschüchterten Kinder. Sie log.

»Beim Bäcker war’s schon zu!«

»Dann hättest Du anklopfen sollen.«

»Das habe ich auch gethan.«

»Nun?«

»Er hat nicht aufgemacht.«

»Ich werde morgen fragen, ob das wahr ist, und hast Du gelogen, so setzt es was Gehöriges. Vorläufig gieb mir aber das Fünfzehnsoustück wieder.«

Cosette fuhr mit der Hand in die Tasche, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Das Geldstück war nicht mehr da.

»Nun? Hast Du nicht gehört?«

Cosette wendete ihre Tasche hin und her, aber es war nicht darin. Was mochte wohl aus dem Gelde geworden sein? Die unglückliche Kleine konnte kein Wort über die Lippen bringen. Sie war starr vor Schrecken.

»Hast Du das Geld verloren?« krächzte die Thénardier, »oder willst Du’s behalten?«

Zugleich langte sie nach dem Kantschu, der in der Kaminecke hing.

Jetzt bekam Cosette wieder so viel Kraft, daß sie schreien konnte:

»Gnade! Gnade! Ich will’s nicht wieder thun!«

Die Thénardier hakte jetzt den Kantschu ab.

Währenddessen hatte der Mann mit dem gelben Rock in seine Westentasche gegriffen, ohne daß Jemand es bemerkt hatte. Die andern Gäste tranken, plauderten, spielten Karten und achteten nicht auf das, was um sie vorging.

Cosette aber drückte sich angstvoll in die Kaminecke und bemühte sich dem Feinde, der auf sie zuschritt, einen möglichst geringen Theil ihres Körpers darzubieten.

»Verzeihung, Frau Wirtin,« sagte jetzt der Unbekannte, »aber soeben habe ich etwas gesehen, das der Kleinen aus der Tasche gefallen ist, etwas Rundes. Vielleicht ist es das.«

Damit bückte er sich und schien etwas am Boden zu suchen.

»Richtig! Da ist es!«

Mit diesen Wort reichte er der Thénardier ein Geldstück.

»Ja wohl, das ist es!« bestätigte sie. Es war aber ein Zwanzigsousstück, das die Thénardier einsteckte; sie hatte Profit dabei und fand sich folglich nicht veranlaßt, Einwände zu machen. Nur warf sie dem armen Mädchen noch einen grimmigen Blick zu, nebst der Drohung: »Laß Dir das nicht wieder passiren!«

Cosette kroch unter den Tisch zurück, und ihre großen, auf ihren Retter gerichteten Augen nahmen einen Ausdruck an, dessen sie bisher unfähig gewesen waren. Sie empfand vorläufig ein naives Erstaunen, dem sich aber Vertrauen beimischte.

»Wünschen Sie vielleicht noch etwas zu essen?« fragte jetzt Frau Thénardier den Fremden.

Er war in tiefes Nachdenken versunken und antwortete nicht.

»Was für Einer mag das sein?« dachte Frau Thénardier. »Gewiß ein gottserbärmlicher Hungerleider, der sich kein Abendessen genehmigen kann. Ob ich wenigstens das Nachtquartier von ihm bezahlt kriege? Man kann noch von Glück sagen, daß er das Geld vorhin, das auf der Erde lag, nicht in seine Tasche gesteckt hat.«

Mittlerweile waren durch eine Stubenthür Eponine und Azelma hereingekommen.

Die beiden Mädchen hatten sich prächtig entwickelt und sahen wie feine Städterinnen, nicht wie Bauernkinder, aus. Sie waren überaus reizend, die Eine mit ihren kastanienbraunen, glänzenden Flechten, die Andere mit ihren langen schwarzen Zöpfen, wohl genährt, sauber gehalten, gesund und munter, daß man seine Freude an ihnen haben konnte. Die Mama mußte wohl eine besondere Sorgfalt auf die Toilette ihrer Lieblinge verwenden, denn trotzdem sie dicke Wollstoffe trugen, sah ihre Kleidung nichts weniger, als schwerfällig und ungraziös aus; sie paarte anmuthig den Ernst des Winters mit der hellen Heiterkeit des Frühlings. Zudem bewies ihr sicheres, selbstbewußtes Auftreten, ihre Ausgelassenheit, daß sie keine Sklavenkinder waren, wie die arme Cosette. Frau Thénardier empfing sie auch mit einer Miene zärtlicher Bewundrung, der ihre scheinbar mürrische Anrede keinen Eintrag thun konnte:

»Na, seid Ihr wieder da?«

Dann nahm sie Eine nach der Andern auf den Schoß glättete ihnen eifrig die Haare, knüpfte ihnen aufgegangene Schleifen zurecht, und setzte sie mit einem liebevoll derben und durchaus ungefährlichen Ruck, der allen Müttern eigen ist, wieder auf die Erde.

»Nein, wie sie wieder aussehen!« ein Ausruf, der natürlich das Gegentheil bedeuten sollte, nämlich, daß ihre Abgötter überaus niedlich geputzt seien.

Die beiden Mädchen setzten sich vor den Kamin und spielten mit einer Puppe, wobei Cosette ihnen von Zeit zu Zeit schwermuthsvoll zusah und ihren Strickstrumpf vergaß.

Eponine und Azelma ihrerseits beachteten Cosette nicht, die ihnen nicht mehr galt, als ein Hund. Keine vierundzwanzig Jahre zählten diese drei kleinen Mädchen zusammengenommen, und schon boten sie in ihrem Verhalten gegeneinander ein treues Bild der großen menschlichen Gesellschaft dar: Auf der einen Seite Neid, auf der andern Geringschätzung.

Die Puppe der beiden Schwestern war sehr abgegriffen, alt, entzwei, aber trotzdem betrachtete Cosette sie mit ungemischter Bewunderung. Hatte sie doch in ihrem Leben keine »richtige Puppe« gehabt, um uns eines allen Kindern verständlichen Ausdrucks zu bedienen.

Plötzlich bemerkte die Thénardier, die in der Stube hier und dort zu thun hatte, daß Cosette Allotria trieb und statt zu arbeiten, ihren glücklicheren Gefährtinnen zuschaute.

»Ertapp’ ich Dich wieder mal beim Faulenzen? Na warte, der Kantschu soll Dich arbeiten lehren.«

Ohne von seinem Sitz aufzustehen, fiel ihr der Fremde schüchtern ins Wort:

»So lassen Sie das Kind doch spielen, Frau Wirtin!«

Von Seiten jedes Gastes, der sich Braten, nebst zwei Flaschen Wein zum Abendessen bestellt und nicht wie ein »erbärmlicher Hungerleider« ausgesehen hätte, wäre solch eine Bitte ein Befehl gewesen. Aber daß ein Kerl mit einem ramponirten Hute und einem schäbigen Rock sich erdreisten sollte einen Wunsch zu äußern, das glaubte Frau Thénardier nicht dulden zu dürfen. Sie erwiederte also in unliebenswürdigem Tone:

»Sie muß arbeiten; dazu erhalte ich sie nicht, daß sie die Hände in den Schoß legen soll.«

»Was arbeitet sie denn da?« fragte der Fremde mit seiner sanften Stimme, die mit seiner bettelhaften Kleidung und mit seinen Lastträgerschultern in eigentümlichem Gegensatz standen.

Die Thénardier geruhte zu antworten:

»Strümpfe für meine Töchter, sie brauchen welche höchst nöthig.«

Der Fremde ließ einen Blick auf die roth gefrorenen Füße der armen Cosette fallen und fuhr fort:

»Wieviel Zeit braucht sie zu so einem Paar Strümpfe?«

»Wenigstens drei bis vier Tage, so faul wie sie ist.«

»Und wieviel mag solch ein Paar wert sein, wenn es fertig ist?«

Die Thénardier streifte ihn mit einem verächtlichen Blick, als sie antwortete:

»Wenigstens dreißig Sous.«

»Würden Sie sie mir für fünf Franken überlassen?«

»Na ob!« meinte ein Fuhrmann, der dem Gespräch zugehört hatte. »Fünf Franken? Alle Hagel!«

Hier glaube Frau Thénardier’s Gemahl sich einmischen zu müssen:

»Gewiß, mein Herr! Wenn Ihnen das Vergnügen machen kann, sollen Sie das Paar Strümpfe für fünf Franken bekommen. Wir halten es für unsere Pflicht, unsern Gästen nichts abzuschlagen.«

»Wir müssen das Geld aber gleich haben!« kommandirte die kurz angebundene Frau Thénardier.

»Gut, ich kaufe die Strümpfe,« antwortete der Gast. »Hier ist das Geld.«

Und zu Cosette gewendet fuhr er fort:

»Jetzt gehört Deine Arbeit mir. Geh und spiele.«

So sehr imponirte das Fünffrankenstück, das der schäbige Gast auf den Tisch gelegt hatte, dem Fuhrmann, daß er sein Glas Wein stehen lieb und herbeieilte. »Wahrhaftig, fünf Franken!« rief er. »Und wirklich echt!«

Der Wirt trat heran und steckte stillschweigend das Geld in seine Tasche.

Seine Frau fand kein Wort der Erwidrung. Aber sie biß sich in die Lippen, und ihre Mienen nahmen einen Ausdruck des Hasses an.

Währenddem zitterte Cosette, erkühnte sich aber doch zu erfragen:

»Frau Wirtin, darf ich wirklich spielen?«

»Ja!« brüllte wüthend Frau Thénardier.

»Danke, Frau Wirtin!«

Und während sie sich mit dem Munde bei Frau Thénardier bedankte, schlug ihr Herz dem Fremden entgegen.

Unterdessen hatte sich der Wirt wieder an seinen Tisch gesetzt, um weiter zu trinken. Seine Frau machte sich jetzt einen Augenblick in seiner Nähe zu schaffen und flüsterte ihm ins Ohr:

»Was mag das für ein Mensch sein, der Gelbe?«

»Es giebt Millionäre, kann ich Dir sagen, die solche Röcke tragen. Ich selber habe welche gekannt!«

Cosette hatte ihren Strickstrumpf bei Seite gelegt, ohne ihren Platz zu verlassen. Das nahm sie sich nicht leicht heraus! Sie begnügte sich aus einer Schachtel, die hinter ihr stand, einige Läppchen und ihr bleiernes Säbelchen herauszunehmen.

Eponine und Azelma beachteten nicht, was um sie vorging, da ein neues Vergnügen ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Der Puppe überdrüssig, nahm Eponine, die Aelteste, sich die junge Katze vor und wickelte sie, so sehr das Thier sich auch sträubte und miaute, in eine Menge blaue und rothe Lappen ein. Welchen Zweck dieses schwierige Stück Arbeit hatte, erklärte sie ihrer Schwester in jener allerliebsten Kindersprache, deren Anmuth getreu wiederzugeben so unmöglich ist, wie die Fixirung der bunten Farben des Schmetterlings:

»Nämlich, Selmachen, die Puppe ist besser, als die andere. Die ist lebendig und schreit. Wir wollen mit der spielen. Das ist also meine Tochter und ich bin eine feine Dame. Ich komme bei Dir zu Besuch und bringe sie mit. Du merkst, daß sie einen Schnurrbart hat, und wunderst Dich. Und die Ohren und den Schwanz siehst Du auch und wunderst Dich und sagst: ›Gott erbarme sich!‹ Und ich sage: ›Ja, ja, gnädige Frau, das ist meine Tochter. Die kleinen Mädchen von heutzutage sehen alle so aus.‹«

Ein Vorschlag, den Selma natürlich mit Begeisterung annahm.

Wie die Vögel alles Mögliche zu ihrem Nest gebrauchen können, so machen sich die Kinder aus allem Möglichen eine Puppe. Während also Eponine und Azelma die Katze einmummelten, kleidete Cosette den Säbel ein, nahm ihn auf die Arme und wiegte und sang ihn in Schlaf.

Das Spiel mit der Puppe ist eins der gebieterischsten Bedürfnisse und einer der nettesten Instinkte der kleinen Mädchen. Hegen und pflegen, kleiden, entkleiden, wieder ankleiden, putzen, ermahnen, schelten, wiegen, hätscheln, in Schlaf singen sind ja die Hauptbeschäftigungen einer zukünftigen Mutter.

Ein kleines Mädchen ohne Puppe ist beinahe so unglücklich, beinahe solch’ ein Unding, wie eine Frau ohne Kinder.

Deshalb hatte sich Cosette aus einem Säbel eine Puppe gemacht.

Die Thénardier ihrerseits war wieder zu dem »Gelben« zurückgekommen.

»Mein Mann hat Recht«, dachte sie. »Wer weiß, ob das nicht ein Bankier ist! Es giebt sonderbare Käuze unter den Reichen.«

»Mein Herr …«, hob sie an, indem sie sich zu ihm an den Tisch setzte.

Bei dieser Anrede stutzte der Fremde. Sic hatte ihn bisher nur »Mann!« titulirt.

»Sehen Sie, mein Herr«, fuhr sie fort und setzte dabei ihre freundliche Fratze auf, die noch widerwärtiger war, als ihre wüthige Miene, »ich habe ja nichts dagegen, ich sehe es ja ganz gern, wenn die Kleine spielt; aber das kann nur einmal so hingehen, weil Sie freigebig sind. Das hat nichts. Das muß arbeiten.«

»Es ist also nicht Ihr Kind?«

»Bewahre. Es ist ein armes Ding, das wir aus reiner Barmherzigkeit bei uns aufgenommen haben. Sie ist schwachsinnig. Ich denke mir, sie hat Wasser im Kopf. Sehen Sie ihn Sich mal an, wie groß er ist. Wir thun für sie Alles, was in unseren Kräften steht, aber wir sind nicht reich. Auf die Briefe, die wir schreiben, kriegen wir seit einem halben Jahr keine Antwort. Die Mutter muß also wohl gestorben sein.«

»Hm!« antwortete der Unbekannte und grübelte weiter.

»Mit der Mutter war nicht viel los; sie hat ihr Kind von sich gegeben.«

Während dieses Gesprächs hatte Cosette unter dem Tische, als ahne sie, daß von ihr die Rede war, von Frau Thénardier kein Auge verwandt und sang nun, indem sie in das Kaminfeuer starrte: »Meine Mutter ist tot! Meine Mutter ist tot!«

Auch die Trinker sangen, um die heilige Weihnacht würdig zu begehen, ein Lied, das sich nicht so schwermüthig und nicht so naiv anhörte, wie Cosettens Komposition. Es waren frische und fröhliche Zoten, die sich auf die Geschichte der Jungfrau Maria und des kleinen Jesus bezog. Das Lied erregte großartige Heiterkeit, so daß auch die Thénardier zu ihnen eilte, um an dem schönen Amüsement teilzunehmen. Auf diese Weise wurde der Fremde ihre Gesellschaft los, aber es dauerte nicht lange, so kam sie wieder zu ihm zurück und nöthigte ihn, sich ein gutes Abendessen bereiten zu lassen. Der Gast gab nach und bestellte — eine Portion Brot und Käse.

»Der Kerl ist doch ein Lump!« dachte Frau Thénardier.

Plötzlich hörte Cosette mit ihrem Gesang auf. Sie hatte sich umgedreht und bemerkte die Puppe der kleinen Fräulein, die sie, nicht weit von dem Küchentisch, auf dem Boden hatten liegen lassen.

Da ließ sie ihren Säbel fallen, der ihr als Puppe nicht ganz gefallen wollte, und sah sich aufmerksam in der Stube um. Frau Thénardier unterhielt sich leise mit ihrem Manne und zählte Geld; Vonine und Selma spielten mit der Katze; die Gäste aßen, tranken oder sangen; Niemand blickte nach ihr hin, Die Gelegenheit mußte sie schnell wahrnehmen. Sie kroch also unter dem Tisch hervor, blickte sich noch einmal um, ob Keiner sie beobachtete, und bemächtigte sich dann rasch der Puppe. Eine Sekunde darauf saß sie wieder an ihrem gewohnten Platze, von den Anwesenden abgekehrt, so daß ihr Schatten auf die Puppe fiel und spielte mit leidenschaftlichem Eifer.

Nur der Fremde, der langsam sein frugales Mahl verzehrte, hatte das Manöver gesehen.

Aber die Freude, mit einer wirklichen Puppe spielen zu können, währte nur eine Viertelstunde. So vorsichtig Cosette auch war, so passirte es ihr doch, daß der eine Fuß des geliebten Wesens aus dem Schatten hervorragte und von dem grellen Licht des Kaminfeuers bestrahlt wurde. In Folge dessen bemerkte auch endlich Azelma, was unter dem Küchentisch vorging und sie stieß ihre Schwester an, mit den Worten: »Du, sieh’ mal dahin!«

Nein, so was! Cosette hatte sich unterstanden die Puppe anzufassen!

Eponine stand auf, ging, ohne die Katze loszulassen, zu ihrer Mutter hin und zupfte sie am Kleide.

»So laß mich doch! Was willst Du denn von mir!« brummte Frau Thénardier.

»Mutter, sieh doch mal dahin!«

Und sie zeigte auf Cosette, die über ihrer Verzückung nichts sah und nichts hörte.

Wilde Wuth malte sich in den Zügen der Megäre, deren Hochmuth auf’s empfindlichste verletzt war. Cosette hatte sich respektwidrig benommen, hatte sich erfrecht, die Puppe der »Fräulein«, der Kinder ihrer Herrschaft, anzurühren.

Eine Zarin, die einen Bauern dabei ertappen würde, wie er sich das Ordensband ihres Sohnes anprobirte, könnte nicht zorniger aussehen, als Frau Thénardier bei jenem Anblick.

»Cosette!« krächzte sie wüthend.

Die Arme fuhr zusammen, als hätte die Erde unter ihr gebebt. Sie wandte sich um.

»Cosette!« wiederholte ihre Peinigerin.

Die Unglückliche legte respektvoll die Puppe hin, wandte die Augen nicht von ihr weg und rang die gefalteten Händchen, eine schreckliche Gebärde bei Kindern. Dann that sie, was keine Aufregung dieses Unglückstages, was weder die Schrecknisse des Waldes, noch die schwere Last des Eimers, noch der Verlust des Geldes, noch der Anblick des Kantschus hatte bewirken können: Sie weinte, schluchzte.

»Was ist denn?« fragte der Fremde, indem er aufstand.

»Sehen Sie denn nicht?« entgegnete die Thénardier, indem sie auf das corpus delicti, die Puppe, hinwies.

»Ich verstehe nicht!«

»Das Bettelbalg hat sich erlaubt, die Puppe der Kinder anzufassen.«

»Viel Lärmen um nichts!« spottete der Gast. »Was ist denn dabei, wenn sie mit der Puppe spielt?«

»Sie hat sie mit ihren schmutzigen Händen angefaßt, der Ekel!« kreischte die Thénardier entrüstet, ohne auf den Einwand zu achten.

Cosette schluchzte nur noch lauter.

»Wirst Du still sein!« herrschte Frau Thénardier sie an.

Nun trat der Fremde auf die Straßenthür zu, machte sie auf und ging hinaus.

Diese Abwesenheit machte sich Frau Thénardier zu Nutze. Sie versetzte Cosette einen tüchtigen Fußtritt, so daß die Arme laut aufheulte.

Bald aber that sich die Thür wieder auf, und der Gast kam herein mit der unvergleichlichen Puppe, die bei den Kindern des Dorfes so hohe Bewunderung erregt hatte. Die stellte er jetzt vor Cosette hin mit den Worten:

»Da, die schenke ich Dir!«

Er hatte also offenbar, trotz seiner Zerstreutheit, die prunkvoll erleuchtete Bude vor der Thür bemerkt.

Cosette hob die Augen auf, sah mit grenzenloser Ehrfurcht den Fremden an, der ihr solch eine Puppe schenkte, sah ihn wieder, sah die Puppe an. Dann wich sie langsam zurück und verkroch sich ganz hinten unter den Küchentisch, in den äußersten Winkel der Stube.

Sie weinte nicht mehr, sie schrie nicht mehr; sie wagte kaum noch zu athmen.

Frau Thénardier, Eponine und Azelma waren wie versteinert. Sogar die Trinker wurden aufmerksam, und es trat eine feierliche Stille in der Kneipe ein.

Stumm vor Staunen setzte die Thénardier ihre Muthmaßungen fort: »Wer mag der Alte sein? Ein Millionär? Oder vielleicht ein Spitzbube?«

Das Gesicht ihres Mannes aber nahm jene Faltung an, die sich jedesmal, wenn der Hauptinstinkt in seiner ganzen bestialen Macht angeregt ist, auf dem menschlichen Gesicht abprägt. Er betrachtete aufmerksam, bald die Puppe, bald den Fremden, und es war, als ob ein Raubthier eine Beute wittere. Diese Prüfung vollzog sich aber mit Blitzesschnelle. Dann trat er an seine Frau heran und flüsterte:

»So ein Ding kostet wenigstens dreißig Franken. Den Mann müssen wir mit Respekt behandeln.«

Rohe Menschen haben mit den Naiven das gemeinsam, daß sie allmählicher Uebergänge nicht fähig sind.

»Nun, Cosette,« fragte die Thénardier in einem Ton, der freundlich klingen sollte, aber ihre widerwärtige Bosheit schlecht verschleierte, »nimmst Du denn die Puppe nicht?«

Cosette wagte sich aus ihrer Ecke heraus.

»Liebe Cosette,« stimmte Thénardier mit wohlwollender Miene ein, »der Herr schenkt Dir eine Puppe. Nimm sie. Sie gehört Dir!«

Die Kleine betrachtete die Wunderpuppe mit einer Art frommen Schreckens. Ihr Gesicht war noch naß von Thränen, aber ihre Augen leuchteten allmählich hell auf, wie der Himmel beim Aufgang der Sonne. Was sie in diesem Augenblick empfand, war ein so seliges Entzücken, als sei sie Königin von Frankreich geworden.

Wenn sie die Puppe anfaßte, dachte sie, würde ein Blitzstrahl ihr entgegenzucken.

Eine nicht ganz unrichtige Ahnung, denn sie sagte sich, daß die Thénardier sie schelten und schlagen würde.

Aber die Anziehungskraft der Puppe behielt doch die Oberhand. Sie kam heran und fragte furchtsam die Thénardier:

»Darf ich?«

Keine Sprache vermöchte das Gemisch von Verzweiflung, Entsetzen und Entzücken wiederzugeben, das sich auf dem Gesicht der Kleinen abspiegelte.

»Na gewiß« versicherte Frau Thénardier. »Sie gehört Dir, der Herr hat sie Dir ja geschenkt.«

»Wirklich und wahrhaftig? Mir schenken Sie die feine Dame?«

Dem Fremden standen die Augen voller Thränen, und er konnte offenbar vor Rührung nicht sprechen. Er nickte blos statt aller Antwort und legte die Hand der Puppe in die Hand Cosettens.

Die Kleine trat hastig zurück, als brenne die Hand der »Dame« in der ihrigen, und sah zu Boden. Leider müssen wir zugeben, daß sie zugleich auch ihre Zunge weit aus dem Munde heraushängen ließ. Plötzlich aber wandte sie sich um und griff hastig nach der dargebotenen Puppe.

»Ich will sie Kathrine nennen!« sagte sie.

Es sah absonderlich genug aus, als das zerlumpte Kind das hübsche rosa Kleid mit den schönen Bändern umfaßte.

»Darf ich sie auf einen Stuhl setzen?« fragte sie Frau Thénardier.

»Ja wohl, mein Kind!«

Jetzt sahen Eponine und Azelma zu Cosette mit Neid empor.

Cosette setzte ihre Puppe auf einen Stuhl, kauerte vor ihr nieder und betrachtete sie mit andachtsvoller Bewunderung.

»Spiele doch, Cosette!« mahnte der Fremde.

»O ich spiele schon!«

Diesen Fremden, diesen Unbekannten, den die Vorsehung der armen Cosette geschickt zu haben schien, haßte jetzt Frau Thénardier mehr als irgend etwas und irgend Jemanden auf der Welt. Sie mußte sich indessen Gewalt anthun. Was sie ausstand, ging allerdings über das gewöhnliche Maß hinaus, so sehr sie sich auch auf Verstellung und Heuchelei verstand. Sie befahl ihren Mädchen, sich zur Ruhe zu begeben, und bat den Fremden um »die Erlaubniß«, Cosette gleichfalls zu Bett zu schicken. »Sie hat sich heute gehörig gequält!« sagte sie gütig, worauf die Kleine mit Kathrinen im Arm schlafen ging.

Dann aber ging die Thénardier von Zeit zu Zeit zu ihrem Manne hinüber, der an dem andern Ende der Stube saß. Sie mußte, meinte sie, ihrer Wuth etwas Lust machen, sonst würde sie platzen.

»Das alte Rindvieh! Was fällt dem eigentlich ein? Wie kommt er dazu, seine Nase in Alles hineinzustecken? Die kleine Kanaille soll spielen! Schenkt eine Puppe, die ihre vierzig Franken wert ist, einem Balg, das ich für vierzig Sous gern hingeben möchte. Es fehlt nicht viel, so würde er ›Ew. Majestät‹ zu ihr sagen, als wenn’s die Herzogin von Berry wäre! Hat das Alles Sinn und Verstand? Verrückt muß der Kerl sein! Wenn man blos daraus klug werden könnte!«

»Na, die Sache ist doch sehr einfach!« widerlegte sie ihr Mann. »Du willst, daß Cosette arbeitet; er will, daß sie spielt. Ein Gast hat das Recht zu thun und zu verlangen, was er will, wenn er nur bezahlt. Wenn der Alte ein Philantrop ist, so geht’s Dich nichts an. Ist er ein Schafskopf, so hast Du Dich ebenso wenig darum zu bekümmern. Wenn er nur Geld hat!«

Gegen den formellen Willen ihres Herrn und Gebieters konnte die arme Frau Thénardier ebenso wenig aufkommen, wie seine Gastwirtsweisheit widerlegen. Sie mußte sich fügen.

Der Fremde hatte sich wieder an seinen Tisch gesetzt und seine nachdenkliche Miene angenommen. Die andern Gäste waren weiter von ihm abgerückt und sangen nicht mehr. Sie betrachteten ihn nur aus der Ferne mit respektvoller Scheu. Alle Achtung vor einem Kunden, dem Silbermünzen und Goldstücke so lose in der Tasche saßen, der kleinen Schmutznickeln riesige Puppen schenkte!

So vergingen mehrere Stunden. Schon war der Gottesdienst zu Ende, die Trinker hatten sich zerstreut, die Schänke war geschlossen und noch immer saß der Fremde an seinem Tisch, ohne ein Wort zu sprechen, ohne seine Haltung zu verändern. Höchstens, daß er den einen Ellbogen vom Tische nahm und den andern aufstützte.

Der Gastwirt und seine Frau leisteten ihm aus Schicklichkeitsgründen und aus Neugierde Gesellschaft. »Will er die ganze Nacht so sitzen bleiben?« brummte Frau Thénardier. Aber als die Uhr zwei schlug, war ihre Geduld zu Ende und sie sagte zu ihrem Mann: »Ich gehe zu Bett. Sieh’ Du zu, wie Du mit ihm fertig wirst.« Thénardier setzte sich in einer Ecke an einen Tisch, zündete ein Talglicht an und vertiefte sich in das Studium des Courier francais.

So verging eine gute Stunde. Wenigstens drei Mal hatte schon der Wirt seine Zeitung von A bis Z durchgelesen, aber der Fremde rührte sich noch immer nicht.

Thénardier hüstelte, räusperte und schnaubte sich, machte Lärm mit seinem Stuhl; aber vergebens. — »Ob er schläft?« dachte Thénardier. — Der Gast schlief nicht, aber er ließ sich nicht wecken.

Endlich nahm Thénardier seine Mütze ab, ging auf ihn zu und wagte die Frage:

»Wollen der Herr sich nicht zur Ruhe begeben?«

»Wollen Sie nicht schlafen gehen?« hätte zu simpel, zu familiär geklungen. Die Anwendung der anderen, respektvolleren Formel besitzt auch die geheimnißvolle und erfreuliche Kraft, die Ziffern der Hotelrechnungen erheblich hinaufzuschrauben. Eine Schlafstube kostet zwanzig Sous die Nacht; ein Zimmer, in dem man »ruht«, zwanzig Franken.

»Ach so!« rief der Gast. »Ja, Sie haben Recht. Wo ist Ihr Stall?«

»Gestatten Sie, mein Herr, daß ich Ihnen vorangehe«, sagte Thénardier mit einem feinen Lächeln.

Er nahm das Licht, der Gast ergriff sein Bündel und seinen Stock, und Thénardier führte ihn in ein Zimmer des ersten Stockwerks, in dem es sehr üppig aussah. Die Möbel waren aus Mahagoni, und das pompöse Kahnbett war mit einem schönen Vorhang versehen.

Der Gast betrachtete es mit Verwunderung.

»Unser Hochzeitsbett«, belehrte ihn der Wirt. »Meine Frau und ich schlafen in einem anderen Zimmer. Dieses wird nur ausnahmsweise benutzt.«

»Der Stall wäre mir eben so lieb gewesen«, versetzte barsch der Gast.

Thénardier reagirte nicht auf diese nicht sehr schmeichelhafte Bemerkung, sondern zündete ruhig zwei ganz neue Wachskerzen an, die auf dem Kaminsims standen.

»Und was ist das?« forschte der Gast und zeigte auf eine Glasglocke, unter der ein weiblicher Kopfputz aus Silberdraht und ein Kranz aus Orangenblüthen zu sehen war.

»Der Hochzeitshut meiner Frau.«

Dem Gast war es anzumerken, daß es ihm schwer fiel, sich die Thénardier als eine zarte, verschämte Jungfrau vorzustellen.

In der That log der Wirt. Er hatte das Zimmer, als er das Haus miethete, schon so vorgefunden und Alles, was darin war, käuflich erworben. Der Brautkranz umgab seine Gemahlin mit einem Nimbus von zarter Anmuth und die ganze Ausstattung des traulichen Heims verlieh der Familie Thénardier ein Gepräge von Solidität und Ordnung, das unser Abenteurer für seine Zwecke gut gebrauchen konnte.

Als der Gast sich umwandte, war der Wirt verschwunden. Thénardier hatte sich bescheiden gedrückt, ohne auch nur eine gute Nacht zu wünschen. Einem Gast, dem man eine gepfefferte und gesalzene Rechnung präsentiren will, darf man nicht mit respektwidriger Herzlichkeit behandeln.

Als Thénardier in sein Schlafzimmer trat, lag seine Frau schon im Bett, schlief aber noch nicht. Bei dem Geräusch seiner Tritte wandte sie sich um und sagte:

»Weißt Du was? Morgen setze ich Cosette an die Luft!«

»Na na!« entgegnete er ruhig.

Andere Reden tauschten sie nicht aus, und einige Minuten später war ihr Licht ausgelöscht.

Der Gast seinerseits hatte sein Paket und seinen Stock in einem Winkel untergebracht. Dann setzte er sich auf einen Lehnstuhl und sah nachdenklich eine Weile vor sich hin. Hierauf zog er seine Schuhe aus, nahm eine der beiden Kerzen in die Hand, blies die andere aus, stieß die Thür an und trat auf den Korridor, wo er sich umsah. Alsdann ging er auf eine Treppe zu. Hier hörte er ein leises Geräusch von regelmäßigen sanften Athemzügen, dem er nachging. Da sah er, zwischen der Wand und den Stufen, einen dreieckigen Raum, in dem unter alten Körben, zerbrochenem Geschirr, Schmutz, Staub und Spinnengeweben ein Bett stand, d. h. es lag auf der Erde ein zerlöcherter Strohsack und eine zerrissene Decke. In diesem »Bett« schlief Cosette, ihrer Gewohnheit gemäß, vollständig angekleidet, um weniger zu frieren.

In ihren Armen hielt sie die Puppe, deren große offene Augen in der Dunkelheit glänzten. Von Zeit zu Zeit stieß sie einen schweren Seufzer aus, als sei sie im Begriff aufzuwachen und dann drückte sie ihre Puppe krampfhaft an sich. Neben ihrem Bett stand nur einer von ihren Holzschuhen.

Nachdem der Fremde sie eine Weile aufmerksam betrachtet hatte, trat er durch eine offene Thür in ein neben Cosettens Kabüse gelegenes, großes und dunkles Zimmer. Im Hintergrunde sah man durch eine Glasthür zwei Kinderbettchen, Azelmas und Eponinens. Von diesen Betten halb verdeckt stand eine Wiege, in der das Söhnchen der Thénardiers schlief.

Der Fremde muthmaßte, dieser Raum müsse mit dem Schlafzimmer der beiden Eheleute in Verbindung stehen und wollte schon umkehren, als sein Blick auf den Kamin fiel, ein altes Ungethüm von Hotelkamin, in dem immer ein sehr bescheidenes Feuer oder auch gar keins brennt, und bei dessen bloßem Anblick man friert. Auch in diesem hier war nicht einmal Asche, geschweige denn ein Feuer zu sehen; dennoch sah der Fremde etwas, das seine Aufmerksamkeit fesselte, nämlich zwei niedliche Kinderschuhe von verschiedener Größe. Ihr Anblick erinnerte ihn an die uralte, hübsche Sitte, daß am Weihnachtsabend die Kinder einen Schuh in den Kamin stellen, damit ihre gute Fee ein Geschenk für sie hineinlegen kann. Eponine und Azelma hatten das nicht vergessen, und die Fee, nämlich die Mutter, hatte auch schon ihre Schuldigkeit gethan, denn in jedem Schuh sah der Fremde ein funkelnagelneues Fünfzigsousstück.

Der Fremde war im Begriff zu gehen, als er ganz hinten in der Ecke, im dunkelsten Theil des Kamins, einen anderen Gegenstand bemerkte. Er sah genauer hin; es war ein Holzschuh, ein greulicher grober Holzschuh. Cosette hatte ebenfalls, mit jener kindlichen Vertrauensseligkeit, die sich oft täuschen, nie entmuthigen läßt, ihren Schuh in den Kamin gestellt.

Es ist etwas Erhabenes und Liebes um diese Hoffnungsfreudigkeit eines Kindes, das nur die Verzweiflung kennen gelernt hat.

In Cosettens Holzschuh war natürlich nichts. Der Fremde faßte in seine Westentasche und steckte einen Louisd’or in den Schuh.

Dann schlich er sacht nach seinem Zimmer zurück.

Thénardiersche Manöver

Zwei Stunden vor Tagesanbruch saß Thénardier in der Gaststube und redigirte die Rechnung für den Herrn mit dem gelben Rock.

Seine Frau stand halb vorgeneigt hinter ihm und sah ihm zu. Sie tauschten kein Wort mit einander aus. Einerseits tiefsinnige Nachdenklichkeit, andererseits jene andächtige Aufmerksamkeit, die allen Wunderwerken des Menschengeistes zukommt. Man hörte ein Geräusch im Hause: Es war die Lerche, die fegte.

Nach einer guten Viertelstunde und mancherlei Radirungen entfloß endlich der Feder Thénardiers folgendes Meisterwerk:

Rechnung für den Herrn im Zimmer Nr. 1.

Abendessen 3 Franken Zimmer 10 Wachskerzen5 Heizung 4 Bedienung 1

Summa 23 Franken

»Dreiundzwanzig Franken!« rief Frau Thénardier mit einem Enthusiasmus, der aber mit einiger Bedenklichkeit versetzt war.

Auch Thénardier war nicht ganz mit seinem Werk zufrieden — wie ja auch alle echten Künstler bescheiden sind.

»Bah!« meinte er achselzuckend, wie Castlereagh, als er auf dem Wiener Kongreß die Rechnung aufsetzte, die Frankreich bezahlen mußte.

»Du hast ganz Recht, Mann!« sagte Frau Thénardier, eingedenk der Beschenkung Cosettes in Gegenwart ihrer Töchter. »So viel ist er uns schon schuldig, aber es wird ihm zu viel sein.«

Thénardier lächelte in seiner gewohnten, kalten Art und sagte:

»Er wird sich nicht weigern.«

Dieses Lachen klang so siegesgewiß, daß seine Frau nichts mehr zu erwidern wußte. Sie machte sich an ihre Arbeit und ordnete Stühle und Tische in der Stube, während ihr Mann auf und abging.

»Bedenke, daß ich fünfzehnhundert Franken Schulden habe!«

Dann setzte er sich nachdenklich an den Kamin und wärmte sich die Füße über der glimmenden Asche.

»Noch eins!« hob seine Frau wieder an. »Cosette schmeiße ich heute ganz gewiß zum Hause hinaus. Das nichtswürdige Biest! Was die mich mit ihrer Puppe ärgert! Ich möchte lieber Ludwig XVIII. heiraten, als sie einen Tag länger im Hause behalten.«

Thénardier ließ sie reden, steckte seine Pfeife an und sagte:

»Du bringst ihm die Rechnung!«

Mit diesen Worten ging er zur Thür hinaus.

Kaum war er fort, als der Fremde in die Gaststube trat.

Auf der Stelle erschien auch in der halboffenen Thür Thénardier wieder und blieb da stehen, so daß er nur für seine Frau sichtbar war.

Der Mann mit dem gelben Rock trug sein Paket und seinen Sack in der Hand.

»So früh auf!« sagte Frau Thénardier. »Wollen der Herr uns schon verlassen?«

Dabei drehte sie verlegen die Rechnung in den Händen herum und kniff mit ihren Nägeln hinein. Ganz gegen ihre Gewohnheit empfand sie in diesem Augenblick Gewissensbisse. Es schien ihr keine Kleinigkeit, einem Gast, der so »hungerleiderisch« aussah, eine so fürchterliche Rechnung zu präsentiren.

Der Fremde dagegen schien nachdenklich und zerstreut. Er antwortete ihr:

»Ja wohl, Frau Wirtin, ich muß fort.«

»Der Herr hatten also keine Geschäfte in Montfermeil zu besorgen?«

»Nein, ich komme hier blos durch. — Was bin ich schuldig, Frau Wirtin?«

Statt der Antwort überreichte sie ihm die Rechnung.

Er faltete sie auseinander und sah sie an, aber offenbar waren seine Gedanken wo anders beschäftigt.

»Frau Wirtin, machen Sie hier in Montfermeil gute Geschäfte?«

»Mittelmäßige,« antwortete sie, hoch erstaunt, daß Alles so glatt abging!

»Es sind schlimme Zeiten, mein Herr!« jammerte sie weiter, »und in unserer Gegend wohnen nicht viel wohlhabende Herrschaften. Lauter kleine Leute. Wenn nicht ab und zu reiche und generöse Gäste wie Sie, mein Herr, hierdurch kämen, so wüßte ich nicht, was aus uns werden sollte! Was haben wir für Ausgaben. Z. B. Die Kleine, die kostet uns die Augen aus dem Kopfe.«

»Welche Kleine?«

»Nun, Sie wissen ja, Cosette, die Lerche, wie sie von den Leuten genannt wird.«

»So!« sagte der Gast.

»Was diese Bauern dumm sind, mit ihren Beinamen! Sie sieht doch eher wie eine Fledermaus als wie eine Lerche aus. Sehen Sie mein Herr, wir bitten nicht um Almosen, können aber keine geben. Wir verdienen nichts und sollen viel zahlen. Wer weiß, wie viel Steuern muß man aufbringen! Und meine Töchter kosten mir genug. Die Sorge um anderer Leute Kinder würde ich gern missen!«

Der Gast fragte in einem Ton, der recht gleichgiltig klingen sollte, aber verrätherisch zitterte:

»Nun, was meinen Sie dazu, wenn man Ihnen die Last abnähme?«

»Wen? Cosette?«

»Ja freilich!«

Die scheußliche Fratze der Kneipwirtin leuchtete hell auf vor widerwärtiger Freude.

»Nehmen Sie sie mit, einzigster, liebster Herr! Machen Sie mit ihr, was Sie wollen, und möge es Ihnen gut bekommen und seien Sie dafür gesegnet von der heiligen Jungfrau Maria und allen Heiligen des Himmels!«

»Einverstanden!«

»Wirklich? Sie nehmen sie mit?«

»Ich nehme sie mit.«

»Sofort?«

»Sofort! Rufen Sie das Kind!«

»Cosette!« schrie die Thénardier.

»Vorläufig will ich Ihnen aber die Rechnung bezahlen. Wieviel macht es?«

Er warf einen Blick auf die Rechnung und konnte nicht ganz eine Regung des Erstaunens zurückdrängen.

»Dreiundzwanzig Franken!«

Dann wiederholte er, dies Mal in einem fragenden Ton:

»Dreiundzwanzig Franken?«

Frau Thénardier, die Zeit gehabt hatte, sich vorzubereiten, entgegnete mit Dreistigkeit:

»Ja gewiß! Dreiundzwanzig Franken!«

Der Fremde legte fünf Fünffrankenstücke auf den Tisch und sagte:

»Holen Sie die Kleine.«

In diesem Augenblick trat Thénardier in die Stube herein und sagte:

»Der Herr hat sechsundzwanzig Sous zu bezahlen.«

»Sechsundzwanzig Sous!« rief seine Frau verwundert.

»Zwanzig Sous für das Zimmer,« sagte ruhig Thénardier, »und sechs Sous für das Abendessen. Was die Kleine anbelangt, so möchte ich über diesen Punkt mit dem Herrn noch sprechen. Laß uns allein, Frau!«

In Frau Thénardier’s Hirn blitzte eine Ahnung auf, daß etwas großartig Gescheidtes im Werke sei. Jetzt trat ja der Hauptmatador auf, und daher entfernte sie sich schleunigst, ohne ein Wort der Erwidrung.

Sobald sie allein waren, bot Thénardier dem Gast einen Stuhl an. Dieser setzte sich, während der Wirt stehen blieb und eine recht simple, gutmüthige Miene annahm.

»Ich wollte Ihnen blos sagen, mein Herr, daß ich das Kind schrecklich lieb habe.«

Der Fremde sah ihm scharf in die Augen:

»Welches Kind?«

Thénardier fuhr fort:

»So sonderbar es sein mag, aber man schließt solch ein kleines Ding in sein Herz. Was ist das für Geld da? Nehmen Sie doch ihre Fünfsousstücke wieder zurück. Das Kind ist mir ans Herz gewachsen.«

»Wer?«

»Je nun, unser Cosettchen. Sie wollen sie ja von uns fortnehmen. Ich sag’s Ihnen ganz offen; so wahr Sie ein wackerer Mann sind, ich kann auf Ihren Wunsch nicht eingehen. Sie würde mir fehlen. Ich habe das aufwachsen sehen. Allerdings kostet sie uns Geld, allerdings hat sie ihre Fehler, allerdings sind wir nicht reich, allerdings habe ich blos, als sie das eine Mal krank war, mehr als vierhundert Franken für Arzneien ausgegeben. Aber um des lieben Herrgotts Willen muß man doch auch etwas thun! Das hat weder Vater noch Mutter; ich habe sie großgezogen. Ich habe noch ein Bischen Brod zu essen, und davon soll sie noch etwas abbekommen. Ich kann mich nicht von dem armen Ding losreißen. Es mag ja eine Dummheit sein, aber wenn man doch einmal ein zu weiches Heiz hat, so hört man nicht auf Vernunftgründe. Ich liebe das Kind. Meine Frau auch, obgleich sie mitunter ein Bischen zu lebhaft ist. Wir betrachten sie wirklich als ein eignes, leibliches Kind. Es ist ein Bedürfnis für mich, daß ich ihr allerliebstes Gepapel im Hause höre.«

Während dieser ganzen Rede hatte der Fremde dem Gastwirth scharf in die Augen gesehen. Dieser oder fuhr fort:

»Außerdem, ich bitte Sie tausendmal deswegen um Entschuldigung, aber man übergiebt doch sein Kind nicht so ohne weiteres einem Fremden. Nicht wahr, das sehen Sie ein? Es könnte ja zu ihrem Besten sein, denn Sie sind reich, Sie sind ganz gewiß ein guter Mann, aber — man kann doch nicht wissen. Gesetzt also, ich wollte das Kind von mir fort lassen und das Opfer bringen, so möchte ich doch wissen, wo sie bleibt, sie nicht aus dem Gesicht verlieren; ich möchte wissen, bei wem sie ist, damit ich sie von Zeit zu Zeit besuchen könnte, damit sie weiß, daß ihr guter Pflegevater da ist und nach ihr sieht, ob’s ihr gut geht. Kurz und gut, es giebt Dinge, die sich nicht machen lassen. Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen. Nähmen Sie das Kind mit, so würde ich immerzu denken: ›Was mag denn blos aus unserer kleinen Lerche geworden sein.‹ Wenn ich wenigstens ein Bischen was Schriftliches zu sehen bekäme, wäre es auch nur ein Paß!«

Ohne seinen durchdringenden Blick von seinem Gegner abzuwenden, antwortete der Fremde nachdrücklich und bestimmt:

»Herr Thénardier, wenn man eine so kurze Reise, wie die von Paris nach Montfermeil macht, braucht man keinen Paß und läßt ihn zu Hause. Nehme ich Cosette mit, so ist damit Alles abgemacht. Sie werden nicht erfahren, wie ich heiße, wo ich wohne, wo sie bleibt, und es ist mein Wunsch, daß sie nie wieder mit Ihnen zusammenkommt. Ich schneide den Faden durch, der sie festhält, und sie geht auf und davon. Paßt Ihnen das, ja oder nein?«

Wie die Dämonen und Genien an gewissen Zeichen die Gegenwart eines höheren Gottes erkannten, so begriff auch Thénardier mit seiner gewohnten, raschen Auffassungsgabe, daß er mit einem tüchtigen Gegner zu thun hatte. Während er in der vergangenen Nacht mit den Fuhrleuten zechte, rauchte, zotige Lieder sang, hatte er unausgesetzt den Unbekannten im Auge behalten und mit wissenschaftlicher Genauigkeit beobachtet, theils mit Berechnung, theils zum Vergnügen, theils aus Instinkt. Keine Bewegung, keine Gebärde des Mannes mit dem gelben Rock war seiner Aufmerksamkeit entgangen. Noch ehe der Unbekannte seine Theilnahme für Cosette bekundete, hatte Thenardier sie errathen. Er hatte gesehen, wie aufmerksam der Gast Cosette ansah. Warum interessirte ihn das Kind? Was war er für ein Mensch? Wozu der elende Aufzug, da er doch Geld genug in der Tasche hatte? Alles Fragen, die er nicht zu lösen vermochte und das verdroß ihn. Er hatte die ganze Nacht über die Sache nachgedacht. Cosettens Vater konnte der Mann nicht sein. Vielleicht ihr Großvater? Warum gab er sich dann aber nicht sogleich zu erkennen? Wenn man ein Recht hat, so macht man’s doch geltend. Offenbar hatte der Mann keine berechtigten Ansprüche auf Cosette. Was hatte dann aber die ganze Geschichte zu bedeuten? Thénardier stellte alle möglichen Vermuthungen auf, aber keine wollte ihm einleuchten, keine Stich halten. Wie dem aber auch sein mochte, er war, als er das Gespräch einleitete, fest überzeugt, daß es sich um ein Geheimniß handele, daß es dem Unbekannten darauf ankäme, außer Spiel zu bleiben und daß er Herr der Situation sei. Aber als der Fremde ihm so entschieden gegenübertrat, als er sah, daß das Geheimnis; ein so einfaches war, fühlte er sich seiner Sache nicht mehr sicher. So etwas hatte er nicht erwartet. Jetzt waren alle seine Muthmaßungen aus dem Felde geschlagen. Aber er gehörte zu den Menschen, die eine gegebene Lage rasch überschauen und traf seine Entscheidung im Laufe einer Sekunde. Er war der Ansicht, der Augenblick sei gekommen, seine Batterien sofort zu demaskiren.

»Ich verlange fünfzehnhundert Franken, mein Herr!« sagte er.

Der Fremde nahm aus einer Seitentische eine alte, schwarze Brieftasche und entnahm ihr drei Kassenscheine, die er auf den Tisch legte. Dann sagte er, während er mit seinem breiten Daumen das Geld festhielt, zu dem Gastwirt:

»Lassen Sie Cosette kommen.«

Was machte Cosette während dieser Zeit?

Sie hatte, als sie aufwachte, nach ihrem Holzschuh gesehen und das Goldstück darin gefunden. Sie war wie geblendet. Ihr Glück fing an, sie zu berauschen. Sie wußte nicht, was ein Goldstück war; sie hatte nie eins gesehen! Sie versteckte ihren Fund so hastig in ihrer Tasche, als hätte sie das Geld gestohlen. Und doch fühlte sie, daß es wirklich ihr gehörte. Sie ahnte, wo das Geschenk herkam; aber ihrer Freude war Furcht beigemischt. Sie war zufrieden, vor allen Dingen aber verdutzt. Diese prachtvollen und hübschen Sachen schienen ihr keine Wirklichkeit zu haben. Die Puppe flößte ihr Furcht ein, das Goldstück gleichfalls. Nur dem Fremden gegenüber empfand sie dieses Gefühl nicht. Im Gegentheil, sie hegte Vertrauen zu ihm. Seit dem vergangenen Abend beschäftigte sich ihr kleiner Kinderverstand mit dem Manne, der so alt und arm und traurig aussah und sich so reich und so freundlich zeigte. Seitdem sie dem guten Manne im Walde begegnet war, hatte sich Alles zu ihrem Besten verändert. Nicht so glücklich, wie die geringste Schwalbe unter dem Himmelsdach, hatte Cosette nie gewußt, was es heißt, unter den Flügeln der mütterlichen Liebe eine Zuflucht suchen. Seit fünf Jahren, also so weit sie zurückdenken konnte, ließ der kalte Wind des Unglücks alle seine Wuth an ihr aus; jetzt aber war sie bekleidet, geschützt. Sie fürchtete sich nicht mehr so sehr vor der Thénardier, Sie war nicht mehr allein, sie besaß Einen, der sie vertheidigte.

Wie gewöhnlich hatte sie sich am Morgen schnell an ihre Arbeit gemacht. Aber das Goldstück in ihrer Tasche ließ ihr keine Ruhe. Sie wagte nicht, es anzurühren. Nur von Zeit zu Zeit sah sie in ihre Tasche hinein und weidete sich wohl fünf Minuten hintereinander an seinem Glanze, wobei sie zum Zeichen ihrer Bewunderung die Zunge weit aus dem Munde hängen ließ.

Während einer dieser Bewunderungspausen kam die Thénardier herzu, um sie auf Wunsch ihres Mannes zu holen. Merkwürdiger Weise versetzte sie ihr keinen einzigen Puff und schalt sie nicht aus. Sie sagte mit einer beinah sanften Stimme:

»Cosette, komm sofort!«

Einen Augenblick darauf stand sie in der Gaststube vor dem Fremden.

Dieser knüpfte das Bündel, das er mitgebracht hatte, auf. Es enthielt ein wollenes Kinderkleid, eine Schürze, ein Barchent-Jäckchen, einen Unterrock, ein Umschlagetuch, wollene Strümpfe, Schuhe, kurz einen vollständigen Anzug für ein siebenjähriges Mädchen. Alles übrigens schwarz.

»Nimm diese Sachen, mein Kind und zieh’ sie Dir schnell an.«

Bei Tagesanbruch sahen die Leute, die zu der Zeit ihre Hausthüren aufmachten, in der Hauptstraße einen ärmlich gekleideten Mann und ein kleines Mädchen in Trauerkleidung mit einer Puppe auf dem Arm Hand in Hand. Sie wanderten in der Richtung nach Livry.

Niemand kannte den Mann und Viele erkannten Cosette nicht, da sie nicht mehr mit Lumpen bekleidet war.

Cosette ging. Mit wem? Wohin? Sie wußte es nicht. Sie verstand nur, daß sie das Thénardiersche Haus hinter sich ließ. Niemandem war es eingefallen, ihr Lebewohl zu sagen, so wenig, wie sie daran gedacht hatte, von irgend Jemand Abschied zu nehmen. Sie haßte die Andern, und die Andern haßten sie.

Ein armes, sanftes Wesen, dessen Liebefähigkeit unentwickelt geblieben war!

Mit ernster Miene und die weit geöffneten Augen zum Himmel emporgerichtet, ging sie neben dem Unbekannten her. Von Zeit zu Zeit neigte sie aber den Kopf und sah nach dem schönen Louisdor, den sie in der neuen Schürzentasche trug, um alsbald zu ihrem Wohlthäter emporzublicken. Ihr war zu Muthe, als halte der liebe Gott sie an der Hand.

Verrechnet

Frau Thénardier hatte, ihrer Gepflogenheit gemäß, ihren Mann gewähren lassen. Sie machte sich auf etwas großartiges gefaßt. Als der Fremde und Cosette fort waren, ließ Thénardier eine gute Viertelstunde verstreichen, ehe er sie bei Seite nahm und ihr die fünfzehnhundert Franken zeigte.

»Nicht mehr?« fragte sie.

Es war das erste Mal seit ihrer Verheiratung, daß sie sich unterfing, an ihrem Gebieter Kritik zu üben.

Der Hieb saß.

»Du hast Recht,« sagte er. »Ich bin ein Schafskopf. Gieb mir meinen Hut.«

Er steckte die drei Kassenscheine in seine Tasche und rannte in aller Eile davon, aber er ging irrthümlicher Weise zuerst nach rechts. Einige Nachbaren, bei denen er sich erkundigte, brachten ihn dann auf die richtige Fährte und benachrichtigten ihn, daß die Lerche und der Unbekannte nach Livry zu marschirt seien. Er kehrte also um und eilte den Beiden nach.

»Der Gelbe«, dachte er, »ist ein verkappter Millionär, und ich bin ein Rindvieh. Er hat einen Franken, dann fünf Franken, dann fünfzig, dann fünfzehnhundert hingegeben, und immer mit derselben Bereitwilligkeit. Er hätte auch fünfzehntausend Franken rausgerückt. Aber ich hole ihn noch ein.

Außerdem, daß er die Kleider für die Kleine bereit gehalten hat, das ist sehr sonderbar. Dahinter stecken Geheimnisse, und wenn man ein Geheimniß reicher Leute entdeckt hat, muß man’s sich zu Nutze machen. Man braucht bloß solch einen Schwamm richtig zu drücken, dann kommt, Gold heraus. Nein, was für ein Esel bin ich gewesen!«

Wenn man aus Montfermeil heraus ist und das Knie der Landstraße von Livry erreicht hat, kann man die Straße sehr weit überschauen. An diesem Punkte rechnete er sich aus, daß er den Fremden und das Kind zu Gesicht bekommen würde. Aber so weit er auch seine Blicke sandte, er sah sie nicht. Er erkundigte sich wieder bei den Vorübergehenden, aber damit ging Zeit verloren. Endlich erhielt er den Bescheid, die Beiden, die er suchte, hätten die Richtung nach Gagny eingeschlagen. Dahin eilte er ihnen dann nach.

Sie hatten einen Vorsprung, aber ein Kind geht langsam, und er lief schnell. Auch war er mit der Gegend gut vertraut.

Plötzlich blieb er stehen und schlug sich vor die Stirn, wie Jemand, der die Hauptsache vergessen hat und umkehren will.

»Ich hätte mein Gewehr mitnehmen müssen!«

Thénardier war eine jener zwiefach gearteten Naturen, denen wir im Leben oft begegnen, und die unerkannt an uns vorübergehen, weil das Schicksal nur eine ihrer beiden Seiten hervorkehrt. Thénardier hätte unter gewissen Bedingungen, in einer finanziell gesicherten Lebenslage, einen rechtschaffnen Geschäftsmann abgegeben, — natürlich nur, weil in einem solchen Beruf sein Vortheil Rechtschaffenheit erheischt hätte. Andrerseits hatte er aber auch den Stoff zu einem Schuft, einem Verbrecher, wenn gewisse andere Umstände und Anregungen gegeben waren. Satan mochte sich wohl bisweilen vor Thénardier niederkauern, ihn zu bewundern.

Nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, sagte er:

»Nein, sie hätten Zeit, mir zu entwischen.«

Und er setzte sich rasch wieder in Bewegung, in der sichern Erwartung des Erfolges, mit dem Spürsinn eines Fuchses, der eine Kette Repphühner wittert.

Er irrte sich auch nicht. Als er nämlich über die Teiche hinausgekommen war, und die große, rechts von der Bellevue-Allee gelegene Lichtung durchquerte, sah er hinter einem Strauch einen Hut, der viele Vermuthungen in ihm anregte. In der That saß dort der Fremde und neben ihm Cosette, die müde geworden war und der Erholung bedurfte.

»Entschuldigen Sie gütigst, mein Herr! keuchte er, von dem raschen Marsche erschöpft, aber hier bringe ich Ihnen Ihre fünfzehnhundert Franken wieder.«

Mit diesen Worten hielt er dem Fremden drei Kassenscheine hin.

Der Angeredete sah empor.

»Was soll das heißen?«

Thénardier antwortete in höflichem Ton:

»Das soll heißen, daß ich Cosette wieder haben will.«

Cosette erbebte und schmiegte sich ängstlich an ihren Beschützer.

Dieser sah seinem Gegner tief ins Auge.

»Sie — wollen — Cosette — wiederhaben?« sagte er, indem er die Wörter lang auszog.

»Ja wohl. Ich will Ihnen erklären, warum. Im Grunde genommen habe ich ja gar nicht das Recht, sie Ihnen anzuvertrauen. Ich bin ein gewissenhafter Mann. Das Kind gehört mir nicht. Nur ihre Mutter darf über sie verfügen. Nur der kann ich sie wiedergeben. Sie werden einwenden: Die Mutter ist aber gestorben. Gut! In dem Fall könnte ich das Kind nur Jemand übergeben, der mir etwas Schriftliches von der Mutter brächte. Das ist doch sonnenklar.«

Der Unbekannte griff, ohne zu antworten, in seine Tasche, und holte die unserm Freund Thénardier wohl bekannte Brieftasche hervor.

Den Kneipwirt durchfuhr ein freudiger Schreck.

»Hurrah!« dachte er. »Jetzt wollen wir uns mal zusammennehmen. Er wird mich bestechen wollen.«

Ehe er die Brieftasche öffnete, sah sich der Unbekannte nach allen Seiten um. Es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Dann nahm er nicht die Kassenscheine heraus, auf die Freund Thénardier sich spitzte, sondern ein Blatt Papier, das er auseinander faltete und dem Kneipwirt hinhielt.

»Sie haben Recht. Lesen Sie dies.«

Es war der Brief, den Fantine unterschrieben hatte, und in dem Thénardier aufgefordert wurde, dem Ueberbringer ihre Tochter Cosette zu übergeben.

»Kennen sie die Unterschrift?« fragte der Fremde.

Thénardier konnte nichts machen. Er empfand einen zwiefachen Ärger. Erstens weil ihm die gehofften Goldfüchse entschlüpft waren, und zweitens, weil er seinen Meister gefunden.

»Sie können den Zettel behalten, falls nach dem Verbleib Cosettens gefragt werden sollte.«

Thénardier trat den Rückzug an.

»Die Unterschrift ist ziemlich gut nachgeahmt,« brummte er. »Na, meinetwegen!«

Er besann sich aber alsbald eines Andern und machte noch einen verzweifelten Angriff auf die Börse seines Gegners.

»Sehr wohl. Diese Sache wäre also in Ordnung. Aber in dem Brief verspricht man auch, mir meine Auslagen wiederzuerstatten. Ich habe ganz bedeutende Forderungen.«

Der Fremde stand vom Boden auf und sagte, während er seinen Aermel von Staub befreite und Halme, Holzpritzelchen u. dgl. mit dem Mittelfinger wegschnellte:

»Herr Thénardier, im Januar schuldete Ihnen die Mutter einhundert und zwanzig Franken; Sie schickten ihr im Februar eine Rechnung über fünfhundert Franken. Sie haben Ende Februar dreihundert und Anfang März wieder dreihundert Franken erhalten. Seitdem sind neun Monate verflossen, was, den Monat zu fünfzehn Franken gerechnet, einhundertfünfunddreißig Franken ausmacht. Da Sie hundert Franken zu viel bekamen, haben Sie noch Anspruch auf fünfunddreißig Franken. Vorhin gab ich Ihnen fünfzehnhundert Franken.«

Herrn Thénardier war zu Muthe wie einem Wolf, wenn eine Falle ihn packt.

»Das ist ja ein Teufelskerl!« dachte er.

Dann machte er es wie der gefangene Wolf, er rüttelte an der Falle. Hatte er doch schon mit Frechheit einmal Erfolg gehabt.

»Herr Unbekannter,« sagte er entschlossen und den höflichen Ton aufgebend, »ich nehme Cosette wieder mit, oder Sie geben mir dreitausend Franken.«

»Komm, Cosette!« sagte ruhig der Fremde, ergriff ihre Hand mit seiner linken und langte mit der rechten seinen Stock von der Erde auf.

Thénardier bemerkte nur zu gut, wie stark der Knüttel, wie öde die Gegend war, und schaute den Beiden, die tiefer in den Wald hineingingen, unbeweglich und verdutzt nach.

Er betrachtete die breiten Schultern, die gewaltigen Fäuste seines Gegners, und verglich damit seine dünnen Arme und fleischlosen Hände. — »Ich muß doch wohl ein Dummkopf sein. Gehe auf die Jagd und nehme kein Gewehr mit!«

Gleichwohl fiel es ihm noch nicht ein, seine Beute fahren zu lassen.

»Ich muß wissen, wo er hingeht,« sagte er und folgte den Beiden in einer gewissen Entfernung.

Der Unbekannte marschirte mit Cosette auf Livry und Bondy zu. Er hielt den Kopf auf die Brust gesenkt, sah nachdenklich und schwermüthig aus und ging sehr langsam. Dazu kam, daß es Winter und das Laub von den Bäumen abgefallen war, so daß Thénardier sie nicht aus dem Gesicht verlor, und doch ziemlich weit hinter ihnen bleiben konnte. Aber der Unbekannte wandte sich hin und nieder um, ob ihm Niemand folge, und bemerkte endlich Thénardier. Sofort schlug er sich mit Cosette in ein Dickicht, wo sie leicht verschwinden konnten. — »Donnerwetter!« fluchte ihr Verfolger und verdoppelte seine Schritte.

Er kam ihnen auch näher, und als sie sich in dem dichtesten Theil des Dickichts befanden, drehte sich der Fremde um, und Thénardier gelang es nicht, sich so zu verstecken, daß er nicht bemerkt werden konnte. Der Fremde sah ihn mit einem sorgenvollen Blick an, schüttelte den Kopf und wanderte weiter. Der Gastwirth wieder hinter ihm her. So gingen sie zwei- bis dreihundert Schritte weit. Da wandte sich der Fremde wieder und bemerkte seinen Verfolger, sah ihn aber dies Mal in einer so unheimlichen Weise an, daß Thénardier einsah, es sei »unnütz«, ihm weiter nachzulaufen und umkehrte.

Cosette gewinnt das große Loos mit Nr. 9430

Jean Valjean war nicht umgekommen.

Als er in das Meer fiel oder vielmehr sich fallen ließ, war er, wie schon angegeben, von seiner Kette befreit. Er konnte also leicht unter Wasser bis zu einem Schiff, das vor Anker lag, schwimmen, kletterte in ein Boot, das an das Schiff angebunden war und verbarg sich darin bis zum Abend. Als es dunkel geworden, schwamm er weiter und stieg in einiger Entfernung von dem Cap Brun ans Land. Hier konnte er sich, da er an Geld keinen Mangel litt, andere Kleider verschaffen. Diesen Umtausch bewerkstelligte er in einer Schänke bei Balaguier, deren Wirt nebenbei dies einträgliche Geschäft zum Nutzen und Frommen der entsprungenen Galeerensklaven betrieb. Dann wanderte Jean Valjean, wie alle die unglücklichen Flüchtlinge, die versuchen müssen, die Schergen des Gesetzes und der Gesellschaft von ihrer Spur abzubringen, auf Nebenwegen und in einer gewundenen Linie, in das Land hinein. Endlich kam er nach Paris, wo er sich zu allererst angelegen sein ließ, sich mit einem Traueranzug für ein sieben bis achtjähriges Mädchen zu versehen und sich eine Wohnung zu miethen. Hierauf hatte er sich nach Montfermeil begeben.

Zum Glück hielt man ihn für tot, und dies verdichtete das Dunkel, das ihn umgab. In Paris fiel ihm auch eine Zeitung in die Hand, in der er die Notiz las, daß er verunglückt sei. Das beschwichtigte seine Besorgnisse und ließ wieder etwas Ruhe in sein Gemüth einziehen, beinahe so viel, als wenn er wirklich gestorben wäre.

Noch an dem Abend des Tages, wo er Cosette den Klauen der Thénardiers entrissen, kam er mit ihr in Paris an. Hier stieg er in ein Kabriolett, das ihn nach der Esplanade des Observatoriums brachte. Von dort aus wanderten Beide durch eine Menge öder Straßen nach dem Boulevard de l’Hôpital.

Es war ein merkwürdiger und ereignißreicher Tag für Cosette gewesen. Sie hatten, hinter Hecken versteckt, Brod und Käse, das sie in abgelegenen Gastwirthschaften gekauft, essen müssen, waren bald in diese, bald in jene Diligence gestiegen, hatten manche Strecken zu Fuß zurückgelegt. Cosette klagte nicht, aber sie war müde; das machte sich bemerkbar, indem sie sich von Jean Valjean ziehen ließ. Er mußte sie endlich auf den Rücken nehmen und den Kopf an seine Schulter gelehnt, schlief sie, ohne Kathrinen loszulassen, fest ein.

Das Gorbeausche Haus

Meister Gorbeau

Vor vierzig Jahren, also um 1823, gelangte der Spaziergänger, der sich in die abgelegene Umgegend der Salpêtrière wagte und den Boulevard bis zur Barrière d’Italie hinaufging, in ein Gebiet, wo ihm Paris, so zu sagen, allmählich entschwand. Es war gerade keine Einöde, denn es kamen Fußgänger hierdurch; es war nicht das flache Land, denn man sah Häuser und Straßen; es war keine Stadt, denn die Straßen hatten tiefe Geleise, wie Feldwege und waren mit Gras bewachsen; es war kein Dorf, denn dazu erhoben sich die Häuser zu hoch. Jedenfalls aber war es in diesem Theil von Paris des Nachts unheimlicher, wie in einem Walde und am Tage so ungemüthlich, wie auf einem Kirchhofe.

Die Gegend hieß das Quartier des Marché-aux-Chevaux. In dem ödesten Theil dieses Stadtviertels, in der Nähe der Rue des Vignes-Saint-Marcel stand zwischen zwei Gartenmauern ein Haus, das auf den ersten Blick klein wie eine Hütte aussah und in Wirklichkeit so groß wie eine Kathedrale war. Dies lag daran, daß es mit der schmalen Seite an die Straße stieß und man zuerst nur eine Thür und ein Fenster sah. Zudem hatte es nur ein Stockwerk.

Diese Thür bestand aus wurmstichigen Brettern, die durch schlecht behauene plumpe Querleisten mühsam zusammengehalten waren. Sie stieß fast unmittelbar an eine sehr steile Treppe mit hohen Stufen. Ueber der Thüröffnung sah man ein Schindelbrett mit einem dreieckigen Loch, das eine Luke, ein Guckfenster vorstellte und mit überaus zweideutigen, staubigen Lappen drapirt war.

Die Treppe führte zu einem langen Flur empor, zu dessen beiden Seiten leidlich bewohnbare Zinnner von verschiedener Größe lagen. Von den Fenstern dieser Räume hatte man eine trübselige Aussicht auf die wenig bebaute, unschöne Umgegend.

Die Briefträger nannten dies Haus Nr. 50 und 52, aber bei den Leuten der Nachbarschaft hieß es das Gorbeausche Haus, nach seinem ehemaligen Eigenthümer Meister Gorbeau.

Das Nest des Uhus und der Lerche

Vor diesem Hause hielt Jean Valjean an.

Er griff in seine Westentasche, langte einen Hausschlüssel hervor, schloß die Thür auf und ging, indem er noch immer Cosette auf dem Rücken trug, die Treppe hinauf. Oben angelangt, schloß er mit einem zweiten Schlüssel eine andere Thür auf. Das Zimmer, das er jetzt betrat, war ziemlich geräumig und enthielt eine Matratze, die auf der bloßen Erde lag, einen Tisch, ein paar Stühle und in einer Ecke einen eisernen Ofen, in dem ein lustiges Feuer brannte. Im Hintergrunde sah man ein Gurtbett. Auf dieses legte Jean Valjean die Kleine, ohne daß sie munter wurde.

Dann schlug er Feuer und zündete ein Licht an, das schon auf dem Tische bereit stand und betrachtete, wie in der verflossenen Nacht, Cosette mit Blicken, aus denen überschwängliche Güte und Rührung sprach. Die Kleine ihrerseits schlief ruhig und mit der Vertrauensseligkeit, die nur die höchste Kraft und die höchste Schwäche verleihen kann.

Jean Valjean neigte sich nieder und küßte dem Kinde die Hand, wie neun Monate zuvor die Hand der gleichfalls schlafenden Mutter.

Dasselbe wehevolle, andächtige, übermächtige Gefühl erfüllte jetzt wieder sein Herz.

Es war schon heller Tag, als das Kind noch immer schlief. Plötzlich polterte ein schwer beladener Rollwagen an dem Hause vorüber und erschütterte es in seinen Grundfesten.

»Gleich, gleich, Frau Wirtin!« rief Cosette mit ängstlicher Stimme, wälzte sich hastig vom Bett herunter und streckte, noch schlaftrunken, den Arm nach der einen Zimmerecke aus.

»Mein Besen! Wo ist denn mein Besen!«

Jetzt machte sie die Augen ganz auf und sah Jean Valjean, der ihr freundlich zulächelte.

»Ach so! Guten Tag!«

Kinder machen sich rasch mit Freude und Glück vertraut. Besteht doch ihr Wesen aus Glück und Freude.

Dann bemerkte sie Kathrinen, die am Fußende ihres Bettes lag und that, während sie mit der Puppe spielte, hundert Fragen an Jean Valjean. Wo sie wäre? Ob Paris groß sei? Ob auch Frau Thénardier nicht kommen würde? U. s. w. Plötzlich sah sie sich im Zimmer um und rief entzückt: »Wie hübsch das hier ist!«

Es war eine greuliche Bude, aber sie war ja jetzt von ihren Tyrannen befreit.

»Soll ich fegen?« fragte sie ein ander Mal.

»Spiele!« antwortete Jean Valjean.

So verging der ganze Tag. Cosette fühlte sich unaussprechlich glücklich in der Gesellschaft ihrer Puppe und ihres Wohlthäters, ohne daß sie sich über ihre Beziehungen zu ihm viel Kopfzerbrechen machte.

Unglück und Unglück zusammenaddirt giebt Glück

Bei Tagesanbruch stand Jean Valjean wieder an Cosettens Bett und wartete regungslos, bis sie erwachen würde.

Es zog jetzt etwas Neues in seine Seele ein.

Jean Valjean hatte nie in seinem Leben irgend ein menschliches Wesen geliebt. Seit seinem fünfundzwanzigsten Jahr stand er allein in der Welt da. Er war niemals Vater, Bräutigam, Ehemann oder Jemandes Freund gewesen. Im Zuchthaus war er bösartig, trübsinnig, keusch, unwissend und menschenfeindlich. Seiner Schwester und ihrer Kinder erinnerte er sich so gut, wie gar nicht mehr. Er hatte alles Menschenmögliche gethan, um sie wiederzufinden, und als diese Versuche fruchtlos ausfielen, sie vergessen. Die andern, zarteren Regungen seiner Jugend waren, wenn er deren überhaupt empfunden hatte, längst gestorben.

Als er Cosette sah, als er sich ihrer bemächtigt und sie befreit hatte, fühlte er eine vollständige Umwälzung in seinem innern Menschen. Seine ganze Liebefähigkeit wurde wach und widmete sich dem Kinde.

Es war dies die zweite Einkehr in sein Innerstes, die zweite größte Veränderung seines moralischen Ichs. Der Bischof hatte ihm die Sonne der Tugend gezeigt; jetzt ging in seinem Herzen die Morgenröthe der Liebe auf.

Auch Cosette wurde, ohne es zu merken, eine Andere. Sie war, als ihre Mutter von ihr ging, so klein, daß sie sich ihrer nicht mehr erinnerte. Dann hatte sie, wie die Weinrebe sich an Alles anklammert, Menschen gesucht, die sie lieben würden. Aber Jedermann hatte sie abgewiesen, die Thénardiers, Eponine, Azelma, und andere Kinder. Sie hatte den Hund geliebt, der aber war gestorben. Jetzt wo sie erst acht Jahre zählte, hatte das bejammernswerte Geschöpfchen ein kaltes Herz. Ohne ihre Schuld. Nicht die Fähigkeit, Liebe zu empfinden, die Möglichkeit, sie zu bethätigen, fehlte ihr. Deshalb durchdrang gleich am ersten Tage Liebe zu ihrem Wohlthäter alle ihre Gedanken und Gefühle. Sie hatte eine Empfindung, die sie bis jetzt nicht gekannt, daß sie ihre geistigen und sittlichen Anlagen entfalten konnte. Ihr Wohlthäter kam ihr nicht mehr alt vor, noch arm. Sie fand Jean Valjean’s Gesicht schön, so wie sie seine armselige Stube für hübsch erklärte.

Dergleichen glückliche Wirkungen bringt die Morgenröthe, die Kindheit, die Jugend, die Freude hervor. Sie werfen bunte, herrliche Lichtreflexe auf die elendeste Hütte und lassen sie prächtig wie ein Palast erscheinen. Solch einen Palast hat ja wohl ein Jeder von uns einst gehabt.

Die Natur — Jean Valjean war neunundfünfzig, Cosette acht Jahre alt — hatte zwischen Beide einen tiefen Graben gezogen, aber das Schicksal füllte ihn aus und ermöglichte, daß diese, durch ihr Alter so verschiedenen, durch ihr Unglück einander so ähnlichen Wesen sich vereinigten. Eine von diesen entwurzelten Existenzen ergänzte die andere. Cosettens Instinkt suchte einen Vater, und Jean Valjean sehnte sich nach einem Kinde. Sich begegnen und sich finden, bedeutete für Beide dasselbe.

Jean Valjean’s Zufluchtsort war gut gewählt; er durfte hoffen, daß er hier in völliger Sicherheit leben würde.

Sein Zimmer war das einzige im Hause, dessen Fenster auf den Boulevard hinausging, und da er kein Gegenüber hatte, brauchte er nicht zu fürchten, daß er beobachtet werden könnte.

Das Erdgeschoß des Hauses, eine Art Schuppen, diente als Remise für Gärtner und Gemüsebauern. Dieser Raum hatte keine Verbindung mit dem ersten Stock, wo Jean Valjean wohnte. Hier oben waren noch verschiedene Wohn- und Bodenräume, aber nur der eine davon war bewohnt, von der alten Frau, die Jean Valjeans Wirtschaft besorgte.

Diese Alte, die Vicewirtin des Hauses, hatte zu Weihnachten das Zimmer an ihn vermiethet. Er hatte sich ihr gegenüber für einen ehemaligen reichen Mann ausgegeben, der durch die Entwertung der spanischen Obligationen ruinirt worden sei, und daß seine Enkelin bei ihm wohnen werde. Er zahlte dann sechs Monat Miethe voraus und beauftragte die Alte, Möbel für dies Zimmer und Kabinett zu kaufen, zur rechten Zeit Feuer im Ofen zu machen und überhaupt Alles für seine Ankunft bereit zu halten.

Eine Woche verging nach der andern, und die Beiden führten in ihrer erbärmlichen Bude ein glückliches Leben.

Vom frühsten Morgen an war Cosette auf den Beinen und lachte, plapperte, sang nach Herzenslust, munter wie ein Vögelchen.

Zeitweise schien sie ernst gestimmt und betrachtete ihren schwarzen Anzug. Sie war nicht mehr in Lumpen gehüllt, sie trug Trauerkleidung. Also hatte sie das Elend hinter sich und war in das Leben eingetreten.

Jean Valjean begann, sie das Alphabet zu lehren. Bei diesem Unterricht kehrte er bisweilen im Geiste zu jener Zeit zurück, wo er im Bagno lesen gelernt hatte, um desto mehr Böses thun zu können. Und nun sollte diese Idee zu etwas so ganz Anderem ausschlagen! Jetzt war er Lehrer eines kleinen Mädchens geworden. Wenn er an diese Verändrung dachte, umspielte die Lippen des Galeerensklaven ein glückliches, verklärtes Lächeln.

Cosette lesen lehren und sie spielen lassen, darin ging so ziemlich Jean Valjeans Leben jetzt auf. Außerdem erzählte er ihr von ihrer Mutter und ließ sie Gebete lernen.

Sie nannte ihn Vater und kannte ihn bei keinem andern Namen.

Ganze Stunden brachte er damit zu, ihr zuzusehen, wie sie ihre Puppe an- und auskleidete, und ihrem fröhlichen Geplauder zuzuhören. Das Leben hatte jetzt eine Interesse für ihn. Die Menschen schienen ihm gut und gerecht, er klagte Niemanden mehr an und sah keinen Grund, warum er nicht recht alt werden sollte, nun ihn Cosette lieb hatte. Sie würde ihm, dachte er, eine lichte Zukunft bringen, und da ja auch die Besten von selbstsüchtigen Nebengedanken nicht frei sind, empfand er eine gewisse Freude darüber, daß sie voraussichtlich häßlich sein werde.

Wir wollen hier eine rein persönliche Meinung einschalten, aber bei dem Seelenzustande, in dem sich Jean Valjean damals befand, bedurfte es wohl einer Begegnung mit einem Wesen, das er lieben konnte; sonst hätte er nicht im Guten beharrt. Er hatte gerade die Bosheit der Menschen und das Elend der Gesellschaftsordnung von einer neuen Seite kennen gelernt, die ihm freilich nur einen Theil der Wahrheit zeigte, das Loos des Weibes in der Gestalt Fantinens und die Obrigkeit, insofern sie durch Javert vertreten wurde. Dies Mal war er ins Zuchthaus zurückgewandert, weil er Gutes gethan, und neue Bitterkeit, Ekel, Lebensüberdruß erfüllte ihn ganz und gar; sogar die Erinnerung an den Bischof war schon etwas verblaßt und bedurfte einer Belebung, um wieder hell erstrahlen zu können. Wer weiß, vielleicht war Jean Valjean nahe daran, den Muth zu verlieren und wieder in die Gewalt des Bösen zu gerathen. Aber sobald er Liebe hegen lernte, fühlte er sich wieder gestärkt. Leider war er ja nicht minder schwach, als die kleine Cosette. Er beschützte sie, und sie verlieh ihm Kraft. Ihm dankte sie es, wenn sie durch das Leben kommen konnte, durch sie konnte er tugendhaft bleiben. Eins stützte das Andere. Wie wunderbarer Mittel bedient sich doch das Schicksal, um die sittlichen Kräfte im Gleichgewicht zu erhalten!

Was die Vicewirtin beobachtete

Jean Valjean gebrauchte die Vorsicht, nie bei Tage auszugehen. Jeden Abend machte er einen Spaziergang von ein oder zwei Stunden, manchmal allein, öfter noch mit Cosette und suchte dann die einsamsten Nebenalleen der Boulevards auf. In die Kirche — er bevorzugte Saint-Médard wegen der Nähe — ging er des Nachts. Wenn er Cosette nicht mitnahm, blieb sie bei der Alten; sie zog seine Gesellschaft aber vor und entsagte sogar ihm zu Liebe gern den traulichen Gesprächen mit Kathrinen. Er hielt sie dann immer bei der Hand und unterhielt sich mit ihr.

Bei diesem Leben gewann Cosettens Charakter natürlich sehr an Heiterkeit.

Die Alte führte die Wirtschaft, kochte, und besorgte die Einkäufe für Jean Valjean.

Sie lebten frugal; er ließ wohl einheizen, im Ganzen aber war die Haushaltung eine überaus bescheidene. Das von der Vicewirtin angeschaffte Mobiliar veränderte er nicht; nur ließ er an Stelle der Glasthür, die zu Cosettens Kabinett führte, eine Vollthür einsetzen.

Er trug noch immer seinen gelben Rock, seine schwarze Kniehose und seinen alten Hut. Auf der Straße hielt man ihn für einen Armen und es kam vor, daß gutmüthige Leute ihm eine Kupfermünze in die Hand drückten. Die nahm er an und dankte mit einer tiefen Verneigung. Bisweilen begegnete er aber doch einem Armen, der ihn um eine milde Gabe bat; dann drehte er sich um, ob Niemand ihn sehe, trat verstohlen an den Unglücklichen heran, gab ihm eine Kupfer- oder Silbermünze und machte sich dann eiligst aus dem Staube. Das hatte einen Uebelstand. Er wurde nämlich in dem Stadtviertel bekannt, als »der Bettler, der Almosen gab.«

Die alte Vicewirtin, eine mürrische und neidische Person, beobachtete Jean Valjean unausgesetzt, ohne daß er eine Ahnung davon hatte. Sie war schwerhörig und in Folge dessen geschwätzig. Zu Anfang versuchte sie Cosettte auszuforschen: diese aber konnte, da sie nichts wußte, auch nichts sagen, außer daß sie aus Montsermeil kam. Eines Morgens aber sah die Aufpasserin Jean Valjean sonderbarer Weise in einen der unbewohnten Räume des ersten Stocks hineingehen. Sie schlich sich in das gegenüberliegende Zimmer und beobachtete von hier aus ihren geheimnißvollen Miether, der — offenbar aus Vorsicht — mit dem Rücken gegen die Thür stand. Da beobachtete sie, wie er ein Etui, eine Scheere und Zwirn aus der Tasche nahm, den einen Schoß seines gelben Rockes auftrennte und ein Stück gelbliches Papier herauszog, daß die Alte als einen Tausendfrankenschein erkannte. Es war erst der zweite oder dritte, den sie in ihrem ganzen Leben gesehen, und sie bekam einen solchen Schreck, daß sie davonrannte.

Einen Augenblick darauf kam Jean Valjean zu ihr und bat, sie möchte einen Tausendfrankenschein wechseln gehn; er habe Tags zuvor seine halbjährlichen Zinsen bekommen. — »Wo?« dachte die Alte. »Er ist erst um sechs Uhr Abends ausgegangen, und zu der Zeit ist das Bureau gewiß nicht geöffnet.« Die Alte wechselte den Schein und meldete die Geschichte samt ihren Mutmaßungen und Ausschmückungen allen Gevatterinnen der Umgegend, die darüber in eine nicht geringe Aufregung geriethen.

An einem der folgenden Tage trug es sich zu, daß Jean Valjean in Hemdsärmeln auf dem Flur Holz sägte, während die Alte das Zimmer aufräumte. Sie war allein, denn Cosette sah auf dem Flur ihrem Pflegevater zu. Da bemerkte die alte Spionin Jean Valjeans Rock an einem Nagel und unterzog ihn einer gewissenhaften Untersuchung. Die Naht war wieder zugenäht, und als sie ihn betastete, fühlte sie dicke Stöße Papier in den Schößen und um die Aermelausschnitte. Kein Zweifel! Das waren wieder Tausendfrankenscheine.

Außerdem konstatirte sie, daß alle möglichen Sachen in den Taschen steckten. Abgesehen von dem Zwirn, den Nadeln, der Scheere, die sie schon gesehen, auch eine große Brieftasche, ein sehr großes Messer und, was doch sehr verdächtig war, mehrere Perrücken von verschiedener Farbe. Offenbar führte der Besitzer des Rockes alle diese Sachen für gewisse Fälle immer mit sich.

So kamen die letzten Tage des Winters heran.

Ein Fünffrankenstück, das Lärm macht

Unweit der Kirche Saint-Médard pflegte auf dem Randstein eines zugeschütteten Gemeindebrunnens ein Bettler zu hocken, dem Jean Valjean gern ein Almosen gab und den er auch bisweilen anredete. Die Konkurrenten dieses Bettlers behaupteten, er stehe im Solde der Polizei. Es war ein fünfundsiebzigjähriger, ehemaliger Kirchendiener, der immerzu Gebete murmelte.

Eines Abends, als Jean Valjean ohne Cosette an dieser Stelle vorüberkam, saß der Bettler wieder da, unter der so eben angezündeten Laterne. Wie gewöhnlich schien der Mann zu beten und hielt sich stark nach vorn geneigt. Jean Valjean ging auf ihn zu und drückte ihm ein Almosen in die Hand. Der Bettler sah empor, faßte Jean Valjean scharf ins Alge und beugte sich dann rasch wieder herunter. Jean Valjean zuckte zusammen, als sei ein Blitzstrahl vor ihm niedergefahren. Ihm däuchte, er habe nicht den alten scheinheiligen Kirchendiener, sondern ein anderes ihm wohlbekanntes und fürchterliches Gesicht gesehen. Es ward ihm zu Muthe wie Einem, der unversehens einem Tiger gegenüber steht. Er trat erschrocken, halb gelähmt zurück und wagte weder zu athmen, noch zu sprechen, weder zu bleiben noch davon zu laufen, während der Bettler den Kopf gesenkt hielt und ihn nicht mehr zu beachten schien. Vielleicht war es der Instinkt, der Trieb der Selbsterhaltung, der Jean Valjean davon abhielt, einen Laut von sich zu geben. Allmählich beruhigte er sich aber etwas, als er sah, daß die äußere Erscheinung des Bettlers, seine Statur, seine zerlumpte Kleidung dieselbe war wie alle Tage.

»Unsinn! Mir träumt! Es ist ja unmöglich!«

Aber die Gemüthserschütterung war eine sehr tiefe, nachhaltige.

Als er in der Nacht über den Vorfall nachsann, bereute er, daß er den Mann nicht angeredet und ihn genöthigt hatte, sich noch einmal aufzurichten.

Am nächsten Abend kehrte er zu derselben Stelle wieder zurück. Auch der Bettler saß wieder da. — »Guten Tag, alter Freund!« redete ihn Jean Valjean entschlossen an und gab ihm einen Sou. Der Bettler richtete sich auf und sagte mit kläglicher Stimme: »Vielen Dank, guter Herr!« — Es war der alte Kirchendiener.

Jean Valjean fühlte sich vollkommen beruhigt und lachte über sich. »Wie in aller Welt bin ich dazu gekommen, Den für Javert zu halten!« dachte er.

Einige Tage darauf — es mochte acht Uhr Abends sein — saß er in seinem Zimmer und ließ Cosette laut buchstabiren, als er unten die Hausthür gehen hörte. Das fiel ihm auf. Die Alte, die einzige Bewohnerin des Hauses außer ihm, ging, um Licht zu sparen, mit Anbruch der Nacht zu Bett. Jean Valjean winkte also Cosette, sie möge sich still verhalten, und hörte, wie Jemand die Treppe heraufkam. Es konnte die Alte sein; vielleicht war sie unwohl geworden und zum Apotheker gegangen. Jean Valjean horchte. Es waren schwere Tritte, die wohl von einem Manne herrührten; aber die Vicewirtin trug schweres Schuhzeug, und alte Frauen treten fast eben so schwer auf, wie Männer. Immerhin blies Jean Valjean sein Licht aus und flüsterte Cosetten die Worte ins Ohr: »Geh’ recht leise zu Bett!« Während er sie auf die Stirn küßte, hörte das Geräusch der Schritte auf und Jean Valjean blieb unbeweglich und mit verhaltenem Athem, mit dem Rücken gegen die Thür, auf seinem Stuhl sitzen. Nach einer geraumen Weile, als er nichts hörte, wendete er sich geräuschlos um und sah durch das Schlüsselloch einen Lichtschein. Offenbar stand da Jemand mit einem Licht in der Hand und horchte.

Nach einigen Minuten zog sich der Lauscher zurück, ohne daß Jean Valjean Geräusch von Schritten vernahm. Der Betreffende mußte also wohl seine Stiefel ausgezogen haben.

Jean Valjean legte sich vollständig angekleidet auf sein Bett und konnte die ganze Nacht hindurch kein Auge zuthun.

Bei Tagesanbruch, als er vor Müdigkeit eben anfing einzuschlummern, weckte ihn das Geknarr einer Thür, das von dem anderen Ende des Flurs an sein Ohr drang, und dann hörte er dieselben Schritte, wie am vergangenen Abend. Er stand rasch auf und sah durch das ziemlich große Schlüsselloch. Er erblickte einen Mann, der dies Mal, ohne anzuhalten, an seinem Zimmer vorüberging. Der Flur war noch zu dunkel, als daß man das Gesicht hätte unterscheiden können; aber als der Mann an der Treppe anlangte, fiel das Licht von draußen so, daß die Umrisse der Gestalt sich scharf abzeichneten, und Jean Valjean konnte ihn gerade von hinten sehen. Es war ein Mann von hohem Wuchse, der mit einem langen Rock bekleidet war und einen Knüttel unter dem Arm trug. Er hatte einen gewaltigen Nacken, der an Javert erinnerte.

Jean Valjean hätte einen Versuch machen können, ihn, sobald er auf der Straße sein würde, durch sein Fenster zu beobachten. Aber er hätte dazu das Fenster aufmachen müssen und das wagte er nicht.

Als die Alte um sieben Uhr Morgens kam, um das Zimmer in Ordnung zu bringen, warf ihr Jean Valjean einen durchdringenden Blick zu, fragte sie aber nicht. Sie war wie gewöhnlich.

Während sie aber fegte, sagte sie:

»Sie haben gewiß diese Nacht Jemand kommen hören?«

Für sie, die hochbejahrte Frau, war, namentlich in einem solchen Stadtviertel acht Uhr Abends schon tiefe Nacht.

»Ja richtig!« rief er, scheinbar ganz unbefangen. »Wer war denn das?«

»Ein neuer Miether, den wir jetzt im Hause haben.«

»Wie heißt er?«

»Ich kann mich nicht mehr genau entsinnen. Dumont oder Daumont. So ungefähr.«

»Was ist er?«

Die Alte sah ihn mit ihren listigen Augen an und antwortete:

»Rentier, wie Sie.«

Sie dachte sich bei dieser Antwort vielleicht nichts Besonderes, aber Jean Valjean traute ihr in dem Augenblick Hintergedanken zu.

Gleich nachdem die Alte fortgegangen war, legte er hundert Franken, die er im Schrank zu liegen hatte, zu einer Rolle zusammen und steckte sie in seine Tasche. So vorsichtig er aber dabei auch zu Werke ging, damit Niemand ihn hören sollte, so glitt ihm doch ein Fünffrankenstück aus der Hand und rollte mit großem Geräusch auf dem steinernen Fußboden herum.

Beim Einbruch der Nacht ging er hinunter und sah sich auf dem Boulevard nach allen Seiten um. Er sah Niemand. Der Boulevard war vollständig menschenleer. Allerdings konnte sich Einer hinter den Bäumen versteckt haben.

Nun stieg er wieder in sein Zimmer hinauf, nahm Cosette bei der Hand und ging mit ihr davon.

Eine stumme Meute

Strategischer Zickzack

Hier müssen wir, des besseren Verständnisses wegen, eine persönliche Bemerkung einschalten.

Der Verfasser dieses Buches weilt nun schon viele Jahre fern von Paris, und während dieser Zeit hat sich die Stadt sehr verändert. Vielleicht nennt er dem Leser Straßen und führt ihn in Häuser, die gegenwärtig nicht mehr existiren, und die man jetzt vergeblich suchen würde. Er kennt die neue Stadt nicht, ihm schwebt nur das alte Paris vor, und man gestatte ihm deshalb von dieser Vergangenheit zu sprechen, als wenn sie in die Gegenwart hineinreiche.

Jean Valjean wandte sich sofort von dem Boulevard in die Straßen, wobei er eine gebrochene Linie beschrieb und öfters eine Strecke zurückging, um zu sehen, ob ihm Niemand folge.

Es ist dies eine List, der sich der Hirsch bedient, um seine Verfolger zu täuschen. Er geht erst nach der einen Richtung, dann noch einmal nach der entgegengesetzten über eine Strecke Erdreich hin, in dem seine Fährte sichtbar bleibt. Jäger und Hunde wissen dann nicht, nach welcher Gegend er sich difinitiv gewendet hat. Man nennt dies die falsche Rückkehr des Hirsches.

Es war Vollmond, ein für Jean Valjean vorteilhafter Umstand. Denn da der Mond noch weit unten am Horizont stand, warfen die Häuser in vielen Straßen auf der einen Seite breite Schatten, während die andere Seite desto greller beleuchtet wurde. Jean Valjean suchte natürlich die dunklen Stellen auf und behielt von dort aus die helle Seite der Straße im Auge. Vielleicht beobachtete er dabei nicht genug die beschatteten Stellen. Aber in den Nebenstraßen der Rue de Poliveau glaubte er gewiß zu sein, daß Niemand ihm folge.

Cosette marschirte neben ihm, ohne Fragen zu thun. In Folge des Ungemachs, das sie während der ersten sechs Jahre ihres Lebens erduldet hatte, war sie eine peinlich passive Natur geworden. Deshalb hatte sie sich, ohne sich dessen recht bewußt zu werden, an die Sonderbarkeiten ihres Beschützers und die Launen des Schicksals gewöhnt. Uebrigens hatte sie ja auch in seiner Nähe das Gefühl der Sicherheit.

Jean Valjean wußte ebenso wenig wie Cosette, wo er hinging. Wie sie auf ihn, so verließ er sich auf Gott. Ihm war, als werde auch er an der Hand geführt, von Einem, der größer war als er und unsichtbar. Ein bestimmtes Ziel, ein richtiger Plan schwebte ihm nicht vor. Ja, er war nicht einmal fest überzeugt, daß Daumont und Javert ein und dieselbe Person seien. Und gesetzt auch, es war Javert, so brauchte dieser ihn darum noch nicht ernannt zu haben. War er doch verkleidet und unkenntlich! Galt er doch allgemein für tot! Allerdings, seit einigen Tagen passirten Dinge, die ein bedenkliches Aussehen hatten. Mehr bedurfte er aber auch nicht. Er war entschlossen, nickt mehr in das Gorbeausche Haus zurückzukehren. Wie ein aus seinem Bau aufgescheuchtes Thier suchte er zunächst einen Versteck, um sich später nach einer neuen Wohnung umzusehen.

Jean Valjean durchwanderte kreuz und quer das Quartier Mouffetard, wo schon Alles schlief. Es herrschten hier noch förmlich mittelalterliche Bräuche. Herbergen gab es wohl, aber er ging nicht hinein, da keine ihm zusagte. Denn daß er seine etwaigen Verfolger von seiner Spur abgelenkt hätte, bezweifelte er nicht im Geringsten.

Als die Uhr der Kirche Saint-Etienne-du-Mont elf schlug, kam er Rue de Pontrise Nr. l4, an dem Polizeibureau, vorbei. Instinktmäßig wendete er sich noch einmal um und sah deutlich, dank der Laterne, die sie beschien, drei Männer, die ihm dicht auf den Fersen waren, hintereinander an der Laterne vorbeikommen. Einer von ihnen trat in das Haus hinein. Derjenige, der an der Spitze marschierte, sah ihm höchst verdächtig aus.

»Komm, Kind!« sagte er zu Cosette und eilte aus der Rue de Pontoise hinaus.

Er machte einen Umweg, umging die Passage des Patriarches, die wegen der Nacht geschlossen war, durchmaß die Rue de l’ Epée de Bois und die Rue de l’ Arbaléte und bog in die Rue des Postes ein.

In letzterer Straße ist ein Kreuzweg, an der Stelle, wo heutzutage das Rollinsche Gymnasium steht und die Rue Neuve-Sainte-Geneviève sich abzweigt.

An dieser Ecke angelangt, wo der Mond sehr hell schien, verbarg sich Jean Valjean in einem Thorweg. Falls die Drei ihm noch nachsetzten, sagte er sich, würde er sie gut sehen können, sobald sie auf den grell beleuchteten Platz treten würden.

In der That verstrichen kaum drei Minuten, so wurde er seiner Verfolger ansichtig. Es waren jetzt ihrer vier, alle vier von hohem Wuchse, mit langen braunen Röcken bekleidet, mit runden Hüten auf dem Kopfe und mit gewichtigen Stöcken bewaffnet.

Sie blieben mitten auf dem Platz stehen und traten einander gegenüber, als wollten sie berathschlagen. Sie sahen unentschieden aus. Derjenige, der der Anführer zu sein schien, wandte sich zu den Andern um und wies nach der Richtung, die Jean Valjean eingeschlagen hatte; ein Anderer zeigte mit einer gewissen Beharrlichkeit nach der entgegengesetzten Gegend. In dem Augenblick aber, wo der Erste sich umdrehte, fiel das Mondlicht voll auf sein Gesicht, und Jean Valjean erkannte deutlich Javert.

Ein Glück, daß auf dem Pont d’Austerlitz Wagen fahren

Für Jean Valjean war es also mit aller Ungewißheit vorbei, zu seinem Glück aber keineswegs für seine Verfolger. Er machte sich diesen Umstand zu Nutze und gewann Zeit, die sie verloren. Rasch kam er aus dem Thorweg hervor und eilte die Rue des Postes entlang in der Richtung des Jardin des Plantes. Cosette fing jetzt an müde zu werden, und er mußte sie tragen. In der Straße war keine Menschenseele zu erblicken, und die Laternen waren wegen des hellen Mondscheins nicht angezündet.

Er verdoppelte seine Schritte und eilte an der Gobletschen Fabrik vorbei, ließ die Rue de la Clef und die Fontaine Saint-Victor hinter sich, und ging an dem Jardin des Plantes entlang, bis er an das Ufer der Seine gelangte. Hier wandte er sich um. Aber nirgends war ein lebendes Wesen zu sehen. Er athmete auf und rannte nach dem Pont d’Austerlitz.

Hier wurde damals noch Brückengeld erhoben.

Er legte dem Zollwächter einen Sou hin.

»Es kostet zwei Sous!« sagte der Invalide. »Sie tragen da ein Kind, das gehen kann.«

Er legte also noch einen Sou hin, ärgerte sich aber, daß sein Uebergang über die Brücke nicht glatt und in unauffälliger Weise abgegangen war. Wer auf der Flucht ist, darf sich nirgends aufhalten, Niemandes Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Zufälliger Weise fuhr gerade ein großer Wagen nach dem rechten Seineufer hinüber. Dies war ein günstiger Umstand, denn er konnte die Brücke im Schatten des Wagens überschreiten.

Ungefähr auf der Mitte der Brücke äußerte Cosette, der die Füße erstarrt waren, den Wunsch gehen zu dürfen. Er ließ sie herunter und nahm sie bei der Hand.

Drüben angekommen, bemerkte er vor sich, ein wenig rechts, Zimmerplätze, von denen ihn ein ziemlich breiter, hell erleuchteter Raum trennte. Er trug aber kein Bedenken, sich dorthin zu wagen. Seine Verfolger hatten gewiß seine Spur verloren, und er war außer Gefahr. Suchen mochten sie ihn ja noch; aber sie waren ihm nicht mehr auf den Fersen.

Auf der anderen Seite lag zwischen zwei Mauern eine enge, dunkle Straße, wie er sie brauchte. Aber ehe er sie betrat, sah er sich noch einmal um.

Von dem Punkte, wo er sich befand, konnte er die Brücke in ihrer ganzen Länge überblicken.

Da sah er an dem anderen Ende derselben vier Schatten. Er erschrak heftig. So waren sie also doch hinter ihm her!

Aber noch blieb ihm eine Hoffnung. Vielleicht kamen sie nicht herüber, vielleicht hatten sie ihn nicht bemerkt, als er mit Cosette an der Hand den hellen Platz durchquert hatte.

War dies der Fall, so brauchte er blos die kleine Straße vor ihm entlang zu gehen und glückte es ihm, die Zimmerplätze, die Gemüsefelder, die unbebaute Gegend zu erreichen, so konnte er seinen Feinden entrinnen.

Er wollte es also darauf ankommen lassen und wagte sich in die Straße hinein.

Siehe den Plan von Paris aus dem Jahre 1727

Nachdem Jean Valjean ungefähr dreihundert Schritte gegangen war, kam er an eine Stelle, wo die Straße, der Chemin-Vert-Saint-Antoine, sich spaltete, und links den Namen Rue Picpus, rechts den Namen Rue Polonceau annahm.

Er zögerte nicht und wählte die Straße rechts.

Warum?

Weil die linke Abzweigung nach der Vorstadt führte, während das unbebaute Land rechts lag.

Sie kamen nicht sehr schnell vorwärts. Cosette war sehr müde, und ihr Pflegevater mußte sie wieder auf den Arm nehmen.

Von Zeit zu Zeit drehte er sich um und überschaute die Straße, die ganz gerade war. Mehrere Male bemerkte er nichts Verdächtiges und schon fühlte er sich etwas beruhigt. Da sah er plötzlich hinter sich in der Dunkelheit einen Gegenstand, der sich bewegte.

Er stürzte mehr vorwärts, als daß er ging, in der Hoffnung eine Seitenstraße zu finden und seine Verfolger von seiner Spur ablenken zu können.

Am Ende der Rue Polonceau angelangt, konnte er nicht weiter nach derselben Richtung gehen, denn vor ihm versperrte ihm eine Mauer den Weg. Aber rechts und links lag eine Querstraße.

Es galt also wieder die Frage lösen, ob er rechts oder links gehen sollte.

Er blickte nach rechts. Dieser Theil der Querstraße, wo nur Schuppen und Scheunen lagen, war eine Sackgasse der Cul-de-Sac Genrot. Die große weiße Mauer, die sie hinten absperrte, hob sich deutlich genug ab.

Nun blickte er nach links. Diese Straße, die Rue Droit-Mur, war offen; sie mündete in die schon erwähnte Rue Picpus, deren links gelegenes Ende in den Chemin-Vert-Saint-Antoine zurückführte, während man rechts nach dem Markt Lenoir gelangte. Hier also winkte dem Verfolgten die Rettung.

In dem Augenblick aber, wo er sich nach dieser Richtung wandte, sah er an dem Ende der Rue Droit-Mur und an einer Ecke der Rue Picpus zweihundert Schritte vor sich eine Art schwarze Bildsäule, eine bewegungslose Gestalt.

Er fuhr zurück. Also auch nach dieser Seite hin war ihm der Weg abgeschnitten.

Gefangen wie ein Fisch im Netze! Er warf einen verzweifelten Blick zum Himmel empor.

Umhertastend

Um das Folgende zu verstehen, bedarf es einer richtigen Vorstellung von der Rue Droit-Mur und besonders des an der Ecke dieser Straße und der Rue Polonceau gelegnen Winkels. Die rechte Seite der Rue Droit-Mur nahmen bis zur Rue Picpus armselige Häuser ein; links stand ein großer Bau strengen Stils, der in mehrere Theile zerfiel. Diese Theile waren von verschiedener Höhe; der höchste grenzte an die Rue Picpus, das nächste war ein Stockwerk niedriger, und das letzte, nach der Rue Polonceau gelegne, hatte nur die Höhe der Umfassungsmauer. Dieselbe bildete da, wo die Rue Polonceau und die Rue Droit-Mur zusammenstießen, eine tief einspringende, verbrochne Ecke. Den einspringenden Winkel konnte man also von den beiden eben erwähnten Straßen aus nicht sehen.

Von der Spitze des einen vorspringenden Winkels erstreckte sich die Mauer an der Rue Polonceau bis zu einem Hause Nr. 49, und von der Spitze des andern, an der Rue Droit-Mur, bis zur Schmalseite des großen Gebäudes, mit der sie einen zweiten einspringenden Winkel bildete.

In der verbrochnen Ecke befand sich etwas, das einer kolossalen Thür ähnlich sah, eine Reihe senkrecht stehender Bretter, die durch eiserne, platte Querstäbe zusammengehalten wurden. Daneben war ein Thor von gewöhnlicher Größe.

Ueber die verbrochene Ecke ragten die Aeste einer Linde und nach der Rue Polonceau zu war die Mauer mit Epheu bewachsen.

Bei der Nähe der Gefahr hatte das düstere große Gebäude, das unbewohnt schien, etwas Verlockendes für Jean Valjean. Er überflog es mit einem Blick und sagte sich, wenn es ihm gelänge, du hineinzukommen, so würde er vielleicht gerettet sein.

In dem mittleren Theil der Straßenfront dieses Baues sah man an den Fenstern der verschiedenen Stockwerke alte bleierne Dachrinnenkessel. Von denselben liefen Leitungsröhren aus, die alle in eine Hauptgosse mündeten. Das ganze System von kleinen Canälen glich also einem Baum mit seinen Aesten,

Auf dieses eigenthümliche Spalier richtete Jean Valjean zuerst sein Augenmerk. Aber die Gosse war altersschwach, sämmtliche Fenster solide vergittert, die Facade hell erleuchtet, so daß der Mann an der Ecke der Rue Picpus Jean Valjean hätte beobachten können. Und Cosette oben hinauszuschaffen war auch ein Ding der Unmöglichkeit.

Er gab also diesen Gedanken auf und schlich sich an der Mauer entlang, zu Cosette zurück, die er in dem einspringenden Winkel der Rue Polonceau zurückgelassen.

Dort konnte er nicht beobachtet werden und befand sich im Schatten. Außerdem waren hier die beiden erwähnten Thore. Vielleicht gelang es ihm, eins davon zu forciren. Offenbar lag hinter der Mauer, über der er die Krone der Linde und den Epheu sah, ein Garten, in dem er sich vielleicht verstecken und den Rest der Nacht bleiben konnte.

Er versuchte es zunächst mit dem Thorweg. Diese Thür aber war von innen und außen verrammelt, so daß gegen sie nichts auszurichten war.

Eine Untersuchung der andern flößte ihm anfangs mehr Hoffnung ein. Sie war alt und morsch, die Bretter verfault, die Eisenbänder verrostet.

Aber eine genauere Prüfung ergab, daß diese Thür überhaupt keine Thür war. Sie hatte keine Angeln, kein Bandwerk, kein Schloß und durch die Ritzen zwischen den Brettern konnte man leicht erkennen, daß es ganz einfach die Holzbekleidung eines Gebäudes war.

Ein Königreich für einen Strick!

Jetzt hörte Jean Valjean ein dumpfes Geräusch in einer gewissen Entfernung. Er lugte vorsichtig hinter der Ecke hervor und erblickte sieben oder acht Soldaten, die soeben in die Rue Polonceau hineinmarschirten. Deutlich sah er die Bajonette im hellen Mondlicht blinken.

Der Trupp, an dessen Spitze er Javerts hohe Statur unterschied, rückte langsam vorwärts. Die Soldaten und die drei Polizisten durchforschten sorgsam alle Thorwege, Winkel und andere möglichen Verstecke und brauchten voraussichtlich eine Viertelstunde, ehe sie bis zu Jean Valjean herankamen. Eine so kurze Zwischenzeit trennte ihn von dem Abgrund, in den er nun zum dritten Mal gestürzt werden sollte. Und dies Mal stand ihm außer den Schrecknissen des Bagnos, noch die Trennung von Cosette bevor, ohne die ihm die Welt wie ein großes Grab erschien.

Es blieb ihm nur noch eine Möglichkeit auf Rettung übrig.

Jean Valjean war u. a. wie der Leser sich erinnern wird, ein vollendeter Meister in der unglaublichen Kunst, sich nur vermittelst seiner Muskelkraft, indem er sich mit dem Nacken, den Schultern, den Hüften, den Knieen anstemmte, und unter Benutzung weniger Erhabenheiten in einer rechtwinkligen Ecke bis zum Dach eines sechsstöckigen Gebäudes emporzuschieben, eine Leistung, der bekanntlich der zum Tode verurtheilte Battemolle seine Rettung aus der Conciergerie verdankte.

Jean Valjean maß mit den Augen die Mauer, über welche die Linde hervorragte. Sie mochte ungefähr achtzehn Fuß hoch sein. Der Winkel, den sie mit der Schmalseite des großen Gebäudes bildete, war unten bis zu fünf Fuß Höhe mit einer dreieckigen Mauermasse ausgefüllt, eine in Paris häufige Vorrichtung, deren Zweck es ist, die Verunreinigung des betreffenden Ortes unmöglich zu machen.

Von diesem Absatz aus brauchte Jean Valjean nur noch dreizehn Fuß hoch zu klimmen. Die Frage war nur, was er mit Cosette anfangen sollte. Die Mauer allein erklettern konnte sie nicht. Sie im Stich zu lassen fiel ihm nicht ein. Sie mitzunehmen war unmöglich. Zu einer solchen Mauerbesteigung bedarf auch der stärkste Mann aller seiner Kräfte. Die geringste Last würde sein Gleichgewicht gefährden.

Mit einem Strick dagegen, war die Rettung Beider leicht zu bewerkstelligen. Aber wo einen hernehmen, um Mitternacht, in der Rue Polonceau?

In allen Augenblicken der höchsten Gefahr durchzucken unser Hirn Einfälle, die es entweder umnachten oder erhellen.

Indem Jean Valjean’s verzweifelte Blicke nach allen Seiten umherirrten, fielen sie plötzlich auf die Laterne der Sackgasse Genrot.

Damals gab es noch keine Gasbeleuchtung; die Laternen hingen an Stricken, die quer über die Strafe gespannt wurden, und konnten heruntergelassen werden, wenn man den Strick von einer in einem Schrank verschlossenen Haspel loswand.

Mit wenigen gewaltigen Sätzen stürzte Jean Valjean auf den Schrank zu, der sich unter der Laterne befand, sprengte den Riegel mit seinem starken Messer und kehrte im Nu zu Cosette zurück.

Das Kind fing jetzt an sich zu ängstigen, zupfte aber nur, statt wie andere Kinder zu schreien, Jean Valjean am Rock und flüsterte:

»Vater, ich fürchte mich. Wer kommt denn da?«

Denn das Geräusch, das die Patrouille machte, wurde immer deutlicher.

»Pst! Die Thénardier!« antwortete der geängstigte Mann.

Cosette erschrak.

»Sprich kein Wort und laß mich nur machen. Wenn Du schreist, wenn Du weinst, hört Dich die Thénardier und nimmt Dich wieder mit.«

Nun band er, ohne zu hasten, aber auch ohne irgendwie Zeit zu verlieren, mit einer um so merkwürdigeren Besonnenheit, als er von Javerts Patrouille jeden Augenblick überrascht werden konnte, sein Halstuch ab, umschlang damit sorgsam Cosette unter den Armen, knüpfte es an das eine Ende des Stricks, nahm das andere Ende zwischen die Zähne, warf seine Schuhe und Strümpfe über die Mauer und erklomm sie von dem Absatz aus mit eben solcher Strammheit und Sicherheit, als hätte er Leitersprossen unter seinen Füßen gehabt. Es verging keine halbe Minute, so kniete er schon oben auf der Mauer.

Cosette sah ihm, starr vor Verwundrung und ohne einen Laut von sich zu geben, zu. Die Erinnerung an Frau Thénardier hatte ihre Wirkung gethan.

Plötzlich hörte sie Jean Valjean’s Stimme, der ihr sehr leise zurief:

»Lehne dich an die Mauer!«

Sie gehorchte.

»Sprich kein Wort und fürchte dich nicht.«

Darauf schwebte sie empor und erreichte, ehe sie Zeit fand sich zu besinnen, den Gipfel der Mauer.

Jetzt lud Jean Valjean sie auf seinen Rücken, umfaßte ihre beiden Händchen mit seiner Linken, legte sich platt auf die Mauer und kroch bis zur verbrochenen Ecke hin. Wie er es richtig vermuthet hatte, war hier ein Gebäude, dessen Dach nach innen schräg abfiel und, die Linde streifend, beinahe bis zur Erde hinabreichte.

Noch hatte er dies Gemäuer nicht losgelassen, als gewaltiger Lärm die Ankunft der Patrouille verkündete. Man hörte Javert mit Donnerstimme kommandiren:

»Sucht in der Sackgasse. Die Rue Picpus und die Rue Droit-Mur werden beobachtet. Ich bürge dafür, daß er in der Sackgasse ist.«

Dorthin stürzten auch die Soldaten. Jean Valjean aber glitt mit Cosette auf dem Rücken, das Dach hinunter, bis er die Linde erfassen und auf die Erde hinunter springen konnte. Cosette hatte, sei es vor lauter Angst, sei es mit verständigem Bedacht, keinen Laut von sich gegeben und war wohlbehalten. Nur die Hände hatte sie sich etwas zerschunden.

Anfang eines Räthsels

Jean Valjean befand sich in einem sehr großen Garten, der recht sonderbar, recht öde aussah; einer, den man eigentlich blos bei Nacht und im Winter besehen dürfte. Er war von rechteckiger Gestalt; im Hintergrunde zog sich eine Pappelallee hin; in den Ecken standen ziemlich hohe Bäume, in der Mitte war ein schattenloser Raum, wo man einen sehr großen vereinzelten Baum, einige verkrümmte Obstbäume, Gemüsebeete, ein Melonenbeet mit seinen vom Monde hell beleuchteten Glasglocken und eine alte Senkgrube sah. Hier und da standen mit Moos bewachsene Steinbänke. Die Alleen waren mit Sträuchern eingefaßt, ganz gerade und von Gras oder Pilzen überwuchert.

Neben sich hatte Jean Valjean das Gebäude, auf dessen Dach er herabgestiegen war, einen Haufen Reisig und dahinter, an der Mauer, eine steinerne Bildsäule mit einem arg verstümmelten Gesicht.

Das Gebäude war eine Art Ruine mit Räumlichkeiten, von denen die eine als Schuppen zu dienen schien.

Das nach der Rue Droit-Mur gelegene Hauptgebäude bog an der Rue Picpus etwas um und bildete somit nach dem Garten zu, zwei zu einander rechtwinklig gestellte Façaden, die sich noch schauriger ausnahmen, als die Façade der Rue Droit-Mur. Alle Fenster waren vergittert und ohne Licht. In den höheren Stockwerken sah man Wasserwannen, wie sie bei Gefängnissen angebracht sind.

Das Erste, was Jean Valjean that, war, daß er seine Schuhe suchte und anzog. Dann begab er sich mit Cosette in den Schuppen. Ein Flüchtling hält sich nirgends für genug versteckt. Auch Cosette, die sich Frau Thénardiers widerwärtiges Bild nicht aus dem Sinne schlagen konnte, hatte denselben Instinkt, sich so gut wie möglich zu verkriechen.

Das Kind zitterte und drückte sich an ihn. Von der Straße her vernahm man den Lärm der Patrouille, Kolbenstöße gegen die Steine, Javerts wilde Flüche und Worte, die man nicht verstand.

Nach einer Viertelstunde nahm das Getöse draußen ab, während in dem großen Gebäude und im Garten dieselbe merkwürdige Stille herrschte.

Plötzlich aber erscholl aus dem großen Gebäude ein Gesang, der ebenso lieblich und rührend war, wie das Gebrüll auf der Straße den Verfolgten grausig geklungen hatte. Es waren Frauen, die eine Hymne sangen und, Engeln vergleichbar, die Teufel wegscheuchten.

Cosette und Jean Valjean fielen auf die Kniee.

Sie wußten nicht, was das bedeutete; sie wußten nicht, wo sie waren, aber Beide, der reuige Mann und das unschuldsvolle Kind, hatten das Gefühl, daß sie niederknieen müßten.

Trotz des Gesanges schien das Haus ebenso öde, wie zuvor. Es war, als gehe darin etwas Uebernatürliches vor.

So lange sich die Stimmen vernehmen ließen, dachte Jean Valjean an nichts Anderes. Seine Augen sahen nicht mehr die Nacht, sie sahen den Himmel offen. Ihm war, als entfalteten sich in ihm die Flügel, die wir Alle in unserem Innern haben.

Endlich verstummte der Gesang. Er hatte vielleicht lange gedauert, aber darauf gab Jean Valjean nicht Acht. Die Stunden der Andacht verrinnen schnell.

Jetzt herrschte überall tiefe Stille. Nur die Blätter und Halme rauschten leise im Winde.

Die Fortsetzung des Räthsels

Der Morgenwind hatte sich erhoben, es mußte also ungefähr ein oder zwei Uhr sein. Die arme Cosette verhielt sich still und da sie den Kopf an ihn gelehnt hatte, glaubte Jean Valjean, sie sei eingeschlummert. Als er sich aber niederneigte und ihr ins Gesicht sah, fand er ihre Augen weit offen. Sie sah so schwermüthig aus, daß es Jean Valjean in die Seele schnitt.

Auch zitterte sie noch immer.

»Schläfert Dich?« fragte er.

»Mich friert so sehr.«

»Ist sie noch immer da?« fuhr sie dann fort.

»Wer denn?«

»Frau Thénardier.«

Jean Valjean dachte schon nicht mehr an die List, deren er sich bedient hatte, um Cosette Stillschweigen aufzuerlegen.

»O die ist weg. Du brauchst Dich nicht mehr zu fürchten.«

Das Kind seufzte auf, als wäre ihr eine schwere Last von der Brust abgewälzt worden.

Der Erdboden war feucht, der Schuppen auf allen Seiten offen, der Wind wurde jeden Augenblick rauher. Da zog der gute Jean Valjean seinen Rock aus und wickelte die Kleine darin ein.

»Friert Dich so weniger?«

»Ach ja, Vater!«

»Gut, dann warte hier. Ich komme gleich wieder.«

Damit ging er zum Schuppen hinaus und schlich das Hauptgebäude entlang, um ein besseres Obdach zu suchen. Er kam an Thüren, aber sie waren verschlossen, und die Fenster im Erdgeschoß waren mit starken Eisenstäben versehen. Aber als er bei dem inneren Winkel des Gebäudes angelangt, sah er einige Bogenfenster, die schwach erleuchtet waren. Er erhob sich auf die Fußspitzen und gewahrte einen ziemlich geräumigen, mit großen Fliesen gepflasterten, mit Pfeilern und Arkaden geschmückten Saal, in dem man nur ein schwaches Licht und große Schatten wahrnahm. In einer Ecke brannte eine Nachtlampe. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Geräusch ließ sich vernehmen. Doch als Jean Valjean seine Augen anstrengte, glaubte er eine menschliche Gestalt zu erkennen, die mit einem Leichentuch bedeckt war. Sie lag, mit dem Gesicht nach unten gekehrt, auf den Steinen, bildete mit ihren ausgestreckten Armen die Kreuzesform nach und schien unbeweglich, wie ein Leichnam. Ein Ding, das wie eine Schlange aussah und neben ihr lag, ließ darauf schließen, daß die unheimliche Gestalt einen Strick um den Hals trug.

Jean Valjean hatte viel Schauriges in seinem Leben gesehen, niemals aber etwas Grausigeres und Schrecklicheres, als jenes räthselhafte Wesen, das in dem düstern Raum ein unbekanntes Mysterium vollzog. Der Gedanke war unheimlich, daß es ein Leichnam sei, und noch entsetzlicher war es zu denken, daß dort ein lebendes Wesen liege.

Er hatte den Muth, die Stirn an die Fensterscheibe zu drücken und aufzupassen, ob die Gestalt sich bewegen würde. Aber ob er gleich eine geraume Zeit wartete, sie regte sich nicht. Plötzlich aber packte ihn ein unüberwindliches Grausen, und er lief davon, nach dem Schuppen zu, ohne daß er sich umzuschauen wagte. Er hatte die Empfindung, als komme die Gestalt hinter ihm her und schlenkere die Arme.

Bei seiner Ankunft in dem verfallenen Gebäude flog ihm der Athem, schlotterten ihm die Kniee, floß ihm der Schweiß den Rücken hinunter.

Wo war er denn? Wer hätte sich solch’ eine Art Grab mitten in Paris vorstellen können? Merkwürdiges Haus, wo liebliche Engelstimmen ihn angelockt hatten, um ihm die grauenvollen Pforten des Todes zu zeigen!

Immer mehr Räthsel

Cosette hatte sich unterdessen mit dem Kopf auf einen Stein gelegt und war eingeschlafen.

Er setzte sich neben sie, und ihr Anblick beruhigte allmählich den Sturm in seinem Innern, so daß er seiner Gedanken wieder Herr wurde.

Er war sich jetzt der Thatsache klar bewußt, die fortan den Inhalt seines Lebens ausmachen sollte: So lange sie da sein, so lange sie bei ihm sein würde, bedurfte er nichts, als was sie brauchte, fürchtete er nichts, als was sie bedrohte. Er merkte nicht, nachdem er seinen Rock ausgezogen hatte, um sie vor der Kälte zu schützen, daß er fror.

Während so sein Geist in Grübeleien befangen war, drang von Zeit zu Zeit ein merkwürdiges Geräusch an sein Ohr, ein deutliches, wenn auch leises, Geklingel, wie es die Kühe auf der Weide mit ihren Glöckchen hervorbringen.

Auf dieses Geräusch wurde Jean Valjean endlich aufmerksam und als er sich umwandte, sah er, daß Jemand im Garten war.

Zwischen den Glasglocken des Melonenbeets ging ein Mann, der lahm zu sein schien, langsam dahin, richtete sich auf, bückte sich, blieb stehen, machte regelmäßige Bewegungen, als schleppte oder breitete er etwas auf der Erde aus.

Jean Valjean erschrak. Ist doch Unglücklichen Alles feindlich und verdächtig. Sie mißtrauen dem Tage, weil das Licht sie ihren Verfolgern zeigt, und der Nacht, weil sie in der Dunkelheit überrascht werden können. Eben noch schauderte er, weil der Garten so still war; jetzt bebte er, weil jemand da war.

Nach den eingebildeten Schrecknissen ängstigte ihn jetzt der Gedanke an die Wirklichkeit. Vielleicht waren die Polizisten noch nicht weggegangen; jedenfalls aber hatte Javert Leute in der Nähe postirt, und wenn der Mann da ihn im Garten entdeckte, so war vorauszusehen, daß er ihn für einen Dieb halten und als solchen der Polizei übergeben würde. Er nahm also die schlafende Cosette sacht in seine Arme und trug sie hinter einen Haufen alter Möbel, die in der verborgensten Ecke des Schuppens standen.

Von hier aus setzte er dann seine Beobachtungen fort. Sonderbarer Weise folgte das Geklingel allen Bewegungen des Mannes. Kam er näher, so wurde das Geräusch stärker; ging er zurück, so nahm es ab; machte er eine hastige Bewegung, so erfolgte ein rasches Tremolo; stand er still, so hörte das Geklingel auf. Sicherlich war das Glöckchen dem Mann angebunden, wie einem Leithammel oder einer Kuh. Was in aller Welt konnte das bedeuten?

Während sich ihm diese Frage aufdrängte, berührte er zufälliger Weise die Hände Cosettens. Sie waren eiskalt.

»Herr des Himmels!« sagte er erschrocken und rief mit leiser Stimme:

»Cosette!«

Sie that die Augen nicht auf.

Er schüttelte sie tüchtig.

»Ist sie denn tot?« dachte er und zitterte vor Angst am ganzen Leibe.

Allerhand schreckliche Gedanken durchkreuzten plötzlich sein Hirn, wie eine Horde von Furien, und raubten ihm alle ruhige Besinnung. Gilt es das Wohl derer, die wir lieben, so erfindet unsere Klugheit alle möglichen Thorheiten. So erinnerte sich jetzt Jean Valjean, daß der Schlaf im Freien, wenn es kalt ist, den Tod bringen kann.

Cosette lag blaß und regungslos an der Erde.

Er horchte nach ihrem Athem. Es schien ihm, als würde sie bald aufhören, überhaupt zu athmen.

Wie sollte er sie wärmen? Wie sie ins Bewußtsein zurückrufen? Diese Fragen verdrängten jetzt alle andern Rücksichten. Cosette mußte, ehe eine Viertelstunde um war, in einem warmen Bett liegen.

Mit diesem Gedanken stürzte er in sinnloser Angst aus seinem Versteck heraus.

Der Mann mit dem Glöckchen

Mit ein paar Sätzen war er bei dem Schellenträger, der jetzt gerade gebückt stand und ihn nicht bemerkte.

»Hundert Franken!« schrie Jean Valjean und hielt ihm die Rolle Geld hin, die er sich zu Hause in seine Westentasche gesteckt hatte.

Der Mann fuhr rasch empor und sah zu ihm empor.

»Hundert Franken können Sie Sich verdienen, wenn Sie mir für diese Nacht ein Obdach geben!«

Während er diese Worte angstvoll hervorstieß, beschien der Mond gerade sein Gesicht.

»Ei der Tausend! Vater Madeleine!« rief der Angeredete. Jean Valjean war auf Alles gefaßt, nur nicht darauf, daß er an diesem unbekannten Orte, von diesem Unbekannten, gerade diesen Namen zu hören bekommen sollte.

Der ihn erkannt hatte, war ein von den Jahren gebeugter Greis, welcher am linken Bein ein Knieleder mit einer Glocke trug. Sein Gesicht, das im Schatten war, konnte Jean Valjean nicht erkennen.

Der Alte nahm die Mütze ab und sagte zitternd vor Freude:

»Ach, Du mein Gott! Wie kommen Sie hierher, Vater Madeleine? Herrjeses! Wo sind Sie hereingekommen? Sind Sie denn vom Himmel gefallen? Von Ihnen freilich würde es mich nicht wundern, wenn Sie aus dem Himmel kämen. Wie sehen Sie denn aber aus? Kein Halstuch! Kein Hut! Kein Rock! Wissen Sie, Einer, der sie nicht kennte, würde sich vor Ihnen fürchten! Kein Rock! Gott erbarme sich! Verlieren denn die Heiligen im Paradies den Verstand, daß sie so etwas geschehen lassen!«

Dieser Wortschwall kam so naiv und gutmüthig heraus, daß Jean Valjean in dem Augenblick alle Furcht fahren ließ.

»Wer sind Sie, und was ist das für ein Haus?« fragte er.

»Na das ist aber stark! Ich bin derjenige, dem Sie die Stelle hier verschafft haben, und das Haus ist dasjenige, wo ich die Stelle gekriegt habe. Kennen Sie mich denn nicht?«

»Nein! Und wie kommt es, daß Sie mich kennen?«

»Sie haben mir das Leben gerettet!«

In diesem Augenblick wendete er sein Profil dem Monde zu, und Jean Valjean erkannte den alten Fauchelevent.

»Ach, Sie sind’s? Ja, jetzt erkenne ich Sie!«

»Ein wahres Glück!« murrte der Alte.

»Was machen Sie denn aber hier?«

»Na, ich decke meine Melonen zu!«

In der That hielt der alte Gärtner eine Strohhülle in der Hand, die er eben über eine Glasglocke und die darunter befindliche Melone ausbreiten wollte. Er hatte auch schon in der Zeit, wo er im Garten war, eine ziemliche Anzahl Melonen so bekleidet, und diese Beschäftigung veranlaßte die Bewegungen, die vorhin Jean Valjeans Verwundrung erregten.

»Ich sagte so bei mir,« fuhr der Alte fort, »der Himmel ist ja so klar, es wird wohl frieren. Da wäre es ganz gut, wenn ich meinen Melonen ihre Röcke anzöge. — Und Sie,« fuhr er fort und lachte vergnügt, »Sie hätten Sich auch einen Rock anziehen sollen! Aber wie in aller Welt sind Sie hier hereingekommen?«

Da der Mann ihn kannte, wenigstens unter dem Namen Madeleine, hielt Jean Valjean es für gerathen, Vorsicht zu gebrauchen. Statt zu antworten, that er Frage auf Frage. Die Rollen waren umgekehrt. Er, der Eindringling, verlangte Rechenschaft von dem Andern.

»Was haben Sie denn da für eine Glocke am Knie?«

»Ja, die trage ich, damit man vor mir davonläuft?«

»Was?!«

Der Alte zwinkerte schelmisch mit den Augen.

»Ja, sehen Sie, es sind hier nur Frauenzimmer im Hause, darunter viel junge Mädchen. Denen könnte ich gefährlich werden, meint man. Daher die Glocke. Da weiß man, wenn ich komme, und kann bei Zeiten davonlaufen.«

»Was ist das für ein Haus?«

»Na, das wissen Sie ja!«

»Wirklich nicht!«

»Sie haben mich doch hierher empfohlen.«

»Antworten Sie, als wenn ich nichts wüßte.«

»Na, es ist ja das Kloster Petit-Picpus.«

Jetzt entsann sich Jean Valjean. Der Zufall, d. h. die Vorsehung, hatte ihn gerade in das Kloster des Quartiers Saint-Antoine gerathen lassen, wo der alte Fauchelevent vor zwei Jahren, nachdem er sich durch seinen Sturz unter den Wagen eine Steifheit des Knies zugezogen, auf seine Verwendung als Gärtner angestellt worden war. »Also das Kloster Petit-Picpus«, sagte er sinnend vor sich hin.

»Aber wie zum Teufel sind Sie eigentlich hier hereingekommen, Vater Madeleine? Sie sind ja ein Heiliger, aber Sie sind doch auch ein Mann, und Mannsvolk darf hier nicht herein.«

»Sie sind ja doch hier!«

»Ich ganz allein!«

»Bei alledem muß ich hier bleiben!«

»Ach Du mein Gott!«

Jean Valjean trat näher an den Alten heran und sagte zu ihm in ernstem Tone:

»Vater Fauchelevent, ich habe Ihnen das Leben gerettet.«

»Ich habe mich zuerst daran erinnert«, antwortete Fauchelevent.

»Gut. Heute können Sie für mich thun, was ich seiner Zeit für Sie gethan habe.«

Fauchelevent ergriff zitternd Jean Valjean’s Hände und brauchte einige Sekunden, ehe er ein Wort vorbringen konnte. Endlich rief er:

»O wie dankbar würde ich dem lieben Gott sein, wenn er mir die Gelegenheit geben wollte, Ihnen meine Erkenntlichkeit dafür zu bezeigen. Herr Bürgermeister, verfügen Sie über mich armen, alten Mann!«

Der Alte war wie verklärt, solche Freude leuchtete ihm aus den Augen.

»Was muß ich dazu thun?«

»Das will ich Ihnen auseinandersetzen. Sie haben doch ein Zimmer?«

»Ich habe da hinter dem verfallenen, alten Kloster eine ganz einsam stehende Baracke, in einem Winkel, wo kein Mensch hinkommt. Es sind drei Zimmer darin.«

Sie war in der That so gut versteckt, daß Jean Valjean sie nicht gesehen hatte.

»Gut. Jetzt bitte ich Sie um Zweierlei.«

»Um was, Herr Bürgermeister?«

»Erstens dürfen Sie Niemand sagen, was Sie von mir wissen. Zweitens suchen Sie nicht, mehr über mich zu erfahren.«

»Wie Sie wünschen. Ich weiß, daß Sie nur thun können, was Sie verantworten können, und daß Sie immer ein lieber, guter Mann gewesen sind. Uebrigens haben Sie mir ja die Stelle hier verschafft. Also stehe ich Ihnen zu Diensten.«

»Also, das wäre abgemacht. Jetzt kommen Sie mal mit mir mit. Wir wollen das Kind holen.«

»I was? Das Kind?«

Er fragte aber nicht weiter und folgte Jean Valjean, wie ein treuer Hund seinem Herrn.

Ehe eine halbe Stunde vergangen war, schlief Cosette, nachdem sie sich an einem tüchtigen Kaminfeuer neue Lebenswärme geholt hatte, in dem Bett des alten Gärtners. Jean Valjean hatte sich sein Halstuch wieder umgebunden und seinen Rock wieder angezogen; der Hut, den er über die Mauer geworfen, war wieder gefunden. Fauchelevent hatte sein Knieleder samt der Glocke abgenommen und nun saßen die beiden Männer vor dem Kamin an einem Tisch, auf dem Fauchelevent ein Frühstück servirt hatte — ein Stück Käse, Schwarzbrot und eine Flasche Wein.

»Also, Vater Madeleine,« meinte der alte Gärtner und legte gemüthlich seine Hand auf das Knie des Angeredeten, »Sie haben mich nicht gleich erkannt. Sie retten Einem das Leben und nachher vergessen Sie Einen. Das ist nicht hübsch von Ihnen. Unsereins denkt ja an Sie! Sie sind ein undankbarer Mann!«

Wie es kam, daß Javert den Vogel nicht fing

Die Vorgänge, von denen wir sozusagen eben die eine Seite gesehen haben, waren auf sehr einfache Weise zu Stande gekommen.

Als Jean Valjean aus dem Stadtgefängnis von Montreuil-sur-Mer entsprang, vermuthete die Polizei, er werde sich nach Paris gewandt haben. In Paris verliert sich ja und verschwindet Alles, wie in einem Malstrom. Kein Wald gewährt so sichere Verstecke, wie diese volkreiche Weltstadt. Das wissen auch alle Diejenigen, die einen Zufluchtsort brauchen und lassen sich, um ihren Verfolgern zu entgehen, von dem großen Strudel verschlingen. Aber die Polizei weiß dies auch und sucht deshalb, was ihr irgendwo entschlüpft ist, in Paris. So wurde denn auch Javert nach Paris berufen, um Nachforschungen nach dem Verbleib des Exbürgermeisters von Montreuil-sur-Mer anzustellen, und er trug auch viel dazu bei, daß Jean Valjean wieder eingefangen werden konnte. Der Eifer und die Klugheit, die er bei dieser Gelegenheit entfaltete, veranlaßten den Präfektursekretär Chabouillets ihm eine Anstellung bei der pariser Polizei zu verschaffen. Hier machte sich auch Javert auf mannigfaltige und achtbare Weise nützlich, — wenn solche Dienste mit dem Wort Achtung in Verbindung gebracht werden können.

Er dachte nicht mehr an Jean Valjean, als er im Dezember l823 eine Zeitung las. Das pflegte er sonst nicht zu thun; aber dies Mal wollte er als guter Monarchist die Berichte über den Triumpheinzug des Generalissimus in Bayonne lesen. Als er mit dem betreffenden Artikel fertig war, fiel ihm der Name Jean Valjean in die Augen. Es war die Notiz, daß Jean Valjean ums Leben gekommen sei, und die Nachricht wurde mit solcher Bestimmtheit angekündigt, daß Javert keinen Zweifel empfand. »Desto besser!« dachte er blos. »Da wird er nicht mehr auskneifen!«

Kurze Zeit darauf sandte die Präfektur des Seine-et-Oise Departements bei der Pariser Polizeipräfektur einen Bericht über die Entführung eines Kindes ein, die sich unter eigenartigen Umständen in der Commune Montfermeil zugetragen hatte. Ein sieben- bis achtjähriges Mädchen, das von ihrer Mutter einem dortigen Gastwirt anvertraut worden, so meldete der Bericht, wäre von einem Unbekannten gestohlen worden. Die Kleine antworte auf den Namen Cosette und sei die Tochter einer gewissen unverehelichten Fantine, die im Spital verstorben sei, man wisse weder wann noch wo. Dieser Bericht kam nun auch Javert unter die Hände und gab ihm zu denken.

Der Name Fantine war ihm wohl bekannt. Er entsann sich, daß er über die dreitägige Frist gelacht hatte, um die ihn Jean Valjean gebeten, damit er das Kind der Dirne holen könne. Es fiel ihm auch ein, daß Jean Valjean gerade in dem Augenblick verhaftet wurde, als er mit der Diligence nach Montfermeil abfahren wollte. Einige Anzeichen wiesen auch damals darauf hin, daß er dieselbe Diligence schon einmal benutzt hatte. Was er in Montfermeil zu thun hatte, konnte man damals nicht errathen. Jetzt begriff es Javert. Fantinens Kleine wollte er holen. Nun war diese von einem Unbekannten gestohlen worden. Von Jean Valjean? Aber der war ja gestorben. — Trotzdem fuhr Javert nach Montfermeil.

Statt hier über die Sache aufgeklärt zu werden, fand er, daß sie in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt war.

In den ersten Tagen plauderten die Thénardiers aus Aerger einen Theil der Wahrheit aus, und es bildeten sich sofort mehrere Sagen, unter denen schließlich die Entführungsgeschichte vorwog, und auf dieser fußte auch der Polizeibericht. Nachdem aber seine erste, üble Laune verflogen, begriff der pfiffige Thénardier, daß es niemals zu etwas Gutem führen kann, wenn man den Herrn Staatsanwalt neugierig macht. Die erste Folge, die seine Klagen über Cosettens Entführung haben mußte, war doch offenbar die, daß Frau Justiz ihr scharfes Auge auf ihn, Thénardier, und seine — nichts weniger als klaren — Angelegenheiten richten würde. Wie sollte er es namentlich rechtfertigen, daß er die fünfzehnhundert Franken angenommen hatte? Er stimmte also rasch ein anderes Lied an, verschloß seiner Frau den Mund und that erstaunt, wenn man von der »Entführung« des Kindes sprach. Natürlich hatte er sich beklagt, daß man ihm die liebe Kleine so schnell »entführt« hatte; er hätte sie gerne noch zwei bis drei Tage bei sich behalten; aber, da ihr Großvater sie holte, so hatte er doch nichts machen können, Diese Lesart der Geschichte bekam auch Javert zu hören.

Er sondirte die Sache aber doch etwas mit einigen Fragen: Wie der Großvater heiße? Was er sei? U. s. w. Thénardier antwortete mit gut erheuchelter Unbefangenheit: »Ein reicher Landwirt, Ich habe seinen Paß gesehen. Er hieß Guillaume Lambert, wenn mich mein Gedächtniß nicht täuscht.«

Lambert ist ein sehr ordinärer, spießbürgerlicher Name, der nicht verdächtig klingt, und Javert kehrte beruhigt nach Paris zurück.

»Jean Valjean ruht im Grabe,« dachte er, »und ich bin ein Narr.«

Wieder fing er an, sich die Sache aus dem Sinn zu schlagen, als er im Lauf des März 1824 von einem sonderbaren Kauz sprechen hörte, der in dem Sprengel Saint-Médard wohnte, dem sogenannten »Bettler, der Almosen gab,« Diese Persönlichkeit, hieß es, sei ein Rentier, dessen Namen man nicht mit Sicherheit wüßte. Er lebe allein mit einem kleinen Mädchen, die auch nichts wüßte, außer daß sie aus Montsermeil sei. Montsermeil! Der Name machte Javert stutzig. Ein alter Bettler, der früher Kirchendiener gewesen und gegenwärtig im Dienste der Polizei stand, erzählte ihm noch etwas mehr. Der Rentier sei ein Menschenfeind, gehe nur des Abends aus, rede mit Niemand, außer vielleicht mit Bettlern. Er trüge einen greulichen, alten, gelben Rock, in den mehrere Millionen in Kassenscheinen eingenäht seien. — Diese merkwürdige Erzählung reizte Javerts Neugierde und um den sonderbaren Rentier aus nächster Nähe zu sehen, ohne ihn kopfscheu zu machen, entlieh er eines Tages von dem Kirchendiener seine Kleider und vertrat seine Stelle.

Das »verdächtige Individuum« stellte sich auch ein und spendete dem verkleideten Javert ein Almosen. Dieser erstaunte ebenso, wie Jean Valjean erschrak. Er glaubte, Jean Valjeans Gesicht erkannt zu haben.

Indessen hatte die Dunkelheit ihn täuschen können. Jean Valjeans Tod war doch officiell gemeldet, Javert hegte Zweifel, und wenn er seiner Sache nicht ganz sicher war, pflegte der gewissenhafte Mann Niemand beim Kragen zu nehmen.

Er ging also dem Unbekannten bis zum Gorbeauschen Hause nach und forschte die alte Vicewirtin aus, was keine großen Schwierigkeiten hatte. Die Alte bestätigte die Geschichte von dem Rock und erzählte ihm, wie sie Jean Valjean beobachtet habe. Sie hatte den Tausendfrankenschein mit eignen Augen gesehen, den Rock mit ihren eigenen Händen befühlt! Daraufhin miethete Javert ein Zimmer in dem Hause, lauschte an Jean Valjeans Thür, ob er vielleicht seine Stimme hören würde, aber vergeblich, weil Jean Valjean auf seiner Hut war und nicht laut sprach.

Am nächsten Tag hörte die Vicewirtin den Klang des Geldstücks, das Jean Valjean hatte fallen lassen, und stattete darüber Javert Bericht ab, in dem Glauben, daß ihr Miether ziehen wolle. Javert lauerte also mit zwei Mann Jean Valjean am Abend hinter den Bäumen des Boulevard auf.

Er hatte aber auf der Präfektur nicht den Namen des Individuums angegeben, das er arretieren wollte. Dieser Verschwiegenheit lagen dreierlei Ursachen zu Grunde. Jean Valjean hätte erstens erfahren können, was ihm bevorstand; ferner war die Festnahme eines ehemaligen, totgeglaubten Galeerensklaven, eines von der Justiz für besonders gefährlich erklärten Verbrechers ein Erfolg, den die alten Pariser Polizisten einem Neuling, wie Javert, nicht gönnen und ihm daher seinen Fang vor der Nase wegschnappen würden. Endlich war Javert eine Künstlernatur; er liebte Knalleffekte und haßte Erfolge, denen durch vorzeitige Indiskretionen der Reiz der Ueberraschung abgestreift worden. Am schwersten aber wog wohl ein anderes Bedenken.

Man erinnere sich, daß zu jener Zeit die liberale Presse der Polizei das Leben schwer machte. Die Zeitungen hatten gerade über einige willkürliche Verhaftungen großen Lärm geschlagen und die Kammer aufrührig gemacht, so daß die Polizeipräfektur Angst bekam. Ein Attentat auf die persönliche Freiheit eines Staatsbürgers war eine bedenkliche Sache. Die Polizisten sahen sich vor, denn fiel ein Irrthum vor, so wurden sie dafür verantwortlich gemacht und ohne Weiteres abgesetzt. — Man stelle sich doch die Wirkung vor, die folgende, von zwanzig Zeitungen abgedruckte Notiz auf das Publikum hervorgebracht hätte: »Ein alter Mann in weißen Haaren, ein ehrenwerter Rentier, der mit seinem achtjährigen Töchterchen spazieren ging, ist gestern als entsprungener Galeerensklave verhaftet und in Polizeigewahrsam gebracht worden!«

Rechnet man hierzu Javert’s persönliche Zweifel betreffs der Identität Jean Valjeans, so wird es begreiflich werden, warum er seinen Mann nicht sofort in Haft nahm.

Er schlich ihm an jenem Abend von Baum zu Baum, von einer Ecke zur andern nach und verlor ihn keine Minute aus dem Auge, konnte aber lange Zeit hindurch seine Zweifel nicht unterdrücken.

Jean Valjean wandte ihm den Rücken zu und ging im Schatten.

Ferner bewirkte die Sorge, die Angst, die schreckliche Notwendigkeit, plötzlich bei Nacht fliehen und auf’s Gerathewohl einen neuen Zufluchtsort suchen zu müssen, endlich der Umstand, daß er seine Schritte denen eines Kindes anpassen mußte, eine solche Veränderung in Jean Valjean’s körperlicher Haltung, ließ ihn so greisenhaft erscheinen, daß die Polizei und sogar Javert sich irren konnte und sich auch wirklich irrte.

Einen Augenblick dachte er daran, einfach an ihn heranzutreten und sich seine Papiere zeigen zu lassen. Aber wenn der Betreffende nicht Jean Valjean und nicht ein ehrsamer, alter Rentier war, sondern vielleicht ein gefährlicher abgefeimter Verbrecher, der an der Spitze irgend einer Diebesbande stand? — Der Mensch hatte dann Spießgesellen, Verbündete, bei denen er im Nothfall einen Unterschlupf finden konnte. Daß er so viel Umwege machte, deutete allerdings darauf hin, daß man es nicht mit einem Mann zu thun hatte, der sich keiner Schuld bewußt war. Man durfte ihn also nicht zu früh festnehmen, sonst ließ man sich einen ergiebigeren Fang entgehen. Was konnte es auch schaden, wenn man wartete? Entkommen konnte er ja doch nicht.

Javert’s Verlegenheit hielt also an, bis er in der Rue de Pontoise kam, wo sich Jean Valjean nach ihm umwendete. Hier fiel der helle Lichtschein aus einer Schänke so auf Jean Valjean’s Gesicht, daß Javert’s Zweifel für immer schwanden.

Zwei Wesen erzittern bis ins Innerste hinein: Eine Mutter, die ihr Kind und ein Tiger, der seine Beute wiederfindet. So erzitterte auch in jenem Augenblick Javert.

Nun er den gefürchteten Galeerensklaven Jean Valjean vor sich sah, bemerkte er, daß sie ihrer nur drei waren, und holte sich Verstärkung aus dem Polizeibüreau der Rue de Pontoise. Wer einen Dornenstock anfassen will, muß solide Handschuhe anziehen.

Diese Verzögerung und der Aufenthalt auf dem Platze Rollin, wo er mit seinen Leuten Rath pflog, hätten beinahe die Folge gehabt, daß er die richtige Fährte verlor. Aber er errieth schnell, daß Jean Valjean den Fluß zwischen sich und seine Verfolger bringen würde. Er neigte den Kopf und sann nach, vorsichtig wie ein Leithund, der sich nicht irren will. Dann ging er stracks nach der Bude des Zollwächters und fragte: »Haben Sie einen Mann mit einem kleinen Mädchen gesehen?« »Ja wohl, er wollte blos einen Sou geben, aber ich habe ihn zwei zahlen lassen.« Auf diese Weise kam Javert früh genug auf der Brücke an, um Jean Valjean den von dem Monde beleuchteten Platz durchqueren zu sehen. Als dieser dann in die Rue du Chemin-Vert-Saint-Antoine hineinirrte, stellte ihm Javert eine Falle, indem er einen von seinen Leuten auf einem Umwege nach der Ecke der Rue Piepus vorausschickte. Dann wollte es auch noch ein glücklicher Zufall, daß er einer Patrouille Soldaten begegnete. Ein richtiger Waidmann verläßt sich, wenn er einem starken Eber nachsetzt, nicht blos auf die Kniffe seiner edlen Kunst, sondern sorgt auch dafür, daß er recht viel tüchtige Hunde gegen ihn ins Feld führen kann.

Nun er solche Trümpfe in Bereitschaft hatte, nahm er zu seiner Belohnung eine Prise Tabak und genehmigte sich die teuflische Freude, mit seinem Opfer zu spielen. Er ließ ihn noch ruhig weiter gehen und wollte den entscheidenden Augenblick möglichst lange hinausschieben, möglichst lange die Wonne der Spinne genießen, die in ihrem Netze eine Fliege zappeln sieht, es der Katze nachmachen, die sich mit der Maus amüsirt.

Nun stelle man sich die Wuth vor, die ihn befiel, als er an die Falle kam und nichts darin fand!

Es geschieht bisweilen, daß ein Hirsch noch entkommt, nachdem ihn schon die Rüden gepackt haben; ein Fall, den sich die ältesten Jäger nicht zu erklären wissen. Bei einer solchen Gelegenheit rief einst Artonge: »Das war kein Hirsch! Das war ein Hexenmeister!«

So ziemlich denselben Gedanken mochte auch Javert haben.

Es steht fest, daß Napoleon in Rußland, Alexander der Große in Indien, Cäsar in Afrika, Cyrus im Kriege gegen die Scythen Fehler machte. Auch Javert liest sich solche Fehler in seinem Feldzug gegen Jean Valjean zu Schulden kommen. Sogar sehr viele. Er hätte den ehemaligen Galeerensklaven sofort erkennen, ihn sofort in dem Gorbeauschen Hause oder in der Rue de Pontoise dingfest machen sollen. Er durfte nicht auf dem Platz Rollin im hellen Mondenscheine stehen bleiben, keine Zeit mit der Requirirung der Soldaten verlieren und vor allen Dingen sich nicht das kindische Spiel mit einem so gefährlichen Wild gestatten. Er war, was die Jäger einen klugen Hund nennen und dennoch beging er alle diese Fehler. Aber wer ist denn vollkommen aus dieser Welt?

Er verlor auch nicht den Kopf, als er sich getäuscht fand. Jean Valjean konnte nicht weit sein. Er suchte die ganze Umgegend ab und legte Hinterhalte an geeigneten Orten. Einen wichtigen Anhaltspunkt gab ihm der abgeschnittene Laternenstrick. Indessen führte ihn dies Anzeichen insofern irre, als es seine Aufmerksamkeit auf die Sackgasse ablenkte. Hier waren ziemlich niedrige Mauern, hinter denen große Gärten und weiterhin Brachfelder lagen. Dorthin hatte sich also wahrscheinlich Jean Valjean gewendet. Allerdings wäre er auch verloren gewesen, wenn er auf diesen Gedanken verfallen wäre. Denn Javert durchforschte diese Gärten und Felder mit einer Sorgfalt, als suche er eine Stecknadel.

Bei Tagesanbruch postirte er zwei tüchtige Leute zur Beobachtung und kehrte, beschämt, daß ihn ein Spitzbube genarrt, nach der Präfektur zurück.

Das Kloster Petit-Picpus

In der Rue Picpus Nr. 62

Nichts unterschied vor fünfzig Jahren die Hausthür der Nr. 62 Rue Picpus von andern, gewöhnlichen Hausthüren. Meistenteils halb offen, als lade sie Jederman freundlichst ein, näher zu treten, ließ sie drinnen zweierlei Dinge sehen, die nichts weniger, als trauervoll anzuschauen sind, einen Hof, dessen Umfassungsmauern mit Weinreben bewachsen waren, und das feiste Gesicht eines faulen Portiers. Die hinterste Hofmauer überragten hohe Bäume. Wenn fröhlicher Sonnenschein den Hof erhellte, wenn guter Wein den Pförtner erheiterte, konnte man nicht an jenem Hause vorübergehen, ohne einen freundlichen Eindruck mitzunehmen. Und doch herrschte hier düstere Trübsinnigkeit.

Nur der Eingang war einladend; im Innern wurde gebetet und geweint.

Wenn man an dem Pförtner vorbeikam, was nicht leicht war, denn man mußte mit einem Erkennungswort ausgerüstet sein, wenn man dann eine ausnehmend schmale Treppe bis zum ersten Stock erstieg, gelangte man in einen Korridor, der wie die Treppe sein Licht durch ein schönes Fenster hindurch bekam, bis zu einer Ecke, wo er dunkel wurde. Hier war eine unverschlossene Thür. Man stieß auf und befand sich in einem mit Fliesen, gepflasterten, saubern, kalten, mit billigen hellgelben Tapeten beklebten winzigen Zimmerchen. Durch die kleinen Scheiben des großen Fensters, das links die ganze Breite des Raumes einnahm, fiel ein mattes, weißes Licht. Man sah Niemand, mochte man noch so gespannt horchen. Man hörte weder Menschentritte, noch Stimmen. Die Wände waren kahl, und kein Möbel war zu sehen, nicht einmal ein Stuhl.

In der Wand aber, die der Thür gegenüber lag, war eine viereckige Oeffnung von ungefähr einem Quadratfuß angebracht, die durch ein gekreuztes Gitter versperrt war. Die soliden, schwarzen Eisenstäbe desselben bildeten Vierecke, man könnte beinahe sagen, Maschen, deren Diagonale kaum anderthalb Zoll maß. Wäre also auch ein menschliches Wesen so wunderbar mager gewesen, daß es sich durch die Oeffnung hätte hindurchzwängen können, so hätte das Gitter es daran verhindert. Indessen konnten noch durch das Gitter die Augen, also der Geist, hindurchblicken. Aber auch hiergegen war eine Vorkehrung getroffen, denn hinter dem Gitter war ein Blech in die Mauer eingelassen, worin viele winzige Löchelchen gebohrt waren, wie in einem Siebe. In dem unteren Theil dieser Platte befand sich eine Oeffnung, die wie der Spalt in den Briefkasten aussah.

Rechts von dem Gitter hing an einem Draht eine Klingel. Setzte man diese in Bewegung, so hörte man dicht vor sich eine sanfte Frauenstimme, eine Stimme von einer Sanftheit, daß man Wehmuth dabei empfinden konnte.

»Wer ist da?« fragte sie.

Auch hier mußte man eine Zauberformel aussprechen, damit »Sesam Sesam« sich öffnete. Sonst schwieg die Stimme, und es wurde wieder so still, als sei hinter der Wand ein großes Grab.

Kannte man aber die Losung, so lautete der Bescheid:

»Gehen Sie rechts hinein!«

Rechts, dem Fenster gegenüber, war eine grau angestrichene Glasthür. Machte man diese auf, so empfing man genau denselben Eindruck, als wenn man im Theater eine vergitterte Parterreloge betritt, ehe das Gitter heruntergelassen und der Kronleuchter angezündet ist. Dieser enge Raum, der ein mattes Licht durch die Glasthür empfing, war mit zwei alten Stühlen und einer schadhaften Strohmatte versehen.

Nach Verlauf einiger Minuten, wenn das Auge sich an das Halbdunkel gewöhnt hatte, ging es auf Entdeckungen hinter das gewaltige Eisengitter aus, aber sechs Zoll jenseit desselben traf es auf schwarze Fensterläden, die durch pfefferkuchengelbe Querlatten zusammengehalten wurden.

Nach einer Weile ließ sich hinter diesen stets geschlossenen Fensterläden eine Stimme vernehmen:

»Hier bin ich. Was wünschen Sie?«

Es war diejenige, die man hier aufsuchte. Aber man sah sie nicht. Kaum daß man ihren Athem hörte. Man hatte den Eindruck, als spreche ein aus dem Grabe heraufbeschworner Geist.

War man im Besitz gewisser — selten gewährter — Vorrechte, so wurde eins der schmalen Brettchen, aus denen der Fensterladen in seiner Länge zusammengesetzt war, zurückgeklappt, und statt des Geistes erschien ein Körper. Man sah dann einen Kopf oder vielmehr blos ein Kinn und einen Mund, denn alles Uebrige war mit einem schwarzen Schleier verhüllt. Man erkannte auch noch einigermaßen einen schwarzen Busenschleier und eine mit einem schwarzen Grabtuch bekleidete Gestalt. Der Kopf sprach mit dem Besucher, sah ihn aber nie an und lächelte Einem nie zu.

Das Licht, das von hinten herein kam, fiel so, daß die Gestalt hinter dem Fensterladen von Helligkeit umgeben, und der Besucher für sie im Dunkel stand. Diese Einrichtung hatte eine symbolische Bedeutung.

Von dem, was die Gestalt umgab, von dem Raum, in dem sie sich befand, bemühte man sich vergeblich, sich eine Vorstellung zu machen. Was man sah, war Dunkelheit, Schatten, Nacht. In diesem düstern Hause wohnten Bernhardinerinnen von der ewigen Anbetung. Die Loge, in der man sich befand, bildete das Sprechzimmer.

In dieses Kloster nun, das strenger als andere von der Außenwelt abgeschlossen war, wollen wir jetzt eindringen und dem Leser Dinge berichten, die noch keine Erzähler gekannt und gesehen hat.

Die Obedienz Martin Verga’s

Dieses Kloster, das 1824 schon seit langer Zeit bestand, gehörte zu der Obedienz Martin Verga’s.

Die Bernhardinerinnen also, die es bewohnten, folgten der Regel des heil. Benedikt, nicht des heil. Bernhard.

Nächst der Regel der Carmeliter, die barfuß gehen und sich nie setzen, ist die strengste die der Benediktinerinnen von der Observanz des heil. Berga. Sie gehen schwarz gekleidet und tragen einen Busenschleier, der nach der ausdrücklichen Vorschrift des heil. Benedikt bis zum Kinn reicht. Ein Serschekleid mit weiten Aermeln, ein großer wollener Kopfschleier, ein nach unten gradlinig abschneidender Busenschleier, eine bis zu den Augen herabgehende Stirnbinde bilden ihre Ordenskleidung, die mit Ausnahme der weißen Binde vollständig schwarz ist. Die Novizen tragen denselben Habit, aber weiß, die Ordensschwestern außerdem noch einen Rosenkranz an der Seite.

Was ihre Observanz betrifft, so fasten Martin Verga’s Benediktinerinnen das ganze Jahr hindurch, enthalten sich an gewissen Tagen überhaupt aller Nahrung, stehen um 1 Uhr Nachts auf, um zwei Stunden lang das Brevier zu lesen und die Frühmette zu singen, schlafen in jeder Jahreszeit auf Serschelaken und auf Stroh, nehmen nie ein Bad, heizen nie, geißeln sich jeden Freitag, üben Stillschweigen, sprechen mit einander nur in den sehr kurzen Erholungspausen, tragen sechs Monate lang, vom 14. September, dem Feste der Kreuzeserhöhung, bis Ostern wollene Hemden. Hierin liegt eine Milderung, denn nach der ursprünglichen Regel soll der Wollstoff das ganze Jahr hindurch getragen werden. Aber im Sommer war er unerträglich warm und verursachte Fieber und nervöse Krämpfe. Auch so bekommen die Nonnen, wenn sie am 14. September anfangen, die wollenen Hemden zu tragen, drei bis vier Tage lang Fieber.

Ihre durch die Regel stark verschärften Gelübde beziehen sich auf Gehorsam, Armuth, Keuschheit, Klosterzwang.

Sie sehen nie den Messe haltenden Priester, der ihren Augen immer durch einen neun Fuß hohen Vorhang entzogen ist. Bei der Predigt in der Kapelle lassen sie den Schleier herab. Sie müssen immer leise sprechen, beim Gehen den Blick auf die Erde richten und den Kopf gesenkt halten. Ein einziger Mann hat Zutritt in das Kloster, der Erzbischof der Diöcese.

Ein zweiter allerdings auch noch, der Gärtner; dieser muß aber ein alter Mann sein, und ein Glöckchen am Knie tragen.

Der Gehorsam gegen die Priorin ist ein absoluter und passiver, der die strengste kanonische Selbstverleugnung erfordert. Ut voci Christi, als riefe sie Christus; ad nutum, ad primum signum, auf ein Zeichen, auf einen Wink; prompte, thilariter, perseveranter et caeca quadam oboedientia, sofort, mit Freudigkeit, zu jeder Zeit und blindlings; quasi limam in manibus fabri, wie eine Feile in der Hand eines Arbeiters. Auch darf keine Nonne etwas lesen oder schreiben, ohne die ausdrückliche Erlaubnis ihrer Oberin.

Eine der Uebungen, die sie abwechselnd halten, besteht in der sogenannten großen Genugthuung. Das Gebet nämlich für alle Sünden, Gewaltthaten, Ungerechtigkeiten, Verbrechen, die auf Erden begangen werden.

Zwölf Stunden hintereinander, von vier Uhr Nachmittags bis vier Uhr Morgens, oder umgekehrt, kniet die Schwester, die gerade an der Reihe ist, mit gefalteten Händen, einen Strick um den Hals, auf den harten Steinen vor dem allerheiligsten Sakrament. Wird die Anstrengung unerträglich, so legt sie sich der Länge nach mit ausgestreckten Armen und nach unten gewendeten Gesicht auf die Erde, die einzige Bequemlichkeit, die sie sich gestatten darf, In dieser Haltung betet sie für alle Sünder der Welt. Dieser Gedanke ist groß, ist erhaben.

Da diese Handlung vor einer Richtsäule, auf der oben eine Wachskerze brennt, vollzogen wird, so sagt man statt »die große Genugthuung halten« auch »an der Richtsäule« knieen. Letztere Formel wird sogar von den Schwestern aus Demuth bevorzugt, da er den Begriff der Strafe und Erniedrigung in sich faßt.

Die Genugthuung nimmt das ganze Denken völlig in Anspruch. Eine Schwester, die vor der Richtsäule kniet, würde sich nicht umdrehen, wenn auch der Blitz hinter ihr in die Erde führe.

Außerdem liegt immer noch eine Schwester vor dem hochehrwürdigsten Gut auf den Knieen. Dieser Dienst dauert eine Stunde lang. Die Nonnen lösen sich hierbei ab wie Schildwachen. Man nennt dies die ewige Anbetung.

Wenn man sie zu sprechen bekommt, lassen sie fast nur ihren Mund sehen. Sie haben alle gelbe Zähne, denn nie kommt eine Zahnbürste in ihr Kloster; die Mundpflege ist eine Sünde, die das Seelenheil gefährdet.

Das Wort »mein« ist bei ihnen nicht im Gebrauch. Sie haben nichts zu eigen. Sie sagen »unser« statt mein: »unser Schleier, unser Rosenkranz« und spräche eine von ihrem Hemde, so würde sie auch sagen: »unser Hemd.« Bisweilen widerfährt es ihnen, daß sie irgend einen unbedeutenden Gegenstand, ein Gebetbuch, eine Reliquie, eine geweihte Münze, lieb gewinnen. Werden sie aber dessen inne, so verschenken sie dieselben sofort. »So? Euch ist etwas ans Herz gewachsen? Dann tretet nicht in unsern Orden ein!« So antwortete einst die heilige Theresa einer vornehmen Dame, die um die Erlaubniß bat, eine »ihr ans Herz gewachsene« Bibel in das Kloster mitbringen zu dürfen.

Ein Heim, ein trauliches, abgeschlossenes Zimmer zu haben, ist verboten. Ihre Zellen stehen immer offen. Wenn sie sich begegnen, sagt die Eine: »Gelobt und angebetet sei das allerheiligste Sakrament des Altars!« »Immerdar!« ergänzt die Andre. Desgleichen, wenn Eine bei der Andern an die Thür klopft. Die Insassin antwortet eiligst: »Immerdar!« Wie alle Gewohnheiten, bekommt auch diese mit der Zeit etwas Maschinenmäßiges, und manchmal sagt Eine: »Immerdar!« noch ehe die Erste mit ihrem — ziemlich langen — Gruße zu Ende gekommen ist.

Jedes Mal, wenn die Uhr der Klosterkirche voll schlägt, giebt sie noch drei andere Schlage an. Sind diese verklungen, so unterbrechen Alle, die Priorin, die Mütter, die Schwestern, Conversen, Novizen, Postulantinnen, was sie sagen, thun oder denken, mit den Worten: »In der fünften Stunde und zu jeder Stunde sei das allerheiligste Sakrament gepriesen und angebetet;« bezw.: »In der achten Stunde u. s. w.«

Die Benediktinerinnen, die sich vor fünfzig Jahren in der Rue Picpus niederließen, psalmodiren beim Gottesdienst in der alten, eintönigen Weise und immer mit voller Stimme. Bei jedem Sternchen in dem Meßbuch halten sie an und sagen: »Jesus, Maria, Joseph.« Beim Totenamt steigen sie mit der Stimme so tief hinab, daß man Frauenkehlen so tiefe Töne kaum zutrauen sollte. Dieser Gesang macht einen ergreifenden, schwermüthigen Eindruck.

Die Benediktinerinnen des Klosters Petit-Picpus hatten unter dem Hauptaltar ein Grabgewölbe anlegen lassen. Aber »die Regierung«, wie sie sich ausdrückten, erlaubte nicht, daß Särge in dieser Gruft beigesetzt wurden. Sie mußten demzufolge, wenn sie gestorben waren, aus dem Kloster hinaus. Dies betrübte sie und erschien ihnen ein Frevel.

Ein schwacher Trost für sie war das Zugeständniß, daß sie ihre Toten zu einer besonderen Stunde und in einer besonderen Ecke in dem alten Kirchhof Vaugirard, dessen Erde einst der Genossenschaft gehört hatte, begraben lassen durften.

Des Donnerstags wohnen diese Nonnen dem Hauptamt, der Vesper bei und überhaupt ist der Gottesdienst der selbe, wie des Sonntags. Außerdem beobachten sie gewissenhaft alle kleinen Feste, die wir Laien nicht kennen, und deren ehedem die Kirche in Frankreich und noch jetzt in Italien und Spanien in großer Menge feiert. In der Kapelle verweilen sie jedes Mal eine unendlich lange Zeit, entsprechend der Zahl und der Länge ihrer Gebete.

Einmal wöchentlich wird ein Ordenskapitel gehalten; die Priorin führt den Vorsitz, die stimmberechtigten Mütter assistiren. Die Schwestern knieen der Reihe nach auf die bloßen Steine nieder und beichten laut die Vergehen und Sünden, die sie im Laufe der Woche begangen haben. Die stimmberechtigten Mütter rathschlagen dann nach jeder Beichte und bestimmen laut die zu leistende Buße.

Neben der lauten Beichte, die alle schwereren Vergehen betrifft, besteht für die läßlichen Verstöße die sogenannte Culpa. Dabei wirft sich die Sünderin während des Gottesdienstes vor der Priorin auf die Erde lang nieder, bis Diese auf das Holz ihres Sitzes einen Schlag thut und sie damit benachrichtigt, daß sie aufstehen darf. Auf diese Weise büßt man z. B., wenn man ein Glas zerschlagen, seinen Schleier zerrissen hat, zur Kirche zu spät gekommen ist, falsch gesungen hat. Die Sühne ist in diesem Falle eine durchaus freiwillige. Charakteristisch für die Culpa ist folgender Vorfall: An Sonn- und Festtagen psalmodiren vier Mütter an einem großen Chorpult. Einer von diesen Sängerinnen passirte es nun eines Tages, daß sie einen Psalm nicht mit dem Wort ecce begann, sondern statt dessen die Namen der betreffenden Noten ce, ha, ge absang. Diese Zerstreutheit sühnte sie mit einer Culpa, die bis zu Ende des Gottesdienst dauerte. Das Vergehen war nämlich deshalb so schwer, weil das Kapitel gelacht hatte.

Mit der Außenwelt darf nur die Priorin sprechen, die anderen Klosterangehörigen nur mit ihren nächsten Blutsverwandtinnen. Wollen andere Auswärtige eine Nonne sprechen, die sie seiner Zeit in der Welt gekannt haben, so bedarf es weitläufiger Verhandlungen. Einer Frau oder einem Fräulein wird die Erlaubniß bisweilen ertheilt, einem Mann niemals.

Dies ist die von Martin Berga verschärfte Regel des heiligen Benedikt.

Diese Religiösen sind nicht lustig, sehen nicht frisch und gesund aus, wie die Angehörigen anderer Orden. Sie sind blaß und ernst. In dem Zeitraum von 1825 bis 1830 haben drei den Verstand verloren.

Strenge Observanz

Die Probezeit der Postulantinnen dauert wenigstens zwei, oft vier Jahre, die der Novizen vier. Selten werden die endgiltigen Gelübde vor dem drei- oder vierundzwanzigsten Lebensjahr abgelegt. Witwen finden bei den Benediktinerinnen keine Aufnahme.

In ihren Zellen unterziehen sie sich vielen Kasteiungen, deren sie nie Erwähnung thun dürfen.

An dem Tage, wo eine Novize ihre Ordensgelübde ablegt, kleidet man sie in ihren schönsten Putz, schmückt ihr Haar mit weißen Rosen, legt es in Locken, dann wirft sie sich aus den Boden nieder, worauf ein großer, schwarzer Schleier über sie gebreitet und die Totenmesse gesungen wird. Dann theilen sich die Nonnen in zwei Reihen, von denen eine an ihr vorüberzieht und im Klageton sagt: »Unsere Schwester ist gestorben!« Die andere aber antwortet nachdrucksvoll: »Sie lebt in Jesus Christus!«

Zu der Zeit, wo unsere Geschichte spielt, war mit diesem Kloster ein Erziehungsinstitut für adelige, junge Mädchen verbunden. Auch diesen wurde von den Nonnen ein unglaublicher Abscheu gegen die Welt und ihren Tand anerzogen. Eine von ihnen erzählte uns eines Tages: »Wenn ich das Straßenpflaster zu Gesicht bekam, erschauerte ich von Kopf bis zu Fuß.« An großen Festtagen, besonders am Tage der heiligen Martha, gestattete man ihnen zum Zeichen besonderer Gunst und als ein hohes Glück sich als Nonne zu kleiden und den ganzen Tag über den Gottesdienst und die Uebungen des heiligen Benedikt zu halten. In der ersten Zeit liehen ihnen die Nonnen sogar ihre schwarzen Ordenskleider. Dies sah aber einer Entweihung ähnlich und die Priorin verbot es. Nur den Novizen wurde es gestattet, ihre Kleider dazu herzugeben. Merkwürdiger Weise waren diese Vorstellungen, die man duldete und ermuthigte, um Proselytinnen für den Orden zu gewinnen und die kleinen Mädchen mit den heiligen Kleidern vertraut zu machen, für die Schülerinnen ein wirkliches Glück, eine wahre Erholung, die ihnen Freude machte. Es war etwas Neues, eine Abwechselung. Naive Gründe, die uns Weltkinder nicht überzeugen können, daß es ein Vergnügen ist, einen Weihwedel zu halten und Stunden lang zu Vieren vor einem Chorpult zu stehen.

Die Zöglinge machten alle klösterlichen Gebräuche mit, außer der strengen Observanz. So manche junge Frau hat sich nach ihrer Rückkehr in die Welt und nachdem sie schon Jahre lang verheiratet war, noch nicht abgewöhnen können, wenn Jemand an ihre Thür klopfte, »Immerdar!« zu rufen. Wie die Nonnen, so sprachen auch die Schülerinnen mit ihrer Mutter nur im Sprechzimmer, und diese bekam nicht die Erlaubniß ihre Tochter zu umarmen. Wie strenge in dieser Hinsicht verfahren wurde, beweist folgender Vorfall. Eines Tages bekam eine Schülerin Besuch von ihrer Mutter und ihrer dreijährigen Schwester. Die Schülerin weinte und bat flehentlich, man möge ihr gestatten ihr Schwesterchen zu umarmen. »Unmöglich!« lautete der Bescheid. Nun bat sie, man möchte der Kleinen erlauben ihr Händchen zwischen die Gitterstäbe hindurch zu stecken, damit sie ihr diese wenigstens küssen könnte. Auch diese Bitte wurde abgeschlagen und erregte sogar Aergerniß!

Erholungen

Trotzdem haben die Kinder angenehme, freundliche Erinnerungen in dem ernsten Hause hinterlassen. Waren doch die Zwischenstunden, wo die muntere Jugend sich in dem Klosterhof tummelte, auch eine Erholungspause, eine Abwechslung in dem öden Dasein der Erwachsenen. Vollends aber erlangten gewisse naive und komische Bemerkungen der kleinen Mädchen die Wichtigkeit historischer Ereignisse, und wurden eifrig besprochen und belacht. In dem Erziehungsinstitut dieses düstern Klosters war es, wo u. a. ein fünfjähriges Mädchen folgende, für sie erfreuliche Thatsache konstatirte: »Denken Sie, hochehrwürdige Mutter, eine Große hat mir eben gesagt, ich brauche blos noch neun Jahr und zehn Monat hier zu bleiben. Wie mich das freut!«

Hier fand eines Tages auch folgender denkwürdiger Dialog statt:

Nonne: »Warum weinen Sie mein Kind?«

Die Kleine, (sechs Jahre alt:) »Ich habe zu Alix gesagt, ich weiß die Geschichte von Frankreich.«

Alix (die Große, neun Jahre alt:) »Nein, sie weiß sie nicht.«

Nonne: »Warum denn?«

Alix: »Sie hat gesagt, ich soll das Buch aufschlagen, wo ich will, und sie würde auf die erste Frage antworten, die ich finden würde.«

»Nun, und ..?«

»Sie hat nicht antworten können.«

»Was haben Sie denn gefragt?«

»Ich habe ihr die erste Frage vorgelegt, die ich gefunden habe: Was geschah darauf?«

Hier wurde auch eine tiefsinnige Bemerkung über den leckermäuligen Papagei einer Dame des Instituts gemacht:

»Er ist allerliebst! Er frißt den Belag und läßt das Brod liegen, wie ein Mensch.«

Auf einer Fliese las man einst in diesem Kloster eine Beichte, die eine siebenjährige Sünderin vorher aufgeschrieben hatte, um sie nicht zu vergessen:

»Hochehrwürdiger Vater, ich klage mich der Habsucht an.«

»Hochehrwürdiger Vater, ich klage mich des Ehebruchs an.«

»Hochehrwürdiger Vater, ich klage mich an, meine Augen zu den Herren erhoben zu haben.«

Auf der Rasenbank eines Gartens in diesem Kloster erzählte ein sechsjähriges Kind einigen vier bis fünfjährigen Kameradinnen folgendes Märchen:

»Es waren einmal drei Hähnchen, die hatten ein Land, da waren viele Blumen. Sie haben die Blumen gepflückt und sie in ihre Taschen gesteckt. Dann haben sie die Blätter abgepflückt und sie in ihre Spielsachen gesteckt. In dem Land war auch ein Wolf und ein großer Wald, und der Wolf war in dem Wald, und hat die Hähnchen aufgefressen.«

Eine nicht minder schöne Erzählung lautet:

»Es kam mal ein Stockhieb, den hat Hanswurst der Katze gegeben. Er hat ihr nicht gefallen. Er hat ihr weh gethan. Da hat eine Dame den Hanswurst ins Gefängniß gesteckt.«

Hier that auch ein elternloses Kind, ein unglücklicher Findling, den das Kloster aus Barmherzigkeit aufgenommen hatte, einen Ausspruch, der das Herz mit Weh erfüllt. Als sie ihre Spielgefährtinnen von ihren Mütter sprechen hörte, meinte sie:

»Wie ich geboren wurde, ist meine Mutter nicht da gewesen!«

Der Speisesaal, ein großer länglicher rechteckiger Raum, zu dem das Tageslicht nur von einem mit dem Garten auf gleichem Boden liegenden Kreuzgang gelangte, war voller Ungeziefer, das ihm von allen Seiten zuströmte. Jede Ecke dieses Saales wurde von dem Zöglingen nach den Insekten benannt, die sich daselbst vorzugsweise aufhielten. Es gab eine Spinnen-, eine Raupen-, eine Asseln- und eine Grillenecke. Die Grillenecke war die beliebteste, weil sie der Küche zunächst lag und man dort weniger fror. Nach diesen Ecken nannte sich auch die Zöglinge, die bei der Mahlzeit ihre Plätze da hatten. Eines Tages sah der Erzbischof bei einer Visitation ein sehr hübsches, blondes Kind und fragte eine kleine Brünette, die neben ihm stand:

»Wer ist die Kleine?«

»Eine Spinne!«

»I was! Und die da?«

»Das ist eine Grille.«

»Und Die?«

»Eine Raupe.«

»Wirklich! Und Sie?«

»Ich bin ein Assel.«

Dergleichen Eigenthümlichkeiten hat jedes Erziehungsinstitut aufzuweisen. So gab es zu Anfang dieses Jahrhunderts eine solches in Ecouen, wo die Schülerinnen bei Prozessionen, je nach ihrer Rolle, die Jungfrauen, die Blumenmädchen, die Baldachine, die Weihrauchfässer genannt wurden. Die vier Jungfrauen gingen an der Spitze des Zuges, und man hörte am Morgen eines solchen Tages im Schlafzimmer ganz gewöhnlich die Frage: »Wer ist Jungfrau?«

Und eines Tages sagte eine siebenjährige zu einer Großen, sechzehnjährigen:

»Du bist Jungfrau, ich nicht.«

Zerstreuungen

Ueber der Thür des Speisesaals stand mit großen Buchstaben ein Gebet angeschrieben, welches solche Kraft besaß, daß, wer es hersagte, geradeswegs in den Himmel kommen konnte.

Ein großes, an der Mauer befestigtes Krucifix vervollständigte die Dekoration des Speisesaals, dessen einzige Thür, wie schon erwähnt, nach dem Garten ging. Zwei schmale Tische mit je zwei Holzbänken bildeten zwei lange Parallelen von dem einen bis zum anderen Ende des Saales. Die Wände waren weiß, die Tische schwarz, andere als diese Trauerfarben kommen ja in Klöstern kaum zur Verwendung. Bei Tische ging es sehr frugal zu. Ein aus Fleisch und Gemüse bestehendes Gerücht oder gesalzener Fisch galten schon als Luxus, der auch nur den Zöglingen als eine Ausnahme zugestanden wurde. Die kleinen Mädchen mußten schweigen und wurden von einer Nonne überwacht, die nicht einmal einer Fliege erlaubte, laut zu summen, sondern, indem sie ein Buch geräuschvoll zuklappte, dergleichen ungezogene Störenfriede zur Ruhe verwies. Das schweigsame Mahl wurde gewürzt mit Vorlesungen aus dem Leben der Heiligen, wozu eine »Große« jede Woche kommandirt wurde. Sie saß zu Füßen eines Krucifixes auf einem Katheder. Auf den ungedeckten Tischen standen hier und da glasirte Näpfe, in denen die Zöglinge ihr Geschirr und ihren Becher selber waschen mußten. Sie warfen aber auch bisweilen Speisen hinein, die sie nicht essen mochten, ungares Fleisch, faule Fische u. s. w., aber hierauf stand Strafe.

Brach eine Schülerin das Stillschweigen, so mußte sie ein Kreuz mit der Zunge machen, d. h. den Staub an der Erde auflecken. Der Staub, das Ende aller irdischen Freuden, diente auch hier dazu, jugendlichem Muthwillen eine Grenze zu setzen.

In dem Kloster befand sich ein Buch, von dem nur ein einziges, gedrucktes Exemplar existirt und das zu lesen verboten ist, nämlich die Regel des heiligen Benedikt, ein Geheimniß, in das Laien nicht eingeweiht werden dürfen.

Dieses Buch stahlen eines Tages die Zöglinge auf einige Augenblicke und lasen darin mit großer Neugierde, wobei sie fortwährend, aus Furcht ertappt zu werden, ihre sträfliche Lektüre unterbrachen. Das Vergnügen aber, das ihnen ihre Wagemuth einbrachte, war ein sehr mäßiges. Ein paar unverständliche Abschnitte, die von den Sünden der Knaben handelten, bildeten noch das »Interessanteste.«

Eine Allee des Gartens, wo sie spielten, war mit armseligen Obstbäumen eingefaßt. Hier glückte es ihnen bisweilen, der strengen Aufsicht und den harten Strafbestimmungen zum Trotz, wenn der Wind die Bäume geschüttelt hatte, einen unreifen Apfel, eine angefaulte Aprikose, eine wurmstichige Birne aufzulesen. Wie man es alsdann anfing, um zum Genuß dieser süßen, verbotenen Frucht zu gelangen, geht aus dem Briefe einer ehemaligen Schülerin des Klosters, der jetzigen Herzogin von — hervor: »Die Birne oder den Apfel versteckt man, wie man kann. Wenn man vor dem Abendessen in das Schlafzimmer hinaufgeht, um den Schleier auf das Bett zu legen, steckt man seinen Raub unter das Kopfkissen und verspeist ihn nachher im Bett, und geht das nicht an, so ißt man die Frucht auf dem Abtritt.« Dies galt für eins der herrlichsten Vergnügen.

Eines Tages, als wieder der Erzbischof das Kloster besuchte, wettete ein junges Mädchen aus einer der vornehmsten Familien des Landes, ein Fräulein Bouchard, sie würde den Erzbischof bitten, einen Tag frei zu geben. Das war in einem so streng gehaltenen Institut eine ungeheure Kühnheit und Niemand glaubte, daß Fräulein Bouchard Ernst damit machen würde. Aber als der Erzbischof an den Zöglingen vorüberschritt, trat zum allgemeinen Schrecken das kecke Mädchen aus ihrer Reihe hervor und sagte: »Ew. Erzbischöfliche Gnaden, geben Sie uns einen Tag frei!« Fräulein Bouchard war ein allerliebstes Kind mit rosigen Backen und der Erzbischof antwortete lächelnd: »Gewiß, mein liebes Kind. Sie sollen sogar drei Tage frei haben.« Da der Erzbischof gesprochen hatte, mußte die Priorin wohl oder übel schweigen.

Die Umgebung des Klosters war eine überaus stille. Doch drang in dem einen Jahr der Klang einer Flöte hinein, ein Ereigniß, dessen sich die damaligen Zöglinge noch heute erinnern.

Die Flöte spielte zwei bis drei Mal täglich, und immer dieselbe Melodie, eine jetzt veraltete: »Meine Zetulbe, komm und herrsche über mein Herz!« Diesen Klängen lauschten die jungen Mädchen Stunden lang, die Religiösen warm entsetzt, denn alle Gehirnchen waren in Aufruhr, und es regnete Strafen. Mehrere Monate hindurch waren sämtliche Fräulein des Instituts in den unbekannten Musiker verliebt. Jede wünschte, sie wäre Zetulbe. Sie hätten, wer weiß was, gegeben, hätten alles Mögliche riskirt, um nur eine Sekunde lang den »jungen Mann« zu Gesicht zu bekommen, der so schön die Flöte — und mit ihren Herzen — spielte. Manche schlichen sich zu einer nur von dem Gesinde benutzten Nebenthür hinaus und stiegen bis ins dritte Stockwerk empor. Aber umsonst. Eine steckte den Arm durch ein Gitter und schwenkte ihr weißes Taschentuch. Zwei waren noch dreister. Sie kletterten auf ein Dach, und hatten endlich das Glück den »jungen Mann« in Gestalt eines blinden, alten, ruinirten Edelmanns zu entdecken, der in einer Dachstube aus purer Langerweile die Flöte blies.

Das kleine Kloster

Auf dem Grundstück in der Rue Picpus standen drei, von einander gesonderte Gebäude, das große Kloster, das die Benediktinerinnen bewohnten, das Pensionat und das sogenannte kleine Kloster. Hier wohnten Angehörige der verschiedensten Orden, deren Klöster durch die Revolution ausgehoben worden waren.

Schon unter Napoleon war allen diesen armen Frauen die Erlaubnis ertheilt worden, sich hierher unter die Fittiche der Benediktinerinnen zu flüchten. Die Regierung zahlte ihnen eine kleine Pension, und das Kloster Picpus gab ihnen eine Wohnung. Hier sah man alle möglichen Ordenstrachten, und die Zöglinge des Instituts betrachteten es als eine Erholung, wenn ihnen die Erlaubniß gegeben wurde, diese Religiösen zu besuchen.

Unter den Nonnen, die dort eine Zuflucht gefunden, war auch eine von dem Orden der heil. Aura, die einzige ihrer Art, die damals noch existirte. Zu arm, um den prächtigen Habit ihres Ordens, ein weißes Kleid mit scharlachrotem Skapulier, zu tragen, zog das fromme Fräulein es einer Modellpuppe über, die sie Besucherinnen wohlgefällig zeigte und bei ihrem Tode dem Kloster vermachte. 1824 war also von dem Orden der heil. Aura noch eine Nonne, heutzutage ist nur noch eine Puppe übrig.

Außer diesen Religiösen hatten noch einige vornehme Laiendamen von der Priorin die Erlaubniß erhalten, sich in das kleine Kloster zurückzuziehen, darunter Madame de Beaufort d’ Hautpoul und die Frau Marquise Dufresne. Eine von diesen Damen war bei den Zöglingen des Pensionats wegen des großen Lärms berühmt, den sie machte, wenn sie sich die Nase schnaubte, und erhielt davon einen Spitznamen. Um das Jahr 1820 oder 1821 bat Frau de Genlis, die zu jener Zeit eine unbedeutende Zeitschrift. l’Intrépide, redigirte, um Aufnahme in das kleine Kloster. Diese von dem Herzog von Orleans unterstützte Bitte verursachte einen gewaltigen Aufruhr, die Nonnen zitterten, Hatte doch Frau von Genlis Romane geschrieben! Aber sie erklärte, sie verabscheue noch mehr, als Andere es thun könnten, diese sündhaften Werke, und ihre Frömmigkeit hatte damals eine solche Intensität erreicht, daß sie von einer Abweisung nichts hören wollte. Mit Hülfe Gottes — und des Prinzen — setzte sie ihren Willen durch, verließ aber das Kloster schon nach sechs bis acht Monaten, weil der Garten keinen Schatten hätte.

Einige Silhouetten

In den Jahren 1819 bis 1825 stand dem Kloster die Priorin Fräulein de Blemeur vor, mit ihrem Klosternamen Mutter Innocentia. Sie war ungefähr sechzig Jahr alt, klein und dick von Gestalt, sang wie eine »gesprungene Glocke« laut dem schon citirten Briefe und war zum Unterschied von allen andern Nonnen, von liebenswürdigem, heiterem Wesen und deshalb allgemein beliebt.

Mutter Innocentia glich ihrer Ahne, Marguerite de Blemeur, der Verfasserin des »Lebens der Heiligen von dem Orden des heil. Benedikt,« d. h. sie galt als eine große Gelehrte, die Geschichte und alte Sprachen aufs Gründlichste studirt hatte.

Die Unterpriorin war eine alte, halb erblindete spanische Nonne, die Mutter Cineres.

Mutter Sancta-Mechtilda, die den Solo- und Chorgesang dirigirte, nahm dazu mit Vorliebe Pensionärinnen, deren Stimmen eine Art vollständiger Tonleiter bildeten, also sieben Mädchen im Alter von zehn bis sechzehn Jahren. Diese reihte sie neben einander auf nach der Größe wie Orgelpfeifen.

Alle diese Nonnen waren sehr liebreich gegen die Mädchen und nur gegen sich selber streng. Nur im Pensionat wurde geheizt, und die Kost war gut, im Vergleich mit der des Klosters. Dazu eine liebevolle Behandlung. Freilich, wenn ein Mädchen einer Nonne begegnete und sie anredete, antwortete diese nicht.

Die Regel des Stillschweigens hatte die Wirkung hervorgebracht, daß in dem ganzen Kloster allen menschlichen Wesen das Wort entzogen und unbelebten Gegenständen gegeben war. Bald redete die Glocke in der Kirche, bald die Glocke des Gärtners. Außerdem verkündete eine sehr helle Klingel, die im ganzen Hause gehört werden konnte, vermittelst mannichfacher Kombinationen, welche eine Art akustischen Telegraphen darstellen, die Thätigkeit des Klosterlebens und berief im Nothfall diese oder jene Bewohnerin des Hauses nach dem Sprechzimmer. Jeder Insassin des Klosters und jedem Dinge entsprach ein bestimmtes Signal. Ein Schlag und wieder einer bezog sich auf die Priorin. Klingelte es fünf und dann sechs Mal, so war damit gemeint, daß der Unterricht wieder anfing. Neunzehn Schläge kündeten ein großes Ereigniß an, nämlich die Ankunft des Erzbischofs, vor dem allein das große Klausurthor um seine Angeln gedreht wurde.

Außer dem Erzbischof und dem Gärtner bekamen die Pensionärinnen noch zwei andere Männer zu sehen, den Almosenpfleger Abt Banès, einen häßlichen Alten, den sie durch ein Gitter im Chor betrachten durften, und den Zeichenlehrer Ansiaux, einen »abscheulichen alten Buckligen.« Wie man sieht, lauter auserlesene Vertreter des männlichen Geschlechts.

Post corda lapides

Nachdem wir die Bewohner des Klosters geschildert haben, ist es nicht überflüssig, seine materielle Gestalt mit einigen Worten anzugeben.

Das Kloster Petit-Picpus-Saint-Antoine füllte fast vollständig das große Trapez aus, das von der Rue Polonceau, der Rue Droit-Mur, der Rue Picpus und der ehemaligen, damals schon dem öffentlichen Verkehr entzogenen Rue Aumarais gebildet wird. Das Hauptgebäude, das aus mehreren verschiedenartigen Häusern bestand, lag an der Rue Droit-Mur zwischen der Rue Picpus und der Rue Polonceau, das kleinere an der Rue Pius, der es eine hohe, Fassade strengen Stils zukehrte. Es endete mit einem Thorweg Nr. 62; in der Mitte befand sich ein altes, bestaubtes Thor, das sich nur des Sonntags auf eine oder zwei Stunden öffnete und außerdem nur noch, wenn der Sarg einer Nonne aus dem Kloster hinausgetragen wurde. Es war der für das Publikum bestimmte Eingang zur Kirche. An der Ecke der Rue Picpus und der Rue Droit-Mur, wo die beiden Gebäude ein Knie bildeten, war die Speisekammer. Außerdem befanden sich in diesem Nebenbau die Küchen, der Speisesaal nebst dem Kreuzgang und die Kirche. Zwischen dem Thor Nr. 62 und der Ecke der Rue Aumarais lag das von außen nicht sichtbare Pensionat. In dem Hauptgebäude wohnten die Ordensangehörigen und die Novizen. Den Rest des Trapezes füllte der Garten aus, der tiefer lag als die Rue Polonceau, so daß die Mauern von Innen aus höher waren, als an der Straße. In der Mitte des leicht gewölbten Gartens stand auf einer Erderhöhung eine konische, spitze Tanne, von der, wie von einem Schildnabel, vier große Alleen ausgingen, sowie acht kleine, die, je zwei, zwischen den großen lagen. Diese Alleen waren wegen der Unregelmäßigkeit der Gartenmauern von sehr verschiedener Länge und mit Johannisbeesträuchern eingefaßt. Im Hintergrund zog sich, von den Ruinen des alten Klosters, das die Ecke der Rue Droit-Mur einnahm, bis zu dem kleinen, an der Ecke der Rue Aumarais gelegnen Kloster, eine Pappelallee hin. Vor dem kleinen Kloster lag der sogenannte kleine Garten, Dazu ein Hof, allerhand Ecken, wo die verschiedenen Gebäulichkeiten innen zusammenstießen, Gefängnismauern und eine Aussicht auf die lange Reihe schwarzer Dächer an der gegenüberliegenden Seite der Rue Polonceau; so ergiebt sich ein vollständiges Gesamtbild des Klosters Petit Picpus, wie es um das Jahr 1825 sich dem Auge des Beschauers darbot.

Ein Jahrhundert im Kloster

Da wir uns einmal auf die Schilderung von Einzelheiten eingelassen haben, bitten mir den Leser, uns noch eine Abschweifung zu gestatten, die mit unserer Erzählung in keiner Beziehung steht, aber insofern charakteristisch und nützlich ist, als sie zeigt, daß auch das Kloster seine Originale hat.

In dem kleinen Kloster wohnte eine Hundertjährige, die aus der Abtei Fontevrault stammte. Vor der Revolution hatte sie in der Welt gelebt. Sie sprach oft von Herrn de Miromesnil, Siegelbewahrer unter Ludwig XVI., und einer Präsidentin Duplat, mit der sie freundschaftlich verkehrt hatte. Ihre Eitelkeit gefiel sich sehr darin, die Rede auf diese beiden Namen zu bringen.

Oder sie erzählte Geschichten aus der Champagne und Burgund, namentlich die von der Darreichung der vier Weine. Wenn nämlich eine hohe Persönlichkeit, oder ihren Einzug in eine Stadt hielt, begrüßten sie die Behörden der Stadt und überreichten ihm in vier Trinkgefäßen vier verschiedene Weine. Auf dem ersten stand geschrieben: Affenwein; auf dem zweiten: Löwenwein; auf dem dritten: Schafwein; auf dem vierten: Schweinewein. Diese vier Inschriften bezeichneten vier verschiedene Stadien der Trunkenheit: Zu Anfang eines Rausches ist der Mensch lustig, dann händelsüchtig, dann stumpf und endlich gemein.

Sie hielt in einem Schrank einen geheimnißvollen Gegenstand verschlossen, den sie sehr hoch schätzte, was ihr die Regel von Fontevrault nicht untersagte, und zeigte Niemandem diesen Schatz. Sie schloß sich ein, was die Regel von Fontevrault ihr erlaubte, um sich an seinem Anblick zu weiden und machte den Schrank schleunigst zu, wenn sie Tritte im Flur hörte. Brachte man das Gespräch auf dies Thema, so schwieg sie, so redselig sie auch sonst war. Alle Neugierde, alle Zähigkeit scheiterte an ihrem hartnäckigen Widerstande. Natürlich machte Alles, was in dem Kloster an Müßiggang und Langeweile litt, seine Glossen über die sonderbare Geheimthuerei der alten Dame, handelte es sich um ein religiöses Buch, einen kostbaren Rosenkranz, eine echte Reliquie? Kurz, man erschöpfte sich in Vermuthungen. Als die Alte starb, eilte man, vielleicht schneller als es sich schickte, nach ihrem Schrank und schloß ihn auf. Das geheimnißvolle Stück war, wie ein Hostienteller, dreifach eingewickelt; es war aber eine Schüssel aus Faenza Porzellan mit einem derb komischen Bilde: Liebesgötter, verfolgt von Apothekergesellen, die mit ungeheuren Klystieren bewaffnet sind. Einer der Liebesgötter ist schon aufgespießt und bemüht sich vergeblich davonzufliegen; der böse Scherzbold, der ihn eingefangen hat, läßt ihn nicht los und freut sich diebisch über seinen Sieg. Moral: Der Sieg der Kolik über die Liebe. Diese sehr merkwürdige Schüssel, die vielleicht die Ehre gehabt hat, Molière eine Idee an die Hand zu geben, existirte noch im September 1845: sie stand damals bei einem Trödler auf dem Boulevard Beaumarchais zum Verkauf aus.

Der Ursprung der beständigen Anbetung

Der Orden von der ewigen Anbetung ist nicht sehr alten Ursprungs. Im Jahre 1649 wurde in Paris binnen wenigen Tagen das heilige Sakrament zwei Mal entweiht, ein abscheulicher Frevel, der die ganze Stadt in Aufregung versetzte. Der Prior und Großvikar der Kirche Saint-Germain-des-Prés veranstaltete mit seiner ganzen Geistlichkeit eine Prozession, bei der der Nuntius des Papstes das Hochamt hielt. Aber diese Sühne genügte zwei wackren Frauen, der Madame Courtin, Marquise de Boucs und der Gräfin de Châteauvieux, nicht. Die dem hochehrwürdigsten Gut angethane Beschimpfung ließ diesen frommen Seelen keine Ruhe. Sie schenkten der Mutter Catherine de Bar bedeutende Gelder behufs Gründung eines Klosters vom Orden des heil. Benedikt. Die erste Ermächtigung zu dieser Stiftung ertheilte der Mutter Catherine de Bar Herr de Metz, Abt von Saint-Germain, »unter der Bedingung, daß keine Nonne aufgenommen werden solle, die nicht ein Einkommen von dreihundert Franken, was also ein Kapital von sechstausend Franken repräsentire, mitbrächte.« Nach dem Abt von Saint-Germain, ertheilte der König seinen Freibrief und 1654 wurden beide Urkunden von der Rechnungskammer und dem Parlament bestätigt.

Das Ende des Klosters Petit-Picpus

Seit dem Anfang der Restauration ging es mit dem Kloster Petit-Picpus bergab, wie überhaupt mit dem ganzen Orden und allen anderen religiösen Genossenschaften. Die beschauliche Betrachtung ist, wie das Gebet, ein Bedürfnis der Menschheit; aber sie erfuhr wie Alles, dessen sich die Revolution bemächtigt hat, eine Umwandlung und wurde aus einer dem Fortschritt feindlichen Macht eine ihm förderliche.

Das Ordenshaus in der Rue Picpus entvölkerte sich rasch. l840 war sowohl das kleine Kloster, als auch das Pensionat nicht mehr vorhanden.

Die Regel der beständigen Anbetung ist von abschreckender Strenge und dies ist der Grund, warum seit 1845 wohl noch Conversschwestern rekrutirt wurden, keine neuen Chordamen aber mehr eintraten. Um das Jahr 1823 zählte das Kloster etwa hundert Nonnen; fünfundzwanzig Jahre später findet man deren nur noch achtundzwanzig. 1847 stand dem Hause eine junge Priorin vor, ein Zeichen, daß weniger Auswahl war. Sie war keine vierzig Jahre alt.

Wir möchten an diesem merkwürdigen und unbekannten Hause nicht vorübergehen, ohne den Lesern sein Inneres zu zeigen. — Wir haben uns mit alten Bräuchen und Anschauungen vertraut gemacht, die gegenwärtig neu erscheinen. Wir haben Sonderbarkeiten ausführlich besprochen, aber ohne den ihnen gebührenden Respekt aus dem Auge zu lassen. Halten wir uns doch grundsätzlich gleich fern von dem Hosiannah Joseph de Maistre’s, der den Henker verherrlicht und von dem Hohngrinsen Voltaire’s, der das Krucifix verspottet.

Das neunzehnte Jahrhundert ist eine Zeit der Krisis für die Religion, Man verlernt heutzutage manche Dinge und thut gut daran, wofern man an Stelle des Verlernten Neues zulernt. Das Herz des Menschen kann nicht leer bleiben. Alte Häuser müssen abgebrochen, aber durch neue ersetzt werden.

Mittlerweile wollen wir aber das Gewesene prüfen. Wir müssen es kennen lernen, wäre es auch nur, um es zu meiden. Legen sich doch Nachahmungen der Vergangenheit oft falsche Namen bei und geben sich für die Zukunft aus! Hüten wir uns vor derartigen Fallstricken! Die Vergangenheit hat ein Antlitz, dessen Name Aberglaube ist: Wir müssen es brandmarken. Es trägt eine Maske, die Heuchelei, die wir ihm entreißen müssen.

Was die Klöster betrifft, so ist die Frage nach ihrer Berechtigung eine verwickelte. Die Civilisation verurtheilt sie; das Prinzip der Freiheit erheischt, daß sie geduldet werden.

Eine Parenthese

Das Kloster als abstrakte Idee

Dieses Buch ist ein Drama, dessen Hauptrolle der Unendliche spielt.

Der Mensch spielt die zweite.

Aus diesem Grunde haben wir, da wir ein Kloster an unserem Wege fanden, uns darin umsehen müssen. Warum? Weil das Kloster, als eine dem Orient wie dem Occident, dem Alterthum wie der Neuzeit, dem Heidenthum, dem Buddhismus, dem Islam wie dem Christenthum gemeinsame Erscheinung eines der optischen Instrumente ist, deren sich der Mensch bedient, um sich den Unendlichen näher zu rücken.

Es ist hier nicht der Ort, ins Weite zu schweifen; aber trotz aller Einwände, die wir uns zu erheben veranlaßt fühlen, ja trotz des Unwillens, den wir hier und da nicht unterdrücken können, empfinden wir Achtung und Ehrfurcht jedes Mal, wenn wir im Menschen dem Unendlichen begegnen. Die Synagoge, die Moschee, die Pagode, hat für uns etwas Widerwärtiges, das wir verabscheuen, und etwas Erhabenes, das wir verehren. Sie bieten immer Stoff zu tieferen Betrachtungen, sind Mauern, an denen göttliches Licht sich bricht.

Das Kloster als geschichtliche Thatsache

Unter dem Gesichtspunkt der Geschichte, der Vernunft und der Wahrheit betrachtet, ist das Mönchsthum verdammenswert.

Die Klöster sind Hemmnisse des Verkehrs, Sammelpunkte der Trägheit, wo Sammelpunkte der Arbeit sein sollten. Sie sind für die menschliche Gesellschaft dasselbe, was die Mistel für die Eiche, die Warze für den organischen Körper ist. Sie nähren sich auf Kosten des Landes, das sie duldet. Als die europäische Zivilisation noch in den Windeln lag, dienten sie dem Fortschritt, insofern sie sich der barbarischen Rohheit und Gewaltthätigkeit als ein geistiges Element entgegenstellten und Erziehungs-Institute der unreifen Menschheit waren; heutzutage, wo die Völker ihr Mannesalter erreicht haben, können die Klöster nur hinderlich sein. Wieviel Schaden sie stiften können, sehen wir an Italien und Spanien, Ländern, die Jahrhunderte lang Hauptträger der Kultur waren und durch das Mönchsthum an den Rand des Abgrunds gebracht worden sind. Erst jetzt fangen diese beiden Nationen wieder an zu gesunden; dank den energischen Heilmitteln, die ihnen das Revolutionsjahr 1789 gebracht hat.

Das Kloster, besonders das Frauenkloster, wie es sich noch zu Anfang dieses Jahrhunderts in Italien, Oesterreich, Spanien unseren Blicken darstellt, ist eine der grauenhaftesten Schöpfungen des Mittelalters, ein Koncentrationspunkt aller Schrecknisse des Todes.

Besonders das spanische Kloster ist schaurig. Da erheben sich unter dunsterfüllten Gewölben, unter dämmrigen Kuppeln, von Dunkelheit umhüllt, turmhohe Altäre; da hängen im tiefsten Schatten große, weiße Krucifixe; da liegen nackt auf Ebenholz elfenbeinerne Christusleichen, von Blut triefend, von scheußlicher Magerkeit, mit klaffenden Wunden, mit silbernen Dornen gekrönt, von goldenen Nägeln durchbohrt, die Stirn mit Rubinen statt Blutstropfen bedeckt und mit diamantnen Thränen in den Augen. Zu den Füßen dieser grausigen Bildnisse weinen über Rubinen und Diamanten, verschleierte Wesen, aus deren Körper das härene Bußhemd und stachlige Geißeln blutige Male hinterlassen haben, deren Brüste eingedrückt, deren Kniee zerschunden sind; Frauen, die sich für Bräute, hagere Gespenster, die sich für Seraphim halten. Denken, wollen, lieben, leben diese Frauen? Nein! Sie sind Wesen, die im Reich des Todes wohnen.

Das katholische Spanien war römischer gesinnt, als Rom selber. Das spanische Kloster gab ein vollendetes Vorbild für alle katholischen Klöster ab. Hier spürte man den Orient. Der Erzbischof war der Kislar-Aga des Himmels, der im Interesse des Höchsten Seelen einsperrte und spionirte. Das Kloster war ein Serail, in dem die Nonne die Odaliske und der Priester den Eunuchen darstellte. Die gottbegeisterten Mädchen sahen sich im Traum zu Gattinnen Christi erkoren. In der Nacht stieg der schöne Mann vom Kreuze herab und umarmte die Insassin der Zelle. Hohe Mauern behüteten vor den Zerstreuungen des Lebens die mystische Sultanin, deren Herr und Gebieter der Gekreuzigte war. Ein Blick in die Außenwelt war ein Akt der Untreue. Statt des ledernen Sacks hatte man hier das in pace, das lebenslängliche Gefängniß, die Erinnerung, Im Orient warf man die Frauen ins Meer, hier begrub man sie.

Heutzutage widerlegen die Anhänger der Vergangenheit solche Thatsachen mit einem überlegenen Lächeln. Man hat jetzt eine ebenso sonderbare, wie bequeme Methode die Offenbarungen der Geschichte zu unterdrücken, die Bemerkungen der Philosophen zu entkräften, allen lästigen Thatsachen und heikligen Fragen aus dem Wege zu gehen, »Erfindungen von Phrasendrechslern!« meinen die Schlauköpfe, und die Dummen sprechen es ihnen nach. Für diese Leute waren Rousseau und Diderot Phrasendrechsler; Phrasen drechselte Voltaire, als er Calas, Labarre, Sirven vertheidigte, Neuerdings hat auch Jemand die Entdeckung gemacht, daß Nero das unschuldige Opfer des Phrasendrechslers Tacitus war, daß man mit dem armen Holophernes Mitleid haben müsse.

Thatsachen sind aber doch widerborstige Dinger, die sich nicht bei Seite schieben lassen. Der Verfasser dieses Buches hat acht Meilen von Brüssel, in der Abtei Villers mit seinen eigenen Augen ein Stück Mittelalter gesehen, das Jedermann erreichbar ist, nämlich vier unterirdische Verließe, vier in pace. Jedes dieser Gefängnisse hat eine, gegenwärtig demolirte, eiserne Thür, einen Abtritt und eine vergitterte Luke, die draußen zwei Fuß über dem Flusse, der Tille, und drinnen sechs Fuß über dem Erdboden angebracht ist. Auswendig wird die Mauer von dem hier vier Fuß tiefen Wasser bespült; daß viel Feuchtigkeit in die Zelle hineindringt. Und auf dem feuchten Fußboden mußte der Insasse des in pace liegen. In dem einen von diesen Gefängnissen sieht man noch ein an der Mauer befestigtes Halseisen; in einem andern eine Art Kiste aus dünnen Granitplatten. Sie ist zu kurz, als daß ein Mensch sich darin der Länge nach hinstrecken, zu niedrig, als daß er sich aufrichten könnte. Aber in solche steinerne Kisten steckte man menschliche Wesen und stülpte über sie einen steinernen Deckel. Dies ist eine Thatsache, die man mit Augen sehen, mit Händen greifen kann.

Mit welchem Vorbehalt man die Vergangenheit achten kann

Das Mönchsthum, wie es in Spanien existirte und noch jetzt in Tibet besteht, ist eine Art Schwindsucht für die Civilisation. Es entvölkert die Länder, verkümmert Willenskraft und Verstand, ist eine Stütze der Tyrannei des Staates und eine Ursache unsäglicher Qualen für die Unglücklichen, die ihr Leben innerhalb der Zellenmauern verschmachten.

Trotz alledem, trotz der Aufklärung unseres Jahrhunderts, hat sich das Mönchthum in unser neunzehntes Jahrhundert hinübergerettet, und eine sonderbare Wiederbelebung des ascetischen Geistes setzt gegenwärtig die civilisirte Welt in Erstaunen. Veraltete Institutionen klammern sich verzweifelt ans Leben.

Sonderbarer Weise giebt es Leute, die Vergangnes und Abgestorbenes am Leben erhalten möchten, Mönchthum und Militarismus wieder herzustellen versuchen. Diese übertünchen das baufällige Haus der Vergangenheit mit schönen Farben, die sie Ordnung, Gottesgnadenthum, Moral, Familie, Achtung vor den Vorfahren, Autorität, Ueberlieferung, Religion nennen und sagen: »Ist das nicht ein Haus, wo es sich angenehm wohnen läßt?« —

Was uns betrifft, so finden wir manches Alte, das uns achtungswert erscheint, und enthalten uns der Angriffe, wenn die Vergangenheit anerkennt, daß sie vergangen ist. Behauptet sie aber, sie sei lebensfähig, so suchen wir sie zu töten. Wir wissen auch, daß wir mit dem Aberglauben, den Vorurtheilen unablässig Krieg führen müssen. Ewiger Kampf ist eine Nothwendigkeit des Daseins, und der Spuk ist ein Gegner, der sich schwer fassen, schwer werfen läßt.

Ein Mönchsorden in Frankreich, mitten im neunzehnten Jahrhundert, ist ein Kollegium Eulen, das im Sonnenlicht tagt; klösterlicher Ascetismus in der Stadt, der die Welt die Revolutionen von 1789, 1830, 1848 verdankt, ist ein Anachronismus. In gewöhnlichen Zeiten wird man mit solchen verjährten Dingen fertig, in dem man ihnen die Jahreszahl vorhält, aber wir leben leider eben nicht in gewöhnlichen Zeiten.

Wir müssen also kämpfen.

Kämpfen, aber nicht gegen Alles und Jedes. Es ist ein wesentliches Merkmal der Wahrheit, daß sie das Uebermaß meidet. Wozu übertreiben? Es giebt Dinge, die zerstört und Dinge, die blos ins rechte Licht gerückt werden müssen. Nichts Wirksameres, als wohlwollende und sachgemäße Kritik! Was der Beleuchtung bedarf, soll man darum noch nicht in Brand stecken.

Ist aber das Mönchswesen im neunzehnten Jahrhundert, in jedweder Gestalt und in allen Landen, verdammenswert, so haben wir uns andererseits mit der Religion abzufinden. Dieses an Räthseln reiche, gewichtige Problem gestatte man uns, jetzt näher zu prüfen.

Principielle Fragen über die Berechtigung des Klosterwesens

Gewisse Menschen thun sich zusammen und beziehen dasselbe Wohngebäude. Kraft welches Rechtes? Weil die Association gesetzlich gestattet ist.

Sie schließen sich ein. Kraft welches Rechtes? Ein Jeder darf seine Thür auflassen und verschließen.

Sie gehen nicht aus. Kraft welches Rechtes? Sie dürfen gehen und kommen und folglich auch zu Hause bleiben.

Was thun sie in ihrem Hause?

Sie sprechen leise; sie schlagen die Augen nieder; sie arbeiten. Sie entsagen der Welt, dem Stadtleben, dem Sinnengenuß, der Eitelkeit, dem Hochmuth, dem Eigennutz. Sie kleiden sich in grobe Wolle oder Leinwand. Keiner hat irgend etwas zu eigen. Bei dem Eintritt giebt der Reiche seinen Reichthum hin und wird arm, erkennt der Vornehme, der Adelige den Bauern als seines Gleichen an. Die Zelle des Einen unterscheidet sich nicht von der Zelle des Anderen. Sie sind Einer wie der Andere mit der Tonsur versehen, tragen eine Kutte, essen Schwarzbrot, schlafen auf Stroh, sterben auf einem Haufen Asche. Verlangen es ihre Satzungen, daß sie barfuß gehen, so gehen Alle barfuß. Alle Titel, ja sogar die Familiennamen sind abgeschafft. Sie führen nur noch Vornamen. Haben sie doch die fleischliche Familie aufgelöst und eine geistige aus ihrer Genossenschaft gebildet. Sie haben keine anderen Verwandten mehr, als die ganze Menschheit. Sie unterstützen die Armen, pflegen die Kranken. Sie wählen Diejenigen, denen sie gehorchen wollen. Ihre Anrede untereinander ist »Mein Bruder!«

Hier schneidet man mir die Rede ab und ruft: »Das ist ja ein ideales Kloster!«

Meinetwegen. Aber wäre es auch nur ein mögliches, so darf ich es nicht außer Betracht lassen.

Daher habe ich auch in dem vorigen Buche von dem Kloster in achtungsvollem Tone gesprochen. Wird das Urtheil der Geschichte und Politik respektirt, darf ich die Frage unter einem rein philosophischen Gesichtspunkt betrachten, wird Einmischung in die Politik unterlassen, so werde ich, vorausgesetzt, daß gegen Niemand ein Zwang ausgeübt wird, klösterliche Genossenschaften einer achtungsvollen Theilnahme für werth erachten. Eine Genossenschaft ist eine Gemeinde, und die Gemeinde ist die Trägerin des Rechtes. Das Kloster ist dann ein Erzeugniß der Losung: »Gleichheit und Brüderlichkeit!« Ja groß ist die Freiheit! Sie bringt Herrliches zu Wege, sogar die Verwandlung des Klosters in eine Republik!

Jetzt eine andere Frage.

Die Männer und Frauen, die innerhalb der Mauern eines Klosters weilen, kleiden sich in Wolle, und sie nennen sich Brüder. Das ist Alles recht schön; aber thun sie nicht noch etwas Anderes?

Gewiß.

Was?

Sie sehen ins Weite, knieen, falten die Hände.

Was bedeutet das?

Das Gebet

Sie beten.

Zu wem?

Zu Gott.

Was heißt das, beten?

Giebt es ein Unendliches außer uns? Ist dieses Unendliche ein Wesen, imminent, ewig, nothwendiger Weise substantiell und mit Vernunft begabt, weil es unendlich ist und weil, wenn ihm die Materialität und die Vernunft abgingen, dies Beschränkungen sein würden? Erweckt dies Unendliche in uns den Begriff des Seins, während wir uns nur Existenz beilegen können? In andern Worten, ist es nicht das Absolute, dem gegenüber wir das Relative darstellen?

Besteht nun nicht neben dem Unendlichen außer uns zugleich ein Unendliches in uns? Ist dann nicht das eine Unendliche dem andern übergeordnet, das zweite nicht das Spiegelbild, der Wiederschein, das Echo des Ersten? Ist das zweite Unendliche auch mit Intelligenz begabt? Denkt, liebt, will es? Wenn die beiden Unendlichen Vernunftwesen sind, so hat jedes von ihnen auch ein mit der Fähigkeit zu wollen begabtes Prinzip, es existiert dann ein Ich in dem oberen und ein Ich in dem unteren Unendlichen. Das untere ist die Seele, das andere heißt Gott.

Mittels des Denkens das niedere Unendliche mit dem oberen in Berührung bringen, heißt beten.

Nehmen wir dem Menschengeiste nichts; Vernichtung schadet. Verändern und Verbessern, darauf kommt es an. Gewisse Fähigkeiten des Menschen sind dem Unbekannten zugewandt: das Denken, die Phantasie, das Gebet. Das Unbekannte ist ein unermeßlicher Ocean. Was ist das Gewissen? Der Kompaß des Unbekannten. Das Denken, die Phantasie, das Gebet sind Ausstrahlungen der Seele, die dem Licht zueilen. Wir müssen ihnen Ehrfurcht zollen.

Das Großartige an der Demokratie ist, daß sie nichts negirt und der Menschheit keines ihrer Besitztümer nimmt. Neben den Menschenrechten, die uns 1789 geschenkt, besteht das Recht der Seele.

Jedweden Fanatismus unter unsere Füße treten und das Unendliche verehren, dies sind die Forderungen des Gesetzes. Beschränken wir uns nicht darauf, vor dem Baum der Schöpfung niederzuknieen und uns in die Betrachtung seiner Herrlichkeiten zu versenken. Wir haben auch eine Pflicht: wir sollen die Vervollkommnung der Menschenseele fördern, das Mysterium gegen das Wunder vertheidigen, das Unbegreifliche anbeten und das Verkehrte verwerfen, als unerklärlich nur das gelten lassen, was wir unerklärt lassen müssen, die Religion vom Aberglauben befreien, Gott abraupen.

Ueber die absolute Vorzüglichkeit des Gebetes

Was die Art zu beten anbetrifft, so ist jedes Gebet gut, vorausgesetzt, daß es ein aufrichtiges ist.

Wir wissen wohl, es giebt eine Philosophie, die das Unendliche leugnet. So giebt es auch eine Philosophie, die dem Licht der Sonne das Dasein abspricht. Die Pathologen nennen das Blindheit.

Einen Sinn, der Einem fehlt, zur Quelle der Wahrheit erheben, dazu gehört die naive Dreistigkeit des Blinden.

Merkwürdig ist der Hochmuth dieser Philosophen, gegenüber denen, die fähig sind, Gott zu sehen. Man glaubt, einen Maulwurf zu hören, der da schreit: »Die thun mir leid mit ihrer Sonne!«

Allerdings giebt es auch unter den Atheisten Geistesriesen. Diese aber führt eben ihre hohe Intelligenz der Wahrheit zu; sie sind keine echten Atheisten. Sie streiten im Grunde nur um eine Definition, eine Begriffsbestimmung; jedenfalls verleiht die Art ihrer Argumentation dem von ihnen angefochtenen Glauben eine starke Stütze.

Wir bewundern sie mithin als große Philosophen, während wir sie wegen ihrer Philosophie unerbittlich schelten.

Sonderbar muthet uns auch das Spiel mit Worten in der Philosophie an. So hat neuerdings ein Metaphysiker des Nordens mit einer nebelhaft unklaren Theorie eine Umwälzung auf dem Gebiet des philosophischen Denkens herbeizuführen geglaubt, blos indem er statt Kraft Wille sagte.

Statt »die Pflanze wächst!« »die Pflanze will!« zu setzen, wäre ja ein fruchtbarer Gedanke, wenn man zugleich hinzusetzte: »Das Weltall will!« Warum? Weil sich daraus die Schlußforderung ergeben würde: »Die Pflanze will, also hat sie ein Ich; das Weltall will, also hat es einen Gott!«

Uns, die wir doch zum Unterschiede von dieser Philosophenschule nichts a priori verwerfen, scheint es schwieriger nachzuweisen, daß die Pflanze die Fähigkeit zu wollen hat, als daß dem Weltall ein Wille inne wohnt, was jene Metaphysiker leugnen.

Die Willensfähigkeit des Unendlichen, d.h. Gottes Dasein bestreiten, kann man, wie wir dargethan haben, nur indem man das Unendliche leugnet.

Die Leugnung des Unendlichen führt direkt zum Skepticismus. Es wird dann alles zu einer »Anschauungsform des Verstandes.«

Mit einem Skeptiker kann man nicht diskutiren. Leugnet er doch, daß sein Gegner existirt, und ist durchaus nicht sicher, daß er existirt.

Von seinem Standpunkt aus ist es denkbar, daß er für sich selber eine Anschauung seines Verstandes ist.

Dabei merkt er aber nicht, daß er Alles, was er geleugnet hat, alsbald wieder zugiebt, indem er das Wort »Verstand« ausspricht.

Kurz, ein Lehrsystem, das in einem großen Nein gipfelt, versperrt der Philosophie alle Wege.

Solch einem Nein kann man nur ein Ja entgegensetzen.

Der Skepticismus hat keine Existenzberechtigung.

Es giebt kein Nichts. Null existirt nicht. Alles ist etwas. Von nichts kann man aussagen, daß es nicht sei.

Der Mensch bewarf der Bejahung noch mehr, als der Nahrung.

Auch Sehen und Zeigen genügt nicht. Die Philosophie soll sich bethätigen, soll die Besserung des Menschen bezwecken und erreichen. Sokrates Weisheit soll sich mit Adams Paradiesesglück vermählen und einem Mark-Aurel das Dasein geben. Nicht der Genuß ist der Zweck des Daseins. Das Vieh genießt; der Ehrgeiz des Menschen soll nach etwas Höherem streben. Das Denken ist das Lebenselement der Seele. Den verschmachtenden Menschen Gedanken kredenzen, Allen den Gottesbegriff als Elixier darbieten, um ihr moralisches Bewußtsein und die Wissenschaft ein Band schlingen, — das ist die Aufgabe der wahren Philosophie. Die Betrachtung führt zu Handlungen. Das Absolute soll praktisch wirken. Das Ideal muß eine für den menschlichen Verstand verdaubare Form annehmen. Das Ideal darf sagen: »Nehmet hin, dies ist mein Fleisch; dies ist mein Blut.« Die Weisheit ist eine Kommunion. Unter dieser Bedingung hört sie auf, eine unfruchtbare Liebe zur Wissenschaft zu sein, wird das höchste Princip, das alle Menschen zu einem Ganzen vereinigt, und schwingt sich zum Range einer Religion empor.

Vorsicht beim Tadel

Die Geschichte und die Philosophie haben ewige Pflichten, die zugleich einfache, selbst verständliche sind. Einen Hohenpriester wie Kaiphas, einen Richter wie Drako, einen Gesetzgeber wie Trimalchio, einen Kaiser wie Tiberius soll man bekämpfen. Aber nicht ganz so leicht läßt sich über das Mönchsthum aburtheilen.

Die Klöster sind Zufluchtsstätten des Irrthums, aber auch der Unschuld, der Verirrung, aber auch des guten Willens, der Unwissenheit, aber auch der Hingabe an ein Ideal. Deshalb stehen sich in einem Urtheil über das Mönchsleben immer ein Ja und ein Nein gegenüber.

Ein Kloster ist ein Widerspruch. Das Ziel des Mönches ist die ewige Seligkeit, sein Mittel, dieses Ziel zu erreichen, die Selbstaufopferung. Also der Egoismus neben der heldenmüthigsten Selbstverleugnung.

»Entsagen, um zu herrschen!« scheint der Wahrspruch des Mönchthums zu lauten.

Im Kloster leidet man, um zur Lust zu gelangen, zieht man einen Wechsel auf den Tod. Im Kloster verbüßt man Höllenstrafen, um desto schneller in das Paradies einzugehen.

Es will uns nicht scheinen, daß es statthaft sei, über einen solchen Gegenstand zu spotten. Gutes und Böses sind hier ernsthaft zu nehmen.

Ein gerechter Mann runzelt wohl die Stirn über das moderne Klosterleben, enthält sich aber jedes boshaften Hohnes.

Glaube und Gesetz

Noch einige Worte.

Wir mißbilligen es, wenn die Kirche sich auf Intriguen einläßt; wir verachten die Geistlichkeit, die am Weltlichen hängt; aber wir ehren immer einen Menschen, dessen Geist sich mit höheren Dingen beschäftigt.

Wir neigen uns vor dem, der sich vor dem Höchsten demüthigt.

Der Religion kann der Mensch nicht entrathen. Wehe dem, der an nichts glaubt!

Wer sich mit Gedanken beschäftigt, ist darum noch nicht unbeschäftigt. Es giebt sichtbare und unsichtbare Arbeit.

Auch wenn er die Hände in den Schoß legt oder sie faltet, kann der Mensch thätig sein. Die beschauliche Betrachtung ist eine produktive Leistung.

Weil er vier Jahre lang in regungsloser Betrachtung verweilte, wurde Thales der Begründer der Philosophie. Für uns sind die Klostermönche keine Müßiggänger, die Klausner keine Faulpelze.

Wir sind, ohne von dem Gesagten irgend etwas zu widerrufen, der Meinung, daß es den Lebenden geziemt, beständig an das Grab zu denken. In diesem Punkt stimmen der Priester und der Philosoph überein. »Wir müssen sterben!« lautet der Gruß der Trappisten und mahnt Horaz, wenn er uns auffordert, das Leben zu genießen.

Gedankenlose und oberflächliche Leute sagen:

»Wozu sind die denn in der Welt nütze?«

Wir antworten: »Wer weiß, ob es irgend eine nützlichere Arbeit giebt, als die jene Leute leisten.«

Es muß doch wohl Leute geben, die immer für diejenigen beten, die nie beten.

Unseres Erachtens kommt es auf das Quantum Nachdenken an, das auf das Gebet verwendet wird.

Es ist etwas Schönes und Großes um das Gebet eines Leibnitz, eines Voltaire. Deo erexit Voltaire.

Wir sind für die Religion und gegen die Religionen.

Wir gehören zu denen, die an die Unzulänglichkeit der überlieferten Formeln und an die Kraft des eigner Initiative entstammten Gebets glauben.

Zu jetziger Zeit übrigens, einer Zeit, die glücklicher Weise unserm Jahrhundert nicht sein wesentliches Gepräge aufdrücken wird, einer Zeit, wo so viele Menschen die Stirn vor den Mächtigen dieser Welt neigen und nur einer Genußmoral fröhnen, in einer solchen Zeit verdient derjenige, der die Welt flieht, Hochachtung. Ein Opfer, zu dem uns falsche Grundsätze veranlassen, ist immerhin ein Opfer. Einen Irrtum, der in herber Selbstüberwindung ausmündet, zum Range einer Pflicht erheben, ist etwas Großes.

Die Kirchhöfe nehmen, was man ihnen giebt

Wie man in ein Kloster hineinkommt

Nachdem Cosette zu Bett gebracht war und Jean Valjean und Fauchelevent zu Abend gegessen hatten, streckten sich Beide, da weiter kein Bett vorhanden war, auf ein Bund Stroh hin. Bevor er aber die Augen schloß, sagte Jean Valjean noch einmal: »Ich muß durchaus hier bleiben!«

Diese Worte trabten dem wackern Fauchelevent die ganze Nacht im Kopfe herum, und auch Jean Valjean that bis zum Morgen kein Auge zu.

Er begriff, da Javert ihm auf die Spur gekommen war, daß er und Cosette verloren waren, wenn sie in die Stadt zurückgingen. Nun ein neuer Sturm ihn hierher verschlagen hatte, mußte er hier bleiben. Denn das Kloster war zwar ein überaus gefährlicher, aber auch der sicherste Ort; gefährlich, denn kein Mann durfte das Klostergebiet betreten, und ertappte man ihn, so wanderte er stracks ins Gefängniß; die denkbar größte Sicherheit bot aber dem Flüchtling dies Kloster, insofern es Niemanden in den Sinn kommen konnte, ihn hier zu suchen.

Ebenso schlug sich Fauchelevent auf seinem Lager mit den mannigfaltigsten Gedanken herum. Zu allererst wurde er sich klar darüber, daß die ganze Sache sehr unklar war. Wie kam Herr Madeleine über die hohe Mauer in den Garten? Hinübergestiegen war er nicht, dazu war sie zu hoch, und hinaufklettern war auch nicht möglich, am allerwenigsten mit einem Kinde auf dem Rücken oder in den Armen. Was war das übrigens für ein Kind? Wo kamen sie alle beide her? Seitdem Fauchelevent im Kloster war, hatte er keine Nachrichten mehr aus Montreuil-sur-Mer gehabt, Vater Madeleine sah auch nicht danach aus, als habe er Lust, viel Fragen zu beantworten, und einen Heiligen auszuforschen, wäre doch auch gar zu unschicklich gewesen. Der Gärtner schloß aber aus einigen Aeußerungen Jeans Valjean’s, Herr Madeleine habe in Folge des allgemeinen Stillstands von Handel und Wandel fallirt und werde von seinen Gläubigern verfolgt, oder er hätte sich bei einer politischen Verschwörung betheiligt und müsse sich verborgen halten, was unserem Fauchelevent durchaus nicht mißfiel, denn er war gut bonapartistisch gesinnt.

Jedenfalls hatte sich also Herr Madeleine das Kloster zum Versteck ausgesucht, und da war es selbstverständlich, daß er bleiben wollte. Unbegreiflich war es allerdings, daß er ein kleines Mädchen mitgebracht hatte. Aber was half es, daß er sich über diese und andere Thatsachen den Kopf zerbrach, seinen eigenen Augen und Ohren nicht trauen wollte und die ganze unerklärliche Geschichte immer wieder in Gedanken durchnahm? Klar blieb doch nur der eine Punkt, daß Herr Madeleine ihm das Leben gerettet hatte. Diese Thatsache gab den Ausschlag. Fauchelevent sagte sich: »Jetzt bin ich an der Reihe. Uebrigens hat sich Herr Madeleine nicht so lange bedacht, als er unter den Wagen gekrochen ist und mich gerettet hat.«

Alle Einwände, die etwa gegen den Entschluß, seinen Wohlthäter zu retten, erhoben werden konnten, erwiesen sich aus den ersten Blick als hinfällig,

»Wenn er aber gestohlen hätte, müßte ich ihn dann auch noch retten? Ja, trotz alledem. Oder gesetzt, er hätte Einen tot geschlagen? Trotzdem. Da er aber ein Heiliger ist, erst recht.«

Aber wie das Ungeheure möglich machen? Der Gedanke, daß er dem Flüchtling hier im Kloster eine dauernde Zufluchtsstätte bereiten sollte, grenzte an baren Unsinn, und dennoch unternahm es der arme, alte Mann, nur gestützt auf seinen guten Willen und seine Bauernschlauheit, mit der Klosterregel fertig zu werden. Vater Fauchelevent war im Egoismus ergraut, aber jetzt, wo er am Ende seiner Tage stand und keine Interessen mehr in dem Weltgetriebe wahrzunehmen hatte, jetzt gefiel er sich in der Pflicht, Dankbarkeit zu bezeigen; jetzt stürzte er sich auf die Gelegenheit etwas Gutes zu thun, wie Einer, der vor Durst vergeht, über ein Glas guten Wein, von dem er noch nie getrunken hat. Die moralische Atmosphäre, in der er nun seit mehreren Jahren weilte, hatte eine Umwandlung seines innern Menschen hervorgerufen, und ihn altruistischen Ideen zugänglich gemacht.

Endlich besaß er noch eine andere kostbare Eigenschaft, die auch die ärgsten Stürme des Lebens nicht entwurzelt hatten: Er war ein Mensch, der gern dem ersten Impulse nachgab, und solche Leute werden bekanntlich niemals schlecht. Seine Fehler und Laster, denn die hatte er gehabt, gingen nicht tief, und seine Physiognomie gehörte zu denen, die vor der Prüfung des Beobachters Stand halten.

Bei Tagesanbruch erwachte Fauchelevent aus seinen Grübeleien, that die Augen auf und sah Madeleine, der von seinem Strohsack aus Cosette betrachtete. Fauchelevent setzte sich aufrecht und sagte:

»Nun Sie hier drin sind, ist die Frage, wie Sie hier hereinkommen?«

Die Frage war richtig gestellt und gab Jean Valjean zu denken.

»Vor allen Dingen,« sagte Fauchelevent, »dürfen Sie keinen Fuß aus dem Zimmer setzen, weder Sie noch das kleine Mädchen. — Thun Sie einen Schritt in den Garten, so sind wir futschikato.«

»Ja freilich!«

»Herr Madeleine, Sie haben es gerade gut getroffen, d. h. schlecht; eine von den Damen ist nämlich schwer krank. In Folge dessen wird jetzt Niemand seine Nase hier in unsere Bude stecken. Es heißt, sie wird sterben, und sie halten schon das vierzigstündige Gebet. Im Kloster geht Alles drunter und drüber. Sie haben jetzt was zu thun. Die jetzt ihre Anstalten zu der großen Reise trifft, ist eine Heilige. Freilich sind wir Alle hier Heilige. Der einzige Unterschied zwischen den Damen und mir ist bloß, daß sie ›unsere Zelle‹ und daß ich ›meine Bude‹ sage. Es wird das Gebet für die Sterbenden und dann das für die Gestorbenen gehalten. Heute werden wir hier unbehelligt bleiben; aber was morgen geschehen wird, dafür stehe ich nicht.«

»Indessen« wendete Jean Valjean ein, »liegt das Häuschen in einem Winkel, und hinter einem alten Gemäuer versteckt; Bäume stehen auch noch da, und vom Kloster aus kann man es nicht sehen.«

»Ja, und die Nonnen kommen nie hierher!«

»Woran fehlt es denn aber?«

»Es sind noch die Jöhren da!«

Eben wollte er sich deutlicher erklären, als sich ein Glockenschlag vernehmen ließ.

»Die Nonne ist gestorben, sagte er. Das ist das Totengeläut.«

Und er gab Jean Valjean ein Zeichen, er solle hinhorchen.

Die Glocke that jetzt einen zweiten Schlag.

»Es ist, wie ich sagte, Herr Madeleine. In dieser Weise wird die Glocke jede Minute einmal angeschlagen, vierundzwanzig Stunden lang, bis die Leiche aus der Kirche hinausgetragen wird. Also die Sache ist die. Die Jöhren spielen, und da braucht blos mal ein Ball nach meiner Bude herrollen, so kommt die ganze Bande ankajolt und tollt hier herum. Sie dürfen es nicht, aber die holden Engelchen haben doch nun einmal den Teufel im Leibe.«

»Wen meinen Sie denn?«

»Die kleinen Mädchen. Die würden Sie bald hier ausspioniren, kann ich Ihnen sagen, und ein Halloh erheben: ‘Ein Mann! Ein Mann!’ Heute freilich ist nichts zu fürchten. Sie werden keine Zwischenstunden haben. Den ganzen Tag über wird gebetet werden. Da! hören Sie. Es ist das Totengeläut.«

»Ach so, Vater Fauchelevent. Sie haben hier auch ein Erziehungsinstitut.«

»Das wäre übrigens was für Cosette,« dachte er bei sich.

»Na gewiß,« sagte Fauchelevent. »Was das für einen Aufruhr geben, wie die Jöhren rennen würden! Wenn die leibhaftige Pest hier hereinkäme, würde der Schreck nicht so groß sein, als wenn sie hier einen Mann erwischten. Sie sehen ja, Herr Madeleine, mir haben sie eine Glocke angehängt, als wäre man ein reißendes Thier.«

Jean Valjean wurde immer nachdenklicher. »In dem Kloster wären wir gut aufgehoben!« dachte er. Dann sagte er laut:

»Ja ja! Wenn man nur wüßte, wie man’s anstellen müßte, um hier bleiben zu können!«

»Nein!« entgegnete Fauchelevent. »Die Schwierigkeit liegt darin, wie man hinauskommt.«

»Hinausgehen?« fragte Jean Valjean, und das Blut drang ihm in Masse nach dem Herzen.

»Freilich, Herr Madeleine. Wollen Sie hier bleiben, so müssen Sie erst raus.«

Und nachdem er wieder einen Schlag der Totenglocke abgewartet, fuhr er fort:

»Hier dürfen Sie Sich nicht finden lassen. Wo kommen Sie her?« würde es heißen.

Plötzlich ließ sich ein ziemlich komplicirtes Geläute von einer andern Glocke vernehmen.

»Da!« meinte Fauchelevent. »Jetzt werden die Mütter zum Kapitel berufen. Das geschieht immer, wenn Eine ihre letzte Reise angetreten hat. Konnten Sie nicht auf dem Wege hinausgehen, wo Sie hereingekommen sind? Ich frage es nicht aus Neugierde, aber sagen Sie mal, auf welchem Wege sind Sie hier hereingekommen?«

Jean Valjean verfärbte sich. Ihn schauderte bei dem bloßen Gedanken, daß er sich wieder in die Straße wagen solle. Man denke sich, Jemand hat sich aus einem Wald gerettet, in dem eine Unzahl Tiger hausen, und ein guter Freund giebt ihm den Rath, wieder darin spazieren zu gehen! Jean Valjean sah noch in Gedanken Javert das ganze Stadtviertel durchstreifen, und fühlte seine Faust an seinem Kragen.

»Kein Gedanke daran!« sagte er. »Nehmen Sie an, ich wäre vom Himmel gefallen.«

»Ich glaub’ es Ihnen ja! Gewiß hat der liebe Gott Sie sich mal näher besehen wollen, hat Sie in seine Hand genommen und wieder fallen lassen. Er wollte, daß Sie in einem Männerkloster wieder auf die Erde kämen, hat aber ein Versehen gemacht. Da klingelt’s eben wieder. Das ist das Zeichen für den Pförtner, daß er die Behörden benachrichtigt und ein Arzt geschickt wird, der den Todesfall zu konstatiren hat. Das gehört Alles zu den Sterbezeremonien. Der Arzt ist hier im Hause nicht gern gesehen. Dergleichen Leute glauben an nichts, und stecken ihre Nase in wer weiß was. Wie schnell sie dies Mal nach dem Arzt schicken! Was mag blos vorgehen? Ihre Kleine schläft immer noch. Wie heißt sie denn?«

»Cosette.«

»Sie sind ihr Großvater?«

»Ja wohl.«

»Die schaffen wir leicht hinaus. Ich gehe durch eine besondere Thür in den Hof und klopfe an, damit der Pförtner mich hinausläßt. Ich habe eine Kiepe auf dem Rücken, wo die Kleine drin ist. Daß Vater Fauchelevent mit einer Kiepe ausgeht, ist nichts Außerordentliches. Sie brauchen bloß dem Kinde zu sagen, daß es sich hübsch still verhält, und wir decken sie gut mit der Plane zu. Ich gehe dann zu einer guten Freundin, einer Gemüsehändlerin in dem Chemin-Vert, die ein Kinderbett hat. Der schreie ich ins Ohr — sie ist nämlich schwerhörig — die Kleine wäre eine Nichte von mir, sie möchte sie bis zum nächsten Tag bei sich behalten. Nachher kann sie dann wieder mit Ihnen hierher zurückkommen. Denn dazu will ich Ihnen schon verhelfen, daß Sie wieder hier hereinkommen. Aber wie wollen Sie es anstellen, um hinauszukommen?«

Jean Valjean schüttelte bedenklich den Kopf.

»Alles kommt darauf an, daß ich von Niemand gesehen werde. Schaffen Sie mich doch auch in einer Kiepe und unter einer Plane hinaus.«

Fauchelevent kratzte sich mit dem Mittelfinger der linken Hand am Ohrlappen, ein Zeichen höchster Verlegenheit.

Da wurde seine Aufmerksamkeit wieder durch ein Geläute aus etwas anderes gelenkt.

»Jetzt geht der Arzt wieder weg. Er hat die Leiche besichtigt und gesagt: ›Sehr schön! die ist tot.‹ Wenn der Arzt den Paß für die Ewigkeit ausgestellt hat, so schickt das Beerdigungsbureau einen Sarg nebst Bahre. Die Tote wird von ihren Ranggenossinnen eingesargt, und dann muß ich kommen und den Sarg zunageln. Die Leiche wird in einen niedrigen Saal in der Kirche gebracht, wo kein Mann Zutritt hat, ausgenommen der Arzt, der mit der Totenschau beauftragt ist. Denn die Leichenträger und mich rechne ich nicht als Männer. In dem Saal nagle ich den Sarg zu. Dann holen die Beerdigungsfritzen sie ab und ›Nu heidi, Kutscher! geht die Fahrt nach dem Himmel. De profundis.‹«

Ein Sonnenstrahl glitt über Cosettes Gesicht dahin, die Kleine hielt im Schlaf den Mund offen und sah aus wie ein Engel, der Licht trinkt. In ihren Anblick versunken, hörte Jean Valjean nicht mehr auf Fauchelevent’s redselige Auseinandersetzungen hin.

Wenn Einer nicht angehört wird, ist dies noch lange kein Grund, daß er den Mund halten soll, und dem wackeren Gärtner fiel es auch nicht ein, seiner Zunge einen Zügel anzulegen.

»Sie soll auf dem Kirchhof Vaugirard beerdigt werden. Dem Vernehmen nach will man den Kirchhof eingehen lassen. Er stimmt nicht mehr mit den jetzigen Reglements überein, ist polizeiwidrig und soll auf den Aussterbeetat gesetzt werden. Schade! Er lag sehr bequem. Der Totengräber von dem Kirchhof da, Vater Mestienne ist ein guter Freund von mir. Die Nonnen von unserm Kloster haben ein Vorrecht, sie werden nämlich bei Einbruch der Nacht auf jenen Kirchhof hinausgebracht. Darüber hat die Polizeipräfektur einen eigenen Paragraphen erlassen.«

Abermals erklang ein grelles Geläute. Fauchelevent machte hastig sein Knieleder los und schnallte es sich um.

»Dies Mal bin ich gemeint. Die Priorin wünscht mich zu sprechen. Hol’s der Teufel, da hab ich mich am Schnallendorn gepiekt. Herr Madeleine, rühren Sie Sich nicht von der Stelle und warten Sie, bis ich wiederkomme. Es ist was Neues vorgefallen.«

Nach höchstens zehn Minuten klopfte Fauchelevent leise an eine Thür und von innen antwortete eine sanfte Stimme: »Immerdar!«

Es war die Thür eines Sprechzimmers, wo Dienstangelegenheiten des Gärtners erledigt wurden; es grenzte an den Kapitelsaal, und die Priorin saß hier auf dem einzigen Stuhle, den es enthielt, und wartete auf Fauchelevent.

Fauchelevent der Schwierigkeit gegenüber

In kritischen Fällen erregt und ernst auszusehen ist eine Besonderheit gewisser Charaktere und Professionen, besonders aber der Priester und Religiösen. Auch dem liebenswürdigen, sonst so lustigen Fräulein de Blemeur oder Mutter Innocentia standen diese Gemütsbewegungen auf dem Gesicht geschrieben, als Fauchelevent in das Zimmer trat.

Der Gärtner begrüßte sie furchtsam und blieb auf der Thürschwelle stehen. Die Priorin, die ihren Rosenkranz durch die Hände gleiten ließ, rief ihm zu:

»Ah, Sie sind’s, Vater Fauvent.«

Dies war die im Kloster übliche Abkürzung seines Namens.

Fauchelevent verneigte sich abermals.

»Vater Fauvent, ich habe Sie kommen lassen …«

»Ich stehe zu Diensten, hochwürdige Mutter!«

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

»Ich meinerseits,« fiel Fauchelevent mit einer Kühnheit ein, vor der er in seinem Innern erschrak, »habe der Hochehrwürdigen Mutter gleichfalls etwas zu sagen.«

Die Priorin sah ihn an.

»Ach, Sie haben mir eine Mittheilung zu machen?«

»Eine Bitte!«

»Gut. So reden Sie!«

Der gute Fauchelevent gehörte zu der Kategorie von Bauern, die dreist sind. Eine gewisse, pfiffige Unwissenheit ist eine Macht; man nimmt sich vor solch einem Menschen nicht in Acht und wird um so sichrer von ihm genommen. Seitdem er vor mehr als zwei Jahren in das Kloster gekommen war, hatte er sich allmählich immer beliebter gemacht. Da er fast immer allein war und durch seine Gärtnerarbeit nicht sehr in Anspruch genommen wurde, hatte er nicht viel Anderes zu thun, als seine Neugierde zu befriedigen. Zwar bedeuteten in der Entfernung, die er stets einhalten mußte, die verschleierten Frauen, die er gehen und kommen sah, für ihn zunächst nichts mehr als Schatten. Aber je mehr Aufmerksamkeit und Denkarbeit er ihnen widmete, desto mehr Fleisch und Blut nahmen die Geistergestalten für ihn an. Er glich in dieser Hinsicht einem Tauben, der hören lernt, einem Blinden, der nach einer glücklichen Operation mehr und mehr Geschicklichkeit im Gebrauch der Augen erlangt. Er hatte es sich angelegen sein lassen, die Bedeutung der verschiedenen Läutsignale kennen zu lernen, und es war ihm auch gelungen, so daß für ihn das räthselvolle und stille Kloster keine Geheimnisse mehr hatte. Aber obwohl er Alles wußte, schwieg er über Alles. Und das war ein großer Vortheil für ihn. Denn deshalb galt er für dumm, was ihm natürlich als ein Verdienst angerechnet wurde. Die Nonnen hielten große Stücke auf Fauchelevent und hatten großes Vertrauen zu dem stummen Alten. Zudem war er regelmäßig in seinen Gewohnheiten und ging nur dann aus, wenn es die Natur seiner Beschäftigung dringend erheischte, eine Zurückhaltung, die gleichfalls Anerkennung fand. Bei alle dem hatte er den Klosterpförtner und den Totengräber gründlich ausgefragt, so daß er über Tod und Leben der Nonnen Mancherlei wußte. Aber er mißbrauchte seine Wissenschaft nicht und die Ordensgenossenschaft hätte sich nicht gern von ihm getrennt. Alt, lahm, schwachsichtig, vielleicht sogar schwerhörig — mehr Vorzüge konnte man von einem Diener des Klosters doch nicht verlangen!

Der Pfiffikus begann also im Vollbewußtsein seiner Unentbehrlichkeit der hochehrwürdigen Mutter Priorin eine gewundene und weitschweifige Rede zu halten. Er sprach von den Gebrechen des Alters, den Jahren, die jetzt doppelt zählten, der Zunahme der Arbeit, der Größe des Gartens, dem wenigen Schlaf, den er sich jetzt gönnen könnte, den Melonen, die er vergangene Nacht habe zudecken müssen. Seine Ansprache gipfelte in der Bemerkung, er habe einen Bruder (hier machte die Priorin eine unruhige Bewegung), der nicht mehr jung sei (beruhigte Bewegung der Priorin), und der, wenn es gestattet werden sollte, zu ihm ziehen und bei der Arbeit helfen könnte. Dieser Bruder sei ein tüchtiger Gärtner, der sich der Genossenschaft sehr nützlich machen würde, nützlicher als er selber es gekonnt habe. Sollte man aber diesen seinen Vorschlag nicht genehmigen, so sehe er sich, altersschwach wie er sei, genöthigt, den Dienst des Klosters zu quittiren. Sein Bruder habe übrigens auch eine Enkelin, die er gern im Ordenshause Gott zu Ehren erziehen lassen möchte, und man könnte nicht wissen, ob nicht einst aus der Kleinen eine brave Nonne würde. Als er zu Ende geredet, unterbrach die Priorin ihre Beschäftigung mit dem Rosenkranze und fragte:

»Könnten Sie Sich bis heute Abend eine starke, eiserne Stange verschaffen?«

»Zu welchem Zweck?«

»Um als Hebel zu dienen.«

»Zu dienen, hochehrwürdige Mutter!«

Ohne ein Wort hinzuzufügen, erhob sich jetzt die Priorin und begab sich in den angrenzenden Raum, den Kapitelsaal, wo die Versammlung wahrscheinlich schon auf sie wartete. Fauchelevent blieb allein.

Mutter Innocentia

Nach einer Viertelstunde ungefähr kam die Priorin zurück und setzte sich wieder auf den Stuhl.

Beide Theile schienen ernsten Gedanken nachzuhängen, und es entspann sich folgender Dialog, den wir möglichst wortgetreu wiederzugeben versuchen wollen.

»Vater Fauvent?«

»Hochwürdige Mutter?«

»Wissen Sie in der Kapelle Bescheid?«

»Ich habe da eine Gitterloge, wo ich der Messe anwohne.«

»Sie haben doch auch schon im Chor zu thun gehabt?«

»Einige Male.«

»Es würde sich darum handeln, eine Steinplatte hochzuheben.« »Ist sie schwer?«

»Es ist die große Fliese neben dem Altar.«

»Die Platte, die das Grabgewölbe abschließt?«

»Ja.«

»Das ist ein Stück Arbeit, wozu zwei Männer nöthig wären.«

»Mutter Ascensio ist stark wie ein Mann.«

»Ein Frauenzimmer leistet nie so viel wie ein Mann.«

»Wir können Ihnen aber nur von einem Frauenzimmer helfen lassen. Man thut, was man kann. Weil Don Mabillon vierhundertsiebzehn Briefe des heil. Bernhard und Merlonus Horstius nur dreihundertsiebenundsechzig mittheilt, verachte ich Merlonus Horstius nicht.«

»Ich auch nicht.«

»Der Mensch soll nach Maßgabe seiner Kräfte arbeiten. Die Insassen eines Klosters können es an Körperkraft nicht mit den Arbeitern einer Schiffswerft aufnehmen.«

»Und Frauen sind nie so stark wie Männer. Hochwürdige Mutter sollten meinen Bruder sehen. Das ist mal ein strammer Bursche.«

»Außerdem haben Sie ja auch noch den Hebel.«

»Das ist der einzige Schlüssel, der zu einer solchen Thür paßt.«

»An dem Stein ist ein Ring.«

»Da stecke ich den Hebel durch.«

»Und der Stein dreht sich um Angeln.«

»Sehr wohl, hochwürdige Mutter. Das Gewölbe mache ich auf.«

»Außerdem sollen Ihnen die vier Solosängerinnen helfen.«

»Und wenn wir das Gewölbe aufhaben?«

»Wird es wieder zugemacht.«

»Weiter nichts?«

»Doch!«

»Befehlen Sie, hochwürdige Mutter.«

»Fauvent, wir haben Vertrauen zu Ihnen.«

»Dazu bin ich hier, daß ich alles thue, was mir gesagt wird.«

»Und daß Sie reinen Mund halten.«

»Gewiß, hochwürdige Mutter.«

»Sobald das Gewölbe geöffnet ist, …«

»Mache ich es wieder zu.«

»Ja, aber vorher …«

»Muß ich was thun?«

»Etwas hinunterlassen.«

Jetzt trat eine Pause in dem Gespräch ein. Die Priorin schob die Unterlippe vor, als trage sie Bedenken, mit der Sprache herauszurücken, hob aber endlich wieder an:

»Vater Fauvent?«

»Hochwürdige Mutter?«

»Sie wissen doch, daß Jemand im Hause gestorben ist?«

»Nein, das weiß ich nicht.«

»Haben Sie denn die Glocke nicht gehört?«

»Da hinten im Garten hört man ja nichts.«

»Wirklich nicht?«

»Kaum, daß ich mein Signal unterscheiden kann.«

»Sie ist bei Tagesanbruch verschieden.«

»Außerdem wehte heute früh der Wind nicht nach meiner Seite.«

»Es handelt sich um die selige Mutter Crucifixio.«

Die Priorin hielt einen Augenblick inne, bewegte die Lippen wie zum Gebet und fuhr fort:

»Vor drei Jahren sah eine Jansenistin, Madame de Béthune, die Mutter Crucifixio blos beten und bekehrte sich sofort zum allein seligmachenden Glauben.«

»Richtig, jetzt höre ich das Totengeläute.«

»Die Mütter haben sie in die Totenkammer getragen, die an die Kirche stößt.«

»Ich weiß schon welche.«

»Kein anderer Mann als Sie darf und soll da hinein. Passen Sie gut auf. Das wäre eine schöne Geschichte, wenn ein Mann seinen Fuß in die Totenkammer setzte!«

In diesem Augenblick schlug es neun Uhr.

»Zur neunten Stunde des Morgens und zu jeder Stunde sei gelobt und angebetet das allerheiligste Sakrament des Altars!« betete die Priorin.

»Amen!« fiel Fauchelevent ein.

Wieder murmelte die Priorin leise etwas — wahrscheinlich etwas Religiöses — vor sich hin und erhob dann wieder die Stimme:

»Bei ihren Lebzeiten hat Mutter Crucifixio Bekehrungen vollbracht, nach ihrem Tode wird sie Wunder thun.«

»Das kann nicht fehlen!«

»Vater Fauvent, die Genossenschaft ist gesegnet gewesen in Mutter Crucifixio. Allerdings ist es nicht Jedermann gegeben, zu sterben wie der Kardinal de Bérulle, der während der heiligen Messe, gerade als er die Worte ‘Hanc igitur oblationem’ sprach, seinen Geist aufgab. Aber wenn ihr auch nicht ein so hohes Glück zu Theil geworden, so hat Mutter Crucifixio einen sehr schönen Tod gehabt. Bis zum letzten Augenblicke bewahrte sie ihr volles Bewußtsein und sprach mit uns und dann mit den Engeln. Sie hat uns auch etwas aufgetragen. Wenn Sie mehr Glauben hätten und dabei gewesen wären, so würde sie ihr Knie berührt und geheilt haben. Sie hatte ein glückliches Lächeln. Man merkte, daß sie in Gott wieder geboren wurde. Es war ein seliges Sterben!«

In der Meinung, das sei ein Gebet gewesen, fiel er ihr ins Wort: »Amen!«

»Vater Fauvent, man muß den letzten Willen der Toten achten.«

Sie schob wieder einige Kügelchen des Rosenkranzes weiter, während Fauchelevent schwieg.

»Ich habe über diese Frage mehrere Geistliche zu Rathe gezogen, die mit Sachkenntniß und Erfolg im Weinberge des Herrn arbeiten und in der Ausübung der klösterlichen Pflichten bewandert sind.«

»Hochwürdige Mutter, hier hört man die Totenglocke weit deutlicher als im Garten.«

»Außerdem ist sie nicht eine Tote wie andere, sondern mehr eine Heilige.«

»Wie Sie, hochwürdige Mutter!«

»Sie schlief seit zwanzig Jahren in ihrem Sarge, auf ausdrückliche Erlaubniß Sr Heiligkeit Pius IX.«

»Derselbe, der den Kai …, der Buonaparte gekrönt hat.«

Für einen Schlauberger wie Fauchelevent war diese historische Reminiscenz ein arger Schwupper. Glücklicherweise hatte die Priorin, die nur ihrem eignen Gedanken nachging, nichts gehört. Sie fuhr ruhig fort:

»Vater Fauvent?«

»Hochwürdige Mutter?«

»Der heil. Diodor, Erzbischof von Kappadocien, befahl, daß man auf seinen Grabstein blos das Wort acarus, Erdenwurm, setzen sollte, und also geschah es. Ist das wahr. Verhält sich das nicht so?«

»Gewiß hochwürdige Mutter.«

»Der hochselige Mezzocane, Abt von Aquia, ordnete an, daß man ihn unter dem Galgen begraben solle, und also geschah es.«

»Das ist wahr.«

»Der heil. Terenz, Bischof von Porto an der Tibermündung, verlangte, man soll auf seinen Grabstein das Zeichen eingraben, an dem man das Grab von Vatermördern erkannte, in der Hoffnung, die Vorübergehenden würden auf sein Grab speien. Also geschah es. Man soll den Toten gehorchen.«

»Also sei es!«

»Die Leiche von Bernhard Guidonis, der bei Roche-Abeille in Frankreich geboren war, wurde, auf sein Geheiß und wider den Willen des Königs von Kastilien, nach der Dominikanerkirche in Limoges gebracht, obgleich Bernhard Guidonis Bischof von Tuy in Spanien war. Oder darf Jemand das Gegentheil behaupten?«

»Bewahre hochwürdige Mutter.«

»Die Thatsache ist von Plantavit de la Fosse bezeugt.«

Abermals wanderten einige Perlen des Rosenkranzes weiter. Dann fuhr die Priorin fort:

»Vater Fauvent, Mutter Crucifixio muß in demselben Sarge bestattet werden, indem sie zwanzig Jahre lang geschlafen hat.«

»So gehört es sich.«

»Ihr Tod ist eine Fortsetzung dieser Gewohnheit.«

»Ich soll also den Sarg zunageln?«

»Ja.«

»Also nicht den uns das Beerdigungsbüreau schickt?«

»Nein.«

»Wie hochwürdige Mutter befehlen.«

»Die vier Solosängerinnen sollen Ihnen helfen.«

»Beim Sargzumachen? Dabei brauche ich keine Hülfe.«

»Nein. Aber um die Leiche hinabzulassen,«

»Hinab …?«

»In das Gewölbe.«

»In welches Gewölbe.«

»In das Gewölbe unter dem Altar.«

Fauchelevent fuhr erstaunt zurück.

»In das Grabgewölbe?«

»Mit der Eisenstange …«

»Ja, aber …«

»Die Sie durch den Ring stecken, heben Sie die Steinplatte empor.«

»Aber …«

»Der Wille der Toten muß geschehen. In dem Grabgewölbe unter dem Altar bestattet zu werden, nicht in unheiliger Erde zu schlafen, dort im Tode zu ruhen, wo sie während des Lebens gebetet hat, ist der letzte, höchste Wunsch unserer Mutter Crucifixio gewesen. Sie hat uns darum gebeten, d. h. sie hat es befohlen.«

»Es ist aber verboten.«

»Von den Menschen verboten, von Gott geboten.«

»Wenn das herauskäme?«

»Wir haben Vertrauen zu Ihnen.«

»O, ich bin wie ein Stein von Ihrem Hause.«

»Das Kapitel hat sich versammelt. Die stimmberechtigten Mütter, die ich so eben befragt habe, und die noch berathschlagen, haben beschlossen, daß Mutter Crucifixio ihrem Wunsche gemäß in ihrem Sarge unter unserm Altar beigesetzt werden soll. Denken Sie, Vater Fauvent, wenn hier Wunder geschehen sollten! Was für eine Ehre wäre das für unsere Genossenschaft! Wunder gehen ja aus Gräbern hervor.«

»Aber hochwürdige Mutter, wenn die Sanitätskommission,«

»Der heil. Benedictus II. hat gegen Konstantin Pogonatus wegen der Begräbnißfrage opponirt.«

»Aber der Polizeikommissar …«

»Chonodemarius, einer der sieben deutschen Könige, die unter der Regierung des Kaisers Konstantius in Gallien eindrangen, hat ausdrücklich das Recht der Religiösen anerkannt, als solche, d. h. unter dem Altar, beigesetzt zu werden.«

»Aber der Inspektor der Polizeipräfektur …«

»Die Welt hat dem Kreuze gegenüber nichts zu sagen. Martinus, elfter General der Karthäuser gab seinem Orden die Divise: Stat crux, dum volvitur orbis.«

»Amen!« fiel Fauchelevent wieder ein. Denn er konnte nie Latein hören, ohne feierlich Amen zu sagen.

Wer zu lange geschwiegen hat, ist in Bezug auf Zuhörer nicht wählerisch. Als der Rhetor Gymnastoras aus dem Gefängniß entlassen wurde, blieb er, um die vielen Dilemmas und Syllogismen, die er während der Zeit ausgetüftelt hatte, schleunigst anzubringen, vor dem ersten, bester Baum stehen und hielt ein beredte Ansprache an ihn, um ihm ausführliche Mittheilung von seinen wissenschaftlichen Funden zu machen. So entstürzten nun auch dem Munde der Priorin, die Fauchelevent gegenüber von der Regel des Stillschweigens befreit war, die Worte in so gewaltiger Menge, wie ein Schwall Wasser aus einer geöffneten Schleusenkammer:

»Zu meiner Rechten habe ich Benedictus und zu meiner Linken Bernhard. Wer war Bernhard? Der erste Abt von Clairvaux. Fontaines in Burgund ist der glückselige Ort, wo er das Tageslicht erblickt hat. Sein Vater hieß Técelin und seine Mutter Alethe. Er hat mit der Gründung des Cistercienserklosters angefangen, bis er später sich dazu erhob, der Gründer von Clairvaux zu werden. Er wurde von dem Bischof von Châlon-sur-Saône, Guillaume de Champeaux zum Abt geweiht, hatte siebenhundert Novizen und stiftete hundert und sechzig Klöster, kämpfte auf dem Konzil zu Sens im Jahre 1140 Abeilard’s, Pierre de Bruy’s und seines Schülers Henry Irrlehren nieder, und ebenso die Thorheiten der sogenannten Apostoliker; widerlegte Arnold von Brescia, den Mönch Raoul, den Judentöter, trat mit Autorität in dem Konzil zu Reims 1148 auf, veranlagte die Verurtheilung Gilbert’s de la Porée, Bischofs von Poitiers, die Verurtheilung Eon’s de l’Etoile, schlichtete Streitigkeiten zwischen Fürstlichkeiten, berieth den jungen König Ludwig und den Papst Eugenius III., brachte einen Kreuzzug zu Stande, that zweihundertfünfzig Wunder in seinem Leben, und neununddreißig an einem Tage. Wer war Benedictus? Der Patriarch vom Monte Cassino, der zweite Gründer des Cönobitismus, der Basilius des Occidents. Sein Orden hat vierzig Päpste, zweihundert Kardinäle, fünfzig Patriarchen, sechzehnhundert Erzbischöfe, viertausendsechshundert Bischöfe, vier Kaiser, zwölf Kaiserinnen, sechsundvierzig Könige, einundvierzig Königinnen, dreitausendsechshundert kanonisirte Heilige hervorgebracht und besteht seit vierzehnhundert Jahren. Auf der einen Seite der heil. Bernhard; auf der andern der Beamte der Sanitätskommission! Auf der einen Seite der heil. Benedikt und auf der andern ein Inspektor der Straßenpolizei! Der Staat, die öffentliche Hygiene, das Beerdigungsbüreau, die Polizeiverordnungen, die städtische Verwaltung — sind das Dinge, die uns etwas angehen? Es würde öffentliche Entrüstung erregen, wenn man wüßte, wie wir behandelt werden. Wir haben nicht einmal das Recht, unsern Staub Jesu Christo zu geben. Die Hygiene ist eine Erfindung der Revolutionäre. Gott untersteht heutzutage dem Polizeikommissar. Schweigen Sie, Fauvent!«

Dem Armen war nicht wohl zu Muthe, und dabei war der Wortschwall noch nicht vorbei.

»Das Recht der Klosterangehörigen auf Bestattung im Kloster ist über allen Zweifel erhaben. Nur Fanatiker und die auf den Pfaden des Irrthums wandeln, können das leugnen. Wir leben in einer Zeit schrecklicher Begriffsverwirrungen, krasser Unwissenheit, gräßlicher Gottlosigkeit. Giebt es doch heutzutage Leute, die keinen Unterschied machen zwischen dem gewaltigen Bernhard dem Heiligen, und Bernhard von den katholischen Armen, einem gewissen Priester aus dem dreizehnten Jahrhundert. Andere machen sich der Lästerung schuldig, die Hinrichtung Ludwig XVI. in Vergleich zu stellen neben die Kreuzung Jesu Christi. Ludwig XVI. war doch nur ein König. Hüten wir uns vor dem Zorne Gottes. Man verwechselt oft Gerechte und Ungerechte. Man citirt Voltaire und kennt César de Bus nicht, der ein gottesfürchtiger Mann war, während Voltaire dem Frevel huldigte. Der letzte Erzbischof, der Kardinal von Périgord wußte nicht einmal, daß Bérulle’s Nachfolger Charles de Gondren hieß! Den Namen des Paters Coton kennt man, nicht weil er die Gründung des Oratoriums befürwortet hat, sondern weil der Hugenottenkönig Heinrich IV. über ihn fluchte. Das Gedächtniß unseres Francois de Sales halten manche Laien deshalb in Ehren, weil er beim Spiel mogelte. Und dann greift man die Religion an. Warum? Weil es schlechte Priester gegeben hat. Was schadet das aber? Ist darum Martin von Tours nicht ein Heiliger gewesen? Hat er darum seinen Mantel nicht mit einem Bettler getheilt? Die Heiligen werden verfolgt, die Wahrheit geleugnet. Die blinden Thiere sind aber die bösesten. Niemand denkt mehr ernstlich an die Hölle. O über das schlechte Volk! ›Im Namen des Königs!‹ bedeutet so viel wie: ›Im Namen der Revolution!‹ Man weiß nicht mehr, was man den Toten und was man den Lebenden schuldet. Es ist verboten, religiös zu sterben. Das Begräbnis ist eine Angelegenheit des Staates. Schauderhaft! Der heil. Leo II. hat eigens zwei Briefe geschrieben, den einen an Peter Notarius, den andern an den König der Westgothen, um die Autorität des Exarchen und die Suprematie des Kaisers in den Angelegenheiten, die auf Verstorbene Bezug haben, zu bekämpfen. Darin gaben uns auch die Parlamente vor der Revolution Recht. Ehedem durften wir auch in weltlichen Dingen mitreden. Der Abt von Cîteaux, Ordensgeneral, war erbliches Mitglied des Parlaments von Burgund. Wir thun mit unsern Toten, was wir wollen. Befindet sich doch der Leichnam des heil. Benedikt in der Abtei von Fleury in Frankreich, obwohl er in Italien, auf dem Monte Cassino, am Sonnabend den 21. März 543, gestorben ist. Alles dies sind unwiderlegliche Thatsachen. Ich verabscheue die Psallanten, ich verdamme die Ketzer, aber wer das Gegentheil behauptet von dem, was ich gesagt habe, den hasse ich weit mehr. Man braucht blos Arnoul Wion’s, Gabriel Bucelin’s, Trithéme’s, Maurolicus’ und Don Luc d’ Achery’s Schriften zu lesen.«

»Hier schöpfte die Priorin Athem und wandte sich dann wieder an Fauchelevent:

›Wollen Sie’s thun, Vater Fauvent?‹

›Gewiß, hochwürdige Mutter.‹

›Wir können auf Sie zählen?‹

›Unbedingt.‹

›So ist’s recht!‹

›Ich bin dem Kloster in jeder Hinsicht ergeben.‹

›Also abgemacht: Sie machen den Sarg zu. Die Schwestern tragen ihn in die Kapelle, das Totenamt wird gehalten und dann gehn wir in das Kloster zurück. Zwischen elf Uhr und Mitternacht treten Sie mit der Eisenstange an. Dann wird Alles in der größten Stille abgemacht. Nur die vier Solosängerinnen, Mutter Ascensio und Sie werden dabei sein.‹

›Und die Schwester an der Richtsäule?‹

›Die wird sich nicht umdrehen.‹

›Aber sie hat Ohren.‹

›Die werden nicht hören. Im Uebrigen erfährt die Welt ja nicht, was das Kloster weiß.‹

Wieder trat eine Pause ein.

›Nehmen Sie Ihre Glocke ab. Die Schwester an der Richtsäule braucht nicht zu merken, daß Sie da sind.‹

›Hochwürdige Mutter?‹

›Was denn, Vater Fauvent?‹

›Ist der Arzt schon wegen der Totenschau hier gewesen?‹

›Er kommt heute um vier Uhr. Das Signal ist ja gegeben worden. Hören Sie denn kein Geläut?‹

›Ich achte blos auf mein Signal.‹

›Das ist schön von Ihnen, Vater Fauvent.‹

›Hochwürdige Mutter, ich werde einen Hebel von wenigstens sechs Fuß Länge brauchen.‹

›Wo werden Sie ihn hernehmen?‹

›Wo Gitter sind, da fehlen auch Eisenstangen nicht. Es liegt da im Garten ein Haufen altes Eisen, wo ich mir was aussuchen werde.‹

›Drei Viertelstunden ungefähr vor Mitternacht. Vergessen Sie nicht.‹

›Hochwürdige Mutter?‹

›Was?‹

›Wenn Sie jemals wieder solch ein Stück Arbeit zu vergeben hätten, wäre mein Bruder der geeignete Mann, ein wahrer Türke von Kerl!‹

›Machen Sie auch die Sache schnell ab.‹

›Schnell gehen kann ich aber nicht. Ich bin ein lahmer, alter Mann. Deshalb thäte mir ein Gehülfe sehr noch.‹

›Lahmheit ist keine Schande. Ja vielleicht sogar ein Segen. Der Kaiser Heinrich II., der den Gegenpapst Gregor bekämpfte und Benedikt VIII. wieder einsetzte, hatte zwei Beinamen: Der Heilige und der Lahme. Aber noch eins. Ich habe mich eines Andern besonnen. Eine volle Stunde ist doch wohl besser. Seien Sie mit Ihrer Stange Schlag elf Uhr beim Hauptaltar. Das Amt fängt um Mitternacht an, und Alles muß schon eine Viertelstunde vorher abgemacht sein.‹

›Ich werde mein Möglichstes thun, um der hochwürdigen Genossenschaft einen Beweis meines Pflichteifers zu geben. Ich nagle also den Sarg zu, bin mit meiner Hebelstange Punkt elf Uhr in der Kapelle und finde da die vier Sängerinnen und Mutter Ascensio. Zwei Männer wäre besser. Aber na! Wir machen dann das Grabgewölbe auf, lassen den Sarg hinab, decken es wieder zu. Auf die Weise erfährt die Regierung nichts. Das ist doch Alles, hochwürdige Mutter?‹

›Nein.‹

›Was ist denn sonst noch zu besorgen?‹

›Sie denken nicht an den leeren Sarg!‹

Beide hielten inne und sannen nach.

›Vater Fauvent, was machen wir blos damit?‹

›Der kommt auf den Kirchhof!‹

›Leer?‹

›Hochwürdige Mutter, ich vernagle ihn in dem niedrigen Saal, wo Keiner hinkommt als ich, und decke das schwarze Leichentuch darüber.‹

›Ja, aber die Leichenträger werden sofort fühlen, daß nichts darin ist.‹

›Ach der Teu-!‹ rief Fauchelevent, kam aber mit dem verpönten Wort nicht zu Ende, denn die Priorin schaute ihn strenge an und machte das Zeichen des Kreuzes.

Der Alte beeilte sich desto mehr, Rath zu schaffen, um den Fluch in Vergessenheit zu bringen.

›Hochwürdige Mutter, ich fülle den Sarg mit Erde. Das wird so schwer wiegen, als wenn eine Leiche drin wäre.‹

›Sie haben Recht. Der Mensch kommt von Erde und wird zu Erde. Dann ist Alles besprochen.‹

Jetzt erheiterte sich das Gesicht der Priorin, die bis dahin sorgenvoll dreingeschaut hatte. Sie winkte Fauchelevent ab, rief ihm aber, als er schon auf der Schwelle stand, mit gedämpfter Stimme nach:

›Fauchelevent, ich bin zufrieden mit Ihnen. Stellen Sie mir morgen nach dem Begräbniß Ihren Bruder vor, und sagen Sie ihm, er soll seine Enkelin mitbringen.‹

Nach Austin Castillejo

Die Schritte eines Lahmen sind wie die Liebesblicke eines Einäugigen: Sie kommen nicht schnell ans Ziel. Dazu kam, daß Fauchelevent sich allerlei Gedanken machte. Es kostete ihm eine Viertelstunde, ehe er nach seiner Baracke gelangte. Während der Zeit war Cosette aufgewacht und saß jetzt vor dem Kaminfeuer. Als Fauchelevent eintrat, zeigte ihr Jean Valjean die Kiepe an der Wand und sagte:

›Höre mir aufmerksam zu, Cosettechen. Wir müssen aus diesem Hause hinausgehen, kommen aber wieder und werden es hier gut haben. Der gute, alte Gärtner wird Dich in der Kiepe auf seinem Rücken davontragen, und Du sollst zu einer Dame, wo Du auf mich warten wirst. Dort hole ich Dich ab. Folge mir ja, wenn Du nicht willst, daß Dich die Thénardier wieder in ihre Gewalt bekommt, und verhalte Dich mäuschenstill!‹

Cosette nickte mit ehrpusliger, verständnißvoller Miene.

Hier ließen sich Fauchelevent’s Schritte vernehmen, und Jean Valjean wandte sich nach ihm um:

›Nun, wie steht’s?‹

›Die Schwierigkeiten sind gehoben und auch nicht gehoben. Ich habe die Erlaubniß Sie hereinzulassen; aber zunächst müssen wir Sie hinausschaffen, und da liegt der Hase im Pfeffer. Was das kleine Mädchen anbetrifft, ist die Sache leicht zu machen, wenn sie keinen Muck redet.‹

›Dafür bürge ich.‹

›Aber Sie, Vater Madeleine?‹

Und nach einer qualvollen Pause rief er:

Thun Sie mir den einzigen Gefallen und gehen Sie da hinaus, wo Sie hereingekommen sind.«

»Geht nicht!« entgegnete Jean Valjean, wie schon einmal zuvor.

Fauchelevent brummte, indem er seine Rede nicht so sehr an Jean Valjean, als an sich selber richtete:

»Die andere Sache macht mir auch Kopfschmerzen, Ich habe ihr versprochen, Erde hineinzuthun. Erde verhält sich aber ganz anders als ein menschlicher Körper. Es wird nicht gehen, sie wird sich verschieben, sich bewegen, und die Leichenträger werden den Braten riechen. Dann kriegt’s aber die Obrigkeit auch zu erfahren.«

Jean Valjean sah ihm fest ins Gesicht, denn er glaubte, sein alter Freund phantasire.

Als ihm aber Dieser einen ausführlichen Bericht über seine Unterredung mit der Priorin erstattete, fragte er:

»Was ist das für ein leerer Sarg?«

»Also, eine Nonne stirbt. Sofort kommt der Totenarzt, besieht sich die Leiche und meldet: ›Ja, die ist tot.‹ Darauf schickt die Behörde einen Sarg und am nächsten Tage einen Leichenwagen nebst den Leichenträgern, die den Sarg abholen und auf den Kirchhof bringen. Aber wenn sie zu uns kommen, wird in dem Sarge nichts drin sein.«

»So legen Sie was hinein!«

»Was denn? Eine Leiche habe ich nicht.«

»Das meine ich auch nicht.«

»Ja, was soll ich denn aber hineinlegen?«

»Einen Lebendigen?«

»Wen denn!«

»Mich!«

Fauchelevent fuhr von seinem Stuhl auf, als wäre eine Bombe unter ihm geplatzt.

»Sie!«

»Warum denn nicht?« fragte Jean Valjean und lächelte, was bei ihm so selten war, wie Sonnenschein im Winter.

»Fauchelevent, wir sagten ja vorhin: Mutter Crucifixio ist gestorben und Vater Madeleine wird begraben. Jetzt trifft das wirklich ein.«

»Ach so! Ich sehe, Sie spähen!«

»Nein, nein! Ich rede im Ernst. Hinaus muß ich ja doch.«

»Allerdings.«

»Ich hatte Ihnen auch gesagt, Sie möchten eine Kiepe und eine Plane für mich besorgen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Das haben wir jetzt, bloß daß die Kiepe aus Tannenholz ist, und statt der Plane haben wir ein schwarzes Tuch.«

»Ein weißes. Auf den Sarg einer Nonne kommt ein weißes Leichentuch.«

»Meinetwegen, ein weißes.«

»Sie sind doch ganz anders; als andere Leute, Vater Madeleine.«

Eine so krause Idee, die nichts Anderes war, als eine echte, verwegene Bagnoerfindung, so in den »gemüthlichen Schlendrian des Klosterlebens« eingreifen zu sehen, versetzte Fauchelevent in kein geringeres Erstaunen, als etwa der Anblick einer Möwe in der Rue Saint-Denis einen Pariser.

»Es kommt ja darauf an, hinauszukommen, nicht wahr? Auf die Weise läßt es sich machen. Aber sagen Sie mir ordentlich Bescheid, damit ich weiß, wie’s dabei zugeht. Wo ist der Sarg?«

»Der leere?«

»Ja.«

»Unten, in dem Totensaal. Er steht auf zwei Böcken, und ein Leichentuch ist darüber geworfen.«

»Wie lang ist der Sarg?«

»Sechs Fuß.«

»Wie ist das mit dem Totensaal?«

»Ein Raum im Erdgeschoß mit einem vergitterten Fenster nach dem Garten, das nach Außen mit einem Fensterladen verwahrt ist, und dann sind zwei Thüren, eine nach dem Kloster und eine nach der Kirche.«

»Was für eine Kirche?«

»Die öffentliche, die an der Straße gelegen ist.«

»Haben Sie die Schlüssel zu den beiden Thüren?«

»Nein. Blos den Schlüssel zu der Thür, die nach dem Kloster geht. Den andern hat der Kastellan.«

»Wann macht er die Thür nach der Kirche auf?«

»Blos um die Leichenträger hereinzulassen, wenn sie die Bahre abholen. Gleich darauf wird die Thür wieder abgeschlossen.«

»Wer nagelt den Sarg zu?«

»Ich.«

»Wer breitet das Tuch darüber?«

»Ich«

»Sind Sie allein?«

»Kein anderer Mann, ausgenommen der Arzt, darf in den Totensaal. Das steht sogar an der Wand angeschrieben.«

»Könnten Sie mich heute Nacht, wenn Alles im Kloster schläft, in dem Totensaal verstecken?«

»Nein; wohl aber in einem kleinen dunkeln Verschlag, der sich nach dem Totensaal öffnet. Ich bewahre darin meine Begräbnißwerkzeuge. Er steht zu meiner alleinigen Verfügung, und ich habe die Schlüssel dazu.«

»Um wieviel Uhr wird der Leichenwagen morgen kommen?«

»Gegen drei Uhr Nachmittags. Das Begräbniß findet auf dem Kirchhof Vaugirard kurz vor Einbruch der Nacht statt. Es ist nicht ganz nahe.«

»Ich werde mich in Ihrem Verschlag die ganze Nacht und den ganzen Vormittag versteckt halten. Zu essen werde ich auch was haben müssen.«

»Ich will Ihnen was bringen.«

»Dann kommen Sie also um zwei Uhr Nachmittags und sargen mich ein!«

Fauchelevent fuhr zurück und knackte mit den Fingern.

»Aber so was ist doch rein unmöglich!«

»Ich bitte Sie! Ein paar Nägel mit dem Hammer in ein Brett eintreiben!«

Was Fauchelevent etwas Unerhörtes dünkte, war für Jean Valjean etwas Einfaches. Er hatte schon gefährlichere Proben bestanden. Wer im Zuchthaus gewesen ist, hat die Kunst studirt, seine Körperlänge und seinen Umfang erheblich zu vermindern. Einen Gefangenen übermannt der Wunsch zu entspringen so sicher, wie einen Kranken die Krisis, die ihn rettet oder umbringt. Was läßt sich aber der Mensch nicht Alles gefallen, wenn er dadurch von einer Krankheit genesen oder aus dem Gefängniß entfliehen kann? Sich den Wandungen einer Kiste anpassen, wie ein Stück Waare, Luft schnappen, wo eigentlich keine war, seine Athmung sorgsam regulieren, halb ersticken und nicht ganz sterben, war eins der Talente, die Jean Valjean mit unheimlicher Geschicklichkeit zu üben verstand.

Uebrigens haben aber nicht blos gemeine Sträflinge sich dieses eigenthümlichen Transportmittels bedient; es hat auch Gnade in den Augen eines Kaisers gefunden. Wenn wir einem Bericht des Mönches Austin Castillejo’s trauen dürfen, ließ auch Kaiser Karl V., als er nach seiner Abdankung mit der Plombes noch ein Stelldichein haben wollte, sie in einem Sarg in sein Kloster und auf dieselbe Weise wieder hinausschmuggeln.

Nachdem Fauchelevent sich etwas von seinem Schreck erholt hatte, fragte er:

»Wie wollen Sie denn athmen?«

»Es wird schon gehen!«

»Mir wird der Athem knapp, wenn ich blos daran denke.«

»Sie werden ja doch einen Bohrer haben. Damit machen Sie in der Nähe des Mundes einige kleine Löcher. Und ganz fest aufzunageln brauchen Sie ja den Deckel auch nicht.«

»Nun ja! Wenn es Ihnen nun aber passiert, daß Sie husten oder niesen?«

»Wer in einer solchen Gefahr schwebt, hustet und niest nicht. — Es hilft Alles nicht, Vater Fauchelevent. Hier werde ich entweder abgefaßt, oder ich muß in dem Leichenwagen hinaus.«

Jedermann hat beobachtet, daß Katzen, wenn sie durch eine halboffene Thür hindurchschleichen, gern anhalten und sich nicht weiter wagen. So zaudern auch viele allzu vorsichtige Menschen in entscheidungsvollen Augenblicken auf die Gefahr hin, vom Schicksal zerquetscht zu werden, während schnelle Entschlossenheit sie leicht retten würde. Auch Fauchelevent hatte eine solche Anwandlung von Katzenvorsicht. Indessen steckte ihn Jean Valjean’s Zuversicht doch etwas an. Er murmelte:

»Hm! Ein anderes Mittel hat man allerdings nicht.«

Jean Valjean fuhr fort:

»Das Einzige, was mir Sorge macht, ist die Frage, wie sich die Dinge auf dem Kirchhof entwickeln werden.«

»Gerade der Punkt setzt mich am wenigsten in Verlegenheit,« belehrte ihn Fauchelevent. »Wenn Sie es zu Wege bringen, daß Sie wohlbehalten auf dem Kirchhof anlangen, so will ich es schon einrichten, daß Sie wohlbehalten aus der Totengrube herauskommen. Der Totengräber, Vater Mestienne, ein Freund von mir, arbeitet lieber im Weinberge des Herrn als auf dem Kirchhof. Mit dem werde ich also leichter fertig, als er mit einem Sarg. Nämlich auf folgende Weise. Wir kommen kurz, bevor der Abend dämmert, drei Viertelstunden vor Thoresschluß, dort an. Der Wagen fährt bis dicht an die Grube hinan. Ich immer hinterher, weil das meine Pflicht ist. In der Tasche führe ich aber Hammer, Stemmeisen und Zange mit mir. Der Wagen hält also an, die Leichenträger schlingen einen Strick um den Sarg und lassen ihn in die Grube hinab. Der Priester spricht die üblichen Gebete, macht das Zeichen des Kreuzes, besprengt den Sarg mit Weihwasser und schrammt ab. Ich bleibe mit Vater Mestienne, den ich in- und auswendig kenne, allein. Er ist entweder molum oder noch nicht. Hat er noch nicht seine Ladung eingenommen, so sage ich zu ihm: ›Komm fix, ehe der Kirchhof geschlossen wird, wir wollen uns in der ‘Gemüthlichen Ecke’ den Magen erwärmen, sonst erkälten wir uns alle Beide bei dem naßkalten Wetter.‹ Solch einen Vorschlag weiß mein Freund Mestienne immer zu würdigen. Er kommt mit, säuft in größter Eile, weil wir nicht viel Zeit haben, ungeheure Mengen gutes Getränk, weil er von mir freigehalten wird, und sinkt in jedem Fall um so eher unter den Tisch, als sein Verdauungsschlauch von vornherein nicht leer von Wein sein wird. Hat er die Waffen gestreckt und seinem Verstand auf einige Stunden Urlaub gegeben, so fingre ich ihm seine Totengräberkarte aus der Tasche und humple ohne ihn nach dem Kirchhof zurück. Ist er dagegen schon voll, so sage ich zu ihm: ›Ich will Dir die Arbeit abnehmen, geh nach Hause.‹ Auf diese Weise werde ich ihn wieder los, und hole Sie aus dem Sarge heraus.«

Jean Valjean streckte ihm die Hand entgegen, und der wackere Bauer schlug mit Herzlichkeit ein.

»Das wäre also gründlich verabredet. Es wird Alles gut gehen.«

»Wenn nur die Sache keinen Haken hat!« seufzte innerlich Fauchelevent. »Das Abenteuer ist doch riesig gefährlich!«

Auch Trunkenbolde sind nicht unsterblich

Am nächsten Tage, als die Sonne sich schon dem Saum des Gesichtsfeldes näherte, fuhr, von den wenigen Passanten des verkehrsarmen Boulevard du Maine feierlich gegrüßt, ein altmodischer, mit Abbildungen von Totenköpfen, Knochen und Thränen verzierter Leichenwagen dem Kirchhof Vaugirard zu. In diesem Wagen befand sich ein Sarg mit einem weißen Leichentuch, auf dem ein schwarzes Kreuz mit seitwärts niederhangenden Armen abgebildet war. Hinterher folgte eine schwarz drapirte Equipage, in der ein Priester im Chorhemd und ein Chorknabe mit einem rothen Käppchen saßen. Rechts und links von dem Leichenwagen ging je ein Leichenträger in grauer Uniform mit schwarzen Aufschlägen. Ganz hinten kam ein lahmer, alter Mann in Arbeiterkleidern.

Aus der Tasche des Arbeiters ragte der Stiel eines Hammers, die Klinge eines Stemmeisens und die beiden Arme einer Zange hervor.

Der Kirchhof Vaugirard nahm eine Ausnahmestellung ein. Er hatte seine besondern Gebräuche, so wie seinen Thorweg für Wagen und seine Thür für Fußgänger. Ferner besaßen hier einst die Benediktinerinnen des kleinen Klosters Petit-Picpus ein Terrain in einer Ecke, wo ihre Toten auch in der Folge des Abends bestattet wurden. Da auf diese Weise die Totengräber im Sommer des Abends und im Winter des Nachts Dienst hatten, waren sie einer besondern Disciplin unterworfen. Die Thore der Pariser Kirchhöfe wurden damals bei Sonnenuntergang geschlossen, und da dies eine Bestimmung der Stadtverwaltung war, so wurde sie auch auf dem Kirchhof Vaugirard befolgt. Der Thorweg und die Fußgängerthür, die neben einander lagen, waren mit Gittern versehen. Daneben stand ein von dem Architekten Perronnet gebauter Pavillon, in dem der Pförtner des Kirchhofs wohnte. Die beiden Gitter also drehten sich mit unerbittlicher Pünktlichkeit um ihre Angeln, sobald die Sonne hinter dem Invalidendom verschwand. Hatte sich ein Totengräber auf dem Kirchhof verspätet, so gab es für ihn nur eine Möglichkeit hinauszukommen; er mußte seine von dem städtischen Begräbnißbüreau ausgestellte Totengräberkarte vorzeigen. Er steckte sie dann in eine Art Briefkasten, die am Fenster des Pförtners angebracht war, dieser zog an einer Schnur, und die Fußgängerthür ging auf. Hatte der Totengräber seine Karte nicht bei sich, so nannte er seinen Namen; der Pförtner, der dann manchmal schon im Bett lag und schlief, stand auf, recognoscirte den Totengräber und schloß die Thür auf. In diesem Fall zahlte der Verspätete fünfzehn Franken Strafe.

Dieser Kirchhof Vaugirard beeinträchtigte mit seiner Eigenart die Gleichmäßigkeit der Verwaltung, weshalb man ihn bald nach dem Jahre 1830 eingehen ließ. Seine Nachfolge fiel dem Kirchhof Montparnasse zu und dieser bekam auch die berühmte Schänke mit, die sich mit der einen Mauer an den Kirchhof Vaugirard anlehnte, den »Guten Keil,« wie sie genannt wurde, nach einem auf dem Schilde abgebildeten Werkzeug dieser Art.

Der Kirchhof Vaugirard war damals schon, so zu sagen, im Verblühen begriffen. Er wurde alt. Unkraut, Moos und Schimmel überwucherten ihn, während die Blumen abnahmen. Feinre Leute dachten geringschätzig über ihn, und glaubten, er wäre gerade gut genug für die Armen. Kein Vergleich mit dem Pére-Lachaise, der Ruhestätte der Vornehmen und Reichen. Der Besitz der feinsten Mahagonimöbel ist kein so sicherer Beweis, daß Jemand der eleganten Welt angehört, wie das Eigenthumsrecht auf einige Quadratfuß in Pére-Lachaise. Der Kirchhof Vaugirard war nur noch ein ehrwürdiges Stück Alterthum, wie auch die Art seiner Anlagen bewies: Grade Alleen, viel Buchsbaum, Lebensbäume, Stechpalmen, alte Gräber von alten Ebenbäumen beschattet, sehr hohes Gras. Des Abends sah es da unheimlich, gruselig aus.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, als der Sarg mit dem weißen Tuch und dem schwarzen Kreuz in den Hauptweg des Kirchhofs Vaugirard einfuhr. Der Lahme, der ihm folgte, war unser Freund Fauchelevent.

Mutter Crucifixio’s Bestattung in dem Grabgewölbe unter dem Altar, Cosettens Transport in der Kiepe, Jean Valjean’s Unterbringung in dem Totensaal waren ohne irgend ein Hinderniß bewerkstelligt worden.

Beiläufig gesagt, halten wir Mutter Crucifixio’s Beisetzung unter dem Klosteraltar für eine durchaus läßliche Sünde, die fast einer Pflicht ähnlich sieht. Die Nonnen hatten sie, nicht nur ohne sich Vorwürfe zu machen, sondern mit ausdrücklicher Billigung ihres Gewissens vollzogen. Im Kloster gelten die Verordnungen »der Regierung, der Obrigkeit« nur für unberechtigte Einmischungen in religiöse Angelegenheiten. Erst die Ordensregel; dann die Befehle irdischer Autoritäten. Macht so viel Gesetze, wie Ihr wollt; aber behaltet sie für Euch. Wir müssen vor allen Dingen Gott geben, was Gottes ist, und nur wenn etwas übrig bleibt, können wir auch dem Kaiser geben, was des Kaisers ist. Ein Fürst ist nichts im Vergleich mit einem Princip.

Fauchelevent war sehr vergnügt. Sein Doppelkomplott zu Gunsten der Nonnen und Madeleine’s, seine Intrigue für und gegen das Kloster war geglückt, und Jean Valjean’s kaltblütige Zuversichtlichkeit hatte sich auch Fauchelevent mitgetheilt, der an dem Enderfolg nicht zweifelte. Denn was noch zu thun übrig blieb, schien keine Schwierigkeiten mehr zu bieten. Seit zwei Jahren hatte er den Totengräber Vater Mestienne, wer weiß wie oft, wann es ihm gerade beliebte, betrunken gemacht und ihn ganz nach seinem Willen seiner Laune gelenkt. Fauchelevent war jetzt in Folge dessen seiner Sache so gewiß, daß es ihm nicht einfiel, irgend einer Besorgniß Raum zu geben.

Deshalb rieb er sich auch, als der Wagen in den Kirchhof einfuhr, stillvergnügt seine großen Hände und freute sich diebisch über die Komödie, in der er die Hauptrolle spielte.

Plötzlich hielt der Leichenwagen an, an dem Gitterthor, wo der Erlaubnißschein zur Beerdigung vorgezeigt werden mußte. Der Beamte des Beerdigungsbüreaus verständigte sich mit dem Kirchhofspförtner. Während dieses Gesprächs, das immer einige Minuten in Anspruch nimmt, kam ein Unbekannter heran und stellte sich hinter den Leichenwagen, neben Fauchelevent. Es war ein Mann, der eine Arbeiterjacke mit großen Taschen und unter dem Arm eine Hacke trug.

Fauchelevent sah ihn an und fragte:

»Wer sind Sie?«

»Der Totengräber!« antwortete der Unbekannte.

Wäre eine Kanone auf ihn abgefeuert worden, Fauchelevent hätte keinen größeren Schreck bekommen können.

»Der Totengräber!« wiederholte er entsetzt.

»Ja!«

»Sie?«

»Ja ja.«

»Vater Mestienne ist der Totengräber.«

»War der Totengräber.«

»War?«

»Er ist gestorben.«

Fauchelevent hatte alle Möglichkeiten in Rechnung gezogen, nur nicht die, daß ein Totengräber sterben kann. Leider verhielt sich aber die Sache so. Auch Totengräber sterben. Sie graben fortwährend andern Leuten Gruben und fallen mal selber in eine.

Fauchelevent stand mit angstvoll geöffneten Munde da und brachte nur mühsam die Worte hervor:

»Ist ja nicht möglich.«

»Doch, doch!«

»Aber der Totengräber ist doch Vater Mestienne!«

»Nach Napoleon Ludwig XVIII. Nach Mestienne Gribier. Ich heiße nämlich Gribier, guter Alter.«

Fauchelevent sah sich jetzt, bleich vor Schrecken, seinen Mann genau an.

Ein langer, dürrer, blasser Kerl, dessen unheimliche Erscheinung zu seinem unheimlichen Amte wunderbar paßte. Der Miene nach zu urtheilen war er ein Mediziner, der seinen Beruf verfehlt hat, und mit einer untergeordneten Beschäftigung vorlieb nehmen mußte.

Fauchelevent brach in ein lautes, krampfhaftes Gelächter aus.

»Nein! Was für komische Dinge auf der Welt passieren!, Vater Mestienne ist also gestorben! Na, wenn Vater Mestienne tot ist, so lebe Väterchen Lenoir! Sie wissen doch, was man so nennt? Ein famoses Weinchen! Echter Suresne, der in Paris nicht leicht aufzutreiben ist! Also der alte Mestienne ist gestorben! Das thut mir leid. Er war ein gemüthliches Haus. Aber das sind Sie gewiß auch, nicht wahr, Kamerad? Wir machen uns doch gleich auf den Weg und gießen uns was Gutes hinter die Binde. Was meinen Sie?«

Der Totengräber antwortete: »Ich bin ein studirter Mann. Habe die Quarta eines Gymnasiums durchgemacht. Ich trinke nie.«

Mittlerweile hatte sich der Wagen wieder in Bewegung gesetzt und rollte seinem Bestimmungsorte zu.

Fauchelevent ging langsamer und hinkte vor Angst noch mehr als gewöhnlich.

Der Totengräber ging vor ihm her.

Fauchelevent musterte seinen Gegner noch einmal.

Es war einer von jenen Leuten, die schon in der Jugend alt aussehen und bei aller Magerkeit sehr stark sind.

»Kamrad!« rief ihn Fauchelevent wieder.

Der Angeredete wendete sich um.

»Ich bin der Totengräber des Klosters.«

»Also mein Kollege.«

Fauchelevent war schlau genug, zu begreifen, daß er mit einem gefährlichen Gegner zu thun habe, Einem, der sich ihm gegenüber auf seine Bildung etwas zu Gute that.

»Also, Vater Mestienne ist gestorben!«

»Absolut gestorben. Der liebe Gott hat sein Verfallbuch nachgesehn und gefunden, daß Vater Mestienne an der Reihe war.«

Fauchelevent wiederholte mechanisch:

»Der liebe Gott …«

»Der liebe Gott,« wiederholte energisch der Büchermann, »den die französischen Philosophen den Ewigen Vater, die Jakobiner das höchste Wesen nennen.«

»Machen wir denn nicht Bekanntschaft?«

»Ist schon geschehen. Ich weiß, daß Sie ein Bauer, und Sie wissen, daß ich ein Pariser bin.«

»So lange man nicht gemächlich zusammen gekneipt hat, kennt man einander nicht. Erst wenn man einige Glas Wein in die Kehle geschüttet hat, schüttet man auch sein Herz aus. Sie kommen mit und trinken ein Fläschchen mit mir. Solch eine Bitte schlägt Niemand ab.«

»Erst die Arbeit.«

»Ich bin verloren!« dachte Fauchelevent.

Denn sie waren schon dicht in der Nähe der Begräbnisstätte.

Der Totengräber hob wieder an.

»Guter Freund, ich habe sieben Bälge, deren Mäuler ich füllen muß. Da sie essen wollen, darf ich nicht trinken.«

Und da ihm, als Schönredner, dieser Gedanke zu einfach ausgedrückt schien, wiederholte er ihn mit stolzer Selbstgefälligkeit in einer geistreicheren, mehr rhetorischen Form:

»Ihr Hunger ist der Feind meines Durstes.«

Der Leichenwagen bog jetzt um eine Cypressengruppe in eine kleinere Allee ein und fuhr dann quer über ein wegeloses Feld und Gebüsch hindurch. Dies bedeutete, daß man an die Begräbnisstätte dicht herangekommen war. Fauchelevent ging immer langsamer, konnte aber damit leider nicht bewirken, daß auch der Leichenwagen langsamer fuhr. Glücklicher Weise konnten sich die Räder durch das lockere, vom Winterregen aufgeweichte Erdreich nur schwer hindurcharbeiten, und Fauchelevent gewann so etwas Zeit.

Er machte sich wieder an den Totengräber heran.

»Ich kenne einen ganz ausgezeichneten Wein. Echter Argenteuil, kann ich Sie versichern!«

»Guter Alter, so was dürfte nicht vorkommen, daß ein Mann wie ich, den Totengräber spielen muß. Mein Vater war Pförtner am Prytaneum und bestimmte mich für den Litteratenstand. Aber er hat Unglück gehabt. Verluste an der Börse erlitten. Deshalb habe ich der Schriftstellerei entsagen müssen. Indessen bin ich doch noch öffentlicher Schreiber.«

»Also sind Sie nicht Totengräber? fragte Fauchelevent in der schwachen Hoffnung, er habe einen Zweig gefunden, an den er sich anklammern könne.«

»Man kann das Eine thun und das Andere nicht lassen. Ich kumulire die beiden Beschäftigungen.«

Fauchelevent verstand das Wort kumuliren nicht und sagte wieder einmal mechanisch seinen alten Vers her:

»Kommen Sie mit und trinken Sie ein Gläschen mit mir.«

Hier müssen wir eine Bemerkung einfügen. So groß seine Angst war, erklärte sich Fauchelevent, indem er den Andern nach der Schänke locken wollte, doch nicht über die wichtige Frage, wer bezahlen würde. Für gewöhnlich hatte Fauchelevent eingeladen und Vater Mestienne bezahlt. Die durch die Einsetzung eines neuen Totengräbers geschaffene Lage motivirte ja allerdings zur Genüge die Aufforderung, und ließ sie sogar geboten erscheinen, aber der alte Gärtner ließ, nicht ohne Absicht, die unheimliche Berappungsfrage im Dunkeln.

Der Totengräber docirte weiter:

»Der Mensch muß essen, und wenn Jemand das Gymnasium zum größten Theil absolvirt hat, muß er sich so weit auf die Philosophie verstehen, daß er sich in das Unvermeidliche mit Würde zu schicken weiß. Deswegen habe ich denn auch Vater Mestiennes Amt übernommen und verbinde körperliche mit geistiger Arbeit. Ich habe meinen Stand auf dem Markt in der Rue de Sévres, dem Regenschirmmarkt. Alle Köchinnen von La Croix-Rouge wenden sich an mich, wenn sie ihren Militärs süße Geheimnisse mitzutheilen haben. Des Vormittags also setze ich Liebesbriefe auf und des Nachmittags grabe ich. Ja ja, Alter, so geht’s im Leben.«

Unterdessen hatte Fauchelevent’s Angst den denkbar höchsten Grad erreicht. Er sandte verzweifelte Blicke nach allen Seiten und dicke Schweißtropfen perlten seine Stirn herunter.

»Indessen,« fuhr der Totengräber fort, »kann Niemand zweien Herren dienen. Ich werde mich entweder für die Hacke oder für die Feder entscheiden müssen. Vom Graben bekommt man eine schwere Hand, was der richtigen Führung der Feder Eintrag thut.«

Hier hielt der Zug an.

Der Chorknabe stieg aus der Equipage, und ihm folgte der Priester.

Eins der Vorderräder des Leichenwagens stand auf einem Haufen Erde, hinter dem man eine offene Grube erblickte.

»Der Spaß kann gut werden!« stöhnte Fauchelevent.

Zwischen vier Brettern

Jean Valjean hatte sich in seinem Sarge einigermaßen eingerichtet, und es fehlte ihm nicht ganz an Athmungsluft.

Merkwürdig, wie ruhig ein gutes Gewissen einen Menschen machen kann! Alles ging, wie sich Jean Valjean es gedacht hatte; er verließ sich, ebenso wie Fauchelevent, auf Vater Mestienne und zweifelte nicht an dem guten Ausgang des Abenteuers.

Die Grabesruhe, die, so zu sagen, die Bretter des Sarges um sich verbreiteten, hatte sich ihm mitgetheilt und hinderte ihn, an die Gefährlichkeit seiner Lage zu denken.

Er beobachtete also mit größter Sorglosigkeit die Entwicklung des Spieles, dessen Einsatz sein Leben war.

Bald nachdem Fauchelevent den Sarg zugenagelt hatte, fühlte Jean Valjean, wie der Sarg getragen, und dann gefahren wurde. Er schloß auch, als er weniger gestoßen und geschüttelt wurde, daß er auf dem besser gepflasterten Boulevard angelangt war. Ein dumpfes Geräusch benachrichtigte ihn dann, daß er die Brücke von Austerlitz unter sich hatte. Endlich, als der Wagen zum ersten Mal anhielt, wußte er, daß der Zug vor dem Kirchhof angekommen war, und das zweite Mal, daß der Wagen an der Grube stand.

Plötzlich fühlte er, daß die Leichenträger den Sarg hantirten und hörte ein Reibegeräusch außen an den Brettern. Das kam offenbar von dem Strick, der um den Sarg geschlungen wurde.

Dann überkam ihn eine Art Betäubung.

Wahrscheinlich hatte der Leichenträger und der Totengräber den Sarg schief gehalten, so daß der Kopf vor den Füßen unten anlangte. Jean Valjean kam aber wieder zu völligem Bewußtsein, als er eine wagerechte Lage einnahm und der Sarg unbeweglich unten stand.

Hier hatte er ein gewisses Kältegefühl.

Alsbald erhob sich ein feierliche Stimme, und langsam, so daß er sie einzeln hören konnte, erklangen an sein Ohr lateinische Worte, die er nicht verstand:

»Qui dormiunt in terrae pulvere, evigilabunt; ali in vitam aeternam et ali in opprobrium, ut videant semper.«

Worauf eine Kinderstimme sich vernehmen ließ:

»De profundis.«

Die tiefe Stimme hob dann wieder an:

»Requiem aeternam Dona ei, Domine.«

Die Kinderstimme antwortete:

»Et lux perpetua, luceat ei.«

Dann kam ein leichtes Geräusch, als fielen Wassertropfen auf den Sargdeckel.

»Nun wird’s bald zu Ende sein,« dachte er. »Nur noch ein wenig Geduld. Der Priester muß gleich fertig sein. Dann nimmt Fauchelevent Vater Mestienne nach der Schenke, und ich bleibe allein. Endlich kommt Fauchelevent allein zurück und erlöst mich. Aber freilich, eine gute Stunde wird’s wohl noch dauern.«

Jetzt hörte er wieder die tiefe Stimme:

»Requiescat in pace.«

Und die Kinderstimme:

»Amen!«

Indem er wieder angestrengt lauschte, hörte er ein Geräusch von Schritten, die bald verhallten.

»Jetzt gehen sie,« dachte er, »Ich bin allein.«

Plötzlich hörte er über seinem Kopf ein starkes Geräusch, das ihn wie der Donner des jüngsten Gerichts erschreckte. Es war ein Spatenvoll Erde, die auf den Sarg niederfiel. Es folgte ein zweiter Spatenvoll, und verstopfte eins von seinen Luftlöchern.

Ein dritter und ein vierter Spatenvoll Erde donnerte nieder.

Es giebt Dinge, die stärker sind als der stärkste Mann. Jean Valjean fiel in Ohnmacht.

Eine verlorne Karte

Oben trug sich währenddessen Folgendes zu.

Als der Leichenwagen sich entfernt, der Priester und der Chorknabe in der Equipage davongefahren waren, sah Fauchelevent, der kein Auge von dem Totengräber verwandte, wie derselbe sich bückte und seinen Spaten packte, der in dem Haufen Erde steckte.

Da faßte Fauchelevent einen heldenmüthigen Entschluß, stellte sich zwischen die Grube und den Totengräber, kreuzte die Arme und rief:

»Ich bezahle.«

Der Andere sah ihn erstaunt an und fragte:

»Was?«

Fauchelevent wiederholte.

»Ich bezahle!«

»Was?«

»Den Wein!«

»Was für Wein?«

»Marke Argenteuil.«

»Wo denn? Wieso denn?«

»Im Guten Keil.«

»Hol’ dich der Teufel!« schimpfte der Totengräber und warf einen Spatenvoll Erde auf den Sarg.

Der Sarg dröhnte. Fauchelevent schlotterten die Kniee und er war nahe daran, selber in die Grube zu fallen. Er rief mit einer Stimme, die vor Angst fast wie ein Röcheln klang:

»Schnell, Kamerad, ehe der ‘Gute Keil’ zugemacht wird.«

Der Totengräber stieß den Spaten zum zweiten Mal in die Erde. Da packte ihn Fauchelevent am Arm und schrie:

»Ich bezahle! — So hören Sie doch, guter Freund. Ich bin der Totengräber des Klosters und hierher geschickt, damit ich Ihnen helfen soll. Die Arbeit kann im Dunkeln gemacht werden. Erst aber lassen Sie uns eins trinken!«

Aber während er sich noch so krampfhaft an den letzten Strohhalm anklammerte, legte er sich schon die heikle Frage vor: — »Gesetzt auch, er kommt mit — ob ich ihn auch dahin bringe, daß er sich um den Verstand trinkt? Der sieht mir ganz danach aus, als könnte er einen größeren Stiebel vertragen, als ich!«

»Alterchen«, sagte herablassend der Totengräber, »wenn Sie’s denn durchaus wollen, will ich Ihnen den Gefallen thun. Aber nach der Arbeit, keinesfalls vorher.«

Und er schwang schon wieder den Spaten mit Erde, als Fauchelevent ihn zurückhielt.

»Famoser Argenteuil zu sechs Sous!«

»Hören Sie mal, Sie sind ja wie die Glockenläuter. Bimbam! Bimbam! Immer dasselbe Lied! Lassen Sie mich endlich ungeschoren!«

Damit schleuderte er eine zweite Tracht Erde hinab.

Jetzt war Fauchelevent so weit, daß er selber nicht mehr wußte, was er sagte.

»So kommen Sie doch endlich! Ich bezahle ja!«

»Sobald wir die Dame zur Ruhe gebracht haben.«

Und ein dritter Spatenvoll flog hinab; dann aber hielt Gribier einen Augenblick inne und fügte hinzu:

»Es wird nämlich diese Nacht frieren und die Tote würde ein großes Geschrei erheben, wenn wir sie nicht warm zudeckten.«

Damit bückte er sich wieder und belastete den Spaten zum vierten Mal mit Erde. Dabei klaffte aber eine von seinen Taschen weit auseinander.

Da sah Fauchelevent, dessen Blicke unstät hin und herwanderten etwas Weißes in der Tasche.

Denn die Sonne war noch nicht unter dem Horizont verschwunden, und es leuchtet noch hell genug, daß man einen Gegenstand von greller Farbe in einer offenen Tasche wahrnehmen konnte.

Ein glücklicher Gedanke blitzte in Fauchelevent’s anschlägigem Hirn auf.

Er langte, ohne daß der mit seiner Arbeit beschäftigte Totengräber es merkte, in dessen Tasche von hinten hinein und holte den weißen Gegenstand heraus.

Während nun der Totengräber den vierten Spatenvoll hinuntersandte, und sich anschickte ihm einen fünften folgen zu lassen, sah ihn Fauchelevent mit aller Ruhe an und fragte:

»Sagen Sie mal, Herr Anfänger, haben sie ihre Karte bei sich?«

»Was für eine Karte?«

»Sie sehen doch, daß die Sonne untergeht.«

»Meinetwegen; wenn sie müde ist!«

»Der Kirchhof wird gleich zugemacht.«

»Was schadet das?«

»Haben Sie Ihre Karte bei Sich?«

»Meine Karte …!« sagte nachdenklich der Totengräber und griff in eine Tasche, darauf in eine andere. Alsdann kamen die Beinkleidertaschen an die Reihe. Aber er mochte sie drehen und wenden, wie er wollte; er fand die Karte nicht.

»Ich muß sie vergessen haben!«

»Macht fünfzehn Franken Strafe!«

Dem Totengräber wich alle Farbe aus dem Gesicht. D. h. er wurde, da er von Natur blaß war, grün.

»Heiliges kreuzschockschweres Donnerwetterpech!« fluchte er »Fünfzehn Franken!«

»Drei schöne, große Fünffrankenstücke!« rechnete ihm Fauchelevent vor, um den Stachel noch tiefer in die schmerzhafte Wunde zu bohren.

Dem Totengräber entsank der Spaten aus den kraftlosen Händen.

Jetzt triumphirte Fauchelevent.

»Na na! Nur keine Verzweiflung, junger Freund. Sie brauchen Sich nicht aufzuhängen, und um die Strafe können Sie auch herumkommen. Ein alter Praktikus wie ich, kennt manchen Kniff und manchen Pfiff, der Anfängern unbekannt ist, und ich will Ihnen einen Freundesrath geben. So viel ist zunächst klar, daß die Sonne dem Untergang nahe ist, sie berührt schon den Invalidendom, und in fünf Minuten wird der Kirchhof geschlossen.«

»Sehr wahr!« ächzte der Totengräber.

»In fünf Minuten kriegen Sie die Grube nicht voll, die hat’s in sich, und Sie kommen nicht mehr zur rechten Zeit hinaus.«

»Stimmt!«

»Aber Sie haben noch so viel Zeit, daß Sie … Wo wohnen Sie?«

»Dicht bei der Barriere. Eine Viertelstunde von hier. Rue de Vaugirad, Nr. 87.«

»Sie haben noch so viel Zeit, daß Sie jetzt gleich hinauskönnen, wenn Sie Ihre Spazierhölzer fix zu bewegen verstehen.«

»Ja natürlich!«

»Sind Sie draußen, so galloppiren Sie nach Hause, holen Ihre Karte und zeigen Sie dem Pförtner, damit er Sie wieder hereinläßt. Zu bezahlen haben Sie dabei nichts. Dann können Sie in aller Gemüthlichkeit Ihre Tote begraben. Ich aber bleibe hier und passe auf, damit sie nicht davonläuft.«

»Sie retten mir das Leben, guter Alter!«

»Jetzt aber socken Sie schleunigst ab!«

Aber der Totengräber drückte ihm noch voll dankbarer Rührung die Hand, ehe er davon trabte.

Fauchelevent wartete, bis Gribier seinen Blicken entschwunden und seine Schritte vollständig verhallt waren und neigte sich dann über die Grube:

»Vater Madeleine!« rief er halblaut.

Keine Antwort.

Fauchelevent erschrak, stürzte mehr in die Grube, als daß er hinabstieg, warf sich ans das Kopfende des Sarges und schrie:

»Vater Madeleine!«

In dem Sarg blieb Alles still.

Fauchelevent, der wie Espenlaub zitterte und vor Bangigkeit kaum Luft bekommen konnte, nahm Stemmeisen und Hammer zur Hand und brach den Deckel los. Jetzt zeigte sich in dem unheimlichen Halbdunkel Jean Valjeans Gestalt, der bleich und mit geschlossenen Augen regungslos da lag.

Dem Alten standen die Haare zu Berge, er reckte sich empor, taumelte aber sofort an die Wand der Grube zurück und starrte fassungslos Jean Valjean an.

»Er ist todt!« hauchte er, richtete sich aus, kreuzte die Arme heftig über einander und schrie:

»So rette ich also die Leute, die sich auf mich verlassen!«

Nach diesen Worten begann er zu schluchzen und machte seinem Schmerz in einem langen Monologe Luft, denn daß der Mensch keine Selbstgespräche hält, ist ein Irrthum. Bei besonders heftiger Erregung spricht man laut, auch wenn man allein ist.

»Das ist Vater Mestienne seine Schuld. Warum ist der Schafskopf gestorben? Wozu muß er gerade krepiren, wenn kein Mensch an so was denkt. Er hat Vater Madeleine umgebracht. — Vater Madeleine! — Er ist wirklich tot. Die Grube kann zugescharrt werden. Die Komödie ist aus. — Es war aber auch ein unvernünftiges Stück. Ach, du mein Gott, er ist tot! Was soll ich nun mit dem kleinen Mädchen anfangen? Was wird die Gemüsehändlerin sagen? Ist das menschenmöglich, daß so ein Mann sterben kann! Wenn ich daran denke, wie er den Karren hochgehoben hat! — Vater Madeleine! Vater Madeleine! — Ja ja! Er ist erstickt. Ich dacht’ es mir ja gleich. Er hat nicht auf mich hingehört. Das war mal ein dummer Streich! Er ist tot, der allerguteste von allen guten Leuten, die den guten Herrgott seine Sonne je beschienen hat. Und die Kleine! Na, so viel weiß ich, nach Hause gehe ich nicht. Ich bleibe hier. Wenn man so etwas auf dem Gewissen hat! Also dazu haben wir zwei alten Kerle unsere Köpfe zusammengesteckt, damit wir uns wie zwei Verrückte benehmen?! Daß er so ins Kloster hineingehagelt ist, war schon der Anfang des Blödsinns. So was läßt man hübsch bleiben! — Vater Madeleine! Vater Madeleine! Madeleine! Herr Madeleine! Herr Bürgermeister! Er hört mich nicht. Da hab’ ich mich in eine schöne Lage gebracht!«

Und er riß sich vor Verzweiflung die Haare aus.

In der Ferne wurde ein scharfes Geknarr lautbar. Das Thorgitter wurde zugemacht.

Fauchelevent beugte sich jetzt wieder über Jean Valjean, sprang aber alsbald so weit zurück, als es der beschränkte Raum erlaubte. Jean Valjean hatte die Augen aufgeschlagen und sah seinen alten Freund an.

Eine Auferstehung ist beinah ebenso schrecklich anzusehen, wie eine Sterbeszene. Fauchelevent blickte, noch verstörter und blasser als bisher, unfähig zu untersuchen, ob er es mit einem Lebenden oder einem Toten zu thun habe, regungslos Jean Valjean an, der ihm sein Gesicht zugewandt hielt, und bald zu sprechen anfing:

»Ich war im Begriff einzuschlafen!«

Mit diesen Worten setzte er sich im Sarge aufrecht.

Fauchelevent fiel auf die Knie:

»Gerechte, gütige Mutter Gottes! — Haben Sie mir einen Schreck eingejagt!«

Dann stand er auf und rief:

»Ich danke Ihnen, Vater Madeleine!«

Jean Valjean war nur bewußtlos gewesen, und die frische Luft hatte ihn wieder hergestellt.

Die Freude macht auf den Menschen einen ebenso gewaltsamen Eindruck, wie der Schreck, und Fauchelevent wurde es beinah ebenso schwer wieder zu sich zu kommen, wie Jean Valjean.

»Sie sind also nicht gestorben! Nein, was Sie für ein gescheidter Mann sind! Ich habe so lange gerufen, bis Sie wieder zu sich gekommen sind. Als ich Ihre Augen sah, dachte ich mir: ›So ist’s gut! Nun ist er erstickt!‹ Ich wäre verrückt geworden, so verrückt, daß sie mich in eine Zwangsjacke und ins Irrenhaus gesteckt hätten! Was hätte die Gemüsefrau dazu gemeint, daß man ihr ein Kind zu ernähren giebt und ihr sagt, der Großvater ist gestorben. Das wäre eine erbauliche Geschichte gewesen, barmherzige Heilige des Himmels! Sie leben also! Na, das ist die Hauptsache!«

»Mich friert!« seufzte Jean Valjean.

Diese Mahnung erinnerte Fauchelevent an die Wirklichkeit, die unerquicklicher Natur war. Beide Männer standen, auch nachdem sie das Aergste hinter sich hatten, noch unter dem Banne der gewaltsamsten, grausigsten Empfindungen, und ihre Umgebung war nicht danach angethan, ihnen ihre volle Geistes- und Körperkraft wiederzugeben.

»Wir müssen machen, daß wir von hier fortkommen!« rief Fauchelevent. »Aber erst eine Stärkung!«

Mit diesen Worten holte er eine Korbflasche aus der Tasche hervor und reichte sie Jean Valjean.

Was die frische Luft angefangen, vollendete der Branntwein. Jean Valjean gelangte vollständig zum Bewußtsein.

Dann stieg er aus dem Sarge und war Fauchelevent beim Zunageln behilflich.

Nach wenigen Minuten waren sie aus der Grube hinausgeklettert.

Sie ließen sich Zeit. Der Kirchhof war zu, und es stand nicht zu fürchten, daß der Totengräber Gribier sie überraschen könnte. Der Arme war jetzt zu Hause und sollte es wohl bleiben lassen, seine Karte, die in Fauchelevent’s Tasche steckte, zu finden. Ohne Karte hatte er aber keinen Zutritt auf den Kirchhof.

Fauchelevent ergriff also ruhig den Spaten, Jean Valjean die Hacke, und begruben den leeren Sarg.

Als sie die Grube bis zum Rande gefüllt hatten, sagte Fauchelevent zu Jean Valjean:

»Ich behalte den Spaten; nehmen Sie die Hacke mit.«

Es dunkelte jetzt schon stark.

Jean Valjean wurde das Gehen sauer. Er mußte die Todeskälte des Grabes abschütteln, gewissermaßen aufthauen.

»Sie sind eingefroren! Schade, daß ich lahm bin; wir würden sonst tapfer traben!«

»Das Unglück ist nicht groß!« tröstete Jean Valjean. »Noch ein Paar Schritte, so bin ich wieder an das Gehen gewöhnt.«

Sie kehrten auf dem Wege, den der Leichenwagen gekommen war, zurück. Vor dem Gitter und dem Pavillon angelangt, warf Fauchelevent die Karte des Totengräbers in den Kasten, der Pförtner zog am Thürstrick, und Beide konnten hinaus.

»Das geht ja Alles wie geschmiert!« jubilirte Fauchelevent. »Sie haben da wirklich einen prächtigen Einfall gehabt, Vater Madeleine!«

Durch die Barriere Vaugirard kamen sie gleichfalls unbehelligt. In der Nähe eines Kirchhofs sind eine Hacke und ein Spaten so gut, wie zwei Pässe.

Die Rue de Vaugirard war menschenleer.

»Vater Madeleine,« sagte unterwegs Fauchelevent, »Sie haben bessere Augen als ich. Zeigen Sie mir doch Nr. 87.«

»Hier ist es schon.«

»Es ist kein Mensch auf der Straße«, hob Fauchelevent wieder an, »geben Sie mir die Hacke und warten Sie hier ein paar Minuten.«

Fauchelevent trat in das Haus ein, stieg mit dem sichern Instinkte Jemandes, der einen armen Teufel aufsucht, ohne Weiteres bis zum Dach empor und klopfte im dunkeln an eine Stubenthür.

»Herein!«

Es war Gribiers Stimme.

Fauchelevent stieß die Thür an. In der Wohnung des Totengräbers sah es so trostlos und öde aus, wie es nur bei den Aermsten unter den Armen möglich ist. Großer Mangel an Möbeln und dabei Ueberfüllung des Jammerstübchens. Eine Kiste, — wenn’s nicht ein Sarg war, diente als Kommode, ein Buttertopf als Wasserbehälter, ein Strohsack als Bett, die Dielen als Tisch und Stühle. In einer Ecke saß auf einem zerlumpten Teppich eine magere Frau, umgeben von einem Haufen Kinder, Alle zu einem Klumpen geballt. Die ganze, armselige Wirthschaft befand sich in der wildesten Unordnung. Alles war durcheinander geworfen, als wenn eben ein Erdbeben über das Land gegangen wäre. Die Deckel waren von den Gefäßen abgenommen, die Lumpen zerstreut, ein Krug entzwei, die Mutter hatte verweinte Augen, die Kinder waren offenbar geprügelt worden. Augenscheinlich hatte der Totengräber seine Karte mit sinnloser Wuth und Angst gesucht und alles Mögliche für seinen Verlust verantwortlich gemacht, u. a. auch seinen Krug und seine Frau. Er sah ganz unglücklich aus.

Aber Fauchelevent lag zu sehr daran, mit seinem Abenteuer zu Ende zu kommen, als daß er auf diese Kehrseite seines Erfolges hätte achten können.

Er trat rasch ins Zimmer hinein und sagte:

»Ich bringe Ihre Hacke und Ihren Spaten.«

Gribier sah ihn erstaunt an:

»Sie sind es, Alter?«

»Und morgen früh können Sie Sich Ihre Karte bei dem Kirchhofspförtner abholen.«

Mit diesen Worten legte er Hacke und Spaten auf den Fußboden nieder.

»Was soll denn das bedeuten?«

»Das bedeutet, daß Ihre Karte Ihnen aus der Tasche gefallen war, daß ich sie gefunden habe, nachdem Sie weg waren, daß ich die Grube zugeschüttet, daß ich ihre Arbeit gethan habe, daß der Pförtner Ihnen Ihre Karte wiedergeben wird, und daß Sie keine fünfzehn Franken Strafe zu bezahlen brauchen. Sind Sie nun zufrieden, junger Freund?«

»Ich danke Ihnen, Alterchen!« rief Gribier außer sich vor Freude. »Das nächste Mal ponire ich!«

Ein gut bestandenes Verhör

Eine Stunde nachher, als schon stockfinstere Nacht herrschte, erschienen vor Nr. 62 in der kleinen Rue Picpus zwei Männer mit einem kleinen Mädchen. Der Aelteste von ihnen hob den Thürklopfer und schlug damit kräftig an.

Es waren Fauchelevent, Jean Valjean und Cosette.

Die beiden Alten hatten Cosette aus der Wohnung der Gemüsehändlerin abgeholt, wo Fauchelevent sie Tags zuvor unterbrachte. Cosetten waren diese vierundzwanzig Stunden sehr traurig vergangen; sie verstand nicht, was vorging, und ängstigte sich unsäglich. Vor lauter Zittern war sie nicht zum Weinen gekommen, und hatte weder gegessen, noch geschlafen. Ihre gute Wirtin hatte sie mit Fragen über die Ursachen ihres Leids bestürmt, aber keine Antwort bekommen, abgesehen von trostlos traurigen Blicken. Cosette hatte von dem, was sie seit zwei Tagen sah und hörte, kein Wort verlauten lassen. Sie errieth, daß eine Gefahr im Anzuge war, und begriff, daß sie »recht artig« sein müsse. Wer hat nicht die Zaubermacht der Worte: »Sage nichts!« erprobt, wenn sie einem geängstigten, kleinen Wesen mit der erforderlichen Betonung in die Ohren geflüstert werden! Die Furcht macht stumm. Hütet doch Niemand ein Geheimniß so gut, wie manches Kind!

Allein, als sie nach vierundzwanzig Stunden schwermüthigen Wartens Jean Valjean wiedersah, entfuhr ihr ein solcher Freudenschrei, daß man daraus leicht erschließen konnte, was sie so eben in ihrem Innern durchgemacht hatte.

Da Fauchelevent ein Klosterinsasse war, kannte er auch die Losungsworte und öffnete alle Thüren damit.

Der Pförtner, der seine Instruktionen für den betreffenden Fall schon empfangen hatte, schloß die für das Dienstpersonal bestimmte, kleine Thür auf, die aus dem Hofe in den Garten führte und dem Thorweg gegenüber lag. Durch diese Thür also wurden jetzt alle Drei eingelassen und gelangten in das innere Sprechzimmer, wo Fauchelevent Tags zuvor die Befehle der Priorin eingeholt hatte.

Die Priorin wartete hier schon, den Rosenkranz in der Hand, auf sie. Eine der stimmberechtigten Mütter, von ihrem Schleier verhüllt, stand neben ihr. Ein bescheidenes Talglicht beleuchtete, — oder that wenigstens so, als beleuchtete es, — das Gemach.

Die Priorin musterte Jean Valjean — so aufmerksam, wie dies nur Leute vermögen, die immer die Augen zur Erde senken und nie etwas zu sehen scheinen.

Dann begann sie das Verhör:

»Sie sind der Bruder?«

»Ja wohl, hochwürdige Mutter!« antwortete Fauchelevent.

»Wie heißen Sie?«

»Ultime Fauchelevent,« antwortete wieder Fauchelevent.

Er hatte in der That einmal einen Bruder mit diesem Vornamen gehabt.

»Wo sind Sie her?«

Fauchelevent antwortete:

»Aus Picquigny bei Amiens.«

»Wie alt sind Sie?«

»Fünfzig Jahre.«

»Was für eine Beschäftigung haben Sie?«

»Gärtner.«

»Sind Sie ein guter Christ?«

»Wie alle Andern in unsrer Familie.«

»Ist das Ihre Kleine?«

»Ja wohl, hochwürdige Mutter.«

»Sie sind der Vater?«

»Ihr Großvater.«

Die nebenstehende Mutter bemerkte jetzt zu Priorin:

»Seine Antworten sind sehr befriedigend.«

Und doch hatte Jean Valjean noch nicht den Mund aufgethan!

Nun betrachtete die Priorin aufmerksam die kleine Cosette und sagte halblaut zu ihrer Gehülfin:

»Sie wird häßlich werden.«

Darauf besprachen sie sich noch sehr leise einige Minuten in einer Ecke des Sprechzimmers, worauf die Priorin sich wieder an Fauchelevent wandte:

»Vater Fauvent, besorgen Sie ein zweites Knieleder nebst Glocke.«

Am nächsten Tage erklangen im Garten zwei Glocken, und die Nonnen vermochten es nicht, ihre Augen vollständig von den beiden Männern abzuwenden, die nebeneinander mit dem Spaten arbeiteten. Es war aber auch ein zu großartiges Ereigniß, dem gegenüber auch die Regel des Stillschweigens nicht Stand halten konnte. Wenigstens flüsterte man sich leise zu:

»Ein Gärtnergehülfe. Ein Bruder von Vater Fauvent.«

Auf diese Weise wurde also Jean Valjean im Kloster unter dem Namen Ultime Fauchelevent offiziell als Gärtner eingesetzt.

Die beste Empfehlung war für ihn Cosettens Häßlichkeit gewesen. Die geringe Aussicht, die das kleine Mädchen hatte, je schön zu werden, verschaffte ihr sofort die Gunst der Priorin und eine Freistelle in dem Erziehungsinstitut.

Das war durchaus logisch. Auch wenn sie keinen Spiegel im Kloster haben dürfen, wissen die jungen Mädchen doch, wie sie aussehen. Die da wissen, daß sie hübsch sind, werden nicht leicht Nonnen; die Vorliebe für das Klosterleben steht vielmehr durchaus im umgekehrten Verhältniß zu der Schönheit der Gestalt, und häßliche, junge Mädchen lassen sich am leichtesten bekehren.

Bei dem ganzen Abenteuer fiel auch große Ehre für Fauchelevent ab. Sein Erfolg war ein dreifacher, denn er verdiente sich den Dank Jean Valjean’s, den er rettete; Gribier’s, der glaubte, er habe ihm die fünfzehn Franken Strafe erspart; des Klosters, das er in Stand setzte, dem Kaiser das Seinige zu nehmen und es Gott zu geben. Daß unter dem Altar ein Sarg mit einer Leiche aufgestellt und auf dem Kirchhof Vaugirard ein leerer Sarg begraben wurde, war ja freilich eine schreckliche Störung der öffentlichen Ordnung, aber kein Mensch merkte was davon. Was die Klosterangehörigen anbelangt, so fühlten sie sich Fauchelevent zu besonderm Dank verpflichtet; er galt für einen tüchtigen Diener, einen ganz kostbaren Gärtner. Bei der ersten Visitation des Erzbischofs erzählte die Priorin ihm den Vorfall, zum Theil als Beichte, zum Theil um ihr Lob aus dem Munde des hochwürdigen Herrn zu vernehmen. Der Erzbischof erzählte den Vorfall unter dem Siegel der Verschwiegenheit und mit beifälligem Kommentar Herrn de Latil, Beichtvater des Bruders des Königs, und nachmals Erzbischof zu Reims und Kardinal, und schließlich erscholl der Ruhm von Fauchelevent’s Thaten sogar in Rom. Wir haben einen Brief eingesehen, den der damalige Papst Leo XII. an einen von seinen Verwandten, einen Monsignore der Pariser Nuntiatur und gleichfalls Mitglied der Familie Della Genga richtete, und citiren daraus folgende Zeilen: »In einem Kloster zu Paris soll sich ein vortrefflicher Gärtner, ein Mann von großer Frömmigkeit, Namens Fauvent, befinden.« In Fauchelevents Baracke selber drang allerdings kein Ton von all diesen Lobgesängen; er fuhr fort zu pfropfen, und zu jäten, seine Melonen einzuwickeln, ohne sich seiner Trefflichkeit und Frömmigkeit bewußt zu sein.

In der Klausur

Im Kloster beobachtete Cosette nach wie vor Stillschweigen über ihre Geheimnisse.

Selbstredend hielt sie sich für Jean Valjean’s Enkelin. Da sie übrigens nichts wußte, konnte sie ja auch nichts sagen, und sie hätte, so wie so, nichts gesagt! Wie wir schon bemerkt haben, kann kein Lehrmeister Kinder in der Kunst zu schweigen so gut unterweisen, wie das Unglück. Cosette war so viel Ungemach widerfahren, daß sie sich vor Allem fürchtete, daß sie zu sprechen, ja zu athmen Bedenken trug. Wie oft hatte ein Wort von ihr eine Lawine ins Rollen gebracht und auf sie herabgestürzt! Kaum daß sie jetzt, wo sie unter Jean Valjean’s Obhut lebte, anfing ruhiger zu sein! Sie gewöhnte sich schnell genug ans Kloster. Nur daß sie nach Kathrine Sehnsucht hatte, indessen wagte sie nicht von ihrem Liebling zu sprechen. Nur einmal sagt sie zu Jean Valjean: »Großvater, wenn ich es gewußt hätte, würde ich sie mitgebracht haben.« .

Als Zögling des Klosters mußte Cosette auch die Tracht des Erziehungsinstituts anlegen. Jean Valjean erhielt die Erlaubniß, die Kleider, in denen sie gekommen war, behalten zu dürfen. Es war die noch wenig abgenützte Trauerkleidung, die er für sie nach der Herberge der Thénardiers mitgebracht hatte. Den ganzen Anzug legte er mit Kampfer und andern Riechstoffen, an denen in Klöstern Ueberfluß herrscht, in einen, eigens zu diesem Zweck angeschafften, kleinen Koffer, dessen Schlüssel er beständig bei sich trug, und den er auf einem Stuhl in der Nähe seines Bettes zu stehen hatte »Großvater,« fragte ihn eines Tages Cosette, »was riecht denn da so gut in dem Koffer?

Vater Fauchelevent wurde, abgesehen von der schon erwähnten, ihm unbekannten Berühmtheit, noch auf andere Weise für seine gute Handlung belohnt. Erstens machte ihm die Erinnerung daran Vergnügen; ferner hatte er, nun ihm ein Gehülfe beigegeben war, weit weniger Arbeit. Endlich zog er noch einen dritten, besonders großartigen. Vortheil daraus, daß Herr Madeleine bei ihm war. Er konnte nämlich jetzt drei Mal so viel Tabak schnupfen, wie früher und mit unendlich mehr Genuß, denn Herr Madeleine hielt ihn in dem Artikel frei.

Der Vorname Ultimus kam bei den Ordensschwestern nicht in Gebrauch; sie nannten Jean Valjean ›Fauvent den Zweiten.‹

Hätten die frommen Mädchen etwas von Javert’s Beobachtungsgabe besessen, so würde es ihnen aufgefallen sein, daß alle Gänge von Fauvent dem Ersten, dem Alten, Gebrechlichen, Lahmen, nie von den Jüngern besorgt wurden. Aber sei es, daß beständig auf Gott gerichtete Augen nicht zu spioniren verstehen, sei es, daß die Aufmerksamkeit der Schwestern zu sehr durch gegenseitige Beobachtung in Anspruch genommen war, genug, sie merkten nichts.

Es wäre Jean Valjean auch schlecht bekommen, hätte er sich aus seinem Schlupfwinkel hervorgewagt. Denn Javert behielt das Stadtviertel einen langen Monat speziell im Auge.

Das Kloster war für Jean Valjean gleichsam eine von gefährlichen Tiefen umgebene Insel. Der Raum zwischen den vier Gartenmauern bildete jetzt seine ganze Welt. Hier sah er genug vom Himmel, um Seelenfrieden zu haben, und kam oft genug mit Cosette zusammen, um sich freuen zu können.

Er führte jetzt wieder ein recht angenehmes Leben.

In der alten, baufälligen Baracke, die noch 1845 existirte, blieb er wohnen und wurde von seinem alten Freund gezwungen, sich das beste von den drei kahlen Zimmern des Gebäudes auszuwählen. An der Mauer desselben sah man, außer einem zur Aufnahme einer Kiepe und einem, für das Knieleder bestimmten Nagel, noch einen, über dem Kamin angeklebten königlichen Tresorschein aus dem Jahre 1793. Diese Verzierung hatte Fauchelevent’s Vorgänger, ein ehemaliger Chouan, der in der Vendee gegen die Republikaner gekämpft hatte und im Kloster gestorben war, hier hinterlassen.

Jean Valjean arbeitete alle Tage im Garten und machte sich sehr nützlich. War er doch von Beruf Baumputzer und fand Gefallen an der Gärtnerei. Seine Kenntnisse und Geheimnisse ließen sich jetzt verwerten. So veredelte er namentlich die zahlreichen Wildlinge des Baumgartens und machte sie fähig, vorzügliche Früchte zu tragen.

Cosette hatte die Erlaubniß, täglich eine Stunde bei ihm zu verweilen. Da die Schwestern, melancholisch und schweigsam und er freundlich zu ihr war, stellte das kleine Mädchen Vergleiche an, liebte ihn sehr und versäumte es nie, ihn zur festgesetzten Stunde in seiner Baracke aufzusuchen, die dann für ihn zum Paradiese wurde. Dann erweiterte sich sein Inneres und wurde Glücksgefühlen um so zugänglicher, je mehr er fühlte, daß Cosette durch ihn glücklicher war. Hat doch die Freude, die wir Andern einflößen, die reizende Besonderheit, daß sie, statt sich wie jede Ausstrahlung abzuschwächen, noch heller zu uns zurückstrahlt. Auch außer der Besuchszeit war sie ihm nicht ganz entzogen, wenigstens nicht in den Erholungspausen, wo er aus der Ferne ihr zusah und sie an ihrer Stimme, ihrem frohen Lachen erkannte.

Denn Cosette hatte jetzt lachen gelernt, so vollständig, daß ihre Gesichtszüge ganze andere geworden waren. Der finstere Ausdruck, der früher in ihren Mienen lag, war verschwunden. Das Lachen ist wie die Sonne; es verjagt den Winter aus dem menschlichen Antlitz.

Waren die Erholungsstunden vorbei und Cosette in das Haus zurückgekehrt, so blickte Jean Valjean nach den Fenstern ihres Schulzimmers, ja stand des Nachts auf, um nach dem Schlafsaal hinaufzusehen.

Gottes Wege sind wunderbar; der Aufenthalt im Kloster trug, wie die Liebe zu Cosette, dazu bei, das Vervollkommnungswerk des Bischofs an Jean Valjean zu stärken und weiter zu führen. Bekanntlich zweigen sich von dem Pfade der Tugend vom Teufel gebaute Nebenwege ab, die zum Hochmuth führen. Vielleicht war auch Jean Valjean, als die Vorsehung ihn in das Kloster Petit-Picpus trieb, ohne es zu ahnen, im Begriff, sich auf einen solchen Nebenweg zu verirren. So lange er sich nur mit dem Bischof verglichen hatte, war er, weil ihm seine Verdienste unzulänglich dünkten, bescheiden geblieben. Allein seit einiger Zeit fing er an, sich auch mit den Menschen seiner Umgebung zu vergleichen, und daraus konnte natürlich nur Hochmuth entstehen. Wer weiß, ob er auf diese Weise nicht die Welt wieder hassen gelernt hätte?

Aber von der Gefahr, in diesen Abgrund wieder zurückzugleiten, bewahrte ihn das Kloster.

Es war sein zweites Gefängniß. In dem ersten, wo die Justiz mit unvernünftiger Unbilligkeit und das Gesetz in seiner verbrecherischen Bosheit, Schrecken auf Schrecken häufte, hatte er den Anfang seines Lebens, den sogenannten Lenz seines Daseins, zugebracht. In seinem zweiten Gefängniß, dem Kloster, war er zwar nur passiver Zuschauer, lernte aber von den Qualen dieses Kerkers genug kennen, um sich zu fruchtbaren Vergleichen angeregt zu fühlen.

Oft vergaß er darüber seine Arbeit und ging, auf seinen Spaten gestützt, den verschlungenen Windungen seiner Gedanken nach.

Er gedachte dann seiner ehemaligen Leidensgefährten. Wie unglücklich Die waren! Sie standen in aller Frühe auf und arbeiteten bis zum Einbruch der Nacht. Kaum daß man ihnen die Zeit, ließ auszuschlafen in ihren eisernen Bettstellen, auf Matratzen, die nur zwei Zoll dick waren, in Sälen, die nur in der allerrauhesten Jahreszeit geheizt wurden. Sie waren bekleidet mit abscheulichen, rothen Jacken; bei großer Hitze wurde ihnen aus Gnade eine leinene Hose und im Winter ein wollener Kittel zugestanden. Wein bekamen sie nicht, und Fleisch nur, wenn besonders schwere Arbeit zu verrichten war. Sie lebten ohne Namen, nur als Nummern, als herumgehende Ziffern, mit obligatorisch gesenkten Augen, mit dumpfer Stimme, mit geschorenem Kopf, in beständiger Angst vor dem Stock des Profossen, mit Schande und Schmach bedeckt.

Nachher wanderten dann seine Gedanken zu den Wesen hinüber, die er gegenwärtig vor Augen hatte.

Auch diese trugen kurze Haare, senkten die Augen, sprachen leise, hatten, zwar nicht die Schande, wohl aber den Hohn der Welt zu fürchten, zitterten nicht vor dem Stock, wohl aber vor der Geißel. Auch ihnen war ihr Name, den sie in der menschlichen Gesellschaft führten, genommen; sie existirten nur unter abstrakten Benennungen. Sie aßen nie Fleisch und tranken nie Wein, enthielten sich oft den Tag über aller Nahrung. Bekleidet waren sie, nicht mit einer rothen Jacke, wohl aber mit einem schwarzen, wollenen Tuch, das im Sommer zu schwer, im Winter zu leicht war, durften sich also überhaupt nicht nach der Temperatur richten, und trugen sechs Monate im Jahre Serschehemden, die Fieber verursachten. Sie wohnten nicht in Sälen, die nur bei strenger Winterkälte geheizt waren, aber in Zellen, in denen nie ein Feuer angezündet wurde; sie schliefen nicht auf zwei Zoll dicken Matratzen, sondern auf Stroh. Endlich gönnte man ihnen nicht einmal den Schlaf; jede Nacht, nach des Tages Arbeit und Mühe, mußten sie, wenn die erste Ruhe ihre Glieder erschlafft hatte, wenn sie eben eingeschlafen und nothdürftig warm geworden waren, sich Gewalt anthun, aufstehen und in einer eiskalten düstern Kapelle, auf Fliesen knieend, Gebete verrichten.

Außerdem mußte Jede von ihnen an gewissen Tagen, sobald sie an die Reihe kam, zwölf Stunden lang auf einem Stein knieen, oder mit ausgebreiteten Armen an der Erde liegen.

Jene waren Männer; Diese waren Frauen.

Was hatten die Männer gethan? Gestohlen, genothzüchtigt, geraubt, gemordet. Was hatten die Frauen verbrochen? Nichts.

Einerseits Raub, Betrug, Hinterlist, Gewalt, Wollust, Todtschlag, alle Arten von Kirchenentweihung, alle erdenkbaren Frevel; auf der andern Seite nichts, als Schuldlosigkeit.

Eine vollkommene Unschuld, kraft deren die frommen Schwestern schon halb dem Himmel angehörten.

Einerseits leise geflüsterte Bekenntnisse von Verbrechen; andererseits öffentliche Beichten von geringfügigen Vergehen.

Einerseits Miasmen, andererseits süßer Duft. Dort Finsterniß, hier Schatten, aus dem hier und dort ein heller Glanz hervorbricht.

Zweierlei Sklaverei, aber bei der einen die Möglichkeit der Befreiung, die Gunst einer gesetzlichen Beschränkung und außerdem die Hoffnung entspringen zu können. Bei der zweiten lebenslängliche Gefangenschaft, nur die schwache, ferne Hoffnung auf jenes Freiheitslicht, das die Menschen den Tod nennen.

Dort mit Ketten, hier durch den Glauben gebunden.

Welche Erfolge wurden in dem einen Gefängniß erzielt? Ein ungeheurer Fluch, Zähneknirschen, Haß, verzweifelte Bosheit, ein Schrei der Wuth gegen die menschliche Gesellschaft, der Lästerung und des Hohnes gegen den Himmel.

In dem zweiten gipfelte Alles in Segen und Liebe.

Und an beiden so ähnlichen und so verschiedenen Orten widmete man sich demselben Werke, der Buße.

Die Natur der einen Buße begriff Jean Valjean sofort: Die Galeerensklaven büßten für eine persönliche Schuld. Aber wofür büßten denn die Andern, die frei von jedem Makel waren? Was war das für eine Sühnung?

In seinem Innern antwortete eine Stimme: ›Die göttlichste, hochherzigste, die der Mensch übernehmen kann, die Büßung fremder Schuld.‹

Hier sprechen wir mit Vorbehalt unserer persönlichen Ansicht und treten nur als Erzähler auf, stellen uns auf Jean Valjean’s Standpunkt, und berichten seine Eindrücke und Empfindungen.

Sahen doch seine Augen den höchsten Gipfel der Selbstverleugnung, die Unschuld, die den Menschen ihre Sünden vergiebt und an ihrer Stelle Genugthuung leistet, unendliche Liebe zur Menschheit, verbunden mit unendlicher Liebe zu Gott, sanfte, schwache Wesen, beladen mit dem Elend Derer, die Strafe verdient haben, und heiter lächelnd wie Solche, denen ein hoher Lohn zu Theil geworden ist.

Und er entsann sich, daß er sich einst unterfangen hatte zu klagen!

Oft erhob er sich mitten in der Nacht von seinem Lager, um den Dankgesängen der schuldlosen und doch so schwer bestraften Wesen zu lauschen, und es rieselte ihm kalt durch die Adern bei dem Gedanken, daß diejenigen die gerecht« Züchtigung erlitten, die ihre Stimme nur zur Lästerung erhoben, und daß er, ein Elender, Gott mit der Faust gedroht hatte.

Was ihm auffällig schien und ihm als eine leise Mahnung der Vorsehung tief zu denken gab, war auch der Umstand, daß die schwierige und gefahrvolle Erklimmung der Mauern dieselbe Art Anstrengung war, der er sich unterzogen hatte, um aus dem ersten Büßungsort zu entspringen, und um in den zweiten zu gelangen. Ob dies nicht ein Symbol seines Schicksals sein sollte?

Dieses Haus hier war gleichfalls ein Gefängniß und hatte eine schaurige Ähnlichkeit mit der andern Behausung, aus der er entflohen war, und doch hatte er nie eine Vorstellung von etwas Derartigem gehabt.

Er sah hier wieder Gitter, Riegel, Eisenstangen, und gegen wen waren diese Schranken aufgerichtet? Gegen engelmilde Wesen.

Dieselbe Art Mauern, die er einst um seinen Tigerzwinger gesehen, hielt hier Lämmer gefangen.

An diesem Ort wurde Buße geleistet, nicht Strafen erduldet, und doch ging es hier noch strenger, trauervoller, erbarmungsloser her. Diese jungen Mädchen trugen ein schwereres Joch, als die Galeerensklaven. Warum?

Wenn er über dieses erhabene Räthsel nachsann, versank alles Andere davor, wie ein wesenloses Nichts.

Bei diesen Betrachtungen verschwand aller Hochmuth. Er hielt fleißige Einkehr in sich selbst, dünkte sich gering und weinte recht oft. Alles, was seit einem halben Jahr in seinem Leben Neues aufgetreten war, führte ihn auf den Weg zurück, den der fromme Bischof ihm gezeigt; die Begegnung mit Cosette, indem sie ihn Liebe, der Aufenthalt im Kloster, der ihn Demuth lehrte.

Wenn der Abend dämmerte, und sich Niemand im Garten aufhielt, sah man Jean Valjean bisweilen in der Allee, die an der Kapelle entlang führte, vor dem Fenster, durch das er in der Nacht seiner Ankunft in den Saal geschaut hatte, auf den Knieen liegen. Hier betete er, das Gesicht der Stelle zugewendet, wo die Genugthuung geleistet wurde. Es war, als wagte er es nicht, vor Gott direkt zu knieen.

Seine ganze Umgebung, der friedliche Garten, die duftigen Blumen, die kleinen Mädchen mit ihrem frohen Geschrei, die ernsten und schlichten Nonnen, der stille Kreuzgang, erzeugten in seiner Seele eine ähnliche ruhevolle, heitere Stimmung. So hatten ihn also zwei Häuser Gottes an gefährlichen Wendepunkten seines Lebens aufgenommen; das erste, als alle Thüren sich vor ihm verschlossen, und die menschliche Gesellschaft ihn von sich stieß; das zweite, als die menschliche Gesellschaft sich wieder anschickte ihn zu verfolgen, und das Bagno sich wieder vor ihm aufthat. So war er zweimal gerettet worden; das erste Mal vor der Gefahr, wieder ein Verbrecher zu werden; das zweite Mal vor den physischen Qualen, die ihm drohten.

Da schmolz sein ganzes Herz in Dankbarkeit und ward der Liebe immer mehr theilhaftig.

Auf diese Weise verflossen alsdann mehrere Jahre, während deren Cosette zum jungen Mädchen heranwuchs.

Teil III

Marius

Ein Atom von Paris

Parvulus

Was der Sperling im Walde ist, das ist der Straßenjunge in Paris.

Vermählet die Begriffe Paris und Kindheit, so erzeugen sie ein kleines Lebewesen, einen humunico, wie Plautus sich ausdrückt, ein Menschlein.

Das Menschlein ist vergnügt. Es ißt sich nicht jeden Tag satt, geht aber jeden Abend, wenn es ihm beliebt ins Theater. Es hat kein Hemd am Leibe, keine Stiefel an den Füßen, kein Obdach über seinem Haupt; es gleicht den Fliegen unter dem Himmelsgewölbe, die alles dies auch nicht haben. Es ist sieben bis dreizehn Jahr alt, lebt in Rudeln, tummelt sich gern auf gepflasterten Straßen, logirt im Freien, trägt eine alte Hose von Vatern, die ihm bis unter die Hacken reicht, einen alten Hut von einem andern »Vater«, der bis über die Ohren hinabgeht, einen Hosenträger aus gelbem Sohlband, bummelt, späht nach Beute, bettelt, schlägt die Zeit tot, raucht Pfeifen an, flucht wie ein Heide, besucht Kneipen, pflegt Umgang mit Spitzbuben, duzt sich mit Dirnen, spricht die Gaunersprache, singt zotige Lieder und hat doch nichts Schlechtes im Herzen. Denn in seiner Seele hat er eine Perle, die Unschuld, und Perlen zergehen nicht im Koth. Das Kind soll unschuldig sein, so will es Gott.

Würde man die Riesenstadt fragen: Was ist denn das für Einer? so würde sie antworten: »Mein Kleiner.«

Einige von seinen Merkmalen

Um uns keiner Uebertreibung schuldig zu machen, wollen wir gestehen, daß unser Rinnsteincherub bisweilen doch ein Hemd hat, aber dann ist’s auch nur ein einziges; bisweilen besitzt er auch Schuhe oder Stiefel, aber die haben keine Sohlen; er hat auch manchmal eine Wohnung und hält sich gern darin auf, weil er seine Mutter dort trifft; aber die Straße, wo er die Freiheit trifft, ist ihm lieber. Er hat eigene Spiele, eigene Bosheiten, mit denen er seinem Groll gegen die besser situirten Leute Luft macht, eigene Metaphern, eigene Gewerbe, z. B. Droschkenthüren aufmachen.

Er hat auch seine eigene Fauna, allerhand Ungeziefer, dem er ein eingehendes Studium widmet: Marienwürmchen, Blattläuse, Weberknechte, Ohrwürmer, greuliche Erdmolche, die zwischen den Steinen abzufassen eine Heldenthat ist. Ein anderer Hauptspaß besteht darin, daß man plötzlich einen Pflasterstein aus der Erde reißt und einen Schwarm lichtscheuer Asseln überrascht.

Selbstredend hat die Straßenjugend auch eine eigene, zoologische Geographie von Paris. So ist z. B. das Pantheonviertel wegen seiner Tausendfüße berühmt, die Gräben des Champ de Mars zeichnen sich aus durch ihre Kaulquappen u.s.w.

An Witzen und geistvollen Einfällen ist der Pariser Straßenjunge so reich wie Talleyrand. Er ist auch nicht weniger cynisch, aber rechtschaffener als Dieser.

Bei einem Begräbniß befindet sich unter den Leidtragenden auch ein Arzt. »Nanu!« meint ein Straßenjunge. »Das ist ja ganz was Neues: Ein Doktor, der seine Arbeit persönlich abliefert!«

Wie nett er ist!

Des Abends verschafft sich das Menschlein vermittelst einiger Sous, die es immer aufzutreiben weiß, Eintritt in ein Theater. Indem er die magische Schwelle desselben überschreitet, geht mit ihm eine Umwandlung vor, der auch ein Name entspricht: Er heißt nun nicht mehr ein Straßenjunge, sondern ein Titi. Die Theater gleichen umgekehrten Schiffen, deren Kiel sich oben befindet. So eng, dumpfig, stickig, schmutzig, dunkel, ungesund dieser widerwärtige Kielraum auch sein mag, die Anwesenheit der Titis mit ihrer naiven Begeisterung und hellen Freude genügt, ihn in einen »Olymp« zu verwandeln.

Man gebe einem Menschen das Entbehrliche und nehme ihm das Nothwendige, so hat man den Pariser Straßenjungen.

Er ist nicht ohne litterarischen Geschmack. Allerdings kann er sich, — wie wir mit dem gebührlichen Quantum Bedauern konstatiren müssen — für unsere klassische Litteratur nicht begeistern. Er liebt das akademische Genre nicht. Fand’ er doch sogar an Fräulein Mars, die sich sonst seiner Gunst erfreute, Mancherlei auszusetzen, und spöttelte etwas über ihr langweilig korrektes Spiel.

Der Pariser Straßenjunge ist ein Rabelais im Kleinen, der mit Allem den ungeheuerlichsten Ulk treibt, in den Kloaken fischt, dem Unflat eine lustige Seite abgewinnt, sich im Koth suhlt und sich daraus emporrafft, um sich mit Ruhm zu bedecken.

Er wundert sich über Weniges, fürchtet sich noch weniger, verhöhnt den Aberglauben, ist ein Feind des Bombastes und der Uebertreibung, zieht die Mysterien in den Staub, zeigt dem Spuk die Zunge. Nicht als ob er prosaisch wäre, aber er zieht buntscheckige Possen feierlichen Visionen vor.

Vielleicht ist er zu etwas nütze

Paris fängt mit dem Maulaffen an und endet mit dem Straßenjungen, zweien Wesen, die keine andere Stadt hervorbringt. Einerseits die höchste Passivität, die ihr Genüge hat am Ansehen, andererseits eine unerschöpfliche Initiative. Der eine, der Maulaffe, ist der Träger der Monarchie, der Andere die Stütze der Anarchie.

Das blasse Kind der Pariser Vorstädte lebt und entwickelt sich im Elend und als nachdenklicher Zeuge des allgemeinen Elends, der Erbärmlichkeit der menschlichen Einrichtungen. Er hält sich selber für gleichgültig und sorglos, ist es aber keineswegs. Er lacht wohl über Alles, ist aber noch zu etwas Anderem fähig. Vorurtheil, Mißbräuche, Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Despotismus, Fanatismus, hütet Euch vor dem Bengel, der auf Alles aufpaßt!

Der Kleine wird groß werden. Der Geist des großen Paris kann den geringen Krug zu einer herrlichen Amphora umarbeiten.

Sein Wohngebiet

Der Straßenjunge liebt die Stadt, auch die Einsamkeit, da er etwas philosophisch veranlagt ist. Ein urbis amator wie Fuscus, ein ruris omator wie Flaccus.

Jeder, der wie wir das Gebiet durchstreift hat, wo das Land anfängt und Paris aufhört, hat auch an ganz menschenleeren Orten, hinter einer dürftigen Hecke oder in irgend einem Winkel an einer Mauer, einen Schwarm lärmender, zerlumpter, schmutziger, staubiger, struwweliger Kinder spielen sehen und unanständige Lieder singen hören. Sobald sie einen Spaziergänger erblicken, entsinnen sie sich, daß sie ihr Brod verdienen müssen und bieten ihm einen Strumpf voller Maikäfer oder einen Fliederstrauß zum Verkauf an.

Die Grenzzone ist das Ende des Erdkreises für die Pariser Straßenjungen. Nie wagen sie sich darüber hinaus. Sie können eben so wenig die Pariser Luft entbehren wie der Fisch das Wasser.

Zur Geschichte der Kinder

Zu der Zeit, wo unsere Geschichte spielt, stand nicht an jeder Straßenecke ein Schutzmann, und es trieben sich eine Menge Kinder in Paris herum. Laut statistischen Berichten wurden jährlich von der Polizei durchschnittlich zweihundert sechzig obdachlose Kinder auf uneingefriedigten Grundstücken, in Neubauten und unter den Brücken aufgelesen. Kein schlimmeres Symptom als dieses für einen Staat! Aus einem Kind, das vagabundirt hat, kann sich nur ein Verbrecher entwickeln.

Mit Ausnahme von Paris indessen. Während in jeder andern Großstadt ein vagabundirendes Kind als Mann moralisch zu Grunde geht, während sonst überall verwahrloste Kinder in Laster versinken, die ihnen Rechtschaffenheit und Gewissen rauben, bleibt der Pariser Straßenjunge, obgleich äußerlich angefressen, doch innerlich im Großen und Ganzen heil. Es ist eine herrliche Thatsache, die in der vom siegreichen Volke bei allen Revolutionen bewiesenen Ehrlichkeit einen glänzenden Ausdruck findet, daß die Pariser Luft in gewissem Grade vor moralischer Verderbniß schützt, wie das Salz des Oceans vor physischer Verwesung.

Trotzdem wird es jedem gefühlvollen Menschen wehe ums Herz werden, sieht er ein Kind, das mit keinem Faden mehr an seine Familie geknüpft ist. In unserm gegenwärtigen Kulturleben sind dergleichen Lostrennungen leider nichts Ungewöhnliches. Ein Jeder weiß, was die Redensart »auf das Pariser Pflaster geworfen werden« bedeutet.

Beiläufig gesagt, that die ehemalige Monarchie nichts gegen solche Verstoßungen von Kindern. Den höheren Gesellschaftsklassen paßte es sehr gut in ihr Programm, wenn es in den unteren Schichten sehr zigeunerisch herging. Daß die Kinder des Volkes keinen Unterricht bekommen dürften, war ein Dogma. Wozu eine halbe Aufklärung? lautete die Losung.

Uebrigens bedurfte auch die Monarchie ab und zu der Kinder, und fand es alsdann bequem, auf der Straße aufzusuchen, was sie brauchte.

Unter Ludwig XIV., um nicht weiter zurück zu gehen, sollte eine Flotte geschaffen werden. Der Gedanke war ein lobenswerther. Aber betrachten wir das Mittel, das man anwendete, um das Ziel zu erreichen. Zu dem Kriegssegelschiff, das leicht ein Spielball der Winde wird und deshalb ins Schlepptau genommen werden muß, gehört durchaus ein Fahrzeug, das vollständigere Bewegungsfreiheit hat. Diesen Zweck erfüllen heutzutage die Dampfschiffe, im siebzehnten Jahrhundert hatte man Galeren, Fahrzeuge, die gerudert wurden. Der Minister Colberi hatte also ein Interesse daran, daß möglichst viel Menschen zur Galerenstrafe verurtheilt wurden, und die Richter erwiesen sich ihm auch sehr gefällig in dieser Hinsicht. Behielt Jemand vor einer Procession den Hut auf dem Kopfe, so hieß es: »Aha! ein Protestant!« und der Mann kam auf eine Galere. Fand man einen obdachlosen jungen Menschen auf der Straße, der nicht unter fünfzehn Jahr alt war, so kam er auf eine Galere. Und so etwas war nothwendig unter der ruhmreichen Regierung eines großen Königs.

Unter Ludwig XV. verschwanden eine Menge Kinder in Paris; sie wurden zu einem geheimnißvollen Zweck gebraucht, zu den Purpurbädern des Königs, wie Manche munkelten. Jedenfalls erwähnt Barbier in aller Naivetät die Sache. Es kam vor, daß die Polizisten in Ermanglung andere Kinder aufgriffen, die Eltern hatten. Vergriffen sich diese dann in ihrer Verzweiflung an den Polizeibeamten, so mischte sich das Parlament ein und schickte — nicht die Polizisten, sondern — die Eltern an den Galgen.

Die Straßenjugend — eine Kaste

Die Pariser Straßenjugend bildet so zu sagen eine Kaste. Man darf behaupten, daß nicht jeder Beliebige ihr angehören kann.

Die Gründe, die einem Straßenjungen die Hochachtung von Seinesgleichen verschaffen, sind ebenso mannigfaltig, wie eigenartig. Einer, den wir kannten, erfreute sich großer Bewunderung, weil er einen Mann von einem Turm der Notredamekirche hatte herabstürzen sehen; ein Anderer, weil es ihm gelungen war, sich auf einen Hof zu schleichen, wo zeitweilig die Statuen des Invalidendoms aufbewahrt wurden, und Stücke Blei abzubrechen und zu stibitzen; ein Dritter, weil er eine Diligence hatte umfallen sehen; ein Anderer, weil er einen Soldaten kannte, der einen Civilisten beinah ein Auge ausgeschlagen hätte.

Auf diese Weise erklärt sich eine Aeußerung eines Pariser Kindes, über dessen tiefe Logik das Publikum mit Unrecht zu lachen pflegt, weil es sie nicht versteht: »Gott, was bin ich für ein Pechvogel! Daß ich doch noch nie dazu gekommen bin, wenn Einer aus einem fünften Stockwerk gefallen ist!«

Sehr hoch angerechnet wird Einem ein Unglücksfall. So hat man Anspruch auf besondere Hochachtung, wenn man sich bis auf den Knochen schneidet. Oder wenn man schielt.

Sehr geschätzt wird eine starke Faust. Am liebsten schüchtert man seinen Gegner mit den Worten ein: »Ich bin eklig stark!« Eine Linkhand zu sein ist ein beneidenswertes Glück.

»Vater So und So, warum habt Ihr Eure Frau an ihrer Krankheit sterben lassen, ohne nach einem Arzt zu schicken?« »Je nun, mein Herr, wir armen Leute müssen ohne Hülfe sterben können!« Wenn diese Aeußerung der Passivität unserer Bauern einen recht passenden Ausdruck leiht, so ist folgende Anekdote nicht minder charakteristisch für die Freigeisterei der Pariser Straßenjugend: Ein armer Sünder, der zur Guillotine gefahren wird, hört die Ermahnungen seines Beichtvaters an. »Er hat ’n Bammel!« schreit ein Junge.

Den Hinrichtungen beizuwohnen hält der Pariser für eine Pflicht. Dabei ist ihm jeder Sitz recht, von dem aus er gut sehen kann. Er erklettert Mauern, Balkons, Bäume, Dächer und scheut keine Gefahr, wenn ihm nur von dem Spaß, dem schönsten, den er sich denken kann, nichts entgeht. Da werden Witze über die Guillotine gerissen, der Delinquent verhöhnt, wenn er nicht genug Kourage zeigt oder mit Beifall empfangen, wenn er keck auftritt. So erzählte seiner Zeit der berüchtigte Mörder Lacenaire, er sei neidisch auf den Muth gewesen, den Dautun vor dem Schaffot zeigte.

Ein Scherz des vorigen Königs

Im Sommer nimmt der Pariser Straßenjunge eine Metamorphose mit sich vor, die ihn zu einem Verwandten des Frosches macht. Er stürzt sich nämlich des Abends von den Kohlenschiffen und Prahmen in die Seine, selbstredend unter völligster Nichtachtung aller Scham und der Polizeiverordnungen. Aber die Schutzleute paßten auf, und schufen dadurch hochdramatische Situationen, die Anlaß zur Entstehung eines denkwürdigen Signalschreies gaben. Dieser Warnungsruf, war üblich um das Jahr 1830, wurde kunstvoll skandirt, wie ein antiker Vers und hatte eine so schwierige, komplicirte Modulation, wie die eleusische Melopee des Panathenäenfestes oder das Evohe der Bacchantinnen: »Holla, Titi, Holla! Die Greifer sind da! Verdufte mit deinen sieben Sachen durch die Kloaken!«

Manche unter ihnen können lesen, Einige auch schreiben; »malen« haben sie alle gelernt. Gegenseitig unterrichten sie sich auch in allerhand Künsten, die in irgend einer symbolischen Beziehung zur Politik stehen. So gefielen sie sich 1815 bis 1330, unter der Regierung Ludwigs XVIII., darin, das Gekoller des Truthahns nachzuahmen; 1830 bis 1848, unter Louis Philipp beschmierten sie alle Mauern mit Abbildungen einer Birne. An einem Sommerabend sah Louis Philipp selber, als er zu Fuß von einem Spaziergang zurückkehrte, einen Käsehoch, der mühsam auf den Zehen stand, um eine riesige Birne auf einen Pfeiler des Thores von Neuilly zu zeichnen. Gemüthlich, wie sein Vorfahr Heinrich IV., half der König bei der Karikirung seines eigenen Gesichtes und schenkte dann dem Bengel einen Louisd’or mit den Worten: »Hier ist auch eine Birne darauf.«

Die Geistlichen kann der Straßenjunge natürlich nicht leiden. So machte einst Einer vor Nr. 69., Rue de l’ Université, eine lange Nase. »Warum thust du das?« fragte ihn Jemand, der zugegen war. »Hier wohnt ein Pfaffe!« Er meinte den Nuntius des Papstes. — Ein so guter Voltairianer er aber auch sein mag, der pariser Straßenjunge läßt sich doch bisweilen, wenn sich eine Gelegenheit bietet, dazu herbei, das Amt eines Chorknaben zu übernehmen, und in diesem Fall benimmt er sich ganz manierlich in der Kirche.

Der vollkommene Straßenjunge kennt die Schutzleute dem Namen und dem Charakter nach. »Der da,« erzählt er, »ist tückisch!« »Ein Anderer ist sehr nichtswürdig oder albern u. s. w.« »Der hier bildet sich ein, der Pont-Neuf gehöre ihm und verbietet einem an der Außenseite des Brückengeländers entlang zu spazieren.« »Der da hat die Angewohnheit, Einen am Ohr zu ziepen!« U. s. w.

Hin echter Gallier

Etwas von dem Geiste und Charakter des Pariser Kindes besaß Molière, ein Sohn der Markthallen. Ebenso Beaumarchais. Eine gewisse Art Ungezogenheit gehört eben zum Wesen des Galliers. Mit Mutterwitz und gesundem Menschenverstand verquickt, hat er eine ähnliche Kraft, wie der Alkohol im Wein. Freilich artet dieser Vorzug auch wohl zu einem Fehler aus, z. B. bei Voltaire.

Der Pariser Straßenjunge ist des Respektes fähig, zur Ironie aufgelegt und unverschämt. Er hat schlechte Zähne, weil er schlecht genährt ist und am Magen leidet, und schöne Augen, weil er Verstand hat. Vor Jehowahs Angesicht wäre er im Stande, auf einem Fuß die Stufen des Paradieses hinaufzuhüpfen. Er zeichnet sich aus in der Kunst, mit den Beinen zu fechten. Er ist jeder Art von Entwicklung fähig. Er spielt im Rinnstein und richtet sich zum Helden empor, wenn der Aufruhr in den Straßen tobt. Den Kanonen gegenüber bleibt er frech. War doch auch der Trommler Bara ein Pariser Straßenjunge.

Dieses Kind des Kothes ist auch das Kind des Ideals.

In kurzen Worten ausgedrückt, der Pariser Straßenjunge ist ein Wesen, das sich amüsirt, weil es unglücklich ist.

Ecce Lutetia, ecce homo

Das Pariser Straßenkind ist ein Schmuck der Nation und zu gleicher Zeit ein Krankheitssymptom. Wie ist die Heilung herbeizuführen? Durch Aufklärung.

Jeder fortschrittliche Aufschwung hat die Wissenschaft, die Litteratur, die Künste, die Belehrung zur Voraussatzung. Ziehet Männer heran und kläret sie auf; nur solche können der Welt nützen. Früher oder später wird sich das herrliche Problem des allgemeinen Schulunterrichts der Menschheit mit der unwiderstehlichen Gewalt der Wahrheit aufdrängen, und dann werden diejenigen, welche als Vorkämpfer der französischen Civilisation auftreten wollen, sich dazu entschließen müssen, die Pariser Straßenjungen zu Kindern Frankreichs zu erheben.

Das Straßenkind ist die Quintessenz von Paris, und Paris die Quintessenz der Welt.

Wer Paris sieht, vor dessen Augen entrollt sich das ganze Buch der Geschichte. Es enthält alle Errungenschaften, alle Vorzüge der vergangnen und gegenwärtigen Civilisationen. Paris hat ein Kapitol, nämlich sein Rathhaus; ein Parthenon, die Kirche Notredame; einen Mons Aventinus, die Vorstadt Saint-Antoine; ein Afinarium, die Sorbonne; ein Pantheon, das Panthéon, eine Via Sacra, den Boulevard des Italiens; einen Turm der Winde, die öffentliche Meinung; es ersetzt die Gemonien durch den Fluch der Lächerlichkeit. Es hat seine Mahos, seine Transteveriner, seine Hammals, seine Lazzaroni, seine Cockneys, kurz Alles, was andere Völker auch haben. Dumarsais’s Fischhändlerin ist so zungenfix, wie Euripides’ Hökerin; der Diskuswerfer Nejanus war nicht interessanter, als der Seiltänzer Forioso; Rameau’s Neffe und der Schmarotzer Curculio passen zu einander; Aulus Gellius blieb auch nicht länger vor Congrio stehen, als Charles Nodier vor Polichinelle; der Zudringliche, der Einen im Tuilerieengarten am Rockknopf festbält, erinnert nach zweitausend Jahren an Thesprio’s Ausruf: Quis properantem me prehendit hallio? Suresne cultivirt einen eben so berühmten Krätzer wie einst Alba; Ergaphilas lebte in Caglistro wieder auf; der Brahmane Wâsafaniâ verkörperte sich in dem Grafen von Saint-Germain; auf dem Kirchhof des Saint-Médard geschehen eben so echte Wunder, wie in der Moschee Umumieh zu Damaskus. Paris hat auch seine Orakel, so gut wie Delphi und rückt Tische, wie einst Dodona Dreifüße. Es erhebt Grisetten auf den Thron, wie das alte Rom Courtisanen, und wenn Ludwig XV. ein nichtswürdigerer Mensch war, als der Kaiser Claudius, so taugte dafür die Gräfin Dubarry immer noch mehr als Messalina.

Obschon Plutarch meint, Tyrannen würden nicht alt, so beugte sich Rom doch unter das Joch Sulla’s, so wie Domitian’s. Der Tiber war ein Lethe, wenn man Varus Vibiscus Glauben schenken darf: Contra Gracchos Tiberim habemus. Bibere Tiberim, id est seditionem oblivisei. Paris trinkt eine Million Liter Wasser jeden Tag, schlägt aber darum doch gelegentlich den Generalmarsch und läutet die Sturmglocke.

Hiervon abgesehen ist Paris sehr gutmüthig und läßt sich Alles gefallen. Wenn es lacht, läßt es Gnade für Recht ergehen, belustigt und freut sich über das Häßliche, Abnorme, das Laster; sogar über die Heuchelei erbost es sich nicht.

Paris ist ein Synonym von Kosmos. Paris ist Athen, Rom, Sybaris, Jerusalem, Pantin zusammengenommen. Es birgt in seinem Schoße alle Civilisationen — und auch jede Art Barbarei. Es wäre ihm nicht recht, wenn es der Guillotine ermangelte.

Eine kleine Richtstätte hat ihr Gutes. Was wäre das ewige Amüsement von Paris, ohne eine solche Würze? Das hat unsere Gesetzgebung begriffen und dafür gesorgt, daß die große Harlekinade mit Blut bespritzt wird.

Spotten heißt regieren

Die Macht von Paris kennt keine Grenzen. Keine Stadt hat wie Paris Diejenigen, die sie beherrschte, verspotten dürfen. »Was thue ich nicht Alles, um von Euch gelobt zu werden, Athener!« rief Alexander der Große. Paris schafft Gesetz, Moden, Sitten und Gebräuche. Paris darf sich, wenn es ihm beliebt, gestatten dumm zu sein; dann macht es ihm das Weltall nach, bis Paris sich eines andern besinnt und dem Menschengeschlecht ins Gesicht lacht. Wunderbare Stadt; Merkwürdig, wie so viel Großartiges und Burleskes sich mit einander vertragen können, wie derselbe Mund heute in die Posaune des jüngsten Gerichts stoßen und morgen die Zwiebelflöte blasen kann! Aber es giebt den Völkern sehr gut mustergültige Karikaturen, wie mustergültige Ideen, Ideale.

Paris hat durch die Erstürmung der Bastille den Erdkreis befreit, durch den Schwur im Ballspielhause die Macht der Monarchie bei allen Nationen gebrochen, in der Nacht des 4. August binnen drei Stunden die tausendjährige Herrschaft des Feudalismus niedergeworfen; es bestimmt vermittelst seiner Logik alle Bestrebungen des Menschengeschlechts, vervielfältigt sich unter allen Gestalten des Erhabenen, erfüllt mit seinem Lichte Washington, Kosciusko, Bolivar, Botzaris, Riego, Bein, Manin, Lopez, John Aroron, Garibaldi; ist mit seinem Geiste bei allen großen historischen Momenten zugegen, 1779 in Boston, bei der Erhebung der Amerikaner gegen die Engländer, 1820 auf der Insel Leon, 1848 in Pesth, 1860 in Palermo; es raunt bei Harper’s Ferry den nordamerikanischen Abolitionisten und den in der Herberge Gozzi versammelten Patrioten das gewaltige Wort Freiheit zu; es giebt den Großthaten des Konaris, Quiroga, Pisacane das Entstehen; von seinem Hauch getrieben geht Byron nach Missolunghi, stirbt Mazet in Barcelona. Seine Kunst, seine Wissenschaft, seine Litteratur, seine Philosophie sind maßgebend für die Menschheit; es formulirt alle fortschrittlichen Ideen, alle Freiheitsdogmen, begeistert durch seine Denker und Dichter seit 1789 die Helden aller Völker und dabei ist es doch voller Schalkhaftigkeit und Schelmerei.

Warum aber leistet Paris so überaus Großes? Weil es Wagemuth hat.

Die Fähigkeit zu wagen ist die Vorbedingung jedes Fortschritts.

Alle bedeutenden Errungenschaften der Menschheit sind mehr oder weniger Belohnungen für Kühnheit gewesen. Zur großen Revolution des Jahres 1789 gehörte nicht bloß, daß Montesqieu sie vorausahnte, Diderot den Aufruhr predigte, Beaumarchais eine neue Zeit verkündete, Voltaire und Rousseau systematisch auf die Zerstörung des Alten hinarbeiteten; es mußte auch ein Danton auftreten und die Menge zur Kühnheit entflammen.

Der Ruf: Kühnheit, Kühnheit und noch einmal Kühnheit! ist ein fiat lux! Solcher Unterweisungen im Muthe bedürfen die Völker, damit das Werk des Fortschritts gefördert werde.

Das Volk, der Träger der Zukunft

Das Pariser Volk ist in geistiger und moralischer Hinsicht wesentlich ebenso geartet, wie die Straßenjugend. Wer diese schildert, lehrt also die Bevölkerung der Stadt kennen.

Die Pariser Rasse ist, so behaupten wir mit Nachdruck, hauptsächlich in den Vorstädten zu finden; hier wohnen die echten, die Vollblutpariser; denn hier arbeitet und leidet das Volk, Arbeiten und Leiden aber sind die Hauptbetätigungen des Menschen. »Hefe der Stadt, Pöbel, Gesindel, Janhagel!« höhnen Viele. Dergleichen Worte sind bald gesagt. Aber was thut es zur Sache, daß die Armen barfuß gehen und nicht lesen können? Darf man sie darum ihrem traurigen Schicksal überlassen, ihnen ihr Elend als ein Verbrechen anrechnen? Kann Aufklärung und Bildung nicht Licht in ihrem Gehirn schaffen? Gewiß! Gehet bin, Ihr Philosophen und lehret öffentlich Eure Weisheit und Wissenschaft und benutzet die Begeisterung für das Wahre und Gute, die in den Lumpenmätzen schlummert, zur Eroberung des Ideals. Werft den gemeinen Sand, den Ihr mit Füßen tretet, in den Hochofen, schmelzt und verarbeitet ihn richtig, so wird er schönes und nützliches Glas werden.

Der kleine Gavroche

Acht oder neun Jahre nach den im zweiten Theil dieser Geschichte erzählten Begebenheiten, tauchte auf dem Boulevard du Temple und in der Nähe des Chateau d’Eau ein elf- bis zwölfjähriger Junge auf, der das oben entworfene Ideal des Pariser Straßenkindes sehr gut verwirklicht haben würde, hätte es nicht, trotz des Lächelns seiner Lippen, in seinem Herzen völlig düster und öde ausgesehen. Der Kleine trug wohl eine Manneshose; aber es war nicht sein Vater, der sie ihm geschenkt hatte. Er trug auch eine Frauenjacke, aber sie stammte nicht von seiner Mutter. Mitleidige Menschen hatten mit diesen abgelegten Kleidungsstücken seine Blöße gedeckt. Und doch hatte er Eltern. Aber sein Vater bekümmerte sich nicht um ihn und seine Mutter konnte ihn nicht leiden. Er war eines jener besonders bejammernswerten Geschöpfe, die Eltern haben und doch Waisenkinder sind.

Diesem armen Jungen war nie so wohl, als wenn er sich auf dem Pflaster herumtreiben konnte. Die Steine waren nicht so hart gegen ihn, wie das Herz seiner Mutter.

Er sah blaß und kränklich aus, war aber zählebig, behend und munter. Er sang und lärmte viel; durchforschte die Rinnsteine; stibitzte, was er bekommen konnte, aber vergnügt und gemüthlich, wie die Katzen und die Sperlinge; lachte, wenn man ihn einen Lümmel oder Bengel, und wurde wüthend, wenn man ihn eine Kanaille schimpfte. Er hatte kein Obdach, kein Bett, kein Brot, keinen Heerd, Keinen, der ihn liebte; war aber lustig, weil er frei war.

Wachsen dergleichen Unglückliche zu Männern heran, so gerathen sie fast immer zwischen die Mühlsteine der Gesellschaftsordnung und werden zermalmt; aber so lange sie noch klein sind, finden sie leichter ein Loch, wo sie sich verkriechen können.

Aber so herzlos seine Eltern gegen den Jungen handelten, so geschah es doch, daß er alle zwei oder drei Monate einmal bei sich dachte: »Ich muß doch mal sehen, was Mutter macht!« Dann ließ er die Boulevards hinter sich liegen, ging tiefer in die Stadt hinein, über die Seine und trat schließlich in das dem Leser bekannte Gorbeau’sche Haus, Nr. 50 und 52, ein.

Zu jener Zeit hatte dieses Gebäude, vor dem sonst immer der Miethszettel heraushing, mehrere Miether, die, wie dies in Paris immer der Fall ist, in keinen Beziehungen und keinem Verkehr mit einander standen. Alle gehörten zu der ärmsten Klasse, die mit heruntergekommenen Leuten der besseren Stände anfängt und bis zum Straßenfeger und Lumpensammler hinunterreicht.

Die Vicewirtin, die zur Zeit Jean Valjean’s hier hauste, war gestorben und durch ein ganz ähnliches Exemplar derselben Gattung ersetzt worden. Fehlt es doch nie an alten Weibern, wie ein Philosoph behauptet hat.

Die neue Alte hieß Frau Burgon und ihr Lebensgang bot nichts Bemerkenswerthes dar, außer einer Dynastie von drei Papageien, die nach einander über ihr Herz geherrscht hatten.

Die Aermsten unter den Bewohnern des Gorbeau’schen Hauses waren vier Personen, Vater, Mutter und zwei erwachsene Töchter, die alle zusammen in ein und derselben Dachstube eingepfercht waren.

Diese Familie hatte nichts Besonderes, als ihre außerordentliche Armuth. Der Vater gab, als er die Wohnung miethete, an, er heiße Jondrette. Später, einige Zeit nachdem die Familie, merkwürdig wenig mit Möbeln beschwert, eingezogen war, sagte Jondrette zu Frau Burgon: »Mutterchen, sollte Jemand kommen und nach einem Polen oder Italiener oder vielleicht auch Spanier fragen, so bin ich Derjenige.«

Das war also die Familie des lustigen Straßenjungen, von dem wir oben sprachen. Hier kam er hin und fand die höchste Dürftigkeit und, was schlimmer war, keinen freundlichen Empfang. Einen kalten Heerd und kalte Herzen. — »Wo kommst Du her?« hieß es, wenn er eintrat. »Von der Straße.« Und auf die Frage »Wo gehst du hin?« antwortete er: »Auf die Straße!« Eine gewöhnliche Frage seiner Mutter lautete: »Was hast Du hier zu suchen?«

Diesen Mangel an Liebe ertrug der Kleine wie die Pflanzen, die im Keller wachsen, den Mangel an Licht. Er gelangte ihm nicht zum Bewußtsein, und er war Niemandem böse darum. Woher hätte er wissen sollen, wie rechte Eltern sind?

Uebrigens liebte die Mutter seine Schwestern.

Wir haben vergessen zu erwähnen, daß man auf dem Boulevard du Temple den armen Jungen den kleinen Gavroche nannte. Warum Gavroche? Weil sein Vater Jondrette hieß?

Es ist, als wären dergleichen Familien mit der Auflösung der blutsverwandtschaftlichen Bande noch nicht zufrieden. Auch der gemeinschaftliche Name wird aufgegeben.

Die Stube der Familie Jondrette war die letzte zu Ende des Flurs. Neben ihnen wohnte ein sehr armer, junger Mann Namens Marius, dessen Bekanntschaft wir jetzt machen wollen.

Ein Mann von altem Schrot und Korn

Ein rüstiger Alter

Rue Boucherat, Rue de Normandie und Rue de Saintonge existiren noch Leute, die sich noch recht gut eines gewissen Herrn Gillenormand entsinnen und gern von ihm erzählen.

Gillenormand gehörte zu jenen Menschen, die nur wegen ihres hohen Alters und als Vertreter einer längst entschwundenen Vergangenheit merkwürdig sind. Er war der richtige Typus eines Bürgerlichen aus dem achtzehnten Jahrhundert, der auf sein Bürgerthum so stolz und eingebildet war, wie ein Marquis auf seinen Adel. Er hatte das Alter von neunzig Jahren überschritten, ging aufrecht, sprach laut, sah gut, trank herzhaft, aß tüchtig und schnarchte beim Schlafen, besaß noch seine sämmtlichen zweiunddreißig Zähne und setzte eine Brille nur zum Lesen auf. Er hatte Temperament, versicherte aber, daß er seit zehn Jahren dem Umgang mit Frauen entsagt hätte. Er könnte keine Eroberungen mehr machen, sagte aber nicht: »Weil ich zu alt bin,« sondern: »Weil ich nicht reich genug dazu bin. Wäre ich nicht ruinirt, ja dann …« Es war ihm in der That nur ein Jahres-Einkommen von fünfzehn Tausend Franken geblieben. Sein Fall wäre es gewesen, wenn ihm eine Erbschaft zugefallen wäre, die so eine hunderttausend Franken Zinsen eingebracht hätte; dann würde er Frauenzimmer ausgehalten haben. Er war also keiner von den gebrechlichen Greisen, die, wie Voltaire, ihr ganzes Leben hindurch im Sterben gelegen haben, keiner von den Töpfen, die am längsten halten, weil sie gesprungen sind. Er hatte sich von jeher einer kräftigen Körperkonstitution erfreut. Von Charakter war er oberflächlich und jähzornig. Er brauste um jede Kleinigkeit auf, namentlich, wenn kein vernünftiger Grund dazu vorlag. Dabei griff er gleich nach dem Stock, wenn er Widerspruch erfuhr, und schlug zu, wie es in der guter alten Zeit Sitte war. Seine damals über fünfzig Jahre alte Tochter prügelte er empfindlich, wenn er wüthend war, und fehlte nicht viel, so hätte er sie, wie ein kleines Kind, mit dem Kantschu gezüchtigt. Seine Dienstboten ohrfeigte er und überhäufte sie mit den gemeinsten Schimpfworten. Höchst eigenthümlich war die Sorglosigkeit und Gemüthsruhe, die er in manchen Fällen an den Tag legte. So ließ er sich z. B. täglich von einem Barbier rasieren, der geistesgestört gewesen und eifersüchtig auf ihn war, wegen seiner hübschen Frau, der Gillenormand den Hof gemacht hatte. Derartige Unvorsichtigkeiten hinderten den alten Herrn aber nicht, sich für einen ausnehmend gescheidten Mann zu halten. »Ich freue mich wirklich eines nicht verächtlichen Grades von Scharfsinn. So kann ich z. B., wenn ein Floh mich sticht, das Frauenzimmer angeben, von dem ich ihn habe.« Schlagwörter, die in seinen Reden häufig vorkommen, waren »ein gefühlvoller Mann« und »die Natur.« Letzteres Wort brauchte er gern zum Spott. »Damit die Kultur an Allem Theil habe,« pflegte er zu sagen, »hat hier die Natur auch Proben amüsanter Barbarei gegeben. Besitzen Asien und Afrika ihre großen Bestien, so haben wir dieselben Arten, nur in kleinerem Format. Die Katze ist ein Salontiger, die Eidechse ein Taschenkrokodil. Die Tänzerinnen vom Opernhause sind zierliche Wilde, die keine Menschen, sondern nur ihr Vermögen auffressen.«

Wie der Hausherr, so die Wohnung

Er wohnte im Marais, Rue des Filles-Du-Calvaire, Nr. 6, in einem eigenen Hause. Seine Zimmer lagen im ersten Stock zwischen der Straße und dem Garten. Sie waren mit großen Gobelins tapeziert, die Schäferszenen darstellten, und die Motive der Plafonds und Panele wiederholten sich in verkleinertem Maßstabe auf den Fauteuils. Um sein Bett zog sich eine mächtige, neunblättrige, spanische Wand aus Koromandellack. Die Fenster waren geschmückt mit langen, üppigen Vorhängen, die prächtige Drapirungen bildeten. Von dem Eckfenster führte eine zwölf bis fünfzehnstufige Treppe in den Garten hinab. Außer einem Bibliothekzimmer, das an die Schlafkammer stieß, hatte er ein sehr elegantes Boudoir, dessen prächtiger und kunstvoller Wandbehang aus feinem Stroh unter Ludwig XIV. von Galerensklaven gearbeitet worden war. Er verstand sich auf Gemälde und hatte in seinem Schlafzimmer ein sehr schönes, von Jordaens gemaltes Portrait, das mit leichten, breiten Pinselstrichen hingeworfen schien, aber eine unendliche Fülle der feinsten Details enthielt.

In Bezug auf seine Kleidung aber war er mit der Zeit etwas weiter mitgegangen und hatte sich nach der Mode gerichtet bis zur Regierung des Direktoriums, denn bis dahin hielt er sich für einen jungen Mann.

Luc-Esprit

Als er sechzehn Jahr alt war, hatte er eines Abends im Opernhause die Ehre, von zwei reifen, berühmten Schönheiten, die Voltaire besungen hat, der Camargc und der Sallé lorgnettirt zu werden. So zwischen zwei Feuer genommen, trat er einen heroischen Rückzug an und flüchtete sich in die Arme einer kleinen Tänzerin, die gleichfalls sechzehn Jahr alt und unberühmt war. In der Erinnerung an diese Liebe schwelgte er gern, wie überhaupt in der Schilderung der Erfolge, die er in seiner Jugend, dank seiner hübschen, äußeren Erscheinung und seiner Toilette davongetragen. »Ich war wie ein Türke aus der Levante gekleidet,« erzählte er gern.

Die Namen der hervorragenden Politiker und Minister ärgerten ihn, weil sie ordinär und bürgerlich klangen. »Was das für Volk sein mag!« rief er aus, wenn er die Zeitung las. »Corbière, Humann, Casimir Périer! Und so was ist Minister. Da könnte ich’s am Ende auch noch werden. Gillenormand! Wie sich das anhören würde! Aber ich glaube, sie sind so dumm, daß sie damit einverstanden wären.«

Er nannte alle Dinge bei ihrem — saubern oder unsaubern — Namen, ohne sich vor den Damen zu geniren, führte, wie in seiner Jugend üblich gewesen war, zotige und unflätige Reden mit der größten Seelenruhe und als verstände es sich so von selbst. Denn merkwürdiger Weise blühte am Ende des achtzehnten Jahrhunderts neben der Umschreibung in der Poesie die krasse, unverhüllte Gemeinheit in der Prosa.

Sein Pathe hatte vorausgesagt, daß Gillenormand ein Genie sein würde, und hatte ihm deshalb die bedeutsamen Vornamen Luc-Esprit gegeben.

Hundert Jahr

Als er noch in Moulins, wo er geboren war, das Gymnasium besuchte, hatte er Prämien bekommen und das eine Mal hatte ihm der Herzog von Nivernais eigenhändig einen Kranz aufgesetzt. Die Erinnerung an diese Ehre vermochte weder der Konvent, noch der Tod Ludwigs XVI., noch Napoleons Regierung, noch die Rückkehr der Bourbonen in seinem Herzen auszulöschen. Sein Herzog von Nevers, wie er ihn nannte, war der größte Mann des achtzehnten Jahrhunderts. »Wie liebenswürdig der hohe Herr war und wie hübsch er aussah mit seinem blauen Ordensband!«

Ein anderes Lieblingsthema war bei ihm das Goldelixir. Gillenormand hatte Katharina II. die Theilung Polens vergeben, weil sie Bestuschef das Geheimniß der Goldelixirbereitung abgekauft hatte. »Das Goldelixir«, Bestuschef’s gelbe Tinktur, die Tropfen des Generals Lamotte, von denen der Flacon mit einem Louisdor bezahlt wurde, waren im achtzehnten Jahrhundert das unfehlbare Heilmittel gegen die Katastrophen der Liebe, gegen die von Venus gesandten Leiden. Ludwig XV. schickte dem Papst zweihundert Flacons davon. Man würde ihn beleidigt und aus dem Häuschen gebracht haben, hätte man ihm gesagt, daß sein Goldelixir nichts Anderes als ein Supereisenchlorit war.

Gillenormand war ein großer Verehrer der Bourbonen und schlecht auf die Revolution des Jahres 1789 zu sprechen. Er erzählte oft, wie viel Schlauheit er hatte aufwenden müssen, um nicht während der Schreckenszeit geköpft zu werden. Ließ es sich ein junger Mann beifallen, in seiner Gegenwart die Republik zu loben, so wurde er krebsroth vor Aerger und kam einer Ohnmacht nahe. »Hoffentlich werde ich ein Jahr wie 1793 nicht zum zweiten Mal erleben!« rief er dann aus. Dabei theilte er aber bisweilen den Leuten mit, er sei gesonnen hundert Jahr alt zu werden.

Baske und Nicosette

Seine Ansichten über die Ehe gipfelten in folgender Behauptung: »Wenn ein Mann ein großer Damenfreund ist, sich aber aus seiner Frau nichts macht, weil sie häßlich, zänkisch, eifersüchtig, auf ihre ehelichen Rechte erpicht ist und ihm mit dem Strafgesetz droht, so giebt es nur ein Mittel, den häuslichen Frieden zu erhalten und seine Freiheit zu behaupten: Er muß ihr den Geldbeutel überlassen. Sie hat dann eine Beschäftigung, die ihr ganzes Denken in Anspruch nimmt, muß ihren Pächter und Bauern auf den Dienst passen, ihrem Verwalter Instruktionen ertheilen, Rechtsanwälte zu Rathe ziehn, über Kontrakte simuliren, kaufen und verkaufen, sparen, verschwenden. Auf diese Weise hat sie auch ihr Vergnügen, und wäre es auch das, ihren Mann zu ruiniren.« Diese Theorie hatte Gillenormand auch auf sich angewendet, und zu seinem Schaden. Seine zweite Frau hatte sein Vermögen so schön verwaltet, daß ihm nach ihrem Tode nur fünfzehn Tausend Franken Einkommen blieben, so viel daß er gerade leben konnte; allerdings mußte er Alles auf Leibrenten geben. Aber solch ein Schritt flößte ihm kein Bedenken ein, da er sich um seine Erben keine Sorge machte. Außerdem hatte er während der Revolution so manches in Staatspapieren angelegte Vermögen zerrinnen, zu »Nationalgut« werden sehen und wollte von dem Stammregister der Staatsschuld nichts wissen. »Alles Schwindel!« meinte er.

Gillenormand hielt sich eine Magd und einen Diener. Den männlichen Bedienten taufte er nach der Provinz, aus der dieser stammte. So nannte er z. B. seinen letzten Diener, einen fünfundfünfzigjährigen, schwerfälligen Schnaufer, der sich keineswegs durch Schnellfüßigkeit auszeichnete, trotzdem »Baske,« weil er in Bayonne geboren war. Dir Mägde hießen bei ihm sämtlich Nicolette. »Wieviel Lohn verlangen Sie monatlich?« fragte er eines Tages eine stramme Köchin, die bei ihm in Kondition treten wollte. »Dreißig Franken.« — »Wie heißen Sie?« — »Olympia.« — »Du sollst fünfzig Franken bekommen, aber Nicolette heißen.«

Die Magnon und ihre Kinder

Bei Gillenormand äußerte sich der Kummer als Zorn; es verdroß ihn, daß er solchen Gefühlen zugänglich war. Er hatte alle möglichen Vorurtheile und nahm sich alle Freiheiten heraus. Seine körperliche Rüstigkeit, auf die er sehr eitel war, brachte ihm bisweilen schnurrige Geschenke ein. So bekam er einst in einem Austernkorbe einen derben neugebornen, sorgsam in Windeln gewickelten Knaben zugeschickt, dessen Autorschaft ein sechs Monate zuvor weggejagtes Dienstmädchen ihm beimaß. Darob gewaltige Entrüstung in seiner Umgebung. Wem wollte das unverschämte Frauenzimmer weis machen, daß ein vierundachtzigjähriger, ehrwürdiger Mann so etwas begangen haben sollte! Welch eine abscheuliche Verleumdung! Gillenormand selber empfand keinen Unwillen. Er betrachtete vielmehr das Wickelkind mit der vergnügten Miene eines Manne, dem solch eine Verleumdung äußerst schmeichelhaft vorkommt, und sagte: »Nun, was habt ihr denn wieder? Was redet ihr da von Dingen, die ihr nicht versteht? Se. Hoheit der Herzog von Angoulême, Bastard Sr. Majestät Karls IX., heiratete im Alter von fünfundachtzig Jahren ein fünfzehnjähriges Gänschen; Herr Virginal, Marquis d’Alluye, Bruder des Kardinals von Sourdis, Erzbischof von Bordeaux, hatte im Alter von dreiundachtzig Jahren von einer Zofe der Frau Präsidentin Jacquin einen Sohn, ein echtes Kind der Liebe, der ein Malteser Ritter und Staatsrath wurde; einer der größten Männer dieses Jahrhunderts, den Abt Tabaraud, ist der Sohn eines siebenundachtzigjährigen Mannes. Darin liegt nichts Ungewöhnliches. Bedenkt doch, was die Bibel von manchen Patriarchen erzählt. Nun aber erkläre ich, daß der kleine Bursche nicht von mir ist. Behandelt ihn aber gut. Er hat keine Schuld.« Das war sehr gemüthlich. Ein Jahr darauf schickte ihm aber dieselbe Magd Magnon wieder einen kleinen Jungen. Dies Mal kapitulirte Gillenormand, indem er sich zu einer monatlichen Zahlung von achtzig Franken verpflichtete, unter der Bedingung, daß die Mutter ihn mit neuen Sendungen verschonen sollte. »Ich will;« fügte er hinzu, »daß die Mutter gut gegen die Bälge ist, und werde sie von Zeit zu Zeit besuchen.« Und das that er auch.

Ueberhaupt war er in Geldsachen großmüthig, also nicht wie sein verstorbener Bruder, ein Priester, der den Armen nur außer Kurs gesetztes Kupfergeld gab, um recht billig in den Himmel zu kommen. Unser Gillenormand dagegen gab gern und viel. In allen Dingen, meinte er, solle man ihm gegenüber großartig und nobel verfahren, sogar wenn man ihn betrügen wolle. Deshalb ärgerte er sich ganz besonders, als ihn einst Jemand bei einem Erbschaftsstreit auf eine plumpe, allzu augenfällige Weise übervortheilte: »Pfui, wie gemein er das angefangen hat! Heutzutage entartet Alles, sogar die Schwindler. So sollte man doch einen Mann wie mich nicht betrügen. Salvae sint consule dignae!«

Nur des Abends Besuche empfangen

In den ersten Jahren der Restauration wohnte Gillenormand, der damals noch »jung« — nämlich 1814 vierundsiebzig Jahr alt — war, in der Vorstadt Saint-Germain, Rue Servandoni, in der Nähe der Kirche Saint-Sulpice, Erst nachdem er aufgehört in Gesellschaft zu gehen, als er volle achtzig Jahre zurückgelegt hatte, war er nach dem Marais gezogen.

Seitdem hatte er sich in seine Gewohnheiten eingekapselt. Die hauptsächlichste und diejenige, von der er unter keinen Umständen abwich, war, daß er den Tag über seine Thür für Jedermann verschlossen hielt und um keinen Preis, hätte es sich auch um die allerwichtigste Angelegenheit gehandelt, irgend Jemand empfing. Er speiste um fünf Uhr und ließ sich dann sprechen. So war es Brauch im achtzehnten Jahrhundert, und Gillenormand wäre, selbst wenn der König sich bei ihm angemeldet hätte, nicht so kanaillös gewesen, ihn bei Tage zu empfangen.

Ungleiche Schwestern

Gillenormand hatte zweimal geheiratet und von beiden Frauen wurde er mit je einer Tochter beschenkt. Diese beiden Mädchen, von denen die Eine zehn Jahre jünger war, als die Andere, hatten sich schon in der Jugend wenig geähnelt und waren, sowohl was das Gesicht, als auch den Charakter betraf, so wenig Schwestern, wie nur irgend möglich. Die Jüngste, eine idealistisch veranlagte, schwärmerische Natur, dachte nur an Blumen, Poesie, Musik, weilte beständig in höheren Regionen und träumte schon als Kind von einem Helden, der sie dermaleinst zur Gemahlin erkiesen würde. Die Aelteste hegte auch eine Chimäre in ihrer Phantasie in Gestalt eines gemüthlichen, dicken Armeelieferanten mit einem recht großen Geldsack und einem recht kleinen Verstandeskasten oder auch eines Präfekten, bei dessen offiziellen Festlichkeiten und Bällen sie sich als »Frau Präfektin« recht wichtig gebaren würde. Beide Schwestern stiegen also in das Reich des Ideals empor, aber die Eine mit Engelsfittichen, die Andere mit den Flügeln einer Gans.

Kein Ehrgeiz findet — wenigstens hienieden — völlige Befriedigung. Die jüngste Schwester heiratete wohl den Helden ihrer Jugendträume, starb aber schon im Alter von dreißig Jahren. Die Aelteste blieb unvermählt.

Zu dieser Zeit, wo sie zum ersten Mal in unserer Geschichte auftrat, war sie ein unnahbarer, alter Tugenddrache mit ungeheuer spitzer Nase und ungeheuer stumpfem Verstande. So sittig und schämig war sie, daß Einem vor ihr grauen konnte. Sie erinnerte sich z. B. stets mit Entsetzen, daß einmal ein Mann ein Strumpfband von ihr gesehen hatte.

Mit dem Alter hatte diese grimmige Schamhaftigkeit nur zugenommen. Ihr Busenschleier war nie dunkel genug und reichte nie hoch genug empor. Agraffen und Stecknadeln brachte sie massenhaft an, wo kein Mensch hinsah. Denn es ist der Zimperlichkeit eigen, daß sie um so mehr Schildwachen ausstellt, je weniger die Festung bedroht ist.

Unerklärlicher Weise war sie aber inkonsequent genug, sich ohne Mißvergnügen von einem Kavallerieoffizier, ihrem Großneffen, Namens Theodul, küssen zu lassen

Die Zimperlichkeit verbrämte sie passender Weise mit Frömmigkeit. Sie gehörte zur Genossenschaft der Mutter Gottes, trug bei gewissen Festen einen weißen Schleier, murmelte besondere Gebete, verehrte das »heilige Blut«, betete das »heilige Herz Jesu« an, hielt stundenlange Betrachtungen vor einem Rococcoaltar in einer gewöhnlichen Gläubigen verschlossenen Kapelle und ließ ihre Seele unter dem marmornen Wolkenhimmel und dem blendenden Wiederschein des vergoldeten Schnitzwerks zu Gott emporsteigen.

Sie hatte eine Freundin, eine alte Jungfer wie sie selber, Namens Fräulein Vaubois, ein völlig stumpfsinniges Wesen, in Vergleich mit der sich Fräulein Gillenormand das Vergnügen gestatten durfte, sich für einen Ausbund von Klugheit zu halten. Abgesehen von Agnus dei und Ave Maria war Fräulein Vaubois gerade noch hell genug, um zu wissen, wie Früchte eingemacht werden. Wie der weiße Winterpelz des Hermelins durch keinen Flecken verunziert ist, so befleckte auch keine Spur von Verstand Fräulein Vaubois vollkommene Dummheit.

Es muß allerdings zugegeben werden, daß Fräulein Gillenormand mit zunehmendem Alter eher gewonnen, als verloren hatte, wie dies bei passiven Naturen der Fall zu sein pflegt. Sie war nie bösartig gewesen, was ja in einem gewissen Sinne als Güte gerechnet werden muß, und da die Jahre alle Ecken abnutzen, war sie mit der Zeit sanfter geworden. Auf ihrem ganzen Wesen lastete jetzt eine dumpfe Trauer, die sie selber nicht verstand, eine Art schmerzlicher Verwunderung über ihr Leben, das zu Ende ging und doch noch gar nicht angefangen hatte.

Sie führte ihrem Vater die Wirtschaft, wie das alte Fräulein Baptistine ihrem greisen Bruder, dem Bischof Bienvenu, haushielt. Welch’ ein rührendes Bild, wenn zwei Schwache sich gegenseitig stützen!

Außerdem gehörte noch zur Familie ein kleiner Knabe, der beständig vor Gillenormand zitterte und ängstlich schwieg. Denn Dieser redete mit ihm nur in barschem Tone und oft gar mit dem Stock in der Hand: »Komm mal her. Du Schlingel! Antworte, Du Lümmel! Kriegt man Dich auch mal zu sehen, Taugenichts!« Dabei liebte er diesen Knaben, seinen Enkel, abgöttisch.

Großvater und Enkel

Ein Salon der alten Zeit

Als Gillenormand in der Rue Servandom wohnte, bewegte er sich in den höheren Kreisen der Gesellschaft, verkehrte mit Adeligen, trotzdem er nur ein Bürgerlicher war. Da er an sich ein geistvoller Mann war und man ihm außerdem noch mehr Geist zutraute, als er in Wirklichkeit besaß, bemühte sich die vornehme Welt sogar um seine Bekanntschaft. Dies war um so schmeichelhafter, als er nur solche Salons besuchte, wo man ihm die erste Rolle einräumte. Manche Menschen wollen durchaus, daß man sich mit ihnen beschäftige und begnügen sich, wo man ihnen nicht den Gefallen thun will, sie als Orakel zu verehren, damit, den Hanswurst zu spielen. Zu diesen Leuten gehörte Gillenormand nicht. In den royalistischen Kreisen, wo er verkehrte, hatte er nicht nöthig, seiner Würde etwas zu vergeben. Er wurde überall als Orakel respektirt.

Um 1817 brachte er regelmäßig zwei Nachmittage in der Woche bei der Baronin von T. zu, einer achtbaren Dame, deren Mann unter Ludwig XVI. französischer Botschafter in Berlin gewesen war, aber kein Vermögen hinterlassen hatte. Die Baronin lebte fern vom Hofe, wo ihr die Gesellschaft »zu gemischt« war, in würdevoller, stolzer und dürftiger Einsamkeit. Indessen vereinigte sie zweimal wöchentlich einige Freunde um ihr bescheidenes Kaminfeuer und bildete so einen Salon, wo man zweifelsohne königlich gesinnt war, königlicher, als der König selber. In dieser Gesellschaft seufzte man oder entrüstete sich über die neue Zeit, die liberale Verfassung, die Buonapartisten, die Verleihung des Ordens vom heiligen Geist an Bürgerliche, über den Jakobinismus Ludwigs XVIII.; freute sich auf die schöne Zeit, wo der hoffnungsvolle Bruder des Königs, der spätere Karl X., regieren würde; lauschte mit Entzücken gemeinen Gassenhauern und dummen Spottliedern über die Revolutionäre, Napoleon u. s. w., lachte mit kindlichem Behagen über harmlose Kalauer, mit denen man die politischen Gegner zu widerlegen, niederzuschmettern meinte, und parodirte, trotz des ehrlichsten Widerwillens gegen die Grausamkeit der Revolution, die blutdürstigen Lieder eben derselben Revolutionäre, indem man ganz einfach die Buonapartisten statt der Aristokraten an die Laternen zu hängen empfahl.

So schroff diese Kreise jede Berührung und jeden Kompromiß mit Republikanern und Buonapartisten abwiesen, so nachsichtig waren sie gegen die anrüchigsten Elemente ihrer eigenen Partei. Im Salon der Baronin von T, spielte neben Gillenormand der Graf von Lamothe-Valois, der an dem berühmten Halsbandschwindel einen hervorragenden Antheil genommen, die Hauptrolle, gerade wegen seiner »Berühmtheit« und weil er den Namen Valois führte.

In dem Salon der Baronin von T. erfreute sich Gillenormand einer großen Beliebtheit, besonders wegen einiger Scherzworte und Witze, in denen der Geist des achtzehnten Jahrhunderts einen angemessenen Ausdruck fand. Z. B. Als der König von Preußen inkognito als Graf von Ruppin Ludwig XVIII. einen Besuch abstattete, wurde er zum Lohn dafür, daß er ihn auf den Thron von Frankreich hatte einsetzen helfen, von dem Nachkommen Ludwigs XIV. mit einer gewissen ungezogenen Höflichkeit empfangen, so zu sagen wie ein Marquis von Brandenburg behandelt. Dies billigte Gillenormand: »Abgesehen von dem König von Frankreich giebt es ja nur Provinzkönige.«

Als er bei einem Tedeum, das zum Andenken an die Rückkehr der Bourbonen abgehalten wurde, den Fürsten von Talleyrand erblickte, rief er: »Da geht Se. Excellenz der Böse.«

Zu den Soireen der Baronin von T. nahm Gillenormand gewöhnlich seine Tochter mit, so wie einen hübschen, rothbackigen Knaben, der glücklich und zutraulich dreinschaute, und bei dessen Erscheinen Alles ausrief: »Wie hübsch er ist! Wie schade! Armes Kind!« Man bedauerte ihn nämlich, weil er der Sohn des sogenannten Räubers von der Loire war.

Dieser Räuber war Gillenormands schon erwähnter Schwiegersohn, den er einen Schandfleck für seine Familie nannte.

Eines von den rothen Gespenstern jener Zeit

Wer zu jener Zeit über die monumentale Brücke der Stadt Vernon ging und einen Blick über das Geländer warf, sah unten oft einen ungefähr fünfzigjährigen schon ziemlich hinfälligen, von der Sonne gebräunten, im Gesicht von einer breiten Narbe entstellten Mann, der mit einer Ledermütze, einer grauen Tuchhose und Jacke nebst Ordensband und mit Holzschuhen angethan, auf einem an der Seine gelegenen, von Mauern umschlossenen Grundstück mit Spaten und Hippe hantierte. Der Mann, der hier mit einer Wirtschafterin wohnte, war berühmt wegen der schönen Blumen, die er in seinem Garten zog. Es war ihm durch Fleiß, Ausdauer and sorgfältige Beobachtung geglückt, die Schöpfung zu vervollständigen, gewisse Tulpen- und Georginenarten zu erfinden, die von der Natur vergessen worden waren. Ferner hatte er es schon vor Soulange Bodin verstanden, Heideerde zum Anbau seltener und kostbarer, amerikanischer und chinesischer Sträucher zu verwenden; er war auch im Sommer schon mit Tagesanbruch auf den Beinen und lag fleißig seiner Arbeit ob, von der ihn nur sein Hang zu schwermüthiger Träumerei ablenkte. Er führte einen sehr bescheidenen Tisch und trank mehr Milch, als Wein. Von Charakter war er gutmüthig, sanft und so blöde, daß er sich vor den Menschen zu fürchten schien. Er ging selten aus und sprach nur mit den Armen, die bei ihm anklopften, und mit dem guten, alten Abt Mabeuf, seinem Pfarrer. Indessen empfing er auch freundlich die ersten besten Ortsangehörigen und Auswärtigen, die sich seine schönen Tulpen und Rosen ansehen wollten. Dieser Mann war der sogenannte Räuber von der Loire.

Wer zu derselben Zeit die militärischen Denkschriften, Biographien, den Moniteur und die Berichte der großen Armee las, stieß oft auf den Namen Georges Pontmercy. Dieser Pontmercy diente in seiner Jugend in dem Regiment Saintonge, kämpfte bei Speier, Worms, Neustadt, Türkheim, Alzey, Mainz, wo er zu der Nachhut Houchard gehörte. Er vertheidigte, selbzwölfter, den alten Wall von Andernach gegen das Armeekorps des Prinzen von Hessen und zog sich erst zu dem Gros des Heeres zurück, als der Feind eine Bresche gelegt hatte. Dann focht er unter Kleber bei Marchiennes und bei Mont-Palissel, wo ihm eine Kartätschenkugel einen Arm zerschmetterte. Hierauf wurde er an die italienische Grenze geschickt und war einer der dreißig Grenadiere, die mit Joubert den Col di Tenda vertheidigten. Daselbst wurde er Unterlieutenant. Dann nahm er Theil an der Erstürmung der Brücke von Lodi und sah Joubert bei Novi fallen. Als er hierauf mit seiner Kompagnie in einer Pinasse von Genua nach irgend einem kleinen Seehafen fuhr, begegnete er einer englischen Flotte von sieben bis acht Kriegsschiffen. Der genuesische Kapitän wollte die Kanonen ins Meer werfen, die Soldaten im Zwischendeck verstecken und in der Dämmerung sein Fahrzeug als Kauffahrteischiff durchschmuggeln. Pontmercy aber hißte seine Flagge und fuhr stolz an den brittischen Fregatten vorbei. Zwanzig Seemeilen weiter eroberte er, kühn geworden, mit seiner Pinasse ein mit Soldaten und Pferden schwer beladenes, großes englisches Transportschiff, das nach Sicilien bestimmt war. 1805 diente er bei der Division Malher, die den Erzherzog Ferdinand aus Günzburg vertrieb. Bei Austerlitz zeichnete er sich aus bei dem berühmten staffelförmigen Aufmarsch, der unter dem Feuer des Feindes vollzogen wurde. Als die russische Gardekavallerie ein Bataillon des vierten Linienregiments vernichtete, war Pontmercy Einer von Denen, die Wiedervergeltung übten und die Garde zurückschlugen. Für diese Waffenthat gab ihm der Kaiser das Kreuz der Ehrenlegion. Dann war er dabei, wie Wurmser in Mantua, Melas in Alexandria, Mack bei Ulm gefangen wurde und bei der Einnahme von Hamburg durch das achte Korps der großen Armee. Bei Eylau war er auf dem Kirchhofe, wo der heldenmüthige Hauptmann Louis Hugo, Oheim des Verfassers, allein mit seiner dreiundachtzig Mann starken Kompagnie zwei Stunden lang den Ansturm der ganzen feindlichen Armee aushielt. Pontmercy war Einer von den Dreien, die aus dem Kirchhof lebendig davonkamen. Dann kämpfte er bei Friedland, bei Moskau, an der Beresina, Lützen, Bautzen, Dresden, Wachau, Leipzig, Gelenhausen, Montmirail, Château-Thierry, Craon, an der Marne, der Aisne und bei Laon. Bei Arnay-le-Duc, wo er als Hauptmann kämpfte, säbelte er zehn Kosaken nieder und rettete, nicht seinen General, sondern seinen Korporal. Bei dieser Gelegenheit erhielt er so viel Wunden, daß ihm allein aus dem linken Arm siebenundzwanzig Knochensplitter herausgezogen wurden. Acht Tage vor der Uebergabe von Paris tauschte er mit einem Kameraden und trat in die Kavallerie über, begleitete Napoleon nach der Insel Elba und war bei Waterloo als Chef einer Kürassierschwadron. Hier eroberte er die Fahne des Bataillons Lüneburg und legte sie, im Gesicht verwundet und mit Blut bedeckt, zu den Füßen des Kaisers nieder. Der Kaiser rief ihm hocherfreut zu: »Du bist Oberst, du bist Baron, du bist Offizier der Ehrenlegion!« Pontmercy antwortete: »Ich danke Ew. Majestät im Namen meiner Witwe.« Eine Stunde später stürzte er in die Schlucht bei Ohain.

Dieser Georges Pontmercy war derselbe Mann, wie der Räuber von der Loire.

Wir haben schon erzählt, wie ihm in dem Hohlweg bei Ohain das Leben gerettet wurde. Von hier aus folgte er der geschlagenen Armee und gelangte, indem er sich von einer Ambulanz zur andern schleppte, in den Kantonnirungen an der Loire an.

Die Restauration setzte ihn auf Halbsold und schickte ihn, um ihn besser überwachen zu können, nach Vernon. König Ludwig XVIII. erkannte, weil sie während der Hundert Tage stattgefunden hatte, Pontmercy’s Ernennung zum Offizier der Ehrenlegion, zum Obersten und Baron nicht an. Er dagegen unterließ es nie sich als »Oberst Baron Pontmercy« zu unterzeichnen und ging nie aus, ohne die Rosette der Ehrenlegion an seinen alten, blauen Rock, den einzigen, den er besaß, zu heften. Daraufhin ließ ihn der Staatsanwalt benachrichtigen, er würde zur Verantwortung gezogen werden, wenn er fortfahre, unberechtigter Weise jenen Orden zu tragen, Pontmercy antwortete mit bitterem Lächeln dem Vermittler: »Entweder verstehe ich nicht mehr meine Muttersprache, oder Sie wissen nicht, was das Wort ›unberechtigt‹ bedeutet.« Und die nächste Woche ging er jeden Tag mit seiner Rosette aus, ohne daß man wagte, ihn zu behelligen. Ebenso schickte er, ohne sie zu öffnen, mehrere Schreiben des Kriegsministers und des Departementskommandanten zurück, auf deren Adresse er als Major Pontmercy bezeichnet war. Wie Napoleon, der auf Sankt Helena die an den »General Buonaparte« gerichteten Briefe Sir Hudson Lowe’s zurückwies.

So weigerten sich einst auch gefangene karthagische, Soldaten Flaminius zu grüßen. Auch sie hatten etwas von dem Geiste Hannibals.

Eines Tages begegnete Pontmercy auf der Straße dem Staatsanwalt, ging auf ihn zu und fragte: »Herr Staatsanwalt, ist es mir erlaubt, meine Narbe zu tragen?«

Er besaß nichts außer seinem geringen Halbsold und hatte in Vernon das kleinste Haus gemiethet, das zu finden war. Hier lebte er allein. Denn seine Frau, Fräulein Gillenormand, die ihr Vater ihm mit Widerstreben zur Frau gegeben, war 1815 gestorben, und das Söhnchen, das sie ihm hinterließ, hatte der Großvater zu sich genommen. Pontmercy hatte eingewilligt, weil sein Schwiegervater drohte, er werde seinen Enkel sonst enterben. Im Interesse des Kleinen entsagte er also dem Glück seinen Sohn um sich zu haben, und da er auch der Politik und allen Komplotten fern blieb, so hatte er keine andere Beschäftigung, als die Gärtnerei und die Erinnerung an seine Feldzüge.

Gillenormand unterhielt keinerlei Beziehungen zu seinem Schwiegersohn, der in seinen Augen nur ein »Bandit« war, so wie der Schwiegervater von Pontmercy nur ein alter Zopfmensch titulirt wurde. Gillenormand erwähnte nie den Obersten oder höchstens um sich über dessen »Baronie« lustig zu machen. Es war zwischen beiden Theilen ausdrücklich abgemacht, daß Pontmercy nie versuchen solle, seinen Sohn zu sehen oder anzureden. Für die Gillenormands war Marius Vater ein Aussätziger, Sie wollten das Kind in ihren Ideen erziehen. Vielleicht hatte der Oberst Unrecht, auf solche Bedingungen einzugehen, aber er glaubte recht zu handeln und nur sich zu opfern. Gillenormand, der Vater konnte zwar nicht viel hinterlassen, seine Tochter aber, deren von der Mutter ererbtes Vermögen sehr bedeutend war, desto mehr, und der Sohn ihrer Schwester war ihr natürlicher Erbe.

Marius wußte, daß er einen Vater hatte, aber nicht viel mehr, denn Niemand sprach mit ihm über das räudige Schaf der Familie. Da ein Kind aber stets seine Ideen aus seiner Umgebung bezieht, so verdichteten sich allmählich die verstohlenen Blicke, die Anspielungen, die man in seiner Gegenwart über seine Familienverhältnisse fallen ließ, in seinem Geiste zu einer vollständigen Abneigung gegen seinen Urheber. Marius lernte sich seines Vaters schämen.

Während er in diesen Gefühlen heranwuchs, kam der Oberst alle zwei oder drei Monate einmal heimlich, wie ein bannbrüchiger Sträfling, nach Paris und begab sich zu der Zeit, wo die Tante Gillenormand seinen Marius zur Messe führte, nach der Kirche Saint-Sulpice. Hier stellte er sich hinter einen Pfeiler und betrachtete unbeweglich und indem er kaum zu athmen wagte, seinen Sohn. Der alte Haudegen fürchtete sich vor einer alten Jungfer! Wenn sie sich plötzlich umdrehte und ihn ertappte!

Diese Reise nach Paris gab auch Anlaß zu seiner Bekanntschaft mit dem Pfarrer von Vernon, dem Abt Mabeuf.

Der wackere Priester war nämlich der Bruder des Kirchenvorstehers von Saint-Sulpice, dem der Alte mit der großen Narbe mehrere Mal aufgefallen war. Denn er sah so mannhaft aus und weinte doch wie ein Frauenzimmer! Das Gesicht also hatte sich ihm ins Gedächtniß eingegraben, und als er eines Tages auf Besuch nach Vernon zu seinem Bruder kam und er dem Obersten Pontmercy auf der Brücke begegnete, erkannte er ihn sofort wieder. Der Kirchenvorsteher sprach mit seinem Bruder darüber und Beide erfanden einen Vorwand dem Obersten eine Visite zu machen, der andere folgten. Anfangs sehr verschlossen, ließ Pontmercy den Kirchenvorsteher und den Pfarrer schließlich wissen, daß er seine Neigungen dem Glück seines Sohnes zum Opfer brachte. Diese Eröffnung hatte zur Folge, daß der Pfarrer Hochachtung und Zuneigung zu dem Obersten faßte, und dieser gewann seinerseits den Pfarrer lieb. Fühlen sich doch, wenn beide Theile aufrichtig und gutherzig sind, ein alter Priester und ein alter Soldat leicht zu einander hingezogen! Der moralische Charakter ist ja bei Beiden derselbe. Nur daß der Eine sich für das Vaterland hienieden, der Andere für das jenseitige aufgeopfert hat.

Zweimal jährlich, zum ersten Januar und zum Heil. Georgsfest schrieb Marius an seinen Vater die pflichtschuldigen Glückwünsche, wie seine Tante sie ihm in die Feder diktirte, und die so förmlich waren, als seien sie aus einem Briefsteller abgeschrieben. Einen andern Verkehr duldete Gillenormand zwischen seinem Schwiegersohn und Marius nicht. Auf diese Glückwünsche antwortete der Oberst stets sehr zärtlich, aber der Großvater steckte die Briefe ungelesen in seine Tasche.

Requiescant

Der Salon der Baronin von T. war Alles, was Marius von der Welt kannte, das einzige Guckloch, durch das er sich das Leben ansehen konnte, und es war nur ein recht unvollständiges und düsteres Bild, das hier seinen Augen gezeigt wurde. Das ursprünglich heiter veranlagte Kind nahm in dieser eigenartigen Welt eine schwermüthige, und was zu seinem Lebensalter noch weniger paßt, eine ernsthafte Gemüthsart an. Was für sonderbare, imposante, altmodische Leute sah er auch hier! Da waren u. A. adlige ehrwürdige Damen, die Mathan, Noah, Lewi hießen. Diese biblischen Namen erinnerten den Knaben an die Geschichten aus dem alten Testament, die er auswendig lernen mußte, und wenn sie alle so um das dürftige Kaminfeuer saßen, schwach beleuchtet von dem grünen Lampenlicht, mit ihren strengen Mienen, ihren grauen oder weißen Haaren, ihren langen, uralten Roben, und von Zeit zu Zeit würdevolle oder grimme Worte fallen ließen, so betrachtete der kleine Marius sie mit großen, erschrocknen Augen und meinte nicht Frauen, sondern Patriarchen und Magier, nicht wirkliche Wesen aus Fleisch und Blut, sondern Spukgestalten zu sehen.

Nicht minder vertrackte Gestelle waren die Männer, die bei der Baronin von T. aus- und eingingen, Sonderlinge die von der Welt eine unglaublich veraltete Anschauung besaßen. Allerdings sah man hier auch junge Leute, aber sie hatten kein Leben in sich. Alles, Herren und Diener, war mumienhaft, sah aus, als hätte es vielleicht früher einmal gelebt und sei jetzt ausgestopft. War doch auch »konserviren und konservativ« das Lieblingswort dieser vorsintfluthlichen Gesellschaft.

Und was für Unterhaltungen bekam der kleine Marius hier zu hören! Schon die grausigen Reminiscenzen aus der Revolutionszeit konnten genügen, ein kindliches Gemüth zu verdüstern. Da erzählte beispielsweise ein Herr de Port de Guy, wie er 1793 als sechszehnjähriger, junger Mensch, weil er seiner Militärpflicht nicht genügen wollte, im Bagno von Toulon mit dem achtzigjährigen Bischof von Mirepoix, der als Priester der Republik gleichfalls den Eid weigerte, zusammengeschmiedet wurde. Beide mußten des Nachts die Köpfe und Leiber der am Tage Hingerichteten vom Schaffot wegschaffen. Das Blut von diesen Leichen, die sie auf ihrem Rücken davontrugen, bildete eine dicke Kruste auf ihren rothen Kapuzen! Dergleichen schauerliche Geschichten liebte man im Salon der Baronin von T., freute sich aber über die Schandthaten des Royalisten Trestaillon nicht weniger, als man sich über die Grausamkeiten Marat’s entsetzte.

Den Eindrücken, die Marius hier empfing, wirkte leider auch seine übrige Erziehung nicht entgegen. Als seine Tante Gillenormand ihn nichts mehr lehren konnte, übergab ihn sein Großvater einem braven alten Lehrer, dessen klassicistische Unschuld durch keinerlei Bekanntschaft mit moderner Litteratur und Wissenschaft getrübt war. Dann besuchte er das Gymnasium und studirte darauf Jura. Auf diese Weise wurde er ein Royalist, ein Schwarmgeist, ein Ascet. Mit seinem Großvater hatte er wenig Sympathie, weil dessen Lustigkeit und Cynismus ihm zuwider waren, und gegen seinen Vater hegte er eine feindselige Gesinnung.

Im Uebrigen war er innerlich feurig und äußerlich kalt, hochherzig, stolz, religiös, exaltirt und unbeugsam rechtschaffen.

Der Tod des Räubers

Marius beendete seine Schulstudien zu derselben Zeit, wo Gillenormand sich von allem gesellschaftlichen Verkehr zurückzog. Der alte Herr sagte der Vorstadt Saint-Germain und der Baronin von T. Lebewohl und siedelte in das ihm gehörige Haus in der Rue des Filles-du-Calvaire über.

1827, als Marius siebzehn Jahr alt geworden, trat ihm eines Abends, als er nach Hause zurückkehrte, sein Großvater mit einem Briefe in der Hand entgegen.

»Marius«, sagte Gillenormand, »Du mußt morgen nach Vernon reisen.«

»Weswegen?«

»Deinen Vater zu besuchen.«

Marius fuhr zusammen. Er hatte an Alles, nur nicht daran gedacht, daß er eines Tages mit seinem Vater zusammenkommen müßte. Gillenormand’s Ankündigung überraschte ihn, um die Wahrheit zu sagen, in peinlicher Weise. Er hätte sich dieses Wiedersehen gern erspart.

Denn abgesehen davon, daß ihn seine politischen Ansichten seinem Vater abhold machten, lebte Marius der Ueberzeugung, daß Dieser, der Säbelraßler, wie ihn Gillenormand nannte, ihn nicht liebte; sonst hätte er ihn, seinen Sohn, nicht von sich gelassen, nicht Anderen anvertraut. Wenn man ihm keine Liebe entgegenbrachte, so brauchte auch er keine zu empfinden, meinte er.

So verdutzt war er jetzt, daß er keine Frage that. Der Großvater sagte ihm aber von selber Bescheid:

»Er schreibt, er wäre schwer krank, und wünscht Dich zu sprechen.«

Dann fuhr er nach einer Pause fort:

»Reise morgen früh. Um sechs Uhr Morgens, wenn mir recht ist, fährt aus der Cour des Fontaines ein Wagen ab, der am Abend in Vernon ankommt. Fahre mit dem. Er schreibt, er könne nicht warten.«

Mit diesen Worten zerknitterte er den Brief und steckte ihn in die Tasche. Marius hätte noch an demselben Abend aufbrechen und bei seinem Vater schon am nächsten Morgen eintreffen können. Denn es fuhr damals eine Diligence von der Rue du Bouloi nach Rouen über Vernon des Abends. Aber weder Gillenormand noch Marius fiel es ein, sich genauer zu erkundigen.

Den nächsten Tag kam Marius in der Dämmerung, als man in den Häusern die Lichter anzuzünden anfing, in Vernon an und fragte den ersten Besten, dem er begegnete, nach der Wohnung des »Herrn« Pontmercy. Er erkannte, eben so wenig, wie die derweiligen Machthaber, seinen Vater als Baron und Oberst an.

Man zeigte ihm das Haus. Er klingelte und eine Frau, die eine kleine Lampe in der Hand hielt, öffnete die Thür.

»Kann ich Herrn Pontmercy sprechen?« fragte Marius.

Die Frau antwortete nicht.

»Bin ich denn hier richtig?«

Die Frau nickte bejahend.

»Wollen Sie mich zu ihm bringen?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Ich bin sein Sohn. Er erwartet mich.«

»Er wartet nicht mehr auf Sie«, antwortete die Frau.

Jetzt erst bemerkte Marius, daß sie weinte.

Sie zeigte auf eine kleine Thür. Marius öffnete sie und trat in ein niedriges Zimmer, auf dessen Kamin ein Talglicht stand. In diesem Raum befanden sich drei Männer; Einer stand, ein Anderer kniete und der Dritte lag im Hemd und lang ausgestreckt auf dem Steinboden. Letzterer war der Oberst.

Die beiden Anderen waren ein Arzt und ein Priester, der bei dem Toten betete.

Vor drei Tagen hatte den Obersten ein Hirnfieber befallen. Sofort schrieb er unter dem Einfluß eines bangen Vorgefühls an Gillenormand und bat ihn, Marius zu ihm kommen zu lassen. Das Leiden hatte sich auch rasch verschlimmert und am Abend vor Marius Ankunft war sogar der Oberst in einem Anfall von Fieberwahn aufgestanden, trotzdem ihn die Magd zurückzuhalten suchte, indem er rief: »Mein Sohn kommt nicht. Ich gehe ihm entgegen.« Dann war er in dem Vorzimmer entseelt zu Boden gesunken.

Sein Arzt, sein Pfarrer, sein Sohn kamen Alle zu spät.

Bei der matten Beleuchtung sah man auf der blassen Wange des Obersten noch eine schwere Thräne, die er über das Ausbleiben seines Sohnes geweint.

Marius betrachtete den Verstorbenen, den er an jenem Tage zum ersten und zum letzten Male sah, das ehrwürdige und männliche Gesicht, die offenen starren Augen, die weißen Haare, die starken Glieder mit ihren zahlreichen Wundenmalen, die breite Narbe auf dem Heldenantlitz, das doch auch das Gepräge der Herzensgüte trug. Aber obwohl dieser Mann sein Vater war, blieb er kalt und gleichgültig.

Er empfand kein anderes Trauergefühl, als das der Anblick irgend eines beliebigen Toten in ihm erregt hätte.

Und doch war der Verstorbene ein Mann gewesen, dessen Tod auf seine Umgebung keinen gewöhnlichen Eindruck gemacht hatte. Die Magd jammerte laut um ihn, der Pfarrer schluchzte beim Beten, der Arzt trocknete sich die Augen. Alle Drei sahen, ohne ein Wort zu sprechen, auf Marius, der allein wie ein Fremder ungerührt dabeistand. Er empfand ihnen gegenüber Verlegenheit und ließ, als überwältige ihn der Kummer, seinen Hut, den er in der Hand hielt, auf die Erde fallen, schämte sich aber dann sofort dieser Heuchelei und kam sich verächtlich vor. Traf ihn aber irgend welche Schuld wegen seines Verhaltens? Er hatte nun einmal seinen Vater nicht lieben gelernt.

Der Oberst hinterließ nichts. Mit dem Erlös des Mobiliars wurden kaum die Begräbnißkosten gedeckt. An Papieren fand die Magd nur einen Zettel, auf dem Folgendes geschrieben stand:

»An meinen Sohn. — Der Kaiser hat mich auf dem Schlachtfeld von Waterloo zum Baron ernannt. Da die jetzige Regierung mir diesen Titel, den ich mit meinem Blut bezahlt habe, streitig macht, so soll mein Sohn ihn annehmen und führen. Es versteht sich von selbst, daß er desselben würdig sein wird.«

Auf demselben Zettel stand noch folgende Notiz:

»Gleichfalls in der Schlacht bei Waterloo hat mir ein Sergeant, Namens Thénardier, das Leben gerettet. In der letzten Zeit hielt dieser Mann, wenn ich recht berichtet bin, eine kleine Herberge in einem Dorf bei Paris, in Chelles oder in Montfermeil. Sollte mein Sohn ihm je begegnen, so möge er Thénardier so viel Gutes erweisen, wie in seinen Kräften steht.«

Nicht aus Pietät gegen seinen Vater, sondern kraft jener Achtung, die jeder Mensch vor dem Willen eines Toten hegt, nahm Marius das Papier an sich und steckte es sorgfältig ein.

Sonst blieb kein Andenken an den Obersten übrig. Gillenormand ließ seinen Degen und seine Uniform an einen Trödler verkaufen. Den Garten plünderten die Nachbaren; die Gewächse die sie übrig ließen, wurden von Dornen und Unkraut überwuchert.

Nur achtundvierzig Stunden hielt sich Marius in Vernon auf. Er kehrte sofort nach dem Begräbnis nach Paris zurück und setzte seine juristischen Studien fort, ohne weiter an seinen Vater zu denken. In zwei Tagen war der Oberst beerdigt und nach drei Tagen vergessen. Nur daß Marius Flor am Hut trug.

Wie Einer in der Kirche zum Revolutionär werden kann

Marius hatte die religiösen Gewohnheiten seiner Kindheit beibehalten. Eines Sonntags nun, als er in der Kirche Saint-Sulpice der Messe anwohnte, und zwar in derselben Kapelle, in die ihn ehedem seine Tante mitzunehmen pflegte, traf es sich, daß er ungewöhnlich zerstreut war. Er kniete auf einen Sammtstuhl nieder, an dessen Lehne »Mabeuf, Kirchenvorsteher« geschrieben stand. Kaum aber hatte die Messe angefangen, so trat ein alter Herr an ihn heran und sagte:

»Mein Herr, dies ist mein Platz.«

Marius trat eifrig bei Seite, und der alte Herr nahm seinen Stuhl in Besitz.

Nach Beendigung des Gottesdienstes redete der Greis Marius wieder an:

»Ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich vorhin gestört habe und es jetzt wieder thue; aber Sie müssen mich für recht quenglig gehalten haben, und ich bin Ihnen eine Erklärung meines Verhaltens schuldig.«

»Nicht doch, mein Herr!«

»Doch, doch! Ich will nicht, daß Sie schlecht von mir denken. Sehen Sie, mir liegt viel gerade an diesem Platz. Mir ist, als stimmte er mich andächtiger. An diesem Platz nämlich hat zehn Jahre lang, einmal in je zwei oder drei Monaten, ein unglücklicher Vater gestanden, der sonst keine Gelegenheit fand, seinen Sohn zu sehen. Er kam also zu der Zeit, wo er wußte, daß der Kleine in die Kirche geführt wurde. Der aber ahnte nicht, daß sein Vater hinter ihm stand, wußte vielleicht in seiner Einfalt auch nicht, daß er überhaupt einen Vater hatte. Während dessen stand der Vater hinter diesem Pfeiler und weinte helle Thränen bei dem Anblick seines Lieblings. Dabei habe ich ihn beobachtet, und der Platz ist für mich gewissermaßen geheiligt. Ich ziehe ihn dem Sitz vor, auf den ich als Kirchenvorsteher Anspruch erheben kann. Ich habe übrigens den bedauernswerten, alten Herrn, etwas näher gekannt. Er hatte einen Schwiegervater, und eine reiche Tante, die das Kind zu enterben drohten, wenn er sich nicht von ihm fern hielte. Er brachte also dies Opfer, damit sein Sohn einmal reich und glücklich werden sollte. Und an alle dem war Verschiedenheit der politischen Meinungen schuld. Du lieber Himmel, ich habe ja gegen die Politik nichts einzuwenden, aber manche Leute gehen in der Hinsicht doch zu weit. Wenn Einer bei Waterloo gekämpft hat, ist er darum noch kein Ungeheuer, und man hat doch nicht das Recht eine Scheidewand zwischen Vater und Sohn aufzurichten. Der Mann war ein Oberst Buonaparte’s. Jetzt ist er tot. Ich habe nämlich in Vernon, wo er wohnte, einen Bruder. Er hieß Pontmarie oder Montpercy oder so ähnlich. Eine furchtbare Schmarre hatte er im Gesicht …«

»Pontmercy?« fragte Marius und erblaßte.

»Ganz richtig. Haben Sie ihn denn gekannt?«

»Er war mein Vater!«

Der alte Kirchenvorsteher schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief:

»Also Sie sind jenes Kind! Hören Sie, junger Mann, Sie können sagen, daß Sie einen Vater gehabt haben, der Sie lieb hatte!«

Marius bot dem alten Herrn den Arm und geleitete ihn bis zu seiner Wohnung. Am nächsten Tage aber sagte er zu Gillenormand:

»Ich habe mich mit einigen Freunden zu einer Jagd verabredet. Gestatten Sie, daß ich drei Tage von Hause wegbleibe?«

»Vier Tage, wenn Du willst. Geh und amüsire Dich!«

Dabei blinzelte er seiner Tochter zu und flüsterte:

»Er hat was Liebes!«

Was bei einer Begegnung mit einem Kirchenvorsteher Alles herauskommen kann

Marius blieb drei Tage fort, kam dann nach Paris zurück, begab sich direkt nach der Bibliothek der juristischen Fakultät und ließ sich eine Menge Jahrgänge des Moniteur geben.

Diese studirte er mit glühendem Eifer, las alle Geschichtswerke über die Republik und das Kaiserreich, las Napoleons Memoiren, alle erdenklichen Denkschriften, Zeitungen, Berichte, Proklamationen. Als ihm zum ersten Mal der Name seines Vaters aufstieß, hatte er vor Aufregung eine Woche lang das Fieber. Dann suchte er alle Generäle auf, unter denen sein Vater gedient hatte, u. A. auch den Grafen H., und ließ sich von dem Kirchenvorsteher Alles, was Dieser über die Lebensweise seines Vaters in Vernon, über seine Gärtnerei wußte, erzählen. Auf diese Weise gelang es Marius sich ein klares Bild von ihm zusammenzustellen, dieses herrliche Gemisch von Löwe und Lamm zu verstehen.

Da diese Beschäftigung alle seine freie Zeit ebenso vollständig in Anspruch nahm, wie seine Gedanken, kam er mit den Gillenormands nur noch bei Tische zusammen; suchte man ihn zu einer andern Zeit auf, so war er nicht da. Darüber murrte die Tante, während Vater Gillenormand verständnißinnig schmunzelte: »Na ja! Er ist in den Jahren, wo Einem die Mädel im Kopf herumgehen.« — Bisweilen aber meinte er doch: »Alle Wetter! Der betreibt ja die Sache mit Leidenschaft!«

Eine Leidenschaft war es allerdings, die sich unseres Marius bemächtigte, die Liebe zu seinem Vater.

Zu gleicher Zeit vollzog sich auch in seiner Gedankenwelt eine vollständige Umwandlung, deren Phasen wir hier verfolgen wollen, da sie für viele unserer Zeitgenossen charakteristisch sind.

Das Studium der Geschichte brachte sein Denken ganz aus dem altgewohnten Geleise.

Anfangs war er wie geblendet.

Mit den Worten Republik und Kaiserreich hatte er bisher nur ungeheuerliche, dunkle Begriffe verbunden. Republik und Guillotine, Kaiserthum und Säbel — anderen Ideenassociationen vermochte sein Verstand nicht Raum zu geben. Jetzt aber, wo er in das Chaos hineinblickte, strahlten ihm aus der dichten Finsterniß, die er darin zu finden erwartet hatte, eine Menge herrlicher Gestirne entgegen, Mirabeau, Vergniaud, Saint-Just, Robespierre, Camille Desmoulins, Danton und nach ihnen stieg eine Sonne, Napoleon, empor. Ihm schwindelte bei dem Anblick der Wunderwelt, die er jetzt durchforschen lernte. Als aber das erste Erstaunen einer ruhigeren Ueberlegung wich und sein Blick sich geschärft hatte, ballten sich ihm die beiden Gruppen von Erscheinungen zu zwei großen Thatsachen zusammen, indem er richtig erkannte, daß die Republik die Wiedereroberung der bürgerlichen Rechte durch die breiten Volksinassen und das Kaiserthum die Ausbreitung der französischen Civilisation über Europa bedeutete. Und er mußte bekennen, daß alles dies gut war.

Was er in seinem Bewunderungsrausch bei dieser ersten, viel zu allgemeinen Beurtheilung unbeachtet ließ, brauchen wir hier nicht zu erörtern. Uns ist ja nur darum zu thun, den Entwickelungsgang seiner neuen, politischen Anschauungen klar zu legen. Ein Fortschritt wird nicht gleich mit dem ersten Sprung erreicht. Dies gilt auch von Allem, was wir noch über Marius historische Studien zu berichten haben. Fahren wir also fort.

Marius wurde inne, daß er bis zu jenem Augenblick die geschichtliche Rolle seines Vaterlandes eben so wenig verstanden hatte, wie den Charakter seines Vaters. Umnachtete er früher doch selber durch absichtliche Unwissenheit seinen Geist. Jetzt aber wurde es hell in ihm; jetzt bewunderte und liebte er.

Nun machte er sich auch Vorwürfe und beklagte, daß er nur an einem Grabe sagen konnte, was er jetzt empfand. O wäre sein Vater doch noch am Leben gewesen! Wie eifrig wäre er zu ihm geeilt, um ihm zuzurufen: »Vater, hier bin ich! Ich verstehe Dich! Jetzt bin ich wahrhaft Dein Sohn!« Wie zärtlich hätte er den Greis umarmt; wie gern sich in seinen Armen ausgeweint, ihm Beweise seiner kindlichen Bewunderung und Ehrfurcht gegeben! Warum war doch sein Vater gestorben, ehe ihm Gerechtigkeit und die Liebe seines Sohnes zu Theil werden konnten! Der Kummer hierüber ließ Marius keinen Augenblick Ruhe und verlieh seinem Charakter, der ohnehin schon ernst genug geartet war, ein noch ernsteres Gepräge, seinen Ueberzeugungen einen festeren Halt. Fortwährend drang eine neue lichtvollere Wahrheit in seinen Verstand ein und bereicherte seinen Ideenschatz. Sein innerer Mensch wuchs erstaunlich rasch, seitdem ihm die beiden neuen Erkenntnißquellen zuflossen, die Geschichte seines Landes und die Liebe zu dem Urheber seiner Tage.

Nachdem Marius gelernt hatte, daß Gedächtniß seines Vaters in Ehren zu halten, wurde es ihm auch möglich, Napoleon besser zu würdigen.

Hierzu gehörte allerdings ein beträchtlicher Grad von Selbstüberwindung.

Von Kindheit an waren ihm die Anschauungen der 1814 zur Herrschaft gelangten Partei über Bonaparte eingeimpft worden. Nun wurden aber die Machthaber der Restaurationszeit durch alle ihre Vorurtheile, Interessen, Neigungen dazu getrieben, Napoleons Charakterbild zu entstellen. Sie verabscheuten ihn noch mehr als Robespierre und spielten ziemlich geschickt den Ueberdruß der Nation und die Furcht aller Mütter vor neuen Kriegen als Trumpf gegen ihn aus. Auf diese Weise hatten sie den verhaßten Bonaparte zu einer Art fabelhaftem Unhold karrikirt, ihn dem Volke, das in Bezug auf seine Phantasie mit den Kindern Aehnlichkeit hat, als eine theils furchtbare, theils lächerliche Schreckgestalt, als einen Tiberius, einen Popanz, vorgespiegelt. Dieser wilde Haß der Royalisten gegen Bonaparte nahm natürlich auch Marius’ Gemüth so vollständig ein, daß er keiner andern Vorstellung daneben Raum zu geben vermochte, und war um so tiefer eingewurzelt, als er von Natur eine große Hartnäckigkeit besaß.

Allein, als er die Geschichte studirte, namentlich aber, als er zu den Quellen hinaufging, zerriß allmählich der Schleier, der ihn gehindert hatte, Napoleons wahre Gestalt zu erkennen. Er ahnte sofort, daß er einer großartigen Erscheinung gegenüberstand und vermuthete, daß er sich in Bezug auf Bonaparte eben so gut getäuscht habe, wie über alles Andere. Dann aber stieg er in dem Maße, wie seine Einsicht wuchs, anfangs mit Widerstreben, später trunken vor Wonne, von finsterer Abneigung zu dem lichtesten Enthusiasmus empor.

Eines Nachts saß er allein in seinem Dachstübchen und las bei dem Schein seines Stearinlichts. Das Fenster stand offen und mit dem Eindruck, den das Gelesene auf seinen Geist machte, vermischten sich die Empfindungen, die in ihm die reine Nachtluft, die unbestimmbaren Geräusche, die er vernahm, der Anblick des unermeßlichen Raumes, der funkelnden Sterne hervorriefen.

Er las die Berichte der Großen Armee, auf dem Schlachtfeld geschriebene Epen, sah hier und dort den Namen seines Vaters, überall den Namen des Kaisers, die ganze Herrlichkeit dieser Heroenzeit entrollte sich vor seinem inneren Auge; er hatte die Empfindung, als schwelle eine Fluth in ihm empor; ihm war dann und wann, als eile sein Vater wie ein Hauch an ihm vorüber und flüstere leise Worte in sein Ohr. Da ward ihm seltsam zu Muthe und er glaubte Trommelwirbel, Kanonendonner, Trompetengeschmetter, den dumpfen Tritt marschirender Bataillone und Pferdegetrappel zu hören. Dann ließ er wieder seine Blicke zum Fenster hinausschweifen, das erhabene Schauspiel zu bewundern, das die gewaltigen Himmelskörper am Firmament darboten und lenkte sie alsbald wieder dem Buche zu, das ihm von anderen erhabenen Dingen und gewaltigen Thaten erzählte. Dabei fühlte er eine eigene Beklommenheit, er keuchte, bebte und plötzlich, ohne zu wissen, was in ihm vorging und welchem Gefühl er gehorchte, richtete er sich zu seiner ganzen Höhe empor, streckte beide Arme zum Fenster hinaus, sah festen Blickes in die Finsternis, die feierliche Stille der Nacht, den unendlichen Raum hinaus und rief: »Es lebe der Kaiser!«

Dieser Augenblick bezeichnete eine Wendung in seinem Geistesleben. Der korsische Unhold, der Usurpator, der Wütherich, der Schandbube, der mit seinen Schwestern Blutschande getrieben, der Menschenverächter, der bei Talma Unterricht genommen, um besser schauspielern zu lernen, der Vergifter der Pestkranken in Jaffa, der Tiger, Buonaparte war vergessen und verdrängt durch das hehre, von einer Glorie umstrahlte Marmorbild des modernen Cäsar. Der Kaiser war für Pontmercy den Vater nur ein geliebter, bewunderter Feldherr gewesen, für den man gern sein Leben hingiebt; seinem Sohn Marius war er mehr. Der sah in ihm den Mann, den das Schicksal auserkoren, nach dem römischen Weltreich die Weltherrschaft Frankreichs zu begründen, den Nachfolger Karls des Großen, Ludwigs XI., Heinrichs IV., Richelieus, Ludwigs XIV., des Komittees der öffentlichen Wohlfahrt; einen mit menschlichen Mängeln und Schwächen behafteten Menschen, der aber doch ein großer Mann war. Hauptsächlich aber stellte er für Marius das von der Vorsehung auserwählte Genie das, das die anderen Völker zwang, die Franzosen die große Nation zu nennen, die Verkörperung Frankreichs, insofern er Europa mit seinem Degen eroberte und das Weltall mittelst der Aufklärung, die er verbreitete, Frankreich unterwarf. Er erkannte auch in Bonaparte den Retter der Zukunft, der an Frankreichs Grenze Wache hält; einen Despoten, der aber als Diktator gegen die Feinde seines Landes kämpfte, der die Nachfolge der Republik übernahm und die Ergebnisse der Revolution wahrte. Wie Jesus der Gottmensch ist, so wurde Napoleon für Marius der Volkmensch.

Wie alle Neubekehrten wußte er sich nicht zu mäßigen, überstürzte sich, ging zu weit. Das lag in seiner Natur; war er einmal auf eine abschüssige Bahn gefahren, so war es ihm so gut wie unmöglich, seinen Wagen aufzuhalten. Die Begeisterung für kriegerische Erfolge überwucherte in seinem Geiste die richtige Würdigung der Ideen. Er merkte nicht, daß er neben dem Genie und ohne zu unterscheiden, die Gewalt bewunderte, ein göttliches Element und die Rohheit mit gleicher Verehrung umfaßte. Er war jetzt in einer andern Art Irrthümer als früher befangen, indem er Alles gleich gut hieß. Man kann ja auch, indem man der Wahrheit zusteuert, dem Irrthum begegnen. Bei der Verurteilung des alten Königthums und der Bewundrung für Napoleons Größe, ließ er die mildernden und erschwerenden Umstände unbeachtet.

Sei dem, wie ihm wolle, Marius that einen gewaltigen Schritt vorwärts. Wo er einst nur den Sturz der alten Monarchie hatte sehen können, zeigte sich seinen Augen jetzt der Aufschwung Frankreichs. Was ihm früher als der Untergang alles Rechtes gegolten, bedeutete jetzt für ihn den Anfang einer neuen, schöneren Weltordnung.

Seine Familie merkte unterdessen nichts von der großen Umgestaltung seiner Anschauungen.

Als endlich diese verborgene Umwandlung zu Ende gediehen, als er seine ultraroyalistische und aristokratische Haut abgestreift, und er eine durch und durch revolutionäre, entschieden demokratische und beinahe republikanische Denkweise angenommen, bestellte er bei einem Kunststecher auf dem Quai-des-Orfèvres hundert Visitenkarten für den »Baron Marius Pontmercy.«

Eine logische Konsequenz seiner inneren Verändrung, die seinen Vater zum Ausgangspunkt hatte. Da er aber keinen gesellschaftlichen Verkehr hatte, und seine Karten nicht bei den Portiers los werden konnte, so steckte er sie in seine Tasche.

Vermöge einer andern, eben so natürlichen Konsequenz fühlte er sich in dem Maße, wie die Ideenwelt, für die sein Vater fünfundzwanzig Jahre gestritten und gelitten hatte, ihn anzog, von seinem Großvater abgestoßen. Wir haben schon erwähnt, daß ihm Gillenormand’s Charakter nicht zusagte. Es bestanden schon zwischen ihnen jene Mißklänge, wie sie bei dem Zusammenspiel eines leichtfertigen Alten und eines ernsten Jünglings unvermeidlich sind. So lange Beide dieselben politischen Meinungen theilten, konnten sie sich auf einer Brücke entgegenkommen. Nachdem aber die Brücke eingestürzt war, trennte sie eine breite Kluft von einander. Vor allen Dingen oder empörte es Marius, daß Gillenormand ihn aus einem nichtigen Beweggrund der Liebe seines Vaters entrissen hatte.

Aber er ließ sich von seiner Sinnesänderung nichts merken. Allerdings ließ er sich immer seltener im Hause sehen und zeigte sich weniger gesprächig und kälter, wenn er mit den Gillenormands bei Tische zusammenkam. Schalt ihn die Tante deswegen, so entschuldigte er sich sehr sanftmüthig mit seinen vielen Arbeiten, Vorlesungen, Prüfungen u. s. w. Damit brachte er aber seinen Schlaukopf von Großvater nicht von seiner vorgefaßten Meinung ab: »Mir macht er nichts weiß! Er läuft den Mädels nach!«

Ebenso wenig bekam seine Familie den Grund zu erfahren, warum er von Zeit zu Zeit auf einige Tage verreiste.

Das eine Mal fuhr er nach Montfermeil und erkundigte sich, wie sein Vater es ihn geheißen hatte, nach dem ehemaligen Sergeanten und gegenwärtigen Gastwirt Thénardier. Er erfuhr, daß dieser fallirt habe, und man wisse nicht, was aus ihm geworden sei. Zu diesen Nachforschungen brauchte Marius vier Tage.

»Er wird wirklich ungeheuer lüderlich!« bemerkte stillvergnügt der Großvater.

Außerdem fiel auf, daß er auf der Brust, unter dem Hemde, etwas an einer schwarzen Halsschnur trug.

Irgend eine Schürze

Der Kavallerieoffizier, von dem wir schon gesprochen haben, war ein Urgroßneffe Gillenormand’s, der als Junggesell ein Garnisonleben führte. Der Lieutenant Théodule Gillenormand erfüllte alle Bedingungen, die erforderlich sind, wenn man ein »hübscher Offizier« sein will. Er hatte eine wahre »Wespentaille,« eine sieghafte Art seinen Säbel an der Erde nach sich zu schleifen, einen martialisch aufgedrehten Schnurrbart. Nach Paris kam er selten, so selten daß er mit Marius nie zusammengetroffen war. Beide Vettern kannten sich also nur dem Namen nach. Er war aber der Günstling der Tante Gillenormand, weil sie ihn nicht oft zu sehen bekam. Wen man nicht sieht, dem kann man alle möglichen Vorzüge und guten Eigenschaften zuschreiben.

Eines Morgens kam Fräulein Gillenormand in einer Aufregung nach Hause, die von ihrer gewohnten Gleichmüthigkeit stark abstach. Denn Marius hatte wieder einmal seinen Großvater um die Erlaubniß gebeten, einige wenige Tage von Hause wegbleiben zu dürfen, mit der Bemerkung, er gedenke noch an demselben Tage abzuweisen. »Geh!« hatte der Großvater geantwortet, und innerlich, indem er beide Brauen hoch hinaufschob, hinzugefügt: »Aha! Nun hat er anderwärts eine regelmäßige Unterkunft zur Nacht gefunden!« Fräulein Gillenormand aber, deren Neugierde aufs höchste gespannt war, begab sich auf ihr Zimmer und sagte auf der Treppe: »Das ist aber stark! Wo er blos hingeht?« Auch sie dachte an ein mehr oder minder sündhaftes Liebesabenteuer, in das sie ganz gern ihre Nase gesteckt hätte. Die Erforschung derartiger Geheimnisse hat ja für fromme Seelen einen eigenen Reiz.

Von dieser Neugierde gepeinigt, nahm sie, zur Beruhigung der Nerven, ihre Zuflucht zu ihrer Kunstfertigkeit und languettirte mit Baumwollfaden auf Baumwollcanevas Kabrioletträder aus, eine Art Stickerei, die zur Zeit des Kaiserreichs und der Restauration bei den Damen beliebt war. Mit dieser Geduldsprobe quälte sie sich seit einigen Stunden herum, als die Thür aufging. Sie blickte von ihrer Arbeit auf und sah vor sich den Lieutenant Théodule, der sie militärisch grüßte. Sie antwortete mit einem Freudenschrei. Auch alte, zimperliche, fromme Tanten sehen gern einen Kavallerieoffizier als Besuch bei sich.

»Du bist hier, Théodule?«

»Auf der Durchreise.«

»So gieb mir doch einen Kuß!«

»Da!«

Tante Gillenormand ging an ihren Sekretär und schloß ihn auf.

»Hoffentlich bleibst Du dies Mal mindestens eine Woche bei uns!«

»Tante, ich reise heute Abend weiter!«

»Nicht möglich!«

»Leider ist es mathematisch gewiß.«

»So bleibe doch bei uns, lieber Théodule; ich bitte Dich!«

»Das Herz willigt ein, aber die Pflicht sagt Nein. Die Sache ist sehr einfach. Wir werden in eine andere Garnison verlegt. Von Melun nach Gaillon. Dabei kommen wir durch Paris hindurch, und da habe ich mir gesagt: ›Eine willkommene Gelegenheit meine Tante zu besuchen!‹«

»Bravo! Hier hast Du auch was für Deine Mühe!«

Damit steckte sie ihm zehn Louisd’or in die Hand.

»Sie meinen für mein Vergnügen, liebe Tante!«

Er umarmte sie zum zweiten Mal, wobei sie die Freude hatte, daß ihr der Hals durch die Litzen seiner Uniform etwas gekratzt wurde.

»Reitest Du mit Deinem Regiment?« fragte sie ihn.

»Nein, Tante. Mir lag daran, Sie wieder zu sehen. Ich bin hier auf Urlaub. Mein Pferd nimmt mein Bursche mit. Ich reise per Postkutsche. Und bei der Gelegenheit möchte ich Sie etwas fragen.«

»Was denn?«

»Reist denn mein Vetter Marius Pontmercy auch?«

»Woher weißt Du das?« fragte die Tante, deren Neugierde sich mächtig regte.

»Bei meiner Ankunft habe ich mich sofort nach dem Postbüreau begeben, um einen Platz auf dem Verdeck zu belegen.«

»Nun, und …?«

»Es war mir schon Jemand zuvorgekommen, und ich habe seinen Namen in dem Postbuch gelesen.«

»Welchen Namen?«

»Marius Pontmercy.«

»Der Lüderjahn! Ja ja, Dein Vetter ist nicht so ordentlich wie Du. Wenn man denkt, daß er sich die Nacht in einer Diligence verdirbt!«

»Wie ich auch.«

»Das ist was Anderes. Du thust es, weil es Deine Pflicht ist. Er weil er schwiemeln will.«

»Sieh Einer an!«

Da geschah plötzlich etwas Außerordentliches, Unerhörtes: Tante Gillenormand hatte einen Gedanken. Wäre sie ein Mann gewesen, so hätte sie sich vor die Stirn geschlagen. Sie fragte Théodule:

»Du weißt doch, daß Dein Vetter Dich nicht kennt?«

»Nein. Ich habe ihn gesehen, aber er hat nie geruht, Notiz von mir zu nehmen.«

»Ihr werdet also zusammen im Postwagen reisen?«

»Er auf dem Verdeck, ich im Kabriolett.«

»Wohin geht die Fahrt?«

»Nach Les Andelys.«

»Da will Marius hin?«

»Wofern er nicht, wie ich, irgendwo unterwegs aussteigt. Ich fahre blos bis Vernon und dort steige ich um. Marius Reiseziel ist mir unbekannt.«

»Marius! Was für ein häßlicher Name! Wie konnten ihn seine Eltern Marius taufen lassen! Da hört sich Théodule doch ganz anders an!«

»Ich möchte lieber Alfred heißen.«

»Höre, was ich Dir zu sagen habe, Théodule.«

»Ich höre, Tantchen.«

»Passe gut auf!«

»Ich passe auf.«

»Wirst Du’s auch begreifen?«

»Ich denke!«

»Also Marius bleibt manchmal von Hause weg.«

»Hm, hm!«

»Er macht Reisen.«

»Aha!«

»Er schläft also manche Nächte außer dem Hause!«

»Oho!«

»Wir möchten wissen, was dahinter steckt.«

Théodule antwortete im Tone der tiefsten moralischen Wurschtigkeit:

»Irgend eine Schürze.«

Und mit dem spitzbübischen Lächeln eines Menschen, der seiner Sache sicher ist:

»Ein Mädel.«

»Ganz gewiß!« bekräftigte die Tante. Da ihr Liebling Théodule dieselbe Witterung hatte wie der Großvater, in demselben sicheren Tone von den »Mädels« sprach, waren alle ihre Zweifel endgiltig gehoben. Sie fuhr fort:

»Thu uns einen Gefallen. Gehe Marius nach und sieh, wo er hingeht. Da er Dich nicht kennt, ist es leicht für Dich. Bringe heraus, wer die Person ist, und schreibe uns Alles. Das wird Großpapa Spaß machen.«

Solch ein Spionagedienst war gerade nicht nach Théodules Geschmack; aber die zehn Louisd’or hatten einen tiefen Eindruck auf sein Gemüth gemacht, und da ihm ein »Fortsetzung folgt!« im Bereiche der Möglichkeit zu liegen schien, hielt er es für gerathen den Auftrag anzunehmen.

»Wie Sie wünschen, liebe Tante!«

»Ich und Tugendwächter!« dachte er dabei.

Fräulein Gillenormand fiel ihm um den Hals.

»Solche Streiche würdest Du Dir nicht zu Schulden kommen lassen, Théodule. Du bist ein Sklave der Disciplin, der Pflicht, ein gewissenhafter Mann, der nicht von seiner Familie wegrennen würde, um einem lüderlichen Geschöpf nachzulaufen.«

Der Lieutenant machte ein Gesicht wie ein Spitzbube, der Komplimente über seine Ehrlichkeit zu kosten bekommt.

Als Marius am Abend desselben Tages in den Postwagen stieg, ahnte er natürlich nicht, daß ihm ein Aufseher beigegeben war. Dieser Aufseher aber entledigte sich zunächst seiner Pflicht in der Weise, daß er sich sofort in Morpheus Arme warf und die ganze Nacht hindurch kräftig schnarchte.

Erst bei Tagesanbruch, als der Kondukteur rief »Vernon! Wer nach Vernon will, aussteigen!« erwachte der Lieutenant Théodule.

»Richtig! Hier steige ich ja auch aus!« brummte er noch schlaftrunken.

Dann, als er allmählich muntrer wurde, und sein Gedächtniß wieder zu arbeiten begann, entsann er sich seiner Tante, der zehn Louisd’or und des Auftrags, den er bekommen, über Marius Thun und Treiben Bericht zu erstatten. Die Sache kam ihm komisch vor.

»Wer weiß, ob er noch im Wagen ist,« dachte er während er seine Toilette in Ordnung brachte. Er ist vielleicht in der Nacht, wer weiß wo ausgestiegen, und Tantchen kann ihm nachpfeifen. Aber was zum Teufel soll ich nun der guten, alten Schachtel schreiben?

In diesem Augenblick sah er durch die Scheibe des Kabriolettfensters ein Paar schwarz bekleidete Beine von dem Verdeck heruntersteigen. Es war Marius.

Unten erwartete ein Bauernmädchen die Reisenden und bot ihnen Blumen an.

»Meine Herren, kaufen Sie Blumen für Ihre Damen!«

Marius trat auf sie zu und kaufte ihr das Beste und Schönste ab, was sie hatte.

Théodule staunte.

»Nun fange ich wirklich an selber neugierig zu werden. Das muß ja was extra Feines sein. Diejenige, welcher mein Freund Marius solch ein famoses Bouquet verehrt. Die möchte ich sehen.«

Und nun folgte er Marius mit um so größerem Eifer, als er ein persönliches Interesse an der Suche hatte, wie ein Jagdhund, der auf eigene Rechnung ein Wild hetzt.

Marius seinerseits achtete nicht auf Théodule und sah nicht einmal einige elegante Damen an, die mit ihm aus der Diligence stiegen.

»Muß Der verliebt sein!« dachte Théodule.

Marius ging auf die Kirche zu.

»So ist’s recht!« meinte Théodule. »Mit ein bißchen Feierlichkeit gewürzt schmeckt ein Stelldichein um so pikanter. Unter Gottes Obhut liebt es sich noch mal so nett.«

Aber vor der Kirche angelangt, trat Marius nicht hinein, sondern ging um sie herum, bis er hinter einem Strebepfeiler der Apsis verschwand.

»Auch gut!« dachte Théodule. »Sie treffen sich draußen. Wenn ich nur die Schöne zu Gesicht bekomme!«

Und vorsichtig schlich er auf den Zehenspitzen bis an den Punkt, wo Marius verschwunden war.

An dieser Stelle blieb er plötzlich, fest gebannt von grenzenlosem Erstaunen, stehen.

Marius kniete schluchzend und die Stirn in beide Hände gedrückt, im Gras vor einem Grabe, das er mit Blumenblättern bestreut hatte. An dem Kopfende, das durch eine leichte Erhöhung gekennzeichnet war, sah man ein schwarzes Holzkreuz, auf dem mit weißen Buchstaben folgende Worte geschrieben standen: »Der Oberst Baron Pontmercy.«

Das war das »Mädel.«

Marmor und Granit

Hierhin hatte sich Marius begeben, als er das erste Mal von Paris wegreiste. Hierher kam er jedes Mal, wenn Gillenormand sagte: »Er schläft auswärts.«

Der Lieutenant Théodule verlor alle Fassung bei dem Anblick; ein ihm unerklärliches, ebenso unheimliches, wie eigenthümliches Gefühl überkam ihn, aber es war ein Gemisch von religiöser Andacht und Subordination. Der Tod trat ihm hier mit großen Epauletten gegenüber und es fehlte nicht viel, so hätte er ihn salutirt. Jedenfalls zog er sich respektvoll zurück und ließ Marius allein auf dem Kirchhof. Was sollte er nun aber der Tante melden? Vor lauter Verlegenheit beschloß er, ihr überhaupt nichts zu schreiben, und vielleicht hätte Théodule’s Entdeckung gar keine Folgen nach sich gezogen, wenn nicht das geheimnißvolle Spiel des Zufalls in Paris eine Nachwirkung des Vorfalls in Vernon herbeigeführt hätte.

Marius kehrte aus Vernon am dritten Tage in aller Frühe zurück, ging nach Hause, stieg rasch in sein Zimmer hinauf, legte seinen Reiserock und das schwarze Band, das er um den Hals trug, ab und ging ins Bad, um sich von den Strapazen der Reise und den beiden schlaflos in der Diligence zugebrachten Nächten zu erholen.

Gillenormand, der wie alle rüstigen, alten Leute früh aufstand, eilte, als er Marius Tritte auf der Treppe hörte, so schnell es ihm seine alten Beine gestatteten, zur Dachstube hinauf, um den Don Juan zu begrüßen und auszufragen.

Aber der junge Mann war zu flink gewesen für den achtzigjährigen Alten, und als Vater Gillenormand oben anlangte, war der Vogel schon wieder ausgeflogen.

Dagegen lagen auf dem unberührten Bett der Rock und das schwarze Band.

»Desto besser!« dachte Gillenormand.

Wenige Augenblicke später trat er mit einer Triumphatormiene, in der einen Hand den Rock, in der andern das Band, in das Zimmer ein, wo seine Tochter saß und Kabrioletträder auslanguettirte.

»Hurrah! Jetzt werden wir den Schleier lüften, jetzt kommen wir hinter seine Schliche. Hier ist der Schlüssel zu dem großen Geheimniß unseres Nachtbummlers. Ich habe das Porträt!«

An dem Band hing nämlich ein ledernes Etui, das einem Medaillon ähnlich war.

Ehe er das Etui aufmachte, betrachtete er es eine Weile so verzückt, so schwermüthig, so ärgerlich, wie ein armer Teufel, der gute Speisen riecht und weiß, daß er nichts davon abbekommen wird.

»Es ist ganz gewiß ein Porträt. Ich kenne mich aus. Solch ein Bildniß von seinem Liebchen trägt jeder dumme Junge auf dem Herzen. Wahrscheinlich irgend eine recht mittelmäßige Fratze, die ihn aber in Entzücken versetzt. Das junge Volk heutzutage hat ja keinen Geschmack!«

»So machen Sie doch, Vater!« drängte die alte Jungfer.

Als sie aber das Etui durch einen Druck auf die Knopffeder öffneten, fanden sie nur ein sorgsam zusammengefaltetes Stück Papier.

»Von Ihr an Ihn!« meinte Gillenormand und lachte. »Ich weiß schon, was das ist. Ein Liebesbrief.«

»Das wollen wir doch schnell lesen!« sagte die Tante und setzte schleunigst ihre Brille auf.

Sie entfalteten das Papier und lasen:

»An meinen Sohn. — Der Kaiser hat mich auf dem Schlachtfeld von Waterloo zum Baron ernannt. Da die jetzige Regierung mir diesen Titel, den ich mit meinem Blut bezahlt habe, streitig macht, so soll mein Sohn ihn annehmen und führen. Es versteht sich von selbst, daß er desselben würdig sein wird.«

Was Vater und Tochter empfanden, läßt sich nicht beschreiben.

Es war ihnen zu Muthe, als wenn ein Totenkopf sie eisig anhauchte. Sie tauschten kein Wort mit einander aus. Nur Gillenormand sagte leise und halb für sich.

»Das hat der Säbelraßler geschrieben.«

Die Tante sah sich den Zettel sorgfältig an, drehte ihn lange in der Hand herum und steckte ihn schließlich wieder in das Etui.

In dem Augenblick fiel ein langes viereckiges Packetchen, das in blaues Papier eingewickelt war, aus einer Tasche des Rockes; Fräulein Gillenormand hob es auf und nahm den blauen Umschlag ab. Es waren Marius’ Visitenkarten. Sie reichte eine ihrem Vater, und Dieser las: Baron Marius Pontmercy.

Der Greis klingelte. Nicolette kam. Gillenormand nahm Schnur, Etui und Rock, warf alles mitten im Zimmer auf den Fußboden und befahl:

»Tragen Sie den Plunder fort!«

Eine lange Stunde verging, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Der Alte und seine Tochter saßen mit dem Rücken gegen einander und hingen Jedes wahrscheinlich denselben Gedanken nach. Endlich rief die Tante:

»Eine nette Geschichte!«

Bald darauf kam Marius zurück. Noch hatte er die Schwelle des Zimmers nicht überschritten, als er sah, daß sein Großvater eine von seinen Visitenkarten in der Hand hielt, und in demselben Augenblick redete ihn Dieser auch schon mit grimmigem, vernichtendem Hohne an:

»Sieh da! Sieh da! Du bist jetzt Baron. Ich gratulire Dir. Was soll das heißen?«

Marius erröthete leicht und antwortete:

»Das soll heißen, daß ich der Sohn meines Vaters bin.«

Gillenormand lachte nicht mehr und antwortete mit harter Stimme:

»Dein Vater bin ich!«

»Mein Vater,« entgegnete Marius mit niedergeschlagenen Augen und finsterer Miene, »war ein bescheidener und heldenhafter Mann, der Frankreich und der Republik mit Ehren gedient, der einen ruhmvollen Antheil an den größten Ruhmesthaten der Weltgeschichte genommen, der ein Vierteljahrhundert im Bivouac gelebt, bei Tage sich den Kartätschen, bei Nacht dem Schnee, dem Regen ausgesetzt, der zwei Fahnen erobert, zwanzig Wunden erhalten hat, der im Elend und in der Vergessenheit gestorben ist und der nur darin gefehlt hat, daß er zwei Undankbare, sein Vaterland und mich, zu sehr geliebt hat.«

Dies war mehr, als Gillenormand geduldig anzuhören im Stande war. Bei dem Wort Republik war er aufgestanden und hatte sich hoch aufgerichtet. Marius Worte hatten auf ihn dieselbe Wirkung hervorgebracht, als wenn ein Blasebalg Kohlen entflammt. Anfangs düster, war er roth und röther geworden.

»Marius!« schrie er. Ich weiß nicht, was für ein Mann Dein Vater war, Du abscheulicher Junge! Ich will es auch nicht wissen. Ich weiß es, weiß es absolut nicht. Aber das weiß ich, daß alle jene Menschen lauter Gesindel gewesen sind! Alle waren Lumpe, Mörder, Revolutionäre, Diebe. Wohl gemerkt, Alle. Ich kenne Keinen von ihnen. Aber Alle waren Kanaillen. Verstanden Marius? Du bist solch ein Baron, wie meine Nachtmütze einer ist. Alle waren Banditen, die Robespierre, Räuber, die Buonaparte gedient, Schufte, die ihren rechtmäßigen König verrathen, verrathen, verrathen haben! Alle waren Feiglinge, die bei Waterloo vor den Preußen und Engländern ausgekniffen sind! Das ist, was ich weiß. Wenn Dein Herr Vater dabei war, »so weiß ich es nicht, so thut es mir leid; aber ich kann mir nicht helfen.«

Jetzt ging es Marius wie dem Feuerbrand, der durch einen Blasebalg in Flammengluth versetzt wird. Er bebte an allen Gliedern, wußte nicht, wo er hin sollte. Ihm war zu Muthe, wie dem Priester, vor dessen Augen man die Hostie mit Füßen tritt, wie dem Fakir, dessen Götzenbild man anspeit. Es war doch nicht möglich, daß so etwas ungestraft in seiner Gegenwart gesagt werden durfte! Aber was thun? Sein Vater war geschmäht und beschimpft worden. Aber — von seinem Großvater. Wie den Einen rächen, ohne dem Andern zu nahe zu treten? Es war nicht daran zu denken, daß er seinen Großvater insultirte, und ebenso wenig, daß er für seinen Vater keine Rache nahm. Einerseits ein Grab, andererseits weiße Haare, die respektirt sein wollten. So stand er denn, während alle diese Gedanken in seinem Hirn herumwirbelten, wie ein Betrunkener da; endlich aber hob er die Augen auf, sah seinen Großvater fest an und schrie mit Donnerstimme:

»Nieder mit den Bourbons und dem dicken Schwein Ludwig XVIII.!«

Ludwig XVIII. war seit vier Jahren tot, aber das kümmerte ihn in seinem Aerger nicht.

Das Gesicht des Alten, das eben noch puterrot gewesen, wurde plötzlich noch weißer als die Haare auf seinem Kopfe. Er wandte sich nach einer Büste des Herzogs von Berry, die auf dem Kaminsims stand und verneigte sich würdevoll vor ihr. Dann ging er langsam und schweigend zweimal vom Kamin bis zum Fenster und vom Fenster bis zum Kamin, schweren Schrittes, so daß die Dielen krachten, als marschire eine steinerne Statue über sie hin. Das zweite Mal neigte er sich zu seiner Tochter nieder, die verdutzt und lautlos dem Wortkampf zugehört hatte und sagte, indem er sich zu einem ruhigen Lächeln zwang:

»Ein Baron wie der junge Herr da und ein Bürgerlicher wie ich, können nicht unter demselben Dache bleiben.«

Gleich darauf aber richtete er sich hoch empor, reckte den Arm nach Marius hin und schrie blaß, zitternd und in wildester Wuth:

»Fort mit Dir!«

Marius verließ das Haus sofort.

Am nächsten Tage sagte Gillenormand zu seiner Tochter: »Schicken Sie alle halbe Jahr dem wüthigen Burschen sechzig Pistolen und erwähnen Sie ihn nie in meiner Gegenwart.«

Denn er hatte noch einen großen Rest von Wuth zu verausgaben, und da er nicht wußte, wie er ihn los werden sollte, so redete er länger als drei Monate hindurch seine Tochter mit »Sie« an.

Ebenso wüthend war Marius gegangen. Und es kam noch ein Umstand hinzu, der seine Erbitterung verschärfte, einer von jenen unbedeutenden Zufällen, durch die häusliche Zwistigkeiten noch heftiger angefacht werden, ohne daß doch die feindlichen Parteien sich dadurch eines größeren Unrechts schuldig machen. Als nämlich Nicolette, auf Befehl des Großvaters, Marius »Plunder« eiligst in sein Zimmer hinauftrug, hatte sie, ohne es zu merken, — wahrscheinlich auf der dunklen Stiege des oberen Stockwerks — das Etui mit dem Zettel fallen lassen, und da es nicht wieder aufgefunden werden konnte, war Marius überzeugt, daß »Herr Gillenormand« — so nannte er ihn immer von jenem Tage an — »das Testament seines Vaters« ins Feuer geworfen habe. Er wußte die von dem Obersten hinterlassenen Zeilen auswendig, und folglich war, im Grunde genommen, nichts verloren. Aber der Zettel, die Handschrift waren Reliquien, an denen sein Herz hing. Warum hatte man ihm die geraubt?

Marius war gegangen, ohne anzugeben, wohin er sich wenden würde, ohne es selber zu wissen, mit dreißig Franken, seiner Taschenuhr, und einigen Kleidungsstücken in einem Reisesack. Dann hatte er ein Miethskabriolett auf Zeit genommen und sich aufs Gerathewohl nach dem Studentenviertel fahren lassen.

Was sollte nun aus ihm werden?

Die Freunde des A-B-C

Eine Gesellschaft, die beinah eine Rolle in der Geschichte gespielt hätte

Jene Zeit, die scheinbar ganz mattherzig war, hatte gewisse revolutionäre Regungen. Es war, als schwebe der Geist der Jahre 1789 und 92 wieder in der Luft. Die Jugend war gewissermaßen im Begriff, sich zu mausern. Die Menschen erlitten die Umwandlung, ohne daß sie es recht merkten, kraft des Vorrückens der Zeit. Jeder that, an der Stelle, wo er sich befand, einen Schritt vorwärts, so daß die Royalisten zu Liberalen, die Liberalen zu Demokraten wurden.

Wie das Meer während der Fluth doch an vielen Stellen etwas zurückgeht und Strudel bildet, so entstanden auch bei diesem geistigen Fortschritt hier und da recht sonderbare Verbindungen von Widersprüchen. Manche z.B. schwärmten zu gleicher Zeit für Napoleon und die Freiheit. Die Geschichte lehrt ja, daß eine jede Epoche ihre Illusionen hat, und daß politische Anschauungen gewisse Entwicklungsstadien durchlaufen müssen, ehe sie eine vernunftgemäße Form annehmen können. Uebrigens war der bonapartistische Liberalismus auch keine sonderbarere Verquickung unvereinbarer Gegensätze als der voltairische Royalismus.

Andere Parteien beflissen sich einer größern Konsequenz, hielten fest an einem Princip und begeisterten sich für das Recht. Sie liebten das Absolute und ahnten, daß Ideale einer unendlichen Zeit zu ihrer Verwirklichung bedürfen; das Absolute drängt z.B. vermöge seiner Starrheit den Verstand zu abstrakten Spekulationen und in grenzenlose Fernen. Nichts begünstigt so sehr den Hang zu Träumereien, als das Dogma, und nichts arbeitet der Zukunft wirksamer vor, als die Träumerei. Heute Utopie, morgen leibhaftige Wirklichkeit.

In Frankreich existirten damals noch nicht solche großen, geheimen Gesellschaften wie der deutsche Tugendbund und der italienische Carbonarismus; aber schon fing man an, das Staatsgebäude zu unterminiren. In Aix entstand die Cougourde; in Paris hatte man neben anderen Vereinen die Gesellschaft der Freunde des A-B-C.

Was waren das für Leute, die Freunde des A-B-C? Ein Verein, dessen angeblicher Zweck die Erziehung der Kinder war; in Wirklichkeit aber beschäftigten sie sich mit der Unterweisung der Erwachsenen. Erstrebten sie doch die Erlösung des Volkes aus seiner Erniedrigung.

Diese geheime, nicht sehr zahlreiche Gesellschaft versammelte sich in Paris in zwei Lokalen, von denen das eine die Schänke Corinthe, in einem Arbeiterviertel, nämlich in der Nähe der Centralmarkthalle, das andere, das Café Musain, bei dem Panthéon an dem Platz Saint-Michel, also in dem Studentenviertel, lag.

Die gewöhnlichen Zusammenkünfte der Freunde des A-B-C fanden in einem Hinterzimmer des Café Musain statt.

Dieser Raum, der mittelst eines langen Ganges mit dem öffentlichen Café in Verbindung stand, hatte zwei Fenster und einen Ausgang mit einer geheimen Treppe, die auf die kleine Rue de Grès hinausging. Hier wurde laut von allem Möglichen und leise von andern Dingen gesprochen. An der Wand war eine für die Polizei höchst verdächtige alte Karte von Frankreich zur Zeit der Republik angenagelt.

Die meisten Mitglieder der Gesellschaft waren Studenten, die übrigen Arbeiter. Beide Theile lebten in herzlichem Einvernehmen mit einander. Folgendes sind die Namen der Bedeutendsten unter ihnen, Derjenigen, die in einem gewissen Grade geschichtliche Persönlichkeiten gewesen sind: Enjolras, Combeferre, Jean Prouvaire, Feuilly, Courfeyrac, Bahorel, Lesgle oder Laigle, Joly, Grantaire.

Eine Leichenrede

Eines Nachmittags stand Laigle im Café Musain bequem an das Thürgesims gelehnt. Er sah aus wie eine Karyatide, die Ferien hat, denn nicht einmal an seinen Gedanken hatte er in dem Augenblick schwer zu tragen. Er sann nämlich ohne große Betrübniß über ein kleines Mißgeschick nach, das ihm vor zwei Tagen in der juristischen Fakultät widerfahren war, und das seine ziemlich unbestimmten Zukunftspläne wesentlich beeinflußte.

Während er seine Augen träge auf der Straße herumschweifen ließ, bemerkte er ein Kabriolett, das im Schritt über den Platz Saint-Michel gefahren kam. In diesem Wagen saß neben dem Kutscher ein junger Mann und vor ihm lag ein ziemlich großer Reisesack, an den eine mit großen, schwarzen Buchstaben beschriebene Karte angenäht war. Auf der Karte stand: Marius Pontmercy.

Als er diesen Namen las, richtete Laigle sich überrascht auf und redete den Fahrgast des Kabrioletts an:

»Herr Marius Pontmercy!«

Der junge Mann, der auch nachdenklich war, hob die Augen empor und hieß den Kutscher anhalten:

»Was wünschen Sie?«

»Sind Sie Herr Marius Pontmercy?«

»Gewiß!«

»Ich suchte Sie!«

»Wie so? Ich kenne Sie nicht.«

»Ich Sie auch nicht.«

Marius glaubte jetzt, er habe mit einem Spaßmacher zu thun, der Gefallen daran fände, die Leute auf offener Straße zu foppen, und runzelte, da er gerade nicht in der gemüthlichsten Laune war, die Stirn. Aber Laigle ließ sich dadurch nicht beirren und fuhr fort:

»Sie haben vorgestern das Kolleg geschwänzt.«

»Das ist möglich.«

»Sogar sicher!«

»Sie sind Student?« fragte Marius.

»Ja wohl, wie Sie. Vorgestern bin ich zufälliger Weise — man hat ja mitunter solche Einfälle — ins Kolleg gegangen. Der Professor verlas gerade die Namen. Die Herren sind, wie Ihnen bekannt sein wird, lachhaft strenge in dieser Hinsicht. Fehlt man das dritte Mal, so wird Einem die Immatrikulation annullirt, und sechzig Franken sind futsch.«

Jetzt fing Marius an, aufmerksam zu werden. Laigle erzählt weiter:

»Es war Blondeau, der gerade die Namen verlas. Sie kennen ja den spürnasigen Blondeau, der seine Freude daran hat, wenn er Einen abfassen kann. Tückischer Weise hatte er mit dem Buchstaben P. angefangen. Ich hörte aber nicht hin, da mein Name nicht mit einem P. anfängt. Alle Aufgerufenen waren da, zum größten Leidwesen des armen Blondeau, der keinen Einzigen streichen konnte, und schon lachte ich mir ins Fäustchen über seine schmerzliche Enttäuschung. Da ruft er mit einem Mal: Marius Pontmercy! Niemand antwortet. Voll freudiger Hoffnung ruft Blondeau lauter: Marius Pontmercy! und greift nach der Feder. Ich bin ein Gemüthsmensch und habe ein fühlendes Herz in der Brust, sage mir also: ›Aufgepaßt! Da kommt wieder mal ein wackerer Junge um seine Immatrikulationsgebühren. Der Betreffende ist kein fauler Kopp, kein Musterschüler, kein Ochsier, kein Pedant, sondern ein achtungswerter Faulpelz, ein gemüthlicher Bummler, der hübschen Mädchen nachläuft und vielleicht in diesem Augenblick bei meinem Liebchen weilt. Den muß ich retten und Blondeau nasführen.‹ Wie also der Herr Professor schon seine niederträchtige Feder in das Tintenfaß taucht und mit seinen Raubthieraugen im Auditorium herumsucht und zum dritten Mal ›Marius Pontmercy!‹ brüllt, antworte ich: ›Hier!‹ und verhüte so, daß Ihr Name gestrichen wird.«

»Bester Herr! …« stammelte Marius.

»Dafür habe ich daran glauben müssen!« schnitt ihm Laigle das Wort ab.

»Ich verstehe nicht.«

»O die Sache ist sehr einfach. Ich saß dicht beim Katheder, um antworten, und in der Nähe der Thür, um mich dann schleunigst drücken zu können. Aber Blondeau behält mich mit einer gewissen Konsequenz im Auge und springt — der Kerl muß einen extra feinen Riecher haben — zu dem Buchstaben L, meinem Buchstaben, über. Als er ›Laigle!‹ ruft, antworte ich: ›Hier!‹ Er aber sieht mich mit Tigersanftmuth an, lächelt und sagt: ›Wenn Sie Pontmercy sind, können Sie nicht Laigle heißen‹ und streicht meinen Namen von der Liste.«

»Herr Laigle, es thut mir schrecklich leid …« begann Marius, aber Dieser ließ ihn nicht ausreden:

»Vor allen Dingen gestatten Sie, daß ich eine gefühlvolle Lobrede auf Blondeau halte. Ich nehme an, er sei gestorben, was übrigens keine große Veränderung, keine nennenswerthe Abweichung von seinem jetzigen, lebenden Zustande bedeuten würde. Mager, blaß, kalt, steif ist er so wie so schon im höchsten Grade. Meine Leichenrede würde also ungefähr folgendermaßen lauten: Erudimini qui judicatis terram. Hier ruht Blondeau, Blondeau der Spürnasige, Blondeau Nasica, der gewaltige Disciplinarius, die Säule der Ordnung, der Schutzengel der Pünktlichkeit. Er war ein strenger, genauer, rechtschaffener Mann und ein großer Ekel. Gott hat ihn von der Liste der Lebendigen gestrichen, wie er mich von der Liste der Studenten gestrichen hat.«

Hier fiel ihm Marius wieder ins Wort:

»Ich bin ganz verzweifelt, daß ich …«

»Junger Mann,« unterbrach ihn Laigle, »lassen Sie Sich dies zur Lehre dienen und seien Sie künftig pünktlicher.«

»Ich bitte Sie wirklich tausendmal um Entschuldigung.«

»Setzen Sie Sich nicht mehr der Gefahr aus, daß Ihr Nächster geschwenkt wird.«

»Ich bin ganz verzweifelt …«

»Und ich hoch entzückt,« versetzte Laigle lachend. »Ich war schon auf der abschüssigen Bahn und wäre um ein Haar Advokat geworden. Davor hat mich nun die Streichung bewahrt. Ich verzichte auf die Triumphe der gerichtlichen Beredsamkeit. Ich werde keine Wittwen vertheidigen und keine Waisenkinder angreifen. Und dieses Glück verdanke ich Ihnen, Herr Pontmercy. Selbstredend werde ich Ihnen eine feierliche Dankvisite abstatten. Wo wohnen Sie?«

»In diesem Kabriolett.«

»Sie müssen über üppige Finanzen verfügen, daß Sie Sich solch ein Logis genehmigen können. Das kostet seine neuntausend Franken Miethe pro Jahr.«

Während Laigle dies sagte, kam gerade Courfeyrac aus dem Kafé.

Marius antwortete mit schwermüthigem Lächeln.

»Ich bin seit zwei Stunden in dieser Wohnung und würde sie herzlich gern verlassen, wenn ich nur wüßte, wo ich hin soll.«

»Herr Pontmercy, kommen Sie und wohnen Sie bei mir.«

»Ich verdiente eigentlich den Vorzug,« warf Laigle ein, »aber ich habe kein Heim.«

»Kutscher!« rief Courfeyrac und stieg in den Wagen, »fahren Sie nach dem Hotel der Porte-Saint-Jacques.«

Und am Nachmittag schon hatte Marius in einem Zimmer, das neben Courfeyrac’s Wohnung lag, Unterkunft gefunden.

Marius wundert sich

Binnen wenigen Tagen befreundete Marius sich mit Courfeyrac. Die Jugend verschmerzt alles Leid sehr schnell und lebt sich rasch in neue Verhältnisse ein. Marius athmete im Umgang mit Courfeyrac frei auf, was ihm ganz ungewohnt war. Diesem fiel es nicht ein, ihn über seine Vergangenheit neugierig auszufragen. In den Jahren liest man sich einander vom Gesicht ab, was man zu wissen braucht. Eines Morgens indeß fragte Courfeyrac ganz unvermittelt:

»Beiläufig gesagt, haben Sie eine politische Meinung?«

»Das wollte ich meinen!« erwiederte Marius beinah beleidigt.

»Was sind Sie?«

»Demokratischer Bonapartist.«

»Hm! Eine recht verschwommene Schattirung!«

Am nächsten Tage nahm Courfeyrac Marius nach dem Café Musain mit. Hier raunte er ihm zu: »Ich muß Sie in Fühlung mit der Revolution bringen,« führte ihn nach dem Vereinszimmer der Freunde des A-B-C und stellte ihn seinen Gesinnungsgenossen vor, mit den Worten: »Ein Lehrling,« was Marius nicht verstand.

In diesem Kreise empfing Marius mancherlei neue Anregungen. Bisher einsiedlerisch gewöhnt und auf den Verkehr mit seinen eigenen Gedanken beschränkt, wurde ihm ganz wirr im Kopfe, als mit einem Male eine Menge neuer, verschiedenartiger Meinungen um ihn herumschwirrten, auf ihn eindrangen und ihn zum Kampf herausforderten. Sie wirbelten oft seine eigenen Ideen so wild durch einander, daß es ihm schwer fiel, sich in seinem Kopf wieder zurecht zu finden. Als er von den Anschauungen seines Großvaters zu denen seines Vaters übergegangen war, hatte er geglaubt, nun habe er gewiß festen Boden unter seinen Füßen; jetzt aber wandelten ihn wieder Zweifel an, ob seine Ideenwelt nicht einer abermaligen Umgestaltung entgegengehe. Zweifel, bei denen es ihm ganz unbehaglich wurde.

Das Schlimmste war, daß es für seine kecken Freunde keine unantastbaren, feststehenden Wahrheiten zu geben schien. Furchtsam wie er in seinem Denken und Fühlen war, mußte er an verschiedenen Kühnheiten, die er jetzt zu hören bekam, Anstoß nehmen.

So las Jemand einst einen Theaterzettel vor, der die Aufführung einer klassischen Tragödie ankündigte. »Nieder mit der Tragödie der Philister!« rief Bahorel. Aber Combeferre erwiederte:

»Das ist nicht richtig, was Du da sagst, Bahorel. Wenn die Philister eine Vorliebe für die klassische Tragödie haben, so muß man ihnen das Vergnügen gönnen. Bedenke doch, daß die Natur sich auch dazu herbeiläßt Unvollkommenes neben Vollkommenem zu schaffen, z.B. die Ente, die Flügel hat und nicht fliegen kann, also eine Karikatur auf die wirklichen Vögel ist. Ich sehe also nicht ein, warum man unserer klassischen Tragödie, gegenüber dem antiken Drama das Existenzrecht absprechen will.«

Ein ander Mal kam Marius mit Enjolras und Courfeyrac durch die Rue Jean-Jacques-Rousseau.

Da faßte ihn Courfeyrac beim Arm und sagte: »Hut ab! Wir sind in der Rue Plâtrière, die jetzt Rue Jean-Jacques-Rousseau heißt, nach einem edlen Philosophen, der hier vor sechszig Jahren wohnte und anderen Leuten ihre Pflichten gegen ihre Kinder einschärfte, dagegen die Würmer, die er selber in die Welt setzte, ins Findelhaus brachte.«

Aber Enjolras verdroß der Hohn.

»Alle Achtung vor Rosseau! Der Mann verdient Bewunderung. Hat er seine Kinder verleugnet, so adoptirte er dafür das Volk.«

Ebenso sagte Keiner »der Kaiser.« Nur Jean Prouvaire nannte ihn bisweilen Napoleon; alle Andern bezeichneten ihn, wie die Royalisten, als Bonaparte und Enjolras gar als Buonaparte.

Ueber alles dieses wunderte sich Marius. Initium sapientiae.

Im Hinterzimmer des Cafè Musain

Eine von den Unterhaltungen zwischen den jungen Leuten, denen Marius beiwohnte und an denen er sich bisweilen betheiligte, machte einen tiefen Eindruck auf ihn.

Eines Abends waren wieder so ziemlich alle Freunde des A-B-C in dem Hinterzimmer des Café Musain versammelt, und weihevoll leuchtete ihnen die Argandische Lampe, die zur Feier des Tages angezündet war. Es wurde über alle möglichen Gegenstände gesprochen, ohne Eifer, aber mit desto mehr Lärm, Außer Enjolras und Marius, die still schwiegen, hielt Jeder eine Rede an Solche, die ihn anhörten, und an Andere, die ihm nicht zuhörten. Dergleichen Plaudereien unter guten Freunden sind wilde Tumulte, bei denen es sehr friedfertig und gemüthlich hergeht und wo es mehr auf Witz und Amüsement, als auf die Gediegenheit des Gesagten ankommt.

Weibliche Wesen durften das Hinterzimmer nicht betreten, mit Ausnahme von Louison, die das Geschirr und die Gläser des Café zu waschen hatte und von Zeit zu Zeit hier durchkam.

In der einen Ecke führte der schwer betrunkene Skeptiker Grantaire das Wort und predigte mit der ganzen Kraft seiner Lungen allerlei Sinn und Unsinn:

»Ich habe Durst. Sterbliche, laßt mich träumen, das Heidelberger Faß hätte einen Schlaganfall, und ich wäre einer von den zwölf Blutegeln, die ihm gesetzt werden müssen. Wie würde ich saufen, um das Leben zu vergessen. Denn das Leben ist eine scheußliche Erfindung. Es hat keine Dauer und keinen Wert. Das Leben ist ein halsbrecherisches Kunststück, eine Bühnendekoration mit wenig wirklichen Gegenständen. Das Glück gleicht einem alten, nur auf der einen Seite bemalten Blendrahmen. Der Prediger Salomo sagt: Alles ist eitel, und ich schließe mich der Ansicht dieses geehrten Vorredners, der vielleicht nie existirt hat, ehrerbietigst an. Die Null hat sich, da sie nicht nackt gehen wollte, mit Eitelkeit bekleidet. O Eitelkeit! Verhüllung des Nichtigen mit pomphaften Worten! Der Taschenspieler läßt sich Herr Professor nennen, der Seiltänzer ist ein Gymnast, der Boxer ein Pugilist, der Friseur ein Haarkünstler, ein Pferdejockel ein Sportsman, eine Assel ein Pterygibrancus. Die Eitelkeit hat wie das Tuch zwei Seiten: die rechte, die den Neger mit seinen Glaskorallen vorstellt, ist dumm; die linke, der Philosoph, der sich auf seine Lumpen was einbildet, geckenhaft. Ich muß über den Einen Thränen vergießen und über den Andern mich tot lachen. Was man Ehren und Würden nennt, ja auch Ehre und Würde, sind gewöhnlich aus Talmigold. Die Fürsten haben Recht, wenn sie mit der Eitelkeit der Menschen ihren Spaß treiben. Caligula ernannte ein Pferd zum Konsul, und Karl II. schlug einen Lendenbraten zum Ritter. Habt Ihr Lust neben dem Konsul Incitatus und dem Ritter Roastbeef mit vornehmen Gewändern zu prunken? Ich nicht! Was den innern Wert der Menschen betrifft, so ist damit auch nichts los. Hört Euch mal die Loblieder an, die Einer gegen den Andern losläßt. Weiß ist auf Weiß schlecht zu sprechen. Wie würde die Lilie, wenn sie reden könnte, die Taube heruntermachen! Ein Frommer, der von einem Mucker spricht, ist giftiger als eine Natter. Schade, daß ich ein unwissender Mensch bin; ich würde sonst eine Menge Beweise citiren können; aber mein Hirn ist nun einmal mit Thatsachen recht schlecht möblirt. Seine natürliche Beschaffenheit freilich ist eine ganz gute. Als ich z.B. bei dem Maler Gros als Lehrling arbeitete, war ich gescheidt genug, statt mit Klecksereien dem lieben Gott die Zeit, lieber in den Gärten der Nachbarn Aepfel zu stehlen. Mehr ist aber nicht los mit mir, und Ihr seid nicht mehr wert als ich. Ich huste auf Eure Vorzüge, Tugenden und Vollkommenheiten. Jede Tugend schweift in ein Laster aus. Die Sparsamkeit gränzt an den Geiz; die Freigebigkeit schlägt in Verschwendung um; der Tapfere ähnelt sehr dem Bramarbas; sehr fromm bedeutet beinah dasselbe, wie muckerisch; kurz, die Tugend hat so viel Fehler, wie Diogenes’ Mantel Löcher hatte. Wen bewundert Ihr, den, der getötet wird, oder den, der tötet, Caesar oder Brutus? Gewöhnlich lobt man Denjenigen, der mordet. Es lebe Brutus, denn er hat getötet! Das nennt man die Tugend. Ein sehr dummes Ding, die Tugend! Außerdem haben die großen Männer doch auch recht häßliche Flecken auf ihrem blanken Ehrenschild. Der Brutus, der Caesar umbrachte, war in eine Knabenstatue verliebt. Diese Statue war ein Werk des griechischen Bildhauers Strongylion, desselben, von dem auch Nero’s Lieblingsstatue, die Amazone Euknemos oder die Schönbeinige herrührt. Dieser Strongylion hat nur diese beiden Werke hinterlassen, die Brutus und Nero in gleicher Weise befriedigten. Ueberhaupt ist die Weltgeschichte nur eine lange Wiederkäuerei. Ein Jahrhundert äfft das andere nach. Die Schlacht bei Marengo ist ein Abklatsch der Schlacht bei Pydna; Chlodwig bei Zülpich und Napoleon bei Austerlitz ähneln einander, wie zwei Blutstropfen. Ich halte nicht viel von Schlachtensiegen; der wahre Ruhm bestände darin, wenn man verstände, die Menschen zu überzeugen und klüger zu machen. Wenn man Beweise für irgend etwas auftriebe, das ließe ich mir gefallen! So aber begnügt Ihr Euch damit, Erfolge zu erringen. Wie mittelmäßig, wie erbärmlich sind diese Leistungen! Ach, überall herrscht Eitelkeit und Feigheit! Alles beugt sich vor dem Erfolg, sogar die Grammatik, die sich durch den gerade vorwiegenden Sprachgebrauch bestimmen läßt. Si volet usus, sagt Horaz, Von dem Menschengeschlecht also denke ich geringschätzig; wenn ich aber die Theile des großen Ganzen näher besehe, kann ich mein Urtheil auch nicht ändern. Soll ich etwa die Völker bewundern? Welches Volk z. B.? Die Griechen? Die Athener, die Pariser des Alterthums, brachten Phocion um, einen Coligny an Rechtschaffenheit, und schweifwedelten vor den Tyrannen, so daß Anacephorus von Pisistratus sagte: ›Sein Urin lockt die Bienen an.‹ Der geachtetste Mann in Griechenland war fünfzig Jahre lang der Grammatiker Philetas, ein winziges Männchen, das genöthigt war, Blei an seinen Schuhen zu tragen, damit der Wind es nicht umwehen oder mitnehmen konnte. Auf dem Hauptplatze von Korinth stand eine von Plinius als ein Meisterwerk bezeichnete Statue des Epistathius von Silanion. Womit hatte dieser Mensch eine solche Auszeichnung verdient? Mit der Erfindung des Beinstellens beim Ringkampfe. Nun wißt Ihr, was Griechenland samt seinen berühmten Männern wert gewesen ist. Gehen wir zu der Betrachtung anderer Völker über. Soll ich England, soll ich Frankreich für bewunderungswürdig erklären? Warum Frankreich? Wegen Athen? Was ich über die Athener denke, habe ich Euch eben auseinandergesetzt. England wegen London? Wer Karthago haßt, kann London nicht loben. Außerdem ist diese moderne Metropole des Luxus auch die Brutstätte des grausigsten Elends. Blos in dem Kirchspiel Charing-Croß sterben jährlich hundert Menschen Hungers. Da habt Ihr Albion. Das Tollste aber ist, daß ich eine Engländerin mit einem Rosenkranz auf dem Kopfe und einer blauen Brille auf der Nase habe tanzen sehen! Also pereat England! Kann ich mich aber, wenn ich John Bull nicht bewundere, mit Bruder Jonathan befreunden? Für Sklavenhalter mich begeistern, ist nicht meine Art. Was bleibt England Gutes, wenn man das Sprichwort Time is money abzieht? Was ist Amerika ohne seine Baumwolle wert? Deutschland ist dünnblütig, Italien gallig. Sollen wir für Rußland schwärmen? Voltaire that es, aber der bewunderte auch China. Ich gebe zu, daß Rußland seine guten Seiten hat, unter Anderm einen starken Despotismus. Aber die Despoten thun mir leid. Sie haben doch eine gar zu zarte Gesundheit. Ein Alexis, der enthauptet, ein Peter, der erdolcht, ein Paul, der erdrosselt, ein anderer Paul, der mit Fußtritten breit gequetscht, etliche Iwans, die erwürgt, mehrere Nikolaus’ und Wassili’s, die vergiftet worden sind, gestatten die Schlußfolgerung, daß die Luft in den Palästen der russischen Zaren ungesunde, der Langlebigkeit nichts weniger als förderliche, Elemente enthält. Alle Kulturvölker haben eine Eigenthümlichkeit miteinander gemein, die der Denker gefälligst bewundern soll, den Krieg. Was ist der civilisierte Krieg aber Anderes, als eine Summirung aller der Arten von Raub und Mord, die bei den verschiedenen barbarischen und wilden Völkern üblich sind? ›Na, Europa ist doch wenigstens besser als Asien!‹ werdet Ihr einwenden. Zugestanden, daß Asien ein putziges Land ist; aber ich vermag nicht einzusehen, mit welchem Recht Ihr über den Großlama lacht, Ihr Occidentalen, die Ihr bei all der Eleganz und Verfeinrung Eurer Modetrachten so viel Respekt vor fürstlichem Unrath hegt, vor dem schmutzigen Hemde der Königin Isabella sowohl, wie vor dem Nachtstuhl des Dauphins. Menschenkinder, es ist Alles Essig! In Brüssel wird das meiste Bier getrunken, in Stockholm der meiste Branntwein, in Madrid die meiste Chokolade, in London der meiste Wein, in Amsterdam der meiste Wachholder, in Konstantinopel der meiste Kaffee, in Paris ist’s im Großen und ganzen noch am besten. Hier sind sogar noch die Lumpensammler wahre Sybariten, und Diogenes wäre gewiß ebensogern Lumpensammler auf dem Platz Maubert gewesen, als Philosoph im Piräus. Freilich, ich als kiesätiger Epikuräer bin damit noch nicht zufrieden und schwelge für vierzig Sous bei Richard und wälze mich mit meiner Kleopatra auf persischen Teppichen. Ist hier vielleicht eine Kleopatra? Ach, Du bist’s Louison! Guten Abend.«

Während Grantaire auf diese Weise mit der Magd anbändelte, streckte Laigle die Hand gegen ihn aus und versuchte ihm Stillschweigen zu gebieten; der Betrunkene aber ließ sich nicht dadurch bewegen, die Schleusen seiner Beredtsamkeit zu schließen.

»Halt die Pfote herunter. Wenn Du Dich auch so würdevoll gebärdest, wie ein Hippokrates, als er die Schätze des Artaxerxes von sich wies, mir imponirst Du nicht. Erspare mir die Mühe mich zu beschwichtigen, Uebrigens bin ich traurig. Dagegen kann ich nun einmal nichts thun. Der Mensch ist eine stümperhafte Leistung der Natur, der Schmetterling ist ihr besser gelungen. Aus wieviel Häßlichkeiten besteht ein Pöbelhaufe! Das Weib vollends ist ein Ausbund von Gemeinheit und Erbärmlichkeit. Ach ja, ich habe den Spleen, bin melancholisch, hypochondrisch, tobe, wüthe, rase, gähne, langweile mich, daß ich aus der Haut fahren möchte.«

»Halt doch endlich den Rand!« schalt jetzt wieder Laigle, der über eine juristische Streitfrage diskutirte und eben seine unmaßgebliche Ansicht in einer langathmigen Periode zusammenfaßte.

Neben Grantaire steckten an einem stillen Tische zwei Schriftsteller die Köpfe zusammen und arbeiteten an einem Vaudeville.

»Erst die Namen,« meinte der Eine. »Handlung und Idee finden sich dann von selber.«

»Du hast Recht. Diktire. Ich will schreiben.«

»Herr Dorimon,«

»Rentier?«

»Selbstredend.«

»Seine Tochter Cölestine.«

»… tine. Weiter!«

»Oberst Sainval.«

»Ist ein zu abgedroschener Name. Ich dächte, wir sagen Valsin.«

Neben den angehenden Vaudevillisten benutzten einige Andere den ungeheuren Lärm, um heimlich über die Vorbereitungen zu einem Duell zu sprechen. Ein bemoostes Haupt ertheilte einem jungem Mann Rath und belehrte ihn, was für einem Gegner er gegenüberstehen würde.

»Der Teufel auch! Da müssen Sie die Ohren steif halten. Er versteht den Degen zu führen, hat Kraft im Handgelenk, Schneid im Angriff und parirt, daß es eine Art hat. Außerdem aber ist er ein Linker.«

In der Ecke, die Grantaire’s Sitz gegenüber lag, spielten Joly und Bahorel Domino und unterhielten sich über ihre Herzensangelegenheiten.

»Du Glücklicher« sagte Joly »hast ein Mädchen, das immer vergnügt ist.«

»Das ist sehr unschlau von ihr,« meinte Bahorel. »Auf die Weise macht sie Einem Lust sie zu hintergehen. Ist sie lustig, so macht man sich keine Gewissensskrupel und denkt, sie wird sich leicht trösten.«

»Du Undankbarer! Giebt’s was Angenehmeres als ein Mädel, das immer zu Spaß aufgelegt ist? Und nie zankt Ihr Euch!«

»Ja, das kommt von der Vertragstreue, die wir beobachten. Als wir unsere heilige Allianz schlossen, haben wir die beiderseitigen Befugnisse und Rechte mit einer Genauigkeit fest gelegt, an der sich eine Grenzregulirungskommission ein Beispiel nehmen könnte. Daher der ewige Friede zwischen uns.«

»Der Friede ist die Verdauung des Glücks.«

»Und Du, Joly, stehst Du noch immer auf gespanntem Fuße mit Mamsell … Du weißt ja, wen ich meine.«

»Sie schmollt mir mit grausamer Hartnäckigkeit.«

»Du bist aber doch von einer rührenden Magerkeit. So rede ihr doch vor, das käme von dem vielen Liebesgram.«

»Da würde ich sie nicht ganz belügen.«

»An Deiner Stelle würde ich sie links liegen lassen.«

»Ist bald gesagt!«

»Und bald gethan. Sie heißt ja wohl Musichetta?«

»Ja. Ach, liebster Bahorel, sie ist ein Prachtmädchen, gebildet, hat reizende Händchen und Füßchen, versteht sich geschmackvoll zu kleiden, ist quabblig, hat einen zarten Teint, Augen wie eine Kartenschlägerin … Na, kurz, ich bin rein vernarrt in sie.«

»Dann mußt Du ihr zu gefallen suchen, patent sein, zierlich die Füße setzen. Kaufe Dir bei Staub ein Paar Buckskinhosen. Der Stoff ist nachgiebig.«

In der dritten Ecke tobte ein Streit über die poetischen Vorzüge der heidnischen Mythologie und des Christenthums. Es handelte sich um einen Sturm auf den Olymp, den Jean Prouvaire, seltsamer Weise vom Gesichtspunkt des Romanticismus aus, vertheidigte. Obgleich für gewöhnlich blöde, redete er jetzt rückhaltlos und halb scherzhaft, halb begeistert:

»Schmähen wir nicht die Götter,« sagte er, »Sie sind vielleicht noch nicht von uns gegangen. Jupiter sieht mir keineswegs danach aus, als wäre er gestorben. Ihr sagt: ›Die Götter sind Wahngebilde.‹ Aber noch heute findet man in der Natur, nach der Flucht der Wahngebilde, Erinnerungen an die alten heidnischen Mythen. Mancher Berg mit einer Mauerkrone ist für mich eine Abbildung von Cybeles Kopfschmuck. Auch halte ich es noch nicht für bewiesen, daß nicht Pan des Nachts in hohle Weidenstämme bläst und die Löcher abwechselnd mit den Fingern zuhält.«

In der letzten Ecke wurde gekannegießert. Die Meisten kritisirten die kürzlich oktroyirte Verfassung. Combeferre vertheidigte sie, aber mit geringem Nachdruck, während Courfeyrac alle seine Geschütze gegen sie auffahren ließ. Behufs energischerer Bekräftigung seiner Behauptungen fuchtelte er mit einem unglücklichen Exemplar der berühmten Touquetschen Verfassungsurkunde in der Luft herum.

»Vor allen Dingen will ich von den Fürsten überhaupt nichts wissen. Schon aus Sparsamkeitsrücksichten. Ein König ist ein Schmarotzer. Das Königthum kommt uns teuer zu stehen. Merkt Euch folgende Thatsachen. Beim Tode König Franz I.@ belief sich die Staatsschuld auf dreißig Tausend Franken Rente; beim Tode Ludwigs XIV. auf zwei Milliarden sechshundert Millionen, was heutzutage zwölf Milliarden gleichkommen würde. Zweitens ist, was auch Combeferre dagegen einwenden mag, eine oktroyirte Verfassungsurkunde ein schlechtes Civilisirungsmittel. Einen allmählichen Uebergang aus der Monarchie in die Demokratie ermöglichen, die Nation vermöge der konstitutionellen Finten zur Freiheit erziehen, alles das sind hinfällige Argumente. Hüten wir uns und führen wir nicht das Volk hinter das Licht derartiger Sophismen. In dem Keller des Konstitutionalismus verkümmern die Principien. Nieder mit solchen Verhunzungen der Wahrheit und Gerechtigkeit! Nieder mit allen Vermittlungsversuchen! In allen oktroyirten Verfassungsurkunden findet Ihr Artikel, kraft deren der König jeden Augenblick sein Gnadengeschenk wieder zurücknehmen kann. Ich weise die Verfassung entschieden zurück. Sie ist eine Maske, hinter der sich eine Lüge versteckt. Eine Volk, das sich eine Verfassung gefallen läßt, verzichtet auf seine Freiheit. Nur vollständig ist das Recht das Recht. Keine Verfassung!«

Da es Winter war, brannten im Kamin einige Holzklötze. Das war eine Versuchung, der Courfeyrac nicht widerstehen mochte. Er zerknitterte das unglückliche Dokument und warf es ins Feuer. Combeferre sah mit philosophischer Gemüthsruhe das Meisterwerk Ludwigs XVIII. in Flammen aufgehen.

So bombardirten sich die jungen Leute gegenseitig in fröhlichster Weinlaune mit Scherzreden, humorvollen Einfällen, prickelnden Witzen, guten und schlechten Gründen, bis plötzlich das Gespräch einen ernsteren Charakter annahm.

Eine Erweiterung des Horizonts

Wenn Ideen auf einander platzen, kann man nie voraussehen, was für Funken daraus entstehen, wohin der Blitz sich wenden wird. Immer aber sind die Uebergänge plötzliche, unvermittelte. Auf Rührung folgt Gelächter, der Ulk führt den Ernst ein. Die Impulse hängen von der ersten, besten Aeußerung ab, von der augenblicklichen Laune jedes Einzelnen, vom Zufall. Dergleichen Unterhaltungen gleichen Wegen mit starken Biegungen, wo der Ausblick sich fortwährend ändert.

Mitten in dem allgemeinen Lärm beendete plötzlich Laigle eine Widerlegung Combeferre’s mit den Worten:

»Bei Waterloo am 17. Juni.«

Bei der Erwähnung dieses denkwürdigen Tages nahm Marius, der bisher theilnahmlos bei einem Glas Wasser da gesessen hatte, die Hand unter dem Kinn weg und faßte die Sprechenden scharf ins Auge.

»Bei Gott,« rief Courfeyrac, »Achtzehn ist eine besondere Zahl, die Einem zu denken geben kann. Sie spielt eine Rolle in Bonaparte’s Leben. Mit dem 18. Brumaire begann seine Alleinherrschaft und als es mit ihm vorbei war, kam Ludwig XVIII. Sein Anfang und sein Ende bezeichnet dieselbe Zahl.«

»Ja, oder das große Verbrechen, das er begangen, und die Sühne, die er dafür geleistet hat,« fiel hier Enjolras ein, der bis dahin geschwiegen hatte.

Das Wort Verbrechen ging über das Maß hinaus, das Marius vertragen konnte.

Er erhob sich von seinem Sitze, ging langsam auf die Wandkarte von Frankreich zu, hielt den Zeigefinger auf eine Ecke, wo man eine Insel abgebildet sah, und sagte:

»Corsica, eine kleine Insel, die Frankreich groß gemacht hat.«

Diese Worte wirkten wie ein eisiger Windhauch. Alle schwiegen und hörten ihm zu. Jedermann fühlte, daß eine gewichtigere Erörterung im Anzuge war.

Selbst Bahorel, der sich eben zu einem Angriff auf Laigle vorbereitete und schon, um ihm zu imponiren, eine sieghafte Positur angenommen hatte, hielt inne, um zuzuhören.

Aber Enjolras, dessen blaue Augen auf Niemanden gerichtet waren und in das Leere schauten, antwortete, ohne Marius anzusehen:

»Frankreich bedarf keines Korsika, um groß zu sein. Frankreich ist groß, weil es Frankreich ist. Quia nominor leo.«

Marius war nicht in der Laune nachzugeben. Er wandte sich an Enjolras und sprach mit glühender, vom Herzen kommender Begeisterung:

»Das wolle Gott nicht, daß ich Frankreich herabsetze! Aber das thue ich ja auch nicht, wenn ich behaupte, daß Napoleon und Frankreich eins sind. Jetzt erlaubt, daß ich mich über diesen Punkt des weiteren auslasse. Ich bin ein Neuer unter Euch, aber ich muß gestehen, daß ich mich über Euch wundere. Weß Geistes Kinder seid Ihr? Und wie stehe ich mich mit Euch? Sprechen wir über den Kaiser. Ihr nennt ihn Buonaparte, mit u, wie die Royalisten, beinah wie mein Großvater, der den Namen zum Spott ganz italienisch ausspricht. Aber Euch hielt ich für junge Leute. Wie bethätigt Ihr denn Eure Begeisterungsfähigkeit? Was macht Ihr damit? Wen bewundert Ihr denn, wenn nicht den Kaiser? Verlangt Ihr noch mehr von einem Menschen? Wenn Ihr Diesen nicht als großen Mann anerkennt, wer ist denn noch groß in Euren Augen? Er besaß aber doch alle Vollkommenheiten, alle höchsten Fähigkeiten, war ein ganzer Mann. Er gab Gesetze wie Justinian; diktirte Briefe wie Caesar; war im Gespräch schlagfertig wie Pascal und gewichtig wie Tacitus; that weltgeschichtliche Großthaten und war sein eigener Geschichtsschreiber; verfaßte Schlachtenberichte, die sich wie Epen lesen; verstand mit Zahlen umzugehen wie Newton und mit schwungvollen Metaphern wie Muhammed; überbot in Tilsit Könige und Kaiser in der Majestät des Auftretens; nahm es in der Akademie der Wissenschaften mit dem großen Astronomen Laplace auf; hielt im Staatsrath Merlin die Stange; war so sparsam, daß er selber einkaufen ging und handelte; sah Alles, wußte Alles und verstand trotzdem harmlos, wie ein Mann aus dem Volke, an der Wiege seines Söhnchens zu lächeln. Plötzlich aber hörte das erschrockene Europa Armeen marschiren; Geschütze rollten; Schiffsbrücken fügten sich zusammen; Reitermassen stürmten dahin; Feldgeschrei und Trompeten erklangen; die Fürstenthrone erbebten; Grenzen verschoben sich auf der Landkarte; ein gewaltiges Schwert flog rasselnd aus der Scheide, am Horizont richtete Er sich auf. Blitze in der Hand und in den Augen, und entfaltete im Sturme, ein Erzengel des Krieges, seine beiden Fittiche, die große Armee und die alte Garde!«

Alle schwiegen, und Enjolras senkte den Kopf. Wer stillschweigt, scheint aber beizustimmen, sich für besiegt zu erklären. Deshalb fuhr auch Marius, fast ohne Athem zu schöpfen, mit verdoppeltem Enthuasiasmus fort:

»Seien wir gerecht, Freunde! Welch ein herrliches Loos für ein Volk, wenn es einen solchen Kaiser hat, wenn dieses Volk das französische ist und sein Genie mit dem Genie eines Napoleon verbindet. Kommen und siegen, in die Hauptstädte aller Länder triumphirend einziehen; aus Grenadieren Könige machen, im Sturmschritt Europa umwandeln; Gottes Zwecken dienen, wenn man den Degen zieht; einem Feldherrn folgen, der Hannibal, Caesar und Karl der Grosse in einer Person ist; das Volk eines Mannes sein, der jeden Morgen einen neuen herrlichen Sieg zu melden hat; die Weltherrschaft besitzen nach dem großen Römervolk; die große Nation sein und die große Armee geschaffen haben, die Welt doppelt besitzen, als Eroberer und kraft der Bewunderung, die man einflößt — das ist etwas Erhabenes; und giebt es etwas Größeres?«

»Die Freiheit!« rief Combeferre.

Jetzt senkte Marius den Kopf zu Boden. Wie eine scharfe Stahlklinge war ihm dies einfache Wort in die Seele gedrungen und hatte seine schwungvolle Begeisterung ertötet. Als er dann nach einer Weile die Augen aufhob, war Combeferre nicht mehr da. Zufrieden wahrscheinlich mit der schlagfertigen Antwort, die er dem Marius’schen Dithyrambus entgegen geschleudert, war er fortgegangen, und Alle mit Ausnahme von Enjolras ihm gefolgt. Dieser, der nun mit Marius allein geblieben, sah ihn mit ernster Miene an. Marius aber, der jetzt seine Gedanken wieder beisammen hatte, betrachtete sich noch nicht als wiederlegt und schon schickte er sich an, die Argumente, die ihm im Kopf herumwirbelten, gegen Enjolras aufmarschiren zu lassen, als er plötzlich auf ein Lied aufmerksam wurde, das Jemand auf der Treppe sang. Es war Combeferre, und das Bruchstück des Textes, das Marius noch vernahm, lautete:

»Ich sprach: Herr Kaiser, behaltet Euer Geld;

Ich laß’ von meinem lieben Mütterlein

Nicht ab für alle Herrlichkeit der Welt.«

Die wilde Energie und Begeisterung, die Combeferre in den Vortrag des simpeln Liedes legte, machte einen seltsam feierlichen Eindruck auf Marius, der nachdenklich und die Augen zur Decke emporgerichtet, mechanisch wiederholte: »Mein liebes Mütterlein?«

In diesem Augenblick legte Enjolras die Hand auf Marius Schulter und sagte:

»Bürger, mein Mütterlein ist die Republik!«

Res angusta

Dieser Abend hinterließ in Marius Seele eine nachhaltige Erschütterung und eine dunkle Trauer. So ist vielleicht der Erde zu Muthe, wenn man sie mit der Pflugschar aufreißt und ihr das Samenkorn anvertraut; sie empfindet vorläufig nur den Schmerz der Wunde; die Daseinsfreude des Keimes und der Frucht kommt erst später.

Marius war mißgestimmt. Kaum, daß er sich eine Ueberzeugung gebildet hatte, so trat auch schon die Frage an ihn heran, ob er sie auch behalten dürfte. Er antwortete Ja, er wolle nicht zweifeln; fing aber doch schon an wider Willen zu zweifeln. Zwischen zwei Meinungen hin und her schwanken schien ihm unerträglich; Dunkel und Dämmerung gefallen nur Fledermausnaturen, und Marius Augen liebten es in das Licht der Wahrheit zu schauen. So gern er also auch bei seiner jetzigen Meinung geblieben wäre, er fühlte sich doch gedrungen, alles von Neuem zu prüfen, hinzuzulernen, in der Erkenntniß weiter zu schreiten. Was sollte aber daraus werden? Mußte er nicht, nachdem es ihm endlich gelungen war, seinen Vater zu verstehen, fürchten, daß er dem theuren Toten wieder entfremdet werden könnte? Das Unbehagen, das er bei diesem Gedanken empfand, wuchs bei jeder Betrachtung, die er anstellte, und immer deutlicher gähnte ihm eine Kluft entgegen, die ihn von der übrigen Welt trennte. Er stimmte ja weder mit seinem Großvater, noch mit seinen Freunden überein; für den Einen zu weit vorgeschritten, erschien er den Andern ein Reaktionär, und so fühlte er sich doppelt isolirt, dem Alter sowohl, wie der Jugend gegenüber. Demzufolge hörte er auch auf das Café Musain zu besuchen.

Ueber der Unruhe, in die ihn die Zweifel versetzten, vergaß er ernsthaft an die Erfordernisse des materiellen Lebens zu denken. Aber die Wirklichkeit läßt sich nicht ungestraft bei Seite schieben, und auch unserm Marius machte sie sich unangenehm fühlbar.

Eines Tages kam der Hotelwirt zu Marius und sagte:

»Herr Courfeyrac hat für Sie gut gesagt:«

»Ja wohl.«

»Ich möchte aber doch um Geld bitten.«

»Bitten Sie Courfeyrac, er möchte zu mir kommen.«

Als Courfeyrac herbeigeholt war, ließ der Wirt sie allein. Marius erzähle seinem Freund, was er bis jetzt unterlassen hatte, ihm mitzutheilen, daß er so zu sagen allein, ohne Verwandte, in der Welt da stand.

»Was wird aber aus Ihnen werden?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was gedenken Sie zu thun?«

»Das weiß ich nicht.«

»Haben Sie Geld?«

»Fünfzehn Franken.«

»Soll ich Ihnen welches leihen?«

»Auf keinen Fall.«

»Haben Sie Kleider?«

»Die hier.«

»Wertsachen?«

»Eine Uhr.«

»Eine silberne?«

»Eine goldne. Hier ist sie.«

»Ich kenne einen Kleiderhändler, der Ihnen Ihren Ueberzieher und ein Paar Beinkleider abnehmen würde.«

»Das würde mir konveniren.«

»Sie werden dann nur ein Paar Beinkleider, eine Weste, einen Hut und einen Rock übrig behalten.«

»Und meine Stiefel.«

»Was? Sie brauchen nicht barfuß zu gehen? Sind Sie aber reich!«

»Ich habe, was ich brauche.«

»Ich kenne einen Uhrmacher, der Ihnen Ihre Uhr abkaufen würde.«

»Gut.« »Nein, das ist nicht gut. Was werden Sie nachher anfangen?«

»Jede Arbeit annehmen, von der ich leben kann, wenigstens jede ehrliche Arbeit.«

»Können Sie englisch?«

»Nein.«

»Deutsch?«

»Nein.«

»Schade!«

»Warum?«

»Ein Freund von mir, ein Verleger, giebt eine Art Konversationslexikon heraus, für das Sie deutsche und englische Artikel übersetzen könnten. So was wird schlecht bezahlt, aber man verhungert nicht dabei.«

»Dann werde ich englisch und deutsch lernen.«

»Und bis dahin?«

»Werde ich mich von dem Erlös meiner Kleider und meiner Uhr ernähren.«

Sie ließen den Kleiderhändler kommen, und er gab zwanzig Franken für Marius Sachen. Sie gingen zu dem Uhrmacher. Er kaufte die Uhr für fünfundvierzig Franken.

»Nicht übel!« sagte Marius zu Courfeyrac, als sie nach ihrem Hotel zurückkehrten. »Mit meinen fünfzehn Franken macht das jetzt achtzig.«

»Sie denken nicht an die Hotelrechnung!« bemerkte Courfeyrac.

»Ach richtig!«

Der Wirt präsentirte auch sofort seine Rechnung, die sich auf siebzig Franken bezifferte.

»Nun bleiben mir noch zehn Franken!« sagte Marius.

»O weh! Sie müssen während der Zeit, wo Sie englisch lernen, mit fünf Franken reichen, und während der Erlernung des deutschen dito fünf Franken. Da heißt es sich entweder mit dem Studium höllisch beeilen oder mit dem Geld kolossal haushälterisch umgehen.«

Währenddem gelang es auch der Tante Gillenormand, die im Grunde genommen eine gute Haut war, Marius’ Wohnung ausfindig zu machen, und eines Morgens, als er aus dem Kolleg nach Hause kam, fand er einen Brief seiner Tante nebst sechzig Pistolen, also sechshundert Franken in Gold, in einer versiegelten Schachtel vor.

Aber diese dreißig Louisd’or schickte er seiner Tante zurück und erklärte ihr in einem sehr höflich gehaltnen Schreiben, er besitze Existenzmittel und könne sich fortan allein durchbringen. Er hatte damals gerade drei Franken Vermögen.

Die Tante sagte dem Großvater nicht, daß Marius das Geld nicht angenommen habe. Sie fürchtete, der Alte würde sich noch mehr ärgern, und er hatte ja auch verboten, daß man in seiner Gegenwart von dem »wüthigen Bengel« sprechen solle.

Marius aber verließ das Hotel der Porte-Saint-Jacques, weil er keine Schulden machen wollte.

Die Vortheile des Unglücks

Marius im Elend

Das Leben zeigte nun unserm Marius ein sehr böses Gesicht und erlaubte ihm bald nur am Hungertuche zu nagen. Merkwürdig, was man Alles in solch einem Tuch eingewickelt finden kann! Tage ohne Brod, schlaflose Nächte, Abende ohne Beleuchtung, Mangel an Heizmaterial, Arbeitslosigkeit, eine hoffnungslose Zukunft, Löcher am Ellbogen, schäbige Kleider, über die sich die lieben Nächsten mokiren, Exmittirungen, weil man seine Miethe nicht bezahlt hat, unverschämte Bemerkungen des Portiers und Restaurateurs, Demütigungen, Kompromisse mit dem Ehrgefühl, Bereitwilligkeit die unwürdigsten Beschäftigungen zu übernehmen, Lebensüberdruß, Bitterkeit, Verzweiflung. Dies Alles lernte Marius herunterschlucken, sintemalen er sonst absolut nichts zu schlucken hatte. In jenen Jahren, wo der Mensch der Selbstachtung und Eitelkeit nicht entrathen kann, weil er der Liebe bedarf, fühlte er sich zurückgesetzt, weil er schlecht gekleidet, und lächerlich, weil er arm war. In dem Alter, wo die Jugend das Herz mit einem Kaiserstolz schwellt, fielen seine Augen so manches Mal auf seine zerrissenen Stiefel und er lernte die unverdiente Schmach und die peinliche Scham des Elends kennen. Eine herrliche und furchtbare Probe, aus der die schwachen als Schurken, die Starken als Helden hervorgehen; ein Schmelztiegel, in den das Schicksal einen Menschen wirft, wenn es einen Lump oder einen Halbgott braucht.

Denn in kleinlichen Kämpfen werden oft herrliche Großthaten vollbracht. Es giebt so manchen Tapfern, der sich hartnäckig gegen den heftigen Ansturm der Entbehrungen und Erbärmlichkeiten vertheidigt; herrliche Triumphe, die kein Lob, kein Ruhm, kein Trompetentusch belohnt. Die Armuth, die Vereinsamung sind Schlachtfelder, die auch ihre Helden haben, unbekannte Helden, die aber mehr Seelengröße besitzen, als mancher berühmte Held.

Gegen charakterfeste Ausnahmemenschen erweist sich die Armuth, die gegen alle Andern eine Stiefmutter ist, als eine richtige, gütige Mutter; sie stärkt sie, macht sie stolzer und hochsinniger.

Es kam in dem Leben unseres Marius eine Zeit, wo er selber seinen Flur fegte, wo er sich mit einem Stückchen Käse einen Tag über behelfen mußte, wo er bis zur Dämmerung wartete, um sich wie ein Dieb zum Bäcker zu schleichen und ein Brödchen zu kaufen. Bisweilen sah man in dem Schlächterladen an der Ecke neben den Köchinnen, die ihn mit spöttischen Blicken musterten, einen linkischen, jungen Mann, der blöde und wüthend zugleich aussah, beim Eintritt in den Laden den Hut von seiner erhitzten Stirn abnahm, sich vor der erstaunten Schlächterfrau und abermals vor dem Gesellen tief verneigte, ein Hammelkotelett für sechs bis sieben Sous kaufte, es in Papier gewickelt zwischen die Bücher steckte, die er unter dem Arm trug und davonging. Es war unser Freund Marius. Von diesem Kotelett, das er sich selber briet, lebte er drei Tage lang.

Am ersten Tage aß er das Fleisch, am zweiten das Fett, am dritten nagte er die Knochen ab.

Tante Gillenormand machte zu verschiedenen Malen Versuche, ihn zur Annahme der sechszig Pistolen zu bewegen, aber immer vergeblich. Marius schrieb ihr immer, er brauche nichts.

Zu der Zeit, wo er das Haus seines Großvaters verlassen hatte, um ins Elend zu gehen, trug er noch die Trauerkleidung, die er zu Ehren seines Vaters angelegt hatte. Diese schwarzen Kleider behielt er noch lange nach der Beendigung der Trauerzeit, bis er sich wohl oder übel bequemen mußte, ihnen den wohlverdienten Abschied zu geben. Es kam der Tag, wo er sich nicht mehr mit seinem Rock auf die Straße wagte, während die Hose allerdings noch tragbar war. Was thun? Courfeyrac, dem er seinerseits verschiedene Gefälligkeiten erwiesen hatte, schenkte ihm einen alten Rock. Diesen ließ Marius von einem in dem Schneiderhandwerk einigermaßen bewanderten Portier wenden, so daß sich das Kleidungsstück als neu aufspielen konnte. Schade, daß es ein grüner Rock war. Aber Marius wußte sich zu helfen. Er ging immer erst, wenn es dunkel geworden war, aus. Auf die Weise sah, wie bei Nacht alle Katzen grau sind, Marius Rock schwarz aus, so daß er seinen Wunsch, stets Trauerkleidung zu tragen, befriedigen konnte.

Trotz all der Noth, die er durchmachen mußte, bestand er seine Examina und wurde in den Advokatenstand aufgenommen. Da er das »vorschriftsmäßige anständige Zimmer« nicht besaß, so wurde fingirt, daß er bei Courfeyrac wohne, der auch die nothwendige juristische Bibliothek besaß. Nach Courfeyrac’s Hotel ließ er auch alle seine Briefe adressiren.

Als Marius Advokat geworden, theilte er dies seinem Großvater in einem steifen, aber höflichen und korrekten Briefe mit. Gillenormand nahm zitternd den Brief in Empfang, las ihn, zerriß ihn dann in vier Stücke und warf ihn in den Papierkorb. Zwei oder drei Tage nachher hörte ihn dann Fräulein Gillenormand laut sprechen, ein Zeichen, daß er in heftiger Erregung war. Sie lauschte und vernahm die Worte: »Wenn Du kein Dummkopf wärest, würdest Du wissen, daß man nicht zugleich Baron und Advokat sein kann.«

Marius Armuth nimmt ab

Es ist mit dem Elend, wie mit manchen andern Dingen.

Man lebt sich hinein, es nimmt eine erträgliche Form an. Man vegitirt freilich nur, d.h. man entwickelt sich in einer kümmerlichen Weise, wobei aber doch das Leben noch möglich ist. Im Laufe der Zeit richtete sich Marius Pontmercy folgendermaßen ein.

Er brachte endlich die schmälste Stelle des Engpasses, den er zu durchwandern hatte, hinter sich und konnte jetzt, dank seiner großen Willenskraft, seinem rastlosen Fleiße, ungefähr sieben hundert Franken das Jahr verdienen. Er hatte deutsch und englisch gelernt und arbeitete, nachdem ihn Courseyrac mit seinem Freunde in Verbindung gesetzt, für Verlagsbuchhandlungen. Er verfaßte Prospekte, übersetzte Zeitungsartikel, schrieb Anmerkungen zu Bücherausgaben, kompilirte Biographieen u.s.w. Von dem Ertrage dieser Arbeiten konnte er einigermaßen leben. Nämlich aus folgende Weise:

Marius bewohnte in dem Gorbeauschen Hause für dreißig Franken pro Jahr einen kaminlosen Raum, der sich Kabinett schimpfte und an Mobiliar nur das Allerunentbehrlichste enthielt. Diese Möbel gehörten ihm. Ferner bekam die Vizewirtin drei Franken pro Monat, damit sie seine Bude fegte und ihm jeden Morgen etwas warmes Wasser, ein frisches Ei und für einen Sou Brod heraufbrachte. Das Brod und das Ei aß er zum Frühstück und gab dafür, je nachdem die Eier wohlfeil oder theuer waren, je zwei bis vier Sous aus. Um sechs Uhr Abends begab er sich nach der Rue Saint-Jacques und speiste bei Rousseau, Basset gegenüber, dem Kupferstichhändler, dessen Laden an der Ecke der Rue des Mathurins liegt. Auf die Suppe verzichtete er, aß ein Gericht Fleisch für sechs Sous, eine halbe Portion Gemüse für drei Sous, ein Dessert für drei Sous. Für drei Sous gab es dann noch so viel Brod, wie man essen wollte. Als Getränk diente ihm Gänsewein. Wenn er dann am Ladentisch, hinter dem die dicke und damals noch gut konservirte Frau Rousseau thronte, seine Rechnung bezahlte, gab er noch einen Sou Trinkgeld für den Kellner und erhielt von Frau Rousseau ein freundliches Lächeln. Dann ging er seiner Wege, für sechzehn Sous einmal gespeist und einmal angelächelt.

Dieses Restaurant Rousseau, das heute nicht mehr existirt, erfreute sich übrigens, weil man daselbst viel Karaffen Wasser und wenig Flaschen Wein konsumirte, also Nerven und Geldbeutel in gleicher Weise schonte, einer gewissen Berühmtheit. Sein Besitzer hatte einen schönen Spitznamen; man nannte ihn allgemein den Wasser-Rousseau. Also Frühstück — vier Sous, Abendessen — sechzehn Sous. Macht zwanzig Sous täglich für die Nahrung und dreihundertfünfundsechzig Franken das Jahr. Dazu die dreißig Franken Miethe, sechsunddreißig für Aufwartung und einige kleinere Ausgaben, so daß Lebensunterhalt, Wohnung und Bedienung sich auf vierhundertfünfzig Franken beliefen. Die Kleider kosteten ihm hundert, die Leibwäsche fünfzig Franken, die Waschfrau bekam fünfzig Franken. Summa Summarum nicht mehr als sechshundertfünfzig Franken. Es blieben ihm also noch fünfzig Franken, so daß er reich war und im Stande, Geld zu verborgen. So konnte Courfeyrac einmal fünfzig Franken von ihm leihen. Was die Heizung betrifft, so fiel dieser Posten weg, da er ja keinen Kamin hatte.

Marius besaß jetzt auch zwei vollständige Anzüge, einen alten, abgetragenen für gewöhnlich, und einen neuen für besondere Gelegenheiten. Beides waren schwarze Anzüge. Hemden hatte er nur drei, eins, das er auf dem Leibe trug; ein zweites lag in der Kommode; das dritte war bei der Waschfrau. Gewöhnlich waren sie entzwei, so daß er sich genöthigt sah, seinen Rock stets bis oben zuzuknöpfen.

Um so in Floribus leben zu können, hatte es jahrelanger unermüdlicher Arbeit und eiserner Konsequenz bedurft. Marius hatte sich auch nie der geringsten Schwäche schuldig gemacht, alle Entbehrungen geduldig auf sich genommen, alles gethan, was seine Lage erheischte, ausgenommen, daß er keine Schulden gemacht hatte. Geld schulden galt ihm als der Anfang der Knechtschaft. Ein Gläubiger, dachte er, ist schlimmer als ein Herr; dieser hat ja nur den Körper seines Sklaven in seiner Gewalt, ein Gläubiger kann auch unserer Würde zunahe treten. Ehe er Geld borgte, aß er sich lieber nicht satt, und auf diese Weise war er oft dazu gekommen, fasten zu müssen. In dem Bewußtsein, daß alle Extreme sich berühren und Armuth eine niedrige Gesinnung erzeugen kann, wachte er strenge darüber, daß er nie seiner Würde und Ehre das Geringste vergab. Manche Redewendung oder Handlung, die ihm in jeder andern Lebenslage als eine nichtssagende Höflichkeit erschienen wäre, unterließ er, weil sie ihm wie eine Speichelleckerei vorkam, und da er alle abschlägigen Antworten über die Maßen fürchtete, so war er, um nicht zudringlich zu scheinen, auch übertrieben blöde und zurückhaltend in seinem Wesen.

Die geheime Kraft, die er in sich verspürte, genügte auch vollauf, ihm Mut einzuflößen und ihn durch alle Prüfungen glücklich hindurchzutragen. Die Seele hilft dem Körper und hebt ihn sogar in gewissen Nöthen hoch empor. Sie gleicht nicht dem Vogel, der seinen Käfig nicht tragen kann.

Neben dem Namen seines Vaters stand noch in Marius Herzen ein anderer, Thénardiers, geschrieben. Schwärmerisch veranlagt wie er war, und stets geneigt, Illusionen für Wirklichkeiten zu halten, umgab er in Gedanken den unerschrocknen Sergeanten, der, wie er meinte, seinen Vater bei Waterloo aus dem Kugelregen herausgetragen hatte, mit einem Glorienschein. Wenn er an seinen Vater dachte, gesellte sich zu dieser Erinnerung stets der Name Thénardier, und neben dem großen Altar, den er in seinem Herzen dem Oberst errichtet hatte, stand ein kleinerer, der dem treuen Diener des Helden gewidmet war. Mit diesem Dankgefühl paarte sich noch mitleidige Rührung, seitdem er erfahren hatte, daß Thénardier von schwerem Unglück betroffen war. Er hatte auch Versuche genug gemacht, die verlorne Spur des bankerotten Gastwirts wieder aufzufinden, alle Ortschaften in der Nähe von Montfermeil durchstreift und abgesucht. Aber so hartnäckig er auch dieses Ziel verfolgte, und obgleich er seine geringen Ersparnisse dabei daraufgehen ließ, niemand konnte ihm sagen, was aus Thénardier geworden war. Nur glaubte man allgemein, er sei ausgewandert. Auch seine Gläubiger hatten ihm nachgeforscht, nicht mit so liebevoller Gesinnung wie Marius, aber ebenso hartnäckig, und hatten seiner nicht habhaft werden können. Marius war beinahe ärgerlich auf sich selber, daß er den Verschollenen nicht finden konnte. Blieb doch in Folge dessen die einzige Schuld, die der Oberst hinterlassen, und deren Bezahlung Marius für eine Ehrenpflicht hielt, unbezahlt. — »Als mein Vater,« dachte er, »auf dem Schlachtfeld blutete, hat Thénardier den Weg zu ihm zu finden verstanden; durch den Pulverdampf und von Kugeln umsaust, hatte er ihn auf den Schultern getragen, ohne daß er dazu verpflichtet war, und ich, der ich Thénardier zu so vielem Dank verpflichtet bin, ich sollte ihn nicht aus dem Elend retten, in dem er langsam zu Grunde geht, ihn nicht dem Glück, dem Leben wiedergeben können! Das wäre!« In der That hätte Marius, um Thénardiers Aufenthaltsort zu ermitteln, seinen rechten Arm und um ihn aus dem Unglück herauszuhelfen, all sein Blut hingegeben. Thénardier finden, Thénardier irgend einen Dienst erweisen, ihm sagen: »Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie! Verfügen Sie über mich!« war Marius lieblichster und herrlichster Traum.

Marius als Mann

Zu jener Zeit hatte Marius das zwanzigste Lebensalter vollendet. Es waren also drei Jahre verstrichen, seitdem er seinen Großvater verlassen hatte. Die Beziehungen zwischen den beiden waren dieselben geblieben. Keiner von Beiden hatte sich zu einer Annäherung herabgelassen, Keiner den Andern aufgesucht. Es wäre auch zwecklos gewesen. Marius war ein eherner, Gillenormand ein eiserner Kopf. Sie konnten nicht neben einander gehen, ohne sich gegenseitig zu stoßen und zu verletzen.

Indessen muß zugegeben werden, das Marius seinem Großvater in einer Hinsicht Unrecht that. Er bildete sich ein, Gillenormand habe ihn nie lieb gehabt; höchstens hätte der kurz angebundene, schroffe Alte, der ewig schimpfte, fluchte, wetterte, mit dem Stock drohte, eine ganz oberflächliche, jeglicher Einsicht und Nachsicht unfähige Zuneigung für ihn empfunden. Darin aber, wie gesagt, irrte sich Marius. Es giebt Väter, die gegen ihre Kinder gleichgiltig sind; aber keinen Großvater, der nicht seinen Enkel abgöttisch liebt. Auch Gillenormand liebte Marius, allerdings auf seine Weise, indem er ihn verschwenderisch mit Schimpfreden und sogar mit Püffen und Maulschellen regalirte; aber als der Liebling nicht mehr da war, fühlte der Alte eine grausige Leere in seinem Herzen. Er befahl ja wohl, daß man ihn nie erwähnen solle; bedauerte aber im Grunde seines Herzens, daß man ihm gehorchte. Anfangs hoffte er auch, der Buonapartist, der Jakobiner, der Terrorist, der Blutmensch werde kommen und klein beigeben. Aber es verging Woche auf Woche, Monat auf Monat und ein Jahr nach dem andern, ohne daß — zu Gillenormand’s Verzweiflung — der »wüthige Bengel« sich sehen ließ. »Ich konnte aber doch nicht anders, ich mußte ihn aus dem Hause jagen!« dachte er, fügte aber im Geheimen hinzu: »Ob ich es noch einmal thäte?« Sein Eigensinn antwortete dann sofort: »Ja.« Aber dabei schüttelte er traurig seinen alten Kopf und sagte schließlich: »Nein.« Er hatte Stunden, wo er ganz niedergeschlagen war, weil er Marius schmerzlich vermißte. Greise bedürfen ja der Liebe so gut, wie der Sonnenwärme. So stark und energisch seine Natur war, Marius Abwesenheit hatte ihn umgewandelt. Um nichts in der Welt wollte er dem »Schlingel« nachgeben; aber die Sache ging ihm sehr nahe. Er erkundigte sich nie nach ihm, dachte aber immerfort an ihn. Er lebte jetzt mehr und mehr von jeglichem gesellschaftlichen Verkehr abgeschieden, und war, wie ehedem zu Spaß aufgelegt und zum Jähzorn geneigt; aber seine Heiterkeit hatte etwas Gewaltsames, Krampfhaftes, und seine Zornanfälle gingen stets in milde und schwächliche Traurigkeit über. — »Möchte er doch wiederkommen!« rief er manchmal aus, »damit ich ihm mal eine gehörige Ohrfeige herunterhauen könnte!«

Was die Tante anbelangt, so dachte sie zu wenig, als daß sie einer großen Liebe hätte fähig sein können. Marius Bild verblaßte bald in ihrer Seele, und ihre Gedanken beschäftigten sich weniger mit ihm, als mit ihrer Katze oder ihrem Papagei.

Vater Gillenormand’s geheime Betrübniß wurde noch dadurch gesteigert, daß ungeschickte Vermittler das Gespräch auf Marius bringen wollten und fragten: »Was macht Ihr Herr Enkel?« — Aber dann antwortete der Alte nur: »Ich weiß nicht, wo der Herr Baron und Rabulist Pontmercy steckt.« Und dabei seufzte er, wenn er allzu trübsinnig war, oder knippste ein Stäubchen von seinem Rocke, wenn er sich den Anschein der Heiterkeit geben wollte.

Während der Greis Reue empfand, freute sich Marius darüber, daß sie sich von einander getrennt hatten. Wie alle guten Menschen, hatte auch ihn das Unglück von Bitterkeit befreit. Er hegte jetzt gegen Gillenormand nur Gedanken der Milde, war aber fest entschlossen, nichts mehr von dem Mann anzunehmen, der sich gegen seinen Vater so schlecht benommen. Soweit hatte sich jetzt seine erste Entrüstung abgeschwächt. Außerdem war er glücklich darüber, daß er schweres Unglück durchgemacht hatte und noch durchmachte. Litt er doch gern aus Liebe zu seinem Vater! Er sagte sich mit einer Art Freude, dies sei eine — noch sehr geringe — Buße, die er zu leisten schuldig sei; sonst würde er später eine weit härtere Strafe zu erdulden haben, dafür, daß er gegen seinen Vater, einen so trefflichen Vater, gleichgültig und pietätlos gehandelt habe. Es wäre nicht recht gewesen, wenn sein Vater immerfort und er niemals Leiden durchgemacht hätte, ganz abgesehen davon, daß seine Anstrengungen und Entbehrungen nicht im Entferntesten mit denen seines heldenmüthigen Vaters verglichen werden konnten. Endlich glaubte er, das einzige Mittel der Tüchtigkeit seines Vaters nahe zu kommen, bestände darin, daß er tapfer gegen das Elend sein müsse, wie Jener muthig auf dem Schlachtfeld war. Dies sei gewiß die Bedeutung der Aeußerung gewesen, die der Oberst über ihn gethan: »Er wird sich dieses Titels würdig zeigen,« Worte, die Marius noch im Herzen trug, nachdem die schriftliche Aufzeichnung seines Vaters längst verloren gegangen war.

Ferner war er damals, als sein Großvater ihn aus dem Hause gejagt, nicht viel besser als ein Kind; jetzt aber ein gereifter Mann und dessen war er sich bewußt. Auf edel veranlagte Jünglinge übt die Armuth die schöne Wirkung aus, daß sie ihren Willen zu den energischsten Anstrengungen, ihre Seele zu den höchsten Bestrebungen begeistert. Die Armuth zeigt das materielle Leben in seiner ganzen Blöße und Häßlichkeit und verweist uns auf die Ideale. Ein reicher, junger Mann hat vielerlei glänzende, geräuschvolle, rohe Zerstreuungen, Pferderennen, die Jagd, die Hunde, den Tabak, das Spiel, gutes Essen und Trinken u. s. w., alles Befriedigungen der unedlen Triebe auf Kosten der besseren, feineren. Der arme junge Mann muß sich anstrengen, um sein Brod zu verdienen, und hat er seinen Hunger gestillt, so bleibt für ihn kein anderes Vergnügen übrig, als seine Phantasie zu tummeln, seinen Gedanken nachzuhängen. Er besucht dann die unentgeltlichen Schauspiele, die Gott ihm zur Verfügung stellt; betrachtet den Himmel, den Raum, die Gestirne, die Blumen, die Kinder, die Menschheit, als deren Mitglied er dulden muß, die Schöpfung, zu deren Zierden er gehört. So innig betrachtet er die Menschheit, das er endlich die Seele, so innig die Schöpfung, daß er Gott schauen lernt. Er sinnt und denkt, da gelangt er zu dem Bewußtsein, daß er ein höher begabtes Wesen ist; sinnt und denkt er noch länger, so wird ihm die Einsicht zu Theil, daß die Liebe herrlicher ist als alle Vernunft. Von der Ichsucht des Unglücklichen geht er über zu dem verständnißvollen Mitgefühl des Denkers. Er vergißt sich und lernt Mitleid gegen Alle empfinden. Angesichts der zahllosen Genüsse, welche die Natur den offenen Gemüthern anbietet und schenkt, den erschlossenen aber verweigert, bedauert er, ein Millionär an Verstand, die Millionäre des Geldes. Der Haß zieht aus seinem Herzen aus in dem Maße, wie die Einsicht ihn erhellt. Ist er denn übrigens auch wirklich so unglücklich? O nein! Das Elend eines Jünglings ist kein Elend. So arm er auch sein mag, der reichste und vornehmste Greis beneidet ihn um seine Gesundheit, seinen lebhaften Gang, seine hellen Augen, sein warmes, rasches Blut, sein ungebleichtes Haar, seine vollen Backen, seine rosigen Lippen, seine weißen Zähne, seinen reinen Athem. Und während er Tag für Tag um sein Brot arbeitet, wird sein Rückgrat grader, sein Hirn reicher an Gedanken. So wird er charakterfest, heiter, milde, friedfertig, aufmerksam, ernst, genügsam, wohlwollend und dankt Gott für die beiden Schätze, die er ihm gespendet, die Arbeit, die ihn frei macht, und den Verstand, der ihm Tüchtigkeit verleiht.

Diese geistige Umwandlung hatte auch Marius erfahren. Ja, er hatte sich, offen gestanden, etwas zu sehr der Betrachtung zugewandt. Sobald er sich einen halbwegs sicheren Broderwerb erkämpft hatte, war er auf dem Wege stehen geblieben und hatte auf weitere Bestrebungen, sich aus der Armuth emporzuringen, verzichtet. Er entzog der Arbeit Zeit, um geistigen Freuden nachgehen zu können. D. h. er verträumte bisweilen ganze Tage und schwelgte in den stummen Wonnen der Begeisterung und Verzückung. Er betrachtete es jetzt als die Aufgabe seines Lebens, wie er es einrichten könne, daß er möglichst wenig materielle Arbeit zu leisten brauche, um möglichst viel geistig arbeiten zu können. Er merkte nicht, daß die Beschaulichkeit, so aufgefaßt, zu einer Form der Trägheit wird, daß er sich begnügte nur die elementarsten Bedürfnisse des Lebens zu befriedigen; und sich zu früh zur Ruhe setzte.

Offenbar bedeutete für eine so thatkräftige und hochherzige Natur dieser Seelenzustand nur einen Uebergang; sobald das Schicksal ihn zum Kampf rief, mußte Marius sich aufraffen.

Mittlerweile bemühte er sich, trotz Vater Gillenormand’s Vermuthungen, keineswegs sich eine Praxis als Advokat zu schaffen. Wozu sich solcher langweiligen Mühen unterziehen und seinen lieben Träumereien entsagen? Er sah nicht ein, warum er seinen bisherigen Broderwerb aufgeben sollte. Verdiente er doch, so viel er brauchte, und mit geringer Anstrengung.

Einer der Verleger, für die er arbeitete, ein Herr Magimel, wenn ich mich recht entsinne, machte ihm eines Tages das Anerbieten, er wolle ihm eine Wohnung in seinem Hause und fünfzehn hundert Franken jährlich geben, wenn er dafür eine bestimmte Arbeit leisten wolle. Das hörte sich ja ganz schön an. Aber seiner Freiheit entsagen, sich einem Chef unterordnen? Nach Marius Dafürhalten mußte er bei dieser Art seine materielle Lage zu verbessern seine moralische Würde, seine Selbstachtung einbüßen, und er lehnte das Anerbieten ab.

Marius hatte so gut wie gar keinen Umgang mit Menschen. Vermöge seiner Vorliebe für die Abgeschiedenheit, und weil man ihn von vornherein kopfscheu gemacht, hatte er sich dem politischen Verein, dem Enjolras vorstand, nicht angeschlossen. Die jungen Leute waren wohl gute Freunde geblieben und halfen einander gern, wenn sie konnten; aber das war auch alles. Marius hatte im Ganzen nur zwei Freunde, den jungen Courfeyrac und den alten Mabeuf. Für Letzteren empfand er eine größere Vorliebe. Verdankte er es Diesem doch, daß er seinen Vater besser kennen und lieben gelernt hatte, und daß er in ein neues Leben getreten war. »Er hat mich von der Blindheit kurirt, die meinen Geist umnachtete,« pflegte Marius zu sagen.

Freilich, Mabeuf hatte eine entscheidungsvolle Wendung in Marius’ Leben herbeigeführt, aber doch nur als ein unbewußtes Werkzeug in den Händen der Vorsehung. Ganz zufällig hatte er Marius Verstand aufgehellt wie ein Licht ein Zimmer erleuchtet, während das wahre Verdienst Demjenigen zukommt, der das Licht in das Zimmer gebracht hat.

Was Marius’ politische Sinnesänderung betrifft, so war Mabeuf ganz unfähig, eine solche zu begreifen, zu wollen, zu leiten.

Hierüber wollen wir, da Mabeuf noch weiterhin in unserer Geschichte eine Rolle spielen wird, einige ausführlichen Bemerkungen hinzufügen.

Mabeuf

Mabeuf waren, wie er gleich bei seiner ersten Begegnung mit Marius gesagt hatte, alle politischen Meinungen gleichgültig. Er hieß sie alle gut, wenn sie ihn nur zufrieden ließen, also aus demselben Grunde, der die alten Griechen bestimmte, die Furien, »schön, gut, liebenswürdig,« die »Eumeniden« zu nennen. Ein Steckenpferd aber hatte Mabeuf auch, das er mit nicht geringerer Begeisterung ritt, als Andere einem politischen System anhängen. Er schwärmte für die Pflanzen und noch mehr für Bücher.

Er begriff nicht, daß die Menschen ihre Zeit damit hinbrachten, sich wegen Alfanzereien, wie Verfassungsurkunden, Demokratie, Gottesgnadenthum, Republik u. s. w. zu hassen, während es doch auf der Welt Moose, Kräuter, Gräser, Sträucher gab, die sie bewundern, und Haufen von Folianten und Quartanten, in denen sie schmökern konnten. Dabei verstand er aber sich nützlich zu beschäftigen; daß er Bücher besaß, hinderte ihn nicht, sie mit Nachdenken zu lesen; obgleich Botaniker, betrieb er doch die Gärtnerei. Als er den Obersten Pontmercy kennen gelernt, waren sie gute Freunde geworden, weil sie ähnliche Bestrebungen hatten. Mabeuf betrieb die Obst-Kultur in derselben Weise, wie der Oberst die Pflege der Blumen. So war es Mabeuf gelungen eine köstliche Art Birnen zu erzeugen, die den Birnen von Saint-Germain nicht nachstanden. Desgleichen verdankt man ihm, wie es heißt, die berühmte Oktober-Mirabelle. — Zur Messe ging Mabeuf nicht so sehr aus Frömmigkeit als wegen seiner milden, friedfertigen Gemüthsstimmung, und weil er wohl gerne Menschen um sich sah, aber keinen Lärm leiden konnte und sie nur in der Kirche sich so still verhielten, wie er es wünschte. Demzufolge wählte er sich auch, da er einsah, daß der Mensch irgendwie dem Staate nützlich sein müsse, das Amt eines Kirchenvorstehers. Im Uebrigen hatte er es nie fertig gebracht, ein weibliches Wesen so innig zu lieben wie eine Tulpenzwiebel, oder einen Mann wie einen Elzevir. Er hatte schon längst das sechszigste Lebensjahr überschritten, als er eines Tages gefragt wurde: »Sind Sie nie verheiratet gewesen?« »Nein,« antwortete er, »auf den Gedanken bin ich nie gekommen.« — Sagte er gelegentlich, wie wohl Jeder von uns dies thut: »O wäre ich doch reich!« so gab nicht, wie bei Vater Gillenormand, der Anblick eines hübschen Mädchens Anlaß dazu, sondern irgend ein alter Schmöker. Er lebte allein mit seiner alten Haushälterin. — Er hatte eine »Flora der Umgegend von Cauterets« mit kolorirten Tafeln verfaßt und herausgegeben, ein ziemlich geschätztes Werk, zu dem er die Kupferplatten besaß, und das er selber verkaufte. An den zwei oder drei Exemplaren dieses Buches, die er täglich in seiner Rue de Mezières gelegenen Wohnung los wurde, verdiente er reichlich zweitausend Franken jährlich, ein Einkommen, das sein ganzes Vermögen ausmachte. Trotz dieser Beschränktheit seiner Mittel hatte er es zu Wege gebracht, indem er es sich viel Geduld, Entbehrungen und Zeit kosten ließ, sich eine vorzügliche Sammlung von allerhand seltenen Büchern anzulegen. Nie sah man ihn ohne eine Buch ausgehen, und oft kehrte er mit zweien heim. Den einzigen Zierrat der vier Parterrezimmer seiner Wohnung bildeten eingerahmte Herbarien und Kupferstiche von alten Meistern. Ebenso groß wie diese seine Vorliebe für Pflanzen und Bücher, war seine Abneigung gegen alles Kriegsgeräth. Bei dem Anblick eines Gewehrs oder eines Säbels überlief es ihn kalt. In seinem Leben hatte er sich nie eine Kanone aus der Nähe besehen, selbst die vor dem Invalidendom ausgestellten nicht.

Um das Jahr 1830 starb sein Bruder, der Pfarrer, und bald darauf verschlechterte sich Mabeuf’s materielle Lage in bedenklicher Weise. Der Bankerott eines Notars brachte ihn um eine Summe von zehntausend Franken. Dann führte die Julirevolution eine Krisis im Buchhandel herbei. Was aber in schlechten Zeiten am wenigsten Absatz findet, ist eine Flora. Auch nach Mabeufs »Flora der Umgegend von Cauterets« schwand Wochenlang alle Nachfrage. Jedes Mal, wenn es klingelte, fuhr Mabeuf in die Höhe, aber ach! es war gewöhnlich nur der Wasserträger. — Kurz, eines Tages sah sich Mabeuf genöthigt, seine Wohnung in der Rue Mézières zu kündigen, sein Amt als Kirchenvorsteher niederzulegen, der Kirche Saint-Sulpice Lebewohl zu sagen, einen Theil, nicht seiner Bücher, sondern der Kupferstiche, die er weniger hoch hielt, zu verkaufen und ein kleines Haus am Boulevard Montparnasse zu beziehen. Aber hier blieb er auch nur ein Vierteljahr wohnen, erstens weil das Erdgeschoß und der Garten dreihundert Franken Miethe kosteten, und er nur zweihundert dazu aufwenden wollte: zweitens, wegen der Nähe des Fatouschen Schießstandes, denn er konnte keine Pistolenschüsse hören.

Er siedelte also mit seiner »Flora,« seinen Kupferplatten, seinen Herbarien und Büchern in die Nachbarschaft der Salpêtrière, in eine Art Hütte des Dorfes Austerlitz, über, wo er für hundertfünfzig Franken jährlich drei Zimmer und ein Gärtchen nebst Brunnen hatte. Gelegentlich dieses Umzugs entledigte er sich fast aller seiner Möbel, ertrug aber diesen Verlust mit Gleichmuth. »Trösten Sie Sich!« sagte er zu seiner Haushälterin, die betrübt und nachdenklich dreinschaute. »Noch bleibt uns ja der Indigo.« Eins seiner Lieblingsideale war nämlich die Akklimatisirung des Indigos in Frankreich.

In dem Dorfe Austerlitz, ein Name, der ihn leider an Krieg, Mord und Lärm erinnerte, besuchte ihn nur ein befreundeter Buchhändler und Marius.

Uebrigens sind, wie wir schon angedeutet haben, die Menschen, die nur für eine vollständige oder eine thörichte Idee, oder für beides zugleich leben, der Wirklichkeit so vollkommen entfremdet, daß ihr eigenes Geschick sie nichts mehr angeht. Eine dermaßen auf einen Punkt gerichtete, intensive Geistesthätigkeit erzeugt eine Passivität, die der Gemüthsruhe des Philosophen ähnlich sehen würde, wäre sie eine Folge des Nachdenkens. Geräth das Glück solcher Leute auf eine abschüssige Bahn, so sind sie die Letzten, die es bemerken. Sie erwachen allerdings einmal aus ihrem Traumleben, gewöhnlich aber zu spät. Bis dahin schauen sie dem Spiel, dessen Einsatz ihr materielles Wohlergehen ist, ruhevoll zu.

So hatte er sich auch, trotzdem der Horizont seines Glücks sich mehr und mehr bewölkte und eine Hoffnung nach der andern ihn im Stich ließ, seine ganze, etwas kindliche Seelenruhe bewahrt. In seinem Hirn bewegten sich die Gedanken nach wie vor in derselben regelmäßigen Weise. Hatte er einmal seine geistige Maschine mittels einer Illusion in Gang gesetzt, so funktionirte sie noch lange Zeit, nachdem die Illusion geschwunden war, wie ein Uhrwerk auch nicht gerade in dem Augenblick stehen bleibt, wo der Besitzer der Uhr den Schlüssel dazu verliert.

Armuth und Elend halten gute Nachbarschaft

Marius hatte Gefallen an dem naiven Alten, der das Unglück langsam auf sich zuschreiten sah und wohl schon anfing, sich darüber zu wundern, aber die Gefahr noch nicht genug begriff, um sich Sorgen zu machen. Er suchte ihn geradezu auf, während er mit Courfeyrac nur sprach, wenn er ihm zufällig begegnete. Allerdings nur selten, höchstens ein oder zwei Mal monatlich.

Denn gewöhnlich zog er weite Spaziergänge auf den äußeren Boulevards, dem Champ de Mars oder in den einsamsten Alleen des Jardin du Luxembourg vor. Er verbrachte bisweilen einen halben Tag mit der Betrachtung eines Gemüsegartens hin, oder sah den Hühnern auf ihrem Misthaufen zu, oder blieb vor einem Paternosterwerk stehen. Die Vorübergehenden musterten ihn mit erstaunten Blicken, und Manche fanden, er hätte ein Hallunkengesicht und müsse ein gefährliches Subjekt sein. Dabei war er doch nur ein armer Teufel, der in zwecklosen Träumereien schwelgte.

Auf einem solchen Spaziergange hatte er auch das Gorbeausche Haus entdeckt und in demselben, da es ganz abgelegen und die Zimmer sehr billig waren, einen Wohnraum gemiethet. Man kannte ihn hier nur als Herrn Marius.

Einige ehemalige Waffengefährten seines Vaters hatten ihn, als sie Bekanntschaft mit ihm machten, eingeladen, sie zu besuchen. Marius ertheilte ihnen keine abschlägige Antwort. Bekam er doch so Gelegenheit, etwas von seinem Vater zu erfahren. Auf diese Weise suchte er von Zeit zu Zeit den Grafen Pajol, den General Bellavesne, den General Fririon auf. In den Salons dieser Herren wurde musicirt und getanzt. An solchen Abenden legte Marius seine Galakleider an. Aber er ging zu den Soireen nur, wenn es Stein und Bein fror, denn er konnte keine Droschke bezahlen und wollte, daß seine Stiefel spiegelblank bleiben sollten.

»Die Menschen,« bemerkte er bisweilen ohne irgend welche Bitterkeit, »sind doch nun einmal so, daß sie nur nach Äußerlichkeiten fragen. Wenn ihre Gäste kein reines Gewissen haben, so schadet das nichts, wenn nur ihre Stiefel rein und blank sind.«

Alle Leidenschaften, ausgenommen die Liebe, verflüchtigen sich, wenn der Hang zur Träumerei die Oberhand gewinnt. So milderte sich auch Marius Leidenschaftlichkeit in Bezug auf die Politik. Hierzu trug allerdings die Julirevolution i. J. 1830, die ihm Genüge that, viel bei. Anwandlungen von Zorn kannte er jetzt nicht mehr, obgleich er noch dieselben Meinungen hegte, wie früher. Aber er war sanfter und liebevoller geworden und hatte eigentlich keine politischen Meinungen mehr, sondern nur Sympathien. Zu welcher Partei er gehörte? Er hielt es nur mit der Menschheit im Allgemeinen und mit Frankreich im Besondern. Desgleichen beschäftigten sich seine Gedanken vorzugsweise mit dem unglücklichen Loose des Volkes und besonders der Frauen. In seinem jetzigen Gemüthszustande zog er eine Idee einer Thatsache, einen Dichter einem Helden vor und bewunderte das Buch Hiob noch mehr als ein großes Ereigniß, wie die Schlacht bei Marengo. Und wenn er des Abends nach einem in beschaulicher Betrachtung verbrachten Tage, die Boulevards entlang, heimwärts ging und durch das Gezweig der Bäume in grundlose Himmelstiefen und zu den Sternen emporschaute, schien ihm alles Menschlich recht geringfügig.

Ihn dünkte, — und vielleicht mit Recht — er habe jetzt die Wahrheit und die Tiefen des Lebens erkannt, und er beachtete nur noch den Himmel, das Einzige, was die Wahrheit, die in einem Brunnen wohnt, von der Welt sehen kann.

Bei alledem beschäftigte er sich viel mit Zukunftsplänen und Luftschlössern. Wer ihm auf den Grund der Seele hätte schauen können, wäre erstaunt gewesen über die Lauterkeit all der Träumereien, denen er nachhing. Nach seinen wachen Träumen kann man aber einen Menschen sicherer beurtheilen, als nach seinen Gedanken. Bei dem methodischen Denken betheiligt sich der bewußte Wille. Die spontanen Erzeugnisse unserer Phantasie dagegen werden, eine so gigantische und idealisirte Gestalt sie auch angenommen haben, durch die Eigenart unseres Geistes bestimmt und folglich kann man aus ihrer Art und Beschaffenheit sichrere Schlüsse auf den wahren Charakter eines Menschen machen, als wenn man von seinen mit Bedacht geordneten und nach einem bewußten Plan zusammengefügten Gedanken ausgeht.

Gegen die Mitte des Jahres 1831 erzählte Marius alte Vicewirtin ihm, seine Nachbaren, die arme Familie Jondrette, solle exmittirt werden. Marius, der fast alle Tage außer dem Hause zubrachte, wußte kaum, daß er Nachbarn hatte.

»Warum sollen sie auf die Straße geworfen werden?« fragte er.

»Sie sind ihre Miete schon zweimal schuldig geblieben.«

»Wieviel ist das?«

»Zwanzig Franken.«

Marius, der gerade dreißig Franken in einer Schublade zu liegen hatte, überreichte ihr fünfundzwanzig mit den Worten: »Hiermit bezahlen Sie die Miethe der armen Leute; die übrigen fünf Franken geben Sie ihnen und sagen Sie nicht, von wem das Geld kommt.«

Vl. Ein Ersatzmann

Der Zufall wollte, daß Lieutenant Théodule’s Regiment nach Paris versetzt wurde. Bei der Gelegenheit bekam Tante Gillenormand einen zweiten Gedanken. Hatte sie das erste Mal Marius Thun und Treiben von Théodule ausspionieren lassen, so trug sie sich jetzt mit dem Plane, Marius bei ihrem Vater durch Théodule zu ersetzen.

Jedenfalls war es rathsam für den Fall, daß der Großvater Sehnsucht nach einem jugendlichen Gesicht empfinden sollte — heitert doch das Licht der Morgenröthe Ruinen auf — einen zweiten Marius ausfindig zu machen. Dabei schien ihr die Sache so einfach, wie die Ausmerzung eines Druckfehlers: Marius — l. Théodule. Ein Urgroßneffe ist ja nicht sehr verschieden von einem Enkel, und in Ermanglung eines Advokaten kann man wohl einen Lanzenreiter nehmen.

Eines Morgens, als Gillenormand in die Lektüre seiner Zeitung vertieft war, trat seine Tochter in sein Zimmer und sagte mit ihrer sanftesten Stimme, denn es handelte sich ja um ihren Liebling:

»Papa, Théodule wünscht Ihnen diesen Vormittag seine Aufwartung zu machen.«

»Was für ein Théodule?«

»Ihr Urgroßneffe.«

»So?« sagte der Alte und las weiter, vergaß vollständig den ihm gleichgültigen Théodule und fand bald Veranlassung sich wüthend zu ärgern, was ihm bei der Lektüre seiner Zeitung oft genug passirte. Es war wieder einmal die Rede davon, daß die Studenten der Medizin und des Rechts am nächsten Tage um zwölf Uhr Mittags eine Versammlung auf dem Platz des Pantheon abhalten würden, »um zu berathen,« — Es handelte sich dabei um eine der vielen wichtigen Tagesfragen, um die Artillerie der Nationalgarde, und um einen Konflikt zwischen dem Kriegsminister und der Bürgermiliz wegen der auf dem Hof des Louvre untergebrachten Kanonen. Das Wort »berathen« genügte, um Gillenormand in Rage zu bringen.

Er dachte dabei an Marius, der ja auch Jurist war und wahrscheinlich mit den Andern auf dem Platz des Pantheon »berathen« würde. Gerade während ihm dieser widerwärtige Gedanke am meisten zusetzte, kam Lieutenant Théodule herein, in Civilkleidung, was sehr gescheidt war, und in Begleitung von Fräulein Gillenormand. Der Kavallerist hatte sich die Sache so überlegt: »Der Alte hat gewiß nicht sein ganzes Geld auf Leibrenten angelegt. Es wird sich ja wohl verlohnen, wenn man sich von Zeit zu Zeit in eine Civilkluft wirft.«

»Hier ist Théodule, Ihr Urgroßneffe,« sagte laut Fräulein Gillenormand zu ihrem Vater. Und mit leiser Stimme zu Théodule:

»Sage zu Allem Ja!«

Darauf ließ sie die Beiden allein.

Der Lieutenant, der einen ganz andern Verkehr gewöhnt war, als so uralte Herren wie Gillenormand, stotterte etwas verlegen: »Guten Morgen, Oheim!« und salutirte erst militärisch, besann sich aber rasch und beendete den Gruß mit einer Civilverneigung.

»Ach, Sie sind’s! Gut, setzen Sie Sich!« antwortete der Großvater und vergaß schon in demselben Augenblick seinen Gast, stand auf, während Jener sich setzte und ging im Zimmer auf und ab, wobei er laut ein wüthendes Selbstgespräch hielt und an den beiden Uhren in seinen Taschen nervös herumfingerte.

»Solche naseweisen Bengel! Das versammelt sich auf dem Platz des Pantheon! Gott erbarme sich! Lümmel, die kaum von der Muttermilch entwöhnt sind! Wenn man ihnen die Nase ausdrückte, würde Milch herauskommen! Und so was wird morgen berathen! Wie soll das werden? Wie soll das werden? Offenbar treiben wir einem Abgrund zu. Soweit haben uns die Ohnehosen und die Ohnehemden gebracht! Wollen da öffentlich über das Schießzeug der Nationalgarde quatschen! Und was für Leute werden noch dabei sein! Ich wette was Einer will, eine Million gegen einen Pfefferling, es werden sich nur noch ehemalige Zuchthäusler da einfinden. Republikaner und Verbrecher, Mus wie Miene, Hose wie Jacke. Carnot fragte: ›Wo soll ich hingehen, Verräther?‹ Und Fouché antwortete: ›Wo Du hin willst, Schafskopf!‹ Da hat man die Republikaner.«

»Sehr richtig!« fiel hier Théodule ein.

Gillenormand wandte sich halb um, sah Théodule und fuhr fort:

»Wenn man denkt, daß der Bengel so verrucht gewesen ist, unter die Carbonari zu gehen! Warum bist Du infamer Schlingel von hier weggegangen? Weil Du Republikaner werden wolltest. Du meine Güte! Will denn das Volk was von Deiner Republik wissen? Gott bewahre! Das Volk ist vernünftig; es weiß, daß es immer Könige gegeben hat und immer welche geben wird, daß das Volk schließlich doch nur das Volk ist, und pfeift auf Deine Republik. Verstanden, Du Heupferd? Solch ein scheußlicher, verrückter Einfall! Mit Vater Duchêne Brüderschaft saufen, mit der Guillotine liebäugeln, Romanzen gröhlen zu Ehren des Jahres 1793 — Nein, man könnte alle jungen Leute anspucken, so dumm sind sie! Und da ist einer wie der andere! Keiner, der von dem Blödsinn nicht angesteckt wäre. Heutzutage braucht man bloß die Luft auf der Straße zu athmen, so wird man verdreht. Das neunzehnte Jahrhundert steckt voller Gift. Der erste beste ungezogene Lümmel läßt sich ein Bocksbärtchen stehen, hält sich für was Rechtes und läßt seine alten Verwandten sitzen. So was nennt man Republikanismus und Romanticismus. Nun sage mir ein vernünftiger Mensch, was ist das. Romanticismus? Ein Haufen Unsinn ist es! Da rannte vor einem Jahre alles ins Theater und sah sich das ›Drama‹ Hernani an. Hernani! Antithesen, Scheußlichkeiten, die nicht Hand, nicht Fuß, nicht Stil haben! Dabei haben sie Kanonen auf dem Hof des Louvre. Solche Frechheiten erlebt man heutzutage!«

»Sie haben Recht, Oheim!« fiel Théodule wieder ein.

»Kanonen im Museum! Ihr wollt also auf die Statuen schießen? Was haben die Kartuschen mit dem Apollo von Belvedere und der mediceischen Venus zu thun? Nein, die jungen Leute heutzutage sind sämtlich Halunken, ausgenommen, die dumme Gecken sind. Da thun sie alles Mögliche, um greulich auszusehen, kleiden sich geschmacklos, sind blöde bei den Frauenzimmern und schleichen wie Bettler um sie herum, daß es zum Lachen ist. Auf Ehre! man könnte glauben, sie schämten sich der Liebe. Und solche dummen Jungen haben politische Meinungen. Die Polizei sollte alle politischen Meinungen streng verbieten. Sie ertifteln Verfassungen, modeln die Gesellschaft um, demoliren die Monarchie, schmeißen alle Gesetze über den Haufen, kehren das Oberste zu unterst, machen meinen Portier zum König, verhunzen ganz Europa, schaffen eine neue Weltordnung und sind froh, wenn sie zur Belohnung bei einem Festzuge die Waden einer Wäscherin von unten begucken können. Also Marius, also Du Lump, Du brüllst Reden auf öffentlicher Straße? Du debattierst, ergreifst Maßregeln? Gerechte Götter, sie nennen das Maßregeln! Daß Schuljungen öffentlich über die Nationalgarde berathen, würde ja nicht einmal bei den Hottentotten und Zulukaffern vorkommen. Solche halbwüchsigen Jungen schnacken klug und wollen kommandiren. Nein, nein, die Welt geht ihrem Untergang entgegen. Noch ein letzter Seufzer, und den wird Frankreich ausstoßen. Berathet nur, Jüngelchen! Aber so was muß ja passiren, so lange sie Zeitungen lesen dürfen. So eine Zeitung kostet ihnen bloß einen Sou, ihren Verstand, ihre Vernunft, ihr Herz, ihre Seele. Hat man die Sorte von Aufklärung, wie sie die schönen Zeitungen bringen, erst weg, so geht man hin und sagt zu seiner Familie: ›Ihr könnt mir gestohlen bleiben!‹ Alle Zeitungen sind revolutionäre Pestbeulen, auch die konservativsten! Gerechter Himmel! Du infame Kanaille kannst Dich wirklich rühmen, daß Du Deinen alten Großvater unglücklich gemacht hast!«

»Ja leider!« bekräftigte Théodule, und da Gillenormand einen Augenblick zu rackern aufhörte, um wieder Athem zu schöpfen, nahm er die günstige Gelegenheit wahr und bemerkte tiefsinnig:

»Es sollte keine andere Zeitung erscheinen dürfen als der Moniteur und kein andres Buch als die Rangliste der Armee.«

Jetzt schimpfte Gillenormand wieder los:

»Da heben sie den Sieyès in den Himmel, so einen Königsmörder, der sich zu guter Letzt zum Senator emporgeschwindelt hat. Denn darauf läuft’s immer hinaus. Erst duzt man sich mir Krethi und Plethi und dann wird man Herr Graf, Herr Graf vorne und Herr Graf hinten. Der Philosoph Sieyès, solch ein Quatschfritze Senator! ich hab mir mal, zur Zeit Buonaparte’s, die Herren Senatoren angesehen, wie sie den Quai Malaquais entlang kamen, in ihren violetten Sammetmänteln mit den Bienen und mit ihren Hüten à la Henri IV. Sah das Gesindel scheußlich aus! Wie Affen an dem Hofe eines Tigers. Nein, Bürger, ich erkläre Euch, der vielgerühmte Fortschritt, mit dem Ihr Euch aufspielt, ist eine Eselei, Eure Liebe zur Menschheit ist Gefühlsdusselei, Eure Revolution ist ein einziges, großes Verbrechen, Eure Republik eine Mißgeburt, Eure Marianne ist eine gemeine Dirne, das behaupte ich Euch Allen ins Gesicht, wer Ihr auch seid, Publicisten, Nationalökonomisten, Juristen, und verstündet Ihr Euch besser auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit als das Fallmesser der Guillotine. Das gebe ich Euch schriftlich, Männekens!«

»Bei Gott!« rief der Lieutenant. »Das ist die lautere Wahrheit!«

Gillenormand hielt plötzlich mit einer angefangenen Handbewegung inne, drehte sich um, sah dem Lanzenreiter Théodule fest in die Augen und sagte:

»Sie sind ein Schafskopf!«

Die Zusammenkunft zweier Sterne

Wie man zu einem Familiennamen kommen kann

Marius war damals ein hübscher, junger Mann, von mittelgroßer Statur, mit starkem, schwarzem Haarwuchs, hoher und intelligenter Stirn, weiten, auf einen leidenschaftlichen Sinn deutenden Nasenflügeln, offenherziger und ruhevoller Miene und einem stolzen, nachdenklichen Gesichtsausdruck. Sein Profil, dessen Linien sämtlich abgerundet und doch energisch waren, hatte jene germanische Sanftheit, die, durch das Elsaß und Lothringen zu uns gelangt, sich dem französischen Typus zugesellt hat. Er befand sich in jenem Lebensalter, wo der Verstand der Menschen, die zu denken verstehen, zu gleichen Theilen aus Tiefe und Naivität zusammengesetzt ist. In einer schwierigen Lage wäre er wohl im Stande gewesen, sich recht einfältig zu benehmen; hätte aber dann das Schicksal die Seiten noch höher gespannt, so wäre er mit großen Ehren aus der Prüfung hervorgegangen. Im Verkehr mit Andern war er zurückhaltend, kalt, höflich, wenig mittheilsam. Da er einen hübschen Mund, intensiv rothe Lippen und überaus weiße Zähne hatte, so milderte sein Lächeln die Strenge seines Gesichtsausdruckes und bei gewissen Gelegenheiten bildete seine edle Stirn mit diesem sinnlichen Lächeln einen eigenthümlichen Kontrast. Er hatte kleine Augen, und doch lag etwas Hehres in seinem Blick.

Zur Zeit seines tiefsten Elends beobachtete er, daß die jungen Mädchen sich umwandten, wann er vorbeiging, und lief davon oder versteckte sich voller Wuth und Scham. Er glaubte, sie sähen ihn wegen seiner schäbigen Kleidung so an und wollten ihn auslachen. Statt dessen sahen sie ihm nach, weil er ihnen gefiel und Eindruck auf sie machen.

Dieses stumme Mißverständniß zwischen ihm und den jungen Mädchen hatte ihn scheu gemacht. Er traf keine Wahl unter ihnen, aus dem einfachen Grunde, weil er vor allen davonlief, und hatte — dummer Weise, wie Courfeyrac behauptete — nie ein Liebesverhältniß.

»Sei doch nicht so ehrpuslig!« belehrte dieser ihn. »Stecke, wenn Du einen guten Rath annehmen willst, Deine Nase etwas weniger oft in die Bücher und vertiefe Dich statt dessen etwas mehr in das Studium von Frauengesichtern. Du wirst dabei Manches lernen, was wissenswerth ist. Wenn Du vor den hübschen Mädchen immer davonläufst und schüchtern erröthest, wirst Du ein Rindvieh an Dummheit werden.«

Oder Courfeyrac begrüßte ihn, wenn er ihm begegnete, mit den Worten:

»Guten Tag, mein lieber Mönch.«

Nach jeder solchen moralischen Pauke ging Marius acht Tage lang allen Mädchen und Frauen, jungen und alten, mehr als je aus dem Wege und seinem Freunde Courfeyrac obendrein.

Dennoch gab es in dem großen Weltall zwei weibliche Wesen, die Marius nicht mied, und die keinen Eindruck auf ihn machten. Die Eine war die alte Vicewirtin, die bärtig war, so daß Courfeyrac spottete: »Da sich seine Aufwärterin einen Bart stehen läßt, will Marius sich keinen stehen lassen.« Die Andere war ein junges Mädchen, dem Marius oft begegnete und das er nie beachtete.

Seit einem Jahr und länger fielen nämlich Marius in einer einsamen Allee des Jardin du Luxembourg, nahe der Baumschule, ein Mann und ein ganz junges Mädchen auf, die an dem ödesten Ende der Allee, nach der Rue de l’ Ouest hin, neben einander auf derselben Bank saßen. Jedes Mal, wenn der Zufall unsern Träumer hierher führte — und dies geschah fast täglich, begegnete er diesem Paar. Der Mann mochte sechzig Jahr alt sein; er sah traurig und ernst aus; seiner kräftigen, aber abgespannten Körperbeschaffenheit nach zu urtheilen, war er ein Militär, der den Dienst quittirt hatte. Hätte er einen Orden gehabt, so hätte Marius bestimmt geglaubt, der Mann sei ein ehemaliger Offizier. Obgleich auf seinem Gesicht ein Ausdruck großer Güte lag, war er doch nicht entgegenkommend und ließ nie seinen Blick lange auf irgend Jemand ruhen. Er trug blaue Beinkleider, einen blauen Ueberzieher und einen breitkrempigen Hut, die sämmtlich immer neu aussahen; eine schwarze Kravatte und ein blendend weißes, aber grobes Hemde. Eine Arbeiterin, die eines Tages an ihm vorüberging, meinte: »Das ist ein sehr propperer Wittwer.« Seine Haare waren ganz weiß.

Das junge Mädchen mochte dreizehn oder vierzehn Jahr alt sein. Sie war mager bis zur Häßlichkeit, linkisch, unbedeutend; nur die Augen versprachen einmal schön zu sein. Vorläufig hatten sie aber einen Ausdruck von Dreistigkeit, der unangenehm war. Sie trug ein ungeschickt zugeschnittenes Kleid aus grober, schwarzer Merinowolle, eine zugleich alte und kindliche Tracht, wie sie bei Klosterschülerinnen gewöhnlich ist.

Es schienen Vater und Tochter zu sein.

Marius musterte zwei oder drei Mal den Alten, der noch kein Greis war, und den Backfisch, beachtete sie dann aber nicht mehr. Die Beiden ihrerseits schienen ihn nicht einmal zu sehen. Sie unterhielten sich in friedfertiger Weise und, wie es schien, von gleichgiltigen Dingen. Das junge Mädchen plapperte unaufhörlich und sehr vergnügt. Der Alte sprach wenig und richtete von Zeit zu Zeit Blicke voll väterlicher Liebe auf sie.

Marius hatte sich angewöhnt, in dieser Allee regelmäßig spazieren zu gehen, und zwar begann er an dem entgegengesetzten Ende derselben, durchmaß sie dann ihrer ganzen Länge nach, ging an ihrer Bank vorbei, und machte dann Kehrt, ging bis zum Anfang zurück und kam auf diese Weise wohl fünf bis sechs Mal an ihrer Bank vorüber. Dieses Manöver wiederholte er fast jeden Tag in der Woche, ohne daß beide Theile Bekanntschaft mit einander angeknüpft oder auch nur sich gegrüßt hätten.

Obgleich aber und vielleicht weil dieses Paar es vermeiden wollte, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, war es doch den wenigen Studenten etwas aufgefallen, die in der Nähe der Baumschule nach dem Besuch der Kollegien oder nach dem Billardspiel dann und wann spazieren gingen. Auch Courfeyrac hatte sie einige Zeit lang beobachtet, fand aber das Mädchen häßlich und hütete sich dann sorgfältig mit ihnen in Berührung zu treten. Ehe er sich aber zur Flucht wandte, schoß er noch einen Partherpfeil auf sie ab. Er nannte nämlich den Backfisch nach ihrem schwarzen Kleide Fräulein Lanoire und den Vater nach seinen weißen Haaren Herrn Leblanc. Da Niemand den wahren Namen der Beiden kannte, blieben auch die Spitznamen an ihnen haften, und die Studenten, so wie Marius nannten sie von da an nie anders.

Auch wir wollen der Bequemlichkeit halber den alten Herrn Leblanc nennen.

Marius begegnete Beiden ein Jahr hindurch fast täglich zu derselben Stunde. Der Mann gefiel ihm, aber das junge Mädchen war nicht nach seinem Geschmack.

Und es ward Licht

Im zweiten Jahre fügte es sich, — Marius wußte selbst nicht, wie — daß er von der Gewohnheit, im Jardin du Luxembourg spazieren zu gehen, abkam und ungefähr sechs Monate lang keinen Fuß in seine Lieblingsallee setzte. Eines Tages indessen kehrte er dahin zurück. Es war an einem heitern Vormittag im Sommer, und Marius war vergnügt, wie man es bei schönem Wetter zu sein pflegt. Der Jubelgesang der Vogel und die sonnige Himmelsbläue hatten in seinem Herzen die süßesten Wonnegefühle geweckt.

Er begab sich sofort nach »seiner« Allee und bemerkte, als er bis zu dem andern Ende gelangt war, seine beiden alten Bekannten auf derselben Bank. Aber nur der Mann war derselbe geblieben; das junge Mädchen hatte sich sehr zu seinem Vortheil verändert. Sie war groß und schön geworden, ihre Körperformen hatten schon etwas Frauenhaftes und doch noch die naive Anmuth des Kindes, zwei Gegensätze, die sich nur auf kurze Zeit mit einander vertragen und das fünfzehnte Lebensjahr der weiblichen Jugend charakterisiren. Wunderbar schönes, kastanienbraunes Haar mit goldigem Schimmer, eine marmorweiße Stirn, Wangen von der Farbe eines Rosenblatts, ein ätherisch zarter Teint, fein geschwungene Lippen, die dazu geschaffen schienen, lieblich zu lächeln und wohllautend zu sprechen; ein Kopf, den Raphael der Jungfrau Maria und ein Hals, den Jean Goujon der Venus gegeben hätte. Und damit der reizenden Gestalt keine Vollkommenheit mangele, war die Nase nicht klassisch schön, sondern niedlich; weder grade, noch gebogen; weder eine italienische noch griechische, sondern eine Pariserinnennase; also etwas Intelligentes, Feines, Unregelmäßiges, das die Maler zur Verzweiflung bringt und die Dichter entzückt.

Als Marius an ihr vorüberkam, konnte er ihre Augen, die sie zur Erde gesenkt hielt, nicht sehen. Er sah nur ihre langen, dunkeln und sittsamen Wimpern.

Im ersten Augenblick dachte Marius, sie wäre eine andere Tochter desselben Mannes, eine Schwester des ersten jungen Mädchens. Aber als ihn sein gewöhnlicher Spaziergang zum zweiten Mal in die Nähe der Bank führte, und er sie aufmerksam betrachtet hatte, erkannte er, daß es wirklich Dieselbe war. In den sechs Monaten war das kleine Mädchen ganz einfach ein junges Mädchen geworden, eine Erscheinung, die ja nicht selten ist. Es tritt eine Zeit ein, wo die Mädchen sich so zu sagen im Umsehen, wie Rosen, entfalten. Gestern noch Kinder, machen sie heute ihrer Mutter schon Sorgen.

Diese war nicht nur groß geworden, sondern auch schön. Wie im April gewisse Bäume nur drei Tage brauchen, um sich mit Blüthen zu bedecken, so hatten auch bei ihr sechs Monate genügt, um sie zu einer vollendeten Schönheit zu entwickeln. Auch ihr April war gekommen.

Man sieht bisweilen arme und von Sorgen gequälte Leute gewissermaßen sich ermuntern, von der Dürftigkeit zum Luxus übergehen, sich allerhand Ausgaben gestatten. Dies kommt daher, daß sie eine Erbschaft gemacht oder auf irgend eine andere Weise zu Gelde gekommen sind. Auch dem unbekannten jungen Mädchen war ein Kapital zugefallen.

Außerdem war sie nicht mehr wie ein Schulmädchen gekleidet, trug nicht mehr einen Plüschhut, ein Merinokleid, plumpe Schuhe und hatte keine rothen Hände mehr. Mit der Schönheit hatte sich auch guter Geschmack eingestellt. Ihre Toilette wies ein gewisses Gepräge von einfacher, reicher, unverkünstelter Eleganz auf. Sie trug eine schwarze Damast-Robe, ein Mäntelchen von demselben Stoffe und einen schwarzen Krepphut. Ihre weißen Handschuhe zeigten die Feinheit ihrer Hand, die mit dem Elfenbeingriff ihres Sonnenschirmes spielte, und an ihren seidnen Schnürstiefeln zeichneten sich sehr kleine Füßchen ab. Wenn man an ihr vorüberging, strömte aus ihrer ganzen Toilette ein jugendlicher und starker Duft entgegen.

Was den Mann anbetrifft, so war er derselbe geblieben.

Als Marius das zweite Mal in ihre Nähe kam, schlug das junge Mädchen die Augenlider empor. Ihre Augen waren von einem tiefen Himmelblau, aber sie schauten noch mit kindlicher Unschuld drein. Auch Marius warf sie denselben gleichgültigen Blick zu, mit dem sie wohl einen Knaben betrachtete, der unter den Sykomoren spielte, oder die Marmorvase, die ihren Schatten auf die Bank warf; und Marius seinerseits setzte seinen Spaziergang fort, indem er an etwas Anderes dachte.

Er ging dann noch vier bis fünfmal an ihrer Bank vorüber, aber ohne auch nur die Augen auf sie zu richten.

Die nächsten Tage besuchte er wie gewöhnlich den Jardin du Luxembourg und fand dort wie gewöhnlich »den Vater und die Tochter«, beachtete sie aber nicht mehr. Er dachte an das junge Mädchen jetzt, wo sie schön, nicht mehr als früher, wo sie häßlich war. Wenn er an ihrer Bank sehr nahe vorüberkam, so hatte er dazu keinen andern Beweggrund als daß es seine Gewohnheit so mit sich brachte.

Eine Wirkung des Frühlings

Eines Tages wehten linde Lüfte, schien die Sonne freundlich auf den Garten herab; der Himmel war so rein, als hätten ihn die Engel am Morgen gescheuert und die Vögel zwitscherten in den Kronen der Kastanienbäume. Marius hatte seine ganze Seele der Natur geöffnet und dachte an nichts, sondern lebte und athmete in vollen Zügen, als er wieder an der bewußten Bank vorüberkam. Wie schon öfter hob das junge Mädchen die Augen zu ihm auf und ihre Blicke begegneten sich.

Dies Mal sah sie ihn auf eine ganz besondere Weise an. Worin der Unterschied gegen sonst bestand, hätte Marius nicht angeben können, Ueber solch ein Thema läßt sich eben alles und nichts sagen.

Sie schlug die Augen sofort wieder zu Boden und er setzte seinen Weg fort.

Nicht in das simple unbefangne Auge eines Kindes hatte er dies Mal hineingeschaut, sondern in eine geheimnißvolle Tiefe.

Es kommt eine Zeit, wo jedes junge Mädchen solche gefährliche Blicke thut.

Diese erste Aufschließung eines Herzens, das sich noch nicht kennt, gleicht der Morgenröthe am Himmel. Es strahlt plötzlich etwas Unbekanntes auf. Keine Beschreibung kann den bestrickenden Zauber schildern, den ein, zu einem neuen Leben erwachendes, junges Wesen auszuüben vermag, und der auf einer glücklichen Vermählung von Unschuld und Sinnlichkeit beruht. Es ist das unbestimmte, unbewußte Bedürfnis nach Liebe, das suchend um sich schaut. Die Unschuld stellt auf diese Weise, ohne sich dessen klar zu sein. Fallen, in denen sie Herzen fängt, ohne es zu wollen.

Es ist selten, daß ein solcher Blick da, wo er hingefallen ist, nicht zündet. Solch ein Augenstrahl ist wirksamer, als die berechneten Liebesblicke der schlausten Koketten und bringt die Blume der Liebe, deren süßer Duft so gefahrvoll für den Menschen ist, mit wunderbarer Schnelligkeit zur Entfaltung.

Als Marius am Abend in sein Dachstübchen heimkehrte, warf er einen prüfenden Blick auf seine Kleidung und bemerkte zum ersten Mal, daß er sich der unerhörten Unsauberkeit, Unschicklichkeit und Dummheit schuldig gemacht hatte, nach dem Jardin du Luxembourg in seinem Alltagsanzug spazieren zu gehen, mit einem Hut, der entzwei war, plumpen Fuhrmannsstiefeln, schwarzen Beinkleidern, die an den Knieen durchgescheuert, und einem schwarzen Rock, dessen Ellbogen weißlich glänzten.

Der Anfang einer schweren Krankheit

Am nächsten Tage nahm Marius zur gewöhnlichen Stunde seinen neuen Rock, seine neuen Beinkleider, seinen neuen Hut und seine neuen Stiefel aus dem Schrank, legte diese volle Galarüstung an, kaufte sich in einem Anfall von großartiger Verschwendungssucht, ein Paar neue Handschuhe und steuerte dem Jardin du Luxembourg zu.

Unterwegs begegnete er Courfayrac und that, als sähe er ihn nicht. Dieser erzählte, als er nach Hause kam, seinen Freunden: »Ich bin so eben Marius’ neuem Hut und neuem Anzug begegnet, in dem Marius drin steckte. Wahrscheinlich ging er in ein Examen. Er sah ganz dumm aus.«

Im Garten angelangt, ging Marius um die Fontaine herum und sah den Schwänen zu, dann betrachtete er lange mit großer Aufmerksamkeit eine uralte Statue, deren Kopf mit Schimmel und Moos bedeckt war, und der eine Hüfte fehlte. Auch hörte er einem alten, dicken Philister zu, der einen fünfjährigen Knaben an der Hand führte und ihm weisheitsvolle Ermahnungen zu Theil werden ließ: »Mein Sohn, vermeide jedes Uebermaß. Halte Dich von dem Despotismus und der Anarchie gleich fern.« U. dergl. mehr. Endlich, nach dem er noch einmal die Fontaine umwandert, lenkte Marius seine Schritte langsam und wie mit Unlust nach seiner Allee. Es war, als sei er zu gleicher Zeit gezwungen und verhindert gewesen, dorthin zu gehen. Aber dieses Gefühl kam ihm nicht zum Bewußtsein, und er glaubte, er thäte dasselbe, wie an allen andern Tagen.

Als er die Allee betrat, bemerkte er sofort an dem andern Ende derselben Herrn Leblanc und das junge Mädchen. Er knöpfte sich den Rock bis oben zu, zog ihn straff, damit er keine Falten schlüge, prüfte mit einem gewissen Wohlgefallen die Glanzreflexe seiner Beinkleider und marschierte auf die Bank zu. Es lag in diesem Draufgehen eine unverkennbare Erobrerkühnheit. Deshalb sage ich auch: »Er marschirte auf die Bank zu«, wie ich sagen würde: »Hannibal marschirte auf Rom zu.«

Im Uebrigen waren alle seine Bewegungen ganz mechanisch, und sein Geist beschäftigte sich mit denselben Gedanken wie gewöhnlich. In diesem Augenblick dachte er, das »Handbuch für die Abiturienten der Gymnasien« sei doch ein recht dummes Buch und müsse von ganz exquisen Eseln abgefaßt sein, weil darin drei Tragödien von Racine und nur ein Lustspiel von Molière als Meisterwerke besprochen wurden. Dabei pfiff es ihm eigenthümlich in den Ohren. Während er näher an die Bank herankam, strich er noch einmal die Falten aus seinem Rock, und seine Augen hefteten sich auf das junge Mädchen. Ihm war, als erfülle sie das Ende der Allee mit einem bläulichen Lichtglanz.

Je näher er kam, desto langsamer wurde sein Gang, und als er noch eine gewisse Strecke von der Bank entfernt war, blieb er stehen und machte plötzlich Kehrt, ohne sich Rechenschaft geben zu können, warum. Er wurde sich nicht einmal bewußt, daß er die Allee noch nicht zu Ende gegangen war. Kaum, daß die junge Dame ihn von fern bemerken und sehen konnte, wie fein er in seinen neuen Kleidern aussah. Indessen ging er recht gerade, um eine hübsche Haltung zu haben, für den Fall, daß Jemand hinter ihm ginge und ihn beobachtete.

Als er an dem entgegengesetzten Ende der Allee angelangt war, kehrte er um und näherte sich dies Mal etwas mehr der Bank, so weit, daß nur noch vier Bäume davor standen; hier aber war ihm zu Muthe, als sei es ihm unmöglich, weiter zu gehen, und er zauderte. Hatte er doch zu bemerken geglaubt, daß die junge Dame ihr Gesicht nach ihm hinneige. Indessen that er sich mannhaft Gewalt an, überwand seine Bedenken und setzte seinen Weg fort. Einige Sekunden darauf ging er, gerade aufgerichtet, festen Schritts und roth bis über die Ohren, vor der Bank vorbei, ohne daß er es wagte, nach rechts oder nach links zu blicken, und die Hand unter dem Rock wie ein Staatsmann. In dem Augenblick, wo er — so zu sagen unter den Kanonen der feindlichen Festung — vorbeiging, klopfte ihm das Herz ganz fürchterlich. Sie trug wie Tags zuvor ihr Damastkleid und ihren Krepphut. Auch hörte er eine unbeschreiblich liebliche Stimme, jedenfalls die »ihrige«. Sie war sehr hübsch. Das fühlte er, obschon er sich nicht erkühnte, sie anzusehen. — »Sie würde doch nicht umhin können,« dachte er, »mich ihrer Achtung und Aufmerksamkeit für wert zu halten, wüßte sie, daß ich der wahre Verfasser der Dissertation über Marcos Obregon de la Ronda bin, die Herr Francis de Neufchâteau als sein Werk in seine Ausgabe des Gil Blas aufgenommen hat!«

Er ging über die Bank hinaus, bis an das ganz nahe Ende der Allee, machte hier Kehrt und ging wieder an dem schönen Mädchen vorbei. Dies Mal war er sehr bleich. Denn es war ihm nichts weniger als angenehm bei der ganzen Geschichte zu Muthe. Er entfernte sich von der Bank und der jungen Dame, und bildete sich, trotzdem er ihr den Rücken wandte, ein, sie sehe ihm nach und in Folge dessen wurde sein Gang unsicher.

Nun versuchte er nicht mehr, in die Nähe der Bank zu kommen, sondern setzte sich, was er sonst nie that, in der Mitte der Allee hin. Hier riskierte er Seitenblicke und dachte in den dunkelsten Tiefen seines Geistes, es müßte doch mit sonderbaren Dingen zugehen, wenn eine gewisse Dame, deren weißes Hütchen und schwarze Robe er bewunderte, gegen seine eleganten Beinkleider und seinen neuen Rock gleichgültig bleiben sollte.

Nach Verlauf einer Viertelstunde erhob er sich von seinem Sitze, als wolle er sich wieder anschicken, auf die Bank loszugehen, die für seine Augen von einer Glorie umwoben war. Gleichwohl blieb er unbeweglich stehen, und zum ersten Mal seit anderthalb Jahren sagte er sich, der Herr, der sich mit seiner Tochter alle Tage auf die Bank setzte, müßte ihn bemerkt haben und fände gewiß sein Gebühren sonderbar und zudringlich.

Zum ersten Male auch empfand er, daß es wider die Schicklichkeit verstoße, den Unbekannten, wenn auch nur in seinen Gedanken, bei einem Spitznamen »Herr Leblanc« zu nennen.

So blieb er denn einige Minuten lang, den Kopf zur Erde geneigt, stehen und zeichnete mit einer Gerte Figuren in den Sand.

Dann aber wandte er sich von der Bank, wo Leblanc mit seiner Tochter saß, ab und ging nach Hause.

An jenem Abend vergaß er zu Tisch zu gehen. Erst um acht Uhr Abends wurde er diese Versäumniß inne, wunderte sich und aß, da es zu spät war, um nach der Rue Saint-Jacques zu gehen, ein Stück Brod.

Aber zu Bett ging er erst, nachdem er seinen Rock abgebürstet und mit Sorgfalt zusammengelegt hatte.

Arme Frau Burgon!

Den nächsten Tag bemerkte Frau Burgon zu ihrer unsagbaren Verwunderung, daß Herr Marius wieder seinen neuen Anzug anhatte.

Er ging wieder nach dem Jardin du Luxembourg und setzte sich wieder in der Mitte der Allee hin. Von hier aus sah er deutlich den weißen Hut, das schwarze Kleid und besonders die blaue Glorie. Er rührte sich auch nicht vom Flecke und blieb sitzen, bis der Garten geschlossen wurde. Leblanc und seine Tochter sah er nicht gehen und schloß daraus, daß sie sich durch das Thor, das der Rue de l’Ouest gegenüberliegt, entfernt hätten. Später, Wochen lang nachher, konnte er sich, wenn er daran zurückdachte, nicht besinnen, wo er an jenem Tage zu Abend gegessen habe.

Den nächsten, also den dritten Tag, wurde Frau Burgon abermals versteinert, denn Marius ging wieder in seinem neuen Anzug aus.

Sie ging ihm nach, aber Marius marschirte sehr schnell und machte große Schritte, so daß es aussah, als wolle ein Nilpferd eine Gemse einholen. Sie verlor ihn nach zwei Minuten aus den Augen und kehrte um, halbtot vor Athemnoth und wüthend: »Ob das wohl Sinn und Verstand hat, alle Tage seine besten Kleider anzuziehen und zu rennen, daß Keiner nachkommen kann!«

Marius begab sich natürlich wieder nach dem Jardin du Luxembourg.

Die junge Dame war wieder da mit Herrn Leblanc, Marius ging so nahe als möglich an sie heran, indem er sich stellte, als sei er in ein Buch vertieft. Aber er hielt sich doch noch ziemlich fern von den Beiden, kehrte um und setzte sich wieder auf seine Bank. Hier sah er vier Stunden lang den Spatzen zu, die in der Allee herumhüpften, und hatte eine gewisse Empfindung, als mokirten die sich über ihn.

So verflossen vierzehn Tage. Marius ging nach dem Jardin du Luxembourg nicht mehr, um spazieren zu gehen, sondern um sich immer an derselben Stelle hinzusetzen und ohne zu wissen, zu welchem Zweck. Hier angelangt, rührte er sich nicht mehr vom Flecke. Seinen neuen Anzug legte er aber jeden Morgen an, trotzdem er nie vor seiner Schönen vorbeiparadirte, und den nächsten Tag begann dasselbe Spiel von neuem.

Sie war aber auch wirklich wunderbar schön! Die einzige, einem Tadel ähnliche Bemerkung, die man hätte machen können, wäre gewesen, daß der Widerspruch zwischen ihrem schwermüthigen Blick und ihrem fröhlichen Lächeln etwas nach Geistesverwirrung aussah, so daß ihr sanftes Gesicht zeitweise einen sonderbaren Ausdruck annahm, obschon es reizend dabei blieb.

Gefangen

Zu Ende der zweiten Woche saß einst Marius, wie gewöhnlich, auf seiner Bank und hielt in der Hand ein Buch, in dem er seit zwei Stunden kein Blatt umgewendet hatte. Plötzlich schrak er zusammen. An dem Ende der Allee ereignete sich etwas Außerordentliches. Leblanc und seine Tochter standen von ihrer Bank auf, die Tochter faßte ihren Vater unter und Beide gingen langsamen Schrittes nach der Mitte der Allee, dorthin, wo Marius saß. Dieser klappte sein Buch zu, schlug es wieder auf und quälte sich, darin zu lesen. Die Glorie kam gerade auf ihn zu! »Um Gottes Willen!« dachte er. »Ich werde nicht die Zeit haben, eine gute Haltung anzunehmen.« Mittlerweile näherten sich der Mann mit den weißen Haaren und die junge Dame. Es kam ihm vor, als daure das eine Ewigkeit und dann wieder, als währe es eine Sekunde. — »Was mögen sie hier blos wollen?« dachte er. »Wie? Sie wird hier vorbeigehen? Ihre Füße werden den Sand da dicht vor mir treten?« — Er wußte nicht, wie er bekehrt war. Wenn er doch recht hübsch aussehen könnte! Wenn er doch einen Orden hätte! Schon vernahm er das leise, regelmäßige Geräusch ihrer Schritte. Jetzt bildete er sich ein, Herr Leblanc werfe ihm zornige Blicke zu. »Ob er mich anreden wird?« dachte er und ließ den Kopf hängen. Als er ihn wieder emporhob, waren sie dicht in seiner Nähe. Im Vorübergehen sah ihn das junge Mädchen fest an, sanft und sinnend, so daß Marius von Kopf bis zu Fuß erbebte. Er empfing den Eindruck, als mache sie ihm Vorwürfe, daß er so lange gezögert habe sich ihr zu nähern, und als wollte sie sagen: »Also ich muß kommen!« Marius war wie geblendet von dem Glanz ihrer tiefen Augen.

Sein Kopf glühte wie im Fieber. Sie war zu ihm gekommen! Welche Freude! Und wie sie ihn angesehen hatte! Sie kam ihm noch schöner vor als je zuvor. Zugleich weiblich und engelhaft schön; ein Petrarca hätte sie besungen; ein Dante wäre vor ihr niedergekniet. Ihm war, als schwimme er oben im blauen Aether. Daneben ärgerte er sich freilich auch, weil seine Stiefel staubig waren.

Er war fest überzeugt, daß sie auch seine Stiefel gesehen hatte.

Er sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Dann rannte er im Garten wie ein Irrsinniger herum, lachte ab und zu und sprach laut. Hierauf blieb er tief nachdenklich bei den Kindermädchen stehen, so daß Jede glaubte, er sei in sie verliebt.

Endlich eilte er aus dem Garten hinaus in der Hoffnung, er werde sie draußen in irgend einer Straße antreffen.

Statt dessen begegnete er Courfeyrac unter den Arkaden des Odeons und lud ihn zum Essen ein. Sie gingen zu Rousseau und verpraßten sechs Franken. Marius aß wie ein Scheunendrescher und gab dem Kellner sechs Sous Trinkgeld. Beim Nachtisch fragte er Courfeyrac: »Hast Du die Zeitung gelesen? Was für eine schöne Rede hat Audry de Puyraveau gehalten!«

Er war närrisch verliebt.

Nach dem Essen bemerkte er: »Komm mit mir ins Theater. Ich bezahle.« Sie gingen nach dem Theater der Porte-Saint-Martin und bewunderten den berühmten Schauspieler Frédèrick in der Auberge des Adrets. Marius amüsirte sich kolossal.

Dabei war er spröder als je. Als sie aus dem Theater kamen, wollte er nicht nach dem Strumpfband einer Modistin, die über einen Rinnstein schritt, hinsehen, und als Courfeyrac bemerkte: »Die möchte ich mir leisten können!« schauderte ihm beinahe.

Als sie Abschied von einander nahmen, lud Courfeyrac seinen Freund für den nächsten Tag nach dem Café Voltaire zu einem Gabelfrühstück ein. Marius ging hin und aß noch mehr, als am Tage zuvor. Er war ganz nachdenklich und sehr aufgeräumt. Man hätte meinen sollen, er benutze jede Gelegenheit um laut aufzulachen, und er umarmte sehr zärtlich einen Provincialen, der ihm vorgestellt wurde. An einem vernünftigen Gespräch Theil zu nehmen, war ihm unmöglich. Es fanden sich eine Anzahl Studenten um seinen Tisch zusammen und unterhielten sich über das dumme Zeug, das die Herren Professoren dem Publikum in der Sorbonne vortrugen, und das der Staat mit schwerem Gelde bezahle. Darauf kam die Rede auf die Fehler und Lücken in den Wörterbüchern und in den Quicherat’schen Prosodieen. Diese Discussion unterbrach Marius mit den Worten: »Es ist doch recht angenehm, wenn man einen Orden hat!«

»Das nenne ich mal komisch!« raunte Courfeyrac Jean Prouvaire ins Ohr!

»Mir kommt’s desto ernster vor!« meinte Jean Prouvaire. Es handelte sich in der That um etwas sehr Ernstes. Marius befand sich in jener wonnigen Gemüthsverfassung, die den Anfang jeder leidenschaftlichen Liebe bildet.

Und das hatte ihm ein einziger Blick angethan.

Freilich, wenn eine Mine geladen ist, genügt ein Funke um sie zu entflammen.

Es war um Marius geschehen. Er liebte. Sein Geschick steuerte in ein unbekanntes Meer hinein.

Der Blick der Frauen gleicht gewissen Maschinen, die dem Anschein nach sehr harmlos, in Wirklichkeit aber sehr gefährlich sind. Man geht an ihnen alle Tage ruhig und ungestraft vorüber und beachtet sie nicht, ja vergißt schließlich ganz, daß sie überhaupt da sind. Plötzlich packt es Einen. Die Maschine, der Blick hält sein Opfer fest; er hat es gefaßt, irgendwo, irgendwie, weil es nicht auf alle seine Gedanken Acht gegeben, weil es in einem schwachen Augenblick nicht aufgemerkt hat. Man ist verloren. Vergebens wehrt man sich. Keine Möglichkeit, daß menschliche Hülfe hier retten kann. Man wird von einem Rad auf das andere, von einer Angst, einer Qual in die andere geworfen, und je nachdem man in die Gemalt eines nichtswürdigen Geschöpfes oder eines edlen Weibes geräth, geht man, zum Schurken entstellt oder durch die Liebe verklärt, aus der furchtbaren Maschine hervor.

Vermuthungen über den Buchstaben U

Die Abgeschiedenheit von der Welt, Stolz, Liebe zur Unabhängigkeit, die Freude an der Natur, der Mangel an regelmäßiger, rastloser Thätigkeit, die Vertiefung in sich selbst, die Zurückdrängung der sinnlichen Triebe, die verzückte Bewundrung der ganzen Schöpfung hatten der Leidenschaft, die Marius jetzt in Besitz genommen, den Weg gebahnt. Die Verehrung, die er dem Andenken seines Vaters gewidmet, war zu einer Art Religion geworden und als solche naturgemäß in den Hintergrund getreten. Der Vordergrund mußte also besetzt werden, und da trat die Liebe auf.

Es verstrich mindestens ein Monat, und Marius ging jeden Tag nach dem Jardin du Luxembourg. War die Stunde gekommen, so konnte ihn keine Macht der Welt zurückhalten. »Er hat Dienst!« spottete Courfeyrac. Marius schwamm in einem Meer von Wonne. War er doch jetzt sicher, daß die junge Dame ihn ansah.

Er war allmählich dreister geworden und wagte sich jetzt in die Nähe der Bank. Jedoch ging er nicht mehr vor derselben vorbei, zum Theil aus Schüchternheit, zum Theil aus Berechnung. Er hielt es für gerathen, nicht die Aufmerksamkeit des Vaters auf sich zu lenken. Pfiffig wie Macchiavelli, versteckte er sich hinter Bäume und Statuensockel um sich dem jungen Mädchen zu zeigen und sich den Blicken des alten Herrn möglichst zu entziehen. Manchmal stand er halbe Stunden lang in dem Schatten irgend eines Leonidas oder Spartacus, ein Buch in der Hand, über das seine Augen zu ihr hinüber eilten, und sie ihrerseits wandte ihm mit einem verstohlenen, verständnißvollen Lächeln ihr reizendes Gesichtchen zu und sendete ihm, während sie in der denkbar natürlichsten und ruhigsten Weise mit dem alten Herrn sprach, die allerzärtlichsten Botschaften. Das uralte, ewig neue Manöver, das Eva schon am ersten Tage der Schöpfung übte, und dessen Kenntniß jedes weibliche Wesen schon mit der Geburt auf die Welt bringt. Auch Marius Freundin antwortete dem Einen mit dem Munde und dem Andern mit den Augen.

Indessen mußte Leblanc schließlich doch wohl etwas gemerkt haben, denn er stand oft von seinem Sitz auf, wenn Marius kam, und ging im Garten spazieren. Auch hatte er seinen alten Lieblingsplatz aufgegeben und sich an dem andern Ende der Alle die der Gladiatorstatue benachbarte Bank ausgewählt, als wollte er sehen, ob Marius ihm dorthin folgen würde. Marius merkte die List nicht und ließ sich zu dem Fehler verleiten. Nun fing der Vater an, unpünktlich zu werden und brachte seine Tochter nicht mehr jeden Tag mit. Da beging Marius einen zweiten Fehler: Er blieb nicht im Garten, wenn Leblanc allein dorthin kam.

Diese Zeichen beachtete Marius nicht, weil er vermöge jenes natürlichen und nothwendigen Fortschritts aus dem Stadium der Schüchternheit in das der Blindheit übergegangen war. Außerdem war ihm ein unverhofftes Glück passirt, das Oel auf das Feuer seiner Leidenschaft goß und seine Augen noch mehr trübte. Eines Abends fand er in der Dämmerung auf der Bank, wo »Herr Leblanc und seine Tochter« so eben gesessen hatten, ein Taschentuch, ein ganz einfaches Taschentuch ohne Stickerei, das aber weiß und fein war, und das ihm süßen Duft auszuströmen schien. Hochentzückt nahm er es an sich. Es war U. F. gezeichnet, und da Marius über die Dame seines Herzens nichts wußte, weder ihre Familie, noch ihren Namen, noch ihre Wohnung, so legte er sich die beiden anbetungswürdigen Buchstaben, das Erste, dessen er von ihr habhaft wurde, in seiner Weise zurecht. U konnte doch nur der Anfangsbuchstabe des Vornamens sein. Ursula! Was für ein reizender Name! Er küßte das Taschentuch, sog den »Wohlgeruch« desselben ein, trug es bei Tage auf seinem Herzen, am bloßen Leibe, und legte es des Nachts auf seine Lippen.

»Ihr ganzes Wesen strömt mir daraus entgegen,« dachte er.

Das Taschentuch gehörte aber dem alten Herrn, der es ganz einfach aus der Tasche hatte fallen lassen.

Mehrere Tage nachher küßte er fortwährend das Taschentuch oder drückte es an sein Herz. Das schöne Kind begriff nicht, was das Spiel bedeuten sollte, und gab es ihm mittelst kaum bemerklicher Zeichen zu verstehen.

»Wie schamhaft!« dachte Marius.

Ein glücklicher Invalide

Da wir soeben von »Schamhaftigkeit« gesprochen haben, und da wir nichts zu verheimlichen pflegen, müssen wir erwähnen, daß »Ursula« doch einmal ihren verzückten Anbeter schmerzlich enttäuschte. Es war an einem jener Tage, wo sie Herrn Leblanc bewog, von der Bank aufzustehen und in der Allee auf und abzugehen. Es wehte ein lebhafter Maiwind und schüttelte die Kronen der Bäume. Vater und Tochter waren Arm in Arm vor Marius Bank vorbeispaziert. Dieser hatte sich gleichfalls erhoben und folgte seiner Schönen mit liebestrunkenen Blicken.

Plötzlich kam ein besonders muthwilliger Windstoß, der wohl im Dienste des schalkhaften Frühlingsgottes stand, von der Pflanzenschule her, stürmte in die Allee hinein, umkreiste das junge Mädchen, hob ihr Kleid, das ihm noch heiliger hätte sein sollen, als das Gewand der Isis, fast bis zur Höhe des Strumpfbandes empor und zeigte Marius, der darüber sonderbarer Weise im höchsten Grade entrüstet und wüthend war, ein Paar wunderbar schön gemodelte Beinchen.

Zwar beeilte sich das junge Mädchen voll reizender Verlegenheit ihr Kleid herunterzustreifen, aber er war darum nicht weniger ärgerlich. Er war ja allerdings allein in der Allee, aber es hätte doch noch ein Anderer bei dem Vorfall zugegen sein können. Nein, so was! Daß sie sich solch eine Abscheulichkeit passiren ließ! Wie man sieht, regte sich in Marius ohne welchen Grund herbe Eifersucht. Er war entschlossen unzufrieden zu sein und nicht weit davon entfernt, mit dem Schatten seiner Dame anzubinden, weil er sie unaufhörlich begleitete.

Als seine Ursula mit Leblanc an dem Ende der Allee umkehrte und vor der Bank, auf die sich Marius wieder niedergelassen hatte, vorbeikam, warf er ihr einen mürrischen und grimmigen Blick zu. Das junge Mädchen fuhr mit dem Kopf zurück und hob die Augenwimpern, als wollte sie sagen: »Was hat er denn?«

Dies war ihr erster Zank.

Marius hatte kaum diesen Auftritt mit den Augen gemacht, als Jemand durch die Allee kam. Es war ein ganz verhutzelter alter Invalide, voller Runzeln und mit schneeweißem Haar, in dessen einem Rockärmel der Arm fehlte, der ein hölzernes Bein hatte und ein silbernes Kinn. Diese Ruine nun, das bildete sich wenigstens Marius ein, sah ungemein vergnügt aus. Es kam ihm vor, als hätte der alte Sünder im Vorbeihinken ihn vertraulich und schelmisch angeblinzelt, als wenn er sich und ihm zu einem gemeinsam genossenen Vergnügen gratuliren wollte. Wie kam der elende Kriegstrottel dazu, sich zu freuen? »Er ist in der Nähe gewesen! Er hat es vielleicht gesehen!« dachte Marius rasend vor Eifersucht und hätte den Invaliden umbringen mögen.

Mit der Zeit stumpfen sich alle Spitzen ab. Marius’ Aerger über Ursula verging, so viel Grund er auch zur Klage zu haben glaubte. Er verzieh ihr schließlich, aber das kostete ihm große Ueberwindung. Drei volle Tage schmollte er mit ihr.

Aber trotz und in Folge dieser kleinen Kabbelei nahm Marius’ Liebe an Stärke und Narrheit zu.

Eine Wolke am Horizont

Wir haben gesehen, wie Marius entdeckt hatte oder entdeckt zu haben glaubte, daß »sie« Ursula hieß.

Je mehr man liebt, je mehr will man lieben. Daß er ihren Namen errathen hatte, schien ihm zunächst ein großer Fortschritt, nachher aber war er nicht mehr zufrieden damit. Nach drei oder vier Wochen hatte er dies Glück ausgekostet und empfand Verlangen nach einem anderen. Er wollte herausbringen, wo sie wohnte.

Er hatte einen Fehler begangen, als er Leblanc nach der Gladiatorstatue folgte; einen zweiten, indem er nicht im Garten blieb, wenn der Alte ohne »sie« kam. Jetzt beging er einen dritten — kolossalen: Er ging »Ursula« nach.

Sie wohnte in dem einsamsten Theil der Rue de l’ Ouest, in einem neuen dreistöckigen Hause von bescheidenem Aussehen.

Von nun an hatte Marius außer der Freude sie im Jardin du Luxembourg zu sehen, auch noch die, ihr folgen zu können, wenn sich nach Hause ging.

Sein Appetit nahm zu. Er wußte schon, wie sie hieß, wenigstens ihren Vornamen, der wichtigste, derjenige, dessen sich Liebe und Freundschaft bedienen. Er wußte ihre Adresse; nun wollte er in Erfahrung bringen, wer sie war.

Eines Abends, nachdem er ihnen bis nach ihrem Hause gefolgt war und sie in den Thorweg hatte verschwinden sehen, ging er hinter ihnen hinein und fragte kühn den Portier:

»Ist das der Herr aus dem ersten Stock, der so eben hier hereingegangen ist?«

»Nein!« antwortete der Portier. »Der Herr der drei Treppen hoch wohnt.«

Wieder einen Schritt vorwärts. Dieser Erfolg machte Marius dreister.

»Nach vorn hinaus?« fragte er.

»Nun natürlich. Nach hinten sind keine Fenster.«

»Was ist der Herr?«

»Ein Mann, der von seinen Renten lebt. Er thut den Armen viel Gutes, obgleich er nicht reich ist.«

»Wie heißt er?« fuhr Marius fort.

Der Portier sah ihn scharf an und fragte:

»Ist der Herr vielleicht ein Polizeispitzel?«

Marius zog sich verblüfft zurück, aber im Grunde seines Herzens war er hoch erfreut. War er doch etwas weiter gekommen.

Den nächsten Tag ließen sich Leblanc und seine Tochter nur auf kurze Zeit im Jardin du Luxembourg sehen, sie gingen, als es noch Heller Tag war. Auch dies Mal folgte ihnen Marius nach der Rue de l’ Ouest. Als sie aber vor dem Thorweg ankamen, ließ Leblanc seine Tochter vorangehen, wandte sich um, ehe er die Schwelle überschritt, und sah Marius scharf an.

Den folgenden Tag kamen sie nicht nach dem Garten, wo Marius bis zum Abend auf sie wartete.

Nach Einbruch der Nacht begab er sich nach der Rue de l’ Ouest und sah Licht im dritten Stock. Nun ging er vor dem Hause auf und ab, bis das Licht ausgelöscht wurde.

Am nächsten Tag wartete Marius wieder vergeblich und stand Schildwache unter den Fenstern. Darüber wurde es zehn Uhr und aus dem Abendessen wurde natürlich nichts. Den Kranken macht das Fieber und den Liebenden die Liebe satt.

So vergingen acht Tage. Leblanc und seine Tochter kamen nicht mehr nach dem Jardin du Luxembourg. Marius erging sich in trübseligen Vermuthungen, wagte aber nicht, das Haus am Tage zu beobachten. Er ließ sich daran genügen, des Abends die röthliche Beleuchtung der Fenster zu betrachten. Von Zeit zu Zeit sah er dahinter den Schatten von einer menschlichen Gestalt, und dann schlug ihm das Herz zum Zerspringen.

Als er am achten Abend vor dem Hause ankam, sah er kein Licht — »Sieh da, die Lampe ist noch nicht angezündet,« sagte er. »Es ist aber doch schon dunkel. Ob sie ausgegangen sind?« Er wartete bis zehn, zwölf, ein Uhr. Die Fenster des dritten Stocks blieben dunkel, und er sah Niemand in das Haus hineingehen. Da ging er schweren Herzens nach Hause.

Am nächsten Tage, — denn nun bewegten sich seine Gedanken immer nur um das Morgen, nie um das Heute — sah er wieder, wie er es erwartet hatte, Niemandem im Garten und sah auch kein Licht in dem dritten Stock des Hauses. Dies Mal waren sogar die Jalousien heruntergelassen, und die Wohnung wie ausgestorben.

Marius klopfte an die Hausthür, trat ein und fragte den Portier, was aus dem Bewohner des dritten Stocks geworden sei.

»Der ist ausgezogen.«

Marius konnte sich vor Schreck kaum aufrecht halten und sagte tonlos:

»Seit wann denn?«

»Seit gestern.«

»Wo wohnt er jetzt?«

»Das weiß ich nicht.«

»Er hat also seine Adresse nicht hinterlassen?«

»Nein.«

»Hier sah er empor und erkannte Marius.«

»Ach, Sie sind’s, Sie Spion!«

Patron-Minette

Minen und Mineure

Ein jedes Staatsgebäude ist von Feinden unterminirt, die theils das Gute, theils das Böse zu fördern beabsichtigen. Diese unterirdischen Gänge, die bisweilen unter der Last der Civilisation einstürzen, und über die wir immer gleichgültig und sorglos hingehen, liegen bald höher, bald tiefer. So lag die Mine, die im vergangenen Jahrhundert von den Philosophen der Encyclopédie angelegt wurde, so gut wie zu Tage. Die Christen, die in der Finsternis unterirdischer Verstecke an dem Ausbau ihres Glaubens arbeiteten, warteten nur auf eine Gelegenheit, um die Cäsaren zu stürzen und über das Menschengeschlecht das Licht des Evangeliums leuchten zu lassen. Denn heilige Finsternis enthält latentes Licht. Steigen doch auch aus dem dunkeln Krater der Vulkane helle Flammen, glühende Lava empor. Die Katakomben, wo die erste Messe gehalten wurde, war nicht nur der Keller der Stadt Rom, sondern auch des Weltalls.

Unter dem herrlichen, aber an vielen Stellen sehr schadhaften Staatsgebäude graben allerhand Arbeiter: Anhänger neuer Religionen, Philosophen, Staatsmänner, Socialisten, Revolutionäre. Ihr Werkzeug ist bald die Idee, bald die Ziffer, bald der Groll. Manche unterhalten Verbindungen mit einander, eine Katakombe nimmt die Hülfe einer andern in Anspruch. Die Utopien begegnen sich bisweilen in den mannigfach verzweigten Gängen und schließen Freundschaft. Ein Rousseau leiht seine Haue einem Diogenes, der ihm dafür mit seiner Laterne leuchtet. Andere Male aber schlagen sie aufeinander los. Dann fährt ein Calvin einem Socinius in die Haare. Aber nichts hemmt noch unterbricht diese Bestrebungen, die alle ein gemeinsames Ziel, die Zerstörung des oberirdischen Gebäudes haben, und die gleichzeitige Thätigkeit, die nach der Seite, nach oben und unten hin in der unbekannten Tiefe herumwühlt, und langsam, Stück für Stück, das Bestehende zerstört, und durch Neues ersetzt. Denn diese Arbeiten bahnen die Zukunft an.

Je tiefer man hinabsteigt, desto schwerer lassen sich die Zwecke und Ziele der Arbeiter erkennen, und desto mehr entfernen sie sich von dem Guten und Vernünftigen, desto furchtbarer erscheinen sie dem Forscher. In eine gewisse Tiefe gelangt der Geist der Civilisation überhaupt nicht mehr, der Kulturmensch kann hier nicht mehr athmen; hier sind die Lebensbedingungen der Entstehung von Ungethümen und Mißbildungen günstig.

An der Spitze der Mineure, die in den verschiedenen, über einander gelegenen Stollen arbeiten, steht je ein Philosoph, ein Sohn des Lichts oder der Finsterniß. Unter Johann Huß, Martin Luther, unter Luther Descartes, unter Descartes Voltaire, unter Voltaire Condorcet, dann Robespierre, Marat, Babeuf, und so geht es immer tiefer hinab. Ganz unten an der Grenze, die das undeutlich Erkennbare von dem Unsichtbaren scheidet, sieht man andere dunkle Gestalten von Menschen, die vielleicht noch nicht existiren. Aber das Auge des Geistes erschaut sie. Denn der Philosoph versteht ahnungsvoll die Arbeit, deren Gebilde die Zukunft ist.

Diese Tiefen bergen eine Welt im Foetuszustande.

Aus so verschiedene Weise nun auch diese im Dienste der Gottheit beschäftigten Minengräber, die sich oft nicht kennen, arbeiten mögen, alle, Weise sowohl wie Thoren, haben ein gemeinsames Merkmal, ein Erkennungszeichen: Die Uneigennützigkeit. Ein Marat ist selbstlos wie Jesus es war. Sie denken nicht an sich, sie haben etwas Anderes im Sinne: Sie suchen das Absolute. Achtet, was er auch thue und treibe, Jeden, in dessen Augen das Licht des Ideales strahlt.

Aber es giebt noch ein anderes Zeichen, an dem man das Wesen der Menschen erkennen kann: In manchen Augen lauert die Finsternis der Hölle. Diese sind die Bösen. Vor diesen hütet Euch und zittert.

An einem gewissen Punkte der Unterwelt beginnt die Dunkelheit des Grabes.

Unter allen den beschriebenen Minen, unter allen unterirdischen Verzweigungen des Fortschritts und der Utopie, viel weiter in die Erde hinein, tiefer als Marat, als Babeuf, viel tiefer und ohne Verbindung mit den oberen Stockwerken befindet sich die letzte Sappe, ein Ort des Schreckens, der Finsternis, die Höhle der Blinden. Inferi.

Sie mündet in den Abgrund der Hölle aus.

Die unterste Schicht

Hier hört die Uneigennützigkeit auf und weicht vor Teufeln zurück. »Jeder für sich!« heult hier das Ich.

Die unheimlichen Gestalten, die bestienhaft, Phantomen ähnlich in der untersten Tiefe herumschleichen, arbeiten nicht für den Fortschritt, von dem sie keinen Begriff haben, den sie nicht dem Namen nach kennen; sie denken nur an die Befriedigung ihrer individuellen Triebe. Sie wissen so gut wie gar nicht, was sie thun; in ihrem moralischen Innern klafft eine grausige Lücke. Sie haben zwei Mütter, beides Stiefmütter, die Unwissenheit und die Armuth. Als Führer dient ihnen ihr Gelüste. Sie sind brutal gefräßig, nicht nach Art des Tyrannen, sonders des Tigers. Das Elend treibt diese Larven, vermöge einer unumgänglichen Notwendigkeit, vermöge einer schrecklichen Logik, zum Verbrechen. Was in der untersten Schicht der Unterwelt herumkriecht, ist nicht die unbefriedigte Sehnsucht nach den Höhen des Ideals, sondern die Empörung des Stoffes.

Wir haben oben eine der höheren Minengänge, den der Freunde des A B C beschrieben, die behufs politischer, revolutionärer und philosophischer Zwecke das bestehende Staatsgebäude unterhöhlten. In dieser Region walten nur edle, lautre, ehrliche Bestrebungen. Allerdings sind auch diese Arbeiter dem Irrthum unterworfen; aber diese Art Irrthum verdient Achtung, denn er geht Hand in Hand mit heldenmüthiger Selbstverleugnung und erstrebt den Fortschritt.

Jetzt müssen wir uns mit den tiefer gelegenen Minen, mit der Verbrecherwelt, beschäftigen.

Wir wiederholen es, unter dem Bau der Gesellschaft wird es bis zum Tage, wo die Unwissenheit ein Ende nimmt, stets eine Höhle geben, wo das Böse weilen wird.

Diese Höhle ist Allem, was sich über ihr befindet, feindlich. Hier herrscht nur blinder Haß, der keine Ausnahme kennt, der Alles vernichten möchte. Für einen Cartouche ist Babeuf ein Ausbeuter, die Schinderhannes halten Marat für einen Aristokraten.

Diese Sappe bezweckt nicht blos die Zerstörung aller bestehenden staatlichen und moralischen Ordnung; sie untergräbt auch die Philosophie, die Wissenschaft, die Rechtsanschauungen, die Ideen, in deren Namen die Arbeiter der oberen Minen wirken. Ihr Name ist Diebstahl, Prostitution, Mord; sie will das Chaos.

In den höheren Schichten erstrebt man nur die Zerstörung der untersten Sappe. Die Anhänger des Fortschritts gebrauchen alle Mittel, über die sie verfügen, die materielle Verbesserung des Bestehenden sowohl, wie die Vertiefung in abstrakte Gedanken, nur zur Erreichung dieses Zwecks. Vernichtet die Unwissenheit, so rottet Ihr das Verbrechen aus.

Alle Gefahren, die den Bestand der Gesellschaft bedrohen, entstammen der Unwissenheit.

Alle Menschen sind aus demselben Stoffe gemacht. Keiner ist, wenigstens hier auf Erden, von vornherein zum Bösen bestimmt. Nur die Unwissenheit hat die Kraft, das sittliche Theil des Menschen zu verderben und es in eine Brutstätte des Bösen zu verwandeln.

Babet, Gueulemer, Claquesous und Montparnasse

Die Pariser Banditenwelt regierte 1815 bis 1830 der Vierbund Claquesous, Gueulemer, Babet und Montparnasse.

Gueulemer war ein Herkules, der seinen Beruf verfehlt hatte. Er hauste in der Kloake l’Arche-Marion. Er war sechs Fuß hoch, hatte eisenfeste Muskeln, einen kolossalen Rumpf und ein Vogelhirn. Man hätte glauben können, man sehe den Herkules von Farnese mit einer Zwillichhose und einer Manchesterjacke bekleidet. Mit dieser außergewöhnlichen Kraft ausgerüstet, hätte er Ungeheuer bezwingen können; er zog aber vor selbst eins zu sein. Bei seiner gewaltigen Muskulatur wäre es ihm ein Leichtes gewesen, die schwerste Arbeit spielend zu bewältigen; aber seine Dummheit wollte von dieser Bethätigung seiner Kraft nichts wissen. So wurde er aus Faulheit ein berufsmäßiger Mörder. — Seine äußere Erscheinung gab natürlich deutliche Kunde von seiner Bestialität und Beschränktheit: Eine niedrige Stirne, breite Schläfen mit Krähenfüßen, obgleich er noch nicht vierzig Jahr alt war, starre, kurze Haare, ein wilder Bart. — Wahrscheinlich hatte er 1815 in Avignon, wo er Lastträger war, an der Ermordung des Marschalls Brune geholfen und war nach dieser Vorbereitung Bandit geworden.

Im grellsten Gegensatz zu Gueulemers Plumpheit stand Babets durchsichtige Magerkeit. Dieser gab sich für einen Chemiker aus. Er war aber Bajazzo bei Bobèche und Bobino gewesen und als Schauspieler in Vaudevillen zu Saint-Mihiel aufgetreten. Auch in intellektueller Hinsicht unterschied er sich vollständig von Gueulemer. Er war ein gebildeter Verbrecher, der sich gern als geistreicher Mann und Schönredner aufspielte. Sein Erwerbszweig war der Hausirhandel mit Gipsbüsten. Außerdem pfuschte er den Zahnärzten ins Handwerk. Ehemals war er auch mit einem anatomischen Museum auf Jahrmärkten herumgezogen und hatte eine Bude mit einem Trompeter gehabt, so wie mit einem großartigen Reklameschild: Babet, Zahnkünstler, Mitglied der wissenschaftlichen Akademien, macht Experimente mit Metallen und Metalloiden, zieht Zähne aus, auch solche, mit denen andere Zahnärzte nicht fertig zu werden verstehen. Preise: Für das Ausziehen eines Zahnes. Ein Franken funfzig Centimes; für zwei Zähne Zwei Franken; für drei Zähne zwei Franken funfzig Centimes. Man benutze die gute Gelegenheit. (Nämlich, um sich recht viel Zähne ausreißen zu lassen.) Er hatte einmal Frau und Kinder gehabt, wußte aber nicht, was aus ihnen geworden war. Er hatte sie verloren, wie andere Leute ihr Taschenbuch. Vermöge einer merkwürdigen Ausnahme las er, was unter Seinesgleichen selten war, die Zeitungen. Da geschah es eines Tages, als er noch mit seiner Familie die Jahrmärkte besuchte, daß er im Messager auf eine für ihn persönlich interessante Notiz stieß. Eine Frau war nämlich von einem lebensfähigen Kinde mit einem Kalbskopf entbunden worden. »Das wäre was für mein Raritätenkabinett!« rief er aus. »Aber so gescheidt ist meine Frau nicht, daß sie mir solch ein Kind schenken würde!«

Seitdem hatte er sich seiner Bude sowie seiner Familie entledigt, um sein Glück in Paris zu suchen.

Claquesous war ein Sohn der Nacht. Er zeigte sich nur, wenn es dunkel war. Des Abends tauchte er aus einem Loch hervor, in das er vor Tagesanbruch zurückkehrte. Wo sich dieses Loch befand, wußte Niemand. Sogar im Finstern wandte er, wenn er mit seinen Spießgesellen sprach, ihnen den Rücken zu. Brachte Jemand ein Talglicht herein, so setzte er eine Maske auf. Hieß er überhaupt Claquesous? Nein. Er selber sagte: Ich heiße »Namenlos.« Auch war er Bauchredner, so daß er über zwei Stimmen verfügte.

Die unheimlichste Kanaille unter den Vieren war Montparnasse. Er war ein junger Bursche, keine zwanzig Jahr alt, mit hübschem Gesicht, kirschrothen Lippen, reizenden schwarzen Haaren und hellen Augen, weibisch anmuthig, aber stark. Dabei voller Laster und zu allerlei Verbrechen bereit. Sein Ueberzieher war schäbig, aber sehr chic. Ueberhaupt sah er patent aus wie ein Modenbild. Seine Vorliebe für feine Kleidung hatte ihn zum Raubmörder gemacht. Die erste Dirne, die zu ihm gesagt hatte: »Du bist ein hübscher Junge!« hatte damit den Keim des Bösen in sein Herz gepflanzt und ihn aus einem Abel in einen Kain verwandelt. War er ein hübscher Kerl, so mußte er doch auch ein feiner Kerl sein, und das Hauptmerkmal der feinen Leute ist der Müßiggang. Der arme Mensch aber, der nicht arbeiten will, muß Verbrecher werden. Bald gab es denn auch in Paris nicht viele Strolche, die so gefürchtet waren, wie Montparnasse. Als er achtzehn Jahr alt war, hatte er schon verschiedene Raubmorde verübt. — Dabei immer niedlich frisirt und pommadirt, eine preußische Lieutenantstaille, Weiberhüften, eine kunstvoll geknüpfte Kravatte, einen Totschläger in der Tasche und eine Blume im Knopfloch; so sah dieser blutdürstige Gigerl aus.

Die Organisation der Bande

Diese vier Banditen bildeten zusammen eine Art Proteus, der, in allerhand Gestalten verwandelt, die neugierige Wachsamkeit der Polizei täuschte. Sie liehen sich ihre Namen und Handwerkskniffe, retteten einander vor ihren Verfolgern, verdichteten sich zu einer Person oder vervielfältigten sich, so daß gewiegte Kriminalisten sie für eine sehr zahlreiche Bande hielten.

Diese vier Menschen waren nicht vier, sondern ein Raubmörder mit vier Köpfen, der en gros arbeitete, eine Art ungeheuerlicher Kraken, der seine vielen Arme nach allen Seiten ausstreckte, um Opfer einzufangen.

Dank ihren mannichfach verzweigten Verbindungen hatten Babet, Gueulemer, Claquesous und Montparnasse alle Verbrechen, die Gewaltthätigkeit und Blutvergießen erheischten, im Departement der Seine so zu sagen in Entreprise. Wie Fürsten und Generäle Staatsstreiche gegen die Gesamtheit vollziehen, so war die Spezialität dieses Ringes die Verübung von Staatsstreichen gegen Einzelpersonen. An sie wandten sich Leute, deren Phantasie lichtscheue Pläne ausgeheckt hatte, und betrauten sie mit der Ausführung. So bekamen sie einen Rahmen, den sie auszufüllen hatten; die Bühnenanweisung, nach der sie die Tragödie spielten. Sie waren in der Lage, zu einträglichen Attentaten eine genügende Anzahl geeigneter Leute stellen zu können.

Gewöhnlich kamen sie bei Einbruch der Nacht, wenn andere Leute schlafen gehen, in den der Salpêtrière benachbarten Steppen zusammen und pflogen Rath, wie sie die Nachtstunden verwenden sollten.

Patron-Minette hieß der Name, mit dem man in der Verbrecherwelt den Bund dieser vier Halunken bezeichnete. Dieses Wort bedeutet in unsrer alten Volkssprache den Morgen, die Zeit, wo die Verbrecher ihre Arbeit beenden. Die Morgensonne verjagt nicht bloß Gespenster, sondern scheucht auch Diebe und Mörder in ihre Schlupfwinkel zurück. Allgemein bekannt war diese Benennung, Patron-Minette, keineswegs. Denn auf eine Frage, die der Vorsitzende des Assisengerichts an Lacenaire richtete, wer denn anders als er ein gewisses, von ihm abgestrittnes Verbrechen begangen haben sollte, antwortete dieser: »Vielleicht Patron-Minette,« ohne daß der Richter ihn verstand. Die Polizei kannte den Namen desto besser.

Diese Verbrecher, die ihr Gesicht nicht gern sehen ließen, gehörten nicht zu den Menschen, denen man gewöhnlich auf der Straße begegnet. Wenn sie ihr scheußliches Nachtwerk beendet hatten, verkrochen sich die Bestien, um zu schlafen, in Gipsöfen, verlassene Steinbrüche oder manchmal in die Kloaken.

Was ist aus diesen Menschen geworden? Nun, Ihresgleichen existiren immer und haben immer existirt. Horaz erwähnt sie. Ambubaiarum collegia, pharmacopolae, mendici, mimae. Und so lange die Gesellschaft so beschaffen sein wird, wie jetzt, werden auch sie so sein, wie sie jetzt sind. Von oben herab sickert immerfort das Naß, das die Keime des Bösen zur Entfaltung bringt, und so pflanzt sich ununterbrochen diese Art Menschen fort, und wenn auch die Individuen vertilgt werden, die Gattung bleibt ewig bestehen.

In dieser Rasse erben sich dieselben geistigen und moralischen Fähigkeiten fort. Sie errathen, wer eine gut gefüllte Börse in der Tasche trägt, sie wittern die goldnen Uhren in den Westentaschen. Die edlen Metalle sind für sie riechbar. Gewissen Spießbürgern sehen sie an, daß sie bestehlbar sind, und schleichen ihnen geduldig nach. Geht ein Fremder oder ein Kleinstädter an ihnen vorüber, so durchzuckt sie dasselbe Gefühl, das die Spinne empfindet, wenn sie einer Fliege ansichtig wird.

Begegnet man derartigen scheußlichen Wesen um Mitternacht auf einem einsamen Boulevard, so scheinen sie Einem nicht Menschen, sondern wandelnde Bestandtheile des Nebels zu sein. Sie sehen aus, als wären sie für gewöhnlich von der nächtlichen Finsterniß nicht verschieden und als hätten sie sich nur auf einige Minuten von der Nacht losgetrennt, um ein gräuliges Sonderdasein zu führen.

Was muß man thun, wenn man diese Art Nachtgespenster verscheuchen will? Das Licht der Aufklärung ihnen entgegenhalten. Vor Licht fürchten sie sich nicht weniger, als die Fledermäuse. Bekämpft die Unwissenheit, die in den unteren Schichten der Gesellschaft herrscht, so wird es keine Verbrechen und Verbrecher mehr geben.

Der böse Arme

Eine merkwürdige Begegnung

Der Sommer, der Herbst verging; der Winter kam und weder Leblanc noch seine Tochter hatte den Fuß in den Jardin du Luxembourg gesetzt. Marius, der an nichts Anderes dachte, als an ihr sanftes, liebes Gesicht, suchte sie immerzu, suchte sie überall und fand keine Spur von ihr. Er war jetzt nicht mehr Marius der Schwärmer, der entschlossene, leidenschaftliche und charakterfeste Mann, der kühn dem Schicksal Trotz bot und rastlos stolze Zukunftspläne schmiedete. Er hatte jetzt jeden Halt verloren, wie ein herrenloser Hund. Düstre Schwermuth bemächtigte sich seiner. Die Arbeit war ihm zuwider, das Spazierengehen ermüdete ihn, die Einsamkeit langweilte ihn; die Natur, die ihm einst eine Fülle von Gestalten, von Klarheit, von Stimmen, Perspektiven, Horizonten, Lehren geboten, lag jetzt leer da. Ihn dünkte, alles sei verschwunden.

Sein Hirn arbeitete noch immer, weil es nicht anders konnte; aber Vergnügen machte ihm das Denken nicht mehr. Und tauchten dennoch Hoffnungen, Pläne, Vorsätze in seinem Geiste auf, so wies er sie zurück mit einem schwermüthigen: »Wozu? Es hat ja keinen Zweck.«

Er machte sich allerlei Vorwürfe. Warum bin ich ihr nachgegangen? Das Glück, sie zu sehen und von ihr gesehen zu werden, war doch groß genug. Augenscheinlich liebte sie mich. Ist das nicht die Hauptsache? Was wollte ich denn eigentlich noch mehr? Ich bin thöricht gewesen. Es ist meine eigene Schuld. U. s. w., u. s. w. — Courfeyrac, den er nicht in sein Herzensgeheimniß eingeweiht hatte, — dies lag nicht in seiner Art, — der aber alles errieth, denn das lag in Courfeyrac’s Art — hatte ihm anfangs Glück dazu gewünscht, daß er sich verliebt habe, worüber er sich nicht wenig wunderte. Dann aber, als er Marius bekümmert sah, sagte er: »Ich sehe schon. Du hast Deine Sache sehr dumm angefangen. Komm mit mir nach der Chaumière,«

Einmal im September ließ sich indessen Marius von Courfeyrac, Laigle und Grantaire dazu bewegen, mit nach Sceaux zum Ball zu gehen. Er rechnete auf das schöne Wetter und gab sich der eigenthümlichen Hoffnung hin, er würde sie vielleicht an diesem Orte finden. Natürlich begegnete er nicht derjenigen, die er suchte. — »Hier findet man doch sonst alle verlornen Frauenzimmer!« ulkte der Skeptiker Grantaire.

Entmuthigt ging Marius ohne seine Freunde fort und machte sich auf den Heimweg, allein, abgespannt, fieberhaft aufgeregt, die Augen von Thränen getrübt, während neben ihm die in Kremsern heimkehrenden Pariser ihre lustigsten Lieder ertönen ließen.

Fortan lebte er einsamer denn je, nur mit dem Gedanken an die Verlorne beschäftigt, von innerer Angst hin und her getrieben, wie ein Wolf im Käfig.

Ein anderes Mal hatte er eine Begegnung, die einen merkwürdigen Eindruck auf ihn machte. Er sah in einer der Nebenstraßen des Boulevard des Invalides einen Mann, der wie ein Arbeiter gekleidet war und eine Mütze mit langem Schirm trug. Der Betreffende hatte schneeweißes Haar, das wegen seiner Schönheit Marius Aufmerksamkeit auf den Alten lenkte. Dieser ging sehr langsam und dem Anschein nach in traurige Gedanken verloren. Sonderbar, er glaubte Leblanc vor sich zu haben. Dieselben Haare, dasselbe Profil, so weit es sich unter der Mütze erkennen ließ, derselbe Gang, nur war die Haltung eine schwermüthigere. Wozu aber die Arbeiterkleidung? Was sollte das bedeuten? Was für Gründe hätte er haben sollen, sich so zu vermummen? Als Marius sich von seinem ersten Erstaunen erholt hatte, war sein erster Gedanke, er müsse dem Manne folgen. Wer weiß, vielleicht war er endlich auf der richtigen Spur. Jedenfalls wollte er ihn sich aus der Nähe ansehen und das Räthsel lösen. Leider kam ihm dieser Einfall zu spät, der Unbekannte war nicht mehr zu sehen. Er mußte in irgend eine kleine Nebenstraße eingebogen sein, und Marius suchte ihn vergeblich.

Diese Begegnung gab ihm Tage lang zu denken. Dann schlug er sie sich aus dem Sinn. »Wahrscheinlich Jemand, der ihm ähnelt!« tröstete er sich.

Ein Fund

Marius wohnte noch immer in dem Gorbeauschen Hause, wo er sich nach wie vor um Niemand bekümmerte.

Allerdings waren damals keine andern Miether darin, als er und die Familie Jondrette, für die er einmal die Miethe bezahlt hatte, ohne je mit dem Vater, der Mutter oder den Töchtern ein Wort gewechselt zu haben. Alle Andern waren entweder gezogen oder gestorben oder exmittirt.

Eines Nachmittags, an dem die Sonne ein wenig zum Vorschein gekommen — es war der 2. Februar, also Lichtmeß, wo »erst die rechte Kälte auf sechs Wochen einfällt«, hatte sich Marius aus seiner Klause hervorgewagt. Es dämmerte, die Essenszeit rückte heran und Marius wollte sich nach seinem Restaurant begeben, denn ach! wir schwachen Menschenkinder brauchen zum Leben noch etwas mehr, als die ideale Liebe.

Er hatte die Schwelle seines Hauses soeben überschritten, die Frau Burgon fegte, während sie in einem denkwürdigen Monologe das Resultat einiger nationalökonomischen und philosophischen Betrachtungen formulirte:

»Was ist denn heutzutage billig? Alles ist theuer. Was hat denn da der arme Mensch vom Leben? Mühe und Arbeit hat er. Das freilich ist ein Kapital, das nie alle wird.«

Marius ging also mit langsamen Schritten nach dem Thor zu, um nach der Rue Saint-Jacques zu gelangen. Er war nachdenklich und sah zu Boden.

Plötzlich rannte Jemand ihn an; er sah sich um und sah zwei zerlumpte junge Mädchen, eine lange und magere und eine kleinere, athemlos und angstvoll an ihm vorübereilen; sie kamen aus der entgegengesetzten Richtung und hatten ihn nicht gesehen. Marius unterschied noch im Dämmerlicht ihre bleichen Gesichter, ihr zerzaustes Haar, ihre greulichen Hüte, ihre ärmliche Kleidung und ihre bloßen Füße. Auch hörte er noch, wie die große sagte:

»Die Lampen kamen, ehe ich’s mir versah. Beinah hätten sie mich abgefaßt.«

»Bin ich kajohlt! Nein, bin ich kajohlt!« antwortete die Andere.

Marius verstand diese abscheuliche Sprache nicht, errieth aber, daß die Polizei die jungen Dinger hatte arretieren wollen, und daß diese sich in Sicherheit gebracht hatten.

Er sah ihnen noch eine Weile nach, bis sie in der Dunkelheit unter den Bäumen verschwanden.

Da bemerkte er, als er sich wieder in Bewegung setzte, ein graues kleines Packet vor sich auf der Erde liegen. Er bückte sich und hob es auf. Es war eine Art Briefumschlag, in dem Papiere steckten.

»Das haben die unglücklichen Dirnen fallen lassen!« dachte er, machte Kehrt, rief, bekam sie aber nicht zu Gesicht. Allerdings lief er nur eine kurze Strecke zurück, in der Ueberzeugung, daß sie schon weit sein müßten. Dann steckte er das Packet in die Tasche und setzte seinen Weg fort.

Unterwegs sah er in der Rue Mouffetard eine Kinderbahre, die mit einem schwarzen Tuch bedeckt, über drei Stühle gelegt und mit einem Talglicht beleuchtet war. Dieser Anblick erinnerte ihn an die beiden Mädchen.

»Arme Mütter!« dachte er. »Es giebt noch etwas Schlimmeres, als sein Kind sterben zu sehen. Nämlich, wenn es auf Abwege geräth.«

Dann lenkte er seine Gedanken wieder in ihre gewöhnliche Bahn und träumte sich zurück in die Zeit, wo er in dem schönen Garten so viel Liebesglück empfunden hatte.

»Wie düster ist mein Leben geworden! Früher beschäftigten sich meine Gedanken mit einem Engel von Mädchen, jetzt mit Vampyren.«

Vierstirnig

Als er sich am Abend auskleidete, um schlafen zu gehen, fand er zufälligerweise in seiner Rocktasche das Packet, das er auf dem Boulevard aufgehoben hatte und das ihm ganz aus dem Sinn gekommen war. Er sagte sich, daß er gut thun würde, es nachzusehen. Vielleicht enthielt es die Adresse der jungen Mädchen, wenn es ihnen überhaupt gehörte, oder irgend welche Angaben, die ihn auf ihre Spur leiten könnten.

Er öffnete den Umschlag.

Er war nicht zugesiegelt und enthielt vier gleichfalls unversiegelte Briefe.

Sie waren mit den Adressen versehen und rochen alle vier nach Taback.

Der erste war adressirt an die »Frau Marquise de Grucheray, Platz vis-à-vis das Abgeordnetenhaus, Nr ….«

Marius meinte, er würde hierin finden, was er suchte, und da der Brief nicht zugemacht war, dürfte er sich erlauben ihn zu lesen.

Er lautete folgendermaßen:

»Gnädigste Frau Marquise!

Die Tugend der Milde und Barmherzigkeit ist das Band, welches die Gesellschaft am engsten verbindet. Entfalten Sie ihr christliches Gefühl und werfen sie einen Blick des Mitleids auf einen unglücklichen Spanier, Opfer seiner Königstreue und heiligen Begeisterung für Trohn und Altar, für die er sein Blut vergossen hat, sein ganzes Vermögen eingebüßt, indem er diese gerechte Sache vertheidigte, und gegenwärtig befindet er sich im größten Elend. Er zweifelt nicht, daß eine so verehrungswürdige Dame ihm eine Unterstützung genehmigen wird, um ein Dasein zu erhalten, das für einen gebildeten und ehrenhaften Militär höchst peinlich, der mit Narben bedäckt ist. Er hofft im Voraus auf die Menschenliebe, die sie beseelt, Gnädigste Frau Marquise, und auf die Teihlnahme, die Sie für eine so unglückliche Nazion hegen. Die Familie wird keine Fehlbitte tuhn, und Ihre Dankbarkeit wird ihr Andenken im Herzen bewahren.

Mit vorzüglichster Ehrerbietung habe ich die Ehre zu sein.

Gnädigste Frau Marquise,

Don Alvares

spanischer Hauptmann der Kavallerie, nach Frankreich geflüchteter

Royalist, der für das Wohl seines Vaterlandes reist

und ihm fehlen die Mittel, seine Reise fortzusätzen.«

Die Wohnung des Bittstellers war nicht angegeben. Marius nahm also den zweiten Brief vor, der an die »Frau Gräfin de Montvernet, Rue Cassette Nr. 9« adressirt war.

In diesem las Marius Folgendes:

»Gnädigste Frau Gräfin!

Eine unglückliche Familienmutter von sächs Kinder, wovon das Lätzte erst acht Monat alt ist, wendet sich an sie, krank seit meiner letzten Entbindung, von meinem Mann seit fünf Monat verlassen ohne Existenzmittel in dem schräckligsten Elend.

In der Hoffnung auf der gnädigsten Frau Gräfin hat sie die Ehre zu sein mit der ausgezeichnetsten Hochachtung

Frau Balizard.«

Marius ging nun zum dritten Brief über, der gleichfalls eine Bittschrift war. Er lautete:

»Herr Pabourgeot, Wähler, Strumpfwaarenhändler en gros,

Rue Saint-Denis Ecke der Rue aux Fers.

Ich erlaube mir diese Zeilen an sie zu richten um Sie zu bitten mich mit ihrer Simpathie zu beehren und Ihre Gönnerschaft einem Schriftställer zuzuwenden, der ein Drama bei dem Théâtre francais eingesandt hat. Der Stoff ist historisch und spielt in der Auvergne zur Zeit des Kaisertuhms. Der Stiel ist, glaube ich, natührlich, lakonisch und hat vielleicht einige gute Eigenschaften. Er enthält an vier Ställen Lieder zum Singen. Komisches, Ernsthaftes, Ueberraschendes sind verknüpft mit der Mannigfaltigkeit der Karaktere und ist die ganze spannende Intrigue leicht romantisch angehaucht, indem die Lösung des Knotens herbeigeführt vermittelst großartigen Effäkten,

Mein Hauptzweck ist Genüge zu leisten dem Verlangen, das der heutige Mensch trägt mit der Zeit fortzuschreiten, nämlich der Mode, jener launenvollen und eigentühmlichen Wetterfahne, die sich fast bei jedem neuen Winde dreht.

Trotz dieser Vorzüge und Verdienste habe ich Grund zu fürchten, daß der Brotneit, der Egoismus der bevorzugten Schriftställer meine Ausschließung vom Teahter durchsetzt, denn ich kenne sehr wohl die Schwierigkeiten, die den Neuen in den Weg gelegt werden.

Hochgeehrter Herr Pabourgeot, ihr gerechter Ruf als aufgeklärter Gönner der Schriftställer flößt mir die Kühnheit ein, meine Tochter zu Ihnen zu schicken, die ihnen unsere bedürftige Lage auseinander setzen wird, indem es uns zu dieser Winterzeit an Brot und Brennmaterial mangelt. Meine Bitte an sie Ihnen mein Drama zu witmen und alle andern, die ich zu schreiben gedenke, wird ihnen beweisen, wie hoch ich die Ehre schätze unter ihrer Protekzion vor die Oeffentlichkeit zu treten und meine Werke mit ihrem wehrten Namen zu zieren. Wenn sie die Geneigtheit haben mich mit der bescheidensten Gabe zu beehren, werde ich sofort beflissen sein ein Gedicht zu machen um Ihnen den Tribut meiner Dankbarkeit darzubringen. Dieses Gedicht, welches ich so vollkommen wie möglich dichten werde, wird ihnen zugeschickt werden, ehe es zu Anfang des Dramas inserirt und auf der Szene deklamirt wird.

Herrn und Frau Pabourgeot

Meine vorzügligste Hochachtung

Genflot, Schriftställer.

P.S. Wenn es auch nicht mehr sind als zwei Franken.

Entschuldigen Sie, daß ich meine Tochter schicke und mich nicht selber vorställe, aber traurige Toilettengründe erlauben mir leider nicht aus dem Hause zu gehen …«

Endlich machte Marius noch den vierten Brief auf. Auf dem Umschlag stand: »An den wohltähtigen Herrn von der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas.« Dieser Brief enthielt folgende Zeilen:

»Wohlthätiger Mann!

Wenn Sie geruhen wollen meine Tochter zu begleiten, werden sie einen elenden Jammer sehen, und werde ich ihnen meine Zeugnisse vorlegen.

Bei dem Anblick dieser Zeilen wird ihr edles Gemüht von einem Gefühl empfindungsvollen Wohlwollens erregt werden, denn die wahren Philosofen empfinden immer innige Rührung.

Gestehen Sie, mitleidiger Mann, das man in der grausamsten Dürftigkeit sein muß, und daß es wehe thut, wenn man eine Unterstützung erhalten will, wenn man es muß von der Obrigkeit bescheinigen lassen, als wenn man nicht das Recht hätte unglücklich zu sein und Hungers zu stärben, bis unserm Elend abgeholfen wird. Das Schicksal ist sehr verhengnißvoll für Manche und zu verschwenderisch oder zu parteiisch für Andere.

Ich erwartete ihr Erscheinen oder Ihre Gabe, wenn sie mir gütigst etwas geben wollen, indem ich Sie ersuche die Versicherung der vorzügligsten Hochachtung zu genehmigen, mit der ich die Ehre habe,

Wahrhaft hochherziger Mann,

zu sein

Ihr ergebenster und gehorsamster Diener

P. Fabantou, Schauspieler.«

Nachdem er diese vier Briefe gelesen, war Marius nicht viel klüger als vorher.

Keiner der Bittsteller gab seine Adresse an.

Ferner schienen sie von vier verschiedenen Personen zu kommen; aber sonderbarer Weise war die Handschrift in allen Briefen dieselbe.

Was ließ sich Anderes schließen, als daß sie alle denselben Verfasser hatten?

Diese Vermuthung wurde durch den Umstand bestätigt, daß alle vier auf demselben groben und vergilbten Papier geschrieben, mit demselben Tabakgeruch getränkt waren, und wenngleich der Versuch gemacht war, jeden Brief in einem andern Stil zu schreiben, so zeigten sich doch dieselben Verstöße gegen die Orthographie überall mit der gleichen Unverfrorenheit, und der »Schriftställer« Genflot hatte sich davon ebenso wenig frei gehalten, wie der spanische Hauptmann.

Sich über die Lösung dieses Räthsels den Kopf zu zerbrechen war eine unnütze Mühe. Hätte es sich nicht um einen zufälligen Fund gehandelt, so hätte man an einen schlechten Witz denken können. Marius hatte zuviel Kummer, um auch einen Spaß des Zufalls gut aufzunehmen und gute Miene zu dem Scherz zu machen, den sich die Straße mit ihm erlaubte. Es kam ihm vor, als spielten die vier Briefe Blindekuh mit ihm.

Nichts deutete übrigens an, daß die Briefe den jungen Mädchen gehörten, denen Marius auf dem Boulevard begegnet war. Offenbar handelte es sich hier um ein ganz wertloses Geschreibsel.

Er steckte sie also wieder in den Umschlag, warf das Ganze in eine Ecke und legte sich zu Bett.

Gegen sieben Uhr Morgens, als er eben aufgestanden und gefrühstückt hatte, und den Versuch machte, sich in eine Arbeit zu vertiefen, klopfte es leise an seine Thür.

Da er nichts hatte, ließ er, auch wenn er ausging, den Schlüssel in der Thür stecken, ausgenommen, was sehr selten vorkam, wenn er eine eilige Arbeit zu erledigen hatte. »Ich sehe es doch kommen, daß Sie bestohlen werden!« mahnte unaufhörlich Frau Burgon. »Was kann man mir denn nehmen?« fragte Marius. Gleichwohl vermißte er doch einmal ein Paar alte Stiefel, was ein großer Triumph für die Vicewirtin war.

Es klopfte zum zweiten Mal, wieder sehr leise.

»Herein!« rief Marius.

Die Thür that sich auf.

»Was wünschen Sie, Frau Burgon?« fragte Marius, ohne von den Büchern und Manuskripten wegzusehen, die auf seinem Tische lagen.

Jemand anders als Frau Burgon antwortete:

»Verzeihung, Herr …«

Es war eine dumpfe, heisere Branntweinstimme.

Marius wandte sich hastig um und sah ein junges Mädchen vor sich.

Eine verkümmerte Rose

Ein blutjunges Mädchen stand auf der Schwelle. Die Luke der Dachstube lag der Thür gerade gegenüber, und das Tageslicht beleuchtete mit fahlem Schein ihre schwächliche, abgezehrte, unentwickelte Gestalt, die blos mit einem Hemd und einem Unterrock bekleidet war. Um die Taille ein Bindfaden, um den Kopf ein Bindfaden, spitze, aus dem Hemde hervorstehende Schultern, eine schwindsüchtige Blässe, stark hervorstehende Schlüsselbeine, rothe Hände, Zahnlücken in dem halbgeöffneten Munde, glanzlose Augen mit dreistem Blick, ein Zwitterding von Alter und Jugend, ein Gemisch von erbarmenswerter Schwäche und abstoßender Gemeinheit — das war das Bild, das sich unserm Marius darbot.

Dieser hatte sich von seinem Sitz erhoben und betrachtete voller Staunen und Schrecken das bejammernswerte Wesen, das einem Traumgespenst ähnlicher war als einem Menschen.

Am peinlichsten und schmerzlichsten berührte an dem jungen Mädchen der Umstand, daß sie von Natur offenbar nicht häßlich veranlagt war. Als Kind, so schien es, mußte sie niedlich gewesen sein. Noch kämpfte hier jugendliche Anmuth mit widerwärtigem, durch Unzucht und Entbehrungen verfrühtem Alter. Ein Rest von Schönheit erstarb eben noch auf dem sechzehnjährigen Gesicht, wie oft an einem Wintertage die matte Sonne schon in der Frühe von häßlichen Wolken verdunkelt wird.

Das Gesicht war Marius nicht ganz unbekannt. Er glaubte sich entsinnen zu können, daß er es irgendwo gesehen hätte.

»Was wünschen Sie, Fräulein?« fragte er.

Das junge Mädchen antwortete mit ihrer rauhen Trunkenboldstimme:

»Ich bringe einen Brief für Sie, Herr Marius.«

Sie nannte ihn bei seinem Namen, und er konnte nicht zweifeln, daß sie in der That ihn sprechen wollte; aber wer war sie? Und woher wußte sie, wie er hieß?

Ohne abzuwarten, daß er sie auffordere näher zu treten, kam sie ungenirt herein und sah sich mit einer Dreistigkeit, die für Marius etwas Peinliches hatte, in dem Zimmer um und auf sein noch nicht in Ordnung gebrachtes Bett. Sie ging barfuß und durch ihren zerlöcherten Unterrock konnte man ihre langen Beine und ihre fleischlosen Kniee sehen. Dabei zitterte sie heftig vor Frost.

Als Marius den Brief aufmachte, den sie ihm überreichte, fiel ihm auf, daß die große und breite Oblate, mit der er versiegelt war, noch Spuren von Feuchtigkeit zeigte. Die Botschaft konnte also nicht weit herkommen. Der Brief lautete:

»Liebenswürdiger junger Herr Nachbar!«

Ich habe erfahren, wie gut sie gegen mich gewesen sind, indem Sie vor sechs Monaten die Miehte für mich bezahlt haben. Ich segne sie dafür, junger Mann. Meine elteste Tochter wird ihnen sagen, daß wir seit vier Tagen keinen Bissen Brot haben, unser vier und eine kranke Frau. Wenn ich mich nicht sehr täusche, glaube ich hoffen zu dürfen, daß Ihr mildtähtiges Herz über diesen meinen Bericht eine menschliche Rührung empfinden und sie des Wunsches teihlhaftig machen wird, milde gegen mich zu sein, indem Sie geruhen wollen, mich mit einer kleinen Gabe zu beglücken.

Ich bin mit der vorzüglichen Hochachtung, die man den Wohlthätern der Menschheit schuldet.

Jondrette.

P. S. Meine Tochter wird Ihre Befehle entgegennehmen, lieber Herr Marius.

Der Brief wirkte wie ein Licht, das plötzlich in einen dunklen Keller gebracht wird. Er klärte das Abenteuer auf, das Marius Tags zuvor passirt war.

Dieses Schreiben kam aus derselben Quelle, wie die vier andern. Dieselbe Handschrift, derselbe Stil, dieselbe Orthographie, dasselbe Papier, derselbe Tabaksgeruch.

Der spanische Hauptmann Don Alvares, die unglückliche Familienmutter Frau Balizard, der Dramenschreiber Genflot, der alte Schauspieler Fabantou hießen alle vier Jondrette, — vorausgesetzt, daß Jondrette selber auch Jondrette hieß. Wie schon erwähnt, hatte Marius in dem ziemlich langen Zeitraum, wo er in dem Hause wohnte, sehr selten Gelegenheit und Lust gehabt, sich um seine armselige Nachbarschaft zu bekümmern. Seine Gedanken, und folglich auch seine Augen, waren mit andern Dingen beschäftigt. Allerdings mußte er den Jondrette auf dem Flur und auf der Treppe mehr als ein Mal begegnet sein; aber sie waren für ihn wie Schatten, und er hatte sie so wenig beachtet, daß er den Abend zuvor auf den Boulevard von den Fräulein Jondrette beinah umgerannt worden war, ohne daß er sie erkannte, denn Diese waren es offenbar gewesen, und daß Diejenige, die jetzt zu ihm in sein Zimmer gekommen war, in ihm neben Widerwillen und Mitleid nur eine schwache Erinnerung geweckt hatte.

Jetzt war ihm alles klar. Sein Nachbar Jondrette beutete in seiner Noth die Mildthätigkeit gutmüthiger Leute gewerbsmäßig aus und schrieb unter falschen Namen Bettelbriefe, die er durch seine Töchter austragen ließ, auf die Gefahr hin, daß die Wohlthäter die Unglücklichen mißbrauchten. Die armen Mädchen waren der Einsatz der Partie, die ihr Vater mit dem Schicksal spielte. Was Marius am Abend zuvor gehört und gesehen hatte, bestätigte ihn auch in der Vermuthung, daß die beklagenswerten Wesen ein abscheuliches Gewerbe betrieben. Auf diese Weise waren in Folge der mangelhaften Gesellschaftsordnung, zwei Unglückliche, die weder Fräulein noch Frauen, sondern zugleich unzüchtige Sünderinnen und unschuldige Kinder waren, unrettbar eben so grausigem, wie unverdientem Elend anheimgefallen. Wesen, die nicht mehr zum Bösen, noch zum Guten fähig sind, und die nach kurzer Kindheit schon nichts mehr auf der Welt haben, weder Freiheit, noch Tugend, noch Verantwortlichkeit. Gestern aufgeblüht, heute schon verwelkt, den Blumen vergleichbar, die auf die Straße geworfen, von allerlei Unrath besudelt und schließlich von einem Wagenrade zermalmt werden.

Mittlerweile ging, während Marius sie verwundert und mitleidig betrachtete, das junge Mädchen in der Dachstube hin und her, dreist wie ein Geist in einem verwunschenen Schloß. Ebenso wenig genirte sie ihre unzulängliche Bekleidung. Es ließ sie sehr kalt, wenn zeitweise ihr zerrissenes Hemde von den Schultern bis zum Gürtel herabfiel. Sie schob die Stühle bei Seite, nahm die Toilettengegenstände, dir auf der Kommode lagen, in die Hand, faßte Marius’ Kleider an und schnüffelte in den Ecken herum. Kurz, sie that, als ob sie zu Hause war.

»Ei, Sie haben einen Spiegel!« sagte sie u. a.

Dann trillerte sie, als ob sie allein gewesen wäre, lustige Lieder, die in ihrem Munde schaurig klangen.

Aber keck, wie sie auftrat, war doch nicht zu verkennen, daß sie sich Zwang anthat und sich im Grunde gedemüthigt fühlte. Man gebärdet sich bisweilen unverschämt, um nicht merken zu lassen, daß man sich schämt.

Es konnte einen Menschenfreund trübe stimmen, wie sie so in dem Zimmer herumirrte, so zu sagen flatterte, wie ein Vogel, der sich vor dem Tageslicht fürchtet, oder dem ein Flügel zerbrachen ist. War es doch augenscheinlich, daß sie bei einer bessern Erziehung und in einer glücklicheren Lebenslage fähig geworden wäre, viel Liebreiz zu entfalten. Ein Thier, das die Natur zur Taube bestimmt hat, kann nie eine Krähe werden. Dergleichen Ausartungen kommen nur bei Menschen vor.

Marius beobachtete sie nachdenklich und ließ sie gewähren.

Endlich kam sie auch an den Tisch.

»Ach, Bücher!« rief sie aus, und ihre glasigen Augen leuchteten auf.

»Ich kann lesen!«

Der Ton ihrer Stimme ließ erkennen, daß sie sich freute mit einem Vorzug, einer Fertigkeit prahlen zu können, ein Glück, gegen das kein menschliches Wesen unempfindlich ist.

Sie griff lebhaft nach dem Buch, das auf dem Tisch lag, und las ziemlich geläufig:

»Der General Bauduin erhielt den Befehl mit den fünf Bataillonen seiner Brigade das Schloß Hougomont zu nehmen, das in der Ebene von Waterloo liegt.«

Hier brach sie ab.

»Waterloo! das kenne ich. Da ist mal eine Schlacht geliefert worden. Mein Vater war auch dabei. Er ist Soldat gewesen. Wir sind stramme Bonapartisten, kann ich Ihnen sagen. Bei Waterloo ging es gegen die Engländer!«

»Und schreiben kann ich auch!« fuhr sie fort, legte das Buch hin, nahm eine Feder zur Hand und wandte sich an Marius mit der Frage:

»Wollen Sie’s sehen? Ich will ein paar Worte schreiben.«

Und ehe er Zeit fand zu einer Antwort, schrieb sie auf ein Blatt weißes Papier, das auf dem Tische lag, die Worte: »Die Greifer sind da.«

»Ohne orthographische Fehler! Sehen Sie’s Sich an. Wir haben die Schule besucht, meine Schwester und ich. Es ist eine Zeit gewesen, wo es uns besser ging, als jetzt. Wir waren zu was Anderm bestimmt, als …«

Hier hielt sie inne, heftete ihre matten Augen auf Marius, lachte laut auf und sagte: »Ach was!« Aus dem Ton sprach herbe Seelenqual, der sie durch Frechheit Herr zu werden suchte.

»Gehen Sie manchmal ins Theater?« fragte sie dann plötzlich. »Ich komme bisweilen hinein. Ich habe nämlich einen kleinen Bruder, der ist mit einigen Schauspielern befreundet und giebt mir manchmal ein Billet ab. Wissen Sie, im Amphitheater sitze ich nicht gern. Da ist es mir zu eng. Bisweilen hat man dicke Leute neben sich, und Manche riechen auch schlecht.«

Darauf musterte sie Marius und sagte mit einem eigenen Gesichtsausdruck:

»Wissen Sie, Herr Marius, daß Sie ein recht hübscher junger Mann sind?«

Sie hatten Beide denselben Gedanken, über den sie lächelte und er erröthete.

Sie trat an ihn heran und legte eine Hand auf seine Schulter:

»Sie beachten mich nicht, aber ich kenne Sie, Herr Marius. Ich begegne Ihnen hier im Hause, auf der Treppe und außerdem sehe ich Sie manchmal, wenn Sie bei einem gewissen Vater Mabeuf in Austerlitz hineingehen. Ich treibe mich nämlich ab und zu in der Gegend herum. Ihre zerzausten Haare kleiden Sie ganz ausgezeichnet.«

Sie bemühte sich ihrer Stimme einen sanften Klang zu geben, sprach aber statt dessen nur sehr leise. Auf dem Wege von dem Kehlkopf bis zu den Lippen ging ein Theil der Worte verloren, wie Töne auf einem Klavier, dem Tasten fehlen.

Marius war sacht zurückgetreten und sagte jetzt mit seinem gewöhnlichen, kühlen Ernste:

»Fräulein, ich habe da ein Paket, das, wie ich glaube, Ihnen gehört. Erlauben Sie mir, es Ihnen zu überreichen.«

Mit diesen Worten übergab er ihr den Umschlag mit den vier Briefen,

Sie klatschte laut in die Hände und rief:

»Das haben wir überall gesucht!«

Darauf ergriff sie lebhaft das Paket und sah die Briefe nach, während sie dabei munter plapperte:

»Nein, was wir gesucht haben, meine Schwester und ich! Und Sie hatten’s gefunden! Auf dem Boulevard, nicht wahr? Das ist meinem Gänschen von Schwester aus der Tasche gefallen, wie wir so schnell gelaufen sind. Als wir nach Hause kommen, war das Ding weg. Da wir keine Keile kriegen wollten — die helfen ja doch zu nichts, zu gar nichts, rein gar nichts —, haben wir zu Hause gesagt, wir hätten sie den Leuten übergeben und nichts besehen. Und nun sind die armen Briefe wieder da. Woran haben Sie denn aber erkannt, daß sie mir gehörten? Ja so, an der Handschrift. Sie waren also Derjenige, gegen den wir gestern Abend angerannt sind. Ja, es war dunkel. Ich habe gleich zu meiner Schwester gesagt: ›Das war ein feiner Herr!‹«

Währenddem hatte sie den Bettelbrief an den wohlthätigen Herrn von der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas auseinander gefaltet.

»I, das ist ja der an den Alten, der die Messe besucht. Es ist gerade jetzt die Zeit. Ich werde mit dem Brief zu ihm gehen. Vielleicht giebt er mir was, damit wir uns was zu Essen kaufen können.«

»Wissen Sie,« fuhr sie fort und lachte, »was sein wird, wenn wir heute zu Mittag essen können? Dann kriegen wir unser Mittag- und Abendessen von vorgestern und gestern, heute, alles zusammen mit einem Mal. Ja ja ja ja! Krepirt, Hunde, wenn ihr nicht zufrieden seid!«

Diese Worte erinnerten Marius, weßwegen die Unglückliche zu ihm gekommen war.

Er suchte in seinen Westentaschen, fand aber nichts.

Das junge Mädchen plapperte weiter, schien sich aber nicht bewußt zu sein, daß Marius da war.

»Manchmal gehe ich des Abends weg. Andere Male komme ich nicht nach Hause. Ehe wir in diesem Hause wohnten, übernachteten wir unter den Brücken. Da rückten wir eng zusammen, damit uns nicht fror. Meine kleine Schwester weinte. Das Wasser sieht doch recht unheimlich aus. Wenn mir mal der Gedanke kam, ich wollte mich ertränken, dachte ich immer: ›Nein, es ist zu kalt!‹ Ich gehe allein aus, wann ich will. Manchmal schlafe ich in einem Graben. Wissen Sie, wenn ich des Nachts auf dem Boulevard herumlaufe, kommen mir die Bäume wie Gabeln vor, ich sehe ganz schwarze Häuser, die so groß sind, wie die Kirche Notre-Dame und bilde mir ein, daß die weißen Mauern die Seine sind. Da denke ich: ›Nanu, da ist ja Wasser!‹ Die Sterne sehen dann auch wie Illuminationslämpchen aus, rauchen und werden vom Wind ausgelöscht. Mir ist zu Muthe, als schnauften mir Pferde in die Ohren, als hörte ich, obgleich es doch Nacht ist, Leierkasten spielen, Webstühle klappern und wer weiß, was noch! Oder ich glaube, daß die Leute mit Steinen nach mir schmeißen, und renne, was ich rennen kann, ohne zu wissen warum, alles dreht sich, dreht sich um mich. Ja ja, es ist ein komisches Gefühl, wenn man lange nichts gegessen hat.«

Und dabei sah sie Marius mit irren Blicken an.

Diesem war es unterdessen nach einer gründlichen Durchsuchung seiner Taschen gelungen, fünf Franken und sechzehn Sous zusammenzubringen, alles, was er augenblicklich auf der Welt besaß. — »Na, es bleibt mir immerhin so viel, daß ich heute ein Abendessen bezahlen kann; nachher wollen wir dann weiter sehen!« Er behielt also die sechzehn Sous und gab dem jungen Mädchen die fünf Franken.

»Hurrah! Ein Sonnenstrahl! Fünf Franken in so’ner Bude! Das nenne ich nobel sein! Sie sind ein guter Junge. Sie gefallen mir. Hurrah! Für zwei Tage Wein und Fleisch und Brod. Wir werden uns den Bauch voll schlagen! Hurrah!«

Sie zog ihr Hemd wieder die Schultern herauf, verbeugte sich tief vor Marius, grüßte ihn dann noch einmal mit einer vertraulichen Handbewegung und wandte sich zum Gehen mit den Worten:

»Adieu, Herr Marius. Ich will aber doch den Alten aufsuchen.«

Da bemerkte sie, als sie an der Kommode vorbeikam, ein vertrocknetes, schimmliges Stück Brod, das sich im Staube herumtrieb, fiel eilig darüber her und biß hinein.

»Das schmeckt!« murmelte sie. »Aber hart ist’s. Man bricht sich die Zähne daran aus.«

Dann ging sie hinaus.

Das Guckloch

Marius hatte mährend der letzten fünf Jahre allerhand Entbehrungen durchgemacht und war sogar dem Hungertode nahe gewesen; aber jetzt wußte er, daß er das wahre Elend nicht kennen gelernt hatte. Das hatte er erst jetzt gesehen. Die Jammergestalt, die ihm so eben vor die Augen getreten, hatte ihm diese neue Offenbarung gebracht. Denn wer einen Mann im Elend gesehen hat, der hat nichts gesehen; man muß wissen, wie viel schrecklicher das Elend des Weibes ist. Und wer das Elend des Vaters kennt, hat auch noch nichts gesehen: Noch gräßlicher ist, was Kinder erdulden müssen.

Wenn der Mann sich keinen Rath mehr weiß, so schreitet er zum Aeußersten, um sich zu retten. Wehe dann den Wehrlosen, über die er als Vater oder Gatte Gewalt hat! Arbeit, Geld, Brod und Muth, guter Wille, lassen ihn alle zugleich im Stich. Leuchtet ihm das Glück nicht mehr, so erlischt auch in seinem Innern das Licht des moralischen Willens. Dann beutet er die Schwäche und Hülflosigkeit des Weibes und des Kindes aus, indem er sie zwingt, den Weg der Schande zu wandeln.

Dann werden alle Scheußlichkeiten möglich. Die Verzweiflung trennen von dem Laster und dem Verbrechen nur gebrechliche Scheidewände.

Diese gräßlichste Wirkung des Elends hatte jetzt das junge Mädchen Marius enthüllt.

Er machte sich Vorwürfe, daß er sich bisher nur in Liebesgedanken und Träumereien ergangen und sich so wenig um seine Nachbarn bekümmert hatte. Daß er ihre Miethe bezahlt, war ja nur eine maschinenmäßige Regung gewesen, der sich Andere auch nicht entzogen hätten: ihm hätte es geziemt, mehr zu thun. Wie! Nur eine dünne Wand trennte ihn von diesen hülflosen Menschen, die in der Nacht des Elends herumtappten, außerhalb der Gesellschaft der Lebenden; er hatte Fühlung mit ihnen, war für sie der letzte, einzige Vertreter der Menschheit und er ließ sie unbeachtet, während sie neben ihm elendiglich verdarben und starben! Jeden Tag, jeden Augenblick hörte er sie gehen, kommen, sprechen, seufzen, stöhnen und er achtete nicht darauf! Statt dessen verlor er sich in Träumereien, baute Luftschlösser, jagte einem unerreichbaren Liebesglück nach, und mittlerweile gingen Brüder in Jesu Christo, Leute aus dem Volke, dessen Wohlfahrt ihm am Herzen lag, zu Grunde. Ja, er war zum Theil Schuld an ihrem Unglück, er machte es noch schlimmer. Denn wenn sie einen aufmerksameren Nachbarn gehabt hätten, und keinen Grübler, so wäre ihr Elend beachtet worden. Man hätte ihre Nothsignale bemerkt, und sie wären jetzt vielleicht schon in einen sichern Hafen gebracht worden. Sie schienen freilich entartet, verderbt, gemein, ja verabscheuungswürdig; aber es giebt nicht Viele, die in Armuth versinken können, ohne zugleich ihre sittliche Kraft einzubüßen. Weist doch schon das Wort »die Elenden« auf eine nothwendige Verbindung zwischen materieller Noth und moralischer Schlechtigkeit hin. Und muß nicht die werkthätige Liebe am energischsten vorgehen, wenn sie einem besonders tiefen Fall gegenübersteht?

Während sich Marius so Moral predigte und, wie dies bei allen wahrhaft ehrlichen Menschen vorkommt, ein strenger Sittenrichter gegen sich selbst war, sich nachdrücklicher ausschalt, als er verdiente, ließ er seine Augen über die Wand schweifen, die ihn von den Jondrettes trennte, als hätten seine mitleidsvollen Blicke zu ihnen gelangen und ihnen milde Lebenswärme spenden können. Die Wand war ganz dünn, nichts als Latten und Balken mit einem dürftigen Kalkbewurf, und man konnte es deutlich hören, wenn auf der andern Seite gesprochen wurde. Es gehörte ein Träumer wie Marius dazu, um solch einen auffälligen Umstand nicht zu bemerken. Weder in Marius Zimmer noch bei den Jondrettes war die Wand mit Tapeten beklebt, so daß man bloß das plumpe Mauerwerk sehen konnte. Dieses untersuchte also Marius ohne bewußte Absicht so gründlich, wie es nur möglich ist, wenn man in tiefe Gedanken verloren ist. Plötzlich sprang er auf: Er hatte ganz oben, dicht unter der Decke ein dreieckiges Loch bemerkt. Zwischen drei Latten war der Kalk herausgebröckelt, und wenn man auf die Kommode stieg, konnte man durch diese Lücke in das Zimmer der Jondrette hineinsehen. Dem Mitleid ist Neugierde erlaubt, und wenn es sich darum handelt, Unglücklichen aus der Noth zu helfen, darf man den Spion spielen. So dachte Marius und beschloß sich den günstigen Zufall zu Nutze zu machen, um zu sehen, was für Leute die Jondrettes seien, und wie es mit ihnen stünde.

Er kletterte auf die Kommode hinauf und sah sich durch das Loch die Nachbarstube an.

Ein Raubthier in seiner Höhle

Die Städte haben wie die Wälder ihre Höhlen, in denen sich allerhand bösartiges und gefährliches Gethier versteckt hält. Aber die Grimmigkeit der Bestien, die in Städten wohnen, hat etwas Gemeines und Widerwärtiges, während die der Bestien im Walde den Stempel des Großartigen trägt und gefällt.

Das Zimmer in das Marius hineinsah, gehörte auch zu jenen Menschenbehausungen, gegen die Thierhöhlen den Vorzug verdienen.

Marius war arm, und in seinem Zimmer sah es dürftig aus; aber so wie seine Armuth edlen Ursprunges war, so herrschte auch Sauberkeit in seinem Dachstübchen. Die Nachbarwohnung dagegen war ein schmutziges, dumpfiges, dunkles, ekelhaftes Hundeloch. An Möbeln ein Strohstuhl, ein wackliger Tisch, etwas mehr oder minder zerbrochenes Geschirr und in zwei Ecken zwei elende Pritschen; dabei keine andere Lichtöffnung als ein Dachfenster mit vier Scheiben, an dem Spinnengewebe die Stelle der Vorhänge vertraten. Durch diese Luke kam gerade soviel Licht herein, daß dabei ein Menschengesicht ganz gespenstisch aussah. Die Wände waren voller Risse und Narben, wie ein von einer abscheulichen Krankheit entstellter, menschlicher Körper und mit schleimigem Schmutz überzogen, mit obscönen Zeichnungen bedeckt.

Marius Stube hatte einen mit zerbrochenen Fliesen gedeckten Fußboden, in dieser sah man weder Steine noch Dielen: Nichts als der bloße, rohe Kalkbewurf, der im Laufe der Zeit schwarz geworden war. Auf diesem ungleichen Boden, auf dem der Staub eine Art Kruste bildete, und den nie ein Besen berührt hatte, lagen unordentlich verstreut, wie Sterne am Firmament, aber minder schön, alte Socken, Schlurren und Lumpen. Indessen hatte das Zimmer einen Kamin, weshalb es auch vierzig Franken jährlich kostete. In diesem Kamin war alles Mögliche zu sehen: ein Kohlenbecken, ein Fleischtopf, zerbrochene Bretter, Lappen, die an Nägeln hingen, ein Käfig, Asche und sogar ein Feuer. Zwei armselige Stücke Holz brannten darin.

Was dieses Loch noch unheimlicher erscheinen ließ, war der Umstand, daß es sehr groß war. Da gab es Vorsprünge, Winkel, dunkle Löcher, Sparrenfächer, Buchten und Vorgebirge. Daher dem Auge unerforschliche Eckräume, wo man riesige Spinnen und Asseln vermuthete oder gar menschliche Ungethüme.

Die eine Pritsche stand in der Nähe der Thür, die andere in der Nähe des Fensters. Beide berührten mit dem einen Ende den Kamin, der in der dem Guckloch gegenüberliegenden Wand angebracht war.

In einem demselben nahe gelegenen Winkel hing an der Wand in einem schwarzen Holzrahmen ein kolorirtes Bild, unter dem mit großen Buchstaben »der Traum« geschrieben stand. Es stellte eine schlafende Frau und ein schlafendes Kind dar; auf dem Schoß der Mutter einen Adler in einer Wolke mit einer Krone, welche die Frau von dem Kopf des Kindes zurückschob, ohne dabei aufzuwachen; im Hintergrund Napoleon in einer Glorie und gestützt auf eine blaue Säule mit gelbem Kapitäl, auf der folgende Inschrift stand:

Marengo.

Austerlitz.

Jena.

Wagram.

Eylau.

Unter diesem Bilde stand, schräg an die Wand gelehnt, eine Art Holztafel, die länger als breit war, vielleicht ein auf der andern Seite bemaltes Schild, das von einer Mauer abgenommen war und für eine spätere Gelegenheit aufbewahrt wurde.

An dem Tisch, auf dem Marius eine Schreibfeder, Tinte und Papier bemerkte, saß ein ungefähr sechzig Jahre alter kleiner, hagrer, blasser Mann, eine widerwärtige Kanaille mit pfiffigen, boshaften, unstäten Augen.

Ein Lavater hätte auf diesem Gesicht eine Verbindung des Geier- und des Staatsanwaltstypus konstatirt, die sich gegenseitig verhäßlichten und ergänzten. Der Rabulist theilte hier nämlich dem Raubvogel seine Nichtswürdigkeit mit, und der Raubvogel ließ den Rabulisten fürchterlich erscheinen.

Der Mann hatte einen langen, grauen Bart. Bekleidet war er mit einem Frauenhemd, das seine zottige Brust und seine mit grauen Haaren bedeckten Arme bloß ließ. Unter dem Hemde kamen mit Koth bespritzte Hosen hervor, und an den Füßen trug er Stiefel, durch deren Löcher die Zehen hervorguckten.

Er hatte eine Pfeife im Munde und rauchte. Es fehlte an Brod im Hause, aber noch nicht an Tabak.

Er schrieb, wahrscheinlich wieder an einem Bettelbrief.

Auf der einen Tischecke lag ein altes Buch mit röthlichem Einband in Duodezformat, vermuthlich ein Roman aus einer Leihbibliothek. Auf dem Deckel prangte eine Aufschrift in großen Buchstaben: »Gott, der König, die Ehre und die Damen, von Ducray-Duminil, 1814.«

Während er schrieb, sprach der Mann laut, und Marius konnte alles verstehen:

»Wenn man bedenkt, daß es selbst nach dem Tode keine Gleichheit giebt! Z. B. der Kirchhof, der Père-Lachaise. Die Vornehmen, die Reichen liegen oben in der Akazienallee, die schön gepflastert und für Equipagen fahrbar ist. Die kleinen Leute, die Armen, die Unglücklichen, werden in dem tiefer gelegnen Theil des Kirchhofs verscharrt, wo man im Koth bis an die Kniee watet, in feuchte Löcher. Da werden sie hineingeschmissen, damit sie desto schneller verfaulen. Man kann ihre Gräber nicht besuchen, ohne daß man im Schmutz versinkt.«

Hier hielt er inne, schlug mit der Faust auf den Tisch, und fuhr zähneknirschend fort:

»O ich könnte die Welt auffressen!«

Vor dem Kamin hockte außerdem eine dicke Frau von durchaus unbestimmbarem Alter.

Auch sie war nur mit einem Hemd bekleidet und mit einem Unterrock, der mit alten Tuchflicken besetzt war, und den eine Schürze aus grober Leinwand zur Hälfte verdeckte. Obgleich die Frau die Beine an den Körper herangezogen hatte, konnte man doch erkennen, daß sie von hoher Statur, eine Riesin im Vergleich mit ihrem Manne war. Sie hatte häßliche, rothblonde, zum Theil schon ergraute Haare, in die sie mit ihren schmierigen, großen Händen von Zeit zu Zeit hineinfuhr.

Neben ihr an der Erde lag ein aufgeschlagenes Buch von demselben Format, wie das auf dem Tische, wahrscheinlich ein anderer Band desselben Romans. Auf einer der Pritschen sah Marius ein hoch aufgeschossenes kleines Mädchen sitzen. Sie war so gut wie unbekleidet, ließ die Füße herabhängen und schien weder zu hören, noch zu sehen, noch irgend eines andern Lebenszeichens fähig zu sein.

Wahrscheinlich die jüngere Schwester des Mädchens, das zu Marius gekommen war.

Auf den ersten Blick schätzte man sie auf elf oder zwölf Jahre. Sah man sie aber genauer an, so erkannte man, daß sie ganz gut vierzehn zählte. Es war diejenige, die am Abend zuvor auf dem Boulevard »Bin ich kajohlt!« gesagt hatte.

Sie gehörte zu derjenigen Gattung von Kindern, die lange zurückbleiben und sich dann mit einem Mal entwickeln, eine Erscheinung, die bei schlecht genährten Wesen häufig vorkommt. Im fünfzehnten Lebensalter sehen sie aus, als wären sie zwölf, im sechzehnten, als wären sie zwanzig Jahre alt. Sie überspringen gleichsam einige Jahre, um das Leben recht schnell hinter sich zu bekommen.

Augenblicklich sah das junge Mädchen noch wie ein Kind aus.

Im Uebrigen waren in dem Zimmer keine Spuren zu sehen, daß seine Bewohner irgend eine Arbeit leisteten, um ihr Brod zu verdienen. Kein Strickrahmen, kein Spinnrocken, kein Werkzeug. Nur einige eiserne Werkzeuge zweifelhafter Natur lagen in einer Ecke. Es herrschte hier jene stumpfe Trägheit, die eine Folge der Verzweiflung ist und dem Untergang vorausgeht.

Dieses ungemüthliche Heim sah sich Marius eine geraume Weile an. Es war fürchterlicher als ein Grab, weil hier menschliches Leben pulsirte.

Die Dachstube, der Keller, wo die unglücklichsten der Enterbten hausen, sind nicht das Grab, wohl aber das Vorzimmer dazu. Aber wie jene Reichen, die ihre schönsten Schätze am Eingang ihres Palastes aufstellen, so scheint auch der Tod, der hier in nächster Nähe weilt, sein größtes Elend in diesem Vorraum aufzuhäufen.

Nach einer Weile schwieg der Mann, sprach die Frau nicht mehr, verhielt sich das kleine Mädchen regungs- und lautloser denn je. Man konnte die Feder auf dem Papier kratzen hören.

Bald aber brummte der Mann wieder:

»Niedertracht! Niedertracht! Alles ist niederträchtig!«

Diese Variante zu einem bekannten, skeptischen Ausspruch des Predigers Salomo entlockte der Frau einen Seufzer.

»So beruhige Dich doch, lieber Mann! Sonst ärgerst Du Dich noch krank mein Schatz. Die Leute sind nicht wert, daß Du an sie schreibst.«

Im Elend rücken, wie bei kaltem Wetter, die Menschen mit ihren Leibern enger zusammen; die Herzen aber entfernen sich von einander. Die Frau da hatte allem Anschein nach den Mann mit der ganzen Empfindungsstärke, deren sie fähig war, geliebt; aber in Folge der täglichen, gegenseitigen Vorwürfe, die sie sich über das Elend der ganzen Familie machten, war dies Gefühl erloschen, bis zu einem geringen Restchen Asche heruntergebrannt. Nur noch die Kosewörter »Lieber Mann,« »mein Schatz« waren, wie dies häufig vorkommt, übrig geblieben. Die sagte sie noch mit dem Munde her, aber ihr Herz wußte nichts davon.

Der Mann schwieg und fing wieder an zu schreiben.

Strategik und Taktik

Mit beklommener Brust wollte Marius endlich von seinem Beobachtungsposten hinuntersteigen, als ein Geräusch seine Aufmerksamkeit fesselte und ihn veranlaße, zu bleiben.

Die Thür der Dachstube wurde heftig aufgerissen, und die älteste Tochter erschien auf der Schwelle.

Sie trug an den Füßen plumpe Männerschuhe, die ebenso wie ihre rothen Knöchel, mit Koth bespritzt waren, und war in eine alte zerlumpte Mantille gehüllt, die sie in Marius Zimmer nicht angehabt hatte. Wahrscheinlich hatte sie, um mehr Mitleid zu erregen, dieselbe vorher an der Thür abgelegt und nachher wieder umgeworfen. Sie kam jetzt herein, warf die Thür hinter sich zu, blieb eine Weile stehen, um wieder zu Athem zu kommen, denn sie war augenscheinlich schnell gelaufen, und rief dann in triumphirendem Tone:

»Er kommt!«

Der Vater, die Frau wandte sich zu ihr hin; ihre kleine Schwester rührte sich nicht.

»Wer?« fragte der Vater.

»Der Herr!«

»Der Menschenfreund?«

»Ja.«

»Von der Kirche Saint-Jacques?«

»Ja.«

»Der Alte?«

»Ja.«

»Er will kommen?«

»Er kommt hinter mir.«

»Bist Du dessen sicher?«

»Vollkommen sicher.«

»Ist’s wirklich wahr, kommt er?«

»In einer Droschke.«

»In einer Droschke. Das muß ja eine Art Rothschild sein.«

Der Vater erhob sich von seinem Sitze.

»Wie kannst Du das aber so sicher wissen? Wie kam es, wenn er fährt, daß Du vor ihm hier bist? Hast Du ihm auch unsere Adresse gegeben? Hast Du ihm auch gesagt, die letzte Thür hinten im Flur rechts? Wenn er sich nur nicht irrt! Du hast ihn also in der Kirche gesprochen? Hat er meinen Brief gelesen? Was hat er zu Dir gesagt?«

»Sachte, sachte, sachte, Alter! Die Sache ist so zugegangen. Er war in der Kirche an seinem gewöhnlichen Platz. Ich habe meinen Diener gemacht und ihm Deinen Brief übergeben. Er las ihn und fragte: ›Wo wohnen Sie, mein Kind?‹ Ich antwortete: ›Ich werde Sie hinführen, mein Herr.‹ Darauf sagte er: ›Nein, sagen Sie mir Ihre Adresse, meine Tochter hat Einkäufe zu machen, ich will eine Droschke nehmen und werde gleichzeitig mit Ihnen in Ihrer Wohnung ankommen.‹ Da habe ich ihm natürlich unsere Adresse gesagt. Als ich die Straße und Hausnummer nannte, schien er sich zu wundern und zögerte einen Augenblick, dann aber sagte er: ›Na, ich werde kommen.‹ Als die Messe zu Ende war, sah ich ihn mit seiner Tochter aus der Kirche herausgehen, und dann stiegen sie in eine Droschke. Ich hab’ ihm auch genau das Zimmer bezeichnet:

›Die letzte Thür im Korridor rechts.‹«

»Und woraus schließt Du, daß er auch wirklich kommen wird?«

»Ich habe eben die Droschke in der Rue du Petit-Banquier gesehen. Deshalb bin ich so schnell gelaufen.«

»Woher weißt Du, daß es dieselbe Droschke ist?«

»Na, weil ich mir die Nummer gemerkt habe?«

»Welche Nummer ist es?«

»Nr. 440.«

»Bravo, Du bist ein gescheidtes Frauenzimmer.«

Das junge Mädchen sah ihrem Vater dreist ins Gesicht und erwiederte, indem sie auf ihre Schuhe zeigte:

»Gescheidt? Mag sein. Aber das sage ich Dir: Die Schuhe ziehe ich nicht mehr an. Ich will sie nicht mehr. Aus Gesundheitsrücksichten nicht und wegen der Schmutzerei. Ich kenne nichts Unangenehmeres als Schuhzeug, das bei jedem Schritt quurkst. Da will ich lieber barfuß gehen.«

»Du hast Recht,« antwortete der Vater mit einer Sanftmuth, die von dem Unmuth der Tochter sonderbar abstach, »leider würde man Dich aber nicht in die Kirche hineinlassen. Die Armen müssen Schuhe an den Füßen haben. — Mit bloßen Füßen darf man den lieben Gott nicht besuchen,« fügte er bitter hinzu. Dann kehrte er zu dem Gegenstand, der ihm im Kopf herumging, zurück und fragte wieder: »Bist Du aber auch sicher, daß er kommt, was man ›sicher‹ nennt?«

»Er folgt mir auf dem Fuße.«

Der Mann richtete sich in die Höhe. In seinem Gesicht leuchtete es wie von einer großartigen Eingebung auf.

»Frau, hörst Du? Der Menschenfreund kommt. Lösche das Feuer im Kamin aus.«

Sie sah ihn verdutzt an und rührte sich nicht.

Da ergriff der Vater, hurtig und gelenkig wie ein Seiltänzer, einen Topf mit abgebrochener Tülle, der auf dem Kaminsims stand, und goß Wasser auf das brennende Holz.

Dann wandte er sich an seine älteste Tochter:

»Und Du machst den Stuhl entzwei!«

Seine Tochter verstand nicht, was er meinte.

Da packte er den Stuhl und schlug mit dem Absatz so heftig auf den Strohsitz, daß der Fuß hindurch drang.

Während er das Bein aus dem Loch herauszog, fragte er seine Tochter:

»Ist es kalt?«

»Sehr kalt. Es schneit.«

Nun rief der Vater der jüngsten Tochter, die auf dem Bett am Fenster saß, mit donnernder Stimme die Worte zu:

»Herunter von dem Bett, Faulpelz! Fix! Bist Du denn zu gar nichts zu gebrauchen? Schlage eine Fensterscheibe entzwei!«

Die Kleine sprang zitternd vom Bett auf.

»Schlage eine Scheibe ein!« schrie er wieder.

Die Kleine blieb regungslos stehen.

»Hörst Du nichts? Du sollst eine Scheibe einschlagen!«

Das eingeschüchterte Mädchen gehorchte, richtete sich auf die Fußspitzen empor und schlug mit der Faust auf eine Scheibe. Laut klirrend fiel das ausgebrochene Glas hinunter.

»So ist’s gut!« sagte der Vater.

Nun überschaute er sorgfältig das ganze Zimmer.

Seine Miene war die eines Menschen, der einen gewichtigen Entschluß gefaßt, der sich mit einem genialen Gedanken trägt. Er glich einem Feldherrn, der die letzten Vorbereitungen zu einer Schlacht trifft.

Die Mutter, die noch kein Wort gesprochen, stand jetzt auf und fragte langsam und dumpf:

»Lieber Mann, was hast Du vor?«

»Lege Dich ins Bett!« kommandirte er in einem Tone, der keine Widerrede gestattete. Sie gehorchte auch und plumpste schwer auf die Pritsche nieder.

Währenddem hörte man ein Geschluchz in der Ecke.

»Was ist denn?« fragte der Vater.

Statt der Antwort hob das jüngste Mädchen, ohne aus der dunkeln Ecke, wo sie sich hingekauert hatte, hervorzukommen, ihre mit Blut überströmte Hand in die Höhe. Sie hatte sich an dem Glase verletzt und war an das Bett zu ihrer Mutter gegangen.

Jetzt fuhr die Mutter auf und schrie:

»Da siehst Du, was Du für Dummheiten machst. Nun hat sich das arme Kind an Deiner vermaledeiten Scheibe die Hand zu Schanden geschlagen.«

»Desto besser! Das wollte ich!«

»Wie heißt: Desto besser?« gab sie zurück.

»Ruhig!« donnerte er. »Jetzt keine Redefreiheit!«

Dann riß er von dem Frauenhemd, das er am Leibe trug, einen Fetzen ab und verband damit hurtig, die blutige Hand der Kleinen.

Als er hiermit fertig war, sah er mit Wohlgefallen auf sein zerrissenes Hemd hinab.

»Das Hemde auch,« sagte er. »So, nun hat alles den richtigen Schick.«

Durch das zerschlagene Fenster pfiff der kalte Wind und wehte Schnee in die Stube hinein. Auch ein weißlicher Dunst kam herein und breitete sich darin gleichsam aus wie feine Watte, die von unsichtbaren Händen auseinander gezogen wurde. Die von der Lichtmeßsonne angekündigte Kälte hatte sich wirklich eingestellt.

Der Vater hielt nun noch einmal Umschau, ob er nichts vergessen hätte. Er fand auch noch etwas, das er in Ordnung bringen mußte. Er ergriff nämlich eine alte Schippe und schüttete Asche über die befeuchteten Holzbrände, so daß sie vollständig darunter verschwanden.

Nun endlich war er zufrieden, richtete sich auf, lehnte sich an den Kamin und sagte.

»So, jetzt können wir den Philanthropen empfangen.«

Eine Lichtgestalt in der Hölle

Die älteste Tochter trat an ihren Vater heran und legte ihre Hand auf die ihres Vaters.

»Fühle mal, wie kalt mir ist,« sagte sie.

»Ach was!« antwortete der Vater. »Mir ist noch viel kälter.«

»Ja, mit Dir ist immer mehr los, als mit Anderen!« rief ärgerlich die Mutter dazwischen. »Nicht einmal im Unglück kann’s Dir Einer gleich thun.«

»Willst Du wohl kuschen!« rief er und sah sie auf eine Weise an, daß ihr die Lust verging, auch nur ein Wörtchen hinzuzufügen.

Nun herrschte eine Zeit lang Stillschweigen in dem Hundeloch. Die älteste Tochter säuberte mit sorgloser Miene ihre Mantille von den Schmutzflecken, die jüngere schluchzte weiter; die Mutter hatte sie an sich gezogen, hielt ihren Kopf mit beiden Hemden umfaßt und küßte unausgesetzt ihr weinendes Kind.

»So sei doch ruhig, mein süßes Leben; es ist ja nicht so schlimm. Weine doch nicht so; Dein Papa wird böse werden.«

»Denk nicht dran!« rief dieser. »Im Gegentheil. Schluchze und stöhne nur. Das wird sich sehr gut machen.«

Dann aber wandte er sich wieder an seine älteste Tochter:

»Donnerwetter, der läßt auf sich warten! Wenn er nur überhaupt kommt. Ich hätte ja dann für nichts und wieder nichts das Feuer ausgelöscht, den Stuhl kaput gemacht, mein Hemd zerrissen und die Scheibe zerschlagen!«

»Und die Kleine verwundet!« brummte die Mutter.

»Wißt Ihr,« fuhr der Vater fort, »in dieser vermaledeiten Bude ist eine Hundekälte. Wenn er nun nicht käme! Nun natürlich! Er denkt: Die können warten; dazu sind sie ja da. O wie ich sie hasse, mit welcher Freude, Wonne, Begeisterung, Genugthuung ich sie erwürgen könnte, die Reichen, alle Reichen, alle sogenannten mildthätigen Reichen, die zur Kirche gehen, mit dem Pfaffengeschmeiß unter einer Decke stecken; uns über die Religion was vorsalbadern, wischiwaschi, sich für was Besseres halten, uns demüthigen, uns Kleider, wie sie die elenden Lumpen nennen, und Brod bringen, was soll ich damit anfangen? Geld will ich, verdammtes Gesindel! Geld! Aber das geben sie Einem nicht, angeblich weil wir’s vertrinken würden, weil wir Trunkenbolde und Faulpelze sind! Was sind sie denn aber, und was sind sie von jeher gewesen? Spitzbuben sind sie gewesen, sonst wären sie nicht reich geworden. O könnte man doch die Gesellschaft auf ein Tuch legen und in die Luft wippen! Dann würde vielleicht alles entzwei gehen, aber dann hätte wenigstens Keiner was, und das wäre doch ein Gewinn! — Aber was macht denn Dein alter Stiesel von Philanthrop? Wird er kommen? Der Dussel hat vielleicht die Adresse verschwitzt. Ich möchte wetten, das alte Rindvieh …«

In dem Augenblick klopfte Jemand leise an die Thür; sofort stürzte der wüthige Redner auf die Thür zu, riß sie mit rasender Hast auf und empfing seinen Besuch mit devoten Blicken und glücklichem Lächeln.

»Treten Sie näher, mein Herr! Geruhen Sie näher zu treten, mein hochverehrter Wohlthäter, Sie und Ihr reizendes Fräulein Tochter.«

Ein Mann von reifem Alter und ein junges Mädchen erschienen auf der Schwelle der Stubenthür.

Was Marius, der seinen Posten nicht verlassen hatte, in diesem Augenblick empfand, kann keine menschliche Zunge beschreiben.

»Sie« war es!

Wer je ein Weib geliebt hat, weiß, wieviel herrliche Bedeutungen die Verbindung der drei Buchstaben des Wortes »sie« auszudrücken vermag. Sie war es wirklich. Kaum war er ihrer ansichtig geworden, so legte sich ein lichter Dunst, durch den er sie kaum noch unterscheiden konnte, vor seine Augen. Der Stern stand wieder am Firmament seines Glückes, der ihm sechs Monate lang geleuchtet.

Sie war noch immer dieselbe, nur ein wenig blaß. Ihr zartes Gesichtchen war von einem violetten Sammthut umrahmt, ihre Taille verhüllte ein schwarzer Atlaspelz.

Sie kam wieder in Begleitung Leblanc’s und trug ein ziemlich großes Packet, das sie auf den Tisch legte.

Jondrette weint beinahe

Die Dachstube war so dunkel, daß die Ankömmlinge anfangs nichts deutlich erkennen konnten. Die Jondrettes dagegen, deren Augen an das Dämmerlicht gewöhnt waren, konnten sie besser sehen.

»Sie werden,« sagte Leblanc zu Jondrette, »in diesem Packet neue Kleidungsstücke, Strümpfe und wollene Decken finden.«

»Wie sollen wir nur für soviel Engelsgüte danken!« sagte Jondrette, indem er sich bis zur Erde verneigte. Seiner Tochter aber raunte er, während die Besucher sich das Zimmer ansahen, ins Ohr:

»Hatte ich’s nicht gesagt? Lumpen, aber kein Geld. — Sag mal, wie war der Brief an das alte Rhinoceros unterschrieben?«

»Fabantou!«

Es war ein Glück für Jondrette, daß er sich bei Zeiten nach seinem Namen erkundigte. Denn in demselben Augenblick drehte sich auch schon Leblanc nach ihm um und sagte mit fragender Miene:

»Ich sehe, daß Sie sehr zu beklagen sind, Herr …«

»Fabantou!« ergänzte eifrig Jondrette.

»Herr Fabantou. Richtig, ich entsinne mich jetzt.«

»Fabantou, Schauspieler und kein ganz unberühmter.«

Hier hielt Jondrette es offenbar an der Zeit, ein Rührspiel vor dem »Menschenfreund« aufzuführen. Er deklamirte halb ruhmredig wie ein Jahrmarktsclown, halb demüthig wie ein Bettler: »Sie sehen einen Schüler Talma’s, des großen Talma vor Sich! Fortuna hat mir einstmals gelächelt. Aber ach! Das falsche Weib hat mir den Rücken gewendet und jetzt -. Doch wozu bedarf es vieler Worte! Kein Feuer im Kamin, woran meine armen Kinder sich wärmen könnten! Kein Brod! Mein einziger Stuhl ist entzwei, eine Fensterscheibe zertrümmert, bei diesem unholden Wetter! Meine teure Lebensgefährtin bettlägerig, siech!«

»Arme Frau!« sagte Leblanc.

»Meine jüngste Tochter gefährlich verletzt!«

Die Kleine hatte über der Ankunft der Fremden ihre Schmerzen ganz vergessen und betrachtete, statt pflichtgemäß zu wimmern, das schöne Fräulein.

»So plärre doch! Brülle!« flüsterte ihr Jondrette zu und kniff sie heimlich mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers in die kranke Hand. Selbstredend erzielte er die gewünschte Wirkung. Die Kleine schrie ungemein natürlich.

»Armes Kind!« sagte mit rührendem Mitleid das liebenswürdige, junge Mädchen, die Marius in seinem Herzen seine Ursala nannte.

»Sie sehen, schönes Fräulein, wie ihr Handgelenk blutet!« erläuterte Jondrette. »Sie arbeitet an einer Maschine für sechs Sous täglich, und da ist ihr der Unfall zugestoßen. Vielleicht muß der Arm amputirt werden!«

»Wirklich? — Um Gottes Willen!« rief entsetzt der alte Herr.

Und die Kleine, die das für wahr hielt, heulte und schluchzte wieder sehr natürlich.

»Ja, leider, mein edler Wohlthäter!« bekräftigte Jondrette.

Währenddem betrachte er aber den »Philanthropen« mit einer ganz sonderbaren Miene, wie Jemand, der alte Erinnerungen wach zu rufen strebt, Dann ging er plötzlich, während Leblanc und seine Tochter sich theilnahmvoll mit gut dem kleinen Mädchen unterhielten, zu seiner Frau, die mit gespielter Stumpfsinnigkeit da lag, und flüsterte lebhaft:

»Sieh Dir doch mal den Mann genau an!«

Dann wendete er sich wieder an Leblanc und jammerte weiter:

»Sehen Sie mich an, mein Herr. Keine andere Kleidung, als ein Hemd von meiner Frau! Ein ganz zerrissenes! Mitten im strengsten Winter. Ich kann nicht ausgehen, aus Mangel an einem Rock. Ich würde sonst Fräulein Mars aufsuchen. Sie wohnt ja wohl noch in der Rue de la Tour-des-Dames? Wir haben nämlich zusammen in der Provinz gespielt und Lorbeern gepflückt. Célimène, kann ich Sie versichern, würde mir zu Hülfe kommen; Elmire würde Belisar unter die Arme greifen. Aber wo Geld zu einem Rock hernehmen? Und einen Arzt zu bezahlen, der mir mein unglückliches Weib und mein Kind kurirt?

Und wissen Sie noch, mein reizendes Fräulein und mein großmüthiger Gönner, was meinem armen Vaterherzen die schwersten Sorgen macht? Die Zukunft meiner Töchter! Sie, die meine Aelteste alle Tage in der Kirche sieht, werden Verständniß haben für die Gefühle, die mich bewegen. Wie soll ich sie bei meiner Armuth davor bewahren, daß sie einmal dem Laster in die Arme sinken? Ich habe sie religiös erzogen, habe sie nicht zur Bühne gehen lassen, und stets darauf gesehen, daß sie auf dem Pfade der Tugend, der Ehre, der Moral bleiben. Fragen Sie sie nur, wie wenig Spaß ich in dem Punkt verstehe. Aber die Armuth ist eine schlechte Arbeitgeberin, und wenn ich einmal die Augen schließe, möchte ich, daß sie zuvor etwas Ordentliches gelernt haben, damit sie allen Versuchungen desto besser widerstehen können. Und nun denken Sie Sich, mein hochherziger Wohlthäter: Unser Hauswirt will uns morgen den 4. Februar auf die Straße werfen lassen. Bekommt er heute Abend seine Miethe nicht bezahlt, so kampiren wir alle Vier, meine älteste Tochter, ich, mein krankes Weib, mein jüngstes Kind mit seiner gefährlichen Wunde morgen auf dem Boulevard, ohne Obdach, unter freiem Himmel, im Schnee, im Regen. Ich bin die Miethe für ein ganzes Jahr schuldig geblieben. Sechzig Franken!«

Jondrette log. Es waren noch nicht sechs Monate her, seitdem Marius die Miethe für ihn bezahlt hatte.

Leblanc nahm fünf Franken aus seiner Tasche und warf sie auf den Tisch.

»Der Filz!« flüsterte Jondrette seiner Tochter zu. »Was soll ich mit seinen fünf Franken anfangen. Nicht einmal den Stuhl und die Fensterscheibe kann ich dafür wieder in Stand setzen lassen. Da mache sich Einer noch Unkosten!«

Mittlerweile hatte Leblanc den braunen Ueberzieher ausgezogen, den er über seinem blauen Rock trug, und ihn über die Stuhllehne gelegt.

»Herr Fabantou, ich habe nur noch fünf Franken bei mir; aber ich werde meine Tochter nach Hause bringen und heute Abend wiederkommen. Sie sagten ja wohl, daß Ihre Miethe heute Abend fällig ist?«

Jondrette’s Gesicht nahm einen eigenthümlichen Ausdruck an, und er antwortete eifrig:

»Ja wohl, mein hochgeehrter Gönner. Um acht Uhr muß ich bei meinem Wirt sein.«

»Ich werde um sechs Uhr hier sein und Ihnen die sechzig Franken bringen!«

»Mein Wohlthäter!« rief Jondrette in extatischer Wonne.

»Sieh ihn Dir ordentlich an!« wiederholte er dann noch einmal leise zu seiner Frau.

Leblanc, der unterdessen seiner Tochter den Arm gegeben hatte, wandte sich jetzt der Thür zu, indem er sagte:

»Also heute Abend, liebe Freunde, sehen wir uns wieder!«

»Um sechs Uhr?« fragte Jondrette.

»Schlag sechs Uhr.«

In diesem Augenblick bemerkte die älteste Tochter den Ueberzieher, der auf dem Stuhl liegen geblieben war.

»Mein Herr, Sie vergessen Ihren Ueberrock.«

Jondrette schleuderte ihr einen grimmigen Blick zu und zuckte die Achseln so heftig, als wolle er sie sich ausrenken.

Leblanc aber wandte sich lächelnd um und sagte:

»Ich habe ihn nicht vergessen, Ihr Vater soll ihn behalten.«

»O mein Gönner,« rief Jondrette, »mein hochsinniger, erhabener Wohlthäter, ich zerschmelze in Rührungsthränen. Gestatten Sie, daß ich Sie bis zu Ihrer Droschke geleite.«

»Wenn Sie ausgehen,« erwiederte Leblanc, »so ziehen Sie diesen Ueberrock an,« Es ist wirklich sehr kalt.

Das ließ sich Jondrette nicht zweimal sagen, sondern zog schleunigst den braunen Ueberrock an.

Dann gingen sie alle Drei hinaus, Jondrette voran.

Zwei Franken pro Stunde

Kaum hatte sich die Thür hinter ihnen geschlossen, als Marius von der Kommode herabstieg und nach seinem Hute griff. Denn natürlich beschäftigte ihn nur der eine Gedanke, daß er ihr folgen müsse, um zu erfahren, wo sie wohne. Aber als er eben die Thür ausmachen wollte, stieg ein Bedenken in ihm auf. Der Flur war lang, die Treppe steil, Freund Jondrette geschwätzig, und Leblanc hatte gewiß noch nicht die Zeit gehabt, in seine Droschke zu steigen. Drehte er sich aber auf dem Flur oder auf der Treppe um und sah er Marius in diesem Hause, so war vorauszusehen, daß er wieder ein Mittel suchen und finden würde ihm zu entwischen. Was thun? Ein wenig warten? Dann fuhr vielleicht während der Zeit die Droschke weg. Endlich, nachdem er in seiner Verlegenheit eine Weile gezaudert hatte, faßte er sich ein Herz und eilte aus seinem Zimmer hinaus.

Es war kein Mensch mehr auf dem Korridor, noch auf der Treppe. Er rannte in aller Eile hinab und stürzte noch zur rechten Zeit hinaus, um eine Droschke zu erblicken, die in die Rue du Petit-Banquier einbog und nach der Stadt fuhr.

Marius rannte ihr schleunigst nach. An der Ecke des Boulevard angelangt, sah er wie die Droschke rasch die Rue Mouffetard entlang fuhr. Sie hatte schon einen weiten Vorsprung und er durfte nicht hoffen, daß er sie einholen könnte. Auch war zu bedenken, daß Leblanc ihn bemerken und erkennen würde. Da führte ihm ein wunderbarer Zufall ein freies Regiekabriolett entgegen, das gerade den Boulevard entlang fuhr.

»Auf Zeit!« rief Marius dem Kutscher zu, indem er ihm ein Zeichen gab, anzuhalten.

Marius war ohne Halstuch, trug seinen alten Arbeitsrock, an dem Knöpfe fehlten, und sein Hemd war vorn auf der Brust zerrissen.

Der Kutscher hielt an, zwinkerte mit den Augen und streckte seine linke Hand vor, indem er den Daumen gegen den Zeigefinger rieb.

»Was wollen Sie?«

»Zahlen Sie im Voraus.«

Da fiel Marius ein, daß er nur sechszehn Sous bei sich hatte.

»Wieviel?«

»Vierzig Sous.«

»Ich werde bezahlen, wenn ich wieder zu Hause bin.«

Statt aller Antwort begann der Kutscher ein Liedchen zu pfeifen und peitschte sein Pferd.

Marius starrte dem Kabriolett wie irrsinnig nach. Wegen der fehlenden vierundzwanzig Sous verlor er seine Freude, sein Glück, seine Liebe, sank er wieder in die Nacht zurück. Er dachte mit Bitterkeit und mit tiefem Bedauern an die fünf Franken zurück, die er am Vormittag an nichtsnutziges Pack verschenkt hatte. Voller Verzweiflung kehrte er nach Hause zurück.

Im Begriff die Treppe hinaufzusteigen, bemerkte er noch auf der andern Seite des Boulevard, an der einsamen Mauer der Barrière des Gobelins, Jondrette, der mit einem Marius wohl bekannten Strolch sprach. Es war der schon damals berühmte Bigrenaille, auf den Courfeyrac seinen Freund Marius aufmerksam gemacht hatte.

Das Elend bietet dem Kummer seine Dienste an

Als Marius eben in seine Klause hineingehen wollte, sah er hinter sich Jondrette’s älteste Tochter. Ihr Anblick war ihm verhaßt. Hatte sie doch die fünf Franken, deren Verlust ihm so verhängnisvoll geworden war. Sie konnte ihm auch nicht Leblanc’s Adresse sagen, denn der Bettelbrief an ihn war »an den wohlthätigen Herrn von der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas« adressirt.

Er trat also, ohne seine junge Nachbarin zu beachten, in sein Zimmer; als er aber die Thür hinter sich zuwerfen wollte, fühlte er Widerstand. Er sah sich um und rief:

»Was soll das heißen? Wer ist da?«

Es war das Fräulein Jondrette, die ihn hinderte die Thür ganz zuzumachen.

»Sie!« fuhr Marius sie an, »Schon wieder? Was wollen Sie von mir?«

Sie schien nachdenklich und trat nicht so keck auf wie am Vormittag, denn sie folgte ihm nicht in sein Zimmer und blieb in dem finstern Korridor stehen.

»Nun, werden Sie antworten? Was wollen Sie?«

Es leuchtete etwas in ihren trüben Augen auf, als sie antwortete:

»Herr Marius, Sie haben Kummer. Was fehlt Ihnen?«

»Mir? Gar nichts!«

»Doch!«

»Nein, sage ich Ihnen!«

»Und ich sage Ja!«

»Lassen Sie mich zufrieden!«

Marius wollte wieder die Thür zudrücken, und sie trat wieder auf die Schwelle, um ihn daran zu hindern.

»Es ist Unrecht von Ihnen, daß Sie mich so behandeln. Obgleich Sie nicht reich sind, haben Sie Sich heute Morgen freigebig gegen mich gezeigt. Seien Sie jetzt wieder gut gegen mich, Sie haben mir vorhin den Hunger gestillt, lassen Sie mich jetzt wissen, was Ihnen fehlt, Sie haben Kummer. Das sieht man Ihnen an. Kann ich Ihnen irgendwie dagegen helfen? Ich verlange nicht, daß Sie mir Ihre Geheimnisse mittheilen, aber ich kann Ihnen ja trotzdem meinen Beistand leihen, so gut wie meinem Vater. Wenn Briefe ausgetragen, wenn Erkundigungen eingezogen, Wohnungsadressen ausgeforscht werden sollen, so besorge ich das. Und wenn Sie sagen wollen, worum es sich handelt, kann ich ja auch zu den Betreffenden gehen und mit ihnen sprechen. Auf die Weise wird ja so Manches auf der Welt in das rechte Geleise gebracht. Verfügen Sie also über meine Dienste.«

Diese Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. Woran klammert man sich nicht an, wenn man zu ertrinken im Begriff ist!

Er trat an sie heran.

»Gut. Hör’ mich an …«

Sie fiel ihm ins Wort, indem ein Freudenstrahl in ihren Augen aufblitzte. »So ist’s recht. Duzen Sie mich. Das ist mir lieber.«

»Du hast doch den alten Herrn nebst seiner Tochter hierher gebracht …«

»Ganz richtig.«

»Weißt Du, wo sie wohnen?«

»Nein.«

»So forsche es aus.«

Die Augen des jungen Mädchens verdüsterten sich.

»Das wollen Sie?«

»Ja.«

»Kennen Sie die Herrschaften?«

»Nein.«

»D. h. also, Sie kennen das schöne Fräulein nicht, aber Sie möchten sie kennen lernen.«

In diesem Uebergang von den »Herrschaften« zu dem »jungen Mädchen« lag eine bedeutungsvolle Bitterkeit.

»Nun, kannst Du’s möglich machen?«

»Sie sollen die Adresse des schönen Fräuleins erfahren.«

Wieder sprach sie die Worte »das schöne Fräulein« mit einer Betonung aus, die Marius unangenehm war.

»Gleichviel, ob es die Adresse des Vaters oder der Tochter ist. Wo sie wohnen, will ich wissen. Damit basta.«

Sie sah ihn scharf an.

»Was bekomme ich dafür?«

»Alles, was Du von mir verlangen wirst.«

»Alles, was ich verlangen werde?«

»Ja.«

»Sie sollen die Adresse erfahren.«

Sie neigte die Stirn zur Erde und machte dann mit einer raschen Bewegung die Thür zu.

Marius war wieder allein.

Er sank auf einen Stuhl nieder und sinnirte trübselig über die Erlebnisse des Tages.

Plötzlich wurden seine Grübeleien durch den Nachbar gestört, den er nebenan laut reden hörte.

»Ich sage Dir, ich bin meiner Sache sicher. Ich habe ihn wiedererkannt!«

Von wem sprach Jondrette? Von Herrn Leblanc, dem Vater seiner »Ursula?« Also kannte ihn Jondrette? Vielleicht bot sich jetzt eine Gelegenheit den Schleier zu lüften, zu erfahren, wer der Unbekannte und seine holde Tochter war! Herr des Himmels! Dieses Glück!

Er schwang sich hastig auf die Kommode hinauf und nahm wieder seinen Beobachtungsposten an dem Guckloch ein.

Was für Leblancs fünf Franken angeschafft wurde

Bei dem Nachbar sah es so aus wie vorher, außer daß die Frau und die Töchter das Paket aufgemacht und die darin vorgefundnen wollnen Strümpfe und Jacken angezogen hatten. Desgleichen lagen zwei neue Decken auf den Betten.

Augenscheinlich war Jondrette eben erst zurückgekommen, denn er keuchte noch von der raschen Bewegung im Freien. Seine Töchter kauerten vor dem Kamin an der Erde und die Aelteste verband die schlimme Hand ihrer Schwester. Die Frau saß wie zusammengeknickt auf dem einen Bett und zeigte ein erstauntes Gesicht. Jondrette ging mit großen Schritten im Zimmer aus und ab, und in seinen Augen blitzte es unheimlich.

»Wirklich! Bist Du der Sache sicher?«

»Ganz sicher! Es sind acht Jahre her, aber ich habe ihn wiedererkannt, sofort wiedererkannt. Hast Du denn nicht gleich gemerkt, wen Du vor Dir hattest?«

»Nein.«

»Ich habe Dir aber doch gesagt: Passe auf! Es ist dieselbe Statur, dasselbe Gesicht, nur wenig gealtert, denn manche Leute — weiß der Himmel, wie sie’s machen — altern nicht — und dieselbe Stimme. Bloß daß er besser gekleidet ist. Aber warte, vermaledeiter alter Geheimnißkrämer. Dir besorge ich’s!«

Hier brach er ab und fuhr seine Töchter an.

»Macht, daß Ihr fortkommt. — Sonderbar, daß Du’s nicht gemerkt hast.«

Die Mutter fragte schüchtern:

»Mit der kranken Hand soll die Kleine ausgehen?«

»Die Luft wird ihr gut thun. — Geht!«

Es war nicht zu verkennen, daß Jondrette zu Denen gehörte, die keinen Widerspruch dulden. Die Töchter gingen hinaus.

In dem Augenblick aber, als sie die Schwelle überschreiten wollten, hielt der Vater die Aelteste zurück und sagte mit einer besondern Betonung:

»Punkt fünf Uhr seid Ihr wieder hier. Alle Beide. Ich brauche Euch.«

Marius paßte jetzt noch eifriger auf.

Als er mit seiner Frau allein war, ging Jondrette wieder zwei bis drei Mal stillschweigend im Zimmer hin und her. Plötzlich wandte er sich zu seiner Frau, kreuzte die Arme und rief:

»Weißt Du noch was? Das Fräulein …«

»Nun, was ist denn mit der?«

Marius konnte keinen Zweifel hegen, daß von »ihr« die Rede war und lauschte angestrengt, als gelte es sein Leben, auf das, was nun gesagt werden würde.

Aber Jondrette neigte sich zu seiner Frau nieder und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Darauf richtete er sich wieder empor und fuhr laut fort:

»Die ist es.«

»Die?« fragte die Frau.

»Die!« bestätigte er.

Worte können nicht ausdrücken, wie sie dieses Wort »Die« aussprach. Erstaunen, Wuth, Haß, Zorn malten sich in ihren Zügen. Die dicke, eben noch schläfrige Frau war munter geworden und ebenso schrecklich wie scheußlich anzusehen.

»Nicht möglich!« rief sie aus. »Wenn ich denke, daß meine Töchter barfuß gehen und kein Kleid anzuziehen haben! Wie! Ein Pelz mit Atlas besetzt, ein Sammthut, seidene Schuhe, und alles Mögliche! Ein Anzug, der reichlich seine zweihundert Franken kostet. Man könnte sie für was Vornehmes halten. Nein, Du irrst Dich! Die Andere war greulich häßlich, und die hier ist nicht übel! Sie kann es nicht sein!«

»Sie ist es aber. Du wirst ja sehen.«

Bei dieser Bekräftigung, die jede fernere Widerrede ausschloß, richtete Frau Jondrette ihr breites, rothes Gesicht gegen die Decke empor. In diesem Augenblick kam sie Marius noch tigerhafter vor als ihr Herr Gemahl.

»Was! Der Ekel von schönem Fräulein, das meine Töchter mitleidig ansah, und die Lumpenjöhre von dazumal sind ein und dieselbe Person! Könnte ich ihr doch die Kaldaunen aus dem Leibe trampeln!«

Nach einer Pause kam Jondrette wieder auf sie zu und blieb mit gekreuzten Armen vor ihr stehen.

»Soll ich Dir noch was sagen?«

»Nun?«

»Jetzt ist mein Glück gemacht.«

Seine Frau sah ihn an, als fürchte sie, er habe plötzlich den Verstand verloren.

Er aber fuhr fort:

»Donner und Satan! Ich habe lange genug das Lied ›Hungerleider, mein Gemüthe‹ gesungen! Jetzt kommt mir der faule Spaß zum Halse hinaus. Ich will mich doch auch mal satt fressen, mich voll saufen, mich ausschlafen und nichts thun. Ich muß doch endlich auch drankommen, ehe ich krepire, auch mal ein Bischen auf dem Geldsack sitzen!«

»Was willst Du damit sagen?« fragte sie.

Er schüttelte den Kopf, blinzelte mit den Augen und erhob seine Stimme wie ein Marktschreier, der einen »wissenschaftlichen« Beweis führen will.

»Was ich meine? Höre zu!«

»Pst!« flüstere Frau Jondrette, »nicht so laut, wenn es Dinge sind, die Niemand hören darf.«

»Ach was? Wer soll uns denn hören? Der Nachbar? Den habe ich eben ausgehen sehen. Uebrigens hört der dumme Junge so wie so nichts. Aber wie gesagt, er ist nicht zu Hause.«

Trotzdem senkte Jondrette instinktmäßig die Stimme, sprach aber doch nicht so leise, daß seine Worte für Marius nicht vernehmbar geblieben wären. Begünstigt wurde der Lauscher hierbei durch den Umstand, daß der Schnee das Wagengerassel auf dem Boulevard dämpfte.

Er hörte aber Folgendes:

»Heute Abend langen wir uns den Krösus. Ich habe schon die passenden Leute dazu bestellt. Um sechs Uhr ist der Nachbar nie zu Hause, und Frau Burgon hat heute in der Stadt zu thun. Die Mädchen stehen Wache. Du hilfst uns. Er wird aber nichts thun und ruhig herausrücken.«

»Wenn er Euch aber nicht an seinen Geldbeutel heranläßt?«

»Dann geht’s ihm an den Kragen!« sagte er und lachte, so daß Marius dabei schauderte.

Darauf nahm er aus einem Wandschrank eine alte Mütze und sagte:

»Jetzt gehe ich aus. Ich muß noch mehr Leute engagiren. Ich kenne noch ein paar stramme Kerle, mit denen es sich gut arbeiten läßt. Ich werde nicht lange wegbleiben. Unterdessen hüte Du das Haus.«

Und indem er beide Hände in die Hosentaschen versenkt hielt, blieb er nachdenklich eine Weile stehen und rief dann:

»Weißt Du, es ist doch ein wahres Glück, daß er mich nicht erkannt hat. Dann wäre er nämlich nicht wiedergekommen, und wir hätten das Nachsehen gehabt. Das habe ich bloß meinem Bart, meinem allerliebsten romantischen Bart zu verdanken.«

Und er brach wieder in eine höhnische Lache aus.

»Was für ein Hundewetter!« fuhr er dann fort, indem er in das Schneegestöber hinaussah.

Dann knöpfte er sich den Ueberzieher zu und sagte:

»Der alte Halunke hat mir einen großen Gefallen gethan, daß er seinen Ueberzieher hier gelassen hat. Sonst hätte ich nicht ausgehen können, und aus dem schönen Fang wäre nichts geworden. Wieviel doch manchmal auf eine Kleinigkeit ankommt!«

Damit drückte er sich die Mütze tief ins Gesicht und ging hinaus.

Nach wenigen Augenblicken aber that sich die Thür wieder auf und in der Oeffnung zeigte sich sein kluges Raubthierprofil.

»Ich habe etwas vergessen. Kauf Dir Kohlen.«

Dabei warf er seiner Frau das Fünffrankenstück, das ihm der Menschenfreund geschenkt hatte, in den Schoß.

»Wieviel?« fragte sie.

»Zwei Maß.«

»Macht dreißig Sous. Für das übrige Geld kaufe ich was zu essen.«

»Den Teufel auch!«

»Warum nicht?«

»Gieb das Geld nicht aus. Ich habe meinerseits auch etwas zu kaufen.«

»Was?«

»Etwas.«

»Wieviel brauchst Du?«

»Wo wohnt hier ein Eisenkrämer in der Nähe?«

»In der Rue Mouffetard.«

»Ach richtig, an einer Ecke; ich kenne den Laden.«

»Aber sage mir doch, wieviel Du zu Deinem Einkauf brauchst.«

»Zwei bis drei Franken.«

»Da wird nicht viel für das Abendessen übrig bleiben.«

»Heute ist das Essen Nebensache. Wir haben an Wichtigeres zu denken.«

»Wie Du willst, mein Schatz.«

Dieses Mal machte Jondrette die Thür definitiv zu, und Marius hörte, wie er rasch den Korridor entlang und die Treppe hinunterging.

In demselben Augenblicke schlug es ein Uhr auf dem nächsten Kirchturm.

Zwei, die nicht zusammen beten

Trotz all seinem Hang zur Träumerei war Marius ein charakterfester und energischer junger Mann. Seine einsiedlerischen Gewohnheiten hatten ihn wohl verständnißvollem Mitleid zugänglicher gemacht und in demselben Maße seine Erregbarkeit herabgemindert; aber die Fähigkeit über Nichtswürdigkeit sittliche Entrüstung zu empfinden, war ungeschwächt geblieben. Er war wohlwollend wie ein Brahmane und streng wie ein Richter. Er konnte Mitleid mit einer Kröte haben, aber eine Viper zertrat er. Deshalb dachte er auch in Bezug auf die Familie Jondrette: »Das Gesindel muß unschädlich gemacht werden.« Der Vater der jungen Dame, die er schwärmerisch liebte, ja vielleicht sie selber, lief eine große Gefahr, und er war entschlossen, den gefährlichen Plan der Jondrette zu vereiteln.

Nachdem der Mann weggegangen war, beobachtete Marius noch eine Weile die Frau, die eine Kochmaschine aus einer Ecke hervorzog und in altem Eisen kramte.

Diese gute Gelegenheit benutzte er und stieg, so leise er konnte, von der Kommode herab.

Aber was nun? Die Bedrohten warnen war unmöglich, da er ihre Adresse nicht kannte. Auf Herrn Leblanc am Abend an der Hausthür warten? Dann hätten ihn Jondrette und dessen Spießgesellen gesehen, und da die Gegend menschenleer und seine Gegner die Stärkeren waren, konnten sie seine Absichten leicht genug vereiteln. Glücklicher Weise gab es aber noch ein anderes Mittel Leblanc zu retten, und es fehlte auch nicht an Zeit, es anzuwenden.

Marius zog also seinen anständigen Rock an, band sich ein Tuch um den Hals, setzte den Hut auf und ging aus, ohne mehr Geräusch zu machen, als wenn er mit bloßen Füßen auf Moos spaziert wäre.

Außerdem rumorte Frau Jondrette noch immer mit dem Eisenkram.

Auf der Straße angelangt, wendete er seine Schritte nach der Rue du Petit-Banquier.

Er befand sich schon in der Mitte dieser Straße, an deren einer Seite sich eine sehr niedrige Mauer hinzog, und ging geräuschlos über den Schnee dahin, als er plötzlich in seiner Nähe Menschenstimmen vernahm. Er wandte sich um, sah aber niemand, und bog sich über die Mauer, an der in der That zwei Menschen auf der andern Seite saßen und leise mit einander sprachen.

»Da der Patron-Minette die Sache in die Hand genommen hat,« sagte der Eine, der sich durch einen üppigen Haarwuchs auszeichnete, »kann’s nicht fehlschlagen.«

»Meinst Du?« erwiederte der Andere, ein Mann mit starkem Bart und einem Fez.

»Fünfhundert Franken für Jeden und im schlimmsten Fall fünf, sechs Jahre, höchstens zehn.«

Der Bärtige antwortete etwas zögernd:

»Ein hübsches Stück Geld! So was läßt man sich nicht gern entgehen.«

»Keine Möglichkeit, sage ich Dir, daß die Sache schief geht. Wir kriegen einen Wagen von Vater Dingsda.«

Darauf sprachen sie von einem Melodrama, daß sie sich am Abend zuvor in dem Theater de la Gaîté angesehen hatten.

Marius setzte seinen Weg fort.

Ihm wollte scheinen, als stünden die dunklen Anspielungen der beiden sonderbaren und unheimlichen Gesellen in irgend einer Beziehung zu dem ruchlosen Plane Jondrettes.

Er wendete seine Schritte nach der Vorstadt Saint-Marceau und fragte im ersten besten Laden nach dem nächsten Polizeibüreau. Man wies ihn nach der Ruhe de Pontoise Nr. 14.

Dorthin begab sich nun Marius.

Als er an einem Bäckerladen vorbeikam, kaufte er für zwei Sous Brod und verzehrte es sofort, da er voraussah, daß an ein regelrechtes Mittagessen heute nicht mehr zu denken sein würde.

Unterwegs ließ er der Vorsehung Gerechtigkeit widerfahren. Er sagte sich, daß er Leblanc am Vormittag nachgefahren wäre, wenn er nicht vorher Jondrettes Tochter die fünf Franken gegeben hätte, und dann hätte er Jondrette nicht belauscht und könnte nun nicht mehr der Ausführung des nichtswürdigen Komplotts vorbeugen.

Zwei Terzerole

Rue de Pontoise Nr. 14 angekommen, fragte Marius nach dem Polizeikommissar.

»Der Herr Polizeikommissar ist nicht da,« beschied ihn ein Bureaudiener; »aber Sie können den Inspektor sprechen, der ihn vertritt. Hat die Sache Eile?«

»Ja!« sagte Marius.

Der Bureaudiener führte ihn in das Arbeitszimmer des Polizeikommissars. Hier stand hinter einem Gitter ein Mann von hoher Statur an einen Ofen gelehnt und hielt mit den Händen die beiden Schöße seines langes Reitrocks empor. Er hatte ein viereckiges Gesicht, dünne, energisch gezeichnete Lippen, einen starken, grimmigen Backenbart und Augen mit durchdringendem, sozusagen visitirendem Blick.

Der Mann sah nicht weniger bösartig und gefährlich aus wie Jondrette. Wenn man einer Dogge begegnet, ängstigt man sich bisweilen ebenso, als wenn man auf einen Wolf stößt.

»Was wollen Sie?« fragte er kurz, ohne weitere Höflichkeitsformeln.

»Ich komme wegen einer Sache, die geheim gehalten werden muß.«

»Sprechen Sie.«

»Und die eine eilige Erledigung erheischt.«

»Dann sprechen Sie schnell.«

Der zugleich ruhige und barsche Mann flößte sowohl Furcht wie Zutrauen ein. Marius erzählte ihm also ausführlich den Plan, den Jondrette ausgeheckt hatte. Als er zum Schluß als Schauplatz des beabsichtigten Verbrechens das Gorbeausche Haus, Boulevard de l’ Hôpital Nr. 50 und 52, nannte, hob der Polizeiinspektor den Kopf in die Höhe und fragte ruhig:

»Also in dem Zimmer ganz hinten im Flur?«

»Ganz richtig. Kennen Sie das Haus?«

Der Polizeiinspektor schwieg ein wenig und antwortete dann, indem er sich den Absatz an der Ofenöffnung wärmte:

»Selbstredend.«

Und mehr zu sich selber als zu Marius sagte er:

»Da hat gewiß der Patron-Minette seine Hand im Spiel.«

»Das Wort habe ich gehört!« fiel hier Marius lebhaft ein.

Und er berichtete dem Inspektor das Gespräch, das er an der Mauer in der Rue du Petit-Banquier belauscht hatte.

»Der mit den starken Haaren wird Brujon und der Bärtige Demi-Liard, genannt Deux-Milliards, sein.«

Wieder senkte er die Augenlider und sann nach.

»Was den Vater Dingsda betrifft, so kann ich mir ungefähr denken, wer das ist. Schöne Bescherung! Da habe ich mir den Rock verbrannt. Die Oefen werden doch immer zu stark geheizt. Nr. 50 und 52. Das ehemalige Gorbeausche Haus. Die Bude kenne ich. Keine Möglichkeit, sich drinnen zu verstecken, ohne gesehen zu werden. Die Herren würden dann einfach die Komödie abbestellen. Bescheidene Leute! Spielen nicht gern vor dem Publikum. Auf die Weise geht’s nicht. Ich will sie singen hören und dann sollen sie tanzen.«

Nach diesem Monologe wandte er sich wieder an Marius und fragte ihn, während er ihm scharf in die Augen sah:

»Werden Sie Sich fürchten?«

»Wovor?« fragte Marius.

»Vor den Kerlen?«

»Eben so wenig als vor Ihnen!« herrschte ihn Marius an, dem der Polizeiinspektor nicht höflich genug war.

Dieser sah ihn jetzt noch schärfer an und fuhr dann in lehrhaftem und feierlichem Tone fort:

»Sie reden da wie ein tapferer und ein ehrlicher Mann. Der Muth fürchtet das Verbrechen nicht, und die Ehrlichkeit läßt sich von der Obrigkeit nicht einschüchtern.«

»Sehr wohl!« fiel ihm Marius ins Wort; »aber was gedenken Sie zu thun?«

»Die Miether in jenem Hause haben Jeder einen Hausschlüssel. Sie doch auch?«

»Ja wohl.«

»Haben Sie ihn bei sich?«

»Ja.«

»Geben Sie ihn mir.«

Marius nahm den Hausschlüssel und übergab ihn dem Polizeiinspektor mit den Worten:

»Wenn Sie meinem Rath folgen wollen, so bringen Sie recht viele und starke Leute mit.«

Der Polizeiinspektor belehrte Marius mit einem stolzen Blick, daß er keines Rathes bedürfe; fuhr dann mit seinen beiden gewaltigen Händen zugleich in seine ungeheuren Rocktaschen und holte zwei kleine Terzerole hervor. Diese hielt er Marius hin und sagte mit energisch raschem Tone:

»Hier, nehmen Sie die mit. Gehen Sie nach Hause. Halten Sie Sich in Ihrem Zimmer verborgen. Jedermann muß glauben, Sie wären ausgegangen. Die Pistolen sind je mit zwei Kugeln geladen. Beobachten Sie durch das Loch in der Wand, was bei Ihren Nachbarsleuten vorgeht. Wenn die Hallunken kommen, so warten Sie, bis die ganze Sache ein bischen im Gange ist. Wenn Sie denken, daß es Zeit ist, einzuschreiten, so feuern Sie einen Schuß ab. Nicht zu früh! Das Uebrige geht mich an. Einen Pistolenschuß in die Luft, gegen die Decke, wohin Sie wollen. Vor allen Dingen nicht zu früh. Warten Sie, bis ein Anfang gemacht ist. Als Advokat werden Sie ja wissen, was das heißt.«

Marius nahm die Terzerole und steckte sie in eine Rocktasche.

»Das steht vor und könnte auffallen,« sagte der Inspektor. »Stecken Sie die Dinger lieber in die Hosentaschen.«

Marius willfahrte ihm.

»So,« fuhr der Inspektor fort, »nun darf Niemand mehr eine Minute Zeit verlieren. Wieviel Uhr ist es? Halb drei. Und um sieben Uhr soll’s losgehen?«

»Um sechs.«

»Dann habe ich noch Zeit, so viel wie nöthig ist, nicht mehr. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe: Piff paff! Ein Schuß.«

»Seien Sie unbesorgt!«

Und als Marius schon die Hand auf der Thürklinke hatte, rief ihm der Polizeiinspektor noch nach:

»Noch eins! Sollten Sie mich bis dahin noch zu sprechen wünschen, so kommen Sie oder schicken Sie Jemand her. Fragen Sie in dem Fall nach dem Polizeiinspektor Javert.«

Was Jondrette kaufte

Einige Minuten nachher, etwa um drei Uhr, kam Courfeyrac in Begleitung seines Freundes Laigle zufälliger Weise durch die Rue Mouffetard. Plötzlich bemerkte Laigle Marius, der nach dem Thor zuging.

»Sieh da! Unser Freund Marius!«

»Ich habe ihn schon gesehen,« meinte Courfeyrac. »Wir wollen ihn nicht anreden.«

»Warum?«

»Er ist beschäftigt.«

»Womit?«

»Sieh ihn Dir doch an, was für ein Gesicht er macht!«

»Was meinst Du?«

»Er sieht aus, als ginge er hinter Jemand her.«

»Das stimmt,« meinte Laigle.

»Sieh doch, was er für Augen macht!«

»Aber wem mag er denn nachgehen?«

»Na, er wird was Liebes haben.«

»Ja, es ist aber in der ganzen Straße kein einziges Frauenzimmer zu sehen.«

Courfeyrac sah genauer hin und rief dann plötzlich:

»Ich danke, er läuft einem Mann nach!«

In der Thal ging zwanzig Schritte vor Marius ein Mann mit einer Mütze, dessen grauen Bart man von hinten unterscheiden konnte.

Der Mann trug einen ganz neuen Ueberzieher, der zu groß für ihn war, und ein Paar zerlumpte, von Schmutz geschwärzte Beinkleider.

Laigle lachte laut auf.

»Was mag denn das für Einer sein?«

»Ein Dichter,« meinte Courfeyrac. »Die Dichter tragen häufig Lumpensammlerhosen und patente Ueberzieher.«

»Wie wäre es, wenn wir Marius nachgingen und sähen, wo er hingeht?«

»Ist das eine unschlaue Idee, einem Mann nachzulaufen, der einem Mann nachläuft!«

Und sie machten Kehrt.

Jondrette aber ging weiter, ohne zu ahnen, daß ihm schon ein Verfolger auf den Fersen war. Marius sah ihn in ein sehr verdächtiges Haus der Rue Gracieuse hineingehen, wo er sich etwa eine Viertelstunde aufhielt; dann kam er nach der Rue Mouffetard zurück, wo er in den Laden eines Eisenkrämers trat, und als er wieder herauskam, hielt er einen großen Hartmeißel mit weißem Holzstiel in der Hand, den er alsbald unter seinem Ueberzieher verbarg. Dann eilte er weiter in der Richtung der Rue du Petit-Banquier. Um diese Zeit neigte sich der Tag schon seinem Ende zu und es dunkelte um so schneller, als das Schneegestöber nach einer kurzen Ruhepause jetzt wieder an Stärke zunahm. Marius folgte Jondrette nicht in die menschenleere Rue du Petit-Banquier hinein, sondern legte sich hinter der Ecke auf die Lauer. Das war ein gescheidter Einfall, denn in der Nähe der Mauer, wo Marius das Gespräch zwischen den beiden Strolchen belauscht hatte, drehte sich Jondrette um, vergewisserte sich, daß Niemand ihn beobachtete, kletterte dann über die Mauer und verschwand.

An das unbebaute Grundstück, das hinter dieser Mauer lag, stieß der Hinterhof eines übel berüchtigten, ehemaligen Wagenvermiethers, der fallirt hatte und noch unter seinen Schuppen einige Fuhrwerke zu stehen hatte.

Marius sah ein, daß es rathsam war, Jondrette’s Abwesenheit zu benutzen um nach Hause zurückzukehren. Zudem war es auch schon spät. Denn alle Abende pflegte Frau Burgon, wenn sie auf Arbeit ging, das Haus zu verschließen, und da Marius seinen Hausschlüssel dem Polizeiinspektor gegeben hatte, so mußte er sich beeilen.

Zum Glück war das Haus noch nicht zu, als er heimkam. Er stieg die Treppe auf den Fußspitzen hinauf und schlich sich an der Wand des Korridors entlang bis zu seinem Zimmer hin. Als er vor einem der unbewohnten Zimmer, die Frau Burgon gewöhnlich offen stehenließ, vorbeikam, sah er darin vier Männerköpfe, die das Tageslicht noch schwach beleuchtete. Da er aber selber nicht gesehen werden wollte, unterließ er es, die verdächtigen Gestalten in näheren Augenschein zu nehmen und beeilte sich, geräuschlos in sein Zimmer zu gelangen. Es war auch die höchste Zeit, daß er zurückgelehrt war. Denn einen Augenblick später hörte er, wie Frau Burgon wegging und die Hausthür zuschloß.

Ein Lied aus dem Jahre 1832

Marius setzte sich auf sein Bett. Es mochte halb sechs sein. Eine halbe Stunde nur trennte ihn also noch von dem, was kommen sollte. Sein Puls hämmerte so laut, daß er das Geräusch eben so deutlich hören konnte, wie das Ticktack einer Taschenuhr im Dunkeln. Eigentliche Furcht hatte er nicht, sah aber doch auch nicht ohne eine gewisse Beklommenheit dem entscheidungsvollen Ereigniß entgegen. Zudem hatte er, wie dies bei allen außergewöhnlichen Erlebnissen der Fall zu sein pflegt, die Empfindung, als sei Alles ein böser Traum, und er mußte, um wieder Fühlung mit der Wirklichkeit zu gewinnen, von Zeit zu Zeit die kalten, stählernen Terzerole in seinen Taschen anfassen.

Es hatte jetzt aufgehört zu schneien, und der Mond, der allmählich heller und heller durch den Abenddunst hindurchschien, erzeugte im Verein mit dem weißen Wiederschein des gefallenen Schnees eine dämmrige Beleuchtung in dem Stübchen.

In dem Zimmer der Familie Jondrette war Licht. Denn Marius sah durch das Loch in der Wand eine rothe Helligkeit, die ihn an die Farbe des Blutes erinnerte.

Es war einleuchtend, daß diese Helligkeit nicht von einem Talglicht herrühren konnte. Im Uebrigen herrschte nebenan eine unheimliche Grabesstille.

Marius zog leise seine Stiefel aus und schob sie unter das Bett.

Einige Minuten vergingen. Dann knarrte die Hausthür in ihren Angeln, schwere und schnelle Tritte kamen die Treppe herauf und den Korridor entlang; die Thür bei den Nachbaren wurde rasch aufgemacht. Es war Jondrette der nach Hause kam.

Sofort wurde es laut nebenan. Die ganze Familie war da. Sie hatte nur in der Abwesenheit des Hausherrn Stillschweigen beobachtet, wie junge Wölfe, wenn der Vater nicht im Bau ist.

»Ich bin’s!« sagte er.

»N’ Abend, Vater!« begrüßten ihn seine Töchter.

»Nun, wie steht’s?« fragte die Mutter.

»Es geht alles wie geschmiert, aber mir ist hundemäßig kalt an den Füßen. So ist’s recht, Du hast Dich fein angezogen. Es ist nöthig, daß Du Vertrauen einflößend aussiehst.«

»Fix und fertig, zum Ausgehen.«

»Du wirst doch nichts vergessen, wirst doch alles so ausrichten, wie ich dir’s gesagt habe?«

»Sei unbesorgt.«

»Nämlich …« begann Jondrette zu erklären, beendete aber seine Rede nicht.

Dann hörte Marius, wie er einen schweren Gegenstand auf den Tisch legte, wahrscheinlich den Kaltmeißel.

»Nun, habt Ihr was gegessen?«

»Ja,« sagte die Mutter, »drei große Salzkartoffeln. Das Feuer kam mir in der Hinsicht sehr gelegen.«

»Gut. Morgen nehme ich Euch mit nach einem feinen Restaurant. Da sollt Ihr Entenbraten und andere gute Sachen zu pappen kriegen. Wie Könige wollen wir schmausen!«

Und mit gedämpfter Stimme fuhr er fort:

»Die Falle ist fertig. Die Katzen warten schon.«

Und noch leiser:

»Lege dies hier ins Feuer.«

Hier hörte Marius ein Geräusch, wie wenn ein eisernes Werkzeug auf die Kohlen gelegt wird.

»Hast Du die Thürangeln mit Talg geschmiert, damit sie nicht knarren?« fragte Jondrette dann weiter.

»Ja!« antwortete die Mutter.

»Wie spät ist es?«

»Bald sechs Uhr.«

»Den Teufel auch. Dann müssen wir uns beeilen. Kommt mal her, Mädchen, und hört, was ich Euch zu sagen habe.«

Man vernahm jetzt ein Geflüster. Dann sprach Jondrette wieder lauter.

»Ist die Burgon fort?«

»Ja,« sagte die Mutter.

»Bist Du sicher, daß nebenan Niemand ist?«

»Er ist den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen, und um diese Zeit geht er essen.«

»Es kann aber trotzdem nicht schaden, wenn Einer mal nachsieht, ob er da ist. Du, nimm mal das Licht und überzeuge dich, ob er auch wirklich nicht zu Hause ist.«

Marius fiel auf die Hände und Kniee nieder und kroch auf allen Vieren unter das Bett.

Kaum war er in seinem Versteck, als er Licht durch eine Ritze in der Thür sah.

»Papa!« rief es draußen … »Er ist ausgegangen.«

Er erkannte an der Stimme, daß es die älteste Tochter war.

»Bist Du hineingegangen?« fragte der Vater.

»Nein, aber sein Schlüssel steckt im Schloß.«

»Geh trotzdem hinein!« rief der Vater.

Die Thür ging auf, und Marius sah die Aeltere von den beiden Mädchen mit einem Licht in der Hand hereinkommen. Sie ging gerade auf das Bett zu, und Marius stand einen Augenblick die entsetzlichste Angst aus. Sie besah sich aber nur in dem Spiegel, der an der Wand hing, und sang, während sie ihre Haare mit der Hand glättete, mit ihrer rauhen Grabesstimme ein damals beliebtes Lied:

»Ich werde ewig trauern,

Daß unser Liebesglück

So kurze Zeit thät dauern …«

Trotzdem zitterte Marius. Es kam ihm unmöglich vor, daß sie seinen Athem nicht hören sollte.

Nun ging sie an das Fenster und sah hinaus, indem sie laut sprach.

»Wie häßlich Paris aussieht, wenn es ein weißes Hemd angezogen hat!«

Dann kam sie wieder zu dem Spiegel zurück, in dem sie sich von allen Seiten betrachtete.

»Nun, was machst Du denn?«

»Ich sehe unter dem Bett und den andern Möbeln nach,« rief sie ihm zu, während sie sich vor dem Spiegel weiter zierte.

»Dumme Gans, wirst Du wohl gleich herkommen? Wir haben keine Zeit zu verlieren!«

»Gleich, gleich! In der Bude hat man doch zu nichts Zeit.«

Sie warf noch einen Blick in den Spiegel und ging hinaus, indem sie die Thür hinter sich zumachte.

Einen Augenblick darauf hörte Marius, wie die beiden Mädchen den Korridor entlang gingen und Jondrette ihnen nachrief:

»Paßt gut auf! Die Eine nach dem Thor hin, die Andere an der Ecke der Rue du Petit-Banquier. Verliert die Hausthür keine Minute aus den Augen und wenn Ihr irgend etwas Verdächtiges seht, so kommt sofort im Galopp hierher. Ihr habt den Hausschlüssel.«

»Schönes Vergnügen,« murrte die älteste Tochter, »mit bloßen Füßen im Schnee Schmiere stehen!«

»Morgen kriegt Ihr Goldkäferschuh!«

Wozu Marius’ Fünffrankenstück gebraucht wurde

Nun dünkte es Marius an der Zeit, seine Warte wieder zu besteigen. Im Umsehen und mit der Gewandtheit seiner jungen Jahre schwang er sich hinauf und blickte durch das Guckloch.

Die eigenthümliche Beleuchtung, die Marius aufgefallen war, wurde ihm jetzt sofort erklärlich. In einem mit Grünspan bedeckten Leuchter brannte ein Talglicht, aber nicht dieses erhellte eigentlich das Zimmer. Das röthliche Licht rührte vielmehr von einer Feuerkieke her, in der ein starkes Kohlenfeuer brannte und der Kaltmeißel glühend gemacht wurde. Nahe der Thür lagen in einer Ecke eine Menge eiserner Werkzeuge und eine Haufen Stricke.

»Noch eins!« rief Jondrette. »Bei der Kälte wird er in einer Droschke kommen. Zünde die Laterne an und geh damit hinunter. Da wartest Du, bis Du die Droschke kommen hörst, machst sofort die Thür auf, leuchtest ihm auf der Treppe und auf dem Flur, rennst dann, während er hier hereinkommt, rasch wieder hinunter und bezahlst den Kutscher, damit er sofort wieder wegfährt.«

»Wo nehmen wir aber das Geld dazu her?«

Jondrette suchte in seiner Hosentasche und übergab ihr ein Fünffrankenstück.

»Wo kommt das her?«

»Das hat der Nachbar heute früh spendirt. — Außerdem brauchen wir noch zwei Stühle.«

»Wozu?«

»Zum Sitzen.«

Marius rieselte es eiskalt über den Rücken, als Frau Jondrette in aller Ruhe antwortete:

»Na, dann werde ich Dir die Stühle des Nachbars holen.«

Mit diesen Worten riß sie rasch die Thür auf.

Marius hatte schlechterdings nicht die Zeit von der Kommode hinabzusteigen und sich unter das Bett zu verkriechen.

»Nimm das Licht mit!« rief Jondrette ihr nach.

»Nein, ich muß beide Hände frei haben. Uebrigens scheint der Mond hell genug.«

Zu gleicher Zeit hörte Marius auch schon, wie die plumpe Hand der Frau im Dunkeln nach dem Schlüssel tastete, und die Thür aufging. Er blieb wie festgenagelt von dem Schreck auf der Kommode stehen. Zum Glück schien der Mond gerade mitten in das Stübchen, so daß zu beiden Seiten ein breiter Streifen Schatten die Wände bedeckte. In einem dieser Streifen nun stand Marius, und Frau Jondrette sah ihn nicht, als sie hereinkam. Sie nahm die beiden einzigen Stühle, die Marius besaß und ging damit fort, indem sie die Thür heftig hinter sich ins Schloß fallen ließ.

»Hier sind die beiden Stühle!« hörte Marius sie zu ihrem Mann sagen.

»Und hier ist die Laterne. Mach, daß Du hinunterkommst.«

Sie gehorchte eilig, und ihr Mann blieb allein.

Er stellte die beiden Stühle an den Tisch, so daß sie einander gegenüber standen, wendete den Kaltmeißel in der Kohlenglut um, verbarg die Feuerkieke hinter einer alten spanischen Wand, die er vor den Kamin stellte und wühlte dann in dem Haufen Stricke herum, als ob er dort etwas suchte. Jetzt erkannte Marius hierin eine sehr gut gearbeitete Strickleiter mit hölzernen Sprossen und zwei soliden Krampen.

Diese Leiter und einige größere eiserne Werkzeuge waren am Morgen noch nicht da gewesen und offenbar im Lauf des Nachmittags während Marius Abwesenheit hergebracht worden.

»Schmiedewerkzeuge!« dachte Marius.

Hätte Marius über das Diebeshandwerk besser Bescheid gewußt, so würde er erkannt haben, daß die fraglichen Gegenstände Dietriche und Scheren waren.

Der Kamin und der Tisch mit den beiden Stühlen befanden sich dem Guckloch gegenüber. Da die Feuerkieke versteckt war, so beleuchtete nur noch das brennende Talglicht die grausige Räuberhöhle.

Jondrette hatte unterdessen seine Pfeife ausgehen lassen, ein Zeichen, daß er angestrengt mit seinen Gedanken beschäftigt war. Marius sah, wie er von Zeit zu Zeit die Augenbrauen zusammenzog und heftige Handbewegungen machte, aus denen man auf ein lebhaftes Selbstgespräch schliefen konnte. Nach einer dieser innerlichen Reden zog er plötzlich die Schublade auf, nahm ein langes Küchenmesser heraus und prüfte dessen Schärfe an seinem Daumnagel, Dann warf er das Messer wieder hinein und machte die Schublade zu.

Marius seinerseits ergriff das Terzerol, das in seiner rechten Hosentasche steckte, zog es hervor und spannte den Hahn.

Dies verursachte ein knappes, scharfes Geräusch.

Jondrette fuhr erschrocken von seinem Stuhl auf und rief:

»Wer ist da?«

Marius hielt den Athem an, Jondrette lauschte eine Weile und lachte dann:

»Dummkopf, der ich bin! Die Wand hat geknackt.«

Marius aber behielt die Pistole in der Hand.

Marius’ Stühle bilden vis-à-vis

Plötzlich erschütterten sechs starke, schwermüthige Glockenschläge die Fensterscheibe. Jondrette lauschte und zählte, indem er bei jedem Schlag mit dem Kopfe nickte. Beim sechsten Mal putzte er das Licht mit den Fingern, stand auf, ging im Zimmer hin und her, horchte nach dem Flur hin, ging dann wieder auf und ab und lauschte wieder. »Wenn er nur kommt!« sagte er dann und kam zu seinem Stuhl zurück.

Kaum hatte er sich hingesetzt, so ging die Thür auf.

Mutter Jondrette hatte sie aufgemacht und stand, das von der Laterne beleuchtete Gesicht zu einer scheußlich liebenswürdigen Grimasse verzerrt, auf dem Korridor.

»Treten Sie näher, mein Herr!« bat sie.

»Treten Sie näher, mein Wohlthäter!« stimmte Jondrette ein und erhob sich eilfertig.

Leblanc trat herein mit einem Ausdruck heiterer Seelenruhe im Gesicht, die ihn überaus ehrwürdig erscheinen ließ.

»Herr Fabantou,« sagte er, indem er vier Louisd’or auf den Tisch legte, »hiermit können Sie Ihre Miethe bezahlen und Ihre dringendsten Bedürfnisse befriedigen. Späterhin wollen wir weiter sehen.«

»Gott vergelte es Ihnen, mein edler Wohlthäter!« sagte Jondrette, ging zu seiner Frau hinüber und flüsterte:

»So schicke doch den Kutscher weg!«

Sie verschwand, während ihr Mann ein Erkleckliches kratzfüßelte und Leblanc einen Stuhl anbot, kam dann sofort wieder und sagte ihm leise ins Ohr:

»Die Sache ist abgemacht.«

Der Schnee lag so dick auf der Straße, daß man die Droschke weder kommen noch gehen gehört hatte.

Unterdessen hatte sich Leblanc gesetzt, und ihm gegenüber nahm Jondrette Platz.

Marius schauderte, empfand aber keine Furcht. Er packte nur sein Terzerol fester und dachte: »Ich kann, sobald ich will, dem Elenden Halt gebieten.« Und dann beruhigte ihn auch der Gedanke; daß schon Polizei in der Nähe sein müsse, um sofort einzugreifen, sobald er das verabredete Signal geben würde.

Im Uebrigen hoffte er, daß bei dem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen Jondrette und Leblanc irgend ein Funken Licht hervorbrechen und ihm über das, was ihm zu wissen Noth that, Aufklärung schaffen würde.

Im dunklen Hintergrunde

Kaum hatte sich Leblanc auf seinen Stuhl niedergelassen, als er sich auch schon nach den Betten umsah.

»Was macht der Arm Ihrer jüngsten Tochter?« fragte er.

»Leider ist darüber nichts Gutes zu melden,« antwortete Jondrette mit einem schmerzlichen und dankbaren Lächeln. »Ihre Schwester ist mit ihr nach der Klinik gegangen, damit sie sich verbinden läßt, Sie werden Beide bald wieder zurückkommen.«

»Frau Fabantou scheint wohler zu sein,« fuhr Leblanc fort und musterte die lächerlich aufgeputzte Dame, die in drohender Haltung zwischen ihm und der Thür stand.

»Sie ist sterbenskrank,« versicherte Jondrette. »Aber sie hat Kourage und eine Ausdauer, eine Kraft, um die ein Stier sie beneiden könnte.«

»Du bist immer zu liebenswürdig gegen mich,« protestierte Frau Jondrette mit all der Ziererei, deren Ungethüme bei Schmeicheleien fähig sind.

»Jondrette?« fiel Leblanc ein, »Ich glaubte, Sie heißen Fabantou?«

»Fabantou, genannt Jondrette!« erläuterte lebhaft der Mann, »ein Beiname, wie er unter Schauspielern üblich ist.«

Und indem er seiner ungeschickten Gemahlin durch ein von Leblanc unbeachtetes Achselzucken seinen Aerger zu erkennen gab, fuhr er in pathetischem und zärtlichem Tone fort: »Wir haben uns immer sehr gut vertragen, mein liebes Weibchen und ich! Was bliebe uns denn auch an Glück noch übrig, wenn wir das nicht hätten? Es geht uns ja so furchtbar schlecht, hochverehrter Herr. Gesunde Arme, Lust und Liebe zur Arbeit und keine Beschäftigung! Ich weiß nicht, wie die Regierung es einrichtet, aber obgleich ich gegen sie keinen Groll hege, kein Radikaler, kein Revolutionär bin, muß ich doch sagen, wäre ich Minister, es sollte alles besser gehen; darauf gebe ich Ihnen mein heiligstes Ehrenwort. Da wollte ich z. B. meine Töchter das Kartonnieren erlernen lassen, Sie werden sagen: Was? Ein Handwerk? Ja ja, ein simples Handwerk, ein Broderwerb! So weit sind wir heruntergekommen, mein theurer Wohlthäter. Aus unserer guten Zeit ist uns nur noch eins, ein Gemälde, an dem mir viel liegt, geblieben; aber ich werde es trotzdem verkaufen. Der Mensch muß leben!«

Während Jondrette scheinbar ohne Zusammenhang, aber mit seiner gewöhnlichen verschmitzten Miene sprach, wandte Marius seinen Blick seitwärts und bemerkte im Hintergrunde Jemand, den er bisher noch nicht gesehen hatte. Der Betreffende war so leise hereingekommen, daß Marius nichts gehört hatte, er trug eine alte, abgenutzte, fleckige, mit Schnittwunden bedeckte Weste aus Strickstoff, eine weite Manchesterhose, Socken, aber kein Hemde; der Hals und die tätowirten Arme waren bloß und das Gesicht geschwärzt. Er saß mit gekreuzten Armen auf dem Bett nahe der Thür, und da er sich hinter Frau Jondrette versteckt hielt, konnte man ihn nicht leicht sehen.

Aber vermöge jenes magnetischen Instinktes, den der menschliche Blick anzuregen pflegt und der schon Marius aufmerksam gemacht hatte, wendete sich auch Leblanc fast in demselben Augenblick um. Er konnte sich eines gewissen Erstaunens nicht erwehren, das Jondrette nicht entging.

»Ach so, Sie wundern Sich, wie gut mir Ihr Ueberzieher paßt!« bemerkte er, indem er sich wohlgefällig betrachtete. »Ja ja, er kleidet mich ganz ausgezeichnet.«

»Wer ist der Mann?« forschte Leblanc.

»Bloß ein Nachbar.«

Der Nachbar sah recht sonderbar aus. Indessen da sich in der Vorstadt Saint-Marceau eine Menge chemische Fabriken befinden und Arbeiter mit schwarzem Gesicht dort nichts Seltenes sind, so begnügte sich Leblanc, wie es schien, mit Jondrette’s Erklärung und fuhr fort:

»Verzeihung, Herr Fabantou, was sagten Sie eben?«

»Ich sagte, mein werter Gönner,« erwiederte Jondrette, indem er Leblanc zärtlich wie eine Boa Constrictor fixirte; »ich sagte so eben, daß ich ein Gemälde zu verkaufen habe.«

In demselben Augenblick ließ sich von der Thür her ein leichtes Geräusch vernehmen. Ein zweiter Mann war hereingekommen und hatte sich auf das Bett hinter Frau Jondrette gesetzt. Auch er ging mit bloßen Armen, und sein Gesicht war mit Tinte oder Ruß geschwärzt.

So leise er sich aber auch in das Zimmer hereingeschlichen hatte, so wurde Leblanc doch zugleich aufmerksam auf ihn.

»Lassen Sie Sich nicht stören,« hob Jondrette wieder an. »Es sind Leute aus dem Hause. Ich wollte Ihnen also das Bild zeigen.«

Er stand auf, ging hin und drehte die Tafel um, die an die Wand gelehnt stand. Das Ding sollte gewiß ein Gemälde vorstellen, aber soweit es Marius erkennen konnte, war es eine grelle Kleckserei, die an die Schilder der Jahrmarktsbuden erinnerte.

»Was ist denn das?«

»Ein Gemälde von Meisterhand,« betheuerte Jondrette, »ein werthvolles Bild, das mir ans Herz gewachsen ist wie meine Kinder, mit dem theure Erinnerungen verknüpft sind. Aber wie gesagt, ich bin so unglücklich, daß ich mich dazu verstehen würde, es loszuschlagen.«

Sei es aus Zufall, sei es, daß sich Mißtrauen in ihm zu regen begann, lenkte Leblanc jetzt wieder seinen Blick nach dem Hintergrund des Zimmers. Es waren jetzt vier Männer da; drei, die auf dem Bett saßen und einer an der Thür, alle Vier mit bloßen Armen und schwarzen Gesichtern. Keiner hatte Schuhe oder Stiefel an.

Jondrette bemerkte, daß Leblanc die verdächtigen Gestalten im Auge behielt.

»Die Leute sind Ofensetzer; darum sehen sie so schwarz aus. Lassen Sie Sich nicht stören. Sehen Sie Sich mein Gemälde an und erbarmen Sie Sich meines Elends. Ich verlange nicht viel dafür. Wie hoch schätzen Sie es?«

Leblanc sixirte Jondrette sehr scharf und antwortete:

»Das ist ein Wirtshausschild, das ganz gut drei Franken wert ist.«

Jondrette antwortete in gemüthlichem Tone:

»Haben Sie Ihre Brieftasche bei der Hand? Ich würde mich mit drei tausend Franken begnügen.«

Leblanc stand auf, lehnte sich an die Wand und überblickte rasch das Zimmer. Neben ihm links und nach dem Fenster zu stand Jondrette, rechts nach der Thür zu Frau Jondrette und die vier schwarzen Männer, die sich nicht rührten und ihn nicht einmal zu sehen schienen.

Jondrette aber sprach jetzt wieder in dem alten kläglichen Ton und mit einem eigenthümlichen Ausdruck der Augen, daß Leblanc glauben konnte, der Mann sei vor Elend irrsinnig geworden.

»Wenn Sie mir mein Gemälde nicht abkaufen, theurer Wohlthäter, so bleibt mir nichts mehr übrig, als ins Wasser zu gehen und meinem Leben ein Ende zu machen. Wenn ich bedenke, daß ich meine Töchter die Anfertigung von feineren Papparbeiten erlernen lassen wollte! Aber es gehört zu viel dazu. Ein Tisch mit einem Brett, damit die Gläser nicht herunterfallen; eine besondere Art eiserner Ofen; ein Topf mit drei Abtheilen für die verschiedenen Stärken, die der Leim haben muß, je nachdem er auf Holz, Papier oder Zeug gestrichen werden soll; ein Kneif, die Pappe zu schneiden; ein Modellbrett; ein Hammer; eine Zange und wer weiß, was noch! Und das Alles um mit vierzehn Stunden Arbeit vier Sous zu verdienen. Jede Schachtel geht dreizehn Mal durch die Hände der Arbeiterin. Und das Papier muß naß gemacht werden, ohne daß es schmutzig werden soll. Und der Leim soll immer warm gehalten werden. Vier Sous den Tag! Hol’s der Teufel! Wie soll ein Mensch damit auskommen?«

Während er so sprach, sah er Leblanc, der ihn beobachtete, nicht an, sondern nach der Thür. Marius’ Augen wanderten von dem Einen zu dem Andern. Leblanc schien sich zu fragen: »Ist der Mann geisteskrank?« Namentlich als Jondrette in ein langgedehntes flehentliches Gewinsel überging und zwei bis drei Mal wiederholte: »Mir bleibt nichts übrig als daß ich mich ertränke. Ich bin schon neulich bei dem Pont d’ Austerlitz drei Stufen von der Treppe hinuntergegangen, die in den Fluß hinabgeht!«

Plötzlich aber leuchtete ein unheimliches Feuer in seinen glanzlosen Augen auf; der kleine Mann richtete sich zu seiner ganzen Höhe empor, trat an Leblanc heran und schrie ihn mit einer Donnerstimme an:

»Erkennen Sie mich?«

In der Falle

Die Thür war plötzlich geöffnet worden und drei neue Ankömmlinge waren erschienen, alle Drei in blauen Leinwandkitteln und mit Masken aus schwarzem Papier. Der Erste war mager und trug einen langen mit Eisen beschlagenen Knüttel. Der Zweite, ein wahrer Koloß, war mit einer langen Axt bewaffnet. Der Dritte, ein vierschrötiger Kerl, der weniger dürr als der Erste und nicht so plump wie der Zweite war, hielt einen ungeheuren Thorschlüssel in der Faust.

Auf die Ankunft dieser drei Halunken hatte Jondrette offenbar noch gewartet. Sofort entspann sich ein Gespräch zwischen ihm und dem Mann mit dem Knüttel, dem Dürren.

»Ist alles fertig?« fragte Jondrette.

»Ja«, antwortete der Dürre.

»Wo ist denn Montparnasse?«

»Das Gigerl hält sich mit Deiner Tochter auf und schwatzt mit ihr.«

»Welche?«

»Die Aelteste.«

»Steht eine Droschke unten?«

»Ist der Wagen bei der Hand?«

»Ja wohl. Mit zwei tüchtigen Pferden davor.«

»Er wartet, wo ich ihn hinbestellt habe?«

»Ja.«

»Gut!« sagte Jondrette.

Leblanc war sehr blaß. Es war augenscheinlich, daß er seine gefährliche Lage begriff, aber während er den Kopf langsam und erstaunt nach allen Seiten wandte, zeigte sein Gesicht keine Spur von Furcht. Er hatte sich hinter den Tisch, wie hinter einen improvisirten Wall zurückgezogen, und während er noch eben nichts als ein harmloser alter Herr zu sein schien, stand er jetzt in der Positur eines kampfbereiten Athleten, die Stuhllehne in der gewaltigen Faust und mit drohender Miene.

Dieser Greis, der einer so fürchterlichen Gefahr so entschlossen und kühn entgegentrat, gehörte offenbar zu jenen Menschen, für die der Muth ebenso selbstverständlich und einfach ist, wie ihre Herzensgüte, und Marius war stolz auf ihn. Ist doch der Vater der Geliebten nie ein Fremder für uns.

Drei von den vier angeblichen Ofensetzern hatten aus dem Haufen Eisenwerkzeuge, der Eine eine Blechschere, der Zweite eine Zange, der Dritte einen Hammer genommen und sich, ohne ein Wort zu sprechen, quer vor die Thür gestellt. Der Vierte, ein Alter mit weißen Haaren, war sitzen geblieben, hatte aber seine schläfrige Haltung aufgegeben und die Augen geöffnet. Neben ihm saß jetzt Frau Jondrette.

Marius glaubte jetzt, binnen wenigen Sekunden werde der Zeitpunkt eintreten, wo er sich in die Sache einmischen mußte, und hob schon, die Hand am Hahn, das Terzerol empor nach der Decke und dem Flur hin.

Nach dem Gespräch mit dem Knüttelträger wandte sich Jondrette wieder zu Leblanc hin und wiederholte seine Frage mit dem ihm eigenen leisen, unterdrückten, fürchterlichen Lachen.

»Sie erkennen mich also nicht?«

Leblanc sah ihn fest an und antwortete: »Nein.«

Nun trat Jondrette bis an den Tisch heran, beugte sich mit verschränkten Armen über das Talglicht, bis sein von Grimm verzerrtes Raubthiergesicht Leblanc’s ruhevolles Antlitz beinah berührte und schrie:

»Ich heiße nicht Fabantou! Ich heiße nicht Jondrette! Mein Name ist Thénardier. Ich bin der Gastwirth aus Montfermeil. Haben Sie’s gehört? Thénardier! Erkennen Sie mich jetzt?«

Eine leichte, kaum bemerkbare Rothe stieg in Leblanc’s Stirn und ohne daß seine Stimme zitterte oder lauter wurde, sagte er mit seiner gewohnten Seelenruhe:

»Noch immer nicht.«

Diese Antwort hörte Marius nicht mehr. Verstört, fast besinnungslos, wie versteinert stand er da. Als Jondrette sagte: »Mein Name ist Thénardier!« zitterte Marius an allen Gliedern und lehnte sich an die Wand, als wäre ihm eine Stahlklinge durch das Herz gefahren. Dann sank der Arm, der den Signalschuß abfeuern sollte, langsam herab, und in dem Augenblick, wo Jondrette »Haben Sie’s gehört! Thénardier!« wiederholte, hätten Marius kraftlose Finger beinah das Terzerol fallen lassen. Nicht Leblanc hatten Jondrette’s Worte erschüttert, sondern Marius in die höchste Bestürzung versetzt. Was bedeutete nicht alles dieser Name für ihn! Einen Kultus, der mit dem Andenken seines hochverehrten Vaters aufs innigste verknüpft war. Und nun, wo er den so lange und sehnsuchtsvoll Gesuchten vor sich sah, nun war der Mann, dem er so gern die höchsten Opfer gebracht hätte, ein Bandit, ein ruchloser Verbrecher, der augenscheinlich sich eben anschickte, ein frevelhaftes Attentat — wahrscheinlich einen Mord — zu begehen. Und an wem? Großer Gott! Welch bitterer Hohn des Schicksals! Jetzt stand er vor der furchtbaren Wahl, ob er den Retter seines Vaters dem Henker überliefern oder den Vater des Mädchens, das er leidenschaftlich liebte, sollte umkommen lassen. Und keine Zeit sich zu besinnen! Die Kniee drohten ihm den Dienst zu versagen, und er fühlte sich einer Ohnmacht nahe.

Währenddem raste Thénardier mit wildem Triumphe vor dem Tische hin und her.

Mit einem Mal nahm er den Leuchter in die Faust und stampfte ihn so heftig auf den Kaminsims, das der Docht beinah erlosch und der geschmolzene Talg an die Wand spritzte.

Dann wandte er sich wieder zu Leblanc hin und verhöhnte ihn:

»Futschikato! Reingefallen! Im Wurschtkessel!«

Und während er wieder auf und abrannte, jubelte er mit heller Schadenfreude:

»Also finde ich Sie endlich wieder, Herr Philanthrop, Herr Millionär mit dem schäbigen Rock, Herr Puppenverschenker! Alter Alfanz! Also, Sie erkennen mich nicht? Nein, Sie sind nicht derjenige, der vor acht Jahren, Weihnachten 1823, nach Montfermeil in meiner Herberge eingekehrt ist! Sie haben nicht das Kind der Fantine, die Lerche, aus meinem Hause weggeführt! Sie trugen keinen gelben Rock! Bewahre! Kein Bündel mit Kleidungsstücken in der Hand, wie jetzt eben! Sag mal, Frau, das ist eine Schrulle von ihm, daß er überall Bündel mit alten Strümpfen hinbringt, die gute, alte, mildthätige Seele! Sind Sie denn Strumpfwirker, Herr Millionär, daß Sie die Leute mit alten Sachen beglücken, die Sie nicht verkaufen können? Nein, so ein verlogener Mucker! Also, Sie erkennen mich nicht? Na, ein Glück, daß ich Sie kenne; ich habe Sie den Augenblick wieder erkannt, wo Sie Ihre Nase hier hereingesteckt haben. Na, jetzt sollen Sie aber sehen, daß es Einem nicht immer ungestraft hingeht, wenn man sich in die Häuser schleicht, als Lumpenmatz verkleidet, die Leute hintergeht, den Freigebigen spielt, ihnen ihren Broderwerb nimmt, und im Walde den Knüttel gegen sie schwingt. Damit ist’s nicht abgemacht, daß man nachher, wenn die Leute ruinirt sind, sie mit einem zu weiten Ueberzieher und ein paar elenden Decken abspeisen will, Sie alter Spitzbube, Sie Kinderdieb!«

Er hielt inne und schien eine Weile mit sich selber zu sprechen. Seine Wut verschwand mit einem Mal, sozusagen wie die Rhone, die plötzlich an einer Stelle unter der Erde weiter fließt. Diesen Monolog beendete er aber, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug und wieder laut sprach:

»Mit einem so einfältigen, gutmüthigen Gesicht!«

Und zu Leblanc gewendet:

»Damals haben Sie über mich gelacht! Sie sind an allem meinem Unglück schuld. Sie haben für fünfzehnhundert Franken ein Mädchen bekommen, das ganz gewiß reicher Leute Kind war, die mir schon viel Geld eingebracht hatte, und aus der ich noch mehr herausgeschlagen hätte, so viel daß ich sorgenfrei hätte leben können. Die hätte mich für alle meine Verluste entschädigt, für das Vermögen, das ich in der verdammten Herberge ans Bein gebunden habe. Andern hielten große Gelage bei mir, und ich wurde dabei zum Bettler. O ich wünschte, all der Wein, den ich ihnen eingeschenkt habe, wäre zu Gift geworden! Aber das ist nun Nebensache. Nicht wahr, ich bin Ihnen komisch vorgekommen, als Sie mit der Lerche abgezogen sind. Sie hatten Ihren Knüttel und waren der Stärkere. Jetzt kann ich Ihnen aber das vergelten. Heute habe ich alle Trümpfe in der Hand, und Sie sind in der Klemme, guter Mann. Nein, was ich mich jecke! Wie er sich hat nasführen lassen! Ich habe ihm weis gemacht, ich wäre Schauspieler, mein Hauswirt wollte morgen sein Geld haben! Der Dämlack weiß nicht mal, daß die Miethen am 8. Januar, nicht am 4. Februar fällig sind. Und vier erbärmliche Louisd’or bringt mir der alte Gauner, hat nicht so viel Kourage in der Tasche, daß er sich die runde Hundert abknöpfen kann. Und wie er auf meine Schweifwedelei reingefallen ist! Das hat mir Spaß gemacht. Ich dachte bei mir: Du Trottel! Jetzt katzbuckle ich; heute Abend fetze ich Dir die Kaldaunen aus dem Leibe.«

Er kam nicht weiter. Er hatte sich außer Athem geredet, und seine schmale Brust ging auf und nieder wie ein Blasebalg. In seinen Augen aber leuchtete noch die gemeine Schadenfreude des Schwachen, Grausamen und Feigen, der endlich einen starken Feind niedertreten kann, die Freude des Schakals, der einen halbtoten, wehrlosen Stier zerfleischen und sich an seinen Qualen weiden kann.

Leblanc fiel ihm nicht ins Wort, sondern sprach erst, als Thénardier von selbst zu reden aufhörte.

»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Sie irren Sich. Ich bin ein unbemittelter Mann, nichts weniger als ein Millionär. Ich kenne Sie nicht. Sie halten mich für einen Andern.«

»So eine alberne Finte!« krächzte Thenardier. »Sie scheinen Vergnügen an dem faulen Witz zu finden. Da sind Sie aber auf dem Holzwege, Alterchen! Also, Sie erinnern Sich nicht? Sie sehen nicht, wer ich bin?«

»Entschuldigen Sie, Herr Thénardier,« antwortete Leblanc mit einer Höflichkeit, die in Anbetracht seiner gefährlichen Lage ebenso imponirend wie sonderbar klang. »Ich sehe, daß Sie ein Bandit sind.«

Wer hat nicht beobachtet, daß nichtswürdige Menschen in gewissen Dingen empfindlich kitzlich sind. Bei dem Wort »Bandit« sprang Frau Thénardier vom Bett auf, und er packte den Stuhl so grimmig, als wollte er ihn in seinen Händen zerbrechen. »Du bleibst da!« herrschte er seine Frau an; und zu Leblanc gewendet, fuhr er fort:

»Bandit? Ja, ich weiß, daß Ihr Herren Reichen uns so nennt. Also weil ich fallirt habe, mich verstecken muß, kein Brod, keinen Heller Geld habe, bin ich ein Bandit! Ich habe drei Tage lang nichts gegessen; folglich bin ich ein Bandit. So so! Ihr habt warme Ofen, ganze Stiefel, wattirte Röcke; Ihr wohnt in feinen Häusern, eßt Trüffeln, eßt Spargel im Monat Januar, das Bund zu vierzig Franken, und wenn Ihr wissen wollt, ob es kalt ist, so lest Ihr in der Zeitung nach, auf wieviel Grad Chevallier’s Thermometer steht. Wir müssen selber Thermometer sein, wir brauchen nicht auf dem Boulevard nachsehen, wie niedrig das Thermometer steht, wir fühlen die Kälte daran, daß uns das Blut in den Adern gerinnt, daß sich uns Eis ums Herz legt, und wir sagen: ›Es giebt keinen Gott!‹ Und dann kommt Ihr in unsere Schlupfwinkel und nennt uns Banditen! Aber wir werden Euch mit Haut und Haaren auffressen, Euch Jammerlappen. Merken Sie Sich, Herr Millionär, ich bin ein Mann gewesen, der ein Geschäft gehabt hat; ich bin Wähler gewesen, ich bin Bürger; und wer weiß, ob Sie einer sind!«

Hier trat er einen Schritt gegen die Männer vor, die an der Thür standen und sagte bebend vor Wuth:

»Wenn man denkt, daß der sich untersteht, mit mir in meiner Wohnung wie mit einem Schuhflicker zu reden!«

Durch diese seine Worte zu erneuerter Wuth gereizt, fuhr er fort:

»Und merken Sie Sich noch, Herr Philantrop, daß ich nicht zu den dunkeln Existenzen gehöre, wie Sie! Ich bin nicht ein Mann, dessen Namen Keiner kennt, und der Kinder stiehlt. Ich bin ein ehemaliger französischer Soldat, der einen Orden verdient hätte. Ich habe bei Waterloo gekämpft, habe einen General, einen Grafen So und So gerettet. Er hat mir seinen Namen gesagt; aber der Jammerkerl sprach so leise, daß ich ihn nicht verstanden habe. Nur: ›Merci‹ habe ich gehört. Ich hätte es lieber gesehen, wenn ich seinen Namen hätte erfahren können. Dann würde ich ihn aufgesucht haben. Das Gemälde hier, das David in Bruqueselles gemalt hat, wissen Sie, wen das vorstellt? Mich! David hatte die That für wert gehalten, daß sie in alle Ewigkeit verherrlicht würde. Ich trage hier den General auf dem Rücken durch den Kugelhagel. Das ist eine geschichtliche Thatsache. Der General hat aber nichts für mich gethan. Er war auch nicht besser als die Andern. Jetzt aber, nachdem ich so gut gewesen bin, Ihnen dies Alles zu sagen, wollen wir ein Ende machen. Also ich brauche Geld, viel, ungeheuer viel Geld oder ein Donnerwetter soll mir in die Gebeine fahren, wenn ich Ihnen nicht das Genick umdrehe.«

Marius war seiner Beklemmung wieder einigermaßen Herr geworden. Der letzte Zweifel war zu Nichte geworden. Der Mann war wirklich der in dem Testament des Oberst Pontmercy bezeichnete Thénardier. Marius erbebte bei dem Vorwurf, der gegen seinen Vater erhoben wurde, und den er eben im Begriff stand, zu rechtfertigen. Seine Verlegenheit nahm auch in Folge dessen noch mehr zu. Andererseits machten Thénardiers Worte, seine Geberden, Blicke, der rückhaltslose Wuthausbruch, das Gemisch von Prahlerei und niedriger Gesinnung, von Hochmuth und Kleinlichkeit, von Raserei und Albernheit, das Chaos von berechtigten Klagen und falschen Empfindungen auf den jungen Marius einen gemischten Eindruck: Sie wirkten abschreckend wie das Böse und ergreifend wie die Wahrheit.

Da Thénardier nicht mehr zwischen dem »Gemälde« und dem Guckloch stand, konnte Marius es jetzt sehen. Er erkannte auch, daß die Kleckse eine Schlacht, Pulverdampf und einen Mann bedeuteten, der einen andern trug. An diesem Anblick berauschte sich Marius so zu sagen; er hörte sein Blut in den Schläfen hämmern, die Kanonen in seinen Ohren donnern und ihn dünkte, sein Vater starre ihn aus dem Gemälde an.

Als Thénardier wieder Athem geschöpft hatte, heftete er auf Leblanc seine wuthentbrannten Augen und stieß mit leiser Stimme die Frage hervor:

»Was hast Du zu sagen, ehe wir Dich in Stücken hauen?«

Leblanc schwieg.

»Wenn Holz gehauen werden soll, so wendet Euch nur an mich!« ulkte auf dem Korridor der Mann mit der Axt und zeigte grinsend sein scheußliches, fahles Gesicht und sein nicht mit Zähnen, sondern mit Hauern bewaffnetes Maul in der Thüröffnung.

»Warum hast Du Deine Maske abgenommen?« fuhr ihn Thénardier an.

»Weil ich lachen wollte,« antwortete er.

Leblanc verfolgte und beobachtete schon seit einiger Zeit alle Bewegungen Thénardiers, der von seiner eigenen Wuth geblendet und berauscht, in der Räuberhöhle auf und ab rannte, ohne auf sein Opfer besonders zu achten. War doch die Thür bewacht und ein Wehrloser in den Händen von neun Männern, vorausgesetzt, daß Frau Thénardier nur als Ein Mann gerechnet wurde. So drehte er denn auch, als er den Mann mit der Axt anherrschte, Leblanc den Rücken zu.

Dieser benutzte die Gelegenheit, stieß mit dem Fuß den Stuhl, mit der Hand den Tisch zurück und sprang, noch ehe Thénardier die Zeit gehabt hatte, sich wieder umzudrehen, mit unglaublicher Gewandtheit an das Fenster. Es öffnen, auf die Brüstung klettern, den Fuß hinaussetzen, war das Werk einer Sekunde. Schon war er zur Hälfte draußen, da packten ihn sechs kräftige Fäuste und rissen ihn in die Räuberhöhle zurück. Es waren die drei »Ofensetzer,« die sich auf ihn gestürzt hatten. Zugleich hatte ihn auch Frau Thenardier bei den Haaren gefaßt.

Bei dem Getrampel, das dabei entstand, eilten die andern Banditen aus dem Korridor herbei. Der Alte, der auf dem Bett saß und angetrunken schien, erhob sich von dem Bett und taumelte mit einem großen Hammer in der Hand herbei.

Einer der »Ofensetzer,« dessen schwarzes Gesicht von dem Talglicht beleuchtet war, und in dem Marius Bigrenaille erkannte, schwang gleichfalls gegen Leblanc eine eiserne Stange, die an beiden Enden mit Bleikugeln versehen war.

Bei diesem Anblick hielt es Marius nicht länger aus. — »Vater, verzeihe mir!« rief er innerlich und legte den Finger an den Hahn des Terzerols. Als er aber eben den Schuß abfeuern wollte, hörte er Thénardier rufen:

»Thut ihm nichts!«

Statt ihn zu reizen, wirkte der verzweifelte Rettungsversuch seines Opfers beruhigend auf Thénardier. Sein Charakter setzte sich aus Bösartigkeit und Schlauheit zusammen. So lange er nun den Besitz seiner Beute für gesichert hielt, ließ er seiner Bosheit freien Lauf. Als aber der Gefangene anfing sich zu wehren, bekam Thénardiers klügeres Ich wieder die Herrschaft über ihn.

»Thut ihm nichts!« rief er zum zweiten Male. Und seine Mäßigung empfing auch sofort einen Lohn, von dem er freilich nichts ahnen konnte. Denn Marius hielt es Angesichts dieser neuen Wendung der Dinge nicht mehr für dringlich, den Signalschuß abzufeuern. Es konnte sich ja etwas ereignen, das ihn vor der schrecklichen Alternative bewahrte, Ursulas Vater umkommen zu lassen oder den Retter des Obersten zu Grunde zu richten.

Unterdessen tobte nebenan ein furchtbarer Kampf. Von einem gewaltigen Faustschlag auf die Brust getroffen, taumelte der weißhaarige Bandit bis in die Mitte des Zimmers zurück. Dann warf Leblanc zu gleicher Zeit zwei andere nieder und stemmte ihnen seine Kniee auf den Leib, so daß sie ächzten, als laste ein Mühlstein auf ihnen. Aber die vier andern Angreifer hielten den starken Greis an den Armen und am Genick gepackt und drückten ihn von oben gegen die beiden »Ofensetzer« nieder. Indem er so die Einen in seiner Gewalt hatte und von den Andern niedergezwungen wurde, verschwand er in dem Haufen Banditen wie ein wilder Eber in einer Meute Rüden.

Endlich gelang es ihnen, ihn bis auf das nächste Bett zu schleppen und ihn hier fest zu halten. Auch die Thénardier hatte seine Haare noch immer in ihren Krallen.

»Misch Du Dich doch nicht ein!« fuhr ihr Mann sie an, »Du wirst Dir bloß Dein Tuch zerreißen.«

Sie gehorchte wie eine Wölfin ihrem Männchen gehorcht, nämlich knurrend.

»Ihr, visitirt ihn,« kommandirte Thénardier weiter. Leblanc schien jeden ferneren Widerstand aufgegeben zu haben.

Die Banditen durchsuchten seine Taschen, fanden aber nur eine lederne Börse, die sechs Franken enthielt, und ein Taschentuch.

Dieses Taschentuch steckte Thénardier ein.

»Was? Kein Portefeuille?« fragte er.

»Und keine Uhr,« sagte einer der »Ofensetzer.«

»Das muß man sagen,« murmelte mit einer Bauchrednerstimme der Maskirte, der mit dem großen Schlüssel bewaffnet war. »Der Alte ist ein hagebüchener Kerl.«

Thénardier ging nach der Ecke und hob ein Paket Stricke auf, das er ihnen zuwarf.

»Bindet ihn an den Fuß des Bettes!«

Zugleich bemerkte er den Alten, der noch immer auf dem Boden lag und kein Lebenszeichen gab.

»Ist Boulatruelle tot?« fragte er.

»Nein, blos besoffen,« antwortete Bigrenaille.

»Schmeißt ihn in die Ecke!« befahl Thénardier.

Zwei von den »Ofensetzern« stießen den Trunkenbold mit den Füßen bis zu dem Haufen Eisen hin.

»Weshalb hast Du so viel Leute mitgebracht, Babet,« fragte Thénardier leise den Mann mit dem Knüttel, »das war nicht nöthig.«

»Je nun, sie wollten mit. In dieser schlechten Jahreszeit macht man keine Geschäfte.«

Mittlerweile banden die Räuber Leblanc, der an keinen Widerstand mehr dachte, mit den Füßen an denjenigen hölzernen Pfosten des Bettes, der dem Kamin zunächst war.

Als der letzte Knoten geknüpft war, nahm Thénardier einen Stuhl und setzte sich Leblanc ungefähr gegenüber. Sein Gesicht war vollständig verändert; statt unbändiger Heftigkeit ruhige, pfiffige Selbstbeherrschung. Marius staunte über diese unglaubliche, unheimliche Verwandlung, und ihm war zu Muthe, wie einem Menschen, der einen Tiger eine Advokatenphysiognomie aufstecken sähe.

»Mein Herr,« begann Thénardier, winkte dann aber erst die Banditen ab, die Leblanc noch immer fest hielten.

»Tretet ein wenig zurück und laßt mich mit dem Herrn sprechen.«

Alle zogen sich bis zur Thür zurück.

»Mein Herr, Sie haben nicht wohl daran gethan, daß Sie zum Fenster hinausspringen wollten. Sie hätten sich die Beine brechen können. Jetzt aber wollen wir, wenn Sie erlauben, in aller Ruhe ein paar Worte mit einander reden. Zunächst also muß ich Ihnen eine Beobachtung mittheilen, die ich gemacht habe: Sie haben bisher noch nicht den geringsten Schrei ausgestoßen.«

Thénardier hatte Recht. Es war dies allerdings eine auffällige Thatsache, obgleich Marius in seiner Verwirrung sie nicht beachtet hatte.

Thénardier fuhr fort:

»Mein Gott, ich hätte ja gar nichts dagegen gehabt, wenn Sie um Hülfe geschrieen hätten. Es ist ganz natürlich, daß man Skandal macht, wenn man sich unter Leuten befindet, die einem wenig Vertrauen einflößen. Hätten Sie zu diesem Mittel Ihre Zuflucht genommen, — wir würden Ihnen nichts zu Leide gethan, Sie nicht einmal geknebelt haben. Und zwar aus folgendem einfachen Grunde. Dieses Zimmer ist sehr dumpf. Es hat nur diesen einzigen Vortheil, aber den hat es. Man könnte hier eine Kanone abfeuern, so würde man auf dem nächsten Wachtposten glauben, es schnarche ein schlafender Trunkenbold. Meine Wohnung hat also ihr Gutes. Aber kurz und gut, Sie haben nicht um Hülfe gerufen, und das ist um so besser. Ich gratulire Ihnen dazu und will Ihnen jetzt sagen, was ich daraus schließe. Mein bester Herr, wer kommt, wenn man schreit? Die Polizei und nach der Polizei die Justiz. Es liegt Ihnen also ebenso wenig wie uns daran, daß Polizei und Justiz sich in Ihre Angelegenheiten mischen. Sie haben folglich, wie mir schon lange geschwant hat, irgend ein Interesse daran, irgend etwas geheim zu halten. Uns geht es ebenso. Mithin liegt eine Möglichkeit vor, daß wir uns verständigen.«

Während er so sprach, sah er seinen Gefangenen so scharf an, als wolle er sich mit seinen Blicken bis ins Innerste seines Herzens hineinbohren. Dabei war seine Sprache, obgleich noch etwas unverschämt und tückisch, doch eine gewähltere, und man konnte wohl merken, daß der Elende, der sich eben noch wie ein gemeiner Räuber gebärdete, einst in einem Priesterseminar studiert hatte.

Das vorsichtige Stillschweigen, das der Gefangene mit Gefahr seines Lebens beobachtet hatte, sein Widerstand gegen den so mächtigen Selbsterhaltungstrieb, machte auch auf Marius, seitdem seine Aufmerksamkeit auf diesen eigenthümlichen Umstand gelenkt war, einen Eindruck, der peinlicher Natur war.

Thénardier’s wohl begründete Bemerkung verdichtete noch für Marius das Dunkel, das Leblanc’s merkwürdige Persönlichkeit umgab. Aber was für ein Mensch er auch sein mochte, er bewahrte die denkbar vollkommenste Seelenruhe, mit Stricken gebunden, von Raubmördern umgeben, in einer Lage, die sich immer bedrohlicher gestaltete, sowohl vor Thénardier’s wilder Wuth, als auch seiner Mäßigung gegenüber, und deshalb konnte auch Marius nicht umhin, die würdevolle Sanftmuth des Gefangenen zu bewundern.

Während der Pause, die nun folgte, trat Thénardier mit einer Miene, als wenn es sich um nichts Besonderes handle, an den Kamin und schob die spanische Wand an das andere Bett, so daß der Gefangene den weißglühenden Kaltmeißel in der Feuerkieke sehen konnte.

Dann setzte er sich wieder vor Leblanc hin.

»Ich fahre fort,« sagte er, »Wir können uns verständigen. Einigen wir uns in Güte. Es war unrecht von mir, daß ich mich vergessen habe. Ich weiß nicht, wo ich meinen Verstand hatte; ich bin zu weit gegangen. Da habe ich u. a., weil Sie Millionär sind, gesagt, ich gebrauche Geld, viel, kolossal viel Geld. Das ginge wider die gesunde Vernunft. Mein Gott, wenn Sie reich sind, so haben Sie doch auch eine Menge Verbindlichkeiten und Ausgaben wie jeder Andere auch. Ich will Sie nicht ruiniren. Ich bin kein Blutsauger. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die einen Vortheil mißbrauchen und sich lächerlich machen. Und damit Sie sehen, daß ich der Vernunft zugänglich bin, komme ich Ihnen entgegen und bringe ein Opfer. Ich verlange jetzt bloß zweihunderttausend Franken.«

Leblanc antwortete mit keinem Sterbenswörtchen, und Thénardier fuhr fort:

»Sie sehen, daß ich mich zu mäßigen verstehe. Ich kenne Ihr Vermögen nicht, aber ich weiß, daß es Ihnen aufs Geld nicht ankommt, und ein mildthätiger Mann wie Sie, kann ganz gut einem Familienvater, dem es nicht gut geht, zweihunderttausend Franken geben. Gewiß sind auch Sie Ihrerseits vernünftig und bilden Sich nicht ein, ich würde mir so viel Mühe geben, eine so sorgfältig überlegte Kombination, wie die Herren hier bestätigen werden, ins Werk setzen, wenn ich dafür nicht etwas mehr haben sollte, als zum dürftigsten Lebensunterhalt gehört. Zweihunderttausend Franken ist die Sache schon wert. Sobald Sie Sich dieser Kleinigkeit entäußert haben, stehe ich Ihnen dafür, das alles erledigt ist, und Sie keine weitere Belästigung zu befürchten haben. Sie werden einwenden, daß Sie die zweihunderttausend Franken nicht bei sich haben. Nun, ich verlange ja auch nicht, daß Sie mir das Geld sogleich baar hinzählen. Worum ich Sie aber ersuche, ist, daß Sie die Güte haben, etwas zu schreiben, was ich Ihnen jetzt diktiren will.«

Hier hielt Thénardier einen Augenblick inne und fuhr dann fort, mit bedeutungsvollem Nachdruck und mit einem Lächeln, um das ein Großinquisitor ihn beneidet hätte:

»Wohl bemerkt, den Einwand, daß Sie nicht schreiben können, würde ich nicht gelten lassen.«

Hierauf schob er Leblanc den Tisch hin und nahm ein Tintenfaß, eine Feder und ein Blatt Papier aus der Schublade, die er halb offen ließ und in der man das lange Messer glänzen sah.

»Schreiben Sie!« sagte er, indem er das Blatt Papier vor Leblanc hinlegte.

Jetzt endlich brach der Gefangene sein Stillschweigen.

»Wie soll ich schreiben? Ich bin ja gebunden.«

»Ach richtig! Ich bitte Sie um Verzeihung, Sie haben Recht.«

Und zu Bigrenaille:

»Binden Sie dem Herrn den rechten Arm los.«

Bigrenaille vollzog Thénardier’s Befehl. Als die rechte Hand des Gefangenen frei war, tauchte Thénardier die Feder in die Tinte und hielt sie ihm hin.

»Bedenken Sie ja, mein Herr, daß Sie vollständig in unserer Gewalt sind, daß keine menschliche Macht Sie aus Ihrer Lage befreien kann, und daß es uns recht leid thun würde, sollten wir zu unangenehmen Mitteln greifen müssen. Ich weiß weder wie Sie heißen noch wo Sie wohnen; aber ich benachrichtige Sie, daß Sie angebunden bleiben werden, bis der Ueberbringer des Briefes zurückkommt. Jetzt haben Sie die Güte und schreiben Sie.«

»Was?« fragte der Gefangene.

»Was ich Ihnen diktieren werde:«

»Liebe Tochter …«

Der Gefangene erschrak und sah zu Thénardier empor:

»Schreiben Sie ›Theuerste Tochter!‹« Leblanc gehorchte und Thénardier fuhr fort:

»Komm auf der Stelle.« — »Nicht wahr, Sie duzen sie?«

»Wen?« fragte Leblanc.

»Nun, die Kleine, die Lerche.«

Leblanc antwortete ohne die geringste sichtbare Erregtheit:

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Schreiben Sie nur weiter:«

»Komm auf der Stelle. Ich habe nothwendig mit Dir zu sprechen. Die Ueberbringerin dieses Briefes hat den Auftrag, Dich zu mir zu führen. Komm ohne Furcht.«

»Nein! Streichen Sie die letzten drei Worte wieder aus. Das könnte zu dem Glauben Anlaß geben, daß die Sache nicht einfach ist, und Mißtrauen erregen.«

Leblanc strich die drei Worte durch.

»Nun unterschreiben Sie. Wie heißen Sie?«

Der Gefangene aber legte die Feder aus der Hand und fragte:

»Für wen ist dieser Brief bestimmt?«

»Sie wissen ja. Für die Kleine. Ich hab’s Ihnen ja schon gesagt.«

Es sprang in die Augen, daß Thénardier das fragliche junge Mädchen nicht bei ihrem Namen nennen wollte. Diese Vorsicht gebrauchte er, weil er als schlauer Mann seine Spießgesellen möglichst wenig in sein Geheimniß einweihen wollte.

»Unterschreiben Sie also. Wie heißen Sie?«

»Urbain Fabre!«

Flink wie eine Katze, die eine Maus fangen will, griff Thénardier in seine Tasche und holte das Leblanc abgenommene Taschentuch hervor. Er suchte das Wäschezeichen und hielt es an das Licht.

»Richtig. U. F. Urbain Fabre. Also unterschreiben Sie U. F.«

Der Gefangne gehorchte.

»Nun, schreiben Sie die Adresse. Ich weiß, daß Sie nicht weit von hier wohnen, unweit der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas; denn dort besuchen Sie ja täglich die Messe, aber ich weiß die Straße nicht. Ich sehe indeß, daß Sie Ihre Lage begreifen. Da Sie mir keinen falschen Namen gesagt haben, werden Sie auch keine falsche Adresse aufschreiben.«

Der Gefangene sann einen Augenblick nach, ergriff dann die Feder und schrieb:

»An Fräulein Fabre, per Adresse des Herrn Urbain Fabre, Rue Saint-Dominique d’Enfer Nr. 17.«

Thénardier fiel mit fieberhafter Hast über den Brief her.

»Frau!« rief er.

Die Thénardier kam herbei.

»Hier ist der Brief. Du weißt, was Du zu thun hast. Unten wartet schon die Droschke. Geh sofort und komm bald wieder.«

»Du,« sagte er dann zu dem Mann mit der Axt, »da Du schon Deine Maske abgenommen hast, kannst Du meine Frau begleiten. Steige hinten auf. Du weißt doch, wo Du den Wagen gelassen hast?«

»Na gewiß!« antwortete der Mann, stellte seine Axt in eine Ecke und ging Frau Thénardier nach.

»Verliere vor allen Dingen den Brief nicht!« rief ihr Mann hinter ihr her. »Du trägst zweihundert Tausend Franken bei Dir. Bedenke das!«

»Sei unbesorgt. Ich habe ihn in meinen Busen gesteckt.«

Eine Minute war noch nicht vergangen, so hörte man Peitschengeknall, das sich rasch entfernte und bald verstummte.

»Bravo!« murmelte Thénardier. »Sie fahren fix. Auf die Weise kann sie in drei Viertelstunden schon zurück sein.«

Dann rückte er einen Stuhl vor den Kamin, setzte sich, verschränkte die Arme und hielt die Füße an das Feuer.

In dem Zimmer befanden sich jetzt nur noch Thénardier, der Gefangne und fünf Banditen. Diese Leute sahen schläfrig und stumpf aus; man merkte ihnen an, daß sie ein Verbrechen zu verüben pflegten, wie Andere ein Stück Arbeit, bei voller Gemüthsruhe, ohne Zorn und ohne Erbarmen, gleichgültig, gelangweilt. Sie saßen in einer Ecke wie Vieh zusammengepfercht und schwiegen. Thénardier wärmte sich die Füße, und der Gefangne verhielt sich wieder vollkommen ruhig. Eine unheimliche Stille herrschte jetzt nach dem wilden Lärm, der hier noch vor wenigen Augenblicken geherrscht hatte.

Das Licht, an dem sich eine große Schuppe gebildet hatte, erhellte nur schwach den großen Raum; die Kohlen waren heruntergebrannt und an den Wänden zeichneten sich ungeheuerliche Schatten ab.

Es ließ sich kein anderes Geräusch vernehmen, als der friedliche Athemzug des betrunknen Alten.

Marius’ Angst nahm unterdessen nur noch zu. War doch das Räthsel jetzt noch verwickelter geworden. Wer war »die Kleine« »die Lerche?« Seine Ursula? Der Gefangne hatte bei ihrer Erwähnung keine Erregtheit gezeigt. Andrerseits waren jetzt die Buchstaben U. F. erklärt: Ursula hieß nicht mehr Ursula. Das war die einzige Aufklärung, die ihm bis jetzt zu Theil geworden war. Er blieb also wie gebannt auf seinem Beobachtungsposten und wartete, zu jedweder geregelten Ueberlegung und Bewegung so gut wie unfähig, ob nicht irgend ein Zwischenfall den Dingen eine entscheidende Wendung geben würde.

»Jedenfalls,« dachte er, »werde ich ja sehen, ob sie mit der ›Lerche‹ gemeint ist, denn die Thénardier wird sie ja herbringen. In dem Fall werde ich wissen, woran ich bin. Dann setze ich mein Leben aufs Spiel, um sie zu befreien.«

So verging ungefähr eine halbe Stunde im tiefsten Schweigen. Indessen glaubte Marius ein leises Geräusch zu hören, das von dem Gefangnen herkam.

Plötzlich sagte Thénardier zu Leblanc:

»Herr Fabre, ich will Ihnen lieber gleich sagen, wie die Sache abgewickelt werden soll.«

Dies sah nach einer Einleitung zu einer wichtigen Auseinandersetzung aus, und Marius spitzte deshalb die Ohren.

»Meine Frau wird bald wiederkommen. Gedulden Sie Sich nur noch ein kleines Weilchen. Ich denke mir, die Lerche ist wirklich Ihre Tochter, und finde es sehr natürlich und billig, daß Sie sie behalten. Aber nun hören Sie. Meine Frau übergiebt ihr den Brief und holt sie. Deshalb habe ich ihr ja auch gesagt, sie sollte ein wenig Toilette machen, damit das Fräulein keine Schwierigkeiten erhebt, ihr zu folgen. Sie steigen also Beide in die Droschke, und mein Freund sitzt hinten auf. Vor einem gewissen Thor erwartet sie ein mit zwei guten Pferden bespannter Wagen. In den steigt mein Freund mit dem Fräulein hinein, und meine Frau fährt mit der Droschke hierher zurück. Dem Fräulein wird Niemand etwas zu Leide thun; sie wird nur an einen sichern Ort gebracht und sobald Sie mir die zweihundert Tausend Franken ausgehändigt haben, wieder in Freiheit gesetzt. Lassen Sie mich aber arretiren, so drückt mein Freund der Lerche die Kehle zu. So! Das hatte ich Ihnen mitzutheilen.«

Der Gefangne sprach kein Wort. Thénardier aber fuhr nach einer Pause fort:

»Die Sache ist, wie Sie sehen, sehr einfach. Es wird nichts Schlimmes geschehen, wenn Sie es nicht durchaus wollen. — Sobald also meine Frau zurückkommt und mir gemeldet hat, daß die Lerche unterwegs ist, lassen wir Sie frei.«

Schreckliche Bilder entrollten sich bei dieser Rede vor dem geistigen Auge des geängstigten Marius. Also das junge Mädchen sollte nicht zurückkommen, und diejenige die er liebte — denn die »Lerche« und das zu entführende Fräulein waren doch gewiß ein und dieselbe Person — einem Räuber und Mörder überantwortet werden! Was thun? Den Schuß abfeuern? Dann zog er selber das Verderben auf ihr Haupt herab!

Plötzlich wurde das schauerliche Stillschweigen, das jetzt wieder herrschte, durch das Geknarr der Hausthür unterbrochen und gleich darauf stürzte Frau Thénardier, athemlos und wuthentbrannt, in das Zimmer:

»Die Adresse war falsch!« kreischte sie und schlug sich mit beiden Händen zugleich auf die Schenkel.

Jetzt trat auch der Bandit, den sie mitgenommen hatte, hinter ihr in das Zimmer und griff nach seinem Schlachtbeil.

»Was sagst Du?« fragte Thénardier.

»In der Rue Saint-Dominique Nr. 17 wohnt kein Herr Urbain Fabre!«

Sie konnte vor Wuth nicht weiter sprechen und hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr sie fort:

»Thénardier, der Alte hat Dich an der Nase herumgeführt. Siehst Du, das hast Du davon, daß Du zu gutmüthig bist! Ich hätte ihm von vorn herein die Zähne eingeschlagen, und wenn er gemuckst hätte, ihn bei lebendigem Leibe gebraten. Er hätte mir schon sagen sollen, wo das Mädchen ist und wo er sein Geld versteckt hält. So würde ich die Sache eingefädelt haben! Es ist doch ganz richtig, was man immer sagt, daß die Männer dümmer sind, als die Frauen! Nr. l7 Rue Dominique wohnt kein Fabre!«

Marius athmete wieder auf. Sie, Ursula oder die Lerche, war gerettet.

Während seine Frau tobte und schimpfte, hatte sich Thénardier auf den Tisch gesetzt und schaukelte, ohne ein Wort zu sagen, das rechte Bein hin und her, indem er nachdenklich die Feuerkieke betrachtete.

Endlich sagte er langsam und in einem Schauder erregenden, grimmigen Tone:

»Was für einen Gewinn hast Du Dir eigentlich davon versprochen, daß Du eine falsche Adresse gegeben hast?«

»Zeit wollte ich gewinnen!« rief der Gefangene.

Und in demselben Augenblick schüttelte er auch die Stricke, die ihn fesselten, von sich ab. Nur das eine Bein blieb an den Bettpfosten angebunden.

Ehe die sieben Männer sich besinnen und über ihn herfallen konnten, streckte er dann die Hand nach der Feuerkieke hin, und jetzt wich das ganze Räubergesindel erschrocken in den Hintergrund des Zimmers zurück. Der riesenstarke Gefangene hatte jetzt eine Waffe, den glühenden Kaltmeißel, den er drohend über seinem Haupte schwang.

Bei der gerichtlichen Untersuchung, die später in dem Gorbeauschen Hause vorgenommen wurde, fand man eine der Länge nach gespaltene Kupfermünze nebst einer mikroskopischen Säge aus blauem Stahl. Diesen Apparat führen Zuchthaussträflinge bei sich oder fabriciren ihn im Gefängniß. Nachdem sie die Münze, oft nur vermittelst eines elenden alten Messers, gespalten haben, höhlen sie dieselbe so weit aus, daß sie eine Uhrfeder darin verstecken können, und bringen ein Schraubengewinde in dem Rande der Münze an, so daß sich die beiden Stücke zusammenlegen lassen.

Wahrscheinlich hatte der Gefangene, als die Räuber ihn visitirten, die Kupfermünze in der Hand verborgen gehalten, sie dann auseinandergeschraubt und mit der Säge die Stricke zerschnitten. So erklärte sich auch das leise Geräusch, das Marius gehört hatte, und gewisse kaum bemerkbare Bewegungen des Gefangenen.

Da er aber aus Furcht sich zu verrathen, nicht gewagt hatte, sich zu bücken, so hatte er die Stricke, mit denen sein linkes Bein festgebunden war, nicht durchsägen können.

Als die Banditen sich von ihrer ersten Ueberraschung erholt hatten, sagte Bigrenaille zu Thénardier:

»Sei unbesorgt. Er kommt nicht los. Sein eines Bein ist noch angebunden, und die Stricke habe ich verknüppert.«

Jetzt erhob der Gefangene seine Stimme.

»An meinem Leben ist zu wenig gelegen, als daß ich mir viel Mühe geben sollte, es zu vertheidigen, und wenn Ihr Euch einbildet, Ihr könntet mich zwingen etwas zu sagen oder zu schreiben, was ich nicht sagen und schreiben will, so — Seht her!« Mit diesen Worten streifte er den Rockärmel zurück und legte den glühenden Meißel auf seinen linken Arm.

Man hörte das verbrannte Fleisch zischen und ein schrecklicher Geruch verbreitete sich in dem Zimmer, Marius fuhr entsetzt zurück, und sogar die Banditen schauderten. Allein der merkwürdige, alte Mann verzog kaum das Gesicht bei dem grimmigen Schmerze und heftete in würdevoller Haltung seine Augen ruhevoll und ohne Haß auf Thénardier.

»Elende!« rief er dann, »fürchtet Euch vor mir nicht mehr, als ich mich vor Euch fürchte!«

Sprach es, riß den Meißel aus der Wunde und warf ihn zum Fenster hinaus, das noch immer offen stand,

»So! Nun thut mit mir, was ihr wollt!«

»Packt ihn!« gebot Thénardier.

Zwei von den Räubern legten ihm die Hand auf die Schulter und der Maskirte mit der Bauchstimme stellte sich vor ihn hin, den Schlüssel in der Hand, um ihm bei der geringsten Bewegung den Schädel einzuschlagen.

Zu gleicher Zeit hörte Marius dicht unter sich ein leises Zwiegespräch.

»Jetzt können wir weiter nichts thun als Ihn kalt machen.«

»Ganz richtig.«

Es waren Thénardier und seine Frau, die sich berathschlagten.

Nun ging Thénardier langsam auf den Tisch zu, zog die Schublade auf und nahm das Messer heraus.

Marius hatte also vergeblich gehofft, er würde ein Mittel finden, den Gefangenen zu retten, ohne gegen das Testament seines Vaters zu verstoßen. Da sah er, als er, sinnlos vor Angst, seine Blicke mechanisch um sich schweifen ließ, plötzlich im Licht des Vollmonds das weiße Blatt, worauf Thénardiers älteste Tochter am Morgen mit großen Buchstaben: »Die Greifer sind da!« geschrieben hatte.

Ein Lichtstrahl blitzte durch sein Hirn. Er kniete auf die Kommode hin, ergriff das Blatt, wickelte es um ein Stück Kalk, das er aus der Wand brach, und schnellte es durch das Guckloch in das Nachbarzimmer hinein.

Es war die höchste Zeit. Thénardier hatte nach einigen Zaudern seine letzten Bedenken oder Gewissensbisse besiegt und schritt auf den Gefangenen zu. Da rief plötzlich Frau Thénardier:

»Da fällt etwas!«

»Was?« fragte ihr Mann.

Sie eilte hin, hob das Papier auf und reichte es ihrem Mann.

»Wo ist das hergekommen?« forschte er.

»Na wo denn sonst als durchs Fenster!«

»Ich habe es vorbeifliegen sehen!« bekräftigte Bigrenaille.

Thénardier faltete den Zettel auseinander und hielt ihn ans Licht.

»Eponinens Schrift. Alle Wetter!«

Er winkte seine Frau heran und zeigte ihr das Geschriebene. Dann rief er mit gedämpfter Stimme:

»Schnell die Strickleiter her. Wir müssen absocken.«

»Ohne dem Kerl den Hals abzuschneiden?« fragte Frau Thénardier.

»Dazu haben wir keine Zeit.«

»Wo sollen wir raus?« fragte Bigrenaille.

»Zum Fenster hinaus. Da Ponine den Stein von daher hereingeworfen hat, kann das Haus nach der Seite hin nicht bewacht sein.«

Der maskirte Bauchredner legte seinen Schlüssel auf den Fußboden, hob beide Arme empor und schlug, ohne ein Wort zusprechen, dreimal die Hände zusammen. Bei diesem Signal ließen die Räuber den Gefangenen los, befestigten das eine Ende der Strickleiter am Fenster und warfen das andere hinaus, während der Gefangene auf nichts achtete und zu träumen oder zu beten schien.

»So, nun komm!« rief Thénardier seiner Frau zu, als alles fertig war und stürzte auf das Fenster zu.

Aber als er eben den Fuß hinaussetzte, packte ihn Bigrenaille derb am Kragen.

»I Du bist wohl garnicht gescheidt. Du alter Schlauberger. Erst kommen wir!«

»Ja wohl; erst kommen wir!« stimmten die Banditen ein.

»So seid doch nicht kindisch!« meinte Thénardier. »Auf die Weise verlieren wir bloß Zeit.«

»Gut, so wollen wir loosen, wer zuerst hinaussteigen soll,« sagte einer der Banditen.

Thénardier protestirte entrüstet:

»Leute, seid Ihr denn verrückt? Also loosen wollen wir? Dazu gehören aber Strohhalme, oder wollt Ihr, damit noch mehr Zeit hingebracht wird, daß wir Jeder fein säuberlich unsere Namen aufschreiben und die Zettel in eine Mütze legen?«

»Darf ich den Herren vielleicht meinen Hut anbieten?«

Auf der Thürschwelle stand Javert und hielt lächelnd seinen Hut hin.

Immer erst den Angegriffenen arretiren!

Beim Einbruch der Nacht hatte Javert seine Leute auf die Lauer gestellt und sich selber hinter die Bäume der Rue de la Barrière des Gobelins, die dem Gorbeauschen Hause gegenüber in den Boulevard mündet, versteckt, um von hier aus alles zu beobachten. Zunächst hatte er vor, Thénardiers Töchter dingfest zu machen, aber er wurde nur Azelma’s habhaft. Eponine, die ihren Posten verlassen hatte, entkam ihm. Dann hatte er auf das verabredete Signal gewartet, schließlich aber die Geduld verloren. Denn daß in dem Hause etwas los war, und daß er einen guten Fang machen würde, darüber konnte kein Zweifel bestehen, nachdem er die Droschke beobachtet und mehrere ihm wohlbekannte Strolche sich in das Haus hineingeschlichen hatten. Demzufolge entschloß er sich endlich vorzugehen, ohne den Schuß abzuwarten.

Als er erschien, stürzten sich die Räuber auf die Waffen, die sie so eben in allen Winkeln hatten liegen lassen, und scharten sich kampfbereit zusammen. Auch Frau Thénardier schwang einen großen Pflasterstein, den ihre Töchter als Schemel benutzten.

Javert setzte den Hut wieder aus den Kopf und trat mit gekreuzten Armen, den Stock unter dem Arm und den Degen in der Scheide, in das Zimmer hinein.

»Halt!« rief er. »Nicht durch das Fenster, sondern hübsch durch die Thür. Das ist weniger riskant. Ihr seid Eurer sieben, wir fünfzehn. Vermeiden wir jede unanständige Katzbalgerei.«

Bigrenaille holte eine Pistole, die er unter seinem Kittel versteckt hielt, hervor und steckte sie Thénardier in die Hand, indem er ihm leise ins Ohr flüsterte:

»Das ist Javert. Auf den getrau’ ich mich nicht zu schießen. Wagst Du’s?«

»Na ob!« antwortete Thénardier und zielte auf Javert.

Dieser, der drei Schritte vor ihm. stand, sah ihn fest an und sagte ruhig:

»Laß das doch; Dein Schießprügel geht ja doch nicht los.«

Thénardier drückte los und — das Pistol versagte.

»Siehst Du wohl!« bemerkte Javert.

Jetzt warf Bigrenaille seinen Totschläger vor Javert hin.

»Du bist der Kaiser der Teufel! Ich ergebe mich.«

»Und Ihr?« fragte Javert die Andern.

»Wir gleichfalls!« antworteten sie im Chor.

»So ist’s recht, Kinder. Ich dachte mir gleich, daß Ihr artig sein würdet.«

»Ich bitte nur um eins,« sagte Bigrenaille, »daß man mir den Tabak nicht versagt.«

»Zugestanden!« antwortete Javert.

»So! Nun kommt herein!« rief er hinter sich.

Ein Schwarm bewaffneter Polizisten stürzte herbei und fesselte die Banditen.

»Allen die Daumschrauben anlegen!« kommandirte Javert.

»Kommt doch näher, wenn Ihr’s wagt!« rief eine nicht männliche, aber durchaus unweibliche Stimme.

Es war Frau Thénardier, die in einem Winkel am Fenster vor ihrem Mann Posto gefaßt und wie eine Gigantin ihren Stein mit beiden Händen über ihrem Kopf schwang.

Die Polizisten wichen zurück, und Frau Thénardier blickte verächtlich aus die Banditen, die sich hatten binden lassen.

»Die Feiglinge!«

Javert aber lächelte und trat mitten in den Raum, aus dem seine Leute eben zurückgewichen waren.

»Bleib mir vom Leibe, oder ich zermalme Dich!«

»Welch ein Grenadier! Mutter, Du hast einen Bart, wie ein Mann, aber ich habe Krallen wie ein Frauenzimmer!« sagte Javert und ging weiter auf sie los.

Frau Thénardier spreizte die Füße auseinander, neigte sich nach hinten zurück und schleuderte, rasend vor Wuth, den Stein nach Javert. Dieser bückte sich. Der Stein flog über ihn weg, prallte von der Mauer ab und flog bis zu Javert’s Füßen zurück.

In demselben Augenblick legte auch schon Javert die eine seiner breiten Hände auf die Schulter der Frau Thénardier und die andere auf den Kopf ihres Mannes.

»Daumschrauben!« kommandirte er.

Die Polizisten eilten wieder aus dem Korridor herbei, und in wenigen Sekunden war Javert’s Befehl vollstreckt.

Frau Thénardier starrte vernichtet auf ihre und ihres Mannes gefesselte Hände, sank zu Boden und jammerte: »Meine Töchter!«

»Die sind in Nummer Sicher!« sagte Javert.

Währenddem bemerkten die Polizisten den betrunknen Schläfer hinter der Thür und rüttelten ihn. Er erwachte und lallte:

»Ist’s schon vorbei, Jondrette?«

»Ja wohl!« meinte gemüthlich Javert.

Dann wandte er sich zu den sechs Banditen, die gebunden da standen:

»Behaltet Eure Masken vor!« sagte er zu den Maskirten.

Und indem er sie musterte, wie Friedrich der Große seine Garde, sagte er zu den drei »Ofensetzern«:

»Guten Abend, Bigrenaille. Guten Abend, Brujon. Guten Abend, Deux-Milliards.«

Und zu dem Mann mit dem Schlachtbeil:

»Guten Abend, Gueulemer.«

Zu dem Mann mit dem Knüttel:

»Guten Abend, Babet.«

Zu dem Bauchredner:

»Ich grüße Dich, Claquesous.«

In diesem Augenblick bemerkte er den Gefangnen der Banditen, der seit dem Erscheinen der Polizei kein Wort gesprochen halte und den Kopf zur Erde geneigt hielt.

»Bindet den Herrn los und laßt Niemand hinaus!«

Hierauf setzte er sich majestätisch und feierlich an den Tisch, auf dem noch das Licht und das Tintenfaß standen, zog einen Bogen Stempelpapier aus der Tasche und begann sein Protokoll aufzusetzen.

Nachdem er die ersten Zeilen geschrieben hatte, hob er die Augen auf.

»Bringt den Herrn her, den die Herren da angebunden haben.«

Die Polizisten sahen sich suchend um.

»Nun, wo ist er?«

Der Gefangne war verschwunden.

Als die Polizisten ihn von seinen Banden befreit hatten, war er inmitten des allgemeinen Tumults und von der Dunkelheit begünstigt zum Fenster hinausgeklettert. Die Strickleiter schwankte noch, aber draußen war Niemand zu sehen.

»Hol’s der Teufel!« murmelte Javert. »Das ist höchst wahrscheinlich der Wichtigste gewesen.«

Teil IV

Eine Idylle und eine Epopöe

Ein wenig Geschichte

Gut zugeschnitten

Die Jahre 1831 und 1832 bezeichnen, als Vorläufer der Julirevolution, eine eigenartige und merkwürdige Epoche der Weltgeschichte. Sie ragen aus der Zeit, die ihnen vorangeht und die ihnen folgt, wie zwei hohe Berge hervor. Ein großartig revolutionärer Hauch durchweht diese Periode, in der die Gesellschaft, die Grundbedingungen der Civilisation, die individuellen Interessen, die uralte Gliederung des französischen Staatsgebäudes leidenschaftlichen Theoretikern und Schwarmgeistern als Spielball dienten. Sie wurden nach entgegengesetzten Zielen die von den Historikern die »Reaktion« und der »Fortschritt« genannt worden sind, geschleudert und gelangten nur ab und zu in der Mitte, wo die Wahrheit weilt, zur Ruhe.

Diese denkwürdige Periode hat ziemlich scharf markirte Grenzen und liegt uns fern genug, so daß wir sie schon jetzt in ihren Hauptzügen darstellen können.

Diesen Versuch wollen wir nun unternehmen.

Die Restauration war eine jener schwer definirbaren Interimszeiten, die einen Ruhepunkt in der Geschichte einer großen Nation bedeuten. Dergleichen Zeiten sind absonderliche und täuschen die Politiker, die sie für ihre Zwecke auszunutzen versuchen. Im Anfang verlangt die Nation nur Ruhe, dürstet nur nach Frieden; der Einzelne kennt keinen andern Ehrgeiz, als sich recht klein zu machen. Der großen Ereignisse, der großen Gefahren und der großen Männer ist man satt und überdrüssig. Man wäre im Stande, einen Cäsar gegen einen Prusias, Napoleon gegen den gemüthlichen König des Schlaraffenlandes auszutauschen. Man hatte, als die Restauration begann, einen langen, beschwerlichen Weg zurückgelegt, war erst in Mirabeau’s, dann in Robespierre’s, endlich in Bonaparte’s Wagen gefahren und übermüdet. Jeder verlangte nach seinem Bett.

Während aber die Menschen Frieden um jeden Preis verlangen, sind die durch die Revolution geschaffenen Thatsachen zu mächtig, um sich wieder beseitigen zu lassen; man sieht sich gezwungen, ihnen Bürgschaften für ihren Bestand zu geben, ihnen Rechte einzuräumen.

Diese Forderung stellte England nach der Regierung Cromwells an die Stuarts und Frankreich nach dem Sturz Napoleons an die Bourbonen.

Wenn die Fürsten solche Garantieen gewähren, so nennen sie dies »oktroyiren.« In Wirklichkeit gewähren sie nichts. Die Macht der Verhältnisse zwingt sie nachzugeben, Diese unabweisbare und nützliche Wahrheit erkannten 1660 die Stuarts nicht, und auch die Bourbonen begriffen sie 1814 nicht.

Die Herrscherfamilie, die nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Kaiserthums nach Frankreich zurückkehrte, beging die verhängnißvolle Thorheit sich einzubilden, sie schenke und sie könne, was sie geschenkt habe, auch wieder zurücknehmen; das Haus Bourbon besitze Frankreich erb- und eigenthümlich, von Gottes Gnaden, während Frankreich nichts besitze. Aber schon der Umstand, das die Charte Ludwigs XVIII. nur mit Widerwillen der Nation verliehen wurde, hätte genügen sollen, den Bourbons zu beweisen, daß die Gabe nicht von ihnen kam.

Unfähig das neunzehnte Jahrhundert zu verstehen, lehnten sie sich gegen jede freiheitliche Regung der Nation auf. Sie machten Sperenzien, um uns eines vulgären Ausdrucks zu bedienen, und das Volk verübelte ihnen dies.

Das Haus Bourbon wähnte, es sei stark, weil das Kaiserthum vor ihm leicht, wie eine Theatercoulisse beseitigt worden war, und merkte nicht, daß es auf dieselbe Weise an die Stelle seines Vorgängers gerückt war, sich in derselben Hand befand, durch die Napoleon vom Thron gestoßen wurde. Es vermeinte einen festen Halt zu haben, weil es die Vergangenheit repräsentire. Dies war ein Irrthum; es bildete wohl einen Theil der Vergangenheit, aber die Geschichte der ganzen Vergangenheit war die Geschichte Frankreichs. Die französische Gesellschaftsordnung wurzelte in der Nation, nicht unter dem Thron der Bourbons.

Das Haus Bourbon war der starke, blutbefleckte Knoten, der ehedem Frankreichs Bestandtheile zu einem großen Ganzen verbunden hatte, konnte fortan aber nicht mehr als das wesentlichste Element seiner geschichtlichen Entwickelung und die Grundlage seiner Politik gelten. Die Bourbons waren entbehrlich; dies hatte eine zweiundzwanzigjährige Unterbrechung der Regierungsfolge bewiesen; für sie bestand diese Thatsache aber nicht. Bildeten sie sich doch ein, daß Ludwig XVII. am 9. Thermidor König war, daß die Schlacht bei Marengo unter der Regierung Ludwigs XVIII. geliefert wurde! Nie, seitdem es eine Geschichte giebt, waren Fürsten so blind gewesen gegen die Thatsachen und gegen jene göttliche Autorität, die sich in den Thatsachen kund giebt. Nie hatte jene irdische Macht, die man das Recht der Könige nennt, ihre Ansprüche denen der höhern Macht so keck vorangestellt.

Dieser entscheidungsvolle Irrglaube war es, der die Familie Bourbon dazu verleitete, die 1814, »oktroyirten« Garantieen, die sogenannten Zugeständnisse anzutasten. Was sie Zugeständnisse, revolutionäre Rechtsverletzungen nannte, waren Rechte, die wir uns in ehrlichem Kampfe erstritten hatten.

Als ihr die richtige Zeit und Stunde gekommen schien, faßte die Restauration, im Vertrauen auf ihren vermeintlichen Sieg über Bonaparte und auf ihre Beliebtheit bei der Nation, plötzlich einen raschen Entschluß und wagte einen Staatsstreich. Eines Morgens trat sie vor Frankreich hin und leugnete laut die Rechte der Gesammtheit und die des Einzelnen, machte der Nation die Herrschaft, dem Staatsbürger die Freiheit streitig.

Dies ist das Wesen der berühmten Juliordonnanzen.

In Folge dessen wurde die Restauration gestürzt.

Und zwar mit Recht. Indessen hatte sie sich, wie wir zugeben müssen, nicht allen Formen des Fortschritts widersetzt. Großes war neben ihr zu Stande gekommen.

Unter der Restauration hat sich die Nation gewöhnt, Streitfragen ruhig und sachgemäß zu erörtern, was der Republik gefehlt hatte, und dem Ausland Achtung zu gebieten ohne Verzicht auf die Wohlthaten des Friedens. Frankreichs Freiheit und Macht wirkten als ermuthigendes Beispiel auf die übrigen Völker Europas. Unter Robespierre hatte die Revolution, unter Bonaparte die Kanone das Wort gehabt, unter Ludwig XVIII. und Karl X. durfte die Intelligenz reden. Der Sturm legte sich, und die Fackel konnte wieder angezündet werden. Man sah in hehren Regionen das reine Licht der Vernunft erglänzen. Ein herrliches, ersprießliches und schönes Schauspiel. Fünfzehn Jahre hindurch bethätigten sich unter dem Schutz des Friedens und vor der Oeffentlichkeit die für den Denker alten, für den Staatsmann neuen Principien der Gleichheit vor dem Gesetz, der Gewissens-, Rede- und Preßfreiheit, der Berechtigung aller Fähigkeiten allen Staatsämtern gegenüber. So ging es bis zum Jahre 1830. Die Bourbons erwiesen sich also als ein Civilisationswerkzeug, das in den Händen der Vorsehung zerbrach.

Der Sturz der Bourbons ereignete sich unter Umständen, die dem Geschichtskenner Bewunderung abnöthigen; aber nicht Bewunderung, für sie, sondern für die Nation. Ihre Thronentsagung war eine würdevolle, aber nicht imponirend und hinterließ keinen tiefen Eindruck: sie vollzog sich nicht mit dem grausigen Gleichmuth Karls I.@ von England, noch mit Napoleons Adlerschrei. Sie gingen eben, ohne wahres Verständnis für die Majestät ihres Unglücks. Bekundete doch Karl X., der auf der Reise nach Cherbourg aus einem runden Tisch einen viereckigen herausschneiden ließ, mehr Interesse für Etikette, als Trauer über den Sturz der Monarchie. Diese Kleinlichkeit betrübte die Leute, die für den König eine persönliche Anhängigkeit empfanden und die geschichtliche Bedeutung seiner Familie zu würdigen wußten. — Das Volk dagegen zeigte bei dieser Gelegenheit ein bewundernswürdiges Verhalten. Von dem Königthum eines Tages widerrechtlich angegriffen fühlte die Nation sich so stark, daß sie ihre Ruhe bewahrte und dem Zorn nicht Raum gab. Sie vertheidigte sich, übte Mäßigung, brachte alles wieder in das richtige Geleise, indem sie dem Gesetz die Herrschaft wiedergab und die Bourbons wieder in die Verbannung schickte; und begnügte sich — leider! — mit diesem Erfolge. Den alten König Karl X. und seine Familie behandelte sie mit Schonung. Nicht Dieser oder Jener, — Frankreich, ganz Frankreich, das ganze siegreiche und von seinem Siege berauschte Frankreich schien der Worte eingedenk zu sein, die Guillaume du Vair nach dem Tag der Barrikaden niederschrieb: »Denen, so, um Reichthümer und Aemter zu erschnappen, überall herumschranzen, wie die Vöglein von Ast zu Ast hüpfen, mag es leicht fallen, frech zu sein gegen gefallene Größen; mir aber deucht das Schicksal meines Königs nicht gleichgültig, zumal, wenn er mit Unglück und Trübsal belastet ist.«

Die Julirevolution fand sofort Freunde und Feinde in der ganzen Welt, wurde von den Einen mit Enthusiasmus und Freude begrüßt, von den Andern in den Abgrund der Hölle verdammt. Die Fürsten kniffen, wie die Eulen vor der Morgenröthe, Anfangs die Augen zu und machten sie dann bloß auf, um drohende Blicke zu entsenden. Begreifliche Furcht, entschuldbarer Aerger! War es doch bei dieser seltsamen Revolution kaum zu einem rechten Kampf gekommen! Hatte sie doch dem besiegten König nicht einmal die Ehre erwiesen, ihn als Feind zu behandeln und sein Blut zu vergießen! Diese Milde konnten ihr die Despoten, die alles Interesse daran haben, daß die Freiheit sich selbst in den Augen der Welt schadet, nicht verzeihen. Indessen wurde sie weder offen, noch im Geheimen bekämpft. Auch die sich am wüthendsten gebärdeten, ließen die vollzogene Thatsache gelten, denn trotz allem Egoismus und Groll empfindet der Mensch doch eine geheime Achtung vor allen Ereignissen, an denen er das Walten einer höheren Macht spürt.

Die Julirevolution ist der Triumph des Rechtes über die Thatsache, ein unvergleichbar herrlicher Sieg.

Darin besteht ihr Ruhmestitel, daher auch ihre Milde gegen den besiegten Feind. Das Recht, wenn es triumphirt, hat nicht nöthig gewaltsam aufzutreten.

Wer das Recht zur Richtschnur seiner Handlungen nimmt, handelt auch nach den Principien der Sittlichkeit und Wahrheit.

Dem Recht ist es eigenthümlich, daß es ewig schön und rein bleibt. Die Thatsache, mag sie auch noch so nothwendig erscheinen, noch so sehr sich der Billigung der Zeitgenossen erfreuen, wird, wenn sie nur als Thatsache besteht und nur wenig oder gar keinen Theil am Rechte hat, unausbleiblich zu einer Mißgestalt, einer Ungeheuerlichkeit ausarten. Wer sich klar darüber werden will, ein wie scheußlich häßliches Aussehen die Thatsache in den Augen späterer Geschlechter annehmen kann, der lese Macchiavelli. Der Mann war kein böser Genius, keine Ausgeburt der Hölle, kein charakterloser und nichtswürdiger Schriftsteller, sondern nur ein Vertheidiger der Thatsache. Und nicht bloß der Thatsache, wie sie sich seiner Zeit in Italien gestaltet hatte, sondern der Thatsache, die im sechzehnten Jahrhundert für ganz Europa maßgebend war. Diese Thatsache erscheint und ist scheußlich im Vergleich mit der sittlichen Norm des neunzehnten Jahrhunderts.

Dieser Kampf zwischen Recht und Thatsache besteht seitdem es Staaten giebt. Die Aufgabe der Weisen ist es, diesem Zweikampf ein Ende zu machen, die reine Idee mit der Wirklichkeit zu verschmelzen, dafür zu sorgen, daß Recht und Thatsache sich gegenseitig auf friedlichem Wege durchdringen.

Schlecht genäht

Aber neben den Weisen arbeiten an dem Bau des Staates auch die schlauen Leute, und diese verfolgen ganz andere Ziele.

Die Revolution des Jahres 1830 blieb bald auf halbem Wege stehen.

Die schlauen Leute verfahren mit einer Revolution, die ihr Ziel hat, wie Strandbewohner mit einem gescheiterten Walfisch: sie schlachten sie aus.

Diese Art Menschen hat sich in unserm Jahrhundert das Prädikat »Staatsmänner« zuerkannt; dergestalt, daß dieses Wort »Staatsmann« jetzt fast der Gaunersprache angehört. Denn man vergesse nicht, daß die »Schlauheit« nothwendig verbunden ist mit einer allem Großen und Erhabenen angewandten Denkweise. Wer da sagt die »schlauen Leute,« bezeichnet damit auch die mittelmäßigen Köpfe.

So wie das Wort »Staatsmann« bisweilen dasselbe bedeutet wie »Verräther.«

Will man also den Schlauköpfen Glauben schenken, so sind Revolutionen, wie die des Jahres 1830, durchschnittene Pulsadern; sie müssen sofort unterbunden werden. Tritt das Recht zu stolz auf, so wird es gefährlich und muß der Sicherheit des Staates hintenangesetzt werden. Nach dem Siege der Freiheit schaffe man eine starke Regierung.

Hierin stimmen die Weisen mit den Schlauen noch überein, fangen aber an mißtrauisch zu werden. Ganz richtig! Eine starke Regierung muß sein. Aber was ist mit einer »starken« Regierung gemeint, und wer hat das Recht eine solche einzusetzen?

Diesen schüchtern vorgebrachten Einwand scheinen aber die schlauen Leute nicht zu hören und intriguiren weiter.

Nach diesen Politikern, die sich meisterhaft auf die Kunst verstehen, vortheilhafte Lügen hinter der Maske der Nothwendigkeit zu verstecken, bedarf ein Volk, das zwischen lauter monarchischen Ländern wohnt, vor allen Dingen einer Dynastie. Auf diese Weise könne es nach seiner Revolution Frieden behalten, d. h. Zeit gewinnen, um seine Wunden zu verbinden und sein Haus wieder in Stand setzen.

Nun ist es aber nicht immer ganz leicht, sich eine Dynastie zu verschaffen.

Streng genommen, läßt sich aus dem ersten, besten Mann von Genie oder sogar irgend einem glücklichen Abenteurer ein Monarch machen. Man hat dann in dem ersten Fall einen Bonaparte, in letzterem einen Iturbide.

Es kann aber nicht die erste beste Familie eine Dynastie abgeben. Es gehört dazu auch ein gewisses Alter, und der Stempel der Zeit kann nicht nachgemacht werden.

Begiebt man sich auf den Standpunkt der »Staatsmänner,« mit Vorbehalt natürlich, so muß der König, der eine Revolution beschließen soll, folgende Eigenschaften haben: Es ist vortheilhaft, daß er eine revolutionäre Gesinnung hege, d. h., daß er persönlich an der Umwälzung sich betheiligt, sich dabei Mißkredit oder Ehre erworben, die Gegner mit der Guillotine oder mit dem Degen bekämpft habe.

Welche Eigenschaften muß eine Dynastie haben? Verständniß für die Wünsche der Nation. Doch darf sie in der Revolution keine aktive Rolle gespielt haben; sie soll nur Fühlung mit den Ideen der Zeit haben.

Hieraus erklärt sich, warum die ersten, großen Revolutionen zufrieden sind, wenn sie einen Mann finden, und die zweiten durchaus eine Familie haben wollen, wie das Haus Braunschweig oder Orleans.

Königsfamilien gleichen jenem indischen Feigenbaum, von denen jeder Zweig, indem er sich bis zur Erde hinabneigt, Wurzel faßt und zu einem Baum wird. So kann auch jedes Mitglied einer Königsfamilie Gründer einer Dynastie werden. Unter der Bedingung, daß es sich bis zum Volke hinabneigt!

So lautet die politische Theorie, mit der die Schlauköpfe 1688 in England und 1830 in Frankreich den Fortschritt hemmten, das Volk einschläferten, das Recht entwaffneten.

Wer gebietet auf diese Weise den Revolutionen Einhalt? Die Bourgeoisie, die besitzenden Stände.

Warum?

Weil die Bourgeoisie den befriedigten Eigennutz vertritt.

Es wiederholte sich 1830 nach dem Sturze Karls X. dieselbe Erscheinung, die 1814 den Gang der Ereignisse bestimmte.

Man hat — mit Unrecht — behauptet, die Bourgeoisie sei ein besonderer Stand. Sie ist aber nur der zufrieden gestellte Theil des Volkes. Der Bourgeois ist ein Mann, der gerade Zeit hat, sich zu setzen. Ein Stuhl ist aber keine Kaste.

Will man sich aber zu früh hinsetzen, so kann es geschehen, daß man dabei den Fortschritt des Menschengeschlechts aufhält. Diesen Fehler hat sich die Bourgeoisie oft zu Schulden kommen lassen.

Man bildet keinen besonderen Stand, weil man einen Fehler begeht. Der Egoismus ist kein Merkmal, durch das sich eine Klasse Menschen von einer andern unterscheidet.

Uebrigens muß man sogar gegen den Egoismus gerecht sein. Nach der Umwälzung, die das Jahr 1830 herbeiführte, erstrebte derjenige Theil der Nation, den man die Bourgeoisie nennt, nicht etwa einen schimpflichen Trägheitszustand, nicht den Schlummer, um zu vergessen und sich in Träumen zu wiegen, sondern eine Zeit der Ruhe: Sie wollte nur Halt machen auf dem Wege, der zum Fortschritt führt, wie ja auch Soldaten, die gestern gekämpft haben und morgen wieder kämpfen werden, heute ausruhen, um ihre Kräfte wieder herzustellen.

So machte 1830 bis 48 die Bourgeoisie Halt, ohne darum dem Fortschritt wesentlichen Abbruch zu thun.

Der Mann aber, den sie nötig hatte, um Vergangenheit und Zukunft zugleich zu repräsentiren, brauchte nicht lange gesucht zu werden. Er hieß Louis Philippe d’Orléans.

221 Abgeordnete wählten Louis Philippe zum König. Die Krönung vollzog Lafayette, indem er diese Regierung die »beste Republik« nannte. Während also früher die französischen Könige in dem Dom zu Reims gesalbt wurden, übernahm jetzt diese Rolle das Pariser Stadthaus.

Als die schlauen Leute mit ihrer Arbeit fertig waren, zeigte es sich auch, wie mangelhaft sie ihre Aufgabe gelöst hatten. Sie hatten das absolute Recht aus ihrer Rechnung fortgelassen. Dieses protestirte, zog sich aber vorläufig, um sich auf einen desto furchtbareren Kampf vorzubereiten, aus der Arena zurück.

Louis Philippe

Die Revolutionen schlagen derb zu und treffen gute Wahlen. Dies gilt auch von der in falsche Bahnen gelenkten und zahmen Julirevolution des Jahres 1830. Sie hatte Glück. Der König, den sie sich auserkor, war besser, als das neugeschaffene Königthum. Louis Philippe war ein Mann, wie es deren nicht viele giebt.

Mit allen Privat- und mehreren staatsmännischen Tugenden ausgestattet; auf die Erhaltung seiner Gesundheit und seines Vermögens, sowie auf seine äußere Erscheinung bedacht; sparsam mit den Minuten, wenn auch nicht immer mit den Jahren; müßig im Essen und Trinken; heiter; friedfertig; geduldig; gutmüthig; treu gegen seine Frau, eine Tugend, durch die er sich von dem Bourbons des alten Regimes vortheilhaft auszeichnete, und die er zu politischer Geltung zu bringen wußte, indem er durch seine Lakaien den Besuchern des Schlosses das königliche Ehebett zeigen ließ; mit allen Sprachen Europas vertraut und, was noch besser ist, mit den Sprachen, welche die verschiedenen Interessen zu hören lieben; vorzüglicher Vertreter des »Mittelstandes,« aber ausgezeichnet durch eine höhere Denkweise; vernünftig genug, sich bei allem Adelsstolze nur wegen seines inneren Wertes zu achten und Gewicht darauf zu legen, daß er ein Orleans, kein Bourbon, sei; sehr vornehm in seinem Auftreten, so lange er nur »Durchlaucht,« und durchaus bürgerlich, sobald er »Majestät« titulirt wurde; weitschweifig in seinen öffentlichen Reden und bündig im Ausdruck vor den Verwandten und Freunden; als Geizhals verschrieen, thatsächlich aber zur Verschwendung geneigt, wenn es die Befriedigung einer Laune oder die Erfüllung einer Pflicht galt; litterarisch gebildet, aber ohne Vorliebe für die Litteratur; Edelmann, aber nicht ritterlich gesinnt; schlicht, gleichmüthig und energisch; geliebt von seiner Familie, seinem Hofstaat und Gesinde; angenehmer Gesellschafter; als Staatsmann illusionslos, kühl, stets von dem unmittelbaren Interesse beherrscht; nachtragenden Grolles und uneigennütziger Dankbarkeit unfähig; Meister in der Kunst den breiten Volksmassen zum Trotz Majoritäten im Parlament zu schaffen; mittheilsam bis zur Unklugheit und dabei doch erfinderisch in Bezug auf Auskunftsmittel und stets bereit, diese oder jene Seite seines Wesens hervorzukehren, je nach den Umständen, und voller Liebe für sein Land, aber noch mehr auf das Wohl seiner Familie bedacht; mehr bestrebt, wirkliche Macht, als moralische Autorität zu besitzen und am wenigsten besorgt um seine persönliche Würde, ein Charakterzug, vermöge dessen er alles auf den Erfolg bezog und zur Hinterlist neigte, über auch geeignet war, politischen Katastrophen vorzubeugen; genau; korrekt; wachsam; regsamen Geistes; scharfsinnig; unermüdlich; Inkonsequenzen ausgesetzt und Widerrufen nicht abgeneigt; revolutionär genug, um ohne Heuchelei die Marseillaise singen zu können; unzugänglich für die Liebe zum Schönen und Idealen, für waghalsige Hochherzigkeit, für Utopien, und Chimären, für den Jähzorn, die Eitelkeit, die Furcht; von großer, persönlicher Tapferkeit als General bei Valmy, als Soldat bei Jemmapes, den Königsmördern gegenüber, die acht Attentate gegen ihn verübten; zugleich auch ein muthiger Denker, ängstlich nur vor einer möglichen Erschütterung des europäischen Staatengebäudes und ohne politischen Wagemuth; ein guter Menschenkenner; von nüchternem, praktischem und durchdringendem Verstande; beredt; mit erstaunlichem Gedächtniß ausgerüstet, der einzige Punkt, in dem er Cäsar, Alexander dem Großen und Napoleon glich, aber trotzdem er alle möglichen Thatsachen, Daten, Namen kannte, ohne Verständniß für die Neigungen, Leidenschaften, Eigenthümlichkeiten der Menge, für die inneren Bestrebungen, die geheimen Regungen, kurz alles, was man die unsichtbaren Strömungen der Gemüther nennen könnte; ohne jedwede innigere Fühlung mit dem Volksgeist, ein Mangel, dem er mittels seiner Schlauheit abzuhelfen verstand; zu herrschsüchtig, um sich innerhalb der ihm von der Verfassung vorgeschriebenen Grenzen zu halten; sein eigener erster Minister; immer auf der Lauer, um großen Ideen die kleinliche Wirklichkeit entgegenzusetzen; zugleich wahrhaft schöpferischer Civilisator und Rabulist; halb König, halb Advokat; kurz eine groß veranlagte und originelle Gestalt; ein Fürst, der es verstand, Frankreich’s Mißtrauen zum Trotze eine starke Regierung zu schaffen und dem Ausland gegenüber energisch aufzutreten, — wegen aller dieser Vorzüge und Fehler wird Louis Philippe für einen der bedeutendsten Menschen seines Jahrhunderts gelten, und er würde auch den größten Herrschern zugezählt werden, hätte er ein wenig den Ruhm geliebt und für das Große ebenso viel Sinn gehabt, wie für das Nützliche.

Louis Philippe war in jüngeren Jahren ein hübscher Mann und bewahrte sich auch noch im Alter eine gewisse Anmuth; nicht immer bei der Nation beliebt, gefiel er stets dem Volke. Der Majestät ermangelte er; obgleich König, trug er die Krone nicht und Greis wie er war, behielt sein Haar die ursprüngliche Farbe. Vermöge seiner Manieren gehörte er noch der alten, vermöge seiner Gewohnheiten der neuen Zeit an, und war ein Gemisch von Edelmann und Spießbürger, wie man es 1830 liebte. Er trug wie Karl X. die Uniform der Nationalgarde und wie Napoleon das Band der Ehrenlegion.

Er ging selten in die Kirche, noch seltener auf die Jagd, niemals in die Oper, Gewohnheiten, die ihm von der Bourgeoisie hoch angerechnet wurden. Den Höflingen verstattete er keinen Einfluß. Eine andere Ursache seiner Beliebtheit war seine Gepflogenheit mit dem Regenschirm unter dem Arm auszugehen. Auch kannte er mehrere Handwerke, war Maurer, Gärtner und Arzt. Er ließ einen vom Pferde gefallenen Postillon zur Ader und ging ebenso wenig ohne seine Lanzette aus, wie Heinrich III. ohne seinen Dolch. Die Royalisten spotteten über diesen lächerlichen König, den ersten, der Menschenblut vergossen hat, um Menschen vor dem Tode zu retten.

Von den Beschwerden, die der Geschichtsschreiber gegen Louis Philippe erhebt, muß Manches in Abzug gebracht werden. Einiges davon ist auf Rechnung des Königthums zu setzen, Anderes darf seiner Regierung, noch Anderes dem König persönlich zur Last gelegt werden. Dann stellt sich heraus, daß die Konfiskation des demokratischen Rechts, die Bestrafung der Volksaufstände durch Kriegsgerichte, die Theilung der Herrschaft zwischen dem König und dreihundert Tausend Bevorrechteten, dem Königthum als solchem zuzuschreiben sind. Die Weigerung, Belgien zu annektiren, die barbarische Eroberung Algeriens sind Maßregeln der Minister gewesen; daß die Politik mehr auf den Vortheil der Familie des Königs abzielte, als auf die Förderung des Gesammtwohls, gereicht Louis Philippe persönlich zum Vorwurf.

Auf diese Weise wird also das Konto des Königs um ein Bedeutendes entlastet.

Sein Hauptfehler aber bestand darin, daß er im Namen Frankreichs zu bescheiden gewesen ist. Um die Zukunft der Seinigen nicht zu gefährden, war er gegen die Feinde Frankreichs nicht kühn genug und mißfiel so dem Volke, das heroische Thaten, wie die Erstürmung der Bastille und die Schlacht bei Austerlitz in seiner Geschichte aufzuweisen hat.

Allerdings verdiente, wenn man von den Pflichten gegen die Gesammtheit absehen darf, Louis Philippe’s Familie die Liebe, die er ihr widmete, sowohl wegen ihrer Tugenden, wie wegen ihrer geistigen Begabung.

Dies ist, ohne irgend etwas zu verschweigen, aber auch ohne irgend welche Übertreibung, die Wahrheit über Louis Philippe.

Daß er als Prinz doch das Princip der Gleichheit aller Staatsbürger verfocht, den Widerspruch zwischen Revolution und Restauration in sich trug, als Revolutionär doch eine revolutionsfeindliche Regierung zu begründen geeignet war, dies sind die Ursachen, denen Louis Philippe 1830 sein Glück verdankte. Nie paßte sich ein Mensch besser einem Ereignis an, nie durchdrangen sich beide vollständiger. Außerdem bezeichnete ihn die Verbannung, in der er gelebt hatte, als des Thrones würdig. Er hatte von Land zu Land herumirren müssen, war arm gewesen, und hatte sich mit Arbeit seinen Unterhalt verdient. Er gab in Reichenau Mathematikunterricht, während seine Schwester Adédelaïde stickte und nähte. Diese Erlebnisse eines Prinzen begeisterten die Bourgeoisie. Er hatte auch den letzten eisernen Käfig in dem Kloster des Mont-Saint-Michel, den Ludwig XI. machen lies und in dem noch Ludwig XV. Menschen einzusperren befahl, mit seinen eigenen Händen zerstört. Er war Dumouriez’s Waffenbruder, Lafayette’s Freund, Jakobiner gewesen. Mirabeau hatte ihm vertraulich auf die Schulter geklopft und Danton ihn mit »Junger Mann« angeredet. 1793 hatte er als Herr von Chartres in einer dunklen Loge dem Prozeß Ludwigs XVI., des »armen Tyrannen«, beigewohnt. Die Revolution, die unbewußt das Richtige traf, als sie das Königthum in der Person des Königs und den König mit dem Königthum vernichtete, der gewaltige Tumult in dem zum Gerichtshof konstituirten Convent, Capets Unfähigkeit sich dem öffentlichen Unwillen gegenüber zu verantworten, die verhältnismäßige Schuldlosigkeit Aller an dieser Katastrophe, der Richter und des Verurtheilten, alles dies hatte er miterlebt, und da Ludwig XVI. nur als Vertreter der Monarchie unterging, bewahrte Louis Philippe eine heilige Scheu vor der großartigen Gerechtigkeit des Volkes, die eben so unpersönlich ist, wie die Gottes.

Eine tiefe Spur hatte die Revolution in seinem Gemüth hinterlassen. Sein Gedächtniß enthielt gewissermaßen ein bis in die kleinsten Züge getreues Abbild jener großen Zeit. So berichtigte er eines Tages in Gegenwart eines Ohrenzeugen, an dessen Wahrhaftigkeit wir nicht zweifeln können, aus dem Kopf die ganze Liste der mit dem Buchstaben A beginnenden Mitglieder der konstituirenden Versammlung.

Louis Philippe war ein König, dessen Handlungen das Tageslicht nicht zu scheuen brauchten. Unter seiner Regierung hat Rede-, Preß- und Gewissensfreiheit geherrscht. Obwohl das Licht der Oeffentlichkeit den Privilegien feindlich ist, hat er sich dieses Licht gefallen lassen. Die Geschichte wird ihm dieses ehrliche Verhalten anrechnen.

Louis Philippe steht wie alle historischen Persönlichkeiten, die von der Weltbühne abgetreten sind, vor dem Gerichtshof der öffentlichen Moral. Aber sein Prozeß befindet sich noch in der ersten Instanz. Der Augenblick, ein endgiltiges Urtheil über ihn zu fällen, ist noch nicht gekommen, und sogar der strenge und tüchtige Louis Blanc hat vor kurzem sein erstes Verdikt gemildert.

Louis Philippe war ein Nothbehelf, der von den zweihunderteinundzwanzig Abgeordneten und der Revolution des Jahres 1830 hervorgesucht wurde, und unter allen Umständen könnten wir ihn hier von einem sicheren, philosophischen Standpunkt aus, nur mit gewissen Vorbehalten zu Gunsten des absoluten demokratischen Princips beurtheilen; nämlich indem wir daran festhalten, daß außerhalb des Menschen- und des Volksrechts alles nur Usurpation sein kann. Aber, abgesehen von diesen Vorbehalten, dürfen wir schon jetzt behaupten, daß, was seinen moralischen Charakter betrifft, Louis Philippe stets für einen der besten Fürsten gelten wird, der je einen Thron bestiegen hat.

Was spricht gegen ihn? Daß er ein König gewesen ist. Aber als Mensch zeichnete er sich durch seine Herzensgüte aus. Wenn er, den Kopf voller Sorgen, nach einer Tagesarbeit sich am Abend in sein Gemach zurückzog, nahm er oft, müde wie er war, einen Stoß Akten vor und brachte die Nacht mit der Durchsicht eines Kriminalprozesses zu. Er hielt es wohl für etwas Großes, wenn er den Diplomaten von ganz Europa die Stirn bot, empfand aber noch mehr Genugthuung, wenn er einen Menschen aus der Hand des Henkers befreien konnte. Er trat seinem Großsiegelbewahrer hartnäckig entgegen und machte den Staatsanwälten, die er »Gesetzesschwätzer« nannte, das Terrain der Guillotine Schritt für Schritt streitig. Bisweilen war sein ganzer Tisch mit Aktenstößen bedeckt; er prüfte sie sämmtlich und es war eine Pein für ihn, wenn er einen unglücklichen Verurtheilten seinem Schicksal überlassen mußte. Während der ersten Jahre seiner Regierung war die Todesstrafe so gut wie abgeschafft, und um das Blutgerüst wieder aufzurichten, mußte man dem König Gewalt anthun. Diesen Sieg errang Casimir Périer, ein »praktischer Mann,« der die Engherzigkeit der Bourgeoisie vertrat, über den liberaler gesinnten Louis Philippe, der Beccaria’s Buch mit eigenhändigen Anmerkungen versehen hatte. Nach dem Fieschischen Attentat rief er aus: »Schade, daß ich nicht verwundet worden bin! Ich könnte dann Gnade walten lassen!« Bei einer andern Gelegenheit äußerte er sich, indem er auf den Widerstand seiner Minister anspielte, über einen politischen Verbrecher mit den Worten: »Begnadigt soll er werden, wenn ich es irgendwie durchsetzen kann.« Louis Philippe war milde wie Ludwig IX. und gutherzig wie Heinrich IV.

Da aber in der Weltgeschichte Herzensgüte eine seltene Perle ist, so ziehen wir fast einen guten einem großen Manne vor.

Da Louis Philippe von den Einen strenge, von den Andern mit ungerechter Härte beurtheilt worden ist, so versteht es sich von selbst, daß ein jetzt selber politisch toter Mann, der diesen König gekannt hat, vor der Geschichte mit einem Entlastungszeugniß zu seinen Gunsten auftritt, und Niemand wird diesem meinem Zeugniß eigennützige Motive unterschieben. Die Toten dürfen sich gegenseitig loben und trösten.

Schwache Grundmauern

Da unsere Erzählung uns jetzt durch ein tragisches Ereignis, das in die ersten Jahre der Regierungszeit Louis Philippes fällt, hindurchführt, so durften wir keine Zweifel bestehen lassen und mußten uns über diesen König aussprechen.

Louis Philippe war die Königswürde zugefallen, ohne daß er direkt etwas dazu gethan, ohne daß er irgend welche Gewalt gebraucht hätte. Nicht er selber hatte sich das Mandat gegeben; er hatte es sich auch nicht genommen. Man bot es ihm dar, und er nahm es an, in der allerdings unbegründeten, aber ehrlichen Ueberzeugung, daß die ihn zum König wählten, im Rechte wären, und daß es seine Pflicht sei, die Krone anzunehmen. So ehrlich aber Louis Philippe von der Rechtmäßigkeit seiner Ansprüche auf den Thron überzeugt war, ebenso ehrlich war die Demokratie, wenn sie behauptete, gegen dem König im Recht zu sein. Aus diesem Grunde glauben wir, daß die Schrecknisse der damaligen socialen Kämpfe weder dem König noch der Demokratie zur Last gelegt werden dürfen. Ein Zusammenstoß von Principien gleicht einem Zusammenstoß von Naturkräften. Der Ocean vertheidigt das Wasser, der Sturm tritt für die Rechte der Luft ein; der König vertheidigt das Königthum, die Demokratie macht die Rechte des Volkes geltend; das Relative, nämlich die Monarchie wehrt sich gegen das absolute, die Republik; unter diesem Konflikt hat die Gesellschaft schwer zu leiden; aber aus dem derweiligen Ungemach erwächst ihr später das Heil, und keinenfalls darf man die Kämpfer tadeln; eine der beiden Parteien täuscht sich offenbar, denn das Recht steht nicht, wie der Koloß zu Rhodos auf zwei Ufern, hat nicht einen Fuß in der Republik und einen im Königthum, sondern es ist untheilbar und steht vollständig auf einer Seite; aber die sich irren, sind aufrichtig; ein Blinder ist ebenso wenig ein Verbrecher, wie die Vendéer, die sich gegen die republikanische Regierung empörten, als Räuber betrachtet werden durften. Die Schuld an solchen schrecklichen Konflikten muß also dem Fatum zugeschrieben werden, nicht Menschen.

Vollenden wir diese Auseinandersetzung.

Der Regierung des Jahres 1830 wurde das Leben von Anfang an sehr schwer gemacht. Sie mußte sofort um ihr Dasein kämpfen.

Die Feindseligkeit ihrer Gegner wuchs von Monat zu Monat; erst opponirte man heimlich, dann offen.

Die Julirevolution, die bei den Königen des Auslandes wenig Gnade fand, wurde, wie schon erwähnt, in Frankreich verschieden gedeutet.

Gott thut den Menschen seinen Willen in den Ereignissen kund, aber dieser Text ist in einer schwer verständlichen Sprache abgefaßt. Sofort machen sich die Menschen Übersetzungen zurecht, übereilte, unrichtige, unvollständige, widerspruchsvolle Übersetzungen. Denn nur Wenige verstehen Gottes Sprache wirklich. Die Scharfsinnigsten, Besonnensten, Gründlichsten entziffern den Urtext nur langsam, and wenn sie mit ihrer Uebersetzung fertig sind, sind ihnen schon zwanzig Andere zuvorgekommen und beherrschen die öffentliche Meinung. Jede Uebersetzung giebt Anlaß zur Bildung einer Partei; jede falsch verstandene Stelle des Urtextes gebiert eine Faktion, und jede Partei glaubt den Text richtig zu verstehen, jede Faktion Recht zu haben.

Bei allen Revolutionen sieht man Leute, die gegen den Strom schwimmen, nämlich die Anhänger der alten staatlichen Ordnung.

Diejenigen von den alten Parteien, die das Gottesgnadenthum vertreten, meinen, da die Revolutionen auf das Recht zu revoltiren fußen, so habe man auch das Recht gegen die, durch eine Revolution geschaffene Ordnung der Dinge zu revoltiren. Falsch argumentirt! Bei einer Revolution revoltirt nicht das Volk, sondern der König. Eine Revolution ist etwas ganz Anderes als eine Revolte. Jede Revolution enthält, da sie der normale Abschluß einer gewissen Reihe von Ereignissen ist, in sich ihre Berechtigung, der falsche Revolutionäre bisweilen Schande machen, die aber besteht, wenn sie auch befleckt wird. Revolutionen sind Erzeugnisse, nicht eines Zufalls, sondern der Notwendigkeit und bedeuten eine Rückkehr von dem Falschen zum Aechten und Wahren.

Die alten, legitimistischen Parteien griffen darum nicht weniger die Julirevolution mit all der Heftigkeit an, die unrichtigen Argumentationen entspringt. Irrthümer sind ausgezeichnete Waffen, und die Legitimisten verstanden es, die Regierung da anzugreifen, wo sie verwundbar war, nämlich ihr Mangel an Logik nachzuweisen. Sie fragten: Wozu braucht Eure Revolution einen König?

Dasselbe Feldgeschrei erhoben die Republikaner; aber von ihrer Seite war dies konsequent. Die Julirevolution hatte das Volk um das, was ihm zukam, betrogen, und die Demokratie war in ihrem Recht, wenn sie ihr deswegen Vorwürfe machte.

Von der Vergangenheit und der Zukunft zugleich angegriffen, hatte die Regierung, als Vertreterin des Augenblicks, einen schweren Stand.

Da sie ferner die Konsequenzen der Revolution perhorrescirte und monarchische Principien verfocht, so war sie genöthigt sich in der Politik durch Europa bestimmen zu lassen und vor allen Dingen Frieden mit den Königen zu halten, was neue Schwierigkeiten herbeiführte. Eine Friedfertigkeit, die nicht mit der Vernunft und Möglichkeit rechnet, hat oft mehr Lasten und Gefahren im Gefolge, als der Krieg. Aus diesem versteckten Konflikt, der immer zurückgehalten wurde und immer drohte, entstand der bewaffnete Friede, jenes kostspielige Auskunftsmittel der Civilisation, die des Vertrauens zu sich selbst ermangelt. Uebrigens bäumte sich das Julikönigthum, nachdem es sich vor den Staatswagen Europas hatte miteinspannen lassen, so daß Metternich es gern an die Longe gelegt hätte. Wurde es doch in Frankreich durch den Fortschritt vorwärts gedrängt und zwang dadurch die trägen Gäule von Monarchen ein rascheres Tempo einzuschlagen.

Mittlerweile aber harrten eine Menge Fragen der inneren Politik ihrer Erledigung. Pauperismus, Lohnregulirung, Erziehung, Strafrecht, Prostitution, Frauenemancipation, Produktion, Konsum, Vertheilung des Nationalreichthums, Handel und Wandel, Geld und Kredit — alle diese Fragen türmten sich zu einem Bau empor, der auf das Staatsgebäude zu stürzen und es zu vernichten drohte.

Außerhalb der eigentlichen politischen Parteien fand noch eine andere Bewegung der Geister statt. Der Gährung bei den Demokraten entsprach eine Gährung in der Philosophie. Die Gebildeten fühlten sich ebenso unbefriedigt, wenn auch in anderer Weise, als die große Menge.

Die Denker arbeiteten, während der Boden, auf dem sie standen, nämlich das Volk, von revolutionären Strömungen durchzuckt, unter ihnen ruckweise erbebte. Einzeln oder in Vereinen und Sekten erörterten sie friedlich, aber gründlich, die socialen Fragen, kaltblütig wie Bergleute, die Stollen in einen Vulkan hineintreiben und sich bei ihrer Arbeit durch die Erschütterungen und den Anblick des Kraterfeuers nicht stören lassen.

Diese Gemüthsruhe war eine der schönsten Eigentümlichkeiten jener wild bewegten Zeit.

Die Männer, die man mit dem Gattungsnamen Socialisten bezeichnen kann, überließen den politischen Parteien die Frage nach den Rechten der Staatsbürger und beschäftigten sich mit dem Glück, der Wohlfahrt des Menschen.

Sie erhoben die materielle Seite des Daseins, Ackerbau, Industrie, Handel fast zur Würde einer Religion, erörterten allerhand Fragen, auch die nach der Berechtigung der Todesstrafe und des Krieges, sowie, außer dem von der französischen Republik proklamirten Menschenrecht, auch die Rechte der Frauen und Kinder.

Man wird sich nicht wundern, wenn wir — aus mancherlei Gründen — die von dem Socialismus aufgeworfenen Fragen hier nicht gründlich abhandeln. Wir werden uns darauf beschränken, sie anzudeuten.

Alle Probleme, die von den Socialisten aufgestellt wurden, können, wenn man von den kosmogonischen Visionen, Phantastereien und den Verirrungen des Mysticismus absieht, auf zwei zurückgeführt werden: auf die Frage, wie Reichthum erzeugt wird und wie er vertheilt werden soll.

Das erste Problem schließt die Frage nach dem Wesen der Arbeit in sich, das zweite beschäftigt sich mit der Lohnregulirung.

Aus der Arbeit, d. h. der richtigen Verwendung der individuellen Kräfte, ergiebt sich die Macht des Staates; aus der gerechten Verteilung des Lohnes, also auch der Genüsse, das Glück des Einzelnen.

Unter Vertheilung muß man nicht die Gleichheit der Güter, sondern eine Vertheilung nach den Grundsätzen der Billigkeit verstehen.

Auf der Verbindung der Macht des Staates nach außen hin und des individuellen Wohls im Innern beruht das sociale Gedeihen.

Das erste unserer beiden Probleme ist von England gelöst worden. England versteht sich recht gut daraus Reichthum zu schaffen, vertheilt ihn aber sehr schlecht. Diese Einseitigkeit mündet in zwei Extreme, übermässigen Reichthum und übermäßiges Elend. Alle Genüsse für die Einen, alle Entbehrungen für die Andern, nämlich für das Volk. Sonderrechte, Monopole, Adel entstehen hier aus der Arbeit selber. Solch eine falsche und gefährliche Situation gründet die Macht des Staates auf das Elend des Individuums, eine Macht, die nur materieller Natur ist und keinen moralischen Bestandteil in sich schließt.

Das zweite Problem glaubt der Kommunismus lösen zu können. Irrtümlicher Weise, denn die gleichmäßige Vertheilung der Güter vernichtet die Produktion, indem sie den Wetteifer und folglich auch die Arbeit abschafft. Es ist eine Vertheilung, wie sie der Schlächter vornimmt: Auch der tötet, was er zertheilt.

Will man eine Lösung der beiden Probleme herbeiführen, so muß man beide zusammen angreifen, als wären sie ein einziges.

Löst ihr nur das erste, so schafft ihr nur ein Venedig oder ein England, eine künstliche oder eine materielle Macht. Solch ein Staat geht, wie Venedig, durch einen Gewaltstreich oder durch den Bankerott zu Grunde, denn dies wird dermaleinst Englands Ende sein. Die Welt aber sieht einem solchen Untergange theilnahmlos zu, weil nicht der Egoismus, sondern nur Tugenden und Ideen Wert für die Welt haben.

Selbstredend bezeichnen wir hier mit den Worten Venedig und England nicht das Volk dieser Länder, sondern gewisse Staatsverfassungen, Oligarchieen. Die Nationen selber achten und schätzen wir. Das Volk von Venedig wird sich von dem Sturz erheben; die englische Aristokratie wird untergehen, aber die englische Nation ist unvergänglich. Nach dieser Anmerkung wollen wir fortfahren.

Löset beide Probleme, ermuthigt den Reichen und schützt den Armen, beseitigt das Elend, macht der Ausbeutung des Schwachen durch den Starken ein Ende, legt den Neid Derjenigen, die emporstreben, gegen die schon oben Stehenden einen Zügel an, bemesset genau und in brüderlicher Weise den Lohn nach der Arbeit, legt der Entwicklung des Kindes den obligatorischen Schulunterricht und der Tüchtigkeit des Mannes die Wissenschaft zu Grunde, — pflegt den Verstand und sorgt dabei, daß auch die Arme beschäftigt werden, seid zugleich mächtig als Volk und glücklich als Individuen, demokratisirt das Eigenthum, nicht dadurch, daß ihr es abschafft, sondern es verallgemeinert, was leichter ist, als man insgemein glaubt — kurz, producirt und vertheilt richtig, so wird Frankreich materiell und moralisch groß sein.

So sprach, abgesehen von gewissen Schwarmgeistern, der damalige Socialismus.

Hochherzige Bemühungen! Anerkennungswürdige Bestrebungen!

Diese Theorien, die unerwartete Nothwendigkeit, auf die Philosophen Rücksicht nehmen zu müssen, die dunkle Ahnung, daß die Gegner hier und da das Richtige trafen, der Aufbau eines neuen politischen Systems, das den alten Anschauungen gerecht werden und dem Ideal der Revolutionäre nicht allzu schroff zuwiederlaufen sollte, der Antagonismus zwischen der Kammer und dem aufsässigen Volke, die richtige Begrenzung des politischen Einflusses, den er den einzelnen Personen seiner Umgebung verstatten durfte, sein Glaube an die Vortrefflichkeit der revolutionären Ideen, vielleicht auch die Einsicht, daß er sich einst vor einem höheren, endgiltigen Recht werde beugen müssen, der feste Wille seiner Vorfahren würdig zu sein, die Liebe zu seiner Familie, seine aufrichtige Achtung vor dem Volke, die Eingebungen seiner Rechtschaffenheit bereiteten Louis Philippe qualvolle Sorgen und ließen ihm seine schwere Pflichten als König fast unerfüllbar erscheinen.

Er fühlte, wie der Felsen, auf dem er stand, auseinander bröckelte, ohne jedoch in Staub zu zerfallen; war doch Frankreichs Genius stärker als je.

Ein Gewitter stieg am Horizont empor. Eine seltsam mächtige Wolke, die rasch zunahm, warf ihren düstern Schatten auf die Menschen, die Dinge, die Ideen. Suchten doch alter Groll und junge Begeisterung gewaltsam das Bestehende zu zerstören!

Zu Anfang des Jahres 1842, kaum zwanzig Monate nach der Julirevolution, hatten die Dinge eine Wendung genommen, die große Gefahren in der nächsten Zukunft ahnen ließ. Die Noth des Volkes, die Arbeitslosigkeit, der geheimnißvolle Tod des Prinzen von Condé, die Vertreibung der angestammten Nassauer Dynastie aus Belgien, das einen französischen Prinzen als König haben wollte und einem englischen gegeben wurde, die Erbitterung in Rußland gegen den Nikolausschen Despotismus, der teuflische Haß Ferdinand’s von Spanien und Miguels von Portugal gegen alle freiheitlichen Ideen, die Vereitelung der Metternichschen Uebergriffe in Italien durch Frankreichs energisches Auftreten in Ancona, Polens neue Einsargung nach seiner vergeblichen Insurrektion, Europas Mißbehagen über die neue Schilderhebung der Revolution in Frankreich, die Unsicherheit des Bündnisses mit England, das immer bereit ist, über die Schwachen herzufallen und Beute zu machen, die Berufung der Pairs auf Beccaria, die Verminderung von Lafayette’s Einfluß, Laffitte’s Ruin, Casimir Périers Tod, der Bürgerkrieg in Paris und der Sklavenkrieg in Lyon, die fanatischen Hetzereien in Südfrankreich, die Schilderhebung der Herzogin von Berry in der Vendée, die Cholera vermehrten noch die Gefahren, womit die neuen Theorieen die Regierung bedrohten.

Unbeachtete geschichtliche Thatsachen

Gegen Ende April hatte sich die Lage bedeutend verschlimmert. Die revolutionäre Stimmung befand sich jetzt im Stadium der Siedehitze. Schon seit 1830 hatten die Revolutionäre hier und da zu den Waffen gegriffen, aber diese kleinen Revolten waren schnell unterdrückt worden. Allein der Umstand, daß sie sich fortwährend ermunterten, nöthigte zu dem Schlusse, daß ein mächtiges Feuer unter der Asche glomm und man sah eine größere Revolution voraus. Frankreich wartete nur auf Paris, und Paris auf die Vorstadt Saint-Antoine.

In diesem Arbeiterviertel also waren die Gemüther aufs äußerste erhitzt.

In den Schänken der Rue de Charonne herrschten gewichtige und stürmische Debatten.

Es wurde hier alles Ernstes die Frage erörtert, ob man sich schlagen oder sich ruhig verhalten solle. In manchen Hinterzimmern nahm man Arbeitern den Eid ab, daß sie beim ersten Alarmschrei auf die Straße hinabstürzen und kämpfen sollten, ohne ihre Feinde zu zählen. Bisweilen stiegen die Betheiligten in ein verschlossenes Zimmer des ersten Stockwerks hinauf und vollzogen dort Ceremonien, die an die Freimaurer erinnern. Man versicherte auch eidlich dem Eingeweihten, daß man ihn »wie Familienväter unterstützen werde.«

Desgleichen wurden »umstürzlerische« Broschüren vorgelesen. »Sie schmähten und bespöttelten die Regierung,« besagt ein geheimer Polizeibericht.

Dort hörte man Aeußerungen wie folgende: »Ich kenne die Namen der Anführer nicht. Unsereinem wird es zwei Stunden vorher gesagt werden, wann es losgehen soll.« — Ein Arbeiter sagte: »Wir sind unsrer dreihundert. Gibt Jeder zehn Sous, so haben wir hundert und fünfzig Franken zu Kugeln und Pulver.« — Ein andrer: »Wir brauchen jetzt keine sechs, keine zwei Monate mehr zu warten. Ehe vierzehn Tage vergehen, können wir der Regierung entgegentreten. Fünfundzwanzig Tausend Mann genügen dazu.« — Noch ein Andrer erzählte: »Ich gehe nicht zu Bett, weil ich heute Nacht Patronen machen muß.« Von Zeit zu Zeit kamen »fein gekleidete« Leute, »thaten wichtig«, gaben mit einer gewissen »Kommandomiene« den Angesehensten unter den Arbeitern die Hand und gingen nach kurzem Aufenthalt wieder fort. — Wie groß die Aufregung war, begeistert folgender Vorfall: Eines Tages rief ein Arbeiter in einem mit Gästen überfüllten Lokal ganz laut: »Wir haben keine Waffen,« »Die Soldaten haben welche!« antwortete ein andrer und parodirte so, ohne es zu wissen, Bonapartes Proklamation an die französische Armee, die in Italien kämpfte. — »Wenn sie etwas Heimlicheres hatten,« bemerkt ein Bericht, »theilten sie sich’s da nicht mit.« Man begreift nicht, was sie noch zu verschweigen haben konnten, nach den erwähnten Aeußerungen.

Diese Versammlungen wurden bisweilen an bestimmten, regelmäßig wiederkehrenden Tagen abgehalten. In manchen sah man immer nur dieselben, acht bis zehn, Gesichter. Zu anderen wurde Jedermann zugelassen, und der Saal war so voll, daß man stehen mußte. Einige kamen aus lauter Begeisterung, Andre, weil das Lokal gerade auf ihrem Wege lag. Wie zur Zeit der großen Revolution wohnten den Versammlungen auch patriotische Frauen bei, die den Neuen um den Hals fielen.

Noch andere bedeutsame Thatsachen traten auf.

Z. B. Ein Gast sagte: »Herr Wirt, was ich schuldig bleibe, wird die Revolution bezahlen.«

In einer Kneipe wurden revolutionäre Agenten ernannt. Als Wahlurnen dienten Mützen.

Allmählich wurden diese Anschläge und Vorbereitungen lächerlich offenkundig. So sagte einmal eine Frau, die vor ihrer Thür fegte, zu einer andern: »Seit langer Zeit werden Patronen massenhaft fabricirt.« — Man konnte auf offner Straße Proklamationen an die Nationalgarden der Departements lesen. Eine war »Burtot, Weinhändler« unterzeichnet.

Eines Tages stieg vor dem Laden eines Liqueurfabrikanten auf dem Markt Lenoir ein Mann, der seiner Sprache nach ein Italiener sein mußte, auf einen Prellstein und las mit lauter Stimme ein sonderbares Schriftstück vor, das von einer geheimen Regierung auszugehen schien. Um ihn herum sammelten sich die Leute und applaudirten Die Stellen, die von der Menge besonders beifällig aufgenommen wurden, sind aufgeschrieben worden. »Der Verbreitung unsrer Lehren werden Hindernisse entgegengestellt, unsre Proklamationen werden zerrissen; die Leute, die sie ankleben, verfolgt und ins Gefängniß geworfen. Die Baumwollenkrisis hat uns mehrere Anhänger zugeführt, die es bis jetzt mit der Regierung gehalten haben.« — »Die Zukunft der Völker wird von uns kleinen Leuten angebahnt.« — »Man hat die Wahl nur zwischen Aktion und Reaktion, Revolution oder Gegenrevolution. Denn heutzutage glaubt man nicht mehr an den Stillstand. Für oder gegen das Volk, so lautet die Frage. Einen Mittelweg giebt es nicht.« — »Ruft uns ab, sobald wir Euch nicht mehr zusagen, aber bis dahin müßt Ihr tapfer mit uns marschieren.« Und alles dies am hellen lichten Tage!

Einige Redner traten mit einer Keckheit auf, die gerade deshalb Mißtrauen erregte. Am 4. April l832 stieg Jemand auf einen Prellstein an der Ecke der Rue Sainte-Marguerite und rief: »Ich bin Kommunist!« und u. a. noch: »Nieder mit dem Eigenthum! Die Opposition ist feige und sinnt nur auf Verrath. Sie hascht blos nach Beifall, wenn sie sich revolutionär gebärdet, will nur ihre Anträge durchbringen. Im Grunde genommen ist sie royalistisch und denkt gar nicht daran, mit der Revolution Ernst zu machen. Nehmt Euch also vor den Republikanern in Acht, Arbeiter!«

»Halt’s Maul, Spitzel!« schrie ihm Einer aus der Menge zu und machte damit der Rede ein Ende.

Auch an geheimnißvollen Zwischenfällen fehlte es nicht.

In der Abenddämmerung begegnete ein Arbeiter in der Nähe des Kanals einem »fein gekleideten« Mann, der ihn anredete: »Wo gehst Du hin, Bürger?« »Mein Herr,« erwiederte der Arbeiter, »ich habe nicht die Ehre Sie zu kennen.« »Ich kenne Dich aber. Fürchte nichts. Ich bin der Agent des Komités. Du stehst in Verdacht, daß man sich nicht auf Dich verlassen kann. Halte also reinen Mund. Du wirst beobachtet.« Darauf gab er dem Arbeiter die Hand und ging davon, indem er ihm noch zurief: »Wir werden bald wiedersehn.«

Die Polizei, die natürlich überallhin horchte, belauschte nicht bloß in den Schänken, sondern auch auf offener Straße eigenthümliche Gespräche; z. B.:

Zwei zerlumpte Kerle tauschten Reden aus, die noch schlimmre Tendenzen, als die der Republikaner verriethen:

»Wer regiert uns?«

»Herr Philippe.«

»I bewahre, die Reichen.«

Ein andres Mal hörte man Jemand sagen: »Wir haben einen guten Angriffsplan.«

Von einem Gespräch zwischen vier verdächtigen Gestalten, die in einem Graben bei der Barriere du Trône hockten, belauschte man nur folgenden kurzen, aber inhaltsschweren Satz:

»Es wird alles Mögliche geschehen, damit er nicht mehr in Paris spazieren geht.«

Wer mit dem »Er« gemeint war, konnte kaum zweifelhaft sein, so dunkel der Sinn der Rede auch sonst sein mochte.

Die »Oberanführer,« wie man sich in den Arbeitervierteln ausdrückte, hielten sich abseits. Es hieß, sie hätten ihre Versammlungen in der Nähe der Kirche Saint-Eustache. Ein gewisser Auguste —, Direktor des Vereins der Schneider zu gegenseitiger Hülfe, wohnhaft in der Rue Mondétour, galt für den Vermittler zwischen den Häuptern der Verschwörung und der Vorstadt Saint-Antoine. Nichts desto weniger blieben ihre Namen stets unbekannt und keine sicher nachgewiesene Thatsache widerlegte je die stolze Antwort, die ein Angeklagter später vor dem Gerichtshof auf die Frage gab: »Wer war Ihr Anführer?« »Ich kannte und anerkannte Keinen!« sagte er.

Alles dies waren nur mündliche Aeußerungen, die zwar verdächtig genug klangen, aber keine greifbaren Anhaltspunkte boten. An diesen fehlte es indessen auch nicht.

Ein Zimmermann, der auf einem Bauplatz in der Rue de Reuilly arbeitete, fand daselbst ein Bruchstück eines zerrissenen Briefes, auf dem folgende Zeilen zu lesen waren:

»Das Komité muß Maßregeln ergreifen, um die Rekrutirung in den Sektionen für die … Gesellschaften zu verhindern.

P. S. Wir haben in Erfahrung gebracht, daß in der Rue du Faubourg Poissonnière Nr. 5 b bei einem Waffenschmied auf dem Hofe fünf bis sechs Tausend Gewehre lagern. Die Sektion besitzt keine Waffen.«

Einige Schritte von diesem Bruchstück lag ein andres, noch bedeutsameres, das den Zimmermann noch mehr in Verwundrung setzte und ihn bewog, seinen Nachbarn die Funde zu zeigen. Es war eine Liste mit Namen von Leuten, an die Waffen und Munition vertheilt waren. Erst später erfuhr man, daß in diesem Schriftstück alle Sektionen des vierten Arrondissements der »Gesellschaft der Menschenrechte« samt den Namen und Adressen der Sektionsvorsteher aufgezählt waren.

Nun noch einige materielle Thatsachen.

Bei einem Trödler in der Rue Popincourt beschlagnahmte die Polizei graues Papier, das in Patronenform zusammengefaßt war, samt einer Karte, auf der Folgendes stand:

Salpeter 12 Unzen Schwefel2 Kohle Wasser 2

Das Protokoll der Haussuchung konstatirte, daß die Schublade, in der das Papier gefunden wurde, stark nach Schießpulver roch.

Ein Maurer, der nach vollbrachtem Tagewerk spazieren ging, ließ auf einer Bank in der Nähe des Pont d’ Austerlitz ein Paket liegen, das Jemand nach einem Polizeibüreau brachte. Es enthielt zwei gedruckte Dialoge, die »Lahautière« unterzeichnet waren, ein Lied mit der Ueberschrift: »Arbeiter, thut Euch zusammen!« und eine Blechbüchse mit Patronen.

Auf dem Boulevard zwischen dem Kirchhof Père-Lachaise und der Barrière du Trône, einer sehr öden Gegend, fanden Kinder unter einem Haufen Hobelspäne und Gemüseabfall einen Sack mit allerlei zur Anfertigung von Patronen und Kugeln notwendigem Werkzeug, das Spuren von Benutzung aufwies.

Einen gewissen Pardon, später Sektionsglied der Sektion Barricade-Merry, der bei dem Aprilaufstande 1834 getötet wurde, überraschte die Polizei um fünf Uhr Morgens, als er gerade mit der Anfertigung von Patronen beschäftigt war.

Die Regierung wurde eines Tages benachrichtigt, daß Waffen und zweimalhundertausend Patronen an die Arbeiter der Vorstädte vertheilt worden waren. Die Woche darauf wurden auf dieselbe Weise dreißig tausend Patronen ausgegeben. Merkwürdig dabei war, daß die Polizei nichts davon mit Beschlag belegen konnte. In einem abgefangenen Brief las man: »Der Tag ist nicht fern, wo binnen vier Stunden achtzigtausend Patrioten mit den Waffen in der Hand antreten werden.«

So allgemein bekannt waren die Vorbereitungen zum Aufstande, daß die Arbeiter oft die gemächliche Frage zu hören bekamen: »Na, wie steht’s mit Eurer Revolte?« Das sagten die Leute so ruhig, als wollte man sich nach dem Befinden der Frau des Betreffenden erkundigen.

Ein Kaufmann sagte: »Ich weiß schon, Ihr wollt bald losschlagen. Vor einem Monat wart Ihr fünfzehntausend, jetzt seid Ihr fünfundzwanzigtausend Mann stark.« Dabei bot er dem Betreffenden ein Gewehr an, und ein Nachbar wollte die Gelegenheit wahrnehmen, um ein kleines Pistol für sieben Franken zu verkaufen.

Im Uebrigen griff das Revolutionsfieber immer weiter um sich. Kein Theil von Paris oder Frankreich blieb davon verschont. Wie die Häute, die bei gewissen Entzündungskrankheiten im menschlichen Körper entstehen, so breitete sich das Netz der geheimen Gesellschaften über das Land aus. Aus dem zugleich öffentlichen und geheimen Bunde der »Freunde des Volkes« entstand die »Gesellschaft der Menschenrechte,« die ihre Erlasse in dem alten, republikanischen Stil abfaßte: »Im Monat Pluviose des Jahres 40 der republikanischen Zeitrechnung.« Dieser Geheimbund überdauerte alle Verurtheilungen und stand nicht an, seine Sektionen mit den denkbar revolutionärsten Namen zu bezeichnen: Sektion der Pieken, Sektion Königsmord. Sektion Sturmglocke, Sektion der Lumpe, Sektion Robespierre, Sektion Gleichheit u. s. w.

Aus der Gesellschaft der Menschenrechte ging eine »Gesellschaft der That« hervor. Es waren Ungeduldige, die sich von den Andern lossagten und vorauseilten. In ähnlicher Weise entstanden noch viele andre Geheimbünde, von denen wir die »Armee der Bastillen« hervorheben. Sie war militärisch organisirt, vier Mann unter einem Korporal, zehn unter einem Sergeanten, zwanzig unter einem Unterlieutenant, vierzig unter einem Lieutenant. Es waren ihrer nie mehr als fünf Mann, die sich gegenseitig kannten. Also eine Schöpfung, an der die Vorsicht einen eben so großen Antheil hatte, wie die Kühnheit, und die an Venedig erinnert. Das Centralkomité, das an der Spitze des Ganzen stand, hatte zwei Arme, die Gesellschaft der That und die Armee der Bastillen. Auch einen legitimistischen Geheimbund gab es, die Ritter von der Treue, die mit den republikanischen Gesellschaften Fühlung zu gewinnen suchten, aber mit schelen Augen betrachtet und überall abgewiesen wurden.

Im Studentenviertel gährte es nicht weniger stark, als in den Vorstädten. Ein Café in der Rue Saint-Hyacynthe und das der Sept-Billards, Rue des Mathurins-Saint-Jacques dienten den Studenten als Versammlungsorte, die Gesellschaft der Freunde des ABC hielt ihre Sitzungen im Café Musain und, wie erinnerlich, in einem Restaurant »Corinthe« in der Rue Mondétour. Diese Sitzungen waren geheime. Andre Versammlungen wurden überaus öffentlich abgehalten, und wie keck es dabei zuging, ersieht man u. a. aus einem Verhör, von dem wir ein Bruchstück hier mittheilen wollen: »Wo findet diese Versammlung statt? Rue de la Paix. Wo da? Auf der Straße. Welche Sektionen fanden sich da ein? Eine einzige. Welche? Die Sektion Manuel. Wer war der Anführer? Ich. Sie sind zu jung, als daß sie den gewichtigen Entschluß hätten fassen können, die Regierung anzugreifen. Wo bekamen Sie Ihre Instruktion her? Von dem Centralkomitè.«

Wie das Volk, wurde auch die Armee bearbeitet, wie die Meutereien in Belfort, Lanéville und Epinal später bewiesen. Die Revolutionäre rechneten auf das zweiundfünfzigste, das fünfte, achte, siebenunddreißigste sowie auf das zwanzigste Regiment. In Burgund und in den Städten des Südens wurde der »Baum der Freiheit« aufgepflanzt, ein Mast, auf den oben eine phrygische Mütze gestülpt wurde.

Diese allgemeine Erregung erreichte, wie wir schon angedeutet haben, ihren höchsten Grad in der Vorstadt Saint-Antoine.

Die arbeitsame, muthige und hitzige Bevölkerung dieser alten Vorstadt, die an einen Ameisenhaufen erinnert, zitterte vor Ungeduld und Sehnsucht nach Veränderung, Aber trotz aller Vorbereitungen zum Kampfe ging die Arbeit ihren gewohnten Gang, und es ist unmöglich eine Vorstellung zu geben von dem lebhaften und unheilvollen Treiben, das sich damals hier entwickelte. Dieses Stadtviertel birgt in seinen Dachstuben das höchste Elend und unter den Unglücklichen befinden sich auch Leute von hohem Verstande. Keine Extreme aber sind gefährlicher, als die des Elends und des Verstandes, wenn sie sich berühren.

Die Schänken der Vorstadt Saint-Antoine, auf die oben hin und wieder angespielt wurde, haben eine geschichtliche Berühmtheit. In unruhigen Zeiten berauscht man sich da mehr an Worten, als an Wein. Ahnungen, die eine bessere Zukunft verheißen, kreisen dann hier, heben den gesunknen Muth und begeistern zu großen Thaten. Die Schänken der Vorstadt Saint-Antoine gleichen denen des Berges Aventinus, die über der Höhle der Sibylle standen und zu denen aus der heiligen Tiefe ein prophetischer Hauch emporstieg und die Trinker des »sibyllinischen Weines« in Verzückung versetzte.

Die Vorstadt Saint-Antoine ist ein Volksbehälter, in dem soziale Erdbeben Risse hervorbringen. Durch diese bricht dann der Wille des Volkes sich Bahn, bisweilen um Unheil anzurichten; denn er kann sich irren, wie jeder andre Wille. Aber auch wenn er auf falschen Wegen wandelt, tritt er mit Größe auf; ingens, gewaltig wie ein blinder Cyclop.

1793 schwärmten, je nachdem eine gute oder verkehrte Idee in der Luft schwebte, Fanatismus oder edle Begeisterung vorherrschte, aus der Vorstadt Saint-Antoine bald Legionen von Wilden, bald Schaaren von Helden aus.

Von Wilden. Wir müssen uns über dieses Wort des Weiteren auslassen. Was wollten diese störrischen Menschen, die in den Anfangstagen des Revolutionschaos in Lumpen gehüllt, den Totschläger oder die Pieke in der Hand, sich auf das alte Paris stürzten? Das Ende jeder Art von Unterdrückung wollten sie, das Ende jedweder Tyrannei, Arbeit für den Mann, Schulunterricht für das Kind, mildere Beurtheilung der weiblichen Schwachheit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Brod für Alle, Ideen für Alle, die Verwandlung der Erde in ein Paradies, den Fortschritt. Ja, Wilde waren diese aufs äußerste gereizter Menschen, aber die Wilden der Civilisation.

Neben diesen — allerdings fürchterlichen, aber zum Guten fürchterlichen — Menschen giebt es andre, die betreßt, mit Orden behangen, in seidnen Strümpfen, weißen Federn, gelben Handschuhen, Lackstiefeln, die Hand auf einem Sammetsessel oder ein marmornes Kamingesims gestützt, die Aufrechterhaltung der Vergangenheit, des Mittelalters, des Königtums von Gottes Gnaden, des religiösen Fanatismus, der Unwissenheit, der Sklaverei, der Todesstrafe, des Krieges befürworten! Was uns betrifft, so würden wir, wenn wir zwischen den Barbaren der Civilisation und den Kulturmenschen der Barbarei wählen müßten, die Barbaren vorziehen.

Indessen ist — dem Himmel sei’s gedankt — eine andre Wahl möglich. Es geht ohne jedweden jähen Absturz, ob rück- oder vorwärts. Weder Despotismus eines Einzelnen noch der Masse. Wir rollen auf einer sanft geneigten Bahn.

Dafür aber, daß der Weg der Menschheit gangbarer werde, sorgt Gott.

Enjolras und seine Offiziere

Um diese Zeit hielt Enjolras im Hinblick auf die Dinge, die da kommen sollten, eine Art geheimer Schätzung.

Alle waren eines Tages zur Berathung im Café Musain versammelt, als Enjolras eine mit etwas räthselhaften, aber bedeutungsvollen Metaphern gewürzte Rede hielt.

»Es wäre wünschenswerth, daß man wüßte, woran man ist und auf wen man zählen kann. Wenn man Soldaten haben will, muß man sie anwerben, und eher zu viel, als zu wenig. Die Wandrer laufen mehr Gefahr Stöße abzukriegen, wenn Rinder die Landstraße entlang ziehen, als wenn keine da sind. Also laßt uns mal unsre Herde zählen. Wie viel sind wir? Diese Arbeit duldet keinen Aufschub. Revolutionäre müssen sich immer beeilen, denn der Fortschritt hat keine Zeit zu verlieren. Wir dürfen uns keinen Ueberraschungen aussetzen. Zu diesem Zwecke thun wir gut, die Nähte, die wir gemacht haben, auf ihre Haltbarkeit zu prüfen. Die Sache muß heute vollständig erledigt werden. Courfeyrac, Du nimmst Dir die Polytechniker vor. Heute, Mittwoch, ist ihr Ausgehtag. Du, Feuilly, Du gehst nach der Glacière, nicht wahr? Combeferre hat mir versprochen, sich mit Picpus zu beschäftigen, wo gutes Material vorhanden ist. Bahorel wird sich auf dem Platz de ’l Estrapade umsehn. Prouvaire, die Maurer werden lau; erkundige Dich also, wie es mit der Loge in der Rue Grenelle-Saint-Honoré steht. Joly wird nach der Dupuytren’schen Klinik gehen und der medizinischen Fakultät den Puls befühlen. Laigle verfügt sich nach dem Gerichtshaus und redet ein Wörtchen mit den Referendaren. Ich übernehme die Cougourde.«

»Damit wäre Alles in Ordnung«, meinte Courfeyrac.

»Bewahre!«

»Was giebt’s denn noch zu thun?«

»Etwas sehr Wichtiges.«

»Was denn?«

»Wir müssen an die Barrière du Maine denken«, antwortete Enjolras.

Er sann eine Weile nach und fuhr dann fort:

»In der Gegend wohnen viel Marmorwaarenfabrikanten, Bildhauer und Maler. Große Enthusiasten, kühlen aber leicht ab. Ich weiß nicht, was seit einiger Zeit mit ihnen vorgeht. Sie haben andre Dinge im Kopfe. Das Strohfeuer ihrer Begeistrung ist im Erlöschen begriffen. Sie schlagen die Zeit mit Dominospielen tot. Es ist dringend nothwendig, daß Einer hingeht und ein nachdrückliches Wort mit ihnen redet. Sie treffen sich bei Richefeu, zwischen zwölf und ein Uhr. Ich hatte darauf gerechnet, daß unser konfuser Freund Marius es übernehmen würde, dieses Feuer wieder anzufachen. Er würde sich im Großen und Ganzen dazu eignen, aber er läßt sich seit einiger Zeit nicht mehr bei uns sehen. Ich brauche also Jemand, der die besagte Gegend bearbeiten könnte, habe aber Niemand mehr.«

»Bin ich denn nicht da?« fragte Grantaire.

»Du Republikaner unterweisen? Du und im Namen der Principien Gleichgültige begeistern?«

»Warum denn nicht?«

»Bist Du denn zu irgend etwas zu gebrauchen?«

»Ich bilde es mir einigermaßen ein!«

»Du glaubst an nichts!«

»Doch, an Dich!«

»Grantaire, willst Du mir einen Gefallen thun?«

»Jedweden, und wenn Du verlangtest, ich soll Dir die Stiefel putzen.«

»Nun, so befasse Dich nicht mit unsern Angelegenheiten. Trinke Deinen Absinth und schlafe dann Deinen Rausch aus.«

»Du bist ein undankbarer Mensch, Enjolras.«

»Du solltest im Stande sein, nach der Barrière du Maine zu gehen, Du?«

»Ich bin im Stande die Rue de Grès entlang, dann über den Platz Saint-Michel, dann seitwärts durch die Rue Monsieur-le-Prince, die Rue de Vaugirard entlang bis über das Karmeliterkloster hinaus, in die Rue d’Assas und Rue du Cherche-Midi hinein, dann die ganze Rue des Vieilles-Tuileries hindurch, die Chaussee du Maine entlang und zum Thor hinauszugehen, bis ich bei Richefeu ankomme. Das kriege ich und meine Stiefel fertig.«

»Kennst Du die Leute ein bischen?«

»Nicht besonders, wir duzen uns blos.«

»Wie wirst Du mit ihnen reden?«

»Na, ich werde von Robespierre sprechen, von Danton, von den Principien!«

»Du?«

»Ja, ja! Aber gegen mich ist eben Keiner gerecht. Wenn ich mich ins Zeug lege, bin ich fürchterlich. Ich habe Proudhon gelesen, kenne Rousseaus Gesellschaftsvertrag, weiß die Verfassung des Jahres 2 auswendig. ›Die Freiheit des Bürgers hört da auf, wo die Freiheit eines andern Bürgers anfängt.‹ — Hältst Du mich denn für ein Rind? Ich habe in meiner Schublade einen alten Tresorschein aus der Zeit der großen Staatspleite. Die Menschenrechte, die Herrschaft des Volkes, — davor hat unsereins Respekt. Ich bin sogar in einem gewissen Grade Anhänger von Hébert. Ich kann sechs geschlagne Stunden hintereinander feierlichen Klimbim quatschen.«

»Laß das Ulken und rede vernünftig!«

»Ich bin unbeugsam.«

Enjolras dachte einige Sekunden nach und machte dann eine Bewegung, die erkennen ließ, daß er mit sich einig geworden war.

»Gut, Grantaire, ich will einen Versuch mit Dir wagen. Du gehst also nach der Barrière du Maine.«

Grantaire ging und kehrte, da er in der Nachbarschaft des Café Musain wohnte, schon nach fünf Minuten wieder zurück. Er hatte zu Hause eine Weste à la Robespierre angezogen.

»Roth!« sagte er beim Eintreten und sah Enjolras fest in die Augen.

Dann klappte er energisch die beiden scharlachnen Spitzen seiner Weste empor, drückte sie an seine Brust und flüsterte Enjolras ins Ohr:

»Sei unbesorgt!«

Mit diesen Worten drückte er sich den Hut entschlossen ins Gesicht und ging.

Eine Viertelstunde später war es im Hinterzimmer des Café Musain still geworden. Alle Freunde des A-B-C waren Jeder an seine Arbeit gegangen.

Enjolras verließ das Lokal zuletzt und machte sich auf den Weg nach der Ebene von Issy, wo sich die in Paris anwesenden Mitglieder der Cougourde von Aix in einer der dortigen sehr zahlreichen Steinbrüche zu versammeln pflegten.

Unterwegs hielt Enjolras in seinem Geiste eine Musterung über die Truppen ab, die seine tüchtigen Offiziere ihm sicherlich zuführen würden, und dachte dabei auch an Grantaire. Da fiel ihm ein, daß die Barrière du Maine nicht sehr weit seitlich von dem Wege nach Issy ablag. »Wie wäre es, wenn ich einen Abstecher zu Richefeu machte? Da kann ich mich gleich mit eigenen Augen überzeugen, wie Grantaire seine Sache anfängt.«

Es schlug ein Uhr auf dem Kirchthurm zu Vaugirard, als Enjolras in die Tabagie Richefeu eintrat. Er kreuzte die Arme, ließ die Thür hinter sich zufallen und schaute sich um in dem mit Gästen überfüllten, räucherigen Saale.

Bald hörte er aus dem Lärm eine Stimme heraus, die von einer noch stärkeren, Grantaires, übertönt wurde.

Der tüchtige Werber saß einem andern Gast gegenüber an einem grauweißgestreiften Marmortisch, auf dem Dominosteine lagen, schlug mit der Faust auf und Enjolras hörte folgende Unterhaltung:

»Sechs und sechs.«

»Vier.«

»Du Glückspilz! Ich habe keine mehr.«

»Du bist reingefallen. Zwei.«

»Sechs.«

»Drei.«

»Eins.«

»Jetzt setze ich.«

»Vier Points.«

»Mit Mühe und Noth.«

»Du bist dran.«

»Ich habe einen kolossalen Bock geschossen.«

»Du machst’s gut!«

»Fünfzehn.«

»Sieben dazu.«

»Dann habe ich zweiundzwanzig. (Nachdenklich) Zweiundzwanzig!«

»Du hast den Einspasch nicht erwartet. Hätte ich den zu Anfang gesetzt, so würde das Spiel eine ganz andere Wendung bekommen haben.«

»Zwei und Zwei.«

»Eins.«

»Eins! Gut, fünf.«

»Hab’ ich nicht!«

»Du hast ja wohl gesetzt?«

»Ja.«

»Blank.«

»Hat Der Schwein! Nein, hast Du Schwein! (Lange Ueberlegung) Zwei.«

»Eins.«

»Weder fünf noch eins. Das ist unangenehm für Dich.«

»Domino.«

»Hol’s der Teufel!«

Eponine

Das Feld der Lerche

Kaum hatte Javert das Gorbeausche Haus verlassen um seine Gefangnen in drei Droschken fortzuschaffen, als auch Marius sich hinausschlich und sich — um neun Uhr Abends — zu Courfeyrac begab. Dieser war dem Studentenviertel untreu geworden und hatte »aus politischen Gründen« in der Rue de la Verrerie Wohnung genommen. Die Gegend gehörte nämlich zu denen, die von der Insurrektion bevorzugt wurden, Marius sagte zu Courfeyrac: »Ich möchte heute bei Dir übernachten!« Courfeyrac nahm von seinen beiden Matratzen die eine aus dem Bett heraus, legte sie auf den Fußboden und sagte: »Da!«

Am nächsten Morgen um sieben Uhr kehrte Marius nach dem Gorbeauschen Hause zurück, bezahlte seine Miethe und was er der Vicewirtin sonst noch schuldig war, ließ seine Bücher, sein Bett, seinen Tisch, seine Kommode und seine beiden Stühle auf einen Handwagen laden und zog davon, ohne seine Adresse zu hinterlassen. Javert fand daher, als er im Lauf des Vormittags zurückkam um Marius über die Ereignisse des vergangenen Tages auszuforschen, nur Frau Burgon in dem Hause, die ihm: »Ausgezogen!« entgegenrief.

Die Vicewirtin war überzeugt, daß Marius ein Spießgeselle der verhafteten Spitzbuben gewesen war. »Wer hätte das gedacht! Ein junger Mann, was schüchtern war wie ein junges Mädchen!«

Zweierlei Gründe hatten Marius zu diesem eiligen Umzug bewogen. Erstens fühlte er jetzt einen Abscheu vor dem Hause, wo er aus nächster Nähe und in ihrer ganzen Widerwärtigkeit eine der allerhäßlichsten Früchte der Gesellschaftsordnung kennen gelernt hatte, den bösen Armen, der noch unerquicklicher ist, als der böse Reiche. Zweitens wollte er nicht in dem bevorstehenden Prozeß als Belastungszeuge gegen Thénardier auftreten.

Javert glaubte, der junge Mann, dessen Namen er sich nicht gemerkt hatte, habe Angst bekommen und sei davongelaufen oder wäre wohl gar an dem bewußten Abend nicht zu Hause gewesen. Trotzdem stellte er aber Nachforschungen an, ohne indessen Marius neue Adresse ausfindig zu machen.

Es verging ein Monat, dann noch einer, und Marius wohnte noch immer bei Courfeyrac. Er hatte von einem Advokaten, der in dem Wartesaal des Gerichtshauses regelmäßig promenirte, erfahren, daß Thénardier sich im engeren Gewahrsam befand. Von da an ließ Marius jeden Montag in der Amtsstube des Gefängnisses La Force fünf Franken für Thénardier abgeben.

Diese fünf Franken entlieh Marius, da er kein Geld mehr hatte, seinem Freund Courfeyrac, das erste Anlehen, das er überhaupt in seinem Leben machte. Ueber diese regelmäßige Sendung wunderte sich Courfeyrac, der das Geld hergab, ebenso sehr wie Thénardier, der es empfing. Die Sache blieb aber für Beide ein Räthsel.

Natürlich war Marius außer sich vor Kummer. Nachdem er einen Augenblick die junge Dame, die er liebte, und den alten Herrn, der ihr Vater zu sein schien, wiedergesehen, waren diese beiden Unbekannten, durch die ihm das Leben lebenswert war, verschwunden, ohne mehr Spuren zu hinterlassen, als ein Schatten. Kein Funken von Gewißheit und Wahrheit! Keine Möglichkeit, auch nur Vermuthungen aufzustellen! Jetzt konnte er das junge Mädchen nicht einmal bei einem Namen nennen. Jedenfalls war sie nicht mehr seine »Ursula.« Und die »Lerche« war ein Spitzname. Und was sollte er von dem Alten denken? Versteckte er sich wirklich vor der Polizei? Nun kam ihm die Begegnung mit dem weißhaarigen Arbeiter unweit des Invalidendomes ins Gedächtniß zurück. Wahrscheinlich waren dieser Arbeiter und Herr Leblanc ein und derselbe Mann. Er verkleidete sich also! Warum hatte der Unbekannte nicht um Hülfe gerufen? Weshalb hatte er sich heimlich aus dem Staube gemacht? War er der Vater des jungen Mädchen oder war er es nicht? Und war er wirklich der Mann, für den Thénardier ihn hielt, oder hatte sich Letzterer geirrt? Lauter unlösbare Räthsel! Freilich, alle diese argwöhnischen Zweifel thaten den engelhaften Reizen seiner Angebeteten keinen Abbruch. Welch eine herbe Qual, daß er mit dieser Leidenschaft im Herzen im Dunkeln herumtappte! Die Liebe trieb ihn vorwärts, befahl ihm zu gehen und er konnte sich nicht rühren. Alles war dahin, nur die Liebe nicht, und auch diese ließ ihn mit ihrem Rath im Stich. Gewöhnlich spendet doch die Flamme, die uns verzehrt, auch einiges Licht, das unsre Schritte richtig leitet. Aber solche Eingebungen bekam Marius jetzt nicht mehr. Nie dachte er: »Ob ich dorthin gehe? Wie wäre es, wenn ich das versuchte?« Irgendwo mußte doch Diejenige weilen, die er nicht mehr seine Ursula nennen konnte; aber nichts gab ihm kund, wo er sie wohl suchen könnte. Er sehnte sich danach, sie wiederzusehn, aber zu hoffen wagte er es nicht mehr.

Um das Unglück voll zu machen, stellte sich das Elend wieder bei ihm ein und lähmte ihn mit seinem Eiseshauch. Von Liebessorgen in Anspruch genommen, hatte er schon seit geraumer Zeit zu arbeiten aufgehört, und nichts ist gefährlicher, als die Trägheit.

Ein gewisses Quantum Träumerei hat eine ähnliche gute Wirkung, wie ein in geringer Menge eingenommenes Betäubungsmittel. Es schläfert den Verstand ein, wenn er zu gewaltsam arbeitet, füllt Lücken aus, setzt die verschiedenen großen Gebiete des Geistes mit einander in Verbindung. Aber zuviel Träumerei vernichtet die Verstandeskräfte. Wehe dem Kopfarbeiter, der aus dem reinen Denken vollständig in das Reich der Phantasie hinübergleitet. Er glaubt, es sei ihm ein Leichtes, wieder hinaufzusteigen, und sagt sich, es mache keinen Unterschied. Schwerer Irrthum!

Das Denken ist eine Anstrengung, die Träumerei eine Lust. Das Denken durch das Träumen ersetzen heißt ein Gift mit einem Nahrungsmittel verwechseln.

Marius hatte schon damit angefangen, als die Liebe sich seiner noch nicht bemächtigt hatte; seitdem aber war er ganz und gar in einen Abgrund voll zweckloser Phantastereien gestürzt. Und in dem Maße, wie die Arbeit abnahm, wuchsen die Bedürfnisse. Das ist ein Naturgesetz. Der Mensch, der Träumereien nachhängt, ist verschwenderisch und weichlich; wenn man seiner Phantasie den Zügel schießen läßt, kann man auch den Willen nicht kurz halten und nimmt sich nicht zusammen. Wer das Leben so hinbringt, in dem liegen Gutes und Böses nebeneinander, denn wenn Schlaffheit Nachtheil bringt, so ist die Freigebigkeit etwas Gesundes und Gutes. Aber ein hochsinniger und freigebiger Mann, der arm ist und nicht arbeitet, ist verloren. Er wandelt auf einer abschüssigen Bahn, auf der auch die Rechtschaffensten und Tüchtigsten nicht Halt machen können, sondern entweder in den Abgrund des Verbrechens oder des Selbstmords stürzen.

Geht man immer blos aus, um zu träumen, statt Arbeit zu suchen, so kommt einmal ein Tag, wo man ausgeht, um ins Wasser zu springen.

Diese abschüssige Bahn stieg auch Marius langsam hinab, ohne die Augen auf ein andres Ziel zu richten, als auf sie, die er nicht mehr sah. Dies hört sich seltsam an, ist aber wahr. Je unerreichbarer Jemand ist, nach dem wir uns sehnen, desto heller erstrahlt sein Bild in unsrer Seele. Marius ganzes Sinnen und Trachten konzentrirte sich auf »sie.« Daß sein alter Rock allmählich untragbar und sein neuer Rock alt wurde, daß seine Hemden, sein Hut, seine Stiefel immer mehr Spuren von Vergänglichkeit aufwiesen, und daß in demselben Maße auch sein Leben dahinschwand, merkte er nur sehr unklar und dachte dabei nur: »O könnte ich sie doch noch einmal wiedersehen, ehe ich sterbe!«

Nur ein tröstlicher Gedanke war ihm geblieben: Sie liebte ihn. Das hatten ihre Augen ihm gesagt. Sie wußte nicht, wie er hieß; aber sie wußte, was er für sie empfand. Vielleicht liebte sie ihn noch, an welchem geheimnißvollen Orte sie auch sein mochte; vielleicht beschäftigte sie ihre Gedanken so angelegentlich mit ihm, wie er die seinen mit ihr. Bisweilen, wenn ihn, wie alle Liebenden, unerklärliche Regungen von Freude anwandelten, trotzdem er nur Grund zu Kummer hatte, dache er: »Ihre Gedanken fliegen in diesem Augenblick zu mir herüber!« und wiegte sich dann in der süßen Hoffnung, daß vielleicht auch Gedanken vor ihm zu ihr hinübereilten.

Diese Illusion, über die er gleich darauf den Kopf schüttelte, warf doch hin und wieder einen Hoffnungsschimmer in seine Seele. Zeitweise, besonders in den Abendstunden, wo die Träumer sich am leichtesten der Schwermuth hingeben, schrieb er in einem eigens dazu bestimmten Hefte die reinsten, unpersönlichsten, schwärmerischsten Gedanken nieder, die seine Liebe ihm eingab. Er nannte das »an sie schreiben.«

Man glaube nicht, daß er nicht recht bei Verstande war. Im Gegentheil. Er hatte wohl die Fähigkeit zu arbeiten und auf ein bestimmtes Ziel entschieden loszugehn verloren, aber sein Urtheil war klarer und richtiger denn je. Nichts entging ihm, immer traf er das Wahre, und jeden Augenblick schaute er in die Tiefen des Lebens und des Schicksals. Glücklich, selbst bei herbster Seelenpein, der, dem Gott eine der Liebe und des Unglücks werte Seele gegeben hat! Wer die Dinge dieser Welt und das Herz der Menschen nicht unter solch einer doppelten Beleuchtung gesehen hat, der hat überhaupt nichts Wahres gesehen und weiß nichts.

Die Seele, die liebt und leidet, steht auf dem erhabensten Gipfel der Vollkommenheit.

Im Uebrigen folgte ein Tag dem andern, ohne daß sich etwas Neues ereignete. Es dünkte ihm nur, daß der Leidensweg, den er noch zu durchlaufen hatte, immer kürzer und kürzer werde. Schon sah er deutlich im Geiste den Rand des bodenlosen Abgrunds, in den er hineinstürzen werde. »Und ohne sie vorher wiederzusehen!« seufzte er.

Wenn man die Rue Saint-Jacques hinaufgestiegen and nach links den ehemaligen innern Boulevard bis zur Rue de la Santé und dann bis zur Glacière vorgedrungen ist, findet man kurz vor dem Flüßchen des Gobelins, ein Feld, das sich von dem ganz Paris umschlingenden Boulevardgürtel vorteilhaft unterscheidet.

Es ist eine liebliche Landschaft, eine grüne Wiese, wo Wäsche auf Leinen getrocknet wird; ein altes Bauernhaus aus der Zeit Ludwigs XIII. mit hohem Giebel und sonderbaren Mansarden; ein verfallener Zaun; Wassertümpel zwischen hohen Pappeln; im Hintergrund das Panthéon, das Taubstummeninstitut, das Militärhospital Val-de-Grâce und weit in der Ferne die strengen Umrisse der Thürme von Notre-Dame.

Da der Ort sehenswert ist, geht Niemand hin. Kaum daß ein paar Mal in der Stunde ein Lastwagen vorbeifährt.

Nun trug es sich eines Tages zu, daß Marius auf einem seiner einsamen Spaziergänge seine Schritte hierhin lenkte. Merkwürdiger Weise kam auch noch Jemand anders des Weges. Diesen fragte Marius, dem trotz seiner Zerstreutheit die Anmuth der Landschaft auffiel: »Wie heißt dieser Ort?«

»Das Feld der Lerche. Hier hat Ulbach die Schäferin von Ivry umgebracht.«

Aber was auf das Wort Lerche folgte, hörte Marius nicht mehr. Oft genügt ein unbedeutendes Wörtchen, um im Gehirn eines Träumers eine Art Erstarrung hervorzubringen. Die ganze Denkfähigkeit richtet sich auf den einen Punkt hin und der Mensch ist einer andern Wahrnehmung nicht mehr fähig. Die Lerche! So nannte Marius in seinen trübseligen Grübeleien Diejenige, die ihm ehedem Ursula geheißen hatte. »Sieh da!« sagte er betroffen und mit jenem Mangel an folgerichtiger Ueberlegung, der solchen stillen Selbstgesprächen eigen ist; »dies ist ihr Feld. Hier werde ich erfahren, wo sie wohnt.«

Das war thöricht, aber er konnte dem abergläubischen Drange nicht widerstehn und besuchte von da an jeden Tag das »Feld der Lerche.«

Wie im Gefängniß Verbrechen ausgeheckt werden

Der Erfolg, den Javert in dem Gorbeauschen Hause errungen hatte, war kein vollständiger gewesen.

Abgesehen von dem Gefangnen, dessen Festnahme für die Polizei gewiß von Wichtigkeit gewesen wäre, hatte sie auch Montparnasse nicht eingefangen.

Es mußte eine andre Gelegenheit abgewartet werden, um des »schmucken Teufelskerls« habhaft zu werden. Dieser hatte nämlich Eponine, die unter den Bäumen des Boulevard Wache stand, überredet mit ihm zu gehen, da ein Schäferstündchen noch mehr nach seinem Geschmack war, als eine Heldenthat à la Schinderhannes. Das war ein Glück für ihn, denn auf diese Weise rettete er seine Freiheit.

Eponine ließ Javert »wieder« eingefangen, was ihm aber nur einen schwachen Trost gewährte.

Endlich hatte sich während der Fahrt von dem Gorbeauschen Hause nach dem Gefängniß La Force einer der wichtigsten Häftlinge, Claquesous, »verkrümelt.« Kein Mensch begriff, wie das zugegangen sein mochte. Ob er sich wie Dunst verflüchtigt, ob er sich in Wasser verwandelt und durch eine Ritze in der Droschke hinausgetropft war? Kurzum, als man vor dem Gefängniß anhielt, war Claquesous weg. Hier hatte entweder ein Zaubrer oder — die Polizei die Hand im Spiele gehabt. Stand der räthselhafte Mensch zugleich in Beziehung zu der Verbrecherwelt und der Obrigkeit, und hatte ihm ein Polizist zur Flucht verholfen? Javert selber war nicht der Mann, der sich auf solche Machenschaften einließ; aber unter der Truppe, die er an jenem Tage befehligte, befanden sich noch andre Inspektoren, die, obgleich seine Untergebenen, in die Geheimnisse des Polizeipräsidiums besser eingeweiht waren als er, und Claquesous war ein so durchtriebener Halunke, daß er sehr wohl einen guten Polizisten abgeben konnte. Jedenfalls verdroß auch Javert die Sache mehr, als sie ihn in Verwunderung setzte.

Was Marius, den »Laffen von Advokaten, der wahrscheinlich Angst gekriegt hatte«, anbelangt, so lag Javert wenig daran, ihn ausfindig zu machen.

Die Untersuchung war eingeleitet worden.

Der Richter hatte es für rathsam erachtet, eins von den Mitgliedern der Bande Patron-Minette nicht in engeren Gewahrsam bringen zu lassen, in der Hoffnung, daß dieses aus der Schule plaudern würde. Der dazu Auserwählte war Brujon, der Langhaarige, den Marius in der Rue du Petit-Banquier belauscht hatte. Dieser, ein pfiffiger junger Kerl, der dem Untersuchungsrichter wegen seiner einfältigen und wehmütigen Miene zu dem besagten Zweck sehr geeignet schien, durfte auf dem Hofe Charlemagne mit den andern Verbrechern verkehren, wobei er allerdings speziell beobachtet wurde.

Die Spitzbuben stellen ihre verbrecherische Thätigkeit nicht ein, auch wenn sie sich in den Händen der Justiz befinden. Solche Kleinigkeiten geniren sie nicht. Sie machen es wie die Maler, die ein Bild ausstellen, während der Zeit aber in ihrem Atelier ruhig weiter arbeiten.

Dem Anschein nach wirkte die Gefängnißhaft wie betäubend auf Brujon. Stundenlang sah man ihn vor der Luke des Schankwirts stehen, die Augen starr auf das Preisverzeichnis geheftet, das mit »Knoblauch — 62 Centimes« anfing und mit »1 Cigarre — 5 Centimes« endete. Oder er brachte seine Zeit damit zu, daß er zitterte, mit den Zähnen klapperte, über Fieber klagte und sich erkundigte, ob eins der achtundzwanzig Betten in dem Saal für Fieberkranke frei geworden wäre.

Auf einmal erfuhr man in der letzten Hälfte des Monats Februar 1832, daß der schläfrige Brujon durch Dienstmänner des Gefängnisses, im Namen Dreier von seinen Freunden, drei verschiedne Bestellungen hatte ausrichten lassen, was ihm im Ganzen fünfzig Sous gekostet hatte, eine so bedeutende Ausgabe, daß der Brigadier aufmerksam auf die Sache wurde.

Man stellte Ermittlungen an, sah den im Sprechzimmer der Häftlinge ausgehängten Tarif ein und fand, daß die fünfzig Sous für einen Gang nach dem Panthéon, einen nach dem Val-de-Grâce, einen nach Grenelle verausgabt waren. In diesen drei Stadtvierteln wohnten nun aber drei sehr gefährliche Strolche, Kruideniers, genannt Bizarro, der freigelassene Zuchthaussträfling Glorieux und Barre Carrosse, auf die in Folge dieses Vorfalls die Polizei wieder ihre Aufmerksamkeit lenkte. Man mutmaßte, daß diese Leute Helfershelfer der Bande Patron-Minette waren, von der man zwei Hauptleute, Babet und Gueulemer, dingfest gemacht hatte. Wahrscheinlich waren in den Briefen, die Brujon nicht an Hausadressen, sondern an Individuen gerichtet hatte, die auf der Straße warteten, Winke enthalten gewesen, die auf irgend ein neues »Geschäft« Bezug hatten. Da noch andere Anzeichen vorlagen, wurden die drei Strolche festgenommen, und damit glaubte man, Brujon’s Plan vereitelt zu haben.

Ungefähr eine Woche nach diesem Zwischenfall wollte nun ein Aufseher eben seine Kastanie in die Kastanienbüchse stecken — dieses Mittel gebrauchte man nämlich, um sich zu versichern, daß der Inspektionsdienst ordnungsgemäß gehandhabt wurde, indem jede Stunde je eine Kastanie in alle an den Thüren der Schlafräume befestigten Büchsen fallen mußte — in jener Nacht also sah ein Aufseher, als er durch das Guckfenster blickte, wie Brujon in seinem Bett aufrecht saß und schrieb. Der Beamte ging in den Schlafsaal hinein, Brujon kam auf vier Wochen in die Einzelzelle, aber des Geschriebenen wurde man nicht habhaft.

Am nächsten Tage aber flog ein um ein Brodkügelchen gewickelter »Kassiber« aus dem Hof Charlemagne in den Hof Saint-Bernard, den die Verbrecher die Löwengrube nennen, über das dazwischen liegende fünfstöckige Gebäude. Der Brief fiel weder einem Gefängnißwächter noch einem Verräther in die Hände, sondern gelangte glücklich an den Adressaten, keinen geringren als Babet, eins der vier Häupter der Bande Patron-Minette, trotzdem dieser sich im engern Gewahrsam befand.

Der Kassiber lautete: »Babet, in der Rue Plumet ist ein Geschäft zu machen. Ein Garten mit einen Gitter.«

Trotz aller Visitirungen fand Babet Mittel und Wege, den Zettel an eine gute Freundin, die in der Salpêtrière saß, gelangen zu lassen. Dieses Frauenzimmer übergab ihn ihrerseits einer Bekannten, Namens Magnon, auf die die Polizei ein Augenmerk hatte, die aber noch nicht verhaftet war. Diese Magnon, die unsere Leser schon kennen, hatte mit den Thénardiers Beziehungen, über deren Natur wir uns weiterhin noch aussprechen werden, und konnte durch Eponine eine Verbindung zwischen den beiden Gefängnissen La Salpêtrière und Les Madelonnettes herstellen.

Es traf sich gerade, daß aus Mangel an Beweisen betreffs der Mitschuld der Töchter Thénardiers Eponine und Azelma aus dem Gefängniß Les Madelonnettes entlassen wurden.

Als Eponine herauskam, übergab ihr Magnon, die schon an der Thür auf sie wartete, Brujon’s Brief an Babet und beauftragte sie das Geschäft »auszubaldowern«.

Demzufolge begab sich Eponine nach der Rue Plumet, fand das Gitter samt dem Garten, beobachtete das Haus und brachte einige Tage darauf der Magnon, die in der Rue Clocheperce wohnte, einen Zwieback, den Magnon der Geliebten Babets zukommen ließ. Ein Zwieback bedeutet in der symbolischen Sprache der Verbrecher, daß »nichts zu machen« ist.

Als demgemäß noch nicht acht Tage nachher Babet und Brujon sich auf dem Rondenweg des Gefängnisses La Force begegneten — der Eine wurde zu dem Untersuchungsrichter, der Andere eben zurückgeführt — fragte Brujon: »Rue P.?« und Babet antwortete: »Zwieback.«

So gelangte das von Brujon geplante Verbrechen nicht zur Ausführung.

Der Vorfall hatte aber doch Folgen, die nicht auf Brujons Programm standen und auf die wir noch weiterhin zurückkommen werden.

Wenn man einen Knoten schürzt, zieht man oft einen Faden hinein, an den man nicht gedacht hatte.

Was Vater Mabeuf für eine Erscheinung hatte

Marius ging zu Niemand mehr auf Besuch; es kam aber bisweilen vor, daß er Vater Mabeuf begegnete.

Während Marius langsam die Stufen zu jenen lichtlosen Höhlen des Elends hinabstieg, wo man die Glücklichen über sich tanzen hört, ging es mit Mabeuf gleichfalls bergab.

Die »Flora von Cauterets« fand gar keine Abnehmer mehr. Die Experimente mit dem Indigo waren in dem kleinen Garten seines Hauses in Austerlitz, der nicht genug Sonnenlicht bekam, gescheitert. Mabeuf konnte hier nur einige seltene Pflanzen anbauen, die Feuchtigkeit und Schatten lieben. Er verlor aber nicht den Muth, ließ sich einen sonnigen Winkel im Jardin des Plantes anweisen, wo er auf seine Kosten seine Versuche fortsetzen wollte. Zu diesem Zweck brachte er seine Kupferplatten auf das Leihamt. Er begnügte sich jetzt zum Frühstück mit zwei Eiern, und gab noch dazu eins davon seiner alten Magd, der er seit fünf Vierteljahren keinen Lohn mehr zahlen konnte. Oft bildete das eine Ei die einzige Tagesmahlzeit. Man hörte ihn nicht mehr in seiner alten, kindlichen Weise lachen, er war griesgrämig geworden und empfing keine Besuche mehr, so daß Marius gut daran that, daß er nicht mehr zu ihm ging. Bisweilen begegneten sich die Beiden, wenn Mabeuf sich nach dem Jardin des Plantes begab, auf dem Boulevard de l’Hôpital. Dann sprachen sie nicht miteinander, sondern nickten sich nur schwermüthig zu. So kann das Elend Freundschaftsbande lösen!

Der Buchhändler Royol war gestorben und Mabeuf beschäftigte sich jetzt nur noch mit seinen Büchern, seinem Garten und seinem Indigo. Diese drei Gestalten hatten jetzt für ihn das Glück, das Vergnügen und die Hoffnung angenommen. Das genügte, ihn am Leben zu erhalten. »Gedeihen erst meine Indigopflanzen, so werde ich reich«, dachte er, »Dann löse ich meine Kupferplatten ein, mache tüchtige Reklame für meine Flora und kaufe — ich weiß schon, wo ein Exemplar der ›Schifffahrt‹ von Pierre de Médine, mit Holzschnitten aus dem Jahre 1559.« — Währenddem arbeitete er aber den ganzen Tag im Jardin des Plantes und ging des Abends nach Hause, um seinen Garten zu begießen und in seinen Büchern zu schmökern. Er war damals nahezu achtzig Jahr alt.

Eines Abends hatte er eine sonderbare Erscheinung.

Er war, als es noch heller lichter Tag war, nach Hause gekommen. Seine alte Magd, mit deren Gesundheit es abwärts ging, lag krank im Bett. Er hatte zum Abendessen einen Knochen benagt und ein Stück Brod gegessen und saß gerade auf einem umgefallnen Prellstein, der ihm als Gartenbank diente.

Mabeuf begann in zwei Büchern, die ihn begeisterten und was für sein hohes Alter noch bedenklicher war, ihm viel zu denken gaben, zu blättern und zu lesen. Seine natürliche Furchtsamkeit machte ihn geneigt, auf abergläubische Ideen in gewissem Grade einzugehen. Das eine von den beiden Büchern war die berühmte Abhandlung des Präsidenten Delance. »Ueber die Unbeständigkeit der Dämonen,« das andre ein Quartant von Mutor de la Rubaudière »Ueber die Teufel von Jauvert und die Kobolde der Bièvre.« Letzterer Schmöker interessirte ihn um so mehr, als sein Garten in alten Zeiten ein beliebter Tummelplatz der Kobolde gewesen war. Die letzten Strahlen der Sonne durchleuchteten nur noch die höher gelegenen Luftschichten, während es unten schon dunkelte. Beim Lesen blickte Vater Mabeuf ab und zu über sein Buch hinweg nach seinen Pflanzen hin, besonders nach einer wundervollen Alpenrose, an der er seine größte Freude hatte. Vier sonnige, windige Tage waren hingegangen, ohne einen Tropfen Regen; die Stengel neigten sich, die Knospen hingen schlaff herab, die Blätter welkten; alles dürstete nach Wasser namentlich die Alpenrose, Vater Mabeuf war ein Mann, der die Pflanzen für beseelt hielt, und ihn jammerten seine Pfleglinge. Er war übermüdet von seiner Tagesarbeit im Jardin des Plantes, stand aber dennoch auf, legte seine Bücher hin und wankte mit krummem Rücken zu dem Brunnen hin; als er aber die Kette gefaßt hatte, konnte er sie nicht einmal stark genug ziehen, um sie loszuhaken. Da wandte er sich und sandte einen tiefbekümmerten Blick zum sternenklaren Himmel empor.

»Ueberall Sterne!« seufzte der alte Mann: »nirgends das geringste Wölkchen!«

Und er senkte den Kopf auf die Brust herab.

Dann blickte er wieder zum Himmel empor und murmelte:

»Herr, erbarme Dich! Nur ein wenig Thau!«

Abermals versuchte er die Kette loszumachen und abermals mißlang der Versuch.

»Vater Mabeuf!« rief plötzlich Jemand. »Wollen Sie, daß ich Ihren Garten begieße?«

Zugleich vernahm er ein Geräusch, als wenn ein Reh durch die Hecke brechen wollte und aus dem Gestrüpp trat eine lange weibliche Gestalt, die in dem Dämmerlicht etwas Gespensterhaftes hatte. Sie trat vor ihn hin und sah ihn keck an.

Bevor Vater Mabeuf, der sehr schreckhaft war und leicht aus der Fassung kam, Zeit fand zu antworten, hatte die Gestalt, deren Bewegungen in der Dunkelheit absonderlich heftig aussahen, die Kette losgehakt, den Eimer hinuntergelassen und wieder heraufgezogen, die Gießkanne gefüllt und nun sah der Alte der Erscheinung zu, die mit bloßen Füßen und in einem zerlumpten Unterrock zwischen den Beeten hin und her lief und Leben um sich spendete. Das Geräusch des Wassers, das auf die Pflanzen niederregnete, versetzte Vater Mabeuf in Entzücken. Jetzt, dachte er, müßte die Alpenrose das höchste Glück empfinden.

Als der erste Eimer leer geworden, füllte ihn das Mädchen ein zweites, und dann noch zum dritten Mal. So bewässerte sie den ganzen Garten. Während sie so hin und her eilte, sah sie in dem Abenddunkel mit ihren langen eckigen Armen, und ihrem Umschlagetuch, fast einer großen Fledermaus ähnlich.

Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, trat Vater Mabeuf mit Thränen in den Augen auf sie zu und legte ihr seine Hand auf die Stirn.

»Gott wird Sie segnen. Sie sind ein Engel, denn Sie pflegen Blumen.«

»Denk nicht daran! Ich bin ein Satanskind, aber das ist mir egal.«

Ohne auf die Antwort zu hören, fuhr der Greis fort:

»Wie schade, daß ich so unglücklich, so arm bin und nichts für Sie thun kann!«

»Doch, Sie können mir einen Gefallen thun!«

»Was für einen?«

»Mir sagen, wo Herr Marius wohnt.«

Der Alte verstand sie nicht.

»Was für ein Herr Marius?«

Er hob seine glanzlosen Augen empor und schien etwas Entschwundenes zu suchen.

»Ein junger Mann, der Sie früher oft besucht hat.«

Mittlerweile hatte Mabeuf in seinem Gedächtniß herumgewühlt.

»Ach richtig, ich weiß, wen Sie meinen. Warten Sie! Herr Marius … der Baron Marius Pontmercy … Natürlich … Er wohnt oder er wohnt nicht mehr … Ja, ich weiß wirklich nicht …«

Während seiner Rede hatte er sich niedergebeugt, um einen Zweig der Alpenrose richtig zu legen, und fuhr dabei fort:

»Halt, jetzt besinne ich mich. Er kommt oft den Boulevard entlang und geht in der Richtung der Glacière. Rue Croulebarbe. Das Feld der Lerche. Da gehen Sie hin. Da werden Sie ihm bald begegnen.«

Als Mabeuf sich aufrichtete, war Niemand mehr zu sehen. Das junge Mädchen war verschwunden.

Er fürchtete sich ein wenig.

»Wahrhaftig! Wäre mein Garten nicht begossen, so würde ich glauben, ein Geist wäre hier gewesen.«

Eine Stunde später, als er in seinem Bett lag, dachte er wieder an die Erscheinung und im Begriff einzudämmern, als seine Gedanken, wie der Vogel der Fabel, der sich in einen Fisch verwandelt, um über das Meer zu schwimmen, ihre bestimmten Formen verloren und die Verschwommenheit des Traumes annahmen, um im Schlaf weiter leben und weben zu können, dachte er verworren bei sich:

»Das hat wirklich Aehnlichkeit mit dem, was La Rubandière erzählt. Ob es ein Kobold war?«

Eponine und Marius

Einige Tage nach dem Besuch des »Geistes« bei Vater Mabeuf, an einem Montag, wo Marius sich von Courfeyrac fünf Franken für Thènardier zu borgen pflegte, hatte er wieder das Geld in seine Tasche gesteckt und beschloß, ehe er es nach dem Gefängniß brachte, ein wenig spazieren zu gehen, in der Hoffnung, daß er nachher würde besser arbeiten können. So ging es nämlich immer. Sobald er des Morgens aufgestanden war, setzte er sich hin und legte ein Buch nebst einem Bogen Papier vor sich hin, um eine Uebersetzungsarbeit zu machen. Zu der Zeit war es das berühmte Gezänk zwischen Gans und Savigny, das er ins Französische zu übertragen hatte. Er nahm also den Savigny, nahm den Gans vor, las vier Zeilen, versuchte eine zu schreiben, brachte aber nichts zu Stande, weil sein Geist Allotria trieb und stand bald vom Stuhl auf.

»Ich will erst ausgehen, damit ich in die richtige Stimmung komme«, sagte er und ging nach dem Feld der Lerche.

Dort dachte er mehr als je an die Allotria und weniger an Gans und Savigny.

Nach Hause zurückgekehrt versuchte er seine Arbeit wieder aufzunehmen und brachte es nicht zu Wege. Keine Möglichkeit in seinem Hirn die zerrissenen Fäden zu verknüpfen! Dann sagte er: »Morgen gehe ich nicht aus. Das hindert mich am Arbeiten,« und so — ging er jeden Tag aus.

Er wohnte mehr auf dem Felde der Lerche als bei Courfeyrac. Seine wirkliche Adresse lautete: Boulevard de la Santé, der siebente Baum hinter der Rue Croulebarbe.

An jenem Morgen ging er aber von dem siebenten Baum weg und setzte sich auf die Einfassungsmauer des Flüßchens. Heiterer Sonnenschein durchfluthete das frische Laub der Bäume.

Er dachte an »sie.« Aber er hatte keine Freude an seiner Träumerei. Er machte sich Vorwürfe und empfand es schmerzlich, daß die Trägheit mehr und mehr Gewalt über ihn bekam und daß die Nacht des Elends um ihn herum zunahm und ihn keine Hoffnung mehr sehen ließ.

Trotzdem er aber in diesem Gemüthszustand nicht mehr fähig war, seine Gedanken in die Form eines klaren Selbstgesprächs zu bringen und sein Leid mit dem nöthigen Nachdruck zu empfinden, gelangten doch die Eindrücke der Außenwelt in sein Inneres. Er hörte hinter und vor sich die Waschfrauen mit ihren Bläueln auf die Wäsche klopfen und über sich die Vögel zwitschern. Einerseits der Lärm der geflügelten Freiheit, der Sorglosigkeit; andererseits der Lärm der Arbeit. Und zwar war es — was ihn tiefsinnig stimmte und ihn fast zum Nachdenken veranlaßte — fröhlicher Lärm.

Plötzlich hörte er mitten in seiner stumpfen Niedergeschlagenheit eine wohl bekannte Stimme:

»Da ist er ja!«

Er sah auf und erkannte die Unglückliche, die eines Morgens zu ihm gekommen war, die älteste von Thénardiers Töchtern, Eponine; denn er wußte jetzt, wie sie hieß. Merkwürdiger Weise sah sie ärmer und hübscher aus, zwei Veränderungen, die man ihr nicht zugetraut hätte. Sie ging barfuß und in Lumpen wie damals, wo sie so dreist in Marius Zimmer gekommen war; nur waren die Lumpen jetzt zwei Monate älter, und noch erbärmlicher anzusehen, die Löcher in den Kleidern größer. Die Stimme war noch eben so heiser, die Stirn noch eben so gefurcht, der Blick eben so keck und unstät. Aber hinzugekommen war jene Verschüchterung und Aengstlichkeit, die Gefängnißhaft auf dem Gesicht zu hinterlassen pflegt.

In ihren Haaren staken einige Stroh- und Heuhalme, nicht wie Ophelia, die, von Hamlet’s Wahnsinn angesteckt, gleichfalls den Verstand verlor, sondern weil sie auf einem Stallboden genächtigt hatte.

Und trotz alle dem war sie schön. Solch eine Kraft hat die Jugend, daß sie sogar gegen die Einflüsse des Elends aufzukommen vermag!

Währenddem blieb sie vor Marius stehen, mit einem Zug der Freude in dem bleichen Gesicht, der einem Lächeln ähnlich sah.

Es dauerte einige Zeit, ehe sie wieder Worte finden konnte.

»Endlich finde ich Sie! Vater Mabeuf hatte Recht. Nach diesem Boulevard muß man kommen, wenn man Sie sprechen will. Wenn Sie wüßten, wie ich Sie gesucht habe! Uebrigens bin ich im Gefängniß gewesen. Vierzehn Tage lang. Sie haben mich laufen lassen, weil sie mir nichts nachweisen konnten und weil ich noch nicht das zurechnungsfähige Alter habe. Es fehlten noch zwei Monate daran. Nein, wie ich Sie gesucht habe! Seit sechs Wochen! Sie wohnen also nicht mehr da?«

»Nein,« antwortete Marius.

»O ich begreife. Von wegen der Geschichte. Warum tragen Sie denn solch einen alten Hut? Ein junger Mann wie Sie muß sich gut kleiden. Wissen Sie, Herr Marius, Vater Mabeuf nennt Sie Baron Marius von ich weiß nicht mehr was. Nicht wahr, Sie sind doch nicht Baron? Barone — das sind doch ganz alte Kerle, die gehen in den Luxemburger Garten, setzen sich in die Sonne und lesen da eine großmächtige Zeitung. Ich habe mal einen Brief zu einem Baron hintragen müssen, das war so Einer. Der hatte über hundert Jahre auf dem Rücken. Sagen Sie mal, wo wohnen Sie denn jetzt?«

Marius antwortete nicht.

»O, Ihr Hemde ist entzwei. Das muß ich Ihnen mal ausbessern.«

Während sie so redete, hatte sich allmählich ein Zug tiefer Wehmuth auf ihr Gesicht gelegt und jetzt fragte sie plötzlich:

»Sie scheinen Sich aber gar nicht zu freuen, daß ich gekommen bin?«

Marius schwieg und sie selber beobachtete einen Augenblick Stillschweigen. Da aber rief sie plötzlich aus:

»Wenn ich wollte, könnte ich Sie schon zwingen, Sich zu freuen!«

»Wie so?« fragte Marius. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Sehen Sie wohl! Früher sagten Sie Du zu mir.«

»Gut. Was willst Du damit sagen?«

Sie biß sich auf die Lippe und zögerte eine Weile, als hätte sie in ihrem Innern einen Kampf zu bestehn. Endlich, als sie ihre Bedenken überwunden zu haben schien, fuhr sie fort:

»Ach was! Sie sehen aus, als wenn Sie Kummer hätten, und ich will, daß Sie Sich freuen. Versprechen Sie mir, daß Sie vergnügt sein werden. Sie sollen zu mir sagen: Nun bin ich glücklich! Armer Herr Marius! Sie erinnern Sich aber doch, daß Sie mir alles zu geben versprachen, was ich verlangen würde …«

»Ja gewiß! So rede doch!«

Sie sah Marius in das Weiße der Augen und sagte:

»Ich weiß die Adresse.«

Marius entfärbte sich. Alles Blut strömte nach seinem Herzen.

»Welche Adresse?«

»Die Adresse, nach der Sie mich gefragt haben, die Adresse … des Fräuleins.«

Als sie die letzteren Worte hervorgestoßen hatte, seufzte sie tief auf.

Marius sprang in die Höhe und ergriff außer sich vor Freude ihre Hand.

»Führe mich hin! Gleich! Wie heißt sie? Ich gebe Dir alles, was Du verlangst! Wo wohnt sie?«

»Kommen Sie mit mir. Die Straße und Nummer kenne ich nicht ordentlich; es ist sehr weit von hier. Aber ich kenne das Haus und da will ich Sie hinführen.«

Sie zog ihre Hand aus der seinigen.

»O wie Sie Sich freuen!« sagte sie in einem Tone, der jedem Andern das Herz zusammengeschnürt hätte, von dem wonneberauschten Marius aber nicht beachtet wurde.

Plötzlich faßte er mit ängstlicher Hast Eponine beim Arm und rief:

»Schwöre mir. …«

»Schwören soll ich?« Und sie lachte.

»Dein Vater! Versprich mir, Eponine, schwöre mir, daß Du die Adresse nicht Deinem Vater sagen wirst!«

Sie wandte sich höchlich erstaunt zu ihm hin.

»Eponine! Woher wissen Sie, daß ich Eponine heiße?«

»Versprich mir, was ich Dir sage!«

Aber sie schien nicht hinzuhören.

»Das ist hübsch, daß Sie mich Eponine genannt haben!«

Jetzt packte Marius sie bei den Armen.

»Um des Himmels willen, so antworte mir doch. Höre hin auf das, was ich Dir sage. Schwöre mir, daß Du nicht die Adresse Deinem Vater sagen wirst.«

»Meinem Vater? Nun ja doch, meinem Vater! Seien Sie doch ohne Sorge. Der sitzt in Nummer Sicher. Was ich wohl nach meinem Vater frage!«

»Aber warum willst Du’s mir denn nicht versprechen?«

»So lassen Sie mich doch los!« sagt sie unter lautem Gelächter. »Wie Sie mich herumhudeln! Ja gewiß, ich verspreche, ich schwöre es Ihnen! Mir kommt’s ja nicht darauf an. Ich werde die Adresse meinem Vater nicht sagen. So! Sind Sie nun zufrieden?«

»Ueberhaupt Niemandem?«

»Niemandem.«

»Nun, dann führe mich hin.«

»Gleich.«

»Auf der Stelle.«

»Kommen Sie. — Wie er sich freut!«

Als sie einige Schritte gegangen war, blieb sie stehen und sagte:

»Sie gehen zu nahe hinter mir her, Herr Marius. Bleiben Sie weiter zurück und lassen Sie Sich’s nicht merken, daß Sie mir folgen. Ein anständiger junger Mann wie Sie kann sich nicht mit so Einer, wie ich bin, auf der Straße sehen lassen.«

Nachdem sie zehn Schritte weiter gegangen war, blieb sie wieder stehen und sagte zu Marius, der zu ihr herankam, seitwärts, ohne sich nach ihm hinzuwenden:

»Sie vergessen doch nicht, daß Sie mir etwas versprochen haben?«

Marius griff in die Tasche, holte alles Geld, das er auf der Welt sein eigen nannte, nämlich die für Thénardier bestimmten fünf Franken, heraus und drückte sie Eponine in die Hand.

Sie aber breitete die Finger auseinander und ließ das Geldstück auf die Erde fallen.

»Geld will ich nicht von Ihnen,« sagte sie mit düstrer Miene.

In der Rue Plumet

Ein Haus mit einem Geheimniß

Um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts hatte ein Parlamentspräsident eine Geliebte und wollte es Niemand wissen lassen, denn zu jener Zeit paradirten die Vornehmen gern mit ihren Maitressen, während die Bürgerlichen sie versteckten. Er ließ also, um sein Geheimniß gut zu bewahren, in der wenig begangenen Rue de Blomet, die jetzt Rue Plumet genannt wird und in der Vorstadt Saint-Germain liegt, ein »Häuschen« bauen.

Dieses Haus war ein Pavillon mit einem einzigen Stockwerk. Zwei Zimmer im Erdgeschoß, zwei Kammern im ersten Stock, unten eine Küche, oben ein Boudoir, unter dem Dach ein Boden, vor dem Hause ein Garten mit langem Gitter, der nach der Straße hinaus lag und ungefähr einen Morgen im Geviert maß. Dies war alles, was die Vorübergehenden zu sehen bekamen; aber hinter dem Pavillon lag ein schmaler Hof und an dem andern Ende des Hofes befand sich wieder eine kleine Gebäulichkeit, die nur zwei Zimmer enthielt und dazu bestimmt war, im Nothfall ein Kind und seine Amme unterzubringen. Dieses Häuschen hatte hinten eine verborgene Thür mit einem Geheimschloß, durch die man in einen schmalen, oben offnen, zwischen zwei hohen Mauern gelegenen, gepflasterten Gang gelangte. Mit außerordentlicher Kunst versteckt, zog sich dieser Weg, indem er bald diese, bald jene Richtung annahm, zwischen Gärten und Feldern hin und endete schließlich an einer andern, gleichfalls versteckten Thür mit Geheimschloß, die, ungefähr fünfhundert Meter von dem Pavillon, nach der stillen Rue de Babylone führte.

Hier schlich sich der Herr Präsident hinein und hätte man auch gewußt, daß er täglich einen heimlichen Gang hatte, so wäre doch Niemand auf den Gedanken gekommen, daß nach der Rue de Babylone und nach der Rue Blomet gehen auf dasselbe hinauskam. Dank mehrerer gut kombinirter Erwerbungen hatte der kluge Mann die geheime Straßenverbindung auf seinen eigenen Grund und Boden und unbeachtet herstellen können. Später hatte er dann das an den Gang anstoßende Land parzellenweise verkauft, und die Eigenthümer der Grundstücke glaubten auf beiden Seiten, sie hätten eine einfache Grenzmauer vor sich und hatten keine Ahnung von dem Dasein des Ganges. Nur die Vögel sahen dieses Kuriosum. Die Grasmücken und Meisen des vorigen Jahrhunderts mögen sich über den Herrn Präsidenten schön amüsirt haben.

Der Pavillon, nach Mansard’s Manier gebaut, à la Watteau getäfelt und möblirt, mit einer dreifachen Blumenhecke umgeben, sah verschwiegen, nett und feierlich aus und war mithin ein in jeder Hinsicht passendes Nestchen für das Liebchen eines hohen Justizbeamten.

Das Haus und der Gang existirten noch um das Jahr 1847. 1793 kaufte es ein Kesselflicker zum Abbruch; da er aber das Geld nicht aufbringen konnte, wurde er von der Nation für fallit erklärt, so daß nicht der Kesselflicker das Haus demolirte, sondern umgekehrt. Seitdem blieb das Haus unbewohnt und verfiel allmählich, wie jedes Wohnhaus, dem die Gegenwart des Menschen nicht das Leben mittheilt. Die alten Möbel waren noch immer darin und es war zu verkaufen oder zu vermiethen, laut einem an dem Gitter seit 1810 ausgehängten gelben Miethzettel, den die Vorübergehenden nicht lesen konnten.

Gegen das Ende der Restauration verschwand der Miethzettel und die Fensterläden des ersten Stockwerks standen offen. Das Haus war bewohnt. An den Fenstern hingen kleine Gardinen, ein Zeichen, daß eine Dame darin wohnte.

Im Oktober 1829 nämlich war ein bejahrter Herr gekommen und hatte das Haus, wie es war, gemiethet, wohlverstanden, mit dem Hintergebäude und dem Gange. Er ließ das Haus wieder in Stand setzen und zog mit einem jungen Mädchen und einer alten Magd still ein, wie ein Dieb, nicht wie ein rechtmäßiger Besitzer. Die Nachbarn redeten aber nicht darüber, weil keine da waren.

Dieser bescheidene Miether war Jean Valjean, das junge Mädchen Cosette. Die Magd, Namens Toussaint, ein Frauenzimmer, das Jean Valjean vor dem Hospital und dem Elend bewahrt hatte, besaß drei kostbare Eigenschaften, die ihn bewogen hatten, sie in seinen Dienst zu nehmen: Sie war alt, aus der Provinz und stotterte. Er gab sich für einen Rentier Fauchelevent aus.

Warum hatte Jean Valjean das Kloster Petit-Picpus verlassen? Was war denn vorgegangen?

Nichts.

Wie erinnerlich, war Jean Valjean im Kloster glücklich, so glücklich, daß er schließlich Gewissensbisse darüber empfand. Er sah Cosette täglich, fühlte seine Vaterliebe zu ihr stetig zunehmen, hatte seine Freude an dem Gedanken, daß sie ihm gehörte, daß nichts sie ihm entreißen konnte, daß es immer so sein, daß sie gewiß Nonne werden würde, da sie Tag für Tag in diesem Sinne beeinflußt wurde, daß so das Kloster für sie wie für ihn die Welt bedeutete, daß erst er, dann sie darin ihr Leben beschließen würde, kurz, er durfte sich der süßen Hoffnung hingeben, daß eine Trennung nicht möglich war. Wenn er aber alles dies genauer prüfte, so verfiel er in Gewissenszweifel. Er fragte sich, ob all das Glück auch wirklich ihm gehörte, ob er nicht das Glück eines andern Wesens konfiscire, ob er, ein Greis, ein Kind seinem Eigennutz opfern dürfe. Cosette hatte das Recht, erst das Leben kennen zu lernen, und wenn er ihr von vornherein und gewissermaßen ohne ihre Erlaubniß alle Freuden entzog unter dem Vorwande, er wolle ihr alle Prüfungen ersparen, wenn er sich ihre Unwissenheit und ihre Abgeschiedenheit von der Welt zu Nutze machte, um ihr eine künstliche Neigung zu einem Beruf beizubringen, so behandelte er ein menschliches Wesen naturwidrig und belog Gott. Und wer weiß, ob Cosette nicht eines Tages sich hierüber klar werden und ihn hassen würde? Namentlich dieser fast egoistische und weniger muthige Gedanke war ihm unerträglich und er beschloß, das Kloster zu verlassen.

Er beschloß es, er erkannte zu seinem größten Leidwesen, daß es sein müsse. Einwände dagegen gab es nicht. Der fünfjährige Aufenthalt außerhalb der Welt hatte gewiß alle Gefahren beseitigt oder gemindert. Er konnte es ruhig wagen, unter die Menschen zu gehen. Er war älter und die Verhältnisse andre geworden. Wer sollte ihn jetzt wiedererkennen? Und im schlimmsten Fall bestand die Gefahr nur für ihn, und er durfte nicht Cosette zum Klosterleben verurtheilen, weil er zum Bagno verurtheilt war. Vor allen Dingen aber ging die Pflicht selbstsüchtigen Bedenken vor. Auch hinderte ihn ja nichts, vorsichtig zu sein und die richtigen Maßregeln zu ergreifen.

Was Cosettens Erziehung betrifft, so war sie nahezu beendigt und abgeschlossen.

Nachdem er also vollständig mit sich ins Reine gekommen, wartete er auf eine gute Gelegenheit. Sie ließ auch nicht lange auf sich warten: Der alte Fauchelevent starb.

Jean Valjean begab sich zu der hochehrwürdigen Priorin und setzte ihr auseinander, er habe von seinem Bruder so viel geerbt, daß er fortan leben könne, ohne arbeiten zu müssen; er wolle daher aus dem Dienst des Klosters scheiden und seine Tochter mitnehmen. Da nun Cosette das Klostergelübde nicht ablegen würde, so sei es nicht billig, daß sie unentgeltlich in der Pension unterhalten und erzogen worden sei; er bitte daher ergebenst die hochehrwürdige Mutter, zu gestatten, daß er als Entschädigung für Cosettes fünfjährigen Aufenthalt im Kloster einen Betrag von fünftausend Franken an die Ordensgenossenschaft entrichte.

So kam Jean Valjean aus dem Kloster von der ewigen Anbetung des allerheiligsten Sakraments.

Als er auszog, nahm er den kleinen Handkoffer, von dem er den Schlüssel immer mit sich führte, selber in die Hand und weigerte sich, ihn einem Gepäckträger anzuvertrauen. Dieses Kofferchen erregte Cosette’s Neugier aufs höchste, wegen eines Balsamirungsgeruches, der ihm entströmte.

Wir wollen gleich hier bemerken, daß er diesen Koffer fortan nicht mehr von sich ließ. Es war das erste und manchmal das einzige Stück, daß er bei Wohnungsveränderungen mitnahm. Cosette scherzte darüber und behauptete, sie wäre eifersüchtig auf den Koffer.

Im Uebrigen war Jean Valjean nicht frei von Sorgen, als er sich wieder in die Welt wagte.

Die Entdeckung des Hauses in der Rue Plumet, wo er so gut versteckt wohnen konnte, kam ihm also sehr gelegen Ein Vortheil war es auch, daß er jetzt rechtmäßiger Besitzer des Namens Ultime Fauchelevent war.

Außerdem miethete er noch zwei andere Wohnungen in Paris, um nicht immer in ein und demselben Stadtviertel gesehen zu werden, sich bei der geringsten Gefahr in Sicherheit bringen zu können und nicht, wie in der Nacht, wo er Javert auf so wunderbare Weise aus den Händen geschlüpft war, einer plötzlichen Ueberraschung ausgesetzt zu sein. Es waren recht kleine, armselige Wohnungen in zwei sehr weit auseinander gelegenen Stadtvierteln, die eine in der Rue de l’Ouest und die andere Rue de l’Homme-Armé.

Er wohnte nun mit Cosette von Zeit zu Zeit vier bis sechs Wochen bald in der Rue de l’ Homme-Armé bald in der Rue de l’Ouest, ohne die Toussaint dorthin mitzunehmen. Er ließ dann die Bedienung von den Portiers besorgen und gab sich für einen Rentier aus, der außerhalb wohne und in der Stadt ein Absteigequartier brauche. Dieser grundedle Mann hatte drei Wohnungen in Paris, um vor der Polizei fliehen zu können.

Jean Valjean als Nationalgardist

Der Hauptsache nach hielt er sich aber in der Rue Plumet auf und hatte sich da folgendermaßen eingerichtet:

Cosette nebst der Magd wohnte in dem Pavillon. Sie hatte das große Schlafzimmer inne mit den schönen Pfeilerspiegeln, den mit Tapeten und großen Lehnstühlen ausgestatteten Salon des Präsidenten und den Garten. Für das Schlafzimmer hatte Jean Valjean ein Bett samt Baldachin aus dreifarbigem altem Damast und einen schönen, persischen Teppich angeschafft, und um den strengen Eindruck abzuschwächen, den diese alten Prunkstücke machten, hatte er ihnen eine Menge Nippsachen, niedliche Möbel und Utensilien, wie junge Mädchen sie gern haben, beigefügt, eine Etagère, einen Schrank mit kostbar eingebundenen Büchern, eine Schreibmappe, einen mit Perlmutter ausgelegten Arbeitstisch, Waschgeschirr, aus japanischem Porzellan. An den Fenstern des ersten Stocks hingen lange Damast-, im Erdgeschoß gestickte Gardinen. Den ganzen Winter über war Cosette’s Häuschen von oben bis unten geheizt. Er selber wohnte in dem kleinen erbärmlichen Hinterhäuschen, das ein Gurtbett mit einer Matratze, einen Tisch aus weißem Holz, zwei Strohstühle, eine Wasserkanne aus Steingut, einige alte Bücher auf einem Brett, den geliebten Handkoffer enthielt und nie geheizt wurde. Er speiste bei Cosette und ließ sich immer ein Stück Schwarzbrod auf den Tisch legen. Zu der Toussaint hatte er, als sie bei ihm ihren Dienst antrat, gesagt: »Die Herrschaft im Hause führt das Fräulein.« »Und Sie?« fragte erstaunt die Magd. »Ich bin noch mehr als der Hausherr, ich bin der Vater.«

Cosette hatte im Kloster die Haushaltung erlernt und verwaltete das Wirtschaftsgeld. Alle Tage führte Jean Valjean sie spazieren, gewöhnlich nach dem Jardin du Luxembourg, wo er die einsamste Allee bevorzugte und jeden Sonntag besuchten sie den Gottesdienst, immer in der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas, weil sie sehr weit von ihrer Wohnung war. Da dies ein sehr armes Stadtviertel ist, theilte er viel Almosen aus und vor der Kirche umschwärmten ihn stets eine Menge Bettler, weshalb Thénardier seinen Bettelbrief »an den wohlthätigen Herrn von der Kirche Saint-Jacques-du-Haut-Pas« adressirt hatte. Desgleichen machte er häufig mit Cosette Hausbesuche bei Nothleidenden und Kranken. Fremde kamen nie in das Haus. Die Lebensmittel kaufte die Toussaint ein und das Wasser holte Jean Valjean selber von einem Brunnen, der sich in der Nähe, auf dem Boulevard, befand. Das Brennmaterial und der Wein wurden in einer halb unterirdischen, mit Muschelwerk ausgelegten Vertiefung untergebracht, die an die Thür der Rue de Babylone stieß. Es war die Grotte des Herrn Präsidenten gewesen, denn zu der Zeit, wo die Lusthäuschen Mode waren, konnte man sich keine Liebe ohne eine Grotte denken.

An der Thür, die in die Rue de Babylone führte, war ein für Briefe und Zeitungen bestimmter Kasten angebracht; da aber die drei Bewohner des Pavillons der Rue Plumet weder Briefe noch Zeitungen empfingen, so hatte der Briefkasten keinen andern Zweck als Steuerzettel und Stellungsbefehle aufzunehmen. Denn als Besitzer von Staatsrente mußte Herr Fauchelevent in der Nationalgarde dienen. So genau waren die Behörden bei der Rekrutirung verfahren, daß ihre Erhebungen sich bis auf das Kloster Petit-Picpus erstreckten. Ein Mann aber, der in diesem geheiligten, unzugänglichen Gebiet gewohnt hatte, war für seine Mairie eine Respektsperson, die der Ehre wert war, auf Wache zu ziehen.

Drei oder vier mal jährlich zog Jean Valjean seine Uniform an und that Dienst; sehr bereitwillig, denn es war für ihn eine erlaubte Vermummung, die ihn mit den übrigen, ordentlichen Staatsbürgern als gleichberechtigt hinstellte und ihm doch gestattete, für sich zu bleiben. Er hatte allerdings das sechzigste Lebensalter erreicht, wo er nach dem Gesetz dienstfrei wurde, hütete sich aber von seinen Rechten Gebrauch zu machen und seinem Feldwebel davonzulaufen. Er hatte keinen Civilstand und verheimlichte seinen Namen, seine Identität, sein Alter, alles; er war, wie gesagt, ein freiwilliger Nationalgardist. Sein ganzer Ehrgeiz beschränkte sich darauf, dem ersten besten Steuerzahler zu gleichen. Sein Ideal waren in Bezug auf innere moralische Vollkommenheit die Engel, in Bezug auf äußerliche der Bürger.

Heben wir indeß noch einen Punkt hervor. Wenn Jean Valjean mit Cosette ausging, kleidete er sich so, daß man ihn für einen ehemaligen Offizier halten konnte. Ging er aber allein aus, was meistens des Abends geschah, so trug er eine Arbeiterjacke und -hose, so wie eine Mütze, die sein Gesicht verdeckte. Aus Vorsicht oder aus Bescheidenheit? Aus beiden Gründen. Diese Eigentümlichkeiten ihres Vaters bemerkte Cosette kaum, da sie daran gewöhnt war, rätselhafte Dinge mit ihm zu sehen und zu erleben; und die Toussaint, die für Jean Valjean eine unbegrenzte Verehrung empfand, hieß alles gut, was er that. »Ein komischer Kauz!« meinte einst der Schlächter zu ihr. »Ein wa-ahrer Hei-eiliger!« gab sie zurück.

Weder Jean Valjean, noch Cosette, noch die Toussaint gingen je durch die Thür, die an der Rue Plumet lag, und wer sie nicht durch das Gitter sah, konnte nicht leicht errathen, daß sie hier wohnten. Diese Thür ließ Jean Valjean immer verschlossen und den Garten unbebaut, damit das Haus unbeachtet bliebe.

Darin irrte er sich aber wohl.

Foliis ac frondibus

Der seit einem halben Jahrhundert sich selbst überlassene Garten war ungemein lieblich geworden. Die Leute, die hier vorüberkamen, blieben stehen und bewunderten ihn, ohne die Geheimnisse zu ahnen, die sich hinter seinen üppigen Dickichten verbargen. Mehr als ein Träumer ließ seine Blicke und Gedanken jenseit des alten mit einem mächtigen Hängeschloß verwahrten, gewundenen, wackligen, an zwei bemoosten Pfeilern befestigten Gitters schweifen, das ihn von dem Wundergarten trennte.

Eine steinerne Bank, ein paar von Schimmel entstellte Statuen, hier und da losgegangnes Gitterwerk an der Mauer waren die einzigen Spuren menschlicher Arbeit, die der Ort noch aufwies. Gänge und Rasen hatten die Quecken überwuchert. Der Gärtner war gegangen und die Natur wieder zurückgekommen. Das Unkraut gedieh prächtig, was ja das größte Glück ist, das einem armen Fleckchen Erde begegnen kann. Wie gut hatten es hier die Levkojen! In diesem Garten hemmte nichts den heiligen Drang der Pflanzen, nach Bethätigung ihrer Lebenskräfte. Die Bäume hatten sich zu den Sträuchern hinabgeneigt, die Sträucher waren zu den Bäumen emporgestiegen; die unten kriechenden Gewächse hatten diejenigen aufgesucht, die oben in der Luft leben; die vom Winde geschüttelten Baumkronen berührten das Moos des Erdbodens; die Stämme, Stengel, Aeste, Zweige, Ranken, Dornen, bildeten ein unentwirrbares Durcheinander; die Vegetation hatte hier unter dem wohlwollenden Auge des Schöpfers in engster Umschlingung das heilige Mysterium ihrer Verbrüderung, das Symbol der menschlichen Bruderschaft, vollzogen. Dieser Garten war kein Garten mehr, sondern ein gewaltiges Dickicht, und undurchdringlich wie ein Urwald, dunkel wie eine Kathedrale, voll süßer Düfte und üppigen Lebens.

Im Lenz, wenn die Natur zu neuer Arbeit erwacht und frische Säfte in alle Gewächse emporsendet, schauerten aus dem gewaltigen Gestrüpp auf die feuchte Erde, auf die Statuen, auf die Freitreppe des Pavillons, auf die Straße eine unermeßliche Menge von Blüten und Blumen nieder. Tausende von weißen Schmetterlingen flatterten hier herum, wie lebendige Schneeflocken, das Gezwitscher unschuldiger Vöglein entzückte das Ohr, und was die gefiederten Sänger dem Hörer zu sagen vergaßen, das fügte das Gesumm der Insekten hinzu. Des Abends fühlte man sich zur Träumerei gestimmt; himmlische Ruhe und Schwermuth lagerten über dem Ganzen; der berauschende Duft der Winden und Jelängerjelieber stieg überall auf wie ein feines Gift; man hörte die letzten Rufe der Grauspechte und Bachstelzen, die sich zu schlummern anschickten; man empfand die heilige Vertraulichkeit, die zwischen dem Vogel und den Baum waltet: Am Tage haben die Blätter ihre Freude an den Flügeln, des Nachts gewähren die Blätter den Flügeln Schutz.

Im Winter war das Dickicht schwarz, durchnäßt, struppig, und gestattete einen Durchblick nach dem Hause hin. Statt der Blumen an den Zweigen und des Thaus an den Blumen sah man dann die weißen Silberstreifen der Schnecken auf dem kalten und dicken Teppich der gelben Blätter; aber unter allen Umständen und zu jeder Jahreszeit durchwehte den kleinen Garten liebliche beschauliche Melancholie, Einsamkeit, Freiheit, die Abwesenheit des Menschen und die Gegenwart Gottes; das verrostete alte Gitter schien zu sagen: Dieser Garten gehört mir.

War man auch hier ringsum von dem Getriebe einer Großstadt umwogt, sah man auch in geringer Entfernung die statiösen Häuser der Rue de Varennes, den Dom der Invaliden, das Abgeordnetenhaus; mochten auch die Equipagen in der Rue de Bourgogne und der Rue Saint-Dominique noch so stolz, die gelben, braunen, weißen, rothen Omnibusse auf dem nächsten Platze noch so laut aneinander vorüber rasseln, — in der Rue Plumet war eine Einöde, hatte die Natur, die alle menschlichen Einrichtungen beschämt und sich überall gleich herrlich, gleich mächtig zeigt, in der Ameise so gut wie in dem Adler, aus einem erbärmlichen Pariser Garten einen majestätischen Urwald geschaffen.

Denn nichts ist wirklich gering; das weiß Jeder, der das Schaffen der Natur zu beobachten versteht. Obgleich der Philosophie keine vollständige Gewißheit erreichbar ist, obgleich sie weder die Ursachen genau anzugeben noch die Grenzen der Wirkung zu bestimmen vermag, bewundert der Betrachter mit unsagbarem Entzücken, wie all die Kräfte gesondert und doch nach einem Plane wirken, auf einen Punkt zielen.

Die Algebra findet Anwendung auf die Wolken; die Strahlen der Sterne nützen der Rose; kein Denker wird zu behaupten wagen, daß der Duft des Hagedorns den Gestirnen nicht zu Gute komme. Wer vermag die Wanderungen eines Molekels zu berechnen? Was wissen wir, ob nicht Entstehungen von Welten durch den Fall von Sandkörnern hervorgerufen werden? Wer kennt die gegenseitigen Beziehungen des unendlich Großen und des unendlich Kleinen, den Wiederhall der Ursachen in den Abgründen des Seins und die Lawinen der Schöpfung. Eine Milbe hat ihre Wichtigkeit, das Kleine ist groß, das Große klein; alles ist im Gleichgewicht kraft der Nothwendigkeit. Welch eine erschreckliche Vision für den Verstand! Zwischen den Lebewesen und den Dingen bestehen wunderbare Verknüpfungen: in dem unerschöpflichen Ganzen verachtet das Hohe, das Geringe, die Sonne die Blattlaus nicht; Eines bedarf des Andern. Das Licht nimmt irdische Düfte mit in den Himmelsraum, ohne zu wissen, was es damit macht; die Nacht träufelt Sternenessenz auf die schlummernden Blumen herab. Alle Vögel, die da fliegen, tragen an ihren Pfötchen den Faden des Unendlichen mit sich. Für die Natur ist die Entstehung eines Meteors und das Herauskriechen der Schwalbe aus dem Ei ein Vorgang, für sie ist die Geburt eines Regenwurms und eines Sokrates dieselbe Arbeit. Wo das Fernrohr aufhört, beginnt die Thätigkeit des Mikroskops. Welches von Beiden sieht mehr und Größeres? Wählt, wenn ihr könnt. Der Schimmel besteht aus einer Unzahl Blumen, die Milchstraße aus Millionen von Sternen. Ebenso durcheinander gemengt und unauflöslich verkettet sind die Akte des Verstandes und die Thatsachen der Substanz. Die Elemente und die Gedanken vermischen, vermählen sich, multipliciren sich mit einander, so daß sie die materielle und die moralische Welt derselben Klarheit theilhaftig machen. Bei den großen, kosmischen Austauschen wellt und wogt das Weltallleben hin und her, verwendet alles, läßt keinen Traum eines Schlafes verloren gehen, läßt hier ein Thierlein fallen, zerbröckelt dort einen Himmelskörper, macht aus dem Licht eine Kraft und aus dem Gedanken ein Element und löst alles auf, ausgenommen den geometrischen Punkt, das Ich; führt alles zu der untheilbaren Seele zurück und entfaltet alles in Gott; verschlingt alle Thätigkeiten, die höchsten wie die geringsten, zu einem Schwindel erregenden Mechanismus, setzt den Flug eines Insekts in Beziehung zu der Bewegung der Erde, ordnet, vielleicht wäre es auch nur vermöge der Identität des Gesetzes die Evolution der Kometen am Firmament den Wirbeln der Infusorien im Wassertropfen unter. Das Weltall ist eine geistige Maschine, ein ungeheures Räderwerk, dessen erster Motor die Mücke und dessen letztes Rad der Thierkreis ist.

Ein anderes Gitter

Es schien, als habe dieser Garten, der ursprünglich zu der Feier frivoler Mysterien bestimmt war, sich umgewandelt, um keusche Geheimnisse zu beschützen. Aus dem Paphos war ein Eden geworden.

Jetzt weilte in dieser lieblichen Einöde ein unschuldsvolles Wesen, dessen Herz bereit war die Liebe aufzunehmen.

Cosette war fast noch ein Kind, als sie das Kloster verließ, erst vierzehn Jahre alt, also im Backfischalter und wenig entwickelt; abgesehen von den Augen eher häßlich als hübsch; nicht abstoßend, aber linkisch, mager, zugleich blöde und dreist.

Ihre Erziehung war abgeschlossen, d.h. man hatte sie Religion und besondere Frömmigkeit gelehrt; außerdem Geschichte oder was man im Kloster so nennt; Geographie, Grammatik, ein wenig Musik, im Uebrigen war sie überaus unwissend, was jungen Mädchen gut ansteht, ihnen aber auch gefährlich werden kann. Es ist besser, wenn sie allmählich und schonend aufgeklärt werden, denn wenn später das grelle Licht der Wirklichkeit unvermittelt in ihre Seele fällt, so sind sie kindischen Beängstigungen und schweren Verirrungen ausgesetzt. Nur der Instinkt einer Mutter, kann, da sie die Erinnerungen aus ihren jungfräulichen Jahren mit den Erfahrungen der Frau verbindet, wissen, wie diese halbe Aufklärung beschaffen sein muß. Dieser Instinkt läßt sich durch nichts ersetzen. Alle Namen der Welt kommen hierin einer Mutter nicht gleich. Cosette hatte aber keine Mutter, sondern nur viele Mütter gehabt.

Was Jean Valjean anbetrifft, so fehlte es ihm ja nicht an Zärtlichkeit und Wachsamkeit; aber er war doch nur ein alter Mann, der diese Seite des Lebens nicht kannte.

Wieviel Geschicklichkeit gehört aber dazu, eine Mädchenseele auf das Leben vorzubereiten und jene großartige Unwissenheit, die sich Unschuld nennt, zu bekämpfen!

Nichts macht ein junges Mädchen für heiße und thörichte Liebe so empfänglich wie die Klostererziehung. Hier lernt sie ihr Denken auf das Unbekannte richten. Auf sich selbst zurückgedrängt, ohne geregelten Abfluß, konzentriren sich die Triebe und wühlen sich tief, immer tiefer ein. Daher denn Visionen, Grübeleien, Vermuthungen, Erdichtungen von Romanen und Abenteuern, deren Heldin man ist, phantastische Vorstellungen und Wünsche, die, sobald das junge Mädchen das Kloster hinter sich gelassen hat, sich in Wirklichkeit umzusetzen streben. Damit die Klosterregel über das menschliche Herz obsiegen könnte, müßte der Zwang das ganze Leben hindurch andauern.

Als sie das Kloster verließ, konnte Cosette nichts Lieblicheres finden, als das Haus in der Rue Plumet. Es war die Fortsetzung der Einsamkeit mit dem Anfang der Freiheit; ein verschlossener Garten, aber eine üppige, sinnberauschende Landschaft; dieselben Träumerein wie im Kloster, aber mit jungen Männern im Hintergrunde; ein Gitter das aber an der Straße lag.

Indessen war sie, wie gesagt, als sie hierher kam, noch ein Kind, und Jean Valjean konnte sie ruhig sich in dem milden Garten ergehen Lassen. »Thue hier alles, was Du willst,« sagte er zu ihr, und das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie untersuchte alle Büsche und drehte alle Steine um, ob Thiere da wären. Sie spielte also vorläufig nur und träumte noch keine gefährlichen Träume.

Außerdem liebte sie ihren Vater Jean Valjean von ganzem Herzen und mit ganzer Seele, mit einer naiven, kindlichen Innigkeit, die sie in ihm einen angenehmen, wünschenswerten Gesellschafter sehen ließ. Wie man sich erinnern wird, las schon Herr Madeleine sehr viel, Jean Valjean fuhr auf diesem Wege fort und erwarb auf diese Weise das Talent seine Worte gut zu setzen und das Interesse des Zuhörers zu fesseln. Besaß er doch jene verborgene Vielseitigkeit und Beredtsamkeit, die spontane Entwicklung des Verstandes mit sich zu bringen pflegt. Es war ihm noch von früher her so viel Herbheit geblieben, daß er seine Gutmüthigkeit damit würzen konnte; war seine Rede derb, so war sein Herz gut. Cosette lieh ihm also, während sie neben ihm auf der Bank im Jardin du Luxembourg saß und ihre Blicke um sich schweifen ließ, gern ihr Ohr, wenn er aus seinen Büchern und seinem Leben schöpfte und ihr allerlei Dinge ausführlich erklärte.

Der Umgang mit dem schlichten Mann genügte ihr noch, ebenso wie der wilde Garten ihre ganze Welt war. Wenn sie den Schmetterlingen nachgetollt hatte und athemlos zu ihm kam, war sie selig, wenn er sie auf die Stirn küßte.

Cosette liebte den guten Alten so sehr, daß sie ihm nicht vom Leibe ging. Wo Jean Valjean weilte, fand sie ihr Glück. Da er nicht in dem Pavillon wohnte und nicht oft in den Garten kam, so gefiel ihr der Hinterhof und das armselig möblirte Hinterhaus besser als ihr prächtiger Salon. Jean Valjean schalt sie bisweilen deswegen, während er sich über die Belästigung innerlich freute: »So gehe doch in Deine Wohnung und laß mich doch mal allein!«

Sie ihrerseits machte ihm gleichfalls zärtliche Vorwürfe, mit jener Anmuth, die einer Tochter ihrem Vater gegenüber so gut ansteht.

»Vater, mich friert hier bei Dir. Warum schaffst Du Dir keinen Ofen und keinen Teppich an?«

»Liebes Kind, es giebt sehr viel Leute, die besser sind als ich, und die nicht einmal ein Obdach haben.«

»Ja, warum habe ich denn aber eine geheizte Stube und alles, was ich brauche?«

»Weil die Mädchen und Frauen Entbehrungen nicht ertragen können.«

»Also die Männer können frieren und unbehaglich leben?«

»Gewisse Männer, ja!«

»Gut; dann werde ich so oft zu Dir kommen, daß Du schließlich genöthigt sein wirst heizen zu lassen.«

Oder sie sagte:

»Vater, warum ißt Du dieses abscheuliche Brod?«

»Weil es mir so beliebt, Töchterchen.«

»Gut; wenn Du’s ißt, werde ich auch welches essen.«

Damit also Cosette kein Schwarzbrod genießen sollte, bequemte sich Jean Valjean dazu Weißbrod zu essen.

Von ihrer Kindheit hatte Cosette nur sehr verworfene Erinnerungen bewahrt. Sie betete jeden Morgen und Abend für ihre Mutter, die sie nicht gekannt hatte. Der Thénardiers erinnerte sie sich nur noch als zweier traumhafter Schreckgestalten. Sie konnte sich aber entsinnen, daß sie einmal in der Nacht Wasser aus einem Walde geholt hatte, sehr weit von Paris, wie sie glaubte. Ihr war, als habe sie vordem in einem Abgrund gelebt, aus dem Jean Valjean sie hervorgeholt hätte. Ihre Kindheit kam ihr vor wie eine Zeit, wo sie von lauter Tausendfüßen, Spinnen und Schlangen umwimmelt war. Wenn sie des Abends vor dem Einschlafen nachdachte und sie sich nicht klar vorstellen konnte, daß sie Jean Valjean’s Tochter sei so bildete sie sich ein, die Seele ihrer Mutter wäre in den guten Alten übergegangen, um in ihrer Nähe zu weilen.

Wenn er vor ihr saß, legte sie wohl ihre Wange auf seinen Kopf und ließ schweigend eine Thräne auf ihn fallen, indem sie dabei dachte: »Der Mann ist vielleicht meine Mutter!«

Denn Cosette glaubte, — so sonderbar sich auch dies anhören mag — kraft der ihr im Kloster anerzognen, großartigen Unwissenheit, sie hätte so gut wie gar keine Mutter gehabt. Kannte sie doch nicht einmal ihren Namen! Denn jedes Mal, wenn sie Jean Valjean danach fragte, schwieg er. Wiederholte sie ihre Frage, so lächelte er statt aller Antwort und als sie einst hartnäckiger in ihn drang, sah sie eine Thräne über seine Wangen rollen.

Breitete er aus Vorsicht die Nacht der Vergessenheit über Fantine’s Namen? Oder aus Achtung vor der Toten?

So lange Cosette noch ein kleines Kind war, hatte Jean Valjean gern mit ihr von ihrer Mutter gesprochen. Als sie größer wurde, schien es ihm unmöglich, wagte er es nicht mehr. That er es Cosettens oder Fantinens wegen? Jedenfalls empfand er eine Art religiöser Scheu, Cosettens Gedanken mit der Verstorbenen zu beschäftigen und sie als Dritte ihrem Schicksal beizugesellen. Ihm war, als schaue er bisweilen im Dunkeln einen auf einen Mund gelegten Finger. War die Scham, die Fantine in so reichem Maße besessen hatte und die ihr gewaltsam entrissen worden war, nach ihrem Tode zurückgekehrt und wachte sie nun darüber, daß die Ruhe der Toten nicht gestört wurde? Stand Jean Valjean unter diesem Einfluß? Da wir nicht glauben, daß mit dem Tode alles vorbei sei, möchten wir diese Erklärung nicht abweisen. Daher die Unmöglichkeit, selbst Cosette gegenüber den Namen Fantine auszusprechen.

Eines Tages sagte Cosette:

»Vater, ich habe diese Nacht meine Mutter im Traum gesehen. Sie hatte zwei große Flügel. Sie muß doch bei ihren Lebzeiten der Heiligkeit nahe gekommen sein.«

»Ja, weil sie eine Märtyrerin war.«

Im Ganzen fühlte sich also Jean Valjean recht glücklich.

Alle die Beweise, die sie ihm gab, daß sie ihn innig und ausschließlich liebte, die Art z. B., wie sie sich bei ihren Spaziergängen an seinen Arm hing, erfüllte ihn mit dem überschwenglichsten Wonnegefühl. Der Arme zitterte dann vor himmlischer Freude und suchte sich zu überreden, daß dieses Glück sein ganzes Leben hindurch währen würde. Er sagte sich, er habe wirklich nicht genug gelitten, um das zu verdienen, und dankte Gott in seinem innersten Herzen, daß ein solcher Elender wie er, von einem unschuldsvollen Wesen so geliebt wurde.

Die Rose merkt, daß sie gefährlich werden kann

Eines Tages, als Cosette zufällig sich in einem Spiegel sah, kam sie sich zu ihrem Erstaunen ganz hübsch vor. Diese Entdeckung versetzte sie in eine merkwürdige Aufregung. Denn bis dahin hatte sie nicht über ihre äußere Erscheinung nachgedacht. Wenn sie in den Spiegel sah, so that sie das nicht, um ihr Gesicht in Bezug auf seine Schönheit zu prüfen. Man hatte ihr auch immer gesagt, sie wäre häßlich. Nur Jean Valjean hatte das bestritten, aber ohne besondern Nachdruck. Wie dem auch sei, Cosette hatte sich immer für häßlich gehalten und sich mit dem Leichtsinn der Kindheit in dies Unglück gefunden. Nun ihr aber mit einem Mal ihr Spiegel, ebenso wie Jean Valjean: »Bewahre! Bewahre!« zurief, konnte sie die Nacht kaum schlafen. — »Wie merkwürdig das sein würde, wenn ich wirklich hübsch wäre!« dachte sie und erinnerte sich der Schulkameradinnen, die im Kloster wegen ihrer Schönheit auffielen. »Ob ich wirklich mich mit der vergleichen könnte?«

Am nächsten Morgen sah sie wieder in den Spiegel, nicht zufällig, und bekam Zweifel: »Solch ein Unsinn! Ich bin doch häßlich.« Sie hatte aber nur schlecht geschlafen und sah deshalb blaß und matt aus. Der Gedanke, daß sie hübsch wäre, hatte sie am Abend zuvor nicht über die Gebühr gefreut; die Enttäuschung machte ihr aber Kummer. In Folge dessen besah sie sich nicht mehr im Spiegel und brachte es vierzehn Tage lang fertig, sich, ohne hineinzusehen, die Haare zu machen.

Sie hatte die Gewohnheit, sich nach dem Abendessen mit irgend einer Handarbeit zu beschäftigen, während Jean Valjean neben ihr saß und las. Bei einer solchen Gelegenheit blickte sie einmal von ihrer Stickerei auf und war ganz erstaunt, wie sorgenvoll ihr Vater sie ansah.

Ein andres Mal hörte sie, wie Jemand auf der Straße hinter ihr sagte: »Ein hübsches Mädchen! Schade, daß sie so geschmacklos gekleidet ist!« »Ach, mich meint er nicht. Ich bin häßlich und an meiner Toilette ist nichts auszusetzen.« Es war aber zu der Zeit, wo sie noch den Plüschhut und das Merinokleid trug.

Eines Tages endlich, als sie gerade im Garten war, hörte sie, wie die alte Toussaint über sie mit ihrem Vater sprach. »Haben Sie bemerkt, wie hübsch das Fräulein wird?« Die Antwort entging ihr, aber die Aeußerung der Toussaint wirkte wie ein elektrischer Schlag. Sie eile aus dem Garten nach ihrem Zimmer hinauf, stürzte auf den Spiegel zu, den sie drei Monate lang nicht angesehen hatte, und that einen entzückten Schrei.

Sie konnte nicht mehr umhin, der alten Toussaint und ihrem Spiegel beizupflichten. Ihre Taille hatte sich herrlich entwickelt, ihre Haut war weiß und zart geworden, ihre Haare hatten einen prächtigen Glanz angenommen, ihre Augen blickten muntrer und heller als früher. So wurde sie sich in einem Nu ihrer Schönheit bewußt. Ja, die Andern hatten es schon bemerkt, die Toussaint sagte es, der Herr neulich auf der Straße hatte sie gemeint. Kein Zweifel mehr. Sie eilte wieder in den Garten hinunter, stolz und glücklich wie eine Königin. Sie glaubte die Vögel singen zu hören, obgleich es doch Winter war, und Blumen blühen zu sehen.

Jean Valjean seinerseits empfand eine unerklärbare Beklemmung, als er täglich Cosettes liebes Gesicht an Schönheit gewinnen sah. Was Andere mit freudiger Bewunderung erfüllte, war für ihn eine Quelle des derbsten Kummers. Er fürchtete, diese Veränderung würde irgendwie sein Glück stören. Er, der jede Art von Elend kennen gelernt, dessen Wunden so zu sagen noch bluteten, der erst nahe daran gewesen war, ein bösartiger Mensch und dann ein Heiliger zu werden, der einst die Bagnokette geschleppt und jetzt die noch schwerere Last des gesellschaftlichen Bannes trug, er, den das Gesetz noch nicht freigelassen und den es trotz der Unsträflichkeit seines Wandels jeden Augenblick der Schande überantworten konnte, dieser Mann ließ sich alles gefallen, entschuldigte, verzieh, lobte alles und verlangte von der Vorsehung, den Menschen, den Gesetzen, der Gesellschaft nur eins, — daß Cosette ihn lieb haben mochte.

Jetzt aber zitterte er. Was Frauenschönheit bedeutet, darüber wußte er ja wenig genug; aber sein Instinkt sagte ihm, daß seinem Glück eine Gefahr drohe.

»Wie schön sie ist! Was wird blos aus mir werden?« dachte er.

In dieser Hinsicht unterschied sich die Zuneigung, die er für Cosette empfand, von der Liebe einer Mutter. Was Diese mit Freuden erfüllt hätte, machte ihm Sorgen.

Es währte auch nicht lange, so traten Veränderungen in Cosettens Wesen auf.

Gleich nachdem sie die entzückende Entdeckung gemacht hatte, fing sie an, auf ihre Toilette zu achten. Sie erinnerte sich an das, was der Herr auf der Straße gesagt hatte: »Hübsch, aber ohne Geschmack gekleidet!« Dies Orakel entfaltete jetzt in ihr die Liebe zum Putz, eine von den beiden Leidenschaften, die das Leben der Frauen für sich in Anspruch nehmen. Die Liebe nämlich ist die zweite. Mit dem Glauben an ihre Schönheit entwickelte sich auch alsbald in ihr der ganze weibliche Charakter. Sie fand jetzt den Merino greulig und schämte sich des Plüsches. Und da ihr Vater ihr nie eine Bitte abschlug, so fehlte es ihr auch nicht an den nöthigen Mitteln, um sich die Wissenschaft der Toilette rasch und gründlich anzueignen, jene Wissenschaft, in der sich die Pariserinnen vor allen andern Frauen auszeichnen.

In noch nicht einem Monat brachte es Cosette in ihrer Einöde dahin, daß sie nicht nur eine der hübschesten, sondern was noch weit mehr bedeuten will, der elegantesten, jungen Damen in Paris war. Wenn der Herr, der damals ihre Kleidung getadelt hatte, sie jetzt sähe! Er hätte Augen gemacht! Sie war auch wirklich reizend und kannte den Unterschied zwischen Gérard’s und Herbaut’s Hüten.

Diese Fortschritte beobachtete Jean Valjean mit Sorgen. Er, der nur in niederen Regionen kriechen oder höchstens gehen konnte, sah, wie seiner Cosette Flügel wuchsen.

Allerdings hätte eine Dame auf den ersten Bück bemerkt, daß Cosette keine Mutter hatte. Gewisse von der Schicklichkeit oder Gewohnheit vorgeschriebene Regeln wurden von Cosette nicht beobachtet. So hätte eine Mutter sie z. B. darauf aufmerksam gemacht, daß ein junges Mädchen sich nicht in Damast kleiden darf.

Den ersten Tag, wo sie in ihrer schwarzen Damastrobe und Mäntelchen und mit ihrem weißen Florhut ausging und sich strahlend vor Freude, glücklich, stolz, mit rosigem Gesicht an seinen Arm hing, fragte sie: »Vater, wie gefalle ich Dir?« »So siehst Du reizend aus!« antwortet er, aber in seiner Stimme klang ein Anflug von Bitterkeit wieder. Dann benahm er sich während des Spaziergangs wie gewöhnlich. Nach Hause zurückgekehrt, fragte er aber:

»Sag’ mal, trägst Du nicht mehr das Kleid und den Hut, den Du früher hattest?«

Cosette warf einen verächtlichen Blick auf den Kleiderriegel, an dem die vervehmten Toilettenstücke hingen.

»Den Plunder? Was soll ich damit, Vater? Ich denke nicht dran, solche greuligen Sachen kann ich nicht tragen. Wenn ich die Kiepe da aufsetzte, würde ich wie eine Vogelscheuche aussehen.«

Jean Valjean seufzte tief.

Von dieser Zeit an bemerkte er auch, daß Cosette nicht mehr so oft zu ihm kam und immer ausgehen wollte. Wozu in der That hat man ein hübsches Gesicht und schöne Kleider, wenn man sie nicht zeigen soll?

Außerdem fiel ihm auf, daß Cosette sich weniger im Hinterhof aufhielt. Sie bevorzugte jetzt den Garten und ging gern an dem Gitter entlang spazieren. Der menschenscheue Jean Valjean dagegen setzte keinen Fuß in den Garten und blieb im Hof, wie der Hund.

Nun sie sich ihrer Schönheit bewußt war, verlor sie den Reiz, den die Unkenntniß dieses Vorzuges jungen Mädchen verleiht. Giebt es doch nichts Bezaubernderes als die Verbindung von Schönheit und Naivität, als ein liebliches unschuldiges Kind, das, ohne es zu wissen, den Schlüssel des Paradieses in seiner Hand trägt. Aber was Cosette an unbewußter Anmuth einbüßte, das gewann sie an reizvollem nachdenklichen Ernst.

Zu jener Zeit war es, daß Marius sie nach einer sechsmonatlichen Unterbrechung im Jardin du Luxembourg wiedersah.

Der Krieg beginnt

Cosette trug in ihrer Abgeschiedenheit, wie Marius in der seinen, all den Zündstoff in sich, aus dem ein großer Liebesbrand auflodern mußte. Das Schicksal brachte mit seiner stillen, unentrinnbaren Geduld die beiden mit der stürmischen Elektricität der Leidenschaftlichkeit geladnen jungen Leute näher und näher an einander, bis ihre Seelen sich in einem Blick begegneten und die Liebe hervorbrach, wie aus zwei Wolken, die sich vereinigen, der Blitz herauszuckt.

In Romanen ist mit der Liebe, die durch den ersten Blick entzündet wird, so viel Mißbrauch getrieben worden, daß Niemand mehr von so plötzlicher Liebe reden hören mag. Kaum wagt roch Jemand zu sagen, daß zwei junge Leute Liebe zu einander gefaßt haben, weil sie sich angesehen haben. Dennoch entsteht aber die Liebe so und nur so. Das Uebrige ist nur das Uebrige und kommt nach. Keine Thatsache ist so sicher, als daß zwei Seelen den entscheidenden Schlag empfangen, indem sie den Funken austauschen.

Zu jener bestimmten Zeit, wo Cosette, ohne es zu wissen, durch ihren Blick Marius in Unruhe zu versetzen vermochte, ahnte Marius nicht, daß auch sein Blick dieselbe gute und böse Wirkung auf Cosette ausübte.

Schon längst sah und beobachtete sie ihn, wie junge Mädchen sehen und beobachten, nämlich, indem sie die Augen anderswohin richtete. Als Marius sie noch häßlich fand, bemerkte sie schon, daß er ein hübscher junger Mann war. Aber da er sie nicht beachtete, so blieb auch er ihr gleichgültig.

Indessen konnte sie nicht umhin, zu konstatiren, daß er einen schönen Haarwuchs, schöne Augen und Zähne hatte, daß seine Stimme angenehm klang, wenn sie ihn mit seinen Freunden sprechen hörte, daß er eine schlechte Haltung hatte, die aber einer gewissen, eigenartigen Anmuth nicht ermangelte, daß er nichts weniger als dumm aussah, daß er edel, sanft, schlicht und stolz schien und endlich daß er arm war, aber ein vornehmes Wesen hatte.

Als dann ihre Augen sich begegneten und sich erzählten, was die Zunge nicht ausdrücken kann, wurde sich Cosette nicht sofort über ihren Gemüthszustand klar. Sie kehrte nur nachdenklich an jenem Tage nach dem Hause in der Rue de l’ Quest zurück, wo Jean Valjean seiner Gewohnheit gemäß damals gerade sechs Wochen hindurch wohnte. Am nächsten Morgen fiel ihr der junge Unbekannte wieder ein, der sich bis dahin so gleichgültig und kalt gegen sie verhalten hatte und nun mit einem Male sie beachtete; es kam ihr aber nicht so vor, als sei ihr diese seine Aufmerksamkeit angenehm. Sie zürnte vielmehr dem stolzen Jüngling und fühlte sich kriegerisch aufgelegt.

Jetzt, dachte sie mit noch kindlicher Freude, würde sie Rache an ihm nehmen können.

Sie merkte, wenn auch noch nicht mit völliger Klarheit, daß sie an ihrer Schönheit eine Waffe habe. Die Frauen spielen mit ihrer Schönheit, wie ein Kind mit einem Messer. Sie bringen sich selber Wunden bei.

Der Leser erinnert sich wohl noch der blöden Zurückhaltung unseres Freundes Marius. Er blieb auf seiner Bank sitzen und wagte sich nicht in die Nähe seiner Schönen. Diese ärgerte sich darüber und sagte endlich eines Tages zu Jean Valjean: »Vater, wir wollen doch einmal da lang gehen.« In Anbetracht, daß Marius nicht zu ihr kam, ging sie zu ihm hin. In diesem Fall machen es ja alle Frauen wie Muhammed. Außerdem ist sonderbarer Weise das erste Symptom der wahren Liebe bei einem jungen Mann die Schüchternheit, während die jungen Mädchen dann keck werden. Dies mag verwunderlich scheinen, ist aber sehr einfach. Wenn die beiden Geschlechter einander näher treten wollen, muß das eine die Eigenschaften des andern annehmen.

An jenem Tag raubte Cosettens Blick Marius den Verstand, während sie erbebte. Ihn beseligten süße Hoffnungen, sie fürchtete sich. Von nun an hegten sie heiße Liebe zu einander.

Das Erste, was sie empfand, war eine unerklärbare, tiefe Schwermuth. Sie erkannte sich nicht wieder. Ihr altes Ich, das aus Gleichgiltigkeit und Frohsinn bestand, war von der Gluth der Liebe geschmolzen, wie der Schnee unter den Strahlen der Sonne zerrinnt.

Sie liebte mit um so größerer Leidenschaftlichkeit, als sie ihren Seelenzustand nicht kannte. Sie wußte nicht, ob die Liebe etwas Gutes oder Böses, Nützliches oder Gefährliches, Nothwendiges oder Tötliches, Ewiges oder Vorübergehendes ist; sie liebte. Man hätte sie in das größte Erstaunen versetzt, wenn man zu ihr gesagt hätte; »Wie? Sie schlafen nicht? Das ist ja verboten! Sie haben keinen Appetit? Das ist unrecht von Ihnen. Sie leiden an Beklemmungen und Herzklopfen? Das schickt sich nicht! Sie werden roth und blaß, wenn Sie eines gewissen schwarz gekleideten jungen Mannes in einer gewissen, grünen Alle ansichtig werden? Pfui, schämen Sie Sich!« Sie hätte geantwortet »Wieso verdiene ich den Tadel wegen einer Sache, gegen die ich nichts thun kann und die ich nicht verstehe?«

Es traf sich, daß die Liebe gerade in der Gestalt auftrat, die ihrem damaligen Seelenzustand am besten zusagte, nämlich als stumme Betrachtung aus der Ferne, als Vergötterung eines Unbekannten. Jetzt hatte sich der Traum ihrer Nächte in einen Roman verwandelt und blieb doch noch ein Traum; jetzt war das geliebte Phantom Fleisch und Blut geworden, trug aber noch keinen Namen, war frei von Unvollkommenheiten, und hielt sich in bescheidener Entfernung. Jede zudringlichere Begegnung hätte Cosette geängstigt, da sie dem Ideenkreise des Klosters damals noch nicht völlig entrückt war. Von einem Mann oder auch nur Bräutigam konnte noch nicht die Rede sein: sie brauchte nur eine Traumgestalt.

Da du höchste Naivität und die höchste Coquetterie sich berühren, lächelte sie ihm ganz offenherzig zu.

Jeden Tag konnte sie jetzt kaum die Zeit erwarten, wo sie mit Jean Valjean zum Spaziergang aufbrach. Hatte sie dann Marius gesehen, so fühlte sie sich unaussprechlich glücklich und bildete sich ein, sie sage die volle Wahrheit, wenn sie zu Jean Valjean bemerkte, der Jardin du Luxembourg sei doch ein schöner Garten.

Immer mehr Trauer

Für jede Lage des Lebens hat der Mensch einen Instinkt. Auch unsern Jean Valjean benachrichtigte die alte und ewige Mutter Natur von Marius Gegenwart. Jean Valjean erbebte in den tiefsten Tiefen seines Herzens. Er sah nichts, wußte nichts und sah sich doch mit hartnäckiger Aufmerksamkeit in der Finsternis, die ihn umgab, als fühlte er, wie sich auf der einen Seite, etwas Neues aufbaute, und andererseits etwas Altes einstürzte. Marius, gleichfalls gewarnt und zwar — nach einem weisen Gesetze Gottes — von derselben Mutter Natur, that alles, was er konnte, um nicht von dem »Vater« bemerkt zu werden. Dennoch geschah es, daß Jean Valjean ihn bisweilen sah. Marius Gebahren war doch gar nicht natürlich. Er zeigte eine verdächtige Vorsicht und eine linkische Keckheit.

Dann kam er nicht mehr so nahe heran, wie ehedem. Er setzte sich weit ab und sah ganz verzückt aus, hielt ein Buch in der Hand und that, als lese er. Warum that er nur so? Früher kam er mit seinem alten Anzug, jetzt trug er täglich den neuen; er ließ sich wohl gar die Haare kräuseln, verdrehte die Augen ganz komisch; trug Handschuhe; kurzum, Jean Valjean war der junge Mann in der Seele zuwider.

Cosette ließ sich nichts merken. Ohne recht zu wissen, was sie empfand, hatte sie das Gefühl, daß es etwas war, das sie verheimlichen müsse.

Zwischen den Veränderungen, die Cosette mit ihrer Toilette vorgenommen, und der plötzlichen Vorliebe des jungen Unbekannten für neue Kleider herrschte ein Parallelismus, der Jean Valjean mißfiel. Vielleicht, ohne Zweifel, ganz gewiß ein Zufall, aber ein bedrohlicher!

Nie brachte er Cosette gegenüber die Rede auf den Unbekannten. Eines Tages indessen konnte er nicht anders und rief, gepeitscht von jener Verzweiflung, die gern in ihrer eigenen Wunde wühlt: »Sieht der junge Mann pedantisch aus!«

Ein Jahr früher hätte Cosette mit ihrer kindlichen Gleichgültigkeit ihm widersprochen: »Bewahre! Er macht einen recht netten Eindruck.« Zehn Jahre später wäre sie schlau auf seine Bemerkung eingegangen: »Du hast Recht, lieber Papa. Greulig pedantisch.« Bei ihrer damaligen Lebenserfahrung und Gemüthsverfassung konnte sie aber nur Gleichgültigkeit heucheln. Sie antwortete mit größter Seelenruhe:

»Der junge Mann da!«

Als wenn sie ihn zum ersten Mal in ihrem Hause sähe.

»Wie dumm von mir!« dachte Jean Valjean. »Sie hat ihn noch gar nicht beachtet, und ich mache sie aufmerksam auf ihn!«

O Einfalt der Greise! O Schlauheit der Kinder!

Noch ein Gesetz, das für die Anfangszeit der Liebe, für die ersten Kämpfe gegen Hindernisse gilt: Das junge Mädchen geht in keine Falle, während der junge Mann sich nur zu leicht fangen läßt. Jean Valjean ging seinem Gegner mit List zu Leibe, was dieser mit der liebenswürdigen Thorheit seiner Leidenschaft und seiner Jugend nicht errieth.

Jean Valjean legte ihm alle möglichen Schlingen; er kam zu einer andern Zeit nach dem Garten, setzte sich auf eine andere Bank, vergaß sein Taschentuch, ließ Cosette zu Hause, und Marius that ihm stets den Gefallen seinen Argwohn naiv bestätigen. Cosette dagegen ließ sich aus ihrer scheinbaren Unaufmerksamkeit und Gleichgültigkeit nicht herausbringen, und Jean Valjean gelangte schließlich zu der Ueberzeugung, der junge Laffe sei in Cosette vernarrt, während Diese ihn nicht im entferntesten beachte.

Er empfand aber darum nicht weniger schwere Sorgen. Der Augenblick, wo die Liebe in Cosettes Herz einziehen würde, mußte früher oder später kommen. Fängt doch alles mit der Gleichgiltigkeit an!

Ein einziges Mal beging Cosette einen Fehler und setzte ihn in Schrecken. Als er nämlich nach dreistündigem Aufenthalt von der Bank aufstand, rief sie: »Schon!«

Er stellte die Spaziergänge nach dem Garten nicht ein, weil er nicht von seiner gewöhnlichen Ordnung abweichen und dadurch Cosettes Aufmerksamkeit rege machen wollte, aber während der für das Liebespaar so süßen Stunden, während Cosette dem verzückten Marius zulächelte und dieser nur ihr holdes liebes Antlitz sah, betrachtete ihn Jean Valjean mit wuthfunkelnden Augen. Er, der geglaubt hatte, er sei keiner Regung der Bosheit mehr fähig, fühlte jetzt in Marius Gegenwart, wie sich längst zugedeckte Tiefen in seiner Seele aufthaten und der alte Menschenhaß und Ingrimm wieder zu Tage trat.

»Was hat der Bengel hier zu suchen? Was schleicht er, was schnüffelt er so herum? Was will er? Eine Liebelei natürlich, weiter nichts! Und ich, ich bin erst ein Elender und dann über die Maßen unglücklich gewesen; ich bin alt geworden, ohne jung gewesen zu sein; ich habe keine Eltern, keine Freunde, keine Frau, keine Kinder gehabt; bin sanft gewesen gegen Diejenigen, die mich mißhandelt haben, und gut gegen die Bösen; bin trotz alledem wieder ein rechtschaffner Mensch geworden, habe meine Sünden bereut und meinen Feinden verziehen; und jetzt, wo ich belohnt bin, wo ich das Ziel erreiche, soll alles, was ich mir so schwer verdient habe, zu Nichte werden, soll ich Cosette, mein Leben, mein Glück verlieren, weil es einem dummen Jungen beliebt hat, in einem öffentlichen Garten herumzutummeln!«

Das Uebrige haben wir schon erzählt. Marius benahm sich wieder thöricht. Er ging Cosette nach, als sie mit ihrem Vater nach der Rue de l’Ouest heimkehrte. Ein andres Mal fragte er den Portier aus, der seinerseits mit Jean Valjean sprach:

»Herr Fauchelevent, da hat sich neulich ein neugieriger junger Herr nach Ihnen erkundigt. Wer mag das sein?« — Am nächsten Tage warf Jean Valjean Marius einen Blick zu, den dieser endlich verstand, und eine Woche später war er ausgezogen. Er schwor, daß er nie wieder den Fuß in den Jardin du Luxembourg noch in die Rue de l’Ouest setzen würde. Er kehrte dann nach der Rue Plumet zurück.

Cosette klagte nicht, sagte nichts, that keine Fragen, forschte nach keinem Warum; sie war schon so weit vorgeschritten, daß sie Acht auf sich gab und sich zu verrathen fürchtete. Jean Valjean hatte keine Erfahrung von dieser Art Unglück, dem einzigen, das liebenswert ist und das er nicht durchgemacht hatte, und deshalb begriff er nicht, was es mit Cosettes Stillschweigen auf sich hatte. Nur fiel ihm ihre Schwermuth auf, und das machte ihm Kummer. Es stand hier eine Unerfahrenheit einer andern gegenüber, und Beide vermochten nicht, sich gegenseitig zu verstehen.

Eines Tages machte er einen Versuch. Er fragte:

»Willst Du mit mir nach dem Jardin du Luxembourg gehen?«

»Ja!« sagte sie und ein Freudenstrahl erhellte ihr bleiches Gesicht.

Sie gingen, aber da schon drei Monate verstrichen waren, seitdem sie ihre Spaziergänge ausgesetzt hatten, war kein Marius in dem Garten zu sehen.

Am nächsten Tage fragte Jean Valjean wieder:

»Gehen wir heute wieder nach dem Jardin du Luxembourg?«

»Nein,« antwortete sie mit wehmüthiger und sanfter Stimme.

Jean Valjean ärgerte sich über ihre Wehmuth und war betrübt über ihre Sanftmuth.

Was ging blos in dem Kopf des Mädchens vor? Daß solch ein junges Ding ihm schon so dunkle Räthsel aufgeben konnte! Mit diesen sorgenvollen Fragen zermarterte Jean Valjean jetzt oft sein Hirn. Bisweilen blieb er, statt sich zur Ruhe zu begeben, an dem Tisch sitzen und brachte die ganze Nacht damit zu, über Cosetten’s Gemüthszustand nachzudenken.

O wie sehnsuchtsvoll wandte er jetzt seine Gedanken nach dem Kloster zurück, dem Wohnort der Engel, dem unzugänglichen Eisberg der Tugend! Er sah oft im Geiste den Garten voller holder Mädchenblüthen, deren Sinn nur auf den Himmel gerichtet war. Wie bedauerte er, daß er aus diesem Paradiese ohne Noth fortgegangen war! Wie thöricht, daß er Cosette in die Welt zurückgeführt hatte, damit jetzt seine heldenmüthige Selbstaufopferung ihm solches Unheil bringen sollte! Wie oft rief er: »Was habe ich gethan?«

Cosette ließ er aber nichts von dieser Reue merken. Ihr gegenüber bekundete er stets dieselbe gute Laune und Freundlichkeit. Eher behandelte er sie noch gütiger, väterlicher. Und wenn etwas auf eine Veränderung in seinem Innern hindeutete, so wahr es vielmehr eine Zunahme von Milde und Nachsicht.

Cosette ihrerseits war nicht minder trübsinnig. Sie empfand Marius Abwesenheit so schmerzlich, wie sie sich seiner Zeit gefreut hatte, ihm zu begegnen, wurde sich aber der Natur ihres Seelenzustandes nicht recht bewußt. Als Jean Valjean die Spaziergänge nach dem Jardin du Luxembourg einstellte, gab ihr weiblicher Instinkt ihr einen leisen Wink, daß sie sich ihre Vorliebe für diesen Garten nicht dürfe anmerken lassen; wenn sie sich gleichgültig zeige, würde ihr Vater sie schon wieder dorthin führen. Aber Jean Valjean war aus Cosettes stillschweigende Einwilligung stillschweigend eingegangen, und Tage, Wochen, Monate vergingen, ohne daß er die geringste Lust bezeigte, seine alte Gewohnheit wieder aufzunehmen. Sie bereute jetzt, daß sie so schnell nachgegeben hatte, aber es war zu spät. Denn als sie später nach dem Garten zurückkehrte, war Marius nicht mehr da. Was nun? Ob sie ihm je wieder begegnen würde? Ein herbes, banges Weh schnürte ihr das Herz zusammen und der Druck nahm täglich zu. Nichts konnte diese Pein lindern. Es war ihr gleich, ob es Sommer oder Winter war, ob die Sonne schien oder ob es regnete, ob die Vögel sangen, ob jetzt Georginen oder Maßliebchen blühten, ob die Waschfrau die Wäsche zu sehr oder zu wenig gestärkt, ob die Toussaint gut oder schlecht eingekauft hatte. Sie war immer niedergeschlagen, zerstreut, nur von dem einen Gedanken beherrscht, die Augen starr ins Leere gerichtet, wie man in der Nacht nach der tiefdunklen Stelle schaut, wo soeben eine Vision entschwunden ist.

Auch sie ließ, abgesehen von ihrer zunehmenden Blässe, Jean Valjean nichts merken. Ihr Gesicht behielt dieselbe Sanftmuth.

Ihre Blässe genügte aber vollkommen, um Jean Valjean Sorgen zu machen. Wenn er sie aber fragte, was ihr fehle, antwortete sie stets:

»Nichts.«

Dann pflegte sie, da sie wohl ahnte, daß auch er bekümmert sei, ihn ihrerseits zu fragen:

»Und Du, Vater? Fehlt Dir was?«

Sie bekam dann dieselbe Antwort:

»Mir? Gar nichts!«

Diese beiden Menschen, die sich so innig und ausschließlich geliebt, die Einer in dem Andern gelebt und gewebt hatten, litten jetzt nebeneinander. Einer durch die Schuld des Andern, ohne es sich zu sagen, ohne gegenseitigen Groll und freundlich lächelnd.

Die Galeerensklaven

Am unglücklichsten von Beiden war Jean Valjean. Trägt doch die Jugend, eben als solche, ihren Kummer stets leichter als das Alter.

Zu Zeiten gewann Jean Valjean’s Seelenpein dermaßen die Oberhand, daß er kindische Einfälle hatte. Es ist ja eine bekannte Eigenthümlichkeit des schweren Kummers, daß er den Menschen zeitweise wieder auf das geistige Niveau der Kindheit herabdrückt. Da er sich nämlich nicht der Einsicht verschließen konnte, daß Cosette ihm nicht mehr allein gehörte, wollte er sein Eigenthum vertheidigen, sie zurückhalten, sie mit etwas Aeußerlichem und Auffallendem begeistern. Gerade weil nun aber seine Einfälle, wie gesagt, kindische waren, gewann er z. B. ein richtiges Verständniß für die Art des Eindrucks, den gewisse Posamentierwaaren bei jungen Mädchen hervorrufen. Eines Tages nämlich geschah es, daß er auf der Straße einen General, den Grafen Coutard, Festungskommandant von Paris, in Galauniform vorbeireiten sah. Diesen mit goldnen Tressen behangnen Mann beneidete er. Welch ein Glück, wenn er auch solch einen imponirenden Rock tragen dürfte! Wenn Cosette ihn damit sähe, würde er ihr imponiren; ginge er dann mit ihr spazieren, vor den Tuilerieen vorbei, so würde ihm die Wache das Gewehr präsentiren. Das würde Cosette genügen und ihr die jungen Leute aus dem Sinne bringen.

Zu diesem traurigen Gedanken kam noch eine heftige Erschütterung, die eine unerwartete Begebenheit in ihm hervorrief.

Bei dem einsamen Leben, das sie führten, hatten sie, seitdem sie nach der Rue Plumet gezogen waren, der Zerstreuung halber die Gewohnheit angenommen, sich ab und zu den Sonnenaufgang anzusehen, ein idyllisches Vergnügen, das der Jugend sowohl wie dem Alter zusagt.

Am frühen Morgen spazieren gehen ist für Jemand, der die Einsamkeit liebt, eben so angenehm, wie Spaziergänge des Nachts, hat aber den Vortheil voraus, daß man dem fröhlichen Erwachen der Natur beiwohnen kann. Die Straßen sind menschenleer und die Vögel singen. Cosette stand, wie die Vöglein, auch gern früh auf. Zu diesen morgendlichen Ausflügen wurden schon Abends zuvor die Vorkehrungen getroffen. Er schlug sie vor und sie nahm das Anerbieten mit Freuden an. Sie verfuhren dabei so heimlich, als handle es sich um eine Verschwörung, und brachen, noch ehe der Tag angefangen hatte, auf. Dergleichen unschuldige Absonderlichkeiten haben einen eignen Reiz für die Jugend.

Jean Valjean hatte, wie wir schon öfter gesagt haben, eine große Vorliebe für wenig besuchte Orte, für Gegenden, die kein Mensch kannte. So suchte er auch besonders gern gewisse armselige Felder in der Umgegend von Paris auf, auf denen im Sommer dürftiges Getreide wuchs und die im Herbst nach der Ernte wie abgerupft aussahen. Auch Cosette langweilte sich hier nicht. Fand er hier die gesuchte Einsamkeit, so erfreute sie sich hier der Freiheit der Kinderjahre. Sie konnte umhertollen und sogar spielen, den Hut abnehmen und Blumen pflücken. Sie sah sich die Schmetterlinge an, die auf den Blumen saßen, fing sie aber nicht. Mit der Liebe zugleich zieht auch Sanftmuth und Weichherzigkeit in das Gemüth ein, und ein junges Mädchen, das ein gebrechliches Liebesglück im Herzen trägt, erbarmt sich auch des zarten Schmetterlings. Sie flocht auch Kränze aus Klatschrosen, deren Blätter, von dem Licht der Sonne durchfluthet, ihr hübsches Gesicht mit einer Purpurglorie umgaben.

Selbst nachdem der Kummer bei ihnen eingezogen war, hatten sie die Gewohnheit früh aufzustehen und spazieren zu gehen, beibehalten.

Eines Morgens also, im Oktober 1831, wo der Herbst besonders milde auftrat, waren sie auch ausgegangen und befanden sich in der Nähe der Barrière du Maine. Der Morgen graute erst, und die Sonne war noch nicht zu sehen, eine Tageszeit, wo die Natur dem Menschen ein entzückendes und großartiges Schauspiel bietet. Einige Gestirne am mattblauen Firmament, die Erde ganz schwarz, am Himmel weiße Wolken, Gräser und Sträucher vom Winde geschüttelt, überall der ahnungsvolle Schauer der Dämmerung. Eine Lerche, die so hoch wie die Sterne zu schweben schien, ließ ihr fröhliches Lied erschallen und es war als verbreite dieser Hymnus der Kleinheit an die Unendlichkeit süßen Frieden über die Natur. Im Osten hob sich das Hospital Val-de-Grâce stahlfarben vom hellen Horizont ab; hinter der Kuppel stieg die Venus empor und sah wie eine Seele aus, die aus einem finstern Gebäude entweicht.

Ueberall Friede und Stille; Niemand auf der Chaussee; unten einige wenige Arbeiter, die sich an ihr Tagewerk begaben.

Jean Valjean saß in der Seitenallee auf einem Haufen Balken, der vor einem Zimmerplatz lag, das Gesicht der Landstraße und den Rücken dem Tageslicht zugewendet. Er vergaß die Sonne, die eben aufgehen wollte, denn alle seine Gedanken waren auf einen Punkt gerichtet, auf das Glück, daß ihm an Cosettens Seite noch beschieden sein könnte. So tief war er in diese Träumerei versunken, daß Zeit dazu gehört hätte, ehe er wieder auf die Erde zurückkommen konnte. Bei diesen Gedanken fühlte er sich beruhigt und beinah glücklich. Cosette, die neben ihm stand, betrachtete die Wolken, die sich allmählich rosig färbten.

Plötzlich rief sie: »Vater, sieht das nicht so aus, als wenn dahinten Leute kämen?«

Jean Valjean hob die Augen auf und sah, daß Cosette Recht hatte.

Die Chaussee, die nach der ehemaligen Barrière du Maine führt, ist bekanntlich eine Verlängerung der Rue de Sèvres und schneidet sich rechtwinklig mit dem innern Boulevard. An der Stelle, wo die Chaussee und der Boulevard sich kreuzen, wurde ein für die frühe Tageszeit ungewöhnliches Geräusch lautbar und eine unförmige Masse bog aus dem Boulevard in die Chaussee ein.

Das Ding wurde größer und schien eine regelmäßige Bewegung zu haben; an manchen Stellen ragte etwas hervor, das hin und her schwankte; es sah wie ein Wagen aus, aber man konnte nicht erkennen, womit er beladen war. Man erkannte Pferde und Räder, hörte Menschenstimmen und Peitschengeknall. Nach und nach treten die Umrisse deutlicher hervor, trotz des Halbdunkels, das sie umgab. Es war in der That ein Wagen; er kam auf das Thor zu, in dessen Nähe Jean Valjean saß; dem ersten Wagen folgten andere, bis es im Ganzen ihrer sieben waren, die sich dicht hinter einander fortbewegten. Auf diesen Fuhrwerken schwankten Silhouetten, man sah funkelnde Gegenstände, vielleicht blanke Säbel, und hörte ein Geklirr und Gerassel, das von Ketten zu kommen schien.

In dem Maße, wie der Zug herankam, zeichneten sich die Einzelheiten des schaurigen Bildes mit größerer Deutlichkeit ab; die aufgehende Sonne erhellte mit fahlem Schein das Gewimmel, die Silhouettenköpfe wurden zu leichenfarbnen Gesichtern und schließlich erkannte man Folgendes:

Von den sieben Wagen waren die sechs ersten sonderbar gebaut. Sie glichen den Rollwagen, die bei den Böttchern in Gebrauch sind: Zwei lange auf Rädern ruhende Leitern, deren vorderes Ende je eine Gabeldeichsel abgab, und die von je vier hintereinander gespannten Pferden gezogen wurden. Auf diesen Leitern sah oder errieth man vielmehr seltsame Gruppen von Menschen. Je Vierundzwanzig saßen auf einem Fuhrwerk. Zwölf auf jeder Seite, mit dem Rücken nach innen und dem Gesicht nach außen, die Beine heraushängend; hinter dem Rücken hatten sie etwas Rasselndes, eine Kette, und um den Hals etwas Glänzendes, ein viereckiges Halseisen. An die Kette waren sie Alle festgeschmiedet, und wenn sie von dem Wagen herabsteigen sollten, so mußten sie alle beisammen bleiben und sich zugleich bewegen, so daß eine solche Gruppe einem Tausendfuß ähnelte. Vorn und hinten auf jedem Wagen standen zwei mit Gewehren bewaffnete Leute, die mit einem Fuß je ein Ende der Kette niederhielten. Das siebente Fuhrwerk, ein ungeheurer Packwagen, aber ohne Verdeck, hatte vier Räder und sechs Pferde. Er war beladen mit Kesseln, gußeisernen Töpfen, Kohlenbecken und Ketten und einigen gefesselten Menschen, die lang ausgestreckt da lagen und krank zu sein schienen.

Diese Wagen fuhren in der Mitte des Dammes. Auf beiden Seiten marschirten in doppeltem Spalier die Wächter, unglaublich gemein aussehende Kerle, mit Dreimastern, wie die Soldaten sie zur Zeit des Direktoriums trugen, in schmutzigen, abgerissenen Invalidenuniformen, graublauen Hosen, und mit rothen Epauletten, gelben Wehrgehenken, Infanteriesäbeln, Gewehren und Stöcken; halb Bettler und halb Henker, halb Gesindel und halb Soldaten. Derjenige, der ihr Anführer zu sein schien, hielt eine Postpeitsche in der Hand. Vorn und hinten ritten Gendarmen, ernsten Angesichts, mit dem Säbel in der Faust.

Der Zug war so lang, daß, als der erste Wagen das Thor erreichte, der letzte kaum aus dem Boulevard herausfuhr.

Eine Menge Menschen, die im Nu überallher herbeigelaufen waren, stand dicht gedrängt zu beiden Seiten der Chaussee und sah zu. Sie wuchs mit jedem Augenblick und man hörte Leute, die sich gegenseitig in den angrenzenden Straßen riefen, und Geklapper von Holzpantinen.

Die Insassen der Wagen verhielten sich still. Sie sahen leichenblaß aus in Folge der Morgenkälte. Alle trugen Leinwandhosen und Holzschuhe an ihren bloßen Füßen. Die übrigen Kleidungsstücke waren so gräulig, buntscheckig, wie nur die Phantasie des Elends es ausdenken kann. Zerlöcherte Filzhüte, getheerte Kappen, häßliche, wollene Mützen; zerlumpte Arbeiterjacken und schwarze Röcke. Mehrere hatten Frauenhüte, andre Körbe auf dem Kopf. Von Manchen sah man ihre zottige Brust; bei Andern durch die Löcher der Aermel tätowirte Zeichnungen von Liebestempeln, flammenden Herzen, Liebesgöttern. Man erblickte auch Flechten und rothe Geschwülste. Einige stützten ihre Füße auf Strohstricke, die an den Leitersprossen befestigt waren. Einer von ihnen hielt etwas, das wie ein schwarzer Stein aussah, in der Hand und biß von Zeit zu Zeit hinein; es war ein Stück Brod. Man sah da nur trockne, erloschne oder bösartig flammende Augen. Die Eskorte schimpfte; von Zeit zu Zeit hörte man den dumpfen Schall von Stockschlägen; hinter dem Zuge liefen Kinder und lachten.

Der Anblick dieses Schauspiels war grauenerregend. Es konnte am nächsten Tage, in einer Stunde regnen und dann wieder regnen. Waren dann die Unglücklichen bis auf die Haut durchnäßt, so wurden sie sobald nicht wieder trocken. Waren sie einmal durchgefroren, so wurden sie sobald nicht wieder warm. Mochten sie begangen haben, was sie wollten, man schauderte bei dem Gedanken, daß menschliche Wesen gebunden und hülflos allen Unbillen der Witterung wie Klötze und Steine preisgegeben waren.

Die Stockschläge blieben nicht einmal den Kranken erspart, die mit Stricken gefesselt und regungslos auf dem siebenten Fuhrwerk lagen.

Plötzlich brach die Sonne durch das Gewölk und goß einen Feuerschein über all die wilden Gesichter aus. Die Zungen geriethen in Bewegung und ließen eine Fluth von frechen Hohnreden, Flüchen, unflätigen Liedern los. Es war schrecklich anzusehen, wie die bösen Gedanken sich plötzlich in den Mienen dieser Menschen abspiegelten, wie sozusagen diese Teufel die Masken abnahmen und ihr Innres bloß legten. Einige unter ihnen, die Spaßvögel, hatten Federposen, in die sie hineinbliesen und den Zuschauern, besonders den Frauen, Ungeziefer zuschleuderten. Die Insassen des ersten Wagens brüllten mit wilder Lustigkeit ein damals beliebtes Potpourri von Désaugiers, »die Vestalin,« und in den Seitenalleen hörten behäbige Bürger den von den Elendsgestalten gesungnen Zoten mit dummem Behagen zu.

Alle Arten des Grausenhaften fanden sich hier, wie ein Chaos beisammen, allerhand bestialische Gesichtswinkel, Greise, Jünglinge, kahle Schädel, graue Bärte, widerwärtige Frechheit, verbissene Resignation, Raubthierschnauzen, Schweinemäuler mit Mützen darüber, mädchenhafte Köpfe, mit Pfropfenzieherlocken, kindliche und gerade deshalb unholde Gesichter, magere Skeletfratzen, denen nur der Tod fehlte. Auf dem ersten Wagen sah man einen Neger, der vielleicht Sklave gewesen war und die Ketten vergleichen konnte. Die Schande, die große Gleichmacherin, hatte Alle auf dasselbe Niveau herabgedrückt; sie standen jetzt geistig und sittlich Einer so tief wie der Andere, der stumpfsinnig gewordene Unwissende, wie der in Verzweiflung verfallene Gescheidte. Kein Unterschied mehr zwischen diesen Menschen, die sich den Blicken als die Elite des Koths darboten. Offenbar hatte der Anordner dieser Procession die Elenden nicht klassificirt. Sie waren kunterbunt durcheinander, in alphabetischer Unordnung gepaart, gebunden und verladen worden. Da aber jede Addition von Scheußlichkeiten eine Summe ergiebt, so hatte jede Kette sozusagen eine Seele, jede Wagenladung einen einheitlichen Charakter. Auf dem einen Wagen wurde gesungen, auf einem andern gebrüllt, die dritte Fracht bettelte; dann sah man eine, die mit den Zähnen knirschte; wieder eine andre stieß Drohungen gegen die Zuschauer aus; noch eine andre lästerte; die letzte verhielt sich still, wie das Grab. Ein Dante wäre wohl versucht gewesen zu glauben, er sehe sieben wandelnde Höllenkreise.

Mit dem großen Unterschied freilich, daß dieser Zug ganz und gar des Großartigen entbehrte. Diese Verdammten fuhren nicht auf dem von Blitzen umzuckten Wagen der Apokalypse, sondern auf Schinderkarren nach dem Orte der Pein.

Einer der Wärter stellte sich, wenn er die Gefangnen mit seinem Hakenstock in die Rippen stieß, ganz so an wie Einer, der im Koth wühlt. Eine alte Frau, die zuschaute, zeigte die Unglücklichen einem fünfjährigen Knaben und sagte: »Nimm Dir ein Beispiel daran, Du Thunichtgut.«

Als das Singen und Schimpfen zu laut wurde, knallte der die Eskorte zu kommandiren schien, mit der Peitsche und bei diesem Signal prasselte ein schrecklicher Hagel von Stockschlägen auf die Insassen sämtlicher sieben Wogen nieder. Viele brüllten und schäumten vor Wuth, zur größten Freude der Straßenjungen, die zahlreich wie Aasfliegen den Zug umschwärmten.

Jean Valjean starrte mit unbeschreiblichem Grausen das entsetzliche Schauspiel an. Seine Augen hatten nichts Menschliches mehr; sie glichen, wie bei gewissen Kranken, glasigen Massen, die das Bild der Außenwelt nicht aufzunehmen, und nur Angst und Entsetzen wiederzuspiegeln vermögen. Was er vor sich sah, war für ihn ein Schreckgespenst, nicht eine Wirklichkeit. Er wollte aufstehen, um zu fliehen und konnte doch keinen Fuß bewegen. Wie versteinert und festgenagelt fragte er sich in seiner namenlosen Angst, was diese grausige Verfolgung heißen solle, wo dieses Pandämonium herkomme. Da schlug er plötzlich mit der Hand auf seine Stirn: Er erinnerte sich nämlich, daß dergleichen Transporte ganz gewöhnlich diesen Umweg machten, um nicht dem König auf dem Wege nach Fontainebleau zu begegnen, und daß er selber vor fünfunddreißig Jahren durch dasselbe Thor gefahren war.

Cosette empfand einen andern, aber nicht großen Schrecken. Sie wußte nicht, was sie da sah, hielt es nicht für möglich. Endlich als sie wieder zu Athem kam, rief sie:

»Vater, was sind denn das für Leute?«

»Sträflinge.«

»Wo geht ihre Reise hin?«

»Nach dem Zuchthaus, den Galeeren.«

In demselben Augenblick schlugen gerade die Hüter der Ordnung sämtlich mit rasendem Pflichteifer auf die unglücklichen Sträflinge los. Diese duckten sich und boten dem Beschauer das denkbar widerwärtigste Bild scheuen Sklavengehorsams; sie schwiegen und blickten um sich, wie angekettete Wölfe. Bei diesem Anblick zitterte Cosette an allen Gliedern und fragte:

»Vater, ob das wohl noch Menschen sind?«

»Manchmal!« stöhnte der Bejammernswerte.

Es war in der That ein Trupp Galeerensklaven, der vor Tagesanbruch aus dem Gefängniß Bicêtre aufgebrochen war und den Weg über Le Mans einschlug, um Fontainebleau, wo sich damals der König aufhielt, zu vermeiden. Durch diesen Umweg wurde die schreckliche Reise um drei bis vier Tage verlängert, aber was kam es darauf an, wenn nur Sr. Majestät der Anblick solcher Scheußlichkeiten erspart blieb!

Wie vernichtet wandte Jean Valjean sich heimwärts. Hatte doch diese Begegnung eine furchtbare Erschütterung in ihm hervorgerufen!

Indessen bemerkte er nicht, während er mit Cosette nach der Rue de Babylone zurückkehrte, daß sie über das Gesehene andere Fragen an ihn richtete; vielleicht waren seine Gedanken durch diese Schrecknisse zu sehr in Anspruch genommen, als daß er ihre Worte hätte wahrnehmen und beantworten können. Am Abend aber, als Cosette kam, ihm eine gute Nacht zu wünschen, hörte er, wie sie halblaut und vor sich hin redete: »Wenn ich einem solchen Menschen begegnete, Herr des Himmels, ich glaube, ich hätte den Tod davon!«

Glücklicher Weise traf es sich, daß am nächsten Tage gelegentlich irgend einer offiziellen Feier in Paris Feste und Bälle veranstaltet, auf dem Champ de Mars eine Parade abgehalten, auf der Seine Schifferstechen angestellt, auf den Champs-Elysées Theater gespielt, auf der Place de l’ Etoile ein Feuerwerk abgebrannt und überall illuminirt wurde. Zu diesen Vergnügungen führte Jean Valjean, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, Cosette, um die Erinnerungen an das gräßliche Schauspiel, dem sie Tags zuvor beigewohnt hatte, auszulöschen. Wegen der Parade schien es ihm auch natürlich und passend, daß er seine Nationalgardistenuniform anlegte, wobei er denn freilich das Gefühl hatte, es sei ein vortreffliches Mittel sich unkenntlich zu machen, sich vor Verfolgern zu schützen. Zunächst schien es auch, als habe er seinen Zweck erreicht. Cosette, die grundsätzlich ihrem Vater alles zu Gefallen that und für die jedes Schauspiel etwas Neues war, ging auf den Vorschlag mit der Bereitwilligkeit der Jugend, ohne sich lange zu besinnen und Bedenken zu erheben ein und rümpfte nicht allzusehr das Näschen vor den bescheidnen Freuden, die Volksfeste bieten. Jean Valjean konnte also sehr wohl glauben, sein Versuch sei gelungen, und die Erinnerung an das scheußliche Schauspiel sei vollständig erwischt.

Einige Tage darauf befanden sie sich eines Morgens, als sehr schönes Wetter war; auf der Freitreppe des Gartens, also wieder eine Abweichung von ihren Gewohnheiten, denn Jean Valjean hielt sich lieber im Hintergebäude auf und Cosette, seitdem sie Liebeskummer hatte, in ihrem Zimmer. Das junge Mädchen im Négligé, das der Jugend so reizend steht, wie einem strahlenden Gestirn zartes Gewölk, stand da von der Sonne beschienen, rosig von einer gut durchschlafnen Nacht und entblätterte ein Maßliebchen. Sie kannte nicht die hübsche Formel: Ich liebe Dich ein wenig, innig, leidenschaftlich u. s. w. Denn von wem hätte sie dergleichen lernen können? Sie mißhandelte die Blume instinktiv, in aller Unschuld und hatte keine Ahnung, daß Maßliebchen zerpflücken eine Herzensprüfung ist. Gäbe es eine vierte Grazie mit dem Namen »die lächelnde Melancholie,« sie hätte an Lieblichkeit Cosette nicht übertroffen. Jean Valjean sah ihrem Spiel zärtlich zu und hatte seine Freude an den anmuthigen Bewegungen ihrer Fingerchen. In einem nahen Gebüsch zwitscherte ein Rothkehlchen. Am Himmel zog leichtes Gewölk fröhlich dahin, als sei es so eben in Freiheit gesetzt worden. Cosette spielte mit ernsthaftem Gesicht; offenbar dachte sie aufmerksam an irgend etwas, wahrscheinlich Liebliches. Da wandte sie plötzlich mit einer delikaten Schwanenbewegung den Hals seitwärts zu Jean Valjean hin und fragte: »Väterchen, was ist denn das, die Galeeren?«

Hülfe, die von unten ausgeht und von oben ankommt

Aeußerliche Verwundung und innere Heilung

So gestaltete sich das Leben der Beiden immer trübseliger.

Es blieb ihnen nur eine Zerstreuung, die ehemals ein Glück gewesen war, denen, die da hungerten, Brod und Denen, die da froren, Kleider zu bringen. Bei diesen Armenbesuchen, wo Cosette oft Jean Valjean begleitete, fanden sie ihre alte Heiterkeit zum Theil wieder; und bisweilen, wenn sie ein gutes Tageswerk vollbracht, recht viel Bedürftigen geholfen, recht viel Kinder zu neuem Leben geweckt hatten, war Cosette am Abend einigermaßen fröhlich gestimmt. Damals war es, daß sie die Jondrette in ihrer Höhle aufsuchten.

Am Tage nach diesem Besuch erschien Jean Valjean am Morgen im Pavillon, mit demselben ruhigen Gesicht, wie immer, aber mit einer großen Wunde am linken Arm, die stark entzündet war, sehr bösartig aussah, von einer Verbrennung herrühren mochte und für die er eine glaubhafte Erklärung zu finden verstand. In Folge dessen fieberte er vier Wochen lang und ging nicht aus. Einen Arzt wollte er nicht konsultiren. Wenn Cosette ihn deswegen mit Bitten bestürmte, sagte er:

»Rufe den Hundearzt!«

Cosette verband ihn des Morgens und Abends mit solcher engelhaften Bereitwilligkeit, so hocherfreut nützlich sein zu können, daß Jean Valjeans ehemalige Daseinsfreude wiederkehrte, seine Befürchtungen und Aengste sich zerstreuten. Oft rief er, während er Cosette zusah: »Wie wohl Einem solch eine Wunde thut!«

Nun ihr Vater krank war, hielt sich auch Cosette wieder weniger im Pavillon und mehr im Hinterhäuschen und auf dem Hofe auf. Fast den ganzen Tag brachte sie jetzt bei Jean Valjean zu und las ihm vor, in der Regel aus Reisebeschreibungen, seinen Lieblingsbüchern. Jean Valjean fühlte sich jetzt wie neugeboren; sein Glück strahlte wieder in neuem Glanze auf; der Luxemburger Garten, der verhaßte unbekannte junge Bummler, Cosettes Abkehr von ihm, kurz, all das Kummergewölk, das seine Seele verdüstert hatte, war verschwunden. Es kam so weit, daß er oft dachte: »Das habe ich alter Narr mir blos eingebildet!«

Diese Glücksempfindung war so stark, daß die gänzlich unerwartete Wiederbegegnung mit den Thénardiers nur einen schwachen Eindruck auf ihn machte. Daß es ihm gelungen war, zu entkommen, seine Spur zu verwischen, war ja die Hauptsache. Im Uebrigen dachte er an die Elenden nur, um sie zu beklagen. Sie waren jetzt im Gefängniß und somit unschädlich gemacht, aber leider steckte nun wieder eine Familie mehr im tiefsten Elend!

Was die Galeerensklaven betrifft, so hatte Cosette ihrer gleichfalls keine Erwähnung mehr gethan.

Im Kloster hatte Cosette in der Musik und im Gesang von Schwester Sankta Mechtilda Unterricht empfangen. Ihre Stimme war lieblich, wie die einer Heidelerche, nur seelenvoller, und oft sang sie des Abends dem Verwundeten schwermüthige Lieder vor, die sein Herz erfreuten.

Der Frühling kam und der Garten war in dieser Jahreszeit so schön, daß Jean Valjean Cosette mahnte, sie solle ihre Spaziergänge darin wieder aufnehmen. »Wie Du willst, Papachen!« sagte sie.

Sie blieb im Garten meistentheils allein, denn Jean Valjean wagte sich, offenbar aus Furcht, von der Straße aus gesehen zu werden, fast nie hinein.

Jean Valjean’s Wunde erwies sich als ein treffliches Ableitungsmittel für den Kummer Beider.

Als Cosette sah, daß ihres Vaters Krankheit abnahm, und daß er sich glücklicher fühlte, empfand sie eine Zufriedenheit, deren sie nicht einmal inne wurde; so allmählich und natürlich überkam sie dieses Gefühl. Zudem war man im Monat März, die Tage wurden länger und der Winter ging zu Ende, der Winter, der immer einen Theil unsrer Bekümmernisse mit sich nimmt; dann kam der April, die Morgenröthe des Sommers, kühl wie jeder Tagesanfang, heiter wie die Kindheit, wenn auch, als Neugeborner, etwas zum Weinen aufgelegt. Der Wiederschein des Frühlingslichtes, das in diesem Monat das Firmament, die Wolken, Bäume, Wiesen, Blumen bestrahlt, hellt auch das Menschenherz auf.

Cosette war noch zu jung, als daß die ihrem Wesen verwandte Lenzeslust sich ihr nicht hätte mittheilen sollen. Allmählich und ohne daß sie es merkte, wich die düstre Stimmung aus ihrem Gemüth. Im Frühjahr leuchtet helles Licht in das Herz hinein, wie am Mittag das Sonnenlicht in die Keller. Wenn Cosette gegen zehn Uhr Morgens, nach dem Frühstück, wenn es ihr geglückt war, ihren Vater auf ein Viertelstündchen in dem Garten zu schleppen, ihn vor der Freitreppe herumführte, indem sie seinen schlimmen Arm hielt, wurde sie es gar nicht gewahr, daß sie jeden Augenblick lachte und sich glücklich fühlte.

Von Freude berauscht, sah Jean Valjean, daß sie wieder rosig und munter auszusehen begann.

»Was solch eine böse Wunde doch für gute Folgen haben kann!« dachte er dann wieder und war den Thénardiers dankbar.

Endlich, nachdem der Arm geheilt war, nahm er seine einsamen Spaziergänge im Dämmerlicht wieder auf.

Es wäre aber ein Irrthum, wollte man glauben, man könne in der einsamen Umgegend von Paris in völliger Sicherheit spazieren gehen.

Wie Mutter Plutarque ein Wunder erklärt

Eines unschönen Tages hatte der kleine Gavroche nichts zu essen und konnte sich auch nicht aus dem Sinn schlagen, daß er Tags zuvor auch nicht gespeist hatte. Die Sache wurde also nachgerade langweilig, und er faßte den Entschluß, das Versäumte noch am selben Tage nachzuholen. Zu diesem Zwecke streifte er jenseit der Salpétrière herum, weil in öden Gegenden noch am meisten zu finden ist. Wo Niemand ist, da ist etwas. Auf diese Weise kam er in eine Ortschaft, die ihm das Dorf Austerlitz zu sein schien.

Hier war ihm bei einer früheren Expedition ein alter Garten aufgefallen, indem ein alter Mann und eine alte Frau umgingen, und in dem Garten stand ein leidlicher Apfelbaum. Neben diesem Baum war ein schlecht verschlossener Obstkeller, aus dem man sich einen Apfel stibizen konnte. Aepfel aber genügen zum Abendessen. Was Adam zum Verderben ausschlug, konnte unserm Gavroche zum Heil gereichen. An dem Garten zog sich eine ungepflasterte Gasse entlang, die an dieser Stelle mit Gesträuch eingefaßt und von jenem nur durch eine Hecke getrennt war.

Gavroche marschirte also auf den Garten los, fand die eingepflasterte Gasse, erkannte den Apfelbaum und den Obstkeller. Ein Blick auf die Hecke überzeugte ihn, daß es ihm ein Leichtes sein werde, hinüber zu kommen. Schon schickte er sich dazu an, als er auf der andern Seite sprechen hörte, und inne hielt, um erst durch ein Loch in der Hecke hindurch zu sehen.

Zwei Schritte von ihm, auf der andern Seite der Hecke, gerade an der Stelle, wo er durchbrechen wollte, lag ein Stein, auf dem der bejahrte Insasse des Gartens saß, und vor ihm stand die alte Frau, die nicht gut aufgeräumt schien. Ohne die geringste Rücksicht auf die Regeln des guten Tons behorchte Gavroche das Gespräch der Beiden.

»Der Wirt ist unzufrieden,« brummte die Alte.

»Warum?«

»Weil wir ihm die Miethe für drei Vierteljahre schuldig geblieben sind.«

»In drei Monaten werden’s vier Vierteljahre.«

»Er sagt, er wird Sie an die Luft setzen.«

»Dann werde ich wohl ausziehen müssen.«

»Die Grünkramhändlerin verlangt auch ihr Geld. Sie giebt mir kein Holz mehr. Womit soll ich diesen Winter ihren Ofen heizen, Herr Mabeuf?«

»Wozu scheint denn die liebe Sonne?«

»Der Schlächter giebt auch keinen Kredit mehr.«

»Das trifft sich ja ganz gut. Ich kann Fleisch so wie so nicht vertragen.«

»Was sollen wir denn aber essen?«

»Brod.«

»Der Bäcker verlangt aber eine Abschlagszahlung. Kein Geld, kein Brod!« meinte er.

»Gut.«

»Was wollen Sie essen?«

»Wir haben ja den Apfelbaum.«

»Aber, Herr Mabeuf, man kann doch nicht so ganz ohne Geld leben.«

»Ich habe keins.«

Nun ging die Alte und der Greis blieb allein. Er war nachdenklich, und Gavroche fing auch an zu sinnieren. Mittlerweile war es dunkel geworden.

Das erste Ergebniß von Gavroche’s Ueberlegungen war, daß er sich, statt über die Hecke hinüberzusteigen, darunter niederkauerte. Die Zweige ließen nämlich unten einen kleinen Raum frei.

»I, das ist ja wie ein Alkowen!« rief Gavroche innerlich aus und setzt sich hin. Er war hier der Steinbank so nahe, daß er den alten Mann athmen hörte.

Um sich nun den Hunger zu vertreiben, versuchte er zu schlafen.

Es war aber nur ein Katzenschlummer. Gavroche machte nicht einmal die Augen ganz zu und beobachtete, was um ihn vorging.

Der Abendhimmel sandte einen weißen Lichtschimmer auf die Erde und die Gasse zeichnete sich als ein fahler Streifen von dem dunklen Gesträuch ab, das sich an beiden Seiten entlang zog.

Plötzlich erschienen auf diesem hellen Streifen zwei Schatten von menschlichen Gestalten. Der Eine ging voran, der Andre folgte in einer gewissen Entfernung.

»Hm!« dachte Gavroche.

Der Erste war ein vom Alter gebeugter, überaus einfach gekleideter Greis, der nachdenklich beim Sternenlicht spazieren ging.

Der Zweite, eine kräftige, schlanke Erscheinung, paßte seine Schritte denen des Ersten an; aber bei all seiner absichtlichen Langsamkeit merkte man ihm Gelenkigkeit und Hurtigkeit an. So unheimlich ferner sein Gebaren auch war, so gehörte er doch zu der Klasse der damaligen Gigerl. Sein Hut wies eine elegante Form auf; der schwarze Rock war kunstgerecht zugeschnitten, wahrscheinlich auch aus feinem Tuch und eng in der Taille. Die Haltung des Kopfes deutete auf eine gewisse Anmuth und Kraft; und unter dem Hut leuchtete ein blasses Jünglingsprofil hervor, das eine Rose im Mund hielt. Gavroche erkannte in ihm den Banditen Montparnasse und beobachtete alsbald die Beiden mit verdoppeltem Interesse. Offenbar folgte Montparnasse dem Alten mit heimtückischen Absichten und Gavroche war in der Lage alles mit anzusehen, ohne selber gesehen zu werden.

Das Herz wendete sich ihm im Leibe um, so leid that ihm der harmlose, alte Mann. Aber was thun? Ihm zu Hülfe kommen? Ein Schwächling einem andern? Montparnasse hätte blos gelacht. Gavroche verhehlte sich nicht, daß für den furchtbaren, achtzehnjährigen Raubmörder er und der Alte nur ein Frühstück sein würden.

Während er noch hin und her sann, erfolgte, rasch und fürchterlich, der erwartete Angriff. Im Handumdrehen ließ Montparnasse die Rose fallen, stürzte sich auf den Alten, faßte ihn beim Kragen und klammerte sich an ihn. Gavroche hatte Mühe einen Schreckensschrei zu unterdrücken. Einen Augenblick darauf lag der Eine unter dem Andern, überwältigt, stöhnend, sich krümmend, die Brust unter einem marmorfesten Knie. Aber Gavroche’s Ahnungen waren doch nicht ganz eingetroffen. Der unten lag, war Montparnasse, und auf ihm kniete der harmlose Spaziergänger.

Der Kampfplatz war nur einige Schritte von Gavroche’s Versteck entfernt.

Der Alte hatte den Stoß ausgehalten und ihn so energisch erwiedert, daß der Angreifer und der Angegriffene ihre Rollen gewechselt hatten.

»Ist das ein strammer Trottel!« dachte Gavroche.

Er konnte sich nicht enthalten, Beifall zu klatschen. Aber umsonst. Die Kämpfer waren Einer zu sehr von dem Andern in Anspruch genommen, als daß sie ihn hätten hören können.

Bald trat Stille ein. Montparnasse hörte auf, sich zu vertheidigen und Gavroche dachte einen Augenblick: »Sollte er tot sein?«

Der Alte hatte noch kein Wort gesprochen, keinen Schrei verlauten lassen. Jetzt aber richtete er sich vom Boden auf und sagte zu Montparnasse:

»Steh auf!«

Montparnasse stand auf, aber sein Gegner hielt ihn fest. Seine gedemüthigte und wüthende Haltung glich der eines Wolfes, den ein Hammel gebissen hat.

Gavroche strengte Augen und Ohren an, damit ihm vor dem Schauspiel, das ihn köstlich amüsirte, nichts entginge.

Seine uneigennützige Begeisterung für die gute Sache fand auch ihren Lohn, denn er konnte Zeuge eines tiefernsten Gespräches sein.

»Wie alt bist Du?« fragte der Sieger.

»Neunzehn Jahr.«

»Du bist stark und gesund. Warum arbeitest Du nicht?«

»Weil mir die Arbeit sehr öde vorkommt.«

»Hast Du ein Handwerk gelernt?«

»Ja. Das Faulenzen.«

»Laß die schlechten Witze und sei vernünftig. Kann man etwas für Dich thun? Was willst Du werden?«

»Spitzbube.«

Nun trat Stillschweigen ein. Der Alte sah sehr nachdenklich aus. Er stand regungslos da, ließ aber Montparnasse nicht los.

Von Zeit zu Zeit nahm der gewandte junge Bandit, unvermuthet, wie ein in der Falle gefangenes Thier, den Kampf wieder auf. Er that einen heftigen Ruck, stieß nach seinem Gegner mit den Beinen, und krümmte sich wild nach allen Seiten hin, um sich loszureißen. Der Alte benahm sich dabei aber, als merkte er nichts, und hielt ihm beide Arme mit einer Hand so ruhig fest, wie dies nur dem sichern Bewußtsein der höchsten Kraft möglich ist.

Es dauerte eine Weile, bis der Alte mit seinen Gedanken fertig wurde; dann begann er mit sanfter Stimme, die Augen fest auf Montparnasse gerichtet, eine feierliche Ermahnungsrede, von der Gavroche keine Silbe verlor:

»Mein Sohn, Du stehst im Begriff Dir durch Deine Trägheit ein mühevolles Dasein zu schaffen. Also Du erklärst Dich für einen Faulpelz? Dann mache Dich auf schwere Arbeit gefaßt. Sag’ mal, Du kennst doch gewisse Maschinen, die Einen nicht wieder loslassen, wenn sie Einen auch nur beim Rockzipfel zu fassen bekommen. Solch eine heimtückische erbarmungslose Maschine ist auch die Trägheit. Kehre um, ehe es zu spät ist! Thust Du’s nicht, so wird Dich die eiserne Hand der unerbittlichen Arbeit packen und dann ist’s mit aller Ruhe für immer vorbei. Dein Brod verdienen, in einem ehrlichen Berufe Deine Schuldigkeit thun wie andre Menschen willst Du nicht; magst nicht sein wie Andere. Nun, dann wird Dir auch ein anderes Loos zu Theil werden. Aber wohlbemerkt kein arbeitsloses! Die Arbeit ist eine Naturnothwendigkeit; wer sie abweist, weil sie ihn anödet, zu dem kommt sie in der Gestalt der Strafe zurück. Willst Du nicht als Handwerker, so wirst Du dann als Sklave arbeiten. Loslassen wird die Arbeit Dich auf keinen Fall. Magst Du sie nicht zur Freundin haben, so wirst Du ihr als Neger frohnden. Du liebst nicht die ehrenhafte Müdigkeit der anständigen Menschen? Gut. So wirst Du einst wie die Verdammten in der Hölle schwitzen. Wo Andere singen, wirst Du stöhnen. Du wirst von ferne, aus der Tiefe des Abgrunds, die Andern arbeiten sehen; und es wird Dir vorkommen, als sei das eine Erholung, eine Freude, eine Belustigung. Der Pflüger, der Schnitter, der Matrose, der Schmied werden in Deinen Augen so beneidenswert sein, wie die Seligen, die im Licht des Paradieses wandeln. Du Faulpelz dagegen wirst dann ächzen, wie ein Lastthier. Also das Nichtsthun ist Dein Ideal? Nun, so merke Dir: Nicht eine Woche, nicht einen Tag, nicht eine Stunde wirst Du verleben, ohne Dich aufs äußerste schinden und plagen zu müssen. Dinge, die für Andere kinderleicht sind, wirst Du nur mit Aufbietung aller Deiner Kräfte zu Stande bringen. Der erste Beste, der aus seinem Hause gehen will, macht einfach die Thür auf und ist draußen. Willst Du ins Freie, so mußt Du Dir einen Weg durch Wände und Mauern bahnen. Was thut man, wenn man auf die Straße hinuntergehen will? Man steigt die Treppe hinab. Du dagegen wirst Deine Bettlaken zerreißen, Dir mühevoll einen Strick daraus drehen, dann zum Fenster hinausklettern, über einer fürchterlichen unbekannten Tiefe schweben, bei Nacht, bei Sturm und Regen, und ist Dein Strick zu kurz, so wirst Du nur noch eine Möglichkeit haben hinunter zu kommen: Du wirst Dich hinabfallen lassen, aufs Gerathewohl, aus jeder beliebigen Höhe. Oder Du wirst in ein Kamin und zum Schornstein hinauskriechen, auf die Gefahr hin durch den Rauch und die Flammen umzukommen. Oder Du wirst durch ein Latrinenrohr kriechen, wo Du elendiglich ersäuft werden kannst. Der Gänge zu geschweigen, die Du in der Wand anlegen wirst, der Steine, die Du zwanzig Mal des Tages herausnehmen und wieder hineinlegen, des Kalks, den Du unter Deinem Strohsack verstecken wirst. Gilt es ein Schloß zu öffnen, so hat der gewöhnliche Mensch einen von dem Schlosser verfertigten Schlüssel. Willst Du durch die Thür, so wirst Du verdammt sein, erst ein grauenvoll mühsames Kunstwerk zu Stande zu bringen. Du wirst einen Sou in zwei Hälften zerschneiden. Womit und wie? Das tiftle Du Dir dann gefälligst selber aus und verschaffe Dir, was Du dazu brauchst. Dann mußt Du die beiden Hälften aushöhlen, ein Schraubengewinde ausbohren, eine Säge in der Höhlung verbergen. Denn das Ganze muß so aussehen, wie ein gewöhnliches Geldstück, damit die Gefängnißwärter nichts merken. Mit der Säge mußt Du dann Deine Kette, die Thürriegel, die Fenstergitter durchsägen. Wenn es Dir aber nicht glückt zu entspringen, wenn es herauskommt, daß Du dies Wunderwerk von Geduld und Fleiß zu Stande gebracht hast, weist Du, welchen Lohn Du dafür empfangen wirst? In die Einzelzelle werden sie Dich sperren. So, lieber Freund, sieht die Zukunft aus, die Dir bevorsteht. Nichts verderblicheres, als der Müßiggang und die Vergnügungssucht! Das Nichtsthun ist ein gefährlicher Beruf, kann ich Dir sagen! Auf Kosten Anderer leben, der Menschheit nichts nützen, ihr also schaden, führt gerades Wegs in den Abgrund des grausigsten Elends. Wehe dem, der die Rolle des Schmarotzers spielen will! Er wird bald als Ungeziefer herumkriechen. Also es beliebt Dir nicht zu arbeiten? Du dichtest und trachtest nur danach gut zu essen, zu trinken, gemächlich zu schlafen? Lieber Freund, Du wirst Wasser trinken, schlechtes Schwarzbrod essen, in eisernen Ketten schlafen, deren Kälte Du an Deinem Leibe spüren wirst. Du wirst Dich aber der Kette entledigen, wirst aus dem Gefängniß ausbrechen? Gut. Dann wirst Du auf dem Bauch durch das Gestrüpp kriechen und Gras essen, wie das Vieh im Walde. Und dann werden sie Dich wieder einfangen und Dich auf Jahre in einem Verließ an eine Mauer anschmieden. Da wirst Du in tiefer Finsterniß nach Deinem Wasserkrug tappen, gierig nach einem Stück abscheulichen Brod langen, das kein Hund berühren würde, Dich an Saubohnen delektiren, von denen Dir die Würmer vorher das Beste weggefressen haben. So erbarme Dich doch Deiner selbst, Du Unglücklicher, der Du noch am Anfang des Lebens stehst und vielleicht noch eine Mutter hast. Beherzige, was ich Dir sage! Du willst feines schwarzes Tuch, Lackschuhe tragen, Dir die Haare brennen lassen, Dir die Locken mit duftigem Oel salben, den Dirnen gefallen, hübsch sein? Statt dessen werden sie Dir den Kopf bis auf die Haut scheren, Dir eine rothe Jacke und Pantinen anziehn. Statt goldener Ringe an den Fingern wirst Du ein viereckiges Eisen am Hals tragen. Und wenn Du ein Frauenzimmer ansiehst, wird’s Stockschläge setzen. Wenn Du dorthin kommst, wirst Du gesund und munter sein, rothe Backen, helle Augen, weiße Zähne, üppiges Haar haben. Alt, hinfällig, runzlig, verhutzelt, zahnlos, mit weißen Haaren wirst Du wieder herauskommen. Armer Junge, Du bist auf einem Irrweg, Deine Arbeitsscheu ist eine schlechte Rathgeberin. Glaube mir, es giebt keine schwerere Arbeit, als den Diebstahl, keine so mühselige, als das Nichtsthun. Die Hallunken haben’s schwerer auf der Welt als die ehrlichen Leute. Jetzt geh und überlege Dir, was ich Dir gesagt habe. Beiläufig gesagt, was wolltest Du vorhin von mir? Meine Börse? Da hast Du sie!«

Mit diesen Worten ließ er Montparnasse los und gab ihm seine Börse, die der Räuber in der Hand wog, um sie dann mit derselben mechanischen Vorsicht, als hätte er sie gestohlen, in die Hintertasche seines Rockes gleiten zu lassen.

Hierauf wandte der Alte ihm den Rücken und setzte ruhig seinen Spaziergang wieder fort.

»Alter Stiesel!« schimpfte leise Montparnasse.

Wer der Alte war, wird der Leser ja wohl errathen haben.

Verblüfft schaute ihm Montparnasse nach, bis er in der Dämmerung verschwunden war.

Diese Zerstreutheit brachte ihm aber Schaden, denn während der Alte sich entfernte, schlich sich Gavroche heran.

Nachdem er sich nämlich vergewissert hatte, daß Vater Mabeuf vielleicht schlief, jedenfalls aber noch auf der Bank saß, kam der Junge aus dem Gebüsch hervor und kroch im Schatten auf den regungslosen Montparnasse zu. Er gelangte auch, ohne von ihm gesehen oder gehört zu werden, dicht an ihn heran; ließ sacht die Hand in die hintere Rocktasche des Strolches gleiten, zog sie wieder heraus und kroch in der Dunkelheit leicht wie eine Schlange davon. Montparnasse, der keine Veranlassung hatte, auf seiner Hut zu sein, und zum ersten Mal in seinem Leben nachdenklich gestimmt war, merkte nichts. Gavroche aber ging an die Stelle zurück, wo Vater Mabeuf saß, warf die Börse über die Hecke und rannte spornstreichs davon.

Die Börse fiel dem Alten auf den Fuß und weckte ihn. Er bückte sich, langte sie vom Boden auf und begriff nicht, was das bedeuten sollte, dann machte er sie auf und fand in dem einen Abtheil etwas kleines Geld, in dem andern sechs Napoleond’or.

Ganz außer sich vor Verwunderung brachte er das Ding seiner Wirtschafterin.

»Das sendet der Himmel!« meinte Mutter Plutarque.

Schlechter Anfang, gutes Ende

Die Kaserne neben der Einöde

So tief auch vor vier bis fünf Monaten der Kummer Cosette in die Seele geschnitten hatte, sie fing jetzt an zu genesen, ohne es selber zu merken. Die Natur, der Frühling, die Jugend, die Liebe zu ihrem Vater, der fröhliche Gesang der Vögel, die Farbenpracht der Blumen träufelten allmählich, Tag aus Tag ein, in ihre junge Seele etwas, das der Vergessenheit ähnlich sah. Erlosch das Feuer ganz? Oder glomm es unter der Asche weiter? So viel ist gewiß, daß sie fast keinen stechenden Schmerz mehr fühlte.

Eines Tages dachte sie plötzlich an Marius. »Ich vergesse ihn ja ganz!« sagte sie in ihrem Innern.

In derselben Woche sah sie einen sehr hübschen Kavallerieoffizier vor dem Garten vorübergehen. Eine Wespentaille, eine kleidsame Uniform, rosige Backen, den Säbel unter dem Arm, ein keck emporgedrehter Schnurrbart, eine lackirte Tschapka. Wie gesagt, ein Ideal von Lieutenant. Ferner blonde Haare, hervorstehende blaue Augen, ein rundes, eitles, unverschämtes und hübsches Gesicht; also gerade das Gegentheil von Marius. Auch mit einer Cigarre im Munde. — Cosette vermuthete, daß der Offizier zu dem in der Rue de Babylon kasernirten Lanzenreiterregiment gehörte.

Am folgenden Tage sah sie ihn wieder vorbeikommen und merkte sich, wieviel Uhr es war.

Von diesem Tage an kam der Offizier — ob zufälligerweise? — jeden Tag vor dem Pavillon vorbei.

Bald bemerkten auch seine Kameraden, daß in dem »schlecht gepflegten« Garten, hinter dem häßlichen Rococogitter ein recht hübsches Mädel wohnte und sich fast immer im Garten aufhielt, wenn der unsern Lesern wohlbekannte hübsche Lieutenant Théodule Gillenormand vorüberging.

»Sag’ mal, hast Du Dir schon die Kleine angeguckt, die Dich immer so verliebt ansieht?«

»Hab’ ich denn die Zeit dazu, alle die Mädel zu beachten, die mir nachsehen?« erwiderte der Lieutenant.

Es geschah dies gerade in der Zeit, wo Marius’ Lebenslicht schwächer brannte und er sich danach sehnte, sie nur noch einmal vor seinem Tode sehen zu können. Wäre ihm dieser Wunsch erfüllt worden, hätte er gesehen, daß seine Cosette einen Lieutenant ihrer Beachtung wert hielt, er hätte kein Wort mehr hervorbringen können und wäre auf der Stelle entseelt zusammengebrochen.

Wessen Schuld war das? Niemandes.

Marius war einer von den Charaktern, die sich in ihren Kummer immer tiefer hineinwühlen und darin verharren; Cosette gehörte zu denen, die sich hineinstürzen und sich wieder herausarbeiten.

Cosette befand sich auch gerade in einer gefährlichen Gemütsverfassung, wo das Lebensglück sich selbst überlassener junger Mädchen der Laune des Zufalls überantwortet ist. Sie treffen dann eine folgenschwere Entscheidung genau in derselben Weise wie die Weinranken sich um das Kapitäl einer Palast- oder einer Spelunkensäule schlingen, nämlich aufs Gerathewohl. Dieser Gefahr ist jede Waise ausgesetzt, ob sie arm oder reich ist; denn der Reichthum schützt sie nicht davor, daß sie eine schlechte Wahl trifft, einen Liebesbund mit einem Manne eingeht, der ihrer nicht wert ist. Eine Mißheirat kann man aber auch mit einem sehr vornehmen Manne schließen, denn eine wahre Mißheirat besteht darin, daß die Seelen nicht zusammenklingen, und wie manch ein unberühmter, junger Mann niedriger Herkunft und ohne Vermögen eine schöne Marmorsäule ist, die einen Tempel voll edler Gefühle und stolzer Gedanken trägt, so ist mancher selbstzufriedene und reiche Weltmann mit blanken Stiefeln und glatten Worten, wenn man nicht auf sein Aeußeres sieht, sondern auf sein Inneres, also das, was er seiner Frau vorbehält, nichts Anderes als ein unedler Balken, der nur für eine gemeine Spelunke, den Tummelplatz der niedrigsten Leidenschaften paßt.

Was barg damals Cosette’s Seele? Eine abgeschwächte oder eingeschlafene Liebe; ein Meer, das oben klar and hell, in der Mitte trübe, in der Tiefe ganz dunkel war. Das Bild des hübschen Lieutenants spiegelte sich nur an der Oberfläche wieder. Ob unten noch eine Erinnerung weilte? Vielleicht! Aber das wußte Cosette selber nicht.

Da ereignete sich ein merkwürdiger Zwischenfall.

In tausend Ängsten

In der ersten Hälfte des Monats April verreiste Jean Valjean. Dies pflegte er, wie dem Leser erinnerlich sein wird, von Zeit zu Zeit in längeren Zwischenräumen zu thun. Er blieb dann einen, höchstens zwei Tage weg. Wo er dann hinging, wußte Niemand, auch Cosette nicht. Nur einmal hatte sie ihn bei der Abreise in einer Droschke bis zu einer Sackgasse begleitet, wo sie auf dem Straßenschild: »Impasse de la Planchette« gelesen hatte. Auf diese kurzen Reisen begab sich Jean Valjean gewöhnlich, wenn das Geld zu Hause ausging.

Jean Valjean war also verreist. »In drei Tagen bin ich wieder hier!« hatte er gesagt.

Am Abend befand sich Cosette allein im Salon. Um sich die Langeweile zu vertreiben, machte sie ihr Harmonium auf und sang, indem sie sich dazu begleitete, den Chor der Euryanthe, das Schönste vielleicht, das je in der Musik geschaffen worden ist. Als sie damit zu Ende gekommen war, blieb sie in Gedanken verloren sitzen.

Plötzlich war ihr, als höre sie Jemand im Garten gehen.

Ihr Vater konnte es nicht sein, denn der war verreist. Die Toussaint, die im Bett lag, auch nicht. Es war zehn Uhr Abends.

Sie trat an den geschlossenen Fensterladen des Salons und legte das Ohr daran.

Jetzt kam es ihr vor, als wenn sie unten den leisen Schritt eines Mannes hörte.

Sie eilte die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer und blickte durch ein Guckfenster, das in dem einen Fensterladen angebracht war, in den Garten. Trotzdem es aber Vollmond war und so hell wie am Tage, konnte sie Niemanden sehen.

Sie machte jetzt das Fenster auf. Unten lag der Garten und was man von der Straße sehen konnte, so ruhig da wie immer.

Cosette sagte sich, sie habe sich geirrt, es liege eine Sinnestäuschung vor, hervorgebracht durch Webers schaurigen und wunderbaren Chor, bei dessen Klängen der Geist haltlos in unermeßliche Tiefen stürzt, das innere Auge einen dämmrigen Zauberwald vor sich wogen sieht und das Ohr dürre Zweige unter den Füßen der Jäger knacken zu hören glaubt.

Sie schlug sich also die Sache aus dem Sinn.

Uebrigens war auch Cosette von Natur nicht sehr schreckhaft. Hatte sie doch von ihrer Mutter manchen zigeunerhaften Charakterzug geerbt und ähnelte mehr der Lerche als der Taube. Sie war dreist und muthig.

Am nächsten Tage ging sie bei Einbruch der Nacht im Garten spazieren. Auch dies Mal glaubte sie, während sie, von verworrenen Gedanken umsponnen, langsam dahinwandelte, ein ähnliches Geräusch wie Tags zuvor zu hören; aber sie beruhigte sich bei der Erwägung, daß zwei Aeste, die sich bewegen und sich aneinander reiben, so ziemlich denselben Eindruck auf das Gehör machen, wie Schritte eines Menschen im Grase; sie achtete also nicht besonders darauf und sah auch nichts Verdächtiges.

Endlich ging sie aus dem Gestrüpp heraus und wollte, um nach der Freitreppe zu gelangen, einen kleinen Rasenplatz überschreiten. Der Mond, der eben hinter ihr aufgegangen war, warf in diesem Augenblick ihren Schatten gerade vor sie hin.

Plötzlich blieb sie starr vor Schrecken stehen.

Neben ihrem Schatten sah sie auf dem Rasen noch einen zweiten, schrecklichen und unheimlichen, den Schatten eines Mannes mit einem runden Hute, der wohl an dem Saum des Gebüsches, einige Schritte hinter Cosette stand.

Eine Minute lang hatte sie nicht die Kraft, zu sprechen, zu schreien, zu rufen, sich zu rühren, den Kopf zu bewegen.

Endlich raffte sie allen ihren Muth zusammen und drehte sich entschlossen um.

Kein Mensch war hinter ihr zu sehen.

Sie sah auf die Erde. Der Schatten war verschwunden.

Sie eilte kühn in das Gestrüpp zurück, suchte überall, ging bis ans Gitter vor und fand nichts.

Trotzdem konnte sie den Schreck nicht gleich verwinden. War es denn möglich, daß sie sich wieder geirrt hatte? Zwei Tage hintereinander? Eine Sinnestäuschung, nun ja! Aber zwei? Besonders ängstigte es sie, daß der Schatten ganz gewiß kein Phantom war. Phantome tragen keine runden Hüte.

Den nächsten Tag kam Jean Valjean von der Reise zurück. Cosette erzählte ihm, was sie gesehen und gehört hatte. Sie erwartete, daß ihr Vater sie beruhigen, die Achseln zucken und sie eine Thörin schelten würde.

Statt dessen zeigte er aber eine sorgenvolle Miene, sagte jedoch:

»Es steckt gewiß nichts Besonderes dahinter.«

Gleich darauf aber schützte er etwas vor, um sich in den Garten zu begeben, und Cosette beobachtete ihn, wie er sich das Gitter sehr genau ansah.

In der Nacht erwachte sie plötzlich. Dieses Mal war sie ihrer Sache vollkommen sicher, sie hörte Schritte in der Nähe der Freitreppe, unter ihrem Fenster. Da sprang sie aus dem Bette und öffnete das Klappfenster. Im Garten stand in der That ein Mann mit einem dicken Knüttel in der Hand. Eben wollte sie schreien, als der Mond sein Licht auf das Profil des Mannes warf. Es war ihr Vater.

»Er muß doch Angst haben!« dachte sie, während sie sich wieder ins Bett legte.

Auch in den beiden folgenden Nächten sah sie durch den Fensterladen Jean Valjean im Garten Wache stehen.

In der dritten Nacht — der Mond nahm ab und begann später aufzugehen — hörte sie gegen ein Uhr Morgens ihren Vater unten laut lachen und sie rufen:

»Cosette!«

Sie stand auf, zog ihren Morgenrock an und machte ihr Fenster auf.

Ihr Vater stand unten auf dem Rasenplatz.

»Ich wecke Dich, um Dich zu beruhigen. Sieh her. Da ist der Schatten mit dem runden Hut.«

Und er zeigte ihr auf dem Rasen einen Schatten, der allerdings dem eines Mannen mit einem runden Hut ähnlich war. Er kam von dem Schornstein eines benachbarten Hauses, der mit einer runden Haube bedeckt war.

Cosette lachte jetzt auch, ihre Angst vor dem nächtlichen Graus verschwand, und am nächsten Tage scherzte sie bei Tische mit ihrem Vater über den gruseligen Schornstein.

Jean Valjean sah wieder vollkommen beruhigt aus; was Cosette anbetrifft, so achtete sie nicht besonders darauf, ob der Schornstein auch wirklich in der Richtung des Schattens lag, den sie gesehen oder zu sehen geglaubt hatte, und ob der Mond auch an derselben Stelle stand. Auch dachte sie nicht weiter über den eigenartigen Schornstein nach, der sich nicht von ihr ertappen lassen wollte und vor ihr zurückgewichen war, als sie seinen Schatten erblickte; denn verschwunden war der Schatten gerade, als Cosette sich umdrehte. Sie gewann also ihre alte Gemüthsruhe wieder, ließ Jean Valjean’s Erklärung gelten und vergaß, daß es Jemand geben könne, der des Abends und des Nachts im Garten herumginge.

Einige Tage darauf ereignete sich jedoch ein neuer Zwischenfall.

Noch mehr Angst

Nahe dem Gartengitter stand eine steinerne Bank, die gegen die Straße hin durch eine Hagebuchenhecke neugierigen Blicken entzogen war, die aber ein Vorübergehender durch die Hecke hindurch mit der Hand erreichen konnte.

An einem Abend desselben Aprilmonats nun war Jean Valjean ausgegangen und Cosette hatte sich nach Sonnenuntergang auf diese Bank gesetzt. Ein kühler Wind fuhr durch die Bäume, das junge Mädchen war nachdenklich; allmählich überkam sie eine Schwermuth, über deren Ursache sie sich keine Rechenschaft hätte geben können, jene unwiderstehliche Traurigkeit, die der Abend in seinem Gefolge mit sich führt und vielleicht mit dem Mysterium des dann offnen Grabes zusammenhängt.

Wer weiß, ob nicht der Geist ihrer Mutter sie umschwebte?

Cosette stand nach einer Weile auf, ging langsam im Garten herum und bemerkte trotz der melancholischen Träumerei, die ihren Geist im Banne hielt, daß die Pflanzen vom Abendthau benetzt waren. »Man müßte sich wirklich,« dachte sie, »Holzschuhe anziehen, wenn man des Abends im Garten spazieren gehen will. Sonst erkältet man sich.«

Dann kehrte sie zur Bank zurück.

In dem Augenblick, wo sie sich hinsetzen wollte, bemerkte sie an der Stelle, wo sie vorhin gesessen, einen Stein, der ganz gewiß kurz zuvor nicht dagelegen hatte.

Cosette betrachtete ihn und fragte sich, was das heißen sollte. Plötzlich stieg der Gedanke in ihr auf, daß der Stein nicht von selber auf die Bank gekommen sein könne, daß Jemand ihn hingelegt, den Arm durch das Gitter gesteckt habe. Da erschrak sie heftig, lief davon, ohne sich umzusehen, flüchtete sich in das Haus und verschloß, verriegelte, verrammelte die Glasthür der Freitreppe.

»Ist mein Vater nach Hause gekommen?« fragte sie dann die Toussaint.

»Noch nicht, Fräulein.«

Wir haben schon angegeben, daß die Toussaint stotterte; es widerstrebt uns aber, da es sich um ein körperliches Gebrechen handelt, mit der Bezeichnung ihrer Aussprache fortzufahren.

Jean Valjean kehrte in Folge seiner Gewohnheit des Nachts spazieren zu gehen und viel nachzudenken, sehr oft erst spät nach Hause zurück.

»Toussaint,« fuhr Cosette fort, »Sie haben doch am Abend die Fensterläden gut zugemacht und die Stangen vorgelegt und sie in den Ringen gut befestigt?«

»O seien Sie unbesorgt, Fräulein!«

Die Toussaint unterließ diese Vorsichtsmaßregeln nie und Cosette wußte das recht gut, aber sie konnte nicht umhin noch hinzuzufügen:

»Es ist hier so schrecklich einsam!«

»Ja, das ist wahr. Man kann hier ermordet werden, ehe man die Zeit findet Au! zu sagen. Wenn der Herr wenigstens noch zu Hause bliebe. Aber fürchten Sie nichts, Fräulein. Eine Festung kann nicht besser verrammelt sein, als ich unser Haus verschließe und verrammle. Zwei Frauen, die ganz allein sind! Da muß man ja Angst kriegen. Wenn man sich das vorstellt, daß man mit einem Mal in der Nacht einen Kerl vor sich sieht, und er sagt: ›Schweig still!‹ und schneidet Einem den Hals ab. Der Tod selber ist es ja nicht, wovor man sich fürchtet. Man weiß ja, daß man sterben muß, und denkt: ›Na, ist gut.‹ Aber das ist doch ein gräulicher Gedanke, daß Einen solch ein Kerl anfassen wird. Und die Messer, die solche Leute haben, sind gewiß nicht hübsch scharf. Gott, erbarme Dich!«

»Schweigen Sie und sehen Sie nach, ob alles fest zugemacht ist.«

Entsetzt über das Schauerdrama, das die Toussaint entworfen hatte, und vielleicht auch der unheimlichen Erscheinungen im Garten eingedenk, wagte Cosette nicht einmal zu ihr zu sagen: »Gehen Sie doch mal nach der Bank und sehen Sie Sich den Stein an, den Einer da hingelegt hat.« Sie fürchtete nämlich, wenn die Magd die Thür aufmachen würde, um sich in den Garten zu begeben, könnte unterdessen ein »Kerl« hereinkommen. Sie ließ also bloß alle Thüren und Fenster aufs sorgfältigste verschließen, das ganze Haus von oben bis unten nach »Kerlen« durchsuchen, schloß sich dann in ihrem Zimmer ein, verriegelte die Thür, sah unter das Bett, begab sich zur Ruhe und schlief sehr unruhig. Die ganze Nacht träumte sie von einem Stein, der so groß wie ein Berg und voller Höhlen war.

Als die Sonne aufging — bekanntlich verscheucht das Tageslicht alle nächtlichen Schrecknisse und man lacht dann über sich selbst um so mehr, je mehr man sich geängstigt hat — bei Sonnenaufgang erwachte Cosette und redete sich ein, das Ganze sei nur ein böser Traum, ein Erzeugnis ihrer Furchtsamkeit gewesen. »Wie bin ich bloß dazu gekommen, daß ich mir so etwas eingebildet habe? Es ist dieselbe Geschichte, wie die Schritte, die ich vorige Woche im Garten zu hören glaubte, wie der Schatten des Schornsteins. Werde ich denn wieder graulig werden, wie ein kleines Kind?«

Sie kleidete sich an, stieg in den Garten hinab, eilte auf die Bank zu und — kalter Angstschweiß trat ihr vor die Stirn. Der Stein lag doch da!

Aber die Aufregung dauerte nicht lange. Die Furcht verwandelte sich rasch in Neugierde.

»Ach was! Ich kann ihn mir doch ansehn.«

Sie hob den Stein, der ziemlich groß war, auf. Es lag etwas darunter, das wie ein Brief aussah.

Es war ein Umschlag aus weißem Papier. Auf der einen Seite keine Adresse, auf der andern kein Siegel. Aber das Couvert war nicht leer.

Mit fieberhafter Eile riß Cosette ein kleines Heft heraus, dessen Seiten numerirt und beschrieben waren. Die Handschrift gefiel Cosette und schien ihr sehr fein zu sein.

Name und Unterschrift fehlten. An wen konnte die Sendung adressirt sein? Doch nur an sie selber, da das Packet auf ihre Bank gelegt worden war. Von wem kam es? Ein unwiderstehlicher Drang überkam sie, das Heft zu lesen. Zwar sträubte sie sich noch einen Augenblick, wendete ihren Blick von der Blättern ab, die sie in ihren zitternden Händen hielt, betrachtete den Himmel, die Straße, die vom Sonnenlicht durchschimmerten Akazien, einen Schwarm Tauben, der auf ein Dach flog. Dann aber richteten sich ihre Augen wieder lebhaft auf das Manuskript und sie beschloß, daß sie wissen müßte, was darin stände.

Es lautete folgendermaßen:

Ein Herz unter einem Stein

Die Verkleinerung des Weltalls zu einem einzigen Wesen, die Erhöhung eines einzigen Wesen zum Range der Gottheit ist Liebe.

Die Liebe ist der Gruß, den die Engel den Gestirnen darbringen.

Wie kummervoll doch Liebeskummer macht!

Welche Leere, wenn das Wesen fern ist, das dem Liebenden die ganze Welt ausfüllt! Ja, es ist wirklich wahr, daß das geliebte Wesen ein Gott wird. Man begreift, daß der Herrgott neidisch werden könnte, hätte nicht der Urheber aller Dinge die Welt für die Seele und die Seele für die Liebe geschaffen.

Ein Lächeln unter einem weißen Florhut mit lila Schleier — und die Seele betritt den Palast der Träume.

Gott steckt hinter allem, aber alles versteckt Gott. Die Dinge sind dunkel, die Geschöpfe undurchsichtig. Ein Wesen lieben heißt es durchsichtig machen.

Gewisse Gedanken sind Gebete. Es giebt Augenblicke, wo, welches auch die Haltung des Körpers sein mag, die Seele auf den Knieen liegt.

Liebende, die fern von einander weilen, täuschen sich über ihre Trennung mit tausenderlei Einbildungen hinweg, die doch ihre Wirklichkeit haben. Hindert man sie, sich zu begegnen, können sie sich keine Briefe schreiben, so finden sie eine Menge geheimer Mittel, um mit einander zu verkehren. Sie senden einander den Gesang der Vögel, den Duft der Blumen, das Lachen der Kinder, das Licht der Sonne, die Seufzer des Windes, die Strahlen der Sterne, die ganze Schöpfung. Warum sollten sie auch nicht? Alle Werke Gottes sind geschaffen, der Liebe dienstbar zu sein. Die Liebe ist mächtig genug, die ganze Natur mit ihren Botschaften zu beauftragen.

Frühling! Du bist ein Brief, den ich an sie schreibe.

Die Zukunft gehört noch weit mehr dem Herzen, als dem Verstande. Die Liebe ist das Einzige, das die Ewigkeit zu beschäftigen und auszufüllen vermag. Zum Unendlichen gehört das Unerschöpfliche.

Die Liebe gleicht in ihrem Wesen der Seele. Sie ist von gleicher Beschaffenheit, ein göttlicher Funke, unverderblich, untheilbar, unvergänglich. Ein Feuer in uns, das unsterblich und unendlich ist, das nichts beschränken und nichts auslöschen kann. Man fühlt seine Glut im innersten Mark und sieht es bis in die Tiefen des Himmels strahlen.

O Liebe! Welche Lust, wenn Zwei sich verstehen, ihre Herzen austauschen, ihre Blicke in einander versenken! Nicht wahr, Glück, ich lerne Dich noch kennen? Ich werde noch mit ihr lustwandeln, wo keines Menschen Ohr uns belauscht, kein Auge uns sieht? Mir hat bisweilen geträumt, daß Stunden, wie die Engel sie verleben, auch manchmal Menschen zu Theil werden.

Gott kann das Glück Derer, die sich lieben, nur erhöhen, insofern er ihnen ein endloses Leben giebt. Nach einem Leben voller Liebe ist eine Ewigkeit voller Liebe allerdings eine Steigerung. Aber das unsagbare Glück, das die Liebe schon in dieser Welt der Seele spendet, in Bezug auf seine Stärke zu vermehren, ist unmöglich. Das vermag selbst Gott nicht. Gott ist die Erfüllung des Himmels; die Liebe die Erfüllung des Menschen.

Du betrachtest einen Stern aus zwei Gründen, weil er licht und weil er unerforschlich ist. In Deiner Nähe weilt ein sanfteres Licht und ein unergründlicheres Geheimniß, das Weib.

Wir hängen alle in Bezug auf unsere Lebensbedingungen von bestimmten Wesen ab. Fehlen sie uns, so fehlt uns die Luft, so ersticken wir. Aus Mangel an Liebe sterben ist schrecklich, ist die Asphyxie der Seele.

Hat die Liebe zwei Wesen zu einer himmlischen, heiligen Einheit verbunden, so ist für sie das Räthsel des Lebens gelöst. Sie sind dann nur noch die beiden Endpunkte desselben Geschicks, die beiden Fittiche desselben Geistes. Liebet, schwebet!

An dem Tage, wo Du einem Weibe begegnest und Du sie für eine verklärte Lichtgestalt hältst, bist Du verloren, denn Du liebst. Du hast dann nur noch eine Rettung: Denke an sie so energisch, daß sie gezwungen ist, an Dich zu denken.

Was die Liebe beginnt, kann nur von Gott vollendet werden.

Wahre Liebe empfindet Kummer und Freude über einen verlorenen Handschuh oder ein gefundenes Taschentuch und bedarf der Ewigkeit zu ihrer Aufopferung und Hoffnung. Sie besteht zugleich aus unendlich Großem und Kleinem.

Unter den Mineralien ist der anziehende Magnet, unter den Pflanzen die feinfühlige Mimose, unter den Menschen der Liebende der Trefflichste.

Nichts genügt der Liebe. Besitzt man das irdische Glück, so verlangt man nach Paradieseswonne; ist man im Paradies, so will man in den Himmel.

O ihr, die ihr liebet, alles dies ist in der Liebe enthalten. Versteht nur, es in ihr zu finden. Die Liebe hat mit dem Himmel die Betrachtung gemein und besitzt noch etwas Höheres, die Lust.

Kommt sie noch nach dem Park? Nein. — In dieser Kirche wohnt sie der Messe an, nicht wahr? Jetzt nicht mehr. — Wohnt sie noch in diesem Hause? Sie ist verzogen. — - Wohin? Sie hat es nicht gesagt.

Welche Pein nicht die Adresse seiner Seele zu wissen!

Die Liebe treibt Kindereien, die andern Triebe erniedrigen sich zu Kleinlichkeiten. Schande über die Leidenschaften, die den Menschen klein, Ehre denen, die ihn zum Kinde machen!

Merkwürdig, nicht wahr? Mich umgiebt düstere Nacht. Ein Wesen, das von mir gegangen ist, hat den Himmel mitgenommen.

O, neben einander in demselben Grabe, Hand in Hand, zu liegen, und in der Dunkelheit hin und wieder uns einen Finger liebkosend streicheln, mehr brauchte ich in der Ewigkeit nicht.

Ihr, die ihr unglücklich seid, weil ihr liebet, liebet noch stärker. An der Liebe sterben, heißt durch sie leben.

Liebet. Mit dieser Qual ist eine hehre Verklärung verbunden. Hohe Wonne neben schrecklicher Todespein.

O Freude der Vögel! Daß sie ein Nest haben, treibt sie zu singen.

Die Liebe ist eine himmlische Athmung von Paradiesesduft.

Wer tief zu empfinden, weise zu denken versteht, der nehme das Leben, wie Gott es eingerichtet hat, als eine lange Prüfung, eine unverständliche Vorbereitung für das unbekannte Geschick. Dieses Geschick, das einzig wahre, beginnt für den Menschen mit der ersten Stufe, die ins Innre des Grabes führt. Dann bekommt er etwas zu schauen, dann fängt er an, das Endgültige zu ahnen. Dieses Wort merket Euch. Die Lebenden sehen das Unendliche; das Endgültige zeigt sich nur den Toten. Einstweilen liebet und leidet, hoffet und betrachtet. Wehe dem, der nur Körper, Formen, eitlen Schein geliebt hat! Ihm wird der Tod alles nehmen. Suchet die Seelen zu lieben und ihr werdet sie dermaleinst wiederfinden.

Ich bin auf der Straße einem jungen Mann, der liebte, begegnet. Er trug einen alten Hut, einen fadenscheinigen Rock; er hatte Löcher an den Ellbogen; durch die Sohlen seiner Stiefel flutete das Wasser und durch seine Seele Himmelslicht.

Wie herrlich, geliebt zu werden! Und wieviel herrlicher noch ist es, wenn man liebt! Das Herz wird heldenmüthig, besteht nur noch aus Reinem, stützt sich nur auf Schönes und Großes. In ihm kann eben so wenig ein unedler Gedanke keimen, wie auf einem Gletscher eine Brennnessel. Niederen Trieben und Empfindungen unzugänglich, erhaben über die Erbärmlichkeiten, die Thorheit, die Lüge, den Haß, die Nichtigkeiten dieser Welt schwebt die Seele im Blau des Himmels und fühlt, so wie die Spitzen der Berge, nur noch die Erschütterungen des Geschicks, die Erdbeben.

Gäbe es Niemand, der liebt, so würde die Sonne erlöschen.

Nach der Lektüre des Briefes

Während sie diese Zeilen las, gab sich Cosette mehr und mehr süßen Träumereien hin. Als sie die Augen von dem letzten Worte aufhob, ging gerade der hübsche Offizier mit sieghafter Miene vorüber. Cosette dachte: »Ein greulicher Mensch!«

Darauf begann sie sich das Heft mit den Gedankensplittern genauer anzusehen. Dieselbe reizende Handschrift; aber bald schwärzere, bald hellere Tinte, so daß die Reflexionen an verschiedenen Tagen niedergeschrieben sein mußten, ohne Plan, ohne Ordnung, ohne Wahl, wie sie in dem Herzen des Verfassers aufgetaucht waren. So etwas Herrliches hatte Cosette noch nicht gelesen. Ihr war, als betrete sie ein Heiligthum, als flute ihr aus jeder Zeile ein neues, ungeahntes Licht entgegen. Die Erziehung, die sie empfangen, hatte immer nur auf die Seele Rücksicht genommen, nie von der Liebe gesprochen, gleichsam als wenn Jemand das Wesen des Feuerbrandes erläutern wollte, ohne der Flamme zu erwähnen. Diese fünfzehn Seiten offenbarten ihr mit einem Schlage und in sanfter Weise, was die Liebe, das Herzeleid, das Geschick, das Leben, die Ewigkeit, der Anfang, das Ende sei. Es war, als hätte sich eine Hand aufgethan und plötzlich einen Bündel Strahlen in das Dunkel ihrer Seele geworfen. Der diese Zeilen geschrieben, das fühlte sie, war ein liebesfähiger, edler, willensstarker, von unermeßlichem Schmerz niedergedrückter, von leidenschaftlicher Hoffnung emporgehobener, enthusiastischer Mann. Was war das für ein Manuskript? Ein Brief ohne Adresse, ohne Unterschrift, ohne Datum, ein dringliches und uneigennütziges Schreiben, ein Räthsel voller Wahrheiten, eine Liebesbotschaft, bestimmt war, von einem Engel befördert und von einer Jungfrau gelesen zu werden, eine Bestellung zu einem Stelldichein außerhalb der Erde. Der Verfasser war Jemand, der gefaßt und hoffnungslos sich in die Arme des Todes zu flüchten bereit ist und der einer Abwesenden das Geheimniß des Schicksals, den Schlüssel des Lebens, die Liebe übermittelt. Mit einem Fuß im Grabe und einem Finger im Himmel hatte er dies geschrieben. Diese Gedanken, die einzeln auf das Papier getropft waren, entstammten der Seele.

Wer mochte sie aber beschrieben haben?

Ein Einziger, Er! sagte sie sich sofort.

Nun war es auch in ihrem Geiste wieder hell geworden. Sie empfand unbeschreibliche Freude und unsägliche Herzensangst. Also er war da! Sein Arm hatte durch das Gitter gelangt! Während sie ihn vergaß, hatte er sie wieder aufgesucht! Aber hatte sie ihn denn vergessen? Nun und nimmermehr! Welch eine Thorheit, das sie das je von sich geglaubt hatte! Sie hatte ihm immer ihre Liebe bewahrt. Das Feuer war zugedeckt gewesen, aber es hatte weiter geglimmt, war in ihr Herz eingedrungen; aber jetzt brach es von Neuem hervor und loderte hoch empor. Das Manuskript war wie ein Funke, der aus seiner Seele emporgestiegen und in die ihre gefallen war. Sie prägte sich jedes Wort in ihr Herz ein. »Ja ja! Diese Gedanken erkenne ich wieder. Das habe ich schon alles in seinen Augen gelesen!«

Als sie zum dritten Mal damit zu Ende gekommen war, schritt der Lieutenant Théodule wieder gerade vorbei und klirrte gewaltig mit den Sporen, so daß Cosette, wohl oder übel, die Augen aufschlagen mußte. »Nein, was für ein fader, einfältiger, eingebildeter, geckenhafter, unangenehmer Mensch das ist!« dachte sie. Nun ließ es sich der Offizier gar noch einfallen, sie anzulächeln. Da wandte sie sich verschämt und empört um. Am liebsten hätte sie ihm etwas an den Kopf geworfen.

Sie lief davon, ins Haus zurück, und schloß sich in ihr Zimmer, um das Manuskript wieder und immer wieder zu lesen, es auswendig zu lernen, und sich ungestört ihren Träumereien hingeben zu können. Als sie es oft genug gelesen, küßte sie es und steckte es in ihr Corsett.

Jetzt war’s um ihr geschehen. Sie war jetzt unrettbar der ätherischen Liebe verfallen.

Den ganzen Tag über umnebelte ihren Geist eine Art Betäubung, die ihr alle Klarheit des Denkens raubte. Sie brachte es nicht zu einer bestimmten Vorstellung über die neue Lage, in der sie sich befand, und bemühte sich, allen möglichen Sorgen zum Trotz, etwas von der Zukunft zu hoffen. Dabei wich ihr oft in Folge ihrer Erregtheit alle Farbe aus dem Gesicht und zeitweise erbebte sie am ganzen Leibe. Dann und wann kam es ihr vor, als sei ihr Geist von Traumnebeln umsponnen und sie betastete dann das geliebte Papier unter ihrem Kleide, drückte es an ihr Herz, und hätte Jean Valjean sie in einem solchen Augenblick gesehen, er wäre erschrocken gewesen über die ungewöhnliche Freude, die ihr aus den Augen leuchtete.

»Gewiß, gewiß kommt es von ihm!« wiederholte sie beständig.

Und auch das galt ihr für gewiß, daß gütige Engel, daß der Himmel sich selber ihrer angenommen und ihn ihr wieder zugeführt hätten.

Wie schön die Liebe alles auszulegen versteht! Die gütigen Engel waren Spitzbuben, von denen der eine dem andern aus einem Gefängnißhof in den danebenliegenden einen Kassiber hatte zukommen lassen!

Wenn Vater zur rechten Zeit ausgeht

Als der Abend kam, ging Jean Valjean aus. Cosette machte sich alsbald die Haare, wie sie ihr am besten zu Gesicht standen, und zog ein Kleid an, das die Schneiderin aus Versehen etwas zu tief ausgeschnitten hatte und das den Ansatz des Halses sehen ließ. Es war keineswegs so »indecent,« wie die Damen derartige Roben nennen und kleidete Cosette nur desto besser. Warum sie aber große Toilette machte, wußte sie nicht.

Wollte sie aus ausgehn? Nein.

Erwartete sie Besuch? Auch nicht.

Als es dämmerte, ging sie in den Garten hinab. Die Toussaint war in der nach dem Hinterhof gelegenen Küche beschäftigt.

Sie bahnte sich einen Weg durch das Gestrüpp und gelangte an die Bank.

Der Stein lag noch immer da.

Sie setzte sich und legte ihre zarte weiße Hand auf den eigenthümlichen Briefbeschwerer, als wollte sie ihn liebkosen und ihm danken.

Plötzlich hatte sie jene unerklärbare Empfindung, die uns benachrichtigt, wenn Jemand hinter uns steht.

Sie wandte sich um und fuhr in die Höhe.

Er war es!

Mit bloßem Kopfe, blaß und abgehärmt. Es war schon so dunkel, daß man seinen schwarzen Rock kaum noch unterscheiden konnte. Seine schöne Stirn sah beim schwachen Zwielicht fahl aus und seine Augen waren von Schatten bedeckt. Seine Erscheinung hatte etwas Totenhaftes, das aber durch die unvergleichliche Sanftmuth seiner Züge gemildert wurde. Sein Lebenslicht schien dem Erlöschen fast so nahe, wie die Sonne, die nur noch wenige Strahlen durch die höheren Regionen der Luft sandte.

Sein Hut lag einige Schritte vor ihm im Gestrüpp.

Cosette, die einer Ohnmacht nahe war, stieß einen Schrei aus. Sie trat langsam zurück, denn es zog sie mächtig zu ihm hin. Er seinerseits stand regungslos da. Sie fühlte nur den trauervollen Blick seiner Augen, die sie nicht sehen konnte.

Indem sie zurückwich, kam sie an einen Baum und lehnte sich an. Sonst wäre sie umgesunken.

Da vernahm sie seine Stimme, die Stimme, die sie bis dahin noch nie gehört hat. Er sprach leise, so daß es kaum das Rauschen des Laubes übertönte:

»Verzeihen Sie, daß ich gekommen bin. Das Herz droht mir zu brechen, ich konnte so nicht länger leben. Haben Sie gelesen, was ich da auf die Bank hingelegt habe? Erkennen Sie mich noch ein wenig? Fürchten Sie Sich nicht vor mir. Ach, es ist Zeit vergangen seit dem Tage, wo Sie mich gesehen haben — im Luxemburger Garten, unweit der Gladiatorstatue und seit dem Tage, wo Sie an meiner Bank vorüberkamen! Es war am 16. Juni und am 2. Juli. Also nahezu ein Jahr. Seitdem habe ich Sie nicht mehr gesehen. Sie wohnten Rue de l’ Ouest in einem neuen Hause, im dritten Stock nach vorn. Sie sehen, daß ich Bescheid weiß. Ich ging Ihnen nämlich vom Garten aus nach. Was hatte ich denn sonst noch Wichtiges zu thun? Mit einem Mal waren Sie verschwunden. Eines Tages nur glaubte ich Sie zu erkennen, als ich unter einer Arcade des Odeons die Zeitung las und eine Dame mit einem Hut, wie Sie einen trugen, vorüberging. Ich eilte ihr nach und sah, daß ich mich geirrt hatte. Jetzt komme ich des Nachts immer her. Aber fürchten Sie nichts: es sieht mich Niemand. Ich sehe dann zu Ihren Fenstern empor und gehe ganz sacht, damit Sie nicht erschrecken. Neulich stand ich hinter Ihnen, Sie drehten Sich um und ich lief davon. Einmal habe ich Sie auch singen hören. Wie glücklich machte mich das! Nicht wahr, das schadet nichts, wenn ich Ihrem Gesang zuhöre? Sie sind mein Engel, lassen Sie mich also herkommen. Zumal, da ich wohl bald sterben werde. Wenn Sie wüßten, wie ich Sie liebe! Verzeihen Sie, daß ich so mit Ihnen spreche. Vielleicht wollen Sie das nicht?«

»O meine Mutter!« rief sie aus und brach zusammen.

Er fing sie auf und drückte sie heftig an seine Brust, ohne zu wissen, was er that. Er stützte sie, während er selber schwankte. Es schwamm und flimmerte ihm vor den Augen; seine Gedanken verwirrten sich und ihn däuchte, er frevle an etwas Heiligem, indem er sie in seinen Armen hielt. Und doch hatte die Sinnlichkeit keinen Theil an dem, was er that. Er war berauscht von Liebe.

Sie ergriff seine Hand und legte sie auf ihr Herz. Er fühlte das Manuskript und stammelte:

»Sie lieben mich?«

»So schweig doch! Du weißt es ja!« hauchte sie und barg verschämt ihr Gesicht an der Brust des überglücklichen jungen Mannes.

Er sank auf die Bank nieder, sie neben ihn. Sprechen konnten sie nicht mehr. Die Sterne begannen zu schimmern. Woher kam es, daß ihre Lippen sich begegneten? Ja, woher kommt es, daß der Vogel singt, daß der Schnee schmilzt, daß die Rosenknospe aufgeht, daß der Mai seine Herrlichkeit entfaltet, daß die Morgenröthe die dunklen Bäume auf den Höhen beleuchtet?

Ein Kuß und das war alles.

Alle Beide erbebten und sahen sich im Dunkel mit glänzenden Augen an.

Sie merkten nicht die Kühle der Nacht, die Kälte der Steinbank, der Feuchtigkeit des Erdbodens. Sie sahen sich an und süße Gedanken durchwogten ihr Inneres. Ihre Hände waren in einander verschlungen, ohne daß sie es wußten.

Es fiel ihr nicht ein, ihn zu fragen, wie er in den Garten hingekommen war. Kam es ihr doch so einfach und selbstverständlich vor, daß er da war.

Von Zeit zu Zeit berührte sein Knie das ihre; dann erschraken alle Beide.

Hin und wieder entrangen sich Cosettens übervoller Brust ein paar abgerissene Worte.

Endlich kam das Gespräch in Fluß. Die beiden jungen Leute sagten sich alles, ihre Träumereien, ihre Freuden, ihre Sorgen, ihre Aengste, wie sie sich aus der Ferne angebetet, wie sich nacheinander gesehnt, wie verzweifelt sie gewesen waren, als sie sich nicht mehr begegneten. Mit einer entzückenden Vertraulichkeit, die keiner Steigerung mehr fähig war, theilten sie sich alles mit, was sie in ihrem Herzensschrein Verborgenstes hatten. Sie erzählten sich mit innigster Zuversicht zu ihren Illusionen alles, was die Liebe, die Jugend und ein Rest von Kindlichkeit ihnen eingegeben hatten. Die beiden Herzen ergossen sich eins in das andere so vollständig, daß nach Verlauf einer Stunde er alle ihre und sie alle seine Gedanken kannte.

Als sie zu Ende waren, als sie sich alles gesagt hatten, legte sie ihren Kopf auf seine Schulter und fragte ihn:

»Wie heißen Sie?«

»Marius. Und Sie?«

»Cosette!«

Der kleine Gavroche

Ein böser Schelmenstreich des Kindes

Nach dem Jahre 1823 bekamen die Thénardiers, während ihre Wirtschaft in Montfermeil nicht in den Abgrund eines großen Bankerotts, sondern in eine Kloake von Läpperschulden versank, noch zwei Kinder, beides Knaben. Im Ganzen also fünf, zwei Töchter und drei Knaben. Ein bischen viel!

Der zwei jüngsten entledigte sich Frau Thénardier, als sie noch ganz klein waren; und mit merkwürdigem Glück.

Entledigt, sagten wir. Die Frau war von Natur ein unvollständiges Wesen, wie es deren öfter gegeben hat. Sie hatte nur ihren Töchtern gegenüber Muttergefühle. Bei ihren Söhnen fing schon ihr Menschenhaß an. Den Aeltesten konnte sie, wie wir schon erzählt haben, nicht leiden und die Andern haßte sie, Warum? Darum. Kein schrecklicherer Grund, kein stärkrer Beweis als solch ein »Darum«. — »Was soll ich mit der Hetze Kinder?« dachte diese Mutter.

Erklären wir jetzt, wie die Thénardiers dazu gekommen waren, sich ihrer Kinder zu entlasten und sogar mit Profit.

Die Magnon, die Eponinen eine Botschaft übermittelte, war dieselbe Person, der es geglückt war, von dem guten Gillenormand Alimente für zwei Kinder zu bekommen. Sie wohnte an dem Quai des Célestins, in einem der Stadtviertel, wo um 1827 die Diphtheritis arge Verwüstungen anrichtete. Bei dieser Epidemie verlor die Magnon an einem Tage beide Kinder, das eine am Morgen, das andre am Abend. Es war ein schwerer Schlag für die Mutter, der sie achtzig Franken pro Monat einbrachten, achtzig Franken, die sie von Barge, Gillenormand’s Banquier, mit größter Regelmäßigkeit ausgezahlt bekam. Sie wußte sich aber zu helfen. Das lichtscheue Gesindel, zu dem sie gehörte, steht in innigem Verkehr mit einander, erfährt alles, hält reinen Mund und springt einander in der Noth bei. Die Magnon brauchte zwei Kinder und Frau Thénardier hatte zwei desselben Geschlechts und desselben Alters, So wurden denn die beiden kleinen Thénardiers zwei kleine Magnons. Vorsichtshalber zog die Magnon nun von dem Quai des Célestins nach der Rue Clocheperce, um ihre alte Identität zu vernichten.

Da die Sache nicht zur Kenntniß der Behörden gelangte, reklamirte Niemand und die Unterschiebung lief so glatt wie nur möglich ab. Nur verlangte Frau Thénardier für die Verleihung ihrer Kinder zehn Franken pro Monat, die Fräulein Magnon versprach und sogar auch bezahlte. Selbstverständlich ließ sich auch Gillenormand weiter schröpfen. Er besuchte nach wie vor die Knaben alle sechs Monate einmal und merkte nie, daß es andre waren. — »Nein, wie die Kinder Ihnen ähneln!« sagte oft die Magnon.

Thénardier, dem eine Aendrung seiner Personalien keinen Kummer machte, nahm die Gelegenheit wahr, um Jondrette zu werden. Seine beiden Töchter und Gavroche waren kaum gewahr geworden, daß sie zwei Brüderchen hatten. In einem gewissen Stadium des Unglücks verfällt der Mensch in einen solchen Stumpfsinn und Gleichgültigkeit, daß ihm seine nächsten Anverwandten wie Schattengebilde erscheinen, die sich von dem nebligen Hintergrund des Lebens nur undeutlich abheben und leicht wieder unsichtbar werden.

Am Abend des Tages, wo sie die beiden Knaben abgeliefert hatte, bekam Frau Thénardier — oder sie that wenigstens so — Gewissensregungen. — »Wir verstoßen ja aber unsre Kinder!« bemerkte sie zu ihrem Mann. Dieser belehrte sie mit überlegner Ruhe, der große Moralist Jean Jacques Rousseau sei noch weiter gegangen; der habe seine Kinder ins Findelhaus gebracht und sich gar nicht mehr um sie bekümmert. — Nachdem so ihre Gewissensbisse beschwichtigt waren, erhob Frau Thénardier einen neuen Einwand: »Wenn aber die Polizei die Sache schief nimmt! Sag mal, Thénardier ist das erlaubt, was wir da thun?« Er antwortete: »Alles ist erlaubt. Es wird auch kein Mensch was merken. Was aus armen Kindern wird, ist der Obrigkeit schnuppe.«

Die Magnon gehörte zu der Aristokratie der Verbrecherzunft. Sie kleidete sich nobel. Bei ihr wohnte eine gleichfalls feine Spitzbübin, eine französirte Engländerin, die Beziehungen mit sehr reichen Leuten hatte und später zu einer großen Berühmtheit gelangte. Man nannte sie »Mamsell Miß.«

Die beiden der Magnon anvertrauten Knaben hatten sich nicht zu beklagen. Dank der achtzig Franken monatlich, wurden sie gut behandelt, wie alles, was Geld einbringt; gar nicht schlecht gekleidet, nicht schlecht genährt, beinahe wie vornehme Kinder gehalten; kurz, sie hatten es bei der falschen Mutter besser, als bei der richtigen. Die Magnon spielte sich auf die feine Dame aus und vermied es, sich in ihrer Gegenwart der Gaunersprache zu bedienen.

So lebten sie mehrere Jahre und Frau Thénardier fing an, sich von ihnen größere Vortheile zu versprechen. »Der Vater sollte jetzt daran denken etwas für ihre Erziehung auszugeben,« meinte sie eines Tages, als ihr die Magnon wieder die zehn Franken einhändigte.

Auf ein Mal wurden die armen Dinger, denen es bis dahin so gut gegangen, denen sogar das Unglück, eine herzlose Mutter zu haben, zum Segen ausgeschlagen war, in das Leben hinausgestoßen und gezwungen, seine Schrecken kennen zu lernen.

Eine massenhafte Arretirung von Uebelthätern, wie diejenige, die bei den Jondrette vorgenommen wurde, samt den Haussuchungen und Verhaftungen, die sie nach sich zieht, ist eine wahre Katastrophe für jene geheime Gesellschaft, die mit der staatlich anerkannten im Kriegszustande lebt. Der Schlag, der Thénardier fällte, traf auch die Magnon.

Eines Tages, kurze Zeit nachdem die Magnon Eponinen den Kassiber übergeben, fand in der Rue Clocheperce plötzlich eine Haussuchung statt. Die Magnon wurde festgenommen, desgleichen Mamsell Miß und alle andern Hausbewohner. Während der Zeit spielten gerade die beiden Knaben auf dein Hinterhofe und merkten nichts von der Razzia. Als sie zurückkamen, fanden sie die Thür verschlossen und das Haus leer. Ein Schuhflicker, der gegenüber wohnte, rief sie und übergab ihnen einen Zettel, den ihre »Mutter« für sie hinterlassen hatte. Auf dem Zettel stand: Herr Barge, Rue du Roi-de-Sicile Nr.8. — »Ihr wohnt nicht mehr hier« sagte der Schuhflicker. »Geht zu dem Herrn da hin. Es ist nicht weit. Die erste Straße links. Fragt Euch mit dem Zettel zurecht.«

Die Kinder machten sich auf den Weg. Der Aelteste führte an der einen Hand den Jüngsten, in der andern hielt er das Stück Papier. Ihn fror und da seine steifen Fingerchen keine Kraft hatten, geschah es, daß ein Windstoß es ihm entführte und da es schon spät am Abend war, konnte er es nicht wiederfinden.

In Folge dessen irrten die armen Dinger in den Straßen herum.

Der kleine Gavroche zieht Vortheil aus einer Idee des Großen Napoleon

Im Frühjahr wehen in Paris oft rauhe Winde, die das schönste Wetter verderben können. Man erfriert gerade nicht dabei, aber sie sind nicht minder unangenehm als ein Zugwind, der sich durch ein schlecht schließendes Fenster oder die Ritzen einer Thür in ein gut geheiztes Zimmer stürzt. Man hat die Empfindung, als sei die Thür des Winters nicht sorgfältig genug geschlossen worden. Im Frühjahr 1832, wo die erste große Seuche dieses Jahrhunderts in Europa ausbrach, hatten diese Nordwinde einen besonders bösartigen Charakter. Jetzt stand nicht blos die Thür des Winters, sondern auch die des Todes weit offen. Der Hauch der Cholera verstärkte die Macht des Windes.

In meteorologischer Hinsicht hatten diese Winde die Besonderheit, daß sie eine starke elektrische Spannung nicht ausschlossen. Es gingen in jener Jahreszeit heftige Gewitter nieder.

An einem Abend, wo der Wind besonders rauh blies, so daß man sich wieder in den Monat Januar zurückversetzt, glaubte und die Leute wieder ihre Wintermäntel hervorgeholt hatten, stand der kleine Gavroche, vergnügt, trotzdem ihn in seinen Lumpen erbärmlich fror, vor einem Friseurladen in der Gegend der Orme-Saint-Gervais. Er prangte in einem wollnen Frauenumschlagetuch, das er irgend wo aufgegabelt hatte, und das ihm als Shawl diente. Er that, als bewundre er grenzenlos eine mit einem bräutlichen Orangenblütenkranz geschmückte Wachspuppe, die sich im Schaufenster im Kreise drehte und von zwei pompösen Lampen bestrahlt die Vorübergehenden anlächelte. In Wirklichkeit spähte er, ob sich nicht eine Gelegenheit bieten würde, ein Stück Seife zu stibitzen, das er dann an einen Friseur außerhalb Paris verkaufen wollte. Auf diese Weise hatte er sich schon verschiedene Male Geld zu seinem Abendbrod verschafft und manchen Barbier über den Löffel barbirt.

Während er die Wachspuppe betrachtete und nach einem Stück Seife schielte, murmelte er: »Dienstag. Nein, nicht Dienstag. Ja gewiß, es war Dienstag.«

Worauf sich dieses Selbstgespräch bezog, hat man nie herausbringen können.

Meinte er etwa das letzte Mal, wo er etwas zu essen gehabt hatte, so war das drei Tage her, denn jener Tag war ein Freitag.

Der Barbier, in dessen Salon ein glühender Ofen stand, rasirte einen Kunden und sah von Zeit zu Zeit seitwärts nach dem Feinde, der draußen lauerte, dem frechen Bengel, der vor Frost zitternd die Hände in die Taschen gesteckt hatte, nicht aber seinen Mutterwitz.

Während Gavroche die Wachspuppe, das Schaufenster und die Windsor Soap sehr genau ansah, kamen zwei anständig gekleidete Knaben von verschiedener Statur, im Alter von sieben und fünf Jahren, klinkten furchtsam die Thür auf und traten in den Laden. Was sie zu dem Barbier sagten, war nicht zu verstehen; Beide sprachen zugleich, der Jüngste schluchzte und der Aelteste klapperte vor Frost mit den Zähnen. Vielleicht baten sie um ein Almosen. Der Barbier drehte sich wüthend um, stieß, ohne sein Rasirmesser hinzulegen, den Einen mit der linken Hand, den Andern mit dem Knie hinaus und sagte, indem er die Thür wieder zumachte: »Nein, so was! Machen Einem die Stube um nichts und wieder nichts kalt!«

Die Knaben weinten und gingen weiter. Währenddem hatte sich aber der Himmel bewölkt und es fing an zu regnen. Der kleine Gavroche rannte ihnen nach und fragte sie:

»Was fehlt Euch, Jungens?«

»Wir möchten gern schlafen, mein Herr, und wissen nicht, wo wir hingehen sollen.«

»Weiter nichts? Und darum weint Ihr! Was solche Bälge doch dumm sind!«

Dann aber schlug er, nachdem er sich über sie lustig gemacht und sie seine Ueberlegenheit hatte fühlen lassen, einen sanften Gönnerton an und sagte:

»Kinder, kommt mit mir.«

»Ja, recht gern, mein Herr«, sagte der Aelteste.

Und die beiden Kleinen folgten ihm ehrerbietig, als wär er ein Erzbischof gewesen und hörten auf zu weinen.

Gavroche ging mit ihnen die Rue-Saint-Antoine hinauf, nach der Bastille zu, sah sich aber zuvor noch zornig nach dem Friseurladen um.

»Der Jammerlappen von Bartkratzer hat auch nicht mehr Gefühl, wie ein Stein!« brummte er.

Eine Dirne, der sie unterwegs begegneten, lachte, als sie die drei Käsehochs im Gänsemarsch daher kommen sah. Dieses respektwidrige Benehmen verdroß unsern Gavroche und er rächte sich sofort:

»Guten Tag, Fräulein Omnibus!«

Diese Begegnung und die Erinnerung an den hartherzigen Friseur hatten ihn gereizt und kriegslustig gemacht. Er fand auch bald ein Opfer, eine bärtige alte Portierfrau, die Einen an Faust und den Brocken erinnern konnte.

»Das ist hübsch von Ihnen, daß Sie Ihr Reitpferd spazieren führen!« hohnepiepelte er und zeigte auf den Besen, den die Alte in der Hand trug.

Während er davon rannte, bespritzte er noch rasch die Lackstiefelchen eines feinen Herrn, der ihm den Gefallen that, weidlich hinter ihm herzuschimpfen.

Während er weiter ging, bemerkte er unter einem Thorweg eine vierzehn oder fünfzehnjährige Bettlerin, deren Kleid so kurz war, daß man ihre bloßen Kniee sehen konnte.

Sie war so thöricht gewesen, zu schnell zu wachsen und gerade zu einer Zeit, wo kurze Kleider unanständig werden.

»Armes Mädel!« sagte Gavroche. »Das hat nicht mal Hosen. Da, nimm das. Dann hast Du wenigstens etwas.«

Mit diesen Worten wand er das warme wollne Kleidungsstück von seinem Halse los und warf es der Bettlerin über die mageren, braun und blau gefrorenen Schultern.

Das Mädchen sah ihn erstaunt an und sagte kein Wort. Hat er einen gewissen Grad des Elends erreicht, so seufzt der Arme in seinem Stumpfsinn über das Böse und dankt nicht mehr für das Gute, das man ihm erweist.

Gleich darauf machte Gavroche »Brrr!« und zitterte noch stärker als der heilige Martin, der wenigstens eine Hälfte seines Mantels für sich behalten hatte. In demselben Augenblick rauschte der Regen noch ärger herab und bestrafte Gavroche für seine gute Handlung.

»Nanu, was soll denn das heißen? Das wird ja immer toller. Wenn das so fortgeht, spiele ich nicht mehr mit.«

Dann eilte er schneller weiter, sah sich aber noch einmal nach dem Bettelmädchen um, das sich sorgsam in das Tuch eingehüllt hatte. »Die kann sagen, daß sie ein molliges Stück Kledasche hat!«

Auch die Wolke, die ihn durchnäßte, bekam ihr Theil:

»Aetsch! Reingefallen!« rief er ihr zu. »Der kannst Du nichts mehr thun!«

Als sie an einen Bäckerladen kamen, wandte sich Gavroche zu seinen kleinen Begleitern um:

»Sagt mal, Jungens, habt Ihr gespiesen?«

»Nein, seit heute Morgen nicht«, sagte der Aelteste.

»Ihr habt also weder Vater noch Mutter?« bemerkte Gavroche würdevoll.

»Entschuldigen Sie, mein Herr, wir haben einen Papa und eine Mama, aber wir wissen nicht, wo sie sind.«

»Hm! Das hat manchmal sein Gutes!« meinte Gavroche, der philosophisch veranlagt war.

»Zwei Stunden laufen wir nun schon so herum und haben in den Rinnsteinen was zu essen gesucht, aber nichts gefunden.«

»Kann ich mir denken. Die Hunde fressen Einem alles weg. — Also wir haben unsre Alten verlegt und können sie nicht wiederfinden. Das habt Ihr nicht gescheidt gemacht. Solche nützlichen Leute muß man besser in Acht nehmen. Kinder, nun müssen wir uns aber bald was zu präpeln anschaffen.«

Die Kleinen weiter auszufragen fiel ihm nicht ein. Daß Kinder kein Obdach haben, kam ihm sehr natürlich vor.

Der älteste Knabe hatte sich um diese Zeit auch schon, was ja Kindern so leicht wird, fast alle Sorgen aus dem Sinn geschlagen und wurde gesprächig.

»Nein, ist das komisch! Mama hat gesagt, sie will mit uns am Palmsonntag nach der Kirche gehen und Palmenzweige holen. Sie wissen doch, schöne Zweige, wo der Herr Pfarrer Weihwasser drauf spritzt.

›Na ja, manchmal ist es aber auch Essig.‹

›Mama ist eine Dame, die mit Mamsell Miß zusammenwohnt.‹

›Sie haben sich beide wohl sehr lieb?‹

Währenddem war er stehen geblieben und suchte seit einigen Minuten in den Lumpen herum, die bei ihm die Stelle der Kleidung vertraten.

Endlich richtete er den Kopf empor mit einer Miene, die nur Zufriedenheit ausdrücken sollte, in Wirklichkeit aber einen Ueberschwang von Glückseligkeit wiederspiegelte.

›Jetzt Kinder, laßt alle Sorgen fahren. Seht mal her. Hierfür können wir uns alle Drei den Wanst vollschlagen.‹

Mit diesen Worten zeigte er ihnen einen Sou, den er in einer seiner Taschen gefunden hatte.

Er ließ den beiden Kleinen nicht die Zeit, ihrer Bewunderung für seinen Reichthum Ausdruck zu geben, sondern schob sie eilig in den Bäckerladen hinein, legte seine Kupfermünze auf den Ladentisch und rief gebieterisch:

›Für fünf Centimes Brod!‹

Der Bäcker nahm ein Brod und ein Messer zur Hand.

›Drei Stücke!‹ kommandirte Gavroche, und mit Würde: ›Wir sind unsrer drei.‹

Der Bäcker, der sich inzwischen die drei Hungerleider genauer angesehen, griff nach einem andern, gröbern Brod. Als Gavroche dies sah, steckte er den Finger in die Nase, als wollte er Tabak schnupfen, und mit einer so stolzen und unzufriedenen Miene, als sei er Friedrich der Große und der Bäcker ein unehrerbietiger Unterthan.

›Was ist denn das?‹

›Na Brod, sehr gutes Brod zweiter Qualität.‹

›Sie meinen ordinäres Brod,‹ gab Gavroche kalt und verächtlich zurück. Wenn ich ponire, nehme ich nur Weißbrod.«

Der Bäcker konnte sich nicht enthalten zu lächeln und musterte, während er ein Weißbrod zerschnitt, voller Mitleid die drei großkotzigen Kunden.

»Sagen Sie mal, Sie Teigmanscher, haben Sie was an uns auszusetzen?«

Als das Brod geschnitten war, nahm der Bäcker seinen Sou und Gavroche sagte zu den Kindern:

»Prumpst Euch voll!«

Die Kleinen sahen ihn verlegen an.

Gavroche lachte.

»Gott bewahre! Das versteht noch nicht mal seine Muttersprache. Essen sollt Ihr.«

Dabei vertheilte er das Brod, indem er das größte Stück dem ältesten Knaben gab und das kleinste für sich behielt.

Die armen Kinder, die wie Gavroche halb ohnmächtig vor Hunger waren, fielen sofort über das Brod her und blieben, während sie tapfer einhieben, im Laden stehen, wo sie hinderlich waren und von dem Bäcker mit unfreundlichen Blicken betrachtet wurden.

»Kommt raus!« sagte Gavroche.

Sie gingen weiter in der Richtung der Bastille.

Von Zeit zu Zeit, wenn sie an hell erleuchteten Schaufenstern vorbeikamen, blieb der jüngste Knabe stehen und sah auf einer bleiernen Uhr, die an einem Bindfaden um seinen Hals hing, nach, wie spät es sei.

»Nein, so ein Dummchen!« dachte Gavroche, murmelte aber dann:

»Wenn ich Bälge hätte, würde ich sie besser aufheben.«

Als sie eben mit ihrem Diner zu Ende kamen und an die unfreundliche Rue des Ballets gelangt waren, in der hinten das Gefängniß drohend emporragt, rief Jemand.

»Bist Du’s, Gavroche?«

»Du, Montparnasse?« gab Gavroche zurück.

Es war in der That Montparnasse in einer Verkleidung und mit einer blauen Brille.

»Alle Hagel!« fuhr Gavroche fort, »Siehst Du chic aus in dem Rock! Nobel und stolz wie ein Doktor!«

»Pst! Nicht so laut!« flüsterte Montparnasse und führte hastig Gavroche aus dem Lichtbereich der Schaufenster heraus.

Die beiden Kleinen gingen ihnen, indem sie sich bei der Hand hielten, mechanisch nach.

Als sie hinter der dunklen Wölbung eines Thorwegs standen, wo sie vor neugierigen Blicken und dem Regen geschützt waren, fragte Montparnasse:

»Weißt Du, wo ich hingehn werde?«

»Zum Schinder!«

»Laß doch die unangenehmen Witze. — Ich will Babet aufsuchen.«

»Also Babet heißt sie!«

»Nicht sie, er,« sagte Montparnasse mit gedämpfter Stimme.

»Ach so, Babet! Ich dachte, er wäre in der Tfieze.«

»Ja, aber er ist abgetippelt.«

Und er erzählte rasch dem jungen Burschen, daß Babet am Morgen desselben Tages bei seiner Ueberführung nach der Conciergerie Mittel und Wege gefunden habe, zu entspringen.

»Das ist aber nicht alles,« sagte Montparnasse und fügte noch Einzelheiten über die Flucht hinzu.

Während Gavroche ihm mit Bewunderung zuhörte, hatte er sich zugleich eines Spazierstocks bemächtigt, den Montparnasse in der Hand hielt und an dem Griff gezogen, wobei eine Dolchklinge sichtbar wurde.

»Aha!« rief er, indem er den Dolch wieder zurückschob, »Du hast Dir einen Soldaten in Civil mitgenommen!«

Montparnasse blinzelte mit den Augen.

»Alle Wetter, Du willst wohl mit den Greifern anbinden?«

»Man kann nie wissen!« meinte Montparnasse in gleichgiltigem Ton. »Es ist immer gut, wenn man etwas bei sich hat, das gut piekt. — Noch eins. Neulich komme ich an einen Wittschen, der mir eine Moralpredigt und seine Börse schenkt. Ich stecke das Geld ein. Eine Minute darauf fasse ich in meine Tasche und sieh da! es war nichts drin.«

»Na, aber die Moralpredigt ist doch wenigstens nicht verloren gegangen?«

»Wo gehst Du jetzt hin?« fragte Montparnasse.

Gavroche zeigte auf seine beiden Schützlinge und sagte:

»Ich will die Kinder da zu Bett bringen.«

»Wo zu Bett bringen?«

»Bei mir zu Hause.«

»Hast Du denn eine Wohnung?«

»Na ob!«

»Wo denn?«

»Im Elefanten.«

»Im Elefanten!« rief Montparnasse verwundert, obgleich er von Natur sich nicht leicht wunderte.

»Na ja, im Elefanten! Was ist denn weiter dabei?«

Gavroche’s philosophische Entgegnung bewog Montparnasse ruhiger nachzudenken und das eigenthümliche Wohnhaus besser zu würdigen.

»Also im Elefanten! Hm! Wohnt es sich gut darin?«

»Propper, sage ich Dir. Nicht so zugig wie unter den Brücken.«

»Wie kommst du hinein? Hat denn das Ding ein Loch?«

»Na gewiß! Aber Du darfst es Niemand wiedersagen. Zwischen den Vorderbeinen. Die Gauser haben’s nicht gesehen.«

»Und da kletterst Du hinauf? Ich verstehe.«

»Im Handumdrehen! Riz, raz bin ich drin, ehe mich Einer sieht. — Für die Würmer da muß ich mir eine Leiter verschaffen.«

»Wo zum Teufel hast Du die Dinger aufgegabelt?«

»Das ist ein Geschenk, das ich einem Perrückenmacher verdanke.«

Auf diese Antwort hörte Montparnasse kaum noch hin. Er war nachdenklich geworden und murmelte: »Du hast mich doch recht leicht erkannt!«

Er nahm zwei kleine Gegenstände aus der Tasche, zwei Bruchstücke von Federposen, die mit Baumwolle umwickelt waren, und steckte je eins in seine Nasenlöcher. Dadurch bekam seine Nase eine ganz veränderte Gestalt.

»So siehst Du weniger häßlich aus. So solltest Du immer gehen.«

Montparnasse war ein hübscher Junge, aber Gavroche foppte gern.

»Spaß bei Seite, wie findst Du mich?«

Jetzt klang auch seine Stimme anders. Montparnasse war im Handumdrehen unerkennbar geworden.

»Ach, spiele doch mal den Kasperle!« rief Gavroche.

Die Kinder hatten bis dahin nicht auf das Gespräch der Beiden hingehört. Sie wühlten auch mit ihren Fingern in der Nase und hatten also genug zu thun. Nun sie aber von dem Kasperle sprechen hörten, kamen sie rasch näher und sahen zu Montparnasse mit freudiger Bewundrung empor.

In demselben Augenblick aber gab Dieser seinem jungen Freunde einen verstohlenem Wink, daß Gefahr im Anzuge sei. Gavroche wandte sich um, erblickte einen Schutzmann, der in der Nähe stand, machte Hm! Hm! und schüttelte Montparnasse die Hand:

»Nun gute Nacht! Ich gehe mit meinen Würmern nach dem Elefanten. Positus ich setze den Fall, Du willst mich eines Nachts sprechen. Dann komme und suche mich dort auf. Im Hochparterre. Kein Portier. Du fragst nach Herrn Gavroche.«

»Gut, ich werd’s mir merken,« sagte Montparnasse.

Hierauf trennten sie sich. Montparnasse ging nach dem Grève- und Gavroche nach dem Bastilleplatz. Der jüngste Knabe, den sein Bruder an der Hand führte, und den seinerseits wieder Gavroche an der Hand führte, wandte mehrere Mal den Kopf um und blickte dem Kasperle nach.

Um das Jahr 1842 sah man noch in dem südwestlichen Winkel des Bastilleplatzes unweit des Flußhafens, der an der Stelle des ehemaligen Festungsgrabens angelegt ist, ein absonderliches Denkmal, das die heutigen Pariser nicht gekannt haben, aber noch eine Erwähnung verdient, denn es verdankte seine Entstehung dem Mitglied des Instituts und kommandirenden General der ägyptischen Expeditionsarmee.

Wir sagten »Denkmal.« Es war nur eine Anlage, eine Skizze, aber eine großartige, der Leichnam einer genialen Idee Napoleons, die unvollständig ausgeführt wurde und eine seiner anfänglichen Bestimmung fremde Form angenommen hatte. Es war ein vierzig Fuß hoher Elefant aus Zimmer- und Mauerwerk, der auf dem Rücken einen Turm trug und, ursprünglich grün angestrichen, durch den Regen und die Zeit schwarz geworden war. Auf dem unbebauten und öden Platze, wo er stand, zeichnete sich des Nachts die breite Stirn des Kolosses, der Rüssel, der Turm, die ungeheure Kruppe, die säulenartigen Beine am Sternenhimmel imposant und furchtbar ab, und wer den merkwürdigen Bau nicht kannte, begriff nicht, was das Ungethüm bedeuten sollte. Es war eine Art Sinnbild der Volkskraft, etwas Düsteres, Räthselhaftes, Gewaltiges. So zu sagen ein großes, sichtbares Phantom neben dem unsichtbaren Gespenst der vernichteten Bastille.

Wenige Fremde sahen sich dies Gebäude an, die Pariser erst recht nicht. Es zerfiel allmählich in Trümmer; jedes Jahr bröckelten Stücke aus seinen Flanken heraus und hinterließen immer weiter klaffende Wunden. Die Baupolizei hatte es seit 1814 vergessen. Es stand unbeachtet in seiner Ecke, von einem morschen Zaun umgeben, den betrunkne Kutscher nach Herzenslust verunreinigten; zwischen seinen Beinen wuchs hohes Gras und Unkraut; und da das Niveau des Platzes, wie dies in großen Städten nicht anders sein kann, allmählich höher wurde, stand es in einer Vertiefung und es hatte den Anschein, als senke sich die Erde unter ihm. Das Ganze sah unsauber, widerwärtig, häßlich aus, machte jedoch auf den Denker einen großartigen und schwermüthigen Eindruck.

Des Nachts aber, wie gesagt, nahm der alte Elefant ein andres Aussehen an; dann paßte die ruhige, furchtbare Gestalt vortrefflich zu der hehren Stille des nächtlichen Himmels. Als ein Vertreter der Vergangenheit konnte er nur in der Dunkelheit zur Geltung kommen.

Dies plumpe, strenge, fast ungeschlachte Gebäude, das aber ein feierliches und ernstes Gepräge trug, hat einem unschönen und unedlen Bau Platz gemacht, der einem eisernen Ofen nebst Schornstein ähnelt. Diese Säule ersetzt gegenwärtig die düstre Bastille mit ihren neun Türmen ungefähr so, wie das Bürgerthum die Feudalität. Es ist ja natürlich, daß ein Ofen das Sinnbild einer Zeit sei, die keine andre Macht anerkennt, als die Dampfkraft. Diese Zeit wird vorübergehen, ist zum Theil schon vorbei, man fängt schon an zu begreifen, daß, wenn ein Kessel Kraft konzentriren, Macht nur in einem Hirn sein kann. In andern Worten, was die Welt leitet und vorwärts bringt, sind nicht die Lokomotiven, sondern die Ideen. Spannet meinetwegen die Lokomotiven an die Ideen an: nur verwechselt nicht das Pferd mit dem Reiter.

Wie dem auch sei, so hat, um wieder auf unsre Denkmäler zurückzukommen, der Erbauer des Elefanten aus Gips etwas Großes geschaffen, während der Fabrikant des Ofenrohrs es fertig gebracht hat, aus Bronce etwas Unbedeutendes, Kleinliches herzustellen.

Dieses Ofenrohr, das man mit einem pompösen Namen getauft und die Julisäule genannt hat, dieses mißrathne Denkmal einer mißlungnen Revolution, war 1832 noch umgeben von einem gewaltigen Gerüst, dessen Wegräumung wir bedauern und von einem großen Bretterzaun, der den Elefanten noch mehr isolierte.

Nach diesem Winkel des Platzes, wo nur der schwache Lichtschimmer einer ziemlich weit entfernten Laterne hindrang, führte also Gavroche die beiden »Würmer«.

Man erlaube uns hier eine kleine Unterbrechung. Wir müssen nämlich daran erinnern, daß wir uns innerhalb der Grenzen der Wirklichkeit halten. Um 1842 hatte sich vor dem Zuchtpolizeigericht ein Kind, das im Elefanten der Bastille genächtigt hatte, wegen Beschädigung eines öffentlichen Denkmals zu verantworten.

Nach Festnagelung dieser Thatsache fahren wir fort.

Als sie in die Nähe des Kolosses kamen, begriff Gavroche, welchen Eindruck das unendlich Große auf das unendlich Kleine machen kann und sagte: Kinderchen, fürchtet Euch nicht!

Dann kroch er durch eine Lücke im Zaun hindurch und zog die Beiden durch die Bresche hinein. Den Kindern war nicht behaglich zu Muthe, sie folgten Gavroche aber willig, als einer zerlumpten kleinen Vorsehung, die ihnen Brod gegeben und Obdach versprochen hatte.

An dem Zaun lag eine Leiter, deren sich am Tage die Arbeiter eines benachbarten Zimmerplatzes bedienten.

Gavroche hob sie mit einer Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte, empor und lehnte sie an das eine Vorderbein des Elephanten. Dicht bei dem oberen Ende der Leiter sah man ein schwarzes Loch im Bauche des Ungeheuers.

Gavroche wies auf die Leiter und das Loch.

»Nun, vorwärts, Kinder!«

Die Kleinen sahen sich mit angstvollen Mienen an.

»Ich glaube gar, Ihr fürchtet Euch!« — »Seht mal her!«

Er umklammerte das riesige Bein des Elephanten und klomm mit stolzer Nichtbeachtung der Leiter bis zu der Oeffnung empor. Hier glitt er flink wie eine Schlange hinein und gleich darauf erschien sein blasses Gesicht wieder am Rande der Oeffnung.

»So kommt doch, Jungens! Ihr werdet sehen, wie schön es hier oben ist. — Du zuerst,« sagte er zu dem Aeltesten. »Ich werde Dir die Hand hinhalten.«

Die Kleinen stießen sich gegenseitig mit dem Ellbogen an, wer zuerst hinauf sollte. Der junge Vagabunde flößte ihnen zugleich Furcht und Zutrauen ein, und außerdem regnete es stark. Der Aelteste unternahm endlich das Wagniß.

Der Jüngste, als er seinen Bruder emporsteigen sah, und er zwischen den Beinen des ungeheuren Viehes allein blieb, war nahe genug daran zu weinen, wagte es aber nicht.

Während also der Aelteste mit unsicheren Füßen die Leitersprossen emporstieg, ermuthigte ihn Gavroche durch Zurufe, wie ein Fechtlehrer seine Schüler oder ein Maulthiertreiber sein Vieh.

»Nur keine Angst!«

»So ist’s recht!«

»Man immer weiter!«

»Setze den Fuß dahin!«

»Hierher mit der Hand!«

»Courage!«

Und als der Kleine in seinem Bereiche war, faßte er ihn kräftig am Arm und schwenkte ihn mit unübertrefflicher Wuppticität in das Gebäude hinein.

»So! Nun warte hier auf mich. Bitte gefälligst Platz zu nehmen.«

Dann stieg er wieder durch das Loch hinaus und glitt mit affenartiger Geschwindigkeit an dem Beine des Elephanten hinab, fiel unten im Gras auf seine Füße, nahm den fünfjährigen Kleinen in die Arme, stellte ihn auf die Leiter und stieg hinter ihm empor. Oben angelangt rief er dem Aeltesten zu:

»Ich schiebe und Du ziehe ihn.«

Im Nu, ehe er zur Besinnung kommen konnte, war der Kleine durch das Loch hineingeschoben, gezogen, gezerrt, geschuppst und gestuppst.

Dann stieß Gavroche, indem er nach ihm hineinstieg, die Leiter um, die ins Gras fiel und klatschte in die Hände:

»Hurrah! Jetzt sind wir da!«

Und nach dem Freudenruf begrüßte er feierlich seine Gäste:

»Seid willkommen in meinem Palais!«

Welchen Nutzen doch bisweilen das Unnützliche stiftet! Welche merkwürdigen Dienste das Große dem Kleinen erweisen kann! Hier war ein ungeheures Gebäude, das den Gedanken eines Kaisers zu verkörpern bestimmt gewesen war, zur Behausung eines Straßenjungen geworden. Wenn Leute an dem Elefanten der Bastille vorbeikamen, musterten sie ihn mit dummer Verachtung und meinten: »Wozu nützt das?« Nun, das brachte sehr großen Nutzen. Es bewahrte einen Knaben, der weder Vater noch Mutter, kein Brod, keine warme Kleidung, kein Obdach hatte, vor der fürchterlichen Nothwendigkeit, bei Regen, Hagel, Schnee und Wind im Freien, in der Nässe, im Koth zu schlafen. Es nahm einen Schuldlosen auf, den die Gesellschaft verstoßen hatte. Es milderte die Schuld Aller gegen einen Schwachen. Es war ein Schlupfwinkel für Einen, dem alle Thüren verschlossen waren. Dazu nützte das alte Ungethüm, daß es, selber vernachlässigt, Mitleid hatte mit einem ebenfalls von aller Welt vergessenen Knirps. Die Idee Napoleons, die Menschen fallen ließen, hob Gott auf. Was nur dem Ruhme dienen sollte, wurde ein Werkzeug der erhabensten Barmherzigkeit. Der Kaiser hätte zur Verkörperung seines Gedankens Porphyr, Erz, Eisen, Gold, Marmor gebraucht; dem Herrgott genügte das alte Gefüge von Brettern, Balken und Gips. Der Kaiser wollte, daß der titanenhafte Elefant mit seinem hochaufgerichteten Rüssel ein Symbol des Volkes sein sollte: Gott verwendete ihn zu einem schönen Zwecke: Er gab ihn einem schwachen Knaben zur Wohnung.

Das Loch, durch das Gavroche hineinzukriechen pflegte, war von außen kaum zu sehen, und so eng, daß nur Katzen und Kinder sich hindurchwinden konnten.

»Jetzt wollen wir erst mal dem Portier sagen, daß wir nicht zu sprechen sind.«

Mit diesen Worten griff er, ohne zu tasten — da er zu Hause war, wußte er ja Bescheid! — nach einem Brett und legte es über das Loch.

Dann verschwand er abermals in der Dunkelheit. Die Kinder hörten das Geräusch von einem Zündholz in einer Phosphorflasche, denn Streichhölzer gab es damals noch nicht und Fumade’s Feuerzeug war die vollkommenste Vorrichtung dieser Art.

Plötzlich kniffen die beiden Kinder die Augen zu. Gavroche hatte ein mit Harz bestrichnes Stück Bindfaden angezündet. Die kleine Fackel, die mehr rauchte, als leuchtete, ermöglichte es ihnen jetzt, das Innre des Elefanten, wenn auch nur undeutlich und verworren, zu erkennen.

Gavroche’s Gäste hatten bei ihrer Umschau ungefähr dieselbe Empfindung, wie Jemand, der in der großen Heidelberger Tonne eingeschlossen ist oder, richtiger gesagt, wie der Prophet Jonas im Bauch des Walfisches. Sie sahen sich von einer Art riesigem Skelett umgeben. Oben stellte ein langer brauner Balken, von dem mächtige Krummsparren ausgingen, das Rückgrat und die Rippen vor. Den Kalksinter, der an diesem Gerüst hing, konnte man — bei einigermaßen gutem Willen — mit Därmen vergleichen und an das Zwergfell erinnerten riesige, mit Staub bedeckte Spinnengewebe, die zwischen den beiden Flanken ausgespannt waren. Hier und da erblickte man in den Ecken große, schwärzliche Flecke, die aussahen, als wären sie lebendige Wesen und hastig hin und herhuschten.

Die Rundung des Bauches war mit Trümmern angefüllt, die von oben herabgefallen waren, so daß auch ein einigermaßen ebner Fußboden nicht fehlte.

Bei dem Anblick dieser grausigen Wohnung schmiegte sich der jüngste Knabe enger an seinen Bruder an und flüsterte:

»Ach ist das dunkel!«

Dieser Tadel verdroß unsern Gavroche. Auch sah er ein, daß seine erschrocknen Gäste einer moralischen Ohrfeige, einer Aufmunterung bedurften:

»Haben die Herrschaften sonst noch Schmerzen? Belieben Sie mich zu uzen oder ist Ihnen mein Salon nicht gut genug? Wie beim König, so fein sieht er freilich nicht aus, aber besser ausgestattet ist er doch immer, als der Verstandeskasten Ew. Hoheiten! Macht mir den Kopf nicht warm, sonst geht’s Euch schlecht, Ihr hochnäsigen Kröten!«

Ein kleiner Anrauzer hat sein Gutes, er übt eine beruhigende Wirkung auf furchtsame Seelen aus. Die beiden Kinder kamen näher an Gavroche heran.

Väterlich gerührt über das Zutrauen ging Dieser vom Strengen zum Zarten über und ertheilte dem Kleinen eine praktische Belehrung:

»Dummchen, draußen ist es dunkel. Draußen regnet es, hier nicht; draußen ist es kalt, hier weht kein rauher Wind; draußen sind eine Masse Leute, hier ist Niemand; draußen scheint nicht einmal der Mond, hier haben wir ein Licht, das sich sehen lassen kann!«

Jetzt fingen die Knaben an sich weniger vor ihrer neuen Wohnung zu ängstigen; aber Gavroche ließ ihnen nicht die Zeit sie genauer zu betrachten.

»Schnell!« sagte er und schob sie in den Hintergrund, wo es etwas wohnlicher aussah.

Hier stand nämlich Gavroche’s Bett. Ein vollständiges Bett! Nämlich eine Matratze, eine Decke und ein Alkowen mit Vorhängen.

Die Matratze war allerdings eigentlich nur eine Strohmatte, aber die Decke war aus Wolle von guter Qualität und hielt warm. Der Alkowen sah folgendermaßen aus:

Drei ziemlich lange Pflöcke, die, in den Schutt des Erdbodens fest eingeschlagen, — zwei vorn, einer hinten, und oben durch einen Strick verbunden, — eine Pyramide bildeten. Um das Ganze lag ein Drahtgitter, das an die Pflöcke mit Eisendraht befestigt und unten mit großen Steinen beschwert war, so daß nirgend etwas durchkonnte. Das Gitterwerk war von derselben Art, wie dasjenige, das bei den Vogelhäusern der zoologischen Gärten zur Verwendung kommt. Unter diesem Gitter befand sich also Gavroche’s Bett wie in einem Käfig und hinter einem Vorhang.

Gavroche schob die beiden Steine, welche die beiden, vorn übereinander gelegten Säume des Drahtgitters zusammenhielten, etwas bei Seite, so daß eine Oeffnung entstand.

»So, Jungens! Nun auf allen Vieren!« sagte er, ließ seine Gäste hineinkriechen, folgte ihnen vorsichtig nach, schob die beiden Steine wieder zurecht und verschloß so den Alkowen vollständig.

Alle Drei lagen auf der Matte ausgestreckt, denn so klein sie waren, hätte Keiner im Alkowen aufrecht stehen können. Gavroche hielt dabei noch immer sein Licht in der Hand.

»So, nun schnobbt! Ich muß das Licht auslöschen.«

»Herr Gavroche,« fragte der älteste der beidem Knaben und wies auf das Gitter. »Was ist denn das?«

»Das ist gegen die Ratten!« belehrte ihn Gavroche ruhig und würdevoll.

Und nach einer Pause fügte er, von der Notwendigkeit durchdrungen, daß die unwissenden Jungchens noch einiger, ihren neuen Verhältnissen angemessener Unterweisung bedurften, mit mehr Ausführlichkeit fort:

»Das sind die Sachen aus dem zoologischen Garten. Wo die wilden Thiere sind. Solche Biester giebt’s da die schwere Menge. Da kommt man über eine Mauer hinein oder man klettert durch ein Fenster oder geht Durch eine Thür. Da kann man sich so viel Draht nehmen, daß man einen ganzen Laden damit füllen könnte.«

Während der lehrreichen Rede wickelte er den Kleinsten sorgfältig in einen Theil der Decke ein. Der Aermste war darüber sehr zufrieden und murmelte:

»Ach, wie schön warm das ist!«

»Das wollte ich meinen. Die habe ich den Affen weggenommen.«

»Und das,« fuhr er fort, indem er dem Aeltesten die sehr dicke und vorzüglich gearbeitete Strohmatte, auf der sie lagen, zeigte, »das hat der Giraffe gehört. — Ja, das hatten alles die wilden Viecher. Ich habe es ihnen weggenommen und sie haben’s mir auch nicht übel genommen. Ich sagte ihnen, ich brauche es für den Elefanten. Nun wißt Ihr Bescheid: Man klettert über die Mauer und macht der Obrigkeit eine lange Nase.«

Die beiden Knaben betrachteten mit scheuer Achtung und Bewundrung den kühnen Burschen, der sich so gut zu helfen wußte, der wie sie ohne Obdach, von Vater und Mutter verlassen und schwächlich, doch ihnen gegenüber die Rolle einer allmächtigen Vorsehung spielen konnte und dessen Gesicht alle Grimassen eines durchtriebenen Jahrmarktsclowns nachahmte und dennoch naiv und liebenswürdig zu lächeln verstand.

»Herr Gavroche,« fragte schüchtern der Aelteste, »fürchten Sie Sich denn nicht vor den Schutzleuten?«

»Mein Junge, man sagt nicht Schutzleute, sondern Greifer.«

Der Jüngste hielt die Augen offen, sagte aber nichts. Da er an der andern Seite lag, achtete Gavroche mit mütterlicher Sorgsamkeit darauf, daß er gut eingewickelt war, und machte ihm aus einigen Lappen eine Art Kissen zurecht. Dann wandte er sich wieder zu dem Aeltesten, der neben ihm, in der Mitte lag:

»Na, was meinst Du? Ist’s hier nicht ganz hübsch?«

»Ja freilich!« antwortete der Aelteste und blickte voller Dankbarkeit zu seinem Wirt empor.

In der That fingen die beiden vollständig durchnäßten Kinder jetzt an warm zu werden.

»Nun sagt mir aber mal, warum habt Ihr denn vorhin geweint? Ueber den Kleinen da will ich weiter nichts sagen; aber daß ein großer Junge, wie Du, weint, das ist dämlich. Da sieht man ja aus wie ein Kalb.«

»Ja, wir hatten aber keine Wohnung und wußten nicht, wo wir hinsollten.«

»Es heißt nicht Wohnung, sondern Bude.«

»Und dann fürchteten wir uns, weil wir so ganz allein und weil es Nacht war.«

»Na, in Zukunft brauchst Du Dir keine Sorgen mehr zu machen. Jetzt bin ich da. Du wirst sehen, wie gut man sich amüsiren kann. Im Sommer gehen wir mit Navet, einem Freund von mir, nach der Glacière und baden im Hafen. Dann rennen wir nackt auf dem Flößholz bei der Austerlitzer Brücke herum. Darüber ärgern sich die Waschfrauen. Die schreien und futern, sage ich Dir. Es ist zum Totlachen. Dann sehen wir uns auch den Skeletmenschen auf den Champs-Elysées an. Er ist lebendig; aber mager, mager ist er. Na, kurz und gut ein komischer Kunde. Ins Theater führe ich Euch auch, zu Frédéric Lemaître. Ich kann mir Billete von Schauspielern verschaffen. Einmal habe ich sogar mitgespielt. Wir waren eine Masse kleine Kerls und rannten unter einem großen Leinwandtuch hierhin und dahin; das sollte das Meer vorstellen. Ich will Euch eine Stelle an meinem Theater verschaffen. Die Wilden sehen wir uns auch an. Die sind aber nicht echt. Sie haben rosa Trikots, die Falten schlagen, und an den Ellbogen tragen sie Flicken aus weißem Zwirn. Und wenn Einer hingerichtet wird, müssen wir auch dabei sein. Ich zeige Euch den Henker. Er wohnt in der Rue des Marais. Sanson heißt er. Na, kurz und gut, für Amüsement ist gesorgt.«

In diesem Augenblick fiel ein Tropfen Wachs auf Gavroche’s Hand und erinnerte ihn an die Wirklichkeit.

»O weh! der Docht wird kürzer. So geht das nicht. Mehr als einen Sou pro Monat kann ich für die Beleuchtung nicht ausgeben. Im Bett muß der Mensch schlafen. Wir haben keine Zeit Paul de Kocks Romane zu lesen. Dann könnte auch wohl gar das Licht durch die Spalten unsrer Hausthür hindurchschimmern, und dann würden die Greifer uns aufs Dach steigen.«

»Es könnte auch,« bemerkte der Aelteste, der allein mit Gavroche zu sprechen wagte, »ein Schnuppe ins Stroh fallen und das Haus in Brand stecken.«

Währenddem strömte der Regen noch stärker herab und peitschte unter furchtbaren Donnern den Rücken des Kolosses.

»Das Unwetter hat jetzt das Nachsehen, es kann uns nichts mehr anhaben. Was mir das für einen Spaß macht, wenn ich’s so dreschen höre und sitze hier im Trocknen und der dumme, alte Winter verschwendet seine Waare umsonst. Deshalb ist er auch so unwirsch.«

Diese Anspielung auf den Donner, deren Consequenzen Gavroche als echter Philosoph des neunzehnten Jahrhunderts sich gefallen ließ, begleitete ein breiter, greller Blitz, den man durch die Ritze an der zugedeckten Oeffnung sehen konnte. Dann donnerte es fürchterlich. Die beiden Kleinen erschrocken und fuhren in die Höhe, so daß das Gitter beinah hoch gehoben wurde. Aber Gavroche wandte ihnen sein unerschrocknes Gesicht zu und lachte sie aus.

»Ruhig, Kinder. Nicht das Haus erschüttern! Ein schöner Donner! So was läßt man sich gefallen. Und die Blitze sind auch nicht mau! Beinah so famos, wie die in meinem Theater.«

Hierauf brachte er das Gitter wieder in Ordnung, zog die Kinder auf das Lager nieder, drückte auf ihre Kniee, damit sie sich hübsch ausstreckten und sagte:

»Da der Herrgott sein Licht ansteckt, kann ich meins auslöschen. Kinder, ihr müßt schlafen. Die Schlaflosigkeit schadet der Gesundheit. Sie macht, daß man aus dem Munde riecht oder, wie die feinen Leute sich ausdrücken, daß man aus dem Rachen stinkt. Wickelt Euch gut ein. Seid Ihr fertig? Ich will das Licht auslöschen.«

»Ja, mir ist so wohl, als hätte ich ein Federkissen unter dem Kopf.«

»Man sagt nicht der Kopf, sondern der Deetz.«

Die beiden Knaben rückten nahe an einander. Gavroche legte die Decke zurecht, so daß sie ihnen bis über die Ohren reichte, wiederholte zum dritten Mal das Kommando: »Nun schnobbt!« und blies die Funzel aus.

Kaum war es dunkel geworden, als das Gitter, unter dem die Knaben schliefen, ganz sonderbar zu zittern begann und ein eigenthümliches Geräusch vernehmbar wurde. Es hörte sich an, als wenn sich überall kleine Klauen und Zähne an dem Draht rieben und zugleich wurde ein scharfes Gequiek vernehmbar.

Der jüngste Knabe hörte den Lärm über seinem Kopfe und stieß, außer sich vor Angst, seinen Bruder an. Dieser aber »schnobbte« schon, wie Gavroche es ihm geheißen hatte.

Da wagte es der Kleine, da er seine Furcht nicht beherrschen konnte, Gavroche anzureden, aber leise, mit gedämpfter Stimme.

»Herr Gavroche!«

»Was ist los?« fragte Dieser, der eben die Augen geschlossen hatte.

»Was ist denn das für ein Lärm?«

»Das sind die Ratten,« antwortete Gavroche und legte den Kopf auf die Matte zurück.

Es waren in der That Tausende und aber Tausende von Ratten, die in dem Elefanten ihre Wohnung aufgeschlagen hatten, jene lebendigen, schwarzen Flecken, die wir oben erwähnt haben. So lange das Licht brannte, hatten sie sich in respektvoller Entfernung gehalten; sobald aber in der Höhle, die sie als ihr Besitzthum betrachteten, wieder völlige Dunkelheit herrschte, »rochen sie Menschenfleisch,« wie’s im Märchen heißt, und fielen jetzt über Gavroche’s Zelt her, bedeckten es von unten bis oben und nagten an dem Draht.

Dem Kleinen genügte Gavroche’s Bescheid nicht. Er konnte nicht einschlafen und fragte wieder:

»Herr Gavroche!«

»Was giebt’s?«

»Was ist denn das, die Ratten?«

»Eine Art Mäuse.«

Diese Erklärung beruhigte den Kleinen etwas. Er hatte schon weiße Mäuse gesehen und sie waren ihm nicht furchtbar vorgekommen. Trotzdem fragte er mit lauterer Stimme:

»Herr Gavroche!«

»Was soll’s?«

»Warum halten Sie Sich keine Katze?«

»Ich hatte eine; die habe ich hergebracht; aber sie haben sie mir aufgefressen.«

Diese zweite Erklärung machte die Wirkung der ersten zunicht. Der Kleine zitterte wieder und begann zum vierten Male:

»Herr Gavroche!«

»Was willst Du?«

»Wer ist aufgefressen worden?«

»Die Katze.«

»Und wer hat die Katze gefressen?«

»Die Ratten.«

»Die Mäuse?«

»Ja, die Ratten.«

Entsetzt über die Mäuse, die eine Katze aufgefressen hatten, fuhr der Kleine fort:

»Herr Gavroche, können die Mäuse hier uns auch auffressen?«

»Na ob!«

Die Angst des Kindes erreichte jetzt ihren Gipfel. Aber Gavroche suchte sie zu beschwichtigen.

»So fürchte Dich doch nicht. Sie können ja nicht hier herein. Und dann bin ich auch noch da. Komm, gieb mir Deine Hand. So, nun sei still und schnobbe!«

Der Kleine drückte Gavroche’s Hand an sich und fühlte sich beruhigt. Muth und Kraft können ja geheimnißvoll Andern mitgetheilt werden. Auch war es wieder still geworden. Denn die Ratten waren durch die Menschenstimmen eingeschüchtert, davongelaufen, und als sie wieder zurückkehrten, konnten sie sich noch so sehr anstrengen und quieken; die drei Jungen ließen sich nicht mehr stören.

Die Stunden der Nacht vergingen eine nach der andern. Dunkelheit bedeckte den großen Bastilleplatz; ein rauher Wind kam stoßweise und jagte den Regen vor sich her; die Polizeipatrouillen durchsuchten die Hauseingänge, die Alleen, Zäune, alle möglichen Winkel nach Obdachlosen und gingen ruhig an dem Elefanten vorbei, der unbeweglich da stand und mit weit geöffneten Augen zu träumen schien, als freue er sich, daß er ein gutes Werk gethan hatte.

Um das Folgende zu verstehen, muß man sich erinnern, daß damals das Wachthaus an dem andern Ende des Bastilleplatzes stand, und die Schildwache das, was in der Nähe des Elefanten vorging, weder sehen noch hören konnte.

Kurze Zeit, bevor der Morgen graute, kam ein Mann die Rue Saint-Antoine entlang gerannt, durchquerte den Platz, lief um den Zaun, hinter dem die Julisäule stand, herum bis er vor dem Elefanten anlangte. Wäre es Heller gewesen, so würde man bemerkt haben, daß der Mann, die Nacht über im Regen gestanden haben mußte; so vollständig durchnäßt war er. Er blickte zu dem Loch empor und ließ einen sonderbaren Schrei erschallen, einen Schrei, der nichts menschliches hatte und höchstens von einem Papagei hätte nachgeahmt werden können. Er lautete etwa:

»Kirikikju!«

Als er diesen Ruf wiederholte, antwortete eine schrille jugendliche Stimme im Bauche des Elefanten:

»Ja!«

Gleich darauf wurde das Brett, das die Oeffnung verdeckte, zurückgezogen und ein Knabe rutschte an dem einen Bein des Elefanten herab. Es war Gavroche. Der Mann war Montparnasse.

Was den Schrei »Kirikikju!« betrifft, so war dies offenbar die Art, wie Montparnasse »nach Herrn Gavroche« fragen sollte.

»Wir brauchen Dich. Komm und hilf uns,« sagte Montparnasse.

»Hier bin ich,« antwortete der Junge, ohne weitere Auskunft zu begehren.

Beide gingen nach der Rue Saint-Antoine zurück und wanden sich zwischen den unzähligen Wagen und Karren hindurch, die zu jener Stunde nach der Markthalle fahren.

Die Gemüsegärtner, die schläfrig und bis zu den Augen hinaus in ihre Flauschröcke und Decken gehüllt, nur an das Wetter und an ihre Geschäfte dachten, beachteten das sonderbare Paar nicht.

Die Flucht

In derselben Nacht war im Gefängniß La Force Folgendes passirt:

Zwischen Babet, Brujon, Gueulemer und Thénardier war, obgleich Letzterer sich in engerem Gewahrsam befand, ein Plan verabredet worden, um aus dem Gefängniß zu entspringen. Babet freilich hatte am Vormittag, wie man aus Montparnasses Erzählung ersehen, eine Gelegenheit gefunden, seine Flucht allein zu bewerkstelligen. Bei diesem Plan sollte Montparnasse gleichfalls eine Rolle spielen, indem er ihnen von draußen half.

Brujon, der einen Monat lang in einer Strafzelle eingesperrt war, hatte Zeit gehabt, erstens einen Strick zu flechten und zweitens einen Fluchtplan auszuhecken. Früher bestanden die Orte, wo die erbarmungslose Gefängniß-Disciplin widerspenstige Sträflinge allein einschließt, aus vier Steinmauern, einer steinernen Decke, einem Fliesenpflaster, einem eisernen Bett, einer vergitterten Luke, einer mit Eisen beschlagenen Thür und hießen Einzelzellen. Aber seitdem man die Einsperrung in Einzelzellen für zu grausam erklärt hat, sind sie durch andre Zellen ersetzt worden. Diese bestehen aus einer eisernen Thür, einer vergitterten Luke, einem eisernen Bett, einem Fliesenpflaster, einer steinernen Decke und vier Steinmauern, und heißen Strafzellen. Gegen Mittag ist es hier ein wenig hell. Ein Uebelstand an diesen Zellen, die, wie gesagt, keine Einzelzellen sind, ist, daß man Leuten, die arbeiten sollten, Zeit zum Nachdenken giebt.

Brujon hatte also nachgedacht, und demzufolge aus der Strafzelle einen Strick mitgebracht. Da man ihn als ein zu gefährliches Subjekt in dem Hofe Charlemagne nicht haben wollte, brachte man ihn nach dem Batiment-Neuf. Hier traf er zuerst Gueulemer und dann fand er einen Nagel. Das bedeutete ein neues Verbrechen und die Freiheit.

Brujon, von dessen Aeußerem und Charakter wir jetzt eine ausführlichere Beschreibung geben müssen, war von delikater Leibesbeschaffenheit und verstand mit tief durchdachter Heuchelei sich den Anschein und das Aussehen zu geben, als sei er noch schwächlicher und kränklicher, wie er in Wirklichkeit war. Höflich, klug und diebisch; dabei freundliche Augen und ein unheimliches Lächeln. Die gut einstudirte Freundlichkeit des Blickes verdankte er einer konsequenten Willenskraft, sein abscheuliches Lächeln seinem nichtswürdigen Charakter. Seine ersten Studien in seinem Handwerk hatte er der Dachdeckerei gewidmet und mit großem Erfolge.

Ein für eine Entweichung günstiger Umstand war, daß ein Theil des Schieferdachs gerade reparirt wurde. In Folge dessen war der Hof Saint-Bernard von dem Hof Charlemagne nicht mehr vollkommen getrennt. Es befanden sich oben Gerüste und Leitern dazwischen, die einem Flüchtling als Brücken und Treppen dienen konnten.

Das Batiment-Neuf, ein uraltes und wackliges Gebäude, bildete den am wenigsten zuverlässigen Theil des Gefängnisses. Seine Mauern waren von dem Salpeter dermaßen zerfressen, daß man sich genöthigt gesehen hatte, die Gewölbe der Schlafsäle mit Holz zu bekleiden, weil von oben Steine auf die Gefangnen herabfielen. Trotz dem es aber so baufällig war, beging man den Fehler, daß man gerade die gefährlichsten Verbrecher in dem Batiment-Neuf unterbrachte. Dies Gebäude enthielt vier Schlafräume, die über einander lagen und einen Giebel, den man le Bel-Air nannte. Ein großer Rauchfang ging von dem Erdgeschoß aus, mitten durch die Schlafsäle in den Stockwerken hindurch, wo er eine Art abgeplatteten Pfeiler bildete, bis er das Dach erreichte.

Gueulemer und Brujon schliefen in demselben Saal, und zwar in dem untersten Stock, wo man sie Vorsichtshalber untergebracht hatte. Der Zufall hatte es ferner so gefügt, daß die Kopfenden ihrer Betten an den Rauchfang stießen.

Gerade über ihrem Haupt, in dem Le Bel-Air genannten Giebel, befand sich Thénardier.

Wenn man in der Rue Culture-Sainte-Catherine hinter dem Feuerwehrdepot vor der Thür des Badehauses stehen bleibt, sieht man einen Hof voller Kübelgewächse, in dessen Hintergrunde eine kleine, weiße Rotunde mit zwei Seitenflügeln, deren Fenster mit hübschen, grünen Läden versehen sind, sich ausbreitet; ein Bau, der etwas Idyllisches hat. Ehemals stieg hinter dieser heitern Rotunde, die sich daranlehnte, eine finstere, kahle, gewaltige Mauer empor, die Mauer des Rondenwegs im Gefängnisse La Force.

So hoch auch die Mauer war, sie wurde noch überragt durch ein noch dunkleres Dach, das dahinter stand, das Dach des Batiment-Neuf. In diesem sah man vier mit Eisenstangen vergitterte Luken, die Fenster des Giebels, so wie den, zu dem oben beschriebenen Rauchfang gehörigen Schornstein.

Der Giebel des Batiment-Neuf war eine Art großer Boden, der mit dreifachen Gittern und mit eisenbeschlagnen Thüren versehen war. Kam man von dem Nordende hinein, so lagen links die vier Lucken, und rechts, den Lucken gegenüber, vier sehr geräumige, durch schmale Gänge von einander getrennte Käfige, die bis zur Brusthöhe von Mauerwerk und oben von Eisenstangen, die bis zum Dach reichten, umgeben waren.

In einem dieser Käfige befand sich seit der Nacht des 3. Februar Thénardier. Man hat nie ermitteln können, wie und mit wessen Beihilfe es ihm gelang, sich hier eine Flasche jenes, von Desrues, wie es heißt, erfundenen Weines zu verschaffen, dem ein Schlafmittel beigemischt war und der durch die Bande der »Einschläferer« berühmt geworden ist.

In vielen Gefängnissen giebt es ungetreue, spitzbübische Beamte, die sich Schwenzelpfennige machen, indem sie den Gefangenen gute Dienste erweisen.

In der Nacht also, wo Gavroche die beiden obdachlosen Knaben aufgenommen hatte, standen Brujon und Gueulemer, welche wußten, daß der am Morgen entsprungne Babet in Gemeinschaft mit Montparnasse sie draußen erwartete, leise auf und machten sich daran, in die Wand des Rauchfangs mit dem von Brujon gefundnen Nagel ein Loch zu bohren. Der herausgebrochne Mörtel fiel auf Brujons Bett, so daß er kein Geräusch verursachte. Außerdem regnete und donnerte es in jener Nacht so fürchterlich, daß die Häuser in ihren Grundfesten erbebten, was natürlich den Fluchtversuch begünstigte. Die Gefangenen, die in Folge des Lärms aufwachten, thaten, als merkten sie nichts und schliefen weiter. Da Brujon behend und Gueulemer stark war, so wurde, ohne daß der wachthabende Beamte in seiner vergitterten Zelle hören konnte, was im Schlafsaal vorging, die Mauer durchbrochen. Durch das Loch gelangten die beiden Banditen in den Rauchfang, kletterten bis zum Schornstein empor, beseitigten das Eisengitter, womit die Oeffnung verwahrt war, und stiegen auf das Dach.

»Eine bessere Nacht zum Abtippeln kann man sich nicht wünschen!« dachten sie, als sie wohlgefällig in die stürmische Finsternis hineinblickten.

Ein Abgrund von sechs Fuß Breite und achtzig Fuß Tiefe trennte sie von der Mauer des Rondenwegs. Unten in dieser Kluft sahen sie das Bajonett einer Schildwache leuchten. Nun befestigten sie den Strick, den Brujon im Gefängniß gesponnen hatte, mit dem einen Ende an das Schornsteingitter, warfen das andere Ende über die Rondenmauer, sprangen hinüber, klammerten sich an die Zinne, rutschten Einer nach dem Andern den Strick entlang bis auf ein kleines Dach, das an das Badehaus stößt, zogen das obere Ende des Stricks an sich, sprangen auf den Hof hinab, zogen an der Schnur, die daneben hing, öffneten die Thür und befanden sich auf der Straße.

Es waren auf diese Weise keine drei Viertelstunden vergangen, seitdem sie, den Nagel in der Hand, ihren Plan im Kopfe, sich in ihren Betten aufgerichtet hatten.

Einige Augenblicke später hatten sie sich Babet und Montparnasse, die in der Umgegend warteten, angeschlossen.

Als sie den Strick an sich zogen, war er gerissen, so daß ein Theil an dem Schornstein hängen blieb. Körperliche Beschädigungen hatten sie nicht erlitten, außer daß sie sich fast die ganze Haut von den Händen abgeschunden hatten.

Thénardier mußte, ohne daß man je ermitteln konnte, auf welche Weise, Kenntniß von ihrem Vorhaben bekommen haben und schlief in jener Nacht nicht.

Gegen ein Uhr Morgens sah er durch den Regen und Sturm vor der Luke, die seinem Fenster gegenüber lag, zwei Gestalten vorbeigehen. Die eine blieb einen Augenblick still stehen. Es war Brujon, Thénardier erkannte ihn und verstand. Der Wink genügte ihm.

Als ein Verbrecher, der eines nächtlichen, heimtückischen Ueberfalls mit bewaffneter Hand angeklagt war, wurde Thénardier besonders streng bewacht. Eine Schildwache, die alle zwei Stunden abgelöst wurde, ging mit geladnem Gewehr vor seinem Käfig auf und ab. Der Boden war mit einer Hängelampe erleuchtet. An den Füßen hatte der Gefangene ein Paar fünfzig Pfund schwere Eisen. Ferner kam täglich um vier Uhr Nachmittags ein Wärter mit zwei Doggen, — denn dies war damals noch üblich, — ging in den Käfig hinein, stellte neben das Bett einen Krug Wasser, ein zweipfündiges Schwarzbrod und einen Napf mit ziemlich magrer Bouillon, worin einige Pferdebohnen schwammen. Dieser Mann besah die Fußeisen, beklopfte die Eisenstangen des Käfigs und kam auch zweimal des Nachts mit seinen Doggen wieder.

Indessen hatte Thénardier sich die Erlaubniß erwirkt, einen eisernen Nagel zu behalten, mit dem er sein Brot an das Mauerwerk festnagelte, angeblich, um es vor den Ratten zu schützen. In Anbetracht der strengen Bewachung schien diese Vergünstigung auch durchaus unbedenklicher Natur zu sein. Man erinnerte sich aber in der Folge, daß ein Beamter diese Ansicht nicht getheilt hatte. »Es wäre besser,« sagte dieser, »man gäbe ihm nur einen hölzernen Pflock.«

Um zwei Uhr Morgens wurde der alte Soldat, der vor Thénardiers Käfig Schildwache stand, abgelöst und durch einen Rekruten ersetzt. Einige Augenblicke später kam der Mann mit den beiden Hunden. Er bemerkte nichts Verdächtiges. Nur, daß die Schildwache doch gar zu jung und bäurisch dumm aussah. Als dann zwei Stunden nachher, also um vier Uhr, wieder Ablösung erschien, lag der Rekrut an der Erde und schlief wie ein Klumpen Blei. Thénardier aber war verschwunden.

Die Fußeisen fand man zerbrochen auf dem Boden liegen.

In der Decke des Käfigs war ein Loch und darüber im Dach ein zweites. Aus dem Bettgestell war ein Brett losgebrochen und konnte nicht wiedergefunden werden. Endlich entdeckte man noch in einer halb geleerten Flasche einen Rest von jenem Wein, den Thénardier sich verschafft hatte, um den Rekruten betrunken zu machen. Das Bajonett des Soldaten fehlte ebenfalls.

Zu der Zeit, wo alles dies konstatirt wurde, glaubte man, Thénardier sei über alle Berge. In Wirklichkeit befand er sich zwar nicht mehr im Batiment-Neuf, aber immer noch in großer Gefahr.

Als er auf dem Dach des Batiment-Neuf anlangte, hatte Thénardier wohl das Ende von Brujon’s Strick vorgefunden, das an dem Gitter des Schornsteins hing, aber es war viel zu kurz, als daß er auf demselben Wege wie Brujon und Gueulemer hätte herunterkommen können.

Biegt man aus der Rue des Ballets in die Rue du Roi-de-Sicile ein, so liegt rechts, nicht weit von der Ecke, etwas hinter der Straßenflucht ein Grundstück, auf dem die Trümmer eines Hauses stehen, d. h. nur seine drei Stock hohe Hinterwand. Diese Ruine ist erkennbar an zwei großen Fenstern, von denen das in der Mitte, der rechten Giebelseite zunächst gelegne, mit einem quer gelegten, als Stützsparen dienenden, wurmstichigen Balken versehen ist. Durch diese Fenster sah man ehemals eine hohe, düstre Mauer, ein Ueberbleibsel von dem Rondenweg des Gefängnisses La Force.

Die Lücke, die dieses verfallene Haus an der Straße gelassen hat, ist zur Hälfte von einem morschen Bretterzaun ausgefüllt, der mit fünf Prellsteinen, wie mit Strebepfeilern, gestützt ist. Hinter dieser Einfriedigung verbirgt sich eine kleine Baracke, die sich an die stehen gebliebene Ruine anlehnt. In dem Zaun befand sich eine Thür, die noch um das Jahr 1845 nur mit einer Klinke versehen war.

Auf dem First dieser verfallnen Mauer also langte Thénardier bald nach drei Uhr Morgens an.

Wie er dort hinkam, hat man nie erklären, noch begreifen können. Die Blitze waren ihm offenbar zugleich hinderlich und förderlich gewesen. War er mittels der Leitern und Gerüste der Dachdecker über die Gebäude des Hofes Charlemagne, des Hofes Saint-Louis die Rondenmauer entlang nach dem verfallnen Hause an der Rue du Roi-de-Sicile gelangt? Aber auf diesem Wege waren Lücken, die unüberbrückbar schienen. Hatte er das Brett von seinem Bettgestell von dem Dach des Giebels Bel-Air nach der Mauer des Rondenwegs hinüberbelegt und war dann hier auf dem Bauch, um das Gefängniß herum, bis zu der verfallnen Mauer gekrochen? Aber die Mauer des Rondenwegs beschrieb eine ungleichmäßige Zinnenlinie, war hier höher, dort niedriger und von Gebäuden unterbrochen; außerdem hätten ihn die Schildwachen sehen müssen; also auch auf diese Weise ließ sich Thénardier’s Flucht nicht erklären. Hatte er angespornt durch den mächtigen Drang nach Freiheit, der Abgründe in kleine Gräben, Eisengitter in Korbgeflechte, Krüppel in Athleten, Lahme in Gemsen, die Dummheit in einen sichern Instinkt, den Instinkt in Verstand, den Verstand in Genie verwandelt, ein drittes Mittel gefunden? Man hat es nie erfahren können.

Es ist nicht immer möglich, die wunderbaren Leistungen zu begreifen, deren Gefangene fähig sind, wenn sie ihre Freiheit wieder erlangen wollen. Ein Mensch, der aus einem Gefängniß entspringt, hat eine eigene Art Inspiration und wird von einem besondern Glücksstern geleitet; die Einfälle, die in seinem Hirn aufblitzen, sind nicht minder genial, als die Ideen, mit denen große Dichter die Welt überraschen. Deshalb frage man nicht: »Wie hat er es angefangen, um auf solch ein Dach hinaufzukommen?« So wenig wie man erforschen kann, wie Corneille auf den Gedanken kam, dem alten Horatius auf die Frage, was hätte Dein Sohn thun sollen? die Antwort: Sterben! in den Mund zu legen.

Wie dem also auch sei, in Schweiß gebadet, von Regen durchnäßt, mit zerfetzten Kleidern, zerschundenen Händen, Ellbogen und Knieen kam Thénardier auf dem obern Rand der Ruinenmauer an und blieb dort liegen, da die Kräfte ihm versagten.

Der Strick, den er mitgenommen hatte, war zu kurz.

Hier wartete er leichenblaß, erschöpft, vollständig entmuthigt, noch vom nächtlichen Dunkel beschützt, aber wohl wissend, daß der Anbruch des Tages nicht fern war, entsetzt über den Gedanken, daß die Uhr der Kirche Saint-Paul binnen kurzem vier schlagen, und daß man alsdann die eingeschläferte Schildwache finden würde, und unter sich sah er in grauenvoller Tiefe bei dem Licht der Laternen, das nasse und dunkle Straßenpflaster, nach dem er so sehnlich verlangte und vor dem er sich so sehr fürchtete, das für ihn den Tod oder die Freiheit bedeuten konnte.

Er fragte sich, ob der Fluchtversuch seiner Kameraden geglückt wäre, ob sie ihn bemerkt hätten und ihm zu Hülfe kommen würden. Er horchte. Aber außer einer Patrouille war, so lange er da oben lag, noch Niemand die Straße entlang gekommen. Denn die Gemüsehändler, die von Montreuil, Charonne, Vincennes und Bercy nach der Markthalle fahren, passiren fast sämtlich durch die Rue Saint-Antoine.

Da schlug es vier Uhr. Thénardier erschrack. Bald darauf wurde jener verworrene Lärm lautbar, der in einem Gefängniß auf die Entdeckung eines geglückten Fluchtversuchs folgt. Thüren schlugen auf und zu, Gitter knarrten in ihren Angeln„ der Wachtposten wurde allarmirt, Stimmen erschallten, Flintenkolben wurden gegen die Erde gestoßen. Lichter eilten Trepp auf, Trepp ab die Schlafsäle entlang, und er sah eine Fackel auf dem Giebel, denn die Feuerwehr war aus dem benachbarten Depot aufgeboten worden und suchte das Dach ab. Desgleichen bemerkte Thénardier in der Richtung der Bastille einen fahlen Lichtschein, der den Horizont unheimlich erhellte.

Er lag unterdessen auf einer zehn Zoll breiten Mauer, mit zwei Abgründen rechts und links neben sich, unfähig sich zu rühren, und seine Gedanken bewegten sich wie ein Pendel zwischen der Möglichkeit hinabzustürzen und der Gewißheit wieder eingefangen zu werden, wenn er blieb.

Während er sich so abängstigte, sah er plötzlich auf der noch ganz dunkeln Straße einen Mann, der sich an den Häusern entlang heran schlich, unten vor dem Zaun stehen bleiben. Diesem Mann schloß sich ein Andrer an, der mit derselben Vorsicht herankam, und diesen ein Dritter und endlich ein Vierter. Dann klinkte Einer von ihnen die Zaunthür auf und alle Vier traten in den Raum hinein, wo die Baracke stand, und stellten sich unmittelbar unter dem Theil der Mauer auf, wo Thénardier lag. Offenbar hatten die Leute dieses Stelldichein gewählt, um von den Passanten auf der Straße und der Schildwache, die an der Pforte des Gefängnisses stand, nicht beobachtet und belauscht zu werden. Wir müssen auch erwähnen, daß der Regen den Soldaten zwang, in seinem Schilderhaus zu bleiben. Thénardier, der ihre Gesichter nicht unterscheiden konnte, lauschte desto angestrengter nach ihnen hinunter, ob sie ihm vielleicht Rettung bringen würden.

In der That dämmerte alsbald die Hoffnung in ihm auf. Sie waren, wie er an ihrer Sprache erkannte, ebenfalls Gauner und Verbrecher.

»Wir wollen abscheften. Was können wir wohl noch hier machen?« sagte der Eine leise, aber sehr deutlich.

»Es regnet,« sagte ein Anderer, »daß den Deibel sein Feuer ausgehen könnte. Die Greifer werden auch bald die Straße lang kommen und nebenan steht eine Schildwache. Kommt, hier gehen wir doch bloß kaule.«

Jetzt erkannte Thénardier sie an der Stimme, es waren Brujon und Babet.

»Noch haben wir keine Eile und können ein Bischen warten. Wer weiß, ob er nicht noch zu retten ist,« sagte der Dritte, Montparnasse, der den Ehrgeiz hatte, die Gaunersprache gründlich zu verstehen, aber ein zu eleganter Junge war, um sich ihrer für sich selbst zu bedienen.

Der Vierte schwieg, aber Thénardier erkannte ihn an seinen gewaltigen Schultern; es war Gueulemer.

Brujon antwortete ärgerlich, aber leise auf Montparnasses Einwand:

»Der Schöcher ist kein kesser Junge, wie wir; er versteht sich nicht aufs Abbaschen. Du hast das Geschrei in der Tfieze gehört, die Lichter gesehen und weißt so gut wie wir, daß die Amtsschauter ihn wieder gefaßt haben.«

»Man soll seine Freunde nicht im Stich lassen,« murrte Montparnasse.

»Wir haben alles gethan, was wir konnten,« gab Brujon zurück. »Du weißt, daß ich so leicht keinen Bammel kriege, aber es ist nichts mehr zu machen. Komm, sei vernünftig. Wir wollen nach der Kaschemme gehen und eine Flasche guten Wein trinken.«

Montparnasse leistete jetzt nur noch schwachen Widerstand. Die vier Männer hatten sich in der That treu, wie die Verbrecher in der Noth gegen ihre Kumpane sind, die ganze Nacht trotz der großen Gefahr, der sie sich aussetzten, in der Nähe des Gefängnisses herumgetrieben, in der Hoffnung Thénardier irgendwo auftauchen zu sehen. Aber die Nacht, die es gar zu gut mit ihnen meinte, die Kälte, der sie in ihren durchnäßten Kleidern und ihren zerrissenen Stiefeln nicht länger widerstehen konnten, der Lärm im Gefängniß, das vergebliche Warten, die Begegnung mit mehreren Patrouillen, alle diese Umstände zwangen sie, ernstlich an ihre eigene Sicherheit zu denken und Montparnasse selber, der vielleicht ein bischen schwiegersöhnliche Beziehungen zu Thénardier hatte, fing an nachzugeben. Noch einen Augenblick, so gingen sie. Der Flüchtling oben auf seiner Mauer keuchte schon vor Angst, wie ein Schiffbrüchiger auf seinem Floß, der die Segel eines Schiffes aus seinem Gesichtskreis entschwinden sieht.

Denn er wagte nicht sie laut anzurufen, aus Furcht, er könnte gehört werden. Da aber kam ihm ein letzter, glücklicher Gedanke. Er holte Brujon’s Strick, den er von dem Schornstein losgemacht hatte, aus der Tasche hervor und warf ihn hinunter, so daß er dicht vor den vier Banditen niederfiel.

»Ein Strick!« rief Babet.

»Das ist der Gastwirt«, sagte Montparnasse.

Sie blickten empor. Oben zeigte sich Thénardier’s Gesicht.

»Schnell, Brujon!« rief Montparnasse. »Hast Du noch das andre Ende?«

»Ja.«

»Knüpfe die beiden Enden zusammen. Dann schleudern wir den Strick hinauf, er macht ihn fest und kann daran herunter kommen. Ausreichen wird er schon dazu.«

Jetzt wagte Thénardier laut zu sprechen.

»Ich bin erstarrt von der Kälte.«

»Wir werden Dich schon warm kriegen.«

»Ich kann mich nicht bewegen, so steif bin ich.«

»Du brauchst blos hinabzurutschen; wir fangen Dich auf.«

»Meine Hände sind klamm.«

»Wenn Du blos den Strick an die Mauer festbindest.«

»Es geht nicht.«

»Einer von uns muß hinauf!« meinte Montparnasse.

»Drei Stockwerke!« sagte Brujon und schüttelte den Kopf.

Aus der Baracke stieg ein altes Ofenrohr aus Gips an der Mauer empor und reichte beinahe bis zu dem Punkte, wo sich Thénardier befand. Dieses Rohr, von dem noch Spuren übrig geblieben sind, war voller Risse und sehr eng.

»Da könnte man hinauf!« meinte Montparnasse.

»Durch die Röhre?« rief Babet. »Denk nicht dran! Ein Erwachsener ist zu stark dazu. Wenn ein Junge da wäre!«

»Wo sollen wir einen hernehmen?« fragte Gueulemer.

»Wartet. Damit kann ich dienen,« sagte Montparnasse.

Er öffnete sacht die Zaunthür, spähte, ob Niemand die Straße entlang kam, ging vorsichtig hinaus, machte die Thür hinter sich zu und rannte dann in der Richtung des Bastilleplatzes davon.

Sieben bis acht Minuten, für Thènardier achttausend Jahrhunderte, verstrichen; Babet, Brujon und Gueulemer thaten nicht den Mund auf; dann ging endlich die Thür wieder und Montparnasse erschien, außer Athem und in Begleitung von Gavroche. Die Straße war wegen des fürchterlichen Regens noch immer menschenleer.

Der kleine Gavroche kam herein, ohne vor den Banditen die geringste Furcht zu zeigen. Das Wasser troff ihm aus den Haaren. Gueulemer redete ihn an:

»Junge, bist Du ein Mann?«

»Ein Junge, wie ich ist ein Mann und Männer wie Ihr sind blos Jungens!« gab Gavroche achselzuckend zurück.

»Ist der Knirps großmäulig!« rief Babet.

»Die Pariser Kinder sind nicht auf den Kopf gefallen!« meinte Brujon.

»Was wollt Ihr von mir?« fragte Gavroche.

»Du sollst durch das Rohr da hinaufkriechen«, antwortete Montparnasse.

»Mit diesem Strick,« sagte Babet.

»Und ihn oben festbinden«, fügte Brujon hinzu.

»An das Querholz im Fenster«, erläuterte Babet.

»Und was noch?« fragte Gavroche.

»Das ist alles«, beschloß Gueulemer.

Der Junge sah sich den Strick, das Rohr, die Mauer, die Fenster an und schob verächtlich die Lippen vor, als wollte er sagen:

»Weiter nichts?«

»Da oben ist Einer, den Du retten kannst«, sagte Montparnasse.

»Willst Du’s thun?« fragte Brujon.

»Ne, so ’ne Frage!« antwortete der Kleine entrüstet und zog seine Schuhe aus. Gueulemer ergriff ihn mit einer Hand, und stellte ihn auf das Dach der Baracke, deren wurmstichige Bretter sich unter der Last des Knaben bogen, und reichte ihm den Strick, dessen Enden Brujon in Montparnasse’s Abwesenheit wieder zusammengeknüpft hatte. Der Junge ging auf das Rohr zu, wo man durch einen breiten Riß leicht hineingelangen konnte. In diesem Augenblick neigte sich Thènardier, der die Rettung so nahe sah, über den Rand der Mauer und zeigte bei dem ersten, schwachen Schein der Morgendämmerung seine mit Angstschweiß bedeckte Stirn, seine erdfahlen Wangen, seine dünne Nase, seinen grauen, struppigen Bart, und Gavroche erkannte ihn.

»I was, mein Vater! — Na, schadet nichts!«

Dann nahm er entschlossen den Strick zwischen die Zähne und klomm hinauf.

Oben angelangt, setzte er sich rittlings auf die Mauer und befestigte den Strick an das obere Querholz des Fensters.

Einen Augenblick später befand sich Thénardier unten auf der Straße.

Sobald seine Füße das Pflaster berührten, sobald er sich außer Gefahr fühlte, empfand er keine Müdigkeit, keine Kälte, keine Angst mehr; die Schrecknisse, die er so eben durchgemacht hatte, verflüchtigten sich aus seinem Bewußtsein, wie ein schwacher Dunst und sofort war er wieder im Vollbesitz seines Verstandes. Die ersten Worte, die er herausbrachte, lauteten:

»Wen werden wir uns denn nun langen?«

Daß mit diesem abscheulich klaren Wort nur ein Mord oder Diebstahl gemeint war, brauchen wir wohl kaum noch zu sagen.

»Mir müssen uns drücken«, schlug Brujon vor. »Erledigen wir die Sache mit wenigen Worten und gehen wir dann sofort auseinander. Es war wohl ein Geschäft in Aussicht, das ganz leicht zu machen schien. In der Rue Plumet. Eine einsame Gegend, ein einzelnes Haus, ein verrostetes, schwaches Gitter, blos ein paar Frauenzimmer.«

»Nun, warum geht es nicht?« forschte Thènardier.

»Deine Tochter Eponine hat es ausbaldowert und hat der Magnon gesagt, daß da kein Geschäft zu machen ist«, erwiderte Babet.

»Das Mädel ist nicht dumm,« sagte Ténardier, »Aber man sollte sich doch die Sache selber ansehen.«

»Ja, ja!« stimmte ihm Brujon bei.

Während dieses Gesprächs achtete Keiner von ihnen auf Gavroche, der auf einem Prellstein am Zaun saß. Er wartete eine Weile, vielleicht ob sein Vater sich nach ihm umwenden würde, zog dann seine Schuhe an und sagte:

»Ist die Geschichte zu Ende? Braucht Ihr Männer mich nicht mehr? Na, wenn Ihr aus der Patsche raus seid, denn gehe ich und wecke meine Würmer.«

Mit diesen Worten entfernte er sich, und gleich nach ihm verließen auch die fünf Männer, Einer nach dem Andern, den Ort.

Als Gavroche hinter der Ecke der Rue des Ballets verschwunden war, nahm Babet Thènardier bei Seite und sagte:

»Hast Du Dir den Jungen angesehen?«

»Welchen Jungen?«

»Der die Mauer hinaufgeklettert ist und Dir den Strick gebracht hat.«

»Nicht genau.«

»Na, ich weiß nicht; aber ich denke mir, es ist Dein Sohn.«

»Was Du sagst!«

Die Gaunersprache

[Fußnote]

Der Ursprung der Gaunersprache

Als der Verfasser dieser lehrreichen und traurigen Geschichte im Jahre 1828 in einem, denselben Zweck verfolgenden Werke (der letzte Tag eines Verurtheilten) einen Spitzbuben, der sich der Gaunersprache bediente, einführte, erhob ein Theil des Publikums verwunderte Proteste gegen dieses Beginnen. »Was? Die Sprache der Verbrecher, des Abschaums der Gesellschaft, in der Litteratur!«

Für derartige Einwände haben wir kein Verständnis.

Seitdem haben zwei tüchtige Schriftsteller, von denen der Eine ein gründlicher Kenner des menschlicher Herzens, der Andere ein unerschrockner Freund des Volkes ist, Balzac und Eugène Sue, ebenfalls Banditen ihre wirkliche Sprache reden lassen und wieder sind dieselben Klagen laut geworden: »Wenn die Schriftsteller uns doch mit der abscheulichen Hallunkensprache in Ruhe lassen wollten! Es graut und ekelt einem ja vor solcher Lektüre!«

Wer leugnet, daß die Gaunersprache etwas Widerwärtiges sei?

Aber wenn es gilt, die Tiefen einer Wunde, eines Abgrunds, einer Civilisation zu sondiren, kann man nie zu weit gehen, nie zu tief hinabsteigen. Wir hatten immer geglaubt, es sei eine muthvolle That oder allerwenigstens eine einfache und ersprießliche Handlung, die wegen der darin enthaltenen Anerkennung und Erfüllung einer Pflicht, beifällige wohlwollende Beachtung verdiente. Warum nicht alles durchforschen, nicht alles studiren? Warum mitten auf dem Wege stehen bleiben? Die Sonde darf dies, der Sondirer nicht.

Allerdings, in die Niederungen hinabzusteigen, dorthin, wo das feste Erdreich aufhört und der Sumpf anfängt, und das unflätige Idiom aus dem Schlamm hervorzuzerren und in der Nähe zu betrachten ist keine angenehme, keine leichte Aufgabe. Gewiß, die Wörter und Redewendungen der Gaunersprache hören sich albern, unheimlich, grausig an. Diese Sprache gleicht den ekelhaften Organismen, die in der Fäulniß ihre Lebensbedingungen finden.

Aber seit wann befreit der Abscheu von der Pflicht des Studiums? Seit wann schreckt die Krankheit den Arzt zurück? Kann man sich einen Naturforscher vorstellen, der sich weigert der Viper, der Fledermaus, dem Skorpion, der Assel, der Tarantel seine Beachtung zu schenken, weil sie ihm zu häßlich sind? Der Denker, der von der Gaunersprache nichts wissen mag, gleicht dem Chirurgen, der sich vor einem Geschwulst oder einer Warze ekelt. Er wäre ein Philologe, der eine sprachliche, ein Philosoph, der eine die Menschheit interessirende Thatsache ignoriren würde. Denn es muß Denen, die es nicht wissen, gesagt werden, daß die Gaunersprache zugleich ein linguistisches Phänomen und ein Ergebnis der gesellschaftlichen und staatlichen Einrichtungen ist. Was ist die Gaunersprache? Die Sprache des Elends.

Man könnte zu Gunsten der Gaunersprache die Thatsachen betonen, daß jeder Stand, jeder Beruf, jedes Handwerk, alle Künste und Wissenschaften ihre eignen Wörter und Redewendungen haben, die den Laien so unverständlich sind, wie die Gaunersprache den ehrbaren Leuten. So sagt der Soldat statt Gewehr »Kuhfuß«; der Handwerker nennt seinen Lehrling einen Stift; in Marktberichten heißt es, daß die Preise nicht unwesentlich anzogen; der Schauspieler streicht sich das Lederzeug an; der Dichter spricht von den Geschenken Pomonas, u. s. w. Aber so unverständlich diese Ausdrücke an sich sind und so wesentlich dieses Merkmal ist, das die erwähnten Idiome mit der Gaunersprache gemein haben, so unterscheidet sich diese doch von allen andern Idiomen durch ihre besondere Gemeinheit, Roheit und Bosheit und nimmt deshalb unter allen eine Sonderstellung ein, Sie ist nämlich die Sprache des Elends, das gegen die übrige Gesellschaft Front macht, sich gegen die Rechte der Glücklichen und Herrschenden empört, den Gesellschaftsbau durch das Laster und das Verbrechen untergräbt. Sie ist also eine Kampfsprache und dieser Umstand verleiht ihr ein eigenartiges Gepräge.

Eine Sprache oder auch ein Bruchstück irgend einer Sprache, deren sich irgendwo und irgendwann Menschen bedient haben, also einen der guten oder schlechten Bestandtheile und Bedingungen der Civilisation, der Vergessenheit entreißen, heißt das Forschungsmaterial vermehren, heißt die Civilisation fördern. Einen solchen Dienst hat mit oder seinen Willen Plautus der Wissenschaft erwiesen, in dem er in einem seiner Lustspiele zwei karthagische Soldaten phönicisch sprechen ließ, und Molière, der die lingua franca und verschiedene französische Bauerndialekte verwendete.

Aber hier wird man mir wieder Einwürfe machen. Ja, das ist ganz was Andres. Das Phönicische, die lingua franca läßt man sich gefallen, die Dialekte mögen auch hingehen; das sind Sprachen, die von ganzen Nationen oder wenigstens in Provinzen gesprochen werden. Aber wozu soll es nützen, wenn die Gaunersprache studirt und schriftlich fixirt wird?

Hierauf wollen wir nur eins erwiedern. Wenn die Sprache einer Nation oder einer Provinz Beachtung verdient, so ist die Sprache, die das Elend spricht, des Studiums und der Theilnahme in noch höherem Grade wert.

Ferner ist die Beschreibung socialer Schäden und Gebrechen, deren Heilung man erstrebt, keine Aufgabe, die eine Auswahl zu treffen gestattet. Der Historiker der Sitten und Ideen hat einen nicht weniger erhabenen Beruf, als derjenige, der nur Ereignisse verzeichnet. Dieser betrachtet die Außenseite der Civilisation, Geburten und Hochzeiten von Fürstlichkeiten, Schlachten, Versammlungen, große Staatsmänner, die zu Tage getretenen Ergebnisse der Revolutionen; die andre Klasse von Geschichtsschreibern dagegen beschäftigt sich mit der Innenseite, der Basis, dem Hintergrund der Ereignisse, also mit dem arbeitenden, leidenden und wartenden Volke, den niedergetretenen Rechten der Frau und des Kindes, den tückischen Kriegen zwischen den Einzelnen, den verborgenen Grausamkeiten, den Vorurtheilen, den konventionellen Ungerechtigkeiten, den unbeabsichtigten Wirkungen der Gesetze, den allmählichen Veränderungen nationaler Anschauungen, den Regungen der Volksseele, den Hungerleidern, den Enterbten, den Wittwen und Waisen, den Unglücklichen und Geächteten, überhaupt allen Denen, die in der Finsterniß des Elends wie Schatten herumirren. Ein solcher Historiker muß, milde wie ein Bruder und strenge wie ein Richter, die Beweggründe der Handlungen aufdecken und sowohl von Denen erzählen, die Böses erdulden, als auch von Denen, die Böses Thun. Haben diese Geschichtsschreiber geringere Pflichten, als diejenigen, die äußerliche Thatsachen beschreiben. Glaubt man, daß Alighieri weniger Wichtiges zu sagen hat, als Macchiavelli? Verdienen die Tiefen der Civilisation, weil sie dunkel sind, weniger Beachtung, als ihre Höhen? Kennt man den Berg, wenn man nicht die Höhle kennt?

Vielleicht könnte man, beiläufig bemerkt, aus dem so eben Gesagten eine scharfe Scheidung beider Klassen von Historikern folgern, die für uns aber nicht existirt. Keiner kann das öffentliche, sichtbare, augenfällige Leben der Völker gut schildern, wenn er nicht zugleich ihr inneres und verborgenes Leben bis zu einem gewissen Grade ergründet. Die Geschichte der Sitten, der Ideen und die der Ereignisse durchdringen, ergänzen, entsprechen sich gegenseitig, verketten sich mit einander.

Denn der Mensch hat nicht, wie der Kreis, nur ein Centrum; er gleicht vielmehr der Ellipse, die zwei Brennpunkte besitzt. Bei dem Menschen bilden die Thatsachen einen solchen Mittelpunkt und die Ideen einen andern.

Das Gauneridiom ist nichts Anderes als eine Garderobe, wo die Sprache, wenn sie eine Schlechtigkeit begehen will, sich verkleidet. Daher die maskirten Wörter und die gemeinen Metaphern.

Aber so scheußlich die Sprache des Verbrechens auch sein mag, lasset uns Mitleid haben mit denen, die sie sprechen. Wer sind wir denn, daß wir sie verdammen dürften? Wer bin ich, der mit Euch? Wer seid Ihr, die Ihr mir zuhört? Woher kommen wir? Und ist es sicher, daß wir nichts begangen haben, ehe wir geboren wurden? Die Erde ist einem Gefängniß nicht unähnlich. Wer weiß, ob der Mensch nicht ein von der göttlichen Justiz verurtheilter Sträfling ist?

Seht Euch das Leben näher an. Ueberall Strafe und wieder Strafe!

Bist Du, was man einen Glücklichen nennt, dann bist Du doch mit fortwährendem Leid belastet. Jeden Tag bringt Dir irgend einen großen Kummer oder eine kleine Sorge. Gestern zittertest Du für die Gesundheit Jemandes, der Deinem Herzen theuer ist; heute ist Dir um die Deinige bange; morgen wird Dir Geldmangel, übermorgen die Bosheit eines Verleumders, den nächsten Tag das Unglück eines Freundes Sorge machen; dann das Wetter, irgend ein Verlust, ein Vergnügen, mit dem Dein Gewissen oder Dein Rückgrat nicht einverstanden ist; ein anderes Mal wieder politische Ereignisse. Der Herzensangelegenheiten zu geschweigen. U. dergl. m. Löst sich eine Wolke auf, so dräut alsbald eine andere. Unter hundert Tagen ist kaum einer, der lauter Freuden und lauter Sonnenschein bringt. Und dabei gehörst Du zu denen, deren Loos ein glückliches ist! Ueber den andern Menschen lagert beständige Nacht.

Deshalb werden auch diejenigen, die nachdenklich veranlagt sind, sich nicht leicht der Ausdrücke: Glückliche und Unglückliche bedienen. Auf dieser Welt, die offenbar der Vorhof zu einer andern ist, giebt es keine Glücklichen.

Eine richtigere Einteilung ist die, welche Erleuchtete und Umnachtete unterscheidet.

Die Zahl der Erleuchteten vermehren, die der Umnachteten vermindern — das ist das Ziel, dem die Menschheit zustreben soll. Deshalb rufen wir beständig: Schulunterricht! Wissenschaft! Lesen lehren heißt Licht anzünden.

Licht bedeutet aber nicht nothwendiger Weise Freude. Auch die Erleuchteten leiden. Dasselbe Feuer, das leuchtet, verbrennt auch, wenn es zu stark ist. Die Flamme versengt die Flügel des Vogels. Nur das Genie bringt das Wunder zu Wege, daß es brennen und doch dabei fliegen kann.

Wenn Du je die Welt verstehen und Deine Mitgeschöpfe mit Liebe umfangen lernst, wirst Du auch noch leiden und weinen. Die Erleuchteten haben Kummer, wäre es auch nur wegen der Umnachteten.

Die Etymologie der Gaunersprache

Unter einem rein litterarischen Gesichtspunkt betrachtet sind wenige Studien anziehender und fruchtbarer als die Gaunersprache. Es ist eine Sprache in der Sprache, eine Art krankhafter Auswuchs, ein ungesundes Pfropfreis, aus dem eine ganze Vegetation hervorgegangen ist, eine Schmarotzerpflanze, die in unserm alten, gallischen Sprachstamm wurzelt. So sieht wenigstens dieses Idiom auf den ersten Blick, für den oberflächlichen, gewöhnlichen Betrachter, aus. Aber denjenigen, die Sprachen studiren, wie sie studirt werden müssen, nämlich wie die Geologen die Erde, erscheint die Gaunersprache einem angeschwemmten Land ähnlich. Je nachdem man sie mehr oder weniger durchforscht, findet man in ihr, unter der altfranzösischen Volkssprache, provencalische, spanische, italienische Elemente, Wörter der lingua franca, die in den Seestädten des Mittelländischen Meeres gesprochen wird, englische, deutsche, lateinische, endlich baskische und celtische Bestandtheile. An dem Gebäude haben also alle möglichen Kinder des Elends gearbeitet. Jede fluchbeladne Generation hat eine Schicht hinterlassen, jedes Leid einen Stein eingefügt.

Außer diesem entliehenen Material hat die Gaunersprache noch andere Quellen, die gewissermassen dem Menschengeist selber entstammen.

Erstens die unmittelbare Wortschöpfung. Hierin besteht das große Mysterium der Sprachen, mit Worten Gegenstände schildern, Vorstellungen von ihrem Wesen erwecken. Dies ist der Untergrund, gleichsam der Granit, auf dem jede menschliche Sprache aufgebaut ist. In dem Gauneridiom wimmelt es von solchen, ohne Vermittlung, von vornherein aus einem Stück gebildeten Wörtern, die merkwürdig ausdrucksvoll und lebendig sind.

Zweitens die figürliche, übertragene Redeweise. Eine Sprache, die alles sagen und alles verheimlichen will, muß nothgedrungen viel Metaphern erzeugen. [Fußnote]

Drittens Entstellung von Wörtern der gewöhnlichen Sprache. Z. B. hängt man oft, um von den »Wittischen« nicht verstanden zu werden, ein und dieselbe Endung an alle möglichen Wörter.

Als Erzeugnisse der Verderbnis, verderben und vergehen die Wörter der Gaunersprache überaus schnell. Um sich dem allgemeinen Verständnis zu entziehen, verändert sie sich, so bald sie nicht mehr unverständlich ist und erleidet in zehn Jahren mehr Umwälzungen, als gewöhnliche Sprachen in zehn Jahrhunderten.

Wer wissen will, wo die meisten Bagnolieder entstanden sind, der lese Folgendes:

In dem Châtelet zu Paris war ein großer, langer Keller, der acht Fuß unter dem Niveau der Seine lag. Fenster hatte er nicht; die einzige Oeffnung war die Thür. Menschen konnten hinein, die Luft nicht. Die Decke war ein steinernes Gewölbe, als Fußboden diente zehn Zoll dicker Schlamm. Er war wohl mit Fliesen gepflastert, aber das durchgesickerte Wasser hatte die Steine überall durchbrochen und zerbröckelt. Acht Fuß über dem Boden war ein langer, massiver Balken angebracht, der von dem einen Ende des Kellers bis zum andern reichte. Von diesem Balken hingen in regelmäßigen Zwischenräumen drei Fuß lange Ketten herab und unten an jeder Kette war ein Halseisen. In diesem Keller wurden die zur Galerenstrafe verurtheilten Verbrecher bis zu dem Tage ihrer Abreise nach Toulon untergebracht. Man schob sie unter den Balken, und steckte sie in die Halseisen. Da die Kette zu kurz war. konnten sie sich nicht hinlegen. Sie mußten also immer stehen und wenn ihre Kniee und Hüften ihnen den Dienst versagten, konnten sie sich nur ausruhen, indem sie sich mit den Händen an der Kette fest hielten. Schliefen sie, so weckte sie alle Augenblicke das Halseisen, das sie würgte. Natürlich wachten manche dann gar nicht mehr auf. Um den Wasserkrug oder das Brod zu langen, das man ihnen in den Koth vor die Füße warf, bedurfte es ungeheuerlicher Anstrengungen. Sie schoben es mit einem Hacken am Bein hinauf, bis sie es mit den Händen fassen konnten. Nicht einmal, wenn sie ihre natürlichen Bedürfnisse befriedigen mußten, wurden sie von der Kette losgemacht. Wie lange blieben sie in diesem Keller? Ein, zwei, manchmal sechs Monate. Einer ein ganzes Jahr. In dieses Vorzimmer des Zuchthauses konnte man kommen, wenn man blos dem König einen Hasen weggeschossen hatte. Wie verbrachten sie aber ihre Zeit? Sie stöhnten und — sangen. Denn wenn die Hoffnung geschwunden ist, bleibt doch immer noch der Gesang. Der arme Wilderer Survincent, der in dem Keller des Châlet eingesperrt gewesen ist, sagte: »Das Singen hat mich aufrecht erhalten.« Und da behaupten noch Manche, die Poesie sei zu nichts nütze! In diesem Keller also sind fast alle Lieder der Gaunersprache entstanden. Die meisten sind melancholischer Natur, andre heitre Weisen und eins ist gar ein Liebeslied!

Scherz und Ernst in der Gaunersprache

Vor vierhundert Jahren, wie noch heute, war das Gauneridiom von einem düstern, symbolischen Geiste durchdrungen, der in den Wörtern nur Klagen oder Drohungen ausklingen ließ. Es ist dieselbe Art Wehmuth, der die Bettler und Verbrecher des mittelalterlichen Paris auch in den Figuren ihrer Kartenspiele, von denen einige auf uns gekommen sind, Ausdruck gegeben haben. So stellte z. B. die Treffacht einen großen Baum mit acht ungeheuren Kleeblättern dar, was den Wald bedeuten sollte. Am Fuß des Baumes brieten drei Hasen einen Jäger am Spieße, und hinten, über einem andern Feuer, rauchte ein Kochtopf, aus dem der Kopf eines Hundes hervorsah. Man kann sich nichts Traurigeres denken, als diese Wiedervergeltung, die auf solchen Karten für die auf dem Scheiterhaufen gebratnen Schmuggler und in Kesseln gesottnen Falschmünzer geübt wurde. Alle Lieder der Gaunersprache, die wir aus jener Zeit noch besitzen, athmen, wenn sie höhnen und drohen, dieselbe Schwermuth, und alle Melodien tragen denselben kläglichen, weinerlichen Charakter. »Ich begreife nicht, wie Gott, der Vater der Menschen, seine Kinder quälen und sie schreien hören kann, ohne selber Qual dabei zu empfinden.« Ueberall demüthigt sich in diesen Liedern der Elende vor dem Gesetz und der Gesellschaft, bittet um Gnade und bekennt, daß er Unrecht hat.

Gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts aber trat eine Aendrung ein. Die Gefängnißlieder, die Halunkenrefrains gebärdeten sich nun, sozusagen, unverschämt und lustig, als drücke die sie sangen, kein Schuldbewußtsein mehr. Diese Leute fühlten wohl, daß die Denker und Schwärmer, ohne sich dessen bewußt zu werden, ihnen zu Hülfe kamen, daß Raub und Plündrung in den philosophischen Theorien und Sophismen der besser situirten Klassen eine Rolle zu spielen begannen, ein Beweis, daß eine große Revolution nahe bevorstand, wenn das Unheil keine rechtzeitige Ablenkung erfuhr.

Verweilen wir hier einen Augenblick. Wen klagen wir an? Das achtzehnte Jahrhundert und seine Philosophie? Gewiß nicht. Das achtzehnte Jahrhundert hat wesentlich Vernünftiges und Gutes geschaffen. Die Encyclopädisten mit Diderot, die Physiokraten mit Turgot, die Philosophen mit Voltaire, die Utopisten mit Rousseau an der Spitze bildeten vier Legionen, die im Dienste der Gottheit standen, die als Vorhut das Menschengeschlecht auf der Bahn des Fortschritts führten. Diderot, als Vertreter des Schönen, Turgot des Nützlichen, Voltaire des Wahren, Rousseau des Gerechten. Aber neben den Philosophen gab es Sophisten, giftiges Unkraut neben heilsamen Pflanzen. Während der Henker auf der Haupttreppe des Pariser Gerichtspalais die Werke der großen und edlen Denker verbrannte, veröffentlichten vergessene Schriftsteller mit königlicher Erlaubniß Bücher mit merkwürdig umstürzlerischen Tendenzen, die von den unteren Volksklassen begierig gelesen wurden. Einige von diesen Schriften, die sonderbarer Weise von einem Prinzen patronisiert wurden, befinden sich in der Bibliothèque secrète. Die Verfasser von dergleichen elenden Machwerken übten einen wenig beobachteten, aber desto unheilvolleren Eindruck auf die breiten Volksschichten aus, besonders Restif de la Bretonne, der wie kein Andrer die öffentliche Moral untergrub.

Diese Spekulation auf die niedrigsten Triebe der Menschennatur grassirte damals in ganz Europa, richtete aber nirgends so große Verwüstungen an, wie in Deutschland. Hier wurden während einer gewissen Zeit, deren Hauptvertreter Schiller mit seinem berühmten Drama »Die Räuber« ist, Raub und Plündrung zum Range eines Protestes gegen das Eigenthum und die Arbeit erhoben, mit gewissen, scheinbar wahren und allgemein anerkannten Grundbegriffen zu einem theoretischen Ganzen verquickt, in dem ihre Gefährlichkeit sich dem oberflächlichen Blick entzog, und circulirten in dieser Form in der arbeitenden, leidenden und rechtschaffnen Bevölkerung, ohne daß die unklugen Apotheker, die den Trank gebraut hatten, es merkten, ja ohne daß die wahre Tragweite der neuen Theorien dem Volke zum Bewußtsein gelangte. Eine solche Erscheinung ist aber immer ein bedenkliches Symptom. Die Noth gebiert den Groll, und während die besitzenden Klassen die Augen zumachen, oder einschlafen, was hier auf eins herauskommt, entzündet der Haß der Enterbten seine Fackel an irgend einem Feuer, daß ein unzufriedner oder querköpfiger Wühler entflammt hat, und beleuchtet damit den Gesellschaftsbau.

Daher, wenn gewisse Bedingungen hinzutreten, jene schrecklichen, socialen Erdbeben, jene Bauernaufstände, die ehemals Frankreich so entsetzlich verheerten, und gegen die alle rein politischen Erschütterungen ein wahres Kinderspiel sind; denn sie bedeuten nicht blos Empörungen des Unterdrückten gegen seinen Unterdrücker, sondern Angriffe der Armuth auf den Reichthum. Dann bricht alles zusammen.

Dieser Gefahr, die zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts vielleicht dem gesammten Europa drohte, beugte die französische Revolution vor, und bedeutete somit eine rechtschaffne That.

Die französische Revolution, die nichts Geringeres ist, als das mit dem Schwert bewaffnete Ideal, erhob sich und schloß mit demselben Ruck das Thor des Bösen zu und das Thor des Guten auf.

Sie formulirte die Frage, deren Lösung nothwendig geworden war, proklamirte die Wahrheit, beseitigte die kranken Stoffe, heilte das Jahrhundert, erhob das Volk zum Herrscher.

Man kann von ihr behaupten, daß sie den Menschen zum zweiten Mal geschaffen hat, indem sie ihm eine zweite Seele, das Recht, gab.

Das neunzehnte Jahrhundert erbt das schöne Besitztum, das sie geschaffen, und heutzutage ist die sociale Katastrophe, die wir soeben andeuteten, schlechterdings unmöglich. Nur ein Blinder kann sie prophezeien, nur ein Thor sie befürchten! Die französische Revolution war eine Impfung gegen die Pöbelaufstände.

Dank der Revolution sind die socialen Verhältnisse andre geworden. Die feudalen und monarchischen Krankheiten stecken uns nicht mehr im Blute. Unser Gesellschaftskörper hat keine mittelalterliche Konstitution mehr. Die Zeiten sind vorbei, wo der Boden unter unsern Füßen durchwühlt war und die Ungeheuer der Tiefe sich einen Weg an die Oberfläche bahnten, um die Civilisation zu vernichten.

Die Hauptbedeutung der großen, französischen Revolution liegt darin, daß sie eine moralische Hebung der Menschheit bewirkt hat. Die Entfaltung des Rechtsgefühls hat eine Entfaltung des Pflichtgefühls zur Folge. Das Gesetz aller ist die Freiheit, die nach Robespierre’s bewunderungswürdiger Definition da endet, wo die Freiheit eines Andern anfängt. Seit 1789 ist die Entwicklung des Individuums und folglich des Volkes gesichert, hat der Arme sein Recht und folglich auch seinen Antheil am Glück; der Besitzlose ist der Rechtschaffenheit des ganzen Frankreich theilhaftig; die Würde des Staatsbürgers ist ein innrer Panzer; wer frei ist, der ist auch gewissenhaft; wer das Stimmrecht hat, regiert. So vollständig ist die Gesundung der öffentlichen Moral, die durch die Revolution herbeigeführt wurde, daß bei siegreichen Volksaufständen kein Pöbel mehr zum Vorschein kommt. Der erste Schrei der veredelten Massen lautet heutzutage: »Tod den Spitzbuben!« Der Fortschritt ist ein ehrlicher Mann; das Ideal und das Absolute stibitzen nicht. Von wem wurden 1848 die Wagen, in denen die Schätze des Tuilerienpalastes fortgeschafft wurden, behütet? Von den Lumpensammlern der Vorstadt Saint-Antoine. Unter vielen andern Kostbarkeiten befand sich auch auf einem dieser Wagen die alte Krone der Könige von Frankreich mit dem berühmten Diamanten, der den Namen »der Regent« führt und dreißig Millionen Franken wert ist. Diese Krone, diese Diamanten hüteten Leute, die keine Stiefel an den Füssen hatten.

Also mit den socialen Pöbelaufständen ist es nichts. Paßt dies gewissen, schlauen Politikern nicht in ihren Kram, so thut es mir leid; an der Thatsache aber ist nichts zu ändern. Das alte Schreckbild wirkt nicht mehr und kann in der Politik nicht mehr gebraucht werden. Heutzutage fürchtet sich kein Mensch mehr vor dem rothen Gespenst. Die Vögel respektiren die Vogelscheuche nicht mehr.

Zwei Pflichten: Wachen und Hoffen

Ist unter so gestalteten Umständen jede sociale Gefahr vorbei? Gewiß nicht. Vor Pöbelaufständen braucht die Gesellschaft sich nicht mehr zu fürchten, einem Blutandrang nach dem Kopfe ist vorgebeugt; sie thut aber gut, wenn sie auf eine richtige Regulirung ihrer Athmung achtet. Sie wird an keinem Schlaganfall sterben; aber sie leidet an der Schwindsucht, d. h. dem Elend.

Wiederholen wir es unermüdlich: Zuerst an die Enterbten und mit Mühsal Beladnen denken, ihnen beispringen, sie lieben, sie um neue, herrliche Gedanken bereichern, ihnen eine vielseitige Erziehung angedeihen lassen, sie zur Arbeit aufmuntern, indem man ihnen beständig mit gutem Beispiel vorangeht, die Last, die der Einzelne zu tragen hat, erleichtern, indem man der Gesamtheit ein höheres Ziel steckt, die Armuth einschränken, ohne dem Reichthum nahe zu treten, dem Volke neue Thätigkeitsgebiete schaffen, den Bedrückten und Schwachen hundert Arme entgegenstrecken, mittels der Macht der Gesammtheit, wie es die Pflicht verlangt, die Eröffnung staatlicher Werkstätten, öffentlicher Schulen und Laboratorien ermöglichen, die Löhne erhöhen, die Arbeit herabmindern, das Soll und das Haben ins Gleichgewicht bringen, nämlich das Recht auf Genuß nach der Leistung und nach dem Bedürfniß bemessen, kurz die Staatsmaschine zum Nutzen der Nothleidenden und Unwissenden mehr Aufklärung und Wohlergehn erzeugen lassen, — dies ist — mögen es die Wohlmeinenden nicht vergessen — die erste aller unsrer Verpflichtungen gegen unsre Mitmenschen; dies ist — mögen die egoistisch Gesinnten es sich merken — die erste aller politischen Pflichten.

Und auch dies ist bloß ein Anfang, Das wahre Problem lautet: Die Arbeit kann keine Pflicht sein, wenn sie nicht zu gleicher Zeit ein Recht ist.

Doch wollen wir diese Punkte nicht des weiteren erörtern, da es hier nicht am Platze wäre.

Wenn Vorsehung ein andrer Name für die Natur ist, so muß die Gesellschaft auch Voraussicht heißen.

Intellektuelles und moralisches Wachstum ist nicht minder unentbehrlich, als materielle Zunahme. Das Wissen ist ein notwendiges Zehrgeld, das Denken ein unumgängliches Bedürfniß, die Wahrheit hat, ebenso wie der Weizen, Nährwert. Ein Verstand, der keine Wissenschaft und Weisheit zu sich nimmt, magert ab und verdient Mitleid wie ein Magen, der nichts zu essen bekommt.

Der Lösung dieser Frage strebt auch gegenwärtig der Fortschritt unwiderstehlich zu. Die Welt wird in dieser Hinsicht Erstaunliches sehen. Indem das Menschengeschlecht emporsteigt, werden auch die unteren Volksklassen ganz naturgemäß über das Elend emporgehoben werden. Die Beseitigung der Noth wird durch eine einfache Niveauerhöhung bewerkstelligt werden.

An dieser segensreichen Lösung der socialen Frage zu zweifeln liegt kein Grund vor.

Allerdings ist die Vergangenheit zur Zeit sehr stark. Sie erholt sich, wird wieder jung. Sie schien gestorben zu sein und wandelt doch wieder sieghaften Schrittes unter den Lebenden. Sie kommt an der Spitze ihrer Armee, der abergläubischen Wahngebilde, mit ihrem Degen, dem Despotismus, mit ihrer Fahne, der Unwissenheit; sie hat seit einiger Zeit so manche Schlacht gewonnen. Schon rückt sie hohnlachend gegen unsre Thore vor. Verzweifeln wir aber nicht. Verkaufen wir das Feld, wo Hannibal lagert.

Was können wir, die den Glauben haben, fürchten?

Ideen können ebenso wenig rückwärts, wie Flüsse.

Allein Diejenigen, die von der Zukunft nichts wissen wollen, sollten sich die Sache reiflich überlegen. Indem sie dem Fortschritt ein Nein entgegensetzen, verurtheilen sie nicht die Zukunft, sondern sich selbst. Sie bringen sich eine gefährliche Krankheit bei; sie impfen sich die Vergangenheit ein. Es giebt nur ein Mittel dem kommenden Morgen zu entgehen: Man muß sterben.

Den Tod wollen wir aber überhaupt nicht. Der des Leibes komme, so spät wie möglich, der Untergang der Seele nie.

Ja, die Sphinx wird reden und uns die Lösung des Räthsels sagen. Was das achtzehnte Jahrhundert begonnen hat, die Erlösung des Volkes aus dem Elend, wird das neunzehnte vollenden. Nur ein Blödsinniger kann dies bezweifeln. Daß dermaleinst, daß in einer nahen Zukunft der Wohlstand verallgemeinert werden wird, ist eine geschichtliche Notwendigkeit.

Anstrengungen von Gesamtheiten bestimmen den Gang der Geschichte und bringen in einer gegebenen Zeit Logik, und folglich Gleichgewicht, und folglich Gerechtigkeit. Eine aus irdischen und himmlischen Faktoren zusammengesetzte Kraft geht aus den Bestrebungen der Menschheit hervor und regiert sie; dieser Kraft fällt es nicht schwer, Wunder zu wirken, Außerordentliches hervorzubringen. Unterstützt von der Wissenschaft, die vom Menschen, und von dem Ereigniß, das von einem Andern kommt, erschrickt sie nicht vor jenen Widersprüchen in gestellten Fragen, die von der großen Menge für Unmöglichkeiten erklärt werden. Sie bewerkstelligt die Lösung von Aufgaben mittels Zusammenstellung von Ideen nicht minder geschickt, als sie Lehren giebt, indem sie Tatsachen an einander hält und man darf alles erwarten von der räthselhaften Macht des Fortschritts, der eines Tages Orient und Occident in einem Grabe, die Imons und Bonaparte im Innern einer Pyramide zusammenbringt.

Einstweilen erleidet der Fortschritt keine Verzögrung, keinen Aufenthalt. Die sociale Philosophie erstrebt wesentlich die Wissenschaft und den Frieden. Ihr Zweck ist und ihr Ergebniß soll sein die Verwüstung des Grolls der Unzufriednen mittels des Studiums der Antagonismen. Sie soll prüfen und analysiren, dann neubilden. Ihre Methode besteht in einer Reduktion: Sie scheidet überall den Haß aus.

Daß eine Gesellschaft bei einem Sturm untergeht, hat man mehr als ein Mal gesehen; die Geschichte erzählt uns von vielen Völkern und Reichen, die Schiffbruch gelitten haben; Sitten, Gesetze, Religionen werden eines Tages von einem Unbekannten, dem Orkan, dahingerafft. Die Civilisationen Indiens, Chaldäas, Persiens, Assyriens, Aegyptens sind eine noch der andern verschwunden. Warum, wie so, wissen wir nicht. Hätten sie gerettet werden können? Hatten sie Schuld an ihrem Untergange? Litten sie an einem organischen Fehler, den sie nicht ablegen wollten? Alles Fragen, die Niemand beantworten kann. Die Finsterniß der Vergangenheit entzieht uns die Kenntniß der Gründe, die die Vernichtung jener Civilisationen herbeiführten. Leck waren sie, denn sonst wären sie nicht versunken; aber weiter wissen wir auch nichts zu sagen, und ohne Verständnis sehen wir in dem Meer der Vergangenheit zwischen den Wellen, die wir die Jahrhunderte nennen, die großen Schiffe Babylon, Niniweh, Tarsus, Theben, Rom in die Finsterniß der Tiefe versinken. Aber wenn an einer Stelle Finsternis herrscht, so ist es an einer andern hell. Wissen wir nichts von den Krankheiten der alten Kulturvölker, so kennen wir die Gebrechen unsrer Civilisation. Wir können sie bei dem Licht der Wissenschaft prüfen, mittels der Sonde die Ursachen ihrer Leiden feststellen und sobald uns die Ursachen bekannt sind, werden wir auch die Heilmittel finden. Unsre Civilisation, das Werk von zwanzig Jahrhunderten, ist zu gleicher Zeit ein häßliches und wunderbar schönes Erzeugniß. Es verlohnt also wohl der Mühe, daß sie gerettet werde und das wird uns gelingen. Der Denker unsrer Zeit hat also die Pflicht, die Civilisation zu auskultiren.

Diese Untersuchung aber, wie gesagt, ist ermuthigend und mit der Hervorhebung dieser Thatsache wollen wir diese Zeilen, diese Abschweifung von der Leidensgeschichte Jean Valjeans, abschließen. Völker können zu Grunde gehen, die Menschheit nicht.

Freud und Leid

Ein Wonnezustand

Wie der Leser gemerkt haben wird, hatte Eponine, als sie durch das Gitter in der Rue Plumet gesehen, wer in dem Hause wohnte, zunächst die Banditen ferngehalten, und dann Marius hingeführt. Dieser war, nachdem er mehrere Tage seine Auserwählte aus der Ferne betrachtet, in Cossettens Garten eingedrungen, wie Romeo in den Garten Julias. Es fiel ihm sogar leichter als Romeo, der über eine Mauer klettern mußte. Denn er brauchte blos eine wacklige Stange, die in ihrer Höhlung ebenso lose saß, wie die Zähne alter Leute, herausheben und sich dann hindurchzwängen, was ihm, schlank wie er war, keine Schwierigkeiten machte.

Da die Straße wenig begangen war und Marius auch nur des Nachts sich in den Garten schlich, setzte er sich nicht der Gefahr aus, gesehen zu werden.

Von jener seligen und heiligen Stunde an, wo sich die beiden mit einem Kuß verlobten, kam Marius jeden Abend. Wäre Cosette in diesem Stadium ihres Lebens einem gewissenlosen Wüstling in die Hände gefallen, so wäre sie verloren gewesen. Denn es giebt Frauen, die großmüthig genug denken, um sich dem Manne ihrer Wahl unbedenklich hinzugeben, und Cosette war ebenso geartet. Die Liebe, wenn sie ihren Gipfel erreicht hat, macht solche Frauen blind und bringt ihr Schamgefühl zum Schweigen. Aber welchen Gefahren setzt Ihr hochherzige Seelen Euch aus! Oft nehmen wir, wenn Ihr Euer Herz gebt, den Leib. Dann behaltet Ihr Euer Herz und stürzt Euch in grenzenloses Weh. Die Liebe kennt keine Mitte; Sie richtet zu Grunde oder rettet. Um dieses Dilemma dreht sich das ganze Schicksal des Menschen und Nichts drängt es uns so unerbittlich auf, wie die Liebe zu thun pflegt.

Gott wollte, daß Cosettens Liebe eine heilbringende war.

So lange der Maimonat des Jahres 1832 dauerte, saßen jede Nacht in dem verwilderten Garten, von täglich süßeren Düften umweht, trunken von Himmelswonnen, zwei keusche und unschuldsvolle Menschenkinder, die sich gegenseitig als höhere Wesen betrachteten. Sie sahen sich an, nahmen einander bei der Hand, drängten sich aneinander; hielten aber doch eine Entfernung inne, die sie nie überschritten. Nicht geflissentlich, sondern weil sie die Kluft nicht kannten. Für Marius war Cosettens lautre Gesinnung ein Hinderniß und Cosette fühlte, daß Marius Ehrenhaftigkeit ein Schirm und Schutz für sie war. Der erste Kuß war auch der letzte gewesen. Marius hatte sich seitdem keiner größern Kühnheit unterfangen, als daß er Cosettens Hand, ihr Umschlagetuch, ihre Locken, mit seinem Mund streifte. Sie war ihm ein Duft, den er einsog, kein Weib. Sie verweigerte nichts und er verlangte nichts.

In diesem Stadium der Liebe, jenem Stadium, wo die Sinnlichkeit vor der Allmacht der Schwärmerei zurückweicht, wäre Marius eher im Stande gewesen, mit einer öffentlichen Dirne mitzugehn, als Cosettens Kleid bis zu den Knöcheln emporzuheben. Einmal, in einer mondhellen Nacht, bog sich Cosette nieder, um etwas von der Erde aufzuheben. Dabei öffnete sich ihr Mieder etwas, so daß man ihren Busen sehen konnte; Marius aber wandte die Augen ab.

Sie begnügten sich einander anzubeten und zu plaudern.

Was redeten sie mit einander? Trauliche Reden, deren bestrickende Gewalt, deren süßen Zauber keine Beschreibung wiederzugeben vermag. Nehmt dem Geflüster zweier Liebenden die Melodie, die aus der Seele kommt und es wie eine Leier begleitet, so ist, was übrig bleibt, nur ein wesenloser Schatten, eine Blume ohne ihren Duft. »Weiter war es nichts?« sagt Ihr. Freilich, nur Kindereien, ewige Wiederholungen, fortwährendes Lachen um nichts und wieder nichts, überflüssiges, dummes Zeug und — doch das Schönste und Tiefsinnigste, was es auf der Welt giebt; das Einzige, was wert ist gesagt und gehört zu werden!

Der Mensch, der diese Art Dummheiten nie gehört, nie selber ausgesprochen hat, ist ein dummer und ein schlechter Mensch.

So sagte Cosette zu Marius:

»Denke Dir, ich heiße Euphrasia.«

»Euphrasia? Bewahre, Du heißt ja Cosette.«

»O, Cosette ist ein abscheulicher Name, den man mir so angehängt hat, als ich klein war. In Wirklichkeit heiße ich Euphrasia. Gefällt Dir der Name nicht?«

»Doch, aber Cosette ist keineswegs ein abscheulicher Name.«

»Ziehst Du ihn meinem wahren Namen vor?«

»Nun … ja!«

»Gut, dann gefällt er mir auch. Du hast Recht. Cosette klingt hübsch. Nenne mich immer Cosette.«

Und das Lächeln, womit sie das Gespräch beendete, war einer Idylle im Paradiese würdig.

Ein anderes Mal sah sie ihm in die Augen und rief:

»Herr Marius, Sie sind ein hübscher Mann, Sie sind klug und gelehrter als ich; aber wie ich zu Ihnen sage: Ich liebe Dich, das machen Sie mir nicht nach!«

Wenn sie das sagte, schwebte er in dem obersten Himmel und meinte, er höre Sphärenmusik.

Oder sie gab ihm einen Klapps, weil er hustete, und schalt ihn:

»Nicht husten! Das erlaube ich nicht. Das ist gar nicht lieb von Dir, daß Du hustest und mich ängstigst. Ich will, daß Du gesund bist, denn wenn Du krank wärest, würde ich mir großen Kummer machen.«

Und das fand er natürlich reizend.

Einmal sagte Marius zu Cosette:

»Denke Dir, ich habe eine Zeit lang geglaubt, Du hießest Ursula.«

Dies amüsirte sie einen ganzen Abend.

Im Laufe eines andern Gesprächs entschlüpfte ihm die Bemerkung:

»Eines Tages fehlte nicht viel, so hätte ich im Luxemburger Garten einem Invaliden das Bischen Leben, das er noch hatte, aus dem Leibe hinausgeprügelt.«

Aber flugs besann er sich eines andern und ließ sich auf weitere Erklärungen nicht ein. Hätte er doch das Strumpfband erwähnen müssen, und das konnte er nicht fertig bringen. Es wäre dann ein bisher unberührtes Thema gestreift worden, die Sinnlichkeit, vor der sein Zartsinn zurückschrak.

Es genügte ihm, wenn er jeden Abend nach der Rue Plumet kam, die nachgiebige Gitterstange bei Seite schob, sich dicht neben Cosette auf die Bank setzte, durch das Laub der Bäume zu den funkelnden Sternen emporsah, sein Beinkleid an Cosettens Robe hielt, ihre Hand streichelte. Du zu ihr sagte, mit ihr Blumen beroch. Andern Vorstellungen über den Umgang mit Cosette gab er nicht Raum. Währenddem zogen die Wolken über den Köpfen des Liebespaares dahin. Jedes Mal aber, wenn der Wind weht, nimmt er mehr Träume der Menschen, als Wolken des Himmels fort.

Nicht als ob die Galanterie bei dieser Liebe gar keine Rolle gespielt hätte. Der Geliebten »Complimente« machen ist die erste Freiheit, die man sich ihr gegenüber herausnimmt, ist ein Uebergang zu andern Kühnheiten. Ein Kompliment gleicht einem Kuß durch den Schleier. Die Sinnlichkeit macht sich geltend, aber in versteckter Weise. Vor der Sinnlichkeit flieht das Herz zurück, um inniger lieben zu können. Marius phantasievolle Schmeicheleien waren so zusagen aus himmlischen Regionen heruntergeholt. Indessen traten bei seinen lyrischen Ergüssen, die menschlichen Triebe und die derbe Wirklichkeit nicht ganz in den Hintergrund; es regten sich die positiven Elemente, die in Marius Charakter überhaupt lagen. Seine zarten, poetischen Schwärmereien waren eine Vorbereitung für die reelle Prosa des Alkowens.

»O wie schön Du bist! Ich wage meine Augen nicht zu Dir zu erheben, und deshalb bewundere ich Dich. Du bist eine Grazie. Und wie entzücken mich Deine sinnigen Reden. Denn Du hast erstaunlich viel Verstand. Ich weiß nicht, was in mir vorgeht, wenn ich Dich ansehe. Ich bilde mir bisweilen ein, Du wärest ein Traumgebilde. Sprich doch, ich höre, ich bewundere Dich. O Cosette, wie merkwürdig und lieblich das ist! Ich bin wirklich von Sinnen.«

Und Cosette antwortete:

»Ich liebe Dich seit heute Morgen um einen Grad mehr.«

Fragen und Antworten gingen und kamen in diesem Gespräch, aufs Gerathewohl, trafen aber immer das Richtige, nämlich die Liebe.

Cosettens Wesen bestand ganz in Naivität, Aufrichtigkeit, Lauterkeit, Frohsinn. Man hätte sagen können, sie sei durchsichtig. Ihr Anblick erinnerte an den Lenz und an die Morgenröthe. Sie erschien wie das, zu einem weiblichen Wesen verdichtete Frühlingslicht.

Es war natürlich, daß Marius, da er sie leidenschaftlich liebte, sie auch bewunderte. Aber das erst kürzlich aus dem Kloster entlassene; junge Mädchen besaß wirklich einen durchdringenden Verstand, Urtheil und Feingefühl. In ihrem Geplauder lag Sinn, Geist, Inhalt. Frauen fühlen und sprechen mit dem zarten, sichern Instinkt des Herzens. Niemand versteht so gut wie sie, Dinge zu sagen, die zugleich liebenswürdig und tiefsinnig sind. Diese Vereinigung von Sanftmuth und tiefem Gehalt ist das Wesen des Weibes und der Bewohner des Himmels.

Mitten im Freudenrausch vergossen sie oft Thränen. Wurde ein Marienwürmchen zertreten, fiel ein Feder aus einem Nest, zerbrach ein Rosenzweig, so regte sich ihr Mitleid und etwas sanfte Wehmuth schien nöthig zu sein, um ihr Glück vollständig zu machen. Diese bisweilen unausstehliche Rührseligkeit ist das sicherste Kennzeichen der Liebe.

Daneben freilich — denn an Widersprüchen und jähen Uebergängen hat die Liebe ihre Freude — scherzten sie auch gern mit entzückender Vertraulichkeit und Ungenirtheit, als wären sie zwei junge Männer gewesen. Indessen, so rein die Gesinnung eines Liebespaares auch sein mag, die Natur vergißt ihre Rechte nicht. Sie läßt ihr thierisches und erhabenes Ziel nicht aus dem Auge, und mag die Unschuld der Denkweise auch noch so groß sein, man merkt immer eine liebliche Nuance, die ein Paar Freunde von einem Liebespaar unterscheidet.

Sie vergötterten sich.

Aber es giebt ein Allgemeines, Unveränderliches. Ein junger Mann und ein junges Mädchen liebkosen sich, lächeln und schmollen mit einander, aber das ewige Gesetz besteht darum doch.

Betäubt vom Glück

Sie lebten, vom Glück betäubt, wie im Traum dahin. Sie beachteten die Cholera nicht, die gerade in jenem Monat in Paris umging. Kaum, daß sie sich über ihre eigenen Verhältnisse und Erlebnisse etwas mittheilten, jedenfalls nicht viel mehr, als ihre Namen. Marius hatte Cosette gesagt, er habe keine Eltern mehr, heiße Marius Pontmercy, sei Advokat, arbeite für Verleger, um seinen Unterhalt zu verdienen, sein Vater sei Oberst und ein großer Held gewesen, und er hätte sich mit seinem reichen Großvater überworfen. Ganz nebenbei erwähnte er auch, daß er Baron sei; aber das hatte auf Cosette keinen Eindruck gemacht. Marius Baron? Dafür besaß sie kein Verständniß. Für sie war Marius Marius. Ihrerseits hatte sie ihn wissen lassen, daß sie im Kloster Petit-Picpus erzogen worden, daß ihr die Mutter gestorben sei, wie ihm, daß ihr Vater Fauchelevent heiße und wie gut er sei; er gebe den Armen viel, sei aber nicht vermögend und lege sich allerhand Entbehrungen auf, damit es ihr an nichts mangle.

So vollständig lebte Marius in der süßen Gegenwart, daß er merkwürdiger Weise die Vergangenheit, sogar die allernächste, vergaß. Sie nahm eine verworrene Gestalt an und ward ihm so weit entrückt, daß das, was Cosette erzählte, ihm genügte. Es fiel ihm nicht einmal ein, ihr zu berichten, was alles an dem Abend geschehen war, wo ihr Vater von Thénardier in seine Wohnung gelockt wurde, wie er sich selber die Brandwunde beigebracht hatte, daß er merkwürdiger Weise durch das Fenster vor der Polizei geflohen war. Alles dies hatte Marius vergessen; er wußte am Abend nicht, was er am Morgen gethan, wo er gefrühstückt, wer mit ihm geredet hatte; in seinen Ohren klangen Lieder, die ihn gegen alles Andre taub machten; er lebte nur während der Stunden, wo er bei Cosette war. Da er sich also fortwährend im Himmel befand, so verstand es sich von selbst, daß er die Erde vergaß. War doch der Geist der Beiden matt von der Last der ätherischen Lüste. So leben ja jene Somnambulen, die man Liebende nennt.

Ach, wer hat nicht alles dies einst selber empfunden und erlebt? Warum kommt eine Stunde, wo man aus diesem Himmel hinaus muß, und warum lebt man danach noch?

Die Liebe ersetzt fast das Denken. Die Liebe ist eine leidenschaftliche Nichtbeachtung alles Uebrigen, was nicht sie selbst ist. Verlangt keine Logik von ihr. Im menschlichen Herzen existirt ebenso wenig eine konsequente, logische Verkettung, wie vollkommne geometrische Figuren im Himmelsgebäude. Für Cosette und Marius gab es nichts außer Marius und Cosette. Die Welt um sie herum war in ein Loch versunken. Die Zeit, die sie mit einander verlebten, war die einzige. Vor und hinter ihnen lag nur das Nichts. Kaum fiel es Marius ein, daß Cosette einen Vater hatte. Das Glück verwischte alles andre aus seinem Vorstellungskreis und seinem Gedächtniß. Wovon sprachen die Beiden mit einander? Nun, von den Blumen, den Schwalben, dem Sonnenuntergang, dem Monde, von allen möglichen, wichtigen Dingen. Sie hatten sich alles mitgetheilt, ausgenommen alles. Denn was ein Liebespaar alles nennt, ist nichts. Wozu an den Vater, die Wirklichkeit, die Jondrette’sche Räuberbande denken? Sie waren ihrer zwei und liebten sich; weiter war nichts nöthig. Wahrscheinlich verschwindet so hinter uns die Hölle immer und naturgemäß, sobald wir das Paradies betreten. Daß man Teufel gesehen hat, daß es solche Unholde giebt, daß man gezittert, Martern durchgemacht hat, weiß man nicht mehr. Das alles können wir durch das rosige Gewölk, das uns jetzt umgiebt, nicht mehr sehen.

So lebten die Beiden also in seligen Höhen, weder am Nadir, noch am Zenith, zwischen den Menschen und dem Seraphim, über dem Erdenkoth und unter dem Aether, in den Wolken; kaum noch Fleisch und Blut, von Kopf bis zu Fuß nur Seele und Extase; zu sehr vergöttlicht, um auf der Erde zu wandeln, mit Menschlichem zu sehr belastet, um sich in den blauen Himmel emporzuschwingen; schwebend wie Atome, ehe sie niedergeschlagen werden; unbekümmert um das Geleise des Alltäglichen.

Wo sie das hinführen würde, fragten sie nicht. Sie dachten, sie wären ans Ziel gelangt. Sonderbares Verlangen, daß die Liebe irgendwohin führen soll!

Eine Trübung des Glücks

Jean Valjean ahnte nichts von dem, was vorging.

Cosette, die nicht ganz so träumerisch angelegt war, wie Marius, zeigte ihm gegenüber viel Heiterkeit und das genügte zu seinem Glück. Die Gedanken, die sie mit sich herumtrug, Marius Bild, das ihre Seele erfüllte, thaten der unvergleichlichen Reinheit ihrer schönen, keuschen Stirn keinen Eintrag. Stand sie doch in dem Alter, wo die Jungfrau ihre Liebe, wie ein Engel seine Lilie trägt. Jean Valjean machte sich also keine Sorgen. Und außerdem, wenn zwei Liebende eins sind, so geht alles immer ganz glatt; derjenige Dritte, der sie stören, ihr Glück trüben könnte, wird mit einigen wenigen Vorsichtsmaßregeln, die bei allen Liebespaaren immer dieselben sind, in vollständigster Blindheit erhalten. So erhob Cosette nie Einwendungen gegen das, was Jean Valjean anordnete. Wollte er mit ihr ausgehen? Gewiß, Papachen. Wollte er zu Hause bleiben? Sehr schön! Wollte er den Abend bei ihr zubringen? Ihr machte es große Freude. An solchen Abenden kam Marius erst nach zehn Uhr in den Garten, wenn Jean Valjean sich wie gewöhnlich in seine Wohnung verfügte, sobald er von der Straße aus Cosette die Thür, die auf die Freitreppe führte, öffnen hörte. Selbstredend ließ sich Marius nie am Tage blicken. So kam es, daß Jean Valjean an die Existenz eines Marius überhaupt nicht mehr dachte. Nur einmal, eines Morgens, geschah es, daß er zu Cosette sagte: »Dein Kleid ist ja ganz weiß auf dem Rücken!« Am Abend zuvor hatte Marius, von der Leidenschaft hingerissen, sie kräftig gegen die Wand gedrückt.

Die alte Toussaint, die früh zu Bett ging, sofort nachdem sie ihre Arbeit gethan hatte, schlief fest und merkte ebenso wenig etwas wie Jean Valjean.

In das Haus setzte Marius nie seinen Fuß. Er versteckte sich mit Cosette in einer Vertiefung an der Freitreppe, so daß sie von der Straße aus nicht gesehen werden konnten. Hier ließen sie sich nieder und begnügten sich oft damit, statt zu plaudern, sich zwanzig Mal in der Minute die Hände zu drücken und in das Gezweig der Bäume hineinzusehen.

Wäre in solch einem Augenblick, ein Blitz dreißig Schritt vor ihnen eingeschlagen, sie hätten nichts gemerkt; so eifrig war der Eine in Gedanken mit dem Andern beschäftigt.

Zwischen ihnen und der Straße lag der Garten in seiner ganzen Länge Jedes Mal, wenn Marius hereinkam und hinausging, brachte er die herausgehobne Gitterstange wieder in Ordnung, so daß jede sichtbare Spur von Veränderung beseitigt war.

Er ging gewöhnlich um Mitternacht zu Courfeyrac nach Hause. Das erzählte dieser seinem Freund Bahorel:

»Sollte man’s glauben? Marius kommt jetzt jede Nacht spät nach Hause.«

»Je nun,« meinte Bahorel, »die Mönche haben’s Alle dick hinter den Ohren.«

Hin und wieder kreuzte auch Bahorel die Arme übereinander, sah Marius mit strenger Miene an und schalt Marius:

»Junger Mann, Sie werden lüderlich!«

Denn der praktische Courfeyrac, der für ätherische Liebe keinen Sinn hatte, konnte mit den Nachwirkungen, die Marius täglicher Ausflug ins Paradies auf seine Lebensführung ausübte, nicht einverstanden sein und forderte ihn wiederholentlich auf, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Eines Morgens, wo er ihn wieder ermahnte, sagte er:

»Mein Lieber, Du kommst mir vor, als weiltest Du gegenwärtig im Monde, im Königreich der Träume, in der Provinz der Illusionen, mit der Hauptstadt Seifenblase. Sag mal, wie heißt sie denn?«

Aber nichts konnte Marius bewegen, daß er über seine Liebe sprach.

Eher hätte er sich einen Nagel von seinem Finger abreißen lassen, als daß er auch nur eine der drei Silben ausgesprochen hätte, aus denen »ihr« Name bestand. Wahre Liebe ist lichtvoll, wie die Morgenröthe und schweigsam, wie das Grab. Was aber Courfeyrac an seinem Freunde auffiel, war das stille Glücksgefühl, daß sich beständig auf seinem Gesicht wiederspiegelte.

Während dieses lieblichen Maimonats kosteten Marius und Cosette vielerlei Arten von Glück aufs gründlichste aus:

Sie zankten sich und nannten einander »Sie,« damit das »Du« nachher desto besser schmeckte;

Sie unterhielten sich aufs ausführlichste über Leute, aus denen sie sich gar nichts machten; auch ein Beweis, daß es bei der reizenden Oper, die man die Liebe nennt, auf den Text nicht ankommt;

Marius hörte zu, wenn Cosette über die Mode und die Toilette, und Cosette, wenn er über Politik sprach;

Sie hörten, Knie an Knie gelehnt, den Wagen zu, die durch die Rue de Babylone rasselten;

Sie betrachteten denselben Planeten im Raum, denselben Glühwurm im Grase;

Sie schwiegen zusammen, was ein noch größeres Glück ist, als zusammen plaudern;

U. s. w., u. s. w.

Mittlerweile aber waren gewichtige Ereignisse im Anzuge.

Eines Abends ging Marius, gesenkten Hauptes, wie immer, den Boulevard des Invalides entlang, um sich zum gewohnten Stelldichein zu begeben und wollte eben in die Rue Plumet einbiegen, als er plötzlich angeredet wurde.

»Guten Abend, Herr Marius!«

Er hob den Kopf empor und erkannte Eponine.

Die Begegnung machte einen außerordentlichen Eindruck auf ihn. Seit dem Tage, wo ihn das Mädchen nach der Rue Plumet geführt, hatte er nicht einziges Mal an sie gedacht. Er besaß nur Gründe ihr dankbar zu sein, sie hatte ihm zu seinem Liebesglück verholfen und doch war es ihm peinlich, daß er ihr begegnete.

Es ist ein Irrthum, daß wahre und glückliche Liebe eine Vervollkommnung des Menschen bewirke; sie läßt ihn nur, wie wir auseinandergesetzt haben, vergessen. Er vergißt schlecht, aber er vergißt auch gut zu sein. Dankbarkeit, Pflicht, nichtige und lästige Erinnerungen treten in den Hintergrund. Zu jeder andern Zeit hätte sich Marius ganz anders gegen Eponine benommen. Von Cosette in Anspruch genommen, hatte er sich nicht einmal deutliche Rechenschaft gegeben, daß diese Eponine, Eponine Thénardier hieß, daß der Name Thénardier im Testament seines Vaters verzeichnet war und daß er wenige Monate zuvor diesem Namen zu Liebe die größten Opfer gebracht hätte. Wir zeigen eben Marius, wie er war. Sogar der Gedanke an seinen Vater war hinter seine glückliche Liebe zurückgetreten.

»Ach, Sie sind’s, Eponine!« antwortete er mit einiger Verlegenheit.

»Warum siezen Sie mich? Habe ich Ihnen denn was gethan?«

»Nein,« antwortete er.

Allerdings hatte er nichts gegen sie. Im Gegentheil. Nur war ihm, als könnte er, nun er zu Cosette »Du« sagte, nicht anders, als müßte er zu Eponine »Sie« sagen.

Da er schwieg, fuhr sie fort:

»Sagen Sie mal …«

Hier hielt sie inne. Ihr, die einst so unbekümmert und dreist gewesen war, fehlten jetzt die Worte. Sie versuchte zu lächeln und konnte nicht. Dann versuchte sie nach einmal das Gespräch fortzusetzen und sagte:

»Nun!« schwieg aber wieder und blieb mit gesenkten Augen vor ihm stehen.

»Gute Nacht, Herr Marius!« rief sie endlich, wandte sich hastig um und ging.

Ein tapfrer Hund

Der nächste Tag war der 3. Juni, der 3. Juni 1832, denn wir müssen wegen der gewichtigen Ereignisse, die sich damals vorbereiteten und so schwere Gefahren über Paris bringen sollten, die Daten jetzt genauer angeben. Am Abend dieses Tages ging also Marius denselben Weg wie immer. Dasselbe Entzücken im Herzen, als er auf dem Boulevard Eponine bemerkte, die auf ihn zukam. Zwei Tage hintereinander? Das war ihm zuviel. Er wandte sich rasch seitwärts, und ging auf einem andern Wege nach der Rue Plumet.

Das hatte zur Folge, daß Eponine ihm nachging, was sie bis dahin noch nicht gethan. Sie war zufrieden gewesen, wenn sie ihm auf dem Boulevard begegnete und hatte ihm nicht einmal aufgelauert. Am Abend zuvor war es das erste Mal gewesen, daß sie ihn anredete.

Sie ging also hinter ihm her, ohne daß er es ahnte. Sie sah, wie er die Gitterstange bei Seite schob und sich in den Garten schlich.

»I was! Er geht hinein!«

Sie ging auf das Gitter zu, untersuchte die Gitterstangen eine nach der andern, und fand bald diejenige, die Marius herauszunehmen pflegte.

»Das will ich lieber bleiben lassen!« murmelte sie schwermüthig.

Sie setzte sich auf den Sockel des Gitters, neben die lockre Stange, als wollte sie dieselbe bewachen. Es war grade die Stelle, wo das Gitter an der Mauer des Nachbarhauses endete, ein Winkel, in dem Eponine nicht leicht gesehen werden konnte.

Ueber eine Stunde saß sie da, regungslos und in trübe Gedanken versunken.

Gegen zehn Uhr Abends, kam ein alter Mann, der sich verspätet hatte und sich beeilte, um über diesen einsamen und übel berüchtigten Ort schnell hinauszugelangen, an der Stelle vorüber und hörte eine dumpfe und drohende Stimme.

»Nun wundert’s mich nicht mehr, daß er alle Abend den Boulevard entlang kommt.«

Der alte Herr ließ seine Augen um her schweifen, sah Niemand, wagte nicht, die dunkle Ecke zu untersuchen und fürchtete sich. Er eilte also schnell von dannen und das war sehr gescheidt. Denn wenige Augenblicke nachher kamen sechs Männer, in einiger Entfernung von einander, an der Mauer entlang, in die Rue Plumet herein.

Der Erste, der an dem Garten anlangte, blieb stehen und wartete, bis Alle sich vereinigt hatten.

Dann begannen sie leise mit einander zu sprechen.

»Hier ist’s!« flüsterte der Eine.

»Ist ein Köter im Garten?« fragte ein Andrer.

»Ich weiß nicht. Für jeden Fall habe ich ein Klößchen mitgebracht, womit wir ihn zum Schweigen bringen können.«

»Hast Du Kitt, damit wir eine Scheibe aufbrechen können?«

»Ja.«

»Das Gitter ist alt,« bemerkte der Fünfte mit einer Bauchstimme.

»Desto besser!« meinte der Zweite. »Dann wird es weniger Lärm machen, wenn man es durchsägt.«

Der Sechste, der den Mund noch nicht aufgethan hatte, untersuchte das Gitter, wie Eponine vor ihm, und gelangte endlich an die Stange, die Marius los gemacht hatte. In dem Augenblick, wo er sie packen wollte, kam plötzlich eine Hand aus dem Schatten heraus, legte sich auf seinen Arm, stieß ihn gegen die Brust und eine heisre Stimme rief:

»Achtung! Hunde!«

Er sah ein blasses Mädchen vor sich.

Der Mann fuhr heftig zusammen. Sein Schreck glich dem eines wilden Thieres, so furchtbar und widerwärtig sah er aus. Er trat zurück und stammelte:

»Wer mag denn die sein?«

»Deine Tochter!«

Als Eponine hervorgetreten war, kamen die fünf Andern, nämlich Claquesous, Gueulemer, Babet, Montparnasse und Brujon zu Thénardier heran, ohne Geräusch, ohne einen Laut von sich zu geben, mit der unheimlichen Langsamkeit, die den Söhnen der Nacht eigen ist.

»Was soll das heißen? Was hast Du hier zu thun? Was willst Du von uns? Bist Du verrückt?« schrie Thénardier, so laut man schreien kann, wenn man leise spricht. »Warum kommst Du her und hinderst uns beim Arbeiten?«

Eponine lachte und schlang ihre Arme um seinen Hals.

»Ich bin da, Väterchen, weil ich da bin. Ist es nicht mehr erlaubt, sich auf einen Stein zu setzen? Ihr solltet nicht hier sein. Was habt Ihr hier zu suchen, da ich Euch doch gesagt hatte, daß hier kein Geschäft zu machen ist? So gieb mir doch einen Kuß, Väterchen. Es ist ja so lange her, daß ich Dich nicht gesehen habe! Also Du bist wieder frei?«

Thénardier suchte sich aus ihrer Umarmung loszureißen und brummte:

»Nun ist’s aber gut. Du hast mich umarmt. Ja, ich bin nicht mehr im Gefängniß. Jetzt mach aber, daß Du fortkommst.«

Aber Eponine ließ ihn nicht los und wurde immer zudringlicher mit ihren Liebkosungen.

»Aber Tausend, wie hast Du das denn angefangen, Väterchen? Mußt Du schlau sein, daß Du da rausgekommen bist? Erzähle mir doch das. Wo ist denn Mutter? Was macht sie?«

»Es geht ihr gut. Ich weiß nicht. Laß mich zufrieden. Mach, daß Du fortkommst, sage ich Dir.«

»Ich will aber jetzt nicht fortgehen,« sagte Eponine mit dem Eigensinn eines verzogenen Kindes, das sich ziert.

»Du schickst mich fort und ich habe Dich doch seit vier langen Monaten nicht gesehen und geküßt.«

Und sie umklammerte wieder ihren Vater.

»Nun wird mir aber die Geschichte zu bunt!« rief Babet.

»Macht der Sache ein Ende,« sagte Gueulemer. »Die Greifer können jeden Augenblick hier vorbeikommen.«

»Ach, Sie sind’s, Herr Brujon!« rief Eponine. »Guten Abend Herr Babet. — Guten Abend, Herr Claquesous. — Erkennen Sie mich denn nicht, Herr Gueulemer? — Wie geht’s, Montparnasse?«

»Ja, ja! Sie erkennen Dich. Aber nun Adieu. Drücke Dich!«

»Jetzt ist die Zeit, wo die Füchse, nicht die Hühner draußen sind,« sagte Montparnasse.

»Du siehst doch, daß wir hier zu arbeiten haben.« fiel Babet ein.

Eponine ergriff Montparnasse’s Hand.

»Nimm Dich in Acht. Du wirst Dich schneiden. Ich habe ein offenes Messer in der Hand.«

»Lieber Montparnasse, man muß Vertrauen zu den Leuten haben, denen man einen Auftrag giebt. Ich bin ja wohl die Tochter meines Vaters. Herr Babet, Herr Gueulemer, Sie haben mich hierhergeschickt, um auszukundschaften, ob hier ein Geschäft zu machen wäre.«

Sie sagte nicht »ausbaldowern«, bediente sich nicht mehr der Gaunersprache. Das abscheulige Idiom war ihr zuwider geworden, seitdem sie Marius kannte.

Sie drückte mit ihren schwachen, dürren Fingern Gueulemers Faust und fuhr fort:

»Ihr wißt doch, daß ich nicht auf den Kopf gefallen bin. Auch habt Ihr mir bisher immer Glauben geschenkt. Ich habe Euch so manchen Dienst erwiesen. Nun also, ich habe alles genau ausgekundschaftet und kann Euch sagen, daß Ihr Euch unnützer Weise Gefahren aussetzt. Ich schwöre Euch, daß in dem Hause nichts zu holen ist.«

»Es sind nur Frauenzimmer drin,« behauptete Gueulemer.

»Nein, die Leute sind ausgezogen!«

»Die Lichter aber nicht!« meinte Babet und zeigte Eponine ein Licht, oben auf dem Boden des Pavillons. Die Toussaint war später als gewöhnlich aufgeblieben, um Wäsche aufzuhängen.

Eponine machte noch einen Versuch.

»Nun ja; es sind arme Leute. Das hat keinen Heller Geld.«

»Geh zum Teufel!« rief Thénardier. »Wenn wir die Bude um und um gekehrt haben, werden wir Dir sagen, ob Heller oder Goldfüchse drin sind.«

Und er gab ihr einen Stoß, um sie los zu werden.

»Lieber Herr Montparnasse, Sie sind ein guter Mensch. Ich bitte Sie, unternehmen Sie nichts gegen dieses Haus.«

»Nimm Dich in Acht,« wiederholte Montparnasse, »Du wirst Dich schneiden.«

Jetzt rief Thénardier mit seiner gewohnten Entschiedenheit:

»Socke ab und laß uns unseren Geschäften nachgehn.«

Eponine lieh Montparnasse’ Hand, die sie zum zweiten Mal ergriffen hatte, los, und sagte:

»Ihr wollt also durchaus hier hinein!«

»Ein Bischen!« höhnte der Bauchredner.

Da lehnte sie sich mit dem Rücken gegen das Gitter, sah die furchtbaren, bis an die Zähne bewaffneten sechs Banditen an, die in dem Dunkel der Nacht wie leibhaftige Teufel aussahen, und sagte mit fester und leiser Stimme:

»Ich will aber, daß Ihr das Haus in Ruhe laßt.«

Sie waren starr vor Staunen. Nur der Bauchredner grinste noch. Sie fuhr fort:

»Hört Freunde, und merkt Euch, was ich Euch sage. Brecht Ihr in den Garten ein, rührt Ihr das Gitter an, so schreie ich, klopfe an alle Thüren, wecke die Leute, lasse Euch alle Sechs arretiren.«

»Sie ist dazu im Stande,« flüsterte Thénardier Brujon und dem Bauchredner zu.

Sie schüttelte energisch den Kopf und fügte hinzu:

»Meinen Vater zu allererst.«

Thénardier ging auf sie zu.

»Nicht so nahe heran, guter Freund!«

Er wich zurück und brummte zwischen den Zähnen:

»Was zum Teufel ist ihr denn in die Krone gefahren? — Nichtswürdige Töle!«

»Meinetwegen Töle, Ihr kommt aber nicht hier hinein. Ich bin indeß keine Hundetöle, ich bin die Tochter eines Wolfes. Ihr seid Eurer sechs, aber das ist mir egal. Ihr seid Männer. Nun, ich will Euch zeigen, was ein Frauenzimmer kann. Ich fürchte mich vor Euch nicht, das merkt Euch. Ihr sollt hier nicht herein, weil es mir nicht paßt. Kommt Ihr näher, so belle ich. Denn ich bin nämlich der Hund, der das Haus hier bewacht. Jetzt geht Eurer Wege und macht mir nicht den Kopf heiß. Geht, wohin Ihr wollt; aber nicht hierher. Ich will’s nicht haben. So, wenn Ihr nun wollt, kommt ran. Mir soll’s recht sein.«

Sie schritt mit wilder, schrecklicher Energie auf die Banditen zu und lachte grimmig auf:

»Ja ja! Ich frag’ grad’ danach! Diesen Sommer werde ich so wie so nichts zu essen haben und im Winter frieren. Was die Schafsköpfe von Männer komisch sind, wenn sie sich einbilden, sie könnten einer Dirne Angst einjagen! Weshalb sollte sich denn Unsereins fürchten? Fehlte auch noch! Etwa weil die dummen Gänse, Eure Liebsten, unters Bett kriechen, wenn Ihr das Maul aufreißt? Ich fürchte mich vor Niemand.«

Hier sah sie Thénardier scharf an und sagte:

»Auch vor Dir nicht, Vater.«

Darauf musterte sie mit ihren blutrünstigen, düstern Augen die übrigen Banditen und fuhr fort:

»Was mache ich mir draus, wenn ich morgen, mit einem Messerstich von meinem Vater, in der Rue Plumet gefunden werde oder später mal in der Seine unter ersäuften Hunden und verfaulten Pfropfen!«

Sie mußte inne halten, ein trockner Husten peinigte sie und ihr Athem entrang sich röchelnd ihrer schmalen und schwachen Brust.

Dann hub sie wieder an:

»Ich brauche blos zu schreien, dann kommen Leute. Ihr seid Eurer sechs, aber ich habe noch weit mehr hinter mir.«

Thénardier ging jetzt wieder auf sie zu.

»Bleib mir vom Leibe!« rief sie.

Er blieb stehen und redete ihr in gütlichem Tone zu:

»Na ja! Ich will nicht näher kommen, aber sprich nicht so laut. Liebe Tochter, willst Du uns denn hindern, daß wir unsrer Arbeit nachgehn? Hast Du denn gar keine Liebe mehr zu Deinem Vater.«

»Rede doch nicht solch dummes Zeug.«

»Wir müssen aber doch leben, müssen uns doch ein Stück Brod verschaffen.«

»Meinetwegen könnt Ihr krepiren.«

Hierauf setzte sie sich auf den Sockel des Gitters und trällerte ein Liedchen, das eine Bein über das andere geschlagen, einen Ellbogen auf dem Knie und das Kinn auf die Hand gestützt, während sie ihren Fuß mit gleichgültiger Miene schlenkerte. Ihr durchlöchertes Kleid ließ ihre magern Schulterknochen sehen. Die nahe Straßenlaterne beleuchtete ihr Gesicht. Man konnte sich nichts Entschlosseneres denken, als dies Profil.

Die verdutzten Strolche traten seitwärts in den Schatten und beratschlagten achselzuckend und mit wüthenden Gebärden, während Eponine sie ruhig beobachtete.

»Sie hat etwas,« sagte Babet. »Einen Grund. Ob sie in den Kaffer da drin verliebt ist? Es wäre doch schade, wenn man ein so gutes Geschäft verfehlte. Zwei Frauenzimmer, ein Alter, der im Hinterhof wohnt. Eine Masse Gardinen an den Fenstern. Der Kerl muß ein Jude sein.«

»Ich glaube, es ist hier was zu machen.«

»Nun, dann vorwärts, Ihr Andern,« rief Montparnasse. »Ich bleibe hier und wenn die Dirne sich nicht ruhig verhält, so …«

Eine drohende Schwenkung des blanken Messers, das er im Aermel trug, vervollständigte seine Rede.

Thénardier sagte kein Wort und schien einverstanden mit allem, was die Andern beschließen würden.

Brujon, der sich eines orakelhaften Ansehens bei seinen Kumpanen erfreute und der das Geschäft in Vorschlag gebracht hatte, war die ganze Zeit über stumm geblieben. Er sah nachdenklich aus. Von jeher stand er im Rufe einer großartigen Unerschrockenheit und es war bekannt, daß er einmal, bloß aus Prahlsucht, eine Polizeiwache ausgeraubt hatte. Außerdem dichtete er, was seine Autorität bei Seinesgleichen noch erhöhte.

Babet fragte ihn endlich:

»Und Du, Brujon, Du sagst nichts?«

Brujon schwieg noch eine Weile, wiegte und schüttelte den Kopf auf mehrerlei Weise und entschloß sich endlich zu reden.

»Gut, so will ich Euch sagen, wie ich über die Sache denke. Heute Morgen habe ich auf meinem Wege zwei Sperlinge gesehen, die sich bissen, und heute Abend habe ich mit einem Frauenzimmer zu thun, die auch keift. Das sind alles Dinge, die mir nicht gefallen wollen. Ich schlage vor, wir drücken uns.«

Sie gingen also davon. Nur Montparnasse murrte noch und sagte:

»Schade! Wenn Ihr gewollt hättet, würde ich sie kalt gemacht haben.«

»Ist nicht mein Fall,« meinte Babet. »An den Damen vergreife ich mich nicht.«

Bei der Ecke der Straße angelangt, blieben sie stehen und tauschten folgende, räthselhafte Worte aus:

»Wo schlafen wir heute Nacht?«

»Hast Du den Schlüssel zum Gitter bei Dir, Thénardier?«

»Na gewiß.«

Eponine, die kein Auge von ihnen verwandte, sah, wie sie auf dem Wege, den sie gekommen waren, davongingen. Sie stand auf und schlich an den Gartenmauern und Häusern entlang ihnen nach, bis sie auf den Boulevard gelangte. Da gingen die sechs Männer auseinander und entschwanden allmählich ihren Augen in dem Dunkel der Nacht.

Nächtliches

Nachdem die Banditen fortgegangen waren, nahm die Rue Plumet ihr stilles, nächtliches Aussehen wieder an.

Was sich in dieser Straße eben zugetragen hatte, würde einen Wald nicht in Erstaunen versetzt haben. Die Dickichte, die Gestrüppe, die Haidekräuter, die verworrenen Gezweige besitzen ein schwaches, dunkles Bewußtsein; das wilde Gewirr nimmt die plötzlichen Erscheinungen des Unsichtbaren wahr; was unter dem Menschen ist, unterscheidet im Dämmer was jenseits des Menschen liegt, und die Dinge, von denen wir Lebenden nichts wissen, treten dort des Nachts einander gegenüber. Die Pflanzen und Thierwelt erschrickt, wenn sie etwas vor sich sieht, worin sie Übernatürliches zu erkennen glaubt. Die blutdürstige Bestialität, die hungrigen, nach Beute spähenden Begierden, die mit Klauen und Zähnen ausgerüsteten Instinkte, deren Quelle und Ziel der Magen ist, ängstigt der Anblick eines stillen Gespenstes, das ihnen in seinem weiten, wallenden Gewande entgegentritt und das ihnen ein totes und schreckliches Leben zu leben scheint. Diese rohen Gebilde des bloßen Stoffes fürchten sich in Berührung zu treten mit den ungeheuren, in einem unbekannten Wesen zusammengefaßten Kräften. Das Grimmige flieht vor dem Unheimlichen; Wölfe weichen zurück vor einem gespenstischen Weibe.

Marius fängt an praktisch zu werden

Während die Hündin in Menschengestalt vor dem Gitter Wache hielt und die sechs Strolche vor einem Mädchen zurückwichen, war Marius bei Cosette.

Nie war der Sternenhimmel schöner, die Bäume bewegter, die Blumendüfte stärker gewesen; nie hatten sich die Vögel melodischer in Schlaf gesungen, nie die Harmonieen der stillen Nacht lieblicher zusammengeklungen mit der Musik der Liebe; nie war Marius zärtlicher, glücklicher, entzückter gewesen. Aber Cosette war schwer bekümmert. Sie hatte roth geweinte Augen.

Es war die erste Wolke, die ihr Glück verdüsterte.

»Was fehlt Dir?« fragte Marius, als sie ihm entgegenkam.

Sie setzte sich auf die Bank neben der Freitreppe, und während er zitternd neben ihr Platz nahm, erzählte sie:

»Mein Vater hat mir heute Morgen gesagt, ich soll mich reisefertig machen. Er hätte Geschäfte zu besorgen und wir müßten vielleicht Paris verlassen.«

Marius erbebte von Kopf bis zu Fuß.

Wenn man am Ende des Lebens steht, heißt sterben fortgehen, und tritt man ins Leben hinein, heißt fortgehen sterben.

Seit sechs Wochen nahm Marius Cosette allmählich, langsam, täglich mehr und mehr in Besitz. Auf ideale Weise, aber tiefinnerlich. Wie wir schon erklärt haben, bemächtigt man sich bei der ersten Liebe der Seele lange vor dem Körper; später nimmt man den Körper und erst lange nachher die Seele; bisweilen bekommt man die Seele überhaupt nicht, — weil keine da ist, behaupten die Cyniker und die Philister; aber dieser Spott ist zum Glück eine Lästerung. Marius also besaß Cosette, wie Geister besitzen; aber er umfaßte sie mit seiner ganzen Seele und hielt sie mit leidenschaftlicher Eifersucht als sein selbstverständliches Eigenthum fest. Er besaß ihr Lächeln, ihren Athem, ihren Duft, den tiefen Blick ihrer blauen Augen, ihre weiche Haut, wenn er ihre Hand berührte, das reizende Mal, das sie am Halse hatte, alle ihre Gedanken. Sie hatten versprochen, daß sie nie schlafen wollten, ohne von einander zu träumen, und sie hatten Wort gehalten. Er herrschte also auch über alle Träume Cosettes. Er betrachtete unaufhörlich die Härchen, die sie im Nacken hatte, und erklärte, daß jedes dieser Härchen ihm gehörte. Ihm waren die Dinge, die sie an ihrem Körper trug, Heiligthümer, über die er Eigentumsrechte hatte. Er war der Herr der hübschen Schildpattkämme, mit denen sie ihr Haar fest steckte; ja, er stellte sich auch vor — vermöge einer noch unbestimmten Regung seines sinnlichen Menschen —, daß keine Schnur an ihrem Kleide, keine Masche ihrer Strümpfe, keine Falte ihres Corsetts nicht sein Eigenthum sei. Sie war sein Gut, sein Ding, seine Herrin und seine Sklavin. Sie hatten ihre Seelen so innig in einander verwoben, daß Keines mehr erkennen konnte, was ihm und was dem Andern ursprünglich gehörte. Marius war ein Bestandtheil Cosettes und Cosette ein Stück von Marius. Ihr Besitz war eine seiner Lebensbedingungen. Während er nun also in dem sichern Glauben an seine Herrscherrechte lebte, sagt man ihm plötzlich: »Wir gehen fort,« rief unvermittelt die rauhe Wirklichkeit: »Cosette gehört Dir nicht!«

Da erwachte Marius. Er hatte die letzten sechs Wochen außerhalb des Lebens gelebt; jetzt brachte ihn das Wort »verreisen« zur Besinnung.

Er fand keine Worte. Cosette fühlte nur, daß seine Hand kalt wurde und besorgt fragte sie:

»Was fehlt Dir?«

Er antwortete so leise, daß Cosette es kaum hörte.

»Ich verstehe nicht, was Du sagst -! Heute Morgen also benachrichtigte mich mein Vater, ich sollte meine Sachen hervorholen und mich bereit halten; er würde mir seine Wäsche geben, damit ich sie einpacke. Er sehe sich genöthigt eine Reise zu machen. Wir müßten einen großen Koffer für mich und einen kleinen für ihn besorgen. In einer Woche sollte alles fertig sein. Vielleicht würden wir nach England gehen.«

»Das ist ja aber schändlich!« rief Marius.

Denn nach seinem Dafürhalten kam keine Rechtsverletzung, kein Willkürakt, keine Ruchlosigkeit der ärgsten Tyrannen, keine Gewaltthat eines Busiris, Tiberius oder Heinrich VIII. an Niedertracht Herrn Fauchelevents Beschlusse gleich, seine Tochter nach England mitzunehmen, weil er dort zu thun hatte.

Er fragte mit schwacher Stimme:

»Wann wirst Du abreisen?«

»Er hat’s mir nicht gesagt.«

»Und wann kommst Du zurück?«

»Das hat er auch nicht gesagt.«

Marius stand auf und sagte kalt:

»Cosette, werden Sie mitreisen?«

Sie richtete ihre schönen, angsterfüllten Augen auf ihn und antwortete mit sinnloser Bestürzung:

»Wohin?«

»Nach England? Werden Sie mitreisen?«

»Warum sagst Du Sie zu mir?«

»Ich frage Sie, ob Sie mit Ihrem Vater reisen werden?«

»Was soll ich denn sonst machen?« sagte sie und rang die Hände.

»Also gehen Sie fort von hier?«

»Wenn mein Vater hinreist!«

»Also gehen Sie fort?«

Cosette ergriff Marius Hand und drückte sie ohne zu antworten.

»Gut,« sagte er; »so werde ich anderswo hingehen.«

Was diese Worte bedeuteten, fühlte sie mehr, als sie es verstand. Sie erbleichte dermaßen, daß ihr Gesicht selbst in der Dunkelheit ganz weiß erschien.

»Was meinst Du damit?« stammelte sie.

Marius sah sie an, schlug langsam die Augen zum Himmel empor und antwortete:

»Nichts.«

Als seine Augenwimpern niedersanken, sah er, wie Cosette ihn anlächelte. Das Lächeln eines geliebten Mädchens verbreitet einen Glanz, der auch die Nacht erhellt.

»Sind wir dumm! Marius, mir fällt was ein?«

»Was denn?«

»Reise auch nach England. Ich lasse Dir meine Adresse zukommen und Du suchst mich drüben auf.«

Um diese Zeit war Marius ganz wach geworden, in die Wirklichkeit zurückgekommen. Er rief:

»Mit Euch reisen? Wo denkst Du hin? Dazu gehört Geld, und ich habe keins. Nach England! Ich schulde jetzt Courfeyrac, einem Freunde von mir, den Du nicht kennst, an die zweihundert Franken, glaube ich. Ich trage einen alten Hut, der keine drei Franken wert ist; an meinem Rock fehlen vorn die Knöpfe, mein Hemde ist zerrissen, meine Stiefel ziehen Wasser; seit sechs Wochen achte ich auf alles das nicht und habe es Dir nicht gesagt. Cosette! Ich bin ein Lump. Du siehst mich nur des Nachts und schenkst mir Deine Liebe: Sähest Du mich bei Tage, Du würdest mich für einen Bettler halten und mir ein Almosen geben. Nach England reisen! Mein Geld reicht nicht einmal für die Paßgebühren aus!«

Er sank an einen Baum und stand, beide Hände über den Kopf geschlagen, die Stirn an die Rinde gelehnt, wie eine Statue der Verzweiflung da, ohne das harte Holz, das sich in seine Haut einpreßte, noch das Fieber, das ihm die Schläfen zerhämmerte, zu fühlen.

In diesem Zustande verharrte er lange. In einem solchen Abgrund von Jammer ist man im Stande eine Ewigkeit zu verweilen. Endlich, da er Cosette Schluchzen hörte, wandte er sich um.

Sie hatte schon zwei Stunden lang so geweint, während er in trübe Gedanken versunken neben ihr stand.

Er kam zu ihr, fiel auf die Kniee, ergriff, während er sich langsam niederbeugte, die Spitze ihres Fußes, die über den Saum ihres Kleides hervorragte, und küßte ihn.

Sie ließ ihn schweigend gewähren. Es giebt Augenblicke, wo die Frauen die Huldigungen ihrer Anbeter wie trauervolle, in ihr Schicksal ergebene Göttinnen entgegennehmen.

»Weine nicht«, sagte er.

»Wenn ich aber fort muß und Du mir nicht nachkommen kannst!« murmelte sie.

»Liebst Du mich?« hob er wieder an.

»Ich bete Dich an!« gab sie zurück und nie hatte ihm diese holde Betheurung so süß geklungen, wie jetzt, wo ihre Thränen sie begleiteten.

»Weine nicht«, fuhr er mit einem Tone fort, der an sich eine unbeschreiblich zarte Liebkosung war. »Sag’, willst Du das für mich thun, daß Du nicht weinst?«

»Liebst Du mich?« fragte sie.

Er ergriff ihre Hand.

»Cosette, ich habe nie irgend Jemand mein Ehrenwort gegeben, weil mir das eine zu furchtbare Verpflichtung auferlegt. Ich fühle, daß mein Vater neben mir ist. Nun höre also: Ich gebe Dir mein heiligstes Ehrenwort, daß, wenn Du fortgehst, ich sterben werde.«

In der Betonung, mit der er diese Worte aussprach, lag eine so feierliche und ruhevolle Melancholie, daß Cosette erbebte. Sie fühlte, daß er die Wahrheit sprach, und ein eisiger Schauer durchrieselte sie. Vor Schrecken hörte sie auf zu weinen.

»Jetzt höre mich«, fuhr er fort. »Warte morgen nicht auf mich.«

»Warum nicht?«

»Erst übermorgen.«

»Warum denn aber?«

»Du wirst sehen.«

»Einen ganzen Tag ohne Dich! Das ist ja unmöglich!«

»Wir müssen einen Tag opfern, um vielleicht das ganze übrige Leben zu gewinnen.«

Und er fuhr halblaut und für sich fort:

»Er weicht nie von seinen Gewohnheiten ab und hat immer nur des Abends Besuche angenommen.«

»Von wem sprichst Du?« fragte Cosette.

»Ich? Ich habe nichts gesagt.«

»Worauf hoffst Du denn?«

»Warte bis übermorgen.«

»Du bestehst darauf?«

»Ja, Cosette.«

Sie nahm seinen Kopf in ihre beiden Hände, indem sie sich auf den Fußspitzen emporhob, um an ihn heranzureichen, und in seinen Augen zu lesen versuchte.

Marius fuhr dann wieder fort:

»Mir fällt ein, Du mußt meine Adresse wissen; es kann was passieren, wer weiß? Ich wohnte bei dem bewußten Freunde Courfeyrac Rue de la Verrerie Nr. 16.«

Er suchte in seiner Tasche, zog ein Federmesser heraus und schrieb mit der Klinge seine Wohnungsadresse auf die Tünche des Hauses.

Mittlerweile aber suchte Cosette wieder ihm in die Augen zu schauen.

»Sage mir, was Du vorhast, Marius. Ja? Sag’s mir, damit ich die Nacht gut schlafe.«

»Mein Gedanke ist der: Es ist unmöglich, daß Gott uns trennen will. Also erwarte mich übermorgen.«

»Was soll ich aber bis dahin anfangen? Du bist draußen. Du darfst Dich bewegen, Dich tummeln. Wie glücklich die Männer sind! Ich muß immer allein bleiben. Was werde ich mich grämen! Was willst Du denn morgen Abend thun?«

»Ich werde einen Versuch machen …«

»Dann will ich zu Gott beten und bis dahin an Dich denken, damit Dir Dein Unternehmen gelingt. Ich frage Dich nicht mehr, weil Du’s nicht wünschest. Du bist mein Herr. Ich werde morgen Abend den Chor der Euryanthe singen, den Du so gern hast und den Du eines Abends im Garten belauschtest. Aber übermorgen komm recht früh. Ich erwarte Dich, wenn es dunkel wird, Punkt neun Uhr; merke Dir’s. Ach mein Gott! wie schrecklich, daß die Tage jetzt so lang sind! Du hörst also, Schlag neun Uhr bin ich im Garten.«

»Ich auch!«

Und schweigend sanken sie, von demselben Gedanken getrieben, von dem elektrischen Strom angezogen, der Liebende in beständige Verbindung mit einander setzt, noch im Schmerze von Sinnenrausch erfaßt, einander in die Arme, ohne zu merken, daß ihre Lippen sich aufeinander drückten, während ihre thränenfeuchten Augen zum Himmel emporschauten.

Als Marius aus dem Garten trat, lag die Straße menschenleer da. Es war gerade der Zeitpunkt, wo Eponine den Räubern bis auf den Boulevard nachging.

Während er, den Kopf an den Baum gelehnt, schwermüthig grübelte, war ihm ein Gedanke gekommen, den, ach! er selber für verkehrt und hoffnungslos hielt. Es war eine Gewaltmaßregel.

Ein altes und ein junges Herz

Vater Gillenormand war damals seine einundneunzig Jahr alt. Er wohnte noch immer mit seiner Tochter in der Rue des Filles du Calvaire Nr. 6, in einem alten Hause, das ihm gehörte. Er war, wie der Leser sich erinnern wird, einer von den Greisen aus altem Schrot und Korn, die den Tod aufrecht erwarten, die das Alter belasten, aber nicht beugen und die auch der Kummer nicht niederdrücken kann.

Indessen behauptete seit einiger Zeit Fräulein Gillenormand, es ginge abwärts mit ihrem Vater, Er ohrfeigte die Magd nicht mehr, stieß seinen Stock nicht mehr so kräftig gegen den Fußboden, wenn Baske ihn warten ließ und ihm die Thür nicht gleich aufmachte. Die Julirevolution hatte ihn kaum ein halbes Jahr lang zu ärgern vermocht. Er war allerdings recht schwermüthig gestimmt und nicht mehr der Alte. Zwar ergab er sich nicht, denn das lag ebenso wenig in seiner physischen, wie in seiner moralischen Natur, aber er fühlte, daß die gewohnte innerliche Spannkraft nachließ. Seit vier Jahren wartete er auf Marius — man kann sagen — festen Fußes, in der Ueberzeugung, daß der infame Schlingel heute oder morgen an seine Thür klopfen werde; jetzt widerfuhr es ihm in trübseligen Stunden, daß ein andrer böser Gedanke ihm zusetzte: Wenn Marius noch eine kleine Weile auf sich warten ließ so, … Nicht der Tod schien ihm furchtbar, wohl aber die Möglichkeit, daß er Marius nicht wiedersehen würde. Wie es zu geschehen pflegt, wenn man tief und wahr empfindet, hatte die Trennung seine großväterliche Liebe zu dem undankbaren Jungen, der ihn ohne Weiteres allein gelassen, nur gesteigert. Denkt man doch in Dezembernächten, bei zehn Grad Kälte, am meisten an die Sonne! Gillenormand war oder er hielt sich für unfähig, er der Großvater, seinem Enkel auch nur um einen Schritt entgegenzukommen, »Eher lasse ich mich totschlagen!« behauptete er. Er konnte nicht finden, daß er Unrecht gehabt, aber er dachte an Marius nur mit tiefer Zärtlichkeit und stummer Verzweiflung.

Seine Zähne fingen auch an auszufallen, und dies verstimmte ihn noch mehr.

Gillenormand hatte, ohne es sich einzugestehen, denn darüber hätte er sich geärgert und geschämt, nie eine Frau so geliebt, wie seinen Marius.

In seinem Schlafzimmer war dicht vor seinem Bett, damit es ihm gleich beim Erwachen in die Augen fiele, ein Porträt seiner andern, verstorbnen Tochter, der Frau Pontmercy, aus ihrem neunzehnten Lebensjahre, aufgehängt. Dieses Bild sah er sehr oft an und einmal bemerkte er sogar:

»Ich finde, daß er ihr sehr ähnlich ist.«

»Meiner Schwester?« fiel Fräulein Gillenormand ein. »Ja freilich.«

»Ihm auch,« fuhr der alte Herr fort.

Eines Tages, als er mit zusammengedrückten Knieen und geschlossenen Augen, in trübseliger Haltung da saß, erkühnte sich seine Tochter eine gefährliche Frage an ihn zu richten:

»Vater, sind Sie noch immer so böse auf …?«

Sie wagte nicht den Satz zu beenden und hielt inne.

»Auf wen?«

»Auf den armen Marius.«

Er hob seinen alten Kopf in die Höhe, legte seine magre und runzlige Faust auf den Tisch und schrie sie mit aller Energie an:

»Den ‘armen’ Marius nennst Du ihn? Dein Marius ist ein herz- und gemüthloser Lump, ein eitler, hochmüthiger, schlechter Mensch.«

Und er wandte sich ab, damit seine Tochter eine Thräne, die in seinem Auge stand, nicht sehen sollte.

Drei Tage nachher brach er ein vierstündiges Stillschweigen, mit den ganz unvermittelten Worten:

»Ich hatte Dich ersucht mir nie von ihm zu sprechen.«

Tante Gillenormand entsagte fortan jedem neuen Versuch und stellte eine Diagnose über die Seelenkrankheit ihres Vaters auf, die ihres gewohnten Scharfsinns würdig war: »Seitdem sie den dummen Streich begangen hat, will mein Vater von ihr nichts mehr wissen. Deshalb kann er auch ihren Sohn nicht leiden.«

Mit dem »dummen Streich« war die Verheirathung mit dem Oberst gemeint.

Selbstredend hatte Fräulein Gillenormand kein Glück mit dem Versuch gehabt Marius durch ihren Günstling Théodule zu ersetzen. Ihr Vater war auf den Tausch nicht eingegangen. Mit Lückenbüßern begnügt sich das Herz nicht. Dem Lieutenant seinerseits ging es auch wider den Strich, daß er den Alten hofieren sollte, trotz der Erbschaft, die ihm winkte. Er fand ihn langweilig und Dieser war auch nicht über den Ersatzmann entzückt. Der Lieutenant war von heiterem Temperament, aber zu geschwätzig und banal; lebenslustig, aber kein amüsanter Gesellschafter; er machte zwar den Frauen den Hof und ließ sich gern über dieses Thema aus, aber die Art und Weise, wie er dies that, gefiel dem alten Herrn nicht. Alle seine Vorzüge waren mit einem Fehler verquickt. Gillenormand wurde es bald überdrüssig, ihn mit seinen Erfolgen prahlen zu hören und außerdem kam Théodule bisweilen mit der verhaßten dreifachen Kokarde. Das machte ihn vollends unmöglich, und eines Tages sagte Gillenormand zu seiner Tochter: »Nun habe ich genug von ihm. Empfange Du ihn, wenn Du magst. Die Kriegsleute im Frieden sind nicht nach meinem Geschmack. Wenn ich wählen müßte, würde ich die Schlagododros vorziehen. Säbelgeklirr in der Schlacht klingt immer noch besser, als wenn so ein windiger Stutzer seine Plempe über einen Parkettboden schleift. Und wenn dann Einer sich noch wie ein Eisenfresser in die Brust wirft und sich die Taille wie ein Frauenzimmer zusammenschnürt, ein Corsett unter einem Küraß trägt, so ist das doppelt lächerlich. Wenn man ein rechter Mann ist, hält man sich von der Prahlerei und der Ziererei gleich fern. Behalte Deinen Théodule für Dich.«

Mochte seine Tochter auch noch so oft wiederholen, Théodule sei doch sein Großneffe, Gillenormand hegte wohl großväterliche, aber keine großonkligen Gefühle.

Im Grunde genommen kam, da Gillenormand ein gescheidter Mann war, und Gelegenheit bekommen hatte, Vergleiche anzustellen, weiter nichts bei der Sache heraus, als daß er sich nur noch mehr nach Marius sehnte.

Eines Abends, — es war am 4. Juni, was Gillenormand nicht verhinderte tüchtig einheizen zu lassen — hatte er seine Tochter weggeschickt, in das nächste Zimmer, wo sie sich mit Näharbeit beschäftigte. Er war allein in seinem Schlafzimmer und saß in einem Lehnsessel am Kamin, fast vollständig versteckt von seinem neunblättrigen Bettschirm, die Arme auf dem Tisch, auf dem zwei Lichter unter einem grünen Schirm brannten und ein Buch in der Hand, in dem er aber nicht las. Er war nach der alten Mode der Incroyables gekleidet und erinnerte an ein Porträt von Garat. Die Leute wären hinter ihm hergelaufen, wenn er sich so auf der Straße hätte blicken lassen; seine Tochter bewog ihn aber, einen weiten Ueberrock anzuziehen, so daß man seine altmodische Tracht nicht zu sehen bekam. Zu Hause trug er, ausgenommen, wenn er zu Bett ging oder aufstand, nie einen Schlafrock. »Man sieht zu alt darin aus,« meinte er.

Vater Gillenormand dachte wieder einmal mit Zärtlichkeit und Bitterkeit an Marius, aber letzteres Gefühl überwog wie gewöhnlich. Denn jedes Mal, wenn er sich sanfteren Regungen hingab, bewirkte alsbald die Erinnerung an Marius Undankbarkeit, daß sie in das Gegentheil umschlugen. Er war jetzt bei einer Gemüthsverfassung angelangt, wo man bereit ist, sich in das Unvermeidliche zu schicken. »Es liegt kein Grund vor,« sagte er sich jetzt, »warum Marius wiederkommen sollte. Wenn er sich überhaupt dazu verstehen wollte, hätte er’s schon gethan.« Er versuchte also sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er sterben würde, ohne seinem »Herrn« Enkel wiederzusehn. Aber gegen diesen Ausgang ihres Zwistes sträubte sich seine innerste Natur; seine Liebe zu Marius war zu tief eingewurzelt, als daß er auf alle Hoffnung hätte verzichten können. — »Ob er wirklich nicht mehr wiederkommt?« fragte er sich schwermüthig immer und immer wieder. So saß er, den kahlen Kopf auf die Brust gesenkt und starrte halb traurig, halb ärgerlich in die Asche des Kaminfeuers.

Während er so tief sinnierte, trat sein alter Diener Baske herein und fragte:

»Herr Marius wünscht sie zu sprechen.«

Blaß und mit einem heftigen Ruck wie ein Leichnam, der durch einen galvanischen Strom elektrisirt worden ist, richtete der Greis sich auf. All sein Blut war ihm nach dem Herzen geströmt. Er stammelte:

»Was für ein Herr Marius?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Baske, durch das Benehmen seines Herrn eingeschüchtert und außer Fassung gebracht. »Ich habe ihn nicht gesehen. Nicolette hat mir eben gesagt: ›Ein junger Mann wünscht den Herrn zu sprechen. Sagen Sie ihm, es wäre Herr Marius.‹«

Vater Gillenormand stammelte leise:

»Bitten Sie ihn, näher zu treten.«

Er blieb in derselben Haltung sitzen, mit wackelndem Kopfe und die Augen auf die Thür geheftet. Sie that sich wieder auf und ein junger Mann trat herein. Es war Marius.

Er blieb an der Thür stehen, als wartete er auf eine Einladung näher zu treten.

Seine — fast erbärmliche — Kleidung konnte man in dem Schatten des Lampenschirms nicht gut sehen. Man unterschied nur sein ruhiges und ernstes, aber ausnehmend trauriges Gesicht.

Fassungslos vor Staunen und Freude war Vater Gillenormand einige Augenblicke wie geblendet, als sehe er eine hehre Lichtgestalt, Ja, er war es: es war sein Marius! Endlich! Nach vier Jahren! Er musterte ihn mit einem Blick und fand, daß Marius sich zu einem hübschen Manne von edler, vornehmer Haltung und von einnehmendem Aeußern entwickelt hatte. Es regte sich in ihm ein Verlangen seine Arme auszubreiten, ihm um den Hals zu fallen; sein Herz zerfloß in weicher Rührung; eine Fülle von liebevollen Worten drängte sich auf seine Lippen; endlich brach all die Zärtlichkeit sich Bahn und vermöge des Kontrastes, der das Wesen seines Charakters ausmachte, kam eine harte Anrede heraus:

»Was hast Du hier zu suchen?«

Marius antwortete verlegen:

»Herr …«

Gillenormand hätte gewünscht, daß Marius ihm entgegen käme, sich in seine Arme stürzte. Nun war er unzufrieden mit Jenem und sich selber. Er fühlte, daß er sich schroff benahm und daß Marius kalt blieb. Es war für den guten Alten eine unerträgliche Pein, daß er in seinem Innern so weich gestimmt war und äußerlich nur eine strenge Miene zeigen konnte. Unter dieser Umständen kam die Bitterkeit wieder und er fiel Marius unfreundlich in die Rede:

»Wozu kommst Du Denn?«

Das »denn« bedeutete: »Wenn Du mich nicht umarmen willst.« Marius aber sah nur das marmorweiße Gesicht seines Großvaters.

»Herr …«

Der Alte fragte mit strenger Stimme:

»Kommst Du um Verzeihung zu bitten? Hast Du eingesehen, daß Du Unrecht hast?«

Er glaubte, damit Marius auf den rechten Weg zu bringen, und der »Junge« würde nachgeben. Dieser aber erschrak. Er dachte, er sollte sich von seinem Vater lossagen, schlug die Augen nieder und erwiederte:

»Nein!«

»Ja, was willst Du denn aber?« brauste der Alte auf, voll herben Schmerzes und zornig.

Marius faltete die Hände, trat einen Schritt vor und sagte mit schwacher, unsichrer Stimme

»Haben Sie Mitleid mit mir!«

Diese Worte drangen dem Alten ins Innerste; hätte Marius das früher gesagt, so wäre er besser empfangen worden. Jetzt kam er zu spät damit. Der Großvater stand von seinem Lehnstuhl auf; er stemmte sich mit beiden Händen auf seinen Stock; seine Lippen waren blaß, seine Stirn schwankte, aber mit seiner hohen Statur überragte er noch Marius, der gebeugt vor ihm stand.

»Mitleid mit Dir! Also ein junger Mann bittet einen einundneunzigjährigen Greis um Mitleid. Du stehst am Anfang, ich am Ende des Lebens; Du gehst ins Theater, auf den Ball, ins Kaffeehaus, bist klug und hübsch, gefällst den Frauen; ich lasse mitten im Sommer mein Zimmer heizen; Du besitzt allen einzig wahren Reichthum, den es überhaupt giebt; ich entbehre alles, was das Leben lebenswerth macht, bin gebrechlich und weltverlassen; Du hast alle Deine Zähne, einen guten Magen, muntre Augen, Gesundheit, Frohsinn, einen Wald von schwarzen Haaren; ich bin kahl, habe keine Zähne mehr; meine Beine werden täglich schwächer; mein Gedächtniß gleichfalls. Da sind drei Straßennamen, die Rue Charlot, die Rue du Chaume und die Rue Saint-Claude, die verwechsle ich immerzu: So weit ist’s mit mir gekommen. Du hast eine sonnige Zukunft vor Dir; mir ist zu Muthe, als wandle ich in tiefer Nacht. Du denkst natürlich immer an die Liebe; mich liebt Niemand und da kommst Du und bittest mich um Mitleid! So was müßte man wirklich auf die Bühne bringen. Wenn Ihr Herren Advokaten vor Gericht dergleichen Witze macht, so gratulire ich, Ihr seid komisch, — Nun aber möchte ich mal hören, was Du von mir willst.«

»Ich weiß,« entgegnete Marius, »daß Sie mich nicht gern sehn, aber ich komme blos, sie um etwas zu bitten, und gehe dann gleich wieder.«

»Du bist einfältig!« sagte der Alte, »Wer sagt Dir, daß Du gehen sollst?«

In die gewöhnliche Redeweise übersetzt, bedeuteten diese Worte: »So bitte doch um Verzeihung und komm’ in meine Arme.« Gillenormand ahnte, daß Marius bald gehen würde, daß der schroffe Empfang ihn abschreckte. Dies sagte er sich also und in Folge dessen nahm seine Betrübniß zu. Da aber bei ihm jeder Kummer sofort in Zorn umschlug, so steigerte sich in demselben Maße auch seine äußerliche Härte. Er hätte gewünscht, daß Marius das begriffe. Der aber merkte nichts und darüber wurde der Alte noch wüthender. Er fuhr fort:

»Wie! Du hast die Achtung vor mir, Deinem Großvater, aus den Augen gesetzt. Deiner Tante Kummer bereitet; bist von uns weggegangen, wer weiß, wohin, um Dich — man kann’s sich ja denken — ungestört mit Frauenzimmern zu amüsieren und zu schwiemeln; hast Schulden gemacht, ohne mir zu sagen, daß ich sie bezahlen soll; und nun Du vier Jahre weggeblieben bist, ohne ein Lebenszeichen zu geben, kommst Du zurück und hast mir weiter nichts zu sagen!«

Dieses gewaltsame Mittel, seinen Enkel weich zu stimmen, brachte bei Marius keine andre Wirkung hervor, als daß er schwieg.

Da kreuzte Gillenormand die Arme, ein Zeichen, daß er gebieterisch auftreten und kurzen Prozeß machen wollte.

»Machen wir ein Ende,« sagte er mit Bitterkeit, »Du willst mich um etwas bitten, sagst Du? Was ist es? Rede!«

»Ich wollte um die Erlaubniß bitten, zu heiraten,« antwortete Marius und sah dabei aus, wie Einer, dem die Gefahr droht, in einen Abgrund zu stürzen.

Gillenormand klingelte und Baske erschien in der Thüröffnung.

»Sagen Sie meiner Tochter, sie möchte zu mir kommen.«

Eine Sekunde darauf ging die Thür wieder auf. Fräulein Gillenormand zeigte sich auf der Schwelle, kam aber nicht herein. Marius stand mit einem Verbrechergesicht und mit schlaff herabhängenden Armen da. Der Alte ging im Zimmer nach allen Richtungen hin und her. Er wandte sich zu seiner Tochter und sagte:

»Es ist nichts, nur Herr Marius. Sag’ ihm guten Tag. Der Herr will heiraten. So. Nun kannst Du wieder gehen.«

Die kurze, heftige Sprache des Alten ließ auf einen ungewöhnlichen Grad von Groll schließen. Die Tante sah Marius bestürzt an, schien ihn kaum wieder zu erkennen, machte weder eine Gebärde des Willkommens, noch brachte sie eine Silbe hervor und eilte vor dem Hauch des väterlichen Mundes hurtiger davon, als ein Strohhalm vor einem Orkan.

Währenddem war Gillenormand an den Kamin getreten und hatte sich an das Gesims gelehnt.

»Also Du hast beschlossen, Dich zu verheiraten! Mit einundzwanzig Jahren! Und jetzt willst Du blos noch um Erlaubnis bitten, eine kleine Formalität erfüllen! Setzen Sie sich, geehrter Herr! Nun, Ihr habt, seitdem ich nicht die Ehre gehabt habe, Dich zu sehen, wieder eine Revolution ins Werk gesetzt. Die Jakobiner haben die Oberhand bekommen. Das hat Dich doch gefreut? Du bist ja wohl Republikaner, seitdem Du Dich Baron titulierst. Republikanische Grundsätze und Adelstitel! Das paßt prächtig zu einander — etwa wie Braten und Zucker. Hast Du Dir auch einen Orden bei dem Krawall geholt, Dich bei der Erstürmung des Louvre mit Ruhm bedeckt? Hier in der Nähe in der Rue Saint-Antoine, der Rue des Nonaiudiéres gegenüber kannst Du in einem Hause eine Kanonenkugel sehen mit der Inschrift: 28. Juli 1830. Das Vergnügen versäume doch ja nicht. Das sieht nach was aus, kann ich Dir sagen. Ja, ja! Deine Freunde richten schöne Geschichten an! — Also, Du willst Dich verheiraten? Mit wem? Wenn man sich die Freiheit nehmen darf, danach zu fragen!«

Er hielt inne, aber ehe noch Marius Zeit gefunden hatte zu antworten, fuhr er mit Heftigkeit fort:

»Kannst Du denn eine Frau ernähren? Hast Du eine regelmäßige Beschäftigung? Oder hast Du ein Vermögen zusammengearbeitet? Wieviel verdienst Du als Advokat?«

»Nichts!« antwortete Marius mit fast grimmiger Festigkeit und Entschlossenheit.

»Nichts! Also hast Du weiter nichts als die zwölfhundert Franken pro Jahr von mir?«

Marius gab keine Antwort.

»Ach so! Dann ist es ein reiches Mädchen?«

»So reich wie ich.«

»Was! Keine Mitgift?«

»Nein!«

»Aussichten?«

»Ich glaube nicht.«

»Kein Hemde auf dem Leibe! Und was ist der Vater?«

»Ich weiß nicht.«

»Und wie heißt sie?«

»Fräulein Fauchelevent.«

Der Alte zuckte verächtlich die Achseln.

»So ist’s recht! Einundzwanzig Jahr alt, kein Verdienst, zwölfhundert Franken jährliches Einkommen! Da werden die Frau Baronin Pontmercy wohl Herrn Schmalhans als Küchenmeister engagiren und ihre paar Kartoffeln selber vom Markt holen müssen.«

»Herr Gillenormand!« rief Marius fassungslos, nun er seine letzte Hoffnung schwinden sah. »Ich beschwöre Sie, ich flehe sie an, ich bitte sich fußfällig, erlauben Sie mir, sie zu heiraten.«

Der Alte brach in höhnisches, grausiges Gelächter aus.

»Aha! Du hast gedacht: Ich muß wohl oder übel den alten Stiesel, den Trottel aufsuchen. Wie schade, daß ich noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt und mündig bin! Wie schleunig ich dem mit einer notariellen Abfrage aufwarten würde! Da könnte man ohne ihn fertig werden. Na, schadet aber nicht. Ich gehe zu ihm hin und sage: Du altes Rind kannst zufrieden sein, daß ich mich einmal bei Dir sehen lasse; ich will mich verheiraten; ich habe keine ganzen Stiefel; meine Zukünftige hat kein Hemd am Leibe; das ist mir aber schnurz; ich lasse meine Karriere, meine Zukunft, zum Teufel fahren, lade mir eine Frau auf den Hals, und stürze mich ins Elend. Das beliebt mir so und Du mußt Ja dazu sagen. Selbstredend, wird das alte Fossil klein beigeben. — Du hast Dich aber in mir geirrt, lieber Freund; meine Erlaubniß bekommst Du nicht!«

»Großvater!«

»Nun und nimmermehr!«

An dem Tone, in dem diese Weigerung ausgesprochen wurde, erkannte Marius, daß er nichts mehr zu hoffen hatte. Er ging langsam, in geknickter Haltung, als sehe er den Tod vor sich, davon. Gillenormand folgte ihm mit den Augen, aber als Marius die Thür aufmachte und den Fuß aus dem Zimmer setzen wollte, eilte ihm der Alte plötzlich nach, faßte ihn beim Kragen, zog ihn energisch zurück und drückte ihn auf einen Stuhl nieder.

»Erzähle mir doch die Geschichte!«

Das bloße Wort »Großvater«, das Marius so entschlüpft war, hatte diese Veränderung bewirkt.

Marius sah ihn verständnislos an. Gillenormand’s bewegliche Physiognomie zeigte nur noch einen Ausdruck rauher und unaussprechlicher Gutmüthigkeit. Der Alte hatte die Stimme des Bluts gehört.

»Vorwärts, erzähle mir Deinen ganzen Liebeshandel, und ohne Umstände. Nein, was das junge Volk dumm ist.«

»Großvater!« begann Marius wieder:

»So ist’s recht, nenne mich Großvater. Dann wirst Du schon sehen!« rief der Alte und helle Freude strahlte in seinem Gesicht auf.

In seiner Derbheit lag jetzt so viel Güte, Freundlichkeit, Offenheit und väterliche Liebe, daß Marius durch den plötzlichen Uebergang von der höchsten Entmuthigung zur Hoffnung wie betäubt und berauscht war. Er saß jetzt am Tische und das Licht der beiden Kerzen fiel auf seine ärmliche Kleidung, die Vater Gillenormand mit Erstaunen musterte.

»Also, Großvater …« hob Marius wieder an.

»Sag’ mal,« fiel Gillenormand ihm ins Wort, »bist Du denn wirklich so schlimm dran? Du siehst ja wie ein Landstreicher aus.«

Er zog eine Schublade auf und holte eine Börse hervor, die er auf den Tisch legte.

»Da hast Du hundert Louisd’or; kaufe Dir einen Hut.«

»Großvater, mein lieber Großvater, wenn Du wüßtest, wie ich sie liebe. Das erste Mal also habe ich sie im Jardin du Luxembourg gesehen; da kam sie täglich hin. Anfangs beachtete ich sie nicht; dann aber- ich weiß nicht, wie es gekommen ist — faßte ich eine heftige Liebe zu ihr. Ach, wie mich das unglücklich gemacht hat! Na, kurz und gut, ich besuche sie jetzt täglich; ihr Vater weiß aber nichts davon. Denke Dir, sie wollen verreisen. Wir treffen uns immer unten im Garten, des Abends. Ihr Vater will sie also nach England mitnehmen, und da habe ich gedacht, ich gehe zu meinem Großvater und erzähle ihm alles. Ich würde ja verrückt werden, würde sterben, krank werden, ins Wasser gehen. Ich muß sie durchaus heiraten, sonst würde ich den Verstand verlieren. Das ist also die ganze Wahrheit; ich glaube nicht, daß ich was vergessen habe. Sie wohnt Rue Plumet in einem Hause, mit einem kleinen Garten davor, in der Nähe des Invalidendoms.«

Vater Gillenormand hatte sich strahlend vor Glück zu Marius gesetzt, und delektierte sich, während er seinem Enkel zuhörte und sich an dem Klange seiner Stimme erfreute, zugleich auch an einer Prise Tabak. Als er aber die Worte Rue Plumet hörte, ließ er plötzlich den Rest seines geliebten Riechkrauts fallen.

»Rue Plumet, sagst Du? Rue Plumet? Wo ist die doch? Ist da nicht eine Kaserne in der Nähe? I gewiß! Nun weiß ich. Dein Vetter Théodule hat davon gesprochen, der Lanzenreiter. Und von dem Mädel auch. Nun natürlich, Rue Plumet, die vormalige Rue Blomet. Jetzt entsinne ich mich. Ich habe von der Kleinen, dem Garten mit dem Gitter sprechen hören. Eine wahre Pamela, sagte er. Du hast keinen übeln Geschmack. Sie soll allerliebst sein. Unter uns gesagt, ich glaube, der Laffe von Lieutenant hat ihr ein bischen die Kour geschnitten. Wie weit die Sache aber gegangen ist, kann ich Dir nicht sagen. Na, das ist Nebensache. Glauben kann man ihm ja auch nicht. Er prahlt gern. Marius, ich finde es ganz in der Ordnung, daß ein junger Mann, wie Du sich verliebt. Das gehört sich so in Deinem Alter. Das gefällt mir besser an Dir, als Deine Beschäftigung mit der Politik. Vernarre Dich in zwanzig Schürzen, aber nicht in Robespierre. Ich für mein Theil darf mir das Zeugniß ausstellen lassen, daß ich nie andere ›Ohnehosen‹ haben leiden mögen, als die Frauenzimmer, die hübschen natürlich; auf die lasse ich nichts kommen. Was Deine Kleine betrifft, so empfängt sie Dich ohne Wissen des Herrn Papa. Auch nichts Ungewöhnliches. Dergleichen Abenteuer habe ich meiner Zeit ebenfalls gehabt. Mehr als eines. Weißt Du, was man unter solchen Umständen thut? Man stellt sich nicht auf den Standpunkt eines Tugendbolds, läßt jede griesgrämige Moral links liegen und rennt nicht gleich wie ein Besessener nach dem Standesamt. Man muß gescheidt sein, lieber Junge, und in solch einem Falle über den Abgrund der Ehe hinweghüpfen. Man kommt zu Großväterchen, der gemüthlicher ist, als er aussieht und wohl auch ein paar überflüssige Rollen Goldstücke in irgend einer Schublade zu liegen hat, und zu dem sagt man: ›Großvater, so und so verhält sich die Sache.‹ Und Großvater sagt: ›Nun natürlich. Die Jugend will austoben, und das Alter muß ruhen. Ich bin jung gewesen und Du wirst einmal alt werden. Hier, mein Junge, hast Du zweihundert Pistolen. Die leihe ich Dir, damit Du sie später einmal an Deinen Enkel wieder erstattest. So nun geh hin und amüsire Dich.‹ Auf die Weise wird’s gemacht. Verstanden?«

Wie versteinert und unfähig eine Silbe hervorzubringen, schüttelte Marius verneinend den Kopf.

Der Alte lachte, blinzelte mit den Augen, gab ihm einen Klapps auf das Kniee, sah ihn schelmisch an und sagte, indem er nachsichtig die Achseln zuckte:

»Dummer Kerl, Du sollst aufs Ganze gehen, ohne zu ehelichen.«

Marius erblaßte. Er hatte die lange Rede seines Großvaters nicht verstanden. Der Rue Blumet, Pamela, die Kaserne, der Lanzenreiter waren vor den Augen seines Geistes vorbeigehuscht, ohne ihm ein zusammenhängendes Bild zu liefern. Das Alles konnte sich doch nicht auf Cosette, die lilienreine Unschuld selber beziehen. Der Alte redete ungewaschenes Zeug! Aber der Unsinn gipfelte in einem guten Rath, der für Cosette eine tötliche Beleidigung war. Die Worte »ohne zu ehelichen« verwundeten das Herz des tugendstrengen, jungen Mannes schwerer wie eine Degenklinge. Er stand auf, hob seinen Hut, der an der Erde lag, auf und ging sichern und festen Schrittes auf die Thür zu. Hier blieb er stehen, wandte sich um, verneigte sich tief vor seinem Großvater, richtete stolz den Kopf empor und sagte:

»Vor fünf Jahren haben Sie meinen Vater verunglimpft; heute beschimpfen Sie meine zukünftige Frau. Ich habe nun nichts mehr mit Ihnen zu thun. Adieu.«

Der erschrockne Vater Gillenormand that den Mund auf, breitete die Arme aus, versuchte von seinem Sitz aufzustehn; aber noch ehe er einen Laut hervorbringen konnte, war die Thür wieder zugegangen und Marius verschwunden.

Der Greis blieb eine Weile wie gelähmt sitzen, ohne sprechen oder athmen zu können, als schnürte ihm Jemand die Kehle zu. Endlich sprang er auf, lief zu der Thür, so schnell Einer in seinen Jahren laufen kann, riß sie auf und schrie:

»Hülfe! Hülfe!«

Seine Tochter, die Dienstboten kamen.

»Lauft ihm nach! Bringt ihn zurück!« ächzte er. »Was habe ich ihm denn gethan? Er ist verrückt! Er geht weg! Ach, mein Gott, mein Gott! Dies Mal kommt er nicht wieder!«

Dann rannte er an das Fenster, das auf die Straße hinausging, riß es mit zittriger Hast auf, legte sich mit halbem Leibe hinaus, während Baske und Nicolette ihn von hinten festhielten und rief:

»Marius! Marius! Marius!«

Aber Marius konnte ihn nicht mehr hören; er bog in diesem Augenblick schon um die Ecke der Rue Saint-Louis.

Der Greis drückte mehrere Mal mit qualvoller Miene beide Hände gegen die Schläfen, taumelte vom Fenster zurück und sank auf seinen Sessel nieder, ein Bild des höchsten physischen und moralischen Jammers.

Wohin?

Jean Valjean

An demselben Tage, um vier Uhr Nachmittags, saß Jean Valjean allein auf einer der einsamsten Böschungen des Champ de Mars. Sei es Vorsichtshalber, sei es um weniger gestört zu sein oder auch bloß, weil sich allmählich eine andre Gewohnheit bei ihm eingestellt hatte, was ja bei allen Menschen vorkommt, kurz, er ging ziemlich selten mit Cosette aus. Er trug seine Arbeitsjacke, seine graue Leinwandhose und die Mütze mit dem breiten Schirm, unter dem sein Gesicht halb versteckt war. In Bezug auf Cosette war er jetzt beruhigt und glücklich, aber an die Stelle des einen Kummers waren andre Sorgen getreten. Er war eines Tages, als er auf dem Boulevard spazieren ging, Thénardier begegnet, ohne daß er freilich Dank seiner Verkleidung, von diesem wiedererkannt wurde; aber seit der Zeit hatte er Thénardier öfter gesehen und die Gewißheit erlangt, daß Dieser sich in dem Stadtviertel herumtrieb. Dies genügte, um ihn zu einem wichtigen Schritt zu veranlassen. Thénardiers Anwesenheit bedrohte ihn mit allerhand Gefahren. Abgesehen davon war es in Paris auch nicht ruhig, und die allgemeine politische Erregtheit hatte für Jeden, dessen Vergangenheit irgend einen dunkeln Punkt aufwies, den Uebelstand, daß die Polizei sehr rührig und mißtrauisch geworden war, und indem sie einem Pepier oder Morey nachforschte, sehr wohl einen Jean Valjean fassen konnte. Jean Valjean hatte also den Beschluß gefaßt, Paris und sogar Frankreich überhaupt zu verlassen und nach England überzusiedeln. Ehe acht Tage vergingen, wollte er fort sein. Er saß also jetzt auf dem Marsfelde und machte sich allerlei sorgenvolle Gedanken über Thénardier, die Polizei, seine bevorstehende Abreise und die Schwierigkeit sich einen Paß zu verschaffen.

Endlich hatte noch ein andrer unerklärlicher Vorfall ihn stutzig gemacht und ging ihm im Kopfe herum. Als er nämlich am Morgen desselben Tages zuerst im Hause, noch ehe Cosettes Fensterläden geöffnet waren, aufstand, und im Garten spazieren ging, sah er plötzlich eine räthselhafte Adresse, »Rue de la Verrerie Nr. 16.,« wahrscheinlich mit einem Nagel, an der Mauer angeschrieben.

Die Schrift war frisch, die eingeritzten Vertiefungen hoben sich weiß und rein von dem schmutzigen, dunkeln Mörtel ab und eine Brennnessel unter der Inschrift war mit feinem weißem Staub bedeckt. Das mußte erst in der vergangnen Nacht Jemand geschrieben haben. War das eine Warnung für ihn oder eine Benachrichtigung für Andre? Jedenfalls hatten Fremde den Garten heimlich betreten, und hiermit stimmten die Vorfälle überein, die kürzlich Cosette so geängstigt hatten. Deswegen hütete er sich auch seiner Tochter gegenüber die Sache zu erwähnen.

Während sein Geist mit diesen Sorgen beschäftigt war, merkte er an einem Schatten, der sich plötzlich neben ihm an der Erde abzeichnete, daß Jemand hinter ihm und ganz oben auf der Böschung stand. Er war im Begriff sich umzuwenden, als ihm ein vierfach gefalteter Zettel in den Schoß viel, wie wenn eine Hand über seinem Kopfe ihn hätte fallen lassen. Er nahm den Zettel, faltete ihn auseinander und las die mit großen Buchstaben und mit Bleistift geschriebnen Worte: »Wechseln Sie Ihre Wohnung.«

Jean Valjean erhob sich hastig von seinem Sitze, aber der Schatten war verschwunden, und als er sich umsah, bemerkte er einen jungen Burschen in einem grauen Kittel und einer staubfarbnen Manchesterhose, der sich über die Mauerbrüstung in den Graben des Marsfeldes schwang.

Dieser Zwischenfall gab ihm noch mehr zu denken, während er sich auf den Heimweg begab.

Marius

Mit wenig Hoffnung im Herzen war Marius zu Gillenormand gegangen; als er zurückkam, beherrschte ihn die größte Verzweiflung.

Freilich hinterließ, — wie sich wohl Alle denken können, die den Entwicklungsgang des menschlichen Herzens beobachtet haben, — Gillenormand’s Anspielung auf Théodules Liebeswerbung bei Cosette nicht den geringsten Eindruck in Marius’ Gemüth. Ein Dramatiker würde wohl solch’ eine Mittheilung eines Großvaters an seinen Enkel zu einer tragischen Verwicklung benutzen. Aber was das Drama dabei gewänne, würde die Wahrheit verlieren. Marius stand in dem Alter, wo man an nichts Böses glaubt; die Zeit, wo man alles Böses glaubt, kommt erst später. Argwöhnische Vermuthungen sind wie die Runzeln; ganz junge Leute kennen dergleichen nicht. Was einen Othello um den Verstand bringt, gleitet an einem jungen Optimisten ab. Cosette beargwöhnen! Wer weiß, wieviel Verbrechen sich Marius eher hätte zu Schulden kommen lassen, als dieses!

Er lief, um seinen Kummer auszutoben, in den Straßen umher, in einem unbeschreiblichen Gemüthszustande; denn er konnte sich nachher auf nichts besinnen, was bei diesem Spaziergang mit ihm vorgegangen war und was für Gedanken er gehabt. Um zwei Uhr Morgens kam er nach Hause und warf sich, völlig angekleidet, auf seine Matratze. Es war schon Tag, als er in einen dumpfen Schlaf versank, während dessen sein Hirn weiter arbeitete. Als er wieder erwachte, sah er in seinem Zimmer Courfeyrac, Enjolras, Feuilly und Combeferre. Sie hatten den Hut auf dem Kopfe, schienen geschäftig und schickten sich an auszugehen.

»Kommst Du mit zum Begräbniß des Generals Lamarque?« fragte ihn Courfeyrac.

Diese Worte gingen aber an seinem Ohr vorüber, als hätte Courfeyrac ihn auf chinesisch angeredet.

Er ging bald nach ihnen aus, nachdem er die beiden ihm von Javert übergebenen Pistolen eingesteckt hatte. Sie waren geladen. Was für ein unklarer Gedanke ihn dazu bewog, sie mitzunehmen, wäre schwer zu sagen gewesen.

Den ganzen Tag über irrte er, ohne zu wissen, wo, herum; es regnete zeitweilig, und er merkte es nicht; er kaufte sich auch bei einem Bäcker ein Brödchen, steckte es sich in die Tasche und vergaß es. Dann nahm er ein Bad in der Seine, ohne sich dessen bewußt zu werden. Es giebt Augenblicke, wo der Mensch einen Glutofen im Hirn hat, und dies war an jenem Tage mit Marius der Fall. Seit dem vergangnen Abend war er in eine Gemüthsverfassung übergegangen, wo er nichts mehr hoffte und nichts mehr fürchtete. Er hatte nur noch einen klaren Gedanken, — daß er um neun Uhr Abends zu Cosette gehen würde. In dieser einen glücklichen Thatsache bestand seine ganze Zukunft; was darauf folgen würde, war Finsterniß. Zeitweise hörte er, während er auf den einsamsten Boulevards herumlief, ein ihm unverständliches Getöse. Dann wachte er aus seinen Grübeleien auf und dachte: »Ist denn eine Revolte im Gange?«

Um neun Uhr Abends stellte er sich, wie er Cosette versprochen, in der Rue Plumet ein. Als er auf das Gatter zuschritt, hatte er all sein Leid vergessen. Seit achtundvierzig Stunden war er mit Cosette nicht zusammengekommen, nun sollte er sie wiedersehen und nun empfand er nichts als eine unsagbar innige Freude. Die Minuten, wo man Jahrhunderte durchlebt, haben stets die herrliche Eigenthümlichkeit, daß sie in der Zeit, wo sie vorübergehen, das Herz vollständig ausfüllen.

Marius drang auf die gewöhnliche Weise in den Garten und eilte vorwärts. Cosette war nicht an der Stelle, wo sie auf ihn zu warten pflegte. Nun zwängte er sich durch das Dickicht nach der Ecke an der Freitreppe. Aber auch hier fand er sie nicht. Er hob die Augen auf und bemerkte, daß alle Fensterläden geschlossen waren. Jetzt durchstreifte er den ganzen Garten eben so vergeblich. Da eilte er nach dem Hause zurück, fassungslos, von Schmerz und Angst gepeinigt, und klopfte, als wäre er der Hausherr, der zu einer ungehörigen Stunde Einlaß in seine Wohnung begehrt, an die Fensterläden. Er klopfte und klopfte wieder, auf die Gefahr hin, daß der Vater selber ein Fenster aufmachen und ihn zur Rede stellen würde. Aber was bedeutete diese Möglichkeit im Vergleich mit dem Schrecklichen, das ihm leider viel wahrscheinlicher däuchte! Als er lange vergebens gepocht, rief er laut: Cosette! Cosette! und immer dringlicher: Cosette! Aber Niemand kam. Alles war vorbei!

Marius starrte verzweiflungsvoll auf das Haus, das ihm dunkel, still, unheimlich und leer wie das Grab schien. Dann betrachtete er die Steinbank, wo er so viele süße Stunden an Cosettens Seite verlebte. Da setzte er sich, das Herz voll weicher Wehmuth und rücksichtsloser Entschlossenheit, auf eine Stufe der Freitreppe, segnete seine Liebe in seinem Innersten und sagte sich, nun sie nicht mehr da sei, bleibe ihm nichts übrig, als in den Tod zu gehen.

Plötzlich vernahm er eine Stimme, die von der Straße zu kommen schien:

»Herr Marius!«

Er richtete sich auf.

»Was giebt’s?«

»Herr Marius, sind Sie’s?«

»Ja.«

»Ihre Freunde erwarten Sie bei der Barrikade der Rue de la Chanvrerie.«

Die Stimme war ihm nicht ganz unbekannt. Sie klang heiser und rauh, wie die seiner Freundin Eponine. Marius lief an das Gitter, schob die lose Stange bei Seite, steckte den Kopf hindurch und sah Jemand, der ihm ein junger Mann zu sein schien, in der Abenddämmerung verschwinden.

Mabeuf

Jean Valjeans Börse brachte Mabeuf keinen Nutzen. Die strengen, moralischen Anschauungen, die sein kindliches Gemüth beherrschten, gestatteten ihm nicht, das Geschenk des Himmels anzunehmen; eine Umprägung der Sterne in Goldstücke kam ihm unwahrscheinlich vor. Er konnte ja nicht wissen, daß der Himmel ihm das Geld durch Gavroche zukommen ließ. Er brachte also die Börse auf das Polizeibüreau als einen Fund, den der ehrliche Finder dem Eigenthümer zur Verfügung stellte. So ging denn die Börse jetzt wirklich verloren. Denn Niemand erhob Ansprüche auf das Geld, und es half dem armen Mabeuf nicht aus seiner Noth.

Statt dessen kam er noch mehr herunter.

Die Experimente mit dem Indigo glückten in Jardin des Plantes eben so wenig, wie in seinem Garten im Dorfe Austerlitz. Das Jahr zuvor war er seiner Wirthschafterin ihre Gage schuldig geblieben; jetzt konnte er, wie dem Leser innerlich sein wird, auch die Miethe nicht mehr aufbringen. Die Kupferplatten, die er versetzt hatte, waren versteigert und von einem Kesselschmied zu Kasserollen verarbeitet worden. Da er in Folge dessen nicht mehr die unvollständigen Exemplare, die er von seiner Flora noch besaß, fertig machen konnte, veräußerte er Text und Tafeln als Defekte an einen Buchhändler gegen ein geringes Entgelt, so daß ihm von dem Werke seines ganzen Lebens nichts übrig blieb. Als diese armselige Geldquelle auch versiegte, that er nichts mehr für seinen Garten und ließ ihn brach liegen. Schon lange vorher hatte er auf die zwei Eier und das Stückchen Rindfleisch verzichtet, das er sich von Zeit zu Zeit gestattete. Er lebte jetzt von Brod und Kartoffeln. Die letzten Möbel waren verkauft, dann kamen diejenigen Betten, Kleidungsstücke und Decken an die Reihe, von denen er mehrere Exemplare besaß, und darauf seine Herbarien und Kupferstiche. Aber er besaß noch seine kostbarsten Bücher, unter denen sich einige besondere Raritäten befanden, namentlich ein in Lyon 1644 gedruckter Diogenes Laertius mit den berühmten Lesarten des Vaticanus Nr. 411 aus dem dreizehnten Jahrhundert und denen der beiden venetianischen Manuskripte Nr. 393 und 394, die Henri Estienne mit so großem Nutzen konsultirt hat, und mit den dorischen Stellen, die sich nur in dem berühmten Manuskript der Bibliothek von Neapel aus dem zwölften Jahrhundert vorfinden. Mabeuf ließ nie sein Zimmer heizen und ging bei Einbruch der Dunkelheit zu Bett, um kein Licht zu brennen. Es war jetzt so, als habe er keine Nachbaren, denn Jedermann ging ihm aus dem Wege, und er merkte es. Das Elend eines Kindes erregt die Theilnahme einer Mutter; die Armuth eines jungen Mannes das Mitleid eines jungen Mädchens; um einen nothleidenden Greis bekümmert sich Niemand. Sein Elend ist das hülfloseste. Trotz alledem hatte Vater Mabeuf noch immer nicht seine kindliche Seelenruhe eingebüßt. Noch leuchteten seine Augen auf, wenn sie auf seinen Diogenes Laertius, ein Unicum seiner Art, fielen. Sein Glasschrank war das einzige Möbel, das er neben dem ganz Unentbehrlichen behalten hatte.

Eines Tages aber sagte seine Wirthschafterin zu ihm:

»Ich habe kein Geld um Lebensmittel einzukaufen.« Mit den Lebensmitteln meinte sie ein Brödchen und ein paar Hände voll Kartoffeln.

»Können Sie nichts auf Borg bekommen?«

»Sie wissen ja, damit ist es nichts.«

Mabeuf machte seinen Bücherschrank auf, betrachtete lange seine Bücher, so schmerzlich wie ein Vater, der seine Kinder decimiren soll, sie nach einander ansehen würde, riß hastig eins heraus, nahm es unter den Arm und ging damit fort. Zwei Stunden später kam er ohne das Buch zurück und legte anderthalb Franken auf den Tisch und sagte:

»Das reicht zu einer Mahlzeit.«

Von diesem Tage an sah Mutter Plutarque auf dem Antlitz des Greises einen schwermüthigen Ausdruck, der es nicht mehr verließ.

Am nächsten und dann wieder am nächsten Tage u. s. w. ging es so weiter. Mabeuf verließ die Wohnung mit einem Buche unter dem Arm und kehrte mit einem Stück Geld zurück. Da die Antiquare sahen, daß er in Noth war, gaben sie ihm zwanzig Sous für Bücher, die ihm zwanzig Franken gekostet hatten, und manchmal waren es dieselben Buchhändler, von denen er seiner Zeit das betreffende Werk gekaut hatte. So kam ein Buch nach dem andern an die Reihe und während der Zeit sagte Mabeuf bisweilen: »Ich bin doch schon achtzig Jahr alt« …, als hoffte er im Geheimen, sein Leben würde eher zu Ende gehen, als seine Bibliothek. Seine Schwermuth nahm unter diesen Umständen zu. Einmal jedoch widerfuhr ihm eine große Freude. Er war mit einem Robert Estienne ausgegangen, den er auf dem Quai Malaquais für fünfunddreißig Sous losschlug, und kehrte mit einem Aldus zurück, den er in der Rue des Grès für vierzig erstanden hatte. »Ich bin ihm fünf Sous schuldig geblieben,« erzählte er seiner Haushälterin mit freudestrahlendem Gesicht und aß an dem Tage nichts.

Er war Mitglied der »Gesellschaft für die Beförderung des Gartenbaus« und es war seinen Kollegen bekannt, in welcher Noth er steckte. Der Vorsitzende besuchte ihn auch, erbot sich, ihn dem Minister des Ackerbaus und des Handels zu empfehlen und that es auch. »Nun natürlich, selbstverständlich!« rief der Minister. »Ein alter Gelehrter! Ein Botaniker! Ein stiller, bescheidener Mann! Für den muß man etwas thun!« Am nächsten Tage erhielt Mabeuf auch eine Einladung zum Diner vom Minister. »Wir sind gerettet!« rief er, indem er zitternd vor Freude den Brief seiner Haushälterin zeigte. An dem festgesetzten Tage begab er sich zum Minister. Er bemerkte, daß seine zerknitterte Kravatte, sein langer Gehrock und seine altmodischen Schuhe das Erstaunen der Lakaien erregten. Niemand sprach ein Wort mit ihm, selbst der Minister nicht. Gegen zehn Uhr Abends, während er noch immer wartete, daß Jemand ihn anreden würde, hörte er, wie die Frau des Ministers, eine schöne dekolletirte Dame, der er sich nicht zu nähern gewagt hatte, über ihn sprach: »Wer ist denn der alte Herr?« Er kehrte um Mitternacht bei strömendem Regen zu Fuß nach Hause zurück. Die Droschke, die er zur Hinfahrt gebrauchte, hatte ihm einen Elzevir gekostet.

Alle Abende, ehe er sich zum Schlafen niederlegte, las er jetzt einige Seiten in seinem Diogenes Laertius. Er war im Griechischen gut genug bewandert, um gewisse Besonderheiten seines Textes verstehen und würdigen zu können. Es war dies seine einzige Freude, die ihn über das Elend mehrerer Wochen hinwegtäuschte. Da erkrankte Mutter Plutarque. Es giebt noch etwas Schlimmeres, als wenn man kein Geld zu Brod hat, nämlich, wenn die Mittel fehlen Arzneien zu bezahlen. Eines Abends verordnete der Arzt eine sehr theure Medizin und da die Krankheit zunahm, bedurfte es auch einer Wärterin. In dem Bücherschrank war nichts mehr, ausgenommen der Diogenes Laertius.

Er steckte das wertvolle Buch unter den Arm, ging — es war am 4. Juni 1832 nach der Porte Saint-Jacques zu Royol’s Nachfolger und kam mit hundert Franken wieder. Er legte die Geldrolle auf den Nachttisch der alten Wirtschafterin nieder und begab sich, ohne ein Wort zu sprechen, in sein Zimmer.

Am nächsten Tage saß er schon als der Morgen graute auf dem umgeworfenen Prellstein in seinem Garten, und so blieb er, unbeweglich, gesenkten Hauptes, die Augen auf seine verwilderten Beete gerichtet, den ganzen Vormittag über sitzen. Es regnete von Zeit zu Zeit, aber der Greis schien das nicht zu merken. Am Nachmittag vernahm man ungewöhnliches Geräusch in Paris. Es hörte sich an wie Gewehrfeuer und wildes Geschrei. Der alte Mabeuf hob den Kopf empor und fragte einen vorübergehenden Gärtner:

»Was ist das?«

Den Spaten auf dem Rücken und mit der denkbar größten Gemüthsruhe antwortete der Mann:

»Eine Revolte.«

»Was? Eine Revolte?«

»Ja ja! Sie hauen sich.«

»Warum denn?«

»Ja, weiß man’s?«

»Wo?«

»Nicht weit vom Arsenal.«

Vater Mabeuf ging ins Haus zurück, nahm den Hut, suchte mechanisch nach einem Buch, um es unter den Arm zu stecken, fand aber natürlich keins und sagte: »Ach richtig!« Dann ging er mit irren Blicken davon:

Am 5. Juni 1832

Oberflächliche Prüfung der Frage

Welches sind die Vorbedingungen eines Volksaufruhrs? Allerlei und nichts. Eine allmählich frei gewordene Elektricität, ein plötzlich entladener Funke, eine zufällig aufgetretene Kraft, ein vorüberbrausender Sturm. Der Sturm begegnet feurigen Rednern, schwärmerischen Träumern, heißen Leidenschaften, zur Wuth gereiztem Elend und rafft dies Alles mit sich fort.

Wohin?

Wohin der Zufall will. Durch den Staat, die Gesetze, das Wohlleben und den Uebermuth der Glücklichen hindurch.

Gekränkte Ueberzeugungen, verbitterter Enthusiasmus, Entrüstung, zurückgedrängte Kriegslust, exaltirter jugendlicher Muth, hochherzige Verblendung; Neugierde, Veränderungssucht, Verlangen nach Ungewöhnlichem, die Empfindung, vermöge deren man gern die Ankündigung eines neuen Schauspiels liest und den Pfiff des Maschinisten im Theater hört; Haß, der ein Opfer sucht, Groll, Enttäuschungen; jegliche Eitelkeit, die das Schicksal für ungerecht hält; utopistische Grübeleien; Ehrgeiz, der mit unüberwindlichen Hindernissen zu kämpfen hat; Verzweiflung, die den Umsturz des Bestehenden zu ihrer Rettung zu benutzen hofft, endlich ganz unten die niedrigsten Volksschichten, die wie der in der Tiefe der Erde lagernde Torf einen leicht entzündbaren Brennstoff abgeben: Dies sind die Bestandtheile eines Volksaufruhrs.

Das Größte und Niedrigste; die da außerhalb der Gesellschaft umherirren und auf eine Gelegenheit lauern, Bummler, Obdachlose, Strolche; die des Nachts mitten in einem Häusermeer mit keinem andern Dach über ihrem Haupte, als den kalten Wolken des Himmels schlafen, die ihr tägliches Brod vom Zufall, nicht von ihrer Arbeit, erwarten, die Unbekannten des Elends und des Nichts, die mit bloßen Armen und mit bloßen Füßen gehen; alle diese nehmen naturgemäß Theil an jeder Revolution.

Wessen Seele Unwillen hegt gegen irgend eine staatliche oder gesellschaftliche Einrichtung, gegen irgend eine Fügung des Schicksals, der ist reif für eine Revolution, der erbebt vor Ungeduld, wenn er sie heranbrausen hört, der wird fortgerissen, wenn ihr Hauch sie berührt.

Der Wasserhose vergleichbar, entsteht ein Aufruhr in der sozialen Atmosphäre unter bestimmten Temperaturbedingungen, steigt hoch empor, zerstört, entwurzelt, wirft um und reißt alles mit sich fort, Großes und Gemeines, Starkes und Schwaches.

Wehe denen, die er mit sich entführt und die er anbläst! Er zerschmettert die Einen an den Andern.

Er theilt denen, die er ergreift, eine außergewöhnliche Kraft mit. Er erfüllt den ersten Besten mit der Macht der Ereignisse, verwandelt Alles in eine Waffe. Er macht aus einem Stein eine Kanonenkugel und aus einem Lastträger einen General. Wollte man gewissen Orakeln der heimtückischen Staatskunst Glauben schenken, so wäre ein Bischen Aufruhr von Zeit zu Zeit für die jeweiligen Machthaber etwas Wünschenswertes. Die Theorie der Herren lautet: »Eine Revolte befestigt eine Regierung, wenn sie nicht stark genug ist, zu stürzen; erprobt die Armee; einigt die höhern und besitzenden Stände; spannt die Muskeln der Polizei und ist ein Kraftmesser der gesellschaftlichen Organisation. Nach einem Aufruhr ist der Regierung wohler, ebenso wie einem kranken Körper nach einer Massage.«

Volksaufstände wurden ehedem auch noch unter andern Gesichtspunkten betrachtet.

Es existirt für jedes eine Theorie, die sich für den »gesunden Menschenverstand die gesunde Vernunft« ausgiebt. Sie besteht in einer Vermittlung zwischen dem Wahren und dem Falschen, einer herablassenden Erklärung, Vermahnung, Entschuldigung, die sich, weil sie aus Tadel und Nachsicht gemischt ist, für die Weisheit hält und nur Pedanterie ist. Hierauf fußt eine ganze Schule von Staatsmännern, die das Regierungssystem der sogenannten richtigen Mitte vertreten. Sie bilden zwischen dem kalten und dem heißen Wasser die Partei des lauen Wassers. Diese Partei mit ihrer falschen Gründlichkeit, die, ohne auf die Ursachen zurückzugehen, nur die Wirkungen secirt, kanzelt von der Höhe ihrer Halbwissenschaft die Volksaufstände ab.

Wollte man diesen Politikern glauben, so »trübte« der Aufruhr, der sich mit Fortschrittsbestrebungen des Jahres 1830 verband, die Reinheit ihrer Resultate. Die Julirevolution war ein Vorstoß der Volkskraft, der die Atmosphäre rasch reinigte. Die Volksaufstände bedeckten den politischen Himmel wieder mit düsterem Gewölk. Sie riefen Zwietracht da hervor, wo soeben noch die vollständigste Einmüthigkeit geherrscht hatte. Bei der Julirevolution gab es, wie bei jedem ruckweisen Fortschritt, geheime Brüche, die bei den nachfolgenden Aufständen sichtbar wurden. Man konnte nun sagen: »Aha! Da ist etwas entzwei gegangen!« — Nach der Julirevolution fühlte man sich befreit, nach den Volksaufständen von einer Katastrophe bedroht.

Jeder Aufstand bewirkt, daß die Läden geschlossen, die Staatspapiere entwertet, die Börse in Schrecken versetzt, Handel und Wandel zum Stillstand gebracht, die Fallissements beschleunigt werden. Der Geldverkehr stockt, das Privatkapital hält sich scheu zurück, die Arbeitslöhne sinken; überall herrscht die Furcht und verursacht Verluste. Man hat berechnet, daß ein Volksaufruhr dem Lande am ersten Tage zwanzig, am zweiten vierzig, am dritten sechzig Millionen Franken kostet. Ein dreitägiger Aufstand kommt, wenn man nur das finanzielle Ergebniß ins Auge faßt, der Vernichtung einer Flotte von sechzig Linienschiffen gleich.

Allerdings hatten, unter dem historischen Gesichtspunkt betrachtet, die Volksaufstände ihre eigenartige Schönheit; der Krieg in den Straßen einer Stadt ist nicht minder großartig und erhebend als die Guerillakämpfe in Wald und Busch. Die Volksaufstände beleuchteten mit rothem, aber herrlichem Licht alle Eigenarten des Pariser Charakters, seine Hochsinnigkeit, seine Opferwilligkeit, seinen Witz Angesichts der Gefahr, die Tapferkeit, die sich bei den Studenten als vereinbar mit der Intelligenz erwies, die Unerschütterlichkeit der Nationalgarde, Lager von Krämern, Festungen von halbwüchsigen Jungen vertheidigt, Todesverachtung bei Spaziergängern. Die studentischen Fakultäten und die Legionen maßen ihre Kraft an einander. Im Großen und Ganzen bestand zwischen den Kämpfern kein andrer Unterschied, als der des Alters; dieselbe Rasse, dieselben stoischen Männer, die in der Jugend für ihre Ideen, in reiferen Jahren für ihre Familien kämpfen. Die Armee, die den Bürgerkrieg nie liebt, stellte die Besonnenheit der Kühnheit entgegen. Die Aufstände erzogen, indem sie die Unerschrockenheit des Volkes in helles Licht stellten, auch das Bürgerthum zu kriegerischem Muthe.

»Diese Behauptungen kann man gelten lassen. Allein ist das Alles das vergossene Blut wert? Rechnet dazu die Verdüsterung der Zukunft, die Hemmung des Fortschritts, die Bestürzung der Besten, die Verzweiflung der ehrlichen Liberalen, die Schadenfreude des auswärtigen Absolutismus über die Wunden, die die Revolution sich selber geschlagen, der Triumph der Besiegten, daß sie die Greuel richtig vorausgeahnt hat. Rechnet hinzu, daß Paris vielleicht gewonnen, aber Frankreich sicherlich verloren hat. Dazu — denn es muß alles erwähnt werden, die Ausartungen Derer, die für die Ordnung und Derer, die für die Freiheit kämpften, die Gemetzel, durch die beide Theile sich entehrten, und ihr werdet finden, daß die Volksaufstände dem Lande verderblich gewesen sind.«

So argumentirt jene ungefähre Weisheit, mit der sich das Bürgerthum, jenes ungefähre Volk, so gern begnügt.

Was uns betrifft, so verwerfen wir das Wort Aufruhr, weil es einen zu weiten Begriff ausdrückte, und folglich zu bequem ist. Zwischen den verschiedenen Volkserhebungen machen wir einen Unterschied. Wir fragen uns nicht, ob ein Volksaufstand eben so viel kostet, wie eine Schlacht. Warum überhaupt eine Schlacht? Hier drängt sich das Problem des Krieges vor. Ist der Krieg weniger eine Geißel als der Aufruhr eine öffentliche Katastrophe ist? Und sind wirklich alle Aufstände verderbliche Katastrophen? Und gesetzt auch, die Erstürmung der Bastille hätte hundert zwanzig Millionen gekostet? Die Zurückführung Philipps V. auf den spanischen Thron hat Frankreich zwei Milliarden gekostet. Selbst bei Gleichheit der Unkosten würden wir den Volksaufstand, bei dem die Bastille erstürmt wurde, vorziehen. Uebrigens wollen wir aber von dergleichen Ziffern nichts wissen; sie sehen wie Argumente aus und sind doch nur Worte. Ein gegebener Volksaufstand darf nur für sich selbst betrachtet werden. Die oben angeführten Einwände der Doktrinäre berühren nur die Wirkungen und wir wollen die Ursachen kennen lernen.

Wir wollen den Dingen auf den Grund gehen.

Die gründliche Prüfung der Frage

Wir unterscheiden zwischen dem Aufruhr und dem Aufstand; es sind zwei Zornausbrüche, von denen der eine im Unrecht, der andre im Recht ist. In den demokratisch regierten Staaten, den einzigen, die auf der Gerechtigkeit fußen, geschieht es bisweilen, daß eine Minderheit sich Uebergriffe erlaubt; dann erhebt sich die Gesamtheit und es kann behufs der Wiederherstellung des Rechtszustandes nöthig werden, daß sie zu den Waffen greift. In allen Fragen, die der Kollektivherrschaft unterstehen, ist der Krieg des Ganzen gegen die Minderheit, ein Aufstand; der Angriff der Minderheit gegen das Ganze ein Aufruhr. Je nachdem in dem Tuilerienpalast der König wohnt oder der Konvent tagt, ist ein Sturm auf denselben berechtigt oder nicht. Dieselbe Kanone hatte dem Volke gegenüber Unrecht, als sie Ludwig XVI. am 10. August gegen das Volk und Recht, als sie Napoleon am 14. Vendemiaire gegen die Sektionen der Nationalgarde gebrauchte. Dem Anschein nach handelte es sich dabei um dasselbe, im Grunde aber um durchaus Verschiedenes. Die Schweizer vertheidigten das Unrecht, Buonaparte die Wahrheit. Was das allgemeine Stimmrecht im Besitze seiner Freiheit und Oberherrschaft beschlossen hat, darf ein Straßentumult nicht aufheben. Ebenso hinsichtlich solcher Fragen, die auf die bloße Civilisation Bezug haben. Der Instinkt der Massen, der gestern sehr klarsehend war, kann heute irre geleitet sein. Derselbe Wuthausbruch ist Terray gegenüber berechtigt und gegen Turyot unsinnig. Zerstörungen von Maschinen, Plünderungen von Waarenniederlagen, Demolirungen von Docks, Ungerechtigkeiten des Volkes gegen den Fortschritt, Ramus Ermordung durch die Studenten, Rousseau’s Vertreibung aus der Schweiz sind Werke des Aufruhrs. Israels Widerspenstigkeit gegen Moses, Athens Frevel an Phocion, Roms Auflehnung gegen Scipio waren Akte des Aufruhrs; die Erstürmung der Bastille durch die Pariser ein Aufstand. Die Empörung der macedonischen Soldaten gegen Alexander den Großen, der Matrosen gegen Christoph Columbus waren ebenfalls Revolten; frevelhafte Revolten, Warum? Weil Alexander in Asien dasselbe leistete, was Columbus mit dem Kompas in Bezug auf Amerika: Er entdeckte einen Erdtheil. Diese Beschenkungen der Civilisation mit neuen Welten waren so große Wohlthaten, daß jeder Widerstand dagegen ein Verbrechen ist. Bisweilen wird das Volk an sich selbst untreu; ein Volkshaufe übt wohl Verrath am Volk. Giebt es z. B. etwas Sonderbareres als den langen und blutigen Protest der Salzschmuggler, eine berechtigte chronische Revolte, die im entscheidenden Augenblick, am Tage der Erlösung, in dem Augenblick, wo das Volk siegte, sich für den Thron erklärt und sich aus einem gerechten Aufstande gegen zu hohe Besteuerung, in einen Aufruhr zu Gunsten der Unterdrücker verwandelt? Welch ein grausiges Meisterstück der Unwissenheit! Der Salzschmuggler entrinnt dem königlichen Galgen und schmückt sich, während der Strick ihm noch am Halse hängt, mit der weißen Kokarde. Statt »Nieder mit der Salzsteuer!« schreit er: »Es lebe der König!« — Die Helden der Bartholomäusnacht die Septembermörder, diejenigen, die Coligny, die Madame de Lambelle, die den Marschall Brune in Avignon umbrachten, die Parteien, die gegen die französische Revolution waren, die Gesellschaft Jesu, die nach der Schreckensherrschaft eine Vehme gegen die Republikaner ausübte, wären sämmtlich Aufrührer. Die Empörung der Vendéer gegen die republikanische Regierung war ein großer katholischer Aufruhr. Wenn die Massen sich in Bewegung setzen, marschirt das Recht nicht immer mit ihnen; es giebt auch eine verrückte Wuth, wie es schadhafte Glocken giebt; nicht jede Sturmglocke klingt richtig. Der Ansturm der Leidenschaften und Unwissenheit ist etwas Andres, als der Gang des Fortschritts. Erheben dürft ihr Euch, aber nur um größer zu werden. Zeigt mir, wohin euer Weg geht, Einen richtigen Aufstand erkennt man daran, das er vorwärts strebt. Jede andre Erhebung taugt nichts. Jeder gewaltsame Schritt rückwärts ist ein Aufruhr; zurückgehen heißt sich an dem Menschengeschlecht versündigen. Ein Aufstand ist ein Zornausbruch der Wahrheit; den Pflastersteinen, die ein Volksaufstand zu einer Barrikade zusammenhäuft, entspringt der Funke des Rechts; dem Aufruhr überlassen dieselben Steine nur ihren Koth. Danton, im Kampfe gegen Ludwig XVI. war der Führer eines Aufstandes; Hébert gegen Danton ein Aufrührer.

Daher kommt es, daß, während der Aufstand, wie Lafayette gesagt hat, in einem gegebenen Fall, die heiligste Pflicht, ein Aufruhr dagegen ein verhängnisvoller Frevel sein kann.

Ein andrer Unterschied betrifft den Hitzegrad: Der Aufstand gleicht oft einem Vulkan, während ein Aufruhr meist nur ein Strohfeuer ist.

Wie wir schon sagten, geht eine Revolte bisweilen von den zeitweiligen Machthabern aus. Der Minister Polignac, der 1830 die Preßfreiheit aufhob, verfuhr als Aufrührer; Camille Desmoulins gehörte zur Regierung.

Zuweilen ist ein Aufstand ein Wiederaufstehen.

Da die Lösung aller Rechtsfragen durch das allgemeine Stimmrecht eine durchaus moderne Thatsache und die ganze Weltgeschichte vor dieser Thatsache seit eintausend Jahren eine fortwährende Rechtsverletzung und Peinigung der Völker ist, so bringt jede geschichtliche Periode den Protest mit sich, der für sie der einzig richtige war. Unter den römischen Kaisern waren Aufstände nicht möglich; dafür gab es aber einen Juvenal.

Statt der Graechen ein facit indignatio.

Unter den Cäsaren wurden dem Fürsten mißliebige Leute bis nach Syene verbannt; dafür erstand aber auch gegen die Tyrannei ein Mann, der die Annales geschrieben hat.

Wir sprechen weiter nicht von dem Gewaltigen, der auf der Insel Patmos in der Verbannung weilte. Auch er schleudert im Namen des Ideals der wirklichen Welt einen Protest entgegen, macht aus Visionen großartige Satiren und beleuchtet Rom, das Niniweh, Babylon und Sodom seiner Zeit, mit dem grellen Licht seiner Offenbarung.

Der Evangelist Johannes auf seinem Felsen ist wie die Sphinx auf ihrem Postament räthselhaft, schwer zu verstehen; aber der Verfasser der Annalen schrieb lateinisch; besser gesagt, römisch.

Da die Tyrannen starke Farben aufzutragen lieben, so müssen sie auch mit starken Farben gemalt werden. Wollte der Kupferstecher mit der Radiernadel allein arbeiten, so würde der Stich zu matt ausfallen; er muß starke Stoffe in die Vertiefungen gießen, So bedarf es auch im Kampfe gegen die Tyrannen einer gedrängten Schreibweise.

Die Despoten sind zum Theil schuld dann, daß es Denker giebt. Unterdrückte Rede, gefährliche Rede. Der Schriftsteller verdoppelt und verdreifacht die Energie seines Stils, wenn von einem Gebieter dem Volke Stillschweigen auferlegt wird. Es entsteht aus diesem Schweigen ein gewisser, von Räthseln strotzender Reichthum an Gedanken, die beständig umgeschmolzen, endlich zu unvergänglich festen Gebilden erstarren. Der Druck der geschichtlich gegebenem Thatsachen hat zur Folge, daß der Geschichtsschreiber seine Sprache zusammenpreßt. Die granitne Festigkeit der taciteischen Prosa ist weiter nichts, als das Resultat einer von Tyrannen ausgeübten Stampfung.

Die Tyrannei zwingt den Schriftsteller zu Verkürzungen, die mehr Kraft konzentriren. Die Pfeile der ciceronianischen Periode, die schon einem Verres gegenüber nicht mehr wirksam genug gewesen, wären von einem Caligula abgeprallt. Tacitus machte weniger Worte und schlug dafür tüchtiger zu.

Die Rechtschaffenheit eines hochsinnigen Mannes, der all sein Denken auf die Gerechtigkeit und Wahrheit konzentrirt, schmiedet gefährliche Waffen.

Es verdient, beiläufig gesagt, beachtet zu werden, daß Tacitus historisch nicht Cäsar übergelagert ist: Ihm war die Brandmarkung des tyrannischen Tiberius vorbehalten, Cäsar und Tacitus sind zwei aufeinander folgende Erscheinungen; ihr Zusammentreffen scheint der unerforschliche Rathschluß Dessen, der da anordnet, wann die Schauspieler der Weltbühne auftreten und abgeben sollen, vermieden zu haben. Cäsar war ein großer Mann, Tacitus desgleichen; Gott verschonte deshalb Beide, und ließ sie nicht aufeinander stoßen. Der große Geschichtsschreiber hätte als Vertheidiger der Gerechtigkeit zu heftig auf Cäsar losgeschlagen, über das rechte Maß hinausgehen können. Dies wollte Gott nicht. Die großen Kriege, die er in Afrika und Spanien führte, die Ausrottung der cilicischen Piraten, die Einführung der Civilisation in Gallien, Britannien, Germanien sind Ruhmesthaten, die für den Uebergang über den Rubicon entschädigen. Es hat hier eine zarte Rücksichtnahme der göttlichen Gerechtigkeit stattgefunden, indem sie Bedenken trug, den furchtbaren Geschichtsschreiber gegen den ruhmreichen Usurpator loszulassen, den großen Tacitus dem großen Cäsar erließ und dem Genie mildernde Umstände zubilligte.

Allerdings, Despotismus bleibt Despotismus, selbst wenn der Träger desselben ein Genie ist. Moralische Verderbniß herrscht auch, wenn der Tyrann ein großer Mann ist; aber sie nimmt eine noch viel widerwärtigere Gestalt an unter dem Szepter eines Gemeinen. Ein solcher Mensch vollbringt keine Thaten, deren Ruhm dem Volke Ersatz gewährt für die ihm angethane Schmach und die großen Strafrichter Tacitus und Juvenal stiften mehr Nutzen, wenn sie Tyrannen züchtigen, die nichts zu ihrer Entschuldigung vorzubringen im Stande sind.

In Rom sah es unter Vitellius schlimmer aus, als unter Sulla. Unter Claudius und Domitian erreichte die Niedrigkeit der Gesinnung einen Grad, der mit der Schändlichkeit des Herrschers im Einklang stand. Die Gemeinheit der Sklaven ist ein direktes Produkt der Despoten; in ihrem fauligen Gewissen spiegelt sich das Bild des Herrn ab; die Behörden sind erbärmlich feige, kleinlich, engherzig. So war es unter Caracalla, wie auch unter Commodus und Heliogabal, während uns aus dem von Cäsar eingesetzten Senat nur ein Mistgeruch entgegenweht, der an Adlerhorste erinnert.

Daher das scheinbar zu späte Auftreten des Tacitus und des Juvenal; erst wenn die Beweise zur Hand sind, können sie geordnet werden.

Aber Juvenal und Tacitus, wie Jesajas in den biblischen Zeiten, wie Dante im Mittelalter waren nur Individuen. Aufruhr und Aufstand aber gehen von Gesamtheiten aus, die bald Unrecht, bald Recht haben.

In bei weitem, den meisten Fällen entspringt der Aufruhr einer materiellen Thatsache; der Aufstand dagegen ist stets ein moralisches Phänomen. In dieser Hinsicht ist Masaniello ein Beispiel für die erste, Spartacus für die zweite Erscheinung. Dem Aufstand ist ein geistiges Element beigemischt, der Aufruhr entstammt einem Bedürfniß des Körpers, dem Hunger. Der Magen wird ärgerlich, aber freilich, er hat nicht immer Unrecht, der arme Magen. Trotzdem aber ein Aufruhr an unser Mitleid und Gerechtigkeitsgefühl appelliren darf, bleibt er doch immer nur ein Aufruhr. Warum? Weil er zwar seinem Wesen nach berechtigt ist, aber gegen die Form verstößt. Wüthend, obgleich er im Recht ist; gewaltthätig, obgleich stark, schlägt er aufs Gerathewohl zu; geht wie ein blinder Elefant vor sich hin und zermalmt alles, was er auf dem Wege findet; läßt Leichen von Greisen, Frauen und Kindern hinter sich; vergießt, ohne zu wissen, warum, das Blut harmloser, unschuldiger Menschen. Dem Volke Brod verschaffen wollen ist ein verdienstvoller Zweck, aber es ist ein schlechtes Mittel ihn zu erreichen, wenn man das Volk umbringt.

Alle bewaffneten Proteste, auch die gerechtesten, sogar der Angriff auf die Tuilerien am 10. August 1792, die Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 beginnen mit derselben Art Unruhen. Ehe die Rechtsfrage formulirt wird, giebt es Tumulte. Im Anfang ist der Aufstand ein Aufruhr, so wie der Strom in seinem obern Laufe ein Bach ist. Gewöhnlich mündet er in den Ozean der Revolution. Zuweilen jedoch, nachdem er herabgeflossen ist von den hohen Bergen, die den moralischen Horizont überragen, der Gerechtigkeit, Weisheit, Vernunft und sein Wasser aus dem reinsten Schnee des Ideals erhalten hat, nachdem er auf einem weiten Wege von Fels zu Fels geeilt, nachdem er des Himmels Bläue in seinen klaren Wellen wiedergespiegelt und triumphirend hunderte von Nebenflüssen aufgenommen, verliert sich ein Aufstand plötzlich in einem bürgerlichen Sumpfe, wie der Rhein im Sande.

Alles dies bezieht sich aber nur auf die Vergangenheit; die Zukunft hat eine andre Gestalt. Das allgemeine Stimmrecht hat die bewundrungswürdige Kraft, daß es den Aufruhr im Keim erstickt und dem Aufstand die Waffen nimmt. Die Beseitigung des Krieges, aller Kriege, der innern sowohl wie der äußern, ist jetzt ein Fortschritt, der nicht ausbleiben kann. Wie das Heute auch beschaffen sein mag, das Morgen gehört dem Frieden.

Aber ob Aufstand oder Aufruhr, und worin sie sich von einander unterscheiden, — es sind Begriffsstörungen, von denen das sogenannte Bürgerthum nichts versteht. Für den Bürger, den Besitzenden ist alles Auflehnung, einfache, bloße Empörung, Widersetzlichkeit des Hundes gegen seinen Herrn, böswillige Bissigkeit, die mit Ankettung und Einsperrung bestraft werden muß. Bis der Hund eines Tages sich zu einem gewaltigen Löwen vergrößert!

Dann schreit der Bürger: »Es lebe das Volk!«

Nach dieser Erörterung fragt es sich: Welches ist die geschichtliche Bedeutung der republikanischen Erhebung im Junimonat des Jahres 1832? Handelte es sich um einen Aufruhr oder einen Aufstand?

Es war ein Aufstand.

Bei der Aufrollung dieses gewaltigen Ereignisses vor den Augen des Lesers könnte es uns passiren, daß wir uns des Wortes Aufruhr bedienten. Es wird dies aber immer nur geschehen, um die Oberfläche der Dinge zu charakterisiren und unter strenger Unterscheidung zwischen der Form, die sich als Aufruhr, und dem Wesen, das sich als Aufstand äußerte.

Die republikanische Erhebung des Jahres 1832 ist bei ihrem raschen Ausbruch und ihrer schaurigen Unterdrückung mit solcher Großartigkeit aufgetreten, daß auch Diejenigen, die in ihr nur einen Aufruhr sehen, nicht ohne Achtung von ihr sprechen. Für diese ist sie gleichsam ein Nachspiel der Julirevolution des Jahres 1830. Aufgeregte Gemüther beruhigen sich nicht sofort. Eine Revolution läßt sich nicht plötzlich abschließen. Wie das vom Sturm aufgewühlte Meer, ehe es zur Ruhe kommt, noch starke Wellen schlägt, so bedarf auch der Bürgerkrieg eines Uebergangs, ehe er gewöhnlichen Zeiten Raum geben kann.

Diese tragische Krisis unsrer Geschichte, die im Gedächtniß der Pariser als »die Aufruhrzeit« bezeichnet wird, bildet sicherlich einen wichtigen Abschnitt in unserm stürmisch bewegten Jahrhundert.

Noch ein Wort, ehe wir unsre Erzählung beginnen.

Die Thatsachen, die wir berichten werden, gehören jener dramatischen und lebendigen Wirklichkeit an, die aus Mangel an Zeit und Raum von der Geschichte vernachlässigt werden. Gerade solche Begebenheiten enthalten aber, wie wir nachdrücklichst betonen müssen, das frisch pulsirende Leben. Die Einzelheiten sind, wie wir wohl schon gesagt haben, so zu sagen, das Laub der Hauptereignisse und verschwimmen vor dem Blick, je mehr sich die Geschichte von ihnen entfernt, Die sogenannte ‘Aufruhrzeit’ ist reich an derartigen Einzelheiten. Die gerichtlichen Ermittelungen haben, aus andern Gründen als die Geschichte, nicht alles aufgehellt und vielleicht auch nicht alles ergründet. Wir werden also neben den bekannten und veröffentlichten Geschehnissen Dinge ans Licht ziehn, die das Publikum nicht in Erfahrung gebracht hat, Thatsachen über die Vergessenheit oder Tod hinweggegangen sind. Die meisten von Denen, die das gewaltige Drama in Scene setzten, sind verschwunden; schon am nächsten Tage schwiegen sie; aber was wir erzählen werden, davon können wir sagen: Wir haben es gesehen. Wir werden einige Namen ändern, denn die Geschichte erzählt und denuncirt nicht: aber wir werden wahre Begebenheiten schildern. In Anbetracht der Natur dieses Buches dürfen wir nur eine Seite der Dinge, nur eine Episode, und noch dazu die sicherlich am wenigsten bekannte der Junischlachten des Jahres 1832 hervorheben; aber wir werden es so einrichten, daß der Leser unter dem Schleier, den mir lüften, die wirkliche Gestalt jenes furchtbaren, politischen Zwischenfalls erkennen kann.

Ein Begräbniß

Im Frühling des Jahres 1832 war Paris, obschon seit drei Monaten die Cholera die allgemeine Thatkraft gelähmt und eine dumpfe Kirchhofsruhe in den Gemüthern herbeigeführt hatte, schon lange für eine Erhebung reif. Wie wir schon einmal gesagt haben, gleicht die große Stadt einer Kanone; es genügt ein Funken, wenn sie geladen ist, so geht der Schuß los. Im Juni 1852 gab der Tod des Generals Lamarque den Funken ab.

Lamarque war ein allgemein bekannter und thatkräftiger Mann. Er hatte nacheinander, unter dem Kaiserreich und unter der Restauration, die beiden Arten von Tapferkeit bewiesen, deren die Tüchtigkeit in jenen Zeitperioden bedurfte: Er war auf dem Schlachtfeld und auf der Rednerbühne muthig gewesen. Er besaß eine große Beredtsamkeit, die ihn unwiderstehlich machte. Wie sein Vorgänger Foy verteidigte er, nachdem er das Kommando energisch geführt, nicht minder energisch die Freiheit. Er hatte in der Kammer seinen Sitz zwischen der gemäßigten und der äußersten Linken, war beim Volke beliebt, weil er der Reaktion kühn die Stirn bot und sich für die Zukunft großen Gefahren aussetzte, und bei der Menge angesehen, weil er dem Kaiser gut gedient hatte. Neben den Grafen Gérard und Drouet war er einer der Lieblingsmarschälle Napoleons gewesen und empfand den Wienervertrag von 1815 als eine persönliche Beleidigung. Wellington haßte er gleichfalls direkt, was der Menge gefiel, und betrauerte bis zu seinem Tode, ohne sonderlich die andern Ereignisse dieser siebzehn Jahre zu beachten, den Ausgang der Schlacht bei Waterloo. Noch auf dem Sterbebette drückte er einen Degen, den ihm die Offiziere der Hundert Tage verehrt hatten, an seine Brust. War Napoleon mit dem Wort »Armee« auf der Lippe gestorben, so war Lamarques letztes Wort: »das Vaterland!«

Sein Tod, auf den man vorbereitet war, wurde vom Volke als ein Verlust und von der Regierung als eine Veranlassung zu einer Revolte gefürchtet. Man betrauerte ihn also allgemein und was man vorausgesehen hatte, traf auch ein. Am 4. und am Morgen des 5. Juni, wo Lamarques Begräbniß stattfinden sollte, nahm die Vorstadt Saint-Antoine, an der der Zug vorbei mußte, ein bedenkliches Aussehen an. In diesem stark bevölkerten Straßennetz herrschte große Unruhe. Jeder bewaffnete sich, wie er konnte — Tischler nahmen ihre Bankhalter mit »um Thüren einzurennen.« — Einer machte sich einen Dolch aus einem Haken zurecht, indem er das krumme Stück abbrach und das übrige Ende zuspitzte. — Ein Anderer war so fieberhaft ungeduldig auf »den Angriff«, daß er seit drei Tagen in den Kleidern schlief. Ein Zimmermann, Namens Lombier, begegnete einem Freunde, der ihn fragte, wohin er ginge. »Na, ich habe keine Waffen.« »Was willst Du denn aber? Nach der Werft gehen und meinen Zirkel holen.« »Wozu denn das?« »Ja, das weiß ich nicht.« — Ein gewisser Jacqueline, ein rühriger Mann, hielt alle beliebigen Arbeiter an, die vorbeikamen, gab ihnen Geld, Wein und fragte: »Hast Du Arbeit?« »Nein.« Dann geh zu Filspierre zwischen den Barrieren Montreuil und Charonne; der wird Dir welche nachweisen. Bei Filspierre fand der Betreffende dann Patronen und Gewehre. — Manche bekannten Häupter der republikanischen Partei liefen zu diesem und Jenem, um ihre Leute auf die Beine zu bringen. — Bei Barthélemy und Cavel unterhielten sich die Trinker mit gewichtigem Ernst »Wo hast Du Dein Pistol?« fragte da wohl Einer den Andern. »Unterm Kittel.« »Und Du?« »Unterm Hemde.« — In der Rue Traverière, vor dem Atelier Roland und in der Cour de la Maison-Brûlée vor der Werkstatt des Werkzeugsverfertigers Bernier standen Leute und unterhielten sich leise. In einer Gruppe fiel hier, als einer der Eifrigsten, ein gewisser Mavot auf, der nie länger als eine Woche bei einem Meister blieb und immer entlassen wurde, »weil man sich jeden Tag mit ihm herumzanken mußte.« Er wurde am nächsten Tage auf der Barrikade der Rue Ménilmontant getötet. Pretot, der gleichfalls bei diesem Aufstand ums Leben kam, unterstützte Mavot und antwortete auf die Frage, was er bezwecke: Den Aufstand. — Andere Arbeiter, die sich an der Ecke der Rue de Bercy versammelt hatten, warteten auf einen gewissen Lemarin, den Revolutionsagenten für die Vorstadt Saint-Marceau. — Losungen wurden beinahe öffentlich ausgegeben.

Am 5. Juni also, einem Tage, wo es bald regnete, bald Sonnenschein gab, bewegte sich der Trauerzug des Generals Lamarque durch Paris, mit allem üblichen, offiziellen Pomp aber mit größerem, militärischen Gefolge, denn gewöhnlich. Zwei Bataillone mit verhüllten Trommeln und gesenkten Gewehren, zehntausend Nationalgardisten mit dem Säbel an der Seite und die Batterien der Nationalgarde begleiteten den Sarg. Der Leichenwagen wurde von jungen Leuten gezogen. Unmittelbar hinter ihm gingen die Offiziere aus dem Invalidendom mit Lorbeerzweigen in den Händen. Dann kam eine zahllose, aufgeregte, merkwürdig bunte Menge: Die Sektionäre der »Freunde des Volkes,« die Studenten der juristischen und der medizinischen Fakultät, politische Flüchtlinge aus aller Herren Länder mit ihren Nationalfahnen, Kinder, die grüne Zweige schwenkten, Steinmetzen und Zimmerleute, die damals gerade streikten, Buchdrucker mit ihren Papiermützen; sie marschirten zu Zweien oder zu Dreien, schwangen fast alle Knüttel oder auch Säbel, ohne Ordnung zu halten und doch von demselben Gedanken beherrscht, bald wirr durcheinander, bald in Kolonnen. Manche Haufen wählten sich Anführer; Einer, der ganz offen ein Paar Pistolen trug, schien eine Musterung über eine kleine Armee abzuhalten, deren Reihen sich vor ihm öffneten. In den Nebenalleen der Boulevards, auf den Bäumen, den Balkons, an den Fenstern, auf den Dächern wimmelte es von Männern, Frauen, Kindern, denen die Furcht auf dem Gesicht geschrieben stand. Eine bewaffnete Menge zog vorüber, eine angsterfüllte Menge schaute zu.

Auch die Regierung verhielt sich beobachtend, die Hand am Griff des Degens. Auf dem Platz Louis XV. standen marschbereit, mit geladenen Gewehren und wohlgefüllten Patronentaschen, vier Schwadronen Karabiniere; im Studentenviertel und bei dem Jardin des Plantes die Municipalgarde, von Straße zu Straße staffelförmig aufgestellt; bei der Halle-aux-Vins eine Schwadron Dragoner, auf dem Grèveplatz eine Hälfte des 12. Regiments und auf dem Bastilleplatz die andere; in der Kaserne des Celestins das 6. Dragonerregiment; aus dem Hof des Louvre eine Menge Artillerie. Die übrigen Truppen waren in den Kasernen konsignirt, abgesehen von den Regimentern, die in der Umgegend von Paris lagen. Im Ganzen hielt die Regierung gegen die kriegslustige Menge vierundzwanzig Tausend Soldaten in der Stadt und dreißig Tausend vor den Thoren bereit.

In dem Zuge kreisten mancherlei Gerüchte. Man sprach von den Ränken der Legitimisten, von dem Sohne Napoleons I.@ dem Herzog von Reichstadt, auf den zu eben derselben Zeit schon der Tod seine Augen richtete. Ein unbekannt gebliebener Mann verkündete, zwei für die Sache der Republik gewonnene Werkmeister würden zu einer verabredeten Stunde dem Volk die Thore einer Waffenfabrik öffnen. Die Gefühle, die bei den Meisten vorherrschten, waren Enthusiasmus und Niedergeschlagenheit. Unter der heftig, aber von edlen Gefühlen bewegten Menge sah man aber auch wahre Verbrechergesichter, denen man es anmerkte, daß sie die gute Gelegenheit zum Plündern benutzen wollten. Wenn man Sümpfe aufwühlt, steigt immer Koth empor. Und eine hochlöbliche Polizei hat ja bei dergleichen Ereignissen ihre Hand auch im Spiele!

Der Trauerzug bewegte sich mit einer Langsamkeit welche die Erregung der Menge noch fieberhafter gestaltete, von dem Totenhause über die Boulevards nach dem Bastilleplatz. Es regnete ab und zu, aber Niemand achtete darauf. Unterwegs ereigneten sich mehrere bedeutungsvolle Zwischenfälle: Der Sarg wurde um die Vendômesäule herumgefahren; nach dem Herzog von Fitz-James, der auf einem Balken stand und den Hut auf den Kopf behielt, wurden Steine geworfen; der gallische Hahn wurde von einer Volksfahne heruntergerissen und durch den Koth geschleift; ein Schutzmann wurde an dem Thor Saint-Martin durch einen Degenstich verwundet; ein Offizier des 12. Regiments sagte ganz laut: »Ich bin Republikaner!« Die Polytechniker schlossen sich dem Befehle ihrer Vorgesetzten zum Trotz, dem Zuge an und wurden mit den Rufen: »Die Polytechniker sollen leben! Es lebe die Republik!« begrüßt. Auf dem Bastilleplatz endlich bewerkstelligten die langen Reihen der gefährlichen Neugierigen, die aus der Vorstadt Saint-Antoine herbeikamen, ihre Vereinigung mit dem Zuge und nun begann sich eine bedenkliche Aufregung der Menge zu bemächtigen.

Man hörte Einen, der zu einem andern sagte: »Du, sieh Dir mal den da an, mit dem rothen Barte; der wird kommandiren, wenn’s losgehn soll.« Derselbe Rothbart soll auch später noch bei einem andern Aufruhr in der Rue Quénisset eine Rolle gespielt haben.

Der Leichenwagen fuhr über den Bastillenplatz hinaus, den Kanal entlang, über die kleine Brücke und erreichte die Esplanade der Austerlitzer Brücke. Hier hielt er an. Aus der Vogelperspektive betrachtet, sah jetzt der Zug aus wie ein Komet, dessen Kopf auf der Esplanade lag und dessen Schweif sich über den Quai Bourdon, den Bastilleplatz, den Boulevard bis zur Porte Saint Martin hinzog. Alsbald bildete sich ein Kreis um den Leichenwagen. Die ungeheure Menschenmenge schwieg still. Lafayette hielt eine Rede und sagte Lamarque Adieu. Es war ein rührender und feierlicher Augenblick; Alle nahmen den Hut ab, Allen schlug das Herz schneller. Plötzlich erschien mitten unter den Umstehenden ein schwarz gekleideter Mann zu Pferde mit einer rothen Fahne, Andre sagen, mit einer Picke, an deren Spitze eine rothe, phrygische Mütze zu sehen war. Lafayette wandte den Kopf ab und Excelmans entfernte sich.

Diese rothe Fahne erregte einen Sturm und verschwand darin. Von dem Boulevard Bourdon bis zum Pont d’ Austerlitz wallte es in der Menge auf und nieder. »Bringt Lamarque nach dem Panthéon!« »Lafayette, nach dem Stadthaus!« lauteten die Donnerrufe, die jetzt erschallten. Unter allgemeinem Jubel begannen junge Leute den Leichenwagen über den Pont d’Austerlitz und Lafayette in einer Droschke den Quai Morland entlang zu ziehen.

Unter der Menge, die sich in Lafayette’s Nähe befand und ihm das Geleit gab, bemerkte man besonders und zeigte sich gegenseitig einen Deutschen, Namens Ludwig Snyder, der später im Alter von hundert Jahren starb. Er hatte den Krieg von 1776 in Amerika mitgemacht, und bei Trenton unter Washington, bei Brandywine unter Lafayette gekämpft.

Mittlerweile setzte sich aber auf dem linken Flußufer die berittne Municipalgarde in Bewegung und sperrte die Brücke, während auf dem rechten die Dragoner von dem Quai des Célestins herbeiritten und sich auf dem Quai Morland entfalteten. Das Volk, das Lafayette’s Droschke zog, bemerkte sie plötzlich am Knie des Quai und rief: »Die Dragoner!« Schweigend, die Pistolen und Karabiner in den Halftern, die Säbel in den Scheiden, rückten die Dragoner mit düstern Mienen heran.

Zweihundert Schritt von der kleinen Brücke machten sie Halt. Die Droschke fuhr mit Lafayette an sie heran, sie öffneten ihre Reihen, ließen ihn durch und schlossen sich hinter ihm wieder zusammen. In diesem Augenblick berührten sich die Dragoner und die Menge. Die Frauen rannten erschrocken davon.

Was geschah in diesem verhängnisvollen Zeitpunkt? Das vermag Niemand zu sagen. Es ging wohl ähnlich zu, wie in dem Dunkel, wo zwei Gewitterwolken aufeinander stoßen. Die Einen erzählen, in der Gegend des Arsenals sei ein Angriffssignal mit einer Trompete gegeben worden, Andre behaupten, ein Knabe habe einem Dragoner einen Dolchstich versetzt. Sicher ist, daß plötzlich drei Schüsse abgefeuert wurden. Der erste tötete den Schwadronschef Cholet, der zweite eine taube, alte Frau, die in der Rue Contrescarpe eben ihr Fenster zumachte; der dritte verbrannte einem Offizier das Epaulett. Eine Frau schrie: »Sie fangen zu früh an!« Und plötzlich sah man von der dem Quai Morland entgegengesetzten Seite eine Schwadron Dragoner, die in der Kaserne geblieben war, mit gezückten Säbeln die Rue Bassompierre und den Boulevard Bourdon entlang herbeireiten und Jedermann vor sich herjagen.

Damit ist Alles entschieden, Steine regnen auf die Soldaten nieder, das Gewehrfeuer knattert los; Viele stürzen sich das Ufer hinunter und passiren den Arm der Seine, der jetzt zugeschüttet ist; die Zimmerplätze der Isle Louviers, die eine mächtige Citadelle bilden, füllen sich mit Kämpfern, Pfähle werden aus der Erde gerissen, Pistolen knallen, eine Barrikade steigt empor, die jungen Leute, die den Leichenwagen ziehen, stürmen im Laufschritt über die Austerlitzer Brücke und greifen die Municipalgarde an, die Karabiniers eilen herbei, die Dragoner hauen ein, die Menge zerstreut sich nach allen Seiten, das Kriegsgetöse hallt über die ganze Stadt hin. Alles schreit: »Zu den Waffen!« rennt, flüchtet, kämpft. Der Zorn verbreitet den Aufruhr, wie der Wind daß Feuer.

Wie es ehemals brodelte

Es giebt nichts Außerordentlicheres als die erste Aufwallung eines Aufruhrs. Es geht überall zugleich los. War es vorhergesehen? Ja. Vorbereitet? Nein. Wo kommt es her? Aus dem Pflaster, aus den Wolken. Hier hat der Aufstand den Charakter eines Komplotts, dort einer Improvisation. Der erste Beste bemächtigt sich eines, des Weges kommenden Menschenschwarms und führt ihn, wohin er will. Ein Anfang, der einen unheimlichen Eindruck macht, aber auch seine komischen Seiten hat. Erst wüstes Geschrei, dann werden die Läden zugemacht, die Schaufenster den Blicken entzogen. Hin und wieder fällt ein Schuß; hier fliehen Welche, dort rennen Andre mit Flintenkolben gegen Thorwege; auf den Höfen stehen die Dienstmädchen und freuen sich auf den großen »Klumpatsch«, den es geben wird.

Es war noch keine Viertelstunde vergangen, so begab sich zu derselben Zeit auf zwanzig verschiedenen Stellen etwa Folgendes:

In der Rue Sainte-Croix-de-la-Bretonnerie traten ungefähr zwanzig junge Leute mit langen Bärten und langem Haupthaar in eine Tabagie und kamen einen Augenblick nachher mit einer dreifarbigen Fahne, die in Flor gehüllt war, zurück. Ihnen voraus gingen drei Männer, von denen der Eine mit einem Säbel, der Zweite mit einem Gewehr, der Dritte mit einer Picke bewaffnet war.

In der Rue des Nonaindières bot ein den besseren Ständen angehöriger wohlbeleibter Mann den Vorübergehenden Patronen an.

In der Rue Saint-Pierre-Montmartre trugen Männer mit nackten Armen eine schwarze Fahne umher, auf der die Worte: »Die Republik oder der Tod!« mit weißen Buchstaben geschrieben standen. In der Rue des Jeûneurs, Rue du Cadran, Rue Montorgueil, Rue Mandar tauchten Fahnen mit dem Wort »Sektion« in goldnen Buchstaben und einer Nummer auf. Eine von diesen Fahnen war rothblau mit einem kaum bemerkbaren Streifen Weiß dazwischen.

Auf dem Boulevard Saint-Martin wurde eine Waffenfabrik, in der Rue Beaubourg, der Rue Michel-le-Comte, der Rue du Temple drei Waffenschmiedeläden geplündert. In wenigen Minuten ergriffen die tausend Hände der Menge zweihundertdreißig Gewehre, fast lauter doppelläufige, vierundsechzig Säbel, dreiundachtzig Pistolen. Damit möglichst Viele Waffen hätten, nahm der Eine ein Gewehr und überließ das Bajonett dem Andern.

Dem Quai de la Grève gegenüber drangen junge Leute mit Musketen in die Häuser ein, um von hier aus zu schießen. Sie klingelten, gingen hinein und fabrizirten Patronen. »Ich wußte nicht«, erzählte später eine Frau, »was eine Patrone ist, aber bei der Gelegenheit hat mein Mann mir’s erklärt.«

In der Rue des Vielles-Haudriettes brach ein Haufe in einen Kuriositätenladen ein und nahm Yatagane und türkische Waffen weg.

In der Rue de la Perle lag die Leiche eines durch einen Flintenschuß getöteten Maurers.

Auf dem linken und auf dem rechten Flußufer, auf den Quais, den Boulevards, im Studentenviertel, in der Nähe der Centralmarkthalle rannten keuchend Arbeiter, Studenten, Sektionäre herum, lasen Proklamationen, schrieen: »Zu den Waffen! Zu den Waffen!« zerbrachen die Laternenpfähle, spannten die Pferde von den Wagen ab, rissen die Pflastersteine aus der Erde, schlugen die Hausthüren ein, entwurzelten die Bäume, durchsuchten die Keller und bauten aus Fässern, Steinen, Möbeln und Brettern, gewaltige Barrikaden.

Das Volk zwang die Bürger, hierbei mitzuhelfen und beizusteuern. Die Hausfrauen mußten die Säbel und Gewehre ihrer abwesenden Männer hergeben, worauf die Empfänger mit Spanischweiß »Die Waffen sind ausgeliefert« auf die Thür schrieben. Einige unterzeichneten mit »ihrem Namen« Quittungen und sagten: »Die Sachen holt Euch morgen aus der Mairie wieder!« — Vereinzelte Schildwachen und Nationalgardisten, die sich in ihren Bezirk begaben, wurden entwaffnet. Den Offizieren riß man die Epauletten ab. In der Rue Cimetière-Saint-Nicolas wurde ein Offizier der Nationalgarde von einer mit Stöcken und Rapieren bewaffneten Schaar verfolgt und flüchtete sich mit genauer Noth in ein Haus, das er erst in der Nacht und in einer Verkleidung verlassen konnte.

In dem Quartier Saint-Jacques schwärmten die Studenten aus ihren Hotels heraus und gingen die Rue Saint-Hyacinthe hinauf nach dem Café du Progrès oder die Rue des Mathurins hinunter nach dem Café des Sept-Billards. Hier standen junge Leute auf Prellsteinen und vertheilten Waffen. Man plünderte den Zimmerplatz in der Rue Transnonain, um sich Material zum Barrikadenbau zu verschaffen. Nur an einer einzigen Stelle leisteten die Bewohner eines Stadtviertels Widerstand, an der Ecke der Rue Saint-Avoye und Simon-le-Franc, wo sie selber die Barrikade zerstörten. Auf einem einzigen Punkte wichen die Aufständischen zurück; sie gaben eine angefangene Barrikade in der Rue du Temple auf, nachdem sie auf eine Abtheilung der Nationalgarde Feuer gegeben und entflohen durch die Rue de la Corderie. Die siegreiche Bürgerwehr fand auf der Barrikade eine rothe Fahne, ein Packet Patronen und dreihundert Pistolenkugeln. Die Nationalgardisten zerrissen die Fahne und trugen die Fetzen auf den Spitzen ihrer Bajonette davon.

Alles, was wir hier langsam und nacheinander berichten, geschah in allen Theilen der Stadt ungefähr zu gleicher Zeit, inmitten eines ungeheuren Tumults, wie bei ein und demselben Donnerschlag viele Blitze aus der Gewitterwolke zucken.

In noch nicht einer Stunde erhoben sich allein in dem Markthallenviertel siebenundzwanzig Barrikaden. In der Mitte desselben lag die berühmte Nr. 50, das Haus, das Jeanne und ihren sechshundert Genossen als Festung diente. Auf der einen Seite von einer, bei der Kirche Saint-Merry gelegnen Barrikade, auf der andern von der Barrikade der Rue Maubuée flankirt, beherrscht dies Haus drei Straßen. — Ebenso entstanden unzählbare Barrikaden in zwanzig andern Stadtvierteln, im Marais, der Montagne Sainte-Geneviève u. s. w.

Auf der Barrikade der Rue des Ménétriers vertheilte ein feingekleideter Mann Geld an die Arbeiter. In der Rue Greneta erschien ein Reiter und übergab dem Mann, der das Kommando über die dortige Barrikade hatte, eine Geldrolle mit den Worten: »Für die Auslagen, Wein u. s. w. —« Ein blonder, junger Mann ohne Kravatte ging von einer Barrikade zur andern und gab Losungsworte aus. Ein Andrer mit gezücktem Säbel und einer blauen Polizeimütze, stellte Schildwachen aus. Drinnen, innerhalb der Barrikaden, waren die Schänken und Portierwohnungen in Wachtstuben verwandelt. — Im Uebrigen verfuhr man nach den Regeln der wissenschaftlichen Taktik. Mit richtigem Takt bevorzugte man die schmalen, gewundnen Straßen mit vielen Winkeln und Knieen; besonders die Umgegend der Markthallen, ein sehr verworrenes Straßennetz. Man erzählt sich, die Gesellschaft der Freunde des Volkes habe in dem Viertel Saint-Avoye die Leitung des Aufstandes in die Hand genommen. Ein Rue du Vonceau getöteter Mann, den man visitirte, hatte einen Plan von Paris bei sich.

Was wirklich die Leitung des Aufstandes übernommen hatte, war ein besondres Ungestüm, das so zu sagen in der Luft lag. Die Aufständischen erbauten im Nu und zu gleicher Zeit die Barrikaden und bemächtigten sich der Garnisonsposten. In kaum drei Stunden besetzte man auf dem rechten Flußufer das Arsenal, die Mairie der Place Royale, den ganzen Marais, die Waffenfabrik Popincourt, La Galiote, das Château d’ Eau, alle Straßen in der Nähe der Centralmarkthalle, die Kaserne der Veteranen, Sainte-Pélagie, den Platz Maubert, die Pulverfabrik des Deux-Moulins und alle Barrieren. Um fünf Uhr Abends waren die Aufständischen Herren des Bastilleplatzes, der Lingerie, der Blancs-Manteaux. Ihre Patrouillen rückten bis an die Place des Victoires vor und bedrohten die Bank, die Kaserne der Petits-Pères und das Postgebäude. Ein Drittel von Paris war in ihren Händen.

Auf allen Punkten entbrannte der Kampf in großem Maßstabe und in Folge der Entwaffnungen, Haussuchungen, Plündrungen von Läden waren die Steine jetzt durch bessere Waffen ersetzt.

Gegen sechs Uhr Abends verwandelte sich die Passage du Saumon in ein Schlachtfeld. An dem einen Ende standen die Soldaten, an dem andern die Insurgenten und beschossen sich gegenseitig durch die beiden Gitter hindurch. Ein Beobachter, ein Träumer, der Verfasser dieses Buchs, der ausgegangen war, sich den Vulkan aus der Nähe zu besehen, gerieth dabei zwischen zwei Feuer. Um den Kugeln zu entrinnen, blieb ihm nichts Andres übrig, als sich in eine Einbuchtung zwischen zwei Halbsäulen, die einen Laden von einem andern trennten, zu flüchten. Ungefähr eine halbe Stunde lang befand er sich in dieser heiklen Lage.

Unterdessen wurde überall das Ganze gesammelt, die Legionen der Bürgerwehr kamen aus den Mairien, die Regimenter aus den Kasernen. Der Passage de l’ Ancre gegenüber erhielt ein Trommler einen Dolchstich. Ein andrer wurde in der Rue du Cygne von ungefähr dreißig jungen Leuten angefallen, die seine Trommel demolirten und ihm den Säbel abnahmen. Wieder ein Andrer wurde in der Rue Grenier-Saint-Lazare getötet. In der Rue Michel-Le-Comte fielen nacheinander drei Offiziere. Mehrere Municipalgardisten, die in der Rue des Lombards verwundet wurden, wichen zurück.

Vor der Cour-Batave fand eine Abtheilung Bürgerwehr eine rothe Fahne, mit der Aufschrift »Republikanische Revolution Nr. 127«. War es in der That eine Revolution?

Der Aufstand hatte sich aus dem Centrum von Paris eine Art kolossale Citadelle geschaffen. Dies war der wichtigste Punkt, hier mußte die Entscheidung fallen. Alle übrigen Kämpfe waren nur Scharmützel, Plänkeleien. Daß auf die Behauptung dieser Stellung Alles ankam, bewies zur Genüge der Umstand, daß zur Zeit noch nicht gekämpft wurde.

Bei einigen Regimentern waren die Soldaten unschlüssig, was die schreckliche Lage der Ungewißheit noch steigerte. Sie erinnerten sich der Ovation, die im Juli l830 das Volk dem 53. Linienregiment bereitet hatte. Das Kommando führten zwei unerschrockne und in großen Kriegen erprobte Männer, der Marschall de Lobau und der General Bugeaud, letzter unter Lobau. Ungeheure Patrouillen, die aus ganzen Linienbataillonen bestanden und von Bürgerwehrkompagnien in die Mitte genommen wurden, rekognoscirten, einen Polizeikommissar mit der Schärpe an ihrer Spitze, die von den Aufständischen beherrschten Straßen. Ihrerseits stellten diese Reiterposten an den Straßenecken auf und entsandten keck Patrouillen aus den Barrikaden. So beobachtete man sich gegenseitig. Die Regierung zauderte trotzdem sie über eine Armee gebot; schon nahte die Nacht und man hörte die Glocken der Kirche Saint-Merry Sturm läuten. Der damalige Kriegsminister Marschall Soult, ein Mann, der die Schlacht bei Austerlitz mitgemacht hatte, schaute sorgenvoll drein.

An kunstgerechte Manöver gewöhnt, ohne andre Hülfsmittel und Anleitung als die Taktik, den Kompaß der Schlachten, sind solche alte Haudegen dem Zorn des Volkes gegenüber rathlos. Mit dem Winde der Revolutionen verstehen sie ihr Schiff nicht zu lenken.

Die Bürgerwehr des Weichbildes eilte in Unordnung herbei. Ans Saint-Denis kam ein Bataillon im Laufschritt, aus Courbevoie das 14. Regiment; die Batterien der Militärschule hatten auf dem Caroussel Stellung genommen; aus Vincennes kam Artillerie.

Der Tuilerienpalast lag verlassen da, aber Ludwig Philipp zeigte eine unerschütterliche Seelenruhe.

Die Eigenart der Stadt Paris

In den vergangnen, letzten zwei Jahren hat Paris mehr als einen Aufstand durchgemacht. Außerhalb der insurgirten Stadttheile verhält sich nichts so merkwürdig ruhig, wie Paris während einer Revolte. Paris gewöhnt sich sehr schnell an alles: »Nur eine Revolte!« — und hat so viel zu thun, daß es sich durch solche Kleinigkeiten nicht stören läßt. Großstädte allein können derartige Schauspiele bieten, sind umfangreich genug, um zu gleicher Zeit die Aufregungen des Bürgerkriegs und die absonderlichste Gemüthsruhe zu fassen. Wird getrommelt, das Ganze gesammelt, der Generalmarsch geblasen, so meint der Krämer:

»Wie es scheint, ist in der Ruhe Saint-Martin wieder Krawall.«

»Oder in der Vorstadt Saint-Antoine.«

»Oder da herum,« fügt er ruhevoll hinzu.

Nachher, wenn das schaurige Geknatter des Gewehrfeuers sich hören läßt, bemerkt er:

»Alle Wetter! Es scheint da ganz heiß herzugehn.«

Breitet der Aufruhr sich dann aus und rückt er ihm auf den Leib, so macht er schleunigst seinen Laden zu und wirft sich in seine Uniform, d. h. er sichert seinen Kram und riskirt seine Haut.

Soldaten, Bürger und Volk schießen auf einander, auf einem Platze, in einer Passage, einer Sackgasse; Barrikaden werden genommen und geräumt; die Fassaden der Häuser werden mit Kugeln gespickt; die Geschosse töten Leute in ihrem Schlafzimmer, die Straße liegt voller Leichen — und wenige Schritte davon hört man den Zusammenprall von Billardkugeln in den Cafés.

Die Theater machen ihre Thüren auf und spielen Possen; neugierige Zuschauer plaudern und lachen in geringer Entfernung von den blutgetränkten Kampfplätzen. Die Droschken fahren. Die Leute gehen in ihr gewohntes Restaurant zum Mittagstisch, bisweilen liegt das Restaurant oder wohnt die Familie, die sie besuchen wollen, in einer Straße, wo gekämpft wird. 1831 wurde einmal ein Gewehrfeuer eingestellt, damit eine Hochzeitsgesellschaft zwischen den Kämpfern hindurchfahren konnte.

Während des Aufstandes vom 12. Mai 1839 fuhr in der Rue Saint-Martin ein gebrechliches, altes Männchen mit einem Handwagen, zwischen einer Barrikade und einer Abtheilung Soldaten hin und her und bot bald den Vertheidigern der Ordnung, bald der Anarchie Lakritzenwasser zum Verkauf an.

Es giebt nichts Seltsameres, als die Vereinigung dieser Gegensätze und hierin besteht die Eigenart der Pariser Revolten, die man in keiner andern Hauptstadt wiederfindet. Es bedarf dazu zweier Dinge, der Pariser Großsinnigkeit und Heiterkeit. Es gehört dazu die Stadt Voltaires und Napoleons.

Dies Mal jedoch, bei dem Waffengange am 5. Juni 1832, hatte die große Stadt ein unangenehmes Gefühl, dessen sie wohl nicht hätte Herr werden können. Sie fürchtete sich. Ueberall, selbst in den entlegensten und am wenigsten interessirten Stadtvierteln waren am hellen Tage Thüren und Fensterläden geschlossen. Die muthigen Leute bewaffneten, die furchtsamen verkrochen sich. Leute, die ruhig ihren Geschäften nachgingen, sah man nicht. Viele Straßen waren so leer, wie um vier Uhr Morgens. Man raunte sich bedenkliche Nachrichten zu. »Sie« hätten sich der Bank bemächtigt. — In der Kirche Saint-Merry allein hätten sich ihrer sechshundert verschanzt. — Auf die Linientruppen sei kein Verlaß. — Armand Carrel hätte den Marschall Clausel aufgesucht und Dieser habe gesagt: »Bringt erst ein Regiment auf eure Seite; dann wollen wir weiter sehen.« — Lafayette wäre krank, hätte ihnen aber gesagt: »Ich stehe auf Eurer Seite. Ich werde überall, wo Platz für einen Stuhl ist, mit Euch gehen.« — Man müßte auf seiner Hut sein. Es gäbe Leute, die sich die Nacht zu Nutze machen und abgelegne oder schlecht verwahrte Häuser plündern würden. (Hieran erkannte man die Anne Radcliffe’sche Einbildungskraft der Polizei). — In der Rue Aubry-le-Boucher wäre eine Batterie aufgepflanzt worden. — Lobau und Bugeaud hätten mit einander berathen und um Mitternacht oder spätestens bei Tagesanbruch würden vier Kolonnen zu gleicher Zeit auf das Centrum des Aufstands losmarschieren. — Vielleicht würden die Truppen auch Paris räumen und sich auf das Marsfeld zurückziehen. — Man wisse nicht, was kommen würde; aber jedenfalls sähe es dies Mal sehr bedenklich aus. Man schüttelte auch den Kopf darüber, daß Marschall Soult nicht energisch eingriff.

Der Abend kam, die Theater machten nicht auf; überall circulirten griesgrämige Patrouillen, visitirten und arretirten. Um neun Uhr waren über achthundert Personen verhaftet und alle Gefängnisse überfüllt. In der Conciergerie besonders war in dem langen Souterrain, das man die Rue de Paris nennt, der Fußboden mit Strohbündeln bedeckt, in denen eine Unzahl Gefangner raschelten, daß es sich wie ein Gewitterregen anhörte. Anderwärts lagen die Verhafteten in den Gefängnißhöfen unter freiem Himmel übereinander geschichtet.

In den Häusern verrammelten sich die Leute; Gattinnen, Frauen und Mütter ängstigten sich und jammerten: »Was mag blos aus ihm geworden sein, daß er noch nicht nach Hause gekommen ist.« Kaum das man in der Ferne einige Wagen rollen hörte. Auf den Thürschwellen standen Leute und horchten auf die verschiedenen, fernen Geräusche. »Das ist Kavallerie!« »Da golloppiren Munitionswagen!« Man hörte Trommelwirbel, Trompetengeschmetter, Gewehrgeknatter und besonders das furchtbare Gedröhn der Sturmglocke, wartete aber auf den ersten Kanonenschuß. Dann rannten Leute vorbei und riefen: »Geht hinein!« Darauf stürzte dann alles ins Haus und verriegelte die Thüren! »Wie wird das enden!« hieß es allgemein. Kurz, von Minute zu Minute, in dem Maße, wie die Nacht hereinbrach, wurde die Stimmung in Paris düstrer.

Eine Winzigkeit, die sich mit dem Orkan verbrüdert

Gavroche’s Poesie

In dem Augenblick, wo das Volk und die Soldaten vor dem Arsenal an einander geriethen und der Trauerzug rückwärts flutete, sich theilte und in hundert Straßen zugleich zurückwich, kam ein zerlumpter, junger Bursche die Rue Mènilmontant herab. Da bemerkte er in dem Schaufenster einer Trödlerin eine alte Sattelpistole, warf den Baumzweig, den er in der Hand hatte, auf das Pflaster, und rief:

»Mutter Dingrich, ich pumpe mir von Ihnen das Dingsda,« und machte sich mit dem Pistol schleunigst aus dem Staube.

Zwei Minuten nachher begegnete ein Schwarm erschrockner Bürger, der die Rue Amelot und die Rue Basse entlang rannte, dem Jungen, der sein Pistol schwang und ein Triumphliedchen sang:

Des Nachts sieht man nix

Und findet man auch nix

Wenn ich es aber wage,

So krieg’ ich was bei Tage.

Es war der kleine Gavroche, der in den Krieg zog.

Auf dem Boulevard bemerkte er aber leider, daß sein Pistol keinen Hahn hatte.

Von wem war die Strophe, die ihm beim Marsch den Takt angab, und all die andern Lieder, die er gelegentlich gern anstimmte? Wir wissen es nicht. Vielleicht hatte er es selber gedichtet. Jedenfalls kannte er alles, was das Volk trillert und trällert, und zwitscherte wohl auch etwas dazwischen aus sich selber. In seiner Eigenschaft als Kobold und Laufbursche schweißt er sich aus Natur- und aus pariser Lauten seine Potpourris zusammen und vermengte das Repertoir der Vögel mit dem der Handwerker zu einem harmonischen oder unharmonischen Ganzen. Aber er stand auch mit gebildeteren Leuten in Verkehr, mit verbummelten Malern, war drei Monate lang bei einem Buchdrucker in der Lehre gewesen und hatte sogar eines Tages eine Besorgung für Baour-Lormian, einen Akademiker, einen der vierzig Unsterblichen, gemacht! Man sieht, Gavroche besaß litterarische Bildung.

Uebrigens hatte er keine Ahnung, daß die beiden Knaben, die er auf der Straße aufgelesen und in seine Wohnung aufgenommen hatte, seine eignen Brüder waren. Nachdem er dann noch in derselben Nacht seinen Vater gerettet, war er bei Tagesanbruch aus der Rue des Ballets in aller Eile nach dem Elefanten zurückgekehrt, hatte mit einem großen Aufwand von Geschicklichkeit die »Würmer« aus ihrem Hotel heraus praktizirt, ein genial erfundnes Frühstück mit ihnen getheilt und war fortgegangen, indem er seine Pfleglinge der Straße, die ihn erzogen hatte, anvertraute. Zum Abschied hielt er noch eine kleine Rede an sie: »Ich schramme jetzt ab, oder in andern Worten ich verdufte oder, wie man bei Hofe sagt, ich socke ab. Wenn Ihr Papa und Mama nicht wiederfindet, so kommt heute Abend hierher zurück. Ich besorge Euch einen guten Happenpappen und Wohnung für die Nacht.« Aber die Knaben waren nicht wiedergekommen. Hatte sich ein Schutzmann ihrer angenommen und sie nach der Wache gebracht oder waren sie von einem Akrobaten gestohlen worden, oder hatten sie sich ganz einfach in dem ungeheuren pariser Tohuwabohu verirrt? Wie dem auch sei, Gavroche bekam sie nicht wieder zu Gesicht. Zehn bis zwölf Wochen waren seit jener Nacht verstrichen und so manches Mal kratzte er sich den Kopf und fragte sich, was zum Teufel wohl aus seinen Bälgen geworden sein mochte.

Während er derartige Betrachtungen auch heute anstellte, gelangte er in die Rue du Pont-aux-Choux. Hier bemerkte er, daß in der ganzen Straße bloß ein Laden offen stand, und zwar was Beachtung verdiente, der Laden eines Pastetenbäckers. Es war ein Wink der Vorsehung, daß er noch rasch, ehe er den Sprung ins Dunkle that, sich ein Apfeltörtchen genehmigen sollte. Gavroche blieb also stehen, betastete seine Seiten, wendete alle Taschen um, fand nichts, gar nichts und schrie:

»Hülfe! Hülfe!«

Es ist allerdings hart, wenn man sich den letzten Kuchen versagen muß.

Er setzte aber darum nicht weniger seinen Weg fort und befand sich wenige Minuten später in der Rue Saint-Louis. Aber eine Entschädigung mußte er haben: Er leistete sich das ungeheure Vergnügen, am hellen, lichten Tage die Theaterzettel in der Rue du Parc-Royal abzureißen.

Bald darauf begegnete er einer Gesellschaft wohlgenährten Herren, die Hauseigenthümer zu sein schienen. Ihr Anblick erregte seine philosophische Galle und verächtlich die Achseln zuckend, meinte er:

»Was solche Rentiers fett sind! Ja, ja! Das schlägt sich den Wanst mit guten Happenpappen voll, und dann predigen sie uns, wir sollen von der Luft und der Tugend leben!«

Gavroche auf dem Marsche

Der Besitz eines Pistols ohne Hahn, das man auf offner Straße sehen lassen darf, verlieh unserm Gavroche eine solche Wichtigkeit in seinen Augen, daß er bei jedem Schritt fideler wurde. Er sang die Marseillaise und erging sich dabei in kuragigen Betrachtungen.

»Es geht ganz famos. Mir thut die linke Pfote weh, die habe ich mir ein bischen lädirt, aber ich bin zufrieden, Freunde. Die Bürger sollen sich man in Acht nehmen, ich werde ihnen umstürzlerische Lieder in die Ohren schreien. Ich komme von dem Boulevard, Theuerste; da geht’s heiß her, da wird eine schöne Suppe gekocht. Es ist Zeit, daß sie abgeschäumt wird. Vorwärts, wer ein Mann ist!

Ein unrein Blut bethaue unsere Furchen.

Ich lege mein Leben auf den Altar des Vaterlandes nieder und werde meine Konkubine nicht wiedersehen. Au waih geschrien! Aber das ist mir Wurscht. Hurrah! Heute giebt’s Keile und ich will dabei sein! Hol mich der Henker, aber ich habe den Despotismus überdrüssig.«

Trotzdem half er einem Nationalgardisten, der in demselben Augenblick dicht in seiner Nähe mit dem Pferde stürzte, auf die Beine; dann nahm er sein Pistol, das er vorher auf die Erde gelegt, wieder auf und ging weiter.

In der Rue de Thorigny herrschte Friede und Stille. Diese, dem Stadtviertel Le Marais eigne Apathie stach stark ab gegen den Sturm, der ringsum tobte. Vier Gevatterinnen standen hier auf einer Thürschwelle und unterhielten sich. Denn wenn Schottland seine Hexentrios besitzt, so erfreut sich Paris nicht minder anmuthiger Gevatterinnenquartette. Wenn die einem Bonaparte »Du wirst König sein« zukrächzten, würde es sich ebenso anhören, wie dieselbe Begrüßung Macbeths durch seine drei Landsmänninen.

Aber den Gevatterinnen der Rue Thorigny lagen nur ihre eigenen Angelegenheiten am Herzen. Es waren drei Portierfrauen und eine Lumpensammlerin mit ihrer Kiepe und ihrem Haken.

Vier Unica von Alterthümlichkeit, Gebrechlichkeit, Häßlichkeit.

Die Lumpensammlerin benahm sich demüthig. Für die Leute, die von dem Abfall anderer leben müssen, ist die Gönnerschaft einer Portierfrau eine Sache, auf die etwas ankommt. Denn wenn diese ihren Besen mit Huld handhabt, fällt die Ausbeute aus dem Gefegsel reichlicher aus, als wenn sie es vorher mit unfreundlicher Genauigkeit durchsucht.

Die Lumpensammlerin lächelte also sehr höflich zu Allem, was die drei Portierfrauen sagten. Das interessante Gespräch war etwa folgendes:

»Ist denn aber Ihre Katze noch immer so bösartig?«

»Mein Gott, Sie wissen, Katzen sind nun einmal keine Freunde von Hunden. Das gefällt natürlich den Hunden nicht.«

»Den Menschen auch nicht.«

»Die Katzenflöhe geben aber nicht an Menschen ran.«

»Nein, die Katzen thun keinen Schaden. Aber die Hunde, die sind gefährlich. Ich kann mich noch auf ein Jahr entsinnen, wo so viel Hunde waren, daß man es in die Zeitung setzen mußte. Es war zu der Zeit, wo es in den Tuilerien Schafe gab, die dem König von Rom seinen Wagen zogen. Besinnen Sie Sich auf den König von Rom?«

»Ich hatte den Herzog von Bordeaux gern.«

»Ich habe Ludwig XVII. gekannt. Der war mir lieber.«

»Ist das Fleisch aber theuer, Frau Pathagon!«

»Seien Sie still vom Fleisch! Mir wird ganz schlimm, wenn ich daran denke. Das ist ja was gräßlich Gräßliches! Man kann ja bloß noch Beilage kaufen.«

»Meine Damen«, fiel hier die Lumpensammlerin ein, »die Geschäfte gehen nicht. Ich kann Ihnen sagen, so schofel ist der Kehricht noch nie ausgefallen, wie jetzt. Die Leute schmeißen nichts mehr fort. Sie essen alles selber auf.« »Es giebt Welche, die sind noch ärmer als Sie, Mutter Bargoulême.«

»Freilich,« gab die Lumpensammlerin höflich zurück, »ich habe wenigstens ein Gewerbe«.

Währenddem hatte sich Gavroche hinter die Vier geschlichen und horchte:

»Wie könnt Ihr alten Hexen Euch unterstehen, über Politik zu sprechen?«

Ein Hagel von Schimpfreden prasselte auf den Frevler nieder.

»Nun sieh einer solchen infamichten Bengel!«

»Was hat er denn da in seinen Grätschen? Ein Pistol?«

»Nein, so was. So ein Käsehoch!«

»Das kann keine Ruhe halten, das muß die Obrigkeit absetzen!«

Stolz und verächtlich begnügte sich Gavroche, statt aller Wiedervergeltung, die Finger der rechten Hand aufzuspreizen und mit dem Daumen den einen Nasenflügel emporzuschieben.

»Du nichtswürdiges, hungerleidiges Aas Du!« rief die Lumpensammlerin. Frau Patagon schlug voll tiefer sittlicher Entrüstung die Hände zusammen und zeterte:

»Es wird viel Unglück geben, kann ich Ihnen sagen. Da wohnt nebenan ein hübsches Jüngelchen mit einem Spitzbart, den sah ich jeden Tag hier vorbeikommen mit einem netten, jungen Ding in einem rosa Hut und heute war ein Mann mit einem Gewehr bei ihm. Und dann sehen Sie sich den da an mit seinem Pistol, den dämlichen Kieck in die Welt! Die Cölestinerkaserne soll ganz voll Kanonen stecken.

Was soll denn auch die Regierung mit solchen Bengeln machen, die nicht wissen, was sie erfinden sollen, damit sie die Leute ängstigen. Man fing schon an, sich ein bischen zu beruhigen nach all dem Unglück, das man erlebt hat, dem Herrgott sei’s geklagt! Ich denke noch an die arme Königin, die sie auf dem Armesünderwagen zum Schaffot schleppten. Und bei der Gelegenheit wird der Schnupftabak auch wieder theurer werden! O, es ist schändlich! Na, warte, das erlebe ich noch, daß sie Dich um einen Kopf kürzer machen, Du kleiner Halunke Du, Du gemeine Kröte, Du Rotznase Du!«

»Mutter Methusalem, bekümmern Sie Sich um Ihren eignen Riechkolben! Dem thuts schon lange Noth, daß er mal geputzt wird!« schimpfte Gavroche und wanderte weiter.

Als er in der Rue Pavée war, fiel ihm die Lumpensammlerin wieder ein und setzte ihr innerlich den Kopf zurecht:

»Das ist nicht schön von Dir, Mutter Kiepe, daß Du die Revolutionäre so runter machst. Das Pistol hier will Deinen Vortheil. Man möchte ja blos, daß Du mal recht viel gute Sachen von der Straße auflesen kannst.«

Plötzlich hörte er Geräusch hinter sich; es war die eine Portierfrau, die ihm nachgehumpelt war. Sie drohte ihm mit der Faust und schrie:

»Du bist ein Bastard!«

»Na, was das anbelangt, Mutterchen, das ist mir ungeheuer schnuppe!« meinte Gavroche.

Bald darauf kam er an dem Hotel Lamoignon vorbei. Hier stieß er einen Schlachtruf aus:

»Auf zum Kampf!«

Da aber überkam ihn ein Anfall von Schwermuth. Er sah sein Pistol vorwurfsvoll an, als wollte er ihm zureden, vernünftig zu sein und sagte:

»Alle gehen heute los und Du nicht!«

Unterwegs sah er noch einen entsetzlich magern Hund:

»Armer Wauwau,« sagte er mitleidig, »Du hast wohl ein Faß verschluckt, daß Du lauter Reifen unter dem Fell hast!«

Gerechte Entrüstung eines Barbiers

Der wackre Perrückenfabrikant, der Gavroche’s zwei Knaben aus dem Laden gejagt hatte, rasirte zu eben derselben Zeit einen alten Soldaten, der unter dem Kaiserreich gedient hatte. Natürlich drehte sich das Gespräch um die Revolte und von dem General Lamarque ging der Perrückenmacher auf den Kaiser Napoleon über.

»Nicht wahr, der Kaiser konnte gut reiten?«

»Bewahre! Er verstand blos nicht zu fallen. Daher fiel er auch nie.«

»Natürlich hatte er gute Pferde?«

»An dem Tage, wo er mir das Kreuz gegeben, habe ich mir sein Pferd angesehen. Es war eine leichte Stute, ein Schimmel. Sie hatte weit abstehende Ohren, einen tiefen Rücken, einen feinen Kopf mit einem schwarzen Stern, einen sehr langen Hals, stark artikulirte Kniee, hervorspringende Rippen, schräge Schultern, ein mächtiges Hintergestell. Etwas über fünfzehn Spannen hoch.«

»Ein hübsches Pferd!«

»Ja, Ja! Es war auch das Pferd Sr. Majestät.«

Der Perrückenmacher fühlte, daß sich nach diesem Wort ein ehrfurchtsvolles Schweigen schicken würde, und fuhr erst nach einer Pause in seiner Rede fort:

»Der Kaiser ist ja wohl nur ein Mal verwundet worden?«

Der alte Soldat antwortete in der ruhigen, bestimmten Weise eines Mannes, der dabei gewesen ist:

»An einer Ferse. Bei Regensburg. Ich habe ihn nie so fein gekleidet gesehen. Er war wie aus dem Ei gepellt.«

»Und Sie, Herr Veteran, Sie sind jedenfalls oft verwundet worden?«

»Ich? Ach, das ist nicht der Rede wert. Ich bekam bei Marengo zwei Säbelhiebe über den Nacken, bei Austerlitz eine Kugel in den Arm, bei Jena wieder eine Kugel in die linke Hüfte, bei Friedland einen Bajonettstich — hier! -; an der Moskwa sieben oder acht Lanzenstiche, ich weiß nicht mehr all die Stellen; bei Lützen zerschmetterte mir ein Granatsplitter einen Finger; und bei Waterloo kriegte ich eine Kartätschenkugel in den Schenkel. Das ist Alles.«

»Wie schön das sein muß,« rief der Bartputzer, mit dichterischem Schwung, »auf dem Schlachtfelde zu sterben! Auf Ehrenwort, statt langsam, jeden Tag zollweise, an einer Krankheit zu Grunde zu gehn und mit Arzneien, Tränken, Pflastern und Spritzen an mir herumdoktern zu lassen, möchte ich lieber eine Kanonenkugel in den Leib bekommen!«

»Sind Sie bescheiden!« meinte der Militär.

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als ein fürchterlicher Lärm den ganzen Laden erschütterte. In der Scheibe des Schaufensters war ein großes Loch, von dem aus sich Sprünge nach allen Seiten hinzogen.

Der Perrückenmacher wurde leichenblaß.

»Ach Du mein Gott! Da haben wir eine?«

»Was denn?«

»Eine Kanonenkugel.«

»Hier ist sie,« sagte der Soldat und nahm etwas von der Erde auf. Es war ein Kieselstein.

Der Barbier eilte an das Schaufenster und erblickte noch Gavroche, der in der Richtung des Marktes Saint-Jean spornstreichs davonrannte. Als er an dem Laden des Perrückenmachers vorbeikam, hatte der Junge, der dem Bartkratzer seine Hartherzigkeit gegen die beiden obdachlosen Knaben nicht vergeben konnte, dem Wunsch nicht widerstehen können, seine Schützlinge zu rächen.

»Man sollte es nicht glauben!« schrie der Perrückenmacher, dessen weiße Gesichtsfarbe in eine blaue übergegangen war. »Solch eine Bosheit! Was hat man denn dem Bengel gethan?«

Die Jugend wundert sich über das Alter

Auf dem Markt Saint-Jean, wo der Wachtposten schon entwaffnet war, bewerkstelligte Gavroche seine Vereinigung mit einem von Enjolras, Courfeyrac, Combeferre und Feuilly geführten Trupp Aufständischer. Ihre Bewaffnung schien eine ziemlich gute. Bahorel und Jean Prouvaire waren auch zu ihnen gestoßen. Enjolras hatte eine doppelläufige Jagdflinte, Combeferre ein Nationalgardistengewehr mit einer Legionsnummer und zwei Pistolen, Jean Prouvaire einen Karabiner, Bahorel einen Stutzen. Feuilly marschirte mit einem gezückten Säbel vorauf und rief: »Die Polen sollen leben!«

Sie kamen von dem Quai Morland, ohne Kravatten, ohne Hüte, athemlos, von Regen durchnäßt, Blitze in den Augen. Gavroche trat an sie heran und fragte mit gemüthlicher Ruhe:

»Wo gehen wir hin?«

»Komm nur!« sagte Courfeyrac.

Hinter Feuilly marschirte oder hüpfte vielmehr Bahorel. Er zeichnete sich vor den Uebrigen durch seine scharlachne Weste und den Uebermuth seiner unwiderleglichen Scherzreden aus.

»Da kommen die Rothen!« rief ein Vorübergehender erschrocken, als er Bahorel erblickte.

»Das Rothe, die Rothen!« gab Bahorel zurück. »Merkwürdige Furcht, Bürger! Ich für meinen Theil zittre nicht vor einer Klatschrose und das Rothkäppchen würde mir keinen Schrecken einflößen. Glauben Sie mir, Bürger, nur Hornvieh wird scheu, wenn es etwas Rothes sieht.«

Bald darauf fiel sein Blick auf ein überaus harmloses Plakat, eine Erlaubnis Eier zu essen, ein Fastenerlaß des Erzbischofs von Paris an seine »Schafe.«

»Ja wohl, Schafe!« ulkte Bahorel und riß den Zettel von der Mauer ab.

Von diesem Augenblicke an schloß Gavroche Bahorel in sein Herz und bemühte sich, ihn kennen zu lernen.

»Bahorel,« schalt Enjolras, »das war nicht vernünftig. Du hättest den Erlaß zufrieden lassen sollen. Wir führten nicht mit ihm Krieg. Du verausgabst Deinen Vorrath an Zorn ganz unnützer Weise. Außer Reih’ und Glied soll man nicht kämpfen, mit der Zunge eben so wenig, wie mit dem Gewehr.«

»Jeder in seiner Art, Enjolras« entgegnete Bahorel. »Das fromme Geschreibsel ärgert mich. Ich will Eier essen, ohne daß man mir’s erlaubt. Du bist kalt und ruhig im Kampfe, ich spaße gern. Uebrigens gebe ich keineswegs meine Kräfte aus; ich nehme vielmehr einen Anlauf, und wenn ich das Plakat zerrissen habe, so geschah das, Hercle! bloß um mir Appetit zu machen.«

Das Wort Hercle fiel dem kleinen Gavroche auf und da er alle Gelegenheiten, sich zu unterrichten, begierig ergriff und der Plakatabreißer Bahorel ihm Achtung einflößte, fragte er:

»Was bedeutet das, Hercle?«

»Das ist lateinisch und heißt Kreuzschockschwere Donnerwetter!«

Ein lärmender Schwarm Menschen begleitete sie, Studenten, junge Leute, die Mitglieder der Cougourde von Aix waren, Arbeiter, mit Stöcken und Bajonetten bewaffnet; Einige mit Pistolen im Hosengurt. Unter ihnen befand sich auch ein sehr alter Mann, der keine Waffen hatte. Er eilte, um nicht hinter den Andern zurückzubleiben, obgleich er sehr nachdenklich schien. Gavroche wunderte sich über ihn und fragte:

»Nanu, was mag denn das für Einer sein?«

»Ein Alter,« meinte Courfeyrac.

Es war Mabeuf.

Der Alte

Erzählen mir was vorgegangen war.

Zu der Zeit, wo die Dragoner das Volk angriffen, befand sich Enjolras mit seinen Freunden auf dem Boulevard Bourdon. Sie rannten durch die Rue Bassompierre mit dem Ruf: »Zu den Waffen!« und begegneten in der Rue Lesdiguières einem alten Mann, der ihnen entgegenkam.

Was ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, war der Umstand, daß er im Zickzack ging, als wäre er betrunken. Außerdem hielt er den Hut in der Hand, obgleich es gerade stark regnete. Courfeyrac erkannte in ihm Vater Mabeuf, zu dessen Haus er Marius oft begleitet hatte. Da er die friedfertige und überfurchtsame Art des alten Bücherwurms kannte, war er erstaunt, ihm an diesem Orte, in dessen nächster Nähe ein heftiger Krawall wüthete, zu begegnen und redete ihn an:

»Herr Mabeuf, gehen Sie nach Hause!«

»Weswegen?«

»Es wird was geben.«

»Ist mir recht.«

»Säbelhiebe, Flintenschüsse, Herr Mabeuf!«

»Ist mir recht.«

»Kanonenschüsse.«

»Ist mir recht. Wo geht Ihr hin?«

»Wir wollen die Regierung die Treppe hinunter schmeißen.«

»Ist mir recht.«

Mit diesen Worten schloß er sich ihnen an. Seitdem hatte er keinen Laut von sich gegeben. Er ging mit festeren Schritten und wenn ihm ein Arbeiter den Arm anbot, schüttelte er den Kopf. Zudem marschirte er fast ganz vorn und sah, während er doch fest auftrat, schläfrig aus.

»Der Alte muß den Teufel im Leibe haben!« dachten die Studenten.

Es ging auch das Gerücht in dem Trupp, der Alte sei ein ehemaliges Konventsmitglied, ein alter Königsmörder.

Sie marschirten in der Richtung der Kirche Saint-Merry.

Rekruten

Der Trupp vermehrte sich jeden Augenblick. In der Rue des Billettes, schloß sich ihm ein schon ergrauter Mann von hohem Wuchse an. Courfeyrac, Enjolras und Combeferre fiel er wegen seines kühnen, energischen Gesichtsausdruckes auf, aber Keiner kannte ihn. Gavroche, der dem Zuge voranging, pfiff, sang, summte so eifrig und mußte gegen so viel Fensterläden mit dem Kolben seines sonst unnützen Pistols schlagen und Leute ängstigen, daß er auf den neuen Ankömmling nicht achtete.

Es traf sich, daß sie durch die Rue de la Verrerie an Courfeyrac’s Haus vorbeikamen.

»Das trifft sich gut,« sagte Courfeyrac, »ich habe meine Börse vergessen und meinen Hut verloren.« Er verließ also den Zug und stürmte die Treppen hinauf in seine Wohnung, wo er sich seinen alten Hut aufsetzte und seine Börse einsteckte. Er nahm auch einen ziemlich großen Kasten, der unter seiner schmutzigen Wäsche versteckt war, und eilte dann wieder hinunter. Da hörte er, wie die Portierfrau ihn rief:

»Herr von Courfeyrac!«

»Sagen Sie mal, wie heißen Sie?« gab Courfeyrac zurück.

Sie sah ihn verdutzt an.

»Das wissen Sie doch, ich bin die Portiersfrau, Mutter Vauvain.«

»Gut. Wenn Sie mich noch einmal Herr von Courseyrac nennen, so nenne ich Sie Frau von Vauvain. Nun reden Sie. Was giebt’s?«

»Es ist Jemand da, der Sie sprechen will.«

»Wer?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wo?«

»In meiner Wohnung.«

»Mag ihn der Kuckuck holen!«

»Er wartet aber schon länger als eine Stunde auf Sie!«

In dem Augenblick kam ein kleiner, blasser, magrer, junger Bursche mit einem Gesicht voller Sommersprossen, der mit einem zerlöcherten Kittel und einer geflickten Sammthose bekleidet war und eher wie ein verkleidetes Mädchen, als wie ein junger Mann aussah, aus der Wohnung der Portierfrau heraus und sagte mit einer Stimme, die allerdings durchaus nicht wie eine Frauenstimme klang:

»Kann ich vielleicht Herrn Marius sprechen?«

»Er ist nicht zu Hause.«

»Kommt er heute Abend nach Hause?«

»Das weiß ich nicht. — Was mich anbetrifft, so komme ich heute nicht mehr nach Hause.«

Der junge Mann sah ihn fest an und fragte:

»Warum nicht?«

»Darum nicht.«

»Wo gehen Sie denn hin?«

»Was geht Dich das an?«

»Soll ich Ihnen Ihren Koffer tragen?«

»Ich gehe nach einer Barrikade.«

»Erlauben Sie, daß ich mitgehe?«

»Wenn Du willst! Die Straße steht Jedem offen.«

Mit diesen Worten ging er fort und rannte seinen Freunden nach. Als er sie eingeholt hatte, gab er Einem von ihnen den Kasten zu tragen und bemerkte erst später, daß der junge Bursche mitgekommen war.

Ein großer Trupp gelangt nicht immer dahin, wo er ursprünglich hinwollte. Sie gingen über die Kirche Saint Merry hinaus und kamen ohne selber recht zu wissen wie, nach der Rue Saint-Denis.

Corinthe

Geschichte des Restaurants Corinthe

Auf der rechten Seite der heutigen Rue Rambuteau, der Rue Mondétour gegenüber, lag ehemals die Rue de la Chanvrerie und die berühmte Schänke Corinthe.

Hier wurde 1831 eine Barrikade erbaut, über deren Geschichte wir hier etwas Licht verbreiten wollen.

Der Klarheit zu Liebe erlaube man uns wieder zu dem einfachen Mittel unsere Zuflucht zu nehmen, dessen wir uns schon bei der Beschreibung des Schlachtfeldes von Waterloo bedient haben.

Man kann sich von den Häusergruppen, die früher der Kirche Saint-Eustache gegenüber lagen, eine ziemlich genaue Vorstellung machen, wenn man sich zwischen der Rue Saint-Denis und der Markthalle ein großes lateinisches N gelagert denkt, dessen vertikale Haarstriche die Rue de la Grande Truanderie, die Rue de la Chanvrerie, und dessen Grundstrich die Rue de la Petite Truanderie vorstellen würde. Sämmtliche drei Striche des N durchschnitt die alte, schiefe und krumme Straße Mondétour. Es standen also hier auf einem etwa hundert Klafter großen Raum zwischen der Markthalle und der Rue Saint-Denis einerseits und der Rue du Cygne und der Rue des Prêcheurs andrerseits sieben Häuserinseln von verschiedener Größe und Form, die wie die Mauersteine auf einem Bauplatze nur durch schmale Ritzen von einander getrennt waren.

Wir sagen schmale Ritzen, denn wir finden keinen bessern Ausdruck, diese engen, dunklen, von achtstöckigen Häusern eingefaßten Gassen zu bezeichnen. Die Häuser waren dermaßen altersschwach, daß man sie in der Rue de la Chanvrerie und de la Petit-Truanderie mit Balken stützte, welche von einem Hause zum andern hinüberreichten. Die Straßen waren schmal; die Rinnsteine breit; das Pflaster immer feucht; die Läden dunkel wie Keller, dazu ungewöhnlich große Haufen Unrath und dicke mit eisernen Bändern umspannte Prellsteine; endlich mit ungeheuren, uralten Gittern versicherte Thore; so sah es in diesem Stadtviertel aus, ehe die Rue Rambuteau hier durchgelegt wurde.

Wer von der Rue Saint-Denis aus in die Rue de la Chanvrerie einbog, sah sie sich allmählich verengern, so daß sie einem schmalen Trichter glich. An dem vor ihm gelegnen Ende, nach der Markthalle zu, lag quer vor der Straße eine Reihe hoher Häuser und er hätte glauben können, daß er sich in einer Sackgasse befand. Die Häuserreihe begrenzte eine dunkle, kaum bemerkbare Querstraße, die Rue Mondétour, die auf der einen Seite in die Rue des Prêcheurs, auf der andern in die Rue du Cygne und la Petite Truanderie mündete. An dem Ende nun, wo die Rue de la Chanvrerie am schmalsten war und in die Rue Mondétour auslief, lag rechts an der Ecke ein Haus, das nicht so hoch wie die andern, nur zwei Stockwerke enthielt, mit dem vor dreihundert Jahren gegründeten Wirtshaus »Corinthe«.

Im Erdgeschoß die Küche und die Gaststube mit dem Ladentisch; im ersten Stock der Billard und Speisesaal; beide durch eine Wendeltreppe aus Holz mit einander verbunden; im zweiten Stock die Wohnung der Wirtsleute, zu der man vom ersten aus durch eine abgelegne Thür vermittelst einer leiterähnlichen Treppe gelangte; unter dem Dach zwei Stuben für die Mägde; unter der Gaststube der Keller, zu dem eine Treppe mit einer Fallthür führte: Dies war die Vertheilung der Räumlichkeiten in dem verräucherten Hause, wo man sogar bei Tage Licht brennen mußte.

Das Wirtshaus Corinthe also war, wie schon erwähnt, eines der Lokale, wo Courfeyrac und seine Freunde sich zu treffen und zu versammeln pflegten. Grantaire hatte diese Kneipe entdeckt, wo man nicht bloß zu trinken bekam, sondern auch speisen konnte. Man aß hier u.a. ein Gericht von gefüllten Karpfen, das die Feinschmecker weit und breit herlockte. Außerdem war es angenehm, daß der Wirt in Bezug auf den Geldpunkt überaus gemüthlich war. Bei Vater Hucheloup aß, trank, lärmte man sehr viel und bezahlte, wenn man’s darauf anlegte, wenig, unregelmäßig oder auch gar nicht. Aber willkommen war man immer.

Vater Hucheloup sah immer sehr übelgelaunt aus und es hatte den Anschein, als wollte er seine Kunden einschüchtern, sie anschnauzen, Streit mit ihnen anfangen, statt sie höflich zu bedienen. Trotzdem aber, wie gesagt, war man immer willkommen. Diese Sonderbarkeit zog auch viele Leute an, namentlich junges Volk, das den Alten gern brummen hörte. Er war nämlich Fechtlehrer gewesen. Während er aber am brummigsten aussah, konnte er plötzlich vergnügt lachen. Er war eben harmlos, wie die Tabaksdosen, welche die Form einer Pistole haben.

Seine Frau, Mutter Hucheloup, ein bärtiges Wesen, fiel durch phänomenale Häßlichkeit auf.

Um 1830 starb Vater Hucheloup und mit ihm das Geheimnis des berühmten Karpfengerichts. Seine untröstliche Wittwe, untröstlich, weil sich Niemand an sie heranwagte, setzte das Geschäft fort. Aber unter ihrem Regiment ließen die Speisen sehr viel, und der Wein, der immer schlecht gewesen war, alles zu wünschen übrig. Trotzdem fuhren Courfeyrac und seine Freunde fort, das Lokal zu besuchen — aus Mitleid, wie Laigle behauptete.

Zwei Mägde, Matelote und Gibelotte, zwei Namen, die der Speisekarte entnommen waren — ihre eigentlichen kannte kein Mensch — halfen Frau Hucheloup, die Krüge und Näpfe, in denen die Getränke und Speisen servirt wurden, auf den Tisch stellen. Matelote, eine rothhaarige, großmäulige, dicke Trutschel, die Lieblingsodaliske des seligen Hucheloup war häßlicher, als jedwedes noch so scheußliche Ungethüm der Mythologie; da es sich aber schickt, daß die Magd der Herrin in allem den Vortritt läßt, so war sie nicht ganz so greulich anzusehen, wie Frau Hucheloup. Gibelotte, eine hochaufgeschossene Person von lymphatischer Komplexion, die mit ihren schwarzumränderten Augen und schläfrig gesenkten Augenwimpern wie die verkörperte Müdigkeit aussah, bediente Jedermann, auch die andere Magd mit demselben stereotypen, matten Lächeln.

An der Thür des Speisesaals las man folgenden, von Courfeyrac gedichteten Reim:

»Wenn Du’s kannst, ponire;

Wenn Du’s wagst, dinire.«

Eine vergnügliche Vorbereitung

Laigle wohnte vorzugsweise bei Joly. Er saß in einem Heim, wie der Vogel auf einem Ast sitzt. Die beiden Freunde lebten, aßen und wohnten zusammen. Sie besaßen alles gemeinsam, sogar Fräulein Musichetta.

Am Morgen des 5. Juni waren sie zusammen nach ihrem Stammlokal, »Corinthe,« gegangen, um daselbst zu frühstücken. Joly hatte einen fürchterlichen Stockschnupfen, von dem er seinem Freunde Laigle schon etwas abgegeben hatte. Laigle’s Rock sah schäbig aus, aber Joly kleidete sich nobel.

Es war ungefähr neun Uhr Morgens, als sie das Lokal betraten.

Sie stiegen in das erste Stockwerk hinauf, wo Matelote und Gibelotte sie empfingen.

»Austern, Käse und Schinken,« kommandirte Laigle.

Sie waren die einzigen Gäste im Speisesaal.

Gibelotte, mit Joly’s und Laigle’s Gewohnheiten vertraut, stellte eine Flasche Wein auf den Tisch.

Als sie eben ihre ersten Austern vorgenommen hatten, tauchte durch die Luke, in der die Wendeltreppe endete, ein Kopf empor. Es war Grantaire.

»Ich kam zufällig hier vorbei. Da strömte mir aus dem Hause ein herrlicher Geruch von fromage de Brie entgegen und hier bin ich.«

Als Gibelotte Grantaire sah, stellte sie zwei Flaschen Wein auf den Tisch.

»Trinkst Du die beiden Flaschen allein aus?« fragte ihn Laigle.

»Was ein rechter Kerl ist, fürchtet sich nicht vor zwei Feinden. Er dreht Einem nach dem Andern den Hals um.«

Hatten die Uebrigen sich zuerst an das Eisen gemacht, so begann Grantaire mit dem Getränk. Eine halbe Flasche wurde rasch heruntergegossen.

»Hast Du denn ein Loch im Magen?« fragte Laigle.

»Na ja, wie Du eins am Ellbogen hast.«

Und nachdem er wieder sein Glas geleert hatte, rief er aus:

»Hör mal. Dein Rock hat ein ehrwürdiges Alter.«

»Deshalb sind wir auch so gute Freunde, mein Rock und ich. Er ist wunderbar nachgiebig, hindert keine von meinen Bewegungen, schmiegt sich liebevoll an mich an; ich fühle ihn nur, insofern er mich warm hält. — Kommst Du vom Boulevard?«

»Nein.«

»Wir haben den Trauerzug vorbeikommen sehen, Joly und ich.«

»Wie ruhig diese Straße ist,« fuhr dann Laigle nach einer Weile fort. »Wer würde ahnen, daß in Paris alles drüber und drunter geht? Man merkt, daß hier früher lauter Klöster waren. Dubreul und Sauval zählen sie alle auf.«

»Sprich nicht von Mönchen! Mir juckt es schon überall«, fiel Grantaire ein. Plötzlich rief er aus:

»Brrr! Ich habe eine faule Auster heruntergeschluckt. Da überkommt mich wieder die Hypochondrie. Die Austern sind schlecht, die Mägde häßlich. Ich hasse das Menschengeschlecht. Eben komme ich an der Nationalbibliothek vorbei. Diese Verschwendung von Papier und Tinte. Was wird nicht alles zusammengeschrieben! Und dabei hat es einen Dummkopf von Philosophen gegeben, der behauptete, der Mensch sei ein Zweifüßler ohne Federn. — Und dann bin ich einem Mädchen, das ich kenne, begegnet, einem Frauenzimmer, das schön ist, wie eine Frühlingsgöttin und die Elende war glücklich, hoch entzückt, im siebenten Himmel, aus dem Häuschen, weil gestern ein scheußlicher, pockennarbiger Bankier geruht, ihr einen Antrag zu machen. Ja, ja! Geldsackprosa liest sich besser als Mondscheinpoesie und die Frauen jagen lieber Goldfüchsen nach, als Idealen. Vor ein paar Wochen lebte sie von dem redlichen Erwerb ihrer Hände, war glücklich in einem Dachstübchen und hielt sich für reich, weil sie ein Bett und ein paar Blumentöpfe besaß. Und nun hat eine Nacht zu einer so unvortheilhaften Verwandlung genügt. Das Gräuliche dabei ist, daß die Kanaille heute ebenso hübsch war, wie gestern. Man konnte ihrem Gesichtchen nicht anmerken, daß sie jetzt mit einem Ekel von Kerl behaftet ist. Da lobe ich mir die Rosen! Die haben den Vorzug oder meinetwegen den Nachtheil, daß die Spuren der Raupen auf ihren Blättern sichtbar bleiben. Weh mir! es giebt keine Moral auf der Welt; das bezeugt mir die Myrthe, das Sinnbild der Liebe, der Lorbeer, das Sinnbild des Friedens, der Apfelbaum, an dessen Frucht Adam beinahe erstickt wäre, und der Feigenbaum, der Großvater der Schürzen und Unterröcke. Was das Recht und die Gerechtigkeit anbetrifft, wollt Ihr wissen, was das ist? Die Gallier begehren Clusium, Rom aber, das Clusium protegirt, fragt: ›Was hat Euch Clusium gethan?‹ Brennus antwortet: ›Was Euch Alba Longa, Fidenä, die Volsker, die Aequer, die Sabiner gethan haben: Habt Ihr Alba Longa gestohlen, so langen wir uns jetzt Clusium.‹ ›Das werdet Ihr bleiben lassen!‹ schreit Rom. Brennus, nicht faul, erobert Rom und ruft: ›Wehe den Besiegten!‹ Nun wißt Ihr, was das Recht ist. Nein, was es in der Welt für Raubvögel giebt! Ich kriege eine Gänsehaut, wenn ich daran denke!«

Er hielt Joly sein Glas hin, damit Dieser es ihm wieder füllte, trank es aus und fuhr fort, ohne daß die Andern, und auch er selber die Unterbrechung gewahr wurden:

»Brennus, der Rom nahm, war ein Raubthier, und der Bankier, der eine Grisette nimmt, ist auch eins. Hier so wenig Scham, wie dort. Also Kinder, seid gescheidt und glaubt an nichts. Es giebt nur eine Wirklichkeit: der Genuß, den Wein verschafft. Welche Meinung Ihr auch hegt, ob Ihr für den magern Hahn seid, wie der Kanton Uri oder für den fetten, wie der Kanton Claris, ist egal; nur trinket. Ihr erzählt da was über den Boulevard, den Leichenzug u. s. w. Wir bekommen also wieder einmal eine Revolution? Ich erstaune, daß der liebe Gott so arm an Auskunftsmitteln ist. Alle Augenblicke müssen die Achsen der Ereignisse geschmiert werden; sonst kommt der Weltwagen nicht vorwärts und jedes Mal, wenn er im Koth stecken bleibt, bedarf es einer Revolution, um ihn herauszuziehen. Das würde ich einfacher machen. Ich würde nicht jeden Augenblick nachhelfen, sondern das Menschengefühl glatt auf seiner Bahn dahinführen. Ich würde meinen Strumpf stricken, ohne Maschen fallen zu lassen, ohne den Faden zu zerreißen. Ich würde keine Flicken einsetzen, keine Nothbehelfe gebrauchen. Was Ihr den Fortschritt nennt, wird durch zwei Motoren in Gang gebracht, die Menschen und die Ereignisse. Aber leider muß man von Zeit zu Zeit das Außerordentliche heranziehen, um auszukommen. Das Gewöhnliche reicht gewöhnlich nicht aus: Unter den Menschen müssen Genies, unter den Ereignissen Revolutionen auftreten. Kommt doch der Himmel selber nicht mit den alltäglichen, wollte sagen, den allnächtlichen Sternen aus und engagirt von Zeit zu Zeit einen Kometen, wenn er eine Glanzrolle geben, den Menschen ein außergewöhnliches Ereigniß ankündigen will. Soll ein Caesar sterben, so rückt ihm ein Brutus mit einem Dolch und der Himmel mit einem Kometen auf den Leib. Dergleichen Ereignisse und Erscheinungen sehen allerdings nach was aus und imponiren Denen, die nicht alle werden, zeugen aber von einer recht armseligen Erfindungsgabe. Was beweist eine Revolution? Doch nur, daß man sich nicht besser zu helfen weiß, daß zwischen der Gegenwart und der Zukunft eine Lücke ist und daß man nicht versteht die beiden Enden ordentlich an einander zu knüpfen. Kurz, überall und in Allem stellt sich das Weltall und die Menschheit Armutszeugnisse aus. Schluß: Laßt uns trinken. Das ist vernünftiger, als wenn wir uns die Knochen zerschießen lassen und macht mehr Freude, als wenn man seinem Nächsten die Kehle durchschneidet. Warum gehen die Wachsköpfe nicht lieber mit einem lieben Ding am Arm hinaus ins Freie und wälzen sich auf dem duftigen Heu! Wahrhaftig, es werden zu viel Dummheiten auf der Welt begangen. Eine alte, zerbrochne Laterne, die ich vorhin bei einem Trödler sah, flößt mir den Gedanken ein, es wäre doch Zeit, daß es in den Köpfen mal aufgehellt würde. Ja, ja, das kommt davon, wenn man schlechte Austern und Revolutionen herunterschlucken muß. Da bin ich nun ganz schwermüthig geworden.«

»Weil wir gerade von Revolutionen sprechen« —, begann jetzt Joly, »Ihr wißt doch, was für eine mit Marius vorgegangen ist?«

»Er ist verliebt, aber in wen?« fragte Laigle.

»Das weiß man nicht.«

»Marius’ Liebe kann ich mir vorstellen,« spöttelte Grantaire. »Das muß etwas recht Nebelhaftes sein. Solche Dichternaturen leben von blauem Dunst. Dichter und Narr ist dasselbe. Tymbraeus Apollo. Marius und seine Maria, Maria oder Mariette, das muß ein schnurriges Pärchen sein. Ich bin nie dabei gewesen, weiß aber sehr genau, was zwischen den Beiden vorgeht. Extasen, über denen die Hauptsache vergessen wird. Keuschheit hier auf Erden und wollüstige Umarmungen im Unendlichen. Sinnliche Seelen, die sich im Aether begatten«.

Grantaire traf eben Anstalten, seiner zweiten Flasche den Garaus zu machen und vielleicht auch eine neue Rede zu halten, als aus dem viereckigen Treppenloch wieder Jemand emportauchte. Es war ein noch nicht zehnjähriger, zerlumpter, sehr kleiner Junge, mit gelbem, pfiffigem Gesicht, grellen Augen und üppigem Haarwuchs. Er war vom Regen durchnäßt und sah sehr vergnügt aus.

Der Junge redete, ohne lange zu zögern und zu suchen, obgleich er offenbar keinen von den drei Herren kannte, Laigle an:

»Sind Sie Herr Laigle?«

»Ja. Was willst Du von mir?«

»Die Sache ist die. Ein großer Blonder hat zu mir auf dem Boulevard gesagt: Kennst Du Mutter Hucheloup? Ja habe ich gesagt, Rue Chanvrerie, die Wittwe von dem Alten. Geh dahin, hat er gesagt. Du findest da Herrn Laigle. Zu dem sage: A B C. Nicht wahr, das ist ein Ulk? Er hat mir zehn Sous gegeben.«

»Joly, borge mir zehn Sous,« sagte Laigle. Und zu Grantaire gewandt: »Grantaire, borge mir zehn Sous.«

Das machte einen Franken, den Laigle dem Jungen gab.

»Wie heißt Du?« fragte er ihn.

»Navet; ich bin der Freund von Gavroche.«

»Bleibe bei uns,« sagte Laigle.

»Frühstücke mit uns.« fügte Grantaire hinzu.

Der Junge antwortete

»Geht nicht. Ich gehöre zum Trauerzuge. Ich muß ›Nieder mit Polignac!‹ schreien.«

Und mit einem gewaltigen Kratzfuß ging er davon.

»A-B-C,« sagte Laigle halblaut vor sich hin. »Das bedeutet Lamarque’s Beerdigung.«

»Der große Blonde,« erläuterte Grantaire, »ist Enjolras.«

»Gehen wir zu ihm?« fragte Laigle.

»Es regnet,« entgegnete Joly. »Ich habe geschworen, daß ich mich dem Feuer aussetzen werde, jedoch nicht dem Wasser. Ich will mir keinen Schnupfen holen.«

»Ich bleibe hier,« sagte Grantaire. »Ich sehe mir lieber das Billard da an, als einen Leichenwagen.«

»Schluß: Wir bleiben« entschied Laigle. »Dann Kinder, laßt uns trinken. Uebrigens, wenn wir auch das Begräbniß versäumen, zu der Hauerei kommen wir noch immer zurecht.«

»Ja, da will ich dabei sein!« rief Joly.

Laigle rieb sich die Hände.

»Der Rock von 1830 wird also umgeändert werden. Thut auch Noth. Er ist dem Volk zu eng geworden.«

»Eure Revolution ist mir schnurz,« meinte Grantaire. »Ich habe keine Abneigung gegen diese Regierung. Eine Krone mit einer Nachtmütze darauf ist nichts Gefährliches.«

Im Saal herrschte Dunkelheit, dicke Wolken verdrängten vollends das Tageslicht. Im Wirtshaus und auf der Straße ließ sich kein Mensch sehen, da alle Welt ausgegangen, um zu sehen, was »los« war.

»Ist es Mittag oder Mitternacht?« rief Laigle. »Gibelotte bringen Sie Licht!«

»Enjolras,« seufzte Grantaire, »hält nichts von mir. Er hat gedacht: Joly ist krank, Grantaire ist betrunken. Deshalb hat er sich an Laigle gewandt und den kleinen Navet zu ihm geschickt. Hätte er mich aufgefordert, ich wäre gekommen. Nun ist es sein eigner Schade. Auf die Weise werde ich nicht zu seinem Begräbniß gehen.«

Nachdem sie diesen Beschluß gefaßt, setzten Laigle, Joly und Grantaire den Fuß nicht mehr aus der Kneipe. Um zwei Uhr Nachmittags stand ihr Tisch voll geleerter Flaschen. Zwei Lichter beleuchteten die Scene, von denen das eine in einem mit Grünspan überzognen, kupfernen Leuchter, das andre in dem Hals einer gesprungnen Karaffe steckte. Grantaire hatte Joly und Laigle zum Trinken animirt und sie ihn in eine heitrere Stimmung versetzt.

Was Grantaire anbetrifft, so war er schon seit Mittag über den Wein, der ihm nicht anregend genug war, hinausgegangen. Bei eingefleischten Trunkenbolden erzielt der Wein nur Achtungserfolge. Seine Wirkungen waren ihm zu matt, wie die Erzeugnisse der natürlichen Magie. Seine Phantasie verlangte nach stärkeren Ausschweifungen. Da er nun weder Opium noch Haschisch bei der Hand hatte und seinen Verstand vollständig ertränken wollte, so nahm er seine Zuflucht zu einem Gemisch von Branntwein Stout und Absynth, das bekanntlich eine verheerende Wirkung auf die Nerven ausübt. Dieses schwere Getränk belastet die leichte Phantasie gleichsam mit Blei und überantwortet sie den Furien des Alps, der Nacht und des Todes.

So weit war es indeß mit Grantaire bis jetzt noch nicht gekommen, er befand sich noch in dem Stadium der ungeheuren Heiterkeit. Seine beiden Freunde blieben in dieser Hinsicht auch nicht hinter ihm zurück und stießen tapfer mit ihm an. Grantaire begleitete und bekräftigte seine tollen Scherzreden mit unsinnigen Gebärden, stützte würdevoll die linke Faust auf’s Knie, wobei sein Arm einen rechten Winkel bildete und hielt, rittlings auf einem Schemel sitzend, das volle Glas in der rechten Hand, feierliche Reden an die dicke, alte Trutschel Matelote:

»Tretet näher, durch die Weihe der Zeit geheiligte Dame, auf daß ich Euch den Eurer Schönheit gebührenden Tribut meiner Bewundrung darbringe.«

»Matelote und Gibelotte,« schrie jetzt Joly, »geben Sie Grantaire nichts mehr zu trinken. Er verjuchheit ein fürchterliches Geld. Seit heute Morgen hat er schon zwei Franken und fünfundsiebzig Centimes durchgebracht.«

Laigle war ebenfalls schwer betrunken, verhielt sich aber sehr ruhig. Er saß auf der Fensterbrüstung, wo er sich den Rücken vom Regen abkühlen ließ und betrachtete seine beiden Freunde.

Plötzlich hörte er hinter sich Lärm. Eilige Schritte nahten und der Schrei! »Zu den Waffen!« ertönte. Er wandte sich um und sah in der Rue Saint-Denis Enjolras nebst seinen Freunden und dem Schwarm Bewaffneter, der ihnen folgte.

Die Rue de la Chanvrerie war nicht sehr lang. Laigle hielt also seine beiden Hände rund um den Mund, so daß sie eine Art Sprachrohr bildeten und rief:

»Holla! Courfeyrac, holla!«

Courfeirac blieb stehen, sah Laigle, trat einige Schritte vor und fragte: »Was willst Du?« Eine Frage, die sich mit einem: »Wo gehst Du hin?« von Seiten seines Freundes kreuzte.

»Wir wollen eine Barrikade bauen!«

»Dann bleibt hier! Einen bessern Ort werdet ihr nicht finden.«

»Hast Recht.«

Und auf einen Wink von Courfeyrac stürzte sich der Haufe in die Rue de la Chanvrerie hinein.

In Grantaire’s Seele wird es Nacht

Die Stelle eignete sich allerdings wunderbar zur Anlage einer Barrikade. Das Wirtshaus beherrschte die Straße, die Rue Mondétour konnte rechts und links leicht gesperrt werden, so daß Angreifer nur von der Rue Saint-Denis aus kommen konnten. Laigle hatte in seinem Rausch ein Feldherrngenie bewiesen, das ein nüchterner Hannibal nicht hätte überbieten können.

Als der bewaffnete Haufe in die Straße hereinstürzte, verbreitete er überall gewaltigen Schrecken. Alles flüchtete und im Umsehen wurden rechts und links, von unten bis oben, sämmtliche Thüren und Fenster verschlossen, verriegelt, verrammelt. Eine alte Frau hängte in ihrem Schreck eine Matratze an einer Stietze zum Fenster hinaus, um die Gewehrkugeln aufzuhalten. Nur die Thür des Wirtshauses blieb geöffnet, aus dem einfachen Grunde, weil der Trupp es besetzt hatte. »Ach du mein Gott! Ach du mein Gott!« seufzte Frau Hucheloup.

Laigle war hinuntergegangen Courfeyrac zu begrüßen.

Joly, der am Fenster geblieben war, rief ihm zu:

»Courfeyrac, Du hättest einen Regenschirm mitnehmen sollen. Du wirst Dich gehörig erkälten.«

In wenigen Minuten wurden nun zwanzig eiserne Stangen, mit denen die Fenster versichert waren, herausgebrochen und die Pflastersteine zehn Klafter weit auf der Straße ausgerissen; Gavroche und Bahorel bemächtigten sich eines vorüberfahrenden Rollwagens; der dem Kalkbrenner Anceau gehörte, und stürzten ihn um; die drei Fässer mit Kalk, mit denen er beladen war, wurden mit Haufen von Pflastersteinen bedeckt und ihnen zur Seite die leeren Fässer, die Enjolras im Keller des Wirtshauses vorfand, aufgestellt. Feuilly dessen feine Finger nur an die Führung des Pinsels gewöhnt waren — er war Fächermaler, baute zur Stützung der Fässerreihe und des Wagens zwei Haufen von Bausteinen auf. Ueber die Fässer wurden Balken gelegt, die man von der Fassade des nächsten Hauses wegnahm. Als Laigle und Courfeyrac sich umdrehten, war schon die halbe Straße mit einem mannshohen Wall versehen. Das Volk baut schnell aus Trümmern Neues.

Matelote und Gibelotte hatten sich den Arbeitern zugesellt. Gibelotte schleppte Schutt herbei mit derselben schläfrigen Miene, wie sie die Gäste zu bedienen pflegte.

Plötzlich kam ein mit zwei Schimmeln bespannter Omnibus vorbei.

Laigle stieg über die Pflastersteine, rannte hin, zwang den Kutscher anzuhalten, und die Passagiere auszusteigen, wobei er als galanter Mann den Damen die Hand bot, schickte den Kondukteur weg und kam mit dem Wagen zurück.

»Omnibusse,« meinte er, »dürfen an Corinth nicht vorbei. Non licet omnibus adire Corinthum!

Die Pferde wurden ausgespannt und die Rue Mondétour hinuntergejagt, der Omnibus umgestürzt und zur Vervollständigung der Barrikade verwendet.

Frau Hucheloup unterdessen hatte sich fassungslos vor Angst in das erste Stockwerk geflüchtet.

Sie starrte vor sich hin, war aber unfähig, etwas wahrzunehmen und schrie so zu sagen ganz leise. Die Töne blieben ihr in der Kehle stecken.

›Die Welt geht unter,‹ stöhnte sie.

Joly küßte Frau Hucheloup auf ihren dicken, rothen und runzligen Hals. ›Ich habe immer,‹ meinte er zu Grantaire, ›den Frauenhals als etwas unendlich Zartes betrachtet.‹

Aber Grantaire überbot seinen Freund noch. Seine Phantasie nahm einen dithyrambenhaften Schwung an. Er faßte Matelote um die Taille und lachte seelensvergnügt.

›Matelote ist häßlich, von idealer Häßlichkeit, eine wahre Gorgone. Laßt Euch die Geschichte ihrer Geburt erzählen. Ein gothischer Pygmalion, der in Kathedralenfratzen arbeitete, verliebte sich in eine von ihnen, die scheußlichste von allen. Deshalb bat er Amor, er möge ihr Leben verleihen und zeugte mit ihr Matelote. Seht Sie Euch an, Freunde; sie hat chromgelbe Haare wie die Geliebte Tizians und ist ein gutes Frauenzimmer. Ich bürge Euch dafür, daß sie tapfer mit uns kämpfen wird. In jedem guten Frauenzimmer steckt etwas Heldenhaftes. Was Mutter Hucheloup betrifft, so seht Euch mal den Husarenschnurrbart an, den sie von ihrem Mann geerbt hat. Die wird auch tapfer dreinschlagen. Wenn die Beiden allein vorrücken, werden ganze Regimenter auskneifen. Kameraden, wir werden die Regierung stürzen, so gewiß und wahrhaftig, wie zwischen der Ameisen- und Margarinesäure fünfzehn andre Säuren liegen, was mir freilich egal ist. Meine Herren, mein Vater hat mich nie leiden mögen, weil ich keinen Sinn für Mathematik hatte. Ich bin nur für die Liebe und die Freiheit. Ich bin Grantaire der Gemüthliche, der Gutmüthige, der Sorglose. Da ich nie Geld habe, so entbehre ich’s auch nicht. Habe ich doch nie Vergleiche angestellt, wie es ist, wenn man welches hat und wenn man keins besitzt. Aber wenn ich reich wäre, sollte es keine Armen mehr geben. Ja, ja, wenn die guten Menschen das meiste Geld hätten, wieviel besser würde alles gehen! Denkt Euch Jesus Christus mit dem Vermögen Rothschilds. Wieviel Gutes würde er stiften! Matelote umarme mich. Du bist üppig und schüchtern. Deine Wangen sind zart und Deine Lippen reizen zum Kusse!‹

›Halt’s Maul, Du Weinfaß!‹ fuhr ihn Courfeyrac an.

Auch Enjolras, der mit dem Gewehr in der Hand auf dem Kamm der Barrikade stand, hob jetzt sein ernstes Gesicht empor. Er war, wie wir schon erwähnt haben, ein spartiatischer und puritanischer Charakter. Er hatte Seelenverwandtschaft mit den Helden, die mit Leonidas in den Thermopylen fielen, und den Fanatikern, die mit Cromwell Drogheda auf dem Scheiterhaufen verbrannten.

›Grantaire,‹ rief er, ›mach daß Du fortkommst. Hier ist nur der Freiheits- nicht der Weinrausch am Platze. Du machst der Barrikade Schande.‹

Diese zornige Rede übte eine eigenthümliche Wirkung auf Grantaire aus. Es war, als hätte er eine kalte Dousche über’s Gesicht bekommen. Sein Rausch war ihm plötzlich nicht mehr anzumerken. Er setzte sich, legte die Arme auf einen Tisch, der am Fenster stand, sah Enjolras mit einem Blicke voll unbeschreiblicher Sanftmuth an und sagte:

›Laßt mich hier schlafen!‹

›Geh und schlafe wo anders!‹ rief Enjolras.

Aber Grantaire hielt seine Augen liebevoll auf ihn geheftet und antwortete:

›Laß mich hier noch schlafen, — ehe ich in den Tod gehe.‹

Enjolras warf ihm einen geringschätzigen Blick zu.

›Grantaire, Du bist ja nicht im Stande zu wollen, zu denken, zu glauben, zu leben, zu sterben.‹

Grantaire erwiderte mit ernstem Nachdruck:

›Ich werde Dir beweisen, daß Du dich irrst.‹

Er lallte noch einige unverständliche Worte, ließ dann den Kopf schwer auf den Tisch niederfallen und schlief sofort ein.

Ein Versuch die Wittwe Hucheloup zu trösten

›Wie famos sich die Straße so ausnimmt!‹ rief Bajorel entzückt über die schöne Barrikade. ›Die Toilette paßt zu dem Tanze, den wir hier aufführen werden.‹

Courfeyrac suchte, während er das Haus ein Bischen lädirte, die Wirtin zu trösten.

›Mutter Hucheloup, Sie beklagten sich wohl neulich, daß die Polizei Sie in Strafe genommen hat, weil Gibelotte einen Teppich zum Fenster hinaus ausgeschüttelt hat?‹

›Ja, mein lieber, guter Herr Courfeyrac. Ach Du mein Gott, wollen Sie mir denn den Tisch da auch noch in Ihre greuliche Barrikade hineinfuhrwerken? Hundert Franken hat mir die Obrigkeit wegen dem Teppich und einem Blumentopf, der aus dem Dachfenster auf die Straße gefallen ist, abgenommen. Ist das nicht scheußlich?‹

›Na, sehen Sie, Mutter Hucheloup, dafür wollen wir Rache nehmen.‹

Mutter Hucheloup schien nicht zu begreifen was sie bei dieser Art Genugthuung zu gewinnen hatte. Ihre Zufriedenheit war von derselben Natur wie die, von der eine arabische Anekdote erzählt. Eine Frau hatte von ihrem Mann eine Ohrfeige bekommen und beklagte sich darüber bei ihrem Vater: ›Du bist es Deiner Ehre schuldig, daß Du ihm diesen Schimpf mit einem andern vergiltst.‹ Der Vater fragte: Auf welche Backe hast Du diese Ohrfeige bekommen?« »Auf die linke.« Der Vater gab ihr eine Ohrfeige auf die rechte Wange und sagte: »So, nun kannst Du zufrieden sein.

Sage Deinem Mann, wenn er meine Tochter, so habe ich seine Frau geohrfeigt.«

Der Regen hatte aufgehört und Rekruten waren gekommen. Einige Arbeiter brachten ein Pulverfaß, einen Korb voll Flaschen mit Vitriol, einige Karnevalsfackeln und Lampions, die von der letzten Illumination, der des königlichen Namenstages, übrig geblieben waren, eines Festes, das erst ganz kürzlich, am 1. Mai, stattgefunden hatte. Man zerbrach auch die einzige Laterne, die in der Rue de la Chanvrerie stand, und alle andern in den benachbarten Straßen.

Unter Enjolras’s, Combeferre’s und Courfeyrac’s Anleitung wurden jetzt zwei Barrikaden zu gleicher Zeit gebaut. Sie lehnten sich beide an das Wirtshaus und bildeten einen rechten Winkel mit einander, indem die eine die Rue de la Chanvrerie, die andre die Rue Mondétour nach der Rue du Cygne hin absperrte. Diese letztere, die sehr kurz war, bestand nur aus Tonnen und Pflastersteinen. Es arbeiteten hier etwa fünfzig Mann, von denen ungefähr dreißig mit Gewehren versehen waren, denn sie hatten auf ihrem Marsche bei einem Waffenschmied eine bedeutende Anleihe gemacht.

Es war eine sonderbare und bunte Schaar. Einer in einem Jackett, hatte einen Kavalleriesäbel und zwei Sattelpistolen; ein andrer, in Hemdsärmeln und mit einem runden Hut, trug ein Pulverhorn an der Seite; einen Dritten schützte ein Brustpanzer aus grauem Papier; außerdem war er mit einer Sattlerahle bewaffnet. Einer unter ihnen schrie beständig: »Kinder, laßt uns Alles bis auf den letzten Mann ausrotten und an der Spitze unsrer Bajonette sterben.« Dieser hatte kein Bajonett. Ein Andrer prangte mit dem Lederzeug und der Patronentasche eines Nationalgardisten. Man sah viele Gewehre mit Legionsnummern, wenig Hüte, keine Halstücher, viel bloße Arme, einige Picken. Alle Lebensalter und Gesichtsfarben waren vertreten; neben blassen, jungen Leuten sonnenverbrannte Arbeiter. Alle arbeiteten sehr eilig und suchten sich dabei Muth einzusprechen. Um drei Uhr Morgens würden Verstärkungen kommen; ein Regiment würde ganz gewiß zum Volke übertreten; ganz Paris sei in Begriff, zu den Waffen zu greifen. War der Inhalt der Gespräche von unheimlicher Natur, so herrschte dabei lauter Gemüthlichkeit und Herzlichkeit. Sie verkehrten wie Brüder mit einander und kannten sich doch nicht beim Namen. Denn das ist ja das Schöne bei großen Gefahren, daß sie das brüderliche Band, das alle Menschen, die sich kennen und nicht kennen, umschlingt, sichtbar machen.

In der Küche war ein Feuer angezündet worden und die Arbeiter schmelzten in einer Gießform Kannen, Löffel, Gabeln und überhaupt das ganze Zinngeschirr des Wirtshauses. Dabei wurde getrunken und neben den Weingläsern trieben sich die Zündhütchen und Rehposten auf den Tischen herum. Im Billardsaal saßen Frau Hucheloup, Matelote und Gibelotte, bei denen sich der Schrecken auf verschiedne Weise kund gab, indem die Eine stumpf, die Zweite athemlos, die Dritte munter geworden war, und sich damit beschäftigten, alte Lappen zu zerreißen und Charvie zu zupfen. Drei große Kerle mit starken Bärten und üppigem Haupthaar, bei deren bloßen Anblick die armen Frauenzimmer schon zitterten, halfen ihnen mit ihren groben Fäusten bei der feinen Arbeit.

Der hochgewachsene Mann, der sich dem Trupp in der Rue des Billettes angeschlossen hatte, machte sich nützlich, indem er an der kleinen Barrikade arbeitete. Gavroche dagegen half bei dem Bau der andern. Was den jungen Mann betrifft, der in Courfeyrac’s Hotel auf ihn gewartet, und nach Marius gefragt hatte, so war er ungefähr seit der Umstürzung des Omnibus verschwunden.

Gavroche, der ganz in seinem Elemente schien, ließ es sich angelegen sein, dem gemeinsamen Werke Leben einzuhauchen. Er ging hin und her, stieg und sprang auf und nieder, sang, lachte, scherzte. Er war offenbar dazu da, den Muth der Andern zu heben. Was für ein Sporn trieb ihn an? Sein Elend. Was für Flügel trugen ihn? Seine gute Laune. Er war wie ein Wirbelwind, man sah und hörte ihn überall gewissermaßen zu gleicher Zeit. Seine Allgegenwart konnte beinahe verstimmen, da sie Niemanden zur Ruhe kommen ließ. Von ihm angestachelt, arbeitete Alles rüstiger. Er feuerte die Trägen an, munterte die Ermüdeten auf, machte die Träumer ungeduldig, setzte die Einen in Athem, stimmte die Andern lustig oder zornig und summte um Alle herum wie eine Mücke, die ein ganzes Gespann zu größerer Eile zwingt.

»Munter! Munter! Noch mehr Steine! Noch mehr Fässer! Noch mehr Dinger! Wo sind noch welche? Eine Kiepe mit Schutt her, damit wir das Loch da zustopfen können! Nein, ist Eure Barrikade klein! Sie muß durchaus höher werden. Steckt mehr hinein, schmeißt mehr drauf, bringt alles her, was Ihr findet. Haut das ganze Haus kurz und klein. Eine Barrikade ist ein Sammelsurium. Da, seht mal die Glasthür hier, die können wir brauchen!«

»Eine Glasthür?« Die Arbeiter lachten. »Nanu? Wozu kann die denn nützen? Erkläre uns doch das, du Lilliputer!« rief ein Student.

»Selbst dummer Puter!« gab Gavroche mit stolzer Ueberlegenheit zurück. »Eine Glasthür schützt eine Barrikade nicht davor, daß sie angegriffen wird, hindert aber sehr, wenn man hinaufklettern will. Habt Ihr denn nie Aepfel aus einem Garten gestibitzt, wo die Mauer oben mit Glas gespickt war? Verlaßt Euch darauf, die Spießbürger werden sich hüten und in eine Glasthür hineintreten. Auf die Weise lassen sie sich die Hühneraugen nicht gern abschneiden. Kinder, Kinder, was habt Ihr wenig Gripps!«

Großen Aerger verursachte ihm sein Pistol ohne Hahn. Er rannte von dem Einen zum Andern und schrie: »Ein Gewehr! Warum kriege ich kein Gewehr?«

»Du und ein Gewehr!« sagte Combeferre achselzuckend.

»Na, warum denn nicht? 1830, als wir mit Karl X. ein Hühnchen pflückten, habe ich mit einem Gewehr geschossen.«

Enjolras zuckte die Achseln.

»Erst die Männer, dann können die Kinder welche bekommen.«

Gavroche wandte sich stolz nach ihm hin und antwortete:

»Wenn Du vor mir fällst, nehme ich Deines!«

»Dummer Junge!« meinte Enjolras.

»Na, Du kannst Dir auf Deine Klugheit auch nicht zu viel einbilden!«

In diesem Augenblick lenkte ein in die Straße verirrtes Gigerl die Aufmerksamkeit auf sich und machte dadurch dem Streit ein Ende.

Gavroche rief ihn an:

»Heda, junger Mann! Wie wär’s, wenn Sie auch was fürs Vaterland thäten?«

Das Gigerl wollte aber vom Vaterlande nichts wissen und machte sich schleunigst aus dem Staube.

Die Vorbereitungen

Die damaligen Zeitungen, laut denen die Barrikade der Rue de la Chanvrerie, eine »fast uneinnehmbare Befestigung,« wie sie sagten, die Höhe eines ersten Stockswerks erreichte, haben sich geirrt. In Wirklichkeit war sie durchschnittlich nur sechs bis sieben Fuß hoch. Sie war so eingerichtet, daß die Vertheidiger sich dahinter verstecken, sich darüber lehnen und sie selbst vermittelst einer vierfachen Reihe von Pflastersteinen, die Stufen bildeten, von innen aus, ersteigen konnten. Nach außen zu war sie kunstvoll genug gebaut, sodaß sie kaum erklimmbar schien. Zwischen der Häuserreihe und demjenigen Ende der Barrikade, das vom Wirtshause am weitesten ablag, war eine Lücke gelassen, durch die ein Mann hindurch konnte, wodurch der Besatzung ein Ausfall ermöglicht wurde. Die Deichsel des Omnibus war in die Höhe gerichtet, mit Stricken befestigt und an dem oberen Ende derselben wehte eine rothe Fahne.

Die kleinere Barrikade Mondétour, konnte man, da sie hinter dem Wirtshause versteckt lag, von der Rue de la Chanvrerie aus nicht sehen. Beide Befestigungen zusammen bildeten eine richtige Redoute. Dasjenige Stück der Rue Mondétour, das in die Rue des Prècheurs mündet, und nach der Markthalle führt, zu versperren, hielten Enjolras und Courfeyrac nicht für nöthig. Sie wollten wahrscheinlich eine Kommunikation nach außen frei lassen und fürchteten nicht, daß ein Feind sich durch die gefährlich schmale Rue des Prêcheurs hindurchwagen würde.

Abgesehen von diesem freigelassenen Ausgang, der sich mit dem Ast eines Laufgrabens vergleichen ließ, — und wenn man die schmale Lücke auch berücksichtigt, — bot das Innre der Barrikade, in dem das Wirtshaus einen vorspringenden Winkel bildete, dem Blick ein unregelmäßiges nach allen Seiten hin geschlossenes Viereck. Zwischen der großen Befestigung und den hohen Häusern, die an dem Ende der Rue de la Chanvrerie standen, lag ein zwanzig Schritt breiter Zwischenraum, so daß die Barrikade gleichsam an diese sämtlich bewohnten, aber von oben bis unten verschlossenen Häuser sich anlehnte.

Dies ganze Werk wurde binnen noch nicht einer Stunde ausgeführt, ohne daß sich Soldaten sehen ließen. Die wenigen Leute, die sich jetzt noch in die Rue Saint-Denis wagten, eilten, wenn sie die Barrikade in der Rue de la Chanvrerie erblickten, ängstlich weiter.

Als die beiden Barrikaden fertig und die Fahne aufgepflanzt war, wurde ein Tisch aus dem Wirtshaus herbeigeschafft und Courfeyrac stieg hinauf. Dann brachte Enjolras den viereckigen Kasten und Courfeyrac machte ihn auf. Er war mit Patronen angefüllt. Bei diesem Anblick erbebten auch die Tapfersten und beobachteten einen Augenblick feierliches Stillschweigen.

Courfeyrac vertheilte sie lächelnd.

Jeder bekam dreißig Patronen. Viele hatten Pulver und machten noch andre mit den gegossenen Kugeln; Was das Pulverfaß anbetrifft, so stand es auf einem besondern Tisch unweit der Thür, und wurde reservirt.

Die Signale ließen sich noch immer und auf allen Seiten hören, aber die Barrikadenkämpfer achteten nicht mehr auf das eintönige Geräusch, das bald näher kam, bald sich entfernte.

Nun luden sie alle zusammen, ohne Hast, mit feierlichem Ernst die Gewehre und Karabiner. Enjolras stellte außerhalb der Barrikaden drei Schildwachen auf, eine in der Rue de la Chanvrerie, die zweite in der Rue des Prêcheurs, die dritte in der Rue de la Petite-Truanderie.

Dann erwarteten sie entschlossen und ruhig den Feind.

Auf der Wacht

Wie füllten sie die Zeit aus, die ihnen noch vergönnt war?

Wir müssen es erwähnen, da es eine geschichtliche Thatsache ist.

Wahrend die Männer Patronen machten und die Frauen Charpie zupften, während eine große Kasserolle mit geschmolznem Zinn und Blei über einem Kohlenbecken dampfte, während die Schildwachen mit dem Gewehr im Arm auf und ab gingen und der unermüdliche Enjolras ihnen auf den Dienst paßte, suchten, wie in den friedfertigeren Tagen ihrer Studienzeit, Combeferre, Courfeyrac, Jean Provaire, Feuilly, Laigle, Joly, Bahorel und noch einige Andre sich gegenseitig auf und deklamirten Angesichts des nahenden Todes Liebesgedichte.

Während derselben Zeit wurde an der kleinen Barrikade ein Lampion angehängt. Auf der großen brachte man in einer Art Käfig, der aus Pflastersteinen gemacht und zum Schutze gegen den Wind auf drei Seiten geschlossen war, eine Wachsfackel an, deren grelles Licht die rothe Fahne schaurig beleuchtete, während die Straße und die Barrikade in Dunkelheit gehüllt blieben.

Der Rekrut von der Rue des Billettes

Schon war es tiefe Nacht und noch ließ sich kein Feind sehen, man hörte nur verworrenes Geräusch, bisweilen auch Gewehrgeknatter, aber kein heftiges, fortgesetztes, und dies auch nur ganz in der Ferne. Diese Frist, die sich in die Länge zog, war ein Beweis, daß die Regierung sich Zeit ließ und ihre Kräfte sammelte. Die gegen die fünfzig vorgehen sollten, zählten sechzig Tausend.

Enjolras überfiel jene Ungeduld, die starken Seelen Angesichts entscheidungsvoller Ereignisse eigen ist. Er empfand das Bedürfnis irgend etwas zu unternehmen und suchte zu diesem Zweck Gavroche auf. Der rührige Junge war in die Gaststube hinaufgegangen und fabrizirte Patronen beim unsichern Schein zweier Talglichter, die er vorsichtshalber auf den Ladentisch gestellt hatte. Von außen war dies Licht nicht zu sehen, auch hatten die Insurgenten in den oberen Stockwerken jedwede Beleuchtung unterlassen.

Gavroche’s Aufmerksamkeit war aber in diesem Augenblick durch etwas Anderes, als die Patronenfabrikation in Anspruch genommen.

Es war nämlich der Mann von der Rue des Billettes in die Gaststube getreten und hatte sich an denjenigen Tisch gesetzt, wo das wenigste Licht hindrang. Diesem Mann, der bisher seine Umgebung und die Vorgänge beim Barrikadenbau mit auffälliger Genauigkeit geprüft hatte, jetzt aber sich theilnahmlos verhielt und nur seine Gedanken zu sammeln schien, folgte Gavroche mit den Augen und bewunderte neidisch das große Gewehr, daß dem Glücklichen bei der Vertheilung der erbeuteten Waffen zugefallen war. Plötzlich aber, nachdem er das Gesicht des Unbekannten schärfer ins Auge gefaßt hatte, fuhr er voll Erstaunen in die Höhe. Dann schlich er sich näher an ihn heran, trippelte hinter seinem Rücken herum und sah ihn sich von der Seite an, als wollte er sich Gewißheit verschaffen, daß er sich nicht geirrt habe. »Ist’s möglich! — Er ist’s doch nicht! — Doch, doch!« lauteten etwa die Zweifel und Behauptungen, die man ihm vom Gesicht ablesen konnte.

Während seine Gedanken noch mit dem Unbekannten beschäftigt waren, trat Enjolras an Gavroche heran:

»Du bist ein kleiner Kerl, den Niemand beachten wird. Schleiche Dich an den Häusern entlang und sieh Dich in den benachbarten Straßen um, was draußen vorgeht.«

Gavroche richtete sich auf und warf sich in die Brust.

»So, so! Also die Kleinen sind doch zu etwas gut? Ein wahres Glück! Und manchmal kann man sich sogar auf die Kleinen besser verlassen, als auf die Großen!«

Hier senkte er die Stimme zum Flüsterton herab, zeigte auf den Mann von der Rue Billettes und sagte:

»Sehen Sie Sich doch mal den Großen da an!«

»Nun, was ist’s mit dem?«

»Das ist ein Spitzel.«

»Bist Du Deiner Sache sicher?«

»Es ist noch keine vierzehn Tage her, da hat er mich bei den Ohren von dem Karnieß des Pont-Royal, wo ich spazieren ging, heruntergehoben.«

Enjolras ging rasch von dem Jungen weg und flüsterte einem Hafenarbeiter einige Worte zu. Der Mann ging aus der Gaststube hinaus und kehrte fast sofort in Begleitung dreier anderer Arbeiter zurück. Die vier breitschultrigen, starken Männer stellten sich, ohne die Aufmerksamkeit des Unbekannten zu erregen, hinter seinem Stuhl auf und hatten augenscheinlich Lust, über ihn herzufallen.

Nun trat Enjolras an den Tisch heran und fragte:

»Wer sind Sie?«

Bei dieser plötzlichen Frage fuhr der Unbekannte zusammen. Er versenkte seinen Blick tief in Enjolras’s aufrichtige Augen und schien dessen Gedanken zu verstehen. Er lächelte mit unnachahmlicher Geringschätzung und Entschlossenheit und antwortete:

»Ich sehe schon. Nun ja!«

»Sie sind ein Polizeispion?«

»Ich bin Beamter.«

»Sie heißen …«

»Javert.«

Enjolras gab den vier Arbeitern ein Zeichen. Im Nu, noch ehe Javert sich einmal umdrehen konnte, war er niedergeworfen, gebunden und visitirt.

Sie fanden bei ihm eine kleine, runde, zwischen zwei Gläser geklebte Karte mit dem französischen Wappen und mit der Aufschrift: »Javert, Polizeiinspektor.« Auch trug dieselbe die Namens-Unterschrift des damaligen Polizeipräsidenten Gisquet.

Nach der Visitirung band man ihn an einen Pfeiler der Gaststube fest.

»Dies Mal hat die Maus die Katze gefangen,« bemerkte jetzt Gavroche, der dabei gestanden und mit dem Kopf nickend, seinen Beifall kund gegeben hatte.

Der Vorgang wickelte sich so rasch ab, daß die Insurgenten innerhalb und außerhalb des Wirtshauses erst darauf aufmerksam wurden, als schon alles beendet war. Javert hatte keinen Schrei, keinen Hülferuf ausgestoßen. Als sie ihn an dem Pfahl stehen sahen, eilten Courfeyrac, Laigle, Joly, Combeferre und Diejenigen, die hinter den Barrikaden standen, herbei.

So fest gebunden, daß er sich nicht bewegen konnte, zeigte Javert die unerschrockne Seelenruhe eines Menschen, der sich keiner Lüge bewußt ist.

»Sie werden zehn Minuten, ehe die Barrikade genommen wird, erschossen werden,« erklärte Enjolras.

»Warum nicht gleich?« herrschte ihn Javert stolz an.

»Wir schonen das Pulver.«

»Ein Messerstich thut’s auch.«

»Herr Spion, wir sind Richter und keine Mörder.«

Darauf wandte er sich an Gavroche:

»Du thue, was ich Dir gesagt habe.«

»Gleich! Aber Sie geben mir sein Gewehr, nicht wahr? Einen Kuhfuß ist der Dienst wert, den ich Euch geleistet habe.«

Mit diesen Worten grüßte er militärisch und eilte vergnügt davon.

Le Cabuc

Die Schilderung der tragischen Ereignisse, die wir hier vor den Augen des Lesers entrollen, würde keine vollständige sein, wollten wir einen Vorfall unerwähnt lassen, der sich bald nach Gavroche’s Aufbruch ereignete.

Ein Insurgentenhaufen gleicht bekanntlich einer Lawine: Je weiter er sich bewegt, desto größer wird er, und die Individuen, die ihn bilden, fragen einander nicht, wo sie herkommen. Unter denen, die sich Enjolras’s Schaar angeschlossen hatten, befand sich ein Kerl mit einer abgenutzten Lastträgerjacke, der sich überlaut und wüthig gebärdete. Dieser Mensch, der mit Namen oder Beinamen Le Cabuc hieß, war betrunken oder stellte sich wenigstens so und hatte sich mit einigen Andern an einen Tisch gesetzt, den sie aus dem Wirtshaus auf die Straße getragen hatten. Während nun dieser Cabuc seine Tischgenossen mit Wein regalirte, betrachtete er nachdenklich das fünfstöckige Haus, daß der großen Barrikade parallel und der Rue Saint-Denis gegenüber lag. Plötzlich rief er aus:

»Wißt Ihr was, Leute? Das Haus da sollte man besetzen. Von den Fenstern aus beherrscht man die ganze Straße und es müßte mit dem Teufel zugehn, wenn sich einer da hineinwagte.«

»Ja, aber das Haus ist geschlossen,« entgegnete Einer.

»Dann müssen wir anklopfen.«

»Es wird uns Niemand aufmachen.«

»Dann schlagen wir die Thür ein.«

Le Cabuc eilt an die Thür, die mit einem gewaltigen Klopfer versehen war, und bearbeitet sie mehrere Male mit Nachdruck. Aber Niemand macht ihm auf.

»Ist Jemand hier?« ruft er.

Nichts rührt sich.

Da ergreift er ein Gewehr und rennt mit dem Kolben gegen die Thür. Aber sie war aus Eichenholz und inwendig mit Blech und Eisen beschlagen, wie ein Festungsthor. Das Haus erzitterte wohl unter den Kolbenstößen, die Thür aber gab nicht nach.

Wahrscheinlich bekamen aber die Leute drinnen Angst, denn im dritten Stock that sich ein Lukenfenster auf und ein Talglicht in der Hand, lehnte sich ein erschrockner Mann in grauen Haaren, der Portier, heraus.

»Was wünschen Sie, meine Herren?«

»Mach die Hausthür auf.«

»Darf ich nicht, meine Herren.«

»Mache trotzdem auf.«

»Geht nicht, meine Herren.«

Le Cabuc legte sein Gewehr an und zielte nach dem Portier, da unten aber völlige Dunkelheit herrschte, sah ihn der Alte nicht.

»Willst Du aufmachen? Ja oder nein?«

»Nein, meine Herren.«

»Du sagst Nein?«

»Ich sage Nein, liebe …«

Er beendete den Satz nicht. Der Schuß war losgegangen, die Kugel drang ihm unter dem Kinn hinein und durch die Halsader aus dem Genick wieder hinaus. Der Greis sank zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Das Licht entfiel seiner Hand und erlosch, der Kopf des Getöteten blieb zur Luke heraushangen.

»So!« rief Le Cabuc und ließ seinen Gewehrkolben auf das Straßenpflaster herabfallen.

Kaum hatte er dies Wort ausgesprochen, so fühlte er auf seiner Schulter eine Hand, die ihn wuchtig niederdrückte, und eine Stimme hinter ihm rief:

»Auf die Knie!«

Der Mörder wandte sich um und sah Enjolras’ blasses und strenges Antlitz vor sich. Der junge Mann war bei dem Knall des Gewehres herbeigeeilt und hielt jetzt mit der linken Hand Le Cabuc fest.

»Nieder auf die Knie!« wiederholte er.

Und mit unwiderstehlicher Gewalt bog der schmächtige, junge Mensch den vierschrötigen Lastträger wie ein Schilfrohr nieder und zwang ihn, in den Koth zu knieen. Mit seinem Frauengesicht, seinen weit geöffneten Nasenflügeln, seinen gesenkten Augenlidern hatte sein griechisches Profil jetzt etwas, das an die Statuen der antiken Themis erinnerte.

Alle waren herbeigeeilt und bildeten feierlich schweigend in einiger Entfernung einen Kreis um den Mörder und seinen Richter.

Le Cabuc wagte nicht mehr, sich zu wehren und zitterte am ganzen Leibe. Enjolras ließ ihn los und zog seine Uhr hervor.

»Sammle Dich. Bete oder denke. Ich gebe Dir eine Minute Frist.«

»Gnade!« winselte der Mörder, ließ den Kopf hängen und stieß einige unartikulirte Verwünschungen hervor.

Enjolras wandte die Augen nicht von der Uhr ab, bis die Zeit verstrichen war, und steckte alsdann die Uhr wieder in die Tasche. Dann packte er Le Cabuc, der sich heulend vor Angst an seine Knie drückte, bei den Haaren und hielt ihm dem Lauf seines Pistols an das Ohr. Viele unter den entschlossenen Männern, die sich so ruhig auf ein gefährliches Wagniß eingelassen hatten, wandten sich schaudernd ab.

Der Schuß knallte, der Mörder fiel mit der Stirn nach vorn auf die Erde und Enjolras richtete sich in die Höhe, indem er sich mit der Ruhe des guten Gewissens im Kreise umsah.

Dann stieß er die Leiche mit dem Fuße an und rief:

»Schafft ihn fort.«

Drei Mann eilten herbei, hoben den Elenden, der noch zuckte, empor und warfen ihn über die kleine Barrikade in die Rue Mondétour.

Enjolras aber nahm eine nachdenkliche Miene an. Hehre Schwermuth verdüsterte die Heiterkeit seines Gemüths.

»Bürger,« sprach er, während Alles achtungsvoll schwieg, »was der Mann gethan hat, war scheußlich, and was ich gethan habe, ist schrecklich. Er hat getötet; deshalb habe ich ihn wieder getötet. Ich mußte es thun, denn der Aufstand bedarf der Disciplin. Der Mord ist unter den vorliegenden Verhältnissen noch mehr Verbrechen, als sonst. Wir dürfen der Revolution keine Schande machen, wir sind die Priester der Republik, die Hostien der Pflicht und es darf nicht sein, daß man die Sache, für die wir streiten, übel beleumde. Deshalb habe ich den Mörder gerichtet und zum Tode verurtheilt. Mich, der ich gezwungen war so zu handeln, so sehr es meinen Gefühlen widerstritt, habe ich gleichfalls gerichtet und ihr werdet baldigst sehen, welche Strafe ich über mich verhängt habe.«

Die Zuhörer erbebten.

»Wir werden Dein Schicksal theilen,« rief Combeferre.

»Es sei,« hob Enjolras wieder an. »Noch eins. Indem ich den Verbrecher strafte, habe ich der Nothwendigkeit, dem Fatum gehorcht. Aber diese Nothwendigkeit kann nur in der alten Weltordnung bestehen; das Gesetz des Fortschritts will, daß das Fatum vor der brüderlichen Liebe verschwinde. Der Augenblick ist freilich schlecht gewählt, das Wort Liebe auszusprechen. Trotzdem thue ich es und preise die Liebe, denn ihr gehört die Zukunft. Dermaleinst wird die Unwissenheit, die den Menschen zu verbrecherischen Handlungen verleitet, und dies Gesetz der Wiedervergeltung, das der Gewalt die Gewalt entgegensetzt, nicht mehr die Welt regieren, werden kein Satan und kein Erzengel Michael mehr mit einander kämpfen. Dann wird Niemand seinen Nebenmenschen töten, dann wird die Menschheit der Liebe fähig sein. Er wird kommen, der Tag, Freunde, wo Alles Eintracht, Harmonie, Licht, Freude und Leben sein wird. Und damit dieser Tag einst komme, deshalb gehen wir in den Tod.«

Später, nach dem Kampfe, als die Leichen nach der Morgue gebracht und visitirt wurden, fand man bei Le Cabuc eine Polizistenkarte. Der Verfasser hat 1848 den diesbezüglichen, 1832 abgefaßten Bericht an den Polizeipräsidenten in Händen gehabt.

Darf man einer, bei der damaligen Polizei verbreiteten, sehr sonderbaren, aber wahrscheinlichen Meinung beipflichten, so war Le Cabuc kein Andrer als Claquesous. Thatsache ist, daß seitdem von dem gefürchteten Raubmörder keine Rede mehr war.

Marius unter den Insurgenten

Von der Rue Plumet nach der Rue Mondétour

Die Stimme, die ihn in der Dämmerung nach der Barrikade der Rue de la Chanvrerie gerufen hatte, kam Marius wie eine Botin des Schicksals vor. Er wollte sterben und die Gelegenheit dazu war gefunden; er klopfte an das Thor des Todes und eine unbekannte Hand warf ihm den Schlüssel dazu hin. Seine Verzweiflung konnte der Einladung dazu nicht widerstehn; er eilte aus dem Garten hinaus und sagte: »Vorwärts!«

Traf es sich doch auch zugleich, daß er Waffen, die Pistolen, die ihm Javert geliehen hatte, bei sich trug!

Von der Rue Plumet aus ging er schnellen Schrittes den Boulevard entlang, über den Pont des Invalides nach den Champs-Elysées und in die Rue de Rivoli hinein. Hier standen die Läden offen und in den Colonaden brannte das Gas; man sah Frauen, die ihre Einkäufe besorgten und im Café Laiter, sowie in der englischen Pastetenbäckerei sah man Gäste. Also das gewohnte Treiben, nur daß von dem Hotel des Princes und Meurice einige Postkutscher im Galopp davonfuhren.

Marius ging durch die Passage Delorme nach der Rue Saint-Honoreé. Hier waren die Läden geschlossen, die Kaufleute standen vor den halbgeöffneten Thüren und plauderten; auf der Straße gingen Leute; die Laternen waren angezündet und die Fenster in den Häusern wie gewöhnlich erleuchtet. Auf dem Platz des Palais-Royal lag Kavallerie. Marius schritt die Rue Saint Honoré entlang. Je weiter er sich vom Palais-Royal entfernte, desto weniger Licht sah er hinter den Fenstern. Die Läden waren vollständig geschlossen, die Straße wurde dunkler und in demselben Maße nahm die Menschenmenge zu. Man sah hier Niemanden sprechen und dennoch vernahm man starkes Stimmengesumm.

Bei der Fontaine des Arbre-See waren »Aufläufe«, unbewegliche Gruppen von unheimlichen Leuten, die sich unter den Gehenden und kommenden wie Felsblöcke in einem strömenden Wasser ausnahmen.

Am Eingange in die Rue des Prouvaires staute sich die Menge zu einer kompakten, fast undurchdringlichen Masse.

Schwarze Röcke und runde Hüte bekam man hier fast garnicht mehr zu sehen, nur Kittel, Jacken, Mützen. Man hörte ein dumpfes drohendes Gemurmel und, obgleich keiner sich von der Stelle bewegte, ein Gestampf im Koth. Jenseit dieser Menschenmasse sah man in den Straßen keine erleuchtete Fensterscheibe mehr, nur noch einsame und allmählich abnehmende Reihen von Laternen. Die damaligen Laternen sahen aus wie große, rothe, an Stricken aufgehängte Sterne und der Schatten, den sie auf dem Pflaster bildeten, hatte die Gestalt einer gewaltigen Spinne. Diese Straßen waren nicht menschenleer. Man unterschied Gewehrpyramiden, Bajonette, die sich hin und herbewegten, bivouakirende Soldaten. Neugierige drangen in diese Region nicht vor.

Aber Marius verzweifelter Wille ließ sich durch solche Hindernisse nicht abschrecken. Er fand Mittel und Wege, durch die dichtgedrängte Volksmenge, durch den Bivouak hindurchzukommen, sich der Aufmerksamkeit der Patrouillen zu entziehen, die Schildwachen zu umgehen. Er machte einen Umweg durch die Rue de Béthisy und die Rue des Bourdonnais, um nach der Markthalle zu gelangen. In der Zone, wo er sich jetzt befand, sah es grausig und unheimlich aus. Keine Menschenseele, kein Licht in den Häusern, keine Laternen in den Straßen. Nur ein Mal hörte er Schritte. Aber ob derjenige, der an ihm vorüberrannte, ein Mann oder eine Frau war, hätte er nicht sagen können.

In einer Straße, die er für die Rue de la Poterie hielt, stieß er auf ein Hinderniß. Er betastete den Gegenstand mit den Händen und fand, daß es ein umgestürzter Karren war; mit den Füßen trat er in Vertiefungen und auf Haufen von Pflastersteinen. Es war eine angefangne, von ihren Erbauern wieder aufgegebne Barrikade. Marius kletterte über dieselbe hinüber und ging weiter, immer zwischen den Prellsteinen und der einen Häuserreihe, bis er nicht weit von der Barrikade etwas Weißes sah. Als er näher kam, erkannte er, daß es zwei Schimmel waren, dieselben, die Laigle am Morgen von dem Omnibus abgespannt hatte. Die armen Pferde waren den ganzen Tag über von Straße zu Straße herumgeirrt und standen jetzt mit jener müden Geduld der Thiere, denen die Handlungen der Menschen so unverständlich sind, wie den Menschen die Beschlüsse der Vorsehung.

Weiterhin pfiff dicht bei Marius eine Kugel vorbei, ohne daß er errathen konnte, woher sie kam, und durchbohrte ein Barbierbecken über seinem Kopf.

Der Flintenschuß bewies wenigstens, daß es in dieser Gegend noch Menschen gab; aber weiterhin war alles still und öde.

Nichtsdestoweniger setzte Marius seinen Weg fort.

Paris aus der Eulenperspektive

Wer in jener Nacht mit Fledermaus- oder Uhuflügeln über Paris hätte hinschweben können, würde ein unheimlich düstres Bild vor Augen gehabt haben.

Das ganze, alte Markthallenviertel, das gleichsam eine Stadt in der Stadt ist, wo unzählige, schmale Straßen sich kreuzen und wo die Insurgenten sich eine Festung und einen Waffenplatz geschaffen hatten, hob sich, von oben betrachtet, aus dem Lichtmeer rings umher wie eine dunkle Höhle, wie ein schwarzer Abgrund ab. Die unsichtbare Polizei der Aufständischen sorgte dafür, daß hier überall Ordnung, d. h. Dunkelheit herrschte. Bestand doch ihre Taktik nachgedrungen darin, daß sie ihre numerische Schwäche verhehlten und sich durch ihre Unsichtbarkeit gefährlicher machten. Nach Einbruch der Dunkelheit war auf jedes, von innen erleuchtete Fenster geschossen worden. Auf diese Weise erreichte man, daß alle Lichter gelöscht wurden, wobei freilich auch Menschen ums Leben kamen. Deshalb herrschte in den Häusern auch nur Schrecken und Trauer und auf den Straßen andachtsvolle Stille. Man konnte nicht einmal die langen Fenster- und Häuserreihen, die Dächer und Schornsteine, das nasse Pflaster und die Wassertümpel auf den Straßen sehen. Allerdings hätte das Auge des Beschauers von oben in diesen Schattenmassen hier und dort undeutlich erleuchtete Stellen, unregelmäßige Linien, sonderbare Umrisse erkannt, an Orten nämlich, wo Barrikaden angelegt waren. Alles Uebrige war in ein nebliges, dunstiges Dunkel gehüllt, aus dem schauerlich der Turm Saint-Jacques, die Kirche Saint-Merry und einige andre Riesengebäude hervorragten.

Rings um dieses öde Labyrinth, in einer helleren Zone, glänzten Bajonette und Säbel, rollten Geschütze und legte sich langsam ein immer engrer Gürtel um das Hauptquartier der Aufständischen.

In dieser dunklen Höhle mußten die Regierung und die Insurrektion, die Bürgerwehr und die politischen Gesellschaften, die Bourgeoisie und das Volk zum Entscheidungskampfe auf einander stoßen. Für beide Theile gab es keinen andern Ausweg, als den Feind vernichten oder selber zu Grunde gehn.

Am äußersten Rande

Um die Markthallen herum fand Marius alles noch stiller und öder, als in den angrenzenden Straßen. Es war, als sei die eisige Ruhe des Grabes aus der Erde emporgestiegen und habe sich unter dem Himmel ausgebreitet.

Indessen hob ein rother Lichtschein die hohen Dächer der Häuser, die in der Rue de la Chanvrerie den Blick nach der Kirche Saint Eustache hin hemmten, von dem dunklen Hintergrunde ab. Er kam von der Fackel, die auf der Barrikade des Wirtshauses Corinthe brannte. Nach diesem Licht lenkte Marius seine Schritte und gelangte so in die Rue des Prêcheurs. Die Schildwache der Insurgenten, die am andern Ende der Straße stand, bemerkte ihn nicht. In dem Gefühl, daß das, was er suchte, nahe war, schlich er auf den Fußspitzen weiter und sah vorsichtig um die Ecke in den con Enjolras offen gelassenen Theil der Rue Mondétour hinein.

Jenseit des Schattens, in dem er stand, erblickte er ein Stück des Wirtshauses und, beim Schein eines Lampions, Männer mit Gewehren auf den Knien auf der Erde sitzen.

Er war am Ziel.

Da setzte sich der unglückliche, junge Mann auf einen Stein, kreuzte die Arme und dachte an seinen Vater, an den heldenmüthigen Oberst Pontmercy.

Er sagte sich, daß jetzt seine Zeit gekommen sei, daß er jetzt feindlichen Kugeln und Bajonetten entgegenstürmen, daß auch er sich jetzt in den Krieg stürzen werde.

Aber dieser Krieg war ein Bürgerkrieg und Marius schauderte.

Da erinnerte er sich an den Degen seines Vaters, der an einen Trödler verschachert worden war, und dessen Verlust er so sehr bedauert hatte. Jetzt war er andern Sinnes. Welch ein Glück, daß die edle Waffe nicht mehr da war, nicht gegen Franzosen gezückt, nicht durch den Kampf gegen das Vaterland entweiht werden konnte.

Bei diesem Gedanken weinte er bitterlich.

Aber was sollte er thun? Ohne Cosette konnte er nicht leben. Nun sie fortgegangen war, mußte er doch sterben. Hatte er ihr doch sein Ehrenwort gegeben, daß ihre Abreise seinen Tod nach sich ziehen werde. Sie war trotzdem gegangen; mithin mußte es ihr recht sein, wenn er in den Tod ging. Außerdem war es ja auch klar, daß sie ihn nicht mehr liebte; sonst wäre sie nicht so davongegangen, ohne ihn zu benachrichtigen, ohne ihm zu schreiben. Seine Adresse wußte sie ja. Wert hatte das Leben also nicht mehr für ihn. Und konnte er jetzt noch zurückweichen, wo er der Gefahr schon gegenüberstand? Wie? Er sollte, nun er vor der Barrikade stand, sagen: »Ach, das geht ja nicht; es ist ja ein Bürgerkrieg!« und zitternd davonlaufen? Sollte in jeder Hinsicht wider die Gebote der Ehre handeln, seine Freunde, die ihn gerufen, im Stich lassen und das Wort brechen, das er Cosette gegeben? Nein! sogar sein Vater, der nie gegen Frankreich gekämpft hatte, würde, wenn er ihn jetzt sehen könnte, ihm zurufen: »Vorwärts, Memme!«

Plötzlich richtete er wieder das Haupt empor. Die Nähe des Todes hatte seinen innern Blick geschärft, sein Urtheil berichtigt, Der Straßenkrieg erschien ihm jetzt in einem andern, herrlichen Lichte. Alle die Fragen, die ihn eben noch so beunruhigt hatten, drängten sich ihm von Neuem auf, aber dies Mal konnte er sie beantworten.

Warum hätte sein Vater ihm zürnen sollen? Giebt es keine Fälle, wo der Aufstand zum Range einer Pflicht emporsteigt? Was vergab sich der Sohn des Obersten Pontmercy, wenn er, zwar nicht den heiligen Boden Frankreichs vertheidigte, aber für eine große Idee sich in den Kampf stürzte? Mochte das Vaterland klagen, das Wohl der Menschheit wurde gefördert. Aber war es denn überhaupt so sicher, daß sich das Vaterland beklagen würde? Blutete Frankreich, so gedieh die Freiheit, und vor dem Lächeln der Freiheit pflegt ja Frankreich seine Wunden zu vergessen. Und betrachtete man vollends die Dinge von einem höhern Standpunkte aus, wie konnte man denn von einem »Bürgerkriege« sprechen?

Alle Menschen sind Bürger des Weltalls, alle Kriege zwischen Menschen sind Bruderkriege. Das Wesen des Krieges besteht in seinem Endzweck; nur darauf kommt es an, ob er gerecht oder ungerecht ist. Bis zu dem Tage, wo die Menschheit einen großen Bund schließen wird, kann der Krieg, wenigstens wenn er im Namen der Zukunft gegen die träge Vergangenheit streitet, nothwendig sein. Nur wenn er das Recht, den Fortschritt, die Vernunft, die Civilisation, die Wahrheit mordet, wird er frevelhaft und schändlich. In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob er gegen innre oder auswärtige Feinde geführt wird, ein Verbrechen ist er dann immer. Wenn man aber die Gerechtigkeit außer Betracht läßt, mit welchem Recht darf man eine Art Krieg im Vergleich mit einer andern verachten? Wie darf Washington’s Degen Camille Desmoulins’s Pike verleugnen? Wer ist größer Leonidas, der gegen auswärtige, oder Timoleon, der gegen einen innern Feind, den Tyrannen seiner Vaterstadt kämpfte? Wollt ihr, ohne nach dem Zweck zu fragen, jede Erhebung innerhalb des Staates tadeln? Dann müßt ihr Brutus, Marcel, Arnold von Blankenheim, Coligny brandmarken. Von dem Guerilla-, dem Straßenkrieg wollt ihr nichts wissen? So kämpfte aber Ambiorix gegen Rom, Artevelde gegen Frankreich, Philipp von Marnix gegen Spanien, d. h. Alle gegen auswärtige Feinde. Nun, ein auswärtiger Feind ist auch die Monarchie, die Unterdrückung, das Gottesgnadenthum. Denn der Despotismus mißachtet die moralische Grenze, wie auswärtige Feinde die politische. Es ist also dasselbe, ob man einen Tyrannen oder eine ausländische Armee aus Frankreich verjagt: Immer nimmt man das Seinige zurück. — Aber darf man Louis Philippe einen Tyrannen nennen? Nein, ebenso wenig wie Ludwig XVI. Beide sind, was die Geschichte gute Könige nennt. Aber Principien lassen sich nichts abhandeln, die Logik und Wahrheit lassen sich nicht auf Kompromisse ein und jedes Attentat gegen die Menschenrechte muß beseitigt werden. Ludwig XVI. war ein König von Gottes Gnaden. Alle Beide also vertreten die Konfiskation des Rechtes und müssen, will man die Usurpation von dem Erdboden überhaupt vertilgen, bekämpft werden; wohlbemerkt: müssen, weil Frankreich stets den andern Völkern mit gutem Beispiel vorangeht. Wenn der Despotismus in Frankreich gestürzt wird, muß er überall weichen. Es gilt also jetzt die Freiheit auf den Thron zu setzen, der Vernunft und Billigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen, die Keime aller Feindseligkeiten, die uns Menschen unter einander entzweien, dadurch zu ersticken, das Jedem die freie Selbstbestimmung wiedergegeben wird, das Hinderniß aus dem Wege zu räumen, das das Königthum der Herstellung der allgemeinen Eintracht entgegenstellt. Giebt es eine gerechtere Sache als diese, einen heiligeren, schöneren Krieg? Nur wenn wir solche Kämpfe aufnehmen, können wir dem Frieden eine dauerhafte Wohnung schaffen. Noch haben in der Welt die Vorurtheile, Vorrechte, der Aberglaube, die Lüge, die Mißbräuche, die Gewalt, die Ungerechtigkeit, die Unwissenheit eine gewaltige Zwingburg, die zertrümmert werden muß. Wohl ist es etwas Schönes um einen Sieg über auswärtige Feinde; aber herrlicher noch ist die Bezwingung eines einheimischen Tyrannen.

Während er so trotz all seinem Jammer das Für und Wider richtig abwog, irrten seine Blicke über die Barrikade hin, wo die Aufständischen unbeweglich saßen und sich halblaut unterhielten. Ueber ihnen, an einer Luke, sah Marius noch einen Zuschauer oder Zeugen, dessen Aufmerksamkeit ihm höchst verwunderlich vorkam. Es war der von Le Cabuc erschossene Portier. Von unten konnte man bei dem schwachen Licht der Fackel den Kopf undeutlich erkennen. Nichts Sonderbareres, als dieses bleiche, unbewegliche, erstaunte Gesicht mit den starren Augen und dem offnen Munde, das in der Haltung der Neugierde nach unten geneigt war. Von der Luke zogen sich bis zum ersten Stockwerke rothe Streifen, — das Blut, das aus dem Kopfe herausgeströmt war.

Die Großthaten der Verzweiflung

Die Fahne. — Erster Akt

Noch ließ sich kein Feind blicken. Die Uhr der Kirche Saint-Merry hatte zehn geschlagen. Enjolras und Combeferre saßen, den Karabiner in der Hand, bei der Lücke der großen Barrikade. Sie sprachen nicht; sie horchten nur, ob kein Geräusch die Annäherung von Soldaten verkünde.

Plötzlich vernahm man eine frische, jugendliche Stimme, die von der Rue Saint-Denis herkam und ein lustiges Liedchen mit einem übermüthigen Hahnenschrei als Refrain durch die schauerliche Stille der Nacht hinschmetterte.

Die beiden Freunde drückten sich die Hand.

»Gavroche!« sagte Enjolras.

»Er giebt uns ein Warnungszeichen«, sagte Combeferre.

Jetzt wurden hastige Schritte lautbar; man sah Einen, der gewandt wie ein Clown über den Omnibus kletterte und Gavroche sprang herunter.

»Mein Gewehr!« rief er keuchend. »Sie kommen!«

Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es die ganze Besatzung der Barrikade und Alles griff nach den Gewehren.

»Willst Du meinen Karabiner?« fragte Enjolras Gavroche.

»Nein, das große Gewehr,« antwortete der Junge und bemächtigte sich der Waffe, die man Javert abgenommen hatte.

Fast gleichzeitig mit Gavroche zogen sich auch die beiden Schildwachen, die am Ende der Rue de la Chanvrerie und in der Rue de la Petite-Truanderie aufgestellt waren, hinter die Barrikade zurück. Die dritte, die in der Ruelle des Prêcheurs aufpaßte, war geblieben, ein Zeichen, daß von den Brücken und der Markthalle her nichts zu befürchten war.

Sofort eilte Jeder an seinen Posten.

Hinter der großen Barrikade knieten dreiundvierzig Insurgenten, darunter Enjolras, Combeferre, Courfeyrac, Laigle, Joly, Bahorel, Gavroche und legten die Gewehre schußgerecht zwischen die Pflastersteine, die auf dem obern Rande des Baues gleichsam Schießscharten bildeten. An den Fenstern des Wirthhauses stellten sich sechs Andre unter Feuilly’s Befehl auf.

Es vergingen noch einige Augenblicke, dann aber vernahm man das dumpfe Geräusch eines schweren Massenschritts, das allmählich näher heranrückte. Es verstummte endlich und man glaubte den Athem einer großen Menge Menschen am Ende der Rue de la Chanvrerie zu hören. Sehen konnte man indeß nichts; nur daß man in der tiefen Dunkelheit glänzende metallene Fädchen unterschied, wie man sie auch beim Einschlafen vor seinen Augen glitzern sieht. Es waren die Bajonnette und Gewehrläufe, auf die von der Fackel noch ein schwacher Lichtschimmer fiel.

Dann verstrich eine Pause, als wenn beide Theile auf etwas warteten. Hierauf erscholl aus dem Dunkel ein kräftiges »Werda?« und gleichzeitig hörte man das Geklirr der Gewehre, die von den Schultern genommen wurden.

Enjolras antwortete in kraftvollem und stolzem Ton:

»Die französische Revolution!«

»Feuer!« donnerte es aus der Dunkelheit ihm entgegen.

Ein Lichtblitz erhellte die Straße, als hätte sich die Thüre eines Glühofens auf einige Augenblicke geöffnet.

Ein furchtbarer Krach folgte. So dicht war die Salve, daß die Deichsel des Omnibus oben abbrach und die Fahne herunterfiel. Mehrere Kugeln prallten von den Häusern ab und verwundeten einige von den Aufständischen.

Die Angegriffnen überrieselte ein kalter Schauer. Auch die Muthigsten zagten. Augenscheinlich hatte man es mit einem ganzen Regiment zu thun.

»Keine Pulververschwendung, Kameraden!« rief Courfeyrac. »Schießt erst, wenn sie in die Straße hereinkommen.«

»Vor allen Dingen aber,« sagte Enjolras »muß erst die Fahne wieder aufgerichtet werden.«

Er hob die Fahne, die neben ihm auf die Erde gefallen war, wieder empor.

Im Hintergrunde schoben die Soldaten die Ladestöcke in die Gewehre, was man hinter der Barrikade hören konnte.

»Wer hat Muth?« fragte Enjolras. »Wer pflanzt die Fahne wieder auf?«

Keiner antwortete. In dem Augenblick, wo die Soldaten die Gewehre wieder anlegten, auf die Barrikade steigen hieß sich dem gewissen Tode aussetzen. Vor einer solchen Gefahr bebt auch der Tapferste zurück und Enjolras selber zitterte. Er wiederholte nur:

»Wagt’s Keiner?«

Die Fahne. — Zweiter Akt

Seitdem der Trupp vor dem Wirtshause angelangt war, hatte man auf Vater Mabeuf nicht besonders geachtet. Er hatte sich in den Saal des Erdgeschosses begeben und hinter dem Ladentisch Platz genommen. Hier blieb er die ganze Zeit über in sich versunken und wie vernichtet sitzen. Es sah aus, als sei er unfähig, an dem, was um ihm verging, irgend welchen Antheil zu nehmen. Courfeyrac und Andre redeten ihn verschiedne Male an, warnten ihn, forderten ihn auf, sich bei Zeiten in Sicherheit zu bringen, er aber schien nicht zu hören, was sie sagten. Sprach man nicht zu ihm, so bewegte er den Mund, als wenn er jemandem antwortete, und redete man ihn an, so wurden seine Lippen unbeweglich und aus seinen Augen wich alles Leben. Schon einige Stunden vor dem Angriff nahm er eine regungslose Haltung an. Die beiden Fäuste auf die Knie gestützt, den Kopf nach vorn geneigt, saß er da, als blicke er in einen Abgrund. Aber als die erste Salve erkrachte, fuhr er in die Höhe und in dem Augenblick, wo Enjolras »Wagt’s Keiner?« rief, sah man den Greis auf der Schwelle.

Bei dieser Erscheinung durchzuckte es alle wie ein elektrischer Schlag.

»Der Alte vom Konvent! Der Volksvertreter!«

Wahrscheinlich hörte er nicht einmal den Ruf, ging auf Enjolras zu, während man ihm ehrerbietig aus dem Wege ging, riß ihm, der erstaunt zurückwich, die Fahne aus der Hand, und nun begann, ohne daß ihn Jemand aufzuhalten oder ihm zu helfen wagte, der achtzigjährige Mann mit schwankendem Kopfe, aber festen Schrittes, die hinter der Barrikade angebrachte Steintreppe langsam emporzusteigen. Der Anblick war ein so feierlicher und großartiger, daß alle, die in seiner Nähe standen, »Hut ab!« riefen.

Auf der obersten Stufe angelangt, schwenkte der Greis, der für die Insurgenten eine übermenschliche Heldengestalt, eine Verkörperung der Revolution von 1793 war, die rothe Fahne und rief:

»Es lebe die Revolution! Es lebe die Republik! Brüderlichkeit! Gleichheit und der Tod!«

Von dem Ende der Straße her erklang ein hastiges Gemurmel, als stände dort ein Priester, der ein Gebet hersagte und Eile hätte, damit zu Ende zu kommen. Wahrscheinlich war es ein Polizeikommissar, der die Insurgenten laut der gesetzlichen Vorschrift aufforderte, sich zu zerstreuen.

Nach ihm hörte man dieselbe markige Stimme, die vorhin »Werda?« gerufen hatte:

»Zieht Euch zurück!«

»Es lebe die Republik!« rief Mabeuf und schwenkte mit wilder Begeistrung die Fahne.

»Feuer!« donnerte es wieder.

Eine zweite, kartätschenähnliche Salve krachte los.

Der Greis sank auf die Kniee, erhob sich wieder und stürzte dann rücklings, steif wie ein Brett, der Länge lang und die Arme über Kreuz, auf die Erde herab.

Eine jener Empfindungen, die stark genug sind, um momentan dem Selbsterhaltungstrieb Schweigen zu gebieten, bemächtigte sich der Insurgenten und sie traten mit religiöser Ehrfurcht heran, um den Leichnam zu betrachten.

»Was das für Männer waren, diese Königsmörder!« bemerkte Enjolras.

»Unter uns gesagt,« flüsterte ihm Courfeyrac ins Ohr, »denn ich möchte den allgemeinen Enthusiasmus nicht abschwächen, war der Alte nichts weniger als ein Königsmörder. Ich kannte ihn. Er hieß Vater Mabeuf. Ich weiß nicht, was heute mit ihm los war. Aber ich kann Dir sagen, er war ein Trottel. Sieh Dir doch blos das Gesicht an.«

»Ein Trottel mit dem Herzen eines Brutus,« entgegnete ihm Enjolras. Dann sprach er laut:

»Freunde, dies ist eine Lehre, die das Alter der Jugend giebt. Wir zögerten, da kam er; wir wichen zurück, da ging er vor. Dieser Greis verdient die Hochachtung des Vaterlandes. Er hat ein langes Leben gehabt und starb eines schönen Todes. Jetzt laßt uns den Leichnam in Sicherheit bringen und Jeder vertheidige diesen Toten, als kämpfe er für das Leben seines Vaters. Seine Gegenwart mache die Barrikade uneinnehmbar!«

Ein beifälliges Gemurmel bekräftigte diese Rede.

Enjolras neigte sich nieder, hob den Kopf des Greises empor und küßte ihn auf die Stirn. Dann zog er ihm vorsichtig, als wollte er ihm nicht weh thun, den Rock aus, zeigte Allen die blutigen Löcher und rief:

»Das ist jetzt unsere Fahne!«

Ein ungeladenes Gewehr

Sie bedeckten Vater Mabeuf’s Leiche mit dem langen, schwarzen Umschlagetuch der Wittwe Hucheloup. Dann machten sechs Mann aus ihren Gewehren eine Bahre zurecht und trugen ihn, unbedeckten Hauptes und mit feierlicher Langsamkeit in die Gaststube des Erdgeschosses, wo sie ihn auf den großen Tisch legten.

Als der Zug an Javert, der noch immer dieselbe unerschütterliche Ruhe bewahrte, vorbeikam, redete ihn Enjolras an:

»Bald wird die Reihe an Dir sein!«

Während dessen schien es dem kleinen Gavroche, der allein auf seinem Posten geblieben war, als schlichen sich Leute an die Barrikade heran.

»Aufgepaßt! Der Feind kommt!« rief er.

Alle stürzten in größter Eile wieder aus dem Hause heraus. Es war kaum noch Zeit, denn schon sah man Bajonnettreihen auf die Barrikade heranwogen. Einige hochgewachsene Municipalgardisten stiegen auf den Omnibus, andre drängten Gavroche, der langsam vor ihnen zurückwich, durch die Lücke.

Es war ein kritischer Augenblick; er glich dem ersten Stadium einer Ueberschwemmung, wo das Wasser anfängt, die Deiche zu überfluten. Noch eine Minute, so war die Barrikade genommen.

Bahorel stürzte sich dem ersten besten Municipalgardisten entgegen und schoß ihn nieder. Der zweite tötete Bahorel mit einem Bajonnettstich, Ein anderer hatte Courfeyrac niedergeworfen, der um Hilfe rief. Der Größte von Allen, ein wahrer Koloß, ging mit gefälltem Bajonett auf den kleinen Gavroche los. Der Junge nahm Javerts großes Gewehr in seine Aermchen, zielte kühn auf den Riesen und drückte ab. Aber ach! Javert hatte sein Gewehr nicht geladen. Der Municipalgardist lachte und holte zum Stoße aus.

Aber ehe das Bajonnett Gavroche berührte, entfiel dem Soldaten das Gewehr. Eine Kugel hatte ihm die Stirn durchbohrt, und er fiel auf den Rücken. Auch den Gardisten, der Courfeyrac bedrohte, traf eine Kugel in die Brust und streckte ihn nieder.

Der unverhoffte Retter war Marius.

Das Pulverfaß

Marius hatte hinter der Ecke der Rue de Mondétour dem Anfang des Kampfes unentschlossen und bebend zugesehen. Aber nicht lange vermochte er dem Schwindel zu widerstehen, der ihn nach dem Abgrund hinriß. Als die Gefahr herandrang, als Bahorels Tod nach Rache und Courfeyrac um Hilfe schrie, stürzte er sich, eine Pistole in jeder Hand, in das Handgemenge und brachte Gavroche und Courfeyrac Rettung.

Unterdessen erstiegen die Angreifer in Menge die Barrikade, wagten aber nicht, weiter vorzugehen, hinunterzuspringen. Sie fürchteten einen Hinterhalt, eine Falle, eine Kriegslist und blickten vor sich hinab, als stünden sie vor einer Löwenhöhle.

Marius war jetzt wehrlos, denn die beiden Pistolen hatte er weggeworfen, aber er bemerkte das Pulverfaß, das in der Gaststube stand.

Als er sich dorthin umwandte, legte ein Soldat das Gewehr auf ihn an. Aber in demselben Augenblick trat auch der junge Bursche mit der geflickten Sammthose vor, legte die Hand auf die Mündung des Gewehrlaufes und verstopfte ihn so. Der Schuß ging los, die Kugel durchbohrte die Hand, traf aber Marius nicht. Dieser beachtete den Vorgang nur oberflächlich, obgleich er alles gesehen hatte. Befand er sich doch in einer Lage, wo die Bilder der Dinge flüchtig vor dem Geiste vorüberhuschen und man nur immer vorwärts stürzt, dem Verderben entgegen.

Ueberrascht, aber nicht eingeschüchtert, hatten sich unterdessen die Insurgenten gesammelt. Enjolras rief: »Wartet! schießt nicht aufs Gerathewohl!« In der That hätten sie in der ersten Verwirrung sich gegenseitig treffen können. Die Meisten stiegen in das erste Stockwerk und in die Dachstuben hinauf. Die Kühnsten lehnten sich an die Häuser im Hintergrunde und boten von hier aus den Soldaten, die auf der Barrikade standen, ungedeckt die Stirn.

Alles dies hatte sich ohne Ueberstürzung vollzogen und jetzt waren wieder beide Theile schußbereit. In dem Augenblick, wo losgedrückt werden sollte, streckte ein Offizier den Degen aus und rief:

»Ergebt Euch!«

»Feuer!« kommandirte Enjolras.

Auf beiden Seiten gingen die Gewehre zugleich los. Als der Rauch sich verzog, sah man die Kämpfer der beiden Parteien, deren Reihen gelichtet waren, aber ihre Stellungen behaupteten, ihre Gewehre schweigend wieder laden.

Plötzlich hörte man eine Donnerstimme rufen:

»Zurück oder ich sprenge die Barrikade in die Luft!«

Alle wandten sich nach der Stelle hin, wo die Stimme herkam.

Marius hatte das Pulverfaß aus der Gaststube geholt und sich, während der Rauch ihn den Blicken entzog, an der Barrikade entlang, bis zu der Stelle, wo die Fackel angebracht war, geschlichen. Die Fackel ergreifen, das Faß einschlagen und in den Käfig hineinstellen war für ihn das Werk eines Augenblicks und jetzt schwang er, während sich die Offiziere, Soldaten, Municipal- und Nationalgardisten nach dem andern Ende der Barrikade flüchteten, mit grimmiger Entschlossenheit die Fackel, nach Mabeuf die zweite, jugendliche, Verkörperung der Revolution.

»Zurück, sonst sprenge ich die Barrikade in die Luft!«

»Und Dich mit!« rief ein Sergeant.

»Und mich mit!« gab Marius zur Antwort und näherte die Fackel dem Pulverfaß.

Aber schon war Niemand mehr auf der Barrikade.

Die Angreifer fluteten, indem sie ihre Toten und Verwundeten im Stich ließen, in wilder Unordnung nach dem Ende der Straße zurück und verschwanden in der Dunkelheit.

Die Barrikade war gerettet.

Der Tod eines Dichters

Aller umringten Marius. Courfeyrac fiel ihm um den Hals.

»Welch ein Glück, daß Du gekommen bist!« rief Combeferre.

»Es war Noth am Mann!« sagte Laigle.

»Ohne Dich war ich verloren!« meinte Courfeyrac.

»Ohne Sie war ich gelackmeiert!« konstatirte Gavroche.

Marius fragte:

»Wo ist Euer Anführer?«

»Du bist es!« antwortete Enjolras.

Marius hatte den ganzen Tag über einen Glühofen im Kopf gehabt, jetzt ging ihm ein Wirbelwind im Hirn herum. Dieser Wirbel, der in seinem Innern raste, wäre — so dünkte ihm — draußen und reiße ihn mit sich fort. Es kam ihm vor, als liege das Leben schon weit, weit hinter ihm. Cosettens Verlust nach zwei glückerfüllten Monaten, die Barrikade, Mabeuf’s Tod, seine Ernennung zum Insurgentenführer machten auf ihn einen Eindruck, als träume er einen bösen Traum. Er mußte sich Gewalt anthun um sich zu erinnern, daß Alles, was ihn umgab, Wirklichkeit war. Er kannte das Leben noch zu wenig, um zu wissen, daß gerade das Unmögliche das Möglichste ist und in Rechnung gezogen werden muß. Er wohnte seiner eignen Tragödie bei, als wäre es etwas Unverständliches.

Von solchen Gedankennebeln umsponnen, erkannte er Javert nicht, der, an seinen Pfahl gebunden, während des Angriffs auf die Barrikaden nicht eine Bewegung mit dem Kopf gemacht hatte und dem Getobe der Revolte mit der ergebungsvollen Ruhe eines Märtyrers und der Würde eines Richters zuschaute. Marius bemerkte ihn nicht einmal.

Unterdessen verhielten sich die Angreifer ruhig; sie standen am andern Ende der Straße, wagten sich aber nicht hinein, sei es, daß sie auf Befehle oder auf Verstärkungen warteten. Die Insurgenten hatten Schildwachen ausgestellt und Einige, die Studenten der Medizin waren, waren damit beschäftigt, die Verwundeten zu verbinden.

Man hatte die Tische, um die Barrikade zu verstärken, aus dem Hause geschafft, mit Ausnahme zweier, auf denen Charpie und Patronen lagen. Dafür holte man die Matratzen aus den Betten der Wittwe Hucheloup und ihrer beiden Mägde, um die Verwundeten darauf zu betten. Was aus den drei armen Frauenzimmern geworden war, wußte Keiner, bis man sie schließlich im Keller entdeckte, wo sie sich verkrochen hatten.

Da wurde plötzlich die Freude über die Befreiung der Barrikade durch eine schmerzliche Entdeckung getrübt. Beim Appell fehlte Einer der beliebtesten und tapfersten Kameraden, Jean Prouvaire. Man suchte ihn unter den Verwundeten, den Toten und fand ihn nicht. Er war also offenbar gefangen genommen worden.

»Sie haben unsern Freund,« sagte Combeferre zu Enjolras, »und wir einen von ihren Leuten. Liegt Dir was an dem Tode des Spitzels?«

»Ja,« antwortete Enjolras, »aber weniger, als an Jean Prouvaires Leben.«

Diese Unterhaltung fand in dem niedrigen Saale neben Javert’s Pfahl statt.

»Gut,« fuhr Combeferre fort, »so will ich mein Taschentuch an mein Gewehr binden und als Parlamentär zu ihnen gehen um ihnen einen Tausch vorzuschlagen.«

»Horch!« rief jetzt Enjolras und legte seine Hand auf Combeferre’s Arm.

Von dem andern Ende der Straße drang ein verdächtiges Geräusch von hantirten Gewehren herüber.

»Es lebe Frankreich! Es lebe die Zukunft!« schallte es und man erkannte Jean Prouvaire’s mannhafte Stimme.

Da leuchtete ein Blitz auf und eine Gewehrsalve erkrachte. Dann herrschte wieder Stille.

»Sie haben ihn erschossen!« rief Combeferre.

Enjolras sah Javert an und sagte:

»Deine Freunde haben Dich zum Tode verurtheilt.«

Die Todesqualen nach den Lebensqualen

Eine Eigenthümlichkeit des Straßenkrieges besteht darin, daß die Barrikaden fast immer von vorn angegriffen werden und die Angreifer es im Allgemeinen unterlassen, die feindlichen Stellungen zu umgehen, sei es, daß sie Hinterhalte fürchten, oder daß sie sich nicht gern in enge, krumme Straßen hineinwagen. Die ganze Aufmerksamkeit der Aufständischen war also auf die große Barrikade gerichtet, die sie für den einzig bedrohten Punkt hielten. Marius indessen dachte auch an die kleine Verschanzung und begab sich dorthin. Sie war verlassen und nur von dem Lampion bewacht, dessen unstetes Licht auf die Pflastersteine fiel.

Als Marius nach der Inspektion wieder zurückgehen wollte, hörte er seinen Namen rufen:

»Herr Marius!«

Er fuhr zusammen, denn er erkannte dieselbe Stimme, die ihn zwei Stunden zuvor durch das Gitter in der Rue Plumet gerufen hatte.

Mit dem Unterschiede allerdings, daß diese Stimme jetzt nur sehr schwach klang.

Er suchte und fand Niemand in der Dunkelheit.

In dem Glauben, er habe sich geirrt, zu den ungewöhnlichen Ereignissen, die sich um ihn abspielten, sei bloß eine Sinnestäuschung hinzugekommen, wollte er weiter gehen, als sich dieselbe Stimme zum zweiten Mal vernehmen ließ.

»Herr Marius!«

Dieses Mal war kein Zweifel möglich; er hatte den Ruf zu deutlich gehört. Aber er sah wieder nichts.

»Zu Ihren Füßen!« rief die Stimme.

Marius bückte sich und sah eine Gestalt, die auf ihn zukroch.

Beim Schein des Lampions unterschied er einen Kittel, eine zerrissene Samthose, ein Paar bloße Füße und eine Blutlache. Dann richtete sich ein blasses Gesicht zu ihm empor.

»Erkennen Sie mich denn nicht?«

»Nein.«

»Eponine.«

Marius beugte sich zu ihr nieder. Ja, sie war es wirklich, die Unglückliche.

»Wie kommen Sie hierher? Was machen Sie hier?«

»Ich sterbe.«

Diese Antwort rüttelte Marius aus seiner Apathie auf.

»Sie sind verwundet? Warten Sie, ich will Sie in den Saal tragen. Sie sollen verbunden werden. Ist es eine gefährliche Wunde? Wie muß man Sie anfassen, damit man Ihnen nicht weh thut? Hülfe! Hülfe! Gott, erbarme Dich! Was hatten Sie denn aber hier zu suchen?«

Und er versuchte, um sie aufzuheben, seinen Arm unter ihren Körper zu schieben. Dabei stieß er auf ihre Hand und sie schrie vor Schmerz auf.

»Habe ich Ihnen weh gethan?«

»Etwas.«

»Aber ich habe nur Ihre Hand berührt.«

Sie zeigte Marius die Hand, in der er ein dunkles Loch sah.

»Was haben Sie denn da?«

»Ich habe eine Kugel durch die Hand bekommen.«

»Wie ist denn das zugegangen?«

»Haben Sie ein Gewehr gesehen, das auf Sie angelegt wurde?«

»Ja, und eine Hand auf der Mündung.«

»Die Hand war meine.«

Marius schauderte.

»Diese Thorheit! Sie armes Kind. Glücklicher Weise ist solch eine Wunde nicht gefährlich. Kommen Sie und lassen Sie Sich verbinden.«

»Die Kugel,« stöhnte sie, »ist in die Hand und aus dem Rücken hinausgefahren. Es hat keinen Zweck, wenn Sie mich hineintragen. Ich will Ihnen sagen, wie Sie mich verbinden, besser als ein Wundarzt. Setzen Sie Sich auf den Stein hier neben mich.«

Er willfahrte ihr, sie legte ihren Kopf auf seinen Schoß und sagte:

»So nun ist mir wohl. Nun habe ich keine Schmerzen mehr.«

Sie hielt einen Augenblick inne, wandte dann mühsam ihr Gesicht nach oben und sah Marius an.

»Ich will’s Ihnen sagen, Herr Marius. Es ärgerte mich, daß Sie die junge Dame besuchten. Es war dumm von mir. Ich hatte Ihnen ja selber die Adresse verschafft und hätte mir sagen sollen, daß ein junger Mann wie Sie …«

Sie hielt inne und fuhr dann mit einem herzzerreißenden Lächeln fort:

»Sie fanden mich häßlich, nicht wahr? — Sie sind ein Kind des Todes. Von hier kommt Keiner mit dem Leben davon. Wenn ich denke, daß ich Sie hierher gelockt habe! Ich weiß, daß Sie verloren sind, und doch bin ich, als ich Sie in Gefahr sah, herbeigeeilt, um Sie zu retten. Merkwürdig! Aber ich wollte vor Ihnen sterben. Als ich die Kugel durch den Leib bekommen hatte, schleppte ich mich hierher und wartete auf Sie. Wird er denn nicht endlich kommen? dachte ich. Ach wenn Sie wüßten, was ich ausstand! Ich biß in meinen Kittel vor Schmerzen. Jetzt aber ist mir wohl. Erinnern Sie Sich an den Tag, wo ich Sie in Ihrem Zimmer besuchte und mich in Ihrem Spiegel besah. Und an das andre Mal, wo ich Sie auf dem Boulevard, auf der Wiese, aufsuchte? Wie schön die Vögelchen sangen! Es ist nicht sehr lange her. Sie gaben mir fünf Franken und ich sagte: ›Ich will Ihr Geld nicht‹. Haben Sie’s auch aufgehoben? Sie sind nicht reich. Ich habe nicht daran gedacht, Ihnen zu sagen, daß Sie’s aufheben sollten. Die Sonne schien so schön, man fror nicht. Erinnern Sie Sich, Herr Marius? Wie glücklich ich bin! Jetzt sterben wir zusammen.«

Während sie sprach, hielt sie die durchbohrte Hand auf ihre Brust, aus der das Blut ruckweise herausströmte, wie Wein aus einem Spundloch.

Marius betrachtete die Aermste mit tiefem Mitleid. Plötzlich rief sie:

»O weh, es kommt wieder. Ich ersticke.«

Sie steckte sich einen Zipfel des Kittels in den Mund und biß hinein, während sie die Beine krampfhaft ausstreckte.

In diesem Augenblick krähte die kecke Hahnenstimme des kleinen Gavroche ein damals beliebtes Lied.

Eponine hörte ihm zu und sagte:

»Mein Bruder! ich möchte nicht, daß er mich sieht. Er würde mich schelten.«

»Ihr Bruder?« fragte Marius und gedachte mit bitterm Weh der Pflichten gegen Thénardier, die sein Vater ihm auf die Seele gebunden. »Wer ist Ihr Bruder?«

»Der Kleine da, der eben gesungen hat.«

Marius machte eine Bewegung.

»O, gehen Sie nicht weg, es dauert nicht mehr lange!«

Sie saß beinahe aufrecht, aber ihre Stimme klang schwach und sie röchelte ab und zu. Sie hielt ihr Gesicht so nahe wie möglich an Marius Kopf und sagte plötzlich:

»Noch Eins! Ich will Sie nicht täuschen. Ich habe in meiner Tasche einen Brief, der für Sie bestimmt ist. Seit gestern. Ich sollte ihn in den Briefkasten stecken. Ich habe ihn aber behalten. Ich wollte nicht, daß Sie ihn bekommen sollten. Aber Sie würden gewiß böse sein, wenn wir uns im Jenseits wieder sehn.«

Sie griff krampfhaft nach Marius Hand und leitete sie in ihre Tasche, schien aber keinen Schmerz mehr in ihrer verwundeten Hand zu fühlen. Marius nahm den Brief, während sie befriedigt nickte.

»Jetzt den Lohn für meine Mühe. Versprechen Sie mir …«

Sie hielt inne.

»Was?« fragte Marius.

»Versprechen Sie mir …«

»Alles, was Sie wünschen!«

»Geben Sie mir, wenn ich gestorben bin, einen Kuß auf die Stirn. Ich werde ihn fühlen.«

Sie ließ ihren Kopf auf Marius Schoß zurücksinken und senkte ihre Augenlieder. Während sie so unbeweglich dalag und er schon glaubte, die arme Seele habe den Körper verlassen, öffnete sie langsam die Augen und sagte in einem Ton, dessen Sanftmuth schon aus einer andern Welt herzukommen schien:

»Außerdem glaube ich noch, daß ich Sie ein wenig lieb habe.«

Dann versuchte sie noch, ihn anzulächeln und verschied.

Gavroche berechnet Entfernungen

Marius hielt sein Versprechen. Er drückte einen Kuß auf die kalte Stirn der Dahingeschiednen. Es war ja keine Untreue gegen Cosette, nur ein sinniger Abschied von einer armen Seele, die hier auf Erden unendlich viel gelitten hatte.

Als Marius den Brief an sich nahm, ahnte er alsbald, daß er ihm wichtige Enthüllungen bringen würde, und brannte vor Ungeduld, ihn zu lesen. Des Menschen Herz ist nun einmal so und kaum hatte die arme Eponine die Augen geschlossen, als Marius sich eilig erhob und davon eilte. Den Brief in Gegenwart der Verstorbenen zu lesen, hielt ihn eine fromme Scheu zurück.

Er begab sich in die Gaststube und las hier folgende Zeilen:

»Innigst geliebter Marius!

Mein Vater hat leider beschlossen, daß wir von hier sofort aufbrechen. Heute Abend quartieren wir uns Rue de l’ Homme Armé Nr. 7, ein. In acht Tagen werden wir in England sein.

4. Juni.

Deine Cosette.«

Was sich zugetragen hatte, läßt sich in wenigen Worten berichten. Eponine hatte alles nach ihrem Willen gelenkt. Nach Vereitlung des von den Banditen beabsichtigten Ueberfalls faßte sie den doppelten Plan, weiteren Anschlägen ihres Vaters vorzubeugen, sowie Cosette und Marius auseinander zu bringen. Sie tauschte demgemäß die Kleider mit dem ersten, besten jungen Lümmel, dem es Spaß machte, sich als Mädchen zu vermummen, und verkleidete sich als Mann. Dann warnte sie auf dem Marsfelde Jean Valjean, indem sie ihn aufforderte, seine Wohnung zu wechseln. Demzufolge sagte dieser auch, als er nach Hause kam, zu Cosette: »Heute Abend verlassen wir dieses Haus und siedeln mit der Toussaint nach der Rue de l’ Homme-Armé über. Nächste Woche müssen wir in London sein.« Entsetzt über diese fürchterliche Kunde schrieb Cosette einige Zeilen an Marius. Aber wie den Brief auf die Post bringen? Sie war nicht gewohnt, allein auszugehen, die Toussaint aber hätte sich über solch einen Auftrag gewundert und das Schreiben Herrn Fauchelevent gezeigt. In ihrer Herzensangst rief sie Eponine, die als Mann verkleidet sich vor dem Garten herumtrieb, gab ihr fünf Franken und beauftragte sie, das Briefchen an seine Adresse zu befördern. Diese steckte es ein, begab sich am nächsten Tage, dem 5. Juni, zu Courfeyrac und fragte nach Marius, nicht um ihm das Schreiben zu übergeben, sondern aus Neugierde, von einem innern Drange, von Liebe und Eifersucht getrieben. Als dann Courfeyrac ihr sagte, daß er mit seinen Freunden sich an dem Barrikadenkampfe betheiligen würde, durchzuckte es sie sofort, daß dies eine günstige Gelegenheit für sie wäre, in den Tod zu gehen und Marius mitzunehmen. Nachdem sie dann den Ort erkundet, wo die Barrikade gebaut werden sollte, eilte sie nach der Rue Plumet, in der sichern Erwartung, daß Marius in seiner Verzweiflung ihrem Rufe Folge leisten würde und täuschte sich auch nicht hierin. Dann ging sie endlich nach der Rue de la Chanvrerie zurück und starb hier mit tragischer Freude bei dem Gedanken, daß der Geliebte ihr nachfolgen und keiner Andern angehören würde.

Marius bedeckte Cosettens Brief mit Küssen. Sie liebte ihn also doch! Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, er sollte sich dem Tode entziehen. Dann aber sagte er sich wieder: Da sie nach England geht und mein Großvater von unserer Heirath nichts wissen will, ist an der Sachlage nichts geändert. Träumer wie Marius sind der Verzweiflung leicht zugänglich; sie finden die Kämpfe, die ihnen das Leben aufnöthigt, zu schwer; sich in den Tod stürzen ist schneller abgemacht.

Demzufolge überlegte er, daß er noch zwei Pflichten zu erfüllen habe: Er mußte Cosette Lebewohl sagen und Thénardiers Sohn vor dem Verderben retten.

Aus einem Notizbuch, das er bei sich trug, riß er ein Blatt und schrieb mit Bleistift folgende Zeilen:

»Unsre Verheirathung ist unmöglich. Ich habe mich an meinen Großvater gewandt und er hat mir die Erlaubniß verweigert. Ich habe Dich in Deiner Wohnung aufgesucht und Dich nicht gefunden. Das Versprechen, das ich Dir gegeben habe, werde ich halten. Ich will sterben. Wenn Du diese Zeilen liest, wird mein Geist schon bei Dir weilen und Dir zulächeln.«

Da er nichts hatte, um den Brief zu versiegeln, faltete er das Blatt Papier und schrieb auf die Rückseite die Adresse auf.

Dann sann er noch einmal nach, holte das Notizbuch wieder hervor und schrieb auf die erste Seite Folgendes:

»Ich heiße Marius Pontmercy. Man bringe meine Leiche zu meinem Großvater, Herrn Gillenormand, Rue des Filles-du-Calvaire, Nr. 6.«

Nun steckte er das Notizbuch wieder ein und rief Gavroche, der vergnügt und diensteifrig herbeieilte.

»Willst Du mir einen Gefallen thun?«

»Allemal Derjenige, welcher! Ich gehöre Ihnen mit Leib und Seele. Ohne Sie wäre ich ja schon futsch und weg.«

»Nimm diesen Brief. Mach Dich sofort auf den Weg, (Hier wurde Gavroche unruhig und kratzte sich hinterm Ohr,) und übergieb ihn morgen früh Fräulein Cosette Fauchelevent, Rue de l’ Homme-Armé, Nr. 7.«

Der heldenmüthige Junge antwortete:

»Ja, aber während der Zeit wird die Barrikade genommen, und ich bin dann nicht dabei.«

»Die Barrikade wird aller Wahrscheinlichkeit nach erst bei Tagesanbruch angegriffen und vor morgen Mittag nicht erstürmt werden.«

In der That zog sich die Frist, die den Insurgenten gewährt wurde, in die Länge. Dergleichen nächtliche Unterbrechungen, auf die dann doppelt heftige Angriffe folgen, sind bei Straßenkämpfen gewöhnlich.

»Wie wär’s denn, wenn ich Ihren Brief morgen früh besorgte?«

»Dann ist’s zu spät. Wir werden dann auf allen Seiten blockirt sein und Du wirst nicht mehr herauskommen. Geh also gleich.«

Gavroche konnte nichts erwidern und kratzte sich unentschlossen den Kopf. Plötzlich aber griff er hurtig nach dem Briefe und sagte:

»Schönchen! Soll geschehn!«

Es war ihm nämlich etwas eingefallen, das er Marius nicht sagen mochte, aus Furcht, Dieser würde Einwendungen machen.

Er dachte:

»Es ist noch nicht Mitternacht, die Rue de l’ Homme-Armé ist nicht weit und wenn ich gleich gehe, kann ich bei Zeiten wieder zurück sein.«

Die Rue de l’ Homme-Armé

Ein verrätherisches Löschblatt

Was sind die Konvulsionen einer Stadt im Vergleich mit den Stürmen, die in der Seele eines einzelnen Menschen toben können? Jean Valjean’s Innres war noch tiefer aufgewühlt als Paris. Auch von ihm konnte man sagen, daß der Engel des Guten mit dem des Bösen rang. Wem von den Beiden war der Sieg beschieden?

Am Abend des 5. Juni hatte sich Jean Valjean mit Cosette und der Toussaint in der Rue de l’ Homme-Armé installirt, wo ihn eine Katastrophe erwartete.

Cosette hatte das Haus in der Rue Plumet nicht ohne einen Versuch zum Widerstande verlassen. Es war das erste Mal, daß Jedes einen eignen, vom andern verschiednen Willen kund gab, und daß sich zwar kein Kampf, aber doch Widerspruch erhob. Aber Jean Valjean hatte sich Cosettes Einwänden gegenüber unbeugsam gezeigt. Er war überzeugt, daß man ihm auf der Spur, und Cosette mußte nachgeben.

So waren sie also — ein Jedes viel zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um auch nur ein Wort verlauten zu lassen und auf den Seelenzustand des Andern zu achten, — in der andern Wohnung angelangt.

Die Toussaint hatte Jean Valjean mitgenommen, weil er vermuthete, daß er nach der Rue Plumet wohl nicht mehr zurückkehren würde. Er konnte sie aber weder zurücklassen, noch wollte er ihr sein Geheimniß anvertrauen und war zudem überzeugt, daß er sich auf sie verlassen könne. Ein Verrath der Herrschaft durch die Dienstboten beginnt immer mit unerlaubter Neugierde. Die Toussaint aber, als wäre sie von der Vorsehung eigens dazu geschaffen worden in Jean Valjeans Dienst zu treten, war nicht neugierig. Ihr Grundsatz lautete: »Ich thue, was mir meine Herrschaft sagt; alles Uebrige geht mich nichts an.«

Bei dem hastigen, fluchtartigen Umzug hatte Jean Valjean von seinen Sachen nur den kleinen Handkoffer mitgenommen, der »so gut roch«, wie Cosette sagte. Der Transport größerer Gepäckstücke hätte die Heranziehung von Dienstmännern erheischt, und Zeugen wollte Jean Valjean nicht haben. Er hatte also blos eine Droschke nach der Rue de Babylone kommen lassen und war dann darin nach der Wohnung gefahren.

Nur mit großer Mühe hatte sich die Toussaint die Erlaubniß erwirkt, etwas Wäsche und einige Kleidungsstücke mit einpacken zu dürfen. Cosette nahm gar nur ihre Schreibmappe mit.

Um möglichst unbemerkt und unbeobachtet verschwinden zu können, richtete Jean Valjean es so ein, daß man den Pavillon in der Rue Plumet erst in der Abenddämmerung verließ, in Folge dessen Cosette Zeit gewann, an Marius zu schreiben. In der Rue de l’ Homme-Armé kamen sie erst nach Einbruch der Dunkelheit an.

Die neue Wohnung lag im zweiten Stock des Hintergebäudes und bestand aus zwei Schlafzimmern, einem Speisesaal und einer Küche mit einem Verschlag, in dem die Toussaint schlief. Der Speisesaal diente zugleich als Vorzimmer und lag zwischen den beiden Kammern. Am nöthigen Mobiliar und Geräth war kein Mangel.

Die Furcht weicht ebenso leicht vor nichtigen Beschwichtigungsgründen, als sie bei geringfügigen Anlässen kommt. Kaum war Jean Valjean in der Rue de l’ Homme-Armé installirt, als seine Angst nachließ, um bald ganz zu verschwinden. Eine stille Umgebung theilt schon rein mechanisch ihre Ruhe dem Gemüthe mit. Die einsame Straße, in der er jetzt wohnte, war so eng, daß man sie für Fuhrwerke mittels eines auf zwei Pfählen ruhenden Querbalkens gesperrt hatte; am hellen Tage erschien sie dämmrig und mit ihren uralten, schweigsamen Häusern so zu sagen jeder Aufregung unfähig. In dieser weltvergessenen Straße also athmete Jean Valjean auf. Wie hätte man ihn hier aufsuchen sollen?

Das Erste, was er that, war, daß er seinen Handkoffer neben sich legte.

Er schlief sanft und fest. Ueber Nacht kommt guter Rath, und, kann man sagen, auch Ruhe. Am nächsten Morgen war er, als er aufstand, ziemlich gut aufgeräumt und fand sogar das recht unschöne Speisezimmer reizend, das sich mit seinem alten, runden Tisch, seinem niedrigen Büffet nebst darüber geneigten Spiegel, seinem wurmstichigen Lehnstuhl und einigen mit Bündeln bepackten Stühlen nichts weniger als vortheilhaft ausnahm.

Was Cosette anbetrifft, so hatte sie sich von der Toussaint etwas Bouillon auf ihr Zimmer bringen lassen und kam erst am Nachmittag zum Vorschein.

Gegen fünf Uhr brachte dann die Magd, die alle Hände voll zu thun hatte, rasch ein Stück Geflügel, das Cosette, ihrem Vater zu Gefallen, sich herbeiließ anzusehen. Dann aber schützte sie eine hartnäckige Migräne vor, sagte Jean Valjean gute Nacht und verfügte sich in ihr Schlafzimmer. Dieser dagegen aß mit gutem Appetit einen Huhnflügel und gab sich, die Arme auf den Tisch gestützt, der Annehmlichkeit des wiedererwachten Sicherheitsgefühls hin.

Während dieses frugalen Mahles hörte er mehrere Male mit halbem Ohr, auf die Nachricht hin, die ihm die Toussaint herstotterte, daß in Paris ein Volksaufstand ausgebrochen sei; aber da seine Gedanken zu sehr mit seinen eignen Angelegenheiten beschäftigt waren, achtete er darauf so wenig, als hätte er nichts vernommen.

Nach Tische stand er auf und ging im Zimmer auf und ab, wobei allmählich mehr und mehr Ruhe in sein Herz einkehrte. Und in demselben Maße drehten sich seine Gedanken immer eifriger um das Hauptcentrum seines innern Lebens, um Cosette. Nicht, als ob er sich um ihre Migräne Sorgen machte. Diese kleine Nervenkrisis war höchstens ein unbedeutendes Resultat ihrer Verstimmung, wie sie bei jungen Mädchen oft genug vorkommt, und konnte nicht lange anhalten. Er dachte vielmehr bloß an die Zukunft und, wie es seine Gewohnheit war, mit weichen Gefühlen. Im Grunde genommen vermochte er nicht einzusehen, warum das gewohnte, ruhige Leben nicht wieder aufgenommen werden könnte. Zu gewissen Zeiten scheint dem Menschen Alles unmöglich; dann kommen wieder Stunden, wo ihm alles leicht erreichbar dünkt, und in dieser angenehmen Gemüthsverfassung befand Jean Valjean sich gerade. Solch ein Wechsel der Stimmung ist so einfach, wie die Aufeinanderfolge von Tag und Nacht, ein ebenso nothwendiger und durchaus kein willkürlicher Widerspruch, wie oberflächliche Menschen behaupten. Eben weil es in Jean Valjean’s Seele in der letzten Zeit genachtet hatte, leuchtete jetzt in seinem Innern heitres Licht. Daß er aus der Rue Plumet ohne neue Zwischenfälle und ohne Hindernis herausgekommen war, schien ihm schon ein guter Anfang. Vielleicht war es gerathen, Frankreich, wenn auch nur auf einige Monate zu verlassen und nach London zu gehn. Gut, das sollte geschehn. Ob er in Frankreich oder in England lebte, galt ihm gleich, wenn er nur Cosette um sich hatte. Das genügte zu seinem Glück. Denn daß er, er allein vielleicht Cosette nicht glücklich machen konnte, dieser Gedanke, der ihm ehedem so viele schlaflose Nächte bereitet hatte, kam ihm jetzt nicht einmal in den Sinn. Er stand eben unter dem Banne einer optimistischen Gemüthsstimmung, vor der alle Sorgen das Feld räumen müssen. Vermöge einer ganz gewöhnlichen Täuschung wähnte er, weil Cosette bei ihm war, gehöre sie ihm. Auf diese Weise fand er also leicht das für das Luftschloß seines künftigen Glückes erforderliche Baumaterial und räumte auch in seinem Kopfe mit geringer Mühe die Schwierigkeiten bei Seite, die sich seiner Auswandrung entgegenstellen mußten.

Während er von diesen angenehmen Träumereien umfangen, in seinem Zimmer auf und ab ging, fiel sein Blick auf etwas ganz Absonderliches.

Er las in dem schräg gehängten Spiegel, der über dem Büffet angebracht war, folgende Worte:

»Innigst geliebter Marius!

Mein Vater hat leider beschlossen, daß wir von hier sofort aufbrechen. Heute Abend quartieren wir uns Rue de l’ Homme-Armé, Nr. 7, ein. In acht Tagen werden wir in England sein.

4. Juni.

Deine Cosette.«

Starr vor Schrecken blieb Jean Valjean stehen.

Cosette hatte bei der Ankunft in der neuen Wohnung die Schreibmappe auf das Büffett, vor den Spiegel gelegt und sie, ganz von ihrem Liebeskummer in Anspruch genommen, da liegen lassen. Desgleichen lag auch das Löschblatt, worauf sie ihren Brief abgedrückt hatte, noch oben auf.

Der Spiegel reflektirte also das Geschriebene. Natürlich war das Bild, das er lieferte, ein verkehrtes; da aber die Buchstaben schon auf dem Löschblatt verkehrt standen, so wurde dem Auge die ursprüngliche, richtige Schrift gezeigt.

Jean Valjean trat näher an den Spiegel heran und las den Brief noch einmal, traute aber seinen Augen nicht. So etwas war ja nicht möglich!

Allmählich aber wurde es klarer in seinem Kopfe; er sah das Löschpapier an und bekam den Sinn für die Wirklichkeit wieder. Nun prüfte er die verkehrte Schrift, konnte aber natürlich aus dem sonderbaren Gekritzel auf dem Papier keinen Sinn herauslesen. »Unsinn! Das bedeutet ja überhaupt nichts: Lauter Kleckse!« dachte er und athmete mit voller Brust erleichtert auf. Wer hat nicht in schlimmen Lebenslagen ähnlich einfältige Anfälle von unmotivirter Freude bekommen? Die Seele überläßt sich ja nicht der Verzweiflung, ehe sie alle Illusionen erschöpft hat.

Er hielt also das Löschblatt in der Hand, betrachtete es mit glückseligen Blicken und war nahe daran, über die Sinnestäuschung zu lachen, die ihn so erschreckt hatte. Da fiel sein Blick plötzlich wieder auf den Spiegel und wieder sah er die fürchterlichen Zeilen darin. Dies Mal konnte er das nicht mehr für Blendwerk erklären. Visionen wiederholen sich nicht. Jetzt begriff er, wie die Sache zuging.

Er wankte, ließ das Blatt fahren und sank in einen Lehnstuhl, der neben dem Büffett stand. Ja, das Licht der Welt war verdunkelt, Cosette hatte das an irgend Jemand geschrieben. Da erwachte sein ehemaliges Ich und brüllte wüthend auf, wie ein Löwe, dem man einen, ihm zum Gefährten gegebnen Hund aus dem Käfig nehmen will.

Sonderbarer Weise war der Brief in jenem Augenblick noch garnicht in die Hände des Adressaten gelangt; ein verrätherischer Zufall zeigte ihn Jean Valjean, noch ehe derselbe Marius übergeben wurde.

Jean Valjean’s moralische Standhaftigkeit war bisher noch nicht vom Schicksal besiegt worden, so harte und mannigfaltige Proben es ihm auch zugemuthet. Er hatte seine Freiheit, sein Leben aufs Spiel gesetzt, alles verloren, alles erduldet und war stoisch, selbstlos wie ein Märtyrer geblieben. Jetzt aber schien die Rechtschaffenheit, die so viele Stürme abgeschlagen, nicht mehr widerstandsfähig.

Denn unter allen Qualen, mit denen ihn das Schicksal prüfte, war diese die furchtbarste, Diejenige, gegen die jede Fiber in ihm sich am schmerzlichsten auflehnte. Handelte es sich doch um den Verlust des Wesens, das er liebte.

Allerdings liebte der arme, alte Jean Valjean Cosette nicht anders, als mit Vaterliebe, aber da er sein Leben lang verwaist und vereinsamt da gestanden hatte, so widmete er all die Zärtlichkeit, die er nicht hatte ausgeben können, seiner Pflegetochter; er liebte sie, als wäre sie sein rechtes Kind, seine Mutter, seine Schwester gewesen, und da er nie geschlechtliche Liebe für ein Weib empfunden, die Natur aber eine Gläubigerin ist, die ihren Rechten nicht entsagt, so war auch dieser Trieb, ohne daß sich Jean Valjean dessen bewußt wurde, in seiner reinsten, göttlichsten Form dem Gefühl beigemischt, das er für Cosette hegte. Es war weniger eine Leidenschaft, als ein Instinkt, ja nicht einmal ein Instinkt, sondern eine Anziehungskraft, die sich in ihm äußerte, so daß die eigentliche Liebe allerdings in seiner heftigen Zärtlichkeit für Cosette enthalten war, aber verborgen und rein, wie das Gold in den Tiefen der Erde.

Als Jean Valjean also inne wurde, daß er Cosette einmal verlieren würde, daß sie ihm aus den Händen glitt, wie Wasser, wie Dunst; als er den niederschmetternden Beweis hatte, daß ihr Herz sich mit einem andern beschäftigte, daß er nur der Vater war, überschritt der Schmerz, den er empfand, jedes Maß. Solch ein Endergebniß, nachdem er so viel gethan! Bei diesem Gedanken, daß er für Cosette nichts mehr bedeuten, für sie nicht mehr existiren sollte, bäumte sich, wie wir erwähnten, der alte Egoismus wüthend in ihm auf.

Wie ein Haus einstürzen kann, so bricht auch bisweilen das moralische Ich eines Menschen plötzlich in sich zusammen. Wenn eine fürchterliche Gewißheit sich ihm aufdrängt, wenn die Verzweiflung sich seiner bemächtigt, so brechen gewisse Stützen und reißen bisweilen in ihrem Sturz das ganze sittliche Gebäude mit sich zu Boden. Erreicht ein Kummer einen so hohen Grad, so schlägt er alle Kräfte des Gewissens in die Flucht und nur Wenige von uns können aus einer solchen Krisis siegreich hervorgehen und der Pflicht treu bleiben.

So ging es auch Jean Valjean, der so redlich an seiner Besserung gearbeitet, der sich so eifrig bemüht hatte das ganze Leben, alles Elend und Unglück in Liebe aufzulösen: Als er in sein Innres blickte, sah er darin das Gespenst des Hasses.

Denn er errieth sofort, von wem der Schlag ausging. Gewisse Vorfälle, Daten, Eigenthümlichkeiten in Cosettens Verhalten, die ihm jetzt einfielen, bewiesen ihm, daß der Räuber seines Glückes kein Andrer, als der junge Bummler war, den er im Luxemburger Garten beobachtet hatte.

Während er sich dieser neuen Regung überließ, trat die Toussaint in das Zimmer. Er fragte sie:

»Sagen Sie mal, wo ist es denn? Wissen Sie’s?«

Die verwunderte Magd fand keine andere Erwidrung als:

»Wie beliebt?«

»Sie sagten doch vorhin, daß eine Revolte ausgebrochen ist?«

»Ach so! Bei der Kirche Saint-Merry.«

Fünf Minuten später saß Jean Valjean unten auf der Straße, auf einem Prellstein, der vor seinem Hause stand, und horchte in die Ferne.

Es nachtete bereits.

Ein Straßenjunge, der kein Freund des Lichtes ist

Wie lange saß er so da? Wie verlief die Fluth und Ebbe der Gedanken in seinem Innern? Gelang es ihm, sich wieder aufzurichten und bekam er wieder Grund unter den Füßen? Das hätte er selber nicht angeben können.

Die Straße war menschenleer. Einige Leute, die ängstlich nach Hause rannten, bemerkten ihn kaum. »Jeder für sich« heißt die Losung in den Zeiten der Gefahr. Der Laternenanstecker kam zur gewöhnlichen Zeit, zündete die Laterne, die vor Nr. 7 stand, an und ging weiter. Hätte er Jean Valjean angesehen, er würde ihn nicht für ein lebendes Wesen gehalten haben, so eisig starr und unbeweglich erschien er in seiner Verzweiflung. Die Uhr der Kirche Saint-Paul schlug elf, doch Jean Valjean rührte sich nicht. Aber bald nachher hörte man eine Gewehrsalve, die offenbar in der Nähe der Markthalle abgefeuert wurde und gleich darauf eine zweite. Es fand in diesem Augenblicke nämlich der Sturm auf die Barrikade statt, der durch Marius vereitelt wurde. Als er dieses Gewehrfeuer vernahm, das bei der Stille der Nacht noch fürchterlicher klang, fuhr Jean Valjean empor und horchte. Dann aber sank er wieder auf den Prellstein nieder, kreuzte die Arme und ließ den Kopf langsam auf die Brust herabfallen.

Plötzlich hörte er Schritte, die näher kamen, und sah bei dem Schein der Laterne, die in der Nähe des Archivgebäudes steht, ein bleiches, junges, vergnügtes Gesicht.

Es war Gavroche.

Der Junge schien etwas zu suchen. Er sah Jean Valjean, nahm aber keine Notiz von ihm.

Nachdem er nach oben gesehen hatte, richtete er die Augen nach unten, stellte sich auf die Fußspitzen, betastete Thüren und Fenster und konstatirte, daß sie alle gut verschlossen, verriegelt und verrammelt waren. Darüber zuckte er die Achseln und brummte:

»Na natürlich!«

Jean Valjean, der eben noch nicht im Stande gewesen wäre, einen Menschen anzureden oder auch nur auf eine Frage zu antworten, fühlte sich unwiderstehlich zu dem armen Jungen hingezogen.

»Kleiner,« fragte er, »was suchst Du? Fehlt Dir etwas?«

»Selber Kleiner,« antwortete Gavroche. »Ich habe Hunger.«

Jean Valjean griff in die Tasche und holte ein Fünffrankenstück hervor.

Aber Gavroche, der wie die Bachstelzen keine Sekunde lang still sitzen oder still stehen konnte, hob einen Stein von der Erde auf.

»Ihr laßt hier noch die Laternen brennen. Das ist ein Unfug, der jetzt nicht mehr geduldet werden kann. Die wollen wir gleich zertöppern.«

Mit diesen Worten warf er den Stein durch die Laterne hindurch und machte ein solches Getöse, daß die Leute im Hause gegenüber sich die Bettdecke noch höher über die Ohren zogen und an das Schreckensjahr 1793 dachten.

Das Licht schwankte heftig und erlosch, so daß die Straße plötzlich ganz dunkel wurde.

»So ist’s recht, alte Straße, setze Dir die Nachtmütze auf und mache Baba.«

»Wie heißt denn das große Gebäude da? Das ist das Archiv, nicht wahr? Könnte man denn nicht die plumpen dummen Säulen zum Barrikadenbau benutzen, damit sie doch mal zu was Vernünftigem dienten?«

Jean Valjean ging auf Gavroche zu.

»Der arme, kleine Kerl hat Hunger,« sagte er halblaut, und drückte ihm das Fünffrankenstück in die Hand.

Gavroche hob die Nase empor, höchlichst erstaunt über das große Geldstück. Er sah es an und sah, daß es Silber war, was ihm imponirte. Er kannte die Fünffrankenstücke vom Hörensagen und freute sich, daß er nun selber eine Münze besah, die sich eines so guten Rufes erfreute. Das Ungethüm, dachte er, wollen wir uns doch mal etwas näher besehen.

Er betrachtete es eine Weile mit stiller Andacht. Dann aber wandte er sich nach Jean Valjean um, hielt ihm das Geldstück hin und sagte würdevoll:

»Herr Geldsack, ich ziehe es vor Laternen entzwei zu schmeißen. Nehmen Sie das protzige Ding da zurück. Unsereins hat Ehrgefühl und läßt sich nicht bestechen.«

»Hast Du eine Mutter?« fragte Jean Valjean.

»Gewiß haben wir eine Mutter, wie Sie Sich keine leisten können.«

»Dann behalte das Geld und gieb es ihr.«

Gavroche war gerührt. Außerdem hatte er auch eben bemerkt, daß der Mann keinen Hut hatte, und das flößte ihm Vertrauen ein.

»Geben Sie mir das wirklich nicht, damit ich keine Laternen entzwei schmeißen soll?«

»Mache alles entzwei, was Du willst.«

»Sie sind ein guter Mensch,« konstatirte Gavroche und steckte das Geld ein.

Mit gesteigertem Vertrauen fragte er dann:

»Wohnen Sie hier in der Straße?«

»Ja; warum?«

»Könnten Sie mir zeigen, wo Nr. 7 ist?«

»Was willst Du in Nr. 7?«

Der Junge fürchtete, er habe sich zu weit vorgewagt, fuhr energisch mit den Fingern durch seine Haare und sagte:

»Das geht Keinen was an.«

Ein Gedanke zuckte Jean Valjean durch den Kopf.

»Ich warte auf einen Brief. Bist Du derjenige, der ihn mir bringen soll?«

»Sie? Denk nicht dran! Sie sind kein Frauenzimmer.«

»Der Brief ist an Fräulein Cosette adressirt, nicht wahr?«

»Cosette? Hm! Ich glaube ja, so heißt sie.«

»Gut. So gieb ihn her. Ich soll ihn in Empfang nehmen.«

»In dem Fall müssen Sie wissen, daß ich von der Barrikade herkomme?«

»Selbstredend.«

Gavroche schob die Faust in die Tasche und holte ein gefaltetes Papier hervor, dem er die militärischen Honneurs machte.

»Alle Achtung vor der Depesche, die kommt von der provisorischen Regierung.«

»Her damit!« rief Jean Valjean.

Gavroche zögerte noch.

»Eigentlich scheinen Sie es wert zu sein, daß man Ihnen Vertrauen schenkt,« sagte er dann aber, nachdem er Jean Valjean noch einmal gemustert hatte.

»Mach schnell.«

»Da!«

»Muß die Antwort bei der Kirche Saint-Merry abgegeben werden?« fragte Jean Valjean.

»Mit nichten. Sie würden da einen Weg wandeln, der das gemeine Volk den Holzweg nennt. Der Brief kommt von der Barrikade und dahin gehe ich jetzt zurück.«

Mit diesen Worten ging oder flitzte vielmehr Gavroche davon. Aber doch nicht ganz so schnell, wie man auf den ersten Blick hätte glauben sollen. Er ließ sich noch die Zeit, unterwegs verschiedene Laternen zu »zertöppern« und die »anständigen« Leute zu ängstigen.

Während Cosette und die Toussaint schlafen

Jean Valjean eilte mit dem Brief sofort in das Haus zurück.

Er tastete sich die Treppen hinauf, indem er sich wie ein Uhu, der einen guten Fang gethan, zu der Finsternis Glück wünschte, machte leise die Thür auf und wieder zu, horchte und bemerkte, daß allem Anschein nach Cosette und die Toussaint schliefen, verbrauchte — so stark zitterte seine Hand, drei oder vier Zündhölzer, ehe es ihm gelang, Licht zu machen, setzte sich an den Tisch und faltete das Papier auseinander.

Wenn man heftig erregt ist, liest man nicht, sondern sucht den Inhalt des Geschriebnen so zu sagen mit einem Ruck zu erfassen, springt ans Ende, eilt wieder zurück, und ist zufrieden, wenn man mit dem ersten Blick die Hauptsache herausgreift.

Auch Jean Valjean las zu Anfang nur folgende Worte:

»Ich will sterben. Wenn Du diese Worte liest, wird mein Geist schon bei Dir weilen.«

Eine wilde, fürchterliche Freude ergriff ihn. So fand die Sache einen schnellern Abschluß, als zu erwarten gewesen war. Der Mensch, der seinem Glück so hinderlich war, ging ihm von selber, freiwillig aus dem Wege. Ob er vielleicht schon in diesem Augenblick das Feld geräumt hatte? Nein. Noch konnte er nicht tot sein. Der Brief sollte offenbar erst am nächsten Morgen gelesen werden. Seit den beiden Gewehrsalven zwischen elf und zwölf Uhr war nichts mehr gewesen; also konnte ein entscheidender Angriff auf die Barrikade nicht erfolgen. Aber was schadete das; der Mensch hatte sich in den Straßenkrieg hineingestürzt und war so wie so verloren. — Ein Stein fiel Jean Valjean vom Herzen. Er brauchte den Zettel blos in der Tasche behalten, so erfuhr Cosette nie, was aus »dem Menschen« geworden war. Welch ein Glück, daß sich alles so gefügt hatte!

Aber es kam keine wahre Freude in ihm auf. Er sah finster und traurig aus.

Nachdem er den Brief gelesen, ging er hinunter und weckte den Portier.

Eine Stunde später ging Jean Valjean in seiner Bürgerwehruniform und in Waffen aus. Der Portier hatte ihm alles verschafft, was er zur Vervollständigung seiner Ausrüstung noch brauchte. Er trug ein geladnes Gewehr und eine volle Patronentasche. So marschirte er in der Richtung der Markthalle.

Gavroches Eifer für die gute Sache

Mittlerweile war Gavroche etwas Gefährliches passirt.

Nachdem er gewissenhaft alle Laternen der Rue du Chaume gesteinigt hatte, kam er in die Rue des Vieilles-Haudriettes, eine Straße, wo keine Menschenseele zu sehen war. Um sich zu entschädigen, gröhlte er mit der ganzen Kraft seiner Lungen ein blödsinniges Lied, dem er mittels nicht minder unsinniger Grimassen und Gebärden einen tiefen Sinn unter zu legen sich bemühte. Leider gingen seine mimischen Leistungen vollständig verloren, weil Niemand da war, sie zu bewundern und man auch die Hand kaum vor Augen sehen konnte. Dafür durfte er sich aber mit dem Gedanken trösten, daß so mancher brave Spießbürger urplötzlich aus dem ersten Schlafe aufgeschreckt, den »Gesang« für das Kriegsgeheul einer Horde mordbrennerischer Revolutionäre halten würde. Und das war ein riesiger Gedanke.

Auf ein Mal blieb der kleine Kerl wie angewurzelt stehen.

»Jetzt mal einen Augenblick den Rand halten!« dachte er.

Seine Katzenaugen hatten in einem dunkeln Thorweg einen zweirädrigen Wagen und einen Auvergnaten darauf gesehen. Die Gabeldeichsel ruhte mit den Enden auf der Erde und der Auvergnat ruhte auf der Gabeldeichsel, während nur sein Kopf im Wagen selber lag.

Mit seiner ausgedehnten Kenntniß der Menschen und Dinge dieser Welt sagte sich Gavroche sofort, daß der Auvergnat zwar nicht seinen Wagen, dafür aber selber desto schwerer geladen hatte.

Es war in der That ein Eckensteher, der sich ungemein viel hinter die Binde gegossen hatte und wie ein Ratz schlief.

»Das wäre was für unsre Barrikade!« dachte Gavroche. »Ich beschlagnahme den Wagen für die Republik und überlasse den Thrantreter der Monarchie.«

Demzufolge zerrte er den Betrunknen an den Füßen nach vorn und das Fuhrwerk nach hinten, bis der brave Eckensteher auf die Erde glitt.

Um auf alle Fälle vorbereitet zu sein, trug Gavroche stets allerhand Sachen bei sich. Er brauchte also bloß in seine Tasche zu greifen und fand darin Papier und Rothstift, Dinge, die er sich verschafft hatte, indem er in die Tasche eines Zimmermanns griff. Damit stellte er folgenden Schein aus:

Im Namen der französischen Republik!

Den Empfang eines Karrens bescheinigt hiermit

Gavroche.

Hierauf steckte er den Zettel dem tapfer schnarchenden Trunkenbold in die Westentasche, packte die Deichsel mit seinen beiden Fäusten und trabte dann mit dem Wagen, indem er ein fürchterliches Triumphgebrüll anstimmte, in der Richtung der Markthalle weiter.

Dies war aber ein gefährliches Wagestück. In der Königlichen Druckerei lag ein Wachtposten, an den Gavroche nicht dachte, allerdings nur Bürgerwehr aus der Umgegend von Paris. Der Gesang und das fürchterliche Gekrach und Geklirr mehrerer zerbrochner Laternen weckten die braven Spießbürger. Sie erhoben ihre Häupter von den Pritschen und horchten. Was in aller Welt mochte denn draußen vorgehen? Dieses Stadtviertel war doch sonst so still. Seit einer geraumen Weile aber hörten sie bald hier, bald da einen Höllenskandal. Von dieser Ansicht durchdrungen und in der Meinung, daß Vorsicht der beste Theil der Tapferkeit sei, beschloß denn auch der Sergeant, der den Posten befehligte, eine abwartende Haltung zu beobachten.

Als dann aber der Wagen wie rasend über das Pflaster rumpelte und rasselte, als das Triumphgeheul an sein Ohr drang, beschloß der Sergeant in seinem Pflichtbewußtsein, daß nun das Maß der Wartegeduld zum Ueberlaufen voll sei und daß eine vorsichtige Recognoscirung durch die Umstände geboten sei.

»Das muß ja eine ganze Bande sein!« meinte er. »Da heißt’s mit Schlauheit operiren.«

Es war augenscheinlich, daß die Hydra der Anarchie aus ihrer Höhle gekrochen war und in dem Stadtviertel ihr Unwesen trieb.

Der Sergeant ging also mit leisen Schritten auf die Straße hinaus.

Plötzlich, als er eben an dem Ende der Rue des Vieilles-Haudriettes angelangt war, stand Gavroche mit seinem Karren einer Uniform nebst Tschako und Gewehr gegenüber.

Zum zweiten Mal blieb er wie angewurzelt stehen. Aber Gavroche’s Verblüfftheit war stets eine kurzlebige und thaute rasch auf.

»Guten Abend, Säule des Staats und der Ordnung!«

»Wo gehst Du hin, Lümmel?« herrschte ihn der Sergeant an.

»Bürger, ich habe Sie noch nicht Bourgeois geschumpfen. Warum beleidigen Sie mich also:

›Wo gehst Du hin, Bengel?‹

Armer Freund, Sie haben vielleicht mal viel Grips gehabt; aber dann hat Ihr Verstandskasten ein Loch gekriegt. Sehen Sie mal nach und Sie werden Sich gewiß leicht überzeugen, daß keiner mehr drin ist.«

»Frecher Schlingel, ich frage Dich, wo Du hingehst?« brüllte der Sergeant und fällte das Bajonett.

»Herr General, ich suche einen Arzt für meine Gattin, die in den Wochen liegt.«

»Ins Gewehr!« donnerte der Sergeant.

Das zur Rettung zu benutzen, was Einen ins Verderben gestürzt hat, ist ein beliebtes Auskunftsmittel genialer Naturen, zu denen auch unser Gavroche gehörte. Er überschaute die Lage mit einem Blick und begriff sofort, daß der Karren, durch den er in Gefahr gerathen war, ihn auch retten konnte.

Als der Sergeant eben zum Angriff vorging, schob er ihm mit aller Kraft den Wagen entgegen und gegen die Brust getroffen, fiel der tapfre Spießbürger rücklings in den Rinnstein, während sein Gewehr sich in die Luft entlud.

Beim Kommandoruf des Sergeanten war die Mannschaft des Postens Hals über Kopf auf die Straße gestürzt und als nun das Gewehr losging, feuerten alle blindlings darauf los, worauf sie wieder luden und weiter schossen.

Dieses stramme Gewehrfeuer dauerte eine gute Viertelstunde und kostete nicht wenigen Fensterscheiben das Leben.

Unterdessen rannte Gavroche, dessen Angst nicht geringer war, als die der von ihm angegriffenen Spießbürger, durch fünf bis sechs Straßen hindurch, bis er nicht weiter konnte und sich athemlos auf einen Prellstein setzen mußte.

Hier horchte er.

Nachdem er sich etwas verschnauft hatte, wandte er sich nach der Gegend um, wo das Gewehrfeuer knatterte, hob die linke Hand bis zu seiner Nase empor und schlenkerte sie drei Mal nach vorn, wobei er sich mit der Rechten auf den Hinterkopf schlug, eine selbstbewußte Geberde, mit der die Pariser Straßenjugend der französischen Spott- und Lachlust Ausdruck verleiht und die wohl wirksam sein muß, da sie schon ein halbes Jahrhundert in Brauch ist.

Diese Heiterkeit trübte aber ein bittrer Gedanke.

»Ist alles gut; ich bin urvergnügt, ich krümme mich, ich möchte platzen vor Lachen, aber währenddem komme ich von meinem Wege ab. Ich werde einen großen Bogen machen müssen, wenn ich nur zur rechten Zeit nach der Barrikade komme!«

Mit diesen Worten setzte er sich in Trab, wobei er es aber nicht unterließ, das endlose Lied, das er in der Rue des Vielles-Haudriettes angestimmt hatte, weiter zu singen.

Die Bürgerwehr in der Königlichen Buchdruckerei war aber nicht umsonst ins Gewehr getreten. Der Karren wurde erobert und der betrunkne Auvergnat zum Gefangnen gemacht. Ersterer wanderte in den Pfandstall, Letztrer wurde vor Gericht gestellt und gab dem Staatsanwalt Gelegenheit, seinen Eifer für das Wohl der Gesellschaft herrlich zu entfalten.

Gavroche’s Abenteuer, das noch in den Überlieferungen des Templeviertels lebt, ist eine der schrecklichsten Erinnrungen der alten Leute jener Gegend. Sie nennen es den »nächtlichen Ueberfall des Postens in der Königlichen Buchdruckerei.«

Teil V

Jean Valjean

Eine Schlacht zwischen vier Wänden

Die Charybdis in der Vorstadt Saint-Antoine und die Scylla in der Vorstadt des Temple

Die beiden denkwürdigsten Barrikaden, die der Beobachter der socialen Kämpfe anführen kann, gehören nicht der Zeit an, in der sich die Handlung dieses Buches abspielt. Diese beiden Schanzen, die in verschiedner Hinsicht Symbole einer furchtbaren Periode waren, entstanden während der Junirevolution des Jahres 1848, des größten Straßenkampfes, den die Geschichte gesehen hat.

Es kommt hier und da vor, daß den Principien, ja sogar der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, ja sogar dem allgemeinen Stimmrecht, der Herrschaft Aller zum Trotze der ewig verzweifelte Theil der Nation, das Gesindel in seiner Angst, seiner Pein, seinem Elend, seiner Unwissenheit zu den Waffen greift, daß der Pöbel dem Volk eine Schlacht liefert, sich gegen das gemeinsame Recht auflehnt.

Dergleichen Ereignisse stimmen den Menschenfreund schwermüthig, denn auch diesem verrückten Beginnen liegt ein gewisses Maß Recht zu Grunde und die Schimpfworte Lumpe, Gesindel, Ochlokratie, Pöbel, konstatieren leider eher ein Verschulden der herrschenden, als der leidenden Stände, eher der Bevorrechtigten, als der Enterbten.

Was uns persönlich betrifft, so sprechen wir diese Worte nie ohne ein Gefühl des Mitleids und der Achtung aus. Denn wenn die Philosophie den ihnen entsprechenden Tatsachen auf den Grund geht, so findet sie oft recht viel Großes und Erhabnes neben Gemeinheit und Elend. Athen hatte eine ochlokratische Regierung; die Geusen haben Holland unabhängig gemacht; der Pöbel hat mehr als ein Mal Rom gerettet und Gesindel folgte Jesus Christus nach.

Es giebt keinen Denker, der nicht bisweilen dem gemeinen Volk den Zoll seiner Bewundrung dargebracht hätte.

An das Gesindel dachte zweifellos der heilige Hieronymus, an die armen Leute, an die Landstreicher, an die Elenden, aus denen die Apostel und Märtyrer hervorgegangen sind, als er Fex urbis, lex orbis sagte.

Die Erbittrung der Leidenden, ihre widersinnigen, gewaltthätigen Auflehnungen gegen die Prinzipien, die ihnen das Leben geben, ihre Angriffe auf das Recht sind Staatsstreiche des Volkes und müssen zurückgewiesen werden. Der rechtschaffne Mann setzt zu diesem Zweck sein Leben ein und bekämpft die aufrührerischen Massen, eben weil er sie liebt. Aber während er ihnen Widerstand entgegensetzt, fühlt er, daß sie zu entschuldigen sind. Es ist dies eine der wenigen Lagen, wo man seine Schuldigkeit thut, aber mit Widerstreben, mit blutendem Herzen.

Die Junirevolution des Jahres 1848 ist eine eigenartige Thatsache, deren Unterbringung und Charakterisirung der Philosophie der Geschichte schwer fällt. Alle Bezeichnungen, die wir oben gebraucht haben, müssen aus dem Spiel gelassen werden, wenn es sich um diesen außergewöhnlichen Aufruhr handelt, wo die Arbeit in ihrer heiligen Angst ihr Recht forderte. Das Gebot der Pflicht erheischte, daß man ihn unterdrückte, denn er griff die Republik an. Aber was war diese Junirevolte? Eine Empörung des Volkes gegen das Volk.

Wo das Thema nicht aus den Augen verloren wird, findet keine Abschweifung statt. Es sei uns also gestattet, die Aufmerksamkeit des Lesers auf jene beiden, oben erwähnten Barrikaden zu lenken, die ein wesentliches Merkmal des Juni-Aufruhrs bilden.

Die eine lag an dem Eingang zu der Vorstadt Saint Antoine, die andre bezweckte die Vertheidigung der Vorstadt des Temple. Sie wird Denen, vor deren Augen sie unter dem blauen Junihimmel aus der Erde emporwuchsen, für immer unvergeßlich sein.

Die Barrikade Saint-Antoine war ein ungeheurer Bau; drei Stockwerke hoch, maß sie siebenhundert Fuß in der Breite. Sie versperrte von einer Ecke bis zur andern, die weite Mündung der Vorstadt, also drei Straßen, die hier ausliefen. Voller Ungleichheiten, Einschnitte und Auszackungen, durch kleinere Schanzen verstärkt, mit Vorragungen versehen, an zwei große Häusergruppen gelehnt, erhob sie sich wie ein Cyklopenbau im Hintergrunde des Platzes, der durch die Erstürmung der Bastille berühmt geworden ist. Hinter dieser Mutterbarrikade ragten neunzehn andre solche Verschanzungen zum Himmel empor. Bei ihrem bloßen Anblick ahnte man, daß in dieser Vorstadt das Elend seinen höchsten Gipfelpunkt erreicht hatte, denjenigen, wo es in eine Katastrophe umschlägt. — Woraus wurde diese Barrikade erbaut? Aus den Bestandtheilen dreier sechsstöckiger Häuser, die eigens zu diesem Zwecke zerstört wurden, sagen Manche. Nein, meinen Andre, ein Wunder von Muth und Ingrimm war das Material, aus dem sie emporwuchs. Sie war, wie alle Werke des Hasses, aus Trümmern aufgebaut. Man konnte fragen: Wer hat das gebaut? Aber man konnte die Frage auch so stellen: Wer hat diese Ruine geschaffen? Es war die Improvisation einer Gährung des Volksgeistes. Hurrah! Die Thür da, das Gitter, die Marquise, das Gesims, das Kohlenbecken, der zersprungene Topf! Gebt, schmeißt alles her! Zerhaut, zerreißt, zerbrecht, demolirt Alles! Da wurden Pflastersteine, Bausteine, Balken, Eisenstangen, Lumpen, Fliesen, zerbrochne Stühle, Kohlstrünke, Lappen und — Verwünschungen requirirt! Es war großartig und war auch erbärmlich, eine Parodie des Chaos durch das Tohuwabohu, ein Gemenge von gewaltigen Massen und Winzigkeiten, Quadersteinen und zerbrochnen Näpfen, eine unheimliche Verbrüderung aller Arten von Trümmern. Sisyphusse hatten hier ihre Felsen und Hiob seine Scherben beigesteuert. Kurz, etwas Grausiges. War es doch die Akropolis der Hungerleider. Umgestürzte Fuhrwerke hingen an der Böschung herab; ein großer Rollwagen lag quer hingestreckt mit der Achse nach oben; einen Omnibus hatte man mit den Händen hinaufgezogen, als hätte man den Ulk zu dem Schrecken hinzufügen wollen und die Deichsel so gerichtet, als sollten eben Pferde vorgespannt werden.

Diese aufeinander getürmten Trümmer waren passende Sinnbilder aller vorangegangnen Revolutionen; hier lag 1793 auf 1789, der 9. Thermidor auf dem 10. August, der 18. Brumaire auf dem 24. Januar, 1848 auf 1830. Auch die Stelle war gut gewählt und die Barrikade war es wert, auf dem Platze zu stehen, wo einst die Bastille zerstört worden war.

Diese Barrikade also wurde, wie gesagt, im Namen der Revolution gegen die Revolution errichtet. Diesem Werk des Zufalls, der Unordnung, der Verwirrung, des Mißverständnisses, des Unbekannten, stand gegenüber die konstituirende Versammlung, die Herrschaft des Volkes, das allgemeine Stimmrecht, die Nation, die Republik; sie repräsentirte die Carmagnole und forderte die Marseillaise heraus.

Eine thörichte, aber heldenmüthige Herausfordrung, denn die alte Vorstadt Saint-Antoine ist eine Pflanzstätte von Helden.

An dieser gewaltigen Barrikade, die der Vorstadt vorgelagert war, scheiterte die Strategik von Generälen, die in Afrika mit Auszeichnung gefochten hatten. Mit ihren Vertiefungen, Lücken, Buckeln und Spitzen, machte sie gleichsam Grimassen, womit sie die Angreifer verhöhnte. Die Kugeln und Bomben verschwanden darin wirkungslos, wie in einem Abgrund; sie schlugen höchstens Löcher. Wer kann auch ein Chaos zerstören? Und Regimenter, die an die furchtbarsten Kämpfe gewöhnt waren, betrachteten bedenklich diese Bestie von Berg, die sich wie ein wilder Eber wehrte.

Zwei Kilometer davon bemerkte man, wenn man von der Ecke der Rue du Temple, — da wo sie auf die Place du Château d’ Eau mündet, — die Strasse, die nach Belleville hinaufführt, entlangblickte, in der Ferne, jenseit des Kanals, eine seltsame, zwei Stockwerke hohe Mauer, die gleichsam einen Bindestrich zwischen der rechten und linken Häuserreihe bildete. Es war, als hätte die Straße ihre höchste Mauer von beiden Seiten aus zusammengeklappt um ihren Zugang zu verschließen. Diese Mauer bestand aus Pflastersteinen und war gerade, nach allen Regeln der Kunst mit Winkelmaß und Senkloth gebaut. Allerdings ohne Cement, aber das that, wie bei gewissen römischen Mauerwerken, der strengen Architektur des Baues keinen Abbruch. Ihrer Höhe entsprach ihre Stärke, und oben war sie genau so breit wie unten. In gleichen Zwischenräumen hatte man auf ihrer grauen Oberfläche, kaum sichtbare Schießscharten angebracht, die schwarzen Fäden ähnelten. Die Straße schien, so weit das Auge reichte, menschenleer, alle Fenster und Thüren waren geschlossen. Am Ende erhob sich diese Barrikade, welche die Straße in eine Sackgasse verwandelte, auf der vollständige Stille herrschte. Man sah und hörte keinen Menschen. Ein Grabesschweigen.

Die mächtige Junisonne übergoß dieses Schreckensding mit ihren blendenden Strahlen.

Dies war die Barrikade der Vorstadt des Temple.

Stand man davor und betrachtete sie, so war es auch dem Muthigsten unmöglich, vor diesem geheimnißvollen Phänomen nicht nachdenklich zu werden. Der Baumeister dieser Barrikade, sagte man sich, ist ein Geometer oder ein Geist. Man dämpfte die Stimme, wenn man das erblickte.

Von Zeit zu Zeit, wenn Jemand — ein Soldat, Offizier oder Volksvertreter, es wagte über den Damm zu gehen, hörte man ein scharfes, schwaches Pfeifen und der Betreffende stürzte tot oder verwundet hin. Entkam er aber unverletzt, so schlug eine Kugel in einen Fensterladen oder in die Mauer eines Hauses. Manchmal war es eine Kartätschenkugel. Denn die Vertheidiger der Barrikade hatten aus zwei gußeisernen Gasleitungsröhren, die an dem einen Ende mit Werg und Ofenerde verstopft wurden, zwei kleine Kanonen verfertigt. Pulververschwendung gab es nicht. Fast jeder Schuß traf. Es lagen einige Leichen auf der Straße und man sah hier und da Blutlachen. Ich erinnere mich eines weißen Schmetterlings, der in der Straße hin und her flatterte. Der Sommer entsagt seinen Rechten nicht.

In der Umgegend waren in den Thorwegen eine Menge Verwundeter untergebracht. Die unsichtbare Bemannung der Barrikade duldete Niemanden auf der Straße.

Hinter die gewölbte Brücke, — die am Anfang der Vorstadt über den Kanal führt, — concentrirt, beobachteten die Soldaten der Angriffskolonne mit ernster Aufmerksamkeit den düstern, schweigsamen Bau, der den Tod um sich verbreitete. Einige krochen auf allen Vieren die Brücke hinauf, indem sie darauf achteten, daß ihre Tschakos nicht hinüberragten.

Der tapfre Oberst Monteynard bewunderte schaudernd diese Barrikade. — »Wie das gebaut ist!« sagte er zu einem Abgeordneten. »Nicht ein Stein, der einen andern überragt. Das ist so glatt wie Porzellan.« — In demselben Augenblick zerbrach aber auch schon eine Kugel das Kreuz der Ehrenlegion, das er auf der Brust trug, und er stürzte zu Boden.

»Die feigen Schufte!« hieß es. »Sie lassen sich nicht sehen; sie verkriechen sich!« — Aber diese Barrikade, die nur achtzig Mann Besatzung hatte, hielt sich drei Tage lang gegen zehntausend Angreifer. Am vierten Tage machte man es wie in Zaatscha und Constantine, man bahnte sich Wege in dem Innern der Häuser, indem man die Wände durchbrach, stieg auf die Dächer und eroberte so die Barrikade. Keinem einzigen von den »Feiglingen« fiel es ein, sein Heil in der Flucht zu suchen; Alle wurden getötet, mit Ausnahme des Anführers, Barthélemy, auf den wir weiterhin zurückkommen werden.

Die beiden Bollwerke waren von zwei Leuten, die der Vorstadt Saint-Antoine von Cournet die des Temple von Barthélemy entworfen worden. Jede entsprach, ihrer Art nach, dem Character des Erbauers.

Cournet war ein Mann von hoher Statur, mit breiten Schultern, rothem Gesicht, fürchterlichen Fäusten, kühnem Herzen, biedern Sinn, aufrichtigem und schrecklichem Blick; unerschrocken, energisch, jähzornig; gemüthvoll im Umgang mit Freunden und furchtbar in der Schlacht. Krieg und Kampf waren sein Lebenselement, in dem er sich wohl fühlte und vergnügt war. Man merkte es diesem ehemaligen Marineoffizier an, daß er mit den Stürmen des Ozeans Bekanntschaft gemacht hatte und durch sie gestählt worden war. Abgesehen vom Genie hatte Cournet einige Aehnlichkeit mit Danton, der seinerseits wieder abgesehen von der Göttlichkeit, dem Herkules glich.

Barthélemy, ein schmächtiger, blasser, schweigsamer Mann hatte als junger Mensch das tragische Geschick gehabt, daß er von einem Schutzmann geohrfeigt und, als er aus Rache seinem Beleidiger auflauerte und ihn tötete, im Alter von siebzehn Jahren zum Zuchthaus verurtheilt wurde.

Späterhin als Beide in London in der Verbannung lebten, wollte es ein böses Geschick, daß Barthélemy Cournet im Duell tötete. Einige Zeit nachher wurde er wegen eines Abenteuers, in dem die Liebe eine Rolle spielte und wo die französische Justiz mildernde Umstände zugebilligt hätte, zum Tode durch den Strang verurtheilt. Der traurige Gesellschaftsbau ist so eingerichtet, daß in Folge materieller Entbehrung und moralischer Vernachlässigung, der Unglückliche, der einen scharfen, ja vielleicht genialen Verstand hatte, in Frankreich mit dem Zuchthaus anfing und in England mit dem Galgen endete. Barthélemy pflanzte immer nur eine, die schwarze, Fahne auf.

Angesichts des Verderbens

Sechzehn Jahre zählen in der Erziehung eines Volkes; deshalb wußte es im Juni l848 viel besser Bescheid in der schaurigen Technik des Straßenkrieges als im Jahre 1832. Daher war die Barrikade in der Rue de la Chanvrerie nur eine Skizze, nur ein Kind gegen die im vorigen Kapitel beschriebnen Kolossalbauten; aber für jene Zeit war sie doch furchtbar genug.

Unter der Leitung Enjolra’s, denn Marius bekümmerte sich um nichts mehr, machte man sich die Nacht zu Nutze. Die Barrikade wurde nicht nur reparirt, sondern sogar verstärkt, um zwei Fuß erhöht, mit eisernen Stangen, die wie eingelegte Lanzen hervorragten, gespickt, nach außen hin mittels allerlei Schutt und Abraum schwerer erklimmbar, nach innen durch Mauerwerk fester gemacht.

Desgleichen stellte man die innere, steinerne Treppe wieder her.

Ferner wurde die Gaststube aufgeräumt, die Küche als Ambulanz eingerichtet, die Verwundeten vollständig verbunden, das an der Erde und auf den Tischen verstreute Pulver aufgelesen, Kugeln gegossen, Patronen fabrizirt, Charpie gezupft, die herrenlosen Waffen vertheilt, das Innre der Redoute gesäubert, die Trümmer aufgenommen, die Leichen fortgetragen.

Die Toten legte man in der Rue Mondétour, die man noch immer beherrschte, auf einen Haufen. Das Pflaster ist an dieser Stelle noch lange Zeit nachher roth gewesen. Unter den Getöteten befanden sich auch vier Nationalgardisten, deren Uniformen Enjolras bei Seite legen ließ.

Er hatte seinen Leuten den Rath gegeben, zwei Stunden zu schlafen. Ein Rath von Enjolras war so gut wie ein Befehl. Aber nur Drei oder Vier befolgten ihn. Feuilly benutzte diese Zeit, um an der Außenwand des Hauses, das der Schänke gegenüberlag, mit einem Nagel eine Inschrift einzukratzen, die noch 1848 da zu lesen war: »Vivant die Völker!«

Die drei Frauen benutzten die nächtliche Frist um ganz zu verschwinden, so daß die Insurgenten sich nun ungenirter fühlten. Die Aermsten hatten nämlich Mittel und Wege gefunden, sich in ein Nachbarhaus zu flüchten.

Von den Verwundeten konnten und wollten die meisten noch weiter kämpfen. Es lagen in der Küche auf Matratzen und Stroh ihrer Fünf, die schwer verletzt waren, darunter zwei Municipalgardisten. Diese Letzteren wurden zuerst verbunden.

In der Gaststube ließ man nur die Leiche Mabeuf’s unter ihrem schwarzen Tuche und den an den Pfahl gebundnen Javert.

»Das hier ist der Totensaal!« meinte Enjolras.

Bei dem schwachen Schein des Talglichts, womit der niedrige Saal erleuchtet war, bildete im Hintergrunde der Schatten des aufrechtstehenden Javert mit dem der liegenden Leiche eine Art Kreuz.

Die Deichsel des Omnibus war, obgleich durch die Kugeln verstümmelt, doch noch solide genug, daß man eine Fahne wieder daran befestigen konnte.

Enjolras, der die für einen Befehlshaber nothwendige Tugend besaß, stets, was er sagte, auch zu thun, band den durchlöcherten, blutigen Rock des getöteten Greises an die Fahnenstange.

Eine Mahlzeit zu halten, lag nicht mehr im Bereiche der Möglichkeit. Es war weder Brod noch Fleisch vorhanden. Die fünfzig Menschen, die das Wirtshaus seit sechzehn Stunden besetzt hielten, hatten schnell mit den geringen Vorräthen, die sich im Hause befanden, aufgeräumt. Hat doch eine jede Barrikade, die sich einige Zeit gegen ihre Angreifer hält, ein ähnliches Schicksal wie ein Floß, auf dem Schiffbrüchige, fern vom Lande und aller menschlichen Hülfe bar, von den Wellen des Ozeans hin und her getrieben werden. Unsere Barrikadenkämpfer mußten sich also die Lust zum Essen vergehen lassen. So ging es auch bei der Kirche Saint-Merry zu. Als dort Jeanne von ihren Leuten um Brod angegangen wurde, rief sie: »Was? Essen wollt Ihr noch? Es ist drei Uhr. Um vier Uhr ist es mit uns Allen schon vorbei!«

Da man nichts mehr besaß, um den Hunger zu stillen, wollte Enjolras auch nicht, daß zu trinken geschenkt wurde. Er genehmigte keinen Wein und verabfolgte nur geringe Rationen Branntwein.

Im Keller waren fünfzehn hermetisch versiegelte Flaschen gefunden worden, und Combeferre meinte: Das ist alter Wein, der stammt von der Zeit her, wo Vater Hucheloup einen Kramladen hatte. — »Dann muß es eine gute Sorte sein,« sagte Laigle. »Ein Glück, daß Grantaire schläft, sonst würde man Mühe und Noth haben, die Flaschen vor ihm zu retten.« — Enjolras belegte trotz allgemeinen Widerspruchs die fünfzehn Flaschen mit Beschlag und ließ sie, damit Niemand sie anrühre, unter den Tisch stellen, aus dem Vater Mabeuf’s Leiche lag, wodurch sie gewissermaßen heilig und unverletzlich wurden.

Gegen zwei Uhr Morgens wurde eine Zählung vorgenommen. Es waren ihrer noch siebenunddreißig kampffähige Männer.

Bald darauf graute der Morgen. Vorher war die Fackel, die man wieder in ihrem steinernen Behälter untergebracht hatte, schon ausgelöscht worden. Das Innere der Barrikade, gleichsam eine Art auf offener Straße angelegter Hof, erschien in Dunkelheit getaucht und erinnerte, so weit man ihn bei dem ersten, schwachen Dämmerlicht überschauen konnte, an das Deck eines entmasteten Schiffes, auf dem sich schwarze Gestalten herumbewegen. Ueber dieser dunklen Tiefe zeichneten sich die Stockwerke der stillen Häuser fahl, ganz oben die Schornsteine, etwas heller ab. Die Farbe des Himmels war jene hübsche, unentschiedne Schattirung, die halb weiß, halb blau ist. Schon zwitscherten vergnügt die Vögel in der Luft. Das hohe Haus, das hinter der Barrikade lag und seine Front dem Osten zukehrte, war mit einem rosigen Schimmer überleuchtet. Oben an der Luke des dritten Stockwerks spielte der Wind mit den grauen Haaren des erschossenen Portiers.

»Ich freue mich,« bemerkte Courfeyrac zu Feuilly, »daß die Fackel ausgelöscht ist. Mit ihrem zittrigen Licht sah sie aus, als fürchte sie sich, und glich der Weisheit der Philosophen, die sich auch nur deshalb so klug geberden, weil sie ihre Angst vor den Mächtigen bemänteln wollen.«

Die Morgenröthe weckt nicht bloß die Vögel, sondern auch den Witz der Menschen und so ergingen sich auch alsbald unsere Barrikadenkämpfer in heiterem Geplauder.

Joly, als er eine Katze in einer Dachrinne erblickte, bekam eine Anwandlung von Philosophie.

»Die Katze ist eine Verbesserung der Schöpfung,« docirte er. »Als Gott nämlich die Maus geschaffen hatte, sagte er: ›Donnerwetter, das war ein Schnitzer!‹ und schuf die Katze. Also Maus plus Katze stellen eine verbesserte Auflage der Schöpfung dar.«

Combeferre sprach zu einem Publikum von Studenten und Arbeitern über diejenigen, die schon in dem Kampfe gefallen waren, über Jean Prouvaire, Bahorel, Mabeuf, ja sogar über Le Cabuc und demzufolge auch über Enjolras’s herbe Principienstrenge.

»Harmodius und Aristogiton, Brutus, Chaereas, Stephanus, Cromwell, Charlotte Corday, Sand haben alle nach ihrer That einen Augenblick der Beklemmung und Unsicherheit gehabt. Unser Muth ist so schwach und das Leben ein so großes Geheimniß, daß bei der Ermordung eines Mitbürgers, bei einem Morde, der die Befreiung des Staates von einem Tyrannen bezweckte, — wenn überhaupt der Freiheit auf eine solche Weise gedient werden kann — die Reue darüber, daß man einen Nebenmenschen getötet hat, die Freude, der Menschheit genützt zu haben, bei Weitem überwiegt.«

Und wenige Minuten nachher — denn der Fluß der Unterhaltung gleicht dem Mäander — verglich Combeferre, gelegentlich einer Beziehung auf ein Gedicht Jean Prouvaire’s, die Uebersetzer von Virgils Georgica mit einander, besonders mit Hinsicht auf die Stellen, wo von den Zeichen und Wundern die Rede ist, die sich bei Caesars Tod ereigneten. Und der Name Cäsar brachte das Gespräch wieder auf Brutus zurück.

»Caesar,« behauptete Combeferre, »ist mit Recht getötet worden. Wenn Cicero streng über ihn urtheilte, so war dies durchaus in der Ordnung, Eine derartige Strenge darf nicht als Schmähsucht betrachtet werden. Wenn Zoilus auf Homer, Maevius auf Virgil, Bisé auf Molière, Pope auf Shakespeare, Fréron auf Voltaire schimpft, so bethätigte sich darin, nach einem alten Gesetz, nur Haß und Neid; das Genie fordert die Beleidigung heraus; große Männer werden immer mehr oder weniger angekläfft. Aber zwischen einem Zoilus und einem Cicero ist ein Unterschied. Cicero bedient sich, um der Menschheit zu ihrem Recht zu verhelfen, des Gedankens, so wie Brutus des Schwertes. Letztere Art Gerechtigkeit zu üben, tadele ich, aber das Alterthum billigte sie. Cäsar verfuhr, indem er unbefugter Weise den Rubicon überschritt, über Würden und Aemter, die nur das Volk zu vergeben hatte, verfügte, vor dem Senat nicht von seinem Sitze aufstand —, wie ein König und beinah wie ein Tyrann, regia ac poene tyrannica, wie Eutrop sich ausdrückt. Allerdings war Cäsar ein großer Mann; aber das ändert nichts an der Sache. Oder es ändert sehr viel: Die Lehre, die man aus seinem Untergang ziehen muß, ist eine desto eindringlichere, wirksamere. Seine dreiundzwanzig Wunden rühren mich weniger, als der Speichel, den man Christus ins Gesicht spie. Cäsar wurde von Senatoren erdolcht, Jesus von Gesindel geohrfeigt. Eben weil er ein. Gott war, mußte Jesus Christus mehr Schmach erdulden.«

Laigle stand auf einem Haufen Pflastersteine und phantasirte:

»O Kydathenaion, o Myrrhinos, o Probalinthos, o Grazien der Aiantis! Wäre es mir doch vergönnt, die Verse Homers wie ein Helene aus Laurion aussprechen zu können!«

Enttäuschte Hoffnungen

Währenddem ging Enjolras aus eine Rekognoscirung aus. Zu diesem Zwecke schlich er sich durch die Ruelle Mondétour hindurch.

Die Insurgenten waren voller Hoffnung. Sie hatten den nächtlichen Angriff zurückgewiesen und dieser Erfolg bewirkte, daß sie dem Kampfe, der ihnen bevorstand, fast mit Geringschätzung entgegen sahen. Sie zweifelten ebenso wenig an ihrer persönlichen Rettung als an dem Siege ihrer Sache. Namentlich rechneten sie mit Sicherheit darauf, daß sie Hülfe bekommen würden. Mit jener Hoffnungsfreudigkeit, die dem Franzosen im Kriege so große Kraft verleiht, prophezeiten sie sich in sichrem Tone die denkbar günstigsten Ereignisse und theilten schon den kommenden Tag in drei Phasen: Um sechs Uhr Morgens würde ein Regiment Soldaten, die man mit Erfolg »bearbeitet« habe, zu ihnen übergehen; um zwölf Uhr Mittags würde ganz Paris sich erheben und gegen Sonnenuntergang würde die Revolution gesiegt haben.

Dazu kam, daß die Sturmglocke der Kirche Saint-Merry die ganze Nacht hindurch nicht geschwiegen hatte und sich noch immer vernehmen ließ: ein Beweis, daß die andre Barrikade, die größere, wo Jeanne befehligte, sich noch nicht ergeben hatte.

Da kam Enjolras von seinem Ausflug wieder zurück. Er hörte, die Arme auf der Brust verschränkt, eine Hand auf dem Munde, dem vertrauensseligen Geplauder seiner Kameraden zu und sprach dann, ohne daß sich auf seinem frischen, rosigen Gesicht im Glanz des Frühlichtes eine Spur von Furcht und Erregung wahrnehmen ließ, folgende Worte.

»Die ganze Armee, die in Paris ist, wird thun, was man ihr befehlen wird. Ein Drittel dieser Armee ist bestimmt, auf Euch loszugehen. Außerdem noch die Bürgerwehr. Ich habe die Tschakos des fünften Linienregiments und die Fahnen der sechsten Legion erkannt. Der Angriff wird in einer Stunde erfolgen. Was das Volk anbetrifft, so hat es gestern Lebenszeichen gegeben; heute verhält es sich still. Also nichts zu erwarten, nichts zu hoffen, Ihr seid im Stich gelassen.«

Diese Worte fielen auf die Illusionen der Barrikadenkämpfer, wie Gewitterregen auf einen Schwarm Bienen und Alles verstummte. Es trat eine Stille ein, in der man die Fittiche des Todes hätte rauschen hören können.

Aber dieses Stillschweigen dauerte nicht lange.

Aus dem dunkelsten Hintergrunde rief Jemand:

»Nun gut. So wollen mir die Barrikade zwanzig Fuß hoch machen und uns Alle unter den Trümmern begraben lassen. Mögen dann unsre Leichen gegen die Tyrannei protestiren. Wenn das Volk die Republikaner verläßt, so laßt uns beweisen, daß die Republikaner das Volk nicht im Stich lassen.«

Diese Rede stellte klar, was aller individuellen Aengstlichkeit zum Trotz ein Jeder von ihnen dachte. Sie wurde mit begeistertem Beifall beantwortet.

Man hat den Namen des Redners nie erfahren. Er war vielleicht irgend ein bescheidner Arbeiter, ein Unbekannter, ein vergessener Held, jener große Namenlose, den man bei allen geschichtlichen Krisen und socialen Umwälzungen betheiligt findet, der in einem gegebnen Augenblick das richtige Wort in der richtigen Weise sagt und der spurlos verschwindet, nachdem er eine Minute, eine Sekunde lang im Namen des Volkes und Gottes gesprochen hat.

Diese unbeugsame Entschlossenheit schwebte am 6. Juni l832 so zu sagen in der Luft. Denn ungefähr in derselben Stunde riefen, wie dies nachher geschichtlich und von den Gerichten festgestellt wurde, die Vertheidiger der Barrikade Saint-Merry: »Ob man uns zu Hülfe kommt oder nicht, ist uns gleichgültig. Wir werden uns vertheidigen, bis der Letzte von uns gefallen ist.«

Wie man sieht, standen die beiden Barrikaden, räumlich getrennt, wie sie waren, doch mit einander in Verbindung.

Vier Mann weniger und Einer mehr

»Vivat der Tod! Wir bleiben Alle!« tönte es aus Aller Munde, als der unbekannte Redner schwieg.

»Wozu Alle?« fragte Enjolras.

»Alle! Alle!«

Enjolras entgegnete:

»Die Stellung ist gut, die Barrikade ist stark. Dreißig Mann sind genug. Weshalb vierzig opfern?«

Sie erwiderten:

»Es wird Keiner weggehen wollen.«

»Bürger, rief Enjolras, und seine Stimme klang beinah zornig, ›die Republik hat nicht so viel treue Anhänger, daß sie sich unnütze Opfer gestatten dürfte. Dem Ruhm um des Ruhmes willen nachjagen, hieße Kraft vergeuden. Wenn die Pflicht verlangt, daß ein Theil von uns sich in Sicherheit bringt, so muß dieser Pflicht wie jeder andern Folge geleistet werden.‹

Enjolras hatte als unbeugsamer Principienmensch, ein Ansehen bei seinen Gesinnungsgenossen, wie es nur das Absolute verleihen kann. Trotzdem murrten aber dies Mal seine Leute.

Unfähig, seinen Rechten als Befehlshaber das Geringste zu vergeben, beharrte Enjolras bei seinem Entschlusse.

›Mögen Diejenigen,‹ rief er in schneidendem Ton, ›die sich fürchten, nur zu Dreißig zu sein, es sagen!‹

Das Gemurr nahm zu.

›Ist bald gesagt, gehen,‹ rief Einer. ›Wir sind von allen Seiten umzingelt.‹

›In der Richtung der Markthalle nicht,‹ erwiderte Enjolras. Die Rue Mondétour ist frei und durch die Rue des Prêcheurs kann man nach dem Markt des Innocents gelangen.«

»Ja,« entgegnete ein Andrer, »aber da wird man angehalten. Sieht die Wache einen Mann mit einem Kittel und einer Mütze, so fragt sie: ›Wo kommst Du her? Wahrscheinlich von einer Barrikade. Zeig’ mal Deine Hände her. Da haben wir’s; Du riechst nach Pulver.‹ Schwapp wird man füsillirt.«

Enjolras berührte, ohne eine Antwort zu geben, Combeferre’s Schulter und Beide begaben sich in den Saal des Erdgeschosses.

Gleich darauf kamen sie wieder zum Vorschein. Enjolras trug in den beiden Händen die vier Uniformen, die er hatte aufheben lassen. Ihm folgte Combeferre mit dem Lederzeug und den Tschakos.

»Wenn man solch eine Uniform trägt,« sagte Enjolras, »kann man durch die ganze Armee und Bürgerwehr unbeachtet hindurch kommen. Mit dem, was wir hier haben, können sich vorläufig vier Mann in Sicherheit bringen.«

Damit warf er die vier Uniformen auf die Erde. Aber keine Bewegung gab sich im Kreise seiner standhaften Hörer kund. Da ergriff Combeferre das Wort:

»Hört mal, Kinder,« sagte er, »Ihr müßt in dieser Sache Euer gutes Herz ein Wort mitreden lassen. Ihr vergeßt die Frauen und die Kinder. Also in den Tod wollt Ihr Euch stürzen? Ich auch! Aber ich will dabei nicht Gespenster von Frauen vor Augen haben, die voll Verzweiflung die Hände ringen. Sterbt, wenn es sein muß, aber laßt nicht Andre umkommen, wenn Ihr’s verhindern könnt. Eine Selbstaufopfrung, wie Ihr sie vorhabt, ist etwas Großartiges, aber sie muß sich innerhalb enger Grenzen halten; denn wenn Ihr Eure Augehörigen mit hineinreißt, wird sie zum Mord. Denkt an die kleinen Blondköpfe und an die weißen Haare daheim. Merkt auf! So eben erzählte nur Enjolras, er habe nicht weit von hier an einem Fenster im fünften Stock die zittrigen Umrisse eines greisen Frauenkopfes gesehen. Wer weiß, vielleicht die Mutter von Einem unter Euch, die angstvoll die Nacht durchwacht und auf ihren Sohn wartet. Wenn er unter Euch ist, so gehe er hin und sage: Mutter, da bin ich! Um das Uebrige mache er sich keine Sorgen: Was hier gethan werden muß, können die Andern ohne ihn zu Wege bringen. Wenn man seine Anverwandten mit seiner Hände Arbeit ernährt, hat man nicht das Recht sich zu opfern. So was nennt man seine Familie im Stich lassen. Vor allen Dingen aber die, welche Töchter oder Schwestern haben, wo denken die hin, daß sie ihr Leben aufs Spiel setzen wollen? Ihr wißt doch wohl, welch ein schreckliches Loos der jungen Mädchen harrt, die nach Eurem Untergang allein in der Welt da stehen. Mit Euren Schattenhänden werdet Ihr sie, wenn sie sich feil bieten, dem Käufer nicht entreißen! Wendet mir nicht ein, Eure Töchter wären zu sittsam, um so tief sinken zu können. Alle die unglücklichen Dirnen, die Ihr je auf der Straße habt herumirren sehen, sind auch einmal engelrein, sind Ausbünde von Lieblichkeit, Anmuth und Schönheit, sind frischer als Fliederblüten im Monat Mai gewesen. Ueberliefert nicht, indem Ihr das Volk der Willkür des Königthums entreißen wollt, Eure Töchter der Willkür der erbarmungslosen Polizei. Geht, Ihr, die Ihr Familienangehörige habt! Ich weiß sehr wohl, daß Muth dazu gehört; aber je schwerer es Euch fällt, desto größer ist auch Euer Verdienst. Ihr sagt: ›Ich habe nun einmal ein Gewehr, stehe hinter der Barrikade und werde bleiben, mag kommen, was da will. Liege ich erst in der Erde, so ist aller Jammer für mich vorbei.‹ Ja wohl, für Euch. Aber malt Euch einmal recht deutlich aus, welches das Schicksal Eurer Hinterbliebnen sein wird! Ich wünschte, Ihr wäret dabei gewesen, als eines Tages in meiner Gegenwart die Leiche eines elternlosen, verwahrlosten Kindes in der Anatomie secirt wurde! Die Statistik hat festgestellt, daß die Sterblichkeit dieser bejammernswerten Wesen fünfundfünfzig Procent beträgt. Also, wie gesagt, es handelt sich um das Schicksal von Frauen, Müttern, Kindern, jungen Mädchen. Wer spricht denn von Euch? Das weiß man ja, daß Ihr tapfre Männer seid, alle Donnerwetter, ja! — daß es Euch Freude macht, daß Ihr Euern Ruhm darin sucht, das Leben für die große Sache hinzugeben und der Menschheit zu nützen. Sei es darum! Aber ihr seid nicht allein auf der Welt. Es giebt noch andere Wesen, an die ihr denken müßt. Ihr dürft nicht selbstsüchtig handeln.«

Aber alle ließen mit düstrer Miene den Kopf hängen.

In was für Widersprüche verfällt das Menschenherz bei seinen herrlichsten Handlungen! Combeferre, der seine Freunde an ihre Mütter erinnerte, vergaß die seine und war fest entschlossen, dem Tode nicht aus dem Wege zu gehen. Er handelte »selbstsüchtig.«

Währenddem war Marius von Hunger und Fieber gepeinigt, aller Hoffnung bar, aufgeregt durch die heftigsten Gefühle und in der Ahnung des nahen Endes mehr und mehr in jene traumhafte Stumpfheit versunken, die dem freiwilligen Untergange vorangeht.

An ihm hätte ein Physiologe mit Vortheil die Zunahme jenes, der Wissenschaft bekannten, fieberhaften Gemüthszustandes verfolgen können, der sich zum Kummer, wie die Wollust zum Vergnügen verhält. Denn auch die Verzweiflung ist einer höchsten Steigerung, gleichfalls einer Ekstase fähig, und so weit war es jetzt mit Marius gekommen. Ihm war angesichts der Vorgänge, die sich um ihn abspielten, nicht anders, wie einem unbetheiligten Zuschauer zu Muthe; alles schien in weiter Ferne vor ihm zu liegen; nur das Ganze erkannte er, die Einzelheiten konnte er nicht unterscheiden. Er sah die Gestalten umwoben von einem Flimmerlicht und die Stimmen tönten seinem Ohr, als kämen sie aus einem tiefen Schacht.

So gleichgültig nun ihn auch alles ließ, — der edle Wettkampf, der sich zwischen seinen Gefährten entsponnen hatte, war so ergreifend, daß er aus seinem Seelenschlummer geweckt wurde. Wollte er sich von seinem Entschluß zu sterben durch nichts ablenken lassen, so blieb es ihm doch unverwehrt, Andre von demselben Verderben zu bewahren.

»Enjolras und Combeferre,« begann er mit lauter Stimme, »haben Recht. Keine unnützen Opfer! Ich pflichte ihnen bei und bin dafür, daß wir uns beeilen. Was Combeferre gesagt hat, muß den Ausschlag geben. Mögen Diejenigen unter Euch, die eine Mutter, Schwestern, Weib und Kind haben, vortreten!«

Niemand rührte sich.

»Die Verheiratheten und Familienernährer vor!« wiederholte Marius.

Er erfreute sich eines großen Ansehens bei seinen Kameraden. Denn wenn Enjolras ihr Oberhaupt war, so war Marius der Retter der Barrikade.

»Ich befehle es!« rief Enjolras.

»Ich bitt’ Euch, Leute!« sagte Marius.

Da endlich begannen die wackern Männer nachzugeben, indem sie sich gegenseitig denunzirten. — »Sie haben Recht,« sagte ein langer Mann zu einem Aelteren, »Du bist Familienvater. Geh Du.« »Bewahre,« antwortete Dieser, »Du hast zwei Schwestern zu ernähren. Rette Du Dich.« — So wetteiferten sie, um sich nicht den Klauen des Todes entreißen zu lassen.

»Macht es kurz,« mahnte Courfeyrac, »in einer Viertelstunde ist es zu spät.«

»Wir sind Republikaner,« erinnerte Enjolras, »und müssen das allgemeine Stimmrecht walten lassen. Bezeichnet selber Diejenigen, die gehen sollen.«

Dieser Aufforderung wurde Folge geleistet. Nach Verlauf einiger Minuten waren Fünf einstimmig ausgewählt und mußten vortreten.

»Es sind ihrer Fünf und wir haben nur vier Uniformen!« rief Marius.

»Gut. Dann muß Einer zurückbleiben.«

Und wieder begann der edle Streit, wer zurückbleiben sollte und wer die besten Gründe erdenken konnte, Andre wegzuschicken.

»Beeilt Euch,« mahnte Courfeyrac abermals.

Da wandten sich plötzlich Einige an Marius und riefen:

»Bezeichnen Sie denjenigen, der hier bleiben soll!«

»Ja wohl!« sagten die Fünf. »Wählen Sie Einen. Wir wollen Ihnen folgen.«

Marius hatte geglaubt, er sei keiner neuen Empfindung mehr zugänglich. Bei dem Gedanken aber, er solle einen Menschen dem Tode weihen, strömte ihm alles Blut nach dem Herzen. Hätte er noch bleicher werden können, als er schon war, jetzt wäre es geschehen.

Er trat auf die Fünf zu, die ihm mit einer thermopylischen Begeistrungsflamme in den Augen lächelnd ansahen.

»Mich! Mich!« bat Jeder.

In rathloser Verlegenheit zählte sie Marius und blickte dann auf die Uniformen, ohne eine Entscheidung treffen zu können.

Da fiel, als käme sie vom Himmel herab, eine fünfte Uniform auf die vier andern.

Der fünfte Mann war gerettet.

Marius hob die Augen auf und sah Fauchelevent vor sich.

Sei es, daß er sich gut erkundigt hatte, sei es, daß eine richtige Ahnung oder der Zufall ihn führte, Jean Valjean war durch die Rue Mondétour gekommen, ohne, dank seiner Bürgerwehruniform, angehalten zu werden.

Was die von den Vertheidigern der Barrikade in der Rue Mondétour aufgestellte Schildwache betrifft, so hatte sie sich gesagt, um einen Nationalgardisten brauche sie nicht Lärm zu schlagen. Wahrscheinlich wollte der Mann zu den Revolutionären übergehen und jedenfalls begab er sich in ihre Gewalt. Die Lage war eine viel zu ernste, als daß die Schildwache ihre Pflicht und ihren Posten hätte verlassen sollen.

In dem Augenblick, als Jean Valjean herankam, hatte ihn Niemand bemerkt, da Aller Augen auf die fünf Ausgeschiednen und die vier Uniformen geheftet waren. Er hatte also alles mit angesehen und gehört, und dann stillschweigend seine Uniform ausgezogen.

Eine unbeschreibliche Aufregung bemächtigte sich jetzt Aller, nun sie ihn erblickten.

»Wer ist der Mann?« fragte Laigle.

»Einer, der Andre rettet,« antwortete Combeferre.

»Ich kenne ihn!« sagte Marius feierlich.

Diese Bürgschaft genügte Allen.

Enjolras trat an Jean Valjean heran.

»Seien Sie willkommen. Daß wir dem Tode geweiht sind, wissen Sie ja wohl?«

Statt aller Antwort, half Jean Valjean dem Insurgenten, dem er das Leben rettete, die Uniform anlegen.

Ein Ausblick von der Barrikade in die Zukunft

Der Lage, in der sich Alle zu dieser furchtbaren Stunde und an diesem unentrinnbaren Orte befanden, entsprach in vollkommenster Weise die düstre Schwermuth Enjolras’s.

Der junge Mann war in seinem ganzen Wesen von den Ideen der Revolution durchdrungen; aber dieses Wesen war ein unvollständiges, soweit das Absolute unvollständig sein kann. Er ähnelte zu sehr Saint Just und nicht genug Anacharsis Cloots. Allein in der Gesellschaft der Freunde des A B C hatte sein Geist sich schließlich doch von den Anschauungen Combeferre’s magnetisiren lassen, so daß er sich den Ideen des Fortschritts zugänglicher zeigte und als letzte und herrlichste Evolution die Umbildung der großen, französischen in eine die ganze Menschheit umfassende Republik zuließ. Was aber die Mittel betrifft, die zur Erreichung dieses hohen Ziels erforderlich wären, so meinte er, da eine Gewaltlage gegeben sei, müßte auch mit Gewalt vorgegangen werden; wich also in diesem Punkte nicht von seinen ursprünglichen Grundsätzen ab und blieb nach wie vor ein begeisterter Verehrer der furchtbaren Heldenzeit der Revolution, ein entschiedner Anhänger der Ideen des Schreckenjahres 1793.

Jetzt stand Enjolras auf der Barrikadentreppe, einen Ellbogen auf den Lauf seines Karabiners gelehnt. Er war in tiefes Sinnen verloren und aus seinen Augen sprühte das Feuer einer schwärmerischen Begeisterung. Plötzlich richtete er das Haupt empor; seine blonden Haare wallten zurück, wie die des Erzengels auf dem Sternenwagen, und er rief: »Bürger, könnt Ihr Euch die Zukunft ausmalen? Die Straßen voller Licht, grüne Zweige an den Thüren; die Völker verbrüdert; die Menschen gerecht; die Vergangenheit voller Liebe für die Gegenwart; Denker, die auf den Bahnen der Wissenschaft dahin wandeln dürfen; völlige Gleichheit aller Gläubigen; der Himmel als Gegenstand der Religion und Gott alleiniger Priester; kein Haß mehr; brüderliche Beziehungen zwischen dem Arbeiter und dem Gelehrten; Arbeit und gleiches Recht für Alle; der öffentliche Leumund als einzig Strafe und einzige Belohnung; kein Blutvergießen, keine Kriege mehr! Den Stoff beherrschen ist der erste Kulturfortschritt, das Ideal verwirklichen der zweite. Bedenket, was der Fortschritt schon alles zu Wege gebracht hat. Ehedem sahen die Menschen der Urzeit mit Schrecken die Hydra aus dem Meer schnaufen, den Drachen Feuer speien, den Greif, das Ungeheuer der Luft, das Adlersfittiche und Tigerklauen hatte, dahinschweben; alles Ungethüme, die dem Menschen überlegen waren. Aber dem Verstande ist es gelungen, die Unholde zu überwältigen. Jetzt besitzen wir eine gebändigte Hydra, nämlich das Dampfschiff; einen Drachen, die Lokomotive; bald werden wir den Greif bändigen, der sich der Luftballon nennt. An dem Tage, wo dies Prometheuswerk zu Stande gebracht sein wird, wo er die dreifache, alte Chimaera an seinen Wagen spannt, wird er herrschen über das Wasser, das Feuer und die Luft, wird er für die übrigen Lebewesen das sein, was die Götter einstmals für ihn waren. Muth also und vorwärts! Freunde, welchem Ziele eilen wir zu? Einer Gesellschaftsordnung, wo die Wissenschaft die Regierung ausüben, wo die Macht der Verhältnisse und der Dinge die einzige Gewalt sein, das Naturgesetz seine Anerkennung ich selber erzwingen, die Verstöße gegen seine Gebote selber strafen wird. Keine Fiktionen, keine Schmarotzer mehr! Die Wirklichkeit der Wahrheit unterthan machen, das ist das Ziel, auf das zugesteuert werden muß. Die Civilisation wird ihre Sitzungen in dem ersten Lande Europas und später im Centrum der Kontinente halten, wird ein großes Parlament der Intelligenz berufen. Aehnliches hat die Welt ja schon gesehen. Versammelten sich doch die Amphittyonen zweimal im Jahre, einmal in Delphi, der Stadt der Götter, das andre Mal in den Thermopylen, denen der Untergang einer Heldenschaar die Weihe ertheilte. So wird auch Europa, so wird der Erdball seine Amphittyonen haben. Und diese herrliche Zukunft trägt Frankreich in seinem Schoße! Sie ist das Kind, dessen Mutter das neunzehnte Jahrhundert sein wird. Was Griechenland begonnen hat, ist wert von Frankreich der Vollendung zugeführt zu werden. Höre, was ich Dir sagen will, Dir Feuilly, dem wackern Arbeiter, dem Manne des Volkes, dem Manne der Völker. Ich achte Dich hoch! Ja, Du siehst die Zukunft klar voraus; ja, Du hast Recht. Du hattest weder Vater noch Mutter: Da adoptirtest Du als Mutter die Menschheit und als Vater das Recht. Du wirst hier untergehen, in andern Worten den Sieg erringen. Denn was uns auch heute widerfahren wird, ob wir unterliegen, ob wir siegen, wir bahnen einer Revolution die Wege. Wie Feuersbrünste ganze Städte erhellen können, so bringen auch Revolutionen der ganzen Menschheit Licht. Und worin wird diese unsre Revolution bestehen? Ich sagte es Euch schon, in dem Siege der Wahrheit. Vom politischen Gesichtspunkt aus betrachtet, darf nur ein Princip Geltung behalten, die freie Selbstbestimmung der Menschen, die ›Freiheit.‹ Da, wo zwei solcher freier Gewalten sich verbünden, beginnt der Staat. Aber ein solcher Bund bedeutet keinen Verzicht. Jede solche freie Macht tritt einen Theil ihrer selbst ab, um ein gemeinsames Recht zu schaffen. Dieser Theil ist für Alle gleich groß, und darin, daß er überall gleich ist, besteht die ›Gleichheit.‹ Das gemeinsame Recht aber ist nichts Andres, als der Schutz, den Alle dem Einzelnen gewähren, das, was man Brüderlichkeit nennt. Der Durchschnittspunkt aller verbündeten Gewalten heißt die Gesellschaft. Da aber in diesem Punkt eine Verbindung stattfindet, so giebt es auch ein Bindemittel, das die Gesellschaft zusammenhält, einen gesellschaftlichen Vertrag. Doch noch eins über das Wort Gleichheit, das man richtig verstehen muß; denn wenn die Freiheit der Giebel des Gesellschaftsbaues ist, so stellt die Gleichheit sein Fundament dar. Gleichheit bezweckt keine gleich hohe Vegetation, verlangt nicht, daß der Grashalm groß und die Eiche klein sei, daß Jeder die freie Entfaltung jedes Nachbars, auf den er neidisch ist, verhindern könne. Nein! Es sollen nur alle Fähigkeiten gleiche rechtliche Ansprüche auf freie Bethätigung; alle Stimmen dasselbe Gewicht, ein jeder religiöse Glaube dieselben Rechte haben. Die Gleichheit hat ein Organ, den unentgeltlichen und obligatorischen Schulunterricht. Mit dem Recht lesen und schreiben zu lernen muß man anfangen. Alle Kinder sollen zum Besuch der Volksschule verpflichtet, der höhere Unterricht soll Allen erlaubt und ermöglicht werden so laute das Gesetz. Denn nur bei gleichem Schulunterricht ist bürgerliche Gleichheit möglich. Ja, Licht! mehr Licht! Alles kommt vom Lichte und zum Licht kehrt Alles zurück. Freunde, das neunzehnte Jahrhundert ist groß, aber das zwanzigste wird glücklich sein. Dann wird die Geschichte nicht mehr auf denselben Bahnen wandeln, wie ehedem. Keine Eroberungen mehr, wie heutzutage, keine Staatsstreiche, kein Wetteifer zwischen bewaffneten Nationen, keine Unterbrechung der Civilisation in Folge einer Prinzenheirat, eines Familienereignisses bei einer Herrscherdynastie, einer von Diplomaten angeordneten Theilung eines Landes, eines Kampfes zweier Religionen. Dann werden alle Hungersnöthe verschwinden, sowie alle Arten von Ausbeutung, die Prostitution, das Elend als Folge der Arbeitslosigkeit, das Schaffott, das Schwert und aller Raub, der im Walde der Ereignisse dem arglosen Wandrer auflauert. Ja, man könnte fast behaupten, daß es alsdann überhaupt keine Ereignisse mehr geben kann, weil man eben glücklich sein wird. Die Menschheit wird ihrem Bewegungsgesetz folgen, wie der Erdball dem seinigen, ungehindert, mit gleicher Harmonie; die Seele wird um die Wahrheit kreisen, wie ein Planet um die Sonne. Allerdings. liebe Freunde, die Stunde, die wir gegenwärtig durchleben, ist voller Trübsal, aber nur um diesen schrecklichen Preis kann die Zukunft erkauft werden. Doch glaubt mir, die Menschheit wird erlöst, getröstet, beglückt werden: Diese Versichrung geben wir ihr von unsrer Barrikade herab. Wo sollte denn auch anders der Schrei der Liebe erschallen, wenn nicht auf dem Opferaltar? Geliebte Brüder, hier ist der Sammelpunkt Derer, die denken und Derer, die Noth und Kummer erdulden. Nicht aus Steinen, Balken und Eisen besteht diese Barrikade; nein, sie besteht aus zwei Stücken, dem Elend und dem Ideal. Hier schleppt sich das Elend her, um zu sterben, und hier legt die Idee die Unsterblichkeit nieder. Wer also hier stirbt, Freunde, steigt in ein Grab, in das die Morgenröthe einer schönern Zukunft hineinstrahlt.«

Hier unterbrach Enjolras seine Rede, ohne doch gerade zu schweigen; denn er bewegte die Lippen, als spräche er mit sich selber, weshalb Alle ihn aufmerksam ansahen und auf die Fortsetzung warteten, Niemand rief ihm Beifall zu, aber sie unterhielten sich leise mit einander und noch lange nachher zitterten seine Worte in ihren Herzen nach, wie Blätter beim Hauch des Windes.

Marius und Javert

Berichten wir jetzt, was in Marius Seele vorging.

Da er, wie gesagt, sich schon nicht mehr als dieser Welt angehörig betrachtete und ihn alles gleichgiltig ließ, fragte er nicht, wie, warum, zu welchem Zweck Fauchelevent nach der Barrikade gekommen sei. Hat doch die Verzweiflung die Eigenthümlichkeit, daß man Andre mit denselben Augen betrachtet, wie sich selbst, und so kam es auch Marius ganz natürlich vor, daß alle Welt mit ihm zugleich zu Grunde gehen wollte.

Nur daß er freilich Cosettens mit wehem Herzen gedachte.

Uebrigens redete Fauchelevent ihn nicht an, sah nicht einmal nach ihm hin und schien, als Marius sagte: »Ich kenne ihn!« nichts zu hören, ein Verhalten, das ihm sehr gelegen kam, ja ihm geradezu Vergnügen machte, wenn solch ein Wort zur Bezeichnung eines solchen Gefühls in Marius Lage am Platze ist. Es war ihm stets schlechterdings unmöglich gewesen, den räthselhaften Mann, der ihm trotz seines zweideutigen Wesens imponirte, anzureden. Ueberdies war es lange her, seitdem er ihm begegnet war, was ihm angesichts seiner Schüchternheit und Zurückhaltung die Sache noch schwieriger machte.

Die fünf Ausgeschiednen entfernten sich durch die Rue Mondétour. Einer von ihnen weinte, während er davonging. Ehe sie schieden, umarmten sie noch diejenigen, die zurückblieben.

Als diese dem Leben wiedergegebnen Männer fort waren, dachte Enjolras an den zum Tode Verurtheilten und trat in den Saal, wo Javert an dem Pfahl seinen Gedanken nachhing.

»Wünschst Du irgend etwas?« fragte ihn Enjolras.

»Wann werdet Ihr mich umbringen?«

»Warte. Vorläufig haben wir unsre Patronen zu etwas Andrem nöthiger.«

»Dann geben Sie mir etwas zu trinken!«

Enjolras hielt ihm selber ein Glas Wasser hin und half ihm, da Javert nicht allein trinken konnte.

»Ist das Alles?« hub Enjolras wieder an.

»Das Stehen ist recht unbequem an diesem Pfahl. Es ist nicht sehr rücksichtsvoll von Euch, daß Ihr mich die ganze Nacht in dieser qualvollen Stellung gelassen habt. Bindet mich, wie Ihr wollt, aber Ihr könnt mich doch so gut wie Den da — er bezeichnete mit einer Bewegung des Kopfes den toten Mabeuf — auf einen Tisch legen.«

Hinten im Saal stand, wie man sich erinnern wird, ein langer, großer Tisch, auf dem die Barrikadenkämpfer Kugeln gegossen und Patronen verfertigt hatten. Da diese Arbeit vollendet war, so konnte man jetzt anders über ihn verfügen.

Auf Enjolras’s Befehl banden vier Mann Javert von dem Pfahl los, während ein Fünfter ihm die Spitze seines Bajonnetts auf die Brust hielt. Doch machten sie ihm die Hände nicht frei und fesselten ihm die Beine mit einem dünnen und festen Peitschenstrick, so daß er kurze Schritte machen konnte, wie ein Delinquent, der das Schaffot besteigen soll, ließen ihn bis zu dem Tisch gehen, streckten ihn darauf aus und banden ihn daran fest.

Um ganz sicher zu gehen, schlangen sie ihm, außer dem Strick, der ihm um den Leib ging, noch einen andern um den Hals, dessen zwei Hälften sich in der Magengegend kreuzten, zwischen die Beine hindurchgingen und an den Händen endeten. Während Javert so gebunden wurde, erschien Jemand auf der Thürschwelle und sah mit besondrer Aufmerksamkeit zu. Javert bemerkte den Schatten, den der Mann warf, drehte den Kopf nach ihm hin und erkannte Jean Valjean. Voller Selbstbeherrschung machte er nicht einmal eine unwillkürliche Bewegung, senkte stolz die Augenlider und sagte nur: »War auch nicht anders zu erwarten!«

Die Lage verschlimmert sich

Es wurde jetzt rasch hell. Aber kein Fenster, keine Thür öffnete sich. Die Morgenröthe brachte nicht das gewohnte Leben in die Straßen. Das der Barrikade entgegengesetzte Ende der Rue de la Chanvrerie war von den Truppen geräumt worden, wie wir schon erzählt haben, und es herrschte daselbst, wie in der Rue Saint-Denis, eine unheimliche Stille und Oede.

Wenn man aber auch nichts sah, so hörte man desto mehr. In einer gewissen Entfernung ging offenbar was vor, das auf die Herankunft des kritischen Augenblicks deutete. Auch kamen wieder, wie am Abend zuvor, die Schildwachen zurück, alle auf einmal.

Die Barrikade war jetzt weit stärker als beim ersten Angriff. Nach dem Weggang der Fünf hatte man sie abermals erhöht.

Auf den Rath der Schildwache, die nach der Markthalle hin ausgesandt worden, faßte Enjolras, aus Furcht umgangen zu werden, einen gewichtigen Entschluß. Er ließ das bisher freigebliebne Ende der Rue Mondétour durch eine dritte Barrikade versperren, behufs deren Errichtung das Pflaster noch eine Strecke weiter aufgerissen wurde. Auf diese Weise bestand die Verschanzung aus drei Stücken und schien uneinnehmbar. Dafür konnte man freilich desto leichter darin eingeschlossen werden. — »Eine Festung, aber auch eine Mausefalle!« meinte Courfeyrac. Endlich ließ Enjolras noch unweit der Wirtshausthür etwa dreißig überschüssige Pflastersteine aufhäufen.

Dann trat in der Gegend, woher der Angriff kommen mußte, ein so tiefes Stillschweigen ein, daß Enjolras seinen Leuten befahl, Posto zum Kampfe zu fassen, nachdem er Jedem eine Ration Branntwein hatte verabfolgen lassen.

Nichts ist interessanter zu beobachten, als ein Trupp Barrikadenkämpfer, der sich auf einen feindlichen Sturm vorbereitet. Jeder wählt sich einen Platz wie in einem Theater, lehnt sich mit dem Rücken irgendwo an, stützt die Ellbogen auf, legt das Gewehr an. Manche machen sich eine Art Loge aus Pflastersteinen zurecht. Hier ist eine Mauerecke hinderlich und man geht weg; dort eine Hervorragung, die eine gute Deckung bietet, und man stellt sich dahinter auf. Die Linkhände sind sehr geschätzt, weil sie Plätze, die für die Andern unbequem sind, einnehmen können. Viele richten sich darauf ein, daß sie sitzend kämpfen können; sie wollen im Kampfe und Tode ihre Bequemlichkeit nicht missen. So ließ sich in der fürchterlichen Junirevolution 1848 ein Insurgent, der ein vorzüglicher Schütze war und auf einem Dach stand, einen Voltairesessel bringen, von dem aus er auf die Soldaten schoß, bis eine Kartätschenkugel ihn traf.

Sobald der Anführer das Zeichen gegeben hat, daß sich Alles bereit halten soll, hören alle zwecklosen Bewegungen, alle Spaltungen, Absonderungen, Zusammenrottungen auf; alle Geisteskräfte werden in der Erwartung der Dinge, die kommen werden, auf’s Aeußerste angespannt. Herrscht vor der Gefahr das Chaos, so waltet nachher eine stramme Disciplin.

Sobald Enjolras seinen doppelläufigen Karabiner zur Hand genommen und sich an seinen Platz hinter eine Art Zinne gestellt hatte, trat allgemeines Schweigen ein. Dann ließ sich ein vielfaches Knacken vernehmen, das von den Gewehrhähnen kam.

Im Uebrigen war die Haltung der Kämpfer eine stolzere und zuversichtlichere als je, denn der Entschluß, das höchste Opfer zu bringen, kräftigt die Seelen und wenn unsere Helden keine Hoffnung mehr hatten, so besaßen sie dafür in der Verzweiflung eine andere, die letzte Waffe, die bisweilen den Sieg verleiht, wie Virgil behauptet. Wer sich in den Nachen des Todes flüchtet, entgeht vielleicht dem Schiffbruch und ein Sargdeckel kann Rettung bringen.

Wie am Abend zuvor war die allgemeine Aufmerksamkeit auf das Ende der Straße gerichtet oder richtiger gesagt, geheftet.

Sie brauchten nicht lange zu warten. Es regte sich in der Gegend der Kirche Saint-Leu, aber es kam in anderer Weise als das erste Mal heran. Ein Geklirr von Ketten, ein dumpfes Getöse verkündete, daß eine schwerfällige Masse, ein gefährliches Todeswerkzeug herannahte. Die alten friedfertigen Straßen, die nur auf den nutzbringenden Verkehr der Interessen und Ideen berechnet waren, erbebten vor der gewaltigen Kriegsmaschine.

Alle blickten mit der äußersten Anstrengung ihrer Augen nach der Gegend hin, bis eine Kanone erschien.

Sie wurde von den Artilleristen geschoben und war schußbereit. Die Protze war abgenommen. Zwei Mann hielten die Lafette, vier drehten die Räder; Andere folgten mit dem Pulverkasten. Man sah den Rauch der Lunte.

»Feuer!« kommandirte Enjolras.

Eine fürchterliche Salve krachte, eine Rauchwolke stieg empor und verdeckte die Kanone und ihre Bedienung; als sie sich aber verzogen hatte, sah man die Artilleristen ihr Geschütz ruhig, regelrecht, ohne Ueberstürzung, der Barrikade gegenüber in Stellung bringen. Keiner war getroffen worden. Dann begann der Geschützführer, ernst wie ein Astronom, der sein Fernrohr zurecht rückt, auf das Bodenstück zu drücken, um den Schuß höher zu richten.

»Ein Bravo den Kanonieren!« rief Laigle und Alle klatschten in die Hände.

Einen Augenblick später stand das Geschütz in der Mitte der Straße zu beiden Seiten des Rinnsteins abgeprotzt und schußgerecht vor der Barrikade.

»So! Nun kann’s losgehn!« rief Courfeyrac. »Nach den kleinen Knattrern der große Brummer. Die Armee streckt jetzt ihre größte Tatze nach der Barrikade aus und will sie tüchtig rütteln. Das Gewehrfeuer ist bloß ein kleines Vorspiel. Der wahre Tanz beginnt erst mit der Kanonenmusik.«

»Ein Achtpfünder,« erläuterte Combeferre, »ein neues Modell aus Bronce. Diese Art Geschütze platzt leicht, wenn man das richtige Verhältniß des Zinnes zum Kupfer, zehn zu neunzig, nur im Geringsten überschreitet. Das Zinn macht das Metall zu weich Es kommt dann vor, daß am Zündloch Höhlungen entstehen. Um dieser Gefahr vorzubeugen und die Ladung forciren zu können, müßte man vielleicht auf ein Verfahren des vierzehnten Jahrhunderts zurückgreifen, das ganze Kanonenrohr mit stählernen, ungelötheten Reifen umgeben. Einstweilen hilft man sich, so gut es geht, indem man nämlich das Zündloch mittelst des Stückvisitirers untersucht. Aber es giebt ein besseres Mittel, Gribeauvals beweglichen Stern.«

»Im sechzehnten Jahrhundert,« bemerkte Laigle, »hatte man gezogene Kanonen.«

»Ja,« bestätigte Combeferre, »das vermehrt die Wurfkraft, beeinträchtigt aber die Treffsicherheit. Bei dem Schießen auf kurze Entfernungen fällt die Fluglinie nicht gerade genug aus, damit das Geschoß auf seinem Wege befindliche Gegenstände treffen könnte, eine Nothwendigkeit, deren Wichtigkeit mit der Nähe des Feindes und der Beschleunigung des Feuers zunimmt. Dieser Fehler der Geschoßkurve hatte seine Ursache in der Schwäche der Ladung, die ihrerseits bedingt war durch ballistische Nothwendigkeiten, z. B. durch die Rücksicht, die auf die nicht genügend starken Lafferten genommen werden mußte. Kurzum, die große Despotin, die Kanone, kann doch nicht alles, was sie will, und die größte Menschenmacht läuft auf eine große Schwachheit hinaus. Eine Kanonenkugel braucht eine Stunde um einhundert und achtzig Meilen zurückzulegen, während das Licht in einer Sekunde eine Entfernung von zweiundvierzig Meilen durcheilt. So sehr ist Jesus Christus Napoleon überlegen.«

»Ladet die Gewehre wieder!« rief Enjolras.

Wie würde sich die Barrikade den Kanonenkugeln gegenüber verhalten? Ob der Schuß eine Bresche legen würde? So lautete jetzt die angstvolle Frage, die sich die Angegriffenen vorlegten.

Endlich ging der Schuß los und — »Hier!« rief eine lustige Stimme.

Es war Gavroche, der zugleich mit der Kanonenkugel angeflitzt kam. Er war von der Rue du Cygne aus herbeigeeilt und sein Erscheinen machte mehr Effekt als die Kanonenkugel, die wirkungslos in dem Schutthaufen stecken blieb. Sie zerbrach nur ein Rad des Omnibus und gab dem alten Karren den Rest, worüber die Angegriffenen vergnügt lachten.

»Weiter!« rief Laigle den Artilleristen zu.

Die Artillerie macht Ernst

Alle liefen jetzt auf Gavroche zu. Aber er fand keine Zeit zum Erzählen. Denn Marius, der vor Ungeduld und Aufregung zitterte, nahm ihn bei Seite und fragte ihn hastig:

»Was hast Du hier zu suchen?«

»Die Frage!« gab ihm der Knirps mit seiner gewohnten klassischen Dreistigkeit zurück. »Dasselbe, wie Sie auch!« Und seine Augen schauten größer drein, vor hohem Stolze.

Aber Marius fuhr in demselben strengen Tone fort:

»Wer hat Dich wiederkommen heißen? Hast Du wenigstens meinen Brief besorgt?«

Bezüglich des Briefes hatte nun aber Gavroche kein reines Gewissen. Um nur rasch nach der Barrikade zurück kehren zu können, hatte er sich des lästigen Auftrages Hals über Kopf entledigt und mußte sich insgeheim gestehen, daß es leichtsinnig gewesen war, den Brief einem Unbekannten anzuvertrauen, dessen Gesicht er nicht einmal gesehen hatte. Daß der Mann mit bloßem Kopf ging, war doch kein genügender Grund ihn für den Portier des Hauses zu halten. Kurz, Gavroche machte sich einige Vorwürfe und fürchtete, Marius werde ihm schlechten Dank für die Ausrichtung seiner Botschaft wissen. Um sich aus dieser Verlegenheit zu ziehen, nahm er also seine Zuflucht zu dem einfachsten Ausweg: er log unverschämt.

»Ich habe den Brief dem Portier übergeben. Die Dame schlief schon. Sie bekommt ihn aber gleich beim Aufwachen.«

Marius hatte zwei Absichten verfolgt, als er den Brief abschickte: Er wollte Cosette Lebewohl sagen und Gavroche retten. Nun mußte er zufrieden sein, daß die eine wenigstens erreicht war.

Die Absendung des Schreibens und Fauchelevents Ankunft waren aber eine Ideeenverbindung, die ihm noch Anlaß zu einer andern Frage gab:

»Kennst Du den Mann da?« forschte er, indem er auf Fauchelevent zeigte.

»Nein,« lautete der Bescheid. Denn Gavroche hatte, wie schon gesagt, Jean Valjean nur bei Nacht gesehn.

Damit verschwanden alle mißtrauischen und krankhaften Vermuthungen, die eben anfingen, in Marius Geiste aufzusteigen. Kannte er denn Fauchelevents politische Meinungen? Der Mann war vielleicht Republikaner und dann war es ja ganz natürlich, daß er sich den Vertheidigern einer Barrikade anschloß.

Während Marius sich noch mit diesem Gedanken beschäftigte, lief Gavroche an das andre Ende der Barrikade und schrie: »Mein Gewehr! Mein Gewehr!«

Erst nachdem Courfeyrac es ihm zugestellt hatte, benachrichtigte Gavroche seine »Kameraden«, wie er sie nannte, daß die Barrikade vollständig eingeschlossen sei. Er selber war nur noch mit knapper Noth hindurchgekommen. Ein Bataillon Linientruppen, deren Gewehrpyramiden in der Rue de la Petite-Truanderie standen, beobachteten den Ausgang nach der Rue du Cygne; auf der entgegengesetzten Seite hielt die Municipalgarde die Rue des Prêcheurs besetzt. Vor sich hatte man das Gros der Armee.

Diese Meldung bekräftigte Gavroche noch mit den Worten:

»Kinder, ich ermächtige Euch, sie gründlich zu verhauen!«

Währenddem stand Enjolras hinter seiner Zinne und lauschte angestrengt.

Die Angreifer, die wohl mit der Wirkung der Kanonenkugel nicht sehr zufrieden gewesen sein mochten, hatten den Versuch nicht wiederholt.

Statt dessen kam eine Kompagnie Linieninfanterie, riß den Damm hinter dem Geschütz auf und errichtete der Barrikade gegenüber mit den Pflastersteinen eine kleine Mauer, eine nur achtzehn Zoll hohe Schulterwehr, hinter der man links die Spitze eines in der Rue Saint-Denis aufgestellten Bataillons Bürgerwehr sehen konnte.

Dann glaubte Enjolras eine bestimmte Art Geräusch zu hören, — als ob Kartätschenbüchsen aus einem Munitionskasten herausgenommen würden, und alsbald sah er auch, wie der Geschützführer die Kanone etwas nach links richtete und die Kanoniere sie wieder luden. Der Geschützführer ergriff selber den Luntenstock und näherte ihn dem Zündloch.

»Den Kopf herunter!« kommandirte Enjolras. »Und Alle auf die Knie hinter der Barrikade!«

Die Insurgenten, die vor dem Wirtshaus standen, weil sie bei der Ankunft Gavroche’s ihren Posten verlassen hatten, stürzten in wirrem Durcheinander auf die Barrikade zu; aber noch ehe Enjolras’s Befehl ausgeführt werden konnte, ging der Schuß los und sandte eine Ladung Kartätschen nach der freigelassenen Lücke der großen Schanze. Sie tötete, indem sie von dem Hause abprallte, zwei Mann und verwundete drei andre.

Wenn das so weiter ging, war keine Vertheidigung mehr möglich. Die Kartätschen drangen hinter die Barrikade hinein.

Ein Gemurmel der Bestürzung ließ sich unter den Insurgenten vernehmen.

»Dann wollen wir wenigstens den zweiten Schuß unmöglich machen!« meinte Enjolras und zielte nach dem Geschützführer, der sich eben über das Bodenstück der Kanone neigte, um das Geschütz genauer zu richten.

Der so bedrohte Sergeant war ein sehr hübscher, blonder, junger Mann von sanftem, besonders aber intelligentem Aussehen, wie es jener Truppengattung eigen ist, deren Aufgabe darin besteht, die fürchterlichste aller Mordwaffen immer fürchterlicher zu machen, bis dadurch dermaleinst der Krieg unmöglich sein wird.

»Schade!« rief Combeferre, während er den stattlichen Mann bewunderte. »Wie scheußlich sind doch diese Schlächtereien! Nun, wenn es keine Könige mehr geben wird, dann wenigstens wird es auch mit dem Kriege vorbei sein. Enjolras, Du zielst auf den Sergeanten da, ohne ihn Dir anzusehn. Bedenke, daß es ein interessanter, junger Mann, daß er muthig ist; man sieht es ihm an, daß er nachdenkt, denn die jungen Leute von der Artillerie haben Bildung; wahrscheinlich hat er einen Vater, eine Mutter, eine Braut; er ist höchstens fünfundzwanzig Jahr alt und könnte Dein Bruder sein.«

»Er ist es,« erwiderte Enjolras.

»Ja wohl und meiner auch,« sagte Combeferre. »Dann müßten wir ihn aber nicht totschießen.«

»Laß mich; was sein muß, muß sein.«

Und eine Thräne rollte langsam auf Enjolras’s marmorbleiche Wange herab.

Gleichzeitig drückte er los. Der Artillerist drehte sich zwei Mal um sich selber, indem er die Arme vor sich hinstreckte und den Kopf hoch hob, als wolle er stark athmen, stürzte dann mit der einen Seite auf das Geschütz und blieb regungslos liegen. Man sah seinen Rücken, aus dem das Blut herausströmte. Die Kugel hatte ihm die Brust durchbohrt. Er war tot.

Er mußte fortgetragen und durch einen andern Geschützführer ersetzt werden, so daß auf diese Weise die Angegriffnen in der That einige Minuten Zeit gewannen.

Ein guter Schütze

In der Zwischenzeit beriethen sich die Barrikadenkämpfer. Alle waren darin einig, daß man gegen die Kartätschen keine Viertelstunde mehr Stand halten könne. Die Wirkung der Geschosse mußte durchaus abgeschwächt werden.

Enjolras meinte: »Wir brauchen eine Matratze.«

»Es ist keine da,« entgegnete Combeferre, »die wir haben, werden von den Verwundeten gebraucht.«

Bis zu jenem Augenblick hatte Jean Valjean, das Gewehr zwischen den Beinen, abseits auf einem Prellstein in der Nähe der Wirtshausthür gesessen und an dem, was vorging, nicht den geringsten Antheil genommen. Es war, als hörte er nicht die Glossen, die man über seine Unthätigkeit machte.

Jetzt aber, als er Enjolras’s Befehl hörte, erhob er sich von seinem Sitze.

Wie dem Leser erinnerlich sein wird, hatte bei der Ankunft des Insurgententrupps eine alte Frau aus Furcht vor den Kugeln ihre Matratze vor ihr Fenster gehängt. Es war ein sechsstöckiges Haus, das vor der Barrikade lag und das Fenster befand sich auf dem Dache. Die quer gelegte Matratze ruhte unten auf zwei Stiezen und wurde durch zwei Stricke aufrecht erhalten, deren Enden um zwei in die Holzbekleidung des Fensters eingeschlagne Nägel gewickelt waren. Von der Barrikade aus gesehen, waren diese Stricke so dünn wie Härchen.

»Kann mir Jemand einen doppelläufigen Karabiner leihen?« fragte Jean Valjean.

Enjolras, der den seinigen so eben wieder geladen, reichte ihm denselben.

Jean Valjean legte an und schoß den einen von den beiden Stricken durch. Gleich darauf fiel der zweite Schuß und die Matratze stürzte zwischen den Stiezen hindurch auf die Straße.

»Bravo!« riefen Alle. »Nun haben wir eine Matratze!«

»Ja wohl, wenn sie einer holt!« sagte achselzuckend Combeferre.

Denn die Matratze war vor die Barrikade, zwischen die Belagerten und die Belagrer, gefallen. Nun hatten sich aber die Soldaten, wüthend über den Tod des Sergeanten, hinter die von ihnen errichtete Schulterwehr gelegt und, um für die vorläufig zum Schweigen gebrachte Kanone Ersatz zu schaffen, ein heftiges Gewehrfeuer gegen die Barrikade eröffnet. Die Insurgenten antworteten nicht, um ihre Munition zu schonen, und die Gewehrkugeln thaten der Schanze keinen Schaden. Desto gefährlicher war es aber, sich in den Theil der Straße zu wagen, der von den Kugeln der Feinde bestrichen wurde.

Da trat Jean Valjean durch die Lücke hinaus, rannte durch den Kugelregen hindurch, hob die Matratze auf, lud sie sich auf den Rücken und kam hinter die Barrikade zurück.

Hier befestigte er selber die Matratze, so daß sie von den Artilleristen nicht gesehen werden konnte.

Nun durfte man den nächsten Schuß ruhig abwarten.

Es dauerte auch nicht lange, so spie die Kanone einen Haufen Kugeln aus. Aber dies Mal prallten sie nicht ab. Der Erfolg, den man gewünscht hatte, war wirklich erreicht.

»Bürger,« sagte Enjolras zu Jean Valjean, »die Republik dankt Ihnen.«

Auch Laigle war voller Bewunderung und lachte vergnügt.

»Wie unmoralisch, daß eine Matratze so viel vermag. Was sich biegt, triumphirt über das, was bricht. Aber das macht nichts: Ehre der Matratze, die mit einer Kanone fertig wird!«

Aurora

In derselben Stunde wachte Cosette auf.

Ihr Zimmer war schmal, sauber, versteckt; das lange Fenster lag nach Osten und ging auf den Hinterhof des Hauses hinaus.

Cosette wußte nicht, was in der Stadt vorging. Sie war schon in ihrem Schlafzimmer, als die Toussaint Jean Valjean gesagt hatte, in Paris sei ein großer Krawall ausgebrochen.

Das junge Mädchen hatte nur wenige Stunden, dafür aber desto fester geschlafen. Auch hatten sie liebliche Träume umgaukelt, in denen eine ihrem Marius ähnliche, lichte Gestalt eine Rolle spielte, und als sie erwachte, schien ihr gerade die Sonne in die Augen, so daß sie an eine Fortsetzung ihrer Träume glaubte.

Unter diesen Umständen war es nur natürlich, daß sie sich zunächst heiteren Gedanken hingab. Sie stand vollständig unter der Herrschaft derselben Art Reaktion, die wenige Stunden vorher Jean Valjean an sich erfahren hatte: Sie wollte durchaus nicht wissen, daß es solch ein Ding, wie das Unglück giebt und hoffte tapfer darauf los, ohne zu wissen, warum. Allerdings empfand sie einen Augenblick heftige Beklemmung: Es war drei Tage her, das sie Marius nicht gesehen hatte! Aber diese Sorge beschwichtigte sie mit der Hoffnung, daß er ihren Brief erhalten haben müsse, daß er wisse, wo sie sei, daß er ja ein gescheidter Mensch wäre und Mittel finden werde, zu ihr zu gelangen. Und zwar ganz gewiß im Laufe des Tages, ja vielleicht schon des Vormittags. — Es war schon heller, lichter Tag, aber die Sonnenstrahlen fielen noch recht schräg, so daß es noch sehr früh sein mußte; aber aufstehen, dachte sie, müsse sie sofort, um Marius empfangen zu können.

Sie hatte das Gefühl, daß sie ohne Marius nicht leben könne, das genügte, und folglich würde er kommen. Dagegen konnte kein Einwand aufkommen, so gewiß war sie ihrer Sache. War es doch schon ungeheuerlich genug, daß sie drei Tage lang lauter Kummer gehabt! Wie schlecht das doch von dem lieben Gott war, daß er ihren Marius drei Tage lang von ihr fern gehalten hatte! Jetzt aber war ja diese grausame Schelmerei des Himmels vorbei, jetzt mußte Marius kommen und eine gute Nachricht bringen. So ist die Jugend: Sie trocknet sich schnell die Augen; sie meint, der Kummer sei zu nichts gut, und weist ihn ab. Die Jugend ist das Lächeln der Zukunft vor einem Unbekannten, das sie selber ist. Glücklich zu sein, versteht sich für sie von selbst. Sie lebt und webt in der Hoffnung.

Außerdem konnte sie sich gar nicht mehr erinnern, was ihr Marius als Grund seiner Abwesenheit angegeben hatte. Jedermann hat wohl bemerkt, wie schlau sich ein Geldstück, das man fallen läßt, zu verstecken weiß. Denselben Streich spielen uns auch manche Gedanken und Erinnrungen. Sie flüchten sich in irgend einen Winkel unsres Hirns und man mag sie dann suchen, so viel man will; das Gedächtniß wird ihrer nicht mehr habhaft. So hatte auch Cosette an jenem Morgen ihren Aerger, daß ihr Erinnrungsvermögen so matt arbeitete. Sie machte sich Vorwürfe, fand, daß es schlecht von ihr sei, Worte, die ihr Marius gesagt hatte, vergessen zu haben.

Also stand sie auf und reinigte Seele und Körper, d. h. sie verrichtete ihr Gebet und machte Toilette.

Man darf allenfalls den Leser in ein Brautgemach, nicht aber in das Schlafzimmer einer Jungfrau blicken lassen. Kaum daß dies der Poesie gestattet ist; der Prosa ist es untersagt.

Eine holde Mädchenblüte ist wie eine Lilienknospe, deren Innres vom Menschen nicht angeschaut werden darf, ehe sie von der Sonne aufgeschlossen worden ist. Wie sie das Bett zurückschlägt, wie sie in ihrer Nacktheit vor sich selber erschrickt, ihren Busen vor dem Spiegel verhüllt, als wenn fremde Augen auf sie schauten, bei jedem unerwarteten Geräusch zusammenschauert, als fürchte sie, beobachtet zu werden, alles dies darf nicht geschildert werden; es ist schon zu viel, daß wir es angedeutet haben.

Cosette kleidete sich schnell an und frisirte sich, was damals noch eine leichte Arbeit war. Pflegten doch die Frauen noch nicht Kissen und Tonnen unter ihre Locken und Haarwellen zu legen, noch keine Krinolinen in ihren Haaren zu tragen. Dann öffnete sie das Fenster und ließ ihre Blicke überall umherstreifen in der Hoffnung ein Stückchen von der Straße erblicken zu können. Leider war aber nichts zu sehen, als die ziemlich hohen Mauern, die den Hof abschlossen, und einige Gärten, welche Cosette abscheulich fand. Es war das erste Mal in ihrem Leben, daß ihr Blumen mißfielen. Der Anblick eines Rinnsteins hätte ihr unendlich mehr Freude gemacht. So beschloß sie sich den Himmel anzusehen, als dächte sie, Marius werde aus der Gegend kommen.

Plötzlich brachen ihr Thränen aus den Augen. Nicht, als ob wetterwendische Veränderlichkeit dies bewirkt hätte. Sie wurde sich vielmehr der wahren Natur ihrer augenblicklichen Lage bewußt; deshalb folgte auf die Hoffnungsfreudigkeit völlige Niedergeschlagenheit. Ihr schwante, daß etwas Fürchterliches vorging. Sie begriff, daß sie auf nichts sicher rechnen könne; daß, wenn sie Marius aus den Augen, sie ihn überhaupt verlor und nun erschien ihr der Gedanke, er könne vom Himmel zu ihr herabkommen, nicht mehr entzückend, sondern schauerlich.

Dann kehrte — zartes Gewölk verflüchtigt sich ja sehr leicht — ruhige Zuversicht wieder und eine unbewußte, aber auf Gott vertrauende Heiterkeit.

Noch schlief Alles im Hause. Es herrschte ein Stillschweigen wie in einer Kleinstadt. Keine Jalousie war aufgemacht. Auch der Portier war noch nicht auf den Beinen. Selbst die Toussaint lag noch im Bett und Cosette glaubte natürlich auch, daß ihr Vater noch schliefe. Sie mußte wohl schweres Herzeleid empfunden haben und noch empfinden: denn sie meinte, ihr Vater habe recht schlecht an ihr gehandelt; aber sie verließ sich auf Marius. Daß dieses Licht auch je verdunkeln könnte, schien ihr schlechterdings unmöglich. Zeitweise vernahm sie aus der Ferne ein dumpfes Dröhnen und dachte dann: »Sonderbar, daß manche Hausthüren so früh auf und zugemacht werden.« Es waren aber Kanonenschüsse.

Einige Fuß unter Cosettes Fenster befand sich in dem ganz schwarzen Karnieß ein Schwalbennest, das etwas hervorragte, so daß man von oben in das Innre dieses Paradieschens blicken konnte. Da saß die Mutter und hatte ihre Flügel über ihre Jungen gebreitet, während der Vater hin und herflog, Atzung brachte und sich mit den Seinigen schnäbelte. Diese allerliebste Scene übergoß die aufgehende Sonne mit ihrem goldnen Licht; das große Gebot »Seid fruchtbar und mehret Euch!« fand hier eine fröhliche und erhabne Anwendung. Dieses Schauspiel betrachtete Cosette, die Phantasie voller Chimären, das Herz voller Liebesträume, ohne daß sie sich selber zu gestehen wagte, daß sie gleichzeitig an Marius dachte.

Ohne zu töten

Das Feuer der Angreifer hielt an, bald Gewehrsalven, bald Kartätschenschüsse; aber ohne großen Schaden anzurichten. Nur der obre Theil der Fassade des Wirtshauses wurde beschädigt, die Fenster im ersten Stock und im Dach demolirt, so daß die hier postirten Vertheidiger sich zurückziehen mußten. Denn es ist eine bekannte Taktik des Barrikadenangriffs, daß man lange Zeit hinter einander schießt, damit die Insurgenten recht viel Munition verbrauchen, wenn sie den Fehler begehen das feindliche Feuer zu erwiedern. Merkt man, daß sie weniger stark schießen, daß ihnen Pulver und Kugeln ausgehen, so wird gestürmt. Enjolras hatte sich aber nicht zu diesem Fehler verleiten lassen und seinen Leuten verboten mit ihrer Munition verschwenderisch umzugehen.

Bei jeder Salve schob Gavroche die Zunge in die Backe, ein Zeichen vernichtender Geringschätzung, und spöttelte:

»So ist’s recht, Jungens. Reißt uns die Matratze entzwei. Dann kriegen wir Charpie.«

Wahrscheinlich beunruhigte schließlich das Stillschweigen hinter der Barrikade die Angreifer. Sie fürchteten irgend eine Kriegslist, einen unliebsamen Zwischenfall und empfanden das Bedürfniß zu wissen, was hinter dem Steinhaufen passirte, der Schuß auf Schuß geduldig hinnahm ohne Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Denn plötzlich sahen die Insurgenten auf einem nahen Dache einen Helm, der in der Sonne blinkte. Es saß da ein Feuerwehrmann mit dem Rücken an einen hohen Schornstein gelehnt und sah auf die Verschanzung hinab.

»Ein unbequemer Beobachter!« bemerkte Enjolras.

Ohne ein Wort zu sagen, ergriff Jean Valjean das Gewehr, das er mitgebracht hatte, zielte nach dem Kundschafter und eine Sekunde darauf rasselte der Helm auf die Straße herunter. Der erschrockne Feuerwehrmann aber beeilte sich von der Bildfläche zu verschwinden.

Nun erschien ein zweiter Beobachter, ein Offizier. Jean Valjean spielte ihm ebenso mit, wie dem Gemeinen. Der Offizier war nicht hartnäckig und konzentrirte sich ebenfalls rückwärts. Dieses Mal verstanden die Angreifer den zarten Wink und behelligten die Insurgenten nicht weiter mit ihrer Spionage.

»Warum haben Sie den Mann nicht getötet?« fragte Laigle Jean Valjean.

Aber dieser gab ihm keine Antwort.

Die Anordnung als Vertheidigerin der Ordnung

»Er hat meine Frage nicht beantwortet,« sagte Laigle leise zu Combeferre.

»Der Mann ist Einer, der mit Flintenkugeln Gutes stiftet.«

Diejenigen, die sich dieser schon etwas fernen Zeit noch entsinnen, wissen, daß die Bürgerwehr der Umgegend von Paris sich tapfer gegen die Insurgenten schlug. Im Juni 1832 zeigte sie sich besonders hartnäckig und muthig. So mancher brave Kneipwirt, dessen Lokal in Folge des Aufruhrs ohne Zuspruch blieb, verfiel in eine wahre Löwenwuth und schlug mir nichts dir nichts sein Leben in die Schanze, nur damit die Ordnung und der Kuhschwof wieder zu Ehren kommen sollten. In jener zugleich spießbürgerlichen und heroischen Zeit stellten sich den Rittern, die ihre Ideen vertheidigten, auch Paladine entgegen, die für ihre Interessen eintraten. Waren die Beweggründe auch prosaische, dem Muth thaten sie keinen Abbruch. Ein mit der Auszehrung behafteter Geldsack konnte einen Bankier veranlassen die Marseillaise anzustimmen und Mancher kämpfte für seinen Kramladen mit einem Opfermuth, der dem der Vertheidiger des Thermopylenpasses nicht nachstand.

Eine andre Eigenthümlichkeit jener Zeit war der Mangel an Disciplin und Ordnungssinn, den die Anhänger der bestehenden Regierung vielfach bekundeten. Ehe man es sich versah, »wurde auf Befehl dieses oder jenes Obersten der Bürgerwehr das Ganze sammeln getrommelt; kommandirte ein Hauptmann zum Angriff; stürzte sich ein beliebiger Nationalgardist, weil es ihm ›so paßte‹ und zu seinem Privatvergnügen auf den Feind.« Man fragte nicht seine Vorgesetzten, sondern nur sein persönliches Belieben. Es gab unter den Vertheidigern der Ordnung wahre Guerilleros, die Einen Degenhelden, wie Fannicot, die Andern Federfuchser, wie Henri Fonfrède.

Die Civilisation, die damals leider mehr durch eine Verbrüderung von Interessen, als durch eine Gruppe von Principien dargestellt wurde, war oder glaubte sich gefährdet; sie schlug Lärm und der erste Beste half ihr auf seine Weise; dachte, er allein könne die Gesellschaft retten.

Der Eifer schlug zuweilen in eine wilde Vernichtungswuth um. Irgend ein Trupp Bürgerwehr warf sich aus eigner Machtvollkommenheit zum Kriegsrath auf, verurtheilte und füsilirte in fünf Minuten einen gefangnen Insurgenten. Einem solchen aus dem Stegreif konstituirten Gericht, war auch Jean Brouvaire zum Opfer gefallen. Diese Anwendung des blutdürstigen Lynchgesetzes hat keine Partei das Recht, den andern vorzuwerfen, denn es wird von der Republik in Nordamerika ebenso gut geübt, wie von der Monarchie in Europa. Natürlich kommen dabei auch Irrthümer und Verwechslungen vor. Eines Tages wurde ein junger Dichter Namens Paul-Aimé Garnier auf der Place Royale von Nationalgardisten verfolgt und rettete sich nur, indem er sich in ein Haus flüchtete. »Ein Saint-Simonist!« hieß es. Der junge Mann trug nämlich ein Buch unter dem Arm, einen Band von den Memoiren des Herzogs von Saint-Simon. Ein unwissender Philister hatte den Titel gelesen und sofort »Schlagt ihn tot!« gerufen.

Am 6. Juni 1832 nun unternahm auch eine Compagnie Bürgerwehr unter dem Kommando des schon erwähnten Fannicot auf eigne Faust einen Angriff auf die Barrikade der Rue de la Chanvrerie, der ihr theuer zu stehen kam. Diese Thatsache ist, so eigentümlich sie Manchem erscheinen mag, durch gerichtliche Ermittlungen nach dem Aufruhr festgestellt worden. Der Hauptmann Fannicot konnte der Versuchung nicht widerstehen, vor der Zeit anzugreifen und die Barrikade allein mit seiner Kompagnie zu erstürmen. Durch den Anblick der rothen Fahne und des alten Rocks, den er für eine schwarze Fahne hielt, wild gemacht, tadelte er ganz laut die Generäle und Truppenführer, die lange Rath pflogen und warteten, um, wie Einer von ihnen sich ausdrückte, die Insurrektion in ihrem eignen Saft kochen zu lassen. Er fand, daß Alles reif sei, und da reife Früchte gepflückt werden müssen, so beschloß er, nicht lange zu fackeln und sie abzuschlagen.

Ebenso, wie er, dachten seine Leute, »wahre Tollköpfe«, wie sie ein Augenzeuge genannt hat. Seine Kompagnie, eben dieselbe, die den Dichter Jean Prouvaire füsiliert hatte, war die erste, in dem an der Ecke der Straße postirten Bataillon. In einem Augenblick, wo man sich dessen am wenigsten versah, stürmte der Hauptmann mit seinen Leuten auf die Barrikade los, mit mehr gutem Willen, als strategischem Geschick. Noch ehe sie zwei Drittel der Straße hinter sich gebracht hatten, empfing sie eine tüchtige Gewehrsalve. Vier von ihnen, die Verwegensten, die den Andern voraus rannten, fielen dicht vor der Redoute, und so tapfer sie waren, zogen sie sich doch, da sie der richtigen, militärischen Zähigkeit ermangelten, nach einigem Zaudern zurück, indem sie fünfzehn der Ihrigen als Leichen auf dem Platze ließen. In Folge der Verzögerung gewannen dann die Insurgenten die Zeit, ihre Gewehre wieder zu laden und zum zweiten Mal zu feuern, ehe sich die Kompagnie hinter der Straßenecke in Sicherheit bringen konnte. In demselben Augenblick empfing sie auch von vorn eine Ladung Kartätschen von dem abgeprotzten Geschütz, dessen Bemannung keinen Befehl hatte, das Feuer einzustellen. Eine dieser Kartätschenkugeln tötete den unerschrocknen und unklugen Fannicot, so daß er, der Vertheidiger der Ordnung, durch andere Vertheidiger der Ordnung sein Leben verlor.

Ueber diesen mehr wilden als gefährlichen Angriff ärgerte sich Enjolras; »Die Dummköpfe die! Opfern ihre Leute für nichts und wieder nichts und wir müssen unsere Munition vergeuden!«

Mit diesen Worten bezeichnete Enjolras sehr richtig das Wesen des Straßenkampfes. Die Insurgenten und ihre Gegner kämpften nicht mit gleichen Waffen. Die Insurrektion hat immer nur über wenig Munition und wenig Truppen zu verfügen, und ist eine Patronentasche geleert, ein Mann gefallen, so sind sie nicht zu ersetzen. Die Regierung dagegen, die über die Armee, über das Artilleriedepot in Vincennes verfügt, braucht mit Menschen und Kugeln nicht zu geizen. Sie hat soviel Regimenter, wie die Insurrektion Leute zählt. Dieser ungeheuren Uebermacht unterliegen stets die Insurgenten, es sei denn, daß die Revolution plötzlich ihr Haupt erhebt und ihr blitzendes Schwert in die Wagschale wirft. Dann greift Alles zu den Waffen, überall steigen die Redouten des Volkes empor, Paris macht seine Herrscherkraft geltend, das Quid divinum der Schlachten greift ein, es regt sich der Geist, der bei der Erstürmung der Tuilerien und 1848 waltete, dann wird es Licht, die Gewalt weicht zurück und die Armee sieht Frankreich vor sich, das ihr majestätisch das Panier der Zukunft entgegenhält.

Enttäuschte Hoffnungen

Die Gefühle und Leidenschaften, die einen Trupp Insurgenten auf der Barrikade zurückhalten, sind sehr verschiedener Natur. Tapferkeit, jugendlicher Enthusiasmus, Ehrgefühl, Idealismus, Ueberzeugungstreue, Hartnäckigkeit und besonders von Zeit zu Zeit aufgefrischte Hoffnungen und Illusionen.

Unter dem Bann einer solchen Illusion stand eine Zeit lang auch die Bemannung der Barrikade in der Rue de la Chanvrerie.

»Hört!« rief plötzlich Enjolras, der beständig in die Ferne lauschte. »Mich dünkt, daß Paris sich zu rühren anfängt.«

In der That schwoll an jenem Morgen der Aufstand eine oder mehrere Stunden hindurch stärker an. Das hartnäckige Geläut der Glocken in der Kirche Saint-Merry feuerte Manche an, sich dem Zuge anzuschließen. In der Rue du Poirier, Rue des Gravilliers entstanden neue Barrikaden. Vor der Porte Saint-Martin nahm ein mit einem Karabiner bewaffneter, junger Mann allein den Kampf gegen eine Schwadron Kavallerie auf. Ohne Deckung, mitten auf dem Boulevard ließ er sich auf ein Knie nieder, legte sein Gewehr an und tötete den Rittmeister. »So!« sagte er, »der wird uns keinen Schaden mehr thun.« Er wurde von den Soldaten niedergemacht. In der Rue Saint-Denis stand eine Frau hinter einer heruntergelassenen Fensterjalousie und schoß auf die Municipalgarde. In der Rue de la Cossonnerie wurde ein Junge arretiert, der die Taschen voller Patronen hatte. Mehrere Wachtposten wurden angegriffen. Beim Eingang in die Rue Bertin-Poirée wurde ein Regiment Kürassiere, an dessen Spitze der General Cavaignac de Baragne ritt, mit einem sehr lebhaften und ganz unerwarteten Gewehrfeuer begrüßt. In der Rue Planche-Mibray wurden von den Dächern herab auf die Soldaten allerhand Scherben und Küchengeräthe geworfen, was immer als ein bedenkliches Symptom zu betrachten ist, und als man dies dem Marschall Soult meldete, schüttelte dieser alte Mitkämpfer Napoleons den Kopf und erinnerte sich eines Ausspruchs, den Suchet in Saragossa gethan hatte: »Wir sind verloren, wenn uns die alten Weiber den Inhalt ihrer Nachttöpfe auf den Kopf gießen.«

Diese einzelnen Zornaufwallungen zu einer Zeit, wo man den Aufstand schon für lokalisirt hielt, gaben den Truppenführern zu denken. Sie beschlossen die Funken, die so leicht einen allgemeinen Brand entfachen konnten, sofort auszutreten und den Angriff auf die Barrikaden Maubuée, de la Chanvrerie und Saint-Merry bis zuletzt aufzuschieben. Demzufolge wurden in die unruhigen Stadtviertel Kolonnen entsandt, die großen Straßen gesäubert, die kleinen rechts und links durchsucht, bald mit Vorsicht und langsam, bald im Sturmschritt. Die Infanteristen erbrachen die Thüren der Häuser, aus denen man geschossen hatte, während die Kavallerie die Zusammenrottungen auf den Boulevards zerstreute. Diese Vorgänge liefen nicht ohne großen Lärm ab, der auch zu Enjolras’s Ohren drang. Außerdem sah er Verwundete auf Bahren an dem Ende der Straße vorbeitragen. »Die kommen nicht von uns her!« sagte er zu Courfeyrac.

Dieses Hoffnungsflämmchen erlosch indeß sehr bald. In noch nicht einer halben Stunde verzog sich das Gewitter, das in der Luft war; der Blitz leuchtete wohl, schlug aber nicht ein und dann fühlten die Insurgenten wieder den bleiernen Druck der Gleichgiltigkeit, die das Volk so oft gegen seine allzu kühnen Vorkämpfer beweist.

Die allgemeine Aufregung hatte sich gelegt und die Aufmerksamkeit des Kriegsministers, so wie die Strategik der Generäle konnte sich jetzt den wenigen übrig gebliebnen Barrikaden zuwenden.

Währenddem stieg die Sonne immer höher am Horizont empor.

»Hunger thut weh!« rief ein Insurgent Enjolras zu. »Sollen wir wirklich sterben, ohne erst noch einmal gegessen zu haben?«

Enjolras, der noch immer hinter seiner Zinne stand und kein Auge von der Straße verwandte, machte mit dem Kopfe ein Zeichen der Bejahung.

Wie Enjolras’s Braut hieß

Courfeyrac, der auf einem Pflasterstein neben Enjolras saß, machte sich ein Vergnügen daraus, seine Gefährten durch Witze über die Kartätschenschüsse zu erheitern.

»Du thust mir leid, alte Brummliese!« sagte er zur Kanone. »So strenge Dich doch nicht so unnütz an, Du armes Ding. Du wirst Deiner Gesundheit noch Schaden thun. Du hustest ja schon schwindsüchtig.«

Auch Courfeyrac und Laigle, deren gute Laune mit der Gefahr wuchs, ersetzten, wie Frau Scarron, die Nahrung durch Späße und schenkten, da der Wein ausgegangen war, den Andern Scherzreden ein.

»Ich kann Enjolras’s Gleichmuth und Verwegenheit nicht genug bewundern,« sagte Laigle. »Er lebt allein, in Folge dessen er etwas melancholisch ist; als großer Mann hat er über Vereinsamung zu klagen. Wir Andern haben irgend ein Lieb, das uns den Kopf verdreht und folglich auch tapfer macht. Ist man verliebt wie ein Tiger, so ist es ganz natürlich, daß man kühn ist wie ein Löwe. Die einzige Art, wie wir uns an unsern Mädchen rächen können, wenn sie uns einen unangenehmen Streich spielen! Hat doch auch Roland den Tod gesucht, damit Angelica sich ärgern sollte. Allen unsern Heroismus verdanken wir unsern Mädeln. Ein Mann ohne Frauenzimmer ist wie ein Pistol ohne Hahn. Trotzdem nun aber hinter Enjolras nichts Weibliches steht, trotzdem er nicht verliebt ist, kriegt er es doch fertig Courage zu haben. Unbegreiflich, daß er so kalt wie Eis und doch feurig sein kann.«

Enjolras schien nicht hinzuhören, aber er beantwortete Laigle’s Frage leise vor sich hin: »Patria!«

»Was Neues!« unterbrach Courfeyrac Laigle’s Heiterkeit. »Nummer Acht!« kündete er mit der Stentorstimme eines Gerichtsdieners an.

Es war nämlich ein zweites Geschütz auf der Bildfläche erschienen, das die Artilleristen neben dem ersten abprotzten.

Es bedeutete den Anfang vom Ende.

Nun wurde die Barrikade von den beiden Kanonen direkt beschossen, wobei das Gewehrfeuer kräftig sekundirte.

Gleichzeitig hörte man in einiger Entfernung noch eine andre Kanonade. Es standen nämlich in der Rue Saint-Denis und in der Rue Aubry-le-Boucher noch zwei andre Geschütze, die gegen die Barrikade Saint-Merry gerichtet waren und denen der Rue de la Chanvrerie schaurig antworteten.

Von diesen beiden schoß das eine Kartätschen, das andre Kugeln. Letzteres zielte ziemlich hoch, damit die Kugeln den obersten Rand der Verschanzung zerstören und die Steintrümmer, indem sie nach allen Richtungen auseinander flogen, die Vertheidiger treffen sollten.

Auf diese Weise wollte man die Insurgenten verhindern, über den Kamm der Barrikade hinweg zu sehen und sie nöthigen sich weiter nach unten zu verkriechen. Also eine Vorbereitung zum Sturmlaufen.

Konnten die Insurgenten von der Barrikade und von den Fenstern des Wirtshauses aus nicht mehr schießen, so konnten die Angreifer sich in die Straße wagen, vielleicht sogar unbemerkt, die Schanze rasch erklettern, wie Abends zuvor, und sie möglicher Weise überrumpeln.

»Die beiden Geschütze fangen an uns gefährlich zu werden,« rief Enjolras. »Feuer auf die Artilleristen!«

Alle waren bereit und eröffneten plötzlich, nachdem sie lange geschwiegen hatten, ein rasches, muntres Gewehrfeuer. Die Straße füllte sich mit dichtem Pulverdampf und nach sieben oder acht Gewehrsalven sah man zwei Drittel der Artilleristen an der Erde liegen. Die Uebriggebliebenen allerdings fuhren mit kaltblütigem Pflichteifer fort die Geschütze zu bedienen, aber die Kanonade wurde doch langsamer.

»Besser können wir’s nicht verlangen,« meinte Laigle.

Aber Enjolras schüttelte den Kopf und antwortete:

»Wenn die Sorte Erfolg nur noch fünfzehn Minuten anhält, bleiben uns Allen keine zehn Patronen übrig.«

Gavroche vor der Barrikade

Gavroche stand dabei, als Enjolras diese Aeußerung that.

Er ging in das Wirtshaus hinein, nahm einen Flaschenkorb, eilte dann durch die Lücke hinaus und begann kaltblütig die Patronentaschen der getöteten Nationalgardisten zu leeren.

»Was machst Du da?« rief Coufeyrac, der ihn zuerst bemerkte.

Gavroche sah ihn dreist an und antwortete:

»Ich fülle meinen Korb.«

»Und die Kartätschen?«

»Och, um das Bischen Kugelregen kümmert sich ein großer Geist nicht.«

»Komm zurück!«

»Gleich!« antwortete Gavroche und eilte vorwärts.

In der Nacht lagen etwa zwanzig Tote, die Fannicot’s Kompagnie bei ihrer Flucht zurückgelassen. Gavroche konnte also sehr wohl auf eine ziemlich reiche Ausbeute hoffen.

Der Pulverdampf in der Straße glich einer Wolke, wie man sie bisweilen im Gebirge zwischen zwei schroffen Abhängen sehen kann. Er stieg nur langsam empor und erneuerte sich beständig, so daß die Straße beständig dunkler wurde. Kaum, daß die beiden Parteien sich noch sehen konnten.

Diese Dunkelheit, die wahrscheinlich von den Angreifern absichtlich geschaffen wurde, um mit desto weniger Gefahr stürmen zu können, kam unserm Gavroche sehr zu Statten. In den Pulverdampf gehüllt und klein, wie er war, konnte er, ohne bemerkt zu werden, ziemlich weit vorgehn und plünderte die sieben oder acht ersten Patronentaschen ohne besondre Gefahr.

Dann nahm er seinen Korb zwischen die Zähne und trabte auf allen Vieren von einem Leichnam zum andern mit der Gelenkigkeit eines Affen, bis die Seinigen nicht mehr wagten ihn zurückzurufen, aus Furcht, der Feind würde auf ihn aufmerksam werden.

Indem er aber allmählich weiter vorrückte, gelangte er endlich an einen Punkt, wo der Pulverdampf durchsichtiger wurde und die Soldaten hinter der Schulterwehr, sowie die Nationalgardisten an der Ecke der Straße ihn bemerkten.

Eben entledigte Gavroche einen Sergeanten seiner Patronen, als eine Kugel die Leiche traf.

»Donnerwetter, so schießt mir doch nicht meine Leichen tot!« rief Gavroche.

Eine zweite Kugel schlug auf einen Pflasterstein neben ihm, daß die Funken sprühten. Eine dritte warf seinen Korb um.

Gavroche blickte auf und sah, daß diese Kugeln von der Bürgerwehr kamen.

Er stellte sich aufrecht, stemmte die Hände auf die Hüften, sah die Nationalgardisten, die auf ihn schossen, keck an und sang:

»Das Rind, die Gans und der Philister,

Das sind drei dumme Geschwister;

Denn hätten sie Verstand,

So hielten sie den Rand.«

Darauf nahm er den Korb wieder von der Erde auf, sammelte die herausgefallnen Patronen sämtlich wieder ein und rückte weiter vor, um eine andre Patronentasche auszuleeren, während eine vierte und fünfte Kugel dicht bei ihm vorüberflogen.

Es war schrecklich und hübsch zugleich anzusehen, wie der Junge die Feinde neckte und sich im Kugelregen zu amüsieren schien. Es machte den Eindruck, als wollte ein Sperling nach einer Schaar Jäger picken. Die Nationalgardisten und Soldaten lachten, indem sie auf ihn anlegten und verfehlten ihn fortwährend. Er warf sich auf die Erde, sprang auf, versteckte sich hinter eine Ecke, stürzte wieder hervor, sammelte Patronen ein, indem er den Feinden lange Nasen machte, Grimassen schnitt und unsinnige Lieder sang. Die Insurgenten keuchten und zitterten, er tänzelte vergnügt wie ein Kobold herum, dem Menschen nichts anhaben können und der den Tod ungestraft foppen darf.

Eine Kugel indeß traf endlich den Irrwisch. Er wankte und brach zusammen. Die Insurgenten stießen einen Schreckensschrei aus; aber der Pygmäe schien wie der Riese Antäus durch die Berührung mit dem Straßenpflaster neue Kraft zu gewinnen. Er richtete sich auf, so daß er saß, hob die Arme in die Höhe und sang, während ihm das Blut das Gesicht herunterströmte, wieder einen Vers:

»Hier sitz’ ich auf der Erden,

Was wird aus mir nun werden?

Doch dieses ist wir schnurz.

Ich schick’ Euch einen …«

Leider können wir dem Leser nicht berichten, welches das letzte Reimwort war. Denn Gavroche sang die Strophe nicht zu Ende. Eine zweite Kugel von demselben Schützen brachte ihn zum Schweigen. Dieses Mal sank er mit dem Gesicht auf die Erde und rührte sich nicht mehr. Die große Heldenseele hatte den kleinen Körper verlassen.

Der kleine Vater

Zu derselben Zeit irrten im Jardin du Luxembourg — denn das Auge des Dichters muß überall sein — zwei Knaben herum, die sich bei der Hand hielten. Der eine mochte sieben, der andre fünf Jahre alt sein. Da sie vom Regen durchnäßt waren, hielten sie sich möglichst in der Sonne; sie waren zerlumpt und sahen blaß aus. »Mich hungert so sehr!« jammerte der Kleinste.

Der Aelteste, der sein Brüderchen bevaterte und führte, trug ein Stöckchen in der Hand.

Sie waren allein in dem großen Garten, der von der Polizei wegen des Aufstands geschlossen worden war. Die Truppen, die hier bivouakirt hatten, waren herausgenommen worden.

Wie kamen die Kleinen dahin? Vielleicht waren sie aus einem Wachthause oder Polizeibüreau oder aus einer Seiltänzerbude entwischt; vielleicht hatten sie sich am Abend zuvor als der Garten geschlossen wurde, vor den Beamten versteckt, um die Nacht in einer Bude schlafen zu können. Jedenfalls waren sie frei, d.h. vogelfrei.

Es waren dieselben Knaben, die Gavroche so viel Sorge machten, die Kinder der Thénardier, die sie an die Magnon vermiethet und als deren offizieller Vater Gillenormand figurirte, und um die man sich jetzt so wenig bekümmerte, wie um abgefallene Blätter.

Es bedurfte der Aufregung und Unordnung eines solchen Tages, damit solches Kindergesindel den öffentlichen Garten betreten durfte. Hätten die Aufseher sie bemerkt, so würden sie die Lumpenmätze hinausgejagt haben. Derartige Kinder haben kein Recht, sich die Blumen anzusehen.

Es hatte am Abend zuvor und auch am Morgen geregnet. Aber Junihuschen zählen nicht. Kaum eine Stunde nach einem Gewitter ist die Erde wieder trocken, — wie die Wangen eines Kindes.

Zur Zeit des Solstitiums zieht die Sonne alle Feuchtigkeit rasch aus dem Boden heraus, als wolle sie trinken. Troff am Morgen noch alles vom Regen, so belästigt Einen am Nachmittag schon wieder der Staub.

Nichts ist so lieblich wie das Laub und Gras, wenn es von einer Husche abgewaschen und von der Sonne getrocknet ist; sie strömen eine warme Frische aus. Die Gärten und Wiesen mit dem Wasser in den Wurzeln und Sonnenschein in den Blumen, entsenden überall hin ihre lieblichsten, stärksten Düfte. Die ganze Natur lacht, singt und ladet zur Freude ein. Man fühlt so zu sagen einen süßen Rausch.

Der Frühling ist ein provisorisches Paradies; der herrliche Sonnenschein ermöglicht es dem Menschen, sich zu gedulden.

Es giebt Leute, die nichts mehr verlangen, als die Bläue des Himmels; Denker, die, in der Anbetung der Natur versunken, gleichgültig gegen das Gute und Böse sind; Bewundrer des Kosmos, die in ihrer verzückten Zerstreuung die Menschheit übersehen, nicht begreifen, daß man sich mit den Hungrigen, den Dürstenden, den Nackten, den Blutarmen, den Siechen, den Obdachlosen, den Zuchthäuslern, den Zerlumpten, beschäftigt, wenn man spazieren gehen und träumen könnte; gemüthliche, ruhige, erbarmungslos zufriedne Leute. Merkwürdig, Denen genügt das Unendliche. Das große Bedürfnis des Menschen, das Endliche zu fassen, zu umarmen, empfinden sie nicht. Der Fortschritt zum Bessern existirt für sie nicht. Das Unbegrenzbare, das aus der menschlichen und göttlichen Kombination des Unendlichen und des Endlichen entsteht, entgeht ihnen. Wenn sie nur dem unermeßlichen Raum gegenüber stehen, lächeln sie. Nie Freude, immer Verzückung! Die Geschichte der Menschheit ist für sie nur eine Gemeindeflurkarte: Es fehlt die Hauptsache. Das wahre All ist nicht darin enthalten. Wozu sich um die Nebensache, den Menschen, Kopfschmerzen machen? Es giebt viel Elend auf der Welt. Nun ja! Aber sehen Sie doch den Aldebaran an. Welch ein herrlicher Stern! Die schlecht genährte, arme Frau da hat keine Milch für ihr Kind. Mag sein; aber bewundern Sie doch die herrliche Rosette, die man im Tannensplint mit dem Mikroskop sehen kann! Dagegen sind die feinsten belgischen Spitzen nichts! Diesen Denkern fehlt das liebevolle Gemüth. Es ist dies eine Gattung Menschen, deren Seele zugleich groß und klein veranlagt ist. Zu ihr gehörte Horaz, gehörte Goethe, vielleicht auch Lafontaine, großartige Egoisten des Unendlichen, die Nero nicht sehen, wenn das Wetter schön ist; denen die Sonne den Scheiterhaufen verbirgt; die bei einer Hinrichtung einen Lichteffekt beobachten; deren Ohr keinen Angstschrei, keinen Seufzer, kein Röcheln, keine Sturmglocke wahrnimmt; die sich für zufrieden erklären, solange Purpurne und goldige Wolken über ihnen dahinziehen und die fest entschlossen sind, sich glücklich zu fühlen, bis die Sterne erlöschen und die Vöglein verstummen.

Diese lichten Seelen wandeln aber im Dunkeln. Sie ahnen nicht, daß sie zu beklagen sind. Denn wessen Augen nicht weinen können, der lernt auch nicht sehen. Man muß solche Menschen bewundern und beklagen, wie etwa ein Wesen, das statt der Augen unter den Brauen eine Sonne an der Stirn trüge.

Manche meinen, eine solche Gleichgültigkeit sei eine höhere Philosophie. Gut. Aber die Ueberlegenheit derartiger Menschen über Andre ist mit einer großen Unvollkommenheit verbunden. Man kann unsterblich und lahm sein, wie Vulkan. Man kann zugleich mehr und weniger als ein Mensch sein. Große Unvollständigkeit kommt eben in der Natur oft genug vor. Wer weiß, ob die Sonne nicht blind ist?

Ja, wem soll man denn aber glauben? Solem quis dicere falsum audeat? Also könnte das Genie selber, könnten Uebermenschen irren? Was oben auf dem Gipfel, im Zenith steht, was der Erde so viel Licht spendet, sollte nicht genug, schlecht, überhaupt nicht sehen können? Ist das nicht zum Verzweifeln? O nein! Aber was giebt es denn noch höheres als die Sonne? Gott.

Am 6. Juni 1832 war der menschenleere Jardin du Luxembourg reizend anzusehen. Die Kreuzpflanzungen und Blumenbeete entsandten liebliche Wohlgerüche und schillerten in den prächtigsten Farben. Die Zweige der Bäume, die das Sonnenlicht überflutete, wogten im Winde hin und her, als wollten sie einander haschen und küssen. In den Sykomoren schmetterten und zwitscherten die Vögel ihre süßesten Weisen. An den Stämmen der Kastanienbäume kletterten die Spechte auf und nieder und schlugen ihre Schnäbel in die Rinde. Auf den Beeten prangten in voller Blüthe die Lilien, die Königinnen unter den Blumen, die Tulpen, die im Sonnenlicht wie Flammen in Blumengestalt aussahen und um die flinke Bienen mit glitzernden Flügeln gaukelten. Alles war voller Anmuth und Munterkeit; sogar der nahe bevorstehende Regen, der die Maiblumen und Jelängerjelieber erfrischen sollte, hatte nichts Unangenehmes; es war eine erfreuliche Drohung, wenn die Schwalben niedrig flogen. Alles, was da war, athmete Glück; das Leben hatte einen süßen Duft; die ganze Natur sprach von Hülfe, Liebkosung, Mütterlichkeit. Sanft wie die Hand eines Kindchens waren die Gedanken, die sich vom Himmel niedersenkten.

Um die nackten und weißen Marmorstatuen unter den Bäumen hingen Schattenkleider mit lichten Löchern. Es war, als hätten die armen Göttinnen Lichtlumpen am Leibe. Um das große Bassin war der Erdboden schon bis zur Dürre ausgetrocknet. Es war windig genug, daß der Staub ab und zu hochgewirbelt werden konnte. An der Erde spielten einige gelbe, aus dem letzten Herbst übrig gebliebne Blätter lustig Zeck.

Die Fülle von Licht wirkte gleichsam beruhigend, ermutigend; Angesichts des Reichthums an Leben, Wärme, Säften, Düften und flüssigem Lichtgolde ahnte man die Unerschöpflichkeit der Natur und fühlte sich vom Hauche Gottes umwoben, in dessen Augen Millionen von Sternen nicht mehr bedeuten, als Millionen Blümchen.

Dank dem Sande war es im Garten nicht schmutzig; dank dem Regen nicht zu staubig. Alle Blumen waren rein gewaschen. Es herrschte jene Stille des Glücks, die sich mit Taubengegirr, Insektengesumme, Windesgeräuschen so wohl verträgt. Es war die Zeit, wo der Frühling seine höchste Pracht entfaltet oder wie ein Veteran, der an dem Garten vorbeikam, sich ausdrückte, seine Galauniform angelegt hatte.

Die ganze Natur frühstückte; überall war der Tisch gedeckt, am Himmel mit einem blauen, auf der Erde mit einem grünen Tuch. Jedes Wesen wurde bedient mit dem, was es brauchte; die Ringeltaube mit Hanfsamen, der Fink mit Hirsegras, der Distelfink mit Gauchheil, das Rothkehlchen mit Würmern, die Biene mit Blumen, die Fliege mit Infusorien, der Grünling mit Fliegen. Zwar fraß Dieser wohl Jenen, gemäß dem geheimnißvollen Schöpfungsprinzip, das neben dem Guten das Böse bestehen läßt; aber Hunger litt kein Thier.

Die beiden verstoßenen Kinder waren bei dem großen Bassin angelangt und versuchten vermöge des Instinkts, der den Armen und Schwachen antreibt sich vor aller Pracht, sogar der unpersönlichen, zu ducken, und von all der lichten Herrlichkeit wie betäubt, sich zu verstecken, indem sie sich hinter das Schwanenhäuschen stellten.

Ab und zu, wenn der Wind wehte, hörte man verworrenes Geschrei, Geknatter, dumpfes Gedröhn, Glockengeläute. Auch stieg in der Gegend der Markthalle Rauch zum Himmel empor. Aber um alles dies bekümmerten sich die Kinder nicht. »Mich hungert!« wiederholte der Jüngste von Zeit zu Zeit.

Fast gleichzeitig mit diesen beiden Knaben kamen noch zwei andre menschliche Wesen auf das Bassin zu, ein etwa fünfzigjähriger Mann, der ein sechsjähriges Jüngelchen an der Hand führte. Wahrscheinlich Vater und Sohn. Der Kleine hielt ein großes Stück Kuchen in der Hand.

Zu jener Zeit hatten die Bewohner gewisser Häuser in der Umgegend einen Schlüssel zu dem Garten und durften denselben betreten, wenn er für das andre Publikum geschlossen war, ein Vorrecht, das heutzutage nicht mehr besteht. Aus einem dieser Häuser kam also offenbar der alte Herr mit seinem Sohn.

Als die beiden, kleinen Lumpe den »feinen Mann« kommen sahen, versteckten sie sich noch mehr.

Der »feine Mann« war ein Spießbürger, derselbe oder einer von demselben Schlage wie derjenige, dem Marius eines Tages am großen Bassin zusah und zuhörte, der seinen Sohn ermahnte, er sollte ja jedes Uebermaß meiden. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urtheilen war der Mann würdevoll und leutselig; der Mund schien, da er immer offen stand, zu lächeln. Solch ein Lächeln ist aber nur ein mechanisches und rührt daher, daß der Kinnbacken zu dick und die Haut zu kurz ist; läßt also mehr die Zähne sehen, als auf den Charakter und das Gemüth schließen. Der Knabe schien übersatt, da er nicht Miene machte, den angebissenen Kuchen aufzuessen. Gekleidet waren sie, der Sohn, weil eine Insurrektion ausgebrochen war, als Nationalgardist; der Vater, weil Vorsicht für den bessern Theil der Tapferkeit gilt, in Civil.

Vater und Sohn blieben vor dem Bassin, auf dem zwei Schwäne herumschwammen, stehen. Offenbar hegte er eine besondre Vorliebe für diese Thiere, wahrscheinlich, weil sie ihm in einer Hinsicht ähnelten: Sie hatten denselben Gang wie er.

In diesem Augenblick aber schwammen die Schwäne und waren folglich bewundernswert.

Hätten die beiden armen Waisen zugehört und wären sie von reiferem Alter gewesen, so hätten sie lehrreiche Worte vernommen. Der Vater sagte nämlich:

»Der Weise begnügt sich mit Wenigem. In dieser Hinsicht, mein Sohn, kannst Du mich zum Vorbild nehmen. Ich bin kein Freund des Prunkes. Nie sieht man mich goldbetreßte Kleider und Edelsteine tragen. Das ist eitles Gepränge, das man mangelhaft organisirten Naturen überlassen muß.«

Während er noch so sprach, ließ sich das Geschrei und Glockengeläute in der Gegend der Markthalle noch deutlicher als bisher vernehmen.

»Was ist denn das?« fragte der Sohn.

Der Vater antwortete:

»Entmenschte Saturnalien.«

Zu gleicher Zeit wurde er der armen, kleinen Lumpenmätze ansichtig, die hinter dem grünen Schwanenhäuschen standen, und fuhr fort:

»Da siehst Du Zwei, die auch einmal so enden werden. — Sogar in diesen stillen Garten dringt schon die Anarchie ein.«

Statt aufmerksam auf die Weisheit des Vaters zu lauschen, biß der Sohn in den Kuchen, fing aber gleich darauf an zu weinen.

»Was betrübt Dich, mein Sohn?«

»Ich habe keinen Hunger mehr,« jammerte der Kleine.

»Um einen Kuchen zu essen, bedarf man nicht des Hungers,« belehrte ihn der Vater mit überlegnem Lächeln.

»Ich mag den Kuchen nicht. Er ist mir zu alt.«

»Nun dann wirf ihn diesen Palmipeden hin,« sagte der Vater und wies auf die Schwäne.

Das Kind zögerte. Wenn man seinen Kuchen nicht essen will, so ist das doch noch kein Grund ihn zu verschenken.

»Sei menschlich, mein Sohn,« ermahnte der Vater. »Der Mensch soll sich der Thiere erbarmen.«

Mit diesen Worten nahm er seinem Sohn den Kuchen ab und warf ihn ins Wasser.

Aber da er ihn nahe dem Rande des Bassins fallen ließ und die Schwäne weit ab, in der Mitte, Beute suchten, sahen sie weder den mildthätigen Philister, noch den leckern Bissen, den er ihnen spendete.

Der brave Mann wollte aber nicht, daß der Kuchen verloren ging und bemühte sich mit allerhand unsinnigen Geberden und Bewegungen, die Aufmerksamkeit der Schwäne auf sich zu lenken.

Endlich gelang ihm dies. Die Schwäne machten eine Schwenkung und segelten langsam und majestätisch auf den Kuchen zu.

»Den Schwänen hat geschwant, daß ein guter Bissen zu holen ist,« sagte der Philister, überglücklich, daß ihm ein Kalauer gelungen war.

In demselben Augenblick schallte plötzlich der ferne Tumult der Stadt stärker denn je herüber. Dies Mal klang er besonders grausig. Manche Windstöße sprechen deutlicher, als andre und so hörten sich jetzt die Trommelwirbel, das Kampfgeschrei, das Gewehrgeknatter, das Sturmgeläute und der Kanonendonner wie aus nächster Nähe an. Dazu kam, daß gleichzeitig auch eine Wolke die Sonne verdunkelte.

»Wir müssen nach Hause,« sagte eilig der Vater und faßte seinen Sohn wieder bei der Hand. »Sie stürmen die Tuilerieen. — Und von den Tuilerieen bis zum Jardin du Luxembourg ist es nicht weiter, als vom Königthum bis zur Pairie. Es wird Flintenkugeln regnen, — Und,« fuhr er fort, indem er zur Wolke aufsah, »auch Wasser. Der Himmel selber erklärt sich gegen die jüngere Linie. Komm schnell!«

»Ich möchte aber sehen, wie die Schwäne den Kuchen essen!« rebellirte der Kleine.

»Das wäre eine große Unklugheit,« belehrte ihn der Vater und zog ihn fort.

Der Kleine ging mit rückwärts gewandtem Kopfe, bis ihm eine Gruppe Bäume den Blick nach dem Bassin versperrte.

Während aber die Schwäne auf den Kuchen zu schwammen, kamen auch die beiden kleinen Vagabunden heran.

Als der Spießbürger und sein Sohn aus dem Gesichtskreis verschwunden waren, legte sich der Aelteste über die runde Einfassung des Bassins, indem er sich mit der linken Hand daran fest klammerte, und angelte, trotz der Gefahr, ins Wasser zu fallen, eifrig mit seinem Stöckchen nach dem Kuchen. Die Schwäne, ihrerseits, setzten sich, als sie das feindliche Manöver sahen, in rascheres Tempo, bewirkten dadurch aber eine stärkere Wellenbewegung, die dem kleinen Hungerleider zu Statten kam. Der Kuchen wurde durch das Wasser in’s Bereich des Stöckchens getrieben. Rasch holte ihn der Knabe heran, scheuchte die Schwäne zurück, ergriff den Kuchen und stellte sich wieder auf die Füße. Dann brach er die Beute in zwei Theile, einen großen und einen kleinen. Den kleinen behielt er für sich, den andern gab er seinem Brüderchen mit den Worten:

»So, nun prumpfe Dich voll!«

Mortuus pater filium moriturum expectat

Als Gavroche fiel, stürzte Marius hinter der Barrikade hervor. Combeferre eilte ihm nach. Aber es war zu spät. Gavroche war schon tot. Marius brachte nur eine Leiche zurück, während es Combeferre gelang, den Korb mit den Patronen zu retten.

»Was sein Vater für den meinigen gethan hat, das habe ich jetzt dem Sohn vergolten, aber ach! Thénardier hat meinen Vater lebend aus der Schlacht geholt, und ich habe nur eine Leiche zurückgebracht.«

Als er mit Gavroche in den Armen hinter die Barrikade zurückkehrte, war sein Gesicht mit Blut übergossen. Eine Kugel hatte ihn an der Stirn gestreift, als er sich niederbückte um die Leiche aufzuheben, aber er merkte nichts davon.

Courfeyrac nahm seine Kravatte ab und verband die Wunde seines Freundes.

Gavroche’s Leiche wurde auf denselben Tisch neben Mabeuf gelegt und mit demselben schwarzen Tuch zugedeckt. Es reichte für den Greis und den Jungen.

Dann vertheilte Combeferre die erbeuteten Patronen. Es waren ihrer so viel, daß jetzt auf Jeden fünfzehn kamen.

Jean Valjean saß währenddem noch immer an derselben Stelle unbeweglich und theilnahmlos. Auch als Combeferre zu ihm trat, um ihm seine fünfzehn Patronen zu übergeben, schüttelte er den Kopf.

»Das nenne ich einen kuriosen Kauz!« sagte Combeferre leise zu Enjolras »Er kriegt es fertig, eine Barrikade zu besteigen und nicht mitzukämpfen.«

»Das hindert ihn aber doch nicht, sie zu vertheidigen,« entgegnete Enjolras.

»Es giebt originelle Helden,« sagte Combeferre.

»Ja, ja,« fiel Courfeyrac ihm ins Wort. »Dieselbe Couleur in Grün, wie Vater Mabeuf.«

Man beachte, daß die Insurgenten hinter der Barrikade durch das feindliche Geschütz- und Gewehrfeuer so gut wie gar nicht gestört wurden. Dergleichen Ruhepausen werden Diejenigen, die den eigenthümlichen Wirrwarr des Straßenkrieges nicht persönlich kennen gelernt haben, für unmöglich halten. Es kommt aber vor, daß man sich hinter einer Barrikade wie im tiefsten Frieden geberdet. Man geht auf und ab, bummelt, plaudert und scherzt mit seinem Nachbar. Zu einem Bekannten von mir sagte ein Insurgent, während die Kartätschen in seine Barrikade hineinschlugen: »Hier geht es so gemüthlich zu, wie bei einem Junggesellendiner.« Ebenso ruhig und friedlich sah es auch, wie gesagt, hinter der Verschanzung der Rue de la Chanvrerie aus. Hatten doch ihre Vertheidiger alle die verschiednen Phrasen des Barrikadenkampfes schon hinter sich oder waren nahe daran, die letzten zu durchlaufen. Erst zweifelhaft, dann bedenklich, war ihre Lage jetzt hoffnungslos geworden. In demselben Maße aber, wie die Gefahr wuchs, loderte das Feuer des Heldenmuthes höher empor und durchglühte besonders Enjolras. Er stand da, wie ein junger Spartaner, der sein Schwert dem Todesgenius Epidotas weiht.

Combeferre mit einer Schürze um den Leib, verband die Verwundeten. Laigle und Feuilly verfertigten Patronen mit dem Pulver, das Gavroche bei einem gefallnen Korporal erbeutet hatte, und Laigle bemerkte während dieser Arbeit: »Wir werden bald die Reise nach einem andern Planeten antreten.« Courfeyrac legte sich auf den Pflastersteinen, die er sich neben Enjolras’s Platz vorbehalten hatte, ein ganzes Arsenal zurecht, seinen Stoßdegen, sein Gewehr, seine beiden Reiterpistolen, seinen Schlagring und verfuhr dabei so peinlich sorgsam, wie ein junges Mädchen, das ihre Sachen in Ordnung bringt. Jean Valjean sah stumm nach dem Hause, das ihm gegenüberstand. Ein Arbeiter band sich mit einem Bindfaden einen Hut von Mutter Hucheloup fest, »aus Furcht vor dem Sonnenstich.« Die jungen Leute der Cougourde von Aix plauderten vergnügt mit einander, als hätten sie große Eile, noch einmal den Dialekt ihres Heimatlandes zu hören. Joly prüfte in einem Spiegel seinen Zungenbelag. Einige Andre aßen gierig halb verschimmelte Brodkrusten, die sie in einer Schublade entdeckt hatten. Marius machte sich Sorge darüber, was sein Vater von ihm denken würde.

Der Verfolgte fängt den Verfolger

Verweilen wir etwas bei einer psychologischen Thatsache, die dem Barrikadenkampfe eigenthümlich ist. Denn nichts, was diese merkwürdige Art Krieg charakterisiert, darf mit Stillschweigen übergangen werden.

Trotz all der sonderbaren Seelenruhe, von der wir oben gesprochen haben, bleibt eine Barrikade für Alle, die sich bei einer Insurrektion betheiligt haben, etwas Visionenhaftes.

Die Empfindungen, die man dabei durchmacht und die wir schon mit Bezug auf Marius erwähnt haben, sind schwächer und stärker als die des normalen Lebens. Kehrt man aus solch einem Kampfe zurück, so erinnert man sich nicht mehr, was man gesehen hat. Man hat gerast und weiß es nicht mehr. Um sich hatte man Ideen mit Menschengesichtern und der eigene Kopf hat in höheren Regionen geschwebt. Es lagen Leichen und standen Phantome da. Die Stunden waren inhaltsreich und glichen Ewigkeiten. Man hat im Reich des Todes gelebt. Schatten sind vorbeigehuscht, aber was bedeuten sie? Hände, an denen Blut klebte, sah man; hörte furchtbaren, betäubenden Lärm; hierauf Totenstille. Dann waren auch Gestalten da, die hielten den Mund auf und schrieen, und andre hielten auch den Mund auf und schwiegen. Dazu Rauch, ja vielleicht sogar Finsterniß. Man glaubt, man hätte in unbekannten Tiefen Blut aufgefangen und betrachtet seine Fingernägel, an denen etwas Rothes sitzt. Aber keine Möglichkeit, sich auf alles das zu besinnen.

Kehren wir zu der Barrikade der Rue de la Chanvrerie zurück.

Plötzlich, während einer Pause, wo die Gewehre niedergelassen wurden, hörte man eine Thurmuhr voll schlagen.

»Zwölf Uhr!« rief Combeferre.

Noch war der letzte Schlag nicht verhallt, da fuhr Enjolras in die Höhe und rief mit Donnerstimme:

»Tragt Pflastersteine ins Haus und befestigt damit die Fensterbrüstungen. Die eine Hälfte von Euch bleibt hier, die Andern stellen sich hinter den Fenstern auf. Keine Minute Zeit verlieren!«

Es war nämlich ein Zug Sapeure mit ihren Aexten bewaffnet und in Schlachtordnung bis an das Ende der Straße herangekommen.

Sie bildeten offenbar eine Kolonnenspitze und hatten den Auftrag, die Barrikade zu demoliren, ehe Sturm gelaufen wurde. Es nahte also der Entscheidungskampf.

Enjolras’s Befehl wurde so eilig und regelrecht ausgeführt, wie dies nur auf Schiffen und Barrikaden möglich ist, den beiden einzigen Kampfplätzen, von denen Flucht unmöglich ist. In noch nicht einer Minute waren zwei Drittel von den Pflastersteinen, die Enjolras an der Thür des Wirtshauses hatte aufhäufen lassen, in den ersten Stock und auf den Boden getragen und ehe die zweite Minute verstrichen, waren die Fenster und die Dachluken mit je einer kunstvoll gebauten Mauer versehen, wobei auf den Rath Feuilly’s, des Hauptarchitekten, Lücken für die Gewehrläufe gelassen wurden. Diese Vermauerung der Fenster konnte um so leichter bewerkstelligt werden, als das Kartätschenfeuer seit einer Weile eingestellt war. Die beiden Geschütze beschossen jetzt nur die Barrikade in der Mitte mit Vollkugeln, um eine Lücke oder wo möglich eine Bresche zu schießen.

Als die Pflastersteine, die für den letzten Kampf bestimmt waren, ihre Verwendung gefunden hatten, ließ Enjolras die Flaschen, die unter Mabeufs Tisch standen, gleichfalls hinaufbringen.

»Was soll denn mit den Flaschen geschehen?« fragte ihn Laigle.

»Damit regaliren wir die Feinde!« lautete Enjolras’s Bescheid.

Dann wurde auch das unterste Fenster verbarrikadirt und die eisernen Querstangen bereit gestellt, mit denen des Nachts die Thür der Schänke inwendig verrammelt wurde.

Auf diese Weise schufen sich die Angegriffenen eine vollständige Festung. Die Barrikade stellte den Wall, das Wirtshaus die Citadelle vor.

Mit den übrig gebliebenen Pflastersteinen wurde dann noch die in der großen Barrikade gelassene Lücke versperrt.

Da die Vertheidiger einer Barrikade genöthigt sind, mit der Munition sparsam umzugehen, so schreiten die Belagerer nur mit Langsamkeit vor, setzen sich dem feindlichen Feuer vor der Zeit aus, aber mehr scheinbar als wirklich, und ziehen alles in die Länge, bis dann plötzlich der entscheidende Schlag mit Blitzesschnelle geführt wird.

Diese Langsamkeit der Angreifer erlaubte Enjolras alles zu revidiren und zu vervollkommnen. Der Tod solcher Helden, fühlte er, mußte mit Meisterschaft inscenirt werden.

Dann sagte er zu Marius:

»Wir sind die beiden Oberbefehlshaber. Ich will jetzt drinnen die letzten Anordnungen treffen. Bleibe Du draußen und passe auf!«

Demzufolge stellte sich Marius auf die Barrikade und beobachtete die Vorbereitungen des Feindes.

Im Hause ließ unterdessen Enjolras die Küchenthür vernageln.

»Damit die Verwundeten nichts abbekommen!« erläuterte er. Denn die Küche diente, wie schon erwähnt, den Insurgenten als Ambulanz.

Darauf ertheilte er in dem untern Saale kurz, aber vollkommen ruhig, seine letzten Instruktionen an Feuilly, der sie im Namen Aller entgegennahm.

»Haltet im ersten Stock Aexte bereit, um die Treppe zu demoliren. Sind welche da?«

»Jawohl,« antwortete Feuilly.

»Wieviel?«

»Drei.«

»Gut. Wir sind unser sechsundzwanzig kampffähige Leute. Wieviel Gewehre sind vorhanden?«

»Vierunddreißig.«

»Also acht überschüssige. Ladet diese acht Gewehre wie die andern und haltet sie in Bereitschaft. Die Säbel und Pistolen in die Gürtel. Zwanzig Mann zur Bemannung der Barrikade. Sechs postiren sich hinter das Fenster der ersten Stocks und die Dachluken. Kein einziger darf hier bleiben ohne bestimmten Auftrag. Sobald die Trommel zum Angriff geschlagen wird, begeben sich die Zwanzig hinter die Barrikade. Die zuerst unten sind, bekommen die besten Plätze.«

Nachdem er diese Anordnungen getroffen, wandte er sich an Javert mit den Worten:

»Ich vergesse Dich nicht. — Der Letzte, der hinausgeht,« fuhr er fort, indem er ein Pistol auf den Tisch legte, »jagt dem Spion eine Kugel durch den Kopf.«

»Hier?« fragte Jemand.

»Nein, seine Leiche darf nicht neben unsere zu liegen kommen. Man kann über die kleine Barrikade der Rue de Mondétour hinübersteigen. Sie ist nur vier Fuß hoch. Da soll er hingebracht werden und seine Strafe bekommen.«

Er sprach diese Worte nicht mit größerem Gleichmuth als Javert sie anhörte.

Jetzt aber trat Jean Valjean aus den Reihen hervor und sagte zu Enjolras:

»Sie sind der Befehlshaber?«

»Ja.«

»Sie haben Sich vorhin bei mir bedankt.«

»Ja, im Namen der Republik. Die Barrikade ist zweimal gerettet worden, von Marius Pontmercy und von Ihnen.«

»Denken Sie, daß ich eine Belohnung verdiene?«

»Gewiß.«

»Nun, so bitte ich um eine.«

»Was für eine?«

»Ich möchte den da selber erschießen.«

Hier sah Javert auf, erkannte Jean Valjean and sagte mit einer kaum bemerkbaren Bewegung:

»Nun natürlich.«

Was Enjolras betrifft, so lud er eben seinen Karabiner, Dann sah er sich im Kreise um und fragte:

»Hat Jemand etwas einzuwenden? — Der Spitzel gehört Ihnen.«

Jean Valjean schickte sich sofort an, Javert in Besitz zu nehmen, indem er sich auf das Ende des Tisches setzte, sein Pistol zur Hand nahm und den Hahn spannte.

In demselben Augenblick aber wurden die Trompeten zum Angriff geblasen und Marius rief unten:

»Achtung! Auf!«

Javert lachte lautlos, wie es seine Art war und sagte zu den Insurgenten, indem er sie fest ansah:

»Ihr seid auch nicht besser dran als ich!«

»Alle hinaus!« kommandirte Enjolras.

Die Insurgenten stürzten hastig auf die Straße, während ihnen Javert noch einen Abschiedsgruß zusandte: »Auf baldiges Wiedersehn!«

Jean Valjean’s Rache

Als Jean Valjean mit Javert allein geblieben war, machte er den Strick los, der den Gefangnen in der Mitte des Leibes umgab und der unter dem Tische zu einem Knoten zusammengeschürzt war. Dann gab er ihm ein Zeichen, er solle aufstehen.

Javert gehorchte mit jenem unbeschreiblichen Lächeln, mit dem die gefesselte Obrigkeit dem Gefühl ihrer Überlegenheit Ausdruck verleiht.

Nun packte Jean Valjean, während er in der rechten Hand die Pistole hielt, mit der andern Javert an dem Halsstrick, wie wenn er ein Pferd wegführen wollte, und zog ihn hinter sich aus der Schänke heraus; langsam, denn Javert, dessen Beine an einander gebunden waren, konnte nur ganz kurze Schritte machen.

So durchschritten sie den Raum, der zwischen den Schanzen lag, ohne von den Insurgenten, die mit der Beobachtung des Feindes vollauf beschäftigt waren und ihnen den Rücken zuwandten, bemerkt zu werden.

Nur Marius, der ganz links auf der Barrikade stand, sah sie vorübergehn.

In der Rue Mondétour angelangt, half Jean Valjean Javert, ohne ihn einen Augenblick los zu lassen und mit einiger Mühe über die kleine Schanze hinüber.

Als sie auf der andern Seite waren, befanden sie sich allein in der Strasse und Niemand konnte sie sehen, da die Straßenecke sie vor den Augen der Insurgenten verbarg. Hier lagen auf einem grausigen Haufen die Leichen, die man aus der Verschanzung hinausgetragen und unter ihnen sah man ein Mädchen, deren Busen unbedeckt und deren Hand von einer Kugel durchbohrt war.

Javert betrachtete sie von der Seite und sagte gleichmüthig:

»Mich dünkt, die kenne ich!«

Dann wandte er sich zu Jean Valjean hin.

Dieser steckte sein Pistol unter den Arm und heftete seine Augen auf Javert. Der Blick sagte deutlich genug: »Javert, ich bin’s.« »Lasse Deine Wuth an mir aus!« antwortete Javert.

Jean Valjean nahm ein Messer aus der Tasche und klappte es auseinander.

»So ist’s recht!« rief Javert. »Ein Messer. Das sieht Dir ähnlich.«

Statt der Antwort schnitt Jean Valjean den Halsstrick, die Stricke, mit denen Javerts Handgelenke gefesselt waren, bückte sich, schnitt auch den Bindfaden durch, der die Beine zusammenhielt, richtete sich auf und sagte:

»Sie können gehen!«

Javert war nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Dieses Mal aber übermannte ihn die Verwundrung. Er blieb mit offnem Munde unbeweglich stehen.

»Ich werde schwerlich die Barrikade lebend verlassen. Sollte ich aber dennoch mit dem Leben davon kommen, so können Sie Sich merken, daß ich unter dem Namen Fauchelevent Rue de l’ Homme-Armé, Nr. 7 wohne.«

Javert verzog mit Tigergrimm das Gesicht, so daß der eine Mundwinkel sich aufthat, und brummte zwischen die Zähne:

»Nimm Dich in Acht.«

»Gehen Sie,« wiederholte Jean Valjean.

»Fauchelevent, Rue de l’ Homme-Armé? sagst Du.«

»Nr. 7.«

»Nr. 7,« wiederholte leise Javert.

Er knöpfte seinen Rock zu, zog die Schultern zurück, um die gewohnte militärische Haltung wieder zu gewinnen, machte kehrt, verschränkte die Arme, indem er das Kinn mit der einen Hand stützte und marschirte in der Richtung der Hallen ab, während Jean Valjean ihm nachsah. Kaum hatte er aber einige Schritte zurückgelegt, so wandte er sich um und rief:

»Lassen Sie die Dummheiten. Der Tod ist mir lieber.«

Er merkte selber nicht, daß er zu Jean Valjean nicht mehr Du sagte.

»Gehen Sie,« sagte Jean Valjean.

Javert ging langsam davon und bog um die Ecke der Rue des Prêcheurs.

Als er aus seinen Augen verschwunden war, feuerte Jean Valjean sein Pistol in die Luft ab, kehrte nach der Barrikade zurück und sagte

»Die Sache ist abgemacht.«

Währenddem trug sich aber Folgendes zu:

Marius hatte sich, da er sich immer auf der Straße aufhielt, den Spion, der sich im dunkeln Hintergrund der Gaststube befand, nicht angesehn.

Als er ihn aber bei Tageslicht erblickte, erkannte er plötzlich in ihm den Polizeiinspektor der Rue de Pontoise, der ihm seiner Zeit die beiden Pistolen gegeben. Und zwar besann er sich nicht bloß auf das Gesicht, sondern auch auf den Namen.

Allerdings war die Erinnrung eine nebelhafte, trübe, so wie überhaupt alle seine gegenwärtigen Vorstellungen. Sie tauchte in seinem Geist nicht als Behauptung, sondern in Frageform auf: »Ist das nicht der Polizeiinspektor, der mir gesagt hat, er hieße Javert?«

Um seinen Zweifeln ein Ende zu machen, wandte sich Enjolras, als dieser wieder seinen Posten am andern Ende der Barrikade einnahm:

»Enjolras!«

»Was giebt’s«

»Wie heißt der Mann da?«

»Wer?«

»Der Polizist. Kennst Du seinen Namen?«

»Ja. Er hat ihn uns gesagt.«

»Nun, wie heißt er?«

»Javert.«

Marius fuhr empor. Aber schon im selben Augenblick hörte man den Pistolenschuß und Jean Valjean erschien. Da fiel ein kalter Schatten in Marius Seele.

Die Toten haben Recht und die Lebenden nicht Unrecht

Der Todeskampf der kleinen Heldenschaar sollte also beginnen.

Alles trug dazu bei die tragische Majestät ihres letzten Augenblicks zu erhöhen: Das unheimliche Getöse in der Luft; der Massenschritt der bewaffneten Schaaren in Straßen, die man nicht sah; das Getrabe der Kavallerie; Gewehr- und Kanonenfeuer im Labyrinth von Paris; der Pulverdampf, der, von der Sonne goldig durchleuchtet, sich über die Dächer erhob; wildes Geschrei, das aus der Ferne herüberschallte, das Geläut der Sturmglocke, die immer wilder heulte und kläglicher wimmerte, die Lieblichkeit der Jahreszeit, die Pracht des Himmels mit seinem Sonnenlicht und seinen Wolken und die grausige Totenstille in den Gebäuden.

Denn seit dem vergangnen Abend waren die beiden Häuserreihen der Rue de la Chanvrerie zu zwei Mauern geworden, die keinen Durchgang gestatteten, die Thüren, die Fenster, die Jalousien — alles war geschlossen.

Wenn in jenen von unsrer Gegenwart so verschiednen Zeiten, das Volk einem unerträglichen Zustand der Dinge, einer oktroyirten Verfassung, einer legalen Zwangsherrschaft ein Ende bereiten wollte, wenn ein allgemeiner Zorn sich regte, wenn die ganze Stadt den Barrikadenbauern erlaubte das Pflaster aufzureißen, wenn die Bourgeoisie selber der Insurrektion vergnügt das Losungswort zuflüsterte, dann halfen Diejenigen, die in den Häusern blieben, den Straßenkämpfern und die Barrikaden hatten einen Rückhalt. War es aber noch nicht so weit, willigte die Gesamtheit nicht ein, so waren die Kämpfer verloren, so entstand um sie eine Einöde, eine menschenleere Wüstenei, so verschlossen sich vor ihnen alle Zufluchtsstätten und die Straßen verwandelten sich in Engpässe, aus denen kein Entrinnen möglich war.

Wer trägt die Schuld hieran?

Niemand und Jedermann.

Die Unvollkommenheit der Zeit, in der wir leben.

Utopie kann immer nur auf eigne Gefahr sich aus dem philosophischen Protest in einen bewaffneten, aus einer Minerva in eine Pallas verwandeln. Sie weiß auch, was ihrer wartet, daß sie fast immer zu früh kommt. Dann fügt sie sich mit Würde in ihren Untergang, kämpft allein, ohne zu klagen, für Diejenigen, die sie verleugnen und entschuldigt sie sogar. Sie ist kühn gegen die Hindernisse und milde gegen den Undank.

Handelt es sich überhaupt um Undank?

Ja, vom Standpunkt der Menschheit aus.

Nein, wenn man nur das Individuum in Betracht zieht.

Der Fortschritt ist das Wesen des Menschen. Das allgemeine Gesamtleben, der Kollektivschritt des Menschengeschlechts heißt Fortschritt. Der Fortschritt sucht das Himmlische und Göttliche; aber während er vorwärts wandelt, macht er bisweilen Halt, um die zurückgebliebne Herde wieder herankommen zu lassen, um zu schlafen, und der Denker empfindet ein tiefes Weh, wenn er die Menschenseele umnachtet sieht und im Dunkeln herumtastet, ohne den Fortschritt wecken zu können.

»Wer weiß, ob der liebe Gott nicht gestorben ist?« sagte eines Tages zu dem Schreiber dieser Zeilen Gérard de Nerval, der den Fortschritt mit Gott und eine Unterbrechung mit einem Stillstand verwechselte.

Wer an der Welt verzweifelt, hat Unrecht. Der Fortschritt erwacht wieder und im Grunde könnte man sagen, daß er auch im Schlaf vorwärts kommt, denn er wächst während der Zeit. Ist er wieder aufgestanden, so ragt er höher empor. Sich immer friedfertig verhalten vermag der Fortschritt ebenso wenig, wie ein Fluß; baut kein Wehr, werft keinen Felsen hinein: Hindernisse bringen das Wasser und die Menschheit in Wallung. Haben die unruhigen Wellen sich gelegt, so sieht man, daß man ein Stück weiter gekommen ist. Bis die Ordnung, die weiter nichts, als der allgemeine Friede ist, bis Harmonie und Eintracht zum Siege gelangen, wird der Fortschritt der Revolutionen bedürfen.

Was ist nun der Fortschritt? Wie wir schon gesagt haben: Das Leben der Völker in seiner Gesamtdauer.

Nun geschieht es aber zuweilen, daß dem ewigen Leben der Menschheit seitens des kurzen Einzellebens Widerstand entgegengesetzt wird.

Wir müssen ohne Bitterkeit gestehen, daß der Einzelne besondre Interessen hat und ohne Pflichtvergessenheit für diese Interessen sorgen und sie vertheidigen darf. Denn der Gegenwart muß ein gewisses Quantum Egoismus zugestanden werden und sie ist nicht verpflichtet sich beständig für die Zukunft zu opfern. Die Generation, die jetzt das Recht hat auf Erden zu weilen, ist nicht gezwungen es sich verkürzen zu lassen zu Gunsten der Geschlechter, die nach ihr kommen, und die doch auch nicht mehr als ihres gleichen sind. — »Ich lebe,« meint Jemand, der so denkt und spricht wie Alle, »ich bin jung und habe eine Braut; ich bin alt und will mich ausruhen von der Arbeit, ich bin Familienvater, ich arbeite, mache gute Geschäfte, habe Häuser und Staatspapiere, alles das möchte ich behalten und wünsche, daß man mich zufrieden läßt.« Daher die Kälte, mit der bisweilen hochherzige Vorkämpfer des Fortschritts empfangen werden.

Uebrigens tritt aber auch, wir gestehen es, die Utopie aus ihrer eigentlichen lichten Sphäre heraus, wenn sie zu den Waffen greift. Denn sie, die zukünftige Wahrheit, bedient sich alsdann desselben Mittels wie die verlogene Vergangenheit, gegen die sie sich auflehnt. Für diese Gewaltthätigkeit aber, die gegen ihre Prinzipien verstößt, muß sie büßen. Die Utopie, die gegen die bestehenden Gewalten Krieg führt, verfährt nach dem alten Kriegsrecht: Sie erschießt die Spione, die Verräther, sie vernichtet Menschenleben; kurz, sie thut, als habe sie kein Vertrauen mehr zu ihrer dialen Kraft, der einzig wahren und unwiderstehlichen. Das Schwert aber ist zweischneidig!

Mit diesem Vorbehalt, den wir strenge betonen, können wir nicht umhin, den trefflichen Vorkämpfern der Zukunft, ob sie Erfolg haben oder nicht, den Jüngern der Utopie, den Zoll unsrer Bewundrung darzubringen. Selbst im Unglück sind sie achtungswert. Der Sieg, wenn er den Fortschritt fördert, verdient den Beifall der Völker; aber eine heroische Niederlage ist gerührten Mitleids wert. Für uns, die wir das Martyrium dem Erfolg vorziehen, ist John Brown bewundernswerter als Washington und Pisacane als Garibaldi.

Es muß wohl Jemand für die Besiegten eintreten.

Man ist ungerecht gegen die großen Anbahner der Zukunft, wenn sie Mißerfolge haben.

Man klagt die Revolutionäre an, sie schreckten Andre ab. Man tadelt ihre Theorien, schiebt ihnen Hintergedanken unter und meint, sie hetzten die verworfensten Elemente der menschlichen Gesellschaft gegen die bestehende Ordnung auf.

Allerdings ist eine friedliche Lösung der socialen Frage vorzuziehn. Im Grunde genommen denkt man freilich, wenn Steine zum Barrikadenbau zusammengehäuft werden, an den Bären, der seinen Wohlthäter von einer Fliege befreien wollte und ihm mit dem Stein den Kopf zermalmte. Aber die Gesellschaft kann, wenn sie nur will, sich selber retten und deshalb appelliren wir an ihren guten Willen. Gewaltsamer Mittel bedarf es nicht. Das Uebel untersuchen, seine Natur ergründen, es heilen, das soll sie thun.

Wie dem aber auch sei, sie sind ehrenwert, jene Männer, die in allen Ländern der Erde, die Augen auf Frankreich geheftet, für die große Sache mit der unbeugsamen Konsequenz des Ideals streiten; sie bringen ihr Leben dem Fortschritt als Geschenk dar; sie vollziehen eine religiöse Handlung. Uneigennützig wie ein Schauspieler, der auf sein Stichwort die Bühne betritt, steigen sie, der göttlichen Anweisung gehorchend, ins Grab. Und diesen hoffnungslosen Kampf, diesen stoischen Selbstmord nehmen sie auf sich, um die herrliche Erhebung des Menschengeschlechts, die am l4. Juli 1789 begann, zu ihren herrlichsten, allgemeinsten Endkonsequenzen zu führen. Solche Krieger sind Priester, denn die französische Revolution ist eine Willensäußerung Gottes.

Aber jedes Mal, wenn die Utopie es wünscht, sich in einen Bürgerkrieg zu stürzen, ist nicht die Sache der Völker. Die Nationen haben nicht immer und jeder Zeit das Temperament der Helden und Märtyrer.

Da sie nämlich praktisch sind, so widerstrebt ihnen die Insurrektion a priori. Erstens, weil sie oft eine Katastrophe zur Folge hat; zweitens, weil sie stets von einer abstrakten Idee ausgeht.

Denn — und dies ist eine schöne Seite der menschlichen Natur — wer sich aufopfert, thut es für ein Ideal und nur für ein Ideal. Jeder Insurrektion liegt immer Enthusiasmus zu Grunde. Zielt ein Aufstand aber auf den Sturz eines Herrschers oder eines Regierungssystems ab, so verfolgt er dabei noch ein höheres Ziel. So bekämpften z. B. die Häupter der Juniinsurrektion 1832 und besonders die jungen Schwärmer der Rue de la Chanvrerie nicht gerade Louis Philippe. Die Meisten von ihnen ließen, wenn sie sich über ihre wahren Absichten aussprachen, den guten Eigenschaften dieses, zwischen der Monarchie und der Revolution stehenden Königs volle Gerechtigkeit widerfahren; Keiner haßte ihn. Sie wollten in Louis Philippe nur die jüngre Linie der Bourbons treffen, so wie sie seiner Zeit in der Person Karls X. die ältere verjagt hatten und meinten, wenn Paris keinen König dulde, würde der Despotismus überall in der Welt abgeschafft werden. Sie verfolgten also ein Ziel, dessen Verwirklichung noch in weiter Ferne liegt; das aber ein hehres und schönes ist.

So verhält es sich. Und für solche Illusionen gehen Menschen in den Tod. Der Insurgent betrachtet sein Unternehmen in einem poetischen, rosigen Lichte, berauscht sich mit seinen eignen Hoffnungen. Wer weiß? Vielleicht gelingt’s. Man ist in der Minderzahl, hat die ganze Armee gegen sich; aber man streitet ja für das Recht, das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen, das unveräußerlich ist, für die Wahrheit, — und muß es sein, nun, so stirbt man wie die dreihundert Spartiaten in den Thermopylen.

Die Heroen

Plötzlich schlug die Trommel zum Angriff.

Dieses Mal kam er mit der Gewalt eines Orkans. Am Abend zuvor hatte sich der Feind heimlich wie eine Schlange herangeschlichen. Heute, am helllichten Tage, war jede Ueberrumplung unmöglich und nur ein wilder Ansturm konnte den Erfolg erzwingen.

Eine gewaltige Kolonne Linieninfanterie, der in gleichen Abständen Bürgerwehr und Municipalgardisten beigegeben waren, drang plötzlich im Sturmschritt, die Sapeure voran, unter Trommelgewirbel und Trompetengeschmetter in die Straße ein und stürzte, ohne der feindlichen Kugeln zu achten, auf die Barrikade mit der Gewalt eines ehernen Sturmbocks los.

Sie hielt den Angriff aus.

Die Insurgenten empfingen die Soldaten mit einem energischen Gewehrfeuer. Eine Feuergarbe schoß über die Barrikade hin. Der Andrang war ein so starker, daß sie einen Augenblick von Feinden überschwemmt wurde; aber sie schüttelte die Soldaten ab, wie der Löwe die Hunde und wurde von den Angreifern nur wie der Meeresfelsen vom Schaum in Besitz genommen, der sofort wieder erhaben, schwarz und gewaltig da steht.

Zum Rückzug gezwungen, blieb die Kolonne dicht gedrängt in der Straße, ohne Deckung, aber unerschrocken, und eröffnete gegen die Barrikade ein wüthendes Gewehrfeuer. Wer ein Feuerwerk gesehen hat, wird sich auf jene Art Strahlenbündel besinnen können, das man einen Büschel nennt. Solch einen Bündel denke man sich nicht vertikal, sondern wagerecht und am Ende jedes Feuerstrahls eine Kugel oder ein Rehposten, die den Tod überall hinsenden. Dies war das Bild, das sich dem Beschauer von der Barrikade aus darbot.

Auf beiden Seiten dieselbe Entschlossenheit, Die Tapferkeit zeigte hier fast einen barbarischen Charakter, verband sich mit einer Art heroischen Ingrimms, der seiner selbst am allerwenigsten schont. Zu jener Zeit schlug sich noch die Bürgerwehr so wild, wie Zuaven. Die Soldaten wollten durchaus mit der Sache zu Ende kommen und die Insurgenten setzten ihre äußerste Kraft ein. Bei Menschen, die in der Blüte der Jugend, im Vollbesitz der Gesundheit sich dem Tode weihen, wird die Unerschrockenheit zur Raserei. Einem jeden wuchsen die Kräfte und die Energie in dieser, seiner Todesstunde und bald war die Straße mit Leichen bedeckt.

Die Vertheidigung der Barrikade wurde in dem einen Ende von Enjolras, an dem andern von Marius geleitet. Enjolras, der die Seele des Ganzen war, sparte sich für den letzten Kampf auf und deckte sich, so gut er konnte. Drei Soldaten fielen nach einander unter seiner Zinne, ohne ihn auch nur zu Gesicht bekommen zu haben. Marius dagegen schonte sich nicht und setzte sich rücksichtslos den feindlichen Kugeln aus, indem er den Rand der Barrikade mit dem ganzen Oberkörper überragte. Denn wie es keinen ärgern Verschwender giebt, als einen Geizhals, der einmal ausnahmsweise über die Stränge schlägt, so ist Keiner tollkühner in der Schlacht als ein Träumer. Marius schlug sich wie ein Löwe und spann dabei an seinen gewohnten Gedanken weiter. Für ihn war die Schlacht wie ein Traum und man konnte, wenn man ihn sah, an ein Phantom denken.

Den Belagerten gingen wohl die Patronen aus, nicht aber die Witze. Trotzdem der Tod sie auf allen Seiten umwirbelte, spaßten sie.

»Wo hast Du denn Deinen Hut gelassen?« sagte Laigle zu Courfeyrac, der mit bloßem Kopfe ging.

»Den haben mir die Kanonenkugeln weggetragen,« prahlte dieser.

Oder sie beklagten sich bitter über die erbärmlichen Menschen, von denen sie so schändlich im Stich gelassen wurden.

»Was müssen das wohl für Menschen sein,« rief Feuilly ärgerlich — und nannte bekannte, ja sogar berühmte Namen höherer Militärs. »Versprechen sich uns anzuschließen, schwören sich unserer Sache anzunehmen, verpflichten sich mit ihrem Ehrenwort, sind unsere Generäle und überlassen uns hier unserm Schicksal.«

»Ja, ja!« erwiderte Combeferre mit ruhigem Lächeln, »manche beobachten die Gesetze der Ehre wie die Astronomen die Gestirne — nur aus der Ferne.«

Der Raum hinter der Barrikade war dermaßen mit zerrissenen Patronen übersät, daß es aussah, als hätte es geschneit.

Die Angreifer hatten den Vortheil der Uebermacht, die Insurgenten den der günstigeren Position. Sie standen oben auf einer Mauer und schossen aus nächster Nähe auf die Soldaten, die zwischen den Toten und Verwundeten herumstolperten und bei der Ersteigung der Barrikade auf allerlei Hindernisse stießen. Diese nach den Regeln der Kunst aufgeworfene und mit vorzüglichen Stützen befestigte Verschanzung gehörte in der That zu jenen Vertheidigungsmitteln, die es einer Handvoll Tapferer ermöglichen, eine Legion in Schach zu halten. Indessen drang die Angriffskolonne, da sie unausgesetzt Verstärkungen erhielt und trotz des Kugelregens zunahm, unerbittlich näher und ganz allmählich, zollweise, aber unabweislich sicher drückte die Armee gegen die Barrikade, wie eine Kelter auf Weintrauben.

Ein Sturm folgte auf den andern. Die Schrecknisse häuften sich.

Da entspann sich auf dem elenden Haufen Pflastersteine, in der ärmlichen Rue de la Chanvrerie ein Kampf, der der trojanischen Mauer würdig gewesen wäre. Die blassen, zerlumpten, übermüdeten Menschen, die seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen, die nicht geschlafen hatten, denen nur noch wenige Patronen übrig blieben, die alle an Kopf und Armen verwundet, mit blutigen, schwärzlichen Fetzen Leinwand verbunden waren, aus deren durchlöcherten Kleidern überall das Blut hervorbrach, die nur nothdürftig mit schlechten Gewehren und alten, schartigen Säbeln bewaffnet waren, wurden zu Titanen.

Zehn Mal angegriffen und erklommen, wurde die Barrikade doch nie definitiv genommen.

Um sich von diesem Kampf eine Vorstellung zu machen, müßte man an eine Feuersglut denken, in der sich Menschen und Salamander bewegen könnten. Aber wir verzichten darauf, die einzelnen Mordszenen dieses großartigen Kampfes zu schildern. Nur der epische Dichter hat das Recht, der Beschreibung einer Schlacht zwölftausend Verse zu widmen.

Man wurde an die Hölle der Brahmanen, den furchtbarsten der siebzehn Abgründe erinnert, denjenigen, welchen die Wedas den Schwerterwald nennen.

Sie kämpften Mann gegen Mann mit Pistolen, mit Säbeln, mit den Fäusten, aus der Ferne, aus der Nähe, von oben herab, von unten herauf, vom Dach, von den Fenstern aus, die Kellerfenster nicht ausgenommen, einer gegen sechzig, Die Fassade des Wirtshauses, die halb in Trümmer geschossen war, bot einen grauenhaften Anblick dar. Das mit Kartätschen beschossene Fenster war der Scheiben und des Rahmens verlustig gegangen und in ein formloses Loch verwandelt, das nothdürftig und in Hast mit Pflastersteinen ausgefüllt war. Während dieser Phase des Kampfes fielen Laigle, Feuilly, Courfeyrac. Desgleichen Combeferre. Von drei Bajonetten durchbohrt, als er eben einen verwundeten Soldaten aufheben wollte, hatte er gerade noch die Zeit, zum Himmel emporzublicken, ehe er verschied.

Marius, der keinen Augenblick den Kampf aussetzte, war besonders am Kopfe derartig mit Wunden bedeckt, daß sein Gesicht durch das Blut unkenntlich geworden war. Man hätte denken können, über sein Gesicht sei ein rothes Tuch ausgebreitet.

Enjolras allein blieb unverletzt, Wenn er keine Waffe mehr hatte, streckte er die Hand nach rechts und links aus, bis ihm ein Kamerad irgend eine Waffe reichte. Von vier Degen — einen mehr, als Franz I.@ bei Marignano verbrauchte, war ihm nur ein Stummel in der Hand geblieben.

Homer erzählt: »Da tötete Diomedes den Teuthraniden Axylos, der in dem wohlgebauten Arisba wohnte, Euryalos, Sohn des Mekisteus, erlegte Dresos und Opheltios, dann verfolgte er Aisepos und Pedasos, die einst die Najade Abarbarea dem untadligen Bukolion gebar, und nahm ihnen das Leben und die Rüstung. Odysseus fällte Pidytes aus Perkote; Antilochos durchbohrte mit dem blanken Speere Ableros, Polypoites, Astyalos, Polydamas, Otos aus Kyllene und Teukros den göttlichen Aretaon. Melanthios erliegt der Lanze des Eurypylos; der Herrscher der Menschen Agamemnon wirft Elatos nieder, dessen Wohnhaus an dem steilen Ufer des rauschenden Satniocis lag.« In den altfranzösischen Heldengedichten greift Esplandian den riesenhaften Markgrafen Swantibore mit einer feurigen Doppelaxt an, der, um sich zu vertheidigen, Thürme aus der Erde reißt und sie nach dem Ritter wirft. Auf alten Frescomalereien sieht man die beiden Herzöge von der Bretagne und von Burgund hoch zu Roß in voller Kriegsrüstung und durch ihre Wappen kenntlich gemacht, der eine durch die blaue, der andre durch die weiße Schabracke, von oben bis unten in Eisen gehüllt mit der Streitaxt in der Hand auf einander losstürzen. Aber um zu imponieren, ist es nicht nöthig, daß man wie Yvon einen Herzogshelm auf dem Kopf trägt, oder wie Esplandian eine brennende Flamme als Waffe schwingt oder wie Phyleus, Vater des Polydamas, aus Ephyra einen trefflichen Panzer, ein Geschenk des Herrschers der Menschen Euphetes, mitgebracht hat; dazu genügt, daß man sein Leben hingiebt, um seiner Ueberzeugung treu zu bleiben oder ein gegebnes Wort einzulösen. Ein kleiner Kommißjunge, der vor Kurzem noch hinter dem Pfluge ging und Mist aufgabelte, und jetzt mit dem Käsemesser an der Hüfte um die Kindermädchen im Jardin du Luxembourg herumschleicht, ein junger Student, der sich an Skeletten und Büchern blaß studirt hat, — der sich den blonden Bart mit der Scheere stutzt, — die nehmt alle Beide, hauchet ihnen einen Odem der Pflicht ein, stellt sie einander gegenüber an einer Straßenkreuzung, in einer Sackgasse, laßt den Einen für seine Fahne, den Andern für sein Ideal streiten und bringt ihnen den Glauben bei, daß sie alle Beide für das Vaterland kämpfen, so wird der Kampf großartig genug sein und der Schatten, den auf dem großen Schlachtfeld der Menschheit die beiden Jungen werfen, wird nicht geringer sein, als der Megaryons, des Königs des an Tigern reichen Lykiens, wenn er mit dem göttergleichen Ajax ringt.

Der letzte Kampf

Als vom den Anführern nur noch Enjolras und Marius an den beiden Enden der Barrikade am Leben waren, wurde das Centrum, dessen Vertheidigung von Courfeyrac, Joly, Laigle, Feuilly und Combeferre so lange geleitet worden war, von den Angreifern durchbrochen. Die Kanonen hatten hier zwar keine Bresche gelegt, aber doch den obern Rand stark demolirt und die Trümmer, die theils nach innen, theils nach außen gefallen waren, bildeten schließlich zwei Böschungen, zwei schiefe Ebenen, die eine Ersteigung der Barrikade wesentlich erleichterten.

Demgemäß wurde denn ein letzter Sturm versucht und dieses Mal mit Erfolg. Wieder drangen die Angreifer mit gefälltem Bajonett im Laufschritt heran und sofort erschien oben auf der Barrikade im Pulverdampf die erste Reihe der dichten Angriffskolonne. Dieses Mal war’s vorbei. Die im Centrum postirten Vertheidiger wichen in Unordnung zurück.

Da erwachte bei Einigen die Liebe zum Leben. Angesichts des Waldes von Bajonetten und Gewehren vergaßen sie ihre heldenmüthigen Vorsätze und wollten nicht mehr sterben. Es war jener psychologische Augenblick, wo der Selbsterhaltungstrieb laut aufheult und die Bestie im Menschen sich geltend macht. Sie waren nach dem sechsstöckigen Hause hingedrängt, das hinter der Barrikade lag, und dieses Haus konnte ihnen Rettung bringen. Freilich war es von unten bis oben verschlossen und verrammelt, gleichsam eine einzige große Mauer. Aber bis die Soldaten zu ihnen zu gelangen vermochten, war wohl noch so viel Zeit, daß eine Thür rasch auf und zugemacht werden konnte und glückte es, die Hausthür aufzubekommen und sofort wieder zu verschließen, so durften die Verzweifelten hoffen, daß sie sich leicht in Sicherheit bringen würden. Denn hinter diesem Hause lagen vom Feinde unbesetzte Straßen, lag der freie Raum. Deshalb bearbeiteten sie wie rasend die Thür mit den Kolben ihrer Gewehre und mit Fußtritten, riefen, schrieen, baten mit gefalteten Händen. Aber Niemand machte ihnen auf. Nur aus der Luke des dritten Stocks blickte — die Leiche des Portiers auf sie herab.

Da aber stürzten Enjolras und Marius mit sieben oder acht Andren, die sich um sie geschart hatten, herbei und schützten sie.

»Rückt nicht vor!« donnerte Enjolras den Soldaten zu und als ein Offizier sich nicht an diese Aufforderung kehrte, streckte Enjolras ihn tot nieder. Er stand jetzt hinter der Barrikade, an das Wirtshaus Corinthe gelehnt, dessen Thür er für die Flüchtlinge offen hielt, während er den Degen in der einen, den Karabiner in der andern Hand, ihren Verfolgern den Weg absperrte. »Es ist nur eine Thür offen! Diese hier!« rief er den Verzweifelten zu und ließ sie, während er sie mit seinem Leibe deckte und allein einem ganzen Bataillon die Stirn bot, hinter sich hineinschlüpfen. Indem er sich seines Karabiners wie eines Stockes bediente, focht er im Kreise um sich herum und schlug die Bajonette nieder, bis er selbst als der Letzte, sich gleichfalls zurückziehen konnte. Es erfolgte ein kurzer, gräßlicher Kampf, indem die Soldaten in das Haus hinein, die Insurgenten aber die Thür zumachen wollten. Endlich wurde sie mit solcher Gewalt in ihren Rahmen hineingedrückt, daß einem Soldaten, der sich hartnäckig daran festgeklammert hatte, die fünf Finger der einen Hand abgeklemmt wurden.

Bei diesem Rückzug blieb Marius draußen. Eine Kugel hatte ihm das Schlüsselbein zerschmettert. Er merkte noch, wie die Sinne ihm schwanden und wie er hinstürzte. In demselben Augenblick aber, als seine Augen schon geschlossen waren, fühlte er einen heftigen Ruck, als wenn eine starke Hand ihn faßte und die Ohnmacht, die sein Bewußtsein eben überwältigte, ließ ihm kaum noch Zeit, sich Cosettens zu erinnern und sich zu sagen, daß er gefangen genommen sei, daß man ihn füsiliren werde.

Enjolras hatte, da er Marius nicht unter den in das Wirtshaus Geflüchteten sah, denselben Gedanken. Aber die Lage, in der sie sich befanden, erlaubte Jedem nur an seinen eignen Tod zu denken. Enjolras legte die Thürstange fest, schob die Riegel vor, verschloß sie doppelt, während draußen die Infanteristen und Sapeure mit den Gewehrkolben und Aexten dagegen los schlugen. Auf diese Thür war jetzt die ganze Wucht des Angriffs gerichtet und damit begann die Belagrung des Wirtshauses.

Die Soldaten waren, wie zugegeben werden muß, über die Maßen ergrimmt.

Der Tod des Artillerieserganten hatte sie in Wuth versetzt und außerdem hatte sich, unter ihnen das Gerücht verbreitet, die Insurgenten verstümmelten die Gefangnen und in dem Wirtshaus liege die Leiche eines geköpften Soldaten. Dergleichen gefährliche Erzählungen sind eine gewöhnliche Zubehör der Bürgerkriege und solch ein falsches Gerücht war es auch, das später Anlaß zu der Katastrophe der Rue Transnonain gab.

Als die Schließung der Thür geglückt war, sagte Enjolras zu den Seinigen:

»Jetzt wollen wir unser Leben theuer verkaufen!«

Darauf trat er an den Tisch, auf dem Mabeuf und Gavroche neben einander lagen. Man sah unter dem schwarzen Tuche zwei lang ausgestreckte, starre Gestalten, eine große und eine kleine, nebst den undeutlichen Umrissen der Gesichter. Unter dem Tuch ragte eine Hand hervor und hing von dem Tisch herunter. Es war die des Greises.

Diese ehrwürdige Hand ergriff jetzt Enjolras und küßte sie, wie am Abend zuvor die Stirn des alten Mobeuf.

Es waren die beiden einzigen Küsse, die er je in seinem Leben gegeben hatte.

Kürzen wir unsern Bericht ab. War die Barrikade wie ein thebanisches Thor vertheidigt worden, so leistete die Schänke einen Widerstand, wie ihn nur noch die Häuser von Saragossa gesehen haben. Einen verbissenen, ingrimmigen, erbarmungslosen Widerstand. Sterben, da es sein muß, aber um jeden Preis möglichst viel Feinde mit auf den letzten Weg nehmen. Als Suchet die Saragossaner aufforderte sich zu ergeben, antwortete Palasox: »Nach dem Krieg mit den Kanonen, der Krieg mit dem Messer!« Auch bei dem Sturm auf das Hucheloupsche Wirtshaus fehlte keins von den Schrecknissen, die einen solchen Kampf begleiten: Weder die Steine, die durch die Fenster auf die Soldaten hinabgeschleudert wurden und ihnen fürchterliche Quetschwunden beibrachten, noch die Schüsse aus den Keller- und Bodenfenstern, noch die rasende Wuth des Angriffs, die verzweifelte Vertheidigung, und, als endlich die Thür nachgab, die erbarmungslose Niedermetzelung der Vertheidiger. Als die Angreifer sich über die zertrümmerte Thür in die Schänke stürzten, fanden sie unten keinen der Gegner mehr. In der Mitte des niedrigen Saales lag die hölzerne Wendeltreppe, die von den Insurgenten oben mit Aexten durchgehauen war und daneben einige tötlich Verwundete; alles, was noch nicht getötet war, hatte sich in den ersten Stock zurückgezogen und sandte nun durch das Loch in der Decke, wo die Treppe früher mündete, den Angreifern einen fürchterlichen Hagel von Kugeln entgegen. Es waren die letzten Patronen. Als diese verschossen waren, nahm jeder zwei von den erwähnten Flaschen, die Enjolras in Bereitschaft gelegt hatte, zur Hand und gebrauchte diese ebenso furchtbaren, wie zerbrechlichen Keulen gegen die Angreifer. Die Flaschen enthielten nämlich Scheidewasser. Wir schildern die Scheußlichkeiten des Gemetzels, wie sie sind. Dem Belagerten muß ja leider jede Waffe recht sein. Das griechische Feuer hat Archimedes, das siedende Pech Bayard, dem Ritter ohne Furcht und Tadel, keine Schande gemacht. Der ganze Krieg beruht nur auf der Nothwendigkeit Schrecken zu verbreiten, und ein Vertheidigungsmittel ist in dieser Hinsicht nicht besser als die andern. Das Gewehrfeuer der Angreifer war, trotzdem sie sehr behindert waren und von unten nach oben schießen mußten, ein mörderisches und bald lagen an dem Rande der Treppenöffnung mehrere tote Köpfe, denen das rothe Blut in dampfenden Bächen entströmte. Das Getöse war unbeschreiblich, der eingeschlossene und heiße Rauch breitete ein beinahe nächtliches Dunkel über diese fürchterliche Scene. Die Sprache hat keine Worte um diesen Grad des Furchtbaren zu schildern. Sie stritten nicht mehr wie Menschen, nicht mehr wie Riesen und Giganten, sondern wie Dämonen und Teufel. Nicht mehr an Homer, nein, an Milton und Dante erinnerte dieser Streit. Ein Heroismus, der das Maß des Außerordentlichen überschritt!

Ein nüchterner Orestes und ein betrunkner Pylades

Endliche indem die Einen auf die Schultern der Andern stiegen, indem sie die Trümmer der Wendeltreppe benutzten, an den Wänden emporkletterten, sich an den Rand der Treppenöffnung festklammerten, die wenigen, die hier noch Widerstand leisteten, neben der Fallthür niedermachten, drangen einige zwanzig Angreifer, Soldaten, Municipal- und Nationalgardisten bunt durcheinander, zum größten Theil durch Wunden im Gesicht entstellt, vom Blute geblendet, wüthend bis zur Raserei, in den Saal des ersten Stocks hinein. Hier fanden sie nur noch einen einzigen kampffähigen Mann vor, Enjolras. Ohne Patronen, ohne Degen hatte er nur noch den Lauf seines Karabiners in der Hand, denn den Kolben hatte er auf den Köpfen der Angreifer entzwei geschlagen. Er hatte sich hinter das Billard in den äußersten Winkel des Saales, postirt und hier flößte er noch mit seinem stolzen Blick, seiner aufrechten Haltung, seinem Bruchstück von Waffe in der Hand, den Siegern so viel Respekt ein, daß sie zurückwichen.

»Das ist der Anführer,« schrie Einer. »Derjenige, der den Artilleristen erschossen hat. Sehr schön, daß er sich dahin gestellt hat. Da können wir ihn in aller Bequemlichkeit und sofort füsiliren.«

»Meinetwegen!« antwortete Enjolras, indem er seine Waffe wegwarf, die Arme verschränkte und die Brust seinen Feinden darbot.

Kühnheit Angesichts des Todes macht immer Eindruck auf die Menschen und so hörte auch jetzt, als man Enjolras sich ruhig in sein Schicksal ergeben sah, der betäubende Lärm im Saale auf und wich einer feierlichen Stille. Es war, als zwinge der junge Mann, mit seinem majestätisch ruhevollen Blick die wilde Schaar der Feinde, ihn mit Ehrerbietung zu töten. Die Schönheit seines Gesichts die durch den stolzen Ausdruck seiner Miene noch erhöht wurde, war wunderbar und als sei er für die Müdigkeit ebenso unzugänglich als er unverwundbar schien, hatten nach den Schrecken, der so eben von ihm durchlebten vierundzwanzig Stunden seine Wangen noch einen rosigen Anhauch. Ihn meinte vielleicht auch ein Augenzeuge, der vor dem Kriegsgericht aussagte: »Unter den Insurgenten war Einer, den ich Apoll nennen hörte.« Ein Nationalgardist, der schon auf Enjolras zielte, ließ sein Gewehr wieder sinken und sagte: »Mir ist zu Muthe, als würde ich eine Blume erschießen.«

Nun traten in der entgegengesetzten Ecke des Saales zwölf Mann zu einem Peloton zusammen und machten schweigend ihre Gewehre schußbereit.

Dann kommandirte ein Sergeant: »Legt an!«

»Wartet!« gebot plötzlich ein Offizier und wandte sich an Enjolras mit der Frage:

»Wollen Sie, daß man Ihnen die Augen verbindet?«

»Nein.«

»Sind Sie wirklich derjenige, der den Artilleriesergeanten getötet hat?«

»Ja.«

Während dieser Vorbereitungen war Grantaire erwacht.

Er schlief, wie man sich erinnern wird, seit vierundzwanzig Stunden in dem hohen Saal des Wirtshauses auf einem Stuhl und den Kopf auf den Tisch gestützt, einen schweren Schlaf, wie ihn nur das scheußliche Gemenge von Absinth, Stout und Branntwein hervorbringen kann. Da sein Tisch klein war und zur Herstellung der Barrikade nicht gebraucht werden konnte, hatte man ihm denselben gelassen, und so blieb er sitzen, die Brust an den Tisch gelehnt, den Kopf auf den Armen, und um ihn herum Gläser und Flaschen. Er schlief wie ein Bär in seiner Winterhöhle, wie ein vollgesogner Igel, ohne sich durch das Knattern der Gewehre, den Kanonendonner, das Kampfgetümmel im Hause stören zu lassen. Donnerten die Kanonen, so antwortete er mit einem gewaltigen Geschnarch. Es war, als wartete er, daß eine Kugel ihm die Mühe ersparen möchte wieder aufzuwachen. Mehrere Leichname lagen um ihn herum und auf den ersten Blick unterschied er sich durch nichts von diesen, deren Schlaf kaum fester war als der seinige.

Weckt aber nicht der Lärm einen Betrunknen, so bewirkt dies gewiß eine tiefe Stille, eine Eigenthümlichkeit, die oft beobachtet worden ist. Das fürchterliche Getöse wiegte ihn noch mehr ein, aber das plötzliche Stillschweigein der Sieger rüttelte Grantaire endlich aus seiner Lethargie auf. Es brachte dieselbe Art Wirkung hervor wie ein Wagen, der im vollen Galopp fährt und plötzlich anhält: Die eingedämmerten Insassen wachen auf. So richtete sich jetzt auch Grantaire auf, reckte sich, rieb sich die Augen, gähnte, blickte sich um und — begriff, was vorging.

Das Ende eines Rausches gleicht einem Vorhang, der zerreißt. Man sieht mit einem Blick und vollständig alles, was sich hinter ihm verbarg. Alles tritt mit einem Ruck in das Gedächtnis ein und der Trunkenbold, der nichts von den Vorgängen der letzten vierundzwanzig Stunden gesehen hat, weiß, sobald er kaum die Augenlider aufgeschlagen, doch sofort, was passirt ist.

Da er in einer Ecke saß und hinter dem Billard kaum bemerkt wurde, hatten die Soldaten, deren Aufmerksamkeit durch Enjolras in Anspruch genommen war, Grantaine nicht einmal gesehen, geschweige denn beachtet, und eben schickte sich der Sergeant an, sein Kommando zu wiederholen, als neben ihnen eine starke Stimme erschallte.

»Es lebe die Republik!« rief Grantaire, der sich von seinem Stuhl erhoben hatte.

Aus den Augen des gleichsam umgewandelten Trunkenbolds leuchtete die ganze Summe von Muth und Begeisterung, die er während des Kampfes auszugeben versäumt hatte.

»Es lebe die Republik!« rief er noch einmal, durchquerte den Saal mit festen Schritten und stellte sich neben Enjolras, den drohenden Gewehren gegenüber.

»So! Nun könnt Ihr gleich Zwei mit einer Salve abfertigen!« sagte er und zu Enjolras gewendet fuhr er mit sanfter Stimme fort:

»Erlaubst Du’s?«

Enjolras drückte ihm lächelnd die Hand.

Noch hatte er sich nicht von dem Freunde los gemacht, als »Feuer!« kommandirt wurde.

Von acht Kugeln durchbohrt blieb Enjolras an die Mauer gelehnt stehen, als wäre er fest genagelt, nur daß er den Kopf herabhängen ließ. Grantaire stürzte schweren Falles zu seinen Füßen nieder.

Nun begannen die Soldaten die letzten in den obern Theil des Hauses geflüchteten Insurgenten zu verfolgen. Sie schossen durch ein Holzgitter in den Boden hinein. Dann erfolgte ein Handgemenge im Dachstockwerk. Es wurden Menschen, von denen einige noch lebten, zu den Fenstern hinausgeworfen. Zwei Voltigeure, die den zerschmetterten Omnibus aufrichten wollten, trafen Karabinerschüsse von den Dachluken aus. Darauf wurde ein Blousenmann mit einem Bajonnett im Leibe auf die Strasse hinabgestürzt, wo er röchelnd liegen blieb. Ein Soldat und ein Insurgent rollten zusammen auf das abschüssige Dach hinaus, wollten sich nicht loslassen und fielen, indem sie sich grimmig umarmt hielten, hinab. Ebenso kämpfte man im Keller, bis endlich auf all das wilde Geschrei, Gewehrgeknatter und Gestampf tiefes Stillschweigen eintrat. Nun war auch die Citadelle der Insurgenten erobert und die Soldaten machten sich daran, die Häuser der Umgegend zu durchsuchen und die Flüchtlinge zu verfolgen.

Gefangen

Marius war in der That gefangen, Jean Valjean’s Gefangner.

Jean Valjean hatte an dem Kampfe in keiner andern Weise Theil genommen, als daß er sich allen Gefahren aussetzte. Ohne ihn wären die Verwundeten während der letzten Phase des Sturmes vernachlässigt worden. Indem er aber wie eine Vorsehung überall gegenwärtig war, wurden Diejenigen, die schwer verletzt hinsanken, aufgehoben, in den Saal des Erdgeschosses gebracht und verbunden. Die freie Zeit, die ihm dann noch blieb, benutzte er um die Barrikade nach Kräften zu repariren. Aber er that keinen Schuß und überhaupt nichts, was einem Angriff oder sogar einem Akt der Nothwehr auch nur ähnlich gewesen wäre. Er schwieg und leistete nur Hülfe. Uebrigens bekam er in dem ganzen Kampfe kaum einige Schrammen. Die Kugeln ließen ihn unbehelligt und wenn er einen Selbstmord im Auge gehabt hatte, als er sich in die Gefahr begab, so war ihm dieser Plan nicht gelungen. Aber wir zweifeln, daß ihm ein solcher Gedanke vorgeschwebt hat, denn der Selbstmord verstieß gegen seine religiösen Ueberzeugungen.

Während der Kampf ihn wild umtobte, konnte es den Anschein haben, als sehe Jean Valjean Marius gar nicht; in Wirklichkeit aber ließ er ihn nicht aus den Augen. Deshalb stürzte er auch, als Marius von einer Kugel getroffen zu Boden sank, mit der Schnelligkeit eines Tigers herbei und trug ihn fort.

Zu dieser Zeit waren die Angreifer so eifrig mit Enjolras und der Forcirung der Wirtshausthür beschäftigt, daß Jean Valjean, von Niemand gesehen, mit dem bewußtlosen Marius in seinen Armen um das Wirtshaus herumbiegen konnte.

Der Leser erinnert sich wohl, daß dieses Haus wie ein Vorgebirge in die Straße hineinragte und den dahinter gelegnen Theil der Straße gegen die Kugeln und neugierigen Blicke schützte. So hat man ja bisweilen auch Zimmer, die inmitten der größten Feuersbrünste unversehrt bleiben und auf sturmgepeitschten Meeren eine kleine Stelle hinter einem Felsen oder einen von Klippen umschlossenen Raum, wo die größte Ruhe herrscht. Es war derselbe Winkel, wo Eponine ihren Todeskampf überstanden hatte.

Hier blieb Jean Valjean stehen, legte Marius auf die Erde nieder, lehnte sich mit dem Rücken an das Haus und ließ seine Augen um sich schweifen.

Er befand sich in einer entsetzlichen Lage.

Für eine kurze Spanne Zeit — höchstens zwei bis drei Minuten — schützte ihn wohl der Vorsprung, hinter dem er stand, aber wie dem Gemetzel entgehen? Er gedachte der Verlegenheit und Angst, die er vor acht Jahren in der Rue Polonceau durchgemacht hatte, und auf welche Weise er der Gefahr entgangen war; was er aber schon damals nur mit der größten Anstrengung bewerkstelligt hatte, war jetzt unmöglich. Vor ihm das sechsstöckige Haus mit seinen verschlossenen Thüren und Fensterläden und anscheinend so öde, als wohne nur der erschossene Portier darin; links die Hausecke, hinter der noch der Kampf tobte; rechts die niedrige Barrikade, die zur Sperrung der Rue de la Petite-Truanderie diente und die zu übersteigen ihm nicht schwer fallen konnte; aber hinter ihr sah er eine Reihe von Bajonnetten funkeln. Es war Linieninfanterie, die dort postirt worden war, um die Flucht der Insurgenten zu verhindern. Ihm war klar, daß wenn er den Kopf über den Rand der Barrikade erhöbe, er sofort von einigen Dutzend Kugeln getroffen sein würde.

Was thun?

Nur ein Vogel hätte sich aus einer solchen Gefahr retten können.

Und das Schlimmste war, daß er auf der Stelle einen Entschluß fassen, ein Rettungsmittel ausdenken mußte. In seiner nächsten Nähe wurde wüthend gekämpft; glücklicher Weise konzentrirte sich alles auf einen Punkt um die Wirtshausthür; verfiel aber auch nur ein Soldat auf den Gedanken das Gebäude zu umgehen, es von der andern Seite anzugreifen, so war Alles vorbei.

Jean Valjean ließ seine Blicke über das Haus vor ihm, über die Barrikade, über den Erdboden hingleiten und so angestrengt blickte er in seiner Verzweiflung, als gelte es mit seinen Augen ein Loch in das Haus oder in die Erde zu bohren.

Dies gelang ihm auch in einem gewissen Sinne, denn einige Schritte vor sich, am Fuße der Barrikade, erblickte er plötzlich unter einem Haufen herabgestürzter Pflastersteine, die es zum Theil den Blicken entzogen, ein flach auf der Erde liegendes, eisernes Gitter, das aus starken Stangen gebildet und ungefähr zwei Quadratfuß groß war. Die steinerne Einfassung, die es fest hielt, war zerstört worden, so daß es lose da lag. Zwischen die Eisenstäbe hindurch sah man in eine dunkle Oeffnung, die einem Rauchfang oder dem Cylinder einer Cisterne ähnlich war. Auf dieses Gitter also stürzte Jean Valjean nun zu, erleuchtet von einem Gedanken, den seine alte Kunst, aus Gefängnissen zu entspringen, ihm eingegeben hatte. Die hinderlichen Pflastersteine beseitigen, das Gitter emporheben, den regungslosen Marius sich auf die Schultern laden, mit Hilfe der Ellbogen und Kniee den glücklicherweise nicht sehr tiefen Schacht hinabsteigen, über seinem Kopf die schwere, eiserne Fallthür zurückfallen lassen, so daß sie von den erschütterten Pflastersteinen wieder halb bedeckt wurde, auf einer mit Fliesen gepflasterten Fläche drei Meter unter der Erde landen, — alles dies nahm nur wenige Minuten in Anspruch.

Unten befand sich Jean Valjean mit dem noch immer bewußtlosen Marius in einer Art unterirdischem, langem Korridor, wo tiefe Stille, dunkle Nacht herrschte.

Hier erinnerte er sich wieder des Gefühls, das er gehabt hatte, als er sich über die Mauer in das Kloster flüchtete.

Kaum daß er jetzt über sich ein schwaches Gemurmel, den gedämpften, fürchterlichen Lärm der Erstürmung des Wirtshauses vernahm.

Das Innere des Lewiathan

Wie das Meer das Land ärmer macht

Paris wirft jährlich fünfundzwanzig Millionen Franken ins Wasser. Und zwar ist dies keine bloße Redensart. Wie? Tag und Nacht. Zu welchem Zweck? Zu gar keinem. Was denkt es sich dabei? Nichts. Mittels welches Organes? Mittels seiner Eingeweide, seiner Kloaken.

Fünfundzwanzig Millionen ist die niedrigste der Ziffern, auf die statistische Berichte den Verlust annähernd abschätzen.

Nach langen vergeblichen Forschungen und Experimenten ist es der Wissenschaft gelungen festzustellen, daß es keinen fruchtbareren, wirksameren Dünger giebt, als die menschlichen Exkremente. Dies wußten, zu unsrer Schande sei es gesagt, die Chinesen schon lange vor uns. Kein chinesischer Bauer, erzählt Eckeberg, geht nach der Stadt, ohne an den Enden seines Bambusrohrs zwei Eimer mit dem, was wir Unrath nennen, heimzubringen. Dank dieser Art Dünger, ist das Erdreich in China noch heute so jung, wie zur Zeit Abrahams. Der chinesische Weizen kann das hundertundzwanzigfältige der Aussaat wiedergeben. Kein Guano, so kräftig er auch sein mag, ist dem Unrath einer Stadt gleichzustellen. Würde man ihn zur Fruchtbarmachung des Erdbodens benutzen, so wäre man des größten Erfolges sicher, so würde man Mist in Gold verwandeln.

Was macht man aber mit diesem Gold? Man wirft es weg.

Alle Jahre werden mit großen Kosten ganze Flotten ausgesandt, um aus der südlichen Hemisphäre den Koth der Sturmvögel und Alke herüberzuholen und die unberechenbaren Schätze, die man in nächster Nähe hat, sendet man ins Meer. Würde all der Menschen- und Thierkoth, der jetzt verloren geht, der Erde, und nicht der See übergeben, so könnte reichliche Nahrung für die ganze Menschheit beschafft werden.

Die Haufen Unrath an den Zäunen, die abscheulichen Abfuhrtonnen, die des Nachts durch die Straßen gefahren werden, der widerwärtige Koth, der unter dem Pflaster weggeschwemmt wird, — wißt Ihr, was für Kostbarkeiten mit diesem Schmutz verloren gehn? Blumige Wiesen, üppiges Gras, Quendel, Thymian, Salbei, allerhand Wild, Vieh, duftiges Heu, goldne Kornähren, Brod, warmes Blut, Gesundheit, Freude, Leben! So will es das geheimnißvolle Schöpfungsgesetz, das auf Erden beständigen Wechsel und im Himmel die Verklärung bewirkt.

Gebt den Unrath dem großen Kreislauf der Natur und unermeßlichen Reichthum werdet Ihr wiederbekommen. Freilich dürft Ihr, wenn es Euch so beliebt, diesen Reichthum Euch entgehen lassen und mich obendrein noch auslachen. Aber damit würdet Ihr nur Eure ungeheure Unwissenheit kund thun.

Laut statistischen Berechnungen sendet Frankreich allein durch die Mündungen seiner Flüsse einen Werth von einer halben Milliarde in den Atlantischen Ocean. Nun merke man sich aber, daß diese fünfhundert Millionen einem Viertel unsres Ausgabenbudgets gleichkommen. Die Schlauheit des Menschen besteht also darin, daß er sich lieber dieser bedeutenden Summe entledigt, sie mir nichts, dir nichts in den Rinnstein wirft. Also das Lebenselement der Bevölkerung tragen uns die Kloaken und die Flüsse fort. Und daraus ergeben sich als Resultate die Verarmung des Landes und die Verpestung des Wassers. Aus der Erde steigt der Hunger, aus den Flüssen die Seuche empor.

So ist es z. B. weltbekannt, daß die Themse London vergiftet, und was Paris betrifft, so hat man kürzlich die meisten Kloakenmündungen unter der letzten Brücke seewärts verlegen müssen.

Ein doppelter Saug- und Druckröhrenapparat mit Ventilen und Spülschleusen, ein System, das also wie die Lunge des Menschen und schon in mehreren englischen Kommunen zur Anwendung gelangt ist, würde genügen, um das reine Wasser der Gefilde in unsre Städte zu lenken und den Feldern das befruchtende Wasser unsrer Städte wiederzugeben. Aber man hat an Andres zu denken, als an so einfache Dinge.

Das gegenwärtig beobachtete Verfahren stiftet Böses, indem es Gutes bezweckt. Man glaubt die Stadt zu reinigen und hungert die Bevölkerung aus. Das Kloakensystem beruht auf einem großen Irrthum. Würde man dagegen kanalisiren, so könnte der Ertrag des Erdbodens verzehnfacht und das Problem des Elends um ein Bedeutendes leichter lösbar werden. Man brauchte dann blos noch das Schmarotzertum, unter dem das Volk zu leiden hat, zu unterdrücken, so wäre es vollständig gelöst.

Einstweilen fließt aber der Nationalwohlstand ins Meer und Europa geht an dieser Verschwendung zu Grunde.

Was Frankreich anbelangt, so haben wir schon gesagt, wie hoch sich seine Verluste beziffern. Da nun aber Paris den fünfundzwanzigsten Theil der Gesamtbevölkerung Frankreichs enthält und da der Pariser Guano der beste von allen ist, so bleibt man hinter der Wahrheit zurück, wenn man den Pariser Antheil an der von Frankreich jährlich weggeworfnen halben Milliarde auf fünfundzwanzig Millionen abschätzt. Würde diese hohe Summe zur Hebung der Noth und für öffentliche Anlagen, Bauten u. s. w. verwendet werden, so würde Paris eine doppelt so schöne und reiche Stadt werden können.

Paris also, das Vorbild, dem alle Großstädte nach streben, von dem alle Völker eine Kopie haben möchten, Paris, die Metropole des Ideals, die große Heimat der Initiative, der Anregung und des Experiments, das Centrum der Intelligenz, das Fundament der Zukunft, die wunderbare Verschmelzung Babylons und Korinths, erregt in Bezug auf den eben angegebnen Punkt die spöttische Verachtung der Bauern von Fo-Kian.

Folgt dem Beispiel, das Paris Euch in dieser Hinsicht giebt, so werdet Ihr Euch ruiniren.

Allerdings ahmt Paris selber das Beispiel Andrer nach, besonders, was diese uralte und unsinnige Verschwendung anbetrifft.

Denn diese erstaunliche Dummheit ist nicht neu. Die Alten machten es ebenso wie wir. »Die Kloaken der Stadt Rom,« behauptet Liebig, »haben den ganzen Wohlstand des römischen Bauern verschlungen.« Als die Umgegend von Rom durch das Kloakensystem ruinirt war, saugte Rom Italien aus und nach Italien kam Sicilien, kam Sardinien, Afrika an die Reihe. Kurz, die Kloaken von Rom haben den Untergang des römischen Reiches bewirkt. Sie waren orbi et orbi verderblich.

In dieser Hinsicht also, wie in mancher andern, ist Rom mit seinem Beispiel vorangegangen und hierin folgt ihm auch Paris mit all der Dummheit nach, die den Metropolen geistreicher Völker eigen ist.

Um den Anfordrungen des so eben besprochenen Systems zu genügen, hat Paris unter sich ein zweites Paris, ein Kloakenparis angelegt, mit Straßen, Plätzen, Sackgassen, kurz Verkehrsadern, in denen sich Koth, — aber keine Kothseelen, wie oben an der Oberfläche der Erde, bewegt.

Denn man soll Niemandem schmeicheln, auch einem großen Volke nicht. Wo alles ist, da findet sich auch Gemeines neben Erhabnem, und wenn Paris Athen, die Stadt der Bildung, Tyrus, die Stadt der Macht, Sparta, die Tugend-, Niniweh, die Wunderstadt enthält, so schließt es auch eine Lutetia, eine Schmutzstadt, in sich.

Ueberdies beweist es auch hierin seine Größe, Die Titanenbauten unterhalb Paris verwirklichen unter den öffentlichen Denkmälern das Ideal, das unter den Menschen Männer wie Macchiavelli. Bacon und Mirabeau erreicht haben, — das großartig Gemeine.

Der Untergrund von Paris würde, wenn das Auge durch die Oberfläche hindurchdringen könnte, einen ähnlichen Anblick darbieten, wie eine kolossale Madrepore. Ein Schwamm hat sicherlich nicht mehr Löcher und Gänge als die Erdscholle, worauf die alte Großstadt steht. Ganz abgesehen von den Katakomben, die einen Keller für sich bilden, von dem Labyrinth der Gasleitungsröhren, der Wasserleitung, stellen die Kloaken auf beiden Seiten der Seine ein ungeheures; schräg geneigtes Netz dar.

In diesem feuchten Dunkel lebt und webt die Ratte, die eigentliche Bewohnerin der Unterstadt.

Die Geschichte der Kloaken

Man denke sich das Häusermeer von Paris wie einen Topfdeckel emporgehoben, so wird das unterirdische Kloakennetz, aus der Vogelperspektive gesehen, sich an jedem Ufer wie ein großer Ast ausnehmen, der von dem Fluß ausgeht. Auf der rechten Seite wird die Gürtelkloake den Stamm dieses Astes, die Nebenkanäle die Zweige, die Sackgassen die Nebenzweige bilden.

Diese Figur giebt allerdings die Wirklichkeit nur ungefähr und nicht genau wieder, da der bei unterirdischen Verzweigungen gewöhnliche rechte Winkel bei Pflanzen nur selten vorkommt.

Eine richtigere Vorstellung wird man sich machen, wenn man sich denkt, man sähe auf einem dunkeln Grunde ein sonderbares orientalisches Alphabet, dessen ungestaltete Buchstaben in scheinbar wirrer Unordnung bald an ihren Ecken, bald an ihren Enden aneinander gelöthet wären.

Die Kloaken spielten eine große Rolle im Mittelalter im byzantinischen Kaiserreich und im alten Orient. Hier wurde die Pest geboren, hier starben Despoten. Die Menge betrachtete diese Fäulnißbeete, diese scheußlichen Wiegen des Todes mit einer Art religiöser Ehrfurcht. Die Ungeziefergrube in Benares ist in ihrer Art nicht weniger grauenhaft als die Löwengrube von Babylon. Teglath Phalasar, sagen die rabbinischen Bücher, pflegte bei den Kloaken von Niniweh zu schwören. Aus den Kloaken von Münster ließ Johann von Leyden seinen falschen Mond heraufsteigen und aus dem Kloakenbrunnen von Kekscheb tauchte die falsche Sonne seines geistigen Zwillingsbruders im Orient Mokanna, des verschleierten Propheten von Khorassan, empor.

Die Geschichte der Menschen findet ihren Widerschein in der Geschichte der Kloaken. So sind die Gemonien charakteristisch für Rom. Auch die Pariser Kloaken sind eine Antiquität, die von vielen merkwürdigen Dingen und Ereignissen berichten könnte. Sie haben als Begräbnißstätte und als Zufluchtsort gedient. Das Verbrechen, die Intelligenz, der Protest gegen die staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen, die Gewissens- und Gedankenfreiheit, alles, was die Gesetze der Menschen verfolgen oder verfolgt haben, hat sich in diesen Höhlen verborgen; die Hammermänner im vierzehnten, die Manteldiebe im fünfzehnten, die Hugenotten im sechzehnten, Morins Illuminaten im siebzehnten, die Fußbrenner im achtzehnten Jahrhundert. Vor hundert Jahren machten von hier aus Meuchelmörder Nachts die Straßen unsicher; hierher flüchtete sich der Spitzbube, wenn die Polizei ihm auf den Fersen saß. Kurz, was die Räuberhöhle im Walde war, das stellten für Paris die Kloaken vor. Die Vagabunden und Bettler betrachteten den Untergrund von Paris als eine Filiale des Hofes der Wunder, ihres gewöhnlichen Stelldicheins, und kehrten hier wohl wie in einer Herberge zur Nacht ein.

Es war ganz selbstverständlich und logisch, daß die am Tage Taschen leerten und Hälse abschnitten, die Nacht in diesen unterirdischen Schlupfwinkeln zubrachten. Daher eine Fülle von Ueberlieferungen, die von berühmten Verbrechern erzählen, daher die Spukgestalten, die hier umgehen.

Die Kloaken des alten Paris waren das Stelldichein aller Verzweifelten und aller Neuerer. Betrachtet die Nationalökonomie sie als Detritus, so sieht die Socialwissenschaft hier einen Niederschlag.

Die Kloake ist das Gewissen der Stadt. Hier kommt alles schließlich hin, hier trifft alles zusammen. In diesen dämmrigen Höhlen herrscht wohl die Finsterniß, aber sie birgt keine Geheimnisse mehr. Hier erscheint jedes Ding in seiner wahren oder wenigstens in seiner letzten Gestalt, denn den Vorzug hat der Kothhaufe, daß er nicht lügt. Hier hat die Offenherzigkeit eine Zuflucht gefunden. Wohl sieht man hier die Maske des Verleumders Basil, aber man sieht auch, daß sie nur von Pappe ist, und die Bindfäden und das Innre so gut wie das Aeußere und der Unrath, mit dem sie beschmutzt ist, paßt so recht zu ihrem Charakter, Alle Unsauberkeiten der Civilisation fallen, sobald sie dienstuntauglich geworden sind, in diese Grube der Wahrheit, die alles verschlingt, aber alles sehen läßt. Dieser Wirrwarr hat die Bedeutung einer Beichte, Kein falscher Schein mehr, keine Möglichkeit sich zu betünchen, vollständige Enthüllung alles moralischen Unflats, endgültiger Tod der Täuschungen und Spiegelfechtereien, nur noch bare Wirklichkeit, die das Gesicht im Todeskampfe verzerrt. Hier erzählt eine Flasche von dem Laster des Trunkes; hier lügt kein fauler Apfel, daß er einem erbärmlichen Dramatiker als Zeichen der Anerkennung an den Kopf geworfen ist; hier liegt ein Louis-d’or, der in der Spielhölle gewonnen wurde, neben dem Nagel, an dem sich der ruinirte Spieler erhängt hat; hier rollt ein bleicher Foetus in dem Flitter, in dem seine Mutter auf dem Karnevalball tanzte, hier wälzt sich ein Richterbarett neben dem Unterrock, den eine Dirne getragen; hier herrscht Brüderlichkeit und Vertraulichkeit, Was früher mit Schminke, das ist jetzt hier mit Koth beschmiert. Hier fällt der letzte Schleier. Die Kloake ist ein Cyniker, der alles sagt.

Diese Aufrichtigkeit des Unflats gefällt mir; sie gewährt der Seele eine angenehme Abwechselung. Hat man sein ganzes Leben hindurch auf der Erde fortwährend gesehen, wie hochtrabend und ehrwürdig sich die »Rücksicht auf das Wohl des Staates,« die staatsmännische Weisheit, die Justiz, die »unbestechlichen« Richter gebärden, so ist es eine Erquickung in eine Kloake hinabzusteigen und Koth zu sehen, der sich nicht für etwas Andres als gemeinen Koth ausgiebt.

Es ist auch lehrreich. Wie wir oben gesehen haben, wandelt die Geschichte durch die Kloake hindurch. In die Pariser Kloaken ist das Blut hindurch gesickert, das in der Bartholomäusnacht floß. Die Massenmörder, die oben ihre Nebenmenschen zu Ehren der Religion und zum Wohl des Staates schlachteten, haben in diese Tiefen die Leichen geworfen. Das Auge des Denkers und Träumers sieht hier unten die von der Geschichte verherrlichten Mörder, wie sie im grausigen Dunkel knien und mit ihrem Leichentuch ihre Opfer vom Blut zu reinigen sich abmühen. Hier sieht er Ludwig XI. mit seinem Spießgesellen Tristan, Franz I.@ und Duprat, Karl IX. mit seiner Mutter, Richelieu und Ludwig XIII., Louvois, Letellier, Hébert und Maillard; sie kratzen an den Steinen und wollen die Spuren ihrer Verbrechen verwischen. Unter diesen Gewölben hört man solche Gespenster fegen, athmet man die dumpfige Luft der socialen Katastrophen, sieht man Wasser, in dem sich blutige Hände gewaschen haben.

Der denkende Beobachter muß sich in diese Finsterniß hineinwagen. Diese Schrecknisse und Ekel gehören zu seinen Studienobjekten. Die Philosophie ist ja das Mikroskop des Gedankens. Alles möchte sich ihrem forschenden Blick entziehen, aber nichts kann sich vor ihr verstecken. Es hat keinen Zweck sich vor ihr zu drehen und zu wenden; man zeigt ihr doch nur seine häßlichste Seite, Die Philosophie verfolgt mit ihren ehrlichen Augen das Böse und erlaubt ihm nicht, in das Nichts zu fliehen. An der Verflüchtigung der Dinge, die im Untergang begriffen sind, an den Ueberbleibseln dessen, was einst groß gewesen ist, erkennt sie alles. Aus einem Lumpen konstruirt sie einen Purpurmantel, aus Lappen das Weib, das sie getragen. Sieht sie eine Kloake, so weiß sie, was für eine Stadt darüber gebaut war und welcher Moral ihre Bewohner huldigten. Aus einer Scherbe schließt sie auf die Amphora oder den Krug, dem sie angehört hat. Sie erkennt an der Spur, die ein Fingernagel auf einer Pergamenturkunde hinterlassen hat, den Unterschied, der die Judenschaft der Judengasse von der des Ghetto trennt. Sie findet in dem, was übrig geblieben ist, das, was gewesen ist, wieder, das Gute, das Böse, das Falsche, das Wahre, den Blutfleck des Palastes, den Tintenklecks des Notars, den Talgtropfen aus dem Bordell, die ehrenvoll überstandenen Proben, die willkommnen Versuchungen, die wüsten Orgien, die Spuren, die eigennützige Zugeständnisse und feige Kompromisse im Charakter und die Messalinas Arm im Vorbeigehen an dem Kittel des römischen Lastträgers hinterlassen hat.

Bruneseau

Im Mittelalter waren die Pariser Kloaken beinah vergessen; sie existirten fast nur in der Sage. Im sechzehnten Jahrhundert ordnete Heinrich II. eine Sondirung an, aber der Versuch scheiterte. Es ist noch keine hundert Jahre her, da waren, wie Mercier bezeugt, die Kloaken sich selbst überlassen.

So ging es in dem ehemaligen Paris zu, in Folge der Uneinigkeit, der Unentschiedenheit und der planlos angestellten Versuche, so daß die Maßregeln bezüglich der Kanalisirung der Stadt dumm genug ausfielen. Späterhin zeigte 1789, wie Städte zu Verstand kommen. Aber in der guten, alten Zeit hatte die Hauptstadt wenig Energie und verstand sich ebenso wenig auf die Wegräumung des Unraths, wie auf die Unterdrückung der Mißbräuche. Durch alles Mögliche ließ man sich beirren, überall stieß man auf Fragen, die keine waren und die man nicht zu beantworten vermochte. So war es z. B. unmöglich, einen Plan des Untergrundes von Paris herzustellen. Man brachte es nicht fertig, sich unten zu orientiren, ebenso, wie man oben zu keiner Verständigung über die wichtigsten und elementarsten Fragen der Politik gelangen konnte. Unter der Sprachverwirrung herrschte eine Kellerverwirrung; Paris bestand aus einem unterirdischen Labyrinth und einem Turm zu Babel.

Manchmal erlaubten sich die Kloaken überzufließen, als ob der unterirdische Nil sich über seine Vernachlässigung ärgerte. Dann traten — zur Schande der Stadt sei es gesagt — geradezu Ueberschwemmungen ein. Zeitweise litt jener Magen der Zivilisation an Verdauungsstörungen, so daß der Koth der Stadt wieder in den Hals emporstieg und sie seinen bösen Geschmack zu kosten bekam. Diese Uebereinstimmung der Kloakenflut mit dem schlechten Gewissen hatte ihr Gutes; aber derartige Warnungen wurden übel aufgenommen; es verdroß die Stadt, daß der Unflat sich so unverschämt benahm und wollte nichts davon hören, daß er wieder zurückkam. Sorgt dafür, hieß es, daß er sich nicht wieder sehen läßt.

Einer besondern Berühmtheit erfreut sich im Gedächtniß der Pariser die Ueberschwemmung des Jahres 1802. Die Schmutzflut ergoß sich kreuzweise über die Place des Victoires, wo die Statue Ludwigs XIV. stand; strömte in die Rue Saint-Honoré durch die beiden Kloakenmündungen der Chamos-Elysées, in die Rue Saint-Florentin durch die Kloake Saint-Florentin, in die Rue Pierre-à-Poisson durch die Kloake der Sommerie, in die Rue Popincourt durch die des Chemin-Vert, in die Rue de la Roquette durch die der Rue de Lappe; sie stand in dem Rinnstein der Rue des Champs-Elysées fünfunddreißig Centimeter hoch und drang im Süden, wo das Speirohr der Seine seine Schuldigkeit, umgekehrt that, in die Rue Mazarine, Rue de l’Echaudê und Rue des Marais, die sie in einer Ausdehnung von hundertundneun Metern überschwemmte; hier hielt sie wenige Schritte vor dem Hause, das Racine bewohnt hatte, an und respektirte so an dem siebzehnten Jahrhundert den Dichter mehr als den König. Ihre größte Tiefe erreichte sie in der Rue Saint-Pierre, wo sie sich drei Fuß über die Fliesen der Wasserröhre erhob und ihre größte Ausdehnung in der Rue Saint-Sabin, wo sie einen zweihundert achtunddreißig Meter langen Raum einnahm.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts war der Untergrund von Paris noch ein geheimnißvoller Ort. Der Koth wird nie in gutem Rufe stehen, aber in diesem Falle steigerte sich der üble Leumund bis zum Entsetzen. Paris hatte eine dunkle Ahnung, daß es einen grauenvollen Keller unter sich hatte. Man sprach davon in demselben Tone, wie von den Scheußlichkeiten des Untergrunds von Theben, wo fünfzehn Fuß lange Asseln sich tummelten und wo sich der Behemoth hätte baden können. Nie wagten sich die Kloakenreiniger trotz ihrer hohen Stiefel über gewisse bekannte Punkte hinaus. Man war noch nicht sehr weit entfernt von der Zeit, wo die Abfuhrkarren ganz einfach in die Kloaken entleert wurden. Was die Reinigung betrifft, so überließ man diese Sorge dem Regen, der die unterirdischen Kanäle eher überfüllte, als säuberte. Rom ließ seinen Kloaken noch etwas Poesie und nannte sie die Gemonien, Paris verunglimpfte die seinigen, indem es sie das Stinkloch schimpfte. Die Wissenschaft und der Aberglaube, die Hygienik und die Sage, empfanden denselben Abscheu vor der unbekannten Region. Die Leichen der Marmousets, hieß es 1737, seien in die Kloake der Barillerie geworfen worden; Fagon schrieb das bösartige Fieber, das 1685 so große Verheerungen anrichtete, der großen Lücke in der Kloake des Marais zu, die bis 1833 in der Rue Saint-Louis, dem Messager galant beinah gegenüber, offen blieb. Die Kloakenmündung der Rue de la Mortellerie war berühmt wegen der Pestkrankheiten, die hier herauskamen; mit ihrem eisernen Gitter, dessen spitze Stäbe wie Raubthierzähne aussahen, glich sie dem Rachen eines Drachens, dessen Hauch die Menschen tötete. Die Volksphantasie verquickte außerdem noch die Greuel des unterirdischen Labyrinths mit den Schauern der Unendlichkeit: Die Kloakenfluten, hieß es, hätten keinen Grund, wären ein Barathron. Nicht einmal die Polizei ließ es sich beifallen, diese pestilenzialischen Regionen zu erforschen. Sich in diese unbekannte Welt hineinzuwagen, das Dunkel zu durchforschen, eine Entdeckungsreise in diese Tiefe zu unternehmen — das hätte sich Niemand erkühnt. Das war zu schrecklich. Und dennoch trat solch ein Held, ein Christoph Columbus des unterirdischen Paris, auf.

Im Jahre 1805, als der Kaiser sich einmal ausnahmsweise in Paris aufhielt, erschien der Minister des Innern um der kleinen Morgenaufwartung seines Gebieters beizuwohnen. Auf der Place du Carrousel standen in Menge die gewaltigen Krieger der großen Republik und des großen Kaiserthums; Helden, die am Rhein, an der Schelde, an der Etsch und am Nil sich Lorbeeren erworben hatten; Kameraden Goubert’s, Desair’s. Marceau’s, Hoche’s, Kléber’s; Luftschiffer, die bei Fleurus ihre Tüchtigkeit bewährt hatten, Grenadiere aus Mainz, Pontonniere aus Genua, Husaren, auf die einst die Pyramiden herabgeschaut; Artilleristen, die unter Junot gedient; Kürassiere, die über den gefrorenen Zuydersee geritten waren und eine Flotte erobert hatten. Die Einen waren Buonaparte auf die Brücke von Lodi gefolgt, Andre hatten unter Murat in den Laufgräben vor Mantua gelegen, noch Andre waren Lannes in dem Hohlweg von Montebello vorausgeeilt. Die ganze Armee war in dem Tuilerienhofe vertreten, durch je eine Schwadron oder ein Peloton und hielt Wache vor Napoleons Palast. Es war jene Ruhmeszeit, wo die große Armee hinter sich Marengo, vor sich Austerlitz hatte.

»Majestät« sagte da der Minister des Innern zu Napoleon, »ich habe gestern den muthigsten Mann Ihres Reiches gesehen.«

»Wer ist das und was hat er gethan?« fragte der Kaiser in barschem Ton. — »Majestät, er will erst etwas Großartiges thun.« — »Was denn?« — »Die Kloaken von Paris erforschen.«

Dieser Mann existirte und hieß Bruneseau.

Unbekannte Einzelheiten

Die Untersuchung fand auch wirklich statt. Es war ein schwieriger Feldzug, ein gefährlicher Kampf gegen die Pestilenz und Asphyxie, gleichzeitig aber auch eine interessante Entdeckungsreise. Noch vor einigen Jahren pflegte Einer, der an Bruneseaus Expedition Theil genommen hatte, ein intelligenter, damals noch sehr junger Arbeiter eine Menge merkwürdiger Einzelheiten zu erzählen, die Bruneseau, um der Würde des administrativen Stils keinen Eintrag zu thun, in seinem Bericht an den Polizeipräsidenten ausgelassen hatte. Die Kenntniß von den Desinfektionsmitteln und ihrer Anwendung befand sich damals noch in den Kinderschuhen, und kaum war Bruneseau über die ersten Knoten des unterirdischen Flußnetzes hinausgekommen, als acht Arbeiter unter zwanzig sich weigerten weiter zu gehn. Die Operation war eine sehr verwickelte; man mußte gleichzeitig Unrath entfernen, messen, die Wasserzugänge notiren, die Gitter und Mündungen zählen, die Verzweigungen verfolgen, die Standpunkte der Strömungen bezeichnen, die Begrenzungen der verschiedenen Becken ermitteln, die kleinen Nebenkanäle sondiren, die Höhe jedes Ganges, sowie die Breite, sowohl am Gewölbeanfang, als auch an der Bettung messen und endlich die Nivellirungsordinaten von der Bettung der Kloake oder von dem Boden der Straße aus bestimmen. Die Expeditionstruppe drang nur langsam vorwärts. Es kam nicht selten vor, daß die Leitern drei Fuß hoch im Schlamm standen. Die Laternen drohten fortwährend in dem schweren Kampfe gegen die widrigen Ausdünstungen zu erliegen. Von Zeit zu Zeit wurde ein Arbeiter ohnmächtig und mußte weggetragen werden. An manchen Stellen gähnten Abgründe. Der Boden war eingesunken, die Pflasterung zerstört, die Kloake verlor sich in die Tiefe; man hatte keinen festen Boden mehr, ein Mann versank plötzlich und man hatte Mühe ihn herauszuziehen. Auf Foureroy’s Rath wurden an gewissen, genügend gesäuberten Stellen große Käfige mit Werg, das in Harz getränkt war, angezündet. Die Wände waren stellenweise mit unförmigen Schwämmen bedeckt, die wie Geschwülste aussahen. Es war, als seien in dieser unathembaren Luft sogar die Steine krank geworden.

Bruneseau wählte bei seiner Untersuchung die Richtung stromabwärts. Bei dem Standpunkt der beiden Wasserröhren des Graud’-Hurleur entzifferte er auf einem hervorragenden Stein die Jahreszahl 1550; dieser Stein bezeichnete die Grenze, wo Philibert Delorme, der auf Befehl Heinrichs II, die unterirdischen Straßen von Paris erforschen sollte, Halt gemacht hatte um wieder umzukehren. Dieser Stein gab also an, was das sechzehnte Jahrhundert für die Kloaken gethan hatte; aus dem siebzehnten stammte der Kanal des Ponceau und derjenige der Rue Vieille-du-Temple, die zwischen 1600 und 1650 überwölbt wurden; aus dem achtzehnten der westliche Abschnitt des Sammelkanals, der 1740 gegraben und überwölbt wurde. Diese beiden letzteren Gewölbe wiesen mehr Risse und Spuren von Altersschwäche auf, als das Mauerwerk der Gürtelkloake, die aus dem Jahre 1412 stammte, einer Zeit, wo der Bach von Ménilmontant zur Würde der Großen Pariser Kloake erhoben wurde, ein Avancement, das sich mit der Ernennung eines Bauern zum Kammerdiener des Königs vergleichen läßt.

Hier und da, namentlich unter dem Justizpalast, sah man Höhlungen, die man für ehemalige Kerker, scheußliche in pace, hielt. So hing z. B. ein Halseisen in einer dieser Zellen. Sie wurden sämtlich vermauert. Auch machte man recht sonderbare Funde. So das Skelett eines Orang-Utang, der im Jahre 1800 aus dem Jardin des Plantes verschwunden war, ein Ereigniß, das sicherlich mit dem berühmten und unbestreitbaren Erscheinen des Teufels in der Rue des Bernardins im letzten Jahr des achtzehnten Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden muß. Der arme Teufel war in der Kloake ertrunken.

In dem langen, gewölbten Gange, der an der Arche Marion endet, erregte die wohl erhaltne Kiepe eines Lumpensammlers die Bewundrung der Kenner. Ueberall fand man im Schlamm, den die Arbeiter bald ohne zu großen Widerwillen durchsuchen lernten, eine Menge Wertgegenstände, Gold und Silbersachen, Edelsteine, Geld. Ein Riese, der all das Wasser hätte filtriren können, würde sich in den Besitz großen Reichthums aus allen Jahrhunderten gesetzt haben. Am Kreuzungspunkte der Kanäle der Rue du Temple und der Rue Sainte-Avoye hob Jemand eine sonderbare, hugenottische Medaille auf. Die eine Seite, zeigte das Bild eines Schweins mit einem Kardinalshut, die andre einen Wolf mit der päpstlichen Tiara.

Den allermerkwürdigsten Fund machte man an der Mündung der großen Kloake, die ehedem mit einem Gitter verschlossen war. An einer der Thürangeln, die der Zahn der Zeit allein verschont hatte, hing ein formloser, schmutziger Fetzen Zeug, der hierher geschwemmt und sitzen geblieben war. Bruneseau hob seine Laterne empor und sah sich diesen Lappen an. Es war sehr feiner Batist und an der einen, am wenigsten versehrten Ecke war eine Wappenkrone über den sechs Buchstaben LAVBES eingestickt. Die Krone war die eines Marquis und die sieben Buchstaben bedeuteten Laubespine. Man erkannte in dem merkwürdigen Dinge, das man da vor Augen hatte, ein Stück von dem Leichentuch Marats. Der Wütherich hatte in seiner Jugend Liebesaffairen gehabt, u. a. auch zu der Zeit, wo er als Roßarzt im Hause des Grafen von Artois angestellt war, ein geschichtlich außer allen Zweifel gestelltes Verhältnis mit einer vornehmen Dame, und von dieser stammte eins von seinen Bettlaken. In dasselbe hüllte man, da es das einzige feine Stück Wäsche war, das man in seinem Haushalt fand, seine Leiche ein, als er von Charlotte Corday ermordet worden war.

Bruneseau ging weiter und ließ, statt ihm den Rest zu geben, das historisch merkwürdige Stück Zeug, wo er es gefunden hatte. That er’s aus Ehrfurcht vor dem Toten oder lag Verachtung seinem Thun zu Grunde? Marat verdiente Beides. Außerdem hatte das Schicksal dem Ueberbleibsel so deutlich seinen Stempel aufgedrückt, daß man wohl Bedenken tragen konnte, es anzufassen. Auch soll man ja den Dingen, die dem Grabe angehören, den Platz lassen, den sie sich selber gewählt haben. Summa Summarum, es war eine sonderbare Reliquie. Eine Marquise hatte darin geschlafen, Marat war darin verwest; sie war im Pantheon gewesen und trieb sich endlich mit den Ratten in den Kloaken herum. Dieses Alkowenstück, das einst Watteau mit Freuden gezeichnet hätte, war zu einem Gegenstand Dantescher Betrachtungen geworden.

Die Durchforschung des unterirdischen Labyrinths dauerte sieben Jahre, von 1805 bis 1812. Während er immer weiter vordrang, entwarf, leitete und vollendete Bruneseau gleichzeitig bedeutende Arbeiten. So legte er 1808 die Bettung des Ponceau tiefer und ließ neben vielen andern neuen Kanälen 1809 eine Kloake unter der Rue Saint-Denis hinweg bis zur Fontaine des Innocents graben; 1810 andere unter der Rue Froidemanteau und unter der Salpêtrière; 1811 unter der Rue Neuve-des-Petits-Pères, unter der Rue du Mail, der Rue de l’ Echarpe. der Place Royale; 1812 unter der Rue de la Paix und unter der Chaussee d’Antin. Außerdem veranlaßte er die Desinfection des ganzen Kanalnetzes. Schon im zweiten Jahre dieser Thätigkeit nahm sich Bruneseau seinen Schwiegersohn Nargaud als Gehülfen.

Auf diese Weise säuberte zu Anfang dieses Jahrhunderts die alte Gesellschaft die Kloaken, über denen sie wohnte. Immerhin ein Fortschritt! Wenn auch anderer, schlimmerer Unflat zurückblieb.

Ein unentwirrbares Labyrinth, die Wände voller Risse und Spalten, von Schluchten durchzogen, Gänge, die ohne Sinn und Verstand auf oder abwärts stiegen, dumpfig, grausig anzusehen, in Dunkel gehüllt, die Fliesen zerbrochen, das Mauerwerk baufällig, so bot sich der ehemalige Untergrund von Paris den Blicken dar. Verzweigungen nach allen Richtungen und Kreuzungen, Sterne, Sackgassen, mit Salpeter überzogene Gewölbe, ekelhafte Abzugslöcher, flechtenartige Ausschwitzungen an den Wänden, Tropfen, die von der Decke herabfielen, Finsterniß; nichts konnte an Abscheulichkeit diese alte Krypte überbieten, dieses Verdauungsorgan des modernen Babel, diesen von Straßen durchzognen Abgrund, diesen titanischen Maulwurfsbau, wo der Geist das alte blinde Ungethüm, die Vergangenheit, im Koth, der einst Pracht gewesen ist, herumirren zu sehen meint.

So, wie gesagt, waren die ehemaligen Kloaken beschaffen.

Heute erzielte Fortschritte

Gegenwärtig sind die Kloaken sauber, kalt, gerade, regelrecht, fast eine Verwirklichung des Ideals, das der Engländer mit dem Wort respectable bezeichnet. Sie sehen anständig und, man möchte fast sagen, fein aus. Sie erinnern an einen Lieferanten, der Staatsrath geworden ist. Man kann ihnen so zu sagen, auf den Grund sehen. Der Unrath benimmt sich decent. Auf den ersten Blick ist man versucht, sie mit den ehedem so zahlreichen, unterirdischen Gängen zu verwechseln, durch die sich in der guten, alten Zeit Monarchen und Prinzen vor der Liebe ihrer Unterthanen zu retten pflegten. In den jetzigen, schönen Kloaken herrscht ein reiner Baustil; der korrekte, klassische Alexandriner, der, aus der Poesie verjagt, sich in die Architektur geflüchtet hat, und die Anordnung aller Steine in diesen langen, weißlichen Gewölben beeinflußt zu haben scheint. Ueber jeder Abzugsrinne zieht sich eine Arkade hin, als habe man sich die Rue de Rivoli zum Vorbild genommen. Freilich, wenn die geometrisch gerade Linie irgendwo berechtigt ist, so ist dies sicherlich bei dem Ausmistungsorgan einer Großstadt der Fall. Da ist der kürzeste Weg der beste. Desgleichen erfreuen sich die gegenwärtigen Kloaken derselben Rücksicht seitens der offiziellen Welt wie die schönsten Monumente. Sogar die Polizeiberichte sprechen von ihnen nur mit Achtung. Die Worte, mit denen die Verwaltungsbehörden ihrer Erwähnung thun, sind der gewählten Sprache entnommen. Der Dichter Villon würde sein Logis nicht wiedererkennen. Freilich die Bevölkerung, die es seit unvordenklichen Zeiten bewohnt, die Nagetiere, hausen hier noch immer und sind vielleicht noch zahlreicher geworden. Noch wagt sich dann und wann ein alter Knasterbart von Ratte an ein Fenster seines Kellers und sieht sich die Pariser an; aber dieses Ungeziefer ist zahmer, nun man ihm sein Wohnhaus in einen Palast verwandelt hat. Kurz, die Kloake ist in jeder Hinsicht gemüthlicher geworden. Sogar der Regen, der sie früher schmutziger machte, wäscht sie heute reiner. Aber man traue dem Frieden nicht zu sehr. Noch hausen die Miasmen darin. Sie heuchelt mehr Tugenden, als sie in Wirklichkeit hat. Die Polizeipräfektur und das Gesundheitsamt haben keinen vollständigen Erfolg erzielt. Allen Desinfektionsmitteln zum Trotze strömt sie, wie Tartuffe nach der Beichte, einen verdächtigen Geruch aus.

Da indessen die Reinlichkeit eine Huldigung ist, welche die Kloake der Civilisation darbringt, und da in dieser Hinsicht das Gewissen des Tartuffe als ein Fortschritt im Vergleich mit dem Stall des Augias betrachtet werden muß, so gestehen wir, daß die Pariser Kloake sich gebessert hat.

Und zwar ist es mehr als ein Fortschritt, nämlich eine Umwandlung. Zwischen der ehemaligen und der gegenwärtigen Kloake liegt eine Revolution. Und wem verdanken wir diese Revolution?

Bruneseau, den alle Welt vergißt und den wir oben genannt haben.

Zukünftige Fortschritte

Die Anlegung der Pariser Kloaken ist kein kleines Stück Arbeit gewesen. Die letzten zehn Jahrhunderte haben daran gegraben und gemauert, ohne das Werk zu Ende bringen zu können, ebenso wenig, wie sie Paris ausbauen konnten. In der That hängt die Ausdehnung der Kloaken von dem Wachsthum der Stadt ab. Der tausendarmige Polyp da unten wird größer, in demselben Maße, wie die Stadt zunimmt. Jedes Mal, wenn oben eine neue Straße angelegt wird, setzt die Kloake einen neuen Arm an. Die Gesamtlänge der von der Monarchie angelegten Kloaken belief sich auf nur dreiundzwanzig Tausend Meter und so stand es noch am 1. Januar 1806. Von dieser Zeit an, auf die wir noch zurückkommen werden, ist das Werk wieder energisch in Angriff genommen und mit Nachdruck gefördert worden. Napoleon I.@ hat — diese Zahlen verdienen, betrachtet zu werden — die Kloaken um viertausend achthundert und vier Meter verlängert; Ludwig XVIII. um fünftausend siebenhundert und neun Meter; Karl X. um zehntausend achthundert und sechsunddreißig; Ludwig Philipp um neunundachtzig tausend und zwanzig; die Republik von 1848 um dreiundzwanzig tausend dreihundert einundachtzig; die gegenwärtige Regierung um siebzig tausend fünfhundert; im Ganzen bis jetzt zweihundert sechsundzwanzig tausend sechshundert zehn Meter. Kurz, eine ebenso großartige, wie wenig beachtete Arbeit, diese Durchwühlung des Erdbodens unter der Stadt Paris.

Aus dieser Statistik ersieht man, daß das unterirdische Pariser Labyrinth jetzt zehn Mal so groß ist wie zu Anfang. Welcher Beharrlichkeit aber und wie großer Anstrengungen es bedurft hat, um das Kloakennetz zu seiner jetzigen, verhältnißmäßigen Vollkommenheit zu entwickeln, davon kann man sich nur sehr schwer eine genügende Vorstellung machen. Schon der ehemaligen, monarchischen Probstei und der revolutionären Mairie der letzten zehn Jahre des achtzehnten Jahrhunderts, war es nur mit größter Mühe gelungen, die dreiundzwanzig tausend Meter, die vor 1806 existirten, zu Stande zu bringen. Allerhand Hindernisse hemmten diese Arbeit, Hindernisse, die zum Teil mit der Beschaffenheit des Bodens zusammenhingen, theils in den Vorurtheilen der Pariser Arbeiterbevölkerung ihren Grund hatten. Paris ist auf einer Erdschicht gebaut, die sich gegen die Haue, den Karst, den Bohrer, überhaupt gegen jedwede Bearbeitung merkwürdig rebellisch verhält. Durch kein Erdreich kommt man so schwer hindurch, als durch diese geologische Formation, über die sich die wunderbare, historische, Paris genannte, Formation gelagert hat; sobald man sich auf irgend eine Weise in diesen Alluvialboden hineinarbeitet, stößt man fortwährend auf Widerstand, auf flüssigen Thon, Wasserquellen, hartes Gestein, weichen und tiefen Schlamm. Die Spitzhaue rückt nur mühsam vor durch die Kalklagen, die mit dünnen Thonstreifen und schieferhaltigen, mit präadamitischen Austerschalen durchsetzten Schichten abwechseln. Zuweilen bricht sich ein Bach plötzlich Bahn durch ein angefangnes Gewölbe und stürzt auf die Arbeiter herab oder ein Mergelstrom bricht durch, mit der Wuth eines Wasserschwalls und zerbricht die stärksten Stützbalken wie Glas. Vor einiger Zeit, als man in dem Stadtviertel La Villette, ohne die Schifffahrt zu unterbrechen, noch den Kanal zu entleeren, die Sammelkloake unter den Kanal Saint-Martin hindurch leiten mußte, entstand ein Spalt im Boden des Kanals und das Wasser stürzte plötzlich in die Tiefe. Man mußte also durch einen Taucher das Loch, das nahe der Einfahrt lag, suchen lassen und es kostete Mühe, es wieder zu verstopfen. An andern Stellen, in der Nähe der Seine und sogar ziemlich weit vom Flusse, z. B. in Belleville, in der Grande-Rue und der Passage Lunière stößt man auf grundlosen Sand, in den man versinkt und im Handumdrehen verschwinden kann. Dazu die Gefahr, durch die Miasmen erstickt, durch Erdstürze und Senkungen verschüttet zu werden. Dazu der Typhus, der den Organismus langsam ruinirt. So ist in unsrer Gegenwart der Leiter der Pariser Kloakenbauten, Monnots gestorben, nachdem er die Galerie von Clichy gegraben, nebst einer Bank, um von dem Fluß Ourcq eine Hauptwasserleitung aufzunehmen, zu welchem Zwecke ein Graben in einer Tiefe von zehn Metern angelegt wurde; nachdem er allen Erdstürzen und fauligen, jauchigen Durchsickerungen zum Trotz die Bièvre von dem Boulevard de l’ Hôpital bis zur Seine überwölbt; nachdem er in vier Monaten, ohne sich des Nachts, ebenso wenig wie am Tage, Ruhe zu gönnen, von der Barrière Blanche bis zum Chemin d’ Aubervilliers, um Paris von den reißenden Wasserfluten des Montmartre zu befreien und diese, unweit der Barrière des Martyrs, neun Hektare bedeckenden Wasser abzuleiten, eine Kloakenlinie angelegt; und nachdem er, was noch nie da gewesen, ohne Graben in der Rue Barre-du-Bec unterirdisch eine Kloake, sechs Fuß unter der Erde, ausgeführt hatte. Ebenso starb der Ingenieur Duleau, nachdem er Kloaken von einer Gesamtlänge von dreitausend Metern in allen Theilen der Stadt, von der Rue Traversière-Saint-Antoine bis zur Rue de l’ Ourcine, überwölbt, nachdem er mittels des Zweigkanals de l’ Arbalète den Carrefour Censier-Mouffetard von den Regenüberschwemmungen befreit, nachdem er auf einem Packwerk und Beton in beweglichem Erdreich die Kloake Saint-Georges gebaut, nachdem er die schwierige und gefährliche Erniedrigung der Bettung des Zweigkanals Notre-Dame-de-Nazareth dirigirt. Von solchen Heldenthaten meldet kein Bulletin, obgleich sie doch wahrlich der Menschheit nützlicher sind, als die dummen Großthaten der Kriegshelden.

1832 waren die Kloaken noch lange nicht das, was sie heutzutage sind. Bruneseau hatte wohl eine ersprießliche Anregung gegeben, aber es bedurfte der Cholera, damit man sich zu dem großartigen Umbau entschloß, der seitdem ausgeführt worden ist. Es hört sich z. B. sonderbar an, daß noch 1821 ein Theil der Gürtelkloake, der sogenannte Große Kanal, in der Rue des Gourdes unbedeckt war. Erst 1823 fand die Stadt Paris in ihrer Kasse die zur Ueberwölbung dieses Greuels nothwendigen zweihundert sechsundsechzig tausend achtzig Franken sechs Centimes. Die drei Senkgruben von Le Combat, la Cunette und Saint-Mandé mit ihren Abzugsrinnen, ihren Apparaten und ihren Reinigungskanälen datiren erst aus dem Jahre 1836. Der Untergrund von Paris ist erst seit fünfundzwanzig Jahren umgewandelt und, wie schon gesagt, mit zehnmal so viel Kanälen bereichert worden.

Vor dreißig Jahren, um den 5. und 6. Juni 1832, waren die Kloaken an vielen Stellen noch dieselben wie vor Alters. Eine sehr große Menge Straßen, die gegenwärtig gewölbt, waren damals noch unbedeckt. Sehr oft sah man an den abschüssigen Stellen, wo eine Straße oder ein Platz sich nach zwei Seiten hin abdachte, große viereckige Gitter mit dicken Stangen, die von den Tritten der Passanten glänzend und wegen ihrer Glätte für Menschen und Thiere gefährlich geworden waren. 1832 zeigten noch in sehr vielen Straßen, Rue de l’ Etoile, Rue Saint-Louis, Rue du Temple, Rue Vieille-du-Temple, Rue Notre-Dame-de-Nazareth, Rue Folie-Méricourt, Quai-aux-Fleurs, Rue du Petit-Musc, Rue de Normandic, Rue Pont-aux-Biches, Rue des Marais, Faubourg Montmartre, Rue Grange-Batelière in den Champs-Elysées, Rue Jacob, Rue de Tournon eine Menge Kloaken frech ihre unversteckten Oeffnungen, ungeheure Lücken, um die man mit monumentaler Unverschämtheit Prellsteine aufgestellt hatte.

1806 waren die Kloaken in Bezug auf ihre Gesamtlänge nicht viel weiter gediehen als im Mai des Jahres 1663, nämlich fünftausenddreihundertachtundzwanzig Klafter. Nach Bruneseau, am 1. Januar 1832 waren es vierzigtausenddreihundert Meter. Von 1806 bis 1831 hatte man jährlich im Durchschnitt siebenhundertundfünfzig Meter hinzugefügt und seit jener Zeit sind jedes Jahr acht- und sogar zehntausend Meter Galerien, deren Mauerwerk aus kleinen, in hydraulischen Kalk eingelegtem Material besteht und auf einem Betongrund ruht. Rechnet man die Herstellungskosten eines Meters auf zweihundert Franken, so repräsentiren die jetzigen Pariser Kloaken einen Wert von achtundvierzig Millionen Franken.

Abgesehen von dem großen, nationalökonomischen Fortschritt, über den wir uns zu Anfang dieser Beschreibung ausgelassen haben, hängen noch wichtige Probleme der öffentlichen Hygiene mit der Kloakenfrage zusammen.

Paris liegt zwischen zwei Schichten, einer Wasser- und einer Luftschicht. Das Wasser, das in einer ziemlich großen Tiefe angesammelt, aber schon mittels zwei Bohrungen untersucht worden ist, wird von der, zwischen der Kreide und dem Jurakalk gelegnen grünen Sandsteinschicht, geliefert, die man sich als eine Scheibe von zweihunderttausend Meter Durchmesser vorstellen kann und die das Wasser einer Menge Flüsse und Bäche durchläßt, so daß also der artesische Brunnen von Grenelle Seine-, Marne-, Yomme-, Oise-, Aisne-, Cher-, Bienne- und Loirewasser enthält. Ist nun aber dieses Wasser gesund, da es vom Himmel kommt und durch die Erde geht, so ist dagegen die Pariser Luft, da sie von den Kloaken kommt, gesundheitsschädlich. Wenn die Stadt so schlecht riecht, so liegt das in erster Linie an den unterirdischen Miasmen. Die Luft über einem Misthaufen ist, wie man wissenschaftlich festgestellt hat, reiner als die Luft über Paris. Zu einer gegebnen Zeit wird man also, wenn der Fortschritt seine Schuldigkeit thut, die Maschinen vervollkommet sind und mehr Klarheit in den Köpfen herrschen wird, sich des Wassers zur Reinigung der Lust bedienen, d. h. die Kloaken waschen. Hierunter verstehen wir aber die Wiedererstartung des Unraths an die Erde. Von dieser einfachen Maßregel wird die menschliche Gesellschaft den Vortheil haben, daß die Noth der Armen abnehmen und die allgemeine Gesundheit gehoben werden wird. Gegenwärtig verbreiten sich die Krankheiten, deren Herd in Paris liegt, über einen Kreis, dessen Radius zweihunderttausend Meter lang ist und dessen Centrum das Louvre bezeichnet.

Man könnte also sagen, daß seit zehn Jahrhunderten die Kloake eine Krankheit ist, an der Paris leidet, daß sie sein Blut vergiftet. In dieser Hinsicht hat der Instinkt des Volkes stets das Richtige getroffen. Die Beschäftigung des Kloakenreinigers war ehemals ebenso gefährlich und dem Volke fast ebenso widerwärtig, wie das Handwerk des Abdeckers, das so lange allgemein verabscheut und dem Henker überlassen wurde. Man mußte einen hohen Lohn zahlen, wollte man einen Maurer bewegen, sich in die dumpfige Tiefe hinabzuwagen; es hieß sprüchwörtlich: In die Kloaken und in das Grab hinuntersteigen ist dasselbe und eine Unzahl häßlicher Erzählungen nähren die Furcht vor dem unterirdischen Labrinth, in dem die Revolutionen der Erdrinde, wie die Revolutionen der Menschen ihre Spuren hinterlassen haben, wo man neben vorsintflutlichen Fossilien und Muscheln Marat’sche Lumpen finden kann.

In den Regionen des Koths

Ueberraschungen in den Kloaken

In den Pariser Kloaken also befand sich jetzt Jean Valjean.

Auch eine Aehnlichkeit von Paris mit dem Meere: Wer in diese beiden Tiefen taucht, kann darin verschwinden.

Es war ein merkwürdiger Uebergang. Noch mitten in der Stadt, war Jean Valjean doch außerhalb derselben und im Umsehen, in der Zeit, die Jemand braucht, einen Deckel hochzuheben und wieder niederzulassen, war er aus dem hellsten Tageslicht in die tiefste Finsterniß, aus dem furchtbarsten Getöse in die lautloseste Stille, aus dem wildesten Getümmel des Lebens in die Ruhe des Grabes übergegangen und vermöge einer noch außerordentlicheren Fügung als diejenige, die ihn ehedem in der Rue Polonceau gerettet hatte, erfreute er sich nach der eben überstandenen, gräßlichen Gefahr der vollkommensten Sicherheit.

So plötzlich in einen Keller zu versinken, aus der Straße entkommen, wo der Tod in tausenderlei Gestalt umging, und in ein Grab hinunterzusteigen, wo das Leben gerettet werden konnte, kam ihm einen Augenblick so seltsam vor, daß er wie betäubt war und erstaunt aufhorchte. Der Himmel hatte ihm in seiner Güte gewissermaßen einen hinterlistigen Streich gespielt, indem er ihm die rettende Fallthür zeigte.

Leider machte der Verwundete nicht die geringste Bewegung und Jean Valjean wußte nicht, ob er da einen Lebenden oder einen Toten in die Grube getragen hatte.

Das erste Gefühl, das er empfand, war das der Blindheit. Eine Zeit lang sah er plötzlich gar nichts. Zugleich kam es ihm vor, als sei er auch taub geworden. Er hörte nichts mehr. Der rasende Mordlärm, der einige Fuß über ihm tobte, gelangte, wie wir schon erklärt haben, wegen der Dicke der Erdschicht, die dazwischen lag, nur gedämpft und undeutlich zu ihm, wie ein Brausen in einem tiefen Abgrund. Nur daß er festen Boden unter seinen Füßen fühlte, aber mehr brauchte er ja nicht. Er streckte also erst den einen, dann den andern Arm aus, betastete das Gemäuer auf beiden Seiten und erkannte, daß der Gang eng, und, da er ausglitt, daß die Fliesen, auf denen er stand, feucht waren. Nun setzte er einen Fuß vorsichtig weiter, aus Furcht in ein Loch, eine Senkgrube, irgend eine Vertiefung zu stürzen, fand aber, daß die Pflasterung ununterbrochen war und errieth an dem widerwärtigen Geruch, der ihm von allen Seiten entgegenströmte, an was für einem Ort er sich befand.

Nach Verlauf einer kurzen Spanne Zeit war seine Blindheit verschwunden. In das Loch, durch das er hereingekommen, fiel ein wenig Tageslicht und seine Augen gewöhnten sich allmählig an die Dunkelheit. Er fing an, einige Dinge zu unterscheiden. Der Gang, in den er auf seiner Flucht gerathen war, endete hinter ihm mit einer Mauer, war also eine Art Sackgasse. Vor sich sah er eine andre Mauer, eine solche, wie die Dunkelheit sie bildet. Denn das Licht, das durch das Loch hereinfiel, reichte bloß zehn bis zwölf Schritte von der Stelle, wo sich Jean Valjean befand, und beleuchtete mit seinem fahlen Schein kaum einige Quadratmeter der feuchten Wände, Weiterhin herrschte undurchdringliche Finsterniß und sich dort hineinzuwagen war so gut, als stürzte man sich in einen Abgrund. Indessen blieb Jean Valjean nichts Andres übrig, als nach dieser Seite hin vorwärts zu gehen und zwar mußte er sich beeilen. Er sagt sich, so gut wie er sich das unter den Steinen, gesehen hatte, ebenso gut könnte es auch von den Soldaten bemerkt werden und von diesem Zufall hing alles ab. Sie konnten ebenfalls in den Schacht hin untersteigen und den Gang durch suchen. Es war also keine Minute zu verlieren. Er hob also Marius, den er, um sich zu orientiren, auf die Erde gelegt hatte, auf, lud ihn sich wieder auf die Schultern und schritt kühn in die Dunkelheit hinein.

In Wirklichkeit stand es mit der Rettung lange nicht so gut, wie Jean Valjean glaubte. Vielleicht warteten ihrer Gefahren andrer Art und nicht minder furchtbare. Nach dem Sturm der Schlacht, eine Höhle voller Miasmen und unbekannter Schrecknisse. Jean Valjean war blos aus einem Höllenkreis in einen andern gekommen.

Als er fünfzig Schritte zurückgelegt hatte, drängte sich ihm eine schwierige Frage auf, der Gang war zu Ende; er mündete in einen andern, der ihn senkrecht durchschnitt. Jean Valjean mußte also eine Wahl zwischen zwei Wegen treffen. Sollte er links oder rechts gehen? Und wie sollte er sich weiterhin, wie sich überhaupt in dem schwarzen Labyrinth zurecht finden? Ein Orientirungsprinzip freilich bot sich ihm von selber dar. Das Labyrinth war dem Flusse zugeneigt. Ging er also immer abwärts, so mußte er schließlich an die Seine gelangen.

Dies begriff Jean Valjean auf der Stelle.

Er vermuthete, daß er sich in der Markthallenkloake befinde, und sagte sich, wenn er sich links hielte und immer nach unten gehe, so würde er vor Ablauf einer Viertelstunde an irgend einer Kloakenmündung zwischen dem Pont-au-Change und dem Pont-Neuf ankommen, d. h. er würde am hellen lichten Tage in der belebtesten Gegend von Paris aus der Erde hervortauchen. Wo möglich kam er mitten auf einem öffentlichen Platze ans Tageslicht. Großes Staunen über die zwei mit Blut bedeckten Menschen, neugierige Fragen, großer Auflauf, Herbeikunft pflichteifriger Schutzleute: Man wurde arretirt, ehe man kaum herausgekommen war. Es war also viel besser, er ging tiefer in den unterirdischen Straßenwirrwarr hinein, trotz der Dunkelheit, und überließ es der Vorsehung, die Frage, wie er hinauskommen sollte, zu lösen.

Er kehrte also wieder um und ging aufwärts, den rechten Arm des Querganges entlang.

Als er hinter der Ecke des ersten Ganges angekommen war, verlor er das Licht aus den Augen und wurde wieder blind, denn völlige Finsterniß umgab ihn hier. Er schritt trotzdem weiter und zwar so schnell, wie es ihm irgend möglich war, indem er mit der einen Hand sich an der Wand entlang tastete. Mit der andern hielt er Marius fest, dessen beide Arme er sich um den Hals gelegt hatte. Marius Wange berührte die seinige, ja klebte daran, denn sie war mit Blut übergossen. Er fühlte, wie ein lauer Strom über ihn niederrieselte und durch seine Kleider hindurchdrang. Indessen bewies eine feuchte Wärme an seinem Ohr, das der Mund des Verwundeten berührte, daß noch Athem und folglich Leben da war. Die Galerie, die er jetzt entlang ging, war weniger schmal als die erste, aber es ließ sich schwerer darin gehen. Das Regenwasser vom vergangenen Tage war noch nicht abgelaufen und bildete in der Mitte einen kleinen Bach, so daß er sich dicht an der Mauer halten mußte, um nicht im Wasser waten zu müssen.

Indessen, da hier und da das Tageslicht durch irgend eine Oeffnung drang und das dunstige Dunkel etwas erhellte oder seine Augen sich mehr der Umgebung anpaßten, so konnte er doch etwas sehen und bald die Wand, an der er sich weiter fühlte, bald die Gewölbe, unter denen er entlang ging, erkennen. Die Pupille dehnt sich in der Dunkelheit aus und lernt das Licht finden, so wie die Seele sich im Unglück erweitert und Gott findet.

Sich hier unten zu orientieren war keine leichte Sache.

Die Lage der Kloaken ist wesentlich bedingt durch die Richtung der Straßen in der Oberstadt. Nun gab es aber in dem damaligen Paris zweitausendzweihundert Straßen und hätten die Kloaken eine einzige, gerade Linie gebildet, so wäre diese dreiundvierzigtausend Meter lang gewesen.

Jean Valjean fing gleich mit einem Irrthum an. Er glaubte, er befinde sich unter der Rue Saint-Denis und es war unangenehm für ihn, daß dies nicht der Fall war. Unter der Rue Saint-Denis liegt nämlich eine alte, steinerne Kloake, die aus der Zeit Ludwigs XIII. stammt und sich in gerader Richtung bis zu dem Sammelkanal, die den Namen die große Kloake führt, erstreckt und nur ein einziges Knie bildet, nur einen einzigen Zufluß empfängt: Die Kloake Saint-Martin. Aber die Galerie der Petite-Truanderie, deren Eingang unweit des Wirtshauses Corinthe lag, hat nie mit dem Untergrund der Rue Saint-Denis in Verbindung gestanden, sondern sie mündet in die Kloake Montmartre und nach der Richtung hin hatte sich Jean Valjean gewandt. Dort fehlte es nicht an Gelegenheiten, sich gründlich zu verirren. Die Kloake Montmartre ist nämlich eine der verworrensten des alten Netzes. Zum Glück hatte Jean Valjean die Kloake der Markthallen, die noch labyrinthischer war, hinter sich gelassene; aber vor ihm lag noch so manche Straßenecke, wo er in Verlegenheit gerathen konnte; erstens, links die große Kloake Plátrière, deren vielfach verschlungene T- und Z-förmige Arme Anlaß genug zum Kopfzerbrechen geben konnten und die unter dem Postgebäude und unter der Rotunde der Getreidehalle bis zur Seine geht, wo sie in zwei schräge Arme endet; zweitens, rechts den großen, krummen Korridor mit seinen drei Zinken, die an dem andern Ende ohne Verbindung sind; drittens, links das Zweigsystem des Mail, das beinah am Anfang die Gestalt einer Gabel annimmt und sich in vielen Zickzacken nach der großen Krypta des Louvre begiebt, die ihrerseits nach allen Richtungen Zweige entsendet; endlich rechts der ausgangslose Gang unter der Rue des Jeuneurs, ganz abgesehen von vielen kleineren Einbiegungen auf dem Wege nach der Gürtelkloake, der einzigen, in der Jean Valjean zu einem so weit entfernten Ausgang gelangen konnte, daß er in Sicherheit gewesen wäre.

Hätte Jean Valjean auch nur eine Ahnung von den eben angedeuteten Thatsachen gehabt, so würde er bei der bloßen Betastung der Mauer gemerkt haben, daß er sich nicht in der unterirdischen Galerie der Rue Saint-Denis befand. Statt der ehemals gebräuchlichen Quadersteine, des alten, stolzen und sogar noch in den Kloaken königlichem Architekturstils mit der Bettung und den Steinlagen aus Granit und fettem Kalkmörtel, wovon die Klafter achthundert Livres kostete, hatte er das billigere, moderne Material unter seiner Hand gefühlt, den in hydraulischen Mörtel gesetzten Mühlenkalkstein aus einer Betonlage, das spießbürgerliche Mauerwerk aus sogenanntem kleinen Material; aber alle diese charakteristischen Merkmale waren unserm Jean Valjean unbekannt.

Er ging bloß immer vor sich hin, voller Sorgen, aber mit ruhiger Besonnenheit, aufs Geratewohl, dem Zufall, d. h. der Vorsehung vertrauend.

Allmählich allerdings wandelte ihn Furcht an, drang die Nacht, die ihn umgab, auch in seine Seele ein. Befand er sich doch an einem räthselvollen Ort. Alle die Kreuzungen, Kniee, Windungen konnten Schwindel erregen. Wie schauerlich, so planlos durch diese Finsterniß irren zu müssen! Jean Valjean war gezwungen sich zurecht zu finden, ohne die Wege sehen zu können. In diesem unbekannten Wirrwarr konnte jeder Schritt, den er that, sein letzter sein. Wie würde er blos hinauskommen? Ob er überhaupt einen Ausgang finden würde? Und bei Zeiten? Es war ja gerade, als stecke er in einem großen, steinernen Schwamm und solle sich einen Weg nach der Außenseite suchen. Ob er nicht vielleicht in ein Labyrinth hineingerieth, aus dem er sich überhaupt nicht mehr herausfinden würde? Wie wenn Marius sich verblutete und er selber vor Hunger umkäme? Vielleicht wurden sie auch der Sammlung von Skeletten beigesellt, die sich hier in Menge herumtreiben mußten! Alle diese Fragen beschäftigten seinen Geist, aber beantworten konnte er sie nicht.

Plötzlich passirte ihm etwas Merkwürdiges. Als er es am wenigsten erwartete und nachdem er doch immer geradeausgegangen war, bemerkte er, daß es nicht mehr aufwärts ging; das Wasser kam von hinten statt von vorn und er fühlte, daß er abwärts stieg. Was sollte das bedeuten? Näherte er sich jetzt wieder der Seine? Das war sehr gefährlich, aber die Umkehr konnte noch verhängnißvoller für ihn werden. Er marschirte also weiter.

Er ging aber keineswegs auf die Seine zu. Der Boden von Paris fällt auf dem rechten Flußufer an der einen Stelle nach zwei Seiten hin ab und ergießt seine Gewässer einerseits in die Seine, andrerseits in die große Kloake. Der Kamm dieser Wasserscheide bildet eine sehr unregelmäßige Linie. Die höchste Spitze, diejenige, wo der Abfluß sich theilt, liegt in der Kloake Sainte-Avoye jenseit der Rue Michel-le-Comte, in der Kloake des Louvre, unweit der Boulevards und in der Kloake Montmartre unweit der Centralmarkthalle. An diesem Punkte also war Jean Valjean angelangt und wanderte auf die Gürtelkloake zu, befand sich also auf dem rechten Wege, was er freilich nicht wußte.

Jedesmal, wenn er an einen Zweiggang kam, betastete er die Ecken, und wenn die Oeffnung, die er ihm darbot, weniger breit war, als der Korridor, den er entlang schritt, so ließ er ihn unbeachtet. Er ging von der richtigen Ansicht aus, daß jeder schmalere Weg keinen Ausgang haben könne und ihn nur von seinem Ziele entfernen würde. Auf diese Weise entging er denn auch der Gefahr, in die vier oben beschriebnen Labyrinthe zu gerathen.

In einem gewissen Augenblick merkte er, daß er aus demjenigen Theil der Stadt, wo der Aufruhr jedwedem Verkehr ein Ende gemacht hatte, herausgekommen war und sich wieder in einem Viertel befand, wo das moderne Leben pulsierte. Das erkannte er an einem gewissen donnerartigen, wenn auch stark abgeschwächten Geräusch über seinem Kopfe, dem Rumor der Wagen.

So wanderte er ungefähr eine halbe Stunde, wenigstens soweit er selber es berechnen konnte und hatte sich noch nicht einfallen lassen, sich auszuruhen, nur daß er Marius jetzt mit der andern Hand festhielt. Die Dunkelheit, die ihn umgab, war noch undurchdringlicher als vorher, aber dieser Umstand beruhigte ihn.

Auf ein Mal sah er vor sich einen Schatten. Er zeichnete sich auf einem röthlichen Grunde ab, den der Boden zu seinen Füßen bildete und derselbe rothe Schein erhellte das Gewölbe über seinem Kopfe und die klebrigen Wände des Ganges. Hoch erstaunt wandte er sich um.

Hinter ihm, in demjenigen Theile des Ganges, den er eben durchschritten hatte, an einem Punkte, der ihm sehr fern vorkam, flammte in der Dunkelheit eine Art fürchterlicher Stern, der ihn anzusehen schien.

Es war die Polizei, deren Stern in der Kloake aufgegangen war.

Hinter dem Licht bewegten sich acht bis zehn schwarze, aufrechte, undeutliche, fürchterliche Gestalten.

Die Erklärung

Am 6. Juni wurden auf höheren Befehl die Kloaken abgesucht. Man fürchtete, die besiegten Insurgenten würden sie als Zufluchtsort benutzen und so ließ der Polizeipräsident Gisquet eine Streife in dem geheimen Paris unternehmen, während der General Bugeaud die öffentlichen Straßen säuberte, eine zwiefache Operation, die eine doppelte Entfaltung der zur Aufrechterhaltung der Ordnung bestimmten Streitkräfte, der Armee und der Polizei, erheischte. Drei Pelotons Schutzleute und Kloakenreiniger durchstreiften den Untergrund von Paris, der eine auf dem rechten, der zweite auf dem linken Ufer, der dritte in der Altstadt.

Die Schutzleute waren mit Karabinern, Totschlägern, Degen und Dolchen bewaffnet.

Die Laterne, deren Licht auf Jean Valjean geworfen wurde, war die der Runde des rechten Ufers.

Diese Truppe hatte die krumme Galerie und die drei Sackgassen, die unter der Rue du Cadran liegen, abgesucht. Während sie sich in diesen aufhielt, war Jean Valjean auf seinem Wege am Eingang der Galerie vorbeigekommen, hatte gesehen, daß sie schmaler war als der Hauptgang, und war nicht hineingegangen. Aber die Polizisten glaubten, als sie aus der Galerie du Cadran wieder zurückkehrten, nach der Gürtelkloake hin ein Geräusch von Schritten zu hören und irrten sich auch nicht. Deshalb hielt nun der Sergeant, der den Trupp kommandirte, seine Laterne in die Höhe, und Alle spähten in die Dunkelheit hinein, nach der Seite, woher das Geräusch gekommen war.

Hier durchlebte Jean Valjean wieder einmal einige Augenblicke unbeschreiblicher Angst.

Glücklicherweise war er den Polizisten gegenüber im Vortheil. Er sah sie, sie aber ihn nicht, weil sie im Lichte standen und er weit ab von ihnen, im Dunkel. Er blieb stehen und kauerte sich an der Wand nieder.

Uebrigens drang ihm, was da hinter ihm passirte, nicht vollständig ins Bewußtsein. In Folge der Schlaflosigkeit, des Mangels an Nahrung, der Aufregung, befand er sich in einem halb traumhaften Zustand. Er sah wohl in der Ferne einen grellen Schein, um den sich Schattenbilder bewegten; was die Erscheinung aber bedeutete, darüber nachzudenken, reichte seine Geisteskraft augenblicklich nicht aus.

Da Jean Valjean stehen geblieben war, so hörte auch das Geräusch seiner Schritte auf und so kam es, daß die Polizisten horchten und nichts hörten. Ebenso strengten sie ihre Augen vergeblich an, sie sahen nichts. Da berathschlagten sie mit einander.

An der betreffenden Stelle der Kloake Montmartre war damals eine Art Platz, den man seitdem von dem Plan des Pariser Untergrundes hat wegfallen lassen, weil sich daselbst nach starken Gewittern ein See zu bilden pflegte. Auf diesem Platze also war Raum genug für die ganze Truppe.

Jean Valjean sah, wie die Gestalten einen Kreis bildeten. Die Doggenköpfe näherten sich einander und flüsterten. Das Ergebniß der Berathung war, daß man sich geirrt, nichts gehört, Niemand gesehen habe! Statt zwecklos in der Gürtelkloake die Zeit zu vertrödeln, thäte man besser, eiligst umzukehren und sich nach der Kirche Saint-Merry zu begeben. Wenn irgendwo, so würde man in dem Viertel Arbeit bekommen und »Bousingots« [Fußnote] abfassen.

Von Zeit zu Zeit nehmen die politischen Parteien Aendrungen mit ihrem Schimpfwörterlexikon vor. So bevorzugte man 1832 zur Bezeichnung der weit nach links vorgeschrittnen Republikaner das Wort Bousingot, indem »Jakobiner« schon abgenutzt und »Demagoge,« das seitdem so ausgezeichnete Dienste geleistet hat, noch nicht aufgekommen war.

Der Sergeant wandte sich also mit seinen Leuten nach links, der Seine zu. Wären sie auf den Gedanken verfallen, sich in zwei Trupps zu theilen, und nach beiden Gegenden weiter zu gehen, so war Jean Valjean unrettbar verloren. Wahrscheinlich aber lauteten, Angesichts der Möglichkeit, daß man auf stärkere Abteilungen Insurgenten stoßen könnte, die Instruktionen der Polizeipräfektur dahin, daß die ausgesandten Trupps sich nicht zerstückeln sollten. Die Runde setzte sich also wieder in Bewegung, indem sie Jean Valjean hinter sich ließ. Von alle dem sah dieser weiter nichts, als den plötzlichen Rückzug der Laterne.

Ehe er aber definitiv abzog, schoß der Sergeant, um das Gewissen der Polizei zu beruhigen, seinen Karabiner nach der verdächtigen Richtung hin, ab. Der Wiederhall rollte von Gewölbe zu Gewölbe wie ein Gekoller in dem Leibe des Titanen, den die Götter lebendig unter einem Berg begruben. Ein Stück Mörtel, das in den Rinnstein fiel und das Wasser in geringer Entfernung von Jean Valjeans Standort in Bewegung setzte, zeigte ihm, daß die Kugel das Gewölbe über seinem Kopf getroffen hatte.

Taktmäßige und langsame Schritte hallten einige Zeit durch das Gewölbe, indem sie durch die allmählige Zunahme der Entfernung schwächer und schwächer wurden; die schwarzen Gestalten tauchten immer tiefer in die ferne Dunkelheit hinein; der Lichtschein schwankte von dannen, indem er an dem Gewölbe einen rothen Halbkreis bildete, der fortwährend abnahm und endlich verschwand; es trat wieder tiefe Stille und dichte Finsterniß ein. Aber Jean Valjean wagte nicht sich zu rühren, sondern schaute und horchte noch lange nach der verschwundnen Phantompatrouille.

Der Verfolgte

Man muß der damaligen Polizei die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie selbst in den Zeiten, wo die Wellen der Politik am höchsten gingen, doch unentwegt ihre Pflicht als Hüterin der öffentlichen Ordnung erfüllte. Ein Aufruhr war in ihren Augen kein Vorwand den Verbrechern die Zügel schießen zu lassen und die Sicherheit der Bürger zu vernachlässigen, weil die Regierung in Gefahr sei. Der gewöhnliche Dienst litt nicht darunter, wenn die Polizei plötzlich noch so viel außergewöhnliche Arbeit bekam. Mochten auch Ereignisse von unberechenbarer Tragweite vor sich gehen, stand man auch einer möglichen Staatsumwälzung gegenüber, so kehrte man sich nicht an die Insurgenten und Barrikaden, sondern setzte ruhig die Jagd auf Mörder und Spitzbuben fort.

Ein derartiger Fall trug sich auch am Nachmittag des 6. Juni am rechten Ufer der Seine, ein wenig jenseit der Invalidenbrücke zu.

An dieser Stelle sah man zwei, durch eine gewisse Entfernung von einander getrennte Männer, die sich gegenseitig zu beobachten schienen. Der voranging, bemühte sich die Entfernung zu vergrößern, während der Andre näher an ihn heranzukommen suchte.

Das Spiel der Beiden erinnerte an eine Partie Schach. Keiner schien sich zu beeilen, Beide gingen langsam, als fürchtete Jeder, wenn er seinen Schritt beschleunigte, würde der Andre noch schneller gehn.

Abgesehen von dem besonderen Gebahren erinnerten die Beiden noch in Bezug auf ihre äußere Erscheinung an einen verfolgten Marder und an eine verfolgende Dogge. Der Vorderste war schmächtig und von schwächlichem Aussehen, während der Andre, ein Mann von hohem Wuchse und mit starkem Nacken, ein gefährlicher Gegner sein mußte.

Dieses Unterschiedes war sich der Erste auch wohl bewußt und deshalb suchte er gewiß von ihm loszukommen. Man konnte ihm aber an den Augen anmerken, daß er über die Rolle, die er spielen mußte, eine grenzenlose Wuth empfand.

Das Ufer war völlig menschenleer; ja sogar auf den hier und da angebundnen Kähnen waren weder Schiffer noch Lastträger zu sehen.

Man konnte die beiden Männer nur von dem andern Flußufer aus leicht bemerken und Jeder, der sie aus dieser Entfernung beobachtete, mußte unfehlbar zu dem Schlusse gelangen, daß der Eine, der Kerl mit der armseligen, zerlumpten Bluse, mit dem scheuen und unheimlichen Blick den untersten Schichten der Gesellschaft und der Andre mit seinem bis oben zugeknöpften Rock der Beamtenwelt angehören müsse.

Unsere Leser würden vielleicht die Beiden erkennen, wenn sie dieselben aus größerer Nähe sehen könnten.

Was bezweckte der Verfolger?

Wahrscheinlich hatte er es sich in den Kopf gesetzt, er wolle dem Andern zu einer wärmern Kleidung verhelfen.

Wenn ein von dem Staate eingekleideter Mann einen Lumpenmatz verfolgt, so will er bloß, daß der Staat dem armen Kerl diesen Gefallen thut. Leider sorgt er aber dabei, daß ein unliebsamer Unterschied zwischen ihm und dem Andern gemacht wird. Trägt er einen blauen Rock, auf den er stolz ist, so wünscht er, daß Jener eine rothe Jacke bekommt, die zu Tragen weder ein Vergnügen noch eine Ehre ist.

Der Purpur ist nicht blos eine Auszeichnung der Könige, und es ist die Vermuthung erlaubt, daß der Verfolgte einem unangenehmen Purpur aus dem Wege gehen wollte.

Wenn der Andre ihn noch vorangehen ließ und ihn nicht fest nahm, so lag diesem schonenden Verfahren offenbar nur die Hoffnung zu Grunde, der Verfolgte werde sich vielleicht zu einem Stelldichein mit Leuten desselben Gelichters begeben, so daß der Fang noch besser ausfallen würde.

Daß diese Vermuthung sehr viel für sich hatte, bewies der Umstand, daß der zugeknöpfte Mann im Vorbeigehn einem Droschkenkutscher, der oben auf dem Quai hielt, winkte. Dieser merkte auch gleich, was unten am Wasser zwischen den Beiden vorging, machte Kehrt und fuhr langsam hinter ihnen her. Von diesem ganzen Vorgang merkte der verdächtige Lumpenkerl nichts.

Die Droschke fuhr also unter den Bäumen der Champs-Elysées dahin und man konnte den Kutscher, der mit dem Oberleibe und der Peitsche den Rand der Brüstungsmauer überragte, von unten sehen.

Eine der geheimen Instruktionen der Polizei enthält den Paragraphen: »Dafür sorgen, daß man erforderlichen Falles eine Droschke zur Verfügung hat.«

Indem sie also Beide mit meisterhaftem, strategischen Talent manövrirten, gelangten sie an eine Rampe, die vom Quai bis zum Wasser hinunter ging und die es den von Passy kommenden Kutschern erlaubte, an den Fluß heranzufahren und ihre Pferde zu tränken. Diese Rampe ist später der Symmetrie zu Liebe beseitigt worden. Mögen die armen Droschkengäule vor Durst verschmachten, wenn nur das Auge sein ästhetisches Wohlgefallen hat.

Man konnte vermuthen, daß der Blusenmann die Rampe hinaufsteigen und versuchen würde, sich in dem Gewühl der sehr belebten und mit Bäumen bepflanzten Champs-Elysées den Augen seines Verfolgers zu entziehen. Allerdings war da oben auch die Polizei stark vertreten, so daß der Andre leicht Beistand finden konnte.

Diese Stelle des Quai befindet sich unweit des Hauses, das von dem Oberst Brack im Jahre 1824 von Moret nach Paris gebracht wurde und das als das Haus Franz I.@ bekannt ist. Ganz in der Nähe ist ein Wachtposten.

Zur höchsten Ueberraschung des Verfolgers benutzte sein Opfer die gute Gelegenheit nicht, sondern ging weiter den Fluß entlang.

Auf diese Weise gerieth er aber in eine kritische Lage.

Was mochte er bloß vorhaben, es sei denn, daß er in die Seine springen wollte?

Er konnte nun nicht mehr auf den Quai hinaufgelangen, da keine Rampe, keine Treppe mehr kam. Außerdem war er nicht mehr weit von der Stelle, wo die Seine ein Knie bildet und sich nach der Pont d’ Jéna wendet. Dort endet nämlich der zwischen dem Wasser und der Brüstungsmauer gelegne Streifen in eine Landzunge, die in den Fluß hineinragt. Er hatte dann die steile Mauer zu seiner Rechten, den Fluß zur Linken und vor sich, die Polizei hinter sich und war unrettbar verloren.

Allerdings war die Landzunge dem Blick durch einen sechs bis sieben Fuß hohen Haufen Bautrümmer entzogen. Aber konnte der Mann sich einbilden, daß er hier einen Versteck finden würde? Das Rettungsmittel wäre doch gar zu kindisch gewesen. Daran dachte er auch gewiß nicht, denn so naiv sind die Diebe und Strolche nicht.

Der Trümmerhaufen bildete am Rande des Wassers eine Erhöhung, die sich wie ein Vorgebirge bis zu der Quaimauer erstreckte.

Als der Verfolgte hier angekommen war, bog er um die Erhöhung herum, so daß er von dem Andern nicht mehr gesehen wurde.

Auf diese Weise verlor er auch seinen Verfolger aus den Augen und dieser benutzte die Gelegenheit, entsagte aller Verstellung und beschleunigte seine Schritte. So kam er wenige Augenblicke nach dem Andern bei dem Schutthaufen an, ging herum und blieb erstaunt stehen. Der Mann, auf den er Jagd machte, war nirgends mehr zu sehen!

Von dem Trümmerhaufen bis zum Wasser waren es aber kaum noch dreißig Schritt und dort reichte die Brüstungsmauer in den Fluß hinein.

In die Seine konnte der Flüchtling nicht gesprungen, an der Mauer nicht emporgeklettert, sein, sonst hätte der Andre es gesehen. Was in aller Welt war aus ihm geworden?

Der Mann mit dem zugeknöpften Rock ging bis an das äußerste Ende der Landzunge und blieb hier mit geballten Fäusten stehen, indem er seine Augen forschend umherschweifen ließ. Plötzlich schlug er sich gegen die Stirn. An der Stelle, wo das Land aufhörte und das Wasser anfing, bemerkte er nämlich eine breite und niedrige, oben halbbogenförmige, mit einem mächtigen Schloß und massiven Angeln versehene Gitterthür, die ebensowohl nach dem Fluß wie nach dem Ufer hinaus lag und aus der eine schwärzliche Flut sich in die Seine ergoß.

Hinter den dicken, rostigen Stangen sah man eine Art gewölbten, dunklen Korridor.

Der Geprellte kreuzte die Arme und maß die Thür mit einem vorwurfsvollen Blick.

Da dieser Blick aber keinen Eindruck auf die Thür machte, so stieß und schüttelte er sie kräftig, aber ohne besseren Erfolg; sie leistete einen sehr soliden Widerstand. Vermuthlich war sie eben geöffnet worden, obgleich kein Geräusch lautbar geworden war, ein merkwürdiger Umstand für ein so verrostetes altes Ding; jedenfalls aber war sie wieder zugeschlossen worden und hieraus folgte, daß Derjenige, der sie aufgemacht hatte, nicht einen Dietrich, sondern einen Schlüssel besaß.

Diese Schlußfolgerung zog der genasführte Verfolger auch sofort. Er rüttelte wüthend an der widerspenstigen Thür und rief:

»Das ist doch stark! Hat der Halunke einen obrigkeitlichen Schlüssel!«

Er beruhigte sich aber bald und concentrirte, indem er mit einer gewissen Selbstverspottung den Kopf schüttelte, die Fülle seiner Gedanken in die kurze Formel:

»Nein, so was, so was!«

Dann stellte er sich in der unbestimmten Hoffnung, der Mann werde wieder herauskommen oder Andre würden ihm nachfolgen, hinter dem Schutthaufen auf die Lauer und wartete geduldig wie ein Hühnerhund.

Die Droschke ihrerseits, die sich ganz nach ihm richtete, hielt oben gleichfalls an. Der Kutscher, der voraussah, daß der Aufenthalt lange währen würde, nahm die Gelegenheit wahr und hängte seinem Pferde den altüblichen Hafersack um den Hals. Es war ein merkwürdiges Schauspiel für die weniger Passanten des Pont d’Iéna, das diese unbewegliche Gruppe, die Droschke oben auf dem Quai und der ruhig dastehende Mann unten am Flusse ihnen darbot.

Auch er trägt sein Kreuz

Jean Valjean hatte also seinen Marsch wieder aufgenommen und nicht wieder Halt gemacht.

Es war ein überaus beschwerlicher Marsch. Das Niveau der Gewölbe ist verschieden; ihre mittlere Höhe beträgt ungefähr fünf Fuß sechs Zoll und ist nach der Größe eines Mannes berechnet worden; Jean Valjean aber mußte, um nicht mit Marius oben anzustoßen, gekrümmt gehen; außerdem sah er sich jeden Augenblick genöthigt, sich zu bücken, sich wieder aufzurichten, unausgesetzt die Wände zu betasten. Da das Gemäuer aber feucht und klebrig war, so hatte er weder für die Hände, noch für die Füße sichre Stützpunkte, so daß er beständig Gefahr lief, in den ekelhaften Koth hineinzufallen. Dazu kam, daß die Tageslöcher sich recht rar machten und recht wenig und fahles Licht hereinließen; meistenteils wanderte er in dichter Finsterniß. Dazu war er hungrig und vor allen Dingen durstig; aber das Wasser, das ihn hier überall umgab, glich in einer Hinsicht dem des Meeres; es war nicht trinkbar. Seine ungeheure Körperkraft, der auch das Alter, keusch und mäßig, wie er war, nur geringen Eintrag gethan hatte, fing allmählich an nachzulassen; er fühlte Müdigkeit und in Folge dessen kam ihm seine Last noch schwerer vor. Marius aber war schon deshalb nicht leicht zu tragen, weil er sich ganz regungslos verhielt, ja vielleicht schon tot war. Jean Valjean hielt ihn so, daß die Brust nicht gedrückt wurde und der Athem frei aus und eingehen konnte. Endlich verursachten ihm noch die Ratten, die ihm zwischen den Beinen hindurch huschten, ein unangenehmes Gefühl. Eine von ihnen biß ihn sogar in ihrer Angst. Nur von Zeit zu Zeit erfrischte ihn Luft, die durch die Kloakenmündungen hereinblies.

Es mochte drei Uhr Nachmittags sein, als er in der Gürtelkloake ankam.

Er wunderte sich anfangs über die plötzliche Verbreiterung des Weges. Denn er befand sich mit einem Male in einer Galerie, deren Wände er nicht zu gleicher Zeit mit beiden Händen berühren konnte, und unter einem Gewölbe an das er nicht mit dem Kopfe heranreichte. Die große Kloake ist nämlich acht Fuß breit und sieben Fuß hoch.

An der Stelle, wo die Kloake Montmartre mit der Großen Kloake wieder zusammentrifft, bilden zwei andre unterirdische Galerieen, die der Rue de Provence und der Rue de l’Abattoir, einen Kreuzweg. Die Entscheidung zwischen diesen vier Wegen wäre auch einem Andern, der in diesen Regionen besser Bescheid gewußt hätte, herzlich schwer gefallen. Jean Valjean’s Wahl fiel auf die breiteste Galerie, nämlich die Gürtelkloake. Aber hier war er wieder vor die Frage gestellt, ob er aufwärts oder abwärts steigen sollte. Er sagte sich, es sei Gefahr im Verzuge und er müsse um jeden Preis an die Seine kommen, also in andern Worten, abwärts gehen. Dementsprechend wandte er sich denn nach links.

Zu seinem Glück. Denn es wäre ein Irtthum, wenn man glauben wollte, die Gürtelkloake habe zwei Ausgänge, den einen bei Bercy, den andern nach Passy hin, und sie ziehe sich, wie ihr Name zu bedeuten scheint, um den ganzen, auf dem rechten Seineufer gelegnen Theil von Paris herum. Die große Kloake, die, wie wir hier wieder in Erinnerung bringen müssen, nichts Andres ist, als der ehemalige Bach Ménilmontant, endet, wenn man aufwärts an ihr entlang steigt, in eine Sackgasse, d. h., man kommt an den Fuß des Hügels Ménilmontant, wo die Quelle des ehemaligen Baches entspringt, an den alten Ausgangspunkt der Kloake. Sie steht nicht in direkter Verbindung mit der Verzweigung, die von dem Stadtviertel Popincourt an, die Pariser Gewässer sammelt und sich oberhalb der ehemaligen Insel Louviers durch die Kloake Amelot in die Seine ergießt. Dieser Zweigkanal, eine Ergänzung der Sammelkloake, ist unter der Rue Ménilmontant durch eine Feste getrennt, die eine Wasserscheide zwischen dem stromaufwärts und dem stromabwärts gelegnen Terrain bezeichnet. Hätte sich also Jean Valjean wieder aufwärts gewendet, so wäre er nach unsäglichen Anstrengungen vor einer Mauer angelangt und hätte folglich schon zu Tode erschöpft, den Rückweg antreten müssen, wozu seine Kräfte nicht mehr ausgereicht hätten.

Streng genommen, hätte er, wenn er ein wenig rückwärts in den Gang der Filles-du-Calvaire hineingegangen wäre, an der gänsefußförmigen Ausstrahlung des Carrefour-Boucherat vorbei, den Korridor Saint-Louis entlang, dann links in die Galerie Saint-Gilles, dann rechts und ohne die Galerie Saint-Sebastien zu berücksichtigen, die Kloake Amelot erreichen und von dort aus, vorausgesetzt, daß er nicht in das F-förmige System unter der Bastille hineingeirrt wäre, bei dem Arsenal an die Seine kommen können. Aber um sich dahin zurecht zu finden, hätte er die ungeheure, unterirdische Madrepore mit allen ihren Verzweigungen und Ausgängen gründlich kennen müssen. Leider wußte er aber, wie wir nochmals betonen, in dem schrecklichen Wirrwarr, in dem er herumirrte, garnicht Bescheid, und wer ihn gefragt hätte, wo er sei, dem hätte er geantwortet: In der Dunkelheit.

Sein Instinkt gab ihm also das Richtige ein. Indem er sich abwärts wandte, beschritt er einen Weg, auf dem er sich in Sicherheit bringen konnte.

Er ging also, indem er sie rechts liegen ließ, an den beiden Gängen, die sich unter der Rue Laffitte und der Rue Saint-Georges klauenförmig spalten, und an dem langen, gegabelten Gang der Chaussée d’ Antin vorbei.

Eine kurze Strecke, jenseit eines Nebenkanals, wahrscheinlich der Verzweigung La Madeleine, machte er Halt, um sich auszuruhen. An dieser Stelle ließ eine ziemlich große Tagesöffnung, wahrscheinlich die der Rue d’ Anjou, ein beinah lebhaft zu nennendes Licht herein. Hier also legte Jean Valjean den verwundeten Marius mit brüderlicher Behutsamkeit auf die Wallbank der Kloake. Das blutige Gesicht des jungen Mannes sah bei dem weißen Licht der Tagesöffnung ganz totenhaft aus. Die Augen waren geschlossen, die Haare klebten an den Schläfen und sahen wie in rothe Farbe getauchte, trocken gewordne Pinsel aus, die Hände hingen schwer und wie tot herab, die Extremitäten waren kalt, an den Mundwinkeln sah man geronnenes Blut. Ein Blutgerinnsel erfüllte den Knoten des Halstuchs; das Hemde drängte sich in die Wunden hinein; der Rock rieb sich an dem bloßen Fleisch der Schnittflächen. Jean Valjean entfernte sorgsam mit den Fingerspitzen die Kleider von der Brust und fühlte nach dem Herzen: Es schlug noch. Dann zerriß er sein Hemde, verband die Wunden, so gut er konnte und hemmte den Blutfluß; hierauf neigte er sich über den noch immer bewußtlosen Marius und betrachtete ihn mit einem Blicke des unaussprechlichsten Hasses.

Während er sich aber an Marius Kleidern zu schaffen machte, entdeckte er zwei wichtige Dinge, das Brod, das seit dem vergangnen Tage vergessen war, und Marius Portefeuille. Er aß das Brod und blickte in das Portefeuille. Auf der ersten Seite fand er die von Marius geschriebne Notiz, der sich der Leser noch erinnern wird:

»Ich heiße Marius Pontmercy. Man bringe meine Leiche zu meinem Großvater, Herrn Gillenormand, Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6, im Marais.« Diese vier Zeilen las Jean Valjean beim Schein des Tageslichtes und blieb, in tiefes Sinnen verloren, eine Weile sitzen, indem er die Adresse, Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6, Herr Gillenormand, halb laut wiederholte. Dann steckte er Marius das Portefeuille wieder in die Tasche und lud sich, nun er gegessen hatte und sich gestärkt fühlte, den Verwundeten wieder auf den Rücken, stützte ihm sorgsam den Kopf mit seiner rechten Schulter und machte sich wieder auf den Weg.

Die große Kloake, die der Strombahn des Thales Ménilmontant folgt, ist nahe an achttausend Meter lang und zum großen Theil gepflastert.

Diesen Ariadnefaden, den wir durch die Nennung der Pariser Straßennamen dem Leser in die Hand geben und der ihm Jean Valjeans Marschroute bezeichnet, besaß Dieser nicht. Kein Kennzeichen gab ihm an, welche Zone der Stadt er durchschritt und welchen Weg er schon zurückgelegt hatte. Aber an der zunehmenden Mattigkeit des Lichts aus den Tagesöffnungen, an denen er vorbeikam, merkte er, daß die Sonne nicht mehr auf das Straßenpflaster des Obergrundes fiel und bald untergehen würde, und aus dem Umstande, daß jetzt weniger und immer weniger Wagen über seinem Kopf dahinrasselten, schloß er, daß er sich nicht mehr unter dem mittleren Theil von Paris befand und sich einem einsamen Stadtviertel, den äußern Boulevards oder den entferntesten Quais näherte. Wo aber weniger Häuser und weniger Gassen sind, da hat auch der Untergrund weniger Tagesöffnungen und so kam es, daß die Dunkelheit um Jean Valjean immer dichter wurde. Nichts desto weniger schritt er tapfer weiter, indem er noch vorsichtiger, als bisher, im Dunkeln mit den Händen um sich tappte.

Da gerieth er plötzlich in eine fürchterliche Gefahr.

In feinem Sande

Er fühlte, daß er in Wasser watete und nicht mehr das Pflaster, sondern Schlamm unter den Füßen hatte.

Es geschieht bisweilen in gewissen Küstengegenden der Bretagne oder Schottlands, daß ein Wandrer oder ein Fischer, indem er zur Zeit der Ebbe fern vom Meeresgestade über den Sand dahingeht, plötzlich inne wird, daß er seit einer Weile Mühe hat vorwärts zu kommen. Der Boden unter seinen Füßen ist wie Pech, oder die Sohlen seiner Stiefel kleben, so zu sagen, am sandigen Erdreich. Dabei ist der Boden vollkommen trocken, aber jedesmal, wenn der Mann den Fuß hochgehoben hat, sieht er, daß die Spur, die er hinterläßt, sich mit Wasser füllt. Währenddem hat er keine Veränderung bemerkt, das breite Gestade liegt glatt und ruhig da; der Sand hat überall dasselbe Aussehen; nichts unterscheidet den Theil, wo der Boden fest ist, von der Gegend, wo er es nicht mehr ist; die Meerflöhe umschwärmen ihn so muthwillig wie vorher. Der Mann geht weiter, vor sich hin, landeinwärts, versucht an die Küste zu gelangen. Er ängstigt sich nicht. Wozu auch? Nur hat er die Empfindung, als ob seine Füße bei jedem Schritt schwerer würden. Da sinkt er mit einem Ruck in die Erde hinein, um zwei bis drei Zoll. Hm! Er kann doch nicht auf dem richtigen Wege sein. Er bleibt stehen, um eine genauere Umschau zu halten. Plötzlich senkt er die Augen erdwärts, nach seinen Füßen hin. Die sind verschwunden, vom Sande bedeckt. Er zieht sie empor, will auf dem Wege, den er gekommen ist, umkehren und — versinkt tiefer. Der Sand reicht ihm an den Knöchel, er reißt sich los und neigt sich links, der Sand reicht bis zur Mitte der Waden; er wirft sich nach rechts, der Sand reicht ihm bis an die Kniekehlen. Da erkennt er mit unbeschreiblichem Entsetzen, daß er sich in einem beweglichen Erdreich befindet, daß er in einem Terrain steckt, wo der Mensch ebenso wenig gehen, wie der Fisch schwimmen kann. Er wirft, wenn er eine Last trägt, diese sofort nieder, macht es wie ein Schiff, das sich in der Gefahr seiner Ladung entledigt; aber ach, es ist zu spät; schon stecken seine Schenkel im Sande.

Er ruft, schwenkt seinen Hut oder sein Taschentuch; der Sand steigt höher, immer höher; wenn keine Menschen in der Nähe, wenn die Küste zu weit entfernt ist, das Gestade in zu schlechtem Rufe steht, wenn kein Held bei der Hand ist, so ist der unglückliche Wandrer verloren. Er ist verurtheilt, langsam, unfehlbar begraben zu werden. Er kann seinen Untergang weder verzögern, noch beschleunigen. Es dauert Stunden lang; es nimmt kein Ende; es packt ihn bei lebendigem Leibe, bei voller Gesundheit; es zieht ihn an den Füßen, reißt ihn bei jedem Versuch sich in die Höhe zu raffen, bei jedem Schrei, den er ausstößt, tiefer hinab; straft ihn für seinen Widerstand, indem es seine Wuth verdoppelt; es zwingt ihn langsam in die Erde hineinzusteigen, indem es ihm reichlich Zeit läßt, sich nach dem Horizont, den Bäumen, den grünen Auen, dem Rauch der Schornsteine, den Segeln der Schiffe, den fliegenden und singenden Vöglein, der Sonne, dem Himmel umzusehen. Der Triebsand ist ein Grab in Gestalt einer Flut, die aus den Tiefen der Erde an einem Lebenden emporsteigt. Jede Minute arbeitet unerbittlich an dem Begräbniß. Der Unglückliche versucht sich zu setzen, sich hinzulegen, zu kriechen; bei jeder Bewegung gräbt er sich tiefer ein; dann richtet er sich wieder auf und fühlt dabei, daß er noch weiter versinkt; er heult vor Angst, betet, ruft die Wolken an, ringt die Hände, verzweifelt. Jetzt steckt er mit dem Unterleibe im Sande; schon beengt es ihm die Brust. Er streckt die Hände empor, stöhnt wüthend auf, krallt seine Hände in den Boden, will sich festhalten, stemmt die Ellbogen auf, um sich emporzuschwingen, ächzt und tobt; der Sand steigt höher, immer höher, steigt bis an die Schultern, an den Hals; nun ist nur noch das Gesicht zu sehen. Er schreit wieder, der Sand dringt ihm in den Mund, er schweigt. Er rollt noch die Augen; auch diese überflutet der Sand und hüllt sie in ewige Nacht. Und höher steigt es, immer höher. Die Stirn, die Haare verschwinden. Da arbeitet sich eine Hand empor, fährt hin und her, — verschwindet. Welch grausige Vernichtung eines Menschenlebens!

Bisweilen versinkt der Reiter mit dem Pferde, der Fuhrmann mit dem Wagen. Ein Schiffbruch auf dem Lande, das sich mit dem Ocean verbündet, um den Menschen zu ersäufen. Der Sand lügt ihm vor, er sei das Festland und weicht ihm unter den Füßen wie Wasserwellen aus. So verrätherisch sind die Mächte der Tiefe.

Diese Art Unfall, der sich für gewöhnlich nur an bestimmten Küsten ereignet, war vor dreißig Jahren in den Pariser Kloaken noch möglich.

Denn vor der Beendigung der 1833 begonnenen Anlagen kam es hier und da vor, daß der Boden des Untergrundes sich senkte.

Das Wasser sickerte an gewissen Stellen, wo das Erdreich besonders unbeständig, nachgiebig, unsolide war, ein und veranlaßte so, daß die Bettung, ob sie nun wie bei den alten Kloaken, aus Pflastersteinen oder wie bei den neueren Galerien aus hydraulischem Kalk und Beton bestand, nachgab, da sie keine feste Stütze mehr fand und dies bewirkte eine mehr oder minder große Unterbrechung, eine Lücke, was man in dem betreffenden Fach einen Erdsturz nennt. An solchen Stellen nimmt dann das Erdreich dieselbe Beschaffenheit an, wie der Triebsand am Meere, die Kloake gleicht hier dem Gestade des Mont Saint-Michel. Der ausgeweichte Boden ist beweglich wie geschmolzenes Metall; allseine Molekeln sind in der Schwebe; es ist nicht Land und nicht Wasser. Bisweilen sind diese Lücken sehr tief, jedenfalls aber äußerst gefährlich. Denn wiegt das Wasser in dem Gemisch vor, so ertrinkt man und hat einen schnellen Tod; ist mehr Sand darin enthalten, so versinkt man und stirbt sehr langsam.

Kann man sich eine Vorstellung von einem solchen Untergang machen? Wenn es gräßlich ist, in dem Triebsand eines Meeresgestades zu versinken, um wie viel grauenvoller ist es, in einer Kloake umzukommen! Statt des freien Himmels, des hellen Tageslichtes, des klaren Horizontes, der gewaltigen Geräusche und Töne der Natur, der ungehemmten Wolken, aus denen Leben herabregnet, der in der Ferne gesehenen Kähne, der mannigfaltigen Hoffnungen, der Leute, die jeden Augenblick kommen können, der Möglichkeit noch in der letzten Minute gerettet zu werden, statt aller dieser tröstlichen Gedanken und Dinge Taubheit, Blindheit ein finstres Gewölbe, ein schon fertiges Grab, der Tod im Unflat unter einem großen Sargdeckel, eine langsame Erstickung durch den Unrath, ein steinerner Kasten, in dem die Asphyxie ihre Klauen aus dem Schlamm herausstreckt und Dich bei der Gurgel packt, ein Verröcheln im Gestank, Schwefelwasserstoff statt des Orkans, Koth statt des Ozeans! und zu rufen und mit den Zähnen zu knirschen und sich zu winden und zu krümmen und zu verenden mit einer ganzen großen Stadt über dem Kopfe, die nichts von Einem weiß!

Unaussprechlich sind die Schrecknisse eines solchen Todes! Freund Hein entschädigt uns bisweilen für seine Härte dadurch, daß er uns angesichts der Oeffentlichkeit mit Größe aufzutreten gestattet. Auf dem Scheiterhaufen, auf einem Wrack kann man Würde zeigen; von Flammen umzüngelt, vom Gischt bespritzt, ist eine stolze Haltung möglich; man wird verherrlicht und verklärt, indem man so zu Grunde geht. Aber in einer Kloake nichts von alle dem. Ein unsaubrer Tod! So ins Jenseit hinüberzugehen ist demüthigend. Die Dinge, die man hier in den letzten Augenblicken sieht, sind gemein. Das Wort Unrath ist sinnverwandt mit Schande. So etwas ist klein, widerwärtig, schimpflich. In einem Faß Malvasierwein ertrinken, wie der Herzog von Clarence, kann man sich gefallen lassen; in einer Abtrittgrube ersticken wie D’ Escoubleau ist greulig. Darin herumzuzappeln ist scheußlich; nicht genug, daß man die Todesqualen erleidet, man empfindet auch noch Ekel. Es ist finster genug, daß man sich in die Hölle versetzt glauben kann, schmutzig genug für eine erbärmliche Pfütze und der so um sein Leben kommt, weiß nicht, ob er ein Geist oder eine Kröte werden wird.

In jeder andern Gestalt ist der Tod bloß grauenvoll, in dieser auch noch grotesk und ekelhaft.

Die Tiefe der Erdstürze, so wie ihre Länge und Dichtigkeit war ja nach der mehr oder weniger schlechten Beschaffenheit des Erdreichs sehr verschieden. Manche hatten eine Tiefe von drei bis vier, andre von acht bis zehn Fuß; bei mehreren konnte man keinen Grund finden. In den einen war der Schlamm beinah fest, in den andern beinah flüssig. In demjenigen, der den Namen Lumière führte, hätte ein Mensch einen ganzen Tag kämpfen können, ehe er untergegangen wäre, wogegen die Lücke Phélippeaux nicht mehr als fünf Minuten brauchte, ihre Opfer zu verschlingen. Der Schlamm trägt mehr oder weniger gut, je nachdem er mehr oder weniger fest ist. Wo ein Erwachsener einsinkt, kann ein Kind noch hinüberkommen. Die erste Regel, die man befolgen muß, wenn man glücklich herauskommen will, lautet dahin, daß man sich jedweder Last entledigen soll. Den Sack mit den Werkzeugen, die Kiepe, den Kalkkübel von sich werfen, war auch stets das Erste, was die Kloakenarbeiter thaten, wenn der Boden unter ihren Füßen nachgab.

Diese Erdstürze hatten verschiedne Entstehungsursachen: Bröcklige Beschaffenheit des Erdreichs, einen Zusammenbruch von Erdschichten in einer dem Menschen unzugänglichen Tiefe, heftige Gewitter im Sommer, Thauwetter im Winter, lang anhaltender feiner Regen. Zuweilen drückte die Last der oben gelegnen Häuser, wenn der Boden sandig war oder Mergel enthielt, die Gewölbe der unterirdischen Galerien ein oder brachte sie aus der geraden Richtung, oder es kam auch vor, daß die Bettung unter einem unwiderstehlichen Druck barst und Spalten bekam. So hat u. a. das Erdreich unter dem Panthéon, indem es sich sackte, schließlich einen Theil der Keller des Berges Sainte-Geneviève ausgefüllt. Wenn auf diese Weise eine Kloake unter der Last der Häuser einsank, so konnte man dies in einigen Fällen daran erkennen, daß oben in der betreffenden Straße das Pflaster eine sägenförmige Gestalt annahm; solch ein Riß schlängelte sich dann über die ganze Strecke hin, die der Länge der Galerie entsprach und dem Uebel konnte, da es sichtbar war, abgeholfen werden, Oefters aber geschah es auch, daß die innerliche Beschädigung sich außen nicht kund gab. Wehe den Kloakenreinigern in einem solchen Fall! Wagten sie sich, ohne die nöthigen Vorsichtsmaßregeln zu beobachten, in eine derartig eingedrückte Galerie hinein, so konnten sie das Leben einbüßen. Die alten Register erwähnen auch einige Brunnengräber, die auf diese Weise in den Erdstürzen umkamen. Sie geben mehrere Namen an; u. a, den des Kloakenarbeiters, der in der Kloake der Rue Carême-Prenant in den Schlamm versank, einen gewissen Blaise Poutrain; dieser Mann war ein Bruder von Nicolas Poutrain, des letzten Totengräbers des — Charnier des Innocents genannten — Kirchhofs, der 1785 ausrangirt wurde.

Wir haben vorhin den jungen und liebenswürdigen Vicomte d’ Escoubleau erwähnt, einen der Helden der Belagerung von Lerida, wo die Franzosen in seidnen Strümpfen, eine Bande Violinspieler an der Spitze gegen die Mauern Sturm liefen. Dieser d’ Escoubleau befand sich eines Tages bei seiner Cousine, der Herzogin von Sourdis, als ihr Mann Einlaß begehrte, und floh, um nicht ertappt zu werden, in eine Kloake, wo er in einem Schlammloch elendiglich ertrank. Die Herzogin ließ sich, als man ihr erzählte, auf welche Weise ihr Vetter umgekommen war, ihr Fläschchen reichen und roch so eifrig daran, daß sie darüber den Toten zu beweinen vergaß. In einem solchen Falle hört auch die größte Liebe eben auf; die Kloake erstickt sie. Da weigert sich jede Hero, die Leiche ihres Leander zu waschen; da hält sich Thisbe vor Pyramus die Nase zu und sagt: »Pfui!«

Das Schlammloch

Jean Valjean war also in ein Schlammloch gerathen.

Diese Art Erdstürze waren damals häufig in dem Untergrund der Champs-Elysées, der sich gegen alle hydraulischen Arbeiten sehr widerspenstig verhielt und wegen seiner übermäßigen Beweglichkeit auch die festesten Bauten nicht alt werden ließ: In dieser Hinsicht stand es hier noch schlimmer als in dem Stadtviertel Saint-Georges, wo man mit dem feinen Sand nur mittels eines Betonpackwerks fertig werden konnte, und in dem Viertel des Martyrs, dessen mit Gas geschwängerte Thonschichten so flüssig sind, daß man unter der Galerie des Martyrs eine gußeiserne Röhre legen mußte, um die nothwendigen Arbeiten ausführen zu können. Als 1836 unter dem Faubourg Saint-Honoré eines Umbaus wegen die alte, steinerne Kloake, in der wir in diesem Augenblick Jean Valjean in Gefahr schweben sehen, niedergerissen wurde, bildete der bewegliche Sand, aus dem die Unterschicht der Champs-Elysées bis zur Seine besteht, ein so entschiednes Hinderniß, das die Bauten beinah ein halbes Jahr in Anspruch nahmen, zum größten Verdruß der dortigen Bevölkerung, besonders der Haus- und Equipagenbesitzer. Die Ausführung der Arbeiten erwies sich nicht bloß als schwierig, sondern auch als gefährlich. Allerdings hatte man während der Zeit vier und einen halben Monat Regenwetter und dreimal einen hohen Wasserstand in der Seine.

Das Schlammloch, in das Jean Valjean gerathen war, verdankte seine Entstehung dem Platzregen, der Tags zuvor gefallen war. Das von dem darunter liegenden Sande schlecht gestützte Pflaster hatte nachgegeben und in Folge dessen war das Wasser in Menge eingedrungen, was wieder eine Rückwirkung auf die Bettung ausübte. Sie ging aus den Fugen und versank im Schlamm. Wie groß die betreffende Strecke war, läßt sich nicht sagen. Es herrschte hier eine noch dichtere Dunkelheit als in jedem andern Theile des Untergrundes.

Jean Valjean also fühlte, daß das Pflaster unter ihm aufhörte. Er wagte sich aber dennoch weiter in die schmutzige Flut hinein. Es war ja oben bloß Wasser und darunter ein Bischen Schlamm. Er mußte auf jeden Fall hindurch. An eine Umkehr war nicht zu denken, da er über die Maßen erschöpft war und Marius im Sterben lag. Wohin hätte er auch sonst seine Schritte wenden sollen? Jean Valjean ging also weiter. Uebrigens kam ihm das Loch bei den ersten Schritten nicht besonders tief vor. Aber je weiter er vorrückte, desto tiefer sanken seine Füße ein. Bald reichte ihm der Schlamm bis an die Mitte des Unterbeins und das Wasser bis über die Kniee. Während er so weiter ging, hielt er Marius mit beiden Händen so hoch er konnte. Als dann der Schlamm ihm bis zu den Kniekehlen und das Wasser bis an den Gürtel hinaufreichte, war es zu spät um zurück zu gehen. Er sank tiefer und tiefer ein. Der Schlamm war wohl dicht genug für das Gewicht eines Mannes, konnte aber offenbar nicht zwei tragen. Wäre jeder allein gegangen, so hätten sie hoffen dürfen, der Gefahr zu entrinnen. Trotz alledem setzte Jean Valjean seinen Weg fort, mit dem Sterbenden der vielleicht schon eine Leiche geworden war, in den Armen.

Als das Wasser ihm bis zu den Achselhöhlen emporstieg, war er in beständiger Gefahr umzufallen und konnte sich in dem tiefen dicken Koth kaum noch bewegen. Noch trug er Marius und konnte mit unglaublichen Anstrengungen vorwärts kommen; aber er sank immer tiefer. Schon ragte bloß noch sein Kopf über das Wasser und seine beiden Arme, mit denen er Marius hoch emporhielt. So erinnerte Jean Valjean an alte Darstellungen der Sintflut, wo eine Mutter es mit ihrem Kinde ebenso macht.

Immer tiefer gerieth er hin und mußte schon, um nicht Wasser in den Mund zu bekommen und athmen zu können, den Kopf rückwärts neigen. Wer ihn so in der Dunkelheit gesehen hätte, würde geglaubt haben, es schwimme da eine Maske; Jean Valjean erblickte über sich Marius herabhängenden Kopf und sein blasses Gesicht; da raffte er sich zu einer verzweifelten Anstrengung auf setzte den Fuß weit nach vorn und stieß an etwas Festes, das einen Stützpunkt abgeben konnte. Es war auch die höchste Zeit.

Er warf sich nach vorn über, wand sich und faßte mit wilder Energie festen Fuß. Ihm war, als stände er jetzt wieder auf der ersten Stufe einer Treppe, die ihn wieder ins Leben hinaufführen würde.

Der Stützpunkt, den er in der höchsten, schrecklichen Noth gefunden hatte, war der andre Theil der eingesunknen Bettung, der nachgegeben hatte, aber ganz geblieben war und wie ein Brett wenn auch krumm gebogen, in das Wasser hinabragte, denn gute Pflaster bilden in solchen Fällen oft ein Gewölbe und können ihren Zusammenhang bewahren. Dieses Stück der Bettung gab also eine richtige Rampe ab und nun Jean Valjean es erreicht hatte, war er gerettet. Er stieg die schiefe Ebene hinauf und gelangte so an das andre Ende der Lücke.

In dem Augenblick, wo er aus dem Wasser hinausstieg, stolperte er über einen Stein und sank in die Knie. Diese Haltung schien ihm die passendste für ihn und er blieb so liegen, um Gott in seinem Herzen zu danken.

Dann erhob er sich wieder von feuchter Kälte durchschauert, unter der Last des Sterbenden gebeugt, triefend von ekelhaftem Unflat, die Seele mit himmlischem Licht erfüllt.

Bisweilen scheitert man, wo man zu landen glaubt

Er machte sich also jetzt noch einmal auf den Weg.

Mit dem Leben war er nun wohl aus dem Schlammloch davongekommen, aber seine Kraft schien er darin zurückgelassen zu haben. Diese letzte Anstrengung hatte ihn vollends erschöpft. So groß war jetzt seine Müdigkeit, daß er alle drei oder vier Schritte gezwungen war, sich an die Wand zu lehnen, um Athem zu schöpfen. Das eine Mal als er sich, um Marius Lage zu ändern, auf die Wallbank hinsetzen mußte, glaubte er, es würde ihm nicht möglich sein weiter zu gehen. War es aber auch mit seiner Körperkraft vorbei, sein Wille war ungebrochen.

Er stand wieder auf, marschirte mit verzweifelter Anstrengung und beinah schnell, kam so etwa hundert Schritte weiter, ohne den Kopf emporzuhalten, fast ohne Athem zu holen und stieß sich mit einem Mal an der Mauer. Er war nämlich an einem Knie der Kloake angelangt und statt sofort einzubiegen, mit gesenktem Kopf noch ein paar Schritte weiter gegangen, bis er an der gegenüberliegenden Wand anrannte. Er hob die Augen auf und bemerkte an dem Ende der Galerie, in weiter, weiter Ferne ein Licht. Nicht das röthliche Licht der Polizisten, daß ihm solchen Schrecken eingejagt hatte, sondern schönes, weißes Tageslicht.

Jean Valjean sah den Ausgang vor sich.

Ein Verdammter, der, in seinem Glutmeer schwimmend, plötzlich das Höllenthor offen sähe, würde das Gefühl empfinden, daß Jean Valjean hatte. Die arme Seele würde sinnlos vor Freude mit ihren verstümmelten Flügeln dem Ausgang zufliegen. Jean Valjean spürte keine Müdigkeit mehr, fühlte nicht einmal die Last, die er trug; seine Knie wurden wieder fest wie Stahl. Er rannte mehr als er ging. In dem Maße, wie er näher kam, zeichneten sich die Umrisse der Oeffnung deutlicher ab. Es war eine Bogenöffnung, die weniger hoch als das Gewölbe war, das allmählich kleiner wurde, und weniger breit als die Galerie, die sich in demselben Maße verengte. Der Tunnel endete also trichterförmig: ein verkehrtes System, das der bei Gefängnißthüren üblichen Einrichtung nachgeahmt und für diese wohl zweckmäßig war, unpraktisch aber für die Kloaken und das deshalb seitdem aufgegeben worden ist.

Am Ausgang angelangt, blieb Jean Valjean aber stehen. Denn — er konnte nicht heraus.

Die Bogenöffnung war nämlich durch ein starkes Gitter versperrt und dieses, das allem Anschein nach höchst selten in seinen oxydirten Angeln gedreht wurde, war an seine steinerne Einfassung mittelst eines dicken Schlosses befestigt, das mit Rost überzogen war und einem großen Mauerstein glich. Man sah das Schlüsselloch und den tief in die Schließkappe eingelassenen Riegel. Der Schlüssel war offenbar zweimal herumgedreht worden. Das Schloß war eins von jenen Festungsschlössern, für die man in dem alten Paris eine besondre Vorliebe hatte.

Jenseit des Gitters die freie Luft, der Fluß, das sehr schmale, aber zum Weggehen genügende Ufer, die fernen Quais, Paris, die große Stadt, wo man sich so leicht verstecken kann, der weite Horizont, die Freiheit. Rechts stromabwärts unterschied man den Pont d’ Jéna und links stromaufwärts den Pont des Invalides. Es war eine der einsamsten Gegenden von Paris, das Ufer, das dem Gros-Caillou gegenüberliegt. Die Fliegen flogen durch das Gitter aus und ein.

Es mochte halb neun Uhr sein. Der Tag neigte sich seinem Ende zu.

Jean Valjean legte Marius an der Wand auf eine trockne Stelle der Bettung, trat dann an das Gitter und packte eine Stange mit seinen Fäusten. Aber so gewaltig er es auch rüttelte, das Gitter rückte und rührte sich nicht. Er schüttelte eine Stange nach der andern in der Hoffnung sie herausbrechen und als Hebel benutzen zu können, um die Thür von unten aus den Fugen zu bringen oder das Schloß abzubrechen. Aber keine Stange wankte. So fest sitzen nicht die Zähne eines Tigers in ihren Höhlen. Das Hinderniß ließ sich nicht überwältigen. Keine Möglichkeit, die Thür aufzubekommen.

War es also wirklich zu Ende mit ihm? Was thun? Was sollte nun werden? Zurückzugehen, den schrecklich weiten Weg, den er schon durchmessen hatte, noch einmal durchwandern, dazu hatte er nicht die Kraft. Wie sollte er u. a. von Neuem über das Schlammloch hinüberkommen, aus dem er sich nur wie durch ein Wunder gerettet hatte? Und konnte er nicht nachher wieder auf die Polizeirunde stoßen, der er das zweite Mal sicherlich nicht entrinnen würde? Und wohin sollte er dann gehen? Welche Richtung einschlagen? Wieder Abwärts zu gehen hatte keinen Zweck. Gesetzt, er fand einen andern Ausgang, so war auch dieser sicherlich irgendwie versperrt. Es gab hier überhaupt keinen offnen Ausgang, und wenn er durch ein Gitter hereingekommen war, so hatte er es nur dem Zufall zuzuschreiben, daß dieses gerade lose war. Aber gewiß war es das einzige und es war ihm weiter nichts geglückt, als daß er sich in ein Gefängniß geflüchtet hatte.

Es war also vorbei. Alles, was er gethan hatte, war vergeblich gewesen. All die Qual endete mit einem Mißerfolg.

Sie hatten sich Beide im Netze des Todes gefangen und schon fühlte Jean Valjean, wie das Ungethüm in der Dunkelheit auf sie zugekrochen kam, um seine Beute zu verschlingen.

Er wandte sich von dem Gitter weg und fiel, mehr als er sich setzte, auf das Pflaster hin, neben Marius, der noch immer regungslos da lag, und ließ den Kopf zwischen die Knie hinabhängen. Kein Ausgang! Es war der letzte Tropfen, der noch in den vollen Becher der Angst fiel.

Wo weilten seine Gedanken in dieser tiefen Kümmerniß? Weder bei seinem eignen Unglück, noch bei Marius. Er dachte an Cosette.

Das abgerissene Stück Tuch

Während er so wie vernichtet da saß, legte sich eine Hand auf seine Schulter und leise flüsterte eine Stimme ihm die Worte ins Ohr:

»Halb Part!«

Ein Mensch in dieser Oede? Nichts gleicht so sehr dem Traum wie die Verzweiflung: Jean Valjean glaubte zu träumen. Hatte er doch keine Schritte gehört. War denn so etwas möglich? Er hob die Augen auf.

Vor ihm stand ein Mann.

Derselbe war mit einer Blouse bekleidet, ging mit bloßen Füßen und trug seine Schuhe in der linken Hand; offenbar hatte er sie deshalb ausgezogen, um ohne gehört zu werden, an Jean Valjean herankommen zu können.

Jean Valjean brauchte keinen Augenblick nachzudenken und sich zu besinnen. So wenig er diese Begegnung vorausgesehen hatte, aber den Mann kannte er. Es war Thénardier.

Obgleich, so zu sagen, ganz plötzlich ertappt, gewann Jean Valjean, der Ueberrumpelungen und Schicksalsschläge, die rasch parirt werden mußten, gewöhnt war, auf der Stelle seine ganze Geistesgegenwart wieder. Uebrigens konnte seine Lage nicht schlimmer werden, als sie schon war; für einen gewissen Grad des Schrecklichen ist kein cresendo mehr möglich und Thénardier selber konnte die Nacht, in der sich Jean Valjean befand, nicht noch dunkler machen.

Es trat eine kurze Pause ein.

Thénardier hob die flache Hand an die Stirn empor, so daß sie einen Schirm für die Augen bildete, zog die Brauen zusammen und blinzelte, indem er dabei den Mund etwas fester zukniff, alles Zeichen, daß er sich angestrengt bemühte, die Züge des Andern zu erkennen. Das gelang ihm aber nicht. Jean Valjean saß, wie schon gesagt, mit dem Rücken gegen das Tageslicht und war auch von Schmutz und Blut so entstellt, daß man ihn am hellen Mittag nicht erkannt hätte. Thénardier dagegen, dem das Licht, allerdings ein fahles Kellerlicht, das aber doch alle Umrisse scharf hervorhob, gerade ins Gesicht schien, stand so, daß sein Mienenspiel deutlich sichtbar war. Diese Ungleichheit der Bedingungen genügte, um Jean Valjean in dem bevorstehenden Zusammenstoß gewisse Vortheile zu sichern.

Jean Valjean merkte von vorn herein, daß Thénardier ihn nicht erkannte.

Sie betrachteten sich eine Weile im Halbdunkel, als wollten sie sich mit einander messen. Thénardier brach das Stillschweigen zuerst.

»Wie wirst Du’s anfangen, um hier herauszukommen?«

Jean Valjean gab keine Antwort.

Thénardier fuhr fort:

»Die Thür mit Tandelei oder Haken aufmachen oder knacken, daran ist nicht zu denken. Raus mußt Du aber doch.«

»Natürlich,« stimmte ihm Jean Valjean bei.

»Na, dann halb Part.«

»Was willst Du damit sagen?«

»Du hast den da kalt gemacht, nicht wahr? Und ich habe den Schlüssel zu der Thür.«

Er wies dabei auf Marius und sagte noch:

»Ich kenne Dich nicht, aber ich will Dir in Deiner Verlegenheit beispringen. Du mußt ein Kamerad sein.«

Jetzt fing Jean Valjean an, zu begreifen, was Jener wollte. Thénardier hielt ihn für einen Meuchelmörder.

»Höre mal, guter Freund; Du hast Den da doch nicht abgemuckt, ohne Dir seine Taschen anzusehen. Gieb mir meine Hälfte, so mache ich Dir die Thür auf.«

Mit diesen Worten zog er unter seiner arg durchlöcherten Blouse einen großen Schlüssel halb hervor und sagte:

»Sieh mal, so sieht der Schlüssel aus, der ins Freie führt.«

Jean Valjean war so verdutzt, daß er an der Wirklichkeit dieses Abenteuers zweifelte. In welch scheußlicher Gestalt erschien ihm da die Vorsehung! Ein Thénardier konnte auch ein guter Engel sein!?

Dieser fuhr jetzt mit der Faust in eine breite, innere Tasche seiner Blouse, holte einen Strick hervor und hielt ihn Jean Valjean hin.

»Da, den Strick kriegst Du zu!«

»Was soll ich damit?«

»Du brauchst noch einen Stein, aber den wirst Du draußen finden. Es liegt da ein Haufen Abraum.«

»Was soll ich mit dem Stein?«

»Schafskopf, Du muß den Kunden doch ins Wasser schmeißen und wenn Du ihm keinen Stein um den Hals bindest, würde er doch oben schwimmen.«

Jean Valjean nahm jetzt den Strick an. In seiner Lage mußte er wohl zu Allem Ja sagen.

Thénardier schnappte mit den Fingern, wie manche Leute zu thun pflegen, wenn ihnen ein Gedanke plötzlich kommt.

»Sag mal, Kamrad, wie hast Du’s bloß angestellt, um über das Schlammloch herüber zu kommen? Ich hab’s nie gewagt. Weißt Du, Du duftest nicht fein.«

Da keine Antwort kam, fuhr er nach einer Weile fort:

»Ich frage immerzu und Du antwortest nicht. Sehr gescheidt von Dir. Auf die Weise bereitest Du Dich gut auf das eklige Stündchen vor, wo der Untersuchungsrichter Dich ins Gebet nehmen wird. Und wenn man gar nichts sagt, läuft man auch nicht Gefahr, zu viel zu sagen. Das ist aber Nebensache. Weil ich Dein Gesicht nicht sehe und nicht weiß, wie Du heißt, brauchst Du Dir nicht einzubilden, ich wüßte nicht, was für Einer Du bist und was Du willst. Unsereiner weiß Bescheid. Du hast den Herrn da abgemurkst und möchtest ihn jetzt irgendwo unterbringen. Zu dem Zweck mußt Du an den Fluß, in dem sich Dummheiten so bequem begraben lassen. Dabei will ich Dir helfen. Einen wackern Kerl aus der Patsche ziehen, ist ganz mein Fall.«

Wie wohl er Jean Valjean wegen seiner Verschwiegenheit lobte, sah er es doch darauf ab, ihn gesprächiger zu stimmen. Er stieß ihn an die Schulter, um ihn von der Seite sehen zu können und rief, ohne indessen wesentlich lauter als vorher zu sprechen:

»Da wir gerade von dem Schlammloch sprechen, — sag mal, Du bist doch ein Rindvieh, wie’s im Buche steht? — Warum hast Du den Kunden nicht da hineingeschmissen.«

Jean Valjean beobachtete Stillschweigen.

Thénardier rückte den Lumpen, der bei ihm die Stelle des Halstuchs vertrat, bis zu seinem Adamsapfel empor, was die Ueberlegenheit seiner Mienen und Geberden noch erhöhte und fuhr fort:

»Wenn man’s recht nimmt, hast Du die Sache ganz gut überlegt. Die Arbeiter hätten, wenn sie morgen kommen und das Loch ausfüllen wollen, den Kunden sicherlich gefunden und man wäre dann ganz allmählich, Stück für Stück, Schritt für Schritt auf Deine Spur gekommen. Jemand ist durch die Kloaken gegangen. Wer? Wo ist er herausgekommen? Hat ihn Jemand herauskommen sehen? Die Polizisten sind gescheidte Leute. Die Kloaken pfeifen, daß es eine Art hat. Solch ein Fund ist eine Seltenheit, die Aufsehen erregt, denn nur wenige Leute kriechen hier herab, um Techtelmechtel zu besorgen, während zu dem Fluß alle Welt Vertrauen hat. Die Seine ist ein wahrer Kirchhof. Holen sie auch nach vier Wochen die Leiche aus den Netzen der Brücke von Saint-Cloud, so ist das Wurscht. Kein Hahn kräht nach dem Aas. Wer hat den Kerl da abgemuckt? Na, irgend Jemand in Paris! Und die Justiz stellt nicht einmal Nachforschungen an. Du hast also ganz Recht.«

Je mehr Thénadier schwabbelte, desto zugeknöpfter verhielt sich Jean Valjean. Aber Thénardier schüttelte ihn abermals bei der Schulter.

»Nun wollen wir aber zur Sache kommen. Ich denke, wir theilen die Sore. Du hast meinen Schlüssel gesehen, jetzt zeige mir Dein Geld.«

Thénardier hatte, während er dies sprach, eine scheue lauernde, mißtrauische, beinah drohende Miene, aber er geberdete sich dabei doch freundschaftlich.

Merkwürdiger Weise war sein Benehmen aber kein natürliches, einfaches, unbefangnes; es war, als plage ihn irgend eine geheime Unruhe; obwohl er nicht geheimnißvoll that, sprach er gleichwohl leise, hielt von Zeit zu Zeit den Finger auf den Mund und machte: Pst! Weshalb, war schwer zu errathen, denn außer ihnen war ja Niemand da. Jean Valjean erklärte sich dies Verhalten so, daß vielleicht andre Strolche in der Nähe wären, in irgend einem Versteck, und daß er nicht mit ihnen theilen mochte.

»Machen wir dem Ding ein Ende,« begann er endlich wieder. »Wieviel Draht hast Du dem Kunden da abgenommen?«

Jean Valjean griff in seine Taschen.

Es war ja, wie man sich erinnern wird, eine Gewohnheit von ihm, immer Geld bei sich zu führen. Da er dazu verurtheilt war, stets auf eine Nothlage vorbereitet sein zu müssen, so war dies eine Nothwendigkeit für ihn. Aber dies Mal kam er in Verlegenheit. Denn als er am Abend zuvor seine Bürgerwehr anzog, hatte er in seiner schwermüthigen Zerstreuung vergessen, seine Brieftasche mit zu nehmen, so daß er nur wenig Geld in seiner Westentasche bei sich hatte. Er wandte sie mit all dem Schmutz, den sie enthielt, vor Thénardier’s Augen um und legte auf die Wallbank einen Louisdor, zwei Fünffranken- und fünf bis sechs Zweisousstücke.

Thénardier schob die Unterlippe verächtlich vor.

»Da hast Du ein schlechtes Geschäft gemacht,« meinte er und begann sehr ungenirt, Jean Valjean’s und Marius’ Taschen zu visitiren, ein Geschäft, bei dem ihn Dieser nicht störte, da es ihm hauptsächlich darauf ankam, den Rücken stets dem Lichte zugewendet zu halten. Während aber Thénardier sich mit Marius Rock zu schaffen machte, fand derselbe, geschickt wie ein Taschenspieler, Mittel und Wege, einen Zipfel, ohne daß Jean Valjean irgend etwas merkte, abzureißen und unter seiner Blouse zu verstecken. Wahrscheinlich dachte er, dieses Stück Tuch würde es ihm später einmal ermöglichen, den Ermordeten und den Mörder wieder zu erkennen. Andre Ausbeute aber, als die schon hervorgelangten dreißig Franken, fand er nicht.

»Du hast die Wahrheit gesagt; Alles in Allem, habt Ihr nicht mehr, als das da,« bemerkte er und strich, vergeßlich wie er war, statt der Hälfte das Ganze ein.

Allerdings zögerte er etwas, als die Reihe an die Kupfermünzen kam. Nach reiflicher Ueberlegung nahm er sie aber auch.

»Mag Einer sagen, was er will, aber das Stück Arbeit hast Du zu billig gemacht,« murrte er.

Dann aber zog er den Schlüssel vor.

»Jetzt, guter Freund, mußt Du raus. Hier gilt dieselbe Regel, wie auf dem Jahrmarkt. Man zahlt, wenn man herauskommt. Du hast bezahlt, nun darfst Du raus.«

Bei diesen Worten lachte er.

Hatte er, indem er einem Unbekannten mit seinem Schlüssel zu Hülfe kam und einen Andern zur Thür hinausließ, nur die uneigennützige Absicht, einen Mörder zu retten? Man darf es bezweifeln.

Thénardier half nun Jean Valjean Marius wieder auf seine Schultern laden, ging auf den bloßen Fußspitzen an das Gitter, indem er ihm mit einem Wink bedeutete, er solle ihm folgen, blickte hinaus, legte den Zeigefinger auf seinen Mund und wartete dann noch einige Sekunden, als sei er noch unschlüssig; dann, nach Beendigung der Umschau steckte er den Schlüssel in das Schloß. Die Thür öffnete sich ohne Geknarr, ohne irgend ein Geräusch, ganz sacht. Augenscheinlich war alles gut geölt und that sich die Thür viel öfter auf, als es den Anschein besaß. Dies hatte eine unheimliche Bedeutung. Man merkte, daß sich durch diese Pforte Nachtmenschen, zweibeinige Wölfe heimlich aus- und einschleichen. Die Kloake war die Spießgesellin einer Verbrecherbande, die Gitterthür eine Hehlerin.

Thénardier machte die Thür nur noch so weit auf, daß Jean Valjean knapp hindurch konnte, warf sie wieder zu, drehte den Schlüssel zweimal herum und verschwand dann sofort in der Dunkelheit. So leise ging er dabei, als hätte er Tigerpfoten.

Jean Valjean stand jetzt draußen.

Marius wird von Einem, der sich darauf versteht, für tot gehalten

Er ließ Marius auf die Erde gleiten.

Also draußen!

Die Miasmen, die Dunkelheit, die Gefahren waren hinter ihm. Die reine, gesunde, frische, angenehme, athembare Luft umwehte ihn. Ringsherum tiefe Stille, aber die Stille eines Sonnenuntergangs bei heiterm Himmel. Es dämmerte schon und die Nacht senkte sich hernieder, die große Befreierin und Freundin aller Derer, die des Mantels der Dunkelheit bedürfen, um sich aus einer Bedrängniß zu retten. Ueberall am Himmel hehre Ruhe. Der Fluß umspielte kosend seine Füße. In den Lüften ließ sich das Gezwitscher der Vögel vernehmen, die sich aus ihren Nestern auf den Ulmen der Champs-Elysées gute Nacht sagten. Einige Sterne glänzten schon, nur dem Auge der träumerischen Betrachtung erkennbar, in dem blassen Blau des Zeniths. Kurz, der Abend entfaltete über Jean Valjeans Haupt alle Lieblichkeiten des Unendlichen.

Es war jene unentschiedene, schöne Tagesstunde, die weder Ja noch Nein sagt. Schon war die Dunkelheit so weit zur Herrschaft gelangt, daß man über eine gewisse Entfernung nichts mehr erkennen konnte, und zugleich war es noch so hell, daß die näheren Gegenstände sich dem Blick nicht entzogen.

Einige Sekunden lang gab sich Jean Valjean wiederstandslos dem bestrickenden Zauber hin, mit dem ihn die erhabene, freundliche Ruhe der Natur umfing. Es giebt ja Augenblicke, wo man vergißt, wo das Elend den Unglücklichen zu peinigen unterläßt, wo alles in beschauliches Denken aufgeht, wo Friede in das Gemüth einzieht und wie die Sterne am Himmel, so in der Seele helles Licht erstrahlt. So konnte auch Jean Valjean nicht umhin, emporzublicken zu dem klaren Schatten, der über ihm lag; nachdenklich badete er, umwoben von der majestätischen Stille des ewigen Himmels, seine Brust in Verzückung und Gebet. Dann aber neigte er sich hastig, wie wenn er sich der Verabsäumung einer Pflicht bewußt würde, zu Marius nieder und goß ihm einige Tropfen Wasser, das er mit der hohlen Hand aus dem Flusse schöpfte, über das Gesicht. Der Verwundete that die Augenlider nicht auf, aber sein halbgeöffneter Mund athmete.

Eben wollte Jean Valjean zum zweiten Male seine Hand in den Fluß tauchen, als ihn jenes unbehagliche Gefühl überkam, das sich einzustellen pflegt, wenn Jemand hinter uns steht und wir ihn noch nicht bemerkt haben.

Wir haben diese allbekannte Empfindung schon an einer andern Stelle erwähnt.

Jean Valjean wandte sich um und sah allerdings, wie kurz zuvor, Jemand hinter sich.

Ein hochgewachsener, mit einem langen Rock bekleideter Mann stand mit verschränkten Armen und mit einem Totschläger, dessen Bleiknopf sichtbar war, in der rechten Hand einige Schritte hinter Jean Valjean, der neben Marius kauerte.

Eine unliebsame Erscheinung, vor der sich einfältige Menschen wegen der Dämmrung als vor einem Gespenst und besonnene wegen des Totschlägers als vor einem Räuber gefürchtet hätten.

Jean Valjean erkannte in dem Mann Javert.

Der Leser hat ohne Zweifel schon errathen, daß Thénardiers Verfolger kein Andrer als Javert war. Nachdem er unverhofft aus der Gefangenschaft gerettet worden, hatte er sich nach dem Polizeipräsidium begeben, wo er dem Präfekten selber in einer kurzen Audienz Bericht erstattete, und dann sofort wieder seinen Dienst angetreten, um seinen Instruktionen gemäß längs des rechten Flußufers, auf das seit einiger Zeit die Aufmerksamkeit der Polizei gerichtet war, auf Insurgenten und andre verdächtige Subjekte zu fahnden. Dort hatte er denn auch Thénardier gesehen und war ihm nachgegangen. Das Uebrige ist dem Leser bekannt.

Selbstverständlich war es ein feiner Kniff, wenn Thénardier so bereitwillig Jean Valjean die Thür aufschloß. Er fühlte, daß Javert noch immer da war, vermöge jenes Instinkts, der den Verfolgten nie täuscht, und sagte sich, er müsse dem gefährlichen Hund einen Knochen hinwerfen. Ein Mörder! Was für ein Fang für einen Polizisten! So was schlägt man nie aus, selbst wenn man noch besseres im Auge hat. Indem Thénardier Jean Valjean an seiner Statt hinausließ, gab er der Polizei eine Beute, veranlaßte sie, seine Fährte aufzugeben, bewirkte, daß man ihn über etwas Wichtigerem vergaß, belohnte Javert für sein langes Warten, was einem Spitzel immer angenehm ist, verdiente dreißig Franken und rechnete daraus, daß er dank dieser Diversion entkommen würde.

Jean Valjean war aus dem Regen in die Traufe gerathen.

Zwei solche Begegnungen unmittelbar hintereinander, ein Javert nach einem Thénardier, das war arg.

Javert erkannte Jean Valjean nicht, der, wie wir schon gesagt haben, sich selber nicht mehr glich. Er faltete die verschränkten Arme nicht auseinander, faßte mit einem kaum bemerkbarem Ruck den Totschläger fester und fragte ihn kurz und in ruhigem Tone:

»Wer sind Sie?«

»Ich.«

»Wer, ich?«

»Jean Valjean.«

Javert nahm seinen Totschläger zwischen die Zähne, bog die Knie, neigte den Oberkörper nach vorn, legte seine gewaltigen Hände auf Jean Valjean’s Schultern, so daß sie ihn wie zwei Schrauben hielten, sah ihn prüfend an, und erkannte ihn. Ihre Gesichter berührten sich beinahe. Javert’s Augen blitzten fürchterlich.

Jean Valjean verhielt sich regungslos in Javerts Händen, wie ein Löwe, der sich von einem Luchs würde anpacken lassen.

»Inspektor Javert,« sagte er, »Sie haben mich in Ihrer Gewalt. Uebrigens betrachte ich mich schon seit heute Morgen als Ihren Gefangnen. Meine Adresse habe ich Ihnen nicht gesagt, um Ihnen zu entwischen. Führen Sie mich weg, aber gewähren Sie mir eine Gunst.«

Javert schien nicht zu hören, was Jean Valjean sagte. Er heftete seine Augen noch eindringlicher auf ihn und sein aufgeworfnes Kinn drängte die Lippen gegen seine Nase empor, ein Zeichen, daß er grimmigen Gedanken nachging. Endlich ließ er Jean Valjean los, richtete sich mit einem Ruck gerade in die Höhe, umspannte den Totschläger wieder mit der ganzen Hand und murmelte wie im Traum, mehr als er sprach, die Frage:

»Was machen Sie hier und was hat es für eine Bewandtnis mit dem Mann da?«

Er fuhr also fort, Jean Valjean nicht mehr zu duzen.

Jean Valjean antwortete und seine Stimme schien Javert aus seiner Zerstreuung zu wecken.

»Von Dem wollte ich eben sprechen. Verfügen Sie über mich, wie es Ihnen beliebt; aber helfen Sie mir, ihn nach Hause zu bringen. Nur darum bitte ich Sie.«

Javerts Züge zogen sich zusammen, wie dies jedes Mal der Fall war, wenn man ihn irgend einer Nachgiebigkeit für fähig hielt. Indessen sagte er nicht Nein.

Er beugte sich von Neuem nieder, nahm aus seiner Tasche ein Tuch, das er ins Wasser tauchte, und wischte damit das Blut von Marius Stirn.

»Der junge Mensch hat auf der Barrikade gestanden,« sagte er halblaut und als spräche er mit sich selber. »Es ist Derjenige, den sie Marius nannten.«

Vorzüglich begabt, wie er als Spion war, hatte er alles beobachtet, alles belauscht, alles gehört und sich gemerkt, trotzdem er glaubte, daß er ein Kind des Todes sei; hatte er in seiner Sterbestunde aufgepaßt, und am Rande des Grabes Notizen in seinem Hirn gesammelt.

Er griff nach Marius, um ihm den Puls zu befühlen.

»Er ist verwundet,« sagte Jean Valjean.

»Er ist tot,« fiel ihm Javert ins Wort.

Jean Valjean antwortete:

»Nein. Noch nicht.«

»Sie haben ihn also von der Barrikade hierher gebracht?« bemerkte Javert.

Er mußte wohl sehr stark mit seinen eignen Gedanken beschäftigt gewesen sein, sonst hätte er wohl über die gefährliche Flucht durch die Kloaken nähere Auskunft verlangt und hätte auch beachtet, daß Jean Valjean auf seine Frage keine Antwort gab.

Auch diesen seinerseits schien ein einziger Gedanke zu beherrschen. Er fuhr mit der Rede fort.

»Er wohnt im Marais, Rue des Filles-du-Calvaire, bei seinem Großvater … Den Namen habe ich vergessen.«

Nun durchsuchte er Marius Taschen, holte die Brieftasche hervor, schlug die Seite auf, wo Marius die Notiz niedergeschrieben hatte und hielt sie Javert hin.

In der Luft schwebte noch gerade so viel Helligkeit, daß man lesen konnte, abgesehen davon, daß Javerts Augen der Katzenphosphorescenz der Nachtvögel theilhaftig waren. Er entzifferte also leicht die von Marius niedergeschriebnen, wenigen Zeilen und murmelte:

»Gillenormand, Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6.«

Dann rief er: »Kutscher!«

Der Leser entsinnt sich wohl noch, daß die Droschke für alle Fälle wartete.

Javert behielt Marius Brieftasche.

Einen Augenblick später hielt der Wagen, nachdem er die Rampe, die nach der Tränke führte, herunter gekommen war, am Wasser, woraus Marius auf dem Rücksitz untergebracht wurde und Javert neben Jean Valjean Platz nahm.

Nachdem die Thür zugemacht war, entfernte sich die Droschke in schnellem Trabe, indem sie am Flusse entlang in der Richtung des Bastillenplatzes fuhr.

Endlich wandten sie sich von dem Ufer ab und fuhren in die Straßen hinein. Der Kutscher, als schwarze Silhouette auf seinem Bock ließ die Peitsche auf seine magern Gäule niederfallen. Im Wageninnern eisiges Schweigen. Marius, der unbeweglich, den Oberkörper in die Ecke des Rücksitzes geschmiegt, den Kopf auf die Brust gesenkt, mit herabhängenden Armen und steifen Beinen dasaß oder lag, schien nur noch auf seinen Sarg zu warten; Jean Valjean schien aus einem Schatten und Javert aus einem Stein zu bestehen, und in dem nächtlichen Dunkel des Wagens, dessen Innres jedes Mal, wenn es an einer Straßenlaterne vorbeikam, von einem fahlen Lichtblitz erhellt wurde, vereinigte der Zufall zu einer unheimlichen Gesellschaft drei tragische Unbeweglichkeiten: einen Leichnam, ein Gespenst, eine Statue.

Die Rückkehr des verlornen Sohnes

Bei jedem Stoß, den die Droschke durch das Pflaster erlitt, fiel ein Tropfen Blut aus Marius Haaren herab.

Es war schon finstre Nacht, als der Wagen vor dem Hause Nr. 6 der Rue des Filles-du-Calvaire stehen blieb.

Javert stieg zuerst hinaus, vergewisserte sich, daß die Nummer über dem Thorweg die richtige war, hob den schweren, nach alter Mode mit zwei einander gegenüberstehenden mythologischen Gestalten, einem Bock und einem Satyr, verzierten, schmiedeeisernen Klopfer empor und donnerte damit heftig gegen die Thür. Der eine Flügel that sich auf und Javert stieß ihn weiter zurück. In der Oeffnung stand der verschlafene, gähnende Pförtner mit einem Talglicht in der Hand.

Alles schlief im Hause, denn im Marais geht alle Welt früh zu Bett, besonders, wenn es in der Stadt unruhig zugeht. Dieses gute, alte Stadtviertel flüchtet sich, wenn es durch eine Revolution geängstigt wird, in die Arme des Schlafes, wie die Kinder, wenn sie den schwarzen Mann kommen hören, schnell ihr Köpfchen unter die Decke verstecken.

Unterdessen zogen Jean Valjean und der Kutscher Marius aus der Droschke, indem Ersterer ihn unter die Arme faßte und der Andre seine Knie trug.

Während er so fortgeschafft wurde, griff Jean Valjean ihm unter die vielfach zerrissenen Kleider, befühlte seine Brust und überzeugte sich, daß das Herz noch schlug. Es schlug sogar etwas weniger schwach, als hätte die Bewegung des Wagens das matte Leben in einem gewissen Grade wieder angeregt.

Javert redete den Pförtner in dem Tone an, den die Obrigkeit gegenüber dem Diener eines Rebellen sich erlauben darf:

»Wohnt hier ein gewisser Gillenormand?«

»Ganz richtig. Was wünschen Sie von ihm?«

»Wir bringen ihm seinen Sohn.«

»Seinen Sohn?« fragte der Pförtner höchlichst verdutzt.

»Seinen toten Sohn.«

Jean Valjean, der hinter Javert in seinen zerrissenen und mit Koth bedeckten Kleidern stand und den der Pförtner mit einem gewissen Entsetzen betrachtete, bedeutete ihm mit einer verneinenden Bewegung des Körpers, daß Javert sich irre.

Der Polizeiinspektor fuhr fort:

»Er hat sich den Insurgenten angeschlossen und sich an einem Barrikadenkampf betheiligt.«

»Barrikadenkampf!« wiederholte der Pförtner.

»Dabei hat er sein Leben eingebüßt. Wecken Sie den Vater.«

Der Pförtner rührte sich nicht vom Fleck.

»So gehen Sie doch!« trieb ihn Javert an und sagte:

»Morgen giebt es hier im Hause ein Leichenbegängniß.«

In Javerts Kopf waren die gewöhnlichen Vorgänge, die sich auf den öffentlichen Plätzen und in den Straßen abspielen, nach wenigen Kategorien geordnet, was einen schnelleren Überblick und eine bessere Aufsicht ermöglichte, und jeder Vorfall hatte seine eigne Rubrik; es befanden sich also die möglichen Ereignisse so zu sagen in Schubfächern, aus denen sie erforderlichen Falles in beliebiger Zahl hervorgeholt werden konnten. Auf der Straße existirten für ihn hauptsächlich nur Krawalle, Revolten, Karnevalslustbarkeiten, Leichenbegängnisse.

Der Pförtner begnügte sich, Baske zu wecken: Baske weckte Nicolette; Nicolette weckte Tante Gillenormand. Den Großvater ließ man schlafen, da man meinte, er werde die Sache früh genug erfahren.

Sie trugen Marius, ohne daß irgend Jemand in den übrigen Theilen des Hauses es bemerkte, eine Treppe hinauf und legten ihn in Herrn Gillenormands Vorzimmer auf ein altes Sofa nieder, und während Baske nach einem Arzt ging und Nicolette die Wäscheschränke aufmachte, trat Javert an Jean Valjean heran und berührte seine Schulter. Dieser verstand den Wink und stieg, während Javert hinter ihm ging, die Treppe wieder hinunter.

Der verschlafne Pförtner sah sie gehen, wie er sie hatte kommen sehen, verdutzt und erschrocken.

Sie stiegen wieder in die Droschke und der Kutscher auf den Bock.

»Inspektor Javert,« hub Jean Valjean wieder an, »gewähren Sie mir noch eine Bitte.«

»Was denn?« fragte Javert in schroffem Tone.

»Lassen Sie mich einen Augenblick in meine Wohnung zurückkehren. Nachher thuen Sie dann mit mir, was Sie wollen.«

Javert versenkte nachdenklich das Kinn hinter seinen Rockkragen, verharrte einige Zeit in Stillschweigen und ließ dann die vordre Glasscheibe des Vordersitzes herab.

»Kutscher, Rue de l’ Homme-Armé Nr. 7.

Eine Erschütterung des Absoluten

Sie sprachen kein Wort während der ganzen Fahrt.

Was bezweckte Jean Valjean mit dieser Heimkehr? Er wollte vollenden, was er begonnen hatte; Cosette benachrichtigen, ihr mittheilen, wo Marius war, ihr vielleicht noch einige nützliche Verhaltungsmaßregeln geben, gewisse letzte Anordnungen treffen. Was ihn, ihn persönlich anbetraf, so war es mit ihm vorbei; er war in Javerts Gewalt und sträubte sich nicht gegen sein Schicksal. Ein Andrer hätte vielleicht in seiner Lage zwischen dem Strick, den ihm Thénardier gegeben und den Eisenstangen des ersten besten Gefängnisses, in das er eingesperrt werden würde, eine gewisse gedankliche Verbindung hergestellt; aber seit seiner Begegnung mit dem Bischof hegte Jean Valjean, wie wir noch einmal nachdrücklich betonen müssen vor jedem Attentat, auch wenn es sein eigenes Leben betraf, einen tiefen, religiösen Abscheu.

Der Selbstmord, die geheimnißvolle Thätlichkeit gegen das Unbekannte, die in einem gewissen Maße den Tod der Seele nach sich ziehen kann, war Jean Valjean unmöglich.

An dem Eingang der Rue de l’ Homme-Armé angelangt hielt die Droschke an, da diese Straße für jedweden Wagenverkehr zu schmal ist. Javert und Jean Valjean stiegen aus.

Der Kutscher stellte dem Herrn Polizeiinspektor demüthigst vor, daß der wollne Plüsch durch das Blut des Ermordeten und den Koth der Kleider des Mörders verdorben worden sei. Denn so hatte er sich den Vorgang, dessen Zeuge er gewesen war, gedeutet. Er habe also, fügte er hinzu, ein Recht auf Schadenersatz. Gleichzeitig zog er sein Buch aus der Tasche und ersuchte den Herrn Polizeiinspektor ihm die Sache gütigst bescheinigen zu wollen.

Javert wies das Buch zurück, das ihm der Kutscher hinhielt, und fragte:

›Wieviel verlangen Sie für alles zusammen, den Plüsch, den Aufenthalt und die Fahrt?‹

›Die Fahrt hat sieben und eine Viertelstunde gedauert,‹ antwortete der Kutscher, und der Plüsch war ganz neu. Achtzig Franken, Herr Polizeiinspektor.«

Javert zog vier Napoleonsd’or aus der Tasche und entließ den Kutscher.

Jean Valjean dachte, Javert beabsichtige ihn zu Fuß nach dem Wachtposten des Blancs-Manteaux oder dem des Archivgebäudes, die beide in der Nähe liegen, zu führen.

Sie gingen in die Straße, die wie gewöhnlich menschenleer war, hinein, indem Javert Jean Valjean vor sich hergehen ließ. Als sie vor Nr. 7 ankamen, klopfte Jean Valjean. Als die Thür aufging, sagte Javert:

»So! Nun gehen Sie hinauf!«

Dann bemerkte er noch mit einer sonderbare Betonung, als koste es ihm eine Ueberwindung so etwas zu sagen:

»Ich warte hier auf Sie.«

Jean Valjean sah Javert an. Diese Art und Weise stimmte so wenig mit Javerts sonstigen Gepflogenheiten überein! Allein darüber, daß Javert jetzt ein gewisses, hochmütiges Vertrauen zu ihm hatte, jene Art Vertrauen, die einer rettungslos verlornen Maus von der Katze geschenkt wird, darüber konnte er, da er entschlossen war, jeden Fluchtversuch zu unterlassen und ein Ende zu machen, sich nicht besonders wundern. Er stieß die Hausthür auf, trat ein, rief, als er an der Wohnung des Portiers vorbeikam, der im Bett lag: »Ich bin’s!« und stieg die Treppe empor.

Im ersten Stockwerk angelangt, machte er Halt. Wer einen schweren Gang thut, ruht gerne aus. Das Flurfenster, das zum Herunterlassen eingerichtet war, stand gerade offen. Es lag wie in vielen alten Häusern nach der Straße hinaus und ließ am Tage das Sonnenlicht in den Treppenraum hinein. Als Jean Valjean heraufkam, fiel der Schein der Straßenlaterne, die dem Hause gerade gegenüber stand, auf die Stufen, so daß die Beleuchtungskosten für das Treppenhans erspart werden konnten.

Sei es, um frische Luft zu schöpfen oder auch unwillkürlich und mechanisch trat Jean Valjean an das Fenster, lehnte sich hinaus und warf einen Blick auf die Straße. Sie ist kurz und die Laterne beleuchtete sie vollständig von dem einen bis zum andern Ende. Da fuhr Jean Valjean hoch erstaunt in die Höhe; es war unten kein Mensch zu sehen.

Javert war davongegangen.

Der Großvater

Baske und der Pförtner trugen Marius von dem Sofa, wo er noch immer kein Lebenszeichen gegeben hatte, nach dem Salon. Unterdessen war auch der Arzt gekommen, nach dem geschickt worden war, und Tante Gillenormand aufgestanden.

Das alte Fräulein lief erschrocken hin und her, rang die Hände und war unfähig irgend etwas Andres zu thun, als zu seufzen und zu jammern: »Herr Gott, wie ist so was nur möglich!« Und von Zeit zu Zeit eine Hausfrauenreflexion: »Wir werden lauter Blutflecken in alle Sachen kriegen!« Als die erste Bestürzung sich einigermaßen gelegt hatte, leuchtete in ihrem Geist ein gewisses Verständniß für das Wesen des Ereignisses auf und fand seinen Ausdruck in dem Ausruf: »Solch ein Ende mußte es ja nehmen!« Bis zu dem, bei solchen Gelegenheiten üblichen: »Das hatte ich ja gleich gesagt!« drang sie aber doch nicht vor.

Auf die Anordnung des Arztes wurde ein Gurtbett neben dem Sofa aufgestellt. Er untersuchte Marius und stellte fest, daß der Puls noch schlug, daß keine tiefere Wunde in der Brust zu entdecken sei und das Blut an den Mundwinkeln aus den Nasenlöchern stammte. Hierauf ließ er ihn flach auf das Bett legen, das Kissen wegnehmen, damit der Kopf nicht höher und sogar etwas niedriger liege als der Körper, und den Oberkörper entblößen, welche sämtliche Maßregeln den Zweck hatten, die Athmung zu erleichtern. Fräulein Gillenormand zog sich, als Marius entkleidet wurde, in ihr Zimmer zurück, wo sie ihren Rosenkranz abbetete.

An dem Rumpfe war keine innre Verletzung zu bemerken; denn auch eine Kugel, die seine Brust getroffen hatte, war durch die Brieftasche abgeschwächt worden und hatte zwar, indem sie die Rippen entlang glitt, das Fleisch gräßlich aufgerissen, aber keine tiefe und folglich auch keine wahrhaft gefährliche Wunde hinterlassen. Das zerbrochene Schlüsselbein dagegen war in Folge des weiten Transportes durch die Kloaken vollends auseinander gegangen und diese Verletzung sah bedenklich aus. Die Arme waren mit Säbelhieben bedeckt. Im Gesicht sah man keine Wunden; dagegen war der Kopf wie zerhackt. Wie aber diese Kopfwunden beschaffen waren, ob sie tiefer durch die Kopfhaut in das Gehirn hinabgingen, konnte man noch nicht wissen. Ein schlimmes Symptom war, daß sie eine Ohnmacht veranlaßt hatten, eine Art Ohnmacht, aus der man nicht immer wieder erwacht. Außerdem hatte der große Blutverlust den Verwundeten geschwächt. Der untere Theil des Körpers von dem Gürtel an war durch die Barrikade vor Wunden bewahrt worden.

Baske und Nicolette rissen alte Hemden in Streifen; Nicolette nähte sie an einander und Baske rollte sie auf. In Ermanglung von Charpie hatte der Arzt das Blut vorläufig mit Wattenlagen gestaut. Neben dem Bett brannten drei Kerzen auf einem Tisch, auf dem ein chirurgisches Besteck ausgebreitet war. Der Arzt wusch Marius Gesicht und Haare mit kaltem Wasser, von dem ein Eimer voll in einem Augenblick ganz roth wurde. Der Pförtner stand mit einem Talglicht dabei und leuchtete.

Der Arzt schien in trübe Gedanken versunken zu sein und von Zeit zu Zeit schüttelte er den Kopf, als verneinte er irgend eine Frage, die er innerlich sich selbst gestellt hatte. Ein schlechtes Zeichen für einen Kranken, wenn der Arzt dergleichen geheimnißvolle Selbstgespräche führt.

In dem Augenblick, als der Arzt das Gesicht des Verwundeten abtrocknete und mit dem Finger die noch immer geschlossenen Augenlider streifte, ging im Hintergrund des Salons eine Thür auf und auf der Schwelle erschien eine lange blasse Gestalt.

Die beiden Revoltetage hatten Gillenormand in große Unruhe, Aerger und Kummer versetzt, so daß er die vorletzte Nacht schlaflos verbracht und den ganzen Tag über das Fieber gehabt hatte. Am Abend zuvor war er dann frühzeitig zu Bett gegangen, nachdem er seinen Leuten eingeschärft, sie sollten das Haus gut verriegeln, und war dann in Folge der Uebermüdung eingeschlummert.

Aber alte Leute schlafen leise und da ferner Gillenormards Schlafzimmer an den Salon stieß, so war er trotz aller Vorsicht, die man gebrauchte, durch das Geräusch wach geworden. Verwundert über das Licht, das durch eine Thürspalte hereinschimmerte, war er aus dem Bett gestiegen und hatte sich nach der Thür hin getastet.

Jetzt stand er auf der Schwelle, die Klinke der halbgeöffneten Thür in der einen Hand, den wackligen Kopf ein wenig nach vorn geneigt, den Körper in einen weißen Schlafrock gehüllt, der gerade und faltenlos wie ein Leichentuch herabfiel, erstauntem Gesicht, und glich einem Phantom, das in ein Grab blickt.

Nun bemerkte er die Bettstelle und auf der Matratze den mit Blut bedeckten, wachsbleichen, jungen Mann, der mit geschlossnen Augen, offnem Munde, fahlen Lippen, nackt bis zum Gürtel, mit rothen Wundenmalen bedeckt, von grellem Licht bestrahlt, regungslos da lag.

Den Großvater überlief bei diesem Anblick von Kopf bis zu Fuß ein so heftiger Schauer, wie er bei seinen verknöcherten Gliedern nur irgend möglich war; seine Augen, deren Hornhaut in Folge des Alters gelb geworden, verschleierte eine Art glasiger Glanz; sein ganzes Antlitz bekam in einem Augenblick die erdfarbnen Vorsprünge eines Totenkopfes, seine Arme fielen wie gebrochen, schlaff herab und sein Schreck fand einen Ausdruck in der Spreizung der zittrigen Finger, seine Kniee knickten nach vorn ein und hielten den Schlafrock auseinander, so daß man seine schwachen, mit weißen Haaren bedeckten Beine sehen konnte.

»Marius!« murmelte er.

»Herr Gillenormand,« sagte Baske, »so eben sind ein paar Leute gekommen und haben Herrn Marius gebracht. Er hat sich bei einem Barrikadenkampf betheiligt und …«

»Ist tot geschossen worden!« rief der Alte mit gräßlichem Jammergeschrei. »O der nichtswürdige Bengel!«

Da richtete sich plötzlich der neunzigjährige Alte, jugendlich wie ein im Grabe Verjüngter, empor.

»Sie sind der Arzt; sagen Sie mir zunächst eins. Er ist tot, nicht wahr?«

Der Angeredete konnte vor Rührung und Mitleid kein Wort hervorbringen.

Da rang Gillenormand die Hände und lachte entsetzlich auf.

»Er ist tot, er ist tot! Er ist aus Haß gegen mich auf eine Barrikade gestiegen, damit sie ihn tot schießen sollten. Mir zum Aerger hat er das gethan! O der blutdürstige Schlingel, so kommt er wieder zurück. O weh mir, er ist tot!«

Er trat an ein Fenster, riß es weit auf, als wenn er erstickte und Luft schöpfen wollte und sprach in die Dunkelheit hinein.

»Zerstochen, in Stücke zerhauen, zerschossen, gewürgt, so läßt der infame Bengel sich zu mir bringen! Er wußte recht gut, daß ich ihn erwartete, daß ich sein Zimmer hatte in Ordnung bringen lassen, daß ich sein Bild aus der Zeit, wo er noch ein kleiner Junge war, neben das Kopfende meines Bettes angehängt hatte. Er wußte, daß er blos wiederzukommen brauchte und daß ich mich seit Jahren nach ihm sehnte, und daß ich des Abends vor meinem Kamin, die Hände im Schoß, saß und mich langweilte, weil er nicht da war und daß mich die Liebe zu ihm ganz dumm machte. Du wußtest es, daß Du blos zu kommen und ›Hier bin ich,‹ zu sagen brauchtest, und daß Du der Herr im Hause gewesen wärest und daß ich parirt und daß Du alles, was Du wolltest, mit Deinem alten Trottel von Großvater hättest anstellen können. Das wußtest Du, aber Du hast gesagt: ›Nein, der Alte ist ein Königlicher, zu dem gehe ich nicht.‹ Und da bist Du boshafter Bengel auf eine Barrikade gestiegen und hast Dich totschießen lassen, aus Rache, weil ich Dir bei unserm Streit wegen Seiner Königlichen Hoheit des Herzogs von Berry etwas gesagt habe, das Dir nicht gepaßt hat! Das nenne ich mal eine Schändlichkeit! Da soll Einer noch sich zu Bett legen und ruhig schlafen, wenn er aufgeweckt wird und sie zu ihm sagen, er ist tot.«

Der Arzt, der sich jetzt einer zweifachen Befürchtung hingab, ließ einen Augenblick Marius liegen, trat auf Gilenormand zu und ergriff ihn beim Arm. Der Greis wandte sich um, sah ihn mit Augen an, die vergrößert und mit Blut gefüllt schienen, und sagte ruhig:

»Herr Doktor, ich danke Ihnen. Ich bin ruhig, ich bin ein Mann; habe Ludwig XVI. sterben sehen und verstehe, das Unabänderliche zu ertragen. Eine Sache ist schrecklich, der Gedanke nämlich, daß Eure Zeitungen all das Unheil anstiften. Habt Ihr Federfuchser, Zungendrescher, Advokaten, Redner, Parlamente, Debatten, fortschrittlichen Unsinn, Aufklärung, Menschenrechte, Preßfreiheit, so werden Euch Eure Kinder in solch einem Zustande nach Hause gebracht. O Marius! Das ist abscheulich von Dir! Getötet, vor mir gestorben. Auf einer Barrikade erschossen! O Du Kanaille! Herr Doktor. Sie wohnen ja wohl hier in der Gegend? Ich kenne Sie sehr gut. Ich sehe Sie oft in Ihrer Equipage hier vorbeifahren. Ich will Ihnen was sagen, Herr Doktor. Es wäre ein Irrthum von Ihnen, zu glauben, daß ich wüthend bin. Einem Toten zürnt man nicht, das wäre eine Dummheit. Den Jungen habe ich groß gezogen. Ich war schon ein alter Kerl, als er noch in den Windeln lag. Er spielte gern im Tuileriengarten mit seinem kleinen Spaten und seinem Stühlchen und damit ihn die Aufseher nicht schelten sollten, machte ich nach und nach die Löcher, die er in die Erde grub, wenn er fertig war, mit einem Spazierstock wieder zu. Eines Tages schrie er: ›Nieder mit Ludwig XVIII.!‹ und ist weggegangen. Meine Schuld war’s nicht. Der Junge hatte rosige Bäckchen und blonde Haare. Seine Mutter ist tot. Haben Sie beobachtet, daß alle kleinern Jungen blond sind? Woher kommt das? Er war doch der Sohn eines Loireräubers, aber die Kinder sind unschuldig an den Vorbrechen ihrer Eltern. Ich besinne mich noch auf ihn, wie er noch so klein war. Er konnte anfangs das D nicht aussprechen. Dabei papelte er so lieblich, daß es sich wie Vogelgezwitscher anhörte. Eines Tages, erinnre ich mich, gab es bei der Statue des Hercules von Farnese einen Auflauf, weil die Leute ihn sich ansehen wollten und ihn bewunderten; so hübsch war das Kind. Ein Köpfchen, sage ich Ihnen, Herr Doktor, wie man’s auf Gemälden sieht. Ich pflegte ihn anzufahren, ihm mit dem Stock zu drohen, aber er wußte, daß ich’s nicht ernst meinte. Wenn er des Morgens auf mein Zimmer kam, brummte ich, aber dabei war mir zu Muthe, als fiel mir ein Sonnenstrahl ins Herz. Gegen die kleinen Dinger ist man wehrlos. Sie packen Einen, halten Einen, lassen Einen nicht wieder los. Solch einen allerliebsten Jungen hat es nie gegeben, wie der einer war. Und jetzt, was sagen Sie dazu, daß Ihre Lafayette, Ihre Benjamin Constant, Ihre Tirecuir de Corcelles ihn mir umgebracht haben. Darf das so hingehen?«

Mit diesen Worten trat er an den totenblassen Marius, der sich noch immer nicht bewegte, heran und mit dem sich der Arzt jetzt wieder beschäftigte und begann wieder die Hände zu ringen. Die farblosen Lippen des Greises bewegten sich so zu sagen mechanisch und hauchten mit Aechzen untermischte Worte hervor, die kaum noch verständlich waren: »O Du herzloser Junge! Du Revolutionär! Nein, solche Schlechtigkeit! O Du Blutmensch.« — Leise Vorwürfe eines Sterbenden an einen Toten.

Allmählich aber kamen, da die Gefühle sich schließlich immer eine Bahn brechen und sich äußern, wieder zusammenhängende Reden heraus, aber der Greis schien nicht mehr die Kraft zu haben wie gewöhnlich zu sprechen und seine Stimme klang so dumpf und matt, als käme sie über einen Abgrund herüber.

»Nun meinetwegen, jetzt sterbe ich auch bald. Wenn man denkt, daß sich nicht leicht ein Mädel dem Elenden versagt hätte! Aber statt sich zu amüsiren und das Leben zu genießen, geht der Bengel hin und läßt sich totschießen wie ein Stück Vieh. Und für wen? Wozu? Für die Republik! Statt nach der Chaumière tanzen zu gehen, was doch die Pflicht der jungen Leute ist. Wozu ist die Jugend denn sonst da? Die Republik! Solch eine Verdrehtheit! Nun setzt noch hübsche Kinder in die Welt, ihr armen Mütter! Ja ja, er ist tot! Nun giebt’s zwei Leichenbegängnisse auf einmal im Hause. Also so hast Du Dich zurichten lassen aus Liebe zu dem General Lamarque! Was hat er Dir denn zu Liebe gethan, der Säbelrasseler, der Schwabbelmichel? Sich für einen Toten totschlagen zu lassen! Könnte man nicht verrückt werden bei so einem Gedanken! Das begreife, wer’s kann? Ist blutjung und geht davon, ohne sich umzusehen, wer hinter ihm zurückbleibt. Die armen, alten Stiefel können ja allein sterben. Krepire in Deinem Winkel, Du alter Uhu! Na aber, im Grunde genommen, ist es so besser, das kommt mir gelegen, nun werde ich einmal abkommen. Ich bin zu alt, ich habe hundert, hundert tausend Jahre auf dem Rücken und hätte schon längst das Recht gehabt, zu sterben. Nun kann’s aber werden. Jetzt ist’s vorbei mit mir. Ein wahres Glück! Wozu lassen Sie ihn nur bloß das Ammoniak einathmen, Sie Schwachkopf von Doktor, und wozu all die Medizin? Er ist tot, sage ich Ihnen, mausetot! Ich muß mich darauf verstehen. Bin ich doch selber auch schon tot. Er hat sich’s gründlich besorgen lassen. Ja, wir leben in einer nichtswürdigen Zeit, verstanden? Das ist meine Meinung von Euch, Euern Ideen, Euern Systemen, Lehrern, Orakeln, Gelehrten, Euern Thunichtguten von Schriftstellern, Euern Lumpen von Philosophen und all den Revolutionen, die seit sechzig Jahren die Raben im Tuileriengarten aufscheuchen. Und da Du so erbarmungslos gewesen bist und hast Dich tot schießen lassen, so werde ich mir über Deinen Tod auch keinen Kummer machen. Hörst Du, Du Mörder?«

In demselben Augenblick, wo der Alte diese Worte aussprach, hob Marius langsam die Augenwimpern empor und ließ seinen, noch von lethargischem Erstaunen verschleierten Blick auf Gillenormand ruhen.

»Marius!« schrie der Greis. »Marius, mein Mariuschen! Mein Kind, mein geliebter Junge! Du machst die Augen auf, Du siehst mich an, Du lebst! Ich danke Dir.«

Und er brach ohnmächtig zusammen.

Javert geräth aus seinem Geleise

Javert geräth aus seinem Geleise

Während Jean Valjean die Treppe hinaufstieg, entfernte sich Javert mit langsamen Schritten.

Er ging mit gesenktem Haupte, zum ersten Mal in seinem Leben, und hielt, gleichfalls zum ersten Mal, die Hände dabei auf dem Rücken.

Bisher hatte Javert von Napoleons beiden Lieblingshaltungen nur Diejenige, die das Zeichen der Entschlossenheit ist, angenommen, die Kreuzung der Arme auf die Brust; die für die Ungewißheit, den Mangel an Entschiedenheit und Selbstvertrauen charakteristische, diejenige, wo man die Hände auf den Rücken hält, war ihm unbekannt. Jetzt war eine Verändrung vorgegangen; jetzt zeugte sein ganzes Wesen, wie er so, langsam und in sich gekehrt, dahinging, von einer gewaltigen Erregung.

Er suchte stille Straßen auf.

Indessen schlug er eine bestimmte Richtung ein.

Denn er ging auf dem kürzesten Wege nach dem Flusse, dann den Quai des Ormes entlang, über den Grèveplatz hinaus und blieb in einiger Entfernung von dem Wachtposten des Châteletplatzes an der Ecke der Notre-Dame-Brücke stehen. An dieser Stelle, zwischen der Notre-Dame-Brücke und dem Pont au Change einerseits, dem Quai de la Mégisserie und dem Quai aux Fleurs andrerseits die Seine eine Art viereckigen See mit einer starken Stromschnelle.

Dieser Theil der Seine wird von den Schiffern sehr gefürchtet. Giebt es doch nichts Gefährlicheres als diese Stromschnelle, die damals noch durch die Pfeiler der seitdem abgebrochenen Brücke eingeengt und zu noch größerer Heftigkeit angespornt wurde. Die beiden, einander sehr nahen Brücken steigern die Gefährlichkeit dieser Stelle, indem das Wasser sich zwischen den Bogenwandungen furchtbar beeilt. Es bildet hier starke Strudel, drängt sich zusammen und staut sich; es ist, als wolle der Fluß mächtige Wogen um die Brückenpfeiler schlingen und sie umreißen. Wer hier hineinfällt, kommt nicht wieder zum Vorschein und die allerbesten Schwimmer ertrinken.

Javert legte sich mit beiden Händen auf die Brüstung, stützte das Kinn mit den Händen und dachte tief nach, während die Finger den dichten Backenbart krampfhaft festhielten.

Etwas Neues, eine Umwälzung, eine Katastrophe war in seinem Innern vorgefallen und er hatte allen Grund sein Denken und Fühlen einer Prüfung zu unterziehen.

Javert litt herbe Seelenpein.

Seit einer Stunde hatte er sein früheres, einfaches Wesen verloren. Es hatte sich getrübt; das bei seiner Umnachtung so klare Hirn hatte nicht mehr seine alte Durchsichtigkeit; in dem Krystall waren düstre Flecken. Javert fühlte in seinem Gewissen, daß der Weg seiner Pflicht sich zweitheilig spaltete und er konnte dieses Gefühl nicht zurückdrängen. Als er an dem Ufer der Seine ganz unvermuthet auf Jean Valjean stieß, da hatte sich in ihm zugleich der alte Wolfssinn, der ein Wild wittert und die Empfindung des Hundes, der seinen Herrn wiederfindet, geregt.

Er sah vor sich zwei gerade Wege, aber leider waren es ihrer zwei und dies setzte ihn in Schrecken, ihn, dessen Pflichtgefühl in seinem ganzen Leben immer nur eine gerade Linie gekannt hatte. Und — o herbe Pein — es waren zwei entgegengesetzte Wege. Die eine der beiden geraden Linien schloß die andre aus. Welche von beiden war die richtige?

Die Lage, in der er sich befand, war eine unbeschreiblich eigenartige.

Daß er das Leben einem Verbrecher verdankte, daß er diese Schuld anerkannt und wieder erstattet; daß er sich allen seinen Gefühlen zum Trotze mit einem ehemaligen Sträfling auf gleichen Fuß gestellt und ihm einen Dienst mit einem andern bezahlt; daß er von einem solchen Menschen das rettende Wort: »Nun kannst Du gehen« gehört und zu ihm dafür: »Nun sei frei!« gesagt; daß er persönlichen Motiven seine Pflicht geopfert und in diesen Motiven ein ebenfalls allgemeines und vielleicht sogar höheres Moralprinzip empfand; daß er die Gesellschaft verrathen, um seinem Gewissen treu zu bleiben; daß alle diese Widersinnigkeiten Wirklichkeiten waren und gerade bei ihm zusammentrafen, das war etwas, das ihn in eine grenzenlose Bestürzung versetzte.

Unbegreiflich war es ihm, daß Jean Valjean ihm Gnade erwiesen, und eine noch unendlich größere Unfaßbarkeit daß er, Javert, Jean Valjean begnadigt hatte.

Wo war er hingerathen! Er schaute sich um und fand sich nicht mehr zurecht.

Was sollte er jetzt thun! Jean Valjean der Gerechtigkeit überliefern? Das wäre eine Schlechtigkeit gewesen. Ihn frei lassen? Das war auch nicht in der Ordnung. In dem ersten Fall sank er, der Beamte unter das Niveau des Zuchthäuslers; im zweiten stellte sich ein Sträfling höher als das Gesetz und trat es unter seine Füße. In beiden Fällen war er, Javert entehrt. Wofür er sich auch entscheiden mochte, immer that er einen Sündenfall. Javert stand jetzt vor einem Abgrund, den zu überspringen ihm unmöglich war.

Was ihn noch beängstigte, war die Nothwendigkeit nachdenken zu müssen. Dazu zwang ihn schon die bloße Gewaltsamkeit der widersprechenden Empfindungen, die ihn aufregten. Denken! Was für eine ungewohnte, ihm qualvolle Arbeit!

Alles Denken ist mit einem gewissen Quantum Selbstüberwindung verbunden, und es verdroß ihn, daß er in seinem Innern auf solch einen Widerstand stieß.

Jedes Nachdenken, auf welchen außerhalb seines engen Berufskreises gelegnen Gegenstand es sich auch beziehen mochte, wäre für ihn in allen Fällen etwas Unnützes und eine Strapaze gewesen; aber über die Ereignisse des eben verflossenen Tages nachzudenken war nun gar eine Marter. Nach solchen Erschütterungen mußte er aber doch wohl Einkehr in sein Innres halten und sich Rechenschaft von seinem Thun und Lassen geben.

Was er gethan hatte, flößte ihm Schauder ein. Es hatte ihm, Javert, beliebt, allen Polizeireglements, der gesamten gesellschaftlichen Organisation, allen Gesetzen zum Trotze eine Freilassung anzuordnen; das war bloße Willkür gewesen; er hatte seine Privatangelegenheiten über das Gesamtwohl gestellt; war so etwas nicht unqualifizirbar? Jedes Mal, wenn er sich die namenlose Handlung, die er begangen, vorstellte, zitterte er von Kopf bis zu Fuß. Wozu sollte er sich entschließen? Es blieb ihm ein einziger Ausweg: Er mußte schleunigst nach der Rue de l’Homme-Armé zurückkehren und Jean Valjean ins Gefängniß abführen. Dies mußte geschehen, so gebot es ihm seine Ueberzeugung. Aber er brachte es nicht übers Herz.

Es versperrte ihm etwas den Weg nach dieser Richtung hin.

Etwas? Ja, was denn aber? Gab es denn auf der Welt etwas, das gegen die Gerichte, die Urtheilsvollstreckungen, die Polizeiverordnungen und die Obrigkeit aufkommen konnte? Javert wußte sich keinen Rath, wie er diese Frage beantworten sollte.

Ein Galeerensklave sollte unantastbar sein, den Händen der Justiz entrinnen dürfen! Und noch dazu, weil Javert es so haben wollte!

Daß Javert und Jean Valjean, derjenige, dessen Beruf es war, Menschen zu peinigen, und derjenige, der dazu da war, Pein zu erdulden, daß diese beiden Männer, denen die Pflicht gebot, dem Gesetz gegenüber willenlos zu sein, sich des Frevels erkühnt hatten, das Gesetz beiseitezusetzen, war das nicht etwas Entsetzliches?

Also derartige Ungeheuerlichkeiten sollten geschehen und Niemand dafür bestraft werden? Jean Valjean, der sich stärker dünken dürfe als die ganze, gesellschaftliche Ordnung, solle frei herumgehen und er, Javert, das Brod der Regierung ruhig weiter essen?

Seine Gehirnanstrengung nahm allmählig eine schreckliche Intensität an.

Er hätte sich nebenbei auch noch Vorwürfe machen können wegen des Insurgenten, den er nach der Rue des Filles-du-Calvaire gebracht hatte; aber an diesen Verstoß gegen seine Pflicht dachte er nicht. Das geringere Vergehen kam neben dem größeren nicht in Betracht. Uebrigens war der Mann doch wohl ein Kind des Todes und der Tod macht jede gerichtliche Verfolgung gegenstandslos.

Jean Valjean lastete mit schwerem Drucke auf Javert’s Seele.

Der Mann brachte ihn aus dem Konzept. Alle Grundsätze, auf die er sich sein Leben lang gestützt, brachen diesem Menschen gegenüber zusammen. Jean Valjeans Großmuth gegen ihn, seinen Verfolger, erdrückte ihn. Andre Thatsachen, auf die er sich jetzt besann und die er ehedem für Lügen und Dummheiten gehalten, dünkten ihm nun Wirklichkeiten. Hinter Jean Valjean tauchte Herr Madeleine auf und diese beiden Gestalten vereinigten sich jetzt zu einer einzigen, Achtung gebietenden. Javert wurde inne, daß eine entsetzliche Empfindung sich seiner Seele bemächtigte, die Bewundrung für einen Zuchthäusler! Einen Galeerensklaven achten — ist denn so etwas möglich? Er schauderte bei dem Gedanken und konnte sich ihm doch nicht entziehen. Mochte er sich noch so sehr sträuben, er sah sich gezwungen, in seinem Innersten an den edlen Charakter jenes Elenden zu glauben. Welch ein widerwärtiger Gedanke!

Ein mildthätiger Verbrecher, ein bestrafter Mensch, der mitleidig, sanft, hülfreich, liebreich war, Böses mit Gutem, Haß mit Verzeihung vergalt, das Erbarmen der Rache vorzog, lieber sich als seinen Feind zu Grunde richten wollte, denjenigen, der ihn mißhandelte, rettete, auf dem höchsten Gipfel der Tugend kniete, mehr einem Engel als einem Menschen glich! Ja, Javert mußte gestehen, daß solch ein Monstrum existirte.

Das konnte so nicht länger dauern.

Allerdings — wir heben es mit Nachdruck hervor — hatte er sich dem moralischen Einflusse dieses Monstrums, dieses nichtswürdigen Engels, dieses verabscheuungswürdigen Helden, über den er ebenso erbost wie verwundert war, hingegeben, Zwanzig Mal brüllte, als er Jean Valjean gegenüber im Wagen saß, der Gesetzestiger in ihm laut auf. Zwanzig Mal war er in Versuchung gekommen, über Jean Valjean herzufallen, ihn zu packen, ihn zu verschlingen, nämlich ihn zu arretiren. Dazu brauchte er bloß in das erste Wachtlokal, wo er vorbeikam, hineinzurufen. »Hier ist ein entsprungner Zuchthäusler! Hier, Gensd’armen, nehmt ihn hin!« Dann konnte er davon gehen, den Elenden seinem Schicksal überlassen, und sich um alles Uebrige nicht weiter bekümmern. Dann war der Mann für immer ein Gefangner des Gesetzes, das mit ihm machen mochte, was es wollte. Was konnte es Gerechteres geben? Alles dies hatte sich Javert gesagt, hatte sich über alle Bedenken hinwegsetzen, handeln, den Mann dingfest machen wollen und hatte es in dem Augenblick ebenso wenig thun mögen wie jetzt, und jedes Mal, wenn er krampfhaft die Hand nach Jean Valjeans Kragen ausgestreckt hatte, war sie, als hänge sich ein schweres Gewicht daran, zurück gesunken und jedes Mal hatte ihn eine tadelnde Stimme in seinem Gewissen abgehalten: »Nur zu! Liefere deinen Lebensretter aus und laß Dir dann ja Wasser bringen wie Pontius Pilatius und wasche Deine Tigerklauen in Unschuld.«

Hierauf richtete er sein Denken auf sich selbst und fühlte, daß er neben Jean Valjean sehr klein da stand.

Ein bestrafter Mann war sein Wohlthäter.

Aber warum in aller Welt hatte er dem Menschen erlaubt, ihm das Leben zu schenken? Er hatte doch das Recht, getötet zu werden. Warum hatte er sich dieses Rechtes nicht bedient? Die andern Insurgenten gegen Jean Valjean zu Hülfe zu rufen, sich von ihnen mit Gewalt erschießen zu lassen, wäre besser gewesen.

Was ihn am meisten quälte, war das Verschwinden der Gewißheit. Er fühlte, daß alle seine Ueberzeugungen entwurzelt waren. Das Gesetzbuch war in seiner Hand zu einer zerbrochnen Waffe geworden. Er hatte mit Skrupeln zu thun, die er nie gekannt, die für ihn ganz neu waren und eine Offenbarung wurde ihm allmählich zu Theil, die ihn den sanfteren Gemüthsregungen zugänglich machte, und die von seiner bisherigen Richtschnur, der ausschließlichen Verehrung des Gesetzes, gänzlich und wesentlich verschieden war. Sich innerhalb der Grenzen der ehemaligen Rechtschaffenheit zu halten, schien ihm jetzt nicht mehr ausreichend. Er lenkte jetzt seine Aufmerksamkeit auf eine Menge moralischer Thatsachen, die er bis jetzt nicht beachtet hatte und die sich ihm unabweisbar aufdrängten. Sein Herz lernte eine neue Gedankenwelt verstehen, die Erweisung und Vergeltung von Wohlthaten, die Hingabe an einen edlen Zweck, die Opferfreudigkeit, die Barmherzigkeit, und Nachsicht, die Vergewaltigung der Principienstrenge durch das Mitleid, die Rücksicht auf die Eigenart und das Naturell des Nebenmenschen, die Abschaffung aller Verurtheilungen auf Lebenszeit, die Aufhebung jedweder Verdammniß, die Möglichkeit, daß das Auge des Gesetzes Thränen der Rührung weine, eine Gerechtigkeit nach dem Herzen Gottes, die der Gerechtigkeit nach dem Herzen der Menschen entgegengesetzt sein könne. In seinem geistigen Dunkel stieg das Gestirn einer unbekannten Moral empor, die ihn zugleich erschreckte und blendete, wie eine Eule, die man zwingen wollte, mit Adleraugen in die Welt zu schauen.

Er dachte jetzt, es sei also wahr, daß es Ausnahmen gebe, die Obrigkeit könne in Verlegenheit gebracht werden, man könne mit Regeln den Thatsachen gegenüber nicht immer auskommen, nicht alles ließe sich in den Rahmen des Strafgesetzbuches zwängen, auch das Nichtgesehene mache sich geltend, es sei möglich, daß die Tugend eines bestraften Menschen derjenigen eines Beamten eine Falle stelle, Ungeheuerliches sei hin und wieder etwas Göttliches, das Schicksal verfahre bisweilen mit dieser Art Hinterlist, und es setzte ihn in Verzweiflung, daß er einer solchen Ueberrumplung erlegen war.

Er war gezwungen, anzuerkennen, daß solch ein Ding wie Herzensgüte existire. War doch das bestrafte Subjekt gut gewesen. Und er selber ebenfalls, so seltsam dies auch scheinen mochte. Er war also drauf und dran, ein schlechter Kerl zu werden.

Er hielt sich für feige und empfand Abscheu vor sich selber.

Javert’s Ideal bestand nicht darin, daß er menschlich, hochherzig, edel sein wollte. Ihm kam es nur darauf an, keinen Tadel zu verdienen.

Nun aber hatte er gefehlt.

Wie er das fertig bekommen hatte, wie das zugegangen war, hätte er sich nicht erklären können. Er nahm seinen Kopf in beide Hände, aber so sehr er sich auch anstrengte, er verstand es nicht.

Es war doch ganz gewiß immer seine Absicht gewesen, Jean Valjean dem Gesetz, dessen Gefangner er war, und dem er, Javert, zu gehorchen hatte, zu überliefern! Nicht einen einzigen Augenblick hatte er sich, so lange er ihn in seiner Gewalt hielt, eingestanden, daß er ihn laufen lassen wollte. Seine Hand hatte sich gewissermaßen wider seinen Willen aufgethan und den Häftling losgelassen.

Alle Arten räthselhafter Neuheiten entfalteten sich jetzt vor seinen Augen. Er that Fragen an sich und beantwortete sie, und diese Antworten erschreckten ihn: Was hat dieser verzweifelte Verbrecher, den ich aufs äußerste verfolgt habe und der mich unter seinem Fuß hatte, der sich rächen konnte und es mußte, wollte er zugleich seinen Groll befriedigen und für seine persönliche Sicherheit sorgen, was hatte er gethan, indem er mir das Leben ließ? Seine Schuldigkeit? Bewahre, mehr als das. Und ich, was that ich, indem ich ihn meinerseits schonte? Doch auch mehr als meine Pflicht. Es giebt also noch etwas Höheres, als die Pflicht? Diese Schlußfolgerung setzte ihn in peinliche Verlegenheit; seine Waage verschob sich; die eine Schale sank in die Tiefe hinab, während die andre zum Himmel emporschnellte, und Javert erschrak nicht weniger über diejenige, die hoch, als über die andre, die niedrig stand. Ohne im geringsten das zu sein, was man einen Voltairianer nennt, oder ein Philosoph oder Atheist, sondern indem er im Gegentheil eine instinktmäßige Ehrfurcht vor der Staatsreligion hatte, kannte er sie doch nur als einen Respekt verdienenden Theil des gesellschaftlichen Ganzen; die bestehende Ordnung war sein Dogma und genügte ihm; seitdem er mannbar und Beamter geworden, verwandte er beinah seine ganze Religiosität auf seinen Dienst; denn er war — wir brauchen hier die Worte ohne die geringste Ironie und in ehrlichem Ernste — er war für seinen Spionenberuf eben so begeistert, wie der Priester für die Religion. Er hatte einen Vorgesetzten, den Polizeipräfekten Gisquet; an den andern, höhern Vorgesetzten, den Herrgott hatte er bis dahin nicht oft gedacht.

Dieser neue Gebieter — das fühlte er unvermutheter Weise — trat ihm jetzt näher und das beunruhigte ihn.

Die neue Erscheinung brachte ihn aus der gewohnten Fassung; er wußte nicht, wie er sich diesem Vorgesetzten gegenüber zu benehmen habe. Und doch war es ihm wohl bekannt, daß der Untergebne verpflichtet ist, sich immer zu beugen, daß er weder ungehorsam sein, noch tadeln, noch widersprechen darf und daß er sich einem Vorgesetzten gegenüber, über den er sich zu sehr wundert, nicht anders helfen kann, als indem er seine Entlassung einreicht.

Aber wie sollte er bei dem Herrgott um seine Entlassung einkommen!

Wie dem aber auch sein mochte, er kam immer wieder auf die eine Thatsache zurück, die für ihn die Hauptsache war, nämlich darauf, daß er sich einer groben Uebertretung schuldig gemacht hatte. Er hatte einem rückfälligen, bannbrüchigen Verurtheilten durch die Finger gesehen, einen Galeerensklaven in Freiheit gesetzt, den Gesetzen einen Menschen gestohlen, der ihnen gehörte. Es war ihm unbegreiflich, daß er so etwas hatte thun können. Die Gründe seiner Handlung blieben ihm verborgen und sie hinterließ ihm nur ein Gefühl des Schwindels. Er hatte bis zu dieser Zeit in jenem blinden Glauben gelebt und gewebt, den die ihrer selbst nicht bewußte Rechtschaffenheit gebiert. Dieses Vertrauen war nun dahin, die Rechtschaffenheit besaß er nicht mehr. Alles, was er geglaubt hatte, zerrann. Wahrheiten, von denen er nichts wissen wollte, plagten unerbittlich grausam seinen Geist. Es konnte nicht anders sein, er mußte in Zukunft ein andrer Mensch sein. Er litt die merkwürdigen Schmerzen eines Gewissens, dem urplötzlich der Staar gestochen worden ist. Er sah, was ihm zu sehen widerstrebte, denn er kam sich ausgepowert, überflüssig, aus seinem vergangnen Leben herausgerissen, abgesetzt, vernichtet vor. Die Sicherheit des Auftretens war verloren und somit hatte er keinen Berechtigungsgrund zu existiren.

Schrecklich, solch eine Gemüthsaufregung!

Von Granit zu sein und zu zweifeln! Eine in die Form des Gesetzes gegossene Statue der Strafe zu sein und plötzlich zu fühlen, daß man in seiner broncenen Brust etwas Dummes und Ungehorsames hat, das beinah einem Herzen ähnlich sieht! Sich so weit zu vergessen, daß man Gutes mit Gutem vergilt, obgleich man bisher immer der Ueberzeugung gelebt hat, daß jenes Gute das Böse ist! Ein Kettenhund zu sein und einen Feind anzuwedeln! Eis zu sein und zu schmelzen! Eine Zange zu sein und eine weiche Hand zu werden! Eine Beute zu packen, um sie loszulassen! Entsetzlicher Gedanke!

Ein Geschoß, das im Fluge anhält, seinen Weg nicht findet und rückwärts geht!

Sich eingestehen zu müssen, daß die Unfehlbarkeit nicht unfehlbar ist; daß im Dogma Irrthum enthalten sein kann; daß nicht alles gesagt ist, wenn ein Strafgesetzbuch gesprochen hat; daß die Gesellschaft nicht vollkommen; daß die Autorität Schwankungen ausgesetzt ist; daß Unerschütterliches wanken kann; daß die Richter Menschen sind, und das Gesetz dem Irrthum unterworfen ist; daß Gerichtshöfe unbillige Urtheile fällen können! Einen Riß an der großartigen Decke des blauen Firmaments zu sehen!

Was mit Javert vorging, hatte Aehnlichkeit mit einer Eisenbahnkatastrophe. Es war die Entgleisung einer Seele, die Vernichtung einer mit unwiderstehlicher Gewalt geradeaus geschleuderten Rechtschaffenheit, die gegen Gott anrennt und zerschmettert wird. Merkwürdig, der Heizer der Ordnungsmaschine, der Zugführer der Obrigkeit konnte von seinem Eisenroß durch einen Lichtstrahl herabgestürzt werden! Die eingefleischte Konsequenz, Narrheit, Korrektheit, Regelmäßigkeit, Passivität, Vollkommenheit war sich untreu geworden! Also auch für eine Maschine gab es einen Weg nach Damaskus!

Daß Gott immer im Herzen des Menschen weilt, daß er, der Schöpfer des wahren, moralischen Bewußtseins sich auflehnt gegen das falsche, den Funken in uns nicht erlöschen läßt, dem Licht gebietet, sich der Sonne zu erinnern, die Seele zwingt, das echte Absolute anzuerkennen, wenn sie es neben dem künstlichen erschaut: daß die Menschlichkeit nicht verloren geht; daß die Rechte des Herzens unveräußerlich sind — verstand Javert dieses herrliche Phänomen, vielleicht das schönste aller der Wunder unseres moralischen Ichs? Konnte er es erfassen? Nahm er es auch nur wahr? Keineswegs. Aber den Druck dieser unableugbaren Unbegreiflichkeit fühlte er so stark, daß ihn dünkte sein Schädel müsse bersten.

Denn dieses Wunder bewirkte in ihm weniger eine moralische Klärung als daß es ihm Pein bereitete und er empfand dies mit Zorn. Ihm bewies der ganze Vorgang nur die große Schwierigkeit zu leben. Es war ihm, als sei seine Brust für immer beklemmt.

Daß über seinem Haupte Unbekanntes schweben sollte, an den Gedanken war er nicht gewöhnt.

Statt dieses Unbekannten hatten seine Augen bisher immer nur eine glatte, einfache, klare Fläche gesehen, die nichts Verborgnes, Zweifelhaftes bergen konnte; nichts, das nicht bestimmt, an dem richtigen Platze, definirt, genau begrenzt, abgeschlossen, unzweideutig, vorhergesehen gewesen wäre; die Obrigkeit war für Javert eine solche Ebene, auf der man nicht straucheln, die keinen Schwindel erregen konnte. Für Javert existirte das Unbekannte nur unten. Das Regelwidrige, das ordnungslose Chaos, die Möglichkeit in einen Abgrund zu gleiten, hatte nur Statt in den niedrigen Regionen, dem Wohnort der Aufrührer, der Krakehler, der Schlechten, der Nothleidenden. Jetzt aber fuhr Javert plötzlich erschrocken zurück, denn sein Blick war auf etwas Unglaubliches gefallen: Er sah, daß auch oben ein Abgrund existirte.

Wie? In seinem Innern war das Oberste zu unterst gekehrt? Er war vollständig desorientirt? Wonach sollte er sich nun noch richten? Die Ueberzeugungen, die er für wahr gehalten, brachen zusammen!

Wie? Die schwachen Stellen des Gesellschaftsbaues konnten von einem hochherzigen Elenden herausgefunden werden? Einem rechtschaffnen Diener des Gesetzes konnte plötzlich die Wahl zwischen zwei Verbrechen aufgedrängt werden, dem Verbrechen einen Menschen entwischen zu lassen und Demjenigen Jemand zu arretiren? Es war nicht alles richtig in den Vorschriften und Verhaltungsmaßregeln, die der Staat seinen Beamten gab? Man konnte in Sackgassen gerathen, wenn man den Weg der Pflicht wandelte? Wie? Was er da eben erlebt hatte, war Wirklichkeit? Ein ehemaliger Bandit, den die Last seiner Verurtheilungen niederdrückte, konnte sich in der That aufrichten und Recht behalten? War so etwas glaublich? Es gab also Fälle, wo das Gesetz sich vor dem Verbrechen verlegen zurückziehen und Entschuldigungen stammeln mußte?

Ja wohl! So etwas gab es! Er hatte es ja mit seinen eignen Augen gesehen, mit seinen Ohren gehört, und nicht nur konnte er es nicht ableugnen, sondern er hatte sich daran betheiligt. Es waren Wirklichkeiten. Wie scheußlich, daß so Ungeheuerliches sich zutragen konnte!

Wenn die Thatsachen ihre Schuldigkeit thäten, würden sie sich darauf beschränken Beweise für die Vernünftigkeit und Gerechtigkeit der Gesetze zu sein. Sind die Thatsachen doch von Gott geschickt. Sollte die Anarchie jetzt gar von da oben kommen?

Also — so urtheilte er, da die Seelenangst und Bestürzung die wahren Umrisse der Dinge für seine Augen ins Ungemessene vergrößerten und verzerrten, und die Gesellschaft, die Menschheit, das Weltall für ihn zu einem geraden Strich zusammenschrumpften — also: Die Strafbestimmungen, die Gewalt, mit der die Gesetzgebung rechtmäßig ausgerüstet ist, die Urtheile der höheren Gerichtshöfe, die Richter, die Regierung, die Staatsanwaltschaft, die offizielle Weisheit, die Unfehlbarkeit des Gesetzes, das Autoritätsprincip, alle Dogmen, auf denen die Sicherheit des Staates und des Bürgers beruht, die Souveränität, die Gerechtigkeit, die Logik des Strafgesetzbuches, der Absolutismus der Gesellschaft, die öffentliche Wahrheit, — alles dies war samt und sonders Stückwerk, Trümmer, Wirrwarr; er selber, Javert, der Bewacher der Ordnung, der unbestechliche Diener der Polizei, die Dogge, auf die sich die Gesellschaft wie auf die Vorsehung verließ, er selber besiegt und niedergeworfen, und auf all den Ruinen stand einer mit der grünen Mütze auf dem Kopf und einem Heiligenschein um die Stirn; solch eine Umkehrung aller Dinge hatte er erlebt; so stellte sich das Ganze seiner schaudernden Seele dar.

Und das sollte er ertragen? Nein!

Wenn dies keine Zwangslage war, so gab es überhaupt keine. Nur zwei Wege boten sich ihm dar, sich ihr zu entwinden. Er mußte entweder ohne Umschweife Jean Valjean wieder aufsuchen und ihn ins Gefängniß abführen oder …

Javert richtete sich in die Höhe, entfernte sich von der Brüstung und wandte sich festen Schrittes nach dem Wachthaus der Place du Châtelet, das durch eine Laterne kenntlich gemacht war.

Vor dem Gebäude angelangt, sah er in dem Lokal einen Schutzmann und trat ein. An der bloßen Art und Weise, wie sie die Thür eines Wachthauses aufmachen, erkennen sich die Polizisten unter einander. Javert nannte seinen Namen, zeigte dem Schutzmann seine Karte und setzte sich an den Tisch, auf dem ein Talglicht brannte. Daneben lag auch eine Schreibfeder nebst Tintenfaß und Papier zur eventuellen Aufnahme von Protokollen und zur Verzeichnung der Nachtrunden.

Dieser Tisch, zu dem immer ein Strohstuhl gehört, ist eine staatliche Institution; man findet ihn in allen Polizeilokalen; er ist ausnahmslos durch ein mit Sägemehl gefülltes Schälchen aus Buchsbaumholz, und eine Pappschachtel voll rother Oblaten geschmückt und bezeichnet die unterste Stufe des offiziellen Schreibwerks. Mit diesem Tisch beginnt das Schriftthum des Staates.

Javert ergriff die Feder, einen Bogen Papier und schrieb Folgendes:

»Einige den Dienst betreffende Vorschläge.

Erstens. Ich ersuche den Herrn Polizeipräfekten sich der Lieutenants zu entledigen.

Zweitens. Wenn die Häftlinge aus dem Verhör kommen, ziehen sie ihre Schuhe aus und bleiben auf den Fliesen barfuß stehen, während sie visitirt werden. In Folge dessen haben dann Manche, wenn sie in das Gefängniß zurückkommen, den Husten. Wodurch Lazarettunkosten verursacht werden.

Drittens. Daß ein Polizist, wenn er auf der Straße Jemand nachgeht, um ihn zu beobachten, von einem andern abgelöst wird, ist eine zweckmäßige Einrichtung. Aber es genügt nicht, daß zu diesem Zweck Beamte von Strecke zu Strecke aufgestellt werden; es müßte, wenn es sich um einen wichtigen Fang handelt, Vorsorge getroffen sein, daß wenigstens zwei Kriminalbeamte zur Stelle wären, die sich nicht aus den Augen verlieren dürften. Denn es könnte sich zutragen, daß aus irgend einem Grunde der Eine seine Pflicht vernachlässigt, und in einem solchen Falle würde dann der Andre ihn beobachten und für ihn einspringen.

Viertens. Es läßt sich kein Grund dafür angeben, daß es laut der Gefängnißordnung Madelonnettes den Gefangnen verboten ist, sich einen Stuhl zu halten, auch wenn sie dafür bezahlen.

Fünftens. In den Madelonnettes hat das Fenster der Schänke nur zwei Eisenstäbe, was der Marketenderin ermöglicht, sich von den Sträflingen die Hand berühren zu lassen.

Sechstens. Die Sträflinge, die als Hercusrufer der Gefangenen nach dem Sprechzimmer fungiren, lassen sich zwei Sous geben, damit sie den Namen des Betreffenden deutlich aussprechen. Dies ist eine Erpressung.

Siebentens. Für einen Fehler werden den Gefangenen in der Weberwerkstatt der Gefängnisse zehn Sous einbehalten; dies ist ein Betrug seitens des Unternehmers, da die Leinwand darum nicht weniger gut ist.

Achtens. Es ist bedauerlich, daß die Visierten des Gefängnisses La Force über den Hof der jugendlichen Spitzbuben gehen müssen, um sich nach dem Sprechzimmer der heil. Marie, der Aegypterin zu begeben.

Neuntens. Es ist eine ausgemachte Sache, daß alltäglich Gendarmen auf dem Hof des Polizeipräsidiums erzählen, was sie bei Vernehmungen Angeklagter gehört haben. Daß ein Gendarm, der sich der öffentlichen Achtung erfreuen sollte, das, was er in dem Zimmer des Untersuchungsrichters gehört hat, wiederholt, ist eine Ungehörigkeit der schlimmsten Art.

Zehntens. Madame Henry ist eine rechtschaffne Frau; ihre Schänke ist sehr sauber gehalten; aber es ist nicht gut, daß einem Frauenzimmer solch ein wichtiger Posten anvertraut wird.«

Diese Zeilen schrieb Javert mit sicherer Hand und durchaus korrekt, ohne auch nur ein Komma auszulassen und voll ruhiger Ueberlegung. Unter die letzte Zeile setzte er:

Javert

Polizeiinspektor erster Klasse.

Geschrieben im Wachtposten der Place du Châtelet.

Am 7. Juni 1832 gegen ein Uhr Morgens.

Nun trocknete er die Tinte auf dem Papier, faltete es wie einen Brief, machte es mit einer Oblate zu; schrieb auf die Vorderseite: »Notizen für die Verwaltungsbehörden«, ließ den Brief auf dem Tisch liegen und ging aus dem Wachtlokal hinaus. Die vergitterte Glasthür fiel wieder hinter ihm zu.

Er durchquerte jetzt von Neuem die Place du Châtelet, begab sich nach dem Quai und kam mit automatischer Präcision zu dem Punkt zurück, den er eine Viertelstunde zuvor verlassen hatte, lehnte sich über die Brüstung und stand so wieder in genau derselben Haltung, auf derselben Fliese. Es war, als hätte er sich überhaupt nicht von der Stelle gerührt.

Tiefste Dunkelheit und Grabesstille herrschte ringsum. Eine Wolkenschicht verdeckte die Sterne. Der Himmel war nur ein unheimlicher Raum, In den Häusern der Altstadt brannte kein einziges Licht mehr; in den Straßen und auf dem Ufer war weit und breit kein Mensch zu sehen. Die Kirche Notre-Dame und die Thürme des Justizpalastes boten dem Blick nur nächtliche Umrisse. Eine Straßenlaterne warf ein röthliches Licht auf die Mauereinfassung des Quai. Die Silhouetten der Brücken verschwammen eine hinter der andern im feuchten Nachtdunst. Der Fluß war von den Regengüssen der letzten Tage geschwellt.

Wie sich der Leser erinnern wird, befand sich die Stelle, wo Javert über die Brüstung gelehnt stand, gerade über der Stromschnelle der Seine, senkrecht über der fürchterlichen Spirale von Wirbeln, die ohne Unterlaß sich auflöst und neu bildet wie eine Schraube ohne Ende.

Javert neigte den Kopf weiter vor und schaute hinab. Alles war so schwarz, daß man nichts unterscheiden konnte. Wohl hörte man das Rauschen der Gischt; das Wasser aber war nicht zu sehen. Zeitweise zeigte sich in der schwindligen Tiefe ein schwacher, geschlängerter Lichtglanz, da das Wasser auch in der finstersten Nacht noch irgendwoher Licht aufnehmen kann und es weiter rollt. War solch ein Schimmer verschwunden, so wurde alles wieder unerkennbar. Es schien, als beginne da unten der unendliche Raum; als habe man unter sich nicht Wasser, sondern etwas abgrundartiges. Die Brüstungsmauer des Quai, die steil, undeutlich umrissen sich überallhin im Dunkel und Dunst sofort verlor, nahm sich aus wie die Escarpenmauer des Unendlichen.

Wenn man aber auch nichts sah, so fühlte man die feindliche Kälte des Wassers und den faden Geruch der nassen Steine. Der Tiefe entstieg ein bösartiger Odem. Das Hochwasser im Flusse, das man eher ahnte als bemerkte, das trauervolle Geflüster der Fluten, die schaurige Breite der Brückenbogen, die Vorstellung von einem etwaigen Sturz in diese unheimliche Leere, die ganze, schwarze Nacht da unten machte auf das Gemüth einen überwältigenden, grausigen Eindruck.

Vor dieser Oeffnung der Finsterniß stand Javert einige Minuten regungslos und schaute in das Unsichtbare mit einer Starrheit hinab, die wie Aufmerksamkeit aussah. Das Wasser rauschte. Plötzlich nahm er seinen Hut ab und legte ihn auf den Rand der Ufermauer. Einen Augenblick später stand eine hohe und schwarze Gestalt, die ein verspäteter Nachtschwärmer aus der Ferne wohl für ein Phantom hätte halten können, auf der Brüstung, neigte sich über das Wasser, richtete sich dann wieder hoch empor und fiel senkrecht in die Tiefe hinab; man hörte ein dumpfes Geräusch und die Dunkelheit allein sah die Zuckungen dessen, der hier im Wasser verschwand.

Enkel und Großvater

Wieder der Baum mit dem Zinkpflaster

Einige Zeit nach den eben erzählten Begebenheiten passirte dem pp. Boulatruelle, dem Arbeiter in Montfermeil den wir schon als Theilnehmer an sehr unkorrekten Heldenthaten kennen gelernt haben, ein Abenteuer, das ihn in die heftigste Aufregung versetzte.

Wie man sich vielleicht erinnern wird, war Boulatruelle ein Mann, der sich mit ebenso ungeheuren, wie mannichfaltigen Beschäftigungen abgab. Er schlug auf der Landstraße Steine und vorübergehende Wandrer entzwei. In seiner Eigenschaft als Erdarbeiter und Spitzbube hatte er ein Ideal, das ihm sein Glaube an die vergrabnen Schätze des Waldes von Montfermeil eingab. Er hoffte nämlich, er werde eines schönen Tages in der Erde am Fuße eines Baumes Geld finden, begnügte sich aber vorläufig damit, es in den Taschen der Reisenden zu suchen.

Nichtsdestoweniger nahm er sich augenblicklich sehr zusammen. War er doch erst vor Kurzem nur mit genauer Noth einer großen Gefahr entronnen. In der Jondretteschen Wohnung mit den andern Banditen aufgegriffen, war er dank seinem kolossalen Rausche mit blauem Auge davongekommen, ein Beweis, daß ein Laster sehr nützlich sein kann. Denn man hatte nie ermitteln können, ob er zu Jondrette gekommen war, um zu stehlen oder ob er ein Opfer der andern Strolche war und so gab ihm eine Erklärung des Gerichts, daß es an genügenden Beweismitteln zur Verfolgung fehle, die Freiheit wieder. Hierauf war er wieder in seinen Wald zurückgekehrt, um sich auf der Chaussee von Gagny nach Lagny im Dienste der Gemeindeverwaltung als Erdarbeiter ehrlich zu ernähren. Das Abenteuer hatte ihn nachdenklich gestimmt, eingeschüchtert und ihm das Spitzbubenthum, das ihn um ein Haar ins Verderben gestürzt hätte, etwas verleidet, aber ihn auch in seiner zärtlichen Vorliebe für den Wein, dem er seine Rettung verdankte, bestärkt.

Was nun die Begebenheit betrifft, die ihn kurz nach seiner Rückkehr unter das Rasendach seiner alten Erdhütte in so heftige Erregung versetzte, so stand es damit folgendermaßen:

Als Boulatruelle wie gewöhnlich, kurz vor Tagesanbruch sich auf die Arbeit oder vielleicht auch ein bischen auf die Lauer begab, bemerkte er zwischen den Zweigen der Bäume hindurch, einen Mann, von dem er nur den Rücken sah, dessen Gestalt aber trotz der Dämmrung und der Entfernung ihm, wie er glaubte, bekannt sein müßte. Denn Boulatruelle hatte, obgleich er ein Trunkenbold war, ein zuverlässiges und helles Gedächtniß, wie es sich gehört, wenn Einer mit der Gesellschaft und dem Staate im Kriegszustande lebt.

»Wo zum Teufel habe ich den Kunden da schon gesehen?« fragte er sich.

Aber er konnte sich keine Antwort geben, nur beharrte er bei der Meinung, der Betreffende ähnele Jemandem, dessen Bild in verschwommenen Umrissen seinem Geist eingeprägt war.

Nach den vergeblichen Bemühungen, die Identität des Fremden festzustellen, verlegte sich Boulatruelle auf Vermuthungen, Berechnungen, Zusammenstellung verschiedner Umstände, um das Räthsel zu lösen. Der Mann konnte nicht aus der Gegend sein, sondern war hergekommen. Und zwar gewiß zu Fuß. Denn in den letzten Nachtstunden fahren keine Postkutschen durch Montfermeil. Er hatte die ganze Nacht marschirt. Wo kam er her? Von einem nicht sehr fernen Ort, denn er trug kein Felleisen und kein Bündel. Wahrscheinlich von Paris. Warum war er in diesem Walde?

Warum gerade zu dieser ungewöhnlichen Morgenstunde? Zu welchem Zwecke?

Da dachte Boulatruelle an den vergrabenen Schatz und entsann sich, indem er sein Gedächtnis etwas anstrengte, schon vor einigen Jahren eine ähnliche Begegnung mit einem Manne gehabt zu haben, der mit diesem hier sehr wohl identisch sein konnte.

Während des Nachdenkens ließ er unter der Last seiner Gedanken den Kopf herabsinken, was sehr natürlich, aber leider auch höchst unschlau ist. Denn als er wieder emporblickte, sah er nichts mehr. Der Fremde war im dämmrigen Walde verschwunden.

»Donner und Wetter!« fluchte Boulatruelle. »Na warte, Dich finde ich doch noch mal wieder. Ich werde schon noch rauskriegen, was das mit dem Kunden da für eine Bewandtniß hat, wozu der hier herumstrolcht. Im Walde hier dürfen keine Techtelmechtel passiren, ohne daß ich darum weiß.«

Bei diesen Worten griff er nach seiner sehr scharfen Hacke.

»Hiermit schlage ich ein Loch in das härteste Erdreich und in den härtesten Schädel!«

Und wie man einen Faden an einen andern bindet, so fügte er, so gut er konnte, an den Weg, den er gekommen war, denjenigen, den der Unbekannte durch das Gehölz eingeschlagen haben mußte.

Als er etwa hundert Schritte gemacht hatte, kam ihm das heraufsteigende Tageslicht zu Hülfe. Fußspuren an den sandigen Stellen, niedergetretenes Gras und Kraut, geknickte Zweige, niedergebogene junge Aeste, die sich mit graziöser Langsamkeit wieder emporhoben, bezeichneten einigermaßen eine Fährte, der er folgen konnte. Aber er verlor sie doch und versäumte viel Zeit damit, sie wieder aufzusuchen. Endlich vertiefte er sich noch mehr in den Wald und gelangte auf eine Anhöhe. Da gab ihm der Anblick eines Jägers, der in der Ferne ein Liedchen trällernd einen Pfad entlang ging, den Gedanken ein, auf einen Baum zu klettern. Trotz seines Alters war er gelenkig. Es stand da eine hochstämmige Buche, die eines Tityrus und eines Boulatruelle würdig war. Auf diese stieg er hinauf, so hoch er konnte.

Der Gedanke erwies sich als ein sehr guter. Als er die Einöde da, wo sie am wildesten mit dichtem Gestrüpp bewachsen war, aufmerksam durchspähte, bemerkte Boulatruelle plötzlich den Fremden.

Kaum hatte er ihn gesehen, so verlor er ihn wieder aus den Augen.

Der Unbekannte ging oder schlich vielmehr auf eine ziemlich weit entfernte, durch hohe Bäume verdeckte Lichtung zu, die aber Boulatruelle sehr gut kannte. Es war ihm nämlich dort, unweit eines großen Haufens von Mühlenkalksteinen, ein altersschwacher Kastanienbaum aufgefallen, auf dessen Rinde eine Zinkplatte genagelt war. Diese Lichtung ist dieselbe, die früher den Namen »Fonds Blaru« führte. Der Haufen Steine, die zu wer weiß was für einen Zweck bestimmt waren, liegt wahrscheinlich noch heute da. Denn nichts gleicht der Langlebigkeit eines Haufens Steine, es sei denn ein Bretterzaun. So was soll provisorisch sein und findet darin einen Grund ewig zu dauern.

Mit freudiger Eile stieg oder — möchten wir beinahe sagen — fiel Boulatruelle von dem Baum herunter. Der Bau war gefunden, nun galt es bloß noch den Fuchs abzufangen. Wahrscheinlich befand sich dort der heiß ersehnte Schatz.

Es war keine leichte Sache nach der Lichtung zu gelangen. Auf den gebahnten Wegen, die hier viel ärgerliche Zickzacklinien beschreiben, brauchte man eine gute Viertelstunde dazu. Geht man mitten durch das Dickicht, das in dieser Gegend fast undurchdringlich reich an Dornenpflanzen und überhaupt recht widerborstig ist, so braucht man eine halbe Stunde. Thörichter Weise bedachte Boulatruelle dies nicht. Er verließ sich auf den Satz, daß die gerade Linie der kürzeste Weg ist, eine optische Täuschung, die viel Unheil stiftet. Er bildete sich ein, der richtige Weg ginge durch das Dickicht, so widerspenstig es auch sein möge.

»Wollen mal die Landstraße der Wölfe entlang gehn!« dachte er und ging, während er doch sonst gern krumme Wege wandelte, geradeaus.

Er nahm den Kampf gegen das Gestrüpp mit großer Entschlossenheit auf, bekam es mit allerhand jähzornigen Dornensträuchern, Stechpalmen, Brennnesseln, Hagedornen, wilden Rosen und Disteln zu thun und wurde arg zerkratzt.

Unten in der Schlucht stieß er dann noch auf ein Gewässer, durch das er hindurchwaten mußte.

Nach Verlauf von vierzig Minuten gelangte er endlich in Schweiß gebadet, mit nassen Füßen, außer Athem, mit zerfetzter Haut, in grimmigster Laune nach der Lichtung Blaru.

Kein Mensch!

Boulatruelle lief nach dem Steinhaufen. Der war noch da. Niemand hatte ihn weggetragen.

Was den Fremden betrifft, so war er verschwunden, ausgekratzt. Wohin? Nach welcher Richtung? In welches Dickicht war er verduftet? Ach, das konnte der arme Boulatruelle nicht errathen.

Er sah nur zu seinem herbsten Leidwesen hinter den Steinen und vor dem geflickten Baum einen Haufen frisch ausgegrabner Erde, einen vergessenen oder weggeworfenen Spaten und ein Loch.

Und das Loch war leer!

»Spitzbube!« schrie Boulatruelle und schüttelte beide Fäuste gegen den Horizont.

Nach dem Straßenkampf der häusliche Krieg

Marius schwebte lange Zeit zwischen Tod und Leben. Es trat ein starkes Wundfieber auf, das mehrere Wochen anhielt, und bedenkliche Symptome, die auf eine starke, innerliche Erschütterung des Gehirns deuteten und nicht blos den äußerlichen Kopfwunden zugeschrieben werden konnten.

Ganze Nächte hindurch wiederholte er fortwährend mit der öden Geschwätzigkeit des Deliriums und der beängstigenden Hartnäckigkeit des Todeskampfes den Namen Cosette. In der Breite gewisser Wunden lag eine besondre Gefahr, da der Eiter in diesem Falle leichter in den Körper eindringen und wenn gewisse, atmosphärische Bedingungen gegeben sind, den Kranken töten kann; so daß Marius Arzt bei jedem Witterungswechsel, bei dem unbedeutendsten Gewitter sich besorgt zeigte. — »Vor allen Dingen muß der Kranke vor aller und jeder Gemüthsaufregung bewahrt werden,« wiederholte er fortwährend. — Die Anlegung der Verbände war sehr komplicirter und schwieriger Natur, da zu jener Zeit die Befestigung der Apparate und der Binden mittels Sparadrap noch nicht erfunden war. Zu Scharpie verbrauchte Nicolette ein Bettlaken, das »so groß wie die Stubendecke« war, wie sie sich ausdrückte. Auch dem heißen Brand wurde mittels Chlorürwaschungen und Silbernitrat nur mit großer Mühe vorgebeugt. Natürlich versetzte, so lange Gefahr vorhanden war, die Angst um den geliebten Enkel Gillenormand in denselben Zustand wie Marius; auch er schwebte zwischen Tod und Leben.

Tag für Tag kam ein oder sogar zweimal ein fein gekleideter Herr in weißen Haaren — so beschrieb ihn der Portier — und erkundigte sich nach dem Befinden des Verwundeten, indem er ein großes Packet Scharpie für ihn zurückließ.

Endlich, am 7. September, genau vier Monate nach jener Nacht, wo man ihn zu seinem Großvater gebracht, erklärte der Arzt, daß er sich für seine Wiederherstellung verbürgen könne. Jetzt begann die Genesung. Indessen mußte Marius noch zwei Monate auf einer Chaiselongue liegen, um etwaige böse Folgen des Schlüsselbeinbruches zu verhüten. In solchen Fällen bleibt eben immer eine Wunde, die sich nicht schließen will und die zum größten Verdruß des Kranken die Nothwendigkeit verewigt, fortwährend Verbände anzulegen.

Einen Vortheil aber hatte er wenigstens von der Langwierigkeit seiner Krankheit und Genesung: Sie rettete ihn vor gerichtlichen Verfolgungen. Sechs Monate Zeit genügen in Frankreich immer, jedweden Groll, sogar politischen, zu beschwichtigen. Denn daß unter den heutigen, socialpolitischen Verhältnissen alle Welt an der Entstehung von Revolten mehr oder minder schuld ist, wird so deutlich empfunden, daß man sich bald allgemein herbeiläßt die Augen zuzudrücken.

Dazu kam, daß die ungeheuerliche Verordnung des Polizeipräfekten Gisquet, laut deren die Aerzte angewiesen wurden, die Verwundeten zu denunziren, öffentlichen Unwillen erregte und den des Königs am allermeisten, so daß sie vor Verfolgungen seitens der Gerichte bewahrt blieben. Mit Ausnahme Derer, die im Kampfe selber auf der That ertappt wurden, wagten die Kriegsgerichte keinen verwundeten Insurgenten zur Verantwortung zu ziehen und so wurde auch Marius unbehelligt gelassen.

Während der Krankheit seines Enkels machte Gillenormand alle Stadien der Angst und der Freude durch. Kaum, daß man ihn abhalten konnte, alle Nächte bei dem Verwundeten zu verbringen: aber seinen großen Lehnstuhl wenigstens ließ er neben Marius Bett stellen und verlangte, daß seine Tochter die schönste Wäsche, die man im Hause hatte, zu Kompressen und Verbänden verwendete. Fräulein Gillenormand aber fand als besonnene und erfahrene Hausfrau Mittel die gute Wäsche zu schonen, indem sie den alten Herrn glauben ließ, sie handle seinem Wunsche gemäß. Denn davon, daß zu Scharpie Batist nicht so gut ist wie grobe Leinwand, und altes Leinen besser als neues, wollte Gillenormand nichts hören. Er sah immer zu, wenn ein Verband angelegt wurde, während Fräulein Gillenormand sich dann schamhaft entfernte. Wurde totes Fleisch mit der Schere abgeschnitten, so schrie er: »Au! Au!« Es war überaus rührend anzusehen, wenn der Greis dem Kranken mit seinen liebevollen, zittrigen Händen eine Tasse Thee reichte. Fortwährend überhäufte er den Arzt mit Fragen, ohne je zu merken, daß es immer dieselben waren.

An dem Tage, wo der Arzt erklärte, Marius sei außer Gefahr, hatte es den Anschein, als würde der Alte vor Freude den Verstand verlieren. Er gab dem Pförtner drei Louisd’or Trinkgeld, tanzte am Abend in seinem Zimmer eine Gavotte, indem er mit dem Daumen und Zeigefinger die Castagnetten nachahmte und sang ein frivoles Liebeslied, dessen er sich noch aus seiner Jugend erinnerte. Dann kniete er auf einen Stuhl nieder und Baske, der ihn durch die halb offne Thür beobachtete, behauptete, als er die Sache wieder erzählte, der alte Herr habe gebetet.

Bis dahin war es mit seinem Glauben an Gott nicht weither gewesen.

Bei jeder neuen Wendung zur Besserung, die allmählich immer stärker auftrat, war der Alte außer sich und äußerte seine Freude durch mechanische Bewegungen und Handlungen. Er ging z. B. die Treppen hinauf und hinunter, ohne zu wissen, warum. Eine hübsche Nachbarin empfing eines Morgens zu ihrer größten Verwunderung ein großes Bouquet, das ihr — Gillenormand schickte; es gab Anlaß zu einer Eifersuchtsscene zwischen Mann und Frau. Andre Male wollte der Alte seine Magd auf den Schoß nehmen. Auch nannte er Marius, den »Herrn Baron« und rief: »Es lebe die Republik!«

Jeden Augenblick fragte er den Doktor: »Nicht wahr, es ist keine Gefahr mehr vorhanden?« Er betrachtete Marius mit den Augen einer Großmutter, hatte seine Freude daran, wenn er ihn essen sah, dachte nicht an sich, zählte sich nicht mehr mit. Jetzt war Marius der Herr im Hause; an ihn trat er in seiner Freude alle seine Rechte ab und that, als sei er der Enkel seines Enkels.

In seiner überschwänglichen Wonne war er, so zu sagen, ein ehrwürdiges Kind. Aus Furcht, den Kranken zu ermüden oder zu langweilen, stellte er sich hinter ihn, um ihn lächelnd zu betrachten. Er war zufrieden, froh, überglücklich, liebenswürdig, jugendlich. Seine weißen Haare verliehen der Heiterkeit, die sein Gesicht erhellte, eine sanfte Würde. Wenn die Anmuth sich über Runzeln ausbreitet, ist sie entzückend wie die Morgenröthe.

Was Marius betrifft, so beschäftigte ihn, während er sich ruhig verbinden und hätscheln ließ, eine fixe Idee, der Gedanke an Cosette.

Seitdem das Wundfieber aufgehört hatte und er nicht mehr phantasirte, sprach er diesen Namen nicht mehr aus und man hätte glauben können, er denke nicht mehr an sie. Er schwieg aber, gerade weil seine Seele bei ihr weilte.

Er wußte nicht, was aus Cosette geworden war; der Eindruck, den die Episode in der Rue de la Chanvrerie in seiner Erinnerung hinterlassen hatte, war noch wolkenhaft verschwommen; die Gestalten Eponinens, Gavroches, Mabeufs, Thénardiers, der Freunde, die neben ihm im Pulverdampf gestanden, durchschwebten schattenhaft sein Gehirn; die merkwürdige Betheiligung Fauchelevents an der blutigen Katastrophe kam ihm wie ein Räthsel in einem Sturme vor; er begriff nicht, wieso er am Leben geblieben war; wußte nicht, wie und von wem er gerettet werden war und Niemand aus seiner Umgebung konnte es ihm sagen; alles, was man ihm mittheilen konnte, war, daß er des Nachts in einer Droschke nach der Rue des Filles-du-Calvaire gebracht worden war; Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, waren in seinem Kopfe nur der Dunst einer unbestimmten Vorstellung; aber in diesem Nebel gab es einen unbeweglichen Punkt, etwas scharf Begrenztes, Klares, Granitnes, einen Entschluß, einen Willen: Er wollte Cosette wiedersehen. Für ihn war der Begriff Leben nicht verschieden von der Vorstellung Cosette; er hatte in seinem Herzen dekretirt, daß er das Eine nicht ohne das Andre annehmen würde, und es stand bei ihm unerschütterlich fest, daß er von Jedem, der ihn zwingen wolle, das Leben zu behalten, von seinem Großvater, dem Schicksal, der Hölle, die Wiedererstattung seines entschwundenen Eden verlangen würde.

Welchen Schwierigkeiten er dabei begegnen werde, verfehlte er sich keineswegs.

Wir müssen hier einen Punkt hervorheben: Er ließ sich durch die liebevolle Sorgsamkeit und die Liebkosungen seines Großvaters nicht gewinnen und wenig rühren. Denn erstens wußte er nicht in jedem einzelnen Falle, wie gut es der alte Herr mit ihm meinte; und andrerseits mißtraute er in seinem noch schwachen, ja vielleicht noch fieberkranken Gehirn all den Liebenswürdigkeiten als sonderbaren und neuen Kniffen, mit denen der Alte ihn zahm machen wolle. Deshalb blieb er kühl und der arme Großvater verschwendete ganz umsonst seine Freundlichkeiten. Marius dachte, das wäre alles ganz gut, so lange er, Marius, nicht mit der Sprache herausrücken und sich passiv verhalten würde; aber wenn er seine Heirat mit Cosette aufs Tapet bringen werde, so würde der Alte ein andres Gesicht aufstecken und seine wahre Gesinnung unverhehlt zeigen. Dann werde es einen harten Kampf setzen; eine neue Anfachung des Familienzwistes, trotziges Pochen des Alten auf seine pekuniäre Ueberlegenheit über seinen Enkel, alle Arten Sarkasmen und Einwürfe, Spott über die niedrige, sociale Lebensstellung Fauchelevents, über Marius und Cosetten’s Armuth, über das Elend, das den Beiden bevorstehe, über seine verdorbne Karriere u. s. w., u. s. w. Kurz, ein neuer Streit, der auf die alte Weise enden würde. Deshalb verhärtete Marius sein Herz im Voraus.

Außerdem wallte in dem Maße, wie seine Lebenskraft zunahm, alter Groll wieder in ihm auf, erwachte in seinem Gedächtniß die Erinnrung an unvergessene Beleidigungen; er dachte wieder an die ganze Vergangenheit, an den Oberst Pontmercy, der sich zwischen Gillenormand und ihn stellte; er sagte sich, von dem Manne, der so ungerecht und hart gegen seinen Vater gewesen sei, habe auch er nichts Gutes zu erwarten. Und mit der Gesundheit stellte sich auch eine Art Bitterkeit gegen seinen Großvater ein, was Dieser wohl merkte und schmerzlich empfand, aber sich geduldig gefallen ließ.

Gillenormand fiel es nämlich auf, — ohne daß er sich je darüber äußerte, daß Marius, seitdem er wieder zurückgebracht worden war und sein Bewußtsein wiedererlangt hatte, ihn nicht ein einziges Mal mit »Großvater« angeredet hatte. Er sagte freilich auch nicht »Herr Gillenormand«, aber wußte die Worte so zu setzen, daß es ihm möglich wurde, die beiden Anreden zu umgehen.

Offenbar mußte es unter so gestalteten Umständen bald zu einer Krisis kommen.

Deshalb scharmützelte auch Marius, wie es in solchen Fällen üblich ist, mit dem Feinde, ehe er sich auf die Entscheidungsschlacht einließ. Er rekognoszirte, um zu wissen, wie sich dieser verhalten würde. So geschah es z. B. eines Morgens, daß Gillenormand, durch eine Zeitung, die ihm in die Hand gefallen war, dazu veranlaßt, leichtfertig über den Konvent, und gegen Danton, Saint-Just und Robespiere ein royalistisches Schimpfwort vom Stapel ließ. »Die Staatsmänner des Jahres 1793 waren Giganten,« lautete Marius strenger Verweis. Der Alte schwieg und that den ganzen Tag über nicht mehr den Mund auf.

Da aber Marius noch immer die unbeugsame Härte, die der Großvater gegen ihn hervorgekehrt hatte, vorschwebte, so deutete er sich dieses Stillschweigen als stark koncentrirten Zorn, folgerte daraus, daß der Kampf ein recht hitziger sein werde, und sammelte in den verborgensten Fächern seines Hirns wuchtige Vertheidigungswaffen.

Er beschloß nämlich, daß er, falls der Alte ihm eine abschlägige Antwort ertheilen würde, die Verbandapparate abreißen, sein Schlüsselbein ausrenken, seine Wunden bloß legen und jede Nahrung verweigern wolle. Cosette oder der Tod! so lautete sein Losungswort.

Nun wartete er mit heimtückischer Patientengeduld auf eine günstige Gelegenheit, die sich ihm auch bald darbot.

Marius’ Attacke

Eines Tages stand Gillenormand, während seine Tochter auf der Marmorplatte der Kommode die Medizinflaschen und Tassen ordnete, über Marius gebeugt und sprach zu ihm in seiner zärtlichsten Weise:

»Hör mal, lieber Marius, an Deiner Stelle würde ich jetzt mehr Fleisch als Fische essen. So eine gebratene Seezunge ist ausgezeichnet für einen Rekonvalescenten, wenn ein Kranker aber zu Kräften kommen will, muß er gute Kotelettes essen.«

Marius, dessen Kräfte schon fast ganz zurückgekehrt waren, nahm sie zusammen, richtete sich auf seinem Sitze empor, bohrte seine beiden, geballten Fäuste in das Bettlaken, sah seinem Großvater ins Gesicht, nahm eine grimmig ernste Miene an und sagte:

»Was Sie da sagen, veranlaßt mich, Ihnen eine Mitteilung zu machen.«

»Was für eine?«

»Ich will mich verheiraten.«

»Na, darauf war ich vorbereitet,« sagte der Großvater und lachte laut auf.

»Wie so?«

»Ja, ja! Du sollst sie haben.«

Von Erstaunen überwältigt zitterte Marius an allen Gliedern und konnte nicht antworten.

Gillenormand aber fuhr fort:

»Ja, Du sollst sie haben, Dein wunderschönes, allerliebstes, kleines Mädchen. Sie kommt tagtäglich in Gestalt eines alten Herrn und erkundigt sich nach Dir. Seitdem Du verwundet bist, weint sie immerzu und zupft Scharpie. Ich habe Erkundigungen über sie eingezogen. Sie wohnt Rue de l’Homme-Armé Nr. 7. Nun, da wären wir also bei der Hauptsache angelangt. Also du willst sie heiraten? Gut, gut; Du sollst sie haben. Nun gesteh’ aber mal, daß Du Dich ordentlich blamirt hast. Du hattest ein schönes Komplott gegen mich ausgebrütet. Du dachtest: Ich werde Großvatern ohne Umschweife meinen souveränen Willen kund thun. Die vertrocknete Mumie aus dem vorigen Jahrhundert, der alte Gigerl ist auch mal jung gewesen, hat leichtsinnig geliebt und geliebelt, ist von einem Unterrock auf den andern geflattert, und sollte also wissen, was Frühlingsgefühle sind. Aber wenn ich ihm sagen werde, daß ich auch von der Süßigkeit naschen will, wird’s ein großes Halloh geben! Daraufhin machst Du eben Kehrt und faß’t den alten Stier bei den Hörnern. Sehr schön! Ich biete Dir ein Kotelett an und Du drehst Dich herum und meinst: Richtig, das erinnert mich daran, daß ich heiraten will. Eine famose Art von einem Gesprächsthema auf ein andres überzugehn! Also Du suchtest Streit? Wenn Du gewußt hättest, was Dein Großvater für eine alte Memme ist! Nun, was sagst Du zu der Wendung? Nun bist Du wüthend, nicht wahr? Daß Dein Großvater noch dümmer sein würde wie Du, darauf warst Du nicht gefaßt und hast nun den Aerger, daß Du Deine so schön präparirte Rede nicht anbringen kannst, Du armer Advokat. Geschieht Dir aber recht, mein Junge. Ich thue, was mir gefällt; verstanden, Du Heupferd? — Nun laß Dir aber die Sache erzählen. Ich habe mich also umgethan und mich erkundigt, hinter Deinem Rücken, denn ich kann auch heimlich thun. Sie ist ein nettes und braves Mädchen. Was der Lanzenreiter gesagt hat, ist Unsinn. Sie hatte eine Masse Scharpie gezupft und ist ein gutes Kind, das in Dich vernarrt ist. Hätte Deine Krankheit eine schlimme Wendung genommen, so wären wir unsrer drei gewesen; ihr Sarg hätte meinen begleitet. Ich hatte wohl daran gedacht, ich wollte, als Du auf dem Wege der Besserung warst, sie eines schönen Morgens kommen lassen, damit Du sie ganz plötzlich sähest, sobald Du die Augen aufthätest. Aber das kommt nur in Romanen vor, daß ein junges Mädchen so mir nichts dir nichts an das Bett eines hübschen Kranken geführt wird, für den sie sich interessirt. So was schickt sich nicht. Was hätte deine Tante dazu gesagt? Meistenteils lagst Du ganz nackt da mein lieber Freund. Frage mal Nicolette, die keine Minute von dir weggegangen ist, ob ein Frauenzimmer zu Dir kommen konnte. Und dem Arzt hätte das auch nicht gepaßt. Daß ein hübsches Mädchen das Fieber heilen sollte, das wäre ganz was Neues. Na aber Ende gut, alles gut. Jetzt ist die alte Geschichte abgemacht und begraben. Punktum. Heirate sie. Nun siehst Du, was ich für ein nichtswürdiger Starrkopf bin. Siehst Du, ich hatte gemerkt, daß Du nicht gut auf mich zu sprechen warst, und da dachte ich: Was fang’ ich bloß an, damit der dumme Junge mich gern hat. Da fiel mir ein, daß ich ja die kleine Cosette bei der Hand hätte. Die brauche ich ihm bloß zu geben, kalkulirte ich, dann soll er’s wohl bleiben lassen, schlecht über seinen Großvater zu denken. Und Du dachtest, der Alte wird toben und wettern, Nein! Nein! brüllen und mit dem Stock auf Deine Rosenknospe einhauen. Denk’ nicht dran! Cosette und die Liebe sollen leben! Ich freue mich, daß Ihr Euch kriegt. Also, Herr Enkel, geruhen Sie zu heiraten. Sei glücklich, mein lieber Junge!«

Ein Thränenstrom unterbrach seine Rede. Er nahm Marius Kopf zwischen seine beiden Hände, drückte ihn an seine Brust und Beide weinten; Einer der sichersten Beweise des höchsten Glücksgefühls!

»Großvater!« rief Marius.

»Also bist Du mir gut?« fragte der Greis.

Sie konnten vor unbeschreiblicher Rührung eine Zeit lang nicht sprechen. Endlich aber schluchzte der Alte:

»So! Nun ist das Eis geschmolzen. Er hat Großvater zu mir gesagt.«

Marius machte sanft seinen Kopf aus den Armen seines Großvaters los und sagte:

»Aber Großvater, nun ich wieder gesund bin, möchte ich sie gern wiedersehen.«

»Darauf war ich auch vorbereitet. Sie kommt morgen.«

»Lieber Großvater?«

»Was denn, mein Junge?«

»Warum nicht heute?«

»Gut, heute. Meinetwegen heute. Du hast dreimal Großvater zu mir gesagt. Dafür mußt Du belohnt werden. Ich werde dafür sorgen, daß sie Dir heut zugeführt wird. Ich bin ja längst darauf vorbereitet. Man weiß ja, wie alles eingefädelt werden muß, wenn zwei sich kriegen. Deine Geschichte ist schon in Verse gesetzt worden. Lies mal das Ende der Elegie, ›der junge Patient‹ von André Chénier. Auch einer von denen, die 1793 abgeschlachtet worden sind, von den Schuf … wollte sagen, von den Giganten des Jahres 1793.«

Gillenormand glaubte zu bemerken, daß Marius die Stirn etwas runzelte. Das war aber ein Irrthum. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, müssen wir gestehen, daß Marius nicht auf ihn hörte, da er in den siebenten Himmel verzückt war und an die liebliche Cosette, nicht an das Schreckensjahr 1793 dachte. Der Großvater aber, der über seine ungeschickte Erwähnung André Chéniers höchlich erschrocken war, suchte eiligst diesen Schnitzer wieder gut zu machen:

»Abgeschlachtet ist eigentlich nicht das richtige Wort. Die Sache verhält sich vielmehr so: Die genialen Lenker der Revolution, denen man ganz gewiß nicht nachsagen kann, daß sie blutdürstig waren, die selbstredend Herren waren, fanden, daß André Chénier nicht ganz dieselben Meinungen hatte wie sie und ihnen im Wege war, und daß sie ihn deshalb guillotin … d. h. diese großen Männer ersuchten am 7. Thermidor André Chénier sich gefälligst in ein besseres Jenseits zu bemüh …«

Hier erstickte Gillenormand beinah an seiner eignen Rede und konnte nicht fortfahren; da er aber den Satz weder beendigen, noch seine Worte zurücknehmen konnte, während seine Tochter hinter Marius stand und das Kissen zurecht legte, eilte der Greis, den die vielen Aufregungen außer Fassung gebracht hatten, mit der ganzen Schnelligkeit, die ihm sein Alter gestattete, aus dem Schlafzimmer hinaus, warf die Thür hinter sich zu und stürzte krebsroth, athemlos, mit vorgequollenen Augen auf den braven Baske zu, der im Vorzimmer die Stiefel putzte. Er packte den Ahnungslosen beim Kragen und schrie ihm wüthend ins Gesicht:

»Hunderttausend Donnerwetterquatschteufel sollen mich holen, wenn die Halunken ihn nicht geschlachtet, gemordet, gewürzt, in Stücke gehackt haben!«

»Wen? Herr Gillenormand?«

»André Chénier.«

»Gewiß, Herr Gillenormand!« bestätigte zitternd der erschrockne Baske.

Fräulein Gillenormand findet das Buch, das Herr Fauchelevent unter dem Arm trägt, nicht übel

Cosette und Marius sahen sich also wieder.

Diese Zusammenkunft zu beschreiben ist etwas, worauf wir verzichten müssen. Es giebt Dinge, die man nicht versuchen muß zu schildern, wie z. B. die Sonne.

Die ganze Familie, Baske und Nicolette mit einbegriffen, waren in Marius Zimmer versammelt, als Cosette kam.

In dem Augenblick, wo sie auf die Schwelle trat, schien es, als ginge Himmelslicht von ihr aus.

Der Großvater wollte sich gerade die Nase schnauben, aber als er sie erblickte, hielt er inne und betrachtete sie über sein Taschentuch hinweg.

»Allerliebst!« rief er und schnaubte sich sehr laut.

Cosette war wie berauscht, entzückt, erschrocken, im siebenten Himmel. Sie konnte ihr Glück nicht fassen. Bald blaß, bald roth stammelte sie unzusammenhängende Worte, wollte Marius umarmen und wagte es nicht. Vor den vielen Leuten konnte sie doch nicht zeigen, daß sie ihn liebte! Man ist ohne Erbarmen gegen glückliche Liebespaare; man bleibt da, wenn sie sich am meisten sehnen allein zu sein. Und doch geht es sehr gut ohne die Andern.

Mit Cosette und hinter ihr kam ein Mann in weißen Haaren, mit ernsten Gesichtszügen, der aber lächelte, freilich gezwungen und wehmüthig. Es war »Herr Fauchelevent«, es war Jean Valjean.

Er sah sehr fein aus, wie der Pförtner richtig bemerkt hatte, in seinem neuen, schwarzen Anzug und seiner weißen Kravatte.

Der Pförtner war tausend Meilen von dem Gedanken entfernt, der noble Herr, der so korrekt gekleidet war wie ein Notar, könne identisch sein mit dem zerlumpten, schmutzigen, wiederwärtigen, verstörten, mit Blut bedeckten Menschen, dessen Anblick ihm in der Nacht des 7. Juni einen so fürchterlichen Schreck eingejagt hatte; aber wie alle Portiers, besaß auch er eine feine Spürnase und hatte eine gewisse Witterung von der richtigen Fährte. Als daher Fauchelevent mit Cosette gekommen war, sagte er zu seiner Frau: »Ich möchte bloß wissen, warum ich mir einbilde, ich hätte das Gesicht schon gesehen.«

Fauchelevent blieb in Marius Zimmer bescheiden in der Nähe der Thür stehen. Er trug unter dem Arm einen in Papier gewickelten Gegenstand, der wie ein Buch in Oktavformat aussah. Das Papier war grün, wie von Schimmel. »Hat der Herr immer solch ein Buch unter dem Arm?« fragte Fräulein Gillenormand, die keine Freundin von Büchern war, leise die Magd.

»Je nun,« antwortete Gillenormand, der die Bemerkung gehört hatte, ebenfalls mit gedämpfter Stimme, »der Mann ist ein Gelehrter. Ist denn was dabei? Kann er was dafür? Herr Boulard, den ich gekannt habe, ging auch nie ohne ein Buch aus, der trug immer einen Schmöker an seinem Herzen.«

Hierauf wandte er sich mit einer Verneigung an Fauchelevent:

»Herr Tranchelevent …«

Vater Gillenormand that es nicht mit Absicht, er hatte blos die aristokratische Unart, sich Personennamen nicht ordentlich zu merken.

»Herr Tranchelevent, ich habe die Ehre, Sie für meinen Enkel, den Herrn Baron Marius Pontmercy um die Hand ihres Fräulein Tochter zu bitten.«

Herr Tranchelevent verneigte sich.

»Dann sind also alle Theile einig,« sagte der Großvater, wandte sich nach Marius und Cosette um, breitete beide Arme zum Segen aus und rief:

»Jetzt, Kinder, dürft Ihr Euch anbeten!«

Was die Beiden sich nicht zweimal sagen ließen. Ohne weitere Umstände begannen sie darauf los zu plaudern. Sie sprachen leise, indem Marius, auf einen Ellbogen gestützt, auf der Chaiselongue lag und Cosette vor ihm stand. — »O mein Gott,« flüsterte Cosette, »endlich sehe ich Sie wieder! Sie sind’s wirklich! Wie konnten Sie bloß Ihr Leben so aufs Spiel setzen? Zu welchem Zweck? Pfui! Wie abscheulich von Ihnen! Vier Monate lang bin ich mehr tot als lebendig gewesen. Sie böser Mensch! Warum haben Sie mir das angethan? Aber ich verzeihe Ihnen unter der Bedingung, daß Sie so etwas nicht wieder thun. Vorhin, als wir eingeladen wurden, hierher zu kommen, glaubte ich wieder, ich würde sterben, aber dies Mal vor Freude. Ich war so niedergeschlagen! Nicht einmal ordentlich Toilette zu machen habe ich mir die Zeit genommen, ich muß schrecklich aussehen. Was werden Ihr Herr Großvater und Ihr Fräulein Tante davon denken, daß ich mit einer zerknitterten Halskrause gekommen bin? So sagen Sie doch etwas! Sie lassen mich ganz allein sprechen. Wir wohnen noch immer in der Rue de l’Homme-Armé. Ihre Schulter soll recht schlimm gewesen sein. Die Wunde, hat man mir erzählt, war so groß, daß man die Faust hineinstecken konnte. Und das Fleisch hat man Ihnen auch mit der Scheere herausgeschnitten. Das muß ja fürchterlich weh gethan haben. Die Augen habe ich mir ausgeweint. Merkwürdig, daß ein Mensch soviel Schmerzen aushalten kann. Ihr Großvater ist ein guter Mann, nicht wahr? Lassen Sie Sich nicht stören, lehnen Sie Sich nicht auf den Ellbogen, sonst werden Sie Sich noch Schaden thun. Ach, wie ich mich freue, nun das Unglück endlich vorbei ist. Mir ist ganz dumm davon im Kopfe. Ich hatte vor, Ihnen noch recht Vieles zu sagen und kann mich mit einem Mal nicht mehr darauf besinnen. Lieben Sie mich noch? Wir wohnen in der Rue de l’Homme-Armé, aber es ist kein Garten bei der Wohnung. Ich habe die ganze Zeit über Scharpie gezupft: sehen Sie mal, Sie Unart, was ich für Schwielen an den Fingern habe; daran sind Sie schuld!« — Und Marius antwortete bloß: »Sie Engel!«

Engel ist das einzige Wort, das sich nicht abnutzen läßt. Kein andres Wort würde solchen Widerstand leisten wie dieses, das Verliebte so verschwenderisch gebrauchen.

Durch die Anwesenheit der Andern genirt, unterbrachen sie ihr Geplauder und sprachen kein Wort mehr, indem sie sich begnügten, sich gegenseitig die Hand zu berühren.

Als Gillenormand ihre Befangenheit merkte, wandte er sich an die Andern und rief:

»So sprecht doch laut. Macht Lärm, damit unsre jungen Leute sich ungestört, nach Herzenslust unterhalten können.«

Und zu Marius und Cosette sagte er im Flüsterton:

»Duzt Euch. Nur nicht geniren.«

Tante Gillenormand ihrerseits betrachtete mit starrem Erstaunen den Sonnenstrahl, der so plötzlich in ihr ödes Heim gefallen war. Nicht, als ob sie sich geärgert hätte; keine entrüsteten und neidischen Blicke, wie eine Eule sie zwei Turteltauben zuschleudert; nur die verständnislose Verwundrung, die eine arme, siebenundfünzigjährige Unschuld und ein verfehltes Leben vor dem Glück der sieghaften Liebe empfindet.

»Fräulein Gillenormand senior,« sagte ihr Vater, der ihre Gedanken errieth, »hatte ich nicht gesagt, daß Dir so etwas einmal widerfahren würde?«

Hier schwieg er eine Weile, bevor er sich deutlicher erklärte.

»Jetzt kannst Du zusehen, wie Andre sich des Lebens freuen.«

Dann wandte er sich nach Cosette hin:

»Wie reizend, wie reizend sie ist! Wie ein Portrait von Greuze. Und so was Allerliebstes darfst Du Schwerenöther für Dich behalten! Ein Glück für Dich, mein Junge, daß ich nicht fünfzehn Jahre jünger bin. Dann würde ich sie Dir mit dem Degen in der Hand streitig machen. Ja ja, Fräulein, Sie haben’s mir angethan. So gehört sich’s freilich. Sie üben da nur Ihr gutes Recht aus. Hurrah! Das wird eine famose, allerliebste, amüsante Hochzeit geben. Wir wohnen im Kirchspiel Saint-Denis du Saint-Sacrement, aber ich werde um eine Dispensation einkommen, damit Ihr Euch in Saint-Paul trauen lassen könnt. Die Kirche ist besser. Von den Jesuiten gebaut, also hübscher. Sie liegt gegenüber der Fontaine des Kardinals de Birague. Das größte Meisterwerk der jesuitischen Architektur ist in Namur, nämlich die Kirche Saint-Loup. Die müßt Ihr Euch ansehen, wenn Ihr getraut seid. Ein Bau, der die Reise lohnt, versichre ich Euch. Fräulein, ich gehöre zur selben Partei wie Sie; ich bin auch dafür, daß die jungen Mädchen heiraten! dazu sind sie da. Es wäre gut, wenn die heil. Katharina gar keine Verehrerinnen hätte. Jungfrau bleiben mag für Manche etwas Imponirendes haben, aber ich finde es ungemüthlich. Die Bibel sagt: Seid fruchtbar und mehret Euch. Es ist ja ganz schön, wenn eine Jungfrau von Orleans ihr Volk rettet; aber damit überhaupt ein Volk da ist, muß man die Dienste des Klapperstorchs fleißig in Anspruch nehmen. Also heiratet, ihr Mädchen. Ich kann absolut nicht einsehen, wozu das Jungfernthum gut ist. Ich weiß ja wohl, daß es Anrecht auf einen Ehrensitz in der Kirche giebt und daß man in gewisse, religiöse Genossenschaften eintreten darf; aber Potz Mohren Element! ein hübscher, netter Mann und nach einem Jahre ein strammes, blondes Jüngelchen mit dicken Strampelbeinchen und rosigen Patschhändchen, die Mamachchens Busen befingern, — das ist doch noch was Besseres als eine Kerze bei der Vesper in der Hand halten und Turris eburnea gröhlen!«

Nach dieser Rede machte der Alte auf den Fersen eine Kreiswendung um sich selbst und wandte sich an Marius:

»Beiläufig gesagt, …«

»Was, Großvater?«

»Hattest Du nicht einen guten Freund?«

»Ja, Courfeyrac.«

»Was ist aus dem geworden?«

»Er ist tot.«

»Das ist ganz gut.«

Darauf setzte er sich zu ihnen, nöthigte Cosette Platz zu nehmen und nahm ihre vier Hände in die seinen:

»Allerliebst, diese Kleine. Ein wahres Meisterwerk der Natur, Deine Cosette. Kindlich und vornehm. Schade, daß sie nur Frau Baronin wird; sie hätte auch zur Marquise gepaßt. Was für Wimpern sie hat! Kinder, schreibt es Euch ja hinter die Ohren, daß Ihr das Rechte erwählt habt. Liebt Euch, daß Ihr dämlich darüber werdet. Die Liebe ist des Menschen Dummheit und Gottes Weisheit. Betet Euch an. Aber leider,« fuhr er fort, indem sich seine Stirn plötzlich verdüsterte, »habt Ihr auch Unglück. Mir fällt eben ein, daß mehr als die Hälfte von meinem Vermögen auf Leibrenten angelegt ist; so lange ich lebe, wird’s ja noch gehen; aber nach meinem Tode, also, wollen wir sagen, nach ungefähr zwanzig Jahren werdet Ihr armen Kinder keinen rothen Heller haben. Ja ja, Frau Baronin, Ihre niedlichen weißen Zähnchen werden einmal am Hungertuch nagen.«

Hier unterbrach ihn Jean Valjean:

»Fräulein Euphrasia Fauchelevent bekommt sechsmalhundert Tausend Franken mit.«

Er hatte sich noch nicht mit einem Wort in die Unterhaltung gemischt; Alle schienen vergessen zu haben, daß er überhaupt zugegen war und er stand unbeweglich abseits, hinter all den glücklichen Leuten.

»Wer ist das betreffende Fräulein Euphrasia Fauchelevent?« fragte verwundert der Großvater.

»Ich,« antwortete Cosette.

»Sechsmalhunderttausend Franken?« fragte Gillenormand.

»Weniger vierzehn bis fünfzehn tausend Franken,« sagte Jean Valjean und legte das Packet, das Fräulein Gillenormand für ein Buch gehalten hatte auf den Tisch.

Er machte es selbst auf; es enthielt einen Stoß Tresorscheine. Sie wurden auseinander genommen und gezählt. Es waren fünfhundert Tausendfrankenscheine und einhundert achtundsechzig zu je fünfhundert. Summa: Fünfhundert vierundachtzig tausend Franken.

»Solch ein Buch läßt man sich gefallen,« meinte Gillenormand.

»Fünfhundert vierundachtzig tausend Franken!« murmelte die Tante voller Bewundrung.

»Damit läßt sich was machen, nicht wahr Fräulein Gillenormand senior?« hob der Großvater wieder an. »Hat dieser Teufelskerl, der Marius, auf der Jagd nach Idealen ein hübsches Mädchen mit einem schweren Geldsack gefangen! Nun traue Einer noch jungen Träumern! Das ist ja ganz was Neues, daß ein Phantast ein besserer Spekulant ist, als ein Bankier!«

»Fünfmalhundert vierundachtzig Tausend Franken!« wiederholte Fräulein Gillenormand halblaut, »Fünfmalhundert vierundachtzig tausend! Da kann man dreist sagen: Sechsmal hunderttausend Franken!«

Was Marius und Cosette anbetrifft, so sahen sie sich während der Zeit an und achteten fast gar nicht auf die Kleinigkeit, die Jean Valjean da auf den Tisch gelegt hatte.

Bei manchem Notar ist Geld nicht so gut aufgehoben, als in manchem Walde

Der Leser hat wohl, auch ohne weitläufiger Auseinandersetzungen zu bedürfen, verstanden, daß Jean Valjean nach dem Prozeß Champmathieu, Dank seiner ersten Entweichung aus dem Gefängniß, nach Paris hatte kommen können und daß er bei Lafitte das Geld, das er als Herr Madeleine in Montreuil-sur-Mer verdient hatte, abhob und aus Furcht wieder eingefangen zu werden, (was ihm in der That kurze Zeit darauf wiederfuhr,) dieses Geld im Walde von Montfermeil, in dem sogenannten Fonds Blaru, verborgen und vergraben hatte. Dieser Schatz, sechsmalhundert dreißig tausend Franken in lauter Banknoten, nahm wenig Raum ein und ließ sich in einer Schachtel unterbringen; aber um diese vor Feuchtigkeit zu schützen, steckte er sie in eine Truhe aus Eichenholz, die mit Sägespänen gefüllt war. In diese Truhe legte er auch seinen zweiten Schatz, die Leuchter des Bischofs. Denn diese Leuchter hatte er, wie der Leser sich erinnern wird, bei seiner Flucht aus Montreuil-sur-Mer mitgenommen. Der Mann, den Boulatruelle das erste Mal sah, war in der That Jean Valjean. Später kam Dieser jedes Mal, wenn er Geld brauchte, nach der Lichtung Blaru. Daher die Reisen Jean Valjeans, von denen wir gesprochen haben. Er hatte irgendwo im Heidekraut einen Versteck, den er allein kannte und wo er einen Spaten verborgen hielt. Als er endlich sah, daß Marius in der Genesung begriffen war und daß die Zeit nahte, wo das Geld Nutzen schaffen konnte, ging er hin, es zu holen und dieses Mal wurde er wieder von Boulatruelle gesehen, aber am Morgen, nicht am Abend. So gelangte Dieser wenigstens in den Besitz eines Spatens.

Die ganze Summe belief sich auf fünfhundert vierundachtzig tausend fünfhundert Franken. Diese fünfhundert Franken behielt aber Jean Valjean für sich. — »Ich werde sehen, was dann weiter wird,« dachte er.

Die Differenz zwischen dem ausgegrabnen Gelde, den bei Laffitte abgehobnen sechshundert dreißig tausend Franken repräsentirte die Ausgaben von zehn Jahren, von 1823 bis 1834. Die fünf Jahre Aufenthalt im Kloster hatten nur fünftausend Franken gekostet.

Die beiden Leuchter stellte Jean Valjean auf das Kamingesims, wo sie die größte Bewundrung der Toussaint erregten.

Im Uebrigen wußte Jean Valjean auch, daß er Javert nicht mehr zu fürchten hatte. In seiner Gegenwart hatte Jemand erzählt, — und er hatte es auch im Moniteur, der die Nachricht brachte, nachgelesen — daß man einen Polizeiinspektor Javert unter einem Prahm zwischen dem Pont au Change und dem Pont Neuf ertrunken gefunden habe. Ein Schriftstück, das der durchaus ehrenwerte und von seinen Vorgesetzten sehr geschätzte Mann hinterlassen hatte, ließ auf einen Anfall von Geistesstörung und auf Selbstmord schließen. — »Ganz richtig,« dachte Jean Valjean, »da er mich in seiner Gewalt gehabt hat und mich laufen ließ, muß er wohl schon geisteskrank gewesen sein.«

Die beiden Alten thun ihr Möglichstes, damit Cosette glücklich sein soll

Nun wurden die Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen. Um seine Meinung befragt, erklärte der Arzt, sie könne im Februar stattfinden. Da dies im Monat December geschah, hatte man noch einige Wochen des reinsten Glückes vor sich.

Der Großvater freute sich über die Seligkeit des Pärchens nicht weniger wie sie selber. Er saß manchmal eine Viertelstunde lang vor Cosette und bewunderte sie.

»Was für ein reizend hübsches Mädchen!« rief er oft. »Und dabei sieht sie so sanft und gut aus! Magst sagen, was Du willst, mein Herz, aber sie ist das liebenswürdigste, weibliche Wesen, dem ich in meinem Leben begegnet bin. Später wird die mal wer weiß wie viele, ebenso tüchtige wie angenehme Eigenschaften entfalten. Eine wahre Grazie. An der Seite eines solchen anbetungswürdigen Geschöpfes muß ein Mann sich einer noblen Lebensführung befleißigen. Marius, mein lieber Junge, Du bist Baron, Du bist reich; also thue mir den einzigen Gefallen und lasse die Rabulisterei.«

Cosette und Marius waren aus den tiefsten Tiefen des Unglücks auf den Gipfel des Glücks emporgestiegen. Der Uebergang war ein fast unvermittelter, plötzlicher gewesen, so daß er sie betäubt hätte, wenn sie von der Sonne des Glücks nicht vielmehr geblendet gewesen wären.

»Verstehst Du, wie das gekommen ist?« fragte Marius Cosette.

»Nein,« antwortete sie, »aber mir will scheinen, als sehe der liebe Gott auf uns herab.«

Jean Valjean setzte alles in Bewegung, um die Hindernisse wegzuräumen, die Schwierigkeiten zu ebnen, die sich dem Glück seiner Cosette hätten in den Weg stellen können. Und dieses Geschäft betrieb er mit ebenso viel Eifer und anscheinend auch ebenso freudig, wie sie selbst.

Da er Bürgermeister gewesen war, so wußte er, wie er es anzufangen hatte, um ein heikles Problem zu lösen, dessen Existenz er allein kannte, nämlich die Herstellung eines Civilstandes für Cosette. Die Wahrheit über Cosettens Herkunft sagen, ging nicht an, es hätte vielleicht die Heirat unmöglich gemacht. Diese Schwierigkeit räumte er nun aus dem Wege. Er erfand eine ausgestorbene Familie, ein sichres Mittel, allen Einsprüchen und Reklamationen zuvorzukommen. Danach hatte Cosette keine Eltern und Geschwister mehr; sie war nicht seine Tochter, sondern die eines andern Fauchelevent. Zwei Brüder Fauchelevent waren im Kloster Petit-Picpus Gärtner gewesen. Hierhin wandte man sich, um Erkundigungen einzuziehen und erhielt durchaus günstigen und anscheinend auch zuverlässigen Bescheid. Die guten Nonnen, die sich auf Vaterschaftsfragen nicht verstanden und keine Neigung hatten, sich auf derartige Nachforschungen einzulassen, hatten eigentlich nie recht gewußt, welcher von den beiden Fauchelevent Cosettes Vater war. Sie sagten, was den Fragern genehm war, und zwar mit größter Bereitwilligkeit.

Darauf hin wurde eine Notorietätsverhandlung aufgenommen, um die fehlenden Urkunden zu ersetzen, und so wurde Cosette vor dem Gesetz »Fräulein Euphrasia Fauchelevent,« eine Waise von Seiten des Vaters und der Mutter. Außerdem traf Jean Valjean seine Maßregeln so, daß er unter dem Namen Fauchelevent zu Cosettens Vormund und Gillenormand zu ihrem Mitvormund ernannt wurde.

Was die fünfhundert vierundachtzig tausend Franken betrifft, so wurden sie für ein Legat eines Verstorbnen, der unbekannt zu bleiben wünschte, ausgegeben. Ursprünglich seien es fünfhundert vierundneunzig tausend Franken gewesen aber zehntausend wären für Fräulein Euphrasia verbraucht, worunter fünftausend für den Aufenthalt im Kloster. Dieses, einer Vertrauensperson übergebene Vermächtniß sollte ihr bei ihrer Mündigkeitserklärung oder an ihrem Hochzeitstage ausgehändigt werden. Die ganze Geschichte hörte sich sehr plausibel an, zumal, da sie durch die erkleckliche Mitgift eine nicht leicht zu bezweifelnde Bestätigung erhielt. Es fehlte zwar andrerseits auch nicht an Absonderlichkeiten, aber diese wurden nicht beachtet. Denn von den interessirten Personen konnte Einer nichts sehen, da ihm Amor eine Binde um die Augen gelegt hatte, und die Andern sahen nur die sechshundert tausend Franken.

Auf diese Weise erfuhr endlich Cosette, daß sie nicht die Tochter des alten Herrn war, den sie so lange Zeit Vater genannt hatte. Er war nur ein Verwandter von ihr, ein andrer Fauchelevent war ihr wirklicher Vater. Zu jeder andern Zeit hätte sie über diese Nachricht die tiefste Betrübnis empfunden. Damals aber, wo sie in einem Meer von Wonne schwamm, trübte der Schatten ihr Glück nur vorübergehend und in geringem Grade. Jetzt hatte sie ihren Marius. Nun der junge Mann in den Vordergrund trat, mußte der Alte zurücktreten. Das ist nun einmal der Lauf der Welt.

Außerdem war Cosette seit langen Jahren daran gewöhnt, allerhand Räthsel um sich zu sehen und jeder Mensch, der eine, an Geheimnissen reiche Kindheit gehabt hat, verzichtet leicht auf die Vergangenheit und findet sich schnell in jede Verändrung.

Indessen fuhr sie doch fort, zu Jean Valjean »Vater« zu sagen.

Andrerseits war Cosette hoch entzückt über Gillenormands Güte und Liebenswürdigkeit, was kein Wunder war, denn der alte Herr überhäufte sie mit Komplimenten und Geschenken. Während Jean Valjean ihr eine normale, gesellschaftliche Stellung schuf und ihr ein unangreifbares Besitzthum verschaffte, beschäftigte Gillenormand sich mit der Ausstattung und den Brautgeschenken. Machte ihm doch nichts so viel Vergnügen, als splendide sein zu können. So schenkte er Cosette eine Robe aus Guipurespitzen, die noch von seiner Großmutter stammte. »Die Mode,« sagte er, »kommt jetzt wieder auf. Der alte Kram macht noch Furore; und die jungen Frauen meines Greisenalters kleiden sich wie die alten Frauen meiner Jugend.«

Er plünderte seine altehrwürdigen, feinlackirten, bauchigen Kommoden, die seit Jahren nicht aufgemacht worden waren. »Wollen doch nachsehen,« sagte er, »was die alten Dinger im Leibe haben.« Sie gaben auch eine reiche Ausbeute, denn sie enthielten eine Unzahl kostbarer Schmucksachen, Roben, Stoffe u. s. w., die seine Frauen, seine Maitressen, seine Großmütter und Urgroßmütter hinterlassen hatten. Pekingseide, Damaste, Lampas, bemalte Moirés, Kleider aus einem mit Flammenartigen Mustern durchwebten Gros Grain Tours’scher Fabrikation, indische, mit waschbarem Gold gestickte Taschentücher, auf beiden Seiten gleich gewebte Dauphine, genuesische und Alençonspitzen, alte Gold- und Silbersachen, mit mikroskopischen Darstellungen von Schlachten verzierte Elfenbeinbonbonnnièren, Nippsachen, Bänder, — alles, alles schenkte er seiner zukünftigen Schwiegertochter. Im Besitze dieser Herrlichkeiten, für die sie Gillenormand überschwenglich dankbar war, konnte Cosette ein grenzenloses, samtnes und seidnes Glück träumen. Ihr war, als brächten ihr Seraphim ihren Hochzeitskorb und als wären die Flügel, die ihre Seele in die blauen Regionen des Himmels emportrugen, von echten belgischen Spitzen.

Dem Glücksrausch des Liebespaares glich, wie wir schon angaben, nur das Entzücken des Großvaters. Jeden Morgen brachte er Cosette irgend ein neues Geschenk. Er konnte nicht müde werden nachzudenken, was für Juwelen und Roben er noch schenken sollte.

Eines Tages sagte Marius, der neben seinen Liebesträumereien auch ernsteren Gedanken Raum gab, anläßlich irgend eines Vorfalls:

»Die Lenker der französischen Revolution waren, ausnahmsweise große Männer. Ihr Andenken hat nicht, wie die Helden des Alterthums, wie Cato und Phocion, der Weihe der Zeit bedurft, um populär zu werden. Trotzdem glaube ich, daß die Bewundrung für sie noch einer Steigerung fähig ist: Dazu müßten wir aber zu den Geschichtsquellen emporsteigen können, aus denen wir die Triebfedern ihrer Handlungen und ihre Ideale noch besser kennen lernen würden, Quellen, die uns leider noch nicht zugänglich sind, nämlich ihre Memoiren.«

»Memoiren — moiren — Moiré! Jetzt hab’ ich’s!« rief der Alte. »Ich denke mir, daß Du mich auf das Richtige gebracht hast. Darauf besann ich mich gerade.«

Und am nächsten Tage war Cosettens Ausstattung um eine theefarbene Robe aus antiken Moiré vermehrt.

Denn der Großvater huldigte in Bezug auf den Putz einer sehr praktischen Philosophie.

»Die Liebe,« lehrte er, »ist schön und gut, aber das gehört dazu. Um glücklich zu sein bedarf der Mensch des Unnützlichen. Das Glück ist weiter nichts als das Nothwendige. Das Notwendige ist aber nicht genug, es muß mit dem Ueberflüssigen gewürzt werden. Ein Palast und ihr Herz. Sein Herz und recht viel Nadelgeld. Nichts geht über ein Schäferinnenkostüm, wenn ein reiches und vornehmes Mädchen drin steckt. Möge Philis sich mit Kornblumen bekränzen, aber der Herr Papa darf nicht vergessen sie mit einer üppigen Mitgift zu schmücken. Soll eine Idylle nach meinem Geschmack sein, so muß sie sich in einer Marmorhalle abspielen. Das Glück ohne Zugabe gleicht trocknem Brod. Man ißt, aber der Magen bleibt unbefriedigt. Ich verlange Ueberflüssiges, Unnützes, Pompöses, das über das Bedürfniß hinausgeht. Als ich in Straßburg war, sah ich in dem dortigen Münster eine Uhr, die so hoch war, wie ein dreistöckiges Haus. Sie gab die Tageszeit an, hatte die Güte die Tageszeit anzugeben, sah aber ganz und garnicht danach aus, als sei sie dazu bestimmt. Denn außer, daß sie zwölf Uhr Mittags oder Nachts, die Schlafenszeit, Essenszeit, die Geisterstunde, die Liebesstunden und alle möglichen Stunden schlug, zeigte sie noch das Land und das Meer, den Mond und die Sterne, Vögel und Fische, Phöbus und Phöbe und eine Unmenge Geschichten, die aus einer Nische hervorkamen, die zwölf Apostel und Kaiser Karl V. und Eponine und Sabinus und eine Schaar von kleinen, vergoldeten Männekens, die obendrein auf der Trompete bliesen. Des reizenden Glockengeläuts zu geschweigen, daß sie bei jeder Gelegenheit durch die Luft erklingen ließ. Ist eine Uhr, die nichts als ein erbärmliches Zifferblatt hat, eben so viel wert? Auf keinen Fall. Ich halte es mit der Uhr des Straßburger Münsters und ziehe sie den Schwarzwälder Kuckucksuhren vor.«

Ueber das Hochzeitsfest speziell ließ sich Gillenormand mit Vorliebe in demselben Sinne aus, indem er seine Philosophie mit überschwänglichen Dithyramben auf das achtzehnte Jahrhundert verbrämte.

»Ihr versteht Euch heutzutage nicht auf die Kunst, Feste zu veranstalten, Freudentage zu feiern. Euer neunzehntes Jahrhundert hat kein Leben, kein Feuer, keinen Schwung. Es kann nicht mit Anstand über die Stränge schlagen. Es hat keinen Sinn für das Reiche, das Noble. Ueberall gleichgeschorne Mittelmäßigkeit. Euer Bürgerthum hat keinen Saft und keine Kraft, kein Verständniß; für das Schöne, Heitere, Elegante. Wenn sich Eure Bürgersfrauen eine Wohnungseinrichtung anschaffen, wie sie’s nennen, sind Polisander und Kattun das Höchste, wozu sie sich emporschwingen. Platz! Macht Platz! In dem Hochzeitswagen da sitzt der reiche Herr Wucher mit seiner Braut Fräulein Knauserig. Hat solch eine Hochzeit nicht Schick? Ja ja, solche Leute verstehen’s. Denken Sie Sich, Louisd’ore haben Sie an die Kerzen geklebt! Seht, das kennzeichnet so recht Eure Zeit. Man möchte davon laufen, zu den Kosacken und Baschkiren. Aber ich habe das Alles schon 1787 vorausgesehen, als ich den Herzog von Rohan, Fürsten von Léon, Herzog von Chabot, Herzog von Montbazon, Marquis von Soubise, Vicomte von Thouars, Pair von Frankreich in einem Miethwagen nach Longchamp fahren sah. Das hat seine Früchte getragen. In diesem Jahrhundert sind Diejenigen obenan, die Geschäfte machen, an der Börse spekuliren, Geld verdienen und knickern. Man pflegt und lackirt sein Aeußeres; ist immer fein geputzt, gewaschen, geseift, gekämmt, rasirt, gewichst, gebürstet, äußerlich gereinigt, tadellos, glatt wie ein Kiesel, sauber und hat dabei — Gott erbarme sich — im Innersten seines Gewissens Misthaufen und Kloaken, wovor ein Schmutznickel von Kuhmagd zurückschrecken würde. Ich gebe dieser Zeit den Wahlspruch: Unsaubere Sauberkeit. Marius, erboße Dich nicht; laß mich reden. Ich sage ja nichts Böses von Deinem lieben Volke; mein Mund ist des Lobes voll von Deinem guten Volke; dafür mußt Du mir erlauben, daß ich dem Bürgerthum ordentlich die Wahrheit geige. Gehöre ich doch selber dazu. Wer sein Kind lieb hat, der haut es tüchtig. Demgemäß behaupte ich also ohne Umschweife: Ihr heiratet wohl, aber Hochzeiten zu feiern ist eure Sache nicht. Ja wahrhaftig, mir thut es leid, daß die feinen, gefälligen Manieren und Sitten der guten, alten Zeit abgekommen sind. Ich sehne mich nach Allem zurück, nach ihrer Eleganz, ihrer Ritterlichkeit, ihrem höflichen und zierlichem Wesen, ihrem heiteren Luxus, den Jeder trieb, der Hochzeitsmusik — für die feinen Leute Symphoniekonzerte, für das gemeine Volk Tamburinschläger — den alten Tänzen, der Heiterkeit, die bei Tische herrschte, den fein gedrechselten Komplimenten, den alten Liedern, den Feuerwerken, dem ungezwungnen Lachen, der tollen Lustigkeit, den großen Bandschleifen. Und Schade auch um die Gebräuche, die sich an das Strumpfband der Braut knüpften. Das Strumpfband der Braut ist mit dem Gürtel der Venus verwandt. Worum dreht sich der trojanische Krieg? Ganz einfach um Helenas Strumpfband. Warum schlugen sich die Heroen, warum zerschmetterte der göttliche Diomedes den großen, ehernen Helm mit den zehn Spitzen auf dem Haupt des Merioneus, warum zerpiekten sich Achill und Hektor mit langen Lanzen? Weil Helena sich von Paris ihr Strumpfband hat nehmen lassen. Ueber Cosettens Strumpfband würde Homer noch eine Iliade machen können. Er würde in seinem Epos einen alten Schwabbellfritzen wie mich auftreten lassen und ihn Nestor nennen. Liebe Freunde, in der alten Zeit, in der liebenswürdigen, alten Zeit arrangirte man eine Hochzeit mit Verstand. Erst ein gut redigirter Heiratskontrakt, dann eine gemüthliche und großartige Schmauserei. Potz Wetter! Der Magen ist ja ein angenehmes Thier, das sein Recht verlangt und an dem Vergnügen auch Theil nehmen will. Man speiste gut und hatte eine hübsche Tischnachbarin, die ihren Busen nicht allzu ängstlich versteckte. O wie weit machte man den Mund auf zum Lachen und wie lustig war man dazumal; Die Jugend bedeckte sich mit Blumen; jeder junge Mann schmückte sich mit einem Fliederzweig, oder einem Rosenbüschel; war Einer auch Militär, er putzte sich wie ein Schäfer heraus und wer etwa Dragonerhauptmann war, der brachte es doch fertig, sich Florian zu nennen. Man legte es darauf an, niedlich auszusehen, trug Stickereien und bunte Kleidung. Die Tracht des Mittelalters wies eine Farbenpracht wie eine Blume auf; ein Marquis erinnerte an ein Juwelenkästchen. Sprungriemen und Stiefel waren unbekannt. Aber man sah fein, schmuck, adrett, prächtig wie ein Goldkäfer, zierlich, kokett aus, was nicht hinderte, daß man einen Degen an der Seite trug. Wie der Kolibri, der nicht bloß bunte Flügel, sondern auch einen spitzen Schnabel und scharfe Krallen hat. Es war die Zeit des galanten Indiens. Eine der charakteristischen Eigenschaften des vorigen Jahrhunderts bestand in der Vorliebe für das Zarte und Feine, eine Andre in der Prachtliebe. Und potztausend! man amüsirte sich. Heutzutage ist man ernst. Die Männer sind filzig, die Frauen prüde. Ein wahres Unglück, in solch einem Jahrhundert zu leben! Ihr wärt im Stande, die Grazien wegzujagen, weil sie keine Kleider anhaben. Ach, man versteckt die Schönheit, als wäre sie etwas Häßliches. Seit der Revolution trägt alle Welt Hosen, sogar die Tänzerinnen; eine Possenreißerin muß sich ernst geberden; Eure Tänze sind langweilig wie politische Abhandlungen. Ihr könnt es Euch garnicht anders vorstellen, als daß ein Mann das Kinn hinter sein Halstuch vergraben muß und blutjunge Kerle, die auf die Freite gehn, kennen kein andres Ideal als dem Philosophen Royer-Collard zu ähneln. Und wißt Ihr, was man mit dieser majestätischen Haltung erreicht? Daß man unbedeutend aussieht. Laßt Euch sagen, daß Lebensfreude nicht blos fröhlich ist, sondern auch groß. So liebt doch zum Teufel auf fidele Weise. Feiert Eure Hochzeiten mit der Ausgelassenheit, der Lebhaftigkeit, dem Lärm und dem Tohuwabohu des Glückes! Eine würdevolle Haltung in der Kirche, nun ja! Aber sobald die Feierlichkeit vorbei ist, Potz Mohren Element! soll man um die Braut einen möglichst bunten Jubel herumwirbeln lassen. Bei einer Hochzeit soll eine königliche und chimärische Pracht entfaltet werden, die sich zwischen dem Dom zu Reims und der Pagode zu Chanteloup bewegen muß. Heiliger Muck! Mir sind die Hochzeiten zuwider, wo es plunderig hergeht. An dem Tage sollt Ihr Euch auf den Olymp emporschwingen und Götter sein. Aber statt der Pracht und Eleganz der Sylphen, Liebesgötter, Elfen und Argyraspiden nachzueifern, seid Ihr lieber plump und lumpig. Liebe Freunde, ein Bräutigam soll wie der Fürst Aldobrandini auftreten. Macht Euch diese Gelegenheit, die nie wiederkehrt, zu Nutze, um mit den Adlern und Schwänen in den lichten Aether emporzusteigen, wenn Ihr auch am nächsten Tage in den Sumpf des Philisterthums herabfallt. Haltet Hymen nicht knapp; beschneidet ihm nicht seine bunten Flügel; geizt nicht mit Hellern an dem Tage, wo Ihr in der höchsten Wonne schwimmen sollt. O wenn ich eine Hochzeit nach meinen Ideen arrangiren könnte, die würde fein ausfallen. Ich würde Musiker engagiren, die müßten sich in den Kronen der Bäume verstecken und die Geige spielen. Mein Programm wäre: Himmelblau und Silber. Ich würde zu dem Fest die Götter der Gefilde, die Dryaden und Nereiden berufen. Die Hochzeit der Amphitrite würde dargestellt werden: Eine rosa Wolke, eine Schaar fein frisirter und nackter Nymphen; ein Akademiker würde eine Rede in Versen an die Göttin halten, die auf einem von Seeungeheuern gezognen Wagen fahren würde. Das wäre ein Festprogramm, oder ich weiß nicht, was eins ist! Bomben und Granaten!«

Während der Großvater sich in solchen lyrischen Ergüssen erging und sich selbstgefällig mit seinen eignen Worten berauschte, benutzten Marius und Cosette die Gelegenheit, um ungestört und nach Herzenslust mit einander zu liebäugeln.

Tante Gillenormand sah dem ganzen Treiben mit ihrer gewohnten, unerschütterlichen Gemüthsruhe zu. Allerdings hatte sie in den letzten fünf bis sechs Monaten eine Menge aufregender Vorfälle erlebt: Marius Versuch den Großvater umzustimmen, Marius’ Rückkehr aus einem Barrikadenkampfe, Marius’ gefährliche Krankheit, Marius’ Versöhnung mit dem Großvater, Marius’ Verlobung mit einem armen, Marius Verlobung mit einem reichen Mädchen. Die Ueberreichung der sechshundert tausend Franken war die letzte und großartigste Ueberraschung gewesen. Hierauf aber war ihre unschuldsvolle Gleichgültigkeit, die sie seit ihrer Firmelung durchs Leben geleitet, wiedergekehrt. Sie ging regelmäßig zur Messe, ließ ihren Rosenkranz durch ihre Finger gleiten, las ihre Kirchenagende, flüsterte in einem Winkel des Hauses Avemarias, während in einem andern I love yougeflüstert wurde und sah in Marius und Cosette so zu sagen nur zwei Schatten, während sie doch selber der Schatten war.

Es giebt einen gewissen Zustand von trägem Ascetismus wo die Seele, durch die allmähliche Erstarrung neutralisirt und dem Getriebe des Lebens fremd, abgesehen von Erdbeben und andern großen Katastrophen, keine menschlichen Eindrücke aufnimmt, weder angenehme noch schmerzliche. — »Deine Art Frömmigkeit,« pflegte Gillenormand zu seiner Tochter zu sagen, »gleicht dem Schnupfen. Du riechst nichts vom Leben, keine üblen Gerüche, aber auch keine guten.«

Im Uebrigen hatten Cosettens fünfhundert vierundachtzig tausend Franken der Unentschlossenheit des alten Fräuleins ein Ende gemacht. Vermöge seiner alten Gewohnheit, sie nicht mitzuzählen, hatte ihr Vater sie auch nicht um ihre Meinung betreffs Marius Vermählung befragt, sondern war wie immer einer Gefühlswallung gefolgt, nur von dem Wunsche beseelt, seinen Gesinnungswechsel zu bekunden und als gehorsamer Großvater seinen Enkel zufrieden zu stellen. Daß auch die Tante existirte und daß sie eine Meinung haben könnte, diesen Gedanken ließ er sich keinen Augenblick beikommen und das hatte sie trotz ihrer sonstigen Schafsgeduld übel genommen. In ihrem Innern ein wenig empört, wenn auch äußerlich ruhig, dachte sie. »Mein Vater entscheidet die Heiratsfrage ohne mich; also werde ich die Erbschaftsfrage, ohne ihn zu fragen, beantworten.«

Sie war nämlich reich und Gillenormand nicht. Demgemäß hatte sie sich den Entscheid über ihr Vermögen vorbehalten und würde höchstwahrscheinlich, wenn Marius eine schlechte Partie gemacht hätte, ihn seinem Schicksal überlassen haben. »Geschieht meinem Herrn Neffen ganz recht. Heiratet er eine Arme, so mag er arm bleiben.« Aber Cosettens halbe Million änderte die Gesinnung, die sie gegen das Liebespaar hegte. Wer so viel Geld hat, dem schuldet man Rücksichten und augenscheinlich konnte sie nicht anders, sie mußte ihr Geld den jungen Eheleuten hinterlassen, da sie es nicht brauchten.

Es wurde beschlossen, daß Marius und Cosette nach ihrer Hochzeit im Hause des Großvaters Wohnung nehmen sollten. Gillenormand trat ihnen sogar sein Schlafzimmer, das schönste im ganzen Hause, ab. — »Das wird mich jünger machen,« erklärte er. »Dies Arrangement macht einen alten Plan von mir zur Wirklichkeit. Ich hatte längst beschlossen, daß es in meinem Schlafzimmer lustig hergehen solle.« Dementsprechend stattete er das Zimmer mit einer Unmenge niedlicher alter Sächelchen aus und ließ die Decke und Wände mit einem ausnehmend kostbaren Stoff bespannen, von dem ein Stück besaß und der, wie er glaubte, aus Utrecht stammte. Von seinem seidnen, butterblumengelben Fonds hoben sich sammtne Aurikeln ab.

»Mit diesem Stoff,« erzählte er, »war das Bett der Herzogin von Anville in La Roche-Guyon drapirt.« — Auf das Kamingesims stellte er eine Figur aus sächsischem Porzellan, die auf ihrem entblößten Leibe einen Muff trug.

Gillenormands Bibliothekzimmer wurde das Advokatenzimmer, das Marius brauchte, da diese Bedingung, wie erinnerlich, von dem Kollegium der Advokaten vorgeschrieben war.

Reminiscenzen im gegenwärtigen Glück

Die Liebenden sahen sich tagtäglich, indem Cosette mit Fauchelevent zu Marius kam. — »Das ist ja eine Umkehrung alles Dagewesenen«, meinte Fräulein Gillenormand, »daß die Braut dem Bräutigam ins Haus kommt, um sich von ihm den Hof machen zu lassen.« — Aber wegen Marius Genesung hatte man sich daran gewöhnt und die Lehnstühle in dem Hause der Rue des Filles-du-Calvaire, die bequemer waren und für trauliche Unterhaltungen besser paßten, als die Strohstühle in der Rue de l’ Homme-Armé, hatten dafür gesorgt, daß die Gewohnheit sich einwurzelte. Marius und Fauchelevent kamen zusammen, sprachen aber nicht mit einander und benahmen sich dabei so, als thäten sie dies auf Verabredung. Jedes junge Mädchen braucht Begleitung, um den Anstand zu wahren und Cosette hätte ohne Fauchelevent nicht kommen können. Für Marius bildete also Fauchelevents Besuch eine Bedingung, von der seine Zusammenkünfte mit Cosette abhängig gemacht waren und die er sich folglich gefallen ließ. In dem sie dann eventuell socialpolitische Probleme, die eine Hebung des allgemeinen Wohlstandes bezweckten, oben hin mit Vorsicht streiften, brachten sie Gespräche zu Stande bei denen etwas mehr als Ja und Nein gesagt wurde. Einmal sogar, als sie auf den Schulunterricht zu sprechen kamen, der nach Marius unentgeltlich und obligatorisch, unter allen möglichen Gestalten verbreitet und Jedermann zugänglich sein sollte, wie der Sonnenschein und die Luft, kurz dem ganzen Volk gespendet werden sollte, stimmten sie in ihren Ansichten überein und plauderten in beinahe gemüthlicher Weise. Bei dieser Gelegenheit fiel es Marius auf, daß Fauchelevent sich gut und ziemlich gewählt ausdrückte. Allerdings ging ihm ein gewisses Etwas ab. Fauchelevent stand in manchen Punkten einem Weltmann nach und war in andrer Hinsicht einem solchen überlegen.

Ueber diesen Mann, der sich gegen ihn nur wohlwollend und kühl benahm, stellte sich Marius, ohne sich etwas davon merken zu lassen und in dem verborgensten Winkel seines Innern, eine Menge stummer Fragen. Zeitweise wandelten ihn Zweifel über seine eignen Erinnrungen an. Es bestand in seinem Gedächtniß eine Lücke, ein dunkles Loch, eine Kluft, in Folge der viermonatlichen Krankheit, während der er mit dem Tode gekämpft hatte. Dadurch war ihm vieles abhanden gekommen und dies ging so weit, daß er sich oft fragte, ob er auch wirklich Herrn Fauchelevent, einen so ernsthaften und stillen Mann, unter den Barrikadenkämpfern gesehen habe.

Außer dieser merkwürdigen Frage nach dem Antheil, den Fauchelevent an der Insurrektion genommen, hatten aber die Gestalten und Erscheinungen der Vergangenheit noch andre Eindrücke in Marius Geist hinterlassen. Man glaube ja nicht, daß er von jener Zudringlichkeit des Gedächtnisses befreit geblieben wäre, die uns auch im Glücke, selbst wenn wir vollständig zufrieden sind, schwermüthig rückwärts zu blicken zwingt. Der Kopf, der sich nicht nach entschwundnen Horizonten umwendet, enthält keine Liebe und keine Gedanken. Es gab Augenblicke, wo Marius das Gesicht in seine Hände drückte und die wirren Bilder der wild bewegten Vergangenheit durch die Dämmerung seines Hirns ziehen ließ. Dann sah er wieder Mabeuf von der Barrikade herabstürzen, hörte Gavroche im Kugelregen singen, fühlte an seinen Lippen Eponinen’s kalte Stirn, sah Enjolras, Courfeyrac, Jean Prouvaire, Combeferre, Laigle, Grantaire, alle seine Freunde vor den Augen seines Geistes einhergehen und verschwinden. Waren alle diese unglücklichen, heldenmüthigen, liebenswürdigen und tragischen Gestalten, die seinem Herzen einst nahe gestanden, Vorspiegelungen eines Traumes oder hatten sie wirklich gelebt? Ob die Aufregung des Kampfes ihn im Pulverdampfe Dinge hatte sehen lassen, die nicht waren? So fragte er sich fortwährend, befühlte sich und ihm schwindelte, wenn diese entschwundnen Wirklichkeiten sich seinem Geiste aufdrängten. Wo waren sie denn Alle? Waren sie wirklich Alle gestorben? Ein Sturz in die Finsterniß hatte Alles dahingerafft, ihn allein ausgenommen. Ihm war, als sei dies Alles gleichsam hinter einem herabgelassenen Theatervorhang verschwunden. Es giebt ja im Leben Vorhänge, die so herunterfallen. Gott geht dann zum folgenden Akt über.

Und war er selbst denn noch derselbe? Ehedem arm, war er jetzt reich; einst verlassen und einsam, hatte er jetzt eine Familie; nach der schrecklichsten Verzweiflung gelangte er jetzt zu dem höchsten Glück, seine Cosette zu heiraten. Ihm war zu Muthe, als sei er durch eine Gruft gewandert, in die er schwarz hineingegangen und aus der er weiß herausgekommen sei. Und in dieser Gruft waren die Andern zurückgeblieben. In manchen Augenblicken tauchten diese Menschen der Vergangenheit in der Gegenwart wieder auf, umringten ihn und stimmten ihn traurig; alsdann pflegte er an Cosette zu denken, um sich aufzuheitern; es bedurfte aber auch keiner geringern Glückseligkeit, um die Erinnrung an die Katastrophe zu verwischen.

Auch Herrn Fauchelevent war Marius nahe daran, einen Platz unter den Entschwundnen anzuweisen. Aber er trug noch Bedenken, zu glauben, daß der Fauchelevent der Barrikade identisch sei mit dem leibhaftigen, lebendigen Fauchelevent, den er jetzt so oft neben Cosette sitzen sah. Der erstere erschien ihm als eine Gestalt, der nur sein schreckliches Wundfieberdelirium das Dasein verliehen hatte. Uebrigens war, da sich beide Männer gleich zurückhaltend verhielten, nicht daran zu denken, daß Marius an Fauchelevent über diesen Punkt eine Frage richten würde. Darauf konnte er nicht einmal in Gedanken verfallen, eine charakteristische Eigenthümlichkeit von Marius, auf die wir schon aufmerksam gemacht haben.

Daß aber zwei Menschen ein gemeinsames Geheimniß haben und vermöge einer Art stillschweigender Uebereinkunft kein Wort über den betreffenden Gegenstand austauschen, ist nicht so selten, wie man gewöhnlich glaubt.

Ein einziges Mal machte Marius den Versuch dieses Terrain zu rekognosciren. Er erwähnte im Lauf eines Gespräches die Rue de la Chanvrerie und sagte, indem er Fauchelevent fixirte:

»Sie kennen doch diese Straße?«

»Welche?«

»Die Rue de la Chanvrerie?«

»Keine Ahnung von einem solchen Straßennamen!« erwiederte Fauchelevent auf die allerunbefangenste Weise.

Da die Antwort sich auf den Namen der Straße, nicht auf sie selbst bezog, so maß ihr Marius eine entscheidende Bedeutung bei, die sie nicht hatte.

»Ich sehe schon,« dachte er, »ich habe das geträumt. Eine Hallucination. Es war Jemand, der ihm ähnelt. Herr Fauchelevent ist nicht dabei gewesen.«

Zwei Unauffindbare

So groß Marius Liebesglück auch war, so verdrängte es doch nicht gewisse andre Gedanken aus seinem Geiste.

Während die Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen wurden, ließ er schwierige und sorgfältige Nachforschungen anstellen.

Er war nach mehreren Seiten hin Dank schuldig, für seinen Vater und für sich selber.

Einerseits Thénardier, andrerseits dem Unbekannten, der ihn zu Gillenormand zurückgebracht hatte.

Marius lag daran, diese Beiden wiederzufinden; er wollte sich nicht verheiraten, glücklich sein und sie vergessen und fürchtete, wenn er die Schuld der Dankbarkeit nicht abtrage, so würde auf sein Leben, das so glänzend aussah, ein trüber Schatten fallen. Es war ihm unmöglich, diesen Rückstand unerledigt zu lassen und er wollte, ehe er fröhlich in die Zukunft hinüberging, erst von der Vergangenheit eine Quittung haben.

Daß Thénardier ein Schuft war, that dem Umstande, daß er den Obersten Pontmercy gerettet hatte, keinen Abbruch. Thénardier war für Jedermann ein Bandit; nur nicht für Marius.

Und da Marius den wahren Sachverhalt, wie er sich auf dem Schlachtfeld von Waterloo zugetragen, nicht kannte, so wußte er nicht, daß sein Vater sich Thénardier gegenüber in einer absonderlichen Lage befand, daß er ihm nämlich das Leben verdankte, ohne ihm dafür Dank schuldig zu sein.

Keinem der verschiednen Vermittler, die Marius engagirte, glücke es, Thénardiers Fährte zu entdecken. Es sah aus, als sei nach dieser Seite hin kein Erfolg zu hoffen. Frau Thénardier war während der Einleitung des Processes gestorben. Es blieben also von der unglücklichen Familie nur noch Thénardier und seine Tochter Azelma übrig, und diese waren verschollen, in unbekannte Regionen versunken und an der Oberfläche sah man nicht einmal eine leise Bewegung, eine Erschüttrung, einen von jenen konzentrischen Kreisen, der die Stelle bezeichnet, wo etwas hineingefallen ist und wo man die Sonde auswerfen kann.

Da Frau Thénardier gestorben, Boulatruelle von der Instanz entbunden, Claquesous verschwunden, die Hauptangeklagten aus dem Gefängniß entsprungen waren, so verlief der Proceß, der wegen der im Gorbeauschen Hause stattgehabten Vorgänge angestellt wurde, resultatlos und das Dunkel, das über der Sache schwebte, wurde nicht genügend gelichtet. Die Anklagebank mußte sich mit zwei Nebenpersonen begnügen, Panchaud, mit dem Beinamen Printanier oder Bigrenaille, und Dami-Liard mit dem Beinamen Deux-Milliards, die zu zehnjähriger Galeerenstrafe verurtheilt wurden. Gegen ihre entsprungenen und nicht vor Gericht erschienenen Mitschuldigen lautete das Urtheil auf lebenslängliche Zwangsarbeit. Thénardier als der Anstifter und Anführer wurde gleichfalls in contumaciam zum Tode verurtheilt. Dieses Urtheil war das Einzige, was über Thénardier schweben blieb, indem es auf seinen verschollenen Namen, so unheimlich wie ein Licht neben einer Totenbahre, seinen Schein warf.

Indem sich nun Thénardier, aus Furcht ergriffen zu werden, noch mehr in seine Verborgenheit zurückzog, verdichtete diese Verurtheilung noch das Dunkel, das diesen Menschen bedeckte.

Was den Andern betrifft, den Unbekannten, der Marius gerettet hatte, so förderten die Nachforschungen anfangs einige Resultate zu Tage, gediehen aber dann nicht weiter. Es gelang die Droschke zu finden, die am Abend des 6. Juni Marius nach der Rue des Filles-du-Calvaire gebracht hatte. Der Kutscher erklärte, er habe am 6. Juni auf Befehl eines Polizeibeamten von drei Uhr Nachmittags bis zur Nacht auf dem Quai des Champs-Elysées, über dem Ausgang der Großen Kloake, mit seinem Fuhrwerk gewartet; gegen neun Uhr Abends sei die Gitterthür der Kloake, die auf das Flußufer hinausgeht, geöffnet worden; ein Mann wäre herausgekommen, der habe auf dem Rücken einen Andern, der tot zu sein schien, getragen; der Polizist, der an dieser Stelle auf der Lauer stand, habe den Herausgekommenen arretirt; dann habe er alle Drei in seine Droschke aufgenommen; sie seien zunächst nach der Rue des Filles-du-Calvaire gefahren, wo man den Toten zurückgelassen hätte; der Tote sei Herr Marius und er, der Kutscher erkannte ihn sehr gut, obgleich er »jetzt lebendig« sei; dann seien die beiden andern Fahrgäste wieder in die Droschke gestiegen, er habe seine Pferde wieder in Trab gesetzt und wenige Schritte von dem Archivgebäude hatte man ihn halten lassen, habe bezahlt und sei fortgegangen, indem der Polizist den Andern wegführte; weiter wisse er nichts; es sei in jener Nacht sehr finster gewesen.

Marius, wie wir schon erwähnt haben, erinnerte sich an gar nichts. Er wußte bloß noch, daß er kräftig von hinten gepackt wurde, als er hinter der Barrikade zu Boden sank; alles Uebrige war ihm nicht zum Bewußtsein gekommen. Erst in Gillenormand’s Haus wurde er seiner Sinne wieder mächtig.

Demzufolge blieben ihm nichts als Vermuthungen übrig.

Er konnte nicht an seiner eignen Identität zweifeln. Wie kam es denn aber, daß er in der Rue de la Chanvrerie umgefallen und von dem Polizisten an dem Ufer der Seine, unweit der Invalidenbrücke aufgefunden worden war? Es hatte ihn also Jemand von dem Markthallenviertel bis nach den Champs-Elysées getragen. Und auf was für einem Wege! Durch die Kloaken! Welch eine hochherzige That!

Jemand? Ja wer?

Diesen Mann suchte also Marius.

Von diesem, seinem Retter war keine Spur, nicht das leiseste Anzeichen, das ihn kenntlich gemacht hätte, zu entdecken.

Um ihn aufzufinden, ließ Marius sogar alle Vorsicht außer Augen und wandte sich an die Polizeipräfektur. Aber die von dieser Seite angestellten Erhebungen führten ebenfalls zu keiner Aufklärung der Sache. Die Polizeipräfektur wußte von der Sache noch weniger, als der Droschenkutscher. Man hatte daselbst keine Kenntniß von irgend einer, am 6. Juni, am Ausgange der großen Kloake vorgenommenen Verhaftung, hatte von keinem Beamten einen Bericht über diesen Vorfall erhalten, der nach Ansicht der Herren als eine Fabel, eine Erfindung des Kutschers zu betrachten sei. Ein Kutscher, der Appetit auf ein Trinkgeld habe, sei zu allem fähig, sogar Phantasie zu bekunden. Die Sache war aber doch wahr und über allen Zweifel erhaben, wenn Marius nicht gerade an seiner eignen Identität, wie wir schon sagten, zweifeln wollte.

Alles an diesem absonderlichen Räthsel war unerklärlich.

Was war aus dem geheimnißvollen Menschen geworden, den der Kutscher aus der Großen Kloake mit dem ohnmächtigen Marius auf dem Rücken hatte herauskommen sehen und den der Polizeibeamte bei der Rettung eines Insurgenten auf der That ertappt hatte? Wo war der Polizist hingekommen? Warum hatte er Stillschweigen über die Sache beobachtet? War es dem Mann gelungen, zu entwischen, ihn zu bestechen? Warum ließ er Marius, der ihm alles verdankte, nichts von sich missen? Diese Uneigennützigkeit war nicht minder großartig, als die Selbstverleugnung, die er bei der Rettung des Verwundeten bewiesen. Warum ließ sich dieser Mann nicht wiedersehen? Vielleicht war er über jede Belohnung erhaben, aber Dank darf Niemand ablehnen. War er gestorben? Was für ein Mensch mochte es sein? Wie sah er aus? Diese Frage konnte Niemand beantworten. Der Kutscher sagte bloß: »Es war sehr finster.« Baske und Nicolette hatten in ihrer Bestürzung und Angst nur ihren, mit Blut bedeckten, jungen Herrn gesehen. Der Pförtner, der mit seinem Talglicht bei der tragischen Scene geleuchtet hatte, war der Einzige, der auf den Unbekannten geachtet hatte und die Personalbeschreibung, die er lieferte, lautete: »Der Mann sah entsetzlich aus!«

In der Hoffnung, daß sie ihm bei seinen zukünftigen Nachforschungen irgend wie nützlich sein würden, ließ Marius die blutigen Kleidungsstücke aufbewahren, die er bei seiner Rückkehr in das Haus des Großvaters angehabt hatte. Als man den Rock untersuchte, bemerkte man, daß von dem einen Schoß ein Zipfel auf absonderliche Weise abgerissen war. Es fehlte ein Stück.

Eines Abends sprach Marius zu Cosette und Jean Valjean von diesem, seinem Abenteuer, von den zahllosen Nachforschungen, die er hatte anstellen lassen und der Ergebnißlosigkeit seiner Bemühungen. Da aber »Herr Fauchelevent« bei der Erzählung kühl blieb, gerieth Marius in Hitze und rief mit einer Lebhaftigkeit, aus der fast Zorn herausklang:

»Ja, dieser Mann, wer er auch gewesen sein mag, hat sich hochherzig gezeigt. Wissen Sie, Herr Fauchelevent, was er für mich gethan hat? Er ist mein Rettungsengel gewesen. Er mußte sich mitten in das Gewühl des Kampfes stürzen, mich heimlich heraustragen, die Kloakenthür aufmachen, mich hinschleppen, mich tragen. Tausende und abertausende von Meter mußte er in den abscheulichen, unterirdischen Galerien gebückt, im Dunkeln, in der scheußlichen Luft, mit der Last eines besinnungslosen Menschen auf dem Rücken zurücklegen! Tausende und abertausende von Metern! Und zu welchem Zweck? Bloß um einen Menschen, der kaum noch etwas Leben in sich hatte, zu retten! Und der Gerettete war ich. Er dachte, vielleicht ist noch Hoffnung; deshalb will ich mein Leben aufs Spiel setzen, damit das elende Fünkchen nicht erlischt. Und dieses Leben hat nicht ein, nein, zwanzig Mal auf dem Spiel gestanden. Bei jedem Schritt den er that, setzte er sich einer Gefahr aus. Das beweist schon die Thatsache, daß er arretirt worden ist, als er aus der Kloake herauskam. So etwas Großartiges hat der Mann an mir gethan, Herr Fauchelevent. Und ohne Aussicht aus eine Belohnung. Was hätte ihm denn auch ein besiegter Insurgent geben können? O, wenn ich über Cosettens sechshundert tausend Franken zu verfügen hätte …«

»Sie gehören Ihnen ja,« fiel ihm Jean Valjean ins Wort.

»Nun, so würde ich sie hingeben, wenn ich den Mann wieder auffinden könnte!«

Jean Valjean aber beobachtete Stillschweigen.

Eine schlaflose Nacht

Am 16. Februar 1833

Die Nacht vom 16. zum 17. Februar war eine gesegnete Nacht. Ueber ihrem Dunkel stand der Himmel offen. Es war Marius und Cosette’s Hochzeitsnacht.

Der Tag war herrlich gewesen.

Allerdings kein romantisch-mythologisches Fest, wie es des Großvaters Phantasie entworfen hatte; kein Feenstück mit einem Gewimmel von Cherubim und Liebesgöttern über den Häuptern des Brautpaars, eine Hochzeit, die über dem Gesims einer gothischen Thür hätte figurien können; aber es war gemüthlich und heiter zugegangen.

Hochzeiten wurden 1833 nicht so gefeiert, wie heutzutage. Frankreich hatte damals noch nicht von England die ungeheuer feine Sitte entliehen, gleich beim Herauskommen aus der Kirche seine Frau zu entführen, mit ihr davonzulaufen, sich zu verbergen, als schäme man sich seines Glücks und die Eckstasen des Hohenliedes mit dem Gebaren eines Bankrotteurs zu verquicken. Man kapirte damals noch nicht, wie keusch, zart und sittsam es ist, in einer Postkutsche zu kosen, seine Küsse von Peitschengeknall sekundiren zu lassen, als Brautlager das erste, beste Hotelbett zu wählen und die schönste Nacht des Lebens vielleicht neben der Kabuse zu feiern, wo sich die Herbergsmagd mit dem Diligecenkondukteur amüsirt.

In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts genügen der Bürgermeister und seine Schärpe, der Geistliche und sein Meßgewand, das Gesetz und Gott nicht mehr; sie müssen durch den Postillon von Lonjumeau ergänzt werden, eine blaue Jacke mit rothen Aufschlägen und Glöckchenbehang, grüne Lederhosen, Flüche über normannische Pferde, unechte Tressen, einen Wachstuchhut, gepuderte Haare, eine riesige Peitsche und Stulpenstiefel. In Frankreich treibt man freilich die Eleganz noch nicht so weit, wie die englische Nobility, die auf die Postkalesche Neuvermählter einen Hagel von alten Pantoffeln und abgelaufenen Schuhen niederprasseln läßt, zur Erinnerung an Churchill, später Herzog von Marlborough, der an seinem Hochzeitstage von seiner wütenden Tante so begrüßt wurde und dem dieser Gruß Glück brachte. Noch bildet altes Schuhzeug keinen nothwendigen Bestandtheil unsres Hochzeitsapparats; aber Geduld! Wenn der feine Geschmack sich verallgemeinert, bringen wir’s auch noch so weit.

1833 und vor hundert Jahren wurde Hochzeit noch ohne Pferdegalopp gefeiert.

Zu jener Zeit bildete man sich seltsamer Weise noch ein, eine Hochzeit sei ein Familien- und ein geselliges Fest, ein patriarchalischer Schmaus verderbe keine häusliche Feierlichkeit, die Lustigkeit, auch wenn sie über das nöthige Maß hinausgehe, thue, wenn sie nur gut gemeint sei, dem Glück keinen Abbruch, und es sei eine achtungswerte und gute Sitte, daß die Verschmelzung zweier Geschicke, aus der eine Familie hervorgehen soll, in dem traulichen Heim beginne und daß die Eheleute in Zukunft das Brautgemach zum Zeugen ihrer Handlungen haben.

Und demzufolge war man schamlos genug, seine Hochzeit zu Hause zu feiern.

So wurde denn auch Marius und Cosette’s Hochzeit nach dieser heutzutage schon abkommenden Mode in Gillenormands Haus begangen.

Eine so natürliche und so gewöhnliche Sache das Verheiraten auch ist, aber das Aufgebot, die Aufsetzung der Urkunden, die Verhandlungen mit den Standesamts- und Kirchenbehörden, sind immer etwas komplicirter Natur und so konnten auch Marius und Cosette mit den Vorbereitungen zu ihrer Hochzeit nicht vor dem 16. Februar fertig werden.

Nun traf es sich aber, — wir berichten diese Nebensache nur der Genauigkeit wegen — daß der 16. Februar mit der Fastnacht zusammen fiel. Dieser Umstand verursachte Bedenken, Skrupel, namentlich seitens der Tante Gillenormand.

»Die Fastnacht!« rief der Großvater. »Desto besser. Ein altes Sprüchwort sagt, Leute, die sich an dem Tage verheiraten, bekämen keine undankbaren Kinder. Lassen wir also die Bedenken und nehmen wir den sechzehnten. Oder hast Du Lust zu warten, Marius?«

»Bewahre!« rief eifrig der Bräutigam.

»Dann also hinein ins Vergnügen!« schloß der Großvater.

Die Hochzeit fand demzufolge am 16. statt, trotzdem es ein öffentlicher Festtag war. Es war regnerisches Wetter, aber für die Glücklichen reservirt der Himmel immer ein Fleckchen Azurbläue, das die Liebenden sehen, auch wenn die ganze übrige Schöpfung sich unter dem Regenschirm befindet.

Am Abend zuvor übergab Jean Valjean in Gegenwart des Großvaters dem Bräutigam die fünfhundert vierundachtzigtausend Franken.

Da ausgemacht war, daß zwischen den Eheleuten Gütergemeinschaft herrschen sollte, so waren die Formalitäten sehr einfache.

Die Dienste der Toussaint konnte Jean Valjean von nun an entbehren; Cosette erbte sie und avancirte sie zum Range einer Kammerfrau.

Was Jean Valjean anbetrifft, so stand im Gillenormandschen Hause ein eigens für ihn möblirtes Zimmer zu seiner Verfügung und Cosette hatte ihn so unwiderstehlich gebeten: »Vater, thu’s mir zu Liebe!« daß er ihr halb und halb zugesagt hatte, er würde zu ihr ziehen.

Einige Tage vor der Hochzeit stieß Jean Valjean ein Unfall zu, wobei er sich den Daumen der rechten Hand etwas quetschte. Es war keine bedenkliche Verletzung; er erlaubte auch nicht, daß irgend Jemand sich damit beschäftigte, noch ihn verband, noch die Wunde in Augenschein nahm, nicht einmal Cosette. Indessen sah er sich genöthigt sich die Hand mit einem Stück Leinwand zu umwickeln und den Arm in einer Binde zu tragen; auch wurde er dadurch am Schreiben gehindert und konnte die Urkunden nicht unterzeichnen, so daß Gillenormand als Cosettens Mitvormund seine Stelle vertreten mußte.

Wir wollen den Leser weder nach der Mairie, noch nach der Kirche begleiten. Folgt man doch nicht leicht einem Liebespaar bis dahin und pflegt man doch dem Drama den Rücken zu kehren, sobald es einen Bräutigamsstrauß in sein Knopfloch steckt. Wir beschränken uns darauf einen merkwürdigen Zwischenfall zu berichten, der, von der Hochzeitsgesellschaft freilich nicht bemerkt, sich während der Fahrt von der Rue des Filles-du-Calvaire ereignete.

Es wurde zu jener Zeit das Pflaster an dem nördlichen Ende der Rue Saint-Louis reparirt. In Folge dessen war diese Straße von der Rue du Parc-Royal an gesperrt, so daß die Hochzeitsequipagen nicht direkt nach der Kirche Saint-Paul fahren konnten, sondern einen Umweg machen mußten. Das Einfachste war, man wählte den Weg über die Boulevards. Dagegen wendete einer der Gäste ein, es sei Fastnachtsdienstag und deswegen würde in den Hauptstraßen ein großer Wagenverkehr herrschen. — »Warum?« fragte Gillenormand. — »Wegen der Masken.« — »Das ist ja sehr schön,« entgegnete der Großvater. »Dann wollen wir da entlang fahren. Für junge Leute, die sich heiraten und den Ernst des Lebens kennen lernen sollen, ist es eine gute Vorbereitung, wenn sie noch einmal Masken zu sehen bekommen.«

Die Gesellschaft schlug also den Weg nach den Boulevards ein. In der ersten Hochzeitsberline saßen Cosette und Tante Gillenormand, Herr Gillenormand und Jean Valjean. Marius, der dem Brauche gemäß noch von seiner Braut getrennt bleiben mußte, folgte erst in der zweiten Equipage. So schloß sich denn der Hochzeitszug der langen Reihe von Wagen an, die von der Magdalenenkirche bis zum Bastillenplatz und vom Bastillenplatz bis zur Magdalenenkirche eine endlose Kette bildete.

Es tummelten sich viel Masken auf dem Boulevard, trotzdem es hin und wieder regnete. Da der Winter l833 guter Laune war, konnte auch Paris sich sehr wohl venetianisch geberden. Heutzutage wird die Fastnacht nicht mehr so gefeiert; seitdem alles Bestehende ein einziger Karneval ist, kann es keinen wahrhaft heiteren Karneval mehr geben.

Die Bürgersteige wimmelten von Menschen und an allen Fenstern waren Neugierige. Die Säulenhallen der Theater waren mit Zuschauern überfüllt. Abgesehen von den Masken sah sich das Publikum den unendlichen Wagenzug an, der eine charakteristische Eigenthümlichkeit des Fastnachtsdienstags, wie des Wettrennens bei Longchamps bildet. Hier sieht man die mannigfaltigsten Gefährte, die durch die Polizeiverordnungen gleichsam aneinander gekettet und in Geleise eingezwängt, in größter Ordnung vorrücken. Wer sich in einem solchen Wagen befindet, ist zugleich Zuschauer und will gesehen werden. Die Schutzleute sorgten dafür, daß die beiden unendlichen, parallelen Wagenreihen sich in entgegengesetzter Richtung bewegten und daß die beiden Ströme nicht von außen her irgendwie gestört würden. Die durch Wappenschilder kenntlich gemachten Equipagen der Pairs von Frankreich und der Gesandten hielten sich in der Mitte des Dammes, wo sie sich ungehindert bewegen konnten. Gewisse lustige Prachtaufzüge, namentlich der Faschingsochse, hatten dasselbe Vorrecht. In dieses Pariser Getümmel ließ auch England sein Peitschengeknall hineinschallen, indem Lord Seymours Postchaise, vom Volke mit einem Spottnamen begrüßt, mit großem Lärm vorbeifuhr.

In der doppelten Reihe, an der die Municipalgardisten entlang galoppirten, wie eifrige Schäferhunde, wurden in ehrsamen, mit Großmüttern und Tanten überladnen Halbberlinen verkleidete Kinder herumkutschirt, reizende sechs- und siebenjährige Dingerchen in hübschen Kostümen, die sehr wohl fühlten, daß sie einen offiziellen Bestandtheil der öffentlichen Lustbarkeit bildeten, und von der Würde ihrer Harlekinade durchdrungen, sich gravitätisch wie Staatsbeamte benahmen.

Von Zeit zu Zeit trat irgendwo in dem Wagenzuge ein Hemmniß auf; dann hielt die betreffende Reihe an, bis der Knoten aufgelöst war; wenn nur ein Wagen nicht weiter konnte, so genügte dies, um die ganze Procession zum Stillstehen zu bringen. Nachher setzte sich dann wieder alles in Bewegung.

Die Karrossen unsrer Hochzeitsgesellschaft befanden sich in derjenigen Reihe, die sich nach dem Bastillenplatz hin bewegte und an der rechten Seite des Boulevard entlang fuhr. Als sie an der Rue du Pont-aux-Choux anlangten, wurden sie durch eine Stockung des großen Wagenstroms aufgehalten und beinahe in demselben Augenblick hielt auch die Reihe an, die sich nach der Magdalenenkirche hinbewegte. An dieser Stelle befand sich zufälliger Weise ein Wagen voll Masken.

Die Wagenladungen Masken sind den Parisern wohl bekannt. Fehlen sie an einem Fastnachtsdienstag oder Mittfasten, so würde das Publikum Verdacht schöpfen und sagen, dahinter stecke etwas. »Wahrscheinlich bekommen wir ein andres Ministerium.« — Ein wirres Durcheinander von Cassandrinos, Harlekins und Kolumbinen, das da auf dem Wagen geschaukelt wird, allerhand groteske Gestalten, Türken, Wilde, Herkulesse, die Marquisen tragen, Fischweiber, bei deren Zoten sich Rabelais die Ohren zugehalten hätte, wie seiner Zeit Aristophanes beim Anblick der Mänaden die Augen schamhaft niederschlug, Flachsperrücken, rosa Tricots, Stutzerhüte, ungeheuerliche Brillen, kolossale Dreimaster, lärmende Anulkung der Zuschauer, in die Seite gestemmte Fäuste, kecke Stellungen, nackte Schultern, maskirte Gesichter, schamlose Entblößung, ein mit Blumen geschmückter Kutscher — so ist diese Institution beschaffen.

Bedurfte Griechenland des Thespiskarrens, so braucht Frankreich Vadés Fuhrwerk.

Alles kann parodirt werden, sogar die Parodie. Die Saturnalien, eine Karikatur der antiken Schönheit, werden allmählich mehr und mehr entstellt und verwandeln sich in die Fastnacht und die ehedem mit Weinlaub bekränzte, von der Sonne des Südens bestrahlte Bacchantin, die halbnackt, wie eine Göttin ihren schneeweißen Busen zeigte, trägt heutzutage eine schmutzige Maske.

Die Sitte, gemiethete Masken durch die Straßen der Stadt fahren zu lassen, geht auf die ältesten Zeiten des französischen Königthums zurück. Unter Ludwig XI. wurden dem königlichen Schloßvogte zwanzig Sous für drei Kutschen voll Masken gelegentlich öffentlicher Festlichkeiten bewilligt. Heutzutage lassen sich diese Trupps von Schreihälsen gewöhnlich in einem alten Kremser mit geräumigem Verdeck oder in einem großen, ehrwürdigen Landauer, dessen Himmel niedergeschlagen wird, herumkutschieren. Es sind ihrer wohl zwanzig in einem Wagen zusammengepfercht, der für sechs Fahrgäste eingerichtet ist. Sie sitzen auf dem Bock, auf dem Nothsitz, an den Seitenwänden der Verdecke, auf der Deichsel. Sie reiten sogar auf den Wagenlaternen. Sie stehen, sie liegen, sie sitzen mit krummgezognen Beinen. Die Männer nehmen die Frauen auf den Schoß. Schon aus der Ferne fällt, wenn man über die Zuschauermassen hinwegblickt, solch ein bunter, toller Menschenknäuel auf. Diese Wagen sind wandelnde Burgen der Fidelität, die triumphirend dahinzieht und das Publikum mit saftigen Zoten, derben Witzen, plumpen Späßen beschießen. Sie schreien, kreischen, krächzen, brüllen, heulen, singen, juchzen, krümmen sich vor Lachen. Kurz, eine wahre Apotheose der Posse, ein Siegeswagen der Heiterkeit.

Aber eine zu cynische Heiterkeit, als daß sie aufrichtig sein könnte. In der That darf man Argwohn gegen diese Art Gelächter hegen; es hat nämlich einen offiziellen Zweck: Es soll den Parisern die Existenz des Karnevals beweisen.

Diese kanaillösen Fuhrwerke, die als Werkzeuge dunkler Machinationen dienen, geben dem Philosophen zu denken. Sie stehen in Beziehungen zur Politik und man sieht hier mit Augen, daß zwischen den Staatsmännern und dem Staat der öffentlichen Dirnen ein geheimnißvoller, moralischer Zusammenhang bestehen kann.

Daß aufeinander gehäufte Gemeinheiten als Summe eine Lustbarkeit ergeben, daß mit der Schaustellung des Lasters und der Schande die Staatsbürger kirre gemacht werden, daß die Spionage im Bunde mit der Prostitution die Menge amüsirt, das Volk einen ungeheuerlichen Haufen mit Flittern und Lumpen behangner, mit Unflat und Lustigkeit prahlender, brüllender und singender Unglücklicher auf einem vierrädrigen Miethwagen gern vorüberziehen sieht, daß diese aus allerlei Schande zusammengesetzte Herrlichkeit beklatscht wird, daß es kein Fest für die Menge geben kann, wenn die Polizei nicht diese zwanzigköpfigen Freudenhydren durch die Straßen paradiren läßt, daß ist gewiß sehr traurig.

Allein dagegen ist leider nichts zu machen. Denn diese Wagenladungen samt ihrem, mit bunten Bändern und Blumen prangenden Jux werden von der öffentlichen Meinung geschmäht, aber auch gut geheißen. Diese Heiterkeit des Publikums trägt einen Theil der Schuld an der allgemeinen Erniedrigung. Gewisse ungesunde Festlichkeiten lösen das Volk auf und machen einen Pöbel daraus. Der Pöbel aber braucht wie die Tyrannen Possenreißer. Hielten sich die Könige des Mittelalters Narren, so will das Volk Hanswürste haben. Paris läuft jedes Mal, wenn es nicht ein Ideal verfolgt, einer Thorheit nach. Der Karneval ist hier eine politische Institution. Paris — gestehen wir es — läßt sich gern von der Gemeinheit Komödie vorspielen. Es verlangt von seinem Herren — wenn es gerade einen Herrn hat — nur Eins: Schminke mir den Unflat, damit er hübsch aussieht. Rom war ebenso geartet. Es liebte Nero, weil er ein großer Clown war.

Der Zufall fügte es also, wie wir oben gesagt haben, daß einer von den eben beschriebnen Klumpen maskirter Männer und Frauenzimmer, der sich in einer mächtigen Kalesche schaukelte, auf der linken Seite des Boulevard still stand, während die Hochzeitsequipagen rechts hielten. Indem sie so warteten, bemerkten die Masken, die von ihnen so verschiedne Gesellschaft.

»Seht mal!« rief Einer. »Da drüben ist ein Hochzeitszug.«

»So ’ne Idee,« antwortete ein Andrer. »Wenn ich mich in solch ein Unglück stürzen wollte, würde ich mir einen andern Tag dazu auswählen, und nicht einen, der dazu da ist, daß man sich amüsirt.«

Und da sie zu weit entfernt waren, um die »feinen Leute« anulken zu können und sich auch vor den Schutzleuten fürchteten, so blickten diese beiden Masken anderswohin.

Auch bekam diese ganze Wagenladung bald alle Mäuler voll zu thun, indem die Zuschauer anfingen, sie zu begrüßen, nämlich anzuulken und auszuschimpfen, und sie Kehrt gegen die Angreifer machen mußte. An diesem Zungenkampfe, zudem alle Reichthümer der vollständigsten Schimpfwörterlexika aufgeboten wurden, betheiligten sich auch die erwähnten beiden Masken, so daß sie sich nicht mehr mit der Hochzeitsgesellschaft beschäftigen konnten.

Indessen hatten auch zwei andre Masken, die in demselben Wagen saßen, ein älterer Mann in spanischer Tracht, der eine riesige Nase und einen mächtigen, schwarzen Schnurrbart trug, und eine junge Fischhändlerin mit einer Sammetmaske, nach der andern Seite hinübergesehen und unterhielten sich, während ihre Kameraden und die Zuschauer sich mit Schimpfreden regalirten, mit gedämpfter Stimme.

Ihr Gespräch wurde von dem Lärm übertönt, so daß Niemand es hörte. Die Regenhuschen hatten den offnen Wagen naß gemacht; Februarwinde sind auch nicht gelinde, und die dekolletirte Fischhändlerin zitterte vor Frost und hustete, während sie dem Spanier antwortete und über den Radau lachte.

Das Gespräch lautete folgendermaßen:

»Sage mal …«

»Was denn, Oller?«

»Siehst Du den Alten da?«

»Welchen Alten?«

»Den da in der ersten Eklopage, der nach uns hin sitzt.«

»Der den Arm in einem schwarzen Tuch trägt?«

»Ja.«

»Na, was ist denn mit dem los?«

»Ich bin sicher, daß ich den kenne.«

»Hm!«

»Der Deibel soll mich beim Schlafittchen kriegen, wenn mir die Physiognomie nicht schon irgend wo begegnet ist. Aber wo? Kannst Du die Braut sehen, wenn Du Dich aus dem Wagen hinausbeugst?«

»Nein.«

»Und den Bräutigam?«

»Der ist nicht in die Eklopage.«

»Na, wenn Du nicht kieken kannst!«

»Es müßte gerade der andere Alte sein.«

»So strenge doch Deine Kulpen an, damit Du die Braut zu sehen kriegst.«

»Soweit kann ich mich nicht rausneigen.«

»Na, das ist ganz eingal, den Alten mit der Pote, den kenne ich. Darauf kann ich Gift nehmen.«

»Na, was hast Du denn davon, wenn Du ihn auch kennst?«

»Das kann man nicht wissen.«

»Mir sind alle Ollen schnuppe.«

»Ich kenne ihn …«

»Na, wenn’s Dir Spaß macht, immerzu!«

»Wie kommt er in die Gesellschaft?«

»Na, ich denke, wie wir; in’ ne Eklopage.«

»Wo kommen die bloß her?«

»Mit die Wissenschaft kann ich nicht dienen.«

»Hör mal …«

»Na, was denn?«

»Du könntest mir einen Gefallen thun?«

»Was für einen?«

»Aussteigen solltest Du und mal sehen, wo die Eklipage bleibt.«

»Was für einen Zweck soll denn das haben?«

»Ich möchte wissen, wo sie hinfährt und was das für Kunden sind. Mach schnell, Tochter, Du hast junge Beine.«

»Ich darf nicht raus.«

»Wieso nicht?«

»Weil ich engagirt bin.«

»Hol’s der Deibel!«

»Ich stehe den ganzen Tag über im Dienst der Präfektur.«

»Ja leider!«

»Du weißt, wenn ich aus den Wagen steige, kriegt mich der erste Polizeiinspektor, der mich sieht, beim Kanthaken.«

»Ja freilich.«

»Für heute hat mich die Obrigkeit gekauft.«

»Ich kann den Alten nicht verknusen.«

»Da hast Du denselben Geschmack wie die jungen Mädchen. Die können auch die Ollen nicht leiden.«

»Er sitzt im ersten Wagen …«

»Was meinst Du damit?«

»In der Eklopage der Braut …«

»Na, und …?«

»Also ist er der Vater.«

»Ach Oller, wenn Du wüßtest, wie wurschtig mir das ist!«

»Ich sage Dir, er ist der Vater von der Braut.«

»Vater zu werden, davor ist Keiner sicher.«

»Ich will Dir was sagen …«

»Schon wieder?«

»Ich kann nicht gut anders, als maskirt ausgehen. Hier habe ich nichts zu fürchten, hier sucht mich Keiner. Aber morgen werden keine Masken mehr getragen. Morgen ist Aschermittwoch. Da riskiere ich verschüttet zu werden, wenn ich mich aus meinem Loch herauswage. Du dagegen bist frei.«

»Nicht besonders.«

»Immer mehr als ich.«

»Na, meinetwegen.«

»Du mußt also herauszukriegen suchen, wo die da hinfahren.«

»Wo sie hinfährt?«

»Ja.«

»Weiß ich.«

»Wohin denn?«

»Nach dem Cadran Bleu.«

»Der liegt nicht in der Richtung.«

»Nach La Râpée.«

»Ja wohl — oder anders wohin.«

»Na ja. Jeder kann hinfahren, wo er will.«

»Laß das. Ich wiederhole Dir, du mußt mir ausspijonieren, wo die Gesellschaft da wohnt.«

»Sollte mir einfallen! Du bist komisch, Oller! Also nach so und so viel Tagen soll man rauskriegen, wo eine Hochzeitsgesellschaft in dem Fastnachtstrubel geblieben ist! Ich danke! Das ist ja gerade, als sollte man eine Stricknadel in einem Heuhaufen suchen.«

»Gieb Dir Mühe, Azelma. Dann wird’s schon gehen.«

In diesem Augenblick setzten sich die beiden Wagenreihen wieder nach den entgegengesetzten Richtungen in Bewegung und der Wagen mit den Masken verlor die »Eklopage« der Braut aus den Augen.

Jean Valjean trägt den Arm noch immer in der Binde

Sein Ideal verwirklichen! Wem ist das wohl vergönnt? Es müssen wohl im Himmel Wahlen stattfinden, um festzustellen, wer dazu berufen werden soll. Wir sind alle ohne unser Wissen Bewerber um dieses Glück, und die Engel stimmen über uns ab. Jedenfalls hatte eine solche Wahl Marius und Cosette getroffen.

Cosette sah auf dem Standesamt und in der Kirche wunderbar elegant und zugleich lieblich aus. Bei ihrer Toilette war ihr die Toussaint im Verein mit Nicolette behülflich gewesen.

Sie trug über einem weißseidenen Unterkleide eine kostbare Guipurerobe, einen Schleier aus Point d’ Angleterre, ein echtes Perlenkollier, und einen Brautkranz aus Orangenblüten. Alles dies war weiß und diese Farbe brachte ihre Schönheit, ihre jungfräuliche Zartheit und Anmuth zur vollsten Geltung. Sie erinnerte an eine Sterbliche, die zu einer Göttin verklärt wird.

Marius schöne Haare schimmerten und dufteten; unter den dicken Locken sah man hier und da blasse Streifen, die noch die vernarbten Kopfwunden bezeichneten.

Der Großvater, der stolz, mit hocherhobnem Haupte einherschritt und sowohl in seiner Toilette, wie in seinen Manieren die ganze Eleganz der Directoriumszeit repräsentirte, figurirte als Brautvater an Stelle Jean Valjeans, der wegen seiner Binde der Braut nicht den Arm geben konnte.

Jean Valjean, in einem schwarzen Anzuge, ging lächelnd hinter ihnen her.

»Herr Fauchelevent,« sagte zu ihm Gillenormand, »dies ist ein schöner Tag. Ich stimme für die Abschaffung der Betrübniß und des Kummers. Es sollte in Zukunft keine Traurigkeit mehr irgendwo geben. Bei Gott, ich dekretire die Alleinherrschaft der Freude. Das Böse hat keinen Berechtigungsgrund. Daß es unglückliche Menschen giebt, macht der Azurbläue des Himmels wahrhaftig Schande. Das Uebel kommt nicht vom Menschen, der von Natur gut ist. Alles menschliche Elend verdanken wir der Centralregierung der Hölle, die man ja die Residenz des Teufels nennt. Da haben wir’s! Jetzt führe ich gar demagogische Reden! Nun meinetwegen! Ich für mein Theil habe keine politischen Meinungen mehr. Mögen alle Menschen reich, d. h. vergnügt und glücklich sein. Weiter verlange ich nichts.«

Als sie nach Beendigung aller Formalitäten und Ceremonien, nachdem sie vor dem Maire und dem Geistlichen alle möglichen Ja ausgesprochen, ihre Namen in die Register der Municipalität und der Sakristei eingetragen, ihre Ringe ausgetauscht, als sie, vom Weihrauchduft umwallt, unter dem weißen Moirébaldachin nebeneinander gekniet hatten und sie, von Allen bewundert und beneidet, Cosette in weißer Toilette, Marius schwarz gekleidet, hinter dem in Oberstepauletten prangenden, mit der Hellebarde gegen die Fliesen schlagenden Kirchendiener und zwischen zwei Reihen bewundernder Zuschauer hindurchgingen und an dem weit geöffneten Portal der Kirche ankamen, um wieder in den Wagen zu steigen, konnte Cosette, obgleich alles zu Ende war, nicht an die Wirklichkeit ihres Glückes glauben. Sie sah Marius an, überschaute die Zuschauermenge, blickte zum Himmel empor, und sah aus, als fürchte sie aus dem schönen Traum zu erwachen. Ihre erstaunte und ängstliche Miene verschönerte in diesem Augenblick noch ihre reizvolle Erscheinung. Um nach Hause zurückzukehren, stiegen sie in dieselbe Equipage ein, Marius neben Cosette, Gillenormand und Jean Valjean ihnen gegenüber. Tante Gillenormand wurde etwas in den Hintergrund gedrängt und fuhr in dem zweiten Wagen. — »Kinder,« sagte der Großvater, »jetzt seid Ihr Herr Baron und Frau Baronin mit dreißigtausend Franken jährlichem Einkommen.« Und Cosette, dicht an Marius Brust geschmiegt, flüsterte ihm zärtliche Worte zu, die wie Engelgekose in seinem Ohr klangen:

»Es ist also wirklich wahr. Ich heiße Marius. Ich bin Frau Du!«

Diese beiden Menschen strahlten vor Glück Sie durchlebten ja jetzt den schönsten Augenblick des Lebens, der nie wiederkehrt; sie standen auf dem unvergleichlichen Kreuzungspunkt, wo die blühendste Jugend und die höchste Freude sich begegnen. Waren sie doch Beide noch nicht zwanzig Jahre alt! Sie verwirklichten das Ideal der Heirat; sie waren wie zwei Lilien. Sie sahen sich nicht, sie bewunderten sich nur. Für Cosette’s Augen schwebte Marius in einer Glorie; für Marius stand Cosette auf einem Altar. Und zu diesen beiden Apotheosen gesellte sich im Hintergrunde die zarte, bei Cosette noch dunkle, bei Marius feurige Sehnsucht nach den Freuden, die im Brautgemach ihrer warteten.

Alles Herzeleid, das sie überstanden, kam jetzt in ihre Erinnrung zurück, um ihren Glücksrausch zu steigern. Es dünkte sie, der Kummer, die schlaflos verbrachten Nächte, die Thränen, die Angst, das Entsetzen, die Verzweiflung, die zu Liebkosungen und Wonnen geworden waren, machten die schöne Stunde, der sie jetzt entgegengingen, noch schöner und daß die ehemalige Traurigkeit nun eine Magd war, die der Freude diente. Wie gut, wenn man Trübsal durchgemacht hat! Ihr Unglück bildete eine Glorie um ihr Glück. Ihre lange Liebespein endete mit einer Himmelfahrt.

Ihre beiden Seelen wurden von derselben Wonne getragen; nur daß sie bei Marius sich mit einem Lustgefühl, bei Cosette sich mit holder Scham paarte. Sie sagten zu einander ganz leise: »Wir gehen doch ein Mal nach der Rue Plumet und sehen uns unser Gärtchen an?« Die Falten von Cosettens Kleid bedeckten Marius Knie.

Ein solcher Tag ist ein unbeschreibliches Gemisch von Träumerei und Gewißheit. Man ist im Besitz und hofft noch. Man hat noch Zeit vor sich um zu rathen. Man genießt zugleich die Freude, daß es Mittag ist und daß die Mitternacht kommen wird. Das Hochgefühl, das die beiden Herzen empfanden, strömte auf die Zuschauer über und stimmte sie fröhlicher.

In der Rue Saint-Antoine blieben die Leute vor der Kirche stehen, um durch die Glasthür des Wagens die Orangenblüten auf Cosettens Köpfchen nicken zu sehen.

Hierauf kehrten sie nach der Rue des Filles-du-Calvaire, nach Hause, zurück. Marius stieg Arm in Arm mit Cosette stolz und glückselig die Treppe hinauf, die man ihn einst sterbend hinaufgetragen hatte. Die Bettler, die vor der Thür in Menge gewartet hatten, segneten sie; so reichlich waren die Spenden, die ihnen zu Theil geworden. Ueberall waren Blumen; das Haus duftete nicht weniger als die Kirche; nach dem Weihrauch die Rosen. Sie glaubten Stimmen im Aether zu hören; sie hatten Gott im Herzen; das Geschick zeigte sich ihnen wie ein Sternengewölbe; sie sahen über ihrem Haupte Morgensonnenglanz. Plötzlich schlug die Uhr. Marius blickte auf Cosettens reizenden Arm und Busen, der durch die Spitzen ihres Mieders rosig hindurchschimmerte, und Cosette erröthete bei diesem Blick bis in das Weiße der Augen.

Eine Menge alter Freunde der Familie Gillenormand waren eingeladen worden und drängten sich um Cosette, die sie um die Wette als »Frau Baronin« begrüßten.

Der Lieutenant Théodule Gillenormand, der zum Hauptmann avancirt war und bei der Garnison von Chartres stand, war gleichfalls gekommen, um der Hochzeit seines Vetters Pontmercy beizuwohnen. Cosette erkannte ihn garnicht wieder.

Er seinerseits war es gewöhnt, von allen Frauen hübsch gefunden zu werden und erinnerte sich nicht Cosettens speziell.

»Wie sehr ich Recht hatte, nicht an die Prahlereien meines Lanzenreiters zu glauben!« dachte Gillenormand bei sich.

Gegen Jean Valjean war Cosette nie so liebevoll gewesen, wie an jenem Tage. Sie stimmte denselben Ton an wie Vater Gillenormand; nur daß er seine Freude in Aphorismen und Maximen äußerte, während sie Liebe und Güte athmete. Das Glück will, das alle Welt glücklich sei.

Sie fand im Gespräch mit Jean Valjean die zarten Modulationen ihrer Stimme wieder, womit sie als kleines Mädchen ihn beglückt hatte. Sie liebkoste ihn mit ihrem Lächeln.

In dem Speisesaal war ein Festmahl angerichtet.

Eine tageshelle Beleuchtung ist die notwendige Würze einer großen Freude. Dämmerung und Dunkelheit lassen Glückliche sich nicht gefallen. Die Nacht ja! Finsternis, nein! Wenn man kein Sonnenlicht hat, muß man welches schaffen.

Der Speisesaal enthielt eine wahre Sammlung von Gegenständen, deren Anblick das Herz erfreute. In der Mitte, über dem prachtvoll geschmückten Tisch ein venetianischer Kronleuchter mit flachem Glasbehang und allerhand bunten Vögeln, blauen, violetten, rothen, grünen, die zwischen den Kerzen saßen; um den Kronleuchter Girandolen! an den Wänden Spiegelleuchter mit drei oder fünf Armen; dazu allerhand Spiegel, Krystall, Glassachen, Vasen, Porzellan, Fayence, Gold, Silber, alles hellfarbig und glänzend. Die Lücken zwischen den Kandelabern waren mit Blumen ausgefüllt, so daß da, wo kein Licht war, eine Blume prangte.

Im Vorzimmer spielten drei Violinen und eine Flöte gedämpft Haydnsche Quartette.

Jean Valjean hatte sich im Salon auf einen Stuhl hinter die Thür gesetzt, deren einer Flügel so zurückgeschlagen war, daß er fast dahinter versteckt war. Kurz bevor sich die Gesellschaft zu Tisch setzte, kam Cosette mit liebenswürdig muthwilliger Miene und machte ihm eine tiefe Verbeugung, indem sie mit den Fingerspitzen ihr Brautkleid breit auseinander hielt und fragte ihn mit einem zärtlich schelmischen Blick:

»Väterchen, bist Du zufrieden?«

»Ja,« sagte Jean Valjean, »ich bin zufrieden.«

»Nun dann lache auch!«

Und Jean Valjean lachte.

Einige Augenblicke nachher kündigte Baske an, daß der Tisch gedeckt sei.

Die Hochzeitsgäste, Gillenormand mit Cosette an der Spitze, begaben sich in den Speisesaal und nahmen am Tische nach der vorgeschriebnen Reihenfolge Platz.

Rechts und links von dem Sitze der Braut standen zwei große Fauteuils, der erste für Gillenormand, der zweite für Jean Valjean. Gillenormand setzte sich; aber der andere Fauteuil blieb leer.

Alles sah sich nach »Herrn Fauchelevent« um.

Er war nicht mehr da.

Gillenormand fragte Baske:

»Weißt Du, wo ›Herr Fauchelevent‹ geblieben ist?«

»Ja, richtig, Herr Gillenormand,« antwortete Baske. »Herr Fauchelevent hat mich beauftragt, ich sollte Ihnen sagen, seine rechte Hand thäte ihm weh und er könnte nicht mit dem Herrn Baron und der Frau Baronin speisen. Er bäte deshalb um Entschuldigung und würde morgen früh wiederkommen. Er ist eben erst gegangen.«

Der Umstand, daß der Sessel leer blieb, drückte einen Augenblick die Festesfreude herab. Aber wenn Fauchelevent fehlte, so war Gillenormand da und des Großvater’s heitre Laune reichte für Zwei aus. Er versicherte, Herr Fauchelevent thäte gut daran, früh zu Bett zu gehn, wenn er Schmerzen hätte; es wäre aber nur ein unbedeutendes »Wehweh«. Diese Erklärung genügte Allen. Was bedeutete auch ein dunkler Fleck auf einem so glänzenden Freudenspiegel? Cosette und Marius befanden sich in einer egoistischen und gesegneten Stimmung, wo man keine andre Fähigkeit besitzt, als die, das Glück zu empfinden. Außerdem hatte Gillenormand einen gescheidten Einfall. »Gut, der Fauteuill ist unbesetzt. So komme Du hierher, Marius. Deine Tante wird es, obgleich sie Rechte auf Dich hat, gestatten. Dieser Sitz kommt Dir zu. Das gehört sich so und das ist nett. Fortunatus neben seiner Fortunata.« — Allgemeiner Beifall. Marius nahm neben Cosette, Jean Valjeans Platz ein, und es machte sich schließlich so, daß Cosette’s Betrübniß über Jean Valjeans Abwesenheit sich in Zufriedenheit verwandelte. Da Marius der Ersatzmann war, so hätte sie den Herrgott selber nicht vermißt. Sie setzte sanft ihr mit weißem Atlas beschuhtes Füßchen auf Marius Fuß.

Da der Fauteuil besetzt war, wurde Fauchelevent vergessen und nach Verlauf weniger Minuten lachte alle Welt von dem einen Ende des Tisches bis zum andern so seelenvergnügt, als wenn er da gewesen wäre.

Als der Nachtisch aufgetragen war, erhob sich Gillenormand von seinem Sitze, hielt sein Champagnerglas empor, das er nur halb gefüllt hatte, damit seine zittrigen Hände nichts verschütten könnten, und brachte einen Toast auf das junge Ehepaar aus.

»Ihr werdet zwei Predigten nicht entgehen,« sagte er. »Ihr habt am Morgen die des Pfarrers gehört; heute Abend müßt Ihr die des Großvaters über Euch ergehen lassen. Merkt also auf. Ich will Euch einen Rath geben. Der lautet: Betet Euch an. Ich werde nicht erst eine Menge Umschweife machen, sondern gerade aufs Ziel los gehen: Seid glücklich. In der ganzen Schöpfung giebt es nichts, das so weise wäre wie die Turteltauben. Die Philosophen sagen: Bezähmet Eure Freude. Ich aber sage Euch: Laßt Eurer Freude die Zügel schießen. Seid verliebt wie Narren, seid toll wie Teufel. Die Philosophen schwatzen Unsinn. Ich wünschte, ich könnte ihnen den Mund stopfen mit ihrer Weisheit. Kann es zu viel Blumenduft, zu viele Rosenknospen, zu viel singende Nachtigallen, zu viel grünes Laub, zu viel Morgenröthe im Leben geben? Kann man sich zu sehr lieben, einander zu sehr gefallen? Also, man soll sagen: Liebchen, hüte Dich; Du bist zu schön. Hüte Dich Nemorinus, Du bist ein gar zu hübscher Mann. Mit solchen Albernheiten bleibe man mir vom Halse! Kann man sich gegenseitig zu sehr entzücken, zu sehr schmeicheln, zu sehr liebkosen? Kann man sich zu sehr des Lebens freuen, zu glücklich sein? Mäßigt Euch im Glück! Nun ja doch! Nieder mit den Philosophen! Die wahre Weisheit besteht darin, daß man recht viel jauchze. Jubelt, laßt uns Alle jubeln. Sind wir glücklich, weil wir gut sind, oder sind wir gut, weil wir glücklich sind? Hat der Diamant Sancy seinen Namen davon, daß er Harlay de Sancy gehört hat, oder hat er Harlay de Sancy einen berühmten Namen verschafft? Ich weiß es nicht; das Leben ist reich an derartigen Rätseln; die Hauptsache aber ist, daß man einen Sancy, daß man das Glück besitze. Seien wir glücklich ohne Tifteleien. Gehorchen wir blindlings der Sonne. Was meine ich mit der Sonne? Die Liebe. Wer das Wort Liebe nennt, der nennt das Wort Weib. Ja ja! Wenn es etwas Allmächtiges auf Erden giebt, so ist es das Weib. Fragt einmal den Demokraten, den Marius, ob er nicht der Sklave der kleinen Tyrannin Cosette ist. Und aus freiem Entschlusse ist er’s, der erbärmliche Feigling! Das Weib! Gegen sie kommt kein Robespierre an.

Wenn ich noch für das Königthum bin, so meine ich dieses, die Herrschaft der Frauen. Was war Adam? Evas Unterthan und Eva ist durch keine Revolution abgesetzt worden. Einstmals gab es ein königliches Scepter mit einer Lilie, ein kaiserliches Scepter mit einem Globus; wir hatten das eiserne Scepter Karl des Großen, das goldne Ludwig des Großen; aber die Revolution hat sie mit ihren fürchterlichen Händen zerbrochen, als wären es dünne Halme gewesen. Entzwei, weggeworfen, vernichtet; es giebt keine Scepter mehr. Nun unternehmt aber einmal eine Empörung gegen das gestickte Taschentüchelchen, das nach Patschuli duftet! Das möchte ich erst sehen, ehe ich es glaube. Versucht es? Warum ist es so fest? Weil es so weich und geschmeidig ist. Ihr brüstet Euch mit Eurem neunzehnten Jahrhundert. Was hat es denn vor anderen voraus. Wir thaten uns seiner Zeit auf unser achtzehntes Jahrhundert unendlich viel zu gute und waren doch ebenso dumm wie Ihr. Bildet Euch doch nicht ein, Ihr hättet das Weltall geändert, weil Ihr die Ruhr ›Dysenterie‹ getauft habt, weil Ihr die Neidischen und Unzufriedenen ›Sozialisten‹ nennt. Es bleibt dabei, daß die Frauen die Macht behalten, weil wir ihrer Liebe bedürfen. Diese Teufelinnen sind unsere Engel. Ja, die Liebe, das Weib, der Kuß bilden einen Kreis, aus dem Ihr es bleiben lassen sollt, herauszukommen, und was mich anbelangt, so möchte ich herzlich gern wieder in den Kreis hinein. Wer von Euch hat nicht den Planeten Venus aufgehn, das Meer beruhigen sehen? Da habt Ihr in dem unendlichen Weltenraum auch so eine Kokette und der Ocean ist der Brummbär, der sich gegen sie auflehnen will. Aber er mag schimpfen so viel er will; sobald die Venus erscheint, muß er lächeln, muß das dumme Vieh kuschen. Und so sind wir Alle. Ingrimm, Gepolter, Raserei, daß man denken könnte, das Haus stürzt ein. Läßt sich aber ein Weib sehen, so kriechen wir zu Kreuze. Vor sechs Monaten war Marius ein Schlagododro und jetzt ist er ein Ehemann. Er hat recht gethan. Ja, Marius; ja, Cosette; Ihr habt Recht. Erkühnt Euch Eins für das Andre zu leben, liebäugelt, dahlt, macht uns rasend vor Wuth, daß wir’s nicht ebenso machen können; vergöttert Euch. Nehmt in Eure beiden Schnäbel alle die winzigen Hälmchen Glück, die es auf Erden giebt, und baut Euch daraus ein Nestchen, in dem Ihr Euer Leben lang mollig wohnen könnt. Kinder, lieben und geliebt werden, wenn man jung ist, das ist nichts ungeheuer Wunderbares. Bildet Euch nicht ein, daß Ihr das erfunden habt. Auch ich habe geträumt, sinnirt, geseufzt; auch ich habe für den Mondschein geschwärmt. Amor ist ein sechstausend Jahre altes Kind. Er hätte das Recht, einen langen, weißen Bart zu haben. Methusalem ist ein Säugling im Vergleich mit Cupido. Seit sechzig Jahrhunderten helfen sich der Mann und das Weib über das Elend des Daseins hinweg, indem sie sich lieben. Der Teufel, der ein Pfiffikus ist, haßte den Menschen; da erfand der Mensch, der noch pfiffiküsser ist, die Liebe. Auf diese Weise hat er sich mehr Gutes gethan, als der Teufel ihm Böses zugefügt hat. Dieser Pfiff ist schon im irdischen Paradiese ausgetiftelt worden. Die Erfindung, liebe Freunde, ist also alt, aber sie ist ewig neu. Zieht Nutzen aus ihr. Seid Daphnis und Chloe, bis Ihr einmal Philemon und Baucis sein könnt. Verhaltet Euch so, daß wenn Ihr beisammen seid, Euch nichts mangle, und daß Cosette Marius’s Sonne und Marius Cosette’s Weltall sei. Möge, Cosette, immer schönes Wetter für Dich sein, wenn Dein Mann lächelt; möge, Marius, Regenwetter für Dich herrschen, wenn Deine Frau Thränen vergießt. Und möge es in Eurem Hause nie regnen. Ihr habt Euch aus der Lotterie des Lebens eine Glücksnummer geholt, die von der Kirche gesegnete, eheliche Liebe; Ihr habt das große Loos gezogen, paßt gut auf, daß es Euch nicht abhanden kommt; verwahrt es gut; verschleudert es nicht, betet Euch an und pfeift auf alles Uebrige. Glaubet, was ich Euch da sage. Die gesunde Vernunft kann nicht lügen. Hege das Eine gegen das Andre Ehrfurcht. Ein jeder hat seine eigene Methode, Gott anzubeten; aber Sapperlot! die beste Art besteht darin, daß man seine Frau liebt. Ich liebe Dich! So lautet mein Katechismus. Wer liebt, hat den rechten Glauben. Liebe Freunde, die Frauen sollen leben! Ich bin alt, so behaupten die Leute; aber es ist merkwürdig, wie sehr ich mich dazu aufgelegt fühle, jung zu sein. Ich habe Lust in den Wald zu gehen und den Dudelsack spielen zu hören. Der Anblick unseres Pärchens, die es so schön fertig kriegen, hübsch und glücklich zu sein, wirkt berauschend auf mich. Ich würde stramm heiraten; wenn mich Jemand haben wollte. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, daß Gott uns zu etwas Andrem geschaffen hat, als zur Liebe. Girren, liebäugeln, kokettiren, stutzern, schön thun, schmeicheln, vom Morgen bis zum Abend sich schnäbeln, dem Liebesgenuß nachgehn, sich in den Augen seines Weibchens spiegeln — das ist der Zweck des Lebens. So dachten wir, — nehmt es nicht übel — zu unsrer Zeit, wo wir junge Leute waren. Schwere Brett, was es damals für allerliebste Mädel gab, was für reizende Lärvchen, was für zarte und frische, muntre Krabben! Ich muß es wohl wissen, ich habe ja genug Verwüstungen unter den süßen Wesen angerichtet. Also liebt Euch. Wenn es keine Liebe gäbe, so wüßte ich wahrlich nicht, wozu der Frühling da wäre; und ich für meinen Theil würde den lieben Gott bitten, er solle all die schönen Dinge, die er uns zeigt, einschließen, sie uns wiedernehmen und die Blumen, die Vögelchen und die hübschen Mädchen wieder in seine Truhe stecken. Liebe Kinder, empfanget den Segen Eures alten Großvaters!«

Die Unterhaltung war eine lebhafte, lustige, ungezwungne. Die hinreißend gute Laune des Großvaters gab den Grundton der Stimmung an; ein Jeder nahm sich die Herzlichkeit und Munterkeit des hochbetagten Mannes zur Richtschnur. Es wurde ein wenig getanzt und viel gelacht; kurzum, es war eine recht gemüthliche Hochzeit, die vor dem Urtheil der guten, alten Zeit mit Ehren hätte bestehen können. Allerdings war sie auch durch Vater Gillenormand würdig vertreten.

Nach dem Tumult tiefe Stille.

Das junge Ehepaar verschwand.

Bald nach Mitternacht wurde das Gillenormandsche Haus zu einem Tempel.

Hier aber halten wir an. Auf der Schwelle der Brautnächte steht ein Engel, der lächelnd den Finger auf den Mund hält.

Das Gemüth wird beschaulich gestimmt vor dem Allerheiligsten, wo das Liebespaar dargebracht wird.

Ueber solch einem Hause muß ein Lichtschimmer schweben. Die Freude, die sie bergen, entschlüpft doch wohl als heitre Klarheit und leuchtet milde in der Dunkelheit. Es ist nicht anders möglich, als daß von diesem heiligen, von Gott gewollten Feste ein himmlischer Glanz in das Unendliche ausstrahlt. Die Liebe ist der Tiegel, indem die Verschmelzung des Mannes und des Weibes zu einem Wesen vollzogen wird; aus diesem Gefäß geht das vollendete, das dreitheilige Wesen, die menschliche Dreieinigkeit hervor. Dieses Zusammenfließen zweier Seelen in eine muß Freude erregen bei den Mächten des Jenseits. Der Bräutigam fungirt als Priester und weiht die Jungfrau in das Geheimnis der Liebe ein, über das sie freudig erschrickt. Etwas von dieser Freude steigt zu Gott empor. Wo eine wahre Ehe besteht, d. h. wo die Liebe zwei Seelen verbindet, da blicken auch die Himmlischen hin. Ein Brautbett ist ein Lichtblick in der nächtlichen Finsterniß. Wäre es dem leiblichen Auge vergönnt die schrecklichen und lieblichen Wesen des höheren Lebens zu schauen, so würde es wohl die Gestalten der Nacht, die geflügelten Unbekannten, die unsichtbaren Bewohner des blauen Raumes sehen, wie sie dicht gedrängt um das beglückte Haus schweben und zufrieden, segnend und das Antlitz vom Widerschein der menschlichen Glückseligkeit bestrahlt, sich gegenseitig die junge Gattin zeigen würden. Wenn in dieser hehren Stunde das Liebespaar, das allein zu sein wähnt, seinen Liebesrausch vergessen könnte und horchen wollte, so würde es in dem Brautgemach leise Flügel rauschen hören. Vollkommnes Glück erweckt die Theilnahme der Engel. Die kleine, dunkle Kammer hat den ganzen Himmel zur Decke. Wenn zwei menschliche Wesen, durch die Liebe geheiligt, sich einander nähern, um ein andres zu zeugen, so ist es nicht anders möglich, als daß von ihrer Umarmung der Sternenäther erbebt.

Die Liebeswonne ist die einzig wahre. Eine andre Freude als diese giebt es nicht. Die Liebe allein erregt Eckstase. Alles Uebrige ist Thränen.

Lieben oder geliebt haben genügt zum Glück. Verlangt nichts darüber hinaus. Ihr werdet keine andre Perle in den finstern Tiefen des Lebens auflesen. Die Liebe ist das Höchste.

Der Handkoffer

Wo war Jean Valjean geblieben?

Unmittelbar nachdem er auf Cosettens liebenswürdigen Befehl gelacht hatte, war Jean Valjean, ohne daß Jemand auf ihn achtete, aufgestanden und hatte sich unbemerkt in das Vorzimmer geschlichen. Es war derselbe Raum, den er acht Monate vorher zuerst betreten, als er von Pulverdampf geschwärzt, mit Koth und Blut besudelt, Marius seinem Großvater wiedergebracht hatte. Das alte Getäfel war mit Laub- und Blumengewinden behangen; auf dem Sofa, auf das der Verwundete gelegt worden war, saßen die Musiker. Baske, im schwarzen Frack, Kniehosen, weißen Strümpfen und weißen Handschuhen, legte um jede Schüssel, die aufgetragen werden sollte, einen Rosenkranz. Ihm zeigte Jean Valjean seine Binde, beauftragte ihn seine Abwesenheit zu entschuldigen und ging davon.

Die Fenster des Speisesaals lagen nach der Straße. Jean Valjean blieb in der Dunkelheit einige Minuten stehen und horchte unbeweglich empor. Der Lärm der Festesfreude drang gedämpft bis zu ihm hinunter. Er hörte die laute und eindringliche Stimme des Großvaters, das Geigenspiel, das Geklirr der Teller und Gläser, das fröhliche Gelächter, und in all dem Wirrwarr unterschied er deutlich Cosettens sanfte, fröhliche Stimme.

Er verließ die Rue des Filles-du-Calvaire und ging in der Richtung der Rue de l’ Homme-Armé weiter.

Um nach Hause zu kommen, durcheilte er die Rue-Saint-Louis, die Rue Culture-Sainte-Catherine und les Blancs-Manteaux; das war nicht der kürzeste, aber es war derjenige Weg, auf dem er seit drei Monaten, um die enge, belebte und schmutzige Rue Vieille-du-Temple zu vermeiden, täglich von der Rue de l’ Homme-Armé nach der Rue des Filles-du-Calvaire mit Cosette gekommen war.

Der Umstand, daß Cosette hier entlang gegangen ließ in ihm keinen Gedanken an einen andern Weg aufkommen.

Jean Valjean ging nach Hause. In dem Zimmer des Portiers zündete er sein Licht an und ging die Treppe hinauf. Die Wohnung war leer, denn auch die Toussaint war nicht mehr da. Jean Valjeans Schritte hallten in den Zimmern stärker als gewöhnlich. Alle Schränke standen offen. Er ging in Cosettens Kammer. Es waren keine Laken im Bett. Das Zwillichkissen lag ohne Bezug und Spitzenbesatz auf den zusammengelegten Schlafdecken am Fußende der Matratzen, deren Stoffüberzug man sah. Alle die kleinen, niedlichen Gegenstände, auf die Cosette etwas hielt, waren mitgenommen worden; so daß nur die größeren Möbel zurückgeblieben waren. Auch das Bett der Toussaint war seines Zubehörs beraubt. Nur ein Bett war gemacht und schien auf Jemand zu warten, der es einnehmen sollte, Jean Valjean’s.

Jean Valjean ließ seinen Blick über die Wände irren, machte einige Schrankthüren zu, ging aus einem Zimmer ins andere.

Zuletzt blieb er in seiner Kammer stehen und stellte sein Talglicht auf einen Tisch.

Mittlerweile hatte er sich seiner Binde entledigt und bediente sich seiner rechten Hand, als wäre sie unverletzt gewesen.

Er ging auf sein Bett zu und seine Augen blieben — zufällig oder absichtlich — auf dem kleinen Handkoffer haften, den er nie aus den Händen gab und auf den Cosette so eifersüchtig war. Er hatte ihn am 4. Juni, als er nach der Rue de l’ Homme-Armé kam, auf ein Tischchen, das am Kopfende seines Bettes stand, gestellt. An dieses Tischchen nun trat er mit einer gewissen Lebhaftigkeit heran, nahm aus seiner Tasche einen Schlüssel und schloß den Koffer auf.

Nun holte er langsam die Kleider heraus, die zehn Jahre zuvor Cosette angehabt hatte, als sie Montfermeil verließ; zuerst das schwarze Kleidchen, dann das schwarze Umschlagetuch, dann die soliden, plumpen Kinderschuhchen, die Cosette beinahe noch jetzt gepaßt hätten, so kleine Füße hatte sie; dann das dicke Barchentjäckchen, das gestrickte Unterröckchen, die Schürze mit der Tasche, die wollenen Strümpfchen. Diese Strümpfe, an denen die niedlichen Umrisse eines Kinderbeinchens noch markirt waren, übertrafen an Länge kaum Jean Valjeans Hand. Alle diese Kleidungsstücke waren von schwarzer Farbe. Er war es, der sie nach Montfermeil mitgebracht hatte. Er nahm sie eins nach dem andern heraus und legte sie auf das Bett. Während dieser Beschäftigung dachte er nach und rief alte Erinnerungen wach. Es war im Winter, an einem sehr kalten Dezembertage, daß er sie getroffen hatte, als sie nur dürftig in Lumpen gehüllt und die armen, roth gefrornen Füßchen nur mit Holzpantienen bekleidet, durch den Wald ging. Er, Jean Valjean, hatte sie ihrer Lumpen entledigt und ihr dafür die Trauerkleidung gegeben. Wie glücklich die Mutter wohl in ihrem Grabe gewesen sein mochte, als sie ihre Tochter um sie trauern sah und besonders, weil ihre Tochter warme Kleider anhatte. Er gedachte des Waldes von Montfermeil, durch den sie zusammen, Cosette und er, gewandert waren; er dachte an das unfreundliche Wetter, an die entlaubten Bäume, an die Oede, in der kein Vogel sang und die kein Sonnenstrahl erhellte. Und doch war es eine schöne Erinnerung! Er ordnete die Sächelchen auf dem Bett, legte das Umschlagetuch zu dem Unterrock, die Strümpfe neben die Schuhe, das Jäckchen neben das Kleid und betrachtete eins nach dem andern. Sie war damals ein kleiner Käsehoch, trug ihre große Puppe auf dem Arm, und ihr Goldstück in der Schürzentasche; sie lachte; sie hielten sich Beide bei der Hand; sie hatte Niemand auf der Welt als ihn.

Da fiel sein ehrwürdiger, weißer Kopf auf das Bett nieder, das alte, stoische Herz zerging ihm vor Jammer und Weh, sein Gesicht vergrub sich in Cosettens Kleider und wenn Jemand in jenem Augenblicke die Treppe hinaufgekommen wäre, — er hätte furchtbares Schluchzen gehört.

Immortale iecur

Der gewaltige alte Kampf, von dem wir schon mehrere Phasen gesehen haben, begann aufs Neue.

Jakob rang mit dem Engel nur eine Nacht hindurch. Ach, wie oft haben wir Jean Valjean von seinem alten Adam gepackt und gezwungen gesehen, sich angstvoll seines starken Gegners zu erwehren.

Ein furchtbarer Kampf! Manchmal gleitet der Fuß aus; andre Male stürzt der Boden ein, auf dem man steht. Wie oft hatte ihn sein Gewissen, das nichts als strenge Unterordnung unter das Gute kannte, gefaßt und niedergedrückt! Wie oft hatte ihm die unerbittliche Wahrheit das Knie auf die Brust gesetzt! Wie oft hatte er, von den Mächten des Lichtes niedergeworfen, um Gnade gewimmert! Wie oft hatte ihn dieses erbarmungslose Licht, daß der Bischof in ihm angezündet, gewaltsam geblendet! Wie oft hatte er sich im Kampf emporgerichtet, nachdem er neue Kraft aus dem Sophismus gezogen, um bald sein Gewissen niederzuwerfen, bald von ihm niedergeworfen zu werden. Wie of hatte es ihn, wenn er versuchte, es mit egoistischen Einwänden zu bethören, zornig elender Betrüger gescholten! Wie manches Mal hatte er gestöhnt, wenn er den Weg sah, den ihm die Pflicht vorzeichnete, und er sich sträubte, ihrem Gebot zu folgen! Widerstand gegen Gott, tötliche Angst! Wieviel geheime Wunden, die er allein bluten sah! Wie oft hatte er sich blutig, zerdrückt, zerschlagen, aber mit der Erkenntniß der Wahrheit, Verzweiflung im Herzen, aber Frieden in der Seele erhoben und, obgleich besiegt, das Bewußtsein empfunden, einen Sieg errungen zu haben! Und wenn ihn dann sein Gewissen mißhandelt, gewürgt, niedergetreten, so stand es unbeugsam, stolz, ruhevoll da und sagte: »Jetzt gehe in Frieden!«

Aber ach, was war das für ein Friede, den er aus jedem solchen Kampfe davongetragen hatte!

In dieser Nacht jedoch fühlte Jean Valjean, daß er seinen letzten Kampf kämpfte.

Er stand vor einer qualvollen Frage.

Der den Menschen vom Schicksal vorgeschriebne Lebensweg entwickelt sich nicht in gerader Richtung. Er bietet Abzweigungen dar, die keinen Ausgang gestatten, Kreuzungspunkte, wo eine Wahl getroffen werden muß. Vor einem der gefährlichsten von diesen Kreuzwegen stand jetzt Jean Valjean.

Wieder kreuzten sich auf seinem Lebenspfade das Böse und das Gute. Wieder standen ihm, wie schon oft zuvor, zwei Wege offen, von denen der eine ihn lockte, der andre ihn schreckte. Welchen sollte er wählen?

Derjenige, vor dem er sich fürchtete, wurde ihm von dem geheimnisvollen Finger gezeigt, den wir jedes Mal bemerken, wenn wir unsre Augen auf das Ideal richten.

Jean Valjean hatte abermals die Wahl zwischen dem unwirtlichen Rettungshafen und dem lieblichen Fallstrick.

»Es ist also wirklich wahr? Die Seele kann genesen; aber das Schicksal bleibt nichts destoweniger unversöhnlich. Entsetzlich! Ein ewig unglückliches Leben!«

Die Frage, die sich ihm aufdrängte lautete: Auf welche Weise sollte er sich in Bezug auf Cosette und Marius verhalten? Er hatte ihr Glück gewollt und es ermöglicht; er selber hatte sich die Waffe ins Herz gebohrt, und wenn er sie jetzt zufrieden betrachtete, so war es die Zufriedenheit eines Waffenschmiedes, der sich ein dampfendes Messer aus der Brust zieht und sein Fabrikzeichen auf demselben erkennt.

Cosette und Marius waren in den Hafen des Eheglücks eingelaufen. Sie besaßen alles, sogar Reichthum. Und er war es, der ihnen dazu verholfen hatte.

Aber nun er dieses Glück zu Stande gebracht, wie sollte er sich nun verhalten? Sollte er sich ihnen aufdrängen, sie für sich mit Beschlag belegen, um Theil an ihrem Glücke zu haben? Allerdings gehörte Cosette einem Andern; aber sollte er wirklich von ihr nehmen, was sie ihm geben konnte? Sollte er von den Rechten Gebrauch machen, die ihm seine Vaterschaft gab und die noch anerkannt wurden, nachdem er dieses Band selbst gelöst hatte? Sollte er sich ruhig an Cosettens Herd setzen? Durfte er, ohne sie aufzuklären, seine Vergangenheit an ihre Zukunft knüpfen; die Ahnungslosen den Gefahren aussetzen, die mit seinem tragischen Geschick verbunden waren; an dem friedlichen Kamin des Gillenormandschen Salons seine Füße wärmen, deren Brandmale noch nicht verwischt waren? Durfte sein Greisenalter Theil nehmen an den Zukunftsaussichten des jungen Ehepaares? Sollte er das Dunkel, in das er sich gehüllt hatte, verdichten, sie in ihrer Unwissenheit bestärken? Sollte er fortfahren zu schweigen? Kurz, sollte er neben diesen beiden glücklichen Menschen der Stumme des Schicksals sein?

Man muß an das Unglück und seine Tücken gewöhnt sein, soll man es wagen, emporzublicken, wenn gewisse Fragen sich uns in ihrer grauenvollen Nacktheit darbieten. Hinter diesem erbarmungslosen Fragezeichen stehen das Böse und das Gute. Was gedenkst Du zu thun? so fragt die Sphinx.

An diese Art Prüfung war Jean Valjean aber gewöhnt. Er sah der Sphinx fest in die Augen.

Er betrachtete also das unerbittliche Problem von allen Seiten.

Cosette mit dem Glück, das sie ihm bot, war für ihn das Floß, auf das er sich aus dem Schiffbruch des Lebens retten konnte. Was thun? Sollte er sich daran festklammern oder es loslassen?

Wenn er hinaufkletterte, so tauchte er aus dem Verderben empor, so kam er an das Sonnenlicht, so ließ er das bittre Wasser aus seinen Kleidern und Haaren herabrieseln, so war er gerettet, so gewann er das Leben.

Und wenn er es losließ?

Dann war er verloren.

So pflog er Rath mit seinen Gedanken. Oder, besser gesagt, er rang, er stürzte sich wild in sich selbst hinein, bald gegen seinen Willen, bald gegen seine Überzeugung ankämpfend.

Es war ein Glück für Jean Valjean, daß er hatte weinen können.

Die Thränen brachten ihm vielleicht die wahre Erkenntniß. Aber der erste Kampf war grimmig und qualvoll. Es brach in seinem Innern ein Sturm los, wie er ihn selbst auf seinem Leidenswege nach Arras nicht kennen gelernt hatte. Die Erinnerung an die Vergangenheit kehrte jetzt in sein Gedächtnis zurück, er verglich sie mit der Gegenwart und weinte bitterlich. Nun die Schleuse der Thränen geöffnet war, krümmte sich der Unglückliche vor Verzweiflung.

Er fühlte, daß er nicht weiter konnte.

Ach, wenn wir in dem Kampfe zwischen unserm Egoismus und unsrer Pflicht Schritt vor Schritt zurückweichen, geängstigt, hartnäckig, erbittert, gepeinigt vom Gefühl unsrer Schwäche einen Ausweg suchen, auf die Möglichkeit der Flucht hoffen und plötzlich hinter uns die Mauer fühlen, die die Mächte des Lichtes gegen das Böse aufgerichtet haben!

Das Gute läßt uns niemals Ruhe.

Also mit dem Gewissen wird man nun und nimmermehr fertig. Füge Dich darin, Brutus; finde Dich damit ab, Cato. Das Gewissen hat keinen Boden, da es Gott selber ist. In diesen Brunnen kann man die Arbeit eines ganzen Lebens, sein Vermögen, seinen Reichthum, Erfolg, Freiheit oder Vaterland, seine Wohlfahrt, seine Ruhe, seine Fröhlichkeit werfen und es ist noch nicht genug. Leert das Gefäß. Neigt die Urne tiefer, bis auch Euer Herz herausfällt.

In der finstern Unterwelt der Alten, sagt man, habe es solch ein bodenloses Faß gegeben.

Ist es nicht verzeihlich, wenn man endlich nicht weiter gehen will? Hat das Unerschöpfliche ein Recht gegen uns? Sind die Ketten ohne Ende nicht etwas, gegen das menschliche Kraft nicht aufkommen kann? Wer würde es Sisyphus und Jean Valjean verdenken, wenn sie sagten: »Nun ist’s genug!«

Der Gehorsam des Stoffes hat eine Grenze an der Abnutzung. Giebt es für den Gehorsam der Seele keine Grenze? Darf man, wenn die beständige Bewegung unmöglich ist, beständige Aufopferung heischen?

Der erste Schritt ist nichts; der letzte ist wahrhaft schwer. Was bedeutete der Champmathieusche Proceß im Vergleich mit Cosettens Heirat und den Folgen, die sie nach sich zog? Was ist die Rückkehr in das Zuchthaus gegen die Rückkehr in das Nichts?

O wie dunkel ist es auf der ersten Stufe, die man hinabsteigen soll? O zweite Stufe Du bist noch viel finstrer!

Wie sollte er nicht dieses Mal das Haupt wegwenden?

Das Märtyrerthum ist eine Sublimation, eine ätzende. Die Qualen verleihen ein Königthum. Deshalb kann man sich wohl eine Weile dazu verstehen. Man setzt sich auf den rothglühenden, eisernen Thron, direkt die rothglühende Krone aufs Haupt, nimmt den glühenden Reichsapfel, das glühende Scepter in die Hand, aber noch bleibt der Flammenmantel übrig, und kommt nicht ein Augenblick, wo das arme Fleisch sich empört und wo man auf die Marter verzichtet?

Endlich ging Jean Valjean in einen ruhigeren Gemüthszustand über.

Er überlegte, prüfte, betrachtete die Alternation der Wagschaalen des Lichts und des Dunkels.

Sein trauriges Geschick an das Glück des jungen Paares knüpfen oder selber sein eignes Verderben vollenden! Einerseits die Hinopferung Cosettes, andrerseits seine Vernichtung!

Bei welcher Lösung der Frage blieb er stehen?

Welchen Entschluß faßte er? Wie lautete in seinem Innern die endgültige Antwort auf die Frage des unbestechlichen Fatums? Welches Thor entschied er sich zu öffnen? Welche Seite seines Lebens beschloß er zu verrammeln, und hinter sich zu lassen? Welche Wahl traf er zwischen all den bodenlosen Abgründen, die ihn umgaben? Welches Kreuz lud er auf sich? In welchen Schlund stürzte er sich?

Die qualvolle Ueberlegung dauerte die ganze Nacht hindurch.

Er blieb bis Tagesanbruch in derselben Haltung liegen, mit den Knieen auf der Erde und dem Körper auf das Bett gestützt, durch die Last des Schicksals niedergebeugt, vielleicht erdrückt, mit geballten Fäusten, die ausgestreckten Arme rechtwinklig gebogen, wie ein Krucifix, aus dem die Nägel heraus gezogen und das auf die Erde geworfen ist. Zwölf Stunden lag er da, zwölf Stunden in der langen eisigen Winternacht, ohne den Kopf aufzuheben und ohne ein Wort zu sprechen. Er war unbeweglich wie ein Leichnam, während seine Gedanken bald am Boden krochen, bald sich in höhere Regionen emporschwangen. Dem Anschein nach zu urtheilen war er tot; aber plötzlich erbebte er krampfhaft und sein Mund küßte Cosettens Kleider. Da sah man, daß er noch lebte.

Wer? Wie konnte man ihn sehen, da Jean Valjean allein und Niemand zugegen war?

Der »Man«, der unsichtbar in der Finsternis schwebt.

Der letzte Tropfen des Kelches

Der siebente Kreis und der achte Himmel

Der Tag nach einer Hochzeit ist ein ruhiger. Man läßt die Glücklichen allein und erlaubt ihnen, sich zu sammeln. Und respektirt auch ihre späte Morgenruhe. Der Lärm der Besuche und Glückwünsche beginnt erst später. So war es auch am 17. Februar schon etwas über zwölf Uhr Mittags, als Baske, Serviette und Staubwedel unter dem Arm, das Vorzimmer in Ordnung brachte. Da klopfte Jemand leise an die Thür. Geklingelt wurde nicht, was sehr rücksichtsvoll war. Baske machte auf und sah Fauchelevent vor sich. Er führte ihn in den Salon, wo noch die wildeste Unordnung herrschte, und noch die Spuren der Ausgelassenheit vom vergangnen Abend zu sehen waren.

»Wir sind heute spät aufgestanden,« bemerkte Baske achselzuckend.

»Ist Ihr Herr schon auf?« fragte Jean Valjean.

»Was macht Ihr Arm, Herr Fauchelevent,« gab Baske zurück.

»Es geht. Ist Ihr Herr schon auf?«

»Welcher? Der alte oder der neue?«

»Herr Pontmercy.«

»Der Herr Baron?« entgegnete Baske stolz aufgerichtet.

Wenn der Herr ein Baron ist, vergißt es der Diener nicht leicht. Fällt doch auch für ihn etwas davon ab. Von dem Adelstitel spritzt, wie ein Philosoph sich ausdrückt, auch etwas auf sie und das schmeichelt ihrer Eitelkeit. Marius, beiläufig gesagt, ein entschiedner Republikaner, der die Aufrichtigkeit seiner Ueberzeugungen durch die That bewiesen hatte, war jetzt Baron wider Willen. In der Familie hatte sich nämlich eine Umwandlung der Ansichten betreffs des Titels vollzogen. Jetzt lag Gillenormand daran, daß Marius Baron war, und Dieser dachte gleichgültiger über diesen Punkt. Aber da der Oberst Pontmercy in seinem Testament den Wunsch geäußert hatte, daß sein Sohn den Baronstitel führen sollte, so gehorchte Marius. Außerdem aber freute sich Cosette, in der die Fraueneitelkeit sich zu regen begann, daß sie »Frau Baronin« war.

»Der Herr Baron?« wiederholte Baske. »Ich will nachsehen. Ich werde ihm sagen, daß Herr Fauchelevent da ist.«

»Nicht doch. Sagen Sie ihm nicht, daß ich es bin. Sagen Sie, Jemand wünsche ihn unter vier Augen zu sprechen, und nennen Sie keinen Namen.«

»Hm!« meinte Baske.

»Es handelt sich um eine Ueberraschung.«

»Hm!« wiederholte Baske; indem er sich selber mit dem zweiten Hm! das erste erklärte, und ging hinaus.

Jean Valjean blieb allein.

Im Salon herrschte, wie wir schon erwähnten, die größte Unordnung. Es war, als könnte man, wenn man gespannt lauschte, noch einen dumpfen Nachhall des Festlärms vernehmen. Auf dem Parkett lagen allerhand Blumen, die aus den Guirlanden und den Frisuren der Damen herabgefallen waren. Die bis auf einen Stummel niedergebrannten Kerzen hatten zu den Krystallen der Kronleuchter Wachsstalaktite hinzugefügt. Kein Möbel stand an seinem Platz. In den Ecken sahen einige aneinander gerückte Fauteuils so aus, als wollten sie die Unterhaltung fortsetzen. Aber der Gesamtüberblick war ein heitrer. Auch den Ueberbleibseln eines Festes haftet noch etwas Lieblichkeit an. Hier hat das Glück gewaltet. Auf jenen verschobenen Stühlen, unter diesen verwelkten Blumen sind fröhliche Gedanken entstanden. Die Sonne vertrat die Stelle des Kronleuchters und warf ein heitres Licht in den Salon.

Einige Minuten vergingen, Jean Valjean stand unbeweglich an der Stelle, wo Baske ihn verlassen hatte. Er war sehr blaß. Seine Augen lagen in Folge der Schlaflosigkeit so tief in ihren Höhlen, daß sie fast darin verschwanden. Den Falten seines Rockes sah man es gleichfalls an, daß er die Nacht hindurch getragen worden war. An den Ellbogen hafteten jene weiße Fasern, die daran geriebene Leinewand zu hinterlassen pflegt. Jean Valjean betrachtete das Abbild des Fensters, das der Sonnenschein auf dem Fußboden abzeichnete.

Da ließ sich ein Geräusch an der Thür vernehmen. Er hob die Augen auf.

Marius trat herein, stolz aufgerichtet, mit lächelndem Munde, Heiterkeit im Gesicht und Siegesfreude im Blick. Auch er hatte nicht geschlafen.

»Sie, Vater!« rief er, als er Jean Valjean’s ansichtig wurde. »Der dumme Kerl, der Baske, that so geheimnißvoll …! Aber Sie kommen zu früh. Es ist erst halb eins. Cosette schläft noch.«

Das Wort »Vater,« womit Marius Fauchelevent anredete, bedeutete die höchste Glückseligkeit. Es hatte zwischen den beiden Männern, wie man sich erinnern wird, stets eine gewisse Abneigung, Kälte und Zwang bestanden, ein Eis, das irgend einmal entweder brechen müsse oder schmelzen konnte. Jetzt hatte aber Marius’ Glückseligkeit eine solche Steigerung erfahren, daß die Abneigung vergessen war, das Eis sich auflöste und Herr Fauchelevent für ihn wie für Cosette ein Vater war.

Er wartete nicht auf die Antwort, sondern sprach weiter mit jener Redseligkeit, die den Paroxysmen der Freude eigen ist.

»Wie ich mich freue, daß Sie gekommen sind! Wenn Sie wüßten, wie sehr wir Sie gestern vermißt haben! Guten Tag, Vater! Wie steht’s mit Ihrer schlimmen Hand? Hoffentlich besser?«

Und zufrieden mit der Antwort, mit der er selber seine Frage beantwortet hatte, fuhr er fort:

»Wir haben alle Beide viel von Ihnen gesprochen. Cosette hat Sie sehr gern. Vergessen Sie ja nicht, daß Sie hier Ihr Zimmer haben. Wir wollen von der Rue de l’ Homme-Armé nichts mehr wissen. Absolut nichts. Wie sind Sie bloß auf den Gedanken gekommen nach einer Straße zu ziehen, die so öde, so unfreundlich und für Wagen versperrt ist. Man friert, wenn man so etwas bloß sieht. Sie ziehen zu uns. Sie ist gesonnen, uns Alle nach ihrer Geige tanzen zu lassen; das sage ich Ihnen im Voraus. Sie haben Ihr Zimmer gesehen; es ist ganz nahe bei dem unsrigen und geht nach den Gärten hinaus; wir haben das Schloß repariren lassen, das Bett ist gemacht, alles ist bereit; also brauchen Sie bloß einzuziehn. Cosette hat neben Ihr Bett einen großen alten Lehnstuhl mit Plüschsitz stellen lassen, auf dem sich’s bequem ausruhen läßt. Jedes Frühjahr kommt eine Nachtigall und singt ihre Lieder auf dem Akazienbaum, der vor Ihrem Fenster steht. In zwei Monaten werden Sie sie hören. Ihr Nestchen links und unseres rechts von Ihnen. Des Nachts der Vogelgesang, am Tage Cosettes Geplauder. Ihr Zimmer liegt genau nach Süden. Cosette wird Ihre Bücher aufstellen, Ihre Reisebeschreibung von Kapitän Cook und die andre, die von Vancouver und Ihre Sachen ordnen. Sie haben ja auch wohl einen kleinen Handkoffer, an dem Ihnen viel liegt; für den habe ich einen Ehrenplatz reservirt. Sie haben das Herz meines Großvaters erobert, Sie gefallen ihm sehr. Können Sie Whist spielen? In dem Falle würden Sie ihn vollends entzücken. Sie sollen Cosette an den Tagen, wo ich im Justizpalast beschäftigt bin, spazieren führen; dann geben Sie ihr den Arm wie damals, als Sie noch nach dem Jardin du Luxembourg mit ihr kamen. Wir sind fest entschlossen uns des Lebens zu freuen und Sie sollen an unserm Glück theilnehmen. Merken Sie Sich das Vater! Heute frühstücken Sie doch mit uns?«

»Herr Baron,« antwortete Jean Valjean, »ich habe Ihnen etwas mitzutheilen: Ich bin ein ehemaliger Galeerensklave.«

Wie es Töne giebt, die zu hoch sind, als daß sie zur akustischen Wahrnehmung gelangen könnten, so giebt es auch für den Verstand eine Grenze, über die hinaus er nichts mehr wahrnimmt. Die Worte: »Ich bin ein ehemaliger Galeerensklave!« hörte Marius nicht; ihm war, als sei eben etwas gesagt worden, aber er wußte nicht was und starrte fassungslos Jean Valjean an.

Da bemerkte er, daß der Mann, der mit ihm sprach, entsetzlich verstört war. Ganz mit den Gedanken an sein Glück beschäftigt, war es ihm bis zu diesem Augenblick entgangen, wie schrecklich blaß Jean Valjean aussah.

Dieser band das schwarze Tuch ab, das um seinen rechten Arm geschlungen war, nahm die um seine Hand gerollte Leinwand ab, legte seinen Daumen bloß und zeigte ihn Marius.

»Ich habe nichts an der Hand,« sagte er.

Marius sah den Daumen an.

»Sie ist auch überhaupt nicht schlimm gewesen,« fuhr Jean Valjean fort.

In der That war keine Spur von einer Verletzung zu bemerken.

Jean Valjean sprach weiter:

»Es war nothwendig, daß ich mich von der Unterzeichnung der Urkunden fern hielt. Ich habe diese Verwundung fingirt, um mich nicht einer Fälschung schuldig zu machen, um Ihren Heiratskontrakt nicht der Gefahr einer Ungültigkeitserklärung auszusetzen, um nichts unterschreiben zu müssen.«

»Was soll das heißen?« stammelte Marius.

»Das soll heißen,« antwortete Jean Valjean, »daß ich im Zuchthaus gewesen bin.«

»Sie bringen mich von Sinnen!« schrie Marius voll Entsetzen auf

»Herr Baron,« sagte Jean Valjean, »ich habe neunzehn Jahre gesessen: Wegen eines Diebstahls. Nachher bin ich zu lebenslänglichem Zuchthaus verurtheilt worden. Wieder wegen eines Diebstahls. Also Rückfall. Gegenwärtig bin ich bannbrüchig.«

Mochte Marius sich noch so sehr gegen die Wirklichkeit sträuben, sich noch so ablehnend gegen den Augenschein verhalten: schließlich mußte er sich doch überzeugen lassen. Er fing an zu begreifen, und begriff, wie dies in solchen Fällen zu geschehen pflegt, zu viel. Ein gräßlicher Gedanke blitzte in ihm auf und verursachte ihm das größte Entsetzen; er glaubte, daß ihm selber großes Unheil bevorstehe.

»Sagen Sie die ganze Wahrheit!« rief er. »Sagen Sie Alles! Sie sind Cosettens Vater!«

Und er trat mit einer Bewegung des höchsten Abscheus einige Schritte zurück.

Jean Valjean richtete sich so majestätisch empor, daß er weit über sein gewöhnliches Maß zu ragen schien.

»Es ist nothwendig, daß Sie meinen Worten in dieser Hinsicht Glauben beimessen und obgleich die Justiz Unsereinen nicht zum Schwur zuläßt …«

Hier schwieg er; dann fuhr er mit feierlicher Bestimmtheit fort, indem er die Silben langsam und mit Nachdruck artikulirte:

»Sie werden mir glauben. Ich Cosettens Vater? Nein, nicht vor Gott, Herr Baron Pontmercy. Ich bin ein Bauernsohn aus Faverolles. Ich verdiente mein Brod als Baumputzer. Ich heiße nicht Fauchelevent, sondern Jean Valjean. Zwischen mir und Cosette besteht keine Verwandtschaft. Beruhigen Sie Sich also.«

Marius stammelte:

»Wer beweist mir …«

»Ich. Wenn ich es sage, muß es wahr sein.«

Marius sah ihn an. Er sah schwermüthig und gefaßt aus. Ein Mann mit einer solchen ruhigen Haltung war keiner Lüge fähig. Man fühlte, daß aus dieser Grabeskälte nur die Wahrheit hervorgehen konnte.

»Ich glaube Ihnen,« sagte Marius.

Jean Valjean neigte den Kopf, als wolle er andeuten, daß er Notiz nehme von Marius Erklärung und fuhr fort:

»Was bin ich für Cosette? Ein Fremder, den sie eine Zeit lang gekannt hat. Vor zehn Jahren wußte ich nicht, daß sie existirte. Allerdings liebte ich sie. Ein Kind, das man hat aufwachsen sehen, während man selber schon alt war, liebt man immer. Wenn man alt ist, hegt man großväterliche Gefühle gegen alle kleinen Kinder. Sie dürfen, dünkt mich, voraussetzen, daß ich etwas habe, was wie ein Herz aussieht. Sie war eine Waise. Kein Vater und keine Mutter. Sie bedurfte meiner. Das ist der Grund, warum ich sie lieb gewann. Die Kinder sind so schwach, daß der erste Beste, selbst so Einer wie ich, ihr Beschützer sein kann. Diese Pflicht habe ich Cosette gegenüber erfüllt. Ich glaube nicht, daß man eine solche Kleinigkeit wirklich eine gute Handlung nennen kann: aber wenn es eine ist, nun so nehmen Sie an, daß ich eine gute Handlung gethan habe. Schreiben Sie diesen mildernden Umstand an. Von heute an spielt Cosette keine Rolle mehr in meinem Leben; unsere Wege gehen von nun an auseinander. In Zukunft gehe ich Sie nichts mehr an. Sie ist Frau Pontmercy. Sie hat jetzt eine andre Vorsehung und hat bei dem Tausch gewonnen. Also ist alles gut. Was die sechshundert tausend Franken betrifft, so erwähnen Sie den Punkt nicht; ich will aber Ihrem Gedanken entgegenkommen. Das Geld habe ich für Cosette aufbewahrt. Wie ich dazu gekommen bin, ist Nebensache. Ich gebe das Geld ab. Mehr darf Niemand von mir verlangen. Um diese Wiedererstattung zu vervollständigen, gebe ich meinen wahren Namen an. Auch dies geht nur mich an. Mir liegt daran, daß Sie wissen, wer ich bin.«

Und Jean Valjean sah Marius in die Augen.

Die Aufregung, in die Jean Valjeans Erklärung Marius versetzte, machte diesen unfähig, seine Gedanken zu sammeln. Das Schicksal sendet uns eben bisweilen Stürme, die unser Inneres mächtig aufwühlen.

Wir Alle haben wohl solch eine Unruhe kennen gelernt, wo der Zusammenhang unsres Denkens aufgelöst wird; in einer solchen Gemüthsverfassung sagen wir das erste Beste, irgend etwas und nicht immer das, was wir sagen müßten. Es giebt plötzliche Offenbarungen, die uns den Verstand benehmen, wie ein gefährlicher Wein. Marius war Angesichts der neuen Gestaltung der Dinge, die ihm diese Enthüllung zu bringen schien, so fassungslos, daß er Jean Valjean gegenüber fast so sprach, als verdrieße es ihn, daß er die Wahrheit gehört hatte:

»Aber wozu sagen Sie mir eigentlich dies Alles? Sie konnten Ihr Geheimniß für Sich behalten. Sie sind weder denunzirt, noch in Gefahr, wieder eingefangen zu werden. Sie haben einen Grund, daß Sie mir freiwillig eine Enthüllung machen. Fahren Sie fort. Sie haben mir noch etwas zu sagen. Wie kommen Sie zu diesem Geständniß? Was bezwecken Sie damit?«

»Was ich damit bezwecke?« antwortete Jean Valjean so leise und so dumpf, als spräche er mit sich selbst und nicht mit Marius. »In der That aus welchem Grunde kommt der und der Galeerensklave und sagt: Ich bin im Zuchthaus gewesen. Nun ja, der Grund ist ein recht seltsamer. Aus Gewissenhaftigkeit. Sehen Sie, das Unglück ist, daß ich da einen Faden im Herzen habe, der mich fest hält. Besonders wenn man alt wird, sind dergleichen Fäden recht haltbar. Wenn alles rings um Einen sich auflöst, so halten die noch. Hätte ich den betreffenden Faden los machen, entzweireißen, den Knoten aufmachen oder zerschneiden, weit weg gehen können, so war ich gerettet, so brauchte ich bloß abzureisen. Wozu sind die Diligencen in der Rue du Bouloy da? Nun Ihr glücklich seid, hätte ich gesagt, mache ich, daß ich fortkomme. Ich habe versucht, den Faden zu zerreißen, habe daran gerissen, aber er hat sich gewehrt, er ist nicht entzwei gegangen und mein Herz zerrte er mit sich. Da habe ich eingesehen, daß ich anderswo nicht leben kann. Ich muß hier bleiben. Sie haben ja Recht, es ist dumm von mir, daß ich Ihrer Aufforderung nicht einfach Folge geleistet habe. Sie bieten mir ein Zimmer im Hause an; die Frau Baronin hat mich sehr gern, sie hält einen bequemen Lehnsessel für mich in Bereitschaft; Ihr Herr Großvater möchte mich auch gern um sich haben, weil ich ihm gefalle; wir sollen Alle beisammen wohnen und zusammen speisen; ich soll Cosetten — Verzeihung, der Frau Baronin — die Macht der Gewohnheit — den Arm geben: ein Dach, ein Tisch, ein Kamin; kurz, alles Glück, alle Freude soll ich haben, die das Familienleben bieten kann, soll ein Mitglied Ihrer Familie sein, — Ihrer Familie …«

Bei diesen Worten regten sich Bitterkeit und Grimm in Jean Valjeans Gemüth. Er verschränkte die Arme, betrachtete den Fußboden, als wollte er mit den Augen einen Abgrund hineinbohren und seine Stimme wurde plötzlich heftig und laut:

»Familie! Nicht doch. Ich gehöre zu keiner Familie. Zu der Ihrigen nicht, zu der Menschenfamilie nicht. In den Häusern, wo Leute unter sich sind, bin ich überflüssig. Für mich giebt es keine Familie. Ich bin der Unglückliche, ich stehe außerhalb der Welt. Habe ich Vater und Mutter gehabt? Fast möchte ich’s bezweifeln. An dem Tage, wo ich das Kind verheiratet habe, war’s vorbei; sie war glücklich mit dem Mann vereint, den sie liebte, gern gesehen von dem guten, alten Großvater und aller Güter theilhaftig, die des Menschen Herz erfreuen können. Da sagte ich mir: Nun ist alles gut, Du aber bleibe davon. Ich hätte lügen, Sie Alle täuschen, Herr Fauchelevent bleiben können. So lange es ihr zum Vortheil gereichte, habe ich lügen dürfen; jetzt aber, wo ich den Nutzen davon hätte, darf ich es nicht mehr. Ich brauchte bloß zu schweigen, so wäre Alles beim Alten geblieben. Sie fragen, was mich denn zwingt zu reden. Ein sehr merkwürdiges Ding, mein Gewissen. Mein Geheimniß für mich zu behalten hätte sich ja leicht genug machen lassen. Ich habe auch die Nacht über versucht es mir einzureden — denn Sie forschen mich aus und was ich Ihnen gesagt habe, ist allerdings etwas so Außergewöhnliches, daß Sie das Recht dazu haben; — also ich habe die Nacht schlaflos zugebracht, um mir plausible Gründe auszudenken, und habe auch sehr gute gefunden, sodaß ich sagen kann, ich habe mein Möglichstes nach der Richtung hin gethan. Aber zwei Dinge sind mir nicht gelungen: den Faden zu zerreißen, der mein Herz hier festhält und Jemand, der, wenn ich allein bin, leise zu mir spricht, zum Schweigen zu bringen. Deshalb bin ich heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen Alles zu gestehen. Alles oder so ziemlich Alles. Es ist Manches, das nicht gesagt zu werden braucht, weil es nur mich betrifft; das behalte ich für mich. Die Hauptsache aber wissen Sie jetzt. Also habe ich mein Geheimniß hergebracht und es vor Ihren Augen bloß gelegt. Der Entschluß ist mir nicht leicht geworden. Die ganze Nacht habe ich mich dagegen gesträubt. Glauben Sie nur, ich habe mir selber gesagt, daß der gegenwärtige Fall nicht mit dem Champmathieuschen zu vergleichen ist, daß ich durch die Verheimlichung meines Namens Niemandem Schaden zufügen würde, daß mir der Name Fauchelevent von Fauchelevent selbst zum Dank für einen ihm erwiesenen Dienst geschenkt worden ist und daß ich also das Recht habe ihn zu behalten, daß ich in dem Kämmerchen, das Sie mir anbieten, glücklich leben konnte. Niemandem im Wege, daß ich nicht gestört sein würde in meinem Heim und dann, der Gedanke, mit Cosette in demselben Hause zu wohnen, mich glücklich machen würde, während Sie Sich ihres Besitzes erfreuten. Dann wäre Jeder des Glückes theilhaftig geworden, das für ihn paßte. Alles hätte sich gemacht, wenn ich den Namen Fauchelevent beibehalten hätte. Nur mein Gewissen hätte dagegen protestirt. Während äußerlich alles gut gewesen wäre, hätte es in meinem Innern sehr dunkel ausgesehen. Das materielle Glück genügt nicht; der Mensch muß auch zufrieden mit sich sein. Also ich hätte ›Herr Fauchelevent‹ bleiben sollen? Mein wahres Gesicht verstecken; während Sie in Ihrer Arglosigkeit mir Ihr vollstes Vertrauen schenkten, ein Geheimniß mit mir herumgetragen; ohne Sie zu warnen, mir nichts dir nichts, Sie in Beziehungen mit dem Zuchthaus bringen; mich an Ihren Tisch setzen mit dem Gedanken, daß Sie mich wegjagen würden, wenn Sie wüßten, wer ich bin; mir Handreichungen leisten lassen von Bedienten, die, wenn sie hinter mein Geheimnis kämen, mir voll Abscheu den Rücken zudrehen würden? Ich hätte Sie berühren, meine Hand in Ihre legen und Ihren Gruß ergaunern sollen. Es hätte sich also mein schmachbedecktes Haupt mit den ehrwürdigen, weißen Haaren Ihres braven Großvaters in Ihre Achtung getheilt! Bei jedem traulichen Beisammensein, wenn alle Herzen einander ehrlich entgegengeschlagen hätten, wäre Einer von uns Vieren ein Unbekannter gewesen. Ich wäre neben Euch her durch das Leben gewandelt mit keinem andern Gedanken, als daß ich niemals sehen lassen dürfte, was der Deckel meines fürchterlichen Brunnens verbirgt. Also ich, der ich für die Welt tot bin, ich hätte mich Euch aufdrängen sollen, die Ihr zu der Gesellschaft der Glücklichen gehört. Sie, Cosette und ich — drei Köpfe unter der grünen Mütze! Und bei diesem Gedanken erzittern Sie nicht? Ich bin nur der unglücklichste Mensch, dann würde ich der nichtswürdigste geworden sein. Und dieses Verbrechens, dieser Lüge hätte ich mich Tag für Tag schuldig machen, die unheimliche Maske jeden Tag tragen, Euch jeden Tag mit meiner Schande besudeln sollen! Euch meine innigst geliebten, arglosen Kinder! Also Sie meinen, das Einfachste wäre gewesen, ich hätte geschwiegen. Nein, so etwas ist nicht einfach. In gewissen Fällen ist das Stillschweigen eine Lüge. Und meine Verlogenheit und meinen Betrug und meine Nichtswürdigkeit und meine Feigheit und meinen Verrath hätte ich tropfenweise herunterschlucken, wieder ausspeien und wieder heruntertrinken sollen? Und wenn ich am Abend damit fertig geworden wäre, hätte ich am nächsten Morgen wieder von vorn angefangen? Ich hätte damit schlafen, es zu meinem Brod essen, Cosette gerade ansehen und sie anlächeln sollen, ich, der Verdammte, den Engel! Und wozu dieser abscheuliche Betrug? Um glücklich zu sein? Ich und glücklich! Habe ich das Recht glücklich zu sein? Ich stehe ja außerhalb der Menschheit!«

Hier hielt Jean Valjean inne mit seiner Rede, die Marius schweigend anhörte. Wie hätte er auch einen so wehevollen Herzenserguß unterbrechen können! Jean Valjean senkte nun wieder die Stimme, aber sie klang dieses Mal nicht dumpf, sondern schaurig.

»Sie fragen mich, warum ich gesprochen habe? Ich bin nicht denunzirt, ich werde nicht verfolgt, sagen Sie. Doch, ich bin denunzirt, ich werde verfolgt! Von wem? Von mir! Ich selber verlege mir den Weg, ich selbst, schleppe und hetze mich in die Verdammniß. Wenn man sich aber selbst gepackt hält, giebt’s kein Entrinnen.«

Bei diesen Worten nahm er seinen Rock in die Faust und hielt ihn Marius hin.

»Sehen Sie diese Hand an,« fuhr er fort. »Finden Sie nicht, daß sie das Tuch so fest hält, daß er nicht los kommen kann. Das Gewissen aber hält den Menschen noch viel fester. Man muß, wenn man glücklich sein will, Herr Baron, nicht wissen, was die Pflicht ist; sonst stellt sie unerbittliche Ansprüche. Man könnte glauben, sie bestraft Einen, weil man sie kennt; aber nein! Sie belohnt Einen, denn in der Hölle, in die sie Einen stürzt, fühlt man Gottes Odem. Hat man sich, um ihr zu gehorchen, gemartert, so hat man Frieden mit sich selbst.«

Und in einem Tone, der dem Zuhörer in die Seele schnitt, fuhr er fort:

»Herr Baron, es hört sich unsinnig an, aber ich bin ein ehrlicher Mann. Indem ich mich vor Ihnen erniedrige, steige ich in meiner Achtung. Ich bin schon in derselben Lage gewesen; aber solche Qual war es nicht, nicht im Entferntesten. Ja, ein ehrlicher Mann. Ich würde es nicht sein, wenn Sie, von mir irre geführt, fortgefahren hätten mich Ihrer Achtung zu würdigen; nun Sie mich aber verachten, bin ich es. Mein böses Geschick will es ja, daß mir keine andre Achtung zu Theil werden kann, als gestohlene, die mich demüthigt und mir innerlich weh thut. Damit ich hoch von mir denke, ist es nöthig, daß mich die Leute verachten. Dann richte ich mich auf. Ich bin ein Verbrecher, der seinem Gewissen gehorcht. Ich weiß wohl, daß sich das unwahrscheinlich anhört; aber das kann ich nicht ändern: Es ist so. Ich habe mir gegenüber Verpflichtungen übernommen und halte sie. Es kommt im Leben vor, daß man, um sich für eine erwiesene Wohlthat dankbar zu beweisen, einem vom Zufall herbeigeführten Retter dieses oder jenes Versprechen geben muß und dergleichen Versprechen binden. Mir ist viel passirt im Leben, Herr Baron.«

Hier machte Jean Valjean wieder eine Pause. Er schluckte seinen Speichel mühsam herunter, wie wenn seine Worte einen bittern Nachgeschmack hätten und sprach weiter:

»Wenn man mit einem so grauenvollen Geschick behaftet ist, hat man nicht das Recht, Andren, ohne daß sie es wissen, einen Theil davon abzugeben, sie mit seiner Krankheit anzustecken, sie in denselben Abgrund gleiten zu lassen, ohne daß sie es merken, mit seinem Elend heimtückisch ihr Glück zu belasten. Sich an Gesunde heranschleichen und sie im Dunkeln mit seinen Schwären berühren, ist eine Nichtswürdigkeit. Mag auch Fauchelevent mir seinen Namen geliehen haben, — ich habe nicht das Recht, Gebrauch davon zu machen; er durfte ihn mir geben, mir geziemte es nicht, ihn anzunehmen. Ein Name ist ein Ich. Sehen Sie, Herr Baron, ich habe ein wenig nachgedacht in meinem Leben und viel gelesen und Sie werden bemerkt haben, daß ich die Worte einigermaßen zu setzen weiß. Ich suche mir Alles zu erklären und habe mich bemüht, mir selber einige Kenntnisse beizubringen. Nun also — einen Namen stehlen und sich dahinter verstecken ist unehrlich. Denn Buchstaben kann man stibitzen, so gut wie ein Portemonnaie oder eine Taschenuhr. Ehe ich aber beständig als eine lebendige Fälschung unter ehrlichen Leuten einhergehe, will ich lieber alles mögliche Leid erdulden, bluten, weinen, mir mit den Nägeln die Haut vom Leibe reißen, mich Nächte hindurch in Qualen krümmen, mir Körper und Seele aufzehren. Deshalb bin ich gekommen Ihnen dies Alles zu erzählen.«

Er holte schwer Athem und beschloß seine Rede mit den Worten:

»Ich habe wohl früher einmal, um nicht verhungern zu müssen, Brod gestohlen; heute will ich nicht, um leben zu können, einen Namen stehlen.«

»Um leben zu können?« fiel ihm Marius ins Wort. »Dazu brauchen Sie doch den Namen nicht?«

»O ich weiß, was ich sagen will,« antwortete Jean Valjean, indem er mehrere Mal den Kopf hob und senkte.

Es trat eine Pause ein. Beide schwiegen, um gegen die Flut von Gedanken anzukämpfen, die auf sie einstürmten. Marius saß an einem Tisch und hielt den einwärts gebognen, kleinen Finger an den Mundwinkel gestützt. Jean Valjean ging im Zimmer auf und ab, bis er endlich vor einem Spiegel regungslos stehen blieb. Dann sagte er zum Schluß eines Selbstgesprächs, indem er die Augen auf den Spiegel richtete, ohne sich zu sehen:

»Während ich mich jetzt erleichtert fühle!«

Darauf setzte er sich wieder in Bewegung und ging nach dem andern Ende des Salons. Eben als er sich wieder umwendete, bemerkte er, daß Marius ihn beim Gehen beobachtete. Da sagte er in einem unbeschreiblichen Tone:

»Ich habe einen schleppenden Gang. Sie begreifen jetzt, warum.«

Dann wandte er sich ganz nach Marius um und sagte:

»Nun, Herr Baron, stellen Sie Sich einmal Folgendes vor. Gesetzt, ich hätte nichts gesagt, wäre Herr Fauchelevent geblieben und nehme den Platz in Ihrem Hause ein, den Sie mir zuweisen, gehöre zu Ihrer Familie, komme des Morgens in meinen Pantoffeln zum Frühstück herunter; wir gehen des Abends alle Drei ins Theater, ich begleite die Frau Baronin auf ihren Spaziergängen, kurz wir leben zusammen und Sie halten mich für Ihresgleichen. Eines schönen Tages sitzen wir wieder einmal traulich beisammen, plaudern und lachen; da hören Sie plötzlich eine Stimme: Jean Valjean! rufen und sehen die Hand der Polizei mir die Maske vom Gesicht reißen!«

Er schwieg wieder. Marius war zitternd vor Entsetzen von seinem Sitz aufgefahren. Jean Valjean hob wieder an:

»Was sagen Sie dazu?«

Marius Stillschweigen gab ihm eine beredte Antwort.

Da fuhr Jean Valjean fort:

»Sie sehen nun wohl, daß ich Recht habe, wenn ich nicht schweige. Genießen Sie also Ihr Glück, leben Sie im siebenten Himmel, seien Sie der Engel eines Engels, begnügen Sie Sich damit und machen Sie Sich keine Sorge darum, wie ein armer Verdammter es anstellt, um sich das Herz zu zerfleischen und seine Schuldigkeit zu thun; Sie haben Einen vor sich, dessen trauriges Los sich nicht erleichtern läßt.«

Marius kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

Aber Jean Valjean kam ihm nicht entgegen als Marius seine Hand ergriff. Diesem war zu Muthe, als drücke er ein Stück Marmor.

»Mein Großvater hat einflußreiche Freunde,« sagte Marius, »die Ihnen Ihre Begnadigung erwirken können.«

»Das ist nicht nöthig,« antwortete Jean Valjean. »Man hält mich für tot, das genügt. Die Toten unterstehen der polizeilichen Aufsicht nicht. Die läßt man in Ruhe. Der Tod ist ebenso gut wie eine Begnadigung.«

Und indem er seine Hand aus Marius Griff losmachte, sagte er mit unerbittlich strengem Stolze:

»Uebrigens ist die Pflicht die einzige Freundschaft, zu der ich meine Zuflucht zu nehmen pflege, und bedarf keiner andern Gnade als derjenigen, die mir mein Gewissen gewährt.«

In diesem Augenblick ging am andern Ende des Salons leise die Thür auf und in dem Spalt zeigte sich Cosette. Man sah von ihr nur das liebe Gesicht, und das Haar, das es in anmuthiger Unordnung umrahmte; ihre Augenlider waren noch vom Schlaf geschwollen. Sie machte eine Bewegung mit dem Köpfchen wie ein Vögelchen, das aus dem Nest herausblickt, sah erst Marius, dann Jean Valjean an und rief mit einem rosigen Lächeln:

»Wetten wir, daß Ihr über Politik sprecht? Wie dumm! Konntet Ihr nicht zu mir kommen?«

Jean Valjean fuhr zusammen.

»Cosette!« stammelte Marius verlegen und hielt inne. Sie sahen wie zwei schuldbewußte Verbrecher aus.

Cosette fuhr fort, Beide mit Augen anzusehen, aus denen paradiesisches Glück strahlte.

»Ich ertappe Euch auf der That,« sagte sie. »Ich habe eben durch die Thür gehört, wie mein Vater Fauchelevent sagte: Mein Gewissen … die Pflicht … Das muß sich auf die Politik bezogen haben. Das kann ich nicht erlauben. Schon am zweiten Tage von Staats- und gelehrten Sachen zu sprechen, schickt sich nicht. Das ist eine Unliebenswürdigkeit gegen mich.«

»Du irrst Dich, Cosette,« betheuerte Marius. »Wir besprachen eine geschäftliche Angelegenheit. Wir beriethen nämlich, wie Deine sechshundert tausend Franken am besten angelegt werden könnten.«

»Das ist alles nichts!« unterbrach ihn Cosette. »Ich bin gekommen, um zu fragen, ob ich hier bleiben darf.«

Mit diesen Worten machte sie die Thür ganz auf und trat entschlossen in den Salon. Sie trug einen weiten, weißen Peignoir mit langen Aermeln, der ihr vom Halse bis zu den Füßen herniederwallte. Dieses Kleid erinnerte an die niedlichen, sackartigen Gewänder, mit denen die an den gothischen Kirchendecken auf goldnem Hintergrunde abgemalten Engel bekleidet sind.

Sie betrachtete sich von Kopf bis zu Fuß in einem großen Spiegel und rief dann plötzlich mit unbeschreiblicher Fröhlichkeit:

»Es war einmal ein König und eine Königin. O wie glücklich ich bin!«

Hierauf wandte sie sich mit einer Verbeugung nach Marius und Jean Valjean und sagte:

»So! Nun will ich bei Euch bleiben und es mir auf einem Lehnstuhl bequem machen. In einer halben Stunde speisen wir zu Mittag und Ihr könnt Euch unterhalten, wie Ihr wollt. Ich weiß ja, daß man die Männer reden lassen muß und verspreche Euch, recht artig zu sein.«

Marius faßte sie beim Arm und sagte in liebreichem Tone:

»Wir sprechen über geschäftliche Sachen.«

»Beiläufig gesagt,« antwortete Cosette, »ich habe mein Fenster aufgemacht. Es sind eben eine große Menge Spatzen in den Garten geflogen.«

»Ich versichre Dich, liebes Engelchen, daß wir über geschäftliche Dinge verhandeln. Bitte, lasse uns einen Augenblick allein. Nichts als Zahlen. Du würdest Dich langweilen.«

»Du hast heute eine sehr hübsche Kravatte um, Marius. Das hätte ich nicht gedacht, daß mein ernsthafter Herr Gemahl solch ein Gigerl wäre. Aber sei unbesorgt, Euer Gespräch wird mich keineswegs langweilen.«

»Doch, doch, liebe Cosette.«

»Bewahre, da Ihr es seid. Ich werde wohl nicht verstehen, was Ihr sagt; werde aber Euch zuhören. Wenn man die Stimmen Derer, die man lieb hat hört, so braucht man nicht die Worte zu verstehen, die sie sagen. Bei Euch bleiben, weiter will ich nichts. Verstanden, mein Herr Gemahl?«

»Meine innigst geliebte Cosette, es geht nicht.«

»Es geht nicht?«

»Nein.«

»Gut,« entgegnete Cosette. »Ich hätte Euch viele interessante Neuigkeiten erzählt. Ich hätte Euch gesagt, daß Großvater noch schläft, daß die Tante nach der Kirche gegangen ist; daß der Kamin in Vater Fauchelevents Zimmer raucht, daß Nicolette den Schornsteinfeger bestellt hat, daß Toussaint und Nicolette sich schon gezankt haben, daß Nicolette die Toussaint wegen ihres Gestotters zum Besten hält. Jetzt sollt Ihr zur Strafe garnichts hören. Also, es geht nicht? Na warten Sie, mein Herr Gemahl, ich werde auch mal sagen: ›Es geht nicht.‹ Dann werden wir ja sehen, wer den meisten Schaden haben wird. Bitte, bitte, lieber Marius, laß mich bei Euch bleiben.«

»Ich schwöre Dir, liebe Cosette, es ist kein Gespräch, wo Jemand zugegen sein darf.«

»Bin ich denn ein Jemand?«

Währenddessen hatte Jean Valjean kein Wort gesprochen. Jetzt nahm Cosette ihn sich ins Gebet:

»Was soll denn das heißen, Vater, daß Du mir keinen Kuß giebst. Was stehst Du da, und sagst nichts und hilfst mir nicht? Wer hat mir einen solchen Vater gegeben? Du siehst doch, was ich für eine unglückliche Frau bin. Mein Mann haut mich. Vorwärts, gieb mir sofort einen Kuß.«

Jean Valjean ging auf sie zu.

Cosette drehte sich nach Marius um und sagte:

»Von Dir will ich nichts wissen.«

Darauf hielt sie Jean Valjean die Stirn hin. Als aber dieser an sie herantrat, wich sie plötzlich zurück.

»Vater, Du bist blaß. Thut Dir denn Deine Hand so weh?«

»Die ist wieder gesund,« sagte Jean Valjean.

»Hast Du schlecht geschlafen?«

»Nein.«

»Hast Du Kummer?«

»Auch nicht.«

»So gieb mir einen Kuß. Wenn Du gesund bist, gut schläfst und bei guter Laune bist, will ich Dich nicht schelten.«

Und abermals hielt sie ihm ihre engelreine Stirn hin, auf die Jean Valjean einen Kuß drückte.

»Lächle mal.«

Jean Valjean gehorchte. Er lächelte grausig wie ein Gespenst.

»So! Jetzt vertheidige mich gegen meinen Mann.«

»Cosette!« flehte Marius.

»Vater, zeige ihm mal, daß Du böse sein kannst. Sage ihm, daß ich bei Euch bleiben soll. Ihr könnt in meiner Gegenwart reden. Haltet Ihr mich denn für so einfältig? Das muß ja was ungeheuer Großartiges sein, was Ihr da zu besprechen habt. Geschäfte, eine Kapitalanlage, das ist gerade was Rechtes. Diese Geheimnißthuerei der Männer um ein Nichts! Ich bleibe bei Euch. Sieh mal, Marius, wie gut ich heute aussehe.«

Und graziös die Achseln zuckend und mit einer allerliebsten Schmollmiene, sah sie Marius an. Da war es, als wenn eine elektrische Anziehungskraft sie mit elementarer Gewalt zu einander hinriß. Was fragten sie danach ob jemand dabei stand.

»Ich liebe Dich!« rief Marius.

»Ich bete Dich an!« antwortete Cosette.

Und sie stürzten einander in die Arme.

»Jetzt,« sagte Cosette mit verstohlenem Triumphe, indem sie eine Falte ihres Peignoirs in Ordnung brachte, »jetzt bleibe ich.«

»Nein, mein süßes Herz das geht nicht,« sagte Marius mit inständig bittender Betonung. »Wir haben etwas zu beendigen.«

»Noch nicht?«

Marius nahm einen ernsthaften Ton an:

»Ich versichre Dich, Cosette, es ist unmöglich.«

»Aha! Jetzt holt mein Herr Gemahl seine Mannheit vor. Gut. Ich gehe. Du, Vater, bist mir nicht zu Hülfe gekommen. Mein Herr Gemahl, mein Herr Papa, Ihr seid Tyrannen. Das sage ich aber dem Großvater. Wenn Ihr Euch einbildet, ich werde wiederkommen und Euch um den Bart gehen, so irrt Ihr Euch. Ich bin stolz. Jetzt warte ich, bis Ihr zu mir kommt. Ihr sollt sehen, daß Ihr Euch langweilt, wenn ich nicht da bin. Ich gehe. Geschieht Euch ganz recht.«

Sie ging hinaus.

Aber zwei Sekunden darauf ließ sich das frische, rosige Gesichtchen wieder zwischen den beiden Thürflügeln sehen und sie rief:

»Ich bin sehr wüthend.«

Die Thür fiel zu und Trübsal umnachtete wieder die beiden zurückgebliebenen Männer.

Es war, als habe ein verirrter Sonnenstrahl, ohne es zu ahnen, schnell eine dichte Finsterniß durcheilt.

Marius vergewisserte sich, daß die Thür auch wirklich fest zu war.

»Arme Cosette,« murmelte er, »wenn sie erfahren wird …«

Als Jean Valjean diese Worte hörte, erbebte er an allen Gliedern. Er richtete einen irren Blick auf Marius.

»Cosette, ja richtig, Sie werden es Cosette sagen. Freilich, daran hatte ich nicht gedacht. Man kann das Eine ertragen, zu Andrem reicht aber die Kraft nicht aus. Herr Baron, ich bitte, ich beschwöre Sie, geben Sie mir Ihr heiligstes Ehrenwort, daß Sie es ihr nicht sagen werden. Ist es nicht genug, das; Sie es wissen? Ich habe es über mich gewonnen, es zu offenbaren, ohne dazu gezwungen zu sein und es wäre mir nicht darauf angekommen, es vor Jedermann, vor der ganzen Welt zu sagen. Aber sie weiß nicht, was es bedeutet; sie würde Schauder davor empfinden. Ein ehemaliger Zuchthäusler! Man müßte es ihr erklären, ihr sagen: Er hat auf den Galeeren gearbeitet. Sie hat eines Tages eine Kette Galeerensklaven an sich vorbeifahren sehen. Barmherziger Gott!«

Er sank auf einen Sessel und verbarg sein Gesicht in beide Hände.

Man hörte es nicht, aber man sah es an den heftigen Bewegungen seiner Schultern, daß er weinte. Stille Thränen, bittre Thränen.

Durch das Schluchzen der Athmungsluft beraubt, wurde er von einer Art Krampf gepackt; er lehnte sich, als wollte er wieder zu Athem kommen, nach hinten an die Lehne des Sessels, indem er die Arme schlaff herabhängen und Marius sein in Thränen gebadetes Gesicht sehen ließ. Und leise, als käme seine Stimme aus einer bodenlosen Tiefe, murmelte er: »O, ich möchte sterben!«

»Seien Sie unbesorgt,« sagte Marius, »ich werde Ihr Geheimniß für mich behalten.«

Und mit weniger Mitleid, als er wohl hätte empfinden sollen, aber seit einer Stunde genöthigt, sich an die schreckliche Wirklichkeit zu gewöhnen, in Herrn Fauchelevent mehr und mehr einen ehemaligen Galeerensklaven zu sehen und auch die Kluft, die zwischen ihm und Jenem entstanden war, zu achten, sagte Marius:

»Ich darf es nicht unterlassen, mit einigen Worten das Geld zu erwähnen, das Sie so gewissenhaft für Cosette aufbewahrt haben. Das ist eine Ehrlichkeit, für die Ihnen eine Belohnung gebührt. Bezeichnen Sie selbst die Ziffer und scheuen Sie Sich nicht, recht hoch zu gehen. Sie sollen bekommen, was Sie verlangen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Baron,« antwortete Jean Valjean mit sanfter Stimme.

Er blieb eine Weile in Gedanken versunken, indem er mechanisch mit dem Ende des Zeigefingers über den Daumennagel strich, und sagte dann mit lauterer Stimme:

»Jetzt wäre wohl ziemlich Alles abgemacht. Es bleibt mir nur noch …«

»Was?«

Jean Valjean zögerte eine Weile mit der Antwort und sagte dann mit tonloser, matter Stimme:

»Nun Sie alles wissen, glauben Sie, Herr Baron, der Sie zu entscheiden haben, daß ich Cosette nicht wiedersehen darf?«

»Ich glaube, das wäre das Beste,« antwortete Marius kalt.

»Es soll geschehen,« murmelte Jean Valjean und schritt auf die Thür zu.

Er legte die Hand auf die Klinke, der Schloßriegel ging zurück, die Thür öffnete sich weit, daß er hätte hindurchgehen können. Aber dann blieb er eine Sekunde regungslos stehen, machte die Thür wieder zu und wandte sich wieder nach Marius um:

Aus seinem Gesicht war jetzt der letzte Rest Blut gewichen. Er hatte auch keine Thränen mehr in den Augen, aber es flammte darin ein Ausdruck unnennbarer Trauer empor. Seine Stimme klang wieder seltsam ruhig.

»Verzeihen Sie, Herr Baron, wenn Sie’s gestatten, werde ich Cosette besuchen. Ich versichere Sie, mir liegt viel daran. Wäre es mir nicht darum zu thun gewesen um sie zu bleiben, so hätte ich Ihnen das Geständnis nicht abgelegt und wäre so fortgegangen; aber da ich in ihrer Nähe sein und mit ihr in Verkehr bleiben wollte, so mußte ich als ehrlicher Mann Ihnen die Wahrheit sagen. Sie sehen ein, warum ich so gehandelt habe, nicht wahr? Es ist ja eine ganz einfache Sache. Sehen Sie, über neun Jahre habe ich sie immer um mich gehabt. Wir wohnten anfangs in dem Gorbeauschen Hause, dann im Kloster, zuletzt nicht weit von dem Jardin du Luxembourg. Da war es, wo Sie ihr zum ersten Mal begegnet sind. Sie erinnern sich wohl noch an ihren blauen Plüschhut. Dann wohnten wir in dem Invalidenviertel in dem Hause mit dem Gitter und dem Garten. In der Rue Plumet. Ich hatte mein Zimmer in dem kleinen Hinterhof, wo ich sie Klavier spielen und singen hörte. So lebte ich. Wir trennten uns nie. Das hat neun Jahre und einige Monate gedauert. Ich war so zu sagen ihr Vater und sie mein Kind. Ich weiß nicht, ob Sie meine Gefühle begreifen, Herr Baron, aber jetzt von ihr gehen, sie nie wieder sehen, nicht mehr mit ihr sprechen, nichts mehr von ihr haben, wäre etwas, das mir recht schwer werden würde. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich von Zeit zu Zeit Cosette besuchen. Ich werde nicht häufig kommen und nicht lange bleiben. Sie können ja sagen, daß sie mich in dem kleinen, niedrigen Saal empfangen soll, im Parterre. Ich würde ganz gern hinten heraufkommen, wo der Eingang für die Dienstboten ist, aber das würde vielleicht den Leuten zu reden geben. Es ist wohl besser, glaube ich, ich komme durch die gewöhnliche Thür. Wirklich, Herr Baron. Ich möchte Cosette wiedersehen. Nur so oft, wie es Ihnen belieben würde. Versetzen Sie Sich an meine Stelle; ich habe ja weiter nichts auf der Welt. Ferner müssen Sie noch etwas Andres im Auge behalten. Wenn ich ganz weg bliebe, würde das einen schlechten Eindruck machen, man würde es eigenthümlich finden. Was ich aber möglich machen kann, ist, daß ich des Abends komme, wenn es Dunkel war.«

»Kommen Sie jeden Abend,« sagte Marius. »Cosette soll sie erwarten.«

»Sie sind sehr gütig, Herr Baron,« erwiederte Jean Valjean.

Marius verneigte sich, das Glück geleitete die Verzweiflung bis zur Thür und die beiden Männer schieden von einander,

Die Zweifel, die eine Offenbarung hinterlassen kann

Marius war außer sich vor Bestürzung.

Jetzt erklärte er sich seine Abneigung gegen den Mann, in dessen Nähe er Cosette weilen sah. Der Mensch hatte in seinem Wesen etwas Räthselhaftes, wovor sein Instinkt ihn stets gewarnt hatte. Dieses Räthsel bestand in der furchtbarsten Schande. Herr Fauchelevent war ein ehemaliger Zuchthaussträfling.

Wenn man unvermuthet mitten in seinem Glück ein solches Geheimniß entdeckt, so gleicht das der Entdeckung eines Skorpions in einem Turteltaubennest.

War Marius und Cosettes Glück fortan zu einer solchen Nachbarschaft verurtheilt? Ließ sich die Sache nicht ändern? War die Duldung dieses Menschen eine Bedingung, die nicht mehr umgangen werden konnte?

Hatte Marius denn den ehemaligen Sträfling mit geheiratet?

Mag man auch mit dem schönsten Glücks- und Freudenkranz gekrönt sein, die süßeste Wonne des Lebens, die glückliche Liebe kosten, eine solche Erschütterung würde selbst einem Erzengel in seiner Verzückung, einem Halbgott in seiner Glorie einen Schauder abnöthigen.

Wie dies immer bei derartigen, plötzlichen Veränderungen geschieht, fragte sich Marius, ob er sich nicht selber Vorwürfe zu machen habe? Hatte er es an Scharfsinn, an Klugheit fehlen lassen? Hatte er sich, ohne mit der gehörigen Vorsicht das Terrain zu rekognosciren, in das Liebesabenteuer gestürzt, das mit seiner Heirat geendet? Er bemerkte — durch dergleichen Entdeckungen bessert uns nach und nach das Leben — er bemerkte den grüblerischen und phantastischen Theil seines geistigen und moralischen Wesens, die Wolke, die sich im Hirn vieler Menschen vor findet, und die in den Paroxismen der Leidenschaft und des Kummers, durch die höhere Temperatur der Seele ausgedehnt, an Umfang zunimmt und das Denken des Menschen vollständig durchdringt, wodurch das Bewußtsein ein nebelhaftes wird. Wir haben schon öfter diesen charakteristischen Zug von Marius Eigenart erwähnt. Er entsann sich, daß er über seinem Liebesrausch in der Rue Plumet Cosetten gegenüber nicht einmal das Drama im Gorbeauschen Hause erwähnt hatte, dessen Opfer sich während des Kampfes und bei seiner Flucht eines so seltsamen und hartnäckigen Stillschweigens beflissen hatte. Wie kam das bloß? Es lag doch wahrlich nahe genug von einem so aufregenden Vorfall zu sprechen! Warum hatte er ihr nichts von den Thénardiers erzählt, besonders an jenem Tage, wo er Eponinen begegnet war? Es wurde ihm beinah schwer, sich Rechenschaft über die Gründe seines damaligen Stillschweigens zu geben. Indessen verstand er sie. Er erinnerte sich an die Gemüthsverfassung, in der er sich zu jener Zeit befunden hatte, die Ausschließlichkeit seiner Liebe, die ihn verhindert hatte, etwas Andres zu thun als mit Cosette in höheren Regionen zu schweben und andrerseits auch an das geringe Quantum Vernunft, das dieser überreizte und angenehme Seelenzustand noch hatte bestehen lassen, an jenen heimlichen Instinkt, der ihn bewog, das schreckliche Abenteuer zu verheimlichen und aus seinem Gedächtniß zu tilgen, in dem er keine Rolle spielen, mit dem er nichts zu thun haben wollte und von dem er nichts erzählen konnte, ohne als Ankläger aufzutreten. Im Uebrigen waren jene wenigen Wochen, wo er Cosette in der Rue Plumet aufzusuchen pflegte, blitzschnell an ihm vorüber gegangen; sie hatten zu nichts Zeit gehabt, als an die Liebe zu denken. Endlich, wenn er alle Umstände genau prüfte und abwog, würde, gesetzt auch er hätte Cosetten den Vorfall im Gorbeauschen Hause erzählt, er hätte von den Thénardiers, welches auch die Folgen gewesen wären, gesprochen, gesetzt auch, er hätte entdeckt, daß Jean Valjean im Zuchthaus gewesen war, würde er, Marius, darum andern Sinnes geworden sein? Oder Cosette? Wäre er zurückgetreten? Hätte er sie weniger geliebt? Hätte er sie nicht geheiratet? Nein. Würde dadurch der Lauf der Dinge geändert worden sein? Nein. Also weg mit der Reue, mit den Vorwürfen! Alles war in Ordnung. Es giebt einen Gott für die Betrunknen, die man Verliebte nennt. In seiner Blindheit hatte Marius den Weg eingeschlagen, den er sehend auch gewählt hätte. Die Liebe hatte ihm die Augen verbunden um ihn ins Paradies zu führen.

Aber diesem Paradies war nun etwas Teuflisches beigesellt.

Marius ehemalige Abneigung gegen jenen Menschen, gegen den Fauchelevent, aus dem ein Jean Valjean geworden, war jetzt mit Abscheu verbunden.

Neben diesem Abscheu bestand allerdings noch etwas Mitleid und sogar eine gewisse Verwundrung.

Dieser Dieb, dieser rückfällige Dieb, hatte ihm anvertrautes Geld herausgegeben. Und keine Kleinigkeit! Sechshundert tausend Franken. Er war der Einzige, der um dieses Geld wußte. Er konnte alles behalten und hatte alles ehrlich abgeliefert.

Ferner hatte er aus eignem Antriebe sein Geheimniß offenbart. Nichts zwang ihn zu diesem Schritt. Wenn man wußte, wer er war, so wußte man es durch ihn. Und dieses Geständniß war nicht nur mit einer Demüthigung verbunden, es konnte auch Gefahren nach sich ziehen. Für einen Verurtheilten ist eine Maske mehr als eine Maske: Sie gewährt ihm Schutz vor Verfolgung. Auf diesen Schutz hatte er verzichtet. Ein falscher Name bringt Sicherheit; diesen falschen Namen hatte er von sich geworfen. Er, ein gebrandmarkter Verbrecher, konnte im Schoße einer anständigen Familie eine Zuflucht gewinnen; auch dieser Versuchung hatte er widerstanden. Und aus welchem Grunde? Aus Gewissenhaftigkeit. Das hatte er selbst mit der unwiderstehlichen Logik der Wirklichkeit auseinander gesetzt. Kurz, was für ein Mensch dieser Jean Valjean auch sein mochte, ein moralisches Bewußtsein regte sich in ihm. Es lag hier ein räthselhafter Anfang von Besserung vor und allem Anschein nach war bei diesem Menschen das bessere Ich schon seit längerer Zeit mächtiger, als das schlechtere. Dergleichen Anwandlungen von Rechtsgefühl und Tugend sind aber gemeinen Naturen nicht eigen. Jede Erhebung zu besserer Einsicht beweist Seelengröße.

Jean Valjean war aufrichtig. Diese handgreifliche, unleugbare, durch das Weh, daß sie ihm zufügte, überreichlich bewiesene Aufrichtigkeit machte jede Einziehung von Erkundigungen unnütz, und ließ alles, was der Mann sagte, als zuverlässig erscheinen. Hieraus ergab sich nun für Marius eine absonderliche Umkehrung der Verhältnisse. Hatte er dem unbescholtnen Herrn Fauchelevent Mißtrauen entgegengebracht, so setzte er absolutes Vertrauen in die Worte des Sträflings Jean Valjean.

Indem Marius so das Gute und das Böse an Jean Valjeans Handlungsweise gegeneinander abwog, ermittelte er wohl sein Debet und sein Credit, versuchte aber vergeblich, eine Bilanz zu ziehen. In dem Bestreben, sich von dem moralischen Wesen dieses Menschen eine klare Vorstellung zu machen, indem er so zu sagen in seinem Innern Jean Valjean verfolgte, verlor er ihn aus den Augen und sah seine Gestalt nur undeutlich in einem Nebel wieder.

Die ehrliche Wiedererstattung des ihm anvertrauten Geldes, die Gewissenhaftigkeit des Geständnisses war zu loben, bewirkte eine helle Stelle in der Dunkelheit, aber alles andere blieb schwarz.

So trübe Marius’ Erinnerungen auch waren, Einiges konnte er sich doch in’s Gedächtnis zurückrufen.

Was hatte es denn schließlich für eine Bewandtniß mit dem Vorfall, der sich in der Jondrette’schen Räuberhöhle abgespielt hatte? Warum war der Mann bei der Ankunft der Polizei entflohen, statt Beschwerde über den Erpressungsversuch zu führen? Auf diese Frage fand Marius die Antwort: Weil der Mann ein Sträfling war, der sich der polizeilichen Aufsicht entzogen hatte.

Eine andre Frage: Warum hatte sich der Mann den Insurgenten angeschlossen? Denn jetzt, in Folge der heftigen Gemüthserregung tauchte diese Erinnrung wieder in seinem Hirn klar empor, wie ein mit sympathetischer Tinte geschriebner Brief in Folge der Wärme des Feuers lesbar wird. Der Mann hatte hinter der Barrikade gestanden. Was hatte er dort zu suchen? Bei dieser Frage richtete sich vor Marius innrem Auge der Geist eines Toten, Javert, auf und antwortete. Er besann sich jetzt ganz deutlich darauf, wie Jean Valjean den gefesselten Javert weggeschleppt und hörte noch den gräßlichen Pistolenschuß, der in der Rue Mondétour gleich darauf gefallen war. Wahrscheinlich bestand Haß zwischen dem Polizeispion und dem Sträfling. Der Eine war dem Andern im Wege, Jean Valjean war nach der Barrikade gegangen, um sich zu rächen. Er war später als die Andern gekommen, also wußte er wohl, daß Javert dort gefangen gehalten wurde. Die korsische Vendetta ist in gewisse, niedere Volksschichten eingedrungen und ist für sie ein Gesetz; die Idee, die ihr zu Grunde liegt, ist so einfach, daß schlichte Naturen, auch wenn sie sich vom Bösen zum Guten gewendet haben, nicht vor ihr zurückschrecken und daß ein reuiger Verbrecher sehr wohl den Diebstahl meiden, aber zugleich die Rache für gerecht halten kann. Jean Valjean hatte Javert umgebracht. Wenigstens war dies das Wahrscheinlichste.

Endlich eine letzte Frage, aber eine solche, auf die sich keine Antwort finden ließ und die ihn in besonderem Grade peinigte. Wie kam es, daß Jean Valjeans Dasein solange mit Cosetten Hand in Hand gegangen war? In was für einem sonderbaren Spiel hatte sich die Vorsehung gefallen, daß sie dieses Kind mit diesem Manne in Berührung gebracht hatte? Giebt es denn da oben, wie auf den Galeeren hienieden, Ketten, womit zwei Menschen aneinander geschmiedet werden, und gefällt sich Gott darin, einen Engel an einen Teufel zu fesseln? Können denn Verbrechen und Unschuld in dem dunklen Bagno des Elends Stubenkameraden sein? Was hatte diesem unbegreiflichen Bund die Entstehung geben können? Auf welche Weise, in Folge welches Wunders war die Gemeinsamkeit des Lebens zwischen der himmlischen Kleinen und dem alten Verbrecher zu Stande gekommen? Was hatte das Lamm an den Wolf und umgekehrt, was noch merkwürdiger war, den Wolf an das Lamm gefesselt? Denn der Wolf liebte das Lamm, die gefährliche Bestie betete das schwache Wesen an, der Engel hatte neun Jahre lang an dem Dämon einen Beschützer gehabt. Hier zerfaserten sich gewissermaßen die Fragen in unzählbare Räthsel, ein Abgrund stieß hier an den andern und Marius konnte sich nicht ohne Schwindel über Jean Valjeans Seele neigen. Was war denn das für ein Mensch?

Die zu Anfang der Welt geschaffnen Menschentypen sind ewige; immerdar werden in der menschlichen Gesellschaft, so wie sie jetzt ist, bis zu dem Tage, wie sie sich in Folge höherer Erkenntniß veredeln wird, zwei Arten von Menschen bestehen: solche die zum Licht des Himmels aufblicken, und solche die, im Finstern kriechen; der nach dem Urbild des Guten geformte ist Abel, der Sohn des Bösen ist Kain. Was wär das für ein Bandit, der sich so fromm mit der Anbetung einer Jungfrau beschäftigte, sie erzog, sie hütete, sie in Reinheit hüllte, da er selbst doch unrein war? Seit wann läßt es sich denn die Finsterniß angelegen sein, den Aufgang eines Gestirns vor jedem Schatten, jeder Wolke zu bewahren?

Das wußte nur Jean Valjean und Gott.

Vor diesem Geheimniß wich Marius zurück. Es beruhigte ihn, daß Gottes Mitwirkung hier ebenso augenscheinlich war, wie die Jean Valjeans. Gott bedient sich der Werkzeuge, die er für gut hält und ist dem Menschen nicht verantwortlich. Wissen wir, wie Gott verfährt? Cosette war unzweifelhaft zum Theil Jean Valjeans Werk. Aber was schadete das? Der Arbeiter war ein greulicher Mensch; aber seine Arbeit war bewundernswürdig. Gott bringt seine Wunder so hervor, wie es ihm beliebt. Er hatte die reizende Cosette gebildet und Jean Valjean dabei verwendet. Es hatte ihm nun einmal gefallen, einen so sonderbaren Mitarbeiter heranzuziehen. Dürfen wir Rechenschaft von ihm verlangen? Ist es das erste mal, daß der Mist dem Frühling die Rose machen hilft?

Diese Antworten gab sich Marius und erklärte, daß sie die richtigen seien. In Bezug auf alle die angedeuteten Punkte hatte er es nicht gewagt, in Jean Valjean zu dringen, ohne daß er sich selbst diesen Mangel an Muth eingestand. Er betete Cosette an, sie war die Seine, sie war hoch erhaben über allem Verdacht. Das genügte ihm. Welcher Aufklärung hätte er nun noch bedurft? Wozu eine so lichtvolle Gestalt beleuchten? Er hatte Alles; was konnte er noch wünschen? Alles! Ist das nicht genug? Jean Valjeans persönliche Angelegenheiten gingen ihn nichts an. Aus Allem, was der Unglückliche ihm gesagt hatte, griff er sich eine feierliche Erklärung heraus, an die er sich fest anklammerte: »Ich bin nicht mit Cosette verwandt. Vor zehn Jahren wußte ich nicht, daß sie existirte.«

Jean Valjean hatte selber gesagt, daß er in Cosettens Leben nur vorübergehend eingegriffen. Jetzt war seine Rolle ausgespielt. Jetzt war Marius dazu berufen, als ihre Vorsehung aufzutreten. Cosette war zum Aether emporgestiegen und hatte dort ihren Geliebten, ihren Gatten, ihr männliches Gegenbild wiedergefunden. Indem sie ihre Flügel entfaltete, hatte sie, ein lieblicher Schmetterling, ihre häßliche Puppe, Jean Valjean, auf der Erde zurückgelassen.

In welchem Ideenkreise sich Marius auch herumdrehte, er kam immer auf einen gewissen Abscheu zurück, den er Jean Valjean gegenüber empfand. Ein Abscheu, dem Ehrfurcht beigemischt war, denn er fühlte, wie schon angedeutet, daß dieser Mann ein quid divinum barg. Denn mochte er alles drehen und wenden wie er wollte, um es zum Guten auslegen zu können, er mußte doch immer das fest halten, daß Jean Valjean ein Sträfling war, d. h. einer von denen, die auf der Stufenleiter der menschlichen Gesellschaft keine Stelle haben, da sie unter der letzten Sprosse stehen. Der Zuchthäusler kommt erst nach dem Letzten, wird so zu sagen von den Lebenden nicht für Ihresgleichen gehalten. Das Gesetz hat ihn desjenigen Quantums Menschenthum, das es einem Menschen nehmen kann, für verlustig erklärt. Marius aber stand noch, obgleich Demokrat, auf dem alten Standpunkt des unerbittlichen Strafgesetzbuches und hatte über Diejenigen, die das Gesetz bestraft, die Ideeen des Gesetzes. Er stand leider noch nicht in jeder Hinsicht auf der Höhe des Fortschritts. Er war noch nicht so weit, daß er zwischen dem, was vom Menschen und dem was von Gott geschrieben ist, zwischen dem Gesetz und der Gerechtigkeit, hätte einen Unterschied machen können. Er hatte das Recht, das der Mensch sich herausnimmt, eine unwiderrufliche und nicht wieder gut zu machende Entscheidung zu treffen, noch nicht geprüft und gewogen. Das Wort »Ahndung« empörte ihn nicht. Er fand es selbstverständlich, daß auf gewisse Uebertretungen des Gesetzes lebenslängliche Strafen folgen und er billigte die Erklärung in die gesellschaftliche Acht als Civilisationsmittel. Dies war damals sein Standpunkt, denn er war sicher dazu berufen, späterhin weiter vorzuschreiten, da er von Natur gut und in seinem Innersten voll latenten Fortschritts war.

Indem er ihn von diesem Gesichtspunkte aus betrachtete, war Jean Valjean für ihn eine anormale und abstoßende Erscheinung, ein Verworfener, ein »Galeerensklave.« Letzteres Wort war bei ihm gleichbedeutend mit einem Trompetenstoß des jüngsten Gerichts und nachdem er über Jean Valjean lange nachgedacht, wandte er zuletzt das Haupt von ihm ab: »Weiche von mir, Satanas!«

Es muß anerkannt und sogar hervorgehoben werden, daß Marius, obgleich er Jean Valjean mit einigem Nachdruck ausgeforscht hatte, es doch unterließ, zwei oder drei entscheidende Fragen an ihn zu stellen. Nicht als ob sie sich nicht seinem Geiste dargeboten hätten, aber er hatte sich gefürchtet, sie zu äußern. Wie erklärte Jean Valjean sein Verhalten in der Jondrette’schen Räuberhöhle, auf der Barrikade und gegenüber Javert? Wer weiß, wohin die Enthüllung dieser Geheimnisse geführt hätte? Jean Valjean war wohl nicht der Mann, der feige zurückweicht, und wer weiß, ob Marius, nachdem er ihn vorwärts getrieben, nicht gewünscht haben würde, er könnte ihn zurückhalten? Ist es nicht uns Allen in gewissen, entscheidungsvollen Lagen passirt, daß wir eine Frage gethan und uns dann die Ohren zugehalten haben, um die Antwort nicht zu hören? Besonders wenn die Frage Jemand betrifft, den wir lieben, sind derartige Anwandlungen von Feigheit gewöhnlich. Es ist nicht vernünftig, gefährliche Geheimnisse zu gründlich erforschen zu wollen, besonders wenn dadurch die Grundlagen unseres eigenen Glückes erschüttert werden könnten. Wenn Jean Valjean zur Verzweiflung getrieben wurde, so konnte er irgend eine entsetzliche Aufklärung liefern, die vielleicht Cosette selber geschadet hätte. Wer weiß, ob dabei nicht etwas Höllenunflat auf die Stirn des Engels gespritzt worden wäre? Geht doch das Schicksal bisweilen solidarisch vor gegen das Verbrechen und die Unschuld und an dem Reinsten kann etwas haften bleiben, wenn er lange mit dem Gemeinen in Berührung gewesen ist. Mit Recht oder Unrecht also war Marius der Sache nicht auf den Grund gegangen. Er wußte ohnehin schon zu viel und es war ihm mehr daran gelegen, sich zu betäuben, als klar zu sehen. Erschrocken wie er war, rettete er bloß seine Cosette und lenkte von Jean Valjean seinen Blick ab.

Bei dieser Gemüthsverfassung verursachte Marius der Gedanke, daß solch ein Mensch zu Cosette in irgend welchen Beziehungen stehen sollte, große Verlegenheit und Pein. Jetzt machte er sich beinahe Vorwürfe, weil er nicht jene gefährlichen Fragen gestellt hatte, vor denen er zurückgewichen war und die ihm vielleicht Anlaß gegeben hätten, eine schroffe und definitive Entscheidung zu treffen. Er fand, daß er zu gut, zu milde, ja gerade herausgesagt, zu schwach gewesen sei. Diese Schwäche hatte ihn zu einem unklugen Zugeständniß verleitet. Er hatte sich erweichen lassen und das war eine Thorheit. Es wäre besser gewesen, er hätte Jean Valjeans Bitte einfach abgelehnt. Wie man einen Theil eines brennenden Hauses dem Feuer überläßt und seine Kräfte auf die Rettung des andern Theiles konzentrirt, so hätte er Jean Valjean opfern, ihn sich vom Halse schaffen sollen. Er war ärgerlich über sich, er zürnte den Empfindungen, die so plötzlich auf ihn eingestürmt waren, daß sie ihn betäubt, geblendet und ihn in ihrem Wirbel mit sich fortgerissen hatten. Kurz, er war unzufrieden mit sich selber.

Was sollte er jetzt thun? Jean Valjeans Besuche waren ihm im Grunde der Seele zuwider. Was konnte dabei Gutes herauskommen? In Bezug auf diesen Punkt betrog er sich selber und hütete sich geflissentlich das moralische Problem zu prüfen und in die Tiefen seines Innern zu blicken. Er hatte sich ein Versprechen abdringen lassen, aber Jean Valjean hatte doch nun einmal sein Wort und selbst wenn man einem Galeerensklaven, ja besonders wenn man einem Galeerensklaven sein Wort gegeben hat, soll man es halten. Indessen gingen seine Pflichten gegen Cosette vor. In der Hauptsache aber bestimmte ihn die Abneigung gegen Jean Valjean.

Alle diese Gedanken gelangten ihm nur unklar ins Bewußtsein, lösten sich gegenseitig ab und erregten ihn gleich heftig, so daß er sich stark beunruhigt fühlte. Diese Gemüthsaufregung vor Cosette zu verbergen fiel ihm nicht leicht, aber die Liebe ist eine gute Lehrerin und Marius brachte es fertig.

Um Uebrigen fragte er noch, ohne Absicht merken zu lassen, Cosette aus, die nichts ahnte und ihm unbefangen, unschuldsvoll wie ein Täubchen antwortete; er veranlaßte sie, ihm alles Mögliche über ihre Vergangenheit zu erzählen und überzeugte sich mehr und mehr, daß der ehemalige Insasse des Zuchthauses in jeder Hinsicht liebevoll, väterlich und ehrenhaft an ihr gehandelt hatte. Alles, was Marius geahnt und vorausgesetzt hatte, erwies sich als wirklich. Die häßliche Nessel hatte die Lilie geliebt und beschützt.

Es nachtet schwärzer

Das Zimmer im Erdgeschoß

Am folgenden Tage klopfte Jean Valjean bei Einbruch der Nacht an die Hausthür bei Gillenormand. Sie wurde ihm von Baske aufgemacht. Dieser hielt sich in eben diesem Augenblick auf dem Hofe auf, als wäre ihm das so befohlen worden. Es kommt ja bisweilen vor, daß man zu einem Diener sagt: »Passen Sie auf, wenn Herr So und So kommt.«

Ohne zu warten bis Jean Valjean an ihn herankam, redete Baske ihn an:

»Der Herr Baron haben mir befohlen zu fragen, ob Sie oben hinaufzugehen oder unten zu bleiben wünschen?«

»Ich will unten bleiben,« antwortete Jean Valjean.

Baske, der es übrigens nicht an dem nöthigen Respekt fehlen ließ, machte die Thür des niedrigen Zimmers auf und sagte: »Ich werde die Frau Baronin benachrichtigen.«

Das Zimmer, das Jean Valjean betrat, war ein gewölbter und feuchter Raum, der gelegentlich als Vorrathskeller diente, nach der Straße hinausging, mit rothen Steinplatten gepflastert war und durch ein mit Eisenstäben vergittertes Fenster ein ungenügendes Licht empfing.

Dieses Zimmer gehörte nicht zu denen, die durch den Staubwedel, Abstäuber und Besen beunruhigt werden. Der Staub wurde hier unbehelligt gelassen. Ebenso hatten die Spinnen hier keine Verfolgung zu fürchten. Am Fenster prangte ein schönes, hübsch schmutziges, mit toten Fliegen geziertes Gewebe. In der einen Ecke des kleinen und niedrigen Raumes lag ein Haufen leerer Flaschen. Von dem gelben Ocker, womit die Wände abgeputzt waren, hatten sich große Stücken abgelöst und lagen an der Erde. Im Hintergrunde sah man einen schwarz angestrichenen Holzkasten mit einer schmalen Abdeckungsplatte. Es brannte ein Feuer darin; man hatte also darauf gerechnet, daß Jean Valjean antworten würde, er wolle unten bleiben.

An den beiden Ecken des Kamins standen zwei Lehnstühle, zwischen denen, an Stelle eines Teppichs, ein überaus schäbiger Bettvorleger ausgebreitet war.

Erleuchtet war der Raum durch das Kaminfeuer und das Dämmerlicht, das durch das Fenster hereinfiel.

Jean Valjean war sehr abgespannt. Seit mehreren Tagen hatte er weder gegessen noch geschlafen. Er sank matt auf einen der Lehnstühle nieder.

Baske kam wieder, stellte eine brennende Kerze auf das Kamingesims und ging wieder hinaus. Jean Valjean, der den Kopf auf die Brust gesenkt hielt, bemerkte weder Baske noch das Licht.

Plötzlich fuhr er in die Höhe. Cosette stand hinter ihm.

Er hatte sie nicht hereinkommen sehen, aber er fühlte, daß sie da war.

Er wandte sich um und betrachtete sie. Sie war anbetungswürdig schön. Aber was er an ihrem tiefen Blick bewunderte, war nicht die Schönheit der Augen, sondern die Seele, die aus ihnen sprach.

»Vater,« rief Cosette, »ich wußte ja, daß Du ein Original bist, aber daß Du solch einen Einfall haben würdest, darauf war ich denn doch nicht gefaßt. Nein, so etwas! Marius sagte mir, Du willst, daß ich Dich hier empfange.«

»Ganz richtig. Ich wünschte es.«

»Die Antwort hatte ich erwartet. Gut. So benachrichtige ich Dich, daß ich Dir den Text lesen werde. Fangen wir mit dem Anfang an. Vater, gieb mir einen Kuß.«

Dabei hielt sie ihm die Wange hin.

Aber Jean Valjean blieb unbeweglich.

»Ich konstatire, daß Du Dich nicht rührst. Aus Schuldbewußtsein. Aber ich verzeihe Dir. Jesus Christus hat gesagt: Haltet die andre Wange hin. Da!«

Damit bot sie ihm die andre Wange dar.

Jean Valjean regte sich nicht. Es war, als wären seine Füße am Boden festgenagelt.

»Nun wird die Sache aber ernsthaft. Was habe ich Dir denn gethan? Ich erkläre, daß ich böse bin. Du mußt etwas thun, um mich zu versöhnen. Bleibe heute zu Tisch.«

»Ich habe schon gespeist.«

»Das ist nicht wahr. Ich werde Herrn Gillenormand bitten, daß er Dich ausschilt. Die Großväter sind dazu da, daß sie die Väter abkanzeln. Vorwärts. Komme mit mir in den Salon hinauf. Auf der Stelle!«

»Geht nicht.«

Jetzt wurde Cosette etwas perplex. Sie hörte auf zu kommandiren und fing an Fragen zu thun.

»Warum denn aber? Und Du suchst Dir, um mich zu sprechen, das häßlichste Zimmer des Hauses aus. Hier ist’s greulig.«

»Du weißt … Sie wissen, Frau Baronin, daß ich meine Eigenheiten, meine Schrullen habe.«

Cosette schlug ihre Hände gegen einander.

»Sie wissen! … Frau Baronin! … Das ist ja wieder was Neues! Was soll denn das heißen?«

Jean Valjean betrachtete sie mit jenem schmerzlichen Lächeln, zu dem er bei gewissen Gelegenheiten seine Zuflucht nahm.

»Sie haben Frau Baronin werden wollen. Sie sind es jetzt … Also …«

»Für Dich, Vater, bin ich nicht Frau Baronin.«

»Nennen Sie mich nicht mehr Vater.«

»Wie?«

»Nennen Sie mich ›Herr Jean.‹ Oder einfach ›Jean,‹ wenn Sie wollen.«

»Du heißt nicht mehr ›Vater?‹ Ich bin nicht mehr ›Cosette?‹ Herr Jean? Was soll das bedeuten? Das ist ja eine Revolution! Was ist denn vorgefallen? Sieh mir doch einmal gerade ins Gesicht. Und Du willst nicht bei uns bleiben. Du willst das Zimmer nicht annehmen, das ich Dir angeboten habe. Was in aller Welt habe ich Dir denn gethan? Ist denn irgend etwas passirt …?«

»Nein.«

»Nun also?«

»Alles ist wie gewöhnlich.«

»Warum nimmst Du einen andern Namen an?«

»Du hast ja auch einen andern angenommen.«

Er lächelte abermals wehmüthig und fügte hinzu:

»Da sie die Frau Baronin Pontmercy sind, kann ich wohl auch Herr Jean sein.«

»Das verstehe ich nicht. Das ist alles Unsinn. Ich werde meinen Mann um die Erlaubniß bitten, daß Du Herr Jean genannt werden sollst. Selbstredend wird er nicht seine Einwilligung dazu geben. Du betrübst mich sehr. Man darf Grillen haben, aber nicht seinem Cosettchen Kummer bereiten. Das ist gar nicht hübsch von Dir. Wenn man so gut ist wie Du, hat man nicht das Recht, sich so häßlich zu benehmen.«

Er gab keine Antwort.

Sie ergriff lebhaft seine beiden Hände, hob sie unwiderstehlich zu ihrem Gesicht empor und drückte sie unter ihr Kinn und gegen ihren Hals, ein Zeichen innigster Zärtlichkeit.

»O sei gut!« bat sie. »Mit gut sein meine ich, Du sollst nett gegen mich sein, zu uns ziehen, es giebt hier Vögel so gut, wie in der Rue Plumet — mit uns zusammenleben, Dein abscheuliches Loch von Wohnung aufgeben, uns keine Räthsel aufgeben, so sein wie Andre, mit uns speisen, mein Vater sein.«

Er machte seine Hände aus den ihrigen los.

»Sie brauchen keinen Vater mehr, nun Sie einen Mann haben.«

Jetzt wurde Cosette böse.

»Ich brauche keinen Vater mehr? Man weiß wirklich nicht, was man dazu sagen soll. Das hat ja keinen Sinn und Verstand!«

»Wenn die Toussaint hier wäre,« hob Jean Valjean wieder an, wie Einer, der sich nicht mehr zu helfen weiß und sich auf Andre beruft, »so würde sie bestätigen, daß ich von jeher meine Besonderheiten gehabt habe. Also das ist nichts Neues. Meine Wohnung ist gut genug für mich.«

»Aber hier ist es kalt und nicht hell. Wie abscheulich, daß Du Herr Jean genannt werden willst. Ich will nicht, daß Du Sie zu mir sagst.«

»Auf dem Wege hierher,« antwortete Jean Valjean, »habe ich in der Rue Saint Louis bei einem Tischler ein allerliebstes Möbel gesehen, das ich mir zulegen würde, wenn ich eine hübsche, junge Dame wäre, einen sehr eleganten Toilettentisch im modernen Geschmack, — was man Rosenholz nennt, glaube ich. Mit Inkrustationen, einem sehr großen Spiegel und Schubladen. Etwas wirklich Hübsches.«

»Brr! Solch ein abscheulicher Bär!« erwiderte Cosette.

Und anmuthig wie eine Grazie, die eine Katze nachahmt, biß sie die Zähne zusammen, entfernte die Lippen von einander und fauchte Jean Valjean an.

»Ich bin wüthend,« hob sie wieder an. »Seit gestern bringt Ihr mich um alle Geduld. Ich begreife nicht, was Ihr Alle habt. Du vertheidigst mich nicht gegen Marius und Marius nimmt mich nicht gegen Dich in Schutz. Ich stehe jetzt ganz allein da. Ich richte ein Zimmer auf’s hübscheste ein. Hätte ich den lieben Gott darin aufstellen können, ich hätt’s gethan. Aber sieh da! Ich behalte mein Zimmer. Mein Miether läßt mich sitzen. Ich bestelle bei Nicolette ein gutes Abendessen — Frau Baronin, ich mag Ihr Essen nicht. Und mein Vater Fauchelevent will, daß ich ihn ›Herr Jean‹ nenne und daß ich ihn in einem scheußlichen, alten, häßlichen Keller empfange, wo die Wände mit Schimmel verziert und die Krystalle durch leere Flaschen, die Vorhänge durch Spinngewebe ersetzt sind. Daß ein Mensch seine Eigenheiten hat, lasse ich mir gefallen, — Du bist nun einmal so — aber jungen Eheleuten gewährt man einen Waffenstillstand. Du hättest Deine Originalität wenigstens nicht gleich wieder hervorholen sollen. Du fühlst Dich also in Deiner greuligen Rue de l’ Homme-Armé recht glücklich? Mir hat sie weniger gefallen. Ich dachte, ich müßte umkommen. Was hast Du gegen mich? Du betrübst mich sehr. Schäme Dich!«

Und indem sie plötzlich ernst wurde, fixirte sie Jean Valjean und fuhr fort:

»Bist Du denn böse auf mich, weil ich glücklich bin?«

Die Naivität dringt oft, ohne daß sie es ahnt, tief ein. Auch diese Frage, bei der sich Cosette nichts dachte, that Jean Valjean sehr wehe. Statt zu ritzen, zerfleischte Cosette sein Herz.

Er erblaßte und schwieg eine Weile, dann sprach er in einem unbeschreiblichen Tone vor sich hin:

»Ihr Glück war der Zweck meines Lebens. Jetzt kann Gott mich entlassen. Cosette, nun Du glücklich bist, ist meine Zeit aus.«

»Bravo! Du hast ›Du‹ gesagt!« rief sie und fiel ihm um den Hals.

Außer sich vor Rührung drückte er sie an seine Brust. Es war ihm fast, als wäre sie wieder sein.

»Ich danke Dir, Vater!« rief sie.

Die Wehmuth drohte Jean Valjean zu überwältigen. Er machte sich sanft aus Cosettens Armen los und ergriff seinen Hut.

»Was soll denn das?« fragte Cosette.

Jean Valjean antwortete:

»Ich gehe, Frau Baronin, man wartet auf Sie.«

Und auf der Thürschwelle fügte er hinzu:

»Ich habe Du zu Ihnen gesagt. Sagen Sie Ihrem Herrn Gemahl, daß es nicht wieder vorkommen soll. Verzeihen Sie.«

Jean Valjean ging hinaus und ließ Cosette im größten Erstaunen über diesen räthselhaften Abschied zurück.

Weiter rückwärts

Den folgenden Tag kam Jean Valjean zu derselben Stunde.

Cosette that keine Fragen mehr, wunderte sich nicht mehr, klagte nicht mehr, sie friere, forderte ihn nicht mehr auf in den Salon zu kommen; auch vermied sie ihn mit »Du« oder mit »Herr Jean« anzureden und ließ sich siezen und Frau Baronin nennen. Aber sie war nicht so heiter wie sonst. Sie wäre geradezu traurig gewesen, wenn Traurigkeit in ihrer Art gelegen hätte.

Wahrscheinlich hatte sie mit Marius eine jener Auseinandersetzungen gehabt, und Erklärungen erhalten, die nichts erklärten, die sie aber beschwichtigten, da sie von dem Mann ihrer Liebe kamen. Die Neugierde Liebender geht nicht weit hinaus über ihre Liebe.

Der Raum im Erdgeschoß sah etwas anständiger aus. Baske hat die Flaschen und Nicolette die Spinngewebe weggeräumt.

Jeder folgende Abend brachte Jean Valjean zu derselben Stunde zurück. Er kam tagtäglich, weil er nicht den Muth hatte, Marius’ Zusage anders als buchstäblich zu nehmen. Marius richtete sich so ein, daß er, wenn Jean Valjean kam, nicht zu Hause war. Die Hausgenossen gewöhnten sich an Herrn Fauchelevent’s neue Eigenheit, wozu die Toussaint das Ihrige beitrug. »Herr Fauchelevent ist immer so gewesen,« wiederholte sie oft. Der Großvater that den Ausspruch: Er ist ein sonderbarer Kauz. Und damit war alles abgemacht. Wenn man über neunzig Jahre alt ist, hat man nicht mehr das Zeug dazu Freundschaften zu schließen und läßt sich eine neue Bekanntschaft nur gefallen, empfindet sie aber stets als etwas Unbequemes. Die alten Gewohnheiten sind tief eingewurzelt und lassen keinen Platz für neue. Ob er Fauchelevent oder Tranchelevent hieß, Vater Gillenormand war es recht, wenn er mit dem Herrn nichts zu thun bekam. Er meinte auch: »Nichts ist gewöhnlicher als Originale. Sie begehen alle Arten von Verrücktheiten. Ohne irgend welchen Grund. Der Marquis von Canaples trieb es noch ärger. Der kaufe sich einen Palast und wohnte auf dem Boden. Mit derartigen Phantastereien bezwecken die Leute weiter nichts, als daß sie etwas Besondres vorstellen möchten.«

Niemand ahnte den schaurigen Untergrund dieses Verhaltens. Wer hätte auch auf einen solchen Gedanken kommen können? Es giebt in Indien Sümpfe von ähnlicher Natur. Das Wasser bewegt sich und zittert in ungewöhnlicher Weise; man spürt keinen Wind und doch sieht man Wellen. Man weiß eben nicht, daß unten eine Schlange lauert, die das Wasser an der Oberfläche in Wallung bringt.

Viele Menschen haben solch ein heimliches Ungethüm, ein Unglück, das sie mit sich herumtragen, einen Drachen, der ihnen das Herz zernagt, eine Verzweiflung, die sie nie losläßt. Mancher Mensch benimmt sich in der Gesellschaft wie die Andern. Man weiß nicht, daß dieser Mensch ein Abgrund mit stillem, aber tiefem Wasser ist. Von Zeit zu Zeit findet eine Aufwallung des Wassers statt, die man sich nicht erklären kann. An der Oberfläche zeigt sich eine geheimnißvolle Falte, die verschwindet und dann wieder auftritt; zugleich steigt eine Luftblase in die Höhe und zerplatzt. Das sieht nach nichts aus und ist doch etwas Schreckliches, nähmlich der Athem der unbekannten Bestie.

Gewisse absonderliche Gewohnheiten z. B. zu der Zeit zu kommen, wo die Andren gehen, sich im Hintergrund zu halten, wenn die Andern sich vordrängen, bei allen Gelegenheiten sich in die Ecken zu drücken, einsame Alleen aufzusuchen, öde Straßen vorzuziehen, nicht an der Unterhaltung theilzunehmen, den Festen aus dem Wege zu gehen, wohlhabend zu sein und armselig zu leben, durch Nebenthüren ins Haus zu kommen, — alle diese unbedeutenden Eigenthümlichkeiten sind oberflächliche Wallungen, Luftblasen und haben oft eine traurige Ursache.

So vergingen mehrere Wochen. Ein neues Leben bemächtigte sich allmählich Cosettens; gesellschaftliche Verbindungen und Beschäftigungen, wie die Ehe, die Besuche, der Haushalt, die Vergnügen, die etwas so Wichtiges sind. Cosettens Vergnügungen waren nicht kostspielig; sie bestanden in einem einzigen Vergnügen, dem Beisammensein mit Marius. Mit ihm ausgehen, bei ihm bleiben war ihre Hauptsorge. Es war für sie eine immer neue Freude, daß sie jetzt Arm in Arm, am hellen, lichten Tage, auf offener Straße sich beide zusammen und ohne Begleiter sehen lassen durften. Unangenehmes passirte ihr freilich auch. Die Toussaint konnte sich nicht mit der andern, alten Jungfer der Nicolette, vertragen und kündigte den Dienst. Im übrigen ging alles seinen ruhigen Gang. Der Großvater war gesund; Marius bekam etwas Praxis; Tante Gillenormand führte in dem neuen Haushalt das alte, von den Hauptinteressen des Lebens abseits gelegene Dasein, das zu ihrem Glück genügte. Jean Valjean kam alle Tage.

Die Abschaffung des Du, das Siezen, die Anrede »Frau Baronin« und »Herr Jean« bewirkte, daß er für Cosette ein Andrer wurde. Die Mühe, die er selber sich gegeben, damit sie sich von ihm losmachen sollte, war erfolgreich. Sie wurde allmählich immer lustiger und weniger zärtlich. Indessen hatte sie ihn noch immer sehr gern und er fühlte das. Eines Tages sagte sie plötzlich zu ihm: »Früher waren Sie mein Vater und jetzt sind Sie es nicht mehr; dann waren Sie mein Onkel und sind es jetzt auch nicht mehr; ursprünglich hießen Sie Herr Fauchelevent und jetzt sind Sie Herr Jean. Wer sind Sie eigentlich? Alle die Geschichten gefallen mir nicht. Wüßte ich nicht, wie gut Sie sind, — ich würde mich vor Ihnen fürchten.«

Er blieb in der Rue de l’ Homme-Armé wohnen, da er sich nicht dazu entschließen konnte, das Stadtviertel zu verlassen, in dem Cosette wohnte.

In der ersten Zeit hielt er sich bei Cosette nur wenige Minuten auf.

Allmählich aber nahm er die Gewohnheit an, sich nicht mit kurzen Besuchen zu begnügen; es schien, als mache er sich den Umstand, daß die Tage länger wurden, zu Nutze, um früher zu kommen und später zu gehen.

Eines Tages entschlüpfte Cosette die Anrede »Vater«. Ein Freudenstrahl erhellte das düstre Gesicht des alten Jean Valjean. Er korrigirte den Irrthum: »Sagen Sie Jean.«

»Ach ja!« rief sie und lachte, »Herr Jean«. — »So ist’s recht!« erwiederte er und wandte sich ab, damit sie nicht sehe, wie er sich die Augen trocknete.

Sie erinnern sich des Gartens in der Rue Plumet

Es war das letzte Mal, daß die alte Herzlichkeit wieder neu aufflammte; aber dann erlosch sie vollständig. Keine Vertraulichkeit, kein Kuß, kein »lieber Vater!« mehr. Aller dieser, seinem Herzen so theuren Gewohnheiten mußte er sich, wie er selber es gewollt und betrieben hatte, nach einander entäußern und es widerfuhr ihm das Weh, daß nachdem er an einem Tage Cosette ganz verloren, er sie dann noch einmal stückweise verlieren mußte.

Das Auge gewöhnt sich im Laufe der Zeit an Kellerlicht. Zu seinem Glück genügte es schließlich, wenn er einmal täglich mit Cosette zusammen kam. Sein ganzes Leben konzentrirte sich auf diese Stunde. Er setzte sich neben sie, sah sie schweigend an oder sprach auch mit ihr von der Vergangenheit, ihrer Kindheit, dem Kloster, ihren damaligen kleinen Freundinnen.

Eines Nachmittags — es war an einem der ersten Tage des Aprilmonats, das Wetter ließ sich milde an, es war die Zeit, wo uns die Sonne am meisten erfreut; die Gärten, die vor Marius und Cosettens Fenster lagen, hatten das Gefühl des Erwachens; der Hagedorn begann zu sprießen; die Levkoyen entfalteten ihre Farbenpracht auf den alten Mauern; die Löwenmäuler gähnten in den Spalten der Steine; aus dem Grase fingen die reizenden Maßliebchen und Butterblumen an hervorzulugen; die weißen Schmetterlinge flatterten schon herum; der Wind, der Minnesänger der ewigen Hochzeit, stimmte in den Bäumen die ersten Töne jener großen Morgensymphonie an, die von den Dichtern der Lenz genannt wird — an einem solchen Tage also sagte Marius zu Cosette: »Wir haben abgemacht, daß wir unsern Garten in der Rue Plumet einmal besuchen wollten. Thuen wir das. Der Mensch soll nicht undankbar sein.« — Und sie eilten davon wie zwei Schwalben, die dem Frühling nachfliegen. Der Garten erinnerte sie an den Anfang ihres Glücks, denn den Lenz ihrer Liebe hatten sie ja damals schon hinter sich. Da der Miethskontrakt für das Haus in der Rue Plumet noch nicht abgelaufen war, so konnten sie sich ungestört in dem Garten ergehen. Sie thaten es und vergaßen alles andere darüber. Als sich am Abend Jean Valjean zu der gewöhnlichen Stunde in der Rue des Filles-du-Calvaire einfand, sagte Baske: »Die Frau Baronin ist mit dem Herrn Baron ausgegangen und noch nicht wiedergekommen.« — Jean Valjean setzte sich schweigend und wartete eine Stunde lang. Cosette kam nicht zurück. Da ließ er den Kopf hängen und ging fort.

Cosette war über ihren Spaziergang in »ihrem Garten« so entzückt und so froh »einen ganzen Tag in ihrer Vergangenheit gelebt« zu haben, daß sie den nächsten Tag von nichts Anderem sprach. Sie wurde es garnicht gewahr, daß sie Jean Valjean nicht gesehen hatte.

»Wie haben Sie Sich dahin begeben?« fragte Jean Valjean.

»Zu Fuß.«

»Und zurück?«

»In einer Droschke.«

Seit einiger Zeit fiel es Jean Valjean auf, daß die jungen Leute sich einschränkten, was ihm Sorge machte. Marius beobachtete eine strenge Sparsamkeit und diese Strenge hatte eine Beziehung auf Jean Valjean. Er nahm sich daher bei dieser Gelegenheit die Freiheit, eine Frage zu thun.

»Warum halten Sie Sich nicht einen eignen Wagen? Ein hübsches Coupé würde Ihnen nur fünfhundert Franken pro Monat kosten. Sie sind ja reich.«

»Ich weiß nicht,« antwortete Cosette.

»Mit der Toussaint ist es ebenso. Sie ist weggegangen und Sie haben sie nicht ersetzt. Warum nicht?«

»Nicolette genügt mir.«

»Aber Sie könnten eine Kammerfrau brauchen.«

»Habe ich nicht Marius?«

»Sie sollten ein eignes Haus haben, sich eigne Diener, eine Equipage halten, auf eine Loge im Theater abonnirt sein. Nichts ist zu gut für Sie. Warum ziehen Sie keinen Nutzen daraus, daß Sie reich sind? Der Reichthum ist eine angenehme Zugabe zum Liebesglück.«

Cosette antwortete nicht.

Jean Valjeans Besuche wurden nicht kürzer. Im Gegenteil. Wenn das Herz ausgleitet, kann man auf der schiefen Ebene nicht anhalten.

Wenn Jean Valjean seinen Besuch in die Länge ziehen wollte, stimmte er, damit Cosette nicht an die Uhr dächte, ein Loblied auf Marius an, und erklärte ihn für einen hübschen, edlen, muthigen, geistreichen, beredten, guten Mann. Dann überbot ihn Cosette und gab Jean Valjean Gelegenheit, das Thema von Neuem anzufangen, Marius war ein unerschöpfliches Wort; es hätten sich ebenso viel Bände über ihn schreiben lassen, als sein Name Buchstaben hatte. Auf diese Weise machte es Jean Valjean möglich, daß er recht lange bleiben durfte. Cosette zu sehen, in ihrer Nähe sein Leid zu vergessen, war für ihn das höchste Glück, war Balsam für seine Wunde. — Es kam mehrere Mal vor, daß Baske Cosette mahnen mußte: »Herr Gillenormand läßt die Frau Baronin daran erinnern, daß das Essen aufgetragen ist.«

An solchen Tagen kehrte Jean Valjean mit trüben Gedanken nach Hause.

War denn etwas Wahres an dem Vergleich, den Marius zwischen ihm und der Schmetterlingslarve gemacht hatte? War Jean Valjean wirklich eine Larve, die seinen niedlichen Schmetterling nicht loslassen wollte?

An einem Tage blieb er noch länger als gewöhnlich. Da bemerkte er am folgenden Tage, daß im Kamin kein Feuer brannte. — »Sieh da! Nicht geheizt!« dachte er und fand bald eine sehr einfache Erklärung: »Wir sind ja im April. Da ist es nicht mehr kalt.«

»Gott! Wie kalt es hier ist!« rief Cosette beim Hereintreten.

»Ei bewahre!« entgegnete Jean Valjean.

»Also Sie haben Baske gesagt, er soll nicht heizen?«

»Ja. Wir sind bald im Mai.«

»Aber es wird doch bis Juni geheizt. In diesem Keller kann man den Kamin das ganze Jahr nicht entbehren.«

»Ich habe gedacht, das Feuer wäre überflüssig.«

»Diese Idee sieht Ihnen ähnlich!« meinte Cosette.

Am folgenden Tage war der Raum geheizt. Aber die beiden Lehnstühle standen am andern Ende in der Nähe der Thür.

»Was mag das bedeuten?« dachte Jean Valjean.

Er holte die Stühle und stellte sie an ihren alten Platz, vor den Kamin.

Der Umstand, daß das Zimmer wieder geheizt war, ermuthigte ihn indessen. Er zog das Gespräch noch mehr als gewöhnlich in die Länge. Da sagte Cosette, als er aufstand, um sich zu verabschieden:

»Mein Mann hat gestern etwas recht Sonderbares zu mir gesagt.«

»Was denn?«

Er meinte: »Cosette, wir haben dreißigtausend Franken jährliches Einkommen. Siebenundzwanzigtausend von Deinem Vermögen und dreitausend, die mir Großvater jährlich giebt. Ich antwortete: ›Das macht dreißigtausend.‹ Da sagte er, ›Hättest Du den Muth, Dich mit meinen dreitausend zu behelfen?‹ Ich antwortete: ›Ja, mit gar nichts, wenn ich nur bei Dir bleiben könnte.‹ Und dann fragte ich: ›Warum sagst Du das?‹ ›Der Wissenschaft wegen,‹ antwortete er.«

Jean Valjean fand kein Wort der Erwiederung. Cosette erwartete wahrscheinlich von ihm irgend eine Erklärung; er aber hörte ihr mit düsterem Stillschweigen zu. Er ging nach Hause und war so tief in Gedanken versunken, daß er in das Nebenhaus ging, statt in das seine. Erst nachdem er beinahe zwei Treppen hinaufgestiegen war, merkte er, daß er sich geirrt hatte und ging wieder hinunter.

Er quälte sich mit allerlei Vermuthungen. Offenbar hatte Marius Zweifel über den Ursprung der sechshundert tausend Franken. Wer weiß, vielleicht fürchtete er, das Geld stamme aus einer unreinen Quelle, vielleicht hatte er gar herausgebracht, daß es von ihm, Jean Valjean kam; und hegte diesem verdächtigen Vermögen gegenüber Bedenken, mochte es nicht behalten und wollte lieber arm bleiben, er und Cosette, als einen zweideutigen Reichthum besitzen.

Außerdem hatte Jean Valjean das Gefühl, daß man ihn sich vom Halse schaffen wollte.

Am folgenden Tage gab es ihm sozusagen einen Ruck, als er das Erdgeschoß betrat. Die Lehnsessel waren verschwunden. Nicht einmal ein Stuhl war zu sehen.

»Was ist denn das?« rief Cosette, als sie hereinkam. »Keine Sessel! wo sind denn die Sessel?«

»Sie sind nicht mehr da,« antwortete Jean Valjean.

»Das ist stark!«

Jean Valjean stammelte:

»Ich habe Baske gesagt, er soll sie wegtragen.«

»Und aus welchem Grunde?«

»Ich bleibe heute nur einige Minuten.«

»Darum brauchen wir aber doch nicht zu stehen!«

»Ich glaube, Baske brauchte die Sessel für den Salon.«

»Warum?«

»Sie haben heute Abend gewiß Gesellschaft.«

»Keinen Menschen!«

Jean Valjean konnte kein Wort mehr sagen.

Cosette zuckte die Achseln.

»Die Sessel wegtragen zu lassen! Und neulich haben Sie das Feuer auslöschen lassen. Wie sonderbar Sie sind!«

»Leben Sie wohl,« murmelte Jean Valjean.

Er sagte nicht: »Leben Sie wohl, Cosette.« Aber er brachte es auch nicht übers Herz: »Leben Sie wohl, Frau Baronin!« zu sagen.

Er ging in tiefster Betrübniß hinaus.

Dieses Mal hatte er verstanden, was man wollte.

Am nächsten Tage kam er nicht. Cosette bemerkte es erst am Abend.

»Herr Jean,« sagte sie, »ist ja heute nicht gekommen.«

Es verursachte ihr eine gewisse Beklemmung. Sie beachtete das aber nicht und ließ sich leicht durch einen Kuß ihres Marius auf ein andres Thema bringen.

Am folgenden Tage kam er wieder nicht.

Cosette achtete nicht darauf, verlebte ihren Tag und die Nacht wie gewöhnlich und dachte erst wieder daran, als sie erwachte. Sie war ja so glücklich! Sie schickte schnell Nicolette zu Herrn Jean, um fragen zu lassen, ob er krank sei, und warum er gestern nicht gekommen wäre. Nicolette brachte auch eine Antwort von Herrn Jean. Er sei nicht krank. Er hätte viel zu thun. Er würde aber bald kommen, so bald er könnte. Auch würde er auf einige Zeit verreisen. Die Frau Baronin würde sich ja wohl noch besinnen, daß er gewohnt sei, von Zeit zu Zeit eine Reise zu machen. Man möge sich seinetwegen nicht beunruhigen.

Nicolette hatte, als sie zu Herrn Jean kam, den Auftrag mit den eignen Worten ihrer jungen Herrin ausgerichtet. »Die Frau Baronin läßt fragen, warum Herr Jean gestern nicht gekommen ist.« »Ich bin gestern und vorgestern nicht gekommen,« sagte Jean Valjean in sanftem Tone.

Aber die Berichtigung entging der Aufmerksamkeit der Magd, und wurde von ihr Cosetten gegenüber nicht erwähnt.

Ein Niedergang

Während der letzten Monate des Frühlings und der ersten Monate des Sommers 1833 bemerkten die wenigen Passanten des Maraisviertels, die Krämer und Müßiggänger, die auf den Thürschwellen standen, einen Greis in einem saubern, schwarzen Anzuge, der alle Tage zu derselben Stunde, nämlich beim Anbruch der Nacht aus der Rue de l’Homme-Armé herauskam, vor den Blancs-Manteaux und durch die Rue Culture-Sainte-Catherine ging und in der Rue de l’Echarpe nach links in die Rue Saint-Louis einbog.

Hier ging er mit langsamen Schritten, den Kopf nach vorn ausgestreckt, ohne etwas zu sehen oder zu hören, die Augen immer auf denselben Punkt gerichtet, der für ihn in eine Glorie gehüllt schien, nämlich die Ecke der Rue des Filles-du-Calvaire. Je näher er an diese Straße herankam, desto mehr leuchteten seine Augen vor innerer Freude; seine Mienen drückten innige Zärtlichkeit aus, seine Lippen machten leise Bewegungen, als spräche er mit Jemand, den er nicht sah, ein Lächeln umspielte seinen Mund und er rückte so langsam vor, wie er irgend konnte. Man hätte meinen sollen, er wünschte wohl an sein Ziel zu gelangen, fürchtete sich aber vor dem Zeitpunkt, wo er da sein würde. Wenn zwischen ihm und der Straße, die eine solche Anziehungskraft auf ihn auszuüben schien, nur noch einige Häuser lagen, verlangsamte sich sein Schritt so sehr, daß man zeitweise glauben konnte, er bewege sich überhaupt nicht. Die wackligen Bewegungen seines Kopfes und die Unbeweglichkeit seines Augapfels erinnerten an die Magnetnadel, die dem Nordpol zustrebt. So sehr er aber auch die Ankunft in die Länge zog, der gefürchtete Zeitpunkt trat doch einmal ein; er erreichte die Rue des Filles-du-Calvaire; dann blieb er stehen, zitterte, neigte sich mit einer Art schwermüthiger Zaghaftigkeit vor, sah um die Ecke des letzten Hauses herum, in die Straße hinein und es lag in diesem traurigen Blick etwas, das wie Sehnsucht nach einer unerreichbaren Herrlichkeit, wie der Wiederschein eines verschlossenen Paradieses aussah. Dann glitt eine Thräne, die sich allmählich im Augenwinkel gebildet hatte, seine Wange herab und blieb an seinem Munde hangen. Der Greis empfand ihren bittern Geschmack. So stand er mehrere Minuten lang unbeweglich wie ein Stein; herauf kehrte er auf demselben Wege und im selben Tempo zurück und in dem Maße, wie er sich weiter entfernte, erlosch sein Blick mehr und mehr.

Allmählich hörte der alte Mann auf bis zu der Ecke der Rue des Filles-du-Calvaire zu gehen; er ging nur noch bis in die Rue Saint-Louis mehr oder weniger weit hinein. Eines Tages blieb er an der Ecke der Rue Culture-Sainte-Catherine stehen und blickte von weitem nach der Rue des Filles-du-Calvaire. Dann schüttelte er still den Kopf von rechts nach links, als versagte er sich einen Wunsch und kehrte um.

Bald ging er auch nicht mehr bis zur Rue Saint-Louis. Er kam nur bis zur Rue Pavée, schüttelte den Kopf und wandte sich um. Dann wagte er sich nicht über die Rue des Trois-Pavillons hinaus, und endlich blieb er diesseit der Blancs-Manteaux stehen. Man konnte bei seinem Anblick an eine Uhr denken, die nicht aufgezogen ist und deren Pendelschwingungen allmählich an Weite abnehmen, bis sie schließlich ganz aufhören.

Alle Tage ging er zu derselben Stunde aus und nach derselben Richtung; aber er blieb vor seinem Ziele stehen und verkürzte seinen Weg beständig, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu werden. Sein ganzes Gesicht drückte den einen Gedanken: aus: »Wozu?« Das Auge erlosch allmählich und leuchtete von keiner Freude mehr. Auch die Thränen versiegten und flossen nicht mehr seine Wangen herab. Der Kopf war noch immer vorgestreckt; das Kinn bewegte sich zeitweise; die Falten an seinem magern Hals konnten Erbarmen erregen. Bisweilen, wenn das Wetter schlecht war, hatte er einen Regenschirm unter dem Arm, machte ihn aber nicht auf. Die Frauen in dem Stadtviertel sagten: Ein Schwachsinniger. Die Kinder liefen ihm nach und verlachten ihn.

Durch Nacht zum Licht

Seid mitleidig gegen die Unglücklichen, aber nachsichtig gegen die Glücklichen

Es ist ein schreckliches Ding um das Glück! Wie rasch begnügt man sich damit. Wie leicht vergißt man, wenn man das falsche Ziel des Lebens, das Glück, erreicht hat, das wahre, die Pflicht!

Indessen müssen wir sagen, daß man Marius mit Unrecht anklagen würde.

Wir haben erklärt, daß Marius vor seiner Verheiratung keine Fragen an Herrn Fauchelevent gerichtet und auch nach jener Zeit davor zurückscheute Jean Valjean auszuforschen. Er bereute es, daß er sich dazu hatte hinreißen lassen ihm ein unüberlegtes Versprechen zu geben und sagte sich unaufhörlich, daß es Unrecht von ihm gewesen sei, der Verzweiflung solch ein Zugeständniß zu machen. Er beschränkte sich demgemäß darauf, sich Jean Valjeans allmählich zu entledigen und ihn Cosetten so viel wie möglich zu entfremden. Er stellte sich gewissermaßen zwischen Cosette und Jean Valjean in der sichern Erwartung, daß sie ihn nicht bemerken und allmählich nicht mehr an ihn denken würde. In der That gelang es ihm auch, Jean Valjeans Bild in Cosettens Seele nicht bloß zu trüben, sondern ganz zu verdunkeln.

Marius that damit nur, was er für nothwendig und gerecht hielt. Indem er ohne Härte, aber auch ohne Schwäche die nöthigen Maßregeln ergriff, um Jean Valjean bei Seite zu schieben, glaubte er sich dazu berechtigt durch die schwerwiegenden Gründe, die wir schon auseinandergesetzt haben, und noch andre, die der Leser noch erfahren wird. So hatte er anläßlich eines Processes, den er zu führen übernommen, zufälliger Weise einen ehemaligen Buchhalter der Firma Laffitte kennen gelernt und, ohne sich speziell darum zu bemühen, merkwürdige Dinge erfahren, denen er allerdings, um nicht sein Wort zu brechen und nicht Jean Valjeans Sicherheit zu gefährden, nicht auf den Grund gehen durfte. Er glaubte eben damals, er habe eine heilige Pflicht zu erfüllen, nämlich die sechshundert tausend Franken einem Unbekannten den er unter Beobachtung der größten Vorsicht suchte, wieder zu erstatten. Mittlerweile tastete er dieses Geld nicht an.

Was Cosette anbetrifft, so war sie in alle diese Geheimnisse nicht eingeweiht; aber auch sie durfte man nicht verurtheilen.

Zwischen ihr und Marius bestand ein unwiderstehlicher Magnetismus, vermöge dessen sie instinktiv und beinah maschinenmäßig alles that, was er wünschte, und als sie fühlte, daß Marius in Bezug auf »Herrn Jean« irgend etwas energisch wollte, fügte sie sich diesem Willen. Ihr Mann brauchte ihr hierüber nichts zu sagen; sie empfand den ihr unbegreiflichen, aber unleugbaren Druck seiner Absichten und gehorchte blindlings. Ihr Gehorsam bestand in diesem Falle einfach darin, daß sie sich dessen, was Marius vergaß, nicht erinnerte. Es bedurfte ihrerseits dazu keiner Anstrengung. Ohne selber zu wissen warum und ohne daß man ihr deswegen hätte Vorwürfe machen können, hatte sie sich so sehr nach ihrem Mann gemodelt, daß jeder Schatten, der in Marius Gemüth fiel, auch das ihrige verdunkelte.

Gehen wir indessen nicht zu weit. In Bezug auf Jean Valjean war ihre Vergeßlichkeit nur eine oberflächliche. Sie war eher unbesonnen, eher leichtfertig, als undankbar. Im Grunde genommen liebte sie den Mann sehr, den sie so lange Zeit ihren Vater genannt hatte. Aber sie liebte ihren Mann doch noch mehr und dies hatte die Wage ihres Herzens gefälscht, nach der einen Seite allein hingeneigt.

Es geschah bisweilen, daß Cosette auf Jean Valjean zu sprechen kam und Verwundrung äußerte. Dann beschwichtigte Marius sie: »Er ist jetzt nicht in Paris, glaube ich. Er sagte ja, er würde verreisen.« — »Ach richtig!« dachte dann Cosette. Er hatte ja die Gewohnheit von Zeit zu Zeit Paris zu verlassen, Aber nicht so lange. Einige Male schickte sie auch Nicolette nach der Rue de l’Homme-Armé und ließ anfragen, ob Herr Jean von seiner Reise zurückgekehrt sei, worauf Jean Valjean Nein antworten ließ.

Damit gab sich denn Cosette zufrieden; hatte sie doch auf Erden nur ein Interesse, ihre Liebe zu Marius.

Außerdem muß auch noch erwähnt werden, daß Marius und Cosette ihrerseits nicht die ganze Zeit über in Paris geblieben waren. Sie waren nach Vernon gereist, wo Marius seine Frau zu dem Grabe seines Vaters führte.

Marius hatte also Cosette allmählich von Jean Valjean abwendig gemacht und sie hatte sich dabei passiv verhalten.

Uebrigens verdient das, was man viel zu strenge die Undankbarkeit der Kinder nennt, in manchen Fällen keineswegs besonders herben Tadel. Dieser Undank muß der Natur zur Last gelegt werden. Die Natur sieht, wie wir schon an einer andern Stelle bemerkt haben, vor sich hin. Sie theilt die menschlichen Wesen in Kommende und Gehende. Die Gehenden sind der Todesnacht, die Kommenden dem Licht des Lebens zugewendet. Daher eine Entfremdung zwischen beiden Theilen, die von den Alten nicht vermieden werden kann und die von den Jungen nicht beabsichtigt ist. Diese Trennung, die anfangs eine unmerkbare ist, nimmt langsam zu, wie die zwischen verschiednen Baumästen, die sich von einander entfernen, ohne sich darum vom Stamm los zu machen. Das ist nicht ihre Schuld. Die Jugend geht dahin, wo Fröhlichkeit herrscht, geht dahin, wo Festesglanz, wo Liebe winkt. Die Greise eilen dem Ende zu. Beide Theile verlieren sich nicht gerade aus den Augen, aber die Verbindungen zwischen ihnen ist keine feste mehr. Die jungen Leute fühlen die Abkühlung des Lebens, die Alten die Kühle des Grabes. Tadeln wir also nicht die armen Kinder.

Das letzte Aufflackern der Lampe

Eines Tages ging Jean Valjean auf die Straße hinab, that einige Schritte und setzte sich auf einen Prellstein, denselben, auf dem ihn, in der Nacht vom 5. zum 6. Juni, Gavroche gefunden hatte. Hier blieb er einige Minuten sitzen und stieg dann wieder in seine Wohnung hinauf. Dies war die letzte Schwingung des Pendels. Am folgenden Tage ging er nicht aus. Am zweitnächsten Tage stand er nicht einmal aus dem Bett auf.

Seine Portierfrau, die ihm seine bescheidne Mahlzeit bereitete, ein wenig Kohl oder Kartoffeln mit Speck, sah in den irdenen Napf und rief:

»Sie haben ja gestern nichts gegessen, Sie armer Mann!«

»Doch!« entgegnete Jean Valjean!

»Der Napf ist noch ganz voll.«

»Sehen Sie Sich den Wasserkrug an. Der ist leer.«

»Das beweist, daß Sie getrunken, aber nicht, daß Sie was gegessen haben.«

»Wenn ich aber nur Hunger auf Wasser gehabt habe?«

»Das nennt man Durst, und wenn Einer zu gleicher Zeit nichts ist, so heißt das Fieber.«

»Ich werde morgen etwas essen.«

»Ja wohl, morgen, oder an irgend einem andern Tage. Warum nicht heute? Gehört sich das, daß einer sagt: Morgen werde ich essen? Das ganze, schöne Kartoffelgericht haben Sie mir stehen lassen!«

Jean Valjean ergriff die Hand der alten Frau.

»Ich verspreche Ihnen es aufzuessen,« sagte er freundlich.

»Ich bin nicht zufrieden mit Ihnen,« erwiederte die Portierfrau.

Jean Valjean bekam jetzt kaum ein andres, menschliches Wesen zu sehen, als diese gute Frau. Es giebt in Paris Straßen, wo Niemand entlang kommt, und Häuser wo sich Niemand sehen läßt. In einer solchen Straße und in einem solchen Hause wohnte Jean Valjean.

Zu der Zeit, wo er noch aus dem Hause ging, hatte er einem Kesselflicker für einige Sous ein kleines, kupfernes Kruzifix abgekauft, das er an einem Nagel, seinem Bett gegenüber, befestigt hatte. Ein Blick auf das Kreuz thut immer wohl.

Eine Woche verstrich, ohne daß Jean Valjean einen Schritt in seinem Zimmer that. Er blieb die ganze Zeit über im Bett liegen. Die Portierfrau sagte zu ihrem Mann: »Die gute, alte Haut steht nicht mehr aus dem Bett auf und ißt nichts mehr. Der lebt nicht mehr lange. Gewiß hat er Kummer. Ich lasse es mir nicht ausreden, daß seine Tochter unglücklich in ihrer Ehe ist.«

Der Portier antwortete mit dem Bewußtsein jener geistigen Ueberlegenheit, die dem Ehemann einer Frau gegenüber so wohl ansteht:

»Wenn er Geld hat, kann er einen Arzt kommen lassen. Hat er keins, so lasse er es bleiben. Wenn er aber keinen Arzt konsultirt, so stirbt er.«

»Und wenn er einen Arzt konsultirt?«

»Stirbt er auch!« entschied der Mann.

Die Portierfrau kratzte mit einem alten Messer Gras aus dem Steinpflaster heraus und bemerkte dabei:

»Schade um den alten Mann! Er machte Einem nie Schmutzerei. Und aussehen thut er, wenn er ausgeht, als wäre er aus dem Ei gepellt.«

Da sah sie am Ende der Straße einen Arzt der in der Gegend wohnte; sie bat ihn auf ihre Verantwortung zu Jean Valjean hinaufzugehen.

»Zwei Treppen hoch. Gehen Sie nur hinein. Da der alte Mann nicht mehr aus seinem Bett aufsteht, steckt der Schlüssel immer im Schloß.«

Der Arzt besuchte Jean Valjean.

Als er wieder herunterkam, fragte ihn die Portierfrau:

»Nun, Herr Doktor, wie steht’s mit dem Patienten?«

»Schlecht genug.«

»Was fehlt ihm?«

»Alles und nichts. Allem Anschein nach hat er Jemand verloren, der seinem Herzen nahe steht. An derartigem Herzenskummer ist schon Mancher gestorben.«

»Was hat er zu Ihnen gesagt?«

»Er wäre gesund.«

»Kommen Sie wieder, Herr Doktor?«

»Ja,« antwortete der Arzt. »Aber es müßte noch ein Andrer als ich wiederkommen.«

Wo ist die alte Hünenkraft geblieben?

Eines Abends wurde es Jean Valjean schwer, sich auf dem Ellbogen aufzurichten; er griff nach seinem Puls und fand ihn nicht; sein Athem war kurz und stockte zeitweise ganz; er erkannte, daß er schwächer war, als je zuvor. Da raffte er, getrieben von Todesahnungen, alle Kraft zusammen, richtete sich im Bett auf und kleidete sich an. Er nahm dazu seinen alten Arbeiteranzug. Seitdem er nicht mehr aus ging, hatte er ihn wieder in Gebrauch genommen und bevorzugte ihn. Er mußte beim Ankleiden mehrere Male anhalten; die Anstrengung, die es ihm kostete, die Jackenärmel über seine Arme zu streifen, brachte ihn schon in Schweiß.

Seitdem er allein war, hatte er sein Bett im Vorzimmer aufgestellt, um von der öden Wohnung so wenig Räume wie möglich zu bewohnen.

Er schloß den Handkoffer auf und zog Cosettens Kleider heraus, um sie auf das Bett zu legen.

Die Leuchter des Bischofs standen aus dem Kamingesims an der gewohnten Stelle. Nahm er aus einer Schublade zwei Wachskerzen und steckte sie in den Leuchter. Dann zündete er sie an, obgleich es noch hell — mitten im Sommer — war. So sieht man ja bisweilen am Tage brennende Kerzen in einem Zimmer, wo ein Toter liegt.

Jeder Schritt, den er that, indem er von einem Möbel zum andern ging, ermüdete ihn über die Maßen und er war genöthigt, sich zu setzen. Es war nicht die gewöhnliche Müdigkeit, bei welches auf die Verausgabung von Kraft eine neue Einsammlung derselben erfolgt, sondern nur ein schwacher Rest von möglichen Bewegungen, von gewaltigen Anstrengungen, deren Wiederholung nicht möglich war.

Einer der Stühle, auf den er niedersank, stand vor dem Spiegel, der ihm einst so verhängnißvoll geworden war, demjenigen, in dem er Cosettens umgekehrte Schrift auf der Schreibunterlage gelesen hatte. In diesen Spiegel blickte er jetzt und erkannte sich nicht wieder. Er war achtzig Jahre alt; vor Marius Vermählung hätte man ihn kaum auf fünfzig geschätzt; so daß dieses eine Jahr für dreißig zählte. Was er da an der Stirn hatte, war nicht eine Runzel des Greisenalters, sondern ein Zeichen, das der Tod mit seiner unbarmherzigen Klaue eingegraben hatte. Seine Wangen waren gelb! Die Haut auf seinem Gesicht hatte eine Farbe, als wenn Erde darauf läge; die beiden Mundwinkel hingen abwärts wie bei den Masken, die man auf den Gräbern der alten Griechen sieht; er schaute ins Leere mit einem vorwurfsvollen Blick, als wäre da Jemand, der an seinem tragischen Geschick schuld sei.

Er befand sich in der letzten Phase der Verzweiflung, in jenem Gemüthszustande, wo der Schmerz so zu sagen nicht mehr flüssig, sondern erstarrt, geronnen und die Seele von Stumpfheit umfangen ist.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Er schleppte mühsam einen Tisch und den alten Lehnstuhl an den Kamin heran und legte eine Feder, Tinte und Papier bereit.

Nach dieser Anstrengung befiel ihn eine Ohnmacht. Als er wieder zur Besinnung kam, dürstete ihn. Zu kraftlos um den Wasserkrug empor zu heben, neigte er ihn mühsam nach seinem Munde hin und trank.

Dann wandte er sich, immer noch sitzend, denn er konnte nicht stehen, nach dem Bett um und betrachtete das schwarze Kleidchen und die andern, lieben Erinnrungen.

Diese Betrachtung dauerte Stunden lang, die ihm jedoch schnell wie Minuten verrannen. Plötzlich schauderte er zusammen; er fühlte Fieberfrost; da stützte er die Arme auf den Tisch, den die Leuchter des Bischoffs erhellten und ergriff die Feder.

Weil er das Schreibmaterial lange nicht gebraucht hatte, war die Spitze der Feder verbogen und die Tinte eingetrocknet; er mußte aufstehen und einige Tropfen Wasser in das Tintenfaß gießen, was er nicht zu Stande brachte, ohne sich mehrere Mal auszuruhen, und die Feder mußte er, um schreiben zu können, umkehren. Er trocknete sich von Zeit zu Zeit die Stirn ab.

Seine Hand zitterte. Er schrieb langsam einige Zeilen, die folgendermaßen lauteten:

»Cosette, ich segne Dich. Ich will Dir die Sache auseinandersetzen. Dein Mann hat Recht gehabt, indem er mir zu verstehen gab, daß ich wegbleiben sollte; indessen ist Manches, was er glaubt, irrthümlich. Aber er hat Recht gehabt. Er ist ein guter Mann. Liebe ihn stets von ganzem Herzen, wenn ich tot sein werde. Herr Baron, lieben Sie gleichfalls mein innigst geliebtes Kind. Cosette, man wird diese Zeilen finden; ich habe Dir Folgendes zu sagen. Du wirst nachrechnen können, wenn mir noch die Kraft bleibt, mich auf die Zahlen richtig zu besinnen. Also merke Dir, das Geld gehört Dir und keinem Andern. Die Sache verhält sich nämlich so: Der weiße Jet kommt aus Norwegen, der schwarze aus England, die schwarzen Glaswaaren aus Deutschland. Der Jet ist leichter, kostbarer, theurer. Man kann in Frankreich so gut wie in Deutschland Imitationen herstellen. Man braucht dazu einen kleinen, zwei Ouadratzoll großen Amboß und eine Spirituslampe, um die Masse weich zu machen. Früher wurde die Masse aus Harz und Kienruß fabrizirt und kostete vier Franken das Pfund. Ich habe die Erfindung gemacht, daß man auch Gummilack und Terpentin dazu nehmen kann. Da kostet sie nur noch anderthalb Franken und ist weit besser. Die Schnallen werden aus einem violetten Glas gemacht, das man mittelst dieser Masse auf einen schwärzen Eisenrahmen klebt. Das Glas muß violett sein für die Eisensachen und schwarz für die Goldsachen. In Spanien findet es großen Absatz. Da liebt man Jetsachen sehr …«

Hier hielt er inne, die Feder entfiel seiner Hand und er schluchzte heftig. Dann nahm der Arme seinen Kopf in beide Hände und überließ sich seinen wehvollen Gedanken.

»Ach!« schrie er, aber innerlich, so daß nur Gott diesen Jammerschrei hörte, »es ist vorbei. Ich werde sie nicht wiedersehen. Sie war ein Lichtblick in meinem Leben. Jetzt werde ich in die Nacht eingehen, ohne sie auch nur noch einmal wiederzusehen. Ach, nur eine Minute, nur einen Augenblick ihre Stimme hören, ihr Kleid berühren, sie ansehen, den Engel! und dann sterben! Der Tod ist nichts, aber schrecklich ist, daß ich sterben muß, ohne daß sie dabei ist. Sie würde mir zulächeln, mit mir sprechen. Geschehe denn damit irgend Jemand ein Schade? Aber nein, das ist vorbei. Für immer. Nun stehe ich allein da in der Welt. Mein Gott! Mein Gott! Ich werde sie nicht wiedersehen!«

In demselben Augenblick klopfte es an die Thür.

Ein Anschwärzer, der weiß brennt

An demselben Tage, oder richtiger gesagt, an demselben Abend, als Marius eben von der Tafel aufgestanden war und sich in sein Arbeitskabinet zurückgezogen hatte, wo er einen Stoß Akten durchsehen wollte, übergab ihm Baske einen Brief mit den Worten: »Der Schreiber dieses Briefes wartet im Vorzimmer.«

Cosette hatte den Großvater untergefaßt und ging mit ihm während der Zeit im Garten spazieren.

Ein Brief kann so gut wie ein Mensch vulgär aussehen. Wenn er auf grobem Papier geschrieben, schlecht zusammengefaltet ist, kann er beim ersten Anblick mißfallen. Der Brief, den Baske brachte, gehörte auch zu dieser Gattung.

Marius nahm ihn in Empfang. Er roch nach Taback. Ein Geruch kann Erinnrungen wecken. Marius erkannte den Tabacksgeruch. Er sah die Adresse an: »An den Herrn Baron Pommerci. In seinem Privathause.« Der wohlbekannte Tabacksgeruch half ihm die Schrift erkennen. Im Nu blitzte eine Fülle von Erinnrungen in Marius Hirn auf. Ja, ja, dieselbe Sorte Papier, dieselbe Art, den Brief zusammen zu legen, dieselbe blasse Tinte, dieselbe Schrift, vor allem aber derselbe Taback. Die ganze Jondrette’sche Räuberhöhle lag wieder vor seinem geistigen Auge da.

Merkwürdige Fügung des Zufalls! Eine von den beiden Spuren, die er so lange gesucht, diejenige, die so viel Anstrengungen gekostet und die er für verloren hielt, bot sich ihm auf ein Mal von selber dar.

Er riß hastig das Schreiben auf und las:

»Herr Baron!«

Wenn das höchste Wesen mir die dazu nöhtigen Talente gegeben hätte, so hätte ich, der Baron Thénard, Mitglied des Instituhts, (Akademie der Wissenschaften) sein können, allein ich bin es nicht. Ich führe nur denselben Namen wie er, glücklich, wenn diese Erinnrung mich dem Wohlwollen Ihrer Güte empfiehlt. Die Wohltaht, die sie mich spenden werden, wird auf Gegensaitigkeit beruhen. Ich kenne ein Geheimniß, das ein Individuhum betrifft, das Sie betrifft. Dieses Geheimniß steht Ihnen zur Verfügung, indem ich die Ehre zu haben wünsche, dem Herrn Baron einen untertähnigen Dienst zu erweisen. Ich werde Sie mit einem einfachen Mittel ausrüsten, das Individuhum, welches der großen Ehre gänslich unwürdig ist, da die Frau Baronin vornehmer Herkunft sind, aus Ihrer hochachtbaren Famielie wegzujagen. Der Schrein der Tugend kann nicht lenger mit dem Verbrechen zusammenhausen, ohne Seiner Hoheit Abbruch zu thun.

Ich erwarte im Vorzimmer die Befehle des Herrn Barons.

Mit tiefster Hochachtung

Thénard.

Die Unterschrift war keine absolut falsche; es fehlten nur einige Buchstaben.

Im Uebrigen bestätigten der verzwickte, schwülstige Stil und die eigenartige Orthographie Marius’ Vermuthung. Alle Umstände vereinigten sich zu einem Ursprungszeugniß, dessen Echtheit keinen Zweifel zuließ.

Marius war tief erregt. Nach dem ersten Erstaunen wallte ein hohes Glücksgefühl in ihm auf. Jetzt brauchte er nur noch den Andern wieder zu finden, denjenigen, der ihm das Leben gerettet hatte, so blieb ihm nichts mehr zu wünschen übrig.

Er zog eine Schublade seines Sekretärs auf, nahm einige Kassenscheine heraus, steckte sie in seine Tasche, machte den Sekretär wieder zu und klingelte. Baske erschien in der Thür.

»Lassen Sie den Herrn hereinkommen!« befahl Marius.

Baske rief:

»Herr Thénard.«

Ein Mann trat ein, der Marius — zu dessen nicht geringem Erstaunen — durchaus unbekannt schien!

Es war ein alter Mann mit grauen Haaren. Eine grobe Nase; das Kinn hinter dem Halstuch; eine grüne Brille mit einem doppelten Tafftschirm; glatte Haare, die über die Stirn fielen, wie die Perrücken der Kutscher des englischen High Life. Er war von Kopf bis zu Fuß schwarz gekleidet; ein sehr schäbiges, aber saubres Schwarz. Eine Menge Berloques ließen auf das Vorhandensein einer Uhr schließen. In der Hand hielt er einen alten Hut. Er ging krumm, eine Krümmung, die durch seine tiefe Verneigung in erstaunlichem Grade zunahm.

Was beim ersten Blick auffiel, war, daß der zu weite, obgleich zugeknöpfte Rock des Menschen offenbar nicht für ihn zugeschnitten war. Hier ist eine kurze Abschweifung geboten.

In Paris wohnte damals in der Rue Beautreillis, unweit des Arsenals, ein pfiffiger Jude, dessen Geschäft es war, Gesindel in anständige Menschen zu verwandeln. Nicht auf lange Zeit, weil dem Gesindel die Anständigkeit bald lästig wird. Die Verwandlung erstreckte sich nur auf die äußere Erscheinung, dauerte nur einige Tage à dreißig Sous pro Tag und wurde bewerkstelligt mittelst eines Kostüms, das den Kunden zum Niveau der besseren Stände emporhob. Dieser Kleidervermiether hieß der »Verwandler«; so nannten ihn die Pariser Gauner und manche Leute kannten ihn bei keinem andern Namen. Er besaß eine ziemlich vollständige Garderobe und der Plunder, den er seinen Kunden umhängte, präsentirte sich nicht allzu schlecht. Er hatte Specialitäten, und Kategorien; an jedem Nagel in seinem Laden hing, abgenutzt und abgeschabt, eine gesellschaftliche Stellung; hier der Rock einer Gerichtsperson, dort der Talar eines Pfarrers, hier ein Anzug für einen Bankier, dort in der Ecke einer für einen ehemaligen Militär, für einen Litteraten, einen Politiker. Dieser Kerl war der Garderobenaufseher an dem Theater, dessen Schauspieler die Pariser Hochstapler sind. Seine Spelunke war die Bühne, von der die Gaunerei abging und der Diebstahl auftrat. Ein zerlumpter Halunke kam in dieses Kleidermagazin, legte dreißig Sous hin, wählte je nach der Rolle, die er an dem betreffenden Tage spielen wollte, den Anzug, und wenn er dann wieder die Treppe hinunterstieg, war der Halunke ein feiner Mann. Am nächsten Tage wurden die Sachen ehrlich zurückgebracht und der Verwandler, der alles Dieben anvertraute, wurde nie bestohlen. Die Kleider hatten allerdings einen Uebelstand, sie paßten nicht, da sie nicht für diejenigen, die sie trugen, gearbeitet waren; dem Einen klebten, dem Andern schlotterten sie am Leibe, paßten aber Keinem, wie es sich gehörte. Jedem Gauner, dessen Länge über das menschliche Durchschnittsmaß hinausging, oder dahinter zurückblieb, war in den Kleidern des Verwandlers unbehaglich zu Muthe. Zu dick oder zu dünn durfte man auch nicht sein. Der Verwandler hatte nur an den Mittelschlag gedacht. Er hatte der Gattung in der Person der ersten besten, weder magern noch fetten, weder großen noch kleinen Kanaille Maß genommen.

Unter den Kostümen des Verwandlers befand sich auch ein »Staatsmannsanzug«, der in dem von uns eingesehenen Katalog folgendermaßen beschrieben ist: »Ein schwarzer Tuchrock, eine schwarze Buckskinhose, eine seidene Weste, ein Paar Stiefel und Leibwäsche.« Und am Rande der Vermerk: »Ehemaliger Botschafter« und eine Anmerkung, die wir hier gleichfalls citiren wollen: »In einem besondern Carton eine sauber gekräuselte Perrücke, eine grüne Brille, Uhrgehänge, und zwei, einen Zoll lange, mit Baumwolle umwickelte Federspulen.« Alles dies bekam der »Staatsmann«, der »ehemalige Botschafter«. Das ganze Kostüm war, wenn man sich so ausdrücken darf, sehr entkräftet; die Nähte waren verblichen; an dem einen Ellbogen gähnte ein unbefugtes Knopfloch; außerdem fehlte an dem Rock ein Knopf, was freilich eine Nebensache war, denn da ein Staatsmann seine Hand auf dem Herzen und unter dem Rock tragen muß, so konnte sie ja zugleich auch den Mangel eines Knopfes verdecken.

Wenn Marius in die Geheimnisse von Paris besser eingeweiht gewesen wäre, so würde er in dem Anzug des Besuchers, den Baske eben hereingeführt hatte, das dem Verwandler entliehene Staatsmannskostüm erkannt haben.

Marius Enttäuschung klang alsbald in üble Laune aus die der Unbekannte entgelten mußte. Er musterte ihn von Kopf bis zu Fuß und fragte barsch:

»Was wollen Sie?«

Der Andre antwortete mit einem liebenswürdigen Grinsen, von dem das freundliche Lächeln eines Krokodils eine annähernde Vorstellung geben kann.

»Es scheint mir unmöglich, daß ich noch nicht die Ehre gehabt haben sollte, den Herrn Baron in irgend einem Salon der feinen Welt gesehen zu haben. Ich lebe der festen Ueberzeugung, daß ich ihn vor einigen Jahren bei der Fürstin Bagration und bei Sr. Herrlichkeit dem Vicomte Dambray, Pair von Frankreich, kennen gelernt habe.«

Es gilt nämlich bei Hallunken für eine gute Taktik, sich so zu benehmen, als erkenne man jemand wieder, den man nicht kennt.

Marius paßte auf die Sprache des Mannes, seine Betonung und seine Geberden, gut auf; fand sich aber in seinen Erwartungen nur noch mehr getäuscht. Die näselnde Aussprache des Unbekannten erinnerte durchaus nicht an die scharfe und harte Stimme, die er zu hören gehofft hatte. Er wußte nicht mehr, was er denken sollte.

»Ich kenne weder die Fürstin Bagration, noch den Vicomte Dambray,« sagte er, »In meinem ganzen Leben bin ich weder bei dem Einen noch bei dem Andern gewesen.«

Die Antwort klang unwirsch. Aber die Liebenswürdigkeit des Andern ließ sich nicht so leicht entmuthigen.

»Nun so werde ich den Herrn Baron bei Chateaubriand gesehen haben. Ich bin mit Chateaubriand sehr gut bekannt. ›Freund Thénard,‹ sagt er oft zu mir, ›wollen wir nicht zusammen eins trinken?‹«

Marius Stirn wurde immer strenger:

»Ich habe nie die Ehre gehabt, von Herrn von Chateaubriand empfangen zu werden. Fassen wir uns kurz. Was wollen Sie?«

Der Unbekannte antwortete auf die herbe Erwiederung mit einer noch tieferen Verbeugung:

»Herr Baron, geruhen Sie mich anzuhören. In Amerika, in der Nähe von Panama, liegt ein Dorf, Namens La Joya. Dieses Dorf besteht aus einem einzigen Hause, einem großen, viereckigen, dreistöckigen Hause aus Backsteinen, die an der Sonne getrocknet sind. Jede Seite des Vierecks ist fünfhundert Fuß lang. Jedes Stockwerk springt hinter das darunter gelegne um zwölf Fuß zurück, so daß eine Terrasse entsteht, die sich um das ganze Gebäude herumzieht. In der Mitte ein Hof, wo die Munition und die Vorräthe lagern. Keine Fenster, bloß Schießscharten. Keine Thür, nur Leitern, um von der ebnen Erde auf die erste Terrasse, von einen Terrasse zur andern und in den Hof hinabsteigen zu können. Keine Zimmerthüren, nur Klappen, Keine Treppen im Innern, sondern wieder Leitern. Des Abends werden die Klappen heruntergelassen, die Leitern eingezogen, die Schießscharten mit Blunderbüchsen und Karabinern bewehrt. Keine Möglichkeit, in das Gebäude hineinzukommen. Achthundert Einwohner hat das Dorf. Wozu nun die vielen Vorsichtsmaßregeln? Weil in dem Lande große Unsicherheit herrscht; es ist voller Menschenfresser. Warum gehen denn aber die Leute dahin? Weil das Land wunderbar reich ist; es enthält Gold.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Marius, der ungeduldig zu werden begann.

»Ich wollte sagen, daß ich ein maroder Diplomat bin, der des Kulturlebens herzlich überdrüssig ist. Ich möchte es einmal mit den Wilden versuchen.«

»Und?«

»Herr Baron, der Egoismus ist das Gesetz, das die Welt beherrscht. Die arme Tagelöhnerin wendet sich um, wenn die Postkutsche vorbeifährt; die Bäuerin, die auf ihrem eignen Felde arbeitet, thut es nicht. Der Hund des Bettlers bellt dem Reichen, der Hund des Reichen dem Armen nach. Jeder für sich. Der persönliche Vortheil ist der Zweck der menschlichen Handlungen, das Gold der stärkste Magnet.«

»Kommen Sie zur Sache.«

»Ich möchte nach La Joya auswandern. Wir sind unsrer Drei. Ich habe eine Gattin und eine Tochter, ein sehr schönes Mädchen. Zu der weiten und kostspieligen Reise brauche ich Geld.«

»Was geht das mich an?« fragte Marius.

Der Unbekannte reckte den Hals hinter der Kravatte empor, eine dem Geier eigne Bewegung und erwiderte mit einem verstärkten Lächeln:

»Haben der Herr Baron nicht meinen Brief gelesen?«

Dies war so ziemlich richtig. Der Inhalt des Schreibens war Marius entgangen. Er hatte mehr die Handschrift studirt, als den Brief gelesen, so daß er sich kaum darauf besinnen konnte. Dazu kam, daß seine Aufmerksamkeit eben durch etwas Andres wieder angeregt worden war. Durch die Worte: »eine Gattin und eine Tochter« stutzig gemacht, fixirte er den Unbekannten so scharf wie ein Untersuchungsrichter. Vorläufig aber begnügte er sich mit der Aufforderung:

»Sagen Sie mir, worum es sich handelt.«

Der Unbekannte schob die Hände in die Taschen, hob den Kopf empor, ohne das Rückgrat gerade zu machen, und indem er Marius mit seinem grünen Brillenblick prüfend ansah:

»Sehr wohl, Herr Baron. Ich komme zur Sache. Ich habe ein Geheimniß zu verkaufen.«

»Ein Geheimniß?«

»Ein Geheimniß!«

»Das mich betrifft?«

»Ich sollte meinen!«

»Was für ein Geheimniß ist das?«

Währenddem sah sich Marius den Mann immer genauer an.

»Ich beginne gratis,« sagte der Unbekannte. »Sie werden sehen, daß ich interessante Sachen zu berichten habe.«

»Reden Sie.«

»Herr Baron, Sie haben in Ihrem Hause einen Raubmörder.«

Marius fuhr zusammen.

»In meinem Hause? Nein,« sagte er.

Mit unerschütterlicher Ruhe wischte der Unbekannte seinen Hut mit dem Ellbogen ab und fuhr fort:

»Raubmörder. Wohlbemerkt, Herr Baron, ich spreche hier nicht von alten Verbrechen, die vor dem Gesetz durch — Verjährung und vor Gott durch die Reue ausgelöst sein können. Ich meine Thatsachen, die neueren Datums sind. Aber ich fahre fort. Der Betreffende hat sich unter einem falschen Namen in Ihr Vertrauen, ja beinahe in Ihre Familie eingeschlichen. Ich will Ihnen seinen wahren Namen sagen. Und zwar umsonst.«

»Ich höre.«

»Er heißt Jean Valjean.«

»Ich weiß es.«

»Ich will Ihnen auch, ebenfalls umsonst, sagen, was für ein Mensch er ist.«

»Nun?«

»Ein ehemaliger Galeerensklave.«

»Ich weiß es.«

»Sie wissen es, seitdem ich die Ehre gehabt habe, es Ihnen zu sagen.«

»Nein, ich wußte es vorher.«

Marius kalter Ton, das doppelte »Ich weiß es,« sein wenig ermuthigender Lakonismus reizten den Unbekannten zum Zorn. Er schleuderte Marius verstohlen einen wüthenden Blick zu, den er aber sofort wieder zurücknahm. Indessen so rasch dies auch geschah, Marius bemerkte und erkannte diesen Blick. Gewisse Flammen können nur in gewissen Seelen auflodern und was sich im Auge wiederspiegelt, verdeckt die Brille nicht. Versuche es doch Einer, die Hölle mit einer Fensterscheibe unsichtbar zu machen.

Der Unbekannte fuhr lächelnd fort:

»Ich erdreiste mich nicht, den Herrn Baron Lügen zu strafen. Jedenfalls werden Sie sehen, daß ich Bescheid weiß. Was ich Ihnen aber jetzt mitzutheilen habe, ist nur mir bekannt. Es handelt sich um das Vermögen der Frau Baronin. Ein großartiges Geheimniß. Es ist zu verkaufen, Ihnen biete ich es zuerst an. Sehr billig. Zwanzigtausend Franken.«

»Das Geheimnis kenne ich so gut wie die andern,« erwiederte Marius.

Der Hallunke sah die Nothwendigkeit ein, mit seiner Forderung herunter zu gehen.

»Herr Baron, geben Sie zehntausend.«

»Ich wiederhole Ihnen, daß Sie mir nichts Neues zu erzählen haben. Ich weiß, was Sie mir sagen wollen.«

Wieder flammte ein Blitz in dem Auge des Mannes auf. Er rief:

»Ich habe aber heute noch nichts gegessen. Es ist ein großartiges Geheimniß, sage ich Ihnen, Herr Baron. Geben Sie zwanzig Franken.«

Marius sah ihm scharf in die Augen.

»Ich kenne Ihr großartiges Geheimniß wie ich auch den Namen Jean Valjean kannte, wie ich auch Ihren Namen weiß.«

»Meinen Namen?«

»Ja.«

»Das ist nicht schwer, Herr Baron. Ich habe die Ehre gehabt ihn aufzuschreiben und ihn Ihnen zu sagen. Thénard.«

»Dier?«

»Wa-as«

»Thénardier?«

»Was für ein Thénardier?«

In der Gefahr streckt der Igel seine Stacheln empor, stellt der Käfer sich tot, bilden Soldaten ein Carré. Thénardier lachte.

Dann knippste er mit dem Finger ein Stäubchen von seinem Aermel weg.

Marius fuhr fort:

»Sie sind auch Arbeiter Jondrette, der Schauspieler Fabantou, der Dichter Genflot, der Spanier Don Alvares und Frau Balizard.«

»Frau Was?«

»Und Sie haben in Montfermeil eine Kneipwirthschaft gehabt.«

»Eine Kneipe? Nun und nimmermehr.«

»Und ich sage Ihnen, Sie sind Ténardier.«

»Ich bestreite es.«

»Und endlich sage ich Ihnen, daß Sie ein Lump sind. Da!«

Marius griff in die Tasche, holte einen Fünfhundertfrankenschein heraus und warf ihm denselben ins Gesicht.

»Danke! Verzeihung! Fünfhundert Franken! Herr Baron!«

Fassungslos und mit vielen Verbeugungen griff er nach dem Tresorschein und prüfte ihn.

»Fünfhundert Franken!« wiederholte er aufs äußerste verblüfft. Und halblaut stammelte er: »Echt! — Allehand Achtung!«

Dann plötzlich mit lauter Stimme:

»Nun meinetwegen! Machen wir’s uns bequem!«

Und indem er mit affenartiger Geschwindigkeit seine Perrücke abnahm, die Brille herunterriß, die beiden oben erwähnten Federspulen, deren Zweck an einer andern Stelle dieses Buches schon erklärt worden ist, aus der Nase zog, nahm er sein Gesicht ab, so wie man seinen Hut abnimmt.

Seine Augen blitzten schärfer; die ungleiche, stellenweise beulige, oben von abstoßenden Runzeln durchfurchte Stirn trat vor; die Nase wurde spitz und scharf wie ein Vogelschnabel; das wilde und kluge Profil des menschlichen Raubthiers kam wieder zum Vorschein.

»Der Herr Baron sind unfehlbar,« sagte er mit klarer Stimme und ohne zu näseln. »Ich bin Thénardier.«

Und er machte seinen gewölbten Rücken gerade.

Thénardier war fröhlich überrascht; er wäre verwirrt gewesen, wenn er solch ein Gefühl überhaupt hätte empfunden können. Er war gekommen, um in Erstaunen zu setzen und nun widerfuhr ihm etwas Erstaunliches. Diese Demüthigung wurde ihm mit fünfhundert Franken bezahlt und so ließ er sie sich gefallen; aber er war wie betäubt.

Er sah diesen Baron Pontmercy zum ersten Mal und trotz seiner Verkleidung erkannte ihn dieser Baron Pontmercy und erkannte ihn gründlich. Und nicht nur Thénardier, auch Jean Valjean war ihm bekannt. Was war es denn mit diesem, fast noch bartlosen, jungen Mann, der sich so eisig und so großmüthig benahm, der die Namen der Leute, alle Namen kannte, der einen Gauner so strenge wie ein Richter abkanzelte und so gutmüthig sein Geld verschenkte?

Wie man sich erinnern wird, hatte Thénardier, obgleich er mit Marius in demselben Hause gewohnt hatte, ihn doch nie gesehen, was in Paris häufig vorkommt. Er hatte nur seiner Zeit seine Töchter oberflächlich von einem sehr armen, jungen Mann, Namens Marius, sprechen hören, der nebenan wohne. Er hatte auch, ohne ihn zu kennen, den schon erwähnten Bettelbrief geschrieben. Der Gedanke also, daß jener Marius mit diesem Baron Pontmercy identisch sei, lag ihm vollständig fern.

Was den Namen Pontmercy anbetrifft, so hatte er auf dem Schlachtfeld von Waterloo nur die letzten, zwei Silben gehört und sie mit jener Geringschätzung behandelt, die ein bloßes »Merci!« verdient.

Im Uebrigen war es ihm geglückt, durch seine Tochter Azelma, die er mit der Ausspionirung des Brautpaars beauftragt hatte und Dank seinen persönlichen Nachforschungen, vielerlei Dinge in Erfahrung zu bringen und die Fäden mehrerer Geheimnisse in die Hand zu bekommen. Er hatte mit einem großen Aufwand von Mühe entdeckt oder mittels vieler Schlußfolgerungen errathen, wer der Mann war, dem er an einem gewissen Tage in der Großen Kloake begegnete und nachdem er den Mann erkannt hatte, war es keine Schwierigkeit für ihn gewesen, auch den Namen herauszubringen. Er wußte ferner, daß die Baronin Pontmercy Cosette war. Aber in Bezug auf diesen Punkt war er gesonnen, Verschwiegenheit zu beobachten. Wer war Cosette? Das wußte er selber nicht genau. Er hielt sie für ein uneheliches Kind, denn die Geschichte mit Fantine war ihm immer verdächtig vorgekommen; aber wozu diese Suche aufrühren? Um sich sein Stillschweigen bezahlen zu lassen? Er hatte etwas Besseres zu verkaufen oder bildete es sich wenigstens ein. Und aller Wahrscheinlichkeit nach wäre er, wenn er ohne Beweise zu dem Baron Pontmercy gekommen, um ihm zu erzählen, seine Frau sei ein uneheliches Kind, für seine Mühe von dem wüthenden Ehemanne mit Fußtritten die Treppe hinunterbefördert worden.

Nach Thénardiers Auffassung hatte die Verhandlung mit Marius eigentlich noch garnicht angefangen. Er hatte wohl zurückweichen, eine Stellung aufgeben, seinen Plan ändern müssen, aber der Hauptsache nach war noch nichts verloren und er hatte fünfhundert Franken in der Tasche. Ferner hatte er etwas Entscheidendes zu sagen und hegte die Ueberzeugung, daß er sogar gegen einen so gut unterrichteten und vortrefflich ausgerüsteten Gegner, wie den Baron von Pontmercy, ausreichende Waffen besitze. Für Leute wie Thénardier ist jedes Gespräch ein Kampf und Marius gegenüber stand er so, daß er zwar nicht wußte, mit wem er es zu thun hatte, wohl aber, was er zu sagen hatte. Mit dieser innerlichen Musterung seiner Streitkräfte wurde er rasch fertig und wartete nach dem Geständnis, daß er Thénardier sei, ruhig der Dinge, die da kommen würden.

Marius seinerseits war sehr nachdenklich geworden. Er hatte also endlich den so lange gesuchten Thénardier vor sich und konnte der Verbindlichkeit nachkommen, die ihm der Oberst Pontmercy ans Herz gelegt hatte. Es verdroß ihn freilich, daß solch ein Held solch einem Halunken etwas verdankte und daß der Wechsel, den sein Vater auf ihn gezogen hatte, so lange uneingelöst geblieben war. Es wollte ihm auch in Folge der komplizirten Gedanken und Gefühle, die er Thénardier gegenüber hegte, scheinen, als müsse der Oberst für das Unglück, daß er von einem solchen Schurken gerettet worden war, gerächt werden. Wie dem aber auch sein mochte, er war zufrieden. Konnte er doch nun endlich den Schatten des Obersten von diesem gemeinen Gläubiger befreien.

Neben dieser Pflicht hatte er noch eine andre, nämlich die sich über die Herkunft von Cosettens Vermögen Aufklärung zu verschaffen. Die Gelegenheit dazu schien günstig. Vielleicht wußte Thénardier etwas. Es konnte von Nutzen sein, wenn man dem Menschen auf den Grund der Seele blickte. Er begann hiermit.

Thénardier hatte unterdessen den »echten« Kassenschein in seine Tasche versenkt und sah Marius mit einer Art zärtlicher Rührung an.

Marius brach das Stillschweigen.

»Thénardier, ich habe Ihnen Ihren Namen genannt. Soll ich Ihnen jetzt auch sagen, worin das Geheimniß besteht, das Sie mir enthüllen wollen? Ich habe auch Erkundigungen angestellt und Sie werden sehen, daß ich besser Bescheid weiß als Sie. Jean Valjean ist allerdings ein Spitzbube und ein Mörder. Ein Spitzbube, denn er hat sich das Vermögen eines reichen Fabrikanten, Herrn Madeleine’s, angeeignet. Ein Mörder, weil er den Polizeiinspektor Javert umgebracht hat.«

»Ich verstehe nicht, Herr Baron,« antwortete Thénardler.

»So will ich es Ihnen ausführlicher erklären. Hören Sie zu. In einem Arrondissement des Pas-de-Calais lebte um 1822 ein Mann, der einmal mit den Gerichten etwas zu thun gehabt, aber später unter dem Namen Madeleine ein neues Leben begann und sich emporarbeitete. Dieser Mann wurde ein Gerechter, im strengsten Sinne des Wortes. Durch die Förderung eines Industriezweiges, der Fabrikation von schwarzen Glassachen, hob er den Wohlstand einer ganzen Stadt. Persönlich erwarb er dabei gleichfalls ein Vermögen, aber nebenbei, so zu sagen gelegentlich. Er war der Vater der Armen. Er gründete Spitäler, Schulen; besuchte die Kranken, gab armen, jungen Mädchen eine Aussteuer, unterstützte die Wittwen, ernährte die Waisenkinder; er war gleichsam der Vormund des Landes. Er schlug das Kreuz der Ehrenlegion aus und wurde zum Bürgermeister ernannt. Nun wußte aber ein ehemaliger, entlassener Zuchthaussträfling, daß dieser Mann vor Zeiten zu einer ehrenrührigen Strafe verurtheilt worden war, denunzirte ihn und machte sich seine Festnahme in der Weise zu nütze, daß er nach Paris kam und sich von dem Bankier Laffitte — ich habe dies von dem Kassirer selber erfahren — mittelst einer falschen Unterschrift über eine halbe Million, die Madeleine gehörte, aushändigen ließ. Dieser Sträfling, der Madeleine’s Geld gestohlen hat, ist Jean Valjean. Was die andere Thatsache betrifft, so lehren Sie mich damit auch nichts Neues. Jean Valjean hat den Polizeiinspektor Javert umgebracht, erschossen. Ich, der ich mit Ihnen spreche, war bei dem Vorfall zugegen.«

Thénardier warf auf Marius den stolzen Blick eines Ueberwundenen, der den Sieg wieder in seine Hand bekommt und in einer Minute das eben verlorne Terrain zurückerobert. Aber sofort nahm er auch wieder eine lächelnde Miene an, denn der Schwächere darf über den Stärkeren nur schmeichelnd triumphiren, und Thénardier begnügte sich mit der Bemerkung:

»Herr Baron, wir sind auf falschem Wege.«

Und er verlieh diesen Worten einen sieghaften Nachdruck, indem er seinen Berloquebund im Kreise schwenkte.

»Wie?« rief Marius, »Bestreiten Sie das? Es handelt sich um Thatsachen.«

»Um Chimären. Das Vertrauen, womit mich der Herr Baron beehren, macht es mir zur Pflicht, diese Behauptungen zu berichtigen. Vor allen Dingen muß der Wahrheit und Gerechtigkeit die Ehre gegeben werden. Ich liebe es nicht, daß man Leute fälschlich anklagt, Herr Baron, Jean Valjean hat Javert nicht umgebracht.«

»Das ist stark! — Wie so?«

»Aus zwei Gründen.«

»Welche? Reden Sie!«

»Der erste Grund ist: Er hat Madeleine nicht bestohlen, dieweil Jean Valjean selber Madeleine ist.«

»Was reden Sie da?«

»Und der zweite Grund lautet: Er hat Javert nicht ermordet, weil Javert das selbst besorgt hat.«

»Was meinen Sie damit?«

»Daß Javert sich das Leben genommen hat.«

»Beweisen Sie, was Sie da behaupten!« rief Marius außer sich.

Thénardier fuhr fort, indem er seine Worte wie einen antiken Vers skandirte:

»Man hat den Po-li-zei-in-spek-tor Ja-vert un-ter ei-nem Prahm, un-weit des Pont-au-Change ertrun-ken ge-funden.«

»Die Beweise! Die Beweise!«

Thénardier nahm aus seiner Seitentasche einen großen, grauen Briefumschlag, der zusammengefaltete Blätter von verschiedener Größe zu enthalten schien.

»Ich habe alle erforderlichen Dokumente,« sagte er gelassen.

Dann fuhr er fort:

»Herr Baron, ich habe mich in Ihrem Interesse mit Jean Valjean gründlichste beschäftigt. Ich behaupte, daß Jean Valjean und Madeleine ein und dieselbe Person ist, und ich behaupte, daß Javert von keinem Andern umgebracht worden ist, als von Javert, und wenn ich das sage, so habe ich Beweise. Keine schriftlichen, — die Schrift ist verdächtig und läßt sich zu allem Möglichen herbei — sondern gedruckte Beweisstücke.«

Während er dies sagte, entnahm Thénardier dem Couvert zwei vergilbte, lappige und stark mit Tabaksgeruch gesättigte Zeitungen. Die eine, die an den Falten brüchig geworden war und in viereckige Stücke zu zerfallen drohte, war älteren Datums als die andre.

»Zwei Thatsachen, zwei Beweisstücke,« sagte Thénardier und hielt Marius die Zeitungen auseinander gefaltet hin.

Die beiden Zeitungsnotizen kennt der Leser schon. In der einen, einem Exemplar des Drapeau blanc vom 5. Juli 1823, stand ein abgedruckter Bericht, in dem die Identität Madeleines und Jean Valjeans konstatirt war. Die zweite Zeitung, der Moniteur vom 15. Juni 1833, enthielt die Notiz über den Selbstmord Javert’s und erzählte, Javert habe in einem Bericht an den Polizeipräfekten angegeben, er sei in der Rue de la Chanvrerie zum Gefangnen gemacht und durch einen Insurgenten, der ihn vor dem Lauf seines Pistols hatte, es aber großmüthiger Weise in die Luft abschoß, gerettet worden.

Diese Notizen las Marius. Die Daten, die Beweisstücke überhaupt waren unanfechtbar; die beiden Zeitungsexemplare waren doch nicht speziell gedruckt worden, um Thénardiers Behauptungen zu bestätigen; die im Moniteur abgedruckte Notiz war eine offizielle Mittheilung der Polizeipräfektur. Marius konnte sie nicht in Zweifel ziehen. Die von dem Kassirer gegebene Auskunft war falsch und er selber hatte sich geirrt. Jean Valjeans Vergangenheit war dem Dunkel entrissen, er stand gerechtfertigt da. Marius konnte einen Freudenschrei nicht zurückhalten:

»Dann verdient aber der Unglückliche die höchste Bewundrung! Das ganze Vermögen gehört ihm wirklich. Er ist die Vorsehung eines ganzen Landes, Javert’s Retter gewesen. Jean Valjean ist ein Heiliger und ein Held!«

»Kein Heiliger und kein Held,« sagte Thénardier. »Ein Raubmörder.«

Und in dem Tone eines Mannes, der da weiß, was er sagt, fuhr er fort: »Bewahren wir unser kaltes Blut.«

Raubmörder! Dieses Wort, das Marius für endgültig widerlegt gehalten hatte, übte auf ihn die Wirkung einer eisigen Douche aus.

»Kommen Sie mir wieder damit?« sagte er.

»Noch immer,« erwiederte Thénardier. »Jean Valjean hat Madeleine nicht beraubt, und ist doch ein Räuber; er hat Javert nicht umgebracht und ist doch ein Mörder.«

»Meinen Sie,« fragte Marius, »den erbärmlichen Raub, den er vor vierzig Jahren verübte, und den er, wie dies aus Ihren Zeitungsnotizen selber hervorgeht, mit einem Leben voller Reue, Selbstverleugnung und Tugend gesühnt hat?«

»Ich sage Raub und Mord. Und ich wiederhole, daß ich von unsrer Gegenwart spreche. Was ich Ihnen offenbaren will, ist eine durchaus unbekannte Thatsache. Und vielleicht werden Sie bei Gelegenheit den Grund kennen lernen, warum Jean Valjean schlauer Weise der Frau Baronin sein Vermögen angetragen hat. Ich sage schlauer Weise, denn wenn ein Verbrecher sich in eine achtbare Familie einschleicht, und sich dadurch Wohlleben und Sicherheit schafft, so ist das nichts weniger als unschlau.«

»Ich könnte Sie hier unterbrechen, bemerkte Marius; aber fahren Sie fort.«

»Herr Baron, ich werde alles sagen, indem ich es Ihnen überlasse, wie Sie mich belohnen wollen. Das Geheimniß ist massives Gold wert. Sie werden sagen: Warum hast Du Dich nicht an Jean Valjean gewendet? Aus einem sehr einfachen Grunde. Ich weiß, daß er sein Vermögen aus den Händen gegeben, es Ihnen übertragen hat, und finde, daß es ein gescheidter Gedanke ist; aber er hat keinen Heller mehr und würde mir seine leeren Hände zeigen und da ich zu meiner Reise nach La Joya Geld brauche, ziehe ich Sie, der alles hat, ihm vor, der nichts mehr sein Eigen nennt. Ich bin etwas müde; erlauben Sie, daß ich mich setze.«

Marius setzte sich und winkte ihm, gleichfalls Platz zu nehmen.

Thénardier ließ sich auf einen gepolsterten Stuhl nieder, nahm die beiden Zeitungen, steckte sie wieder in den Briefumschlag und murmelte, indem er mit dem Fingernagel auf das Exemplar des Drapeau blanc klopfte: »Das hier hat mir Mühe gekostet, ehe ich’s bekommen konnte.« Dann schlug er die Beine über einander und legte sich bequem gegen die Rücklehne des Stuhls, — die Haltung der Leute, die ihrer Sache sicher sind. — Nun endlich begann er seine Rede, indem er seine Worte gewichtig betonte.

»Herr Baron, am 6. Juni 1832, also vor ungefähr einem Jahre, während des Aufstandes, befand sich ein Mann in der Großen Kloake, da, wo sie sich in die Seine ergießt, zwischen dem Pont des Invalides und dem Pont d’ Iéna.«

Marius rückte hier plötzlich seinen Stuhl näher an Thénardier heran. Thénardier bemerkte diese Bewegung und fuhr fort mit der Langsamkeit eines Redners, der sich bewußt ist, daß sein Zuhörer und Gegner seinen Worten die höchste Spannung entgegenbringt:

»Aus Gründen, die mit der Politik nichts zu thun haben, gezwungen sich versteckt zu halten, hatte der Mann in der Kloake seine Wohnung aufgeschlagen und besaß einen Schlüssel zu der Thür. Es war, ich wiederhole es, am 6. Juni und mochte acht Uhr Abends sein. Da hörte der Mann ein Geräusch in der Kloake. Höchst erstaunt, duckte er sich abseits und wartete. Es war ein Geräusch von Schritten, Jemand kam durch die Dunkelheit auf ihn zu. Die Ausgangsthür der Kloake war nahebei. Ein wenig Tageslicht, das da hereinfiel, erlaubte ihm, den Andern zu erkennen und zu sehen, daß er etwas auf dem Rücken trug, denn er ging gebückt. Der Mann nun, der gebückt ging, war ein ehemaliger Galeerensklave und was er auf den Schultern dahinschleppte, war ein Leichnam. Daß hier ein Mord vorlag, dürfte nun wohl über allen Zweifel erhaben sein. Was den Raub betrifft, so versteht sich der von selbst. Man mordet nicht für nichts und wieder nichts. Der Betreffende schickte sich also an, die Leiche in den Fluß zu werfen. Noch eins, was Beachtung verdient. Ehe er an der Ausgangsthür anlangte, mußte der Verbrecher, der einen weiten Weg durch die Kloaken gekommen war, durch ein fürchterliches Schlammloch hindurch, in dem er, sollte man meinen, die Leiche hätte zurücklassen können. Aber am nächsten Tage hätten die Arbeiter sie da gefunden und das paßte nicht in den Plan des Mörders. Er hatte es also vorgezogen mit seiner Last durch das Schlammloch hindurchzuwaten und dies muß entsetzliche Anstrengungen gekostet haben; es ist unmöglich sein Leben noch größerer Gefahr auszusetzen und ich begreife nicht, wie er da hindurch gekommen ist.«

Marius Stuhl rückte noch näher, was Thénardier dazu benutzte, sich recht viel Zeit zum Athemschöpfen zu nehmen. Er fuhr fort:

»Herr Baron, eine Kloake ist nicht wie das Marsfeld. Es fehlt da an allem, sogar an Platz. Wenn zwei Menschen darin sind, müssen sie sich begegnen. Dies geschah. Die Beiden sahen sich genöthigt, einander guten Tag zu sagen, was Keinem von ihnen Vergnügen machte. Der Ankömmling sagte zu dem Andern: ›Du siehst, was ich auf dem Rücken habe; ich muß hinaus; Du hast den Schlüssel, her damit.‹ Der Sträfling war ein Mann von fürchterlicher Körperkraft. Keine Möglichkeit, Nein zu sagen. Indessen unterhandelte der Besitzer des Schlüssels, blos um Zeit zu gewinnen. Er sah sich den Toten genau an, konnte aber nur konstatieren, daß es ein fein gekleideter, junger Mann und daß er durch das Blut entstellt war. Während er sich mit dem Andern unterhielt, fand er Zeit und Gelegenheit ohne daß der Mörder es merkte, von dem Rock des Ermordeten ein Stück abzureißen. Natürlich um ein Beweisstück zu haben, ein Mittel, eventuell die Sachen weiter verfolgen und den Verbrecher überführen zu können. Er steckte den Rockzipfel in die Tasche. Hierauf schloß er die Thür auf, ließ den Mörder samt seiner Last hinaus, schloß die Thür wieder zu und machte, daß er davonkam, da er das Weitere nicht abwarten, vor allen Dingen aber nicht dabei sein wollte, wenn der Mörder die Leiche in den Fluß werfen würde. Sie verstehen jetzt. Der die Leiche trug, war Jean Valjean; der den Schlüssel hatte, spricht mit Ihnen im gegenwärtigen Augenblick; und das Stück Tuch …«

Thénardier beendete den Satz, indem er einen Fetzen schwarzes, mit dunkeln Flecken bedecktes Tuch aus der Tasche zog und es an den Enden zwischen je einem Zeigefinger und einem Daumen in der Höhe seiner Augen emporhielt.

Marius war unterdessen aufgestanden, leichenblaß, athemlos, den Blick auf das schwarze Stück Tuch geheftet und ging, ohne ein Wort zu sprechen, ohne ein Auge von dem Lappen zu verwenden, rückwärts nach der Wand hin, griff hinter sich mit der reckten Hand und tastete nach einem Schlüssel, der in dem Schloß eines, unweit des Kamins angebrachten Wandschranks steckte. Er fand den Schlüssel, schloß den Wandschrank auf, fuhr mit dem Arm hinein, ohne hinzublicken und indem er die Augen starr auf Thénadiers Stück Tuch gerichtet hielt.

Unterdessen fuhr Thénardier mit seiner Rede fort:

»Herr Baron, ich habe die zwingendsten Gründe zu glauben, daß der Ermordete ein reicher, junger Fremder war, den Jean Valjean in einen Hinterhalt lockte und der eine kolossale Summe Geld bei sich trug.«

»Der junge Mann war ich, und hier ist der Rock!« rief Marius und warf einen alten, schwarzen, mit Blut befleckten Rock auf den Fußboden.

Dann riß er Thénardier den Fetzen aus den Händen, hockte nieder und hielt das abgerissene Stück an den verstümmelten Rockschoß. Die beiden Teile paßten genau zusammen.

Thénardier war wie versteinert. Er dachte: »Ich werde auf den Rücken fallen.«

Marius richtete sich auf, zitternd vor Aufregung, voller Verzweiflung, triumphirend.

Er griff in seine Tasche, ging wüthend auf Thénardier los und hielt ihm so nahe, daß sie fast sein Gesicht berührte, die Faust hin, die er voller Fünfhundert- und Tausendfrankenscheine hatte.

»Sie sind ein nichtswürdiger Mensch Sie sind ein Lügner, ein Verleumder, ein Schurke. Sie kamen, den Mann anzuklagen, und haben ihn gerechtfertigt; Sie wollten ihn zu Grunde richten, und es ist Ihnen nur gelungen, ihn zu erhöhen. Sie sind ein Spitzbube! Sie sind ein Mörder! Ich haben Sie gesehen, Thénardier Jondrette, in Ihrer Räuberhöhle, in dem Goebeauschen Hause. Ich weiß genug über Sie, um Sie ins Zuchthaus zu bringen, wenn ich wollte, ja, Sie um einen Kopf kürzer machen zu lassen. Da! hier sind tausend Franken, Sie Hundsfott Sie!«

Und er warf Thénardier einen Tausendfrankenschein hin.

»Ja, ja, Jondrette Thénardier, Sie gemeiner Halunke! Lassen Sie Sich dies zur Lehre dienen, Sie Geheimnißverkäufer, Sie elender Schleicher! Nehmen Sie noch diese fünfhundert Franken und machen Sie, daß Sie mir aus dem Hause kommen. Wenn ich nicht an Waterloo dächte, — würde ich anders mit Ihnen spielen.«

»Waterloo?« murmelte Thénardier, indem er die fünfhundert nach den tausend Franken in die Tasche schob.

»Ja, Sie Mörder, Sie haben bei Waterloo einem Obersten das Leben gerettet …«

»Einem General,« entgegnete Thénardier und hob den Kopf empor.

»Einem Obersten,« erwiderte Marius hitzig. »Für einen General würde ich keinen Heller geben. Und Sie kamen mit den schändlichsten Absichten her. Allerhand Verbrechen haben Sie begangen. Gehen Sie aus Paris fort! Verschwinden Sie! Lassen Sie es Sich gut gehen! Mir soll’s recht sein, wenn Sie’s noch zu etwas bringen. O, Sie Abgrund von Nichtswürdigkeit. Da haben Sie noch dreitausend Franken. Morgen schiffen Sie Sich mit Ihrer Tochter nach Amerika ein, denn Ihre Frau ist gestorben, Sie verabscheuungswürdiger Lügner. Ich werde aufpassen, daß Sie abdampfen, Sie Bandit, und Ihnen bei der Abfahrt noch zwanzigtausend Franken hinzählen. Suchen Sie Sich anderswo einen Galgen!«

»Herr Baron,« antwortete Thénardier, indem er sich bis zur Erde verneigte, »ewigen Dank!«

Er ging hinaus, aufs höchste verblüfft über Marius unbegreifliches Benehmen, aber hoch entzückt über das Ungewitter, das sich in Gestalt von Tresorscheinen über ihn entladen hatte. Es wäre ihm nicht recht gewesen, wenn ihn ein Blitzableiter gegen diese Art Donnerwetter geschützt hätte.

Fertigen auch wir diesen Menschen sofort ab. Zwei Tage nach dem soeben erzählten Ereigniß schiffte er sich unter einem falschen Namen und mit einer Tratte von zwanzigtausend Franken versehen, mit seiner Tochter Azelma nach Amerika ein. Die moralische Misere des Elenden, eine Folge seiner verfehlten Existenz, war unheilbar; er war in Amerika so, wie er in Europa gewesen. Die Berührung mit einem schlechten Menschen genügt bisweilen, um eine gute Handlung zu verderben und in ihr Gegentheil zu verkehren: Mit dem von Marius geschenkten Gelde etablirte sich Thénardier als Sklavenhändler.

Sobald Thénardier fort war, eilte Marius in den Garten, wo Cosette noch spazieren ging.

»Cosette, Cosette!« rief er. »Komm schnell! Wir wollen hinfahren. Baske, eine Droschke! Cosette, komm. O Gott, O Gott! Er hat mir das Leben gerettet. Wir wollen keine Minute verlieren. Nimm Dein Umschlagetuch.«

Cosette glaubte, er wäre närrisch geworden und willfahrte ihm.

Er hatte keinen Athem mehr und mußte die Hand auf die Brust halten, um das wilde Pochen seines Herzens zu unterdrücken. Ging er mit großen Schritten auf und ab und umarmte Cosette: »Ach Cosette, was für ein unglücklicher Mensch bin ich!« sagte er.

Marius war außer sich vor Bestürzung. Es stieg eine Ahnung in ihm auf, welch ein hochsinniger und unglücklicher Mann dieser Jean Valjean war, welch eine milde, unsäglich großartige und bescheidene Tugend sich in ihm verkörpert hatte. Der Galeerensklave verklärte sich jetzt zu einer Christusgestalt, deren lichte Hoheit Marius blendete. Er wußte nicht genau, was sich da seinem geistigen Auge darbot, aber etwas Großes mußte es wohl sein.

In einem Augenblick stand eine Droschke vor dem Hause.

Marius half Cosette beim Einsteigen und sprang nach ihr hinein.

»Kutscher, Rue de l’ Homme-Armé Nr. 7.«

Die Droschke setzte sich in Bewegung.

»Ach, das ist schön!« rief Cosette, »Rue de l’ Homme-Armè! Ich wagte schon nicht mehr, mit Dir davon zu sprechen. Wir werden Herrn Jean wiedersehen!«

»Deinen Vater, Cosette. Nenne ihn Deinen Vater. Er verdient es mehr als je. Cosette, jetzt kann ich mir’s denken, wie’s gewesen ist. Du sagtest, Du hättest den Brief, den ich Dir durch Gavroche schickte, nie erhalten. Er wird ihm in die Hände gefallen sein. Cosette, er ist nach der Barrikade gegangen, um mich zu retten, und da er nicht anders kann und immer als guter Engel auftreten muß, so hatte er nebenbei einen Andern, Javert, gerettet. Er hat mich dem Verderben entrissen, um mich Dir zu schenken. Er hat mich auf dem Rücken durch die scheußlichen Kloaken getragen. Gott, was bin ich für ein Ungeheuer von Undankbarkeit! Cosette, nachdem er Deine Vorsehung gewesen ist, hat er über mich gewacht. Denke Dir, es war da ein fürchterliches Schlammloch, in dem er hundertmal ertrinken, im Koth ertrinken konnte und da hat er mich hindurchgetragen, Cosette! Ich war bewußtlos; ich sah und hörte nichts, ich wußte nicht, was mit mir vorging. Jetzt aber fahren wir hin und holen ihn, ob er will oder nicht. Und er darf nicht mehr von uns fort. Wenn er bloß zu Hause ist! In Zukunft will ich nur daraus sinnen, wieviel Liebes und Gutes ich dem ehrwürdigen Mann erweisen kann. Ja, ja, Cosette, so wird sich die Sache verhalten. Gavroche hat ihm meinen Brief übergeben. Nun ist mir die Sache klar.

Nicht wahr, Cosette?«

Cosette, die nicht wußte, was er meinte, antwortete:

»Natürlich, lieber Marius.«

Die Nacht, hinter der der Tag steht

Bei dem Geräusch, das er an der Thür hörte, wandte Jean Valjean sich um.

»Herein!«

Die Thür ging auf und das junge Paar erschien, Cosette eilte in das Zimmer hinein, während Marius, an den Thürpfosten gelehnt, auf der Schwelle stehen blieb.

»Cosette!« rief Jean Valjean und richtete sich auf seinem Stuhl empor, die zitternden Arme nach ihr ausbreitend, verstört, leichenblaß und helle Freude in den Augen.

Cosette, von Rührung überwältigt, sank ihm an die Brust.

»Vater!« rief sie.

Jean Valjean, seiner selbst nicht mächtig, stammelte:

»Cosette! Sie Frau Baronin! Du bist’s? Ach Gott!«

Und von Cosettens Armen eng umschlungen rief er:

»Du bist es! Du bist da! Also verzeihst Du mir!«

Marius, der die Augenlider niederschlagen mußte, um die Thränen zu bekämpfen, that einen Schritt vor und murmelte zwischen seinen krampfhaft zusammengezognen Lippen:

»Vater!«

»Und Sie verzeihen mir auch!« sagte Jean Valjean.

Marius konnte kein Wort hervorbringen, und Jean Valjean sagte: »Ich danke Ihnen!«

Cosette warf Shawl und Hut auf das Bett.

»Fort damit! Ich kann mich nicht bewegen.«

Sie setzte sich dem Greis auf den Schoß, strich ihm mit einer lieblichen Bewegung die Haare aus der Stirn und küßte ihn.

Jean Valjean ließ sie, außer sich vor Wonne, gewähren.

Cosette, die den ganzen Hergang nur unklar begriff, verdoppelte ihre Liebkosungen, als ob sie auch Marius Schuld abtragen wollte.

»Wie dumm man ist!« stammelte Jean Valjean. »Ich glaubte, ich würde Sie nicht wiedersehen. Denken Sie Sich, Herr Baron, eben als Sie klopften, sagte ich: ›Es ist vorbei. Da ist ihr Kleidchen, ich Unglücklicher werde Cosette nicht wiedersehen.‹ So dachte ich, als Sie die Treppe heraufkamen. Solch ein Unsinn! Aber so dumm ist man, wenn man den lieben Gott aus der Rechnung fortläßt. Der Herrgott aber sagt: Bildest Du Einfaltspinsel Dir ein, daß man Dich im Stich lassen wird? Nein, das lasse ich nicht zu; Vorwärts, es ist da ein armer, alter Mann, der einen Engel braucht. Und der Engel kommt und man sieht seine Cosette, sein liebes Cosettchen wieder. Ach, ich fühlte mich recht unglücklich!«

Hier mußte er inne halten, ehe er weiter sprechen konnte.

»Es war wirklich ein Bedürfnis für mich, Cosette von Zeit zu Zeit zu sehen. Der Hund will einen Knochen haben, an dem er nagen kann, und dem menschlichen Herzen geht es ebenso. Indessen sah ich ein, daß ich überflüssig war. Ich bemühte mich, Vernunft anzunehmen. ›Sie brauchen Dich nicht,‹ sagte ich mir. Bleibe Du, wo Du hingehörst. Man hat nicht das Recht den Leuten ewig auf dem Halse zu liegen. Gott sei Lob und Dank, daß sie wieder da ist. Dein Marius ist aber ein hübscher Mann, Cosettchen! Was für einen schönen, gestickten Halskragen Du da hast! So etwas läßt man sich gefallen. Ein hübsches Muster! Das hat Dir Dein Mann geschenkt, nicht wahr? Kaschemir solltest Du auch tragen. Herr Baron, erlauben Sie mir, sie zu duzen. Es ist ja nur auf kurze Zeit.«

Und Cosette schalt ihn:

»Wie schlecht Du bist, Vater, daß Du uns so allein gelassen hast! Wo bist Du denn gewesen? Warum bist Du so lange weggeblieben? Früher dauerten Deine Reisen höchstens drei bis vier Tage. Ich habe Nicolette geschickt, um sich zu erkundigen und immer hieß es: Er ist verreist. Wann bist Du zurückgekommen? Warum hast Du’s uns nicht wissen lassen? Weißt Du, Vater, Du bist sehr verändert. Pfui, der abscheuliche Vater! Er ist krank gewesen und wir haben es nicht gewußt. Komm her, Marius, fühle seine Hand an, wie kalt sie ist!«

»Also seid Ihr wieder da! Herr Baron, ich sehe, Sie verzeihen mir!« wiederholte Jean Valjean.

Bei dem Wort Verzeihen brachen die Gefühle, die Marius Brust zum Zerspringen schwellten, sich Bahn.

»Hörst Du, Cosette? wie er die Sache auffaßt? Er bittet mich um Verzeihung. Und weißt Du, was er für mich gethan hat? Er hat mir das Leben gerettet. Noch mehr. Er hat Dich in meine Arme geführt. Und sich hat er dabei geopfert. Solch ein Mann ist das. Und zu einem so undankbaren, vergeßlichen, harten Menschen wie mir sagt er: Ich danke Ihnen! — Cosette! Wenn ich jeden Tag vor ihm auf den Knieen läge, so wäre das zu wenig Genugthuung. Die Gefahren bei dem Barrikadenkampfe und dem Marsch durch die Kloaken hat er alle für Dich und mich bestanden! Jede Art von Muth, von Tugend, von Selbstüberwindung, von Religiosität besitzt dieser Mann. Er ist vollkommen wie ein Engel!«

»Pst, pst!« machte Jean Valjean ganz leise, »warum sagen Sie das alles?«

»Und Sie,« rief Marius mit einem Aerger, aus dem Achtung und Bewundrung herausklang, »warum haben Sie es nicht gesagt? Sie haben auch Schuld daran. Sie retten den Leuten das Leben und verheimlichen es ihnen. Ja, Sie thun noch Schlimmeres. Unter dem Vorwande, daß Sie Enthüllungen über Sich machen wollen, verleumden Sie Sich. So etwas ist abscheulich.«

»Ich habe die Wahrheit gesagt,« entgegnete Jean Valjean.

»Nein; denn wer die Wahrheit sagen will, muß die ganze Wahrheit sagen. Warum haben Sie nicht gesagt, daß Sie Madeleine waren? Sie haben Javert das Leben gerettet. Das haben Sie auch verschwiegen. Ich verdankte Ihnen auch das Leben, und das haben Sie ebenso wenig gesagt.«

»Weil ich so dachte wie Sie. Ich fand, daß Sie Recht hatten. Es gehörte sich, daß ich ging. Hätten Sie gewußt, daß ich Sie durch die Kloaken getragen habe, so hätten Sie darauf bestanden, daß ich bleiben sollte. Ich mußte also schweigen. Ich wäre hinderlich gewesen.«

»Hinderlich? Inwiefern? Für wen?« entgegnete Marius. »Denken Sie, Sie werden wieder hier bleiben? Wir nehmen Sie mit. Mein Gott, wenn ich denke, daß ich alles bloß durch einen Zufall erfahren habe. Wir nehmen Sie mit. Sie sind ein Theil unsrer selbst. Sie sind Cosettens und mein Vater. Sie dürfen in diesem abscheulichen Hause nicht einen Tag länger bleiben. Bilden Sie Sich nicht ein, daß Sie morgen noch hier sein werden.«

»Morgen,« erwiederte Jean Valjean, »werde ich allerdings nicht mehr hier sein, aber auch nicht bei Euch.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Marius. »Hören Sie, reisen lassen wir Sie nicht mehr. Sie gehen nicht mehr von uns fort. Sie gehören uns. Wir lassen Sie nicht los.«

»Ja, dieses Mal machen wir Ernst,« sagte Cosette. »Unten steht unsre Droschke. Ich nehme Dich mit. Wenn es sein muß, brauche ich Gewalt.«

Und sie machte zum Scherz eine Bewegung, als wollte sie den Greis heben.

»Dein Zimmer in unserm Hause steht noch immer für Dich bereit, Vater. Wenn Du wüßtest, wie hübsch der Garten in dieser Jahreszeit ist? Die Azaleen gedeihen vorzüglich. Die Gänge sind mit Flußsand bestreut und wir haben violette Muscheln. Erdbeeren von mir sollst Du auch bekommen; ich begieße sie selber. Und keine Frau Baronin, kein ›Herr Jean‹ mehr; bei uns geht’s republikanisch zu; wir duzen uns Alle, nicht wahr, Marius? Das Programm ist geändert. Weißt Du, Vater, ich habe Kummer gehabt; eine abscheuliche Katze hat mir ein Rothkehlchen aufgefressen, das sich in der Mauer ein Nest gebaut hatte. Mein armes, kleines, niedliches Rothkehlchen, daß mich immer so lieb ansah! Ich habe geweint. Und die Katze hätte ich umbringen können, so wüthend war ich. Aber jetzt wird nicht mehr geweint. Jetzt lacht alle Welt und ist glücklich. Du kommst mit uns. Was der Großvater zufrieden sein wird! Du sollst ein eignes Beet im Garten bekommen, das kannst Du selber im Stande halten und wir werden sehen, ob Deine Erdbeeren besser sein werden als meine. Außerdem werde ich Alles thun, was Du willst, und Du wirst mir auch gehorchen.«

Jean Valjean lauschte ihren Worten, ohne sie zu hören. Er achtete mehr auf den Wohllaut ihrer Stimme, als auf den Sinn ihrer Rede; eine jener schweren Thränen, die man die Wehmuthsperlen der Seele nennen möchte, sammelte sich langsam in seinem Auge. Er flüsterte:

»Nun habe ich den Beweis, daß Gott gut ist: Sie ist bei mir.«

»Väterchen!« sagte Cosette.

Jean Valjean fuhr fort:

»Freilich wäre es reizend, wenn wir beisammen wohnen könnten. Sie haben eine Menge Vögelchen in Ihrem Garten. Ich würde mit Cosette spazieren gehen. Es ist süß, zu den Leuten zu gehören, die sich des Lebens freuen dürfen, die sich grüßen, die im Garten einander anrufen. Man kommt schon am Morgen zusammen. Wir würden Jeder ein Stückchen Land bebauen. Sie würde mich von ihren Erdbeeren essen lassen, ich würde ihr meine Rosen schenken. Ja ja, es wäre schön. Aber …«

Er unterbrach seine Rede und sagte dann noch mit sanfter Stimme:

»Schade!«

Die Thräne fiel nicht, sie trat zurück und Jean Valjean ersetzte sie durch ein Lächeln.

Cosette nahm die beiden Hände des Greises in die ihrigen.

»Mein Gott!« rief sie, »Deine Hände sind ja noch kälter geworden. Bist Du krank? Hast Du Schmerzen?«

»Ich? Nein!« antwortete Jean Valjean, »mir ist sehr wohl. Aber …«

Er hielt inne.

»Aber was?«

»Ich werde noch heute sterben.«

Cosette und Marius erschraken.

»Sterben?« rief Marius.

»Ja, aber das hat nichts auf sich,« sagte Jean Valjean.

Er athmete, lächelte und sagte:

»Cosette, Du sprichst eben zu mir, fahre fort, sprich weiter; Dein Rothkehlchen ist also tot; sprich, damit ich Deine Stimme höre!«

Marius blickte starr vor Schrecken auf den Greis.

Cosette stieß einen herzzerreißenden Schrei aus.

»Vater, lieber Vater, das ist ja nicht möglich! Du sollst leben; Du wirst leben. Hörst Du, ich will, daß Du am Leben bleibst!«

Jean Valjean hob den Kopf empor und sah sie liebevoll an.

»Ach ja, verbiete mir zu sterben. Wer weiß, vielleicht gehorche ich. Ich war im Begriff hinüberzugehen, als Ihr ankamt. Das hat mich zurückgehalten; mir war, als kehrte ich ins Leben zurück.«

»Sie haben noch viel Lebenskraft,« rief Marius. »Wie können Sie glauben, daß man so im Handumdrehen sterben kann? Sie haben Kummer gehabt: Das wird nicht wieder vorkommen. Ich bitte Sie um Verzeihung, auf den Knieen. Sie werden leben bleiben und zwar bei uns und noch recht lange. Wir nehmen Sie wieder mit. Wir sind unsrer zwei, die fortan nur einen Gedanken haben werden, dafür zu sorgen, daß Sie Sich glücklich fühlen.«

»Du siehst, Vater,« sagte Cosette, die in Thränen schwamm, »Marius sagt, Du wirst nicht sterben.«

Jean Valjean fuhr fort zu lächeln.

»Wenn Sie mich auch wieder in Ihr Haus aufnehmen würden, Herr Baron, ich würde ja doch bleiben, was ich bin. Nein, Gott hat wie Sie und ich entschieden und er ändert seinen Willen nicht; es ist gut, daß ich von hinnen gehe. Der Tod hilft über alle Schwierigkeiten hinweg, Gott weiß besser als wir, was wir brauchen. Daß Ihr glücklich seid, daß Pontmercy Cosette hat, daß die Jugend sich mit dem Morgen vermählt, daß Euch, liebe Kinder, Lilien und Nachtigallen umgeben, daß Euer Leben ein schöner, sonniger Garten sei, daß alle Himmelswonnen Eure Seele erfüllen, und daß ich, der nichts mehr nützen kann, jetzt sterbe, das gehört sich zweifelsohne. Laßt Euch zureden, Kinder. Wir müssen vernünftig sein; es ist nichts mehr zu machen; ich fühle, daß es mit mir zu Ende geht. Vor einer Stunde hatte ich eine Ohnmacht. Und diese Nacht habe ich den ganzen Wasserkrug da ausgetrunken. Wie gut Dein Mann ist, Cosette! Du bist bei ihm weit besser aufgehoben, als bei mir.«

In diesem Augenblick ließ sich an der Thür ein Geräusch vernehmen. Es war der Arzt.

»Guten Tag und Lebewohl, Herr Doktor,« sagte Jean Valjean. »Dies sind meine armen Kinder.«

Marius trat an den Arzt heran und sagte bloß: »Herr Doktor?« Aber die Art, wie er diese Worte aussprach, kam einer ausführlichen Frage gleich.

Der Arzt beantwortete die Frage mit einem bedeutungsvollen Blick.

»Daß die Dinge uns nicht gefallen,« sprach Jean Valjean, »ist kein Grund, gegen Gott ungerecht zu sein.«

Es trat eine Pause ein. Alle fühlten sich beklommen.

Jean Valjean wandte sich wieder nach Cosette hin und betrachtete sie so innig, als wollte er für die Ewigkeit sich satt an ihr sehen. So tief er auch schon in die Nacht des Grabes hinabgestiegen war, noch konnte in seinem blassen Antlitz Freude aufleuchten, wenn er Cosette betrachtete.

Der Arzt befühlte ihm den Puls.

»Also Sie brauchte er!« murmelte er mit einem Blick auf Marius und Cosette.

Und indem er sich zu Marius hinneigte, flüsterte er:

»Zu spät!«

Jean Valjean sah, indem er nur wenig den Blick von Cosette abwandte, Marius und den Arzt mit heitrer Seelenruhe an. Aus seinem Munde kamen die schwach artikulierten Worte:

»Sterben ist nichts; nicht leben ist schrecklich.«

Auf ein Mal erhob er sich von seinem Sitze. Solch eine Rückkehr der Körperkraft ist bisweilen ein Zeichen, daß der Todeskampf schon begonnen hat. Er trat festen Schrittes an die Wand, schob Marius und den Arzt, die ihn stützen wollten, bei Seite, hakte das kleine Krucifix von der Wand los, kam zu seinem Stuhl mit der ganzen Bewegungsfreiheit der Gesundheit zurück und sagte, indem er das Krucifix auf den Tisch legte, mit lauter Stimme:

»Der hier, ist der größte aller Märtyrer!«

Dann sank seine Brust ein, der Kopf schwankte und seine beiden Hände, die auf seinen Knieen ruhten, gruben sich in das Tuch seiner Beinkleider ein.

Cosette stützte ihm die Schultern und schluchzte. Vergebens bemühte sie sich, zu ihm zu sprechen. Kaum daß der Speichel, der mit den Thränen zugleich fließt, einige ihrer Worte unterscheiden ließ: »Vater, verlaß uns nicht. Ist es denn möglich, daß wir Dich nur dazu wiederfinden, um Dich zu verlieren?«

Man könnte sagen, daß der Todeskampf eine geschlängelte Linie beschreibt. Er geht, kommt, rückt nach dem Grabe vor und kehrt zum Leben zurück. Beim Sterben tastet sich der Mensch nach dem Totenreich hin.

Nach dieser halben Ohnmacht gewann Jean Valjean wieder etwas Kraft, bewegte den Kopf, als wolle er die Todesfinsterniß abschütteln und gelangte beinah wieder in den Vollbesitz seines Verstandes. Er griff nach Cosettens Aermel und küßte ihn.

»Er kommt wieder zu sich, Herr Doktor!« rief Marius.

»Ihr seid Beide gut,« sagte Jean Valjean. »Ich will Euch gestehen, was mich geschmerzt hat. Nämlich, daß Sie, Herr Baron, nicht das Geld anrühren wollen. Es gehört wirklich Ihrer Frau. Ich will Euch erklären, wie das zusammenhängt; eben deswegen freue ich mich so, daß Ihr gekommen seid. Der schwarze Jet kommt aus England, der weiße aus Norwegen. Das steht alles in dem Brief da, den Ihr lesen werdet. Was die Armbänder betrifft, so habe ich die Erfindung gemacht, daß die blechernen, gelötheten Schieber durch bloß angefügte ersetzt werden können. Das ist hübscher, besser und wohlfeiler. Ihr begreift, daß man damit viel Geld verdienen kann. Cosettens Vermögen ist also wirklich ihr Eigenthum. Ich erkläre Euch die Sache so ausführlich, damit Ihr Euch beruhigt.«

Mittlerweile war auch die Portierfrau beraufgekommen und sah durch die halb offne Thür herein. Der Arzt winkte sie weg, konnte es aber nicht verhindern, daß die gute Frau in ihrem Eifer noch eine Frage an den Sterbenden richtete:

»Wollen Sie, daß ich einen Geistlichen hole?«

»Es ist schon einer da!« antwortete Jean Valjean und wies mit dem Finger auf einen Punkt über seinem Kopfe, wo wohl Jemand über ihm schwebte, der Bischof.

Cosette schob ihm sanft ein Kissen hinter den Rücken.

Jean Valjean fuhr fort:

»Herr Baron, ich beschwöre Sie, seien Sie ohne Furcht. Die sechshunderttausend Franken sind wirklich Cosettens Eigenthum. Mein Leben wäre ja verloren, wenn Ihr von dem Gelde keinen Gebrauch machen wolltet. Es war uns gelungen, die betreffenden Glaswaaren sehr gut herzustellen. Wir konnten es mit der Berliner Fabrikation aufnehmen. Allerdings gegen das schwarze Glas aus Deutschland kommt nichts auf. Ein Groß, das zwölfhundert Perlen enthält, kostet nur drei Franken.«

Wenn ein Wesen, das uns theuer ist, im Sterben liegt, sehen wir es mit einem Blick an, der sich an ihn anklammert und ihn zurückhalten möchte. Stumm vor Angst, verzweifelt und zitternd, standen Beide vor ihm, indem sie sich bei der Hand hielten.

Allmählich wurde Jean Valjean schwächer. Sein Athem war ungleichmäßig und wurde durch das Todesröcheln unterbrochen. Es ward ihm schwer, seinen Vorderarm auf eine andre Stelle zu legen, die Füße hatten alle Bewegungsfähigkeit verloren und während das körperliche Elend zunahm, stieg die Majestät der Seele empor und entfaltete sich auf seiner Stirn. Schon war das Licht der unbekannten Welt in seinem Auge zu sehen.

Sein Gesicht war fahl und lächelte. Das Leben war daraus entwichen, dafür thronte darauf etwas Anderes. Stockte sein Athem, so strahlte sein Auge in überirdischer Klarheit.

Er winkte Cosette und dann Marius, näher zu treten; — offenbar war jetzt die letzte Minute der letzten Stunde gekommen — und sprach zu ihnen mit so matter Stimme, als läge schon jetzt eine Mauer zwischen ihnen und ihm.

»Tritt näher, tretet Beide näher. Ich liebe Euch sehr. O, so zu sterben ist schön! Auch Du, Cosette, liebst mich. Ich wußte ja, daß Du Deinen guten Alten immer gern hattest. Wie freundlich von Dir, daß Du mir das Kissen unter das Kreuz gelegt hast! nicht wahr? Du wirst ein wenig um mich weinen? Nicht zu viel. Ich will nicht, daß Du wahren Kummer hast. Ihr sollt Euch tüchtig amüsiren. Ich habe noch vergessen, Euch zu sagen, daß man an den Schnallen ohne Dorne noch mehr verdiente, als an den andern Sachen. Das Groß, also zwölf Dutzend kam auf zehn Franken zu stehen und wurde mit sechzig Franken bezahlt. Es war wirklich ein sehr einträgliches Geschäft. Sie dürfen Sich also nicht wundern, Herr Baron, daß sechshunderttausend Franken dabei herauskommen konnten. Es ist ehrlich verdientes Geld. Ihr könnt also Euern Reichthum in Ruhe genießen. Ihr müßt Euch eine Equipage halten, von Zeit zu Zeit ins Theater gehen, schöne Balltoiletten anschaffen, liebe Cosette, und gute Freunde zum Diner einladen, kurz, das Leben genießen. Vorhin schrieb ich an Cosette. Sie wird den Brief auf dem Tisch finden. Ihr vermache ich die beiden Leuchter, die auf dem Kaminsims stehen. Die sind von Silber; aber für mich sind sie von Gold, von Diamanten. Ich weiß nicht, ob Derjenige, der sie mir geschenkt hat, da oben mit mir zufrieden ist. Ich habe gethan, was ich konnte. Liebe Kinder, vergeßt nicht, daß ich ein armer Mann bin, und laßt mich in dem ersten besten Winkel begraben, unter einem Stein, um die Stelle zu bezeichnen. Dies ist mein Wille. Keinen Namen auf den Stein setzen lassen. Wenn Cosette bisweilen kommen will, so soll es mich freuen. Sie auch, Herr Baron. Ich muß Ihnen gestehen, daß ich nicht immer ein Freund von Ihnen gewesen bin; ich bitte Sie deswegen um Verzeihung. Jetzt seid Ihr Beide für mich nur eine Person. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Ich sehe ja, daß Sie Cosette glücklich machen. Wenn Sie wüßten, wie mich ihre schönen, rosigen Bäckchen freuen; wenn sie blaß aussah, machte ich mir immer Sorgen. In der Kommode liegt ein Fünfhundertfrankenschein. Ich habe ihn nicht angerührt. Der ist für die Armen. Cosette, siehst Du das Kleidchen da auf dem Bett? Erkennst Du’s? Es ist bloß zehn Jahre her. Wie schnell die Zeit vergeht! Wir sind recht glücklich gewesen. Es ist vorbei mit mir. Weint nicht, Kinder, ich gehe nicht weit. Ich werde Euch von dort aus sehen, Ihr braucht blos des Nachts hinzusehen, so werde ich Euch zulächeln. Cosette, besinnst Du Dich noch auf Montfermeil? Du warst im Walde und fürchtetest Dich so sehr; erinnerst Du Dich, wie ich Dir den Eimer abgenommen habe? Es war das erste Mal, daß ich Dein armes, liebes Händchen berührte. Es war recht kalt. Ja ja, Fräulein, Sie hatten damals ganz rothe Hände; jetzt sind sie hübsch weiß. Und die große Puppe! Denkst Du noch an die? Du nanntest sie Kathrine. Es that Dir leid, daß Du sie nicht ins Kloster mitgenommen hattest. Wie oft habe ich über Dich lachen müssen, mein Engel! Wenn es geregnet hatte, warfst Du Strohhalme in die Rinnsteine und sahst ihnen nach. Einmal schenkte ich Dir ein Rackett aus Weidengeflecht und einen Ball mit gelben, blauen, und grünen Federn. Du hast es vergessen. Du warst so schelmisch, als Du klein warst. Du spieltest so niedlich, Du hängtest Dir Kirschen über die Ohren. Doch das sind Dinge, die der Vergangenheit angehören. Die Wälder, durch die man mit seinem Kind gewandert ist, die Alleen, wo man spazieren gegangen ist, die Klöster, in denen man sich verborgen gehalten hat, die lustigen Spiele der Kindheit sind Schattenbilder. Ich bildete mir ein, das gehörte mir Alles, So weit verirrte sich meine Dummheit. Die Thénardiers sind sehr schlecht gewesen. Du mußt ihnen verzeihen, Cosette. Jetzt will ich Dir auch endlich den Namen Deiner Mutter sagen: Sie hieß Fantine. Behalte ja diesen Namen, mein Kind! Kniee jedes Mal nieder; wenn Du den Namen aussprichst. Sie hat viel erduldet. Und Dich sehr geliebt. Sie hat so viel Unglück gehabt, wie Du Glück hast. So vertheilt Gott seine Gaben. Er ist dort oben, sieht uns Alle und weiß, was er in seinem Sternenhimmel thut. Jetzt werde ich also von hinnen gehen, liebe Kinder. Habt Euch ja immer recht lieb. Weiter giebt es nichts Gutes auf der Welt als die Liebe. Denkt zuweilen an den armen Alten, der hier gestorben ist. O meine Cosette, es ist nicht meine Schuld, wenn ich Dich die ganze Zeit über nicht besucht habe. Es zernagte mir das Herz. Ich ging bis an die Ecke der Straße. Was die Leute wohl über mich gedacht haben mögen, wenn sie mich vorbeigehen sahen! Ich war wie irrsinnig; das eine Mal bin ich ohne Hut ausgegangen. Liebe Kinder, meine Augen werden trübe; ich hätte Euch wohl noch Einiges zu sagen; aber das kann auch bleiben. Denkt ein bischen an mich. Ihr seid Kinder des Glücks. Ich weiß nicht, wie mir ist; ich sehe Licht. Kommt noch näher. Ich sterbe zufrieden. Haltet mir Eure lieben Köpfe her, daß ich meine Hände darauf lege.«

Cosette und Marius fielen auf die Kniee, fassungslos vor Schmerz, und legten Jedes den Kopf auf eine Hand des Sterbenden. Diese edlen Hände bewegten sich nicht mehr.

Rückwärts gelehnt, vom Licht der beiden Leuchter bestrahlt saß er da; sein weißes Gesicht sah himmelwärts; er ließ Cosette und Marius seine Hände mit Küssen bedecken; er war tot.

Kein Stern erhellte die dunkle Nacht. Unzweifelhaft stand ein Engel draußen mit ausgebreiteten Flügeln und wartete aus die Seele.

Der Grabstein

Auf dem Kirchhof des Père-Lachaise, unweit der gemeinsamen Totengrube, fern von dem feinen Viertel dieser Gräberstadt, fern von den luxuriösen Denkmälern, die Angesichts der Ewigkeit widerwärtigen Modeprunk entfalten, in einem stillen Winkel an der alten Mauer, unter einem großen Eibenbaum, an dem Winden neben Quecken und Moosen emporsteigen, sieht man einen Grabstein. Er ist wie alle andern Steine vom Zahn der Zeit nicht verschont geblieben, ist mit Schimmel, Flechten und Vogelmist bedeckt. Das Wasser macht ihn grün, die Luft schwärzt ihn. Kein Pfad führt dorthin und man geht nicht gern nach jener Gegend, weil das Gras dort sehr hoch steht und man gleich nasse Füße bekommt. Wenn die Sonne scheint, tummeln sich da die Eidechsen. Rings herum wallen im Winde Halme von Taubhafer. Im Frühling singen die Grasmücken auf dem Baum.

Der Stein ist ganz kahl. Man hat, als er behauen wurde, nur an das Allernothwendigste gedacht und ihn nur gerade so breit und so lang gemacht, daß er den Leichnam eines Mannes bedecken konnte.

Es steht kein Name auf diesem Stein.

Indessen hat eine unbekannte Hand vor langen Jahren ein paar Verse darauf gekritzelt, die Regen und Staub verwischt haben, und die heute wahrscheinlich ausgelöscht sind:

Der hier in Frieden ruht

Errang, verfolgt vom Leid in tausendfältiger Gestalt

Sich stets aufs Neu des Lebens zweifelhaftes Gut.

Doch als sein guter Engel von ihm wich,

Des Lebens Sonne ihm erblich,

Erlag er jäh des Schicksals feindlicher Gewalt.

Teil VI

Nachtrag

Brief an Herrn Daelli, Herausgeber der italienischen Übersetzung der »Elenden,« zu Mailand.

Hauteville-House den 18. Oktober l862.

»Sie haben Recht, mein Herr, wenn Sie mir sagen, das Buch ›die Elenden‹ sei für alle Völker geschrieben. Ich weiß nicht, ob es von allen gelesen werden wird, geschrieben aber habe ich es für alle. Es wendet sich an England so gut wie an Spanien, an Italien so gut wie an Frankreich, an Deutschland so gut wie an Irland, sowohl an die Republiken, wo Sklaven gehalten werden, als auch an die Monarchieen, wo es Leibeigne giebt. Die Schwären der Menschheit, die großen Schwären, die den Erdball bedecken, halten nicht inne vor den blauen und rothen Strichen der Landkarten. Ueberall, wo der Mann in Unwissenheit und Verzweiflung schmachtet; überall, wo das Weib sich verkauft um Brod zu haben; überall, wo das Kind des lehrreichen Buches und des wärmenden Heerdes ermangelt, klopft das Buch ›die Elenden‹ an die Thür und sagt: Macht mir auf, ich bringe Euch etwas.

In der noch so trüben Periode der Civilisation, die wir gegenwärtig durchmachen, bedeutet ›der Elende‹ und ›der Mensch‹ dasselbe; er leidet unter allen Himmelsstrichen und klagt in allen Sprachen.

Ihr Italien ist so wenig von dem Nebel frei, wie unser Frankreich. Ihr schönes Italien trägt auf seinem Antlitz alle Arten von Elend. Haust das Banditenthum, eine wilde Abart des Pauperismus, nicht in Ihren Bergen? Wenige Nationen sind von den Eiterbeulen des Mönchthums, die ich zu seciren versucht habe, so furchtbar zerfressen, wie Ihr Land. Trotz Rom, Mailand, Neapel, Palermo, Turin, Florenz, Siena, Pisa, Mantua, Bologna, Ferrara, Genua, Venedig, trotz Eurer ruhmvollen Geschichte, trotz Eurer imposanten Ruinen, prachtvollen Denkmäler, stolzen Städte, seid Ihr Nothleidende wie wir. Wunderwerke und Ungeziefer. Gewiß ist Italiens Sonne über alle Begriffe herrlich, aber ach! unter dem schönen, blauen Himmelsdom wandeln Menschen in Lumpen.

Bei Euch, wie bei uns herrschen Vorurtheile, Aberglaube, Tyrannei, Fanatismus, blinde Gesetze, die sich zu Helfershelfern der Unwissenheit hergeben. Ihr könnt nie die Gegenwart und Zukunft genießen, ohne daß der bittere Nachgeschmack der Vergangenheit Euch die Freude verdirbt. Ihr habt einen Barbaren, den Mönch, und einen Wilden, den Lazzarone. Die soziale Frage lautet für Euch ebenso, wie für uns. Es sterben bei Euch weniger Leute Hungers und mehr an der Malaria; Eure soziale Hygiene ist nicht weiter vorgeschritten als unsre; ist der Obskurantismus in England protestantisch, so ist er in Italien katholisch, aber trotz der Verschiedenheit der Benennungen ist der vescovo identisch mit dem bishop. Die Bibel schlecht erklären oder das Evangelium falsch verstehen, kommt auf Eins heraus.

Soll ich noch mehr Beweise bringen, noch vollständiger diese schaurige Uebereinstimmung erläutern. Habt Ihr keine Bedürftigen? Blickt nach unten. Keine Schmarotzer? Seht nach oben. Zittert nicht vor Euren Augen, wie vor den unsrigen die grauenvolle Wage, auf der sich der Pauperismus und das Schmarotzerthum ein so leidenvolles Gleichgewicht halten?

Wo ist Eure Armee von Schulmeistern, die einzige Armee, die der Civilisation gefällt? Wo sind Eure unentgeltlichen und obligatorischen Schulen? Kann in dem Vaterlande Dantes und Michelangelos Jedermann lesen? Habt Ihr aus Euren Kasernen Prytaneen gemacht? Habt Ihr nicht wie wir ein großes Kriegs- und ein lächerlich winziges Unterrichtsbudget? Habt nicht auch ihr den passiven Gehorsam, der so leicht soldatischen Charakter annimmt? Habt Ihr nicht einen Militarismus, der so konsequent ist auf Garibaldi zu schießen, d. h. auf die Fleisch gewordne Ehre Italiens? Unterziehen wir Eure Gesellschaftsordnung einer Prüfung; sehen wir zu, was sie in Bezug auf die Hauptsache, die Fürsorge für das Weib und das Kind, leistet. Nach dem Quantum Schutz, den sie diesen beiden schwachen Wesen angedeihen läßt, mißt man den Wert einer Civilisation. Ist nun die Prostitution weniger grauenerregend in Neapel wie in Paris? Welches Quantum Wahrheit ist in Euren Gesetzen enthalten und wieviel Gerechtigkeit spenden Eure Gerichtshöfe? Seid Ihr etwa so glücklich nicht zu wissen, was die fürchterlichen Wörter: Vindicta, Ehrlosigkeitserklärung, Zuchthaus, Schaffott, Henker, Todesstrafe bedeuten? Italiener, bei Euch wie bei uns ist Beccarias System tot und Farinace’s lebt. Sehen wir ferner zu, wie es mit den Principien Eures Staatswesens steht. Habt Ihr eine Regierung, die begreift, das Moral und Politik identisch sind? Es kommt bei Euch vor, daß Helden eine Amnestie gewährt wird!

In Frankreich hat man etwas Aehnliches gethan. Laßt uns doch einmal über die verschiednen Arten Elend eine Musterung halten, bringe Jeder herbei, was er hat; so werden wir sehen, daß Ihr so reich seid, wie wir. Giebt es nicht bei Euch wie bei uns eine religiöse, von dem Priester ausgesprochne und eine sociale, von dem Richter verhängte Verurtheilung? O großes, italienisches Volk, Du gleichst dem großen, französischen Volke. Ach, liebe Brüder, Ihr seid wie wir ›Elende‹.

Aus der Tiefe der Finsterniß, in der wir und Ihr schmachten, seht Ihr Edens lichte und ferne Pforten nicht viel deutlicher als wir. Nur irren sich die Priester. Jene heiligen Pforten liegen nicht hinter, sondern vor uns.

Ich fasse jetzt das Gesagte zusammen. Dieses Buch ›Die Elenden‹, ist nicht weniger ein Spiegel für Euch, als für uns. Natürlich! Spiegel werden gehaßt, weil sie die Wahrheit sagen; das hindert aber nicht, daß es nützliche Gegenstände sind.

Was mich anbelangt, so habe ich für Alle geschrieben, mit inniger Liebe für mein Vaterland, aber ohne Frankreich mehr im Auge zu haben, als andre Länder. Je älter ich werde, desto mehr vereinfache ich mich und desto mehr werde ich Patriot der Menschheit.

So will es auch die Tendenz unsrer Zeit und das Ausstrahlungsgesetz der französischen Revolution; die Bücher müssen, um der zunehmenden Erweiterung der Civilisation zu entsprechen, aufhören exklusiv französisch, italienisch, deutsch, spanisch, englisch, zu sein und europäisch, ja sogar rein menschlich werden.

Woraus sich eine neue Logik der Kunst ergiebt, gewisse neue Regeln der litterarischen Technik, die alles abändern, sogar die ehedem recht engherzigen, aesthetischen und sprachlichen Anforderungen an den Schriftsteller, Anschauungen, die wie alles Andre sich erweitern müssen.

In Frankreich haben mir gewisse Kritiker zu meiner größten Freude den Vorwurf gemacht, ich hielte mich nicht innerhalb der von ihnen so genannten Grenzen des französischen Geschmacks; ich wünschte nur, ich hätte dieses Lob verdient.

Alles in Allem genommen, thue ich, was ich kann; empfinde schmerzlich das allgemeine Weh, und bemühe mich, Abhülfe zu schaffen. Ich habe nur die geringe Kraft eines Menschen und sage zu Allen: Helft mir!

Dies ist es, mein Herr, was Ihr Brief mich bewog, Ihnen zu sagen; ich sage es für Sie und Ihr Vaterland. Wenn ich das Thema so ausführlich behandelt habe, so wurde ich dazu durch eine Stelle Ihres Briefes veranlaßt. Sie schreiben mir: Es giebt Italiener und zwar viele, die da sagen, das Buch ›Die Elenden‹, sei ein französisches Buch, das uns nichts angeht. Mögen die Franzosen es als ein Geschichtswerk lesen, wir lesen es als einen Roman. Ach! ob wir Italiener oder Franzosen sind, das Elend geht uns Alle an. Seitdem die Geschichte erzählt und die Philosophie denkt, ist das Elend das Kleid der Menschheit; es wäre wohl Zeit, daß man endlich diesen Plunder herunterrisse und das nackte Volk, statt mit den scheußlichen Lumpen der Vergangenheit, mit dem großen Purpurgewand der Zukunftsmorgenröthe umhüllte.

Sollte Ihnen dieser Brief geeignet scheinen, Aufklärung zu verbreiten und Vorurtheile zu widerlegen, so können Sie ihn veröffentlichen.

Empfangen Sie von Neuem die Versicherung meiner ausgezeichnetsten Hochachtung

Victor Hugo«

1Deutsche Übersetzung von Volchert (1910)