Der Glöckner von Notre Dame
Victor Hugo
1831
1
Inhaltsverzeichnis
I 1
Der grosse Saal
Peter Gringoire
Der Herr Kardinal
Meister Jakob Coppenole
Quasimodo
Esmeralda
II 2
Aus der Szylla in die Charybdis
Auf dem Grève-Platz
Aus Freuden entstehen Leiden
Wenn man abends einem hübschen Mädchen nachgeht
Weitere Unannehmlichkeiten
Der zerbrochene Krug
Eine sonderbare Hochzeitsnacht
III 3
Gute Herzen
Dom Claude Frollo
Der Glöckner von Notre-Dame
Herr und Sklave
Geheimnisse
Unbeliebtheit
IV 4
Der Leibarzt des Königs
Dies wird Jenes vernichten
V 5
Der alte Richterstand
Das Rattenloch
Was mit einem Maiskuchen angerichtet wurde
Eine Träne für einen Tropfen Wasser
Das Ende des Maiskuchens
VI 6
Die indiskrete Ziege
Priester und Philosoph
Die Glocken schweigen
Ananke
Schwarzröcke unter sich
Flüche und ihre Wirkung
Der geheimnisvolle Mönch
Ein Opfer der Leidenschaft
VII 7
Der Hexentaler
Die Tortur
Das Urteil
Im Verlies
Die Mutter
Drei Menschenherzen
VIII 8
Visionen
Missgestaltet
Taub
Gegensätze
Eifersucht
Liebeswahn
IX 9
Pläne
Bruderliebe
Kaschemmenfröhlichkeit
Ein tragischer Irrtum
Ludwig XI. von Frankreich
Das Passwort
≫Hie Châteaupers!≪
X 10
Der Talisman
Die weiße Gestalt
Wie Phöbus endete
Quasimodos Ausgang
EINLEITUNG
Als der Verfasser dieses Buches vor einigen Jahren die versteckten Winkel der Notre-Dame-Kathedrale durchstöberte, fand er an einer Ecke das griechische Wort ANANKE (Schicksal oder Verhängnis) in die Mauer eingeritzt. Die an gotische Schreibkunst erinnernden Schriftzüge wiesen in Form und Stellung auf eine mittelalterliche Hand hin, und im Verein mit dem düsteren Sinne des Wortes ergriff dies den Autor in ganz besonderer Weise.
Er suchte zu erraten, wer wohl die bedrängte Seele gewesen sein mochte, welche nicht von dieser Welt hatte scheiden wollen, ohne diese Erinnerung an ein Unglück oder Verbrechen an der alten Kirchenmauer zu hinterlassen.
Seither ist diese Mauer übertüncht worden; vielleicht hat man auch die Inschrift abgekratzt, jedenfalls ist sie verschwunden. Denn dies ist seit bald zweihundert Jahren das Verfahren, welches man den herrlichen Kirchen aus dem Mittelalter angedeihen zu lassen beliebt. Man verstümmelt sie von allen Seiten, von innen und von außen. Der Priester übermörtelt sie, der Architekt kratzt sie ab, und schließlich kommt das Volk daher und reißt sie ein.
So erklärt es sich, daß außer dem schwachen, in diesem Buche vom Autor gegebenen Andenken, nichts mehr von dem geheimnisvollen Worte übrig ist, das so schwermutsvoll von einem unbekannten Lose Kunde gab. Die schreibende Hand ist seit Jahrhunderten aus der Gemeinschaft der Lebenden entschwunden, das von ihr geschriebene Wort verwischt, und. die Kirche selbst wird wohl auch bald von Gottes Erdboden weggefegt werden. Über das eine mahnende Wort wurde daher dieses Buch geschrieben.
Paris, März 1831 VICTOR HUGO
Teil I
1
Der grosse Saal
Man schrieb den 6. Januar 1482, als die Pariser bei ihrem morgendlichen Erwachen durch das Klingen und Dröhnen sämtlicher Glocken ihrer Stadt begrüßt wurden. Von allen Türmen, von denen der Alt- und Neustadt und des Universitätsviertels, erscholl aus der dreifachen Mauerumgürtung das Geläute, obwohl es keiner jener Tage war, welche die Weltgeschichte ob ihrer Besonderheit mit ehernem Griffel vermerkt.
Es war kein hervorragendes Ereignis, welches dieses Durcheinanderwimmeln der Glocken und Bürger von Paris veranlaßte. Weder ein Sturmangriff der Picarden oder Burgunder noch der Auftritt einer glänzenden Jagdgesellsehaft gaben den Anlaß dazu. Auch drohte keiner der Studentenkrawalle im Weingehege von Laas, noch fand ein feierlicher Einzug des hochgebietenden Herrn und Königs statt. Nicht einmal ein nettes Aufhängen von Schelmen oder Spitzbübinnen war zu erwarten.
Und schon gar nicht handelte es sich um die im fünfzehnten Jahrhundert bereits alltäglich gewordene Ankunft einer der vielen pelzverbrämten und hutfederwinkenden Gesandtschaften, von denen die letzte erst zwei Tage zuvor als prunkende Kavalkade eingeritten war. Es waren die flämischen Gesandten gewesen, weiche die Heirat des Dauphins mit Margarete von Flandern abzuschließen hatten, und die sehr zum Verdruß des Kardinals von Bourbon eingetroffen waren. Denn dieser hatte dem König zu Gefallen die ungehobelten flämischen Bürgermeister mit guter Miene in seinem prächtigen Wohnsitze dem ≫Hôtel de Bourbon≪, festlich bewirten müssen, während ein tückischer Platzregen die zur Feier der Schauspiele und Schwänke vor dessen Toren ausgebreiteten kostbaren Teppiche verdarb.
Was am genannten 6. Jannar die ganze Pariser Einwohnerschaft auf die Beine brachte, war die seit uralten Zeiten auf dieses Datum zusammenfallende Doppelfeier des Festes der Heiligen Drei Könige und des Narrentages.
Das Programm der bevorstehenden öffentlichen Belustigungen hatte der Stadtkernmandant tags zuvor auf allen Plätzen und an allen Straßenecken unter Trompetenschall durch seine Herolde verkünden lassen, die zu diesem Anlasse ihre violetten Galawaffenröcke mit den großen weißen Brustkreuzen angelegt hatten. Es bestand aus dem Entzünden eines mächtigen Freudenfeuers auf dem Grève-Platze, aus der Aufpflanzung eines bebänderten Maibaumes vor der Jagdkapelle und aus einem Mysterienspiele im Justizpalast.
Alle Häuser und Geschäfte waren geschlossen, als sämtliche Bürger und Bürgerinnen von Paris, je nach Geschmack, zu einer der drei Festlichkeiten eilten, wobei zu Ehren des altbekannt gesunden Menschenverstandes der Pariser Gaffer festgestellt werden muß, daß die meisten bei ihrer Wahl die der kalten Jahreszeit angemessenen Schauspiele, nämlich das Freudenfeuer und die Mysterien, bevorzugten, welch letztere im Großen Saale des Justizpalastes stattzufinden hatten. So kann es, daß der arme, im Januar wenig zeitgemäße Maibaum ziemlich vereinsamt auf dem Friedhofe der Jagdkapelle flatterte und fror.
Es war ein Kunststück, Einlaß in den Großen Saal zu gewinnen, obwohl dieser dazumal der größte gedeckte Raum seiner Zeit war. Denn insbesondere in den Zufahrtsstraßen zum Justizpalaste entwickelten sich die Aufmärsche der Massen, weil es männiglich bekannt war, daß die flämischen Gesandten den Mysterienspielen und der darauffolgenden Wahl des Narrenpapstes beizuwohnen beabsichtigten.
In allen Fenstern des Palastes drängten sich die Schaulustigen, und auf dem davorliegenden Platze wogte ein aufgeregtes Meer von Menschenköpfen, in welches stets neue Menschenströme aus den halbdutzend Zufahrtsstraßen hineingepreßt wurden. Die Brandung dieser lebenden Flut brach sich an den Ecken der wie Vorgebirge in den unregelmäßig gebauten Platz hineinragenden Ecken der Häuser. Und in der Mitte vor der hohen den gotischen Front des Palastes selbst wirkte die mächtige Freitreppe mit ihrer imposanten Rampe wie der Stufengrund einer Kaskade, deren Wellenspiel durch das Aufundniederwallen der Menschenmenge vorgetäuscht wurde. Geschrei, Gelächter, endloses Fußgetrappel vervollständigten mit an- und abschwellendem Lärmgetöse das gegebene Bild.
Zeitweilig verdoppelte sich das Toben, wenn der auf der Haupttreppe und auf ihren beiden Seitenzugängen auf und ab steigende Menschenfluß aneinanderprallend wirbelte und die Schutzleute mit Rippenstößen die Ordnung wiederherzustellen trachteten, während die Pferde der berittenen Sergeanten ausschlugen und dadurch die von den Landgendarmen ererbte Tradition oberherrlicher Gesten aufrechterhielten.
An allen Türen und Fenstern, in den Dachluken und auf den Dächern wimmelten die Haufen ehrbarer Bürgergestalten, die das Gedränge auf dem Platze beobachteten und vorderhand an diesem wechselvollen Schauspiele Genüge fanden. Denn es ist seit je Pariser Art, schon als Zuschauer von Zuschauern zufrieden zu sein und sogar eine blanke Mauer als eine merkwürdige Sache zu betrachten, sobald man nur die Gewißheit hat, daß sich hinter derselben unsichtbare Ereignisse vollziehen. Auch wir Menschen des Jahztes 1830 hätten auf die Kosten unserer Schaulust kommen können, wenn es uns vergönnt gewesen wäre, uns unter diese Pariser des fünfzehnten Jahrhunderts zu mengen und, gedrängt und gestoßen, in den ungeheuren Saal zu gelangen, zumal da wir viele Altertümlichkeiten hätten sehen können, deren ungewöhnter Anblick uns neu erscheinen mußte.
Dem Leser wird es gewiß recht sein, uns in Gedanken in diesen Schwarm von Wämsern, Jacken und Frauenröcken zu begleiten. Schon beim Eintritt sind unsere Ohren betäubt und unsere Augen geblendet. Über uns sehen wir ein doppelbogiges Gewölbe, welches mit Holzschnitzereien verziert ist und auf azurblauem Untergrunde goldfarbenen Blumenschmuck trägt. Zu Füßen sehen wir ein aus schwarzen und weißen Marmorplatten zusammengestelltes Bodenmosaik, und sieben aneinandergereihte Säulen teilen den Saal in zwei Hälften, um die Schwibbogen der Doppelwölbnng zu tragen. Rund um die vier nächsten Säulen sind flitterglänzende Kramläden aufgebaut, und die anderen drei umgeben eichene Sitzbänke, welche im Laufe der Zeiten durch die Hosenböden der Klienten und durch die Ornate ihrer Sachwalter glattgescheuert worden sind. Die hohen Wände des Saales entlang, zwischen den Türen, Fenstern und Nischen, steht die unabsehbare Reihe aller Könige Frankreichs seit Pharamund: die Schwächlinge mit hängenden Armen und gesenkten Blicken, die Schlachthelden hocherhobenen Hauptes und mit gen Himmel gestreckten Armen. In den hohen Rundbogenfenstern glitzern buntgefügte Butzenscheiben, an den breiten Saalausgängen weisen die Türstöcke kunstvolles Schnitzwerk auf, und überall, auf dem Gewölbe, auf den Säulen und Wandpfeilern, an den Wänden mit ihren Täfelungen und Simsen, auf den Türen und Statuen, überwiegt die prächtige Farbenzusammenstellung von Gold und Blau, die, damals schon etwas gedunkelt, im Jahre des Heils 1549 ganz unter Staub und Spinngeweben verschwunden war, als Du Breul sie bewundern wollte. Man denke sich aber den ungeheuer großen Saal in seiner Rechteckform vom matten Lichte eines Januartages erhellt und von einer lauten, bunten Menge durchflutet, die längs der Wände und um die Säulen herum kommt und geht, und man wird ein Bild des Milieus vor dem geistigen Auge haben, in welchem sich die bemerkenswerten Einzelheiten des von uns geschilderten Festtages abspielten.
Hätte Ravaillac nicht Heinrich IV. ermordet, so würde es keine Prozeßakten über diesen Fall gegeben haben, die im Justizpalaste aufzubewahren waren. Dann hätte aber auch kein Mitschuldiger ein Interesse daran gehabt, diese Akten durch einen Brand in der betreffenden Kanzlei verschwinden zu lassen. Und statt im Jahre 1618 durch eine darob entstandene Feuersbrunst eingeäschert zu werden, würde der alte Justizpalast mit seinem berühmten Großen Saal noch heute durch den Augenschein dem Leser ein weit besseres Bild seiner Herrlichkeit geben können, als unsere Feder es zu schildern vermag.
So aber erweist es sich wieder einmal, wie unberechenbar die Folgen historischer Ereignisse sind. Allerdings gibt es auch noch andere Versionen über die Entstehung dieses Brandes, die vielleicht richtig sind, wenn man von der Annahme ausgeht, daß Ravaillac keine Komplizen hatte. Die eine dieser Versionen sieht die Brandursache im Niedersturze des am 7. März 1616 auf den Justizpalast gefallenen feuerglühenden Meteorsteines, und die andere ist in dem Vierzeiler Theophiles ausgedrückt, welcher behauptet, daß der Göttin Justitia vom vielen Schlingen so übel geworden sei, daß darob ihr ganzer Pariser Palast in Feuer aufging. Wie dem. auch sei, mag nun die politische, astronomische oder poetische Erklärung die richtige sein, Tatsache ist jedenfalls, daß das Gebäude unglückseligerweise so gründlich abgebrannt ist, daß heute nur noch kümmerliche Reste des alten Baues vorhanden sind. Um diese herum hatte man im Laufe der Zeit Wiederherstellungsversuche gemacht, die das zugrunde gerichtet haben, was der Brand verschont hatte. So ist uns nur sehr wenig von diesem ersten Wohnsitze der französischen Könige erhalten geblieben, der als ursprünglicher Grundbau des Louvre schon zu Philipp des Schönen Zeiten so alt war, daß man hier nach den Spuren des einst von König Rotbart aufgeführten Prachthauses forschte, von dem uns Helgaldus eine Beschreibung überliefert hat.
Fast alles vom alten Bau ist verschwunden: Das Kanzleizimmer, in welchem Ludwig der Heilige seine Ehe vollzog. Der Garten, in welchem er Recht zu sprechen pflegte Das Zimmer Kaiser Sigismunds und das Karls IV. Die Treppe, von der Karl VI. sein Gnadenedikt verkündete. Die Steinplatte, auf der Marcel vor den Augen des Dauphins den Marschall von Champagne und Robert von Clermont erwürgte. Die Pforte, vor welcher die Bullen des Gegenpapstes Benedikt zerrissen wurden, nachdem man aus ihr die Überbringer in zum Spott umgehängten Chorröcken, mit ebensolchen Bischofsmützen auf den Häuptern, herausgeführt hatte, um sie zur öffentlichen Buße durch ganz Paris zu treiben. Verschwunden der Große Saal mit seinen Vergoldungen auf azurnem Grunde, mit seinen Spitzbogen, Pfeilern und Statuen, mit seinem ungeheuren, von Steinmetzarbeiten ganz bedecktem Gewölbe. Weg das goldene Zimmer. Fort der steinerne Löwe an der Türe, der, gesenkten Hauptes, den Schwanz zwischen die Beine gekniffen hatte, in der demütigen Haltung, welche wirkliche Löwen vor Salomons Thron eingenommen haben sollen, um die Stärke seiner Gerechtigkeit zu erweisen. Zerschlagen die schönen Türen und die buntschillernden Butzen. Verrottet die getriebenen Eisenbeschläge, vor denen Biscornette erschrak. Vernichtet die zierlichen Kunsttischlereien Du Hancys.
Was hat die Zeit, was haben die Menschen aus all diesen Wunderwerken gemacht? Was hat man uns als Ersatz für diesen Verlust an gotischer Kunst geboten? Die ungeschlachten Halbwölbungen des Herrn de Brosse, der schon das Portal von Saint-Gervais verpfuscht hatte. Und an Stelle der Stein gewordenen Geschichte unserer Vorfahren blieb uns nur die geschwätzige Erinnerung der dicken Schandsäule, die noch vom Geschrei der Leute vom Schlage eines Patru2 widerhallt.
Aber Worte sind doch nur vergebens, und wir kehren daher besser in den Großen Saal des alten Palastes zurück.
Er bildet ein gigantisches Rechteck, dessen beide Endseiten besonders bemerkenswert waren. An der einen derselben befand sich die berühmte, aus einem gigantischen Stücke gewonnene Riesenmarmorplatte, deren Länge, Breite und Dicke von unerhörten Dimensionen waren, so groß in der Tat, daß ihre in den Grundbuchakten erhalten gebliebene Schilderung die Besitzgier eines Gargantua gereizt hätte. Am anderen Saalende befand sich die Kapelle, vor der sich Ludwig XI., auf Knien liegend, in Marmor abbilden ließ und vor der in seinem Auftrage die Statuen Karls des Großen und Ludwigs des Heiligen aufgestellt wurden, unbekümmert darum, daß dadurch zwei Nischen ihres Inhaltes beraubt wurden, weil er glaubte, daß diese beiden sowohl als Heilige als auch als Könige der Franken das größte Ansehen im Himmel genossen.
Zur Zeit unserer Erzählung war diese Kapelle noch ganz neu, kaum sechs Jahre alt und ganz im reizvollen Stile jener wundervollen Meißel- und Stichelarbeiten ausgeführt, welche den Ausgang der französischen Gotik kennzeichnen und die im sechzehnten Jahrhundert in die zauberischen Phantasiespiele der Renaissance hinübergeglitten sind. Besonders die kleine durchbrochene Rosette über dem Kapellentore war ein Meisterstück anmutsvoller Zartheit, indem sie einem aus Feinspitzen gebildeten Sterne glich.
Mitten im Saale, gegenüber der großen Türe, stand ein mit Goldbrokat bedecktes Podium. Von hier aus konnte man über einen Brückenweg durch das dahinterliegende Gangfenster in das sogenannte Goldene Zimmer gelangen, aus welchem die flämischen Gesandten und die anderen hohen Festgäste zum Schauspiele eintreten sollten.
Als Bühne für die Mysterienspiele diente althergebrachter Sitte zufolge die erwähnte riesige Marmorplatte, die am Morgen bereits dazu hergerichtet werden war. Ihre durch die Absätze der Parlamentsschreiber zerkratzte Oberfläche trug ein Balkengerüst von einiger Höhe, welches von einem Bretterboden bedeckt war, der vom ganzen Saale aus gesehen werden konnte und sowohl als Auftrittsfeld der Schauspieler, als auch als Dach ihrer darunter hinter Teppichvorhängen verborgenen Garderobe diente. Die Verbindung zwischen Szenarium und Ankleideraum wurde durch eine ganz offen an der Außenseite des Gerüstes angebrachte Sprossenleiter hergestellt, auf der die handelnden Akteure auf und nieder zu klettern hatten. Infolge dieses Arrangements konnte es keinen Deus ex machina noch ähnhche plötzliche Theatereffekte geben, woran jedoch der damalige, einfaltige Kunstgeschmack nicht den geringsten Anstoß nahm. An jeder der vier Ecken der Marmorplatte war je einer der Gerichtsdiener postiert, deren Amt es war, bei allen Volksbelustigungen als Aufseher zu fungieren. Mit dem Mittagsschlage der großen Palastuhr sollte das Mysterienstück beginnen. Diese nach damaligen Begriffen für Theateraufführungen späte Stunde hatte man aus Rücksicht auf die Bequemlichkeit der flämischen Gesandten gewählt.
Die große Menge harrte aber schon seit den Morgenstunden der Dinge, die da kommen sollten. Teils stand sie schon seit Tagesanbruch einlaßfordernd und frierend an der großen Haupttreppe des Palastes, und manche waren gar schon die ganze Nacht hindurch hier gewesen, um als erste Eingang in den Saal gewinnen zu können. Als dieser endlich geöffnet worden war, wurde die hineingepferchte Masse immer dichter und dichter, bis sie sich längs den Wänden und an den Säulen in die Höhe zu schieben begann, indem alle nur denkbaren erhöhten Standplätze, wie Täfelungen, Karniesen, Fensterbretter, und alle Vorsprünge der Architektur und Bildhauerkunst durch hinaufgekletterte Zuschauer besetzt wurden. Dieses Gedränge erhielt eine scharfbittere Note durch den Zwang, die Ungeduld, die Streitereien und das lange Warten, mit welchem diese sich gegenseitig zerquetschenden und fast erstickenden Menschen der Ankunft der Ehrengäste entgegensahen.
Es hagelte nur so an Verwünschungen der flämischen Langschläfer, und in diese Flüche wurden der Oberbürgermeister, der Kardinal von Bourbon, der Palastvogt, Margarete von Österreich, die Polizei, die Kälte, Hitze und das schlechte Wetter, der Bischof von Paris, der Narrenpapst, die Pfeiler und Säulen, die verschlossenen Türen und offenen Fenster mit einbezogen. Dies alles zur Belustigung der unter der Menge eingestreuten Gruppen von Studenten und Lakaien, welche es sich angelegen sein ließen, die Unzufriedenheit und Mißstimmung durch boshafte Neckereien und Anzüglichkeiten noch mehr zu reizen.
Eine Gruppe dieser studentischen Spaßvögel hatte frech einen Fenstersims besetzt, nachdem sie dessen Butzenscheiben zertrümmert hatte, und warf von hier aus ihre Blicke und Spottreden bald in den Saal hinein und bald auf den Platz hinaus. Von diesem günstigen Standplatze aus richteten sie ihre Sticheleien und nachäffenden Gebärden bis an die Enden des Saales, wo sich andere Spottinseln gleichen Kalibers zusammengeballt hatten. An den hin und her geschleuderten Zurufen war leicht zu erkennen, daß diese Jünger der Gelehrsamkeit weder Langweile noch Ermüdung mit der übrigen Menschenmenge teilten, sondern imstande waren, zu ihrem privaten Vergnügen ein Schauspiel zu genießen, welches ihnen die Erwartung des eigentlichen Festspieles verkürzte.
≫Bei meiner Seele, seid Ihr’s wirklich, Johannes Frollo de Molendino?!≪
Dieser Zuruf war an einen kleinen blonden Teufelskerl mit einem hübschen Schalksgesicht gerichtet, der sich an das Schnitzwerk eines Säulenknaufes geklammert hatte. ≫In der Tat, mit Recht heißt Ihr der Hannes von der Mühle, denn Eure Arme und Beine tanzen wie Windflügel herum. Seid Ihr schon lange hier?≪
≫Bei des Teufels Bart! Schon vier Stunden lang verbüße ich einen Teil meiner künftigen Fegefeuerzeit. Um sieben Uhr morgens habe ich bereits die acht Sänger des Königs von Sizilien gehört, als sie die erste Strophe des Hochamtes in der Kapelle anstimmten.≪
≫Feine Sänger, das muß man sagen! Ihre Stimmen sind noch spitzer als die Mützen auf ihren Schädeln. Ehe der König eine Messe für den heiligen Johannes lesen ließ, hätte er sich dafür interessieren sollen, ob dem Heiligen ein lateinischer Psalmengesang mit provenzalischem Akzent auch angenehm ist!≪
≫Das hat er nur getan, um die vermaledeiten Sänger des Sizilianers anzubringen≪, zeterte ein altes Weib aus der Menge dazwischen. ≫Denkt Euch, tausend Pfund Pariser Währung für eine einzige Messe! Und die Pacht des Seefischverkaufs in den Markthallen unserer Stadt auch noch dazu!≪
≫Sachte, Alte, sachte≪, bemerkte ein neben dem Fischweibe stehender dicker und ernsthafter Mann, indem er sich seiner Nachbarin halber die Nase zuhielt. ≫Er mußte wohl diese Messe stiften. Oder wollt Ihr den König lieber wieder krank sehen?≪
≫Wacker gesprochen, Herr Gilles Le Cornu, Meister und Kürschner des Hofes≪, lobte der kleine blonde Student, der an dem Säulenknaufe hing.
Ein spöttisches Gelächter der Studenten begleitete die Nennung des Namens Le Cornu (der Gehörnte).
≫Cornu, hahaha, Cornu!≪
≫Was gibt’s da zu lachen?≪ fragte der kleine Student. ≫Meister Gilles ist ein Ehrenmann und Bruder des Meisters Johannes Le Cornu, des Profosen im Königspalaste, und Sohn des Oberwaldhüters Mahiet Le Cornu, dem das Gehölz von Vincennes untersteht. Alles ehrenwerte Bürger von Paris, verheiratet vom Vater auf den Sohn.≪
Diese scheinbare Verteidigungsrede des Schalkes verdoppelte noch die Heiterkeit, und der arme dicke Kürschnermeister trachtete vergeblich, sich recht klein zu machen, um den von allen Seiten auf ihn gerichteten Spottblicken zu entgehen. Aber vergebens suchte er keuchend und schwitzend aus der ihn umgebenden Menge an einen anderen Standplatz zu gelangen. Wie ein eingetriebener Keil im Holz stak er zwischen seine Umgebung eingeklemmt, und sein breites, von Zorn purpurn aufgedunsenes Gesicht geriet noch fester zwischen die Schultern seiner Nachbarn hinein.
Endlich kam ihm Hilfe von seiten eines anderen Bürgers, der ebenso kurz, dick und ansehnlich war.
≫Pfui. Was Schulknaben einem Bürger zu bieten wagen! Zu meiner Zeit hätte man sie mit Ruten gestrichen und dann verbrannt.≪
Da brach das Gejohle der ganzen Schwefelbande los.
≫He! Ho! Was meckert das Unglücksgestell? Wer liest uns da den Text?≪
≫Den kenn’ ich. Das ist: der Meister Andry Musnier.≪
≫Aha, einer von den vier beeideten Universitätsbuchhändlern!≪
≫Alles vierfach in der Bude! Vier Nationen, vier Fakultäten, vier Prokuratoren, vier Wahlmänner und vier Buchhändler!≪
≫Man muß ihnen auch den Teufel vervierfachen≪, schlug Johannes Frollo vor.
≫Und die Bücher von Musnier verbrennen!≪
≫Und seine Diener prügeln!≪
≫Seine Frau zerkneifen!≪
≫Oh, oh, die gute dicke Frau Barbe.≪
≫Sie ist frisch und lustig wie eine Witfrau.≪
≫Hol’ euch alle der Teufe!≪, murrte der gequälte Buchhändler.
≫Seid still, Meister, oder ich falle auf Euren Kopf≪, drohte der am Säulenknaufe hängende Johannes.
MeisterAndry hob die Augen und schien mathematische Berechnungen über die Höhe der Säule, die Schwere des Burschen und das Quadrat der Geschwindigkeit seines freien Falles anzustellen. Das Resultat war wohl wenig erfreulich, denn er schwieg.
Der siegreiche Schalk da oben aber fuhr triumphierend fort:
≫Jawohl, ich lasse mich fallen, obgleich ich der Bruder eines ehrwürdigen Archidiakonus bin. — Im übrigen, unsere Herren von der Universität haben sich wieder einmal ausgezeichnet! Nicht einmal an einem solchen Tag wie dem heutigen haben sie irgendeine Rücksicht auf unsere Privilegien genommen! In der Neustadt gibt’s Maibaum und Freudenfeuer, in der Altstadt die Mysterien samt Narrenpapst und flämischen Gesandten, bei uns im Universitätsviertel aber reineweg nichts!≪
≫Obgleich auf unserem Maubertsplatze Raum genug für allerhand Festlichkeiten wäre≪, stimmte einer der Studenten am Fenster bei.
≫Pereant Rektor, Wahlmänner und Prokuratoren!≪ brüllte Johannes.
≫Heute abend machen wir unser Freudenfeuer! Auf dem Felde von Gaillard! Mit dem Bücherladen des Meisters Musnier!≪
≫Mit den Pulten der Schreiber!≪
≫Mit den Stöcken der Pedelle!≪
≫Mit den Spucknäpfen der Dekane!≪
≫Mit den Aktenbündeln der Prokuratoren!≪
≫Mit den Kästen der Wahlmänner!≪
≫Mit den Schemeln des Rektors!≪
≫Pereant Meister Andry, Pedelle, Schreiber, Theologen, Mediziner, Dekretisten, Prokuratoren, Wahlmänner. Pereat der Rektor≪, schrie der kleine Johannes mit verstellter Baßstimme.
≫Das Weltende ist da≪, stöhnte der ehrbare Buchhändler und hielt sich die Ohren zu.
≫Heho! Da unten auf dem Platze spaziert der Rektor einher≪, schrie einer der Studenten vom Fenstersims. Wer konnte, beeilte sich hinauszublicken.
≫Unser ehrwürdiger Rektor, Meister Thibaut, in Person?≪ fragte Johannes, der von seinem Säulenknaufe aus nicht auf den Platz hinuntersehen konnte.
≫In der Tat, er selbst≪, bestätigte man ihm.
In feierlichem Zuge, an der Spitze aller Würdenträger der von ihm geleiteten Universität, schritt da unten der Rektor Meister Thibaut der Gesandtschaft entgegen, die eben auf dem Platze erschien. Die in den Fenstern zusammengedrängten Studenten übergossen die würdige Prozession mit der Lange ihres spöttischen Hohns. Die erste Salve empfing der Rektor, als er nahe genug gekommen war.
≫Guten Morgen, Herr Rektor! Holla! Guten Tag, guten Tag!≪
≫Der alte Spieler ist auch hier?!≪
≫Er hat wohl seine Würfel im Stich gelassen!≪
≫Wie er nur auf seinem Maultier einhertrabt!≪
≫Das hat wohl längere Ohren als er!≪
≫Guten Tag, Herr Rektor, guten Tag!≪
≫Alter Esel, alter Spieler!≪
≫Holla! War’s letzte Nacht eine Doppelsechs?≪
≫Wie bleifarben sein Gesicht ist!≪
≫Wahrscheinlich hat er gestern Pech im Spiel gehabt!≪
≫Wohin jetzt, Meister Thibaut?≪
≫Ihr zeigt ja der Universität den Rücken und trabt gegen die Stadt!≪
≫Wohl auf dem Weg zu neuen Niederlagen?≪
≫Er sucht sich eine Wohnung in der Rue Thibautodé!≪ brüllte Johannes aus voller Brust.3
Dieses Wortspiel löste bei der ganzen Bande höchsten Beifall und donnerndes Händeklatschen aus.
≫Haha! Ausgerechnet in der Rue Thibautodé sucht er sich Quartier! Der alte Spielgenosse des Teufels, der er ist!≪
Dann kamen die anderen Amtspersonen an die Reihe. ≫Nieder mit den Pedellen. Ein Pereat all den Stabträgern!≪
≫Sag an, Robin Poussepain, wer ist der Hohlkopf dort?≪
≫Der? Das ist Gilbert de Suilly, der Kanzler des Kollegiums von Autun.≪
≫Da hast du meinen Schuh. Wirf ihn auf seinen Kopf! Du erreichst ihn leichter als ich.≪
≫Ein paar faule Eier wären besser am Platz!≪
≫Nieder die sechs Theologen mit ihren weißen Chorhemden!≪
≫Das sollen Theologen sein? Ich meinte, die sechs Gänse der heiligen Genoveva zu sehen.≪
≫Nieder mit den Medizinern!≪
≫Fort mit den faden Rhetorikern!≪
≫Meine Mütze auf den Kürbis des Kanzlers! Der hat mir genug unrecht getan.≪
≫Ganz richtig, auch mir. Meine Stelle hat er einem anderen nur deshalb gegeben, weil dieser sein italienischer Landsmann ist!≪
≫So eine Niedertracht!≪
≫Pereat!≪
≫Nieder mit ihm!≪
≫Ho, der Prokurat der deutschen Landsmannschaft. Der Teufel über ihn!≪
≫Und über die Kaplane mitsamt ihren grauen Pelztuniken!≪
≫Heho! Die Meister der freien Künste! Die Schwarz- und Rotmäntel haben uns noch gefehlt!≪
≫Ein Prachtschweif für den Rektor, das bleibt wahr!≪
≫Wie der Doge von Venedig, wenn er sich der See vermählen will!≪
≫Die Kanoniker von der heiligen Genoveva sind auch da!≪
≫Der Satan soll sie holen!≪
≫Heho, Herr Abt! Sucht Ihr Marie la Giffarde?≪
≫Die ist daheim und macht dem Dirnenkönig das Bett!≪
≫Da schaut den Waldmann der Picarden an! Er hat seine Frau hinter sich im Sattel!≪
≫Hinter dem Reiter die finstere Sorge, haha!≪
≫Nur Mut, Meister Simon!≪
≫Guten Tag, Herr Wahlmann.≪
≫Gute Nacht, Wahlfrau!≪
≫Wie gut die es haben, sie können alles sehen≪, seufzte Johannes an seinem Säulenknauf.
Während dieses Krawalls neigte sich Meister Andry Musnier, der beeidete Universitätsbuchhändler, an das Ohr des Hofkürschners Meister Gilles Le Cornu:
≫Ich sage Euch, mein Herr, der Antichrist ist nicht mehr fern. ”Wer hat je solche Zügellosigkeit der Studentenschaft gesehen!? Das kommt alles von den verdammten Neuerungen und Erfindungen, glaubt es mir. Geschütze, Donnerbüchsen und vor allem diese deutsche Pest, die Buchdruckerkunst! Die bringt den Buchhandel in das Grab. Mit den Handschriften hören auch die Bücher auf. Das Ende der Welt steht vor der Tür!≪
≫Ganz richtig. Ich merke dasselbe am Überhandnehmen der Samtstoffe≪, stimmte der Kürschner bei.
Da schlug die Palastuhr weit hallend die Mittagszeit.
≫Aaaaah…≪, zog es sich durch die Menschenmasse hin. Selbst die Studenten schwiegen, und nur ein allgemeines Gehüstele, Geschneuze und Gescharre, verbunden mit Aus-dem-Hals-Recken der Köpfe, kündete die Erwartung naher Ereignisse an. Aber mit offenen Mäulern blieben alle Blicke auf die Bühne geheftet, weil dort absolut nichts geschah. Nur die vier Gerichtsdiener waren auf den vier Ecken zu sehen, steif und regungslos wie vier buntbemalte Holzfiguren. Nun fuhren alle Augen nach dem für die prominenten Zuschauer bestimmten Podium herum, aber auch hier zeigte sich nichts. Das war Enttäuschung genug! Seit dem frühen Morgen erwarteten diese enggedrängten Menschen drei Dinge, die Mittagsstunde, den Eintritt der flämischen Gesandten und den Beginn des Mysterienspiels. Von all diesen Herrlichkeiten war bloß die Mittagsstunde eingetroffen, wenn auch auf die Minute genau. Das war entschieden zuviel!
Aber trotzdem schlich noch eine Viertelstunde auf bleiernen Füßen dahin, bevor die Ungeduld in zornigen Ärger überging. Dann aber flogen gereizte Worte hin und her, die Köpfe erhitzten sich immer mehr und mehr, und die Gewitterwolken ballten sich immer dichter zusammen.
Den ersten ziindenden Funken schleuderte Johannes du Moulin in die dumpferregte Menge.
≫Zum Teufel mit den Flamen! Das Schauspiel heraus!≪ ≫Das Schauspiel, das Schauspiel. Zum Teufel mit den Flamen!≪ donnerte es beifallklatschend aus dem Menschengewühl.
≫Oder hängt den Palastvogt als Ersatz für das Spiel!≪ hetzte der Student weiter.
≫Brav gesprochen≪, brüllte die Masse. ≫Fangt beim Hängen mit den vier Gerichtsdienern an!≪
Die armen Burschen auf der Marmorplatte erblaßten, und ihre Knie begannen zu zittern, während alles rauschenden Beifall spendete. Schon begann die trennende Holzbalustrade unter dem Andrange der Menge zu knacken, während die Rückenmänner ≫Drauf und dran!≪ schrien. Da, in diesem bereits kritischen Augenblicke, hob sich der Teppichvorhang des Ankleideraumes und ließ eine Person erscheinen, deren bloßer Anblick schon genügte, um die andrückende Masse zum Stehen zu bringen und deren Zorn sogleich in Neugier zu verwandeln.
≫Still! Pst! Still!≪ ertönte es von allen Seiten.
Die sichtbar gewordene Person trat mit wankenden Gliedern und bestürzt an den Rand der Marmorplatte und machte dabei fegende Kratzfüße, die immer größere Ähnlichkeit mit Kniebeugungen erhielten.
Aber die Ruhe war schon wiederhergestellt worden, und nur das Geräusch erwartungsvoller, tiefer Atemzüge summte fort.
≫Meine Herren Bürger≪, begann die erschienene Person, ≫und meine verehrten Bürgerinnen, wir werden die Ehre haben, vor Seiner Eminenz dem Herrn Kardinal ein wunderschönes Schauspiel vorzutragen, welches den Titel ‘Das gerechte Urteil unserer geliebten Jungrau Maria’ führt. Ich selbst gebe darin den Jupiter. Seine Eminenz geleitet in diesem Momente die hochwerte Gesandtschaft des durchlauchtigten Erzherzogs von Österreich hierher. Diese ist noch an der Pforte Baudet aufgehalten, um die Begrüßungsrede des Herrn Rektors der Universität entgegenzunehmen. Sobald der hochwürdige Kardinal eingetroffen ist, werden wir allsogleich beginnen.≪
In der Tat konnte nur die Dazwischenkunft Jupiters die bereits bedrohten Gerichtsdiener retten; auch war sein Kostüm sehr schön und zog daher die ganze Aufmerksamkeit der Menge auf sich. Er trug einen Waffenrock aus schwarzem Samt und auf dem Haupte einen Helm, beide mit vergoldeten Nägelköpfen übersät, und seine Haltung war so ernsthaft, daß er jeden Vergleich mit einem der bretonischen Bogenschützen des Herzogs von Berry hätte aushalten können, wenn nicht ein langwallender, roter Bart die Hälfte seines Gesichtes bedeckt hätte, und wenn nicht in seiner Hand ein sinnreich aus Goldpappe hergestellter Blitz zu sehen gewesen wäre. Auch bewiesen seine nach griechischer Art mit fleischfarbenen Bändern umwickelten Beine dem kundigen Auge sogleich, daß der Göttervater in eigener Person vor den gaffenden Beschauern stand.
Peter Gringoire
Die günstige Wirkung von Jupiters Kostüm und Rede dauerte jedoch nur so lange, bis er die enttäuschende Schlußmitteilung machte, daß mit dem Beginn der Mysterien auf die Ankunft Seiner Eminenz zu warten war. Er hatte dies kaum ausgesprochen, als auch schon seine Stimme im Hohngebrüll der Menge versank.
≫Sofort beginnen! Schauspiel, Schauspiel!≪ dröhnte es von allen Seiten, und schrill, wie die Pfeife einer Katzenmusik, übertönte das Geschrei die Stimme des Studenten Johannes, der unermüdlich kreischte:
≫Auf der Stelle beginnen!≪
≫Pereat Jupiter! Pereat der Kardinal!≪ sekundierte ihm der Chor der Kollegen.
≫Galgen und Rad für Jupiter! Zum Henker mit dem Kardinal!≪ tobte der Mob.
Der arme Jupiter erblaßte unter seiner Schminke, der flammende Donnerstrahl entfiel seiner bebenden Hand und, den Helm zum Gruße abnehmend, stammelte er: ≫Seine Eminenz …Frau Margarete …≪, ohne recht zu wissen, was er sagen wollte. Die Angst vor dem Gehängtwerden war ihm ernstlich in alle Glieder gefahren, denn schon sah er den Galgen auf beiden Seiten stehen, im Namen des Mobs, wenn er nicht begann, und im Namen des Kardinals, falls er vor dessen Ankunft das Spiel eröffnete.
Während. der arme Teufel so zwischen zwei Übeln schwebte, erschien zu seinem Glücke jemand, der die Verantwortung von seinen Schultern nahm.
Der Helfer in der Not hatte sich außerhalb der Balustrade auf der Marmorplatte befunden, ohne hierdurch besondere Aufmerksamkeit zu erregen, da seine hagere, lange Gestalt durch die Säule gedeckt worden war, an die er sich gelehnt hatte. Dünn, groß, bleich und blond, schien er trotz der faltigen Stirne und der eingefallenen Wangen ein noch junger Mann zu sein, besonders wenn man mehr auf seine glänzenden Augen und auf seinen jetzt lächelnden Mund blickte. Im übrigen war nichts besonders Bemerkenswertes an ihm, mit Ausnahme vielleicht seiner Kleidung, deren Schwarz durch Alter und Gebrauch einen schäbigen Glanz erhalten hatte.
Der Helfer kam so unerwartet und unauffällig, daß ihn der bestürzte Jupiter zunächst gar nicht sah noch das beruhigende ≫Jupiter, hört, Jupiter!≪ hörte, mit dem der Ankömmling nähertrat. Erst als ein ungeduldiges ≫Michel Giborne!≪ mitten in sein Gesicht fuhr, erwachte der geängstigte Schauspieler aus der Erstarrung, in welche er durch kalte Todesfurcht versetzt werden war.
≫Wer ruft mich?≪ fragte er wie ein eben erweckter Schlafwandler.
≫Ich≪, entgegnete der Schwarzrock.
≫Ah≪, mehr brachte der aufatmende Mime nicht hervor.
≫Fangt sofort an≪, sagte der andere. ≫Stellt das Volk zufrieden, und ich übernehme es, den Herrn Palastvogt zu beruhigen, der seinerseits dem Herrn Kardinal berichten wird.≪
Der Schauspieler atmete erleichtert auf.
Rasch hatte er die volle Kraft seiner Lunge wiedergewonnen, als er der Menge den sofortigen Beginn des Stückes verkündete, was mit lautem Beifalls- und Juchhegeschrei dankend anerkannt wurde.
Und Jupiter war längst wieder hinter dem Vorhang verschwunden, als noch immer die Wogen des Beifalles gegen denselben brandeten.
Indessen war der unbekannte Beschwörer des Sturmes bescheiden wieder in die Deckung seiner Säule zurückgekehrt, und er würde dort ebenso stumm wie unbeachtet verblieben sein, wenn ihn nicht zwei in der Vorderreihe des Publikums stehende Mädchen aufgestöbert hätten, die keine Silbe seines kurzen Dialoges mit dem Mimen verloren hatten.
≫Meister≪, begann die eine und winkte ihm mit der Hand.
≫Schweig doch, Liénarde≪, verwies die Gefährtin, eine reizvolle, in ihrem Sonntagskleide stattlich wirkende Erscheinung, ≫du mußt Herr und nicht Meister sagen, denn er ist kein Gelehrter, sondern Laie.≪
≫Herr≪, begann nochmals Liénarde.
Der Unbekannte trat an die Balustrade heran.
≫Was wünscht Ihr, liebes Fräulein?≪
Seine eifrige Frage verwirrte das junge Ding.
≫Oh, nichts≪, entgegnete Liénarde. ≫Es ist meine Freundin Gisquette La Gencienne, die Euch sprechen will.≪
≫Was fällt dir ein!≪ errötete Gisquette. ≫Du hast Meister gerufen, und ich habe dich bloß verbessert und dir mitgeteilt, daß du Herr sagen mußt.≪
Der Unbekannte lächelte dazu. Es war ihm anzusehen, daß ihm an einem Gespräche mit den beiden Mädchen gelegen war.
≫Ihr habt mir also nichts zu sagen?≪ wandte er sich an Gisquette.
≫Ganz und gar nichts.≪
≫Nein, nichts≪, stimmte Liénarde der Freundin bei.
Daraufhin trat der Schwarzrock wieder gegen die Säule zurück, aber diesmal waren es die Mädchen, die ihn nicht gehen lassen wollten.
≫Mein Herr≪, begann lebhaft Gisquette in der ungestümen Weise, in der Frauen die Schleusen ihrer Beredsamkeit zu eröffnen pflegen, ≫Ihr kennt also den Soldaten, der im Schauspiele die Rolle der heiligen Jungfrau geben wird?≪
≫Ihr meint die Rolle des Jupiters?≪ gegenfragte der Unbekannte.
≫Ja, die meint sie, die Törin≪, fiel eifrig Liénarde ein. ≫Ihr kennt also diesen Jupiter?≪
≫Michel Giborne? Ja, ich kenne ihn.≪
≫Er hat einen prächtigen Bart≪, meinte Liénarde.
≫Wird seine Rolle schön sein?≪ fragte Gisquette.
≫Sehr schön≪, entgegnete der Gefragte ohne Zaudern.
≫Wie heißt das Stück?≪
≫‘Das gerechte Urteil der heiligen Jungfrau Maria’. Ein sehr moralisches Stück, mein Fräulein.≪
≫Ah! In der Tat?≪
Schweigen.
≫Ein neues Stück, das noch nie gespielt werden ist≪, begann der Unbekannte nach einer Weile.
≫So? Nicht dasselbe, welches vor zwei Jahren beim Einzuge der päpstlichen Gesandten gespielt werden ist? Damals haben drei junge schöne Mädchen Rollen gehabt≪, antwortete Gisquette.
≫Als Sirenen≪, ergänzte Liénarde.
≫Die ganz nackt waren≪, meinte der junge Mann.
Sofort schlugen die beiden Mädchen verschämt die Blicke nieder, der Schwarzrock aber lächelte etwas überlegen: ≫Das war ein spaßhafter Anblick allerdings. Aber das heutige Schauspiel ist eigens für das gnädige Fräulein Margarete von Flandern gemacht.≪
≫Werden Liebeslieder gesungen?≪ fragte naiv Gisquette.
≫In einem moralischen Stück?≪ Der Unbekannte schien empört zu sein. ≫Das ist doch nur in einer Posse am Platze. Man darf die Gattungen nicht verwechseln.≪
≫Schade≪, entgegnete Gisquette unbeirrt. ≫Damals gab es wilde Männer und Frauen, die miteinander kämpften und dazu kleine Liebeslieder sangen.≪
≫Was für die päpstlichen Gesandten paßt, schickt sich nicht für Margarete von Flandern≪, verwies sie herb der Unbekannte.
Die Mädchen aber waren aufgezogen und fuhren in ihren Erinnerungen fort.
≫Mehrere dumpfe Instrumente spielten prächtige Melodien.≪
≫Und für die Zuschauer gab es eine Fontäne mit drei Rohren, aus denen Wein, Milch und Gewürzwein nach Belieben gespendet wurden.≪
≫Auch wurde ein stummes Stück über die Leiden Christi aufgeführt.≪
≫Ja, der Herr am Kreuze mit den beiden Schächern rechts und links.≪
Und die beiden Redseligen sprachen bereits so rasch, daß keine auf die andere hörte.
≫Bei der Malerpforte waren sehr reich geschmückte Personen zu sehen.≪
≫Ein Jäger verfolgte eine Hindin unter Hörnerschall und Hundegebell.≪
≫Gerüste stellten die Burg von Dieppe dar.≪
≫Als der Legat kam, wurde sie gestürmt und alle Engländer niedergernacht.≪
≫Am Tore des Châtelet waren herrliche Figuren zu sehen.≪
≫Die Wechslerbrücke war von oben bis unten mit Teppichen behangen.≪
≫Zweihundert Dutzend gefangene Vögel ließ man fliegen, als der Legat erschien.≪
Der Unbekannte hatte bei diesen begeisterten Schilderungen genossener Herrlichkeiten immer dringendete Zeichen von Ungeduld gegeben, jetzt aber schnitt er das Gespräch der Mädchen ab.
≫Heute wird es noch viel schöner sein≪, erklärte er bestimmten Tones.
≫Könnt Ihr uns das versprechen?≪ fragte Gisquette.
≫Ohne Zweifel, da ich selbst der Verfasser bin≪, entgegnete er mit Nachdruck.
≫Wahrhaftig?≪ rissen die beiden Mädchen die Augen auf. Der Dichter warf sich unwillkürlich in die Brust.
≫Gewiß. Das heißt, wir sind unserer zwei. Johann Marchand, der die Bretter zugeschnitten und das Gerüst aufgebaut hat, und ich, Peter Gringoire, der den Text geschrieben hat.≪
Der Dichter des ≫Cid≪ konnte sich nicht stolzer als ≫Peter Corneille≪ vorgestellt haben.
Während so der Verfasser des neuen Stückes die naive Bewunderung der beiden jungen Mädchen erregte, war schon einige Zeit vergangen, seit Jupiter in der Versenkung verschwunden war; aber merkwürdigerweise gab die durch die Zusicherung eines baldigen Anfanges beruhigte Zuschauermenge keinerlei Zeichen von Ungeduld. Alles war wie in Sanftmut gewandelt, seit die Menschen gehört hatten, daß ihr Wille erfüllt werden sollte.
Diese Tatsache war seltsam, aber sie ist bis in unsere Tage richtig geblieben, da es eine beim Theater immer wieder und wieder erprobte Weisheit ist, daß es kein besseres Mittel als das Versprechen eines sofortigen Beginnens gibt, um das große Kind Publikum zur Geduld zu veranlassen.
Nur der Student Johannes entzog sich dieser Massensuggestion.
≫Holla, ho!≪ schrie er mitten in die ruhige Erwartung hinein. ≫Wollt ihr uns zum Narren halten? Jupiter, Jungfrau und wer zum Teufel noch! Stück! Stück! Anfangen oder der Krawall geht wieder los!≪
Mehr brauchte es nicht.
Sogleich ließ sich aus dem Inneren des Gerüstes eine aus gedämpften und lauten Instrumenten zusammengesetzte Musik vernehmen, der Vorhang der Garderobe wurde gerafft, und vier geschminkte und kostümierte Personen kamen zum Vorschein, um die steile Sprossenleiter zur Bühne hinaufzuklettern. Auf der oberen Plattform angelangt, stellten sie sich in einer Linie gegenüber dem Publikum auf und begrüßten es mit einer tiefen Verbeugung.
Dann schwieg die Musik, und. das Stück begann.
Nachdem die Mimen den ihrem Gruße gespendeten reichlichen Applaus eingeheimst hatten, begannen sie unter dem andachtsvollen Schweigen der Zuschauer einen Prolog, mit dem wir unsere Leserschaft verschonen wollen. Zudem hörte auch das Publikum nur mit halbem Ohre hin und beschäftigte sich — ganz wie heute — mehr mit den Kostümen als mit den Vorträgen der Schauspieler. Deren Aufmachung war aber auch der Aufmerksamkeit wert. Alle vier trugen Gewänder, die halb gelb, halb weiß waren und die sich nur in der Qualität voneinander unterschieden. Der erste hatte ein Kleid aus Gold- und Silberbrokat, der zweite aus Seide, der dritte aus Wolle und der vierte aus Leinen. Dazu hatte der erste ein entblößtes Schwert in seiner Rechten, der zweite ein Paar goldene Schlüssel, der dritte eine Waage und der vierte einen Spaten. Damit jedoch auch die beschränktesten Zuschauer klar über die ihnen vorgeführte Symbolik sein konnten, hatte jede dieser Personifikationen ihre Visitenkarte groß auf den unteren Teil des Gewandes gestickt:
Ich bin der Adel.
Ich bin die Geistlichkeit.
Ich bin der Handel.
Ich bin die Arbeit.
Natürlich war außerdem auch noch der geschlechtliche Unterschied dieser Figuren dadurch markiert, daß Adel und Handel als männliche Personen durch weniger lange Kleider und durch den Besitz einer Mütze jedem urteilsfähigen Beschauer kenntlich waren, wogegen die beiden anderen weiblichen Allegorien nicht so kurz geschürzt waren und Frauenhauben trugen.
Selbst bei größter Beschränktheit war aus dem Prolog leicht der Gedanke herauszuschälen, daß Adel und Geistlichkeit das eine, Handel und Arbeit das andere Ehepaar waren, beide höchst glücklich miteinander verheiratet, wie sich von selbst versteht, nur mit dem vom Gewohnten etwas abweichenden Nebenumstande, daß beide Ehepaare gemeinsam nur einen Sprößling hatten, den Golddelphin (Allegorie für den Dauphin von Frankreich), den sie mit der Schönsten aller Schönen verbinden wollten. Auf der Suche nach dieser durchzogen sie die ganze Welt und besuchten nach und nach die Prinzessinnen von Golkonda, Trapezunt und andere mehr bis zur Tochter des Großkhans der Tataren, ohne etwas Passendes finden zu können. Zum Schluß führte sie ihr Weg in den Pariser Justizpalast, damit sie sich auf der Marmorplatte aufstellen und dem Publikum all den Kram an Moral- und Sittensprüchlein verzapfen konnten, die dazumal bei der Fakultät der Freien Künste, bei den Doktorpfüfungen und in den Disputen als Definitionen, Determinationen, Maximen, Redefiguren und Trugschlüsse aufgestellt zu werden pflegten.
Dies war alles gewiß sehr schön und höchst beherzigenswert, aber in der ganzen, von all diesen Gleichnissen überfluteten Hörermenge gab es kein wacheres Ohr, kein klopfenderes Herz, kein unsteteres Auge, keinen gereckteren Hals als beim wackeren Dichter Peter Gringoire, der kurz zuvor der Wirkung nicht hatte widerstehen können, welche durch das Bekenntnis seiner Autorschaft bei den beiden jungen Mädchen hatte ausgelöst werden müssen.
Jetzt stand er nicht weit von ihnen entfernt hinter seinem Pfeiler und hörte, sah und verschlang alles, was auf der Bühne zu hören, zu sehen und zu verschlingen war. Mit dem Fortschreiten dieses Prologs und beim wohlwollenden Beifall des Publikums tönte in Peters Innerem jene verzückte Selbstbespiegelung nach, mit der ein Autor seine Gedanken, einen nach dem anderen, von den Lippen der Schauspieler in die Stille eines großen Auditoriums fallen hört.
Würdiger, aber auch bedauernswerter Peter Gringoire! Denn seine erste Verzückung wurde alsbald bitter gestört. Knapp erst hatte er am berauschenden Freudenbecher des Autorentriumphes genippt, als auch schon ein herber Wermutstropfen in denselben fiel.
Eingekeilt in das Gedränge, war ein zerlumpter Bettler am Einsammeln verhindert worden, und nachdem er auch noch die Taschen seiner Nachbarn mit unbefriedigendem Ergebnisse untersucht hatte, kam er auf den Einfall, sich einen Platz zu suchen, auf welchem er die Blicke jener auf sich lenken konnte, von denen ein Almosen zu erhoffen war. Schon zu Beginn des Prologes begann er daher längs der dort befindlichen Pfeiler auf das Karnies hinaufzuklettern, welches den unteren Saum des für die Gesandten und anderen Notabeln bestimmten Podiums bildete. Und nachdem er sich hier niedergelassen hatte, verlegte er sich darauf, wenn auch wortlos, so doch durch augenscheinliche Gesten, die Aufmerksamkeit der Menge auf seine Lumpen und auf eine schwärende Wunde an seinem rechten Arme zu lenken.
Sein Stillschweigen ließ wohl den Prolog ungestört vor sich gehen, und es wäre kaum ein Zwischenfall eingetreten, wenn nicht der hochpostierte Studiosus Johannes das Treiben des Vagabunden bemerkt hätte und dadurch zu einem tollen Gelächter gereizt werden wäre.
≫Seht den Taugenichts, wie er um Almosen wirbt!≪ krähte er zwischen zwei Lachsalven.
Diese unpassenden Worte fielen in die allgemeine Stille mit der Wirkung eines in einen kauernden Vogelschwarm gefeuerten Schusses. Wie von einem elektrischen Schlage getroffen, fuhr Gringoire zusammen, die Worte des Prologes blieben im Munde des betreffenden Mimen stecken, und alle Köpfe wandten sich dem Bettler zu, der sogleich geistesgegenwärtig die günstige Gelegenheit ausnützte, um seine Werbung vorzubringen. ≫Gebt eine milde Gabe für einen Armen, gebt≪, winselte er.
≫Meiner Treu≪, lachte da Johannes, ≫das ist Clopin Trouillefou! He, Freund, neulich hattest du deine Wunde am Bein. Dort scheint sie dir lästig geworden zu sein, weil du sie jetzt am Arme trägst!≪
Dabei schleuderte er dem Bettler mit der Geschicklichkeit eines Affen einen kleinen Silberling in die aufgehaltene schmierige Mütze, wo sie der Bettler rasch aufnahm und, ganz unbeirrt durch den kompromittierenden Zwischenruf, sein klägliches Geheul fortsetzte. ≫Gebt einem Armen, gebt!≪
Da Johannes daraufhin einen neuen Lachanfall bekam, entstand ein sonderbares Duett, welches eine ziemliche Anzahl der Zuschauer und vor allem sämtliche Studenten zum Beifallklatschen anregte.
Darob war Peter Gringoire mit Recht sehr mißgestimmt, besonders da auf der Bühne die Fortsetzung des Prologes ausblieb.
≫Zum Teufel! Sprecht doch weiter!≪ rief er den Schauspielern zu, während er den beiden Störenfrieden verachtungsvoll den Rücken wandte.
Aber in diesem Augenblicke fühlte er sich am Zipfel seines Rockes gefaßt, und als er sich darob widerwillig genug umwandte, mußte er unwillkürlich lächeln, als er bemerkte, daß es der hübsche Arm Gisquettes war, der sich über die Balustrade nach ihm ausgestreckt hatte.
≫Mein Herr, wird der Prolog fortgesetzt?≪
≫Gewiß.≪
Im Grunde empfand Gringoire diese Frage gewissermaßen als Beleidigung.
≫In diesem Falle, mein Herr, haben Sie wohl die Güte, mir zu erklären …≪
≫Was weiter folgt?≪
≫Nein, was bisher gesprochen wurde.≪
Die rauhe Berührung einer Wunde hätte für Gringoire nicht schmerzhafter sein können.
≫Daß dich die Pest, dämliche Gans≪, knurrte er zwischen den Zähnen. Von diesem Augenblick an hatte es die schöne Gisquette bei ihm verdorben.
Indessen hatten die Schauspieler unter seinen funkelnden Blicken ihre Fassung wiedergewonnen und zu sprechen begonnen, was zugleich wieder die Aufmerksamkeit des Publikums auf die Bühne zurücklenkte. Aber viele ganz besondere Schönheiten waren den Hörern doch durch die unliebsame Unterbrechung entgangen, und die Lötung der beiden Teile konnte den stattgefundenen Bruch nicht unkenntlich machen. Diese Bemerkung machte in aller Stille der erbitterte Autor, während der Studiosus endlich sein Gelächter eingestellt hatte und nur noch schüchtern das Geklimper hörbar war, mit welchem der Bettler die erbeuteten Almosen überzählte.
Das Stück nahm nun seinen Fortgang, und zweifellos war es ein sehr schönes Werk, aus dem man — wie uns dünken will — auch heute noch bei einigen Änderungen manche Nutzanwendung hätte ziehen können. War auch die Ausarbeitung nach den Regeln der Kunst etwas lang und einfach, so durfte der Autor trotzdem vor dem unbestechlichen Richterstuhle seines Fühlens die Durchsichtigkeit der ganzen Handlung bewundern.
Wie sich denken läßt, waren die vier Allegorien von ihrer langen Wanderung durch die Welt einigermaßen ermüdet, besonders deshalb, weil sie ihren Zweck dabei nicht erreicht und für ihren Golddelphin nicht die gesuchte Schöne gefunden hatten.
Immerhin hatten sie noch die Kraft zu einer Lobrede auf denselben, mit tausend feinen Anspielungen auf den Erben der Krone Frankreichs, der zur selben Stunde höchst jämmerlich in Amboise eingeschlossen war und schwerlich das geringste Interesse daran hatte, daß sich Adel und Geistlichkeit, Handel und Arbeit auf eine beschwerliche Weltreise begeben hatten, um ihm eine Braut zu küren.
Jedenfalls war besagter Golddelphin jung, schön und tapfer, wie es sich schließlich bei seiner glorreichen Abstammung vom Löwen von Frankreich von selbst verstand.
Dieses Gleichnis war bewundernswert, und es war vom Theaterstandpunkte aus nur eine geringere, bloß für Zoologen interessante Frage, wie ein Golddelphin aus einem Löwen entspringen kann. In solch seltenen, aber dafür hochdichterischen Mischungen zeigt sich eben das dem Alltage entrückte Genie.
Nichtsdestoweniger — um etwas Tadel unter das Lob zu mengen — hätten dem Dichter für diesen schönen Gedanken auch zweihundert Verse genügen können. Andrerseits aber war es wohl richtig, daß laut Befehl Seiner Eminenz das Stück von Mittag bis vier Uhr zu dauern hatte und daß in dieser Zeit etwas gesagt werden mußte. Zudem war die Geduld der Zuhörerschaft groß.
Eben waren Herr Handel und Frau Arbeit in einem lobenden Wettstreite über den idealen Delphin zu der wunderbaren Feststellung gelangt:
≫Nie sah man in allen Wäldern ein stolzeres Tier≪, als, sehr zur Unzeit, das zu dem Podium führende Eingangsfenster aufgerissen wurde und die lauthallende Stimme des Türhüters die Meldung erklingen ließ:
≫Seine Eminenz, der hochwürdige Herr Kardinal von Bourbon!≪
Der Herr Kardinal
Bedauernswerter Peter Gringoire!
Das Krachen aller Johannisfestpetarden, eine Salve aus zwanzig Hakenbüchsen, der Donner der berühmten Feldschlange des Turmes Billy, von der Sonntag, den 29. September 1465, bei der Belagerung von Paris sieben Burgunder auf einen Schuß zerschmettert wurden, die Explosion des ganzen an der Temple-Pforte verwahrten Pulvervorrates hätte ihm nicht schrecklicher und Ohrenzerreißender klingen können als diese laute Meldung des Türhüters:
≫Seine Eminenz, der hochwürdige Herr Kardinal von Bourbon!≪
Nicht, weil Peter den Kardinal gefürchtet oder gehaßt hätte. Dazu war er weder schwach noch verwegen genug. Durchaus Eklektiker — wie man es heute nennen würde —, gehörte er zu den gefestigten, stolzen und ruhevoll gemäßigten Geistern, die stets die goldene Mittelstraße einzuhalten wissen und die ihren Verstand und ihre Weltanschauung auch dann zu bewahren verstehen, wenn sie mit Kardinälen in Berührung kommen.
Schätzenswertes, nie das Gleichmaß verlierendes Geschlecht der Philosophen, die von der Weisheit wie von einer hilfsbereiten Ariadne den Garnknäuel erhalten haben, an dessen Faden sie sich seit Weltbeginn durch das Labyrinth der menschlichen Verhältnisse zu lotsen verstehen. Allen Änderungen der Zeitläufte entsprechend, sind sie stets immer wieder zu finden.
Ohne unseres Peter Gringoire als Musterbeispiel aus dem fünfzehnten Jahrhundert besonders zu gedenken, war es sicherlich der Geist dieser Philosophen, der den Pater Du Breul beseelte, als er ein Jahrhundert später die ebenso erhabene wie naive Feststellung niederschrieb, welche aller Zeiten würdig ist:
≫Pariser von Geburt, bin ich freimütig in der Rede, da das griechische Parrhisia Freimut bedeutet, und von dieser habe ich selbst gegen die Herren Kardinäle, gegen den Onkel und den Bruder des gnädigen Herrn Prinzen von Conti Gebrauch gemacht, ohne jedoch dabei die Ehrfurcht zu verletzen und ohne jemanden aus ihrem Gefolge zu beleidigen.≪
Es war also weder Haß gegen den Kardinal noch geringe Einschätzung seiner Gegenwart, was auf Peter Gringoire einen so unangenehmen Eindruck machte. Ganz im Gegenteile, er war viel zu gescheit und viel zu arm, um nicht Wert darauf zu legen, daß die Worte seines Prologs und insbesondere die darin enthaltene Verherrlichung des Golddelphins von Seiner Eminenz vernommen wurden. Aber es ist nicht immer das materielle Interesse, welches die edle Dichterseele beherrscht. Würde zwecks Vornahme einer chemischen Analyse das Wesen eines Dichters durch die Zahl Zehn formuliert werden, so würde sich ergeben, daß dasselbe aus einem Teile Eigennutz und aus neun Teilen Eigenliebe zusammengesetzt ist.
Im Augenblicke nun, als die Ankunft des hochwürdigen Kardinals gemeldet wurde, waren bei Peter alle die neun Teile Eigenliebe derart angeschwollen, daß das eine Molekül Eigennutz zu tiefster Unscheinbarkeit zusammengeschrumpft und so gut wie nicht vorhanden war. Eben hatte sich der Dichter an der Vorstellung gelabt, daß eine große Ansammlung von Menschen — wenn auch Bukoliker und Banausen, so doch Zuhörer! — unter der betäubenden Wirkung des von ihm fabrizierten Wortschwalles stand, der endlos aus seinem Prolog herausquoll. Er fühlte die allgemeine Seligkeit des Publikums und teilte sie überdies selbst — so sehr, daß er am liebsten jeden Zuhörer gefragt hätte: ≫Von wem ist dieses Meisterwerk?≪, statt so wie Lafontaine zu handeln, der bei der Aufführung seines eigenen Stückes seinen Nachbar im Theater fragte: ≫Von welchem Schuster ist dieses Flickwerk?≪
Es läßt sich daher denken, welche Wirkung die Unterbrechung durch die Ankunft des Kardinals auf ihn ausüben mußte.
All seine Befürchtungen wurden sogar noch übertroffen, denn der Eintritt des hohen Kirchenfürsten brachte die größte Verwirrung unter den Zuschauern hervor.
Sämtliche Köpfe wandten sich dem Podium der Notabeln zu, und es entstand ein Gescharre, bei welchem man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte.
≫Der Kardinal …der Kardinal …≪ ging es von Mund zu Mund. Und der Unglüdssprolog blieb zum zweiten Male stecken.
Der hohe Herr blieb eine Weile in dem Eingangsfenster stehen und ließ einen gleichgültigen Blick über die Masse schweifen, während sich deren Unruhe verdoppelte. Denn jeder wollte ihn möglichst deutlich sehen und suchte dazu seinen Vordermann zu überragen oder zur Seite zu drängen.
In der Tat war es eine stattliche, sehenswerte Persönlichkeit, welche das Interesse von allen Prologen der Welt ablenken mußte. Karl, Kardinal von Bourbon, Erzbischof und regierender Graf von Lyon, Fürstprimas beider Gallien, war sowohl mit Ludwig XI. als auch mit Karl dem Kühnen von Burgund nahe verwandt. Diese Doppelverwandtschaft mit so mächtigen Herrschern erforderte viel höfische Gewandtheit und Anschmiegsamkeit an Höhergestellte, Eigenschaften, die dieser Kirchenfürst in ganz hervorragendem Maße besaß. Er verstand es außerordentlich gut, sein Lehensschiff zwischen diesen zwei rivalisierenden Klippen zu steuern, die als Szylla und Charyhdis so hohe Herren, wie den Herzog von Nemours und den Konnetabel von Saint-Pol, verschlungen hatten. Mit Gottes Hilfe hatte der Kardinal diese Fahrt durch die Strudel der Politik glücklich überstehen und unversehrt in den schützenden Hafen von Rom einlaufen können.
Aber selbst nach dieser glücklichen Ankunft konnte er nie der Fährnisse der dahin zurückgelegten Reise vergessen, und nie vermochte er seiner politischen Laufbahn zu gedenken, ohne sich all der stürmischen Wechselfälle zu erinnern, die er hatte bestehen müssen. Daher pflegte er oft zu sagen, daß das für ihn so ereignisreiche Jahr 1476 in gleicher Weise trübe und licht gewesen sei, womit er sagen wollte, daß er in diesem Jahre seine Mutter, die Herzogin des Bourbonnais, und seinen Vetter, den Herzog von Burgund, verloren hatte und daß er durch einen Trauerfall über den anderen getröstet werden war. Im übrigen war dieser Kirchenfürst ein Mann von schlichten Gewohnheiten, der sein vergnügtes Kardinalsleben zu genießen verstand und einen guten Happen oder Tropfen liebte. Auch gab er lieber einem hübschen Mädchen als einer alten Vettel das seiner Stellung angemessene Almosen und war darob beim Pariser Straßenpöbel sehr beliebt.
Auf der Straße erschien er nur umgeben von einem Gefolge von Bischöfen, galanten Äbten und lustigen Herren, die an seiner Tafel eine tüchtige Klinge zu schwingen wußten. Und mehr als einmal hatten die ehrbaren Betschwestern des Sprengels Ärgernis genommen, wenn sie die Fenster des ≫Hôtel de Bourbon≪ passierten und aus ihnen bacchantische Trinklieder von denselben Stimmen grölen hörten, die ihnen nicht lange zuvor die Vesper vorgesungen hatten. Die geistlichen Herren waren eben Anhänger des Trinkspruchs ≫Sauf wie ein Papst≪, dessen Autor jener Benedikt XII. gewesen ist, der seiner Tiara den dritten Kronstreifen zugefügt hatte. Zweifelsohne war es diese Popularität bei den niederen Volksschichten, welche ihm bei seinem Erscheinen einen freundlichen Empfang sicherte, obgleich man ihn — wie erinnerlich – kurz zuvor auf den Galgen gewünscht hatte, weil seinetwegen der Beginn des Schauspiels hätte verzögert werden sollen. Zudem ist der Groll der Pariser selten nachhaltig, und in diesem Falle hatte man sogar das Gefühl, über den Kardinal triumphiert zu haben, weil man die Eröffnung der Vorstellung vor seinem Eintreffen erzwungen hatte. Und schließlich war der Kardinal ein hübscher Mann, der ein schönes rotes Kleid trug, welches ihm sehr gut stand. Damit hatte er von vornherein mehr als die Hälfte des Auditoriums, nämlich alle Frauen für sich. So gab die Meinung der besseren Hälfte den Ausschlag, die es für ein Unrecht gehalten hätte, einen Kardinal zu verhöhnen, der ein schönes rotes Kleid trug und selbst noch dazu ein schöner Mann war, wenn er auch den Beginn der Vorstellung durch seine Unpünktlichkeit verzögert hatte.
Eintretend begrüßte der hohe Herr die Menge mit jenem Lächeln, welches die Mächtigen stets für die Plebs in Bereitschaft haben. Dann schritt er mit langsamer Feierlichkeit dem für ihn bestimmten scharlachroten Samtsessel zu, wobei er an alles andere, nur nicht an das Schauspiel und an die Zuhörerschaft dachte.
Sein Gefolge war der gewohnte Generalstab von Bischöfen, Äbten und Kavalieren, die hinter ihm her das Podium besetzten und durch ihren Aufmarsch das Parkett ganz außer Rand und Band brachten.
Denn da gab’s was zum Gaffen und zum Zeigen! Da war der Herr von Alaudet, dort der Bischof von Marseille, da der Abt von Saint-Denis, dort Herr de Lepinasse und hier der Abt von Saint-Germain, dieser liederliche Bruder einer liederlichen Mätresse König Ludwigs XI. Mit verächtlichem Hasse wurde dies festgestellt.
Zumal die Studenten wetzten ihre Lästermäuler. Es war ohnehin ihr Tag, der des Narrenfestes, die Saturnalie der Universität und der Basoche, der Vereinigung aller Gerichts- und Parlamentsschreiber.
Jedwede Schändlichkeit war diesen beiden Gruppen an diesem Tage gestattet, nichts war für sie heilig. Und mit ihnen wetteiferten ihre tollen Gevatterinnen, an diesem freien Tage zu fluchen und zu lästern, Gott zu höhnen und seinen Namen eitel zu nennen, wie es nur Geistliche und Freudenmädchen zuwege bringen, wenn sie sich zusammenfinden.
Und da es im Großen Saale genug derart gemischte Gruppen gab, fehlte es auch nicht an einem Zusammenspiel von Laster und Schändlichkeit, an einer entsetzlichen Entfesselung dieser Studenten- und Schreiberzungen, die sich das übrige ganze lange Jahr hindurch aus Furcht vor der glühenden Zange des heiligen Ludwig eines heilsamen Schweigens beflissen.
Armer Sankt Ludwig! Welchen Hohn mußtest du an diesem Tage erdulden, und noch dazu ausgerechnet im Justizpalast!
Jeder der Studenten und Schreiber hatte sich unter den roten, schwarzen, violetten, weißen oder grauen Roben eine Zielscheibe seiner Ätzlauge ausgesucht, und insbesondere hielt sich Johannes von Frollo als Bruder eines Archidiakons an die höchste, an die rote des hochwürdigen Herrn Kardinals. Seinen frechen Blick auf das auserkorene Opfer heftend, brüllte er ihm ein kräftiges ≫Weinschwerer Pfaffenrock!≪ zu.
Aber diese zur besonderen Erbauung unserer Leserschaft von uns enthüllte Einzelheit verlor sich so in dem allgemeinen Spektakel, daß der Kardinal wenig davon betroffen wurde, abgesehen davon, daß er an die Zügellosigkeit jener Zeit gewöhnt war und daher wenig darauf achtete. Nein, die Falten in seinen Zügen rührten von ganz anderen Sorgen her und hauptsächlich von der nächstliegenden, die ihm sogar dicht auf dem Fuße folgte. Es war die mit der flämischen Gesandtschaft.
Nicht weil er ein tiefblickender Staatsmann gewesen wäre, der die weitreichenden Folgen der bevorstehenden prinzlichen Heirat und Verschwägerung mit dem Wiener Hofe zu überblicken verstand, im Gegenteil, weder dies noch die dadurch entstehende Verwandtschaft mit dem Könige von England beunruhigte ihn im geringsten. Mit Behagen genoß er allabendlich, nach wie vor, den edlen Tropfen von Chaillot, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß dieselbe Weinsorte (allerdings etwas verschärft durch die Kunstfertigkeit des gelehrten Doktors Coictier und in aller Herzlichkeit von Ludwig XI. dargebracht) den König Eduard IV. von England zu einer rascheren Versammlung zu seinen Vätern veranlassen sollte.
Aber die sehr ehrenwerte Gesandtschaft aus Flandern, die der dortige Prinzgemahl (der österreichische Erzherzog Max, der letzte Ritter) entboten hatte, belästigte den Kardinal in einer anderen, wenn auch weniger hochpolitischen Weise.
Es war hart für einen Kardinal von Bourbon, unbekannte Bürgerflegel festlich bewirten zu müssen und als französischer Weinkenner diesen geschmacklosen Bierzapfern vor allen Leuten als Mundschenk zu dienen. Nie hatte er sich einer solchen Heuchelei unterzogen wie dieser, zu der er sich nur dem Könige zuliebe verstand. Aber einmal entschlossen, wandte er die ganze ihm so geläufige Anmut auf, als der Türhüter eine neuerliche Meldung in den Saal rief:
≫Die Herren Gesandten des Herrn Herzogs von Österreich!≪
Bereitwillig wandte sich der Kardinal den eintretenden Gesandten zu, und mit den Köpfen folgte ihm die ganze Zuhörerschaft.
Paarweise kamen sie hereingeschritten, die Bürger aus Flandern, mit einer Würde, die sehr gegen die leichtfertige Tändelei abstach, mit welcher kurz zuvor des Kardinals Gefolge hereingeflattert war. Achtundvierzig Mann hoch, geführt vom hochwürdigen Pater in Gott, Abt von Saint-Bertin und Kanzler des Goldenen Vlieses, und hinter ihm die Herren Jakob van Goy, Dauby und der Landvogt von Gent.
Mit tiefem Schweigen hörten die Leute im Großen Saale die Aufzählung all der absurden Namen und Bürgertitel an, die beim Auftauchen jedes Paares vom Türhüter so laut wiederholt wurden, wie die betreffende Person es ihm sagte. Nur hie und da wurde unterdrücktes Lachen hörbar, wenn dies gar zu kunterbunt verstümmelt geschah.
Gerichtsvögte, Schöppen, Bürgermeister, nacheinander, alle von hölzern-steifer Gezwungenheit, unbeholfen in ihren Festkleidern aus Samt und Damast, echt flämische Köpfe, über denen die dicken Quasten zyprischer Goldtressen von schwarzen Samtbaretten baumelten. Darunter würdige, ernste Mienen, wie sie uns Rembrandt so treffend überliefert hat, kurz Personen, denen es auf den Stirnen geschrieben stand, daß Maximilian von Österreich guten Grund hatte, über sie in seinem Manifeste zu sagen, wie sehr er ≫platterdings≪ auf ihre gute Gesinnung, Tapferkeit, Ehrenhaftigkeit und Bewährtheit vertraue.
Nur einer von ihnen fiel aus diesem Rahmen der Rechtlichkeit heraus. Er hatte ein feines, listiges Fuchsgesicht, eine Mischung von Affen- und Diplomatenvisage, den der Kardinal besonders ehrte, indem er ihm drei Schritte entgegenging und ihm eine tiefe Verbeugung machte, obgleich er bloß schlicht als Wilhelm Rym, Stadtrat von Gent, angemeldet werden war.
Wenige Leute hatten eine Ahnung, wer dieser Stadtrat Rym war, nämlich eines der seltensten Genies, welches glanzvoll auf steile Höhe hätte getrieben werden müssen, wenn es in einer revolutionären Epoche gelebt hätte So aber, im despotischen Sumpfe des fünfzehnten Jahrhunderts, sah er sich auf krummwegige Kabalen und Intrigen angewiesen, um seinem Vaterlande nach Kräften nützen zu können. Aber dabei genoß er das Vertrauen Ludwigs XI., dessen Geheimpläne oft von ihm zurechtgeschmiedet werden. Dies war dem großen Haufen natürlich unbekannt, desto besser aber wußte es der Kardinal, während er die gaffenden Zuschauer durch seine große Aufmerksamkeit gegen eine ≫so erbärmliche Schultheißenfigur≪ in Erstaunen versetzzte.
Meister Jakob Coppenole
Während der Stadtrat von Gent und Seine Eminenz Verbeugungen und verbindliche Bemerkungen tauschten, erfolgte der Eintritt eines Mannes von hoher Gestalt, der mit seinen mächtigen Schultern und mit seinem breiten Gesichte nach dem Fuchskopfe des Stadtrates wie eine Bulldogge wirkte. Außerdem fiel er unter all den Samtkleidern durch sein Lederkoller und durch seinen Filzhut auf.
Der Türhüter hielt diesen Ankömmling für irgendeinen irrtümlich hierher geratenen Stallmeister und wollte ihn daher aufhalten.
≫He, Freund, da ist kein Eingang!≪
Der Mann im Lederkoller straffte sich in den Schultern.
≫Was sagt der Narr?≪ grollte er mit einer im ganzen Saale hörbaren Donnerstimme. ≫Siehst du nicht, daß ich zu diesen Herren gehöre?!≪
≫Wen soll ich melden, Herr?≪ stammelte der Türhüter.
≫Jakob Coppenole.≪
≫Mit Titel?≪
≫Strumpfwirker.≪
≫Strumpfwirker?≪
≫Jawohl, Strumpfwirker mit dem Hauszeichen der drei Ketten zu Gent.≪
Der Türhüter riß das Maul auf, ohne eine Anmeldung herauszubekommen. Bürgermeister, Schöppen, das ging noch an. Aber jemanden bloß als Strumpfwirker anmelden! Mußte man sich da nicht lächerlich machen?
Der Kardinal glaubte auf glühenden Kohlen zu stehen, während die ganze Zuhörerschaft gespannt der weiteren Dinge lauschte. Seit zwei Tagen bemühte er sich nun, diese flämischen Bären zu dressieren und für ein öffentliches Auftreten zurechtzustutzen. Und das war der ganze Effekt davon!
Nur einer blieb Herr der Situation, der Stadtrat mit dem Fuchsgesicht. Rym näherte sich dem Türhüter und flüsterte ihm zu:
≫Meldet Meister Coppenole, Sekretär der erlauchten Stadt Gent.≪
Zum Unglück hörte jedoch der Kardinal ebenfalls diese geflüsterte Anweisung und wiederholte sie ungeduldig und mit lauter Stimme.
So hörte sie leider auch Coppenole, dem sogleich das Blut ins Gesicht stieg.
≫Nein, bei Gottes Kreuz≪, brüllte er mit Stentorstimme, ≫nur Jakob Coppenole, Strumpfwirker. Hast du gehört!? Nicht einen Buchstaben mehr, oder das Donnerwetter soll dich! Strumpfwirker genügt! Der Herr Herzog von Österreich hat mehr als einmal seinen Handschuh in meinen Hosen gesucht!≪
Für einen Witz sind die Pariser immer zu haben. Ein rauschender Applaus im ganzen Saale belohnte auf der Stelle den des wackeren Coppenole. Außerdem fühlte das Volk sofort, daß der Meister einer der ihren war, wodurch sogleich ein Sympathiestrom von ihm herüber und zu ihm zurück floß. Die Hörer fühlten sich auf gleichem Boden mit diesem Handwerker, der in so hochmütiger Weise all die anwesenden Hofschranzen zu demütigen wußte. Und sie bewunderten ihn darob um so mehr, als im fünfzehnten Jahrhundert die Selbstachtung der Plebejer noch meist eine schwankende war. Ha, das war einer ihresgleichen, und wie er dem Kardinal entgegenzutreten verstand! Wohlig kitzelte dieser Gedanke manch armen Teufel, der gewohnt war, in Respekt und Gehorsam schon vor dem niedrigststehenden Individuum zu ersterben, sobald es nur irgendeinen Amtstitel besaß, mochte es auch nur der eines Schleppenträgers Seiner Eminenz oder der eines Amtsvogtlakaien irgendeines Abtes sein.
Nach diesem kleinen Intermezzo begrüßte Coppenole mit steifer Würde Seine Eminenz, und der Kardinal beeilte sich, die Verbeugung eines Bürgers zu erwidern, dessen Ansehen bei Ludwig XI. ihm bekannt war. Dann nahm unter dem spöttischen Lächeln des Fuchsgesichtes jeder den ihm zukommenden Platz ein, der Kardinal in bekümmerter Verlegenheit und Coppenole in ruhigstolzer Erinnerung der wichtigen Rolle, die er bereits in der hohen Politik zu spielen gehabt hatte. Ihm galt sein Strumpfwirkertitel soviel wie jeder andere, und er sagte sich, daß Maria von Burgund, die Mutter ebendieser jetzt zu verheiratenden Margarete von Flandern, ihn weniger als Coppenole und Stadtsekretär, denn als Strumpfwirker gefürchtet hatte. Denn kein Kardinal hätte, so wie er, als Gildenvorstand die Genter gegen die Günstlinge der Tochter Karls des Kühnen aufwiegeln können. Kein Kardinal und kein Stadtsekretär hätte die Menge gegen die Tränen der Fürstin verhärten können, als diese bis an den Fuß des für ihre Lieblinge errichteten Schafottes kann, um deren Leben von der Gnade des Strumpfwirkers zu erbitten, der bloß seinen lederbekleideten Arm zu heben brauchte, um die Köpfe des erlauchten Herrn von Hymbrecourt und des Kanzlers Hugonet fallen zu sehen.
Aber damit war für den bedauernswerten Kardinal der heutige Kelch noch nicht vorüber. Er mußte ihn bis auf die Neige leeren.
Man erinnert sich des frechen Bettlers, der während des Prologs auf den Fußraum des Podiums geklettert war. Die Ankunft all der erlauchten und hochmögenden Notabeln war für ihn nicht die geringste Veranlassung, seinen vorteilhaften Platz aufzugeben, im Gegenteile, er hatte es sich während der langwierigen Empfangszeremonien so bequem als möglich gemacht und seine Beine ungeniert übereinandergeschlagen. So saß er besser da als die auf den Sperrsitzen des schmalen Podiums wie Heringe zusammengedrängten Prälaten und Gesandten. Zunächst hatte niemand seine beispiellose Unverschämtheit bemerkt, weil man wichtigere Sachen zu sehen hatte. Um diese kümmerte sich jedoch der Bettler ebensowenig, indem er seinen Schädel mit der gedankenlosen Sorglosigkeit eines Neapolitaners hin und her wiegte und alsbald sein maschinenmäßiges ≫Gebt Almosen, gebt!≪ abzuleiern begann.
So war er in der ganzen zahlreichen Versammlung der einzige, der sich nicht einmal umdrehte, als der laute Wortwechsel zwischen Coppenole und dem Türhüter stattfand. Da wollte es der Zufall, daß der dem Volke bereits sympathisch gewordene Strumpfwirker seinen Platz oberhalb des Bettlers erhielt und daß aller Augen auf ihn gerichtet waren, als er im Niedersetzen den Vagabunden erblickte und ihm zur allgemeinen Verwunderung jovial auf die lumpenbekleidete Achsel klopfte.
Das Staunen der Versammelten wuchs, als man sah, wie der Bettler sich zunächst überrascht umdrehte, dann mit dem Strumpfwirker ein freundliches Kopfnicken und schließlich sogar einen Händedruck tauschte, worauf die beiden angelegentlich eine leise geführte Unterhaltung begannen. Dabei wirkte Clopin Trouillefou mit seinen Fetzen gegen den goldbrokatenen Hintergrund des mit Teppichen verhängten Podiums wie eine auf einer Goldorange klebende Raupe.
Das Ungewohnte der ganzen Situation erregte eine so närrische Heiterkeit im Publikum, daß der Kardinal gezwungen war, Notiz hiervon zu nehmen, wenn er dies auch nur unvollkommen tun konnte, da er von seinem Platze aus nicht viel sah und bloß den Eindruck hatte, daß ein lästiger Bettler den Ehrengast behellige. Dies schien ihm eine empörende Frechheit, und kurzerhand befahl er daher:
≫Herr Palastvogt! Werft diesen Kerl dort in den Fluß!≪
≫Gottes Kreuz, Herr Kardina!≪, fuhr Coppenole in die Höhe. ≫Halt aus, das ist ein Freund von mir!≪
≫Hoho!≪ grölte der Pöbel sofort. ≫Hoch Coppenole!≪ Entschieden war der Strumpfwirker urplötzlich für diesen Tag wenigstens, der populärste Mann von Paris. Der Kardinal begnügte sich damit, ärgerlich die Lippen zu beißen und dem neben ihm sitzenden Abt zuzuflüstern:
≫Drollige Kerle, diese Gesandten aus Flandern, was?≪
≫Rüsseltiere, Eminenz!≪
Und mit diesem kleinen Witz und dem Beifallsgemecker der nächstsitzenden Höflinge fühlte sich Seine Eminenz mit dem ruppigen Strumpfwirker quitt.
Nach diesem Detail wenden wir uns wieder dem allgemeinen Eindrucke zu, den das ungeheuere Rechteck des Großen Saales bot. In seiner Mitte das mit Goldbrokat behängte Podium, auf dessen Sitzreihen Hermelin, Samt und Scharlach. Gleichsam eine prächtig schillernde Insel im ringsherum wogenden Kopfmeere der dichtgedrängten Menge. Tausende von Augen auf diese erhöhte Versammlung glänzender Prälaten und Kavaliere, würdiger Bürger und Ratsherren gerichtet. Jeder ihrer Namen von Tausenden von Lippen geflüstert. Gewiß ein merkwürdiges Schauspiel, würdig der gesamten Aufmerksamkeit.
Und ganz unten, am Saalende, ein Gerüst, auf diesem vier scheckige Figuren und in ihrer Nähe ein einsamer Mensch in schwarzem Rock, mit blassem Gesicht. Ach, es ist bloß Peter Gringoire, der Dichter mit seinem unglückseligen Prolog!
Vergessen, wie er befürchtet hatte!
Peters Ängste hatten sogleich mit dem Eintritte des Kardinals begonnen. Zuerst hatte er den Schauspielern befohlen, mit ihrem Vortrage fortzufahren und lauter zu sprechen. Als er bemerkte, daß niemand mehr zuhörte, ließ er innehalten und bemühte sich dann vergebens, seine schönen beiden Nachbarinnen und die anderen zunächst Stehenden dazu zu veranlassen, daß sie eine Fortsetzung des Prologs verlangten. Alle Mühe und all sein ungeduldiges Fußgestampfe brachten jedoch nicht die geringste Wirkung hervor. Keiner ließ den Kardinal und den Aufmarsch der Notabeln aus dem Auge, um so weniger, da — wie wir mit Betrübnis feststellen müssen — der Prolog durch seine allzu lange Dauer bereits allen herzlich langweilig geworden war. Zudem, sowohl auf der Marmorplatte wie auch auf dem Podium, bot sich die gleiche Handlung, der altgewohnte Zank zwischen Arbeit und Geistlichkeit, zwischen Adel und Bürgertum. Aber es dünkte den Zuschauern interessanter, dieses Schauspiel in lebendig-gegenwärtiger Wirklichkeit auf dem Podium zu sehen, als es in endlosen Versen unter allegorischer Verkleidung von der Marmorplatte zu hören,
Der Dichter aber verzagte nicht, und kaum war die Ruhe einigermaßen wiederhergestellt, als er auch schon eine neue Kriegslist ins Treffen brachte, die fast die ersehnte Rettung gebracht hätte.
≫Wie wäre es, wenn das Stück weiterginge≪, wandte er sich an einen seiner Nachbarn, einen braven, großgewachsenen Menschen von geduldigem Aussehen.
≫Ihr meint? Was?≪
≫Nun, das Schauspiel, den Prolog.≪
≫Wie es Euch beliebt.≪
Dies nahm der Autor für die Zusage treuer Bundesgenossenschaft, und er begann allsogleich, seine Sache lauter zu betreiben.
≫Anfangen! Stück!≪ schrie er gegen die Menge zu, in der Hoffnung, ein williges Echo zu finden.
Das Echo kam zwar, aber in unerwünschter Weise. Der Studiosus auf der Säule, Johannes Frollo, war es, der es anstimmte.
≫Zum Teufel, wer lärmt da unten für ein ganzes Dutzend?≪ kreischte er zurück. ≫He, ist das Stück nicht längst zu Ende? Kollegen, hört, habe ich nicht recht!? Ist es nicht unsinnig, noch einmal mit dem Zeug anzufangen?!≪
≫Gewiß! Das wäre gelacht!≪ ertönte es bereitwillig aus den Studentengruppen. ≫Nieder mit dem Stück! Zum Teufel damit!≪
Der Dichter aber fühlte die Riesenkräfte einer Löwin, die ihr Junges verteidigt.
≫Anfangen! Stück!≪ brüllte er mit verdoppelter Lungenkraft.
Damit erregte er jedoch die Aufmerksamkeit des Kardinals.
≫Herr Palastvogt≪, sagte der Kirchenfürst, ≫wer ist dieser Schuft, der einen Lärm macht wie der Teufel im Weihkessel?≪
Der Vogt, ein großer schwarzgekleideter Mann, ein Mittelding zwischen Richter und Soldat, kurz, ein obrigkeitliches Amphibium, beeilte sich, Seiner Eminenz die nötigen Aufklärungen zu geben und auch zu erwähnen, daß der Schauspielbeginn bereits vor dem Eintreffen der Notabeln vom Pöbel durch Drohungen erzwungen worden war.
Der Kardinal brach in ein Gelächter aus.
≫Haha! Was sagt Ihr dazu, Meister Rym?≪
≫”Hochwürdiger Herr≪, schmunzelte das Fuchsgesicht. ≫Ich denke, wir können uns beglückwünschen, weil uns das halbe Stück erspart geblieben ist.≪
≫Sollen die Kanaillen mit dem Vortrage fortfahren?≪ erkundigte sich respektvoll der Vogt.
≫Meinetwegen≪, nickte der Kardinal. ≫Ich muß ohnehin noch mein heutiges Brevier lesen.≪
Sofort begab sich der Obrigkeitszwitter an den Rand des Podiums und gebot mit einer Handbewegung Ruhe. ≫Bürger, Insassen und Einwohner von Paris! Seine Eminenz befiehlt die Fortsetzung des Stücks.≪
Damit gab sich alles zufriedem Aber im stillen grollte jetzt das Publikum dem Kardinai ebenso wie früher der Dichter.
Die Schauspieler nahmen ihren Vertrag wieder auf, und Gringoire gab sich der angenehmen Hoffnung hin, daß nun der Rest seines Stückes ungestörtes Gehör finden würde.
Aber diese Hoffnung sollte sich nur zu bald als trügerisch erweisen.
Weder Gringoire noch der Palastvogt hatten es bemerkt, daß der Einzug der Notabeln noch lange nicht vorüber war, als das Zeichen zur Fortsetzung gegeben wurde. Nach den flämischen Gesandten trafen nach andere Personen des Gefolges ein, und deren Namen und Titel wurden jedesmal von dem pflichteifrigen Türhüter mitten in das Versgeklingel des Prologes hineingebrüllt. Die dadurch erzielte Wirkung läßt sich denken!
Auf der Bühne zwei heiße Alexandriner.
Der Türhüter; ≫Meister Charmolue, königlicher Prokurator beim kirchlichen Gerichtshofe!≪
Zwei Verse.
≫Johann ven Harlay, Junker, Offizier der reitenden Nachtwache von Paris!≪
Ein Alexandriner.
≫Herr Galliot von Genoilhac, Ritter, Herr von Brussac, Chef der Artillerie!≪
Ein paar andere Verse über die wunderbaren Eigenschaften des Golddelphins.
≫Meister Reux-Raguier, Wasser- und Forstinspektor Seiner Majestät in der Champagne und in der Brie!≪
Wieder einige Alexandriner.
≫Herr Ludwig von Graville, Ritter, Rat und Kammerherr des Königs, Admiral von Frankreich, Vogt des Waldes von Vincennes!≪
Der Golddelphin.
≫Meister Demis Le Mercier, Vorsteher des Blindenhauses≪ usw. usw.
Kurz, es war zum Teufelholen! Und dabei war Peter sicher, daß gerade jetzt die Stellen kamen, an denen der Reiz seiner Dichtung immer mehr zunahm, und daß dieser nichts fehlte, als gehört zu werden. In der Tat, es war schwer, sich einen genialeren Aufbau als den seinen zu denken! Gerade waren die vier allegorischen Figuren in peinlichster Bedrängnis — man beachte den kunstvoll geknüpften Knoten! — , als Venus in Person erschien, schön gekleidet, den Wappendreimaster der Stadt Paris auf ihrem Gewande. Als naturgemäße Kollegin des Golddelphins wollte die Meerschaumgeborene den der Schönsten bereits versprochenen Prinzen für sich fordern. Und Jupiter, dessen Donner aus dem Ankleideraum erdröhnte, war es, der sie höchstselbst in ihrer Forderung ermutigte.
Schon drohte der Delphin entführt zu werden, als ein in weißen Damast gekleidetes junges Mädchen auf die Szene kletterte. In ihrer Hand glänzte eine Perle — wer hätte da nicht sogleich an Margarete4 von Flandern gedacht! —, und lieblich erschien sie, um den einzigen aller Delphine der göttlichen Verführerin mit Erfolg streitig zu machen.
Nach diesem brillanten Coup gab es einen Szenenwechsel.
Venus, Margarete und die Allegoriefiguren waren nach Rede und Wechselrede übereingekommen, das endgültige Urteil der heiligen Jungfrau und Gottesmutter Maria vertrauensvoll zu überlassen.
Auch gab es noch eine andere schöne Rolle in dem Stücke, die des Dom Pedro, Königs von Mesopotamien. Aber wegen der vielen Unterbrechungen war ihre Bedeutung etwas schwer zu verstehen.
Alle diese Figuren waren nacheinander die Leitersprossen heraufgeklettert, aber ihre Schönheiten konnten weder empfunden noch verstanden werden. Seit dem Eintreffen des Kardinals schienen Zauberfäden vom Podium zu den Zuhörern gesponnen werden zu sein, deren Augen wie festgebannt immer wieder zu den Notabeln zurückkehrten. Dazu auch die verdammten Nachzügler des Gefolges, deren Eintritt und Namensnennung stets aufs neue Aufsehen und Getuschel hervorrief.
Traurig in der Tat! Außer dem biederen Nachbarn und den beiden Mädchen (auch diese nur mit halbem Ohr!) hörte kein Mensch mehr auf die Reden der Mimen, niemand sah den genialen Theatereffekt, der ins Auditorium spähende Dichter erblickte nur abgewandte Gesichter.
Mit unsäglicher Bitterkeit im Herzen mußte Peter sein ganzes Ruhm- und Phantasiegebäude Zoll für Zoll versinken sehen und sich dabei sagen, daß dies unter der Nichtachtung ebendesselben Volkes geschah, welches nicht lange vorher Kardinal und Vogt hatte hängen wollen, weil das ungeduldig erwartete Stück nicht pünktlich beginnen sollte. Es hatte begonnen, es wurde gespielt, und niemand hatte mehr Interesse dafür!
Wo war der einmütige Beifall, unter welchem das Stück begonnen hatte? Volksgunst, du Ebbe und Flut, stets wechselnd, nie bei einer Sache!
Die halbe Seligkeit hätte der Dichter dahingegeben, um nochmals jenen erhebenden Augenblick vor Beginn des Stückes erleben zu können, da man die Gerichtsdiener aus Ungeduld beinahe gehängt hätte.
Aber alles nimmt ein Ende. So auch das Geraunze des anmeldenden Türhüters. Die Notabeln waren endlich samt und sonders zur Stelle, und Gringoire sowie die Mimen atmeten erleichtert auf. Mut in der Brust, wollten die Darsteller erneut mit allen Kräften an ihr löbliches Werk gehen.
Aber was war das? Was erhob sich plötzlich Meister Coppenole, der ehrsame Strumpfwirker, von seinem Sitz? Was sprach er da für schreckliches Zeug? Bebenden Herzens mußte Gringoire es hören.
≫Bürger und Edelleute von Paris! Gottes Kreuz, zu was vertrödeln wir unsere Zeit? Dort auf dem Gerüste zanken ein paar Leute miteinander, was man wohl ein Schauspiel nennt. Aber sie liefern sich nur Zungenschlachten, und darin ist verdammt wenig Unterhaltsames zu sehen. Schon eine Viertelstunde lang warte ich auf den ersten kräftigen Hieb, aber keiner der feigen Schurken hat den Mut dazu. Nur mit Beleidigungen kratzen sie sich! Meiner Treu, hätte man einige Ringkämpfer aus London oder Rotterdam kommen lassen, da hätte es Faustschläge gesetzt, die eines jeden Mitgefühl erregt hätten. Oder wenn’s wenigstens ein maurischer Tanz wäre oder eine andere lustige Mummerei! Wir hören Verse und wieder Verse, aber versprochen hat man uns ein Narrenfest, mit der Wahl des Narrenpapstes. Einen solchen haben wir auch in Gent, denn Gottes Kreuz, wir sind euch in nichts zurück. Nur machen wir die Sache anders als ihr. Bei uns brauchen wir keine Schauspieler dazu. Das ganze Volk spielt mit. Ein jeder, einer nach dem anderen, steckt seinen Kopf durch ein Loch in einer Bretterwand, so daß sein Körper den Zuschauern verborgen bleibt. Und wer da die häßlichste Fratze zu zeigen vermag, der ist der Narrenpapst. Das ist euch ein verdammter Spaß! Denn jeder muß die scheußlichsten Grimassen schneiden, um recht närrisch auszusehem Also wie denkt ihr? Wollt ihr die Wahl eures Narrenpapstes nach der Sitte meiner Heimat? Das wird euch mehr unterhalten als dieses langweilige Geschwätz! Die Schauspieler können meinethalben auch mitspielen und ihre Köpfe im Loche zeigen. Wie meint ihr? Macht ihr mit, meine Herren Bürger? Wie ich sehe, ist hier eine ausgiebige Musterkollektion häßlicher Gesichter beiderlei Geschlechtes versammelt, wir könnten daher von Herzen auf flämisch lustig sein!≪
Gern hätte Gringoire diesen ungeheuerlichen Vorschlag gebührend niedergedonnert, aber vor Staunen und unwilligem Zorn war er der Sprache beraubt. Zudem hätte es ihm auch nichts genützt. Bei der Anrede des jovialen bürgerlichen Strumpfwirkers empfand das Volk, daß da Holz vom eigenen Holze zu ihm sprach. Jeder Widerstand wäre nur nutzlos verpufft gewesen. Der Strom riß den Dichter vom hohen Kothurn hinweg. Und da er nicht im glücklichen Besitze eines Mantels war, konnte er nicht einmal, gleich Agamemnon, schmerzlich sein Haupt verhüllen, sondern er mußte sich damit begnügen, sein Gesicht in beide Hände zu bergen.
Quasimodo
Im Nu war die ganze Versammlung bereit, den Vorschlag des Genter Strumpfwirkers auszuführen. Bürger, Studenten und Schreiber arbeiteten einträchtig Hand in Hand. Nachdem einige Vorschläge hin und her geflogen waren, wurde das nötige Loch bald gefunden. Gegenüber der Marmorplatte, am anderen Saalende, die kleine Kapelle hatte eine zerbrochene Scheibe in der über ihrer Türe befindlichen Rosette, und ein Steinkranz bot den Bewerbern genügenden Halt, um den Kopf in die Öffnung bringen zu können. Außerdem wurde die Sache noch dadurch erleichtert, daß durch ein über ein paar Fässer gelegtes Brett ein Postament geschaffen wurde, was im Handumdrehen erledigt war.
Dann wurden die Regeln des Spieles festgelegt. Jeder Kandidat, ob Mann oder Weib, war zum Mitbewerbe berechtigt, und es sollte eventuell statt eines Narrenpapstes eine Narrenpäpstin gewählt werden, falls es sich so ergab. Die Bewerber hatten mit verhülltem Gesichte auf das Fußgestell zu steigen und sich erst zu entschleiern, nachdem der Kopf durch das Loch gesteckt worden war. Dadurch wollte man erreichen, daß der Eindruck der gezeigten Fratze vollkommen durch seine Neuheit wirkte. Die Bewerber sollten truppweise die Kapelle anfüllen und dann deren Türe jedesmal verschlossen werden. Diese Vorbereitungen waren rasch getroffen.
Die Regie führte Coppenole, ohne jedoch seinen Platz auf dem Notabelnpodium zu verlassen. Dieses selbst war einigermaßen leer geworden, da sich der Kardinal samt seinem Gefolge unter dem Vorwande von Geschäften entfernt hatte. Er war, ebenso wie Gringoire, über den durch den biederen Genter hervorgerufenen Narrenspuk entsetzt gewesen und hatte geschaut, daß er weiterkam. Sein Verschwinden wurde übrigens gar nicht bemerkt, da die Menge ihr wichtiger Dünkendes im Kopie hatte.
Nur Wilhelm Rym, der Mann mit dem Fuchsgesicht, hatte auf den Abgang des Kirchenfürsten geachtet. Im übrigen glich die Aufmerksamkeit des Auditoriums an diesem Tage der Sonne. Wie diese, hatte sie ihren Aufgang an dem einen Saalende bei der Marmorplatte gehabt, dann war sie in der Saalmitte über dem Notabelnpodium kulminiert, und jetzt neigte sie sich am anderen Saalende dem Niedergange zu.
Nach dem Abgange von Klerus und Adel waren nur die Flamen und der Mob geblieben, das Feld für jedweden Narrenstreich war frei.
Das Grimassenschneiden begann. Schon das erste Gesicht mit seinen verdrehten Augenlidern, mit seinem rachenförmig klaffenden Munde und seiner wie ein Husarenstiefel gespalteten Stirne löste ein tolles Gelächter aus. Und jede der folgenden Fratzen verdoppelte das Getümmel und Freudengeheul. Es herrschte alsbald eine tolle Stimmung, eine Trunkenheit von ansteckender Zauberkraft, von der man sich keine Vorstellung machen kann, wenn man nur die Heiterkeit des Salons kennt.
Vom Dreieck bis zum Trapez, vom Kegel bis zum Polygon wurden alle Arten möglicher Gesichtsformen geboten. Vom Zorn bis zur Wollust war jeder menschliche Gesichtsausdruck zu sehen. Alle Altersklassen, vom Faltengesicht des Neugeborenen bis zu den greisenhaftesten Runzeln, wurden gemimt, alle denkbaren Spukerscheinungen und religiösen Schreckgestalten. Vom Faun bis zum Satan war jede Kombination vertreten und jedes tierische Profil vom Rachen bis zum Schnabel, vom Rüssel bis zur Schnauze. Jedes Alptraumbild wurde nachgeahmt, alle Fratzenköpfe des Pont-Neuf versucht. Es war das vollendetste Kaleidoskop menschlicher Narrenphantasie.
Dabei artete diese Orgie schlechten Geschmacks immer mehr ins Flämische aus, eine allgemeine Zügellosigkeit nahm überhand. Der Große Saal, dieser feierliche Prachtraum eines Prachtbaues, wurde zum flammenden Ofen grotesker Frechheit und Lust. Jeder Mund, jeder Schrei, jedes Gesicht, jede Grimasse, jedes Individuum wurde zu einer unnatürlichen Erscheinung, das Ganze zu einem heulenden Chaos. Die scheußlichen, nacheinander in der Rosette sichtbaren Visagen glichen Brandfackeln, die stets neue Gluten in diesen Flammenherd entfesselter Menschheit warfen.
Die hin und her geschleuderten Ausrufe fielen in die tosende Menge und zischten aus ihr zurück, wie der einem Glühofen entweichende Dampf. Dabei schwirrten die Stimmen scharf und pfeifend wie Bremsenflug.
≫Ho, he! Verdammt!≪
≫Sieh das Gefrieß!≪
≫Ein anderes her!≪
≫Was ist das für ein Ochsenmaull?≪
≫Da fehlen nur die Hörner noch!≪
≫Abzug!≪
≫Beim Bauch des Papstes! Von wem ist die Visage dort?≪
≫Holla! Schiebung! Nur das Gesicht zeigen!≪
≫Natürlich der Perette!≪
≫Der muß immer schwindeln!≪
≫Huhu!≪
≫Ho, zerdrück mich nicht!≪
≫Achtung! Der bringt seine Löffeln nicht durch das Loch!≪
Und so weiter fort.
Mitten in diesem Tohuwabohu verharrte der Student Johannes oben auf seinem Säulenknauf wie ein Schiffsjunge beim Hohlstreichen auf dem Masttopp. Sein Mundwerk stand keinen Augenblick still, und während er oben wie im Sturme hin und her schwankte, spie er seinen Geifer mit unerschöpflicher Lungenkraft aus. Dabei konnte man keines seiner Worte verstehen, nicht nur, weil sein Organ im Toben des Hexensabbats ertrank, sondern weil dessen Schwingungen jene Grenzzahl des Maximums erreicht hatten, bei welcher der Wortlaut nicht mehr verständlich ist.
Ein anderer unserer Helden, Peter Gringoire, hatte seine Fassung inzwischen wiedererlangt, nachdem er die erste Bestürzung überwunden hatte. Dem Mißgeschicke Trotz bietend, befahl er den Mimen, mit ihren Vorträgen fortzufahren. Während er seine Sprechmaschinen dergestalt wieder in Betrieb zu setzen suchte, spazierte er mit großen Schritten auf der Marmorplatte hin und her, wie ein Admiral auf dem sturmbedrohten Quarterdeck. Dabei kam ihm der tolle Gedanke, auch den Kopf in das Narrenloch zu stecken, um dieser undankbaren Menge aus Herzenslust Grimassen schneiden zu können.
≫Aber pfui≪, rief er dann aus, ≫das wäre keine würdige Rache! Nein! Besser kämpfen bis ans Ende! Das Volk kann sich der Macht der Dichtkunst nicht entziehen! Man muß nur seine Aufmerksamkeit wiedergewinnen. Dann wird sich’s zeigen, was stärker ist: Narrenfratzen oder die schöne Kunst!≪
Aber leider waren ihm und der Bühne nur die Kehrseiten der Versammlung zugewendet, und mit der Aufmerksamkeit des Auditoriums sah es daher mehr als windig aus. Sogar Gisquette und Liénarde waren längst davongelaufen.
≫Zum Henker damit!≪
War denn kein einziger der Zuschauer geblieben? Doch, einer, dort, der ansehnliche Mann mit dem gutgenährten, geduldigen Spießergesicht. Der lehnte noch so an der Säule, mit dem Gesicht gegen die Bühne, wie ihn Peter verlassen hatte, nachdem er ihn um seinen Rat wegen der Fortsetzung des Stückes gefragt hatte.
Von dieser treuen Beharrlichkeit in tiefster Seele gerührt, näherte sich Gringoire dem letzten Zuhörer. Als er aber bei ihm stand, mußte er ihn leicht am Arme rütteln, da der gute Mann eingeschlafen war.
≫Meinen Dank, Herr≪, sagte Peter zu ihm.
≫Wofür denn?≪ wunderte sich der andere, während er seine Augen rieb.
≫Ich verstehe, daß Euch dieser rohe Narrenlärm langweilen muß, weil er Euch am Zuhören behindert. Aber seid ruhig, Euer Name ist der Überlieferung an die Nachwelt würdig. Wie nennt Ihr Euch?≪
≫Renauld Chateau, Siegelbewahrer des Gerichts, wenn’s beliebt.≪
≫Der einzige Vertreter der Musen!≪
≫Zu gütig, mein Herr. Wie habe ich das verdient?≪
≫Ihr seid der einzige, der das Stück anständig anhört. Wie findet ihr es?≪
≫Ei nun≪, entgegnete der Beamte noch halb verschlafen, ≫es scheint recht lustig zu sein.≪
Mit dieser zweifelhaften Anerkennung mußte sich Peter Gringoire begnügen, denn die Unterredung wurde plötzlich durch ein neues Jubelgeheul der Menge abgeschnitten. Der Narrenpapst war erwählt.
≫Hoch≪ und ≫Hurra≪ ertönte es von allen Seiten, als die groteskeste aller Fratzen in der Rosette sichtbar war. Nach all den verzerrten, bisher im Guckloche gezeigten Visagen bedurfte es einer ganz ungewohnten Sensation, um das Ideal der Häßlichkeit zu erreichen. Und dies war nunmehr tatsächlich in einem solchen Ausmaße der Fall, daß selbst der anspruchsvolle Kritiker Coppenole Beifall klatschte. Auch der als Mitbewerber aufgetretene, gewiß nicht schüchterne Bettler Clopin Trouillefou erklärte sich besiegt.
Denn die gebotene Scheußlichkeit war in ihrer Art unerreicht. Eine vierkantige Nase, ein hufeisenförmiges Maul, rotborstige Brauen über nur einem linken Auge, während das rechte ganz unter einer ungeheuren Warze verschwand, regellose, teilweise abgebrochene Zähne, wie Schießscharten einer Festung hinter wulstigen Lippen glänzend, einer der Vorderzähne gleich einem Elefantenstoßzahne herausfahrend, ein gespaltenes Kinn und eine Miene, in der nichts als Stumpfsinn und bösartige Tücke zu lesen war.
Einstimmig wurde dieser Abnormität durch Zuruf der Preis zuerkannt. Die Menge stürmte förmlich die Kapelle, um den erwählten Narrenpapst im Triumph herauszuzerren. Dabei erreichten Überraschung und Staunen ihren Höhegrad, als man sah, daß es nicht nur eine für den Anlaß gezogene Grimasse, sondern das wirkliche natürliche Gesicht des Erwählten war.
Und seine wirkliche und natürliche ganze Person. Denn diese war vollkommen im Einklange mit dem Gesicht. Ein dicker Schädel, von dem die roten Haare wie Igelstacheln wegstarrten, zwischen beiden Schultern ein Buckel von phantastischen Dimensionen, ein entsprechendes Gegenstück vorne am Brustkorbe, Schenkel und Beine derart verrenkt, daß sie mit ihren sich widernatürlich berührenden Knien zwei gekreuzten Sichelbogen glichen, Pratzen und Füße von unglaublicher Größe, dabei über der ganzen Erscheinung ein raubtierhafter Anstrich von Kraft, Gewandtheit und Mut, ein lebender Widerspruch gegen das Gesetz der Harmonie, welches Kraft und Schönheit zu paaren pflegt.
Dies war der Papst, den sich die Narren erwählt hatten, ein Monstrum, das einem zuerst in Stücke zerbrochenen und dann wieder irgendwie zusammengeleimten Giganten glich.
Als dieser Tiermensch über die Schwelle der Kapelle gezogen worden war und dort, seine Wähler abwehrend, einen Augenblick regungslos stehenblieb, schien er ebenso groß als breit zu sein und wie ein Viereck die Türe abzuschließen.
In dieser Weise allen Anwesenden gut sichtbar, wurde er sogleich von vielen erkannt. Auch die anderen errieten seine Identität an seiner besonderen Kleidung, die aus einem halb roten, halb schwarzen Rocke bestand, der mit silbernen Türmen übersät war.
≫Der Glöckner von Notre-Dame!≪
≫Quasimodo!≪
≫Der Bucklige von Notre-Dame!≪
≫Das Einauge!≪
≫Das Krummbein!≪
≫Juchu! Huhu!≪
Dem armen Teufel fehlte es nicht an Spitznamen, wie man sieht.
≫Achtung, daß sich die schwangeren Weiber nicht verschauen!≪ rief ein Student.
≫Oder die, welche es werden wollen≪, sekundierte Johannes.
Rasch verhüllten viele Frauen ihr Gesicht.
≫Der häßliche Affe!≪ schmähte die eine.
Das entfesselte der Gevatterinnen Chor.
≫So boshaft wie häßlich ist dies T1er!≪
≫Der Teufel in Person!≪
≫Nachts hört man ihn auf den Dachrinnen herumlaufen!≪
≫Wie ein Kater ist der Kerl!≪
≫Immer auf den Dächern!≪
≫Um böse Zauber durch die Kamine herabzuwerfen!≪
≫Nachts erschrickt man, wenn man seine Fresse sieht!≪
≫Besonders, wenn er vom Hexensabbat kommt. Neulich fand ich einen Besen auf dem Dache, den nur er vergessen haben kann.≪
≫So ein gemeiner Schuft!≪
≫Ein Scheusal!≪
≫Pfui!≪
Die Männer aber dachten anders und waren über dieses Prachtexernplar eines Narrenpapstes entzückt. Nur der Gegenstand dieser Schmähungen und Triumphe, Quasimodo, blieb finster und ernst.
Erst als ein ganz in seine Nähe gerückter Student ihm ins Gesicht lachte, kam er aus seiner Ruhe, aber auch da verlor er kein Wort, sondern begnügte sich damit, den Spötter mit nerviger Faust am Gürtel zu packen, ihn hochzureißen und zehn Schritte weit über die Köpfe der Menge zu schieudern.
Diese mühelose Kraftleistung erregte das höchste Staunen Coppenoles.
≫Bei Gottes Kreuz! Heiliger Vater im Himmel! Das ist der schönste Narrenpapst, den ich je gesehen habe! Der könnte in Rom ebenso gute Figur machen wie hier.≪
Mit diesen Worten klopfte er dem Monstrum beifällig auf die Schultern, ohne daß dieses von ihm die geringste Notiz nahm.
≫Wackerer Kerl! Mit dir will ich trinken, und wenn’s mich ein Dutzend blanke Tourbosen kostet≪, fuhr der biedere Flame fort.
Keine Antwort.
≫Kreuz Gottes! Mensch! Bist du taub?≪
Quasimodo wurde anscheinend ungeduldig, denn er wandte sich plötzlich mit einem furchtbaren Zähnefletschen gegen den flämischen Riesen, was diesen zurückfahren ließ. Dabei drängte der Zurückweichende auch alle Nebenstehenden mit zurück, so daß vor Quasimodo ein leerer Raum von einem Dutzend Fuß entstand.
≫Was ist’s mit ihm?≪ fragte der Genter betroffen.
≫Taub ist er≪, erklärte ihm eine alte Frau.
≫Taub?≪ lachte der Flame breit. ≫Kreuz Gottes! Taub auch noch! Das ist der vollkommenste Papst!≪
Auch Johannes Frollo hatte sich in die Nähe gedrängt, nachdem er endlich von seiner Säule herabgeklettert war. ≫Den Kerl kenn’ ich≪, versicherte er. ≫Er ist Glöckner bei meinem Bruder, dem Archidiakon. Guten Tag, Quasimodo.≪
≫Ein Teufelskerl!≪ murmelte der Student Robert Poussepain, nachdem er sich von der gewaltsamen Beförderung erholt hatte, welche ihm kurz zuvor von Quasimodo zuteil geworden war. ≫Wirft mich der Bursche nicht wie ein Bündel durch die Luft! Trotzdem er bucklig ist! Krummbeinig, einäugig, taub! Was fehlt da noch? Ist er auch noch stumm?≪
≫Nein, das nicht. Wenn er dazu aufgelegt ist, kann er sprechen. Er ist ja nicht von Geburt taub, sondern ist es durchs Glockenläuten geworden.≪
≫Na, jedenfalls hat er ein Auge zuviel≪, brummte Poussepain.
≫Ganz und gar nicht, wenn du es so meinst. Denn der Blinde ist immer besser daran als der Einäugige, der genau weiß, was ihm fehlt.≪
Damit hatte Johannes verständlicherweise recht.
Unterdessen hatten sämtliche Bettler, Beutelschneider und Lakaien, unterstützt von den Studenten und Schreibern, einen Ausschuß zusammengestellt, der aus dem Schranke der Gerichtsschreiberinnüng die pappene Tiara und das Spottkleid des Narrenpapstes holte.
Ohne eine Miene zu verziehen, ließ sich Quasimodo mit dem Ornate seiner neuen Würde bekleiden, ja er fügte sich sogar mit einer gewissen Bereitwilligkeit. Dann wurde er auf einen bunten Tragsessel gesetzt, den zwölf Ausschußmitglieder, die Beamten der Narrenbrüderschaft, auf ihre Schultern hoben.
Eine sonderbare Mischung aus Herbheit, Verachtung und Freude lag auf der mürrisdien Fratze des Tiermenschen, als er so die Köpfe normalgewachsener, ihm also schön erscheinender Menschen zu seinen Füßen sah.
Und dann setzte sich der Zug in Bewegung, umringt von heulenden zerlumpten Bettlern und Vagabunden, um der Tradition entsprechend einen Rundgang über die Innengalerien des Justizpalastes zu machen, bevor er die Straßen und Gassen von Paris durchzog
Esmeralda
Noch immer hatte Gringoire mit seinem Unglücksschauspiele standgehalten. Von ihm gedrängt, hatten die Mimen ihre Rezitationen fortgesetzt, und er selbst hatte nicht aufgehört, ihren Deklamationen bewundernd zu lauschen.
So hatte der Dichter sich dem allgemeinen Krawall angepaßt und sich zum Ausharren bis zum letzten entschlossen, weil er noch immer die Hoffnung hegte, daß die Menge endlich das Narrenspiel satt bekommen und sich dann wieder seinem Stücke zuwenden werde.
Diese Hoffnung wurde noch bestärkt, als der Dichter sah, wie sich der Ausschuß der Narrenbrüderschaft, mit Quasimodo auf dem Tragsessel, zum Verlassen des Saales anschickte.
Zwar begann bereits die Menge, unter betäubendem Lärm hinter dem Narrenpapste fortzuströmen, aber Gringoire sagte sich, daß dies nur ein Vorteil sein könne, wenn die Störenfriede endlich abzögen und der gesittetere Teil des Auditoriums allein zurückblieb. Aber leider war die Zahl der Störenfriede anscheinend der des ganzen Publikums gleich. Denn schon nach wenigen Augenblicken war der große, weite Saal so gut wie leer.
Was da um die Säulen herum gruppiert zurückblieb, waren einige Weiber, Greise und Kinder, die genug von Lärm und Tumult hatten, aber auch bereits zu müde waren, um für Peters Schauspiel noch Interesse zu haben. Außerdem war ein Teil der Studentengruppe auf dem Fenstersims dageblieben. Der aber sah auf den Platz hinaus und kümmerte sich nicht im geringsten um die Vorgänge im Großen Saal.
≫Nun gut≪, monologisierte Gringoire, der die Eigentümlichkeit der Dichter hatte, mit sich selbst Gespräche zu führen. ≫Nun gut. Da wäre noch Publikum genug für mein Stück. Wenig, aber gewählt, das war immer mein Leitmotiv.≪
Aber schon entstand ein neuer Schreck. Gerade hätte ein hatte Musikchor die Wirkung des Auftretens der heiligen Jungfrau Maria effektvoll unterstreichen sollen. Aber zu seinem Ärger sah Peter, daß seine Musiker eben hinter dem Narrenzuge abmarschierten.
≫Weiter!≪ befahl er den Mimen mit stoischer Ruhe. ≫Es geht auch ohne Musik.≪
Und da er eine Gruppe sich ruhig unterhaltender Bürger erspäht hatte, die von dem ganzen Hexensabbat unberührt geblieben zu sein schienen, näherte er sich derselben in der Erwartung, ein Lob seines Stückes zu hören. ≫Kennt Ihr das ‘Hôtel Navarra’, Meister Chenetau≪, hörte er einen der Bürger sagen.
≫Welches dem Herrn von Nemours gehört?≪
≫Gegenüber der Jagdkapelle, wenn ich nicht irre≪, meinte ein dritter.
≫Ja, ganz richtig, dieses ist es. Der Fiskus hat es kürzlich an den Historienmaler Alexander um sechs Pfund acht Sols Pariser Währung vermietet.≪
≫In der Tat. Da sieht man, wie die Mieten in die Höhe gehen.≪
Seufzend wandte sich Peter ab, den Studenten zu.
≫Kameraden≪, schrie jedoch da einer von diesen. ≫Seht! Die Esmeralda ist unten auf dem Platz!≪
≫Wo? Wo?≪
Wie von einem Zauberrufe angezogen, drängten sich die Studenten alle an das Fenster, und der Ruf ≫Esmeralda! Esmeralda!≪ ertönte aus sämtlichen jugendlichen Kehlen auf den Platz hinaus. Und von draußen erscholl langes Beifallsgeschrei zum Fenster herein.
Peter Gringoire schlug die Hände zusammen: ≫Was das schon wieder ist! Esmeralda! Wer mag das sein?!≪
Und als er resigniert zur Marmorplatte zurückkehrte, sah er am Fuße des Gerüstes Jupiter mit dem Flammenblitze stehen, denselben Jupiter, der in diesem Augenblicke oben auf der Bühnenplattform hätte sein sollen. Da riß dem gequälten Dichter der Faden der Geduld. ≫Michel Giborne≪, donnerte er den Göttervater an, ≫Was sucht Ihr hier? Kennt Ihr Eure Rolle nicht? Hinauf auf die Plattform!≪
≫Unmöglich, Herr. Die Studenten haben die Leiter weggetragen.≪
Das war leider nur zu wahr. Die Verbindung zwischen Knotung und Entwicklung seines Stückes war von Frevlerhand zerschnitten werden.
≫Die Schurken! Zu was haben sie die Leiter gebraucht?≪ knirschte der arme Poet.
≫Um die Esmeralda besser sehen zu können. Dort ans Fenster lehnen sie die Leiter gerade an. Sie meinten, wir brauchten sie ohnehin nicht mehr.≪
Das war der letzte, aber entscheidende Schicksalsstreich. Ergeben fügte sich Peter Gringoire in das unabwendbare Los.
≫Hol’ euch alle der Teufel!≪ teilte er den Schauspielern mit. ≫Eure Bezahlung erhaltet ihr, sowie ich mein Geld bekomme.≪
Mit diesem Partherpfeil kehrte er den enttäuschten Mimen den Rücken und trat als geschlagener, aber seiner Würde eingedenker Feldherr ab.
Und die große Freitreppe langsam hinabsteigend, hielt er seinen Abschiedsmonolog:
≫Eine Bande von Tölpeln und Rindviechern, diese Pariser! Zuerst drängen sie sich stundenlang, um ein Schauspiel zu sehen, und dann hören sie gar nicht zu. Alle Welt das hat sie mehr als das Stück interessiert. Da war der Schuft von Bettler, Clopin Trouillefou. Dann der Hohlkopf, der Kardinal. Nach ihm der Protz Coppenole. Und schließlich das Scheusal von einem Narrenpapst. Auf alles wird gegafft, nur auf meine heilige Jungfrau Maria nicht. Das hätte ich wissen sollen! Statt heiliger Jungfrau hätte ich den Maulaffen ein paar Dirnen vorsetzen sollen! An Stelle der Gesichter zeigt mir das Gesindel die Hinterteile her, während man spielt! Als ob ich ein Apotheker und kein Dichter wäre! Und was zum Teufel haben sie mit Esmeralda gemeint? Das Wort klingt so, als ob es ägyptisch wäre!≪
Teil II
2
Aus der Szylla in die Charybdis
Rasch sank die Januarnacht herab. Die Straßen waren schon finster, als Gringoire den Justizpalast verließ. Aber die Schleier der Dunkelheit waren ihm für seine düstere Stimmung gerade recht, und es verlangte ihn danach, finstere, entlegene Gassen zu durchwandeln, um sich seinen trüben Gedanken hingehen zu können. So hoffte er, den Verband des Philosophen auf die Wunde des Dichters legen zu können.
Im übrigen war die Philosophie eben auch die einzige ihm offenstehende Zuflucht, da er nicht wußte, wo er die Nacht verbringen sollte.
Nach dem Scheitern der auf das heutige Schauspiel gesetzten Hoffnungen wagte er es nicht, in seine bisherige Kammer beim Heuhafen zurückzukehren, da er dort seit einem halben Jahre die Miete schuldig war und seinen Hausherrn damit vertröstet gehabt hatte, daß der Herr Oberrichter ihm nach Schluß der Vorstellung das Honorar für sein Stück ausbezahlen würde. Er schuldete seinem Hausherrn, dem biederen Pächter der Pariser Kleinviehsteuer, zwölf Pariser Sols, und dies war gerade das Zwölffache dessen, was er auf dem ganzen Erdenrunde sein eigen nannte, Hosen, Hemd und Mütze inbegriffen. So stand ihm bloß das Straßenpflaster als Nachtlager zur Verfügung, dieses allerdings in seinem ganzen Ausmaße und zur freien Wahl.
Um besser wählen zu können, trat er einstweilen im Kerkerpförtchen des Rentmeisters der heiligen Kapelle unter, wo er ungestört nachsinnen konnte. Er erinnerte sich, vor einigen Tagen an dem Haustore eines Parlamentsrates einen Steintritt gesehen zu haben, der den Zweck hatte, beim Aufsteigen auf ein Pferd oder Saumtier als Fußschemel zu dienen. Gleich damals war ihm der Gedanke gekommen, welch vorzügliches Kopfkissen für einen Bettler oder Dichter dieser Stein abgeben müßte. Und nun dankte er der guten Vorsehung, die ihn auf sein künftiges Nachtquartier aufmerksam gemacht hatte, aber als er sich anschickte, die betreffende Straße zu erreichen, geriet er im Winkelwerk der Altstadt hinter dem Justizpalast in das Straßengewirr, welches noch heute mit neunstöckigen Häusern erhalten geblieben ist und aus den Straßen Barillerie, Draperie, Savaterie, Juiverie usw. gebildet wird.
Hier sah er noch vor dem Einschwenken, wie der Narrenzug mit Quasimodo den Palast verließ und sich quer über den Hof bei Musik und Fackelschein in seiner Richtung zu bewegte. Bei diesem Anblicke fühlte er ein frisches Bluten der kummervollen Seelenwunde, die ihm sein dramatisches Mißgeschick geschlagen hatte.
Um jede Erinnerung an dieses so bitter verlaufene Fest seiner Hoffnungen schleunigst zu verwischen, wandte er sich rasch der St.-Michaelis-Brücke zu, an der Kinder mit Zündlichtern und Schwärmern hin und. her liefen.
≫Zum Teufel mit all dem Feuerwerk≪, sagte er sich grimmig und schritt in entgegengesetzter Richtung nach der Wechslerbrücke zu. Hier sah er drei Standarten groß und breit wehen, auf denen der König, der Dauphin und Margarete von Flandern abgebildet waren. Sie waren umgeben. von kleineren. Fahnen, sechs an der Zahl, welche die Bildnisse des Herzogs Max von Österreich, des Kardinals von Bourbon, des Herrn von Beaujeu, der Prinzessin Jeanette von Frankreich, des Herrn Bastards von Bourbon und noch irgendeiner ebenso wichtigen Tagesgröße zeigten. Ringsherum stand gaffendes Volk und starrte in den festlichen Fackelglanz, der seine Lichter über die Bildfahnen spielen ließ.
Gringoire kannte den Namen des Malers, der diese pittoreske Huldigung angefertigt hatte.
≫Glücklicher Fourbeault!≪ dachte er mit einem tiefen Seufzer und kehrte dem Kunstwerke den Rücken. Vor ihm lag eine Straße, die so schwarz und verlassen aussah, daß er hoffen konnte, in ihr all dem ihn verwundenden Lärm des Festtages entgehen zu können. Hineinschreitend, tappte er alsbald durch rabenschwarze Finsternis, bis sein Fuß an einem Hindernisse strauchelte und er selbst jäh zu Fall kann.
Er war über einen Maibund gestolpert, den die Innung der Gerichtsschreiber zu Ehren des Festtages vor dem Tore eines Parlamentspräsidenten niedergelegt hatte. Mit wahrem Heldenmute ertrug Peter dieses neuerliche Pech, und nachdem er sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, erreichte er das Ufer der Seine. Hier wanderte er am Bürger- und Kriminalgefängnis vorüber und ging dann die lange Mauer der königlichen Gärten entlang. Dann überquerte er den ungepflasterten Kai, wo ihm der Kot bis an die Knöchel reichte, und gelangte so an den nördlichsten Punkt der Altstadt, wo die kleine Insel des Fährmannes der Kühe vor ihm lag, die seither unter der bronzenen Pferdestatue des Pont-Neuf verschwunden ist.
Das kleine Eiland hob sich wie ein schwarzer Klecks über dem weißlich vorbeisprudelnden Gewässer ab. Und ein dünner Lichtstrahl verriet die Lage der bienenkorbförmigen Hütte, in welcher der Fährmann des Nachts seinen Unterschlupf nahm.
≫Glücklicher Schiffsmann≪, dachte Peter, ≫dich plagt kein ehrgeiziger Dichterruhm, und du verbrauchst deine Zeit nicht damit, zwecklos Verse zu machen. Was schert dich die Vermählung von Prinzen und Prinzessinnen?! Dich interessieren nur jene Margaretenblumen, die im April unter deiner Sense mit anderen Wiesenpflanzen als Kuhfutter fallen. Ich, der Dichter zu Ehren einer königlichen Margarete, stehe da, verhöhnt, frierend wie ein Hund, hungrig, Schuldner von zwölf Pariser Sols und dabei mit Sohlen, die so durchgewetzt sind, daß du sie als Laternenscheiben verwenden könntest. Aber, trotzdem, hab Dank, unbekannter Fährmann! Dein Hüttenlicht hat mich friedlich beruhigt, und die Stille deiner Insel hat mich die Grausamkeit des lärmenden Paris vergessen lassen.≪
Kaum hatte er sich so in eine lyrische Verzückung hineingeredet, als ein krachender Kanonenschlag ihn jäh aus seiner Träumerei schreckte. Der Teufelslärm kam direkt aus der anscheinend so friedlich daliegenden Fährmannshütte und wurde von dem dort hausenden Schiffsmanne zur Feier des Tages gelöst.
Diese neuerliche Enttäuschung, dieser erneute Zusammenprall von Dichtertraum und Wirklichkeit jagte einen kalten Schauer über Peters Rücken.
≫Vermaledeites Fest≪, ballte er die Faust gen Himmel, ≫ist denn nirgends Ruhe vor dir?!≪
Und der Anblick der zu seinen Füßen dahinrauschenden Seine brachte eine schreckliche Versuchung an ihn heran. ≫Ein Sprung, und der ganze Wahnsinn wäre erledigt. Aber das Wasser ist so kalt!≪
Mit jähem Stimmungsumschlag, vor dem Unbekannten zurückschaudernd, entschloß er sich jetzt, gerade den größten Trubel des Festes aufzusuchen, da er seinen Auswirkungen doch nirgends entgehen konnte.
Wenn schon die Welt anscheinend aus nichts als aus Narrenpapsterei, Fahnenbeschmiererei, Maibündeln, Feuerwerken und Kanonenschlägen bestand, nun, so wollte er seinen Mann stellen und sich mutig dort ins Gewühl stürzen, wo es am dichtesten war.
Rasch entschlossen nahm er daher den Weg nach dem Grève-Platz.
≫Wenigstens werde ich da das große Freudenfeuer finden und mich an dessen Festbrand erwärmen können. Und dort ist ja auch das große Zuckerwerk auf dem Schenktische der Stadt aufgestellt, welches dreimal das Wappen des Königs darstellt. Das wird bald zerbrochen und ans Volk verteilt werden, laut Programm. Da werden wohl einige Krumen für mich als Abendmahlzeit abfallen, hoffe ich!≪
Auf dem Grève-Platz
Der heutige Grève-Platz bietet vom damaligen nur noch ein kleines Überbleibsel, das ist das nette Türmchen, welches im Nordwinkel des Platzes steht. Aber auch bei diesem sind die scharfen Kanten der aufgetragenen Steinmetzarbeit unter dem alles überkleisternden Mörtel der Neuerer verschwünden. Und bald wird das schon jetzt ganz versteckt liegende Türmchen selbst unter dem weiteren Anwachsen des Häusermeeres versinken, so schnell, wie eben alle Fassaden des alten Paris verschlungen werden.
Wer nicht ohne Mitleid und Sympathie beim Passieren des Grève-Platzes dieses zwischen zwei baufälligen Hütten aus der Zeit des Sonnenkönigs eingeklemmte Bauwerk sehen kann, der wird sich leicht in Gedanken den Grève-Platz wieder so rekonstruieren können, wie er sich als echt gotischer Platz den Augen Peter Gringoires darbot.
Auch damals war der Platz, so wie heute, ein unregelmäßiges Viereck, dessen eine Seite der Flußdamm war und dessen andere drei Flanken aus Reihen hoher, schmaler und düsterer Häuser bestanden. Bei Tageslicht konnte man die abwechslungsreiche Verschiedenheit dieser Häuser bewundern, die ganz mit Erzeugnissen der Holzschnitz- und Steinbildnerkunst bedeckt waren, wobei sie vollständige Musterproben aller Hausstilarten vom elften bis zum fünfzehnten Jahrhundert darstellten. Vom Kreuzfenster an, welches damals bereits das Spitzbogenfenster zu ersetzen begann, bis zum romanischen Rundbogen, welcher dessen Vorgänger gewesen war, konnte man alle Abarten sehen.
Nachts war allerdings der Unterschied in den Stilen nur an den Konturen festzustellen, mit denen sich das schwarze Zackenwerk der Hausdächer kulissenartig vom Hintergrunde des sternbeleuchteten Himmels abhob. Man konnte da eine ringsumlaufende Kette von spitzen Winkeln sehen, weil zum Unterschiede von heute damals die Hausfassaden nicht ihre Längsfronten, sondern ihre Giebelseiten gegen die Straßen und Plätze zu kehrten. Erst seit zwei Jahrhunderten haben die Häuser die heute übliche Frontdrehung gemacht.
Inmitten der Ostseite des Platzes ragte ein plumper Zwitterbau empor, der aus drei Häusern zusammengekittet war. Dieser wurde mit drei Namen benannt, in denen Stil, Bestimmung und Geschichte des Baukomplexes zum Ausdruck kamen: Prinzenhaus, weil Karl V. hier als Prinz gewohnt hatte, Kaufhaus wegen der Verwendung als Stadthaus und Säulenhaus nach den großen Pfeilern, welche die drei Stockwerke stützten.
Hier befand sich auch, was eine gute und fromme Stadt benötigte, nämlich eine Kapelle für die Andächtigen, dann ein Gerichtszimmer für die Termine und Streitigkeiten mit den Mannen des Königs und ein Arsenal für die Schießwaffen. Denn die Bürger von Paris wußten stets, daß es unter allen Umständen genügte, wenn man je nach Bedarf beten, für die Stadtfreiheiten sprechen oder für sie zu den Waffen greifen konnte. Zu letzterem Zwecke hatte ein jeder seine rostige alte Hakenbüchse im Dachspeicher des Stadthauses zur Verfügung.
Der Grève-Platz hat sein einstiges düsteres Aussehen auch dadurch nicht verloren, daß das geschilderte Säulen–Prinzen-Kaufhaus durch den Stadthausbau des Meisters Domenico Bocador ersetzt werden ist, weil dieses dieselben abscheulichen Gedanken wachruft.
Freilich war der Anblick damals scheußlicher, denn mitten auf dem Pflaster standen vor dem Gebäude die ≫Gerechtigkeit≪ und die ≫Schandleiter≪, wie der Volksmund einen bleibend aufgestellten Galgen und ebensolchen Pranger benannte.
Deren Anblick allein genügte, um gerne einen Platz sobald als möglich wieder zu verlassen, auf welchem so viele lebensfrohe und gesunde Menschen ein vorzeitiges Ende gefunden hatten. Dort sollte ein halbes Jahrhundert nach unserer Erzählung das Saint-Vallier-Fieber entstehen, die entsetzliche Krankheit des Schafottschreckens, benannt nach dem hier erst auf dem Schafotte von Franz I. begnadigten Verschwörer, dessen Angstbeben eine um so fürchterlichere Krankheit, ja die fürchterlichste von allen darstellte, weil sie nicht von Gott gesandt, sondern vom Menschenhirne erfunden war.
Noch vor dreihundert Jahren nahte sich der Tod dem armen Schächer unter den entsetzlichsten Formen. Eiserne Räder, steinerne Galgen, das ganze Folterzubehör der Zerfleischung auf dem Pflaster des Grève-Platzes, bei den Hallen, auf dem Prinzessin-Platze, beim Kreuzbilde Trahoir, auf dem Schweinemarkte, auf dem furchtbaren Richtplatze Montfaucon, vor der Wachtstube der Gerichtsdiener, auf dem Katzenplatze, vor dem Saint-Denis-Tore, in den Champeaux, beim Tore Baudets, vor der Jakobspforte und auf den zahllosen Richtplätzen der Profose, Bischöfe, Ordenskapitel, gerichtsbarer Äbte und Prioren, sie alle waren die Stützen der alten Lehnsherrin, der feudalen Gesellschaft, der hohen Gerichtsbarkeit. Und es ist tröstlich, zu sehen, daß die Todesstrafe nach dem Verluste aller ihrer Rüststücke, ihrer Unzahl an qualvollen Todesarten, ihrer alle fünf Jahre eines neuen Lederbettes bedürftigen Tortur heute fast aus allen unseren Gesetzen und aus unseren Städten verstoßen ist. Nachdem sie von einem Gesetzbuche in das andere gehetzt, von einem Platze nach dem anderen verjagt worden ist, hat die Todesstrafe in unserem riesengroßen Paris nur noch einen verachteten Winkel auf dem Grève-Platze übrigbehalten, nur noch eine erbärmliche, heimliche, schändliche, angstbebende Guillotine, die stets ein Ertapptwerden auf frischer Tat zu befürchten scheint, indem sie nach Vollführung jedes lebenhassenden Streiches sogleich wieder aus der Öffentlichkeit verschwindet.
Aus Freuden entstehen Leiden
Steif und starr vor Hunger und Kälte hatte Peter Gringoire den Grève-Platz erreicht. Er war über die Müllerbrücke her gekommen, um dem Gedränge auf der Wechslerbrücke vor den Fahnenmalereien Fourbeaults aus dem Wege zu gehen. Hierbei war er von den Rädern der bischöflichen Mühlen bespritzt werden, von denen die Brücke ihren Namen hatte. Sein durchnäßter Kittel vermehrte noch das Frostgefühl, welches ihn seit dem Fiasko seines Schauspiels durchschauerte.
Er beeilte sich daher, in die Nähe des wärmespendenden Freudenfeuers zu gelangen, welches mit lohender Pracht inmitten des Grève-Platzes brannte. Aber das Herankommen war nicht so leicht, da eine dichte Menschenmenge den ganzen Umkreis besetzt hielt.
≫Verdammte Pariser≪, fluchte der Poet. ≫Nicht einmal zum Feuer wollen sie mich lassen! Dabei hätte ich einen warmen Fleck mehr als alle anderen nötig. Meine Schuhe saufen Wasser, und die verfluchten Mühlen haben mich gründlich eingeweicht. Der Teufel soll den Bischof und seine Mühlknechte holen! Ich möchte überhaupt wissen, zu was ein Bischof eine Mühle braucht! Will er die Klerisei an den Nagel hängen und Müller werden? Meinen Segen hätte er dazu! Und was die Maulaffen da ins Feuer zu starren haben! Natürlich, für diese Hohlköpfe ist es ein interessantes Schauspiel, hundert Reisigbündel brennen zu sehen!≪
Sich näher an die Wärmequelle heranzwängend, bemerkte Gringoire, daß der um das Feuer gezogene Kreis viel größer war, als es der respektvolle Abstand von den Gluten verlangt hätte. Die Leute standen also nicht nur des Feuers halber so dichtgedrängt da, sondern weil es neben demselben noch etwas anderes zu sehen gab.
Bald erkannte Gringoire, was dies war.
In dem zwischen Feuer und Zuschauern frei gelassenen Raume tanzte ein junges Mädchen.
Ob Menschenwesen, ob Fee oder Engel, konnte Peter nicht sogleich entscheiden, obgleich er ein höchst zweifellustiger Philosoph und Freund satirischer Dichtkunst war, so bezaubernd war der erste Eindruck, den er von dieser blendend schönen Frauengestalt empfing.
Sie erschien größer, als sie tatsächlich war, so kühn erhob sich ihre schlanke Gestalt. Ihr schwarzes Haar ließ erraten, daß sie im Tageslichte die schöne goldige Hautfarbe der Andalusierinnen oder Römerinnen haben mußte. Auch ihre kleinen, zarten Füße schienen andalusisch zu sein, und sie zeigte sie kokett im wirbelnden Drehtanze, den sie auf einem alten persischen Teppich vollführte. Bei jeder ihrer Wendungen schleuderte sie Blitze aus ihren großen schwarzen Augen, sobald ihr Antlitz den Zuschauern zugekehrt war.
Ringsherum gaffte alles mit offenem Munde, alle Blicke waren starr auf sie gerichtet. Und sie verdiente diese Aufmerksamkeit. Denn wie sie so beim Klange des über dem Haupte geschwungenen baskischen Tamburins die runden nackten Arme zeigte und zart und fein mit der Zierlichkeit einer Wespe ihre Tanzschritte machte, blähte sich ihr bunter Rock und verriet im Vereine mit dem enganliegenden Goldleibchen sowohl eine tadellose Büste als auch wohlgeformte Beine. Dazu der Flammenblick ihrer dunklen Augen und der Feuerschein auf ihrem schwarzen Haare — fürwahr, sie schien ein übernatürliches Wesen zu sein.
≫Ein Feuergeist, eine Nymphe≪, dachte Gringoire, der Dichter, ≫eine bacchantische Göttin vom menaleischen Berge!≪
In diesem Augenblicke löste sich eine der schwarzen Haarsträhnen der ≫menaleischen Göttin≪, und ein daran befestigt gewesenes Metallscheibchen rollte zu Boden.
≫Oh, nur eine Zigeunerin≪, dachte der Poet ernüchtert.
Wieder eine Enttäuschung an diesem Unglückstage mehr!
Eben begann die Tänzerin den Schwertertanz. Hierzu nahm sie zwei Klingen zur Hand, setzte deren Spitzen auf ihre Stirne und ließ dieselben kreiselnde Bewegungen machen, während sie sich selbst im Takte dazu wiegte und drehte.
In der Tat, dieser Tanz bewies, daß sie eine Zigeunerin sein mußte.
Aber so enttäuscht sich auch Gringoire durch diese Tatsache fühlte, konnte er sich dennoch nicht dem Reize des Gesamtbildes entziehen, welches in der Rotglut der Feuerlohe einen zauberhaften Eindruck machte.
Der grelle Feuerschein zitterte über das tanzende Mädchen und über die Gesichter der Zuschauer hinweg, flackerte dann gegen den schwarzdüsteren Hintergrund der Hausmauern, insbesondere über die furchige, alte Fassade des Säulenhauses und schließlich hinauf auf den steinernen Arm des Galgens mit bleichem Schimmer, in den sich schwankende Schatten mengten.
Unter all den vielen auf das tanzende Mädchen gerichteten Gesichtern fiel besonders eines auf, das einer ruhigdüsteren, strengen Männergestalt gehörte. Es war die eines reifen Vierzigers, der bereits ganz kahlköpfig war. Nur an den Schleifen wucherten noch einige schüttere, graue Haarbüschel, und die hohe, breite Stirne war von tiefen Runzeln durchfurcht. Dagegen blitzte in den tiefliegenden Augen noch jugendliche Feuerkraft und leidenschaftliches Leben, als er diese auf das tolle, junge, kaum sechzehnjährige Mädchen geheftet hielt. Aber während die Tänzerin zum allgemeinen Vergnügen immer ausgelassener herumsprang, verdüsterte sich dieses Mannes Runzelstirn immer mehr und mehr. Seine Gedanken schienen immer finsterer zu werden und doch auch wieder mit angenehmen Bildern beschäftigt zu sein, da von Zeit zu Zeit auf seinen Lippen Seufzer und ein Lächeln sich begegneten, welch letzteres jedoch noch schmerzlicher als die Seufzer endeten.
Endlich hielt die Tänzerin atemlos inne, während die Menge stürmischen Béifall klatschte.
≫Djali!≪ rief das Mädchen mit lockendem Ton.
Auf diesen Ruf sprang munter und lustig eine reizende, kleine schneeweiße Ziege heran, deren Hufe und Hörner vergoldet waren und die außerdem ein goldenes Halsband trug. Sie hatte bis jetzt am Endzipfel des Tanzteppiches gekauert und alle Bewegungen der Herrin mit klugen, aufmerksamen Blicken verfolgt.
≫Djali≪, befahl die Gebieterin, ≫nun ist die Reihe an dir!≪
Mit diesen Worten ließ sich das Mädchen auf dem Teppiche nieder und hielt dann ihr Tamburin mit einer freundlichen Geste der Ziege hin.
≫Djali, welcher Monat ist jetzt?≪
Die Ziege hob ihren rechten Vorderfuß und schlug damit einmal auf das klirrende Trommelfell.
In der Tat, es war der erste Monat, der Januar.
Die Menge klatschte Beifall dazu.
≫Djali, welcher Tag im Monat ist heute?≪
Die Ziege schlug sechsmal.
Die Menge starrte, denn es war ja der 6. Januar.
≫Djali, welche Stunde ist es jetzt?≪
Die Ziege pochte siebenmal.
Und im gleichen Augenblicke erklangen sieben mächtige Schläge von der Uhr des Säulenhauses.
Da war die Menge sprachlos vor Verblüffung.
Nur eine unheilschwangere Stimme ließ sich hören.
Es war die des kahlköpfigen Zuschauers.
≫Da steckt Hexerei dahinter≪, grollte er.
Erschreckt wandte sich das Mädchen nach dem Unglücksraben hin, die Menge aber brach in frenetischen Beifall aus und erstickte das mürrische Gewäsch.
≫Djali≪, fuhr die Tänzerin wieder ermutigt fort, ≫wie benimmt sich der Hauptmann der Scharfschützen von Paris, Herr Grand-Remy, bei der Marienprozession am Reinigungsfest?≪
Da richtete sich die gelehrige Ziege auf den Hinterbeinen auf, begann zu meckern und marschierte mit einer derart spaßhaften Grandezza im Kreise umher, daß die Zuschauer bei dieser treffenden Nachäffung des wohlbekannten Hauptmannes in ein tolles Gelächter ausbrachen.
≫Djali, wie macht es Meister Jakob Charmolue, der Prokurator des Königs, beim Kirchengerichtshof?≪
Die gehorsame Ziege ließ sich sogleich in sitzender Stellung auf ihrem Hinterteil nieder, ließ ein langes Gemecker hören und bewegte dazu die erhobenen Vorderbeine in so sonderbarer Weise, daß, abgesehen von ihrem schlechten Französisch oder Lateinisch, in Gesten, Akzent und Haltung der gefürchtete Inquisitor selbst anwesend zu sein schien.
Während die Menge wieder ihren Beifall spendete, ließ sich die Stimme des düsteren Kahlkopfes erneut vernehmen:
≫Entweihung! Verspottung einer heiligen Institution!≪
≫Ach, der grobe Mensch!≪ entgegnete die Tänzerin schnippisch.
Bei diesen Worten zog sie die Unterlippe vor und machte ein ihr anscheinend geläufiges Mäulchen, worauf sie aufspringend auf ihren Fußspitzen eine Pirouette schlug und dann mit vorgehaltenem Tamburin einsammeln ging. Es regnete ganze und halbe Weißpfennige, Schild– und Adlergroschen. Die Leute gaben bereitwillig und gerne.
Als die Tänzerin bei Gringoire angelangt war, ging sie an ihm vorüber, als ob sie hier nichts zu erwarten hätte. Unwillkürlich fuhr Gringoire da mit einer leichtfertigen Gebärde nach seiner Tasche, was die Tänzerin veranlaßte, stehenzubleiben und ihm ihr Tamburin hinzuhalten.
≫Der Teufel auch!≪
Dies war das Stoßgebet des Dichters, als er auf dem Grunde seiner Tasche die momentan vergessene Wirklichkeit, nämlich eine absolute Leere fand.
Das hübsche Mädchen stand aber noch immer erwartungsvoll da, und auf des Dichters Stirne perlte der Schweiß.
Gern hätte er der Tänzerin ganz Peru gegeben, wenn er es in seiner Tasche gehabt hätte. Aber leider hatte er es nicht, und zudem war dieses Goldland damals noch nicht entdeckt.
Da brachte zum Glück ein unvorhergesehenes Ereignis Erlösung.
≫Willst du dich scheren, ägyptische Heuschrecke≪, kreischte eine schneidende Stimme, die aus dem dunkelsten Hintergrunde des Platzes zu kommen schien. Entsetzt drehte sich die Tänzerin nach dieser Richtung, denn es war nicht mehr die Stimme des Kahlkopfes, sondern die eines garstig frötnmelnden Weibermunds.
Dagegen wurde eine Schar von Kindern durch diesen Zuruf in ausgelassene Freude versetzt.
≫Haha, die Klausnerin vom Rolandsturm!≪ riefen sie unter schallendem Gelächter. ≫Die alte Nonne ist es, die da quakt! Hat sie kein Nachtmahl gehabt? Wir wollen ihr etwas vom Kredenztische der Stadt bringen!≪
Und alle stürzten sie nach dem Säulenhause hin.
Die Verwirrung der Tänzerin war für Gringoire eine willkommene Gelegenheit gewesen, sich unsichtbar zu machen, und das Geschrei der Kinder erinnerte ihn daran, daß er selbst noch nicht zu Abend gegessen hatte und daß er nicht nur wegen des wärmenden Feuers auf den Grève-Platz gekommen war.
Rasch lief er daher zu dem Kredenztische hin, aber die kleinen Racker waren rascher gewesen als er, denn als er nach ihnen am Gabentische eintraf, hatten sie bereits die letzten Reste weggerafft.
Nicht einmal ein lumpiger Honigkuchen war übriggeblieben, das Pfund zu fünf Sous! Nichts war mehr da als an der Wand die darauf gemalten Rosen und Lilien, die im Jahre 1434 Mathieu Biterne hier angebracht Ein zu mageres Abendessen fürwahr!
Peinlich ist es, ohne Abendbrot zu Bett gehen zu müssen, aber noch weit peinlicher, wenn man auch noch dazu kein Bett besitzt!
In dieser traurigen Lage war Peter Gringoire. Kein Quartier, kein Abendbrot. So von allen Seiten bedrängt, fand er seine Not sehr sonderbar. Schon seit langem hatte er die Wahrheit entdeckt, daß Jupiter den ersten Menschen in einem Anfalle von Gehässigkeit erschaffen haben mußte und daß im Leben des Weisen die Philosophie vom Schicksale im Belagerungszustande erhalten wird. Aber in der Praxis hatte er noch nie eine so komplette Zernierung seiner Lebensfestung mitgemacht.
Während sein Magen rebellisch den Generalmarsch trommelte, fand er es höchst blödsinnig, daß seine philosophischen Grundsätze durch die Notdurft des Leibes bedrängt wurden.
Immer tiefer und tiefer versank er in melancholische Gedanken, als ein seltsam lieblicher Gesang ihn aus seinem Brüten erweckte.
Es war die junge Tänzerin, die da sang.
Auf ihrer Stimme lag dieselbe unerklärliche Anmut, die ihre Schönheit und ihren Tanz so bemerkenswert lieblich, rein und wohlgefällig machte. Etwas Leichtbeflügeltes lag ebenso in ihrer Stimme wie in ihrem ganzen Wesen.
Ihr Sang war eine Reihe sich ergießender Melodien, voll unerwarteter Kadenzen, bald in einfachen Worten voll zischendseharfer Töne, bald in Sprüngen über die ganze Tonleiter, in allem ein harmonisches Zusammenklingen, welches eine Nachtigall verwirren mußte, weil jede Folgerichtigkeit fehlte, während sich der Busen der jungen Sängerin in weichen Oktaven hob und senkte.
Dabei begleitete ein ausdrucksvolles Mienenspiel ihres schönen Gesichtes jeden der seltsamen Einfälle ihres Gesanges, von der tollsten Begeisterung bis zur keuschesten Würde hinan.
Sie sang, wie man es nur von einer Königin oder von einer Wahnsinnigen erwartet hätte.
Die von ihr gesungenen Worte gehörten einer Sprache an, die Gringoire unbekannt war und welche die Sängerin augenscheinlich selbst nicht verstand, da zwischen dem Text und der Vortragsweise gar kein Zusammenhang bestand.
Es waren tatsächlich Bruchstücke aus spanischen Volksliedern, und ein dieser Sprache kundiger Hörer hätte es sehr eigenartig finden müssen, wenn er vernahm, wie das Mädchen mit dem Ausdrucke größter Lustigkeit folgende Stelle aus einer Schauerballade vortrug:
≫In einem tiefen Brunnen wurde eine kostbare Truhe gefunden, und als man diese öffnete, sah man darin neue Fahnen mit entsetzenerregenden Bildnissen.≪
Und dann gleich daran anschließend:
≫Berittene Araber waren es mit Degen und nie fehlenden Bogen.≪
Diese sonderbaren Texte schmetterte sie mit der heiteren Unbekümmertheit eines Vogels wohl nur ihres sprachlichen Wohllautes wegen hinaus, ohne sich über den Sinn derselben weiter den Kopf zu zerbrechen.
Und Gringoire trieb ihr Sang die Tränen in die Augen, obgleich er ebensowenig ein Wort davon verstand.
Er war aus seinen Grübeleien aufgeschreckt werden und hörte nun in seliger Selbstvergessenheit zu. Denn es war seit mehreren Stunden der erste Augenblick, in welchem de er sich nicht ganz unglücklich fühlte.
Leider war es nur ein ganz kurzer Augenblick.
Denn schon wieder ließ sich das mißtönende Kreischen derselben Frauenstimme hören, die bereits früher die Vorstellung mit der Ziege gestört hatte.
≫Willst du wohl schweigen, Zikade der Hölle?!≪ eiferte sie aus dem dunklen Winkel des Platzes her.
Der armen Zikade verschlug dieser gehässige Zwischenruf den Atem, und Gringoire hielt sich die Ohren zu.
≫Verfluchte zahnlose Säge, die du die Leier zerbrechen mußt!≪ schalt er ins Dunkle hinein.
Auch die übrigen Zuhörer murrten über die Unterbrechung.
≫Zum Teufel mit der Nonne!≪ hörte man mehr als einen sagen.
Und die neidvolle Zerstörerin harmloser Freuden hätte vielleicht ihre unerwünschte Einmischung büßen müssen, wenn nicht die Aufmerksamkeit des Volkes in anderer Weise angezogen worden wäre.
Es geschah dies durch den Aufmarsch der Narrenbrüderschaft, die nach einem langen Umzuge mit ihrem Narrenpapste nun auch in diese Gegend kam.
Mit großem Gelärme ergoß sich die ausgelassene Horde unter Fackelglanz auf den Grève-Platz. Sie war seit dem Auszuge aus dem Palaste während ihres Rundganges durch die Straßen zusehends gewachsen, da sich ihr alles angeschlossen hatte, was an Vagabunden, Stromern, Dieben und Verbrechern des Weges kam. Der ganze Auswurf von Paris schien sich da zusammengerottet zu haben.
An der Spitze marschierte der Herzog von Ägypten, hoch zu Roß und begleitet von seinen Grafen, die zu Fuß gingen und die Zügel seines Gaules hielten. Hinter ihm folgten seine Zigeuner und Zigeunerinnen, die Weiber mit den schreienden Kindern auf dem Rücken oder an der Hand. Diese ganze Bande war in ihren Jahrmarktsflitter gekleidet und der Herzog ganz besonders prächtig kostümiert.
Dann kam das Königreich Rotwelschland, nämlich alle Bettler und Gauner Frankreichs, streng nach ihrem Range geordnet. Sie waren in Sektionen zu viert formiert, gradweise mit den Geringsten ihrer Gilde an der Tête, alle durch ihre Abzeichen kenntlich gemacht. Zuerst kamen die Diebe daher, dann die bettelnden Krüppel, Hinkende, Lahme, Einarmige, ferner die Ladenschränker, die Pülcher, Einbrecher und Plattenbrüder, ferner die Epileptiker, die kindischen Alten, die Schnorrer und Marktschreier, weiter die künstlichen Krüppel, die Falschspieler und die Zuhälter, hinter ihnen die Obdachlosen und die Stromer, anschließend dann all die anderen Apachen, Rotwelscher, Erzgauner, Meisterdiebe und Verbrecher. Kurz, selbst Homer hätte bei der Aufzählung all des Gesindels ermüden müssen.
An der Queue, umgeben von den Großwürdenträgern der Verbrecherzunft, fuhr der König der Bettler, der große Coesre, in seiner Galaequipage, einem kleinen, von zwei Hunden gezogenen Karren.
Dann kam der Kaiser von Galiläa, Wilhelm Rousseau, majestätisch in seinem weinfleckigen Purpurmantel einherstolzierend, während Possenreißer ihn umtanzten und sich untereinander balgten. Hinter ihm seine Banner- und Zepterträger, seine Helfer und Schreiber.
Hieran schloß sich die Gilde der Parlamentsschreiber in schwarzen Talaren, mit bunten Maisträußchen geschmückt, lange, gelbe Wachskerzen in der Hand und begleitet von ihrer eigenen Katzenmusik.
In ihrer Mitte trugen die hohen Funktionäre der Narrenbrüderschaft den Tragstuhl, auf welchem der Narrenpapst Quasimodo thronte.
Der Tragsessel war so mit brennenden Wachskerzen besteckt, daß er dem Reliquienschreine glich, der zu Pestzeiten zu Ehren der heiligen Genoveva in feierlicher Bittprozession umhergetragen zu werden pflegte. Und darauf strahlte mit Mitra, Krummstab und Bischofsmantel der Narrenpapst in seiner Eintagswürde.
Jede Gilde dieses Umzuges hatte ihre eigene Musik. Die Zigeuner ihre Streichfiedeln und baskischen Tamburins, die weniger musikalischen Rotwelscher einige Violen, Bockshörner und gotische Streichinstrumente. Auch die Untertanen des Kaisers von Galiläa waren nicht viel besser ausgerüstet. Nur vereinzelt waren ein paar primitive Fiedeln zu sehen.
Die großartigste Katzenmusik aber ertönte in der nächsten Umgebung des Narrenpapstes. Der ganze Musikvorrat des Zeitalters war hier wahllos vertreten, und in schrillem Diskant erklangen all die Alt- und Tenorgeigen, die Flöten und Hörner. Es war das desertierte Theaterorchester Peter Gringoires.
Ein unbeschreiblicher, stolz-seliger Ausdruck der Freude lag auf dem sonst scheußlich-finsteren Gesichte Quasimodos, des Glöckners von Notre-Dame. In seinem ganzen Leben fühlte er zum ersten Male den Genuß befriedigter Eigenliebe, nachdem ihm bisher nur Erniedrigungen, Ekel vor seiner Person und verächtliche Behandlung zuteil geworden waren.
Trotz seiner Taubheit fühlte er den ihn umtosenden Beifall der Menge, mit der er nur Abscheu und Haß zu tauschen gewohnt war. Mit Begeisterung trank er dies ungewohnte Erlebnis in sich hinein. Mochte seine Umgebung auch nur aus dem Abschaum und der Hefe der Pariser Einwohnerschaft bestehen, für ihn war es das Volk und er dessen Herrscher. All die lächerlichen Ehrfurchtsbezeigungen und spöttischen Beifallsäußerungen nahm er für bare Münze, und instinktiv fühlte er, daß der Untergrund davon Furcht vor seinem tierischen Wesen war, vor seiner Stärke, Behendigkeit und Bösartigkeit.
Natürlich war ihm dieses dunkle Gefühl nicht so klar, daß er es in Worte oder auch nur in Gedanken hätte kleiden können. In seinem mangelhaften Körper wohnte ein ebenso mangelhafter Geist, der nur in verworrenen Gedankensprüngen zu denken vermochte und hauptsächlich von rein instinktiven Empfindungen. beherrscht wurde. Aber Freude und Stolz konnte er dennoch fühlen. Und in diesem Augenblicke fühlte er sie voll und ganz. Mit seinem ganzen Sein genoß er das ihm gebotene Eintagsglück.
Während so Quasimodo triumphberauscht an dem Säulenhause vorbeigetragen wurde, hatte es eine um so schrecklichere Wirkung, als plötzlich der uns bereits bekannte düstere Kahlkopf aus der Menge hervorbrach und sich auf den Narrenpapst stürzte, um ihm mit zorniger Gebärde den Krummstab aus der Hand zu schlagen. Erst jetzt, da der Angreifer in seinem geistlichen Gewande frei sichtbar wurde, erkannte Gringoire, wer der Gegner der Tänzerin und des Narrenpapstes war.
≫Donnerwetter, das ist ja Dom Claude Frollo, der Archidiakon von Notre-Dame! Mein Lehrer in den freien Künsten, in der Weisheit des Hermes, in der Alchimie! Was zum Teufel geht ihn der Spaß des Buckligen an?! Hoffentlich frißt dieser ihn nicht auf!≪
Denn Quasimodo machte einen so tobsüchtigen Eindruck, daß ein allgemeiner Schrei des Entsetzens erscholl und die Weiber sich furchtbebend abwandten, als er mit einem Satze von seinem Narrenthrone herabsprang. Wie ein Panther schnellte sich der Tiermensch gegen den Priester hin, und alle meinten, daß er diesen im nächsten Augenblicke in Stücke reißen würde. Statt dessen aber fiel er vor seinem Gegner auf die Knie nieder und ließ es zur allgemeinen Verblüffung demütig geschehen, daß der Priester ihm die Mitra vom Haupt schlug und den Bischofsmantel vom Leib fetzte.
Mit gefalteten Händen erduldete der abgesetzte Narrenpapst diese öffentliche Degradation, und dann entspann sich zwischen ihm und seinem Bezwinger eine seltsame Zwiesprache aus Zeichen und Gebärden, in ihrer wortlosen Stummheit von beklemmender Wirkung, wobei der Priester hochaufgerichtet herrisch-drohend zürnte und Quasimodo ganz niedergeschmettert demütig flehte. Dabei wäre es dem Tiermenschen eine Kleinigkeit gewesen, den Kahlkopf in Stücke zu reißen, wenn es bloß auf die Kraft des Körpers angekommen wäre.
Endlich rüttelte der Archidiakon das Monstrum heftig an den Schultern und gab ihm die Zeichenbefehle, aufzustehen und nachzufolgen.
Als sich Quasimodo gehorsam erhob, wollte sich nun die bisher durch ihre Verdutztheit zurückgehaltene Narrenbrüderschaft einmengen und ihren so jäh entrissenen Narrenpapst zurück haben. Mit dieser Absicht begannen sich alle die Schreiber, Gauner, Zigeuner und Bettler schreiend um den Archidiakon zu scharen.
Aber da geschah das Wunderbare, daß ihr eigener Papst es war, der sich schützend vor den Priester stellte, seine athletischen Pranken schlagbereit in die Höhe hob und die Angreifer mit dem Zähnefletschen einer gereizten Bestie bedrohte.
Der Geistliche dagegen begnügte sich mit der Miene düsterer Würde und überließ es Quasimodo, voranzugehen und in die auseinanderweichende Menge eine Gasse zu treten, durch die sich die beiden langsam entfernten.
Als das sonderbare Paar den Grève-Platz fast überschritten hatte, wollte ein Haufen von Müßiggängern und Neugierigen demselben auf den Fersen folgen. Aber jetzt bildete Quasimodo die Nachhut, und er schritt rücklings hinter seinem Bändiger her, wobei er sein Gebiß wie ein stoßbereiter Eher zeigte und in seiner entsetzlichen Struppigkeit so tückisch anzusehen war, daß die Menge erschreckt zurückblieb. Erst als die beiden in einer der engen, finsteren Gassen verschwanden, verstummte das wilde Fauchen und Brüllen des Tiermenschen, und erschauernd hätte auch der mutigste der Anwesenden keine Neigung gehabt, sich hinterdrein in die Dunkelheit zu wagen.
≫Merkwürdig im höchsten Grad≪, stellte Gringoire nachdenklich fest, ≫dabei weiß ich aber immer noch nicht, wie ich zu einem Abendbrot kommen werde.≪
Wenn man abends einem hübschen Mädchen nachgeht
Als Gringoire die Tänzerin mit ihrer Ziege nach der Rue de la Coutellerie abgeben sah, entschloß er sich, hinter ihr herzuschlendern.
≫Wer weiß?≪ dachte er dabei.
Denn als praktischer Philosoph hatte er im Straßenleben von Paris die Erfahrung gewonnen, daß es sich in keiner Position besser grübeln und träumen läßt, als ährend man einer hübschen Frauensperson nachsteigt, deren Ziel man nicht kennt.
Es liegt darin eine freiwillige Aufgabe des eigenen Willens, indem man sich der Phantasie der Voranschreitenden unterordnet, ohne daß sie davon eine Ahnung hat. Selbst aber empfindet man dabei eine gemischte Empfindung von eigensinniger Unabhängigkeit und blindem Gehorsam, ein Mittelding zwischen Freiheit und Sklaverei. Und dieses merkwürdige Gefühl sagte Gringoire ganz besonders zu, weil er von Natur aus ein unklarer, unentschiedener und sanguinischer Kopf war, in welchem sich die Widersprüche stießen und alle menschlichen Neigungen sich durch Hinundherpendeln gegenseitig aufhoben. Dabei verglich er sich gerne selbst mit dem Sarge des Propheten, der zwischen zwei Magneten frei hängend auf ewig zwischen Höhe und Tiefe, zwischen Himmel und Erde, zwischen Fall und Aufstieg, zwischen Zenit und Nadir schwebt.
Hätte der Dichter Peter Gringoire in unseren Tagen gelebt, so würde man ihn in die literarische Übergangszeit zwischen Klassizismus und Romantik eingereiht haben.
Aber er war nicht naiv genug, drei Jahrhunderte lang leben zu wollen, bedauerlicherweise, da sein Fehlen eine noch heute fühlbare Lücke verursacht.
So stak er ganz in seinem Jahrhundert drin und außerdem in der Verlegenheit, nicht zu wissen, wo er sein Nachtquartier aufzuschlagen hatte. Aus letzterem Grunde war er zum Nachsteigen hinter einer Person, insbesondere einer hübschen von weiblichem Geschlechte ganz besonders disponiert.
Während er halb in Gedanken verloren hinter der Tänzerin einherging, beschleunigte diese ihre Schritte und die der Ziege, sobald sie sah, daß die Schenken sich zu schließen und die letzten Bürger sich auf den Heimweg zu machen begannen.
≫Sie muß doch irgendwo wohnen≪, dachte da Gringoire, ≫und da die Zigeunerinnen gutmütig sind …≪
Und in seinem Kopie entstand das große Fragezeichen des ≫Wer weiß?≪, das von lieblichen Vorstellungen gespickt war.
In diesen angenehmen Träumereien wurde er von Zeit zu Zeit durch an sein Ohr klingende Bruchstücke von Unterhaltungen gestört, die von heimkehrenden oder ihre Tore und Fenster schließenden Bürgern und Bürgerinnen gepflogen wurden.
≫Meister Fernicle, wißt Ihr was, heute ist’s kalt.≪
Diese Tatsache war Gringoire seit Winterbeginn wohlbekannt.
≫Jawohl, Meister Bonifaz. Wir bekommen heuer so einen Winter wie Anno achtzig, wo die Klafter Holz acht Sols gekostet hat.≪
≫Das war noch nichts gegen 1407, als es von Martini bis Lichtmeß fror. Damals gerann den Parlamentsschreibern nach jedem dritten Worte die Tinte zu Eis. Man konnte gar keine Urteile schreiben, weil die Federn steckenblieben.≪
Dort an zwei Fenstern ließen gerade zwei Nachbarinnen den Nebel an ihren brennenden Kerzen knistern.
≫Hat Euch Euer Ganze schon das Unglück erzählt, Frau Boudraque?≪
≫Welches denn, Jungfer Tourquant?≪
≫Das Pferd des Notars Godin scheute vor dem Einzuge der Flamen und stieß den Zisterzienser Laienbruder Meister Avrillot nieder.≪
≫Was Ihr nicht sagt?!≪
≫Tatsache!≪
≫Ein gewöhnliches Pferd! Wenn es noch ein Ritterpferd gewesen wäre, würde man es begreifen.≪
Klirrend schlossen sich die Fenster.
Gringoire nahm den Faden seiner Gedanken wieder auf. Sein Wiederanknüpfen wurde ihm durch die zwei vorangehenden zarten und leichtfüßigen Geschöpfe erleichtert. Denn sowohl die Tänzerin als auch ihre Wunderziege waren feine und reizende Wesen, deren kleine Füße, liebliche Formen und zierliche Manieren er in gleicher Weise unparteiisch bewunderte, so sehr, daß er sie in seinen Betrachtungen fortwährend miteinander verwechselte, denn an freundschaftlicher Klugheit schienen ihm beide Mädchen zu sein, an gewandter Leichtigkeit und Schnellfüßigkeit beide aber Ziegen.
Dabei wurden die Straßen immer dunkler und einsamer. Die Abendglocken waren längst verklungen, und nur noch selten war ein Fußgänger zu sehen oder ein Licht an einem Fenster zu erblicken. Gringoire und seine Führerinnen waren allgemach in das unentwirrbare Labyrinth der Gassen, Gäßchen und Sackgassen geraten, welches die alte Grabstätte der Schuldlosen umgab und die noch heute einem von einer spielenden Katze zerzausten Garngewirr gleicht.
≫Straßen ohne Logik≪, tadelte Gringoire.
Und tatsächlich verloren sich dieselben auf zahllosen Umwegen, um schließlich in sich selbst zurückzulaufen, schienen aber trotzdem für die Tänzerin gut bekannte Wege zu sein, da sie von ihr ohne Zögern mit immer schnelleren Schritten durchmessen wurden.
Gringoire dagegen wußte längst mehr mehr, wo er eigentlich war. Er fand sich erst wieder halbwegs zurecht, als er den achteckigen Pranger vor den Hallen sah, dessen schwarze Masse mit der durchbrochenen Spitze sich gegen ein noch erleuchtetes Fenster abhob.
Durch sein beharrliches Nachschreiten hatte er mittlerweile die Aufmerksamkeit der Tänzerin erregt, die wiederholt mit großer Unruhe ihr Haupt nach ihm zurückwandte. Einmal blieb sie sogar kurze Zeit stehen, als wollte sie den aus einer halbgeöffneten Backstube auf Gringorre fallenden Lichtstrahl dazu benützen, um ihren Verfolger festen Blickes von oben bis unten zu mustern. Dabei hatte sie das bereits wohlbekannte schiefe Mäulchen gezogen, bevor sie wortlos weiterschritt.
Gringoire hatte diese Grimasse sehr gut ausnehmen können, und es gab ihm zu denken, daß er darin unzweifelhaft spöttische Verachtung hatte entdecken müssen. Er begann daher bereits mit gesenktem Haupte die Pflastersteine zu zählen und unschlüssig immer mehr und mehr hinter der entschwebenden Tänzerin zurückzubleiben. Während er so noch zauderte, ob er endgültig abfallen oder weiterverfolgen sollte, wurde er jedes eigenen Entschlusses durch einen durchdringenden Schrei enthoben, der von der Straßenecke herkam, um welche die Tänzerin gerade gebogen war. Daraufhin setzte er sich ohne Zögern in Trab, soweit es in der ihn einhüllenden ägyptischen Finsternis möglich war. Als er um die Ecke kam, sah er beim Lichtflimmern eines ewigen, unter einem Muttergottesbilde angebrachten Lämpchens, daß die Tänzerin im Arme zweier Männer rang, die ihre Schreie zu ersticken bemüht waren. Daneben blökte die Ziege mit gesenktem Gehörn.
≫Wache! Hilfe!≪ brüllte Gringoire, indem er tapfer auf die kämpfende Gruppe vorwärtsstieß. Da wandte sich einer der beiden Angreifer gegen ihn, und mit Entsetzen hemmte Peter seinen Lauf, als er das tierische Gesicht Quasimodos erkannte. Aber trotz des augenblicklichen Zögerns dachte der wackere Dichter nicht an Flucht, als er sich jedoch wieder in Bewegung setzen wollte, war der furchtbare Gegner bereits an ihn herangekommen. Mit einem einzigen Prankenhieb warf Quasimodo den jugendlichen Helfer vier Schritte weit aufs Pflaster zurück, im nächsten Augenblick hatte er bereits im Rücksprunge das Mädchen mit unwiderstehlicher Kraft hochgerissen, um, gefolgt von seinem Gefährten, mit seiner Beute davonzurennen. Mit ängstlichem Geblök sprang die Ziege hinterdrein.
≫Mörder! Räuber!≪ schrie die unglückliche Tänzerin.
≫Halt, ihr Elenden, halt! Laßt die Dirne los!≪ mengte sich plötzlich eine Donnerstimme ein, die vom himmlischen Stakkato nahenden Pferdegaloppsbegleitet wurde. Es war der Rittmeister der berittenen Bogenschützen von des Königs Ordonnanz. Im Heranbrausen riß er die Tänzerin aus den Armen des Unholdes, und als dieser sich nach der ersten Bestürzung auf ihn werfen wollte, war er auch schon von einem Dutzend von Reitern der Königswache umringt, die, den flammenden Pallasch in der Hand und vom Kopf bis zu den Füßen gerüstet, hinter ihrem Führer herangedröhnt waren.
Es war eine der berittenen Rotten, die auf Befehl des Herrn Robert d’Estouteville, des Kommandanten des Sicherheitsdienstes von Paris, eine ihrer nächtlichen Runden machte.
Im Handumdrehen war Quasimodo gebändigt, geknebelt und gefesselt, nachdem ein paar flache Hiebe auf seinen struppigen Schädel niedergekracht waren; und als er davon wieder zur Besinnung kam, konnte er nur noch wehrlos schäumen und zucken. Glücklicherweise war es finstere Nacht, denn bei Tageslicht hätte sein durch die Wut noch entsetzlicher gewordenes Gesicht die tapfere Rotte sicher in die Flucht geschlagen. So aber war er seiner besten Waffe, der seiner abscheulichen Häßlichkeit, beraubt.
Sein Gefährte war inzwischen verschwunden, als hätte ihn der Erdboden aufgeschluckt.
Durch den erhaltenen Schwung auf dem Sattelknaufe des Offiziers gelandet, richtete sich hier die Tänzerin mit gewinnendem Anstande auf. Dann legte sie beide Arme auf die Schultern ihres Retters, um ihm einige Augenblicke starr ins Gesicht zu blicken, als ob sie über dessen Schönheit ebenso entzückt wäre wie über die rechtzeitige Hilfe aus größter Not.
≫Wie heißt Ihr, Herr Ritter?≪ fragte sie mit lieblichem Silberglockenton.
≫Rittmeister Phöbus von Châteaupers, Euch zu dienen, meine Schöne.≪
≫Habt Dank, Herr Rittmeister.≪
Und während der geschmeichelte Offizier seinen nach Burgunder Art gestutzten Schnurrbart unternehmungslustig in die Höhe strich, schlüpfte sie flink wie ein Eichhörnchen unter seinen Armen durch zur Erde hinab, um pfeilschnell zu entfliehen.
Ein Blitzstrahl hätte nicht rascher aufleuchten und wieder verschwinden können.
≫Beim Nabel des Papstes≪, wetterte der Rittmeister, ≫das Frauenzimmer hätte ich gerne länger im Arm gehabt! Leute! Schnallt diesen Schurken da ordentlich fest, damit er uns nicht entkommt!≪
≫Ja, ja≪, grinste einer der Reiter, während er dem Unhold die Riemen ins Fleisch zog. ≫Die Grasmücke ist davongeflogen, und die Fledermaus ist uns geblieben.≪
Weitere Unannehmlichkeiten
Währenddem hatte Gringoire ganz betäubt auf dem Pflaster gelegen, und als er nach und nach zur Besinnung kam, geschah dies in einer Art Halbschlaf, in welchem die luftigen Gestalten der Tänzerin und der Ziege und die Mißgeburt Quasimodo ineinander verwirrte Traumbilder waren.
Sein Dösen wurde jedoch alsbald durch eine scharfe, stechende Kälte in jenem Körperteile beendet, mit welchem er das Pflaster am innigsten berührte.
Da gewann sein Geist rasch die Oberhand über die Traumgebilde, und er bemerkte, daß er mitten in der Gosse saß.
≫Verdammter buckliger Zyklop!≪ knirschte er und machte Anstalt, sich zu erheben. Aber er war so zerschlagen, daß er wieder in das unangenehme Naß zurückplumpste. Dabei hielt er sich schleunigst mit der Hand die Nase zu.
≫Der Pariser Straßenkot muß eine doppelte Dosis an Salpetersalz enthalten. Denn an Stinken nimmt er es mit jedem anderen auf. Die Alchimisten …≪
Das Wort ≫Alchimisten≪ schuf sofort die Ideenverbindung mit seinem Lehrer dieser Wissenschaft, Dom Claude Frollo, und brachte diesen überraschenderweise mit dem Angriffe auf die Tänzerin in Verbindung. Bei dem Ringen der Tänzerin mit den beiden Männern hatte er neben der Fresse Quasimodos die mürrischen, hochfahrenden Züge des Archidiakons zu sehen vermeint.
≫Seltsame Sache≪, dachte er und begann auf dieser Wahrnehmung ein phantastisches Gebäude von Vermutungen aufzubauen, ein philosophisches Kartenhaus, welches bald durch eine erneute Kältewelle zerstört wurde.
≫Teufel, ich erfriere ja!≪
Sein Sitzplatz war nicht mehr haltbar, darüber gab es keinen Zweifel. Jedes Wassermolekül zog ein Wärmeatom aus seinen Nieren, und die Temperatur seines Körpers begann mit der in der Gosse einen Ausgleich anzustreben.
Dabei war dies noch nicht der letzte Schicksalsschlag.
Mit großem Gejohle kam ein. Pack barfüßiger Gassenjungen angerückt, wild und dreckig, wie es nur Pariser Gassenjungen sein können, dieser ewig gleiche Typ, den auch wir in unseren Tagen kennenlernten, als wir als Kinder auf die Straße liefen, um uns da mit Steinen zu beledern und unsere Hosen zu zerreißen.
Ein Rudel dieses Gelichters kam lachend und schreiend heran, direkt auf Gringoire zu, und machte dabei einen Skandal, als ob es keine berechtigte Nachtruhe ehrbarer Bürgersleute gäbe. Ein paar von diesen Straßenapachen zerrten einen unförmigen großen Sack hinter sich her, und die wenigen Nichtbarfüßler unter ihnen klapperten mit ihren Holzpantinen, als ob sie für einen Toten den Auferstehungsrnarsch zu trommeln hätten.
Der von ihnen erweckte Tote schien Gringoire sein zu sollen, da er sich bei diesem Anmarsche aufzukrabbeln versuchte.
≫Heda, Hennequin≪, rief einer der jungen Tagediebe.
≫Hoho, Pincebourde!≪
≫Der alte Eisenkrämer Moubon ist tot!≪
≫Seinen Strohsack haben wir!≪
≫Auf dem er eben verreckt ist!≪
≫Damit wollen wir ein lustiges Feuer machen!≪
≫So groß wie das am Grève-Platz!≪
≫Den Flamen zu Ehren!≪
Bevor Gringoire hochkommen konnte, war die Horde da, und ohne ihn in der Finsternis zu sehen, warfen die Strohsackzerrer denselben über den armen Poeten hin. Und einer von ihnen riß eine Handvoll Stroh heraus, um es an dem ewigen Muttergotteslämpchen zu entzünden.
≫Der Teufel auch≪, brummte Gringoire. ≫Soll ich eine Schwitzkur durchmachen?!≪
Es war allerdings ein gefährliches Schweben zwischen Wasserkälte und Feuerhitze, dem sich der Dichter gegenübersah und das ihn zu den übernatürlichen Anstrengungen eines ertappten Falschmünzers veranlaßte, der zur Strafe gesotten werden soll und der diesem Martertode zu entrinnen trachtet.
Kerzengerade in die Höhe fahrend, warf er den Strosack auf die Gassenjungen, um sogleich das Weite zu suchen.
≫Heiliger Josef!≪
≫Der Eisenkrämer ist wieder lebendig!≪
Und die Horde sauste nach der entgegengesetzten Richtung davon.
Das Schlachtfeld wurde von dem in der Gosse liegenden Strohsack behauptet.
Als dieser am nächsten Morgen in feierlicher Prozession von der Geistlichkeit des Sprengels eingeholt wurde, geschah dies, wie die Patres Belleforét, Le Juge und Corrozet uns berichten, um ihn im Schatzgewölbe der Kirche Sainte-Opportune zu deponieren, allwo der Sakristan noch Anno 1789 eine hübsche kleine Einnahme aus dem Wunder des von dem ewigen Lämpchen beleuchteten Marienbildes in der Rue Mauconseil machte, weil dieses durch seine bloße Anwesenheit in der denkwürdigen Nacht vom 6. auf den 7. Januar 1482 den verstorbenen Eisenkrämer Moubon wiedererscheinen hatte lassen, um den Teufel zu verjagen, der sich beim christlichen Tode besagten Eisenkrämers in dessen Strohsack verborgen gehabt hatte.
Der zerbrochene Krug
Nachdem Gringoire eine Zeitlang ziellos durch das finstere Gassengewirr gerannt war, hatte er jede Orientierung verloren. Auf seiner panischen Flucht war er mit dem Kopfe gegen manches Straßeneck gerannt, über manchen Rinnstein gesprungen, in mancher Sackgasse steckengeblieben und schließlich durch alle Windungen der alten Hallenstraße gekommen, bis er endlich atemlos stehenblieb.
≫Was laufe ich eigentlich wie verrückt davon?≪ warf er sich ärgerlich vor. ≫Die kleinen Straßengauner haben sicher mehr Angst gehabt als ich! Und wohl beim Davonrennen den Strohsack liegengelassen. Ich aber renne davon, statt dies vom Zufall gebotene Nachtlager dankbar anzunehmen. Aber dazu ist’s immer noch Zeit. Also zurück zu dem vom Himmel gefallenen Strohsack! Und wenn er mittlerweile Feuer gefangen hat, ist das Unglück halb so groß, dann kann ich mich wenigstens daran erwärmen. Die gesegnete Gottesmutter an der Straßenecke hat gewiß den alten Eisenkrämer nur deshalb ins bessere Jenseits abberufen, damit ich seinen Strohsack erben kann.≪
Mit diesem Entschlusse machte Peter kehrt und bemühte sich, durch Ausschauen nach der Himmelsrichtung den Platz wiederzufinden, wo der kostbare Strohsack zurückgeblieben war. Aber vergebens strengte der Sucher Augen, Nase und Ohren an, vergebens spähte er alle Häuserquerschnitte, Straßenecken und Sackgassen entlang, er verirrte sich in dem dunklen Wirrsal nur immer mehr und mehr, und schließlich stand er ratlos da, als ob er in die Irrgänge parlamentarischer Verhandlungen geraten wäre.
≫Verdammtes Gassenwerk!≪ verlor er schließlich die Geduld. ≫Der Teufel hat es mit seiner Ofengabel konstruiert!≪
Diese und ähnliche Flüche erleichterten ein wenig sein bedrängtes Gemüt, und als er schließlich am Ende einer langen, finsteren Gasse einen rötlichen Lichtschimmer erblickte, glaubte er das Ziel seiner Sehnsucht erreicht zu haben.
≫Holla, da unten ist mein Strohsack, der dort brennt≪, rief er fröhlich mit frisch gewonnenen Lebensgeistern. Aber er war erst wenige Schritte in die lange Gasse eingedrungen, als er merkte, daß diese stellenweise ungepflastert war und sich zu senken begann. Auch war sie nicht öde und verlassen, sondern hie und da durch vereinzelte formlose, kriechende Klumpen belebt, die denselben Weg wie er selbst nach dem Lichtschimmer hin verfolgten.
Der angestrebte Feuerschein begann diese unheimlichen Wanderer nach und nach beim Näherkommen undeutlich zu belichten und sie jenen plumpen Insekten ähnlich zu machen, die des Nachts von Halm zu Halm an das Lagerfeuer von Hirten heranschleichen.
Unserem Dichter aber waren diese lemurenhaften Mitwanderer ganz egal. Er besaß den desperaten Mut all jener, die nichts in der Tasche haben, und ganz unbekümmert gegen das lockende Feuer vorwärtsdringend, konnte er bald erkennen, daß die Gespenstererscheinungen die Körper elender Krüppel waren, die sich auf allen vieren oder den davon übriggebliebenen Stümpfen mühsam weiterschoben.
Als er an einer dieser Menschenspinnen so nahe vorüberkam, daß er ihr ins Gesicht sehen konnte, begann diese auf italienisch ihren kläglichen Almosengesang.
≫Eine Gabe, Herr! Eine Gabe!≪
≫Hol dich der Teufel und mich dazu! Wie soll ich verstehen, was du quatschst?!≪
Weiter ausschreitend, überholte Peter bald einen andern Wandelklumpen, einen hinkenden Lahmen, dem außerdem noch ein Arm fehlte. Dieses Menschenwrack bedurfte zur Vorwärtsbewegung einer verwickelten Kombination aus Krücken und Holzbeinen, wodurch es einem wandelnden Mauergerüste glich. Oder klassisch, wie Gringoire war, dem Dreifuße des Vulkan.
Dieser grüßte im Vorübergehen, indem er seinen Hut wie ein Barbierbecken unter Peters Kinn hielt und dabei auf spanisch in sein Ohr schrie:
≫Gnädiger Herr! Etwas auf ein Stück Brot!≪
≫Schon wieder eine Sprache, die ich nicht verstehe≪, brummte Gringoire. ≫Der Mann ist glücklicher als ich, weil er dieses Kauderwelsch kennt!≪
≫Holla≪, sagte er gleich darauf, wobei er sich an die Stirne griff. ≫Das hat viel Ähnlichkeit mit dem Wort Esmeralda, dessen Bedeutung ich heute nicht verstanden habe.≪
Gerade wollte er seine Schritte verdoppeln, als erneut etwas seinen Weg versperrte. Diesmal war es ein kleiner Blinder mit einem bärtigen Judengesicht, der mit seinem Stocke rings umhertastete und dazu in ungarisch gefärbtem Latein ≫Gebt Almosen≪ raunte.
≫Gottlob≪, dachte erleichtert Gringoire, ≫da ist wenigstens einer, der eine christliche Sprache spricht! Ich muß verdammt wohlhabend aussehen, daß der Bursche von mir ein Almosen erwartet!≪
≫Freund≪, entgegnete er dem Blinden auf Latein, ≫ich habe vorige Woche mein letztes Hemd verkauft.≪
Und damit kehrte er dem Bettler den Rücken, um seinen Weg fortzusetzen.
Aber auch der Blinde begann seine Geschwindigkeit zu erhöhen, und ebenso rückten der Lahme und der Krüppel beschleunigt auf, wobei sie auf dem Pflaster ein aufdringliches Geklapper ertönen ließen. Und alle drei schrien, jeder in der früher gebrauchten Sprache:
≫Eine Gabe, Herr! Eine Gabe!≪
≫Gnädiger Herr! Etwas auf ein Stück Brot!≪
≫Gebt Almosen!≪
≫Zum Teufel auch, wird der Turm von Babel nochmals gebaut?!≪ brüllte Gringoire zurück und hielt sich dann die Ohren zu.
Und als die Bettler immer näher heranrückten, begann er zu laufen, vergeblich jedoch, denn Blinder, Lahmer und Krüppel jagten nicht minder schnell hinter ihm her. Und wie aus der Erde gewachsen, schlossen sich immer neue Ungestalten dieser Verfolgung an, immer mehr wimmelte es hinten, seitlich und vorne von mitrennenden Krüppeln, Lahmen und Blinden, von Aussätzigen und mit schwärenden Wunden Bedeckten. Aus allen Häusern und Kellertüren der langen Gasse krochen die unheimlichsten Nachtgestalten hervor, heulend, kreischend, johlend, brüllend, humpelnd und kriechend, alle dem Feuerscheine zu, wie Schnecken und Würmer nach einem Regen.
Durch diesen Haufen hindurch kämpfte sich Gringoire stetig nach vorwärts. In seiner Hilflosigkeit schien ihm das lockende Feuer der einzige Schutz vor all diesem durch den Straßenkot geschleiften Gezücht zu sein. Dabei verwickelte er sich fortwährend in das jappende Geschmeiß, und er mußte sich von dessen Umklammerung stets aufs neue losreißen wie jener englische Schiffskapitän, der in einen Haufen von Seekrabben hinein geraten war.
Und als er endlich an einen Rückzug dachte, war es dazu bereits zu spät. Das ganze Heer hatte sich hinter ihm zusammengeschlossen und steckte in der schmalen Gasse wie der Pfropfen im Flaschenhals. Es gab also nur ein Vorwärts mehr, und halb besinnungslos ließ er sich weiterdrängen, während ihn schwindelnd das eisige Furchtgefühl durchschauerte, daß er beim Stehenbleiben in dieser ekligen Menschenflut ertrinken müßte.
So erreichte er wie in einem Wüsten Traume das Ende der Straße und damit einen offenen Platz, auf dem er zahlreiche Lichter im wankenden Nachtnebel zittern sah.
Schon glaubte er hier seinen hartnäckigen Verfolgern entrinnen zu können, als das wandelnde Mauergerüst plötzlich sein ganzes Holzgestell von sich warf und mit den zwei gesundesten Armen der Welt nach ihm griff. ≫Wohin so schnell?≪ schrie der entlarvte Lahme im gewohnten Spanisch.
Und siehe da, auch der italienische Krüppel stand auf einmal auf zwei tadellosen Beinen da und stülpte seinen eisernen Bettelnapf auf Peters Kopf. Dabei sah ihm der lateinische ≫Blinde≪ mit flammenden Blicken neugierig ins Gesicht.
≫Wo bin ich?≪ fragte der Dichter entsetzt.
≫Im Wunderhofe≪, entgegnete ebenfalls französisch eine vierte Nachtfigur.
≫Im Wunderhof?≪ wiederholte Gringoire betroffen, weil ihm die Erinnerung kam, daß er bereits von dieser Freistätte der Gauner und Bettler gehört hatte, in welcher die Lahmen gehen und die Blinden sehen konnten. Dabei überkam ihn ein Galgenhumor, und er sagte: ≫Die wunderbaren Heilungen sehe ich, aber den wundertätigen Heiland nicht!≪ Ein lautes, unheimliches Gelächter quittierte diesen Witz.
Neugierig um sich blickend, gewahrte der Dichter, daß er in der Tat in eine Wundergegend geraten war, und mit erneuter herzbeklemmender Furcht kam ihm die Überzeugung, daß es keine Gegend war, in die sich ein rechtschaffener Mensch ungestraft zu dieser Stunde verirren durfte.
Er wußte nur zu wohl, daß in diesen Zauberkreis kein Diener der Gerechtigkeit, kein noch so mutiger Polizeisergeant einzudringen wagte, weil noch jeder von ihnen spurlos verschwunden war, der diesen tollkühnen Versuch unternommen hatte. Denn dies hier war der Stadtteil der Diebe, ein Schandfleck im Antlitze von Paris. Eine Kloake, in der die hochgehende Woge aller Laster schäumte, in welche abends der Auswurf der Stadt hineinströmte, um sich des Morgens peststinkend wieder herauszuwälzen. Ein Bienenstock, in dem die Drohnen der menschlichen Gesellschaft aus- und einschwirrten. Das Asyl diebischer Zigeuner, entlaufener Mönche und verkommener Studenten. Der Vereinigungsplatz des Abschaums aller Nationen und aller Konfessionen, aller Gauner, Verbrecher, Schufte, Räuber und Mörder. Mit einem Satze: die Garderobe, in der sich die Darsteller jenes ewigen Dramas kostümierten, welches Diebstahl, Raub, Mord und Prostitution auf dem Pariser Pflaster aufführten.
Der Platz selbst war groß, schlecht gepflastert und unregelmäßig gebaut, wie alle Plätze des alten Paris. An verschiedenen Stellen brannten Lagerfeuer, an denen es von abenteuerlichen Gestalten wimmelte.
Alles war in Bewegung, kam und ging; Kindergeraunze und Weibergeschwätz mengte sich mit männlichem Gelächter. Die damit verbundenen lebhaften Gesten warfen ein verzerrtes Silhouettenspiel mit ihren auf den beleuchteten Häusergrund geworfenen Schatten, was zahllose bizarre Bilder ergab.
Vor den Feuern sah man Hunde herumlaufen, die Menschen glichen, und dann wieder Menschen, die man für Hunde hätte halten können. Alle Rassen und Gattungsunterschiede waren durch eine gewisse Gemeinsamkeit verwischt und zu einem grotesken Hexensabbat vereinigt. Männer, Frauen, Alter, Geschlecht, Nation, Tiere, Krankheit, Gesundheit — alle waren sie Gemeingut, alles lief vermengt durcheinander und übereinander, jeder nahm an jedem teil.
Trotz seiner begreiflichen Erregung konnte Gringoire im schwankenden Feuerscheine rings um den Platz einen häßlichen Kranz alter Häuser ausnehmen, deren verwitterte, dem Einsturze nahe Fronten von wenigen erleuchteten Luken durchbrochen waren. Dadurch erschienen diese Halbruinen wie ungeheure massige Köpfe alter Weiber, die gleichsam zum Tratsch rings um den Platz stehend mit blinzelnden Augen in furchtbarer Laune auf den Platz blickten.
Mit angewidertem Staunen sah der Dichter auf diese ihm neue Welt kriechenden Gewürms, dessen durcheinanderwimmelnde Mißgestalten die perverseste Phantasie übertrafen.
Dabei von den drei Schuften wie mit Eisenzangen festgehalten, wurde Gringoire mit steigender Bestürzung vom Gebaren all dieser scheußlichen Fratzen betäubt, die kommend und gehend gegen ihn schäumten und schrien. Mit aller Kraft suchte er seine schwindende Geistesgegenwart zu sammeln. Krampfhaft dachte er über das gar nicht mit der Situation zusammenhängende Problem nach, ob der heutige Tag ein Samstag war, ohne mit seinen zerrissenen Gedächtnisfäden eine Antwort zu finden. Und in vager Erinnerung an gehörte philosophische Thesen legte er sich die Frage vor:
≫Wenn ich wirklich hier anwesend bin, ist auch dieses Schauspiel da Wirklichkeit? Und wenn es Wirklichkeit ist, bin ich auch wirklich hier?≪
Diese sophistische Grübelei wurde durch das Geschrei seiner Verfolger abgeschnitten.
≫Vor den König mit ihm≪, schrien sie.
Der Haufen nahm dieses Stichwort bereitwillig auf. Von allen Seiten scholl es zurück:
≫Vor den König mit ihm!≪
≫Zum König, zum König!≪
Alle wollten ihn fortziehen, jeder seine Krallen in ihn hacken. Aber die drei Bettler hielten an ihrem Beuterecht fest und entrissen ihn den Gefährten, wobei sie brüllten:
≫Er gehört uns allein!≪
Bei diesem Gezerre ging der ohnehin schon fadenscheinige Rock des Dichters in Fetzen.
Als er aber über den Platz geführt wurde, kam ihm durch die mechanische Körperbewegung der regelmäßige Blutlauf und dadurch das Gefühl der Wirklichkeit wieder. Die teils aus seiner Dichterphantasie und teils aus seinem leeren Magen herrührende Benebelung begann in dieser Atmosphäre menschlicher Niedertracht zu weichen, und sein Selbsterhaltungstrieb kämpfte die unzusammenhängenden Traumgebilde nieder, die aus Lebewesen Gespenster gemacht hatten. Hier war Wirklichkeit und Gefahr, und gegen diese galt es sich zu wehren.
Diese bestimmte und nüchterne Erkenntnis machte es ihm klar, daß er keinen Phantasmen der Hölle, sondern verbrecherischen Menschen gegenüberstand, in deren Händen sein Leben in ernstlicher Gefahr war, weil es ihm an dem einzigen bewährten Mittler zwischen Ehrlichkeit und Gaunertum, an einer gefüllten Börse, fehlte. Kaltblütig sagte er sich, daß er nicht in einen Hexensabbat sondern in ein ausgewachsenes Verbrechermilieu geraten war.
Während so Gringoire sich zu innerer Festigkeit durchrang, wurde er vor ein großes Feuer geschleppt, welches auf einer großen Steinplatte brannte und mit seinen Flammen die glühenden Stäbe eines Dreifußes beleckte. Um das Feuer waren einige beschädigte Tische von der bei Feldmessungen üblichen Art aufgestellt, wobei sich niemand darum gekümmert hatte, ob ihre Seiten aneinanderpaßten oder nicht. Auf diesen Tischen standen allerlei Humpen, Krüge oder andere Trinkgefäße, die von Bier oder Wein troffen. Und um sie herum bacchantische Gestalten, deren Galgengesichter gleicherweise vom Inhalt der Gefäße wie vom Feuer gerötet waren.
Hier saß ein ausgefressener Dickwanst, der ein wüstes Trumm von Freudenmädchen stürmisch umarmte. Dort wickelte ein angeblicher Veteran die Binden von seiner angeblichen Wunde. Daneben präparierte ein ≫Aussätziger≪ mit Ochsenblut und Schellkraut die Schwären des nächsten Tages. Ein anderer hatte sein ≫lahmes≪ Knie entschient und machte es durch Streckübungen wieder gelenkig. Ärgerlich schimpfte er dabei über einen ≫Pilger≪, der sich im richtigen frömmelnden Nasentone des Marienliedes übte. Dessen Geplärr hinderte einen jungen Gauner nicht, sich von einem alten Routinier die richtigen Bewegungen der Fallsucht lehren zu lassen. Ein anderer übte sich im Heucheln von Krämpfen und im Schlagen des dazugehörigen Mundschaumes durch richtiges Kauen an einem Stück Seife. Ein ≫Wassersüchtiger≪ machte Feierabend, indem er seine Geschwulst ablegte, wobei sich einige danebensitzende Diebsweiber die Nase zuhalten und so ihren Streit um den Besitz eines dressierten Bettelkindes einstellen mußten.
Kurz, Gringoire sah in ekelhafter Wirklichkeit all jene schauerlichen Szenen, die zweihundert Jahre nach ihm ein blasierter König als Ballett unter dem Titel ≫Die Nacht≪ auf der königlichen Bühne spielen ließ. So naturgetreu, daß der Chronist des Jahres 1653 behaupten konnte, daß niemals die plötzlichen Verwandlungen des Wunderhofes mit mehr Glück dargestellt worden seien.
Von allen Seiten hörte Peter Gelächter und unzüchtige Lieder, Fluchen und Schimpfen. Boshafte und freche Bemerkungen flogen hin und her, die Trinkbecher klangen aneinander, und streitende Zecher zerfetzten sich ihre Lumpen beim Anstoßen mit den schartigen Humpen.
Kinder und Hunde gab es in Menge. Da schrie ein frischgestohlener Knabe, dort saß ein anderes Kind altklug am Feuer und soff den Inhalt eines Kruges in sich hinein. Und mit allerhand Instrumenten machten andere Geräusche, welche sie für Musik hielten.
Inmitten dieses tausendfachen Gelärmes saß auf einem neben dem Feuer stehenden Fasse der König der Bettler. Als Gringoire vor ihn geführt wurde, trat ringsherum augenblickliche Stille ein, nur ein Knirps kratzte unentwegt mit einem Steine an einem zerbrochenen Kessel weiter.
Atemlos wagte Gringoire nicht einmal die Augen aufzuschlagen, während ihm einer der drei Bettler die Kopfbedeckung vom Haupte schlug.
≫Vor unserem Könige steht man mit bloßem Kopf≪, wurde der Gefangene grimmig belehrt.
Jetzt erst nahm der König das Wort.
≫Wer ist dieser Halunke?≪ fragte er.
Bei dieser in drohendem Tone ausgesprochenen Frage erschrak Gringoire, weil diese Stimme ihn an eine bereits heute gehörte erinnerte, die seinem Theaterstücke den ersten Stoß durch ihr näselndes Gebettel gegeben hatte. Und aufblickend sah Peter, daß es tatsächlich Clopin Trouillefou war.
Der Bettlerkönig hatte die Lumpen seines Gewerbes abgelegt und war jetzt mit den Insignien seiner Würde bekleidet. Die Armwunde war verschwunden, und in der Hand hielt er eine der Riemenpeitschen von weißem Leder, wie sie damals von den Straßenpolizisten unter dem Namen von ≫neunschwänzigen Katzen≪ zur Aufrechterhaltung der Ordnung gebraucht wurden.
Auf dem Kopfe trug der Bettlerkönig einen bereiften Fellhut, der einer Krone ähnlich war.
Als Gringoire in seinem Gegenüber die bekannte Bettlerfigur festgestellt hatte, kam ihm die ganze Situation nicht mehr so schreckhaft vor, ohne daß es für das in ihm erstehende Gefühl der Erleichterung einen andern Grund als den eines familiären Gesichts gab. ‘
Aber der scharfe Blick des Bettlerkönigs brachte ihn dennoch ins Stottern, als er seine Anrede vorbringen wollte.
≫Meister≪, begann er zuerst in festem Tone, um dann stammelnd fortzusetzen: ≫Gnädiger Herr …Sire…Wie soll ich Euch nennen?≪
≫Wie du willst, von Sire bis zum Kamerad, mir ist’s gleich≪, entgegnete der andere. ≫Die Hauptsache ist, daß du schnell sagst, was du hier suchst. Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen?≪
≫Verteidigung?≪ dachte Peter, ≫das gefällt mir nicht!≪
Und laut geriet er wieder ins Stottern, als er erwiderte: ≫Ich bin derjenige, welcher heute …≪
≫Bei des Teufels Klauen, nenne deinen Namen, du Schuft!≪ fuhr ihn der Bettlerkönig an. ≫Du stehst hier vor drei mächtigen Herrschern, mein Bursche. Zunächst vor mir, Clopin Trouillefou, dem Könige von Thunes, dem Nachfolger des großen Coesre, dem obersten Herrn von Rotwelschland. Dann vor Mathias Hunyady Spicali, dem Herzoge von Ägypten und Böhmen. Das ist der Gelbe dort mit dem Lappen um den Schädel. Und vor Wilhelm Rousseau, dem Kaiser von Galiläa, dem ausgefressenen Kerl dort, der die dicke Dirne kost. Wir drei sind deine Richter, und dein Verbrechen besteht darin, ohne Erlaubnis in unser Reich eingedrungen zu sein. Nur Spieler, Bettler, Abgehauste, Diebe, Vagabunden, kurz, die im Rotwelsch ‘Ehrliche Leute’ Genannten dürfen dies ungestraft tun. Bist du ein solcher Ehrlicher? Sprich!≪
≫Leider habe ich nicht die Ehre. Ich bin der Verfasser…≪
≫Das genügt. An den Galgen mit ihm! Ich werde euch Spießern schon Mores lehren! Wie ihr uns, so wir euch! Eure Schuld, wenn unsere Gesetze gegen euch ebenso grausam sind, wie ihr sie gegen uns erfindet. Wenn man nicht von Zeit zu Zeit eine von euren Visagen in der Hanfkrawatte sieht, verliert diese jede Ehrbarkeit. Also Kopf hoch! Schenk deine Hadern den Freudendirnen hier und gib deine Börse her für die Landstreicher, zu deren Belustigung du gehängt wirst. Sie werden auf dein Wohl trinken dafür. Wenn du deinen bürgerlichen Hokuspokus zum Abkratzen brauchst, kannst du einen hölzernen Herrgott haben, den wir vor kurzem gestohlen haben. Ich gebe dir vier Minuten Zeit, um dich mit ihm auseinanderzusetzen.≪
Bei dieser furchtbaren Ansprache gerann dem Dichter das Blut zu Eis.
≫Wohlgesprochen, meiner Treu≪, grölte der Kaiser von Galiläa und gab seiner drallen Dirne einen Zwick. Und als diese ihn zurückstieß, hieb er seinen Krug auf die Tischplatte, daß Scherben und Wein nach allen Seiten spritzten.
≫Meine gnädigsten Herren Kaiser und Könige! Ihr scheint nicht daran zu denken, daß ich Peter Gringoire bin, der Dichter des Schauspieles, welches heute im Großen Saale aufgeführt worden ist!≪
Peter sagte dies mit einer ihn selbst überraschenden Festigkeit, deren Quelle der Ärger des Poeten über Mangel an Popularität war.
≫Ah, du bist das, Meister?!≪ grinste Clopin Trouillefou. ≫Ich war auch dort, Kamerad! Ein Grund mehr, daß du abends hängst, weil du mich morgens angeödet hast!≪
≫Steht es so?≪ dachte Peter, ≫Da werde ich Mühe haben, meinen Hals aus der Schlinge zu ziehen!≪ Aber er wollte nicht untergehen, ohne alles versucht zu haben.
≫Geht nicht mit dem Hängen≪, sagte er kalt. ≫Ich als Dichter gehöre so gut unter die Landstreicher wie jeder von euch! Äsop war Vagabund, Homer Bettler, Merkur ein Dieb.≪
≫Mir scheint, du willst uns mit deinem Geschwätz das Leben sauer machen≪, entgegnete verdrießlich Clopin. ≫Mach keine Geschichten, gib Ruh und laß dich hängen wie ein Mann!≪
≫Verzeihung, gnädiger Herr König von Thunes≪, verteidigte Gringoire hartnäckig seinen Besitz, sein Leben. ≫Hört mich einen Augenblick! Es ist der Mühe wert …Nur einen Augenblick …Verdammt nicht, ohne zu hören…≪
Der Unglückliche konnte seine Worte nur stoßweise hervorschreien, um den tobenden Lärm zu übertönen, der sich ringsherum erhoben hatte. Der Junge mit dem scharfen Stein am Kessel kratzte mehr als je, alles johlte und grölte, und in nächster Nähe begann mit den Knarrtönen einer Karfreitagsratsche eine Pfanne voll Schmalz zu prasseln, welche eine alte Hexe auf den Dreifuß des Feuers gesetzt hatte.
Währenddem hielt Clopin eine kurze Beratung mit dem Kaiser von Galiläa und dem Herzog von Ägypten ab, worauf er laut verkündete:
≫Ruhe!≪
Und da zwar die Lebewesen, nicht aber die knisternde Bratpfanne seinem Befehle gehorchte, gab er dieser einen Tritt, der sie zehn Schritte weit auf den kesselkratzenden Knaben schleuderte und dieser samt seinem Kessel übereinanderkollerte.
Das Fett aber war hierbei ins Feuer gefallen und ließ eine hohe Stichflamme gen Himmel lodern, während der Bettlerkönig auf sein Faß stieg, ohne das Geschimpf der alten Hexe und das Gewimmer des versengten Knaben zu beachten.
Auf ein gebieterisches Zeichen Clopins nahmen der bereits vor Trunkenheit wankende Kaiser von Galiläa und der Herzog von Ägypten an seinen beiden Seiten Platz, während die übrigen Gauner und Gaunerinnen sich in einem Halbkreise scharten, dessen Mittelpunkt die Jammerfigur Gringoires bildete.
Es war eine Versammlung von Lumpen und Fetzen, von Gabeln und Hacken, von beflitterten und von trunkenen Gestalten, von nackten, starken Armen und von verlebten, schmutzigen und tierischen Gesichtern.
Hoch über diese Runde polizeiwidrigster Fressen ragte Clopin Trouillefou, als Doge dieses Schurkensenats, als König dieses Lumpenhofes, als Papst dieses Kollegiums der Schufte. Der Bettlerkönig überragte all dieses Gesindel nicht nur durch seinen erhöhten Standplatz und auf dem Fasse, sondern auch durch den furchtbaren Ausdruck seiner wilden Miene, deren unzweideutiges Gaunertum durch das tierische Gefunkel seiner Augen noch gehoben wurde. Wie ein Eber unter seinen Schweinen stand er da.
≫Höre≪, sagte er zu Gringoire, während er sich das mißgebildete Kinn strich. ≫Im Grunde besteht kein Hindernis dagegen, daß du gehängt wirst. Denn daß es dir zuwider ist, hat nichts zu bedeuten. Ihr Spießer seid halt an solche Dinge zu wenig gewöhnt. Daher macht ihr euch eine übertriebene Vorstellung davon. Aber wir sind dir nicht übel gesinnt. Daher will ich dir ein Mittel angeben, welches dich aus der Schlinge ziehen kann. Du mußt einer der Unsrigen werden.≪
Das war Himmelsmusik in den Ohren des armen Teufels, der sich schon verloren gesehen hatte. Wenn es weiter nichts war!
≫Gern≪, rief er, ≫gerne!≪
≫Du bist also bereit, dich unter die Genossen des kleinen Dolches aufnehmen zu lassen?≪
≫Des kleinen Dolches?! Gewiß!≪
≫Als Glied der edlen Fechtbrüderschaft?≪ examinierte der König weiter.
≫Der edlen Fechtbrüderschaft, jawohl!≪
≫Als Untertan von Rotwelschland?≪
≫Als Untertan!≪
≫Als Landstreicher?≪
≫Als Landstreicher!≪
≫Von Herzen?≪
≫Von Herzen!≪
≫Gut≪, nickte der König, ≫das ist alles recht schön, aber gehangen wirst du doch.≪
≫Den Teufel auch!≪
≫Gewiß. Nur etwas später statt heute abend und mit etwas mehr Pomp. Dazu auf Kosten der guten Stadt Paris und auf einem schöneren, steinernen Galgen, durch das Urteil ehrbarer Spießer. Vielleicht ist das für dich ein Trost!≪
≫Wie Ihr meint!≪
≫Schön. Dafür hast du als Landstreicher auch deine Vorteile. Du brauchst dich weder um Straßenreinigung noch um Armenpflege oder Beleuchtung zu scheren, wie die Bürger von Paris es tun müssen.≪
≫Famos! Also einverstanden. Ich bin Landstreicher, Gauner, Fechtbruder, kleiner Dolch. Alles was Ihr wünscht. Schließlich war ich das als Dichter schon längst, Herr König, dazu bin ich Philosoph. Omnia in Philosophia omnes in Philosopho continentur!5 ≪
Der König von Thunes runzelte die Stirn.
≫Was schwätzt du da, du Judenrotwelscher, he? Was soll das hebräische Gewäsch?! Zum Räuber braucht man nicht Jude zu sein! Ich selbst stehle nicht mehr, ich morde bloß! Ich bin ein Gurgelab-, aber kein Beutelschneider!≪
≫Verzeihung, gnädiger Herr, das war Latein und nicht Hebräisch≪, beeilte sich Gringoire zu sagen, als er wahrnahm, daß der König durch sein Zitat erzürnt war.
≫Schweig! Ich sage, daß ich kein Jude bin, und damit basta. Dich aber werde ich hängen lassen, du Judenwanst! Ebenso wie den kleinen Schächer, der da neben dir steht und den ich hoffentlich früher noch gegen einen Ladentisch genagelt sehen werde wie ein Stück falsches Geld!≪
Bei diesen Worten zeigte er mit dem Finger auf den kleinen ungarischen Juden, der einer der drei Verfolger Peters gewesen war und der ganz verblüfft dreinschaute, da er nur Latein und Ungarisch konnte und daher nicht verstand, was der König wollte.
Aber damit schien Herr Clopin seine üble Laune ausgegossen zu haben.
≫Halunke, du willst also Landstreicher sein?≪ fragte er den Dichter noch einmal.
≫Ohne Zweifel≪, bestätigte dieser.
≫Mit dem Wollen allein ist natürlich nichts getan. Der gute Wille bringt nicht ein Fettauge mehr auf die Suppe, und er genügt nur den Pfaffen, um damit ins Paradies zu kommen. Eden und Galgen sind aber zweierlei. Um in die Gefilde der Rotwelscher zu kommen, mußt du den Befähigungsnachweis liefern. Der Gliederpuppe die Tasche leeren.≪
≫Welcher Puppe und welche Tasche Ihr wollt. Mir ist das ganz egal.≪
Auf ein Zeichen Clopins eilten einige Burschen davon und brachten eiligst zwei Holzpfosten herbei, deren untere Enden mit einem Fußgestell versehen waren, auf dem das Gerüst stehen konnte. Über die beiden oberen Enden wurde ein Querschragen gekeilt, so daß nunmehr das Ganze einem netten, tragfähigen Galgen glich, der zum zweifelhaften Vergnügen Gringoires vor seinen Augen aufgebaut wurde. Nichts fehlte daran, nicht einmal der Strick, der einladend am Querschragen hin und her baumelte.
≫Was soll’s damit?≪ fragte Gringoire beunruhigt.
Aber da brachte man schon eine menschengroße Gliederpuppe daher, deren Kleid so mit Schellen besetzt war, daß bei der geringsten Berührung ein anhaltendes Geklingel entstand. Mit den an ihr angebrachten Glöckchen hätte man drei Dutzend kastilianische Maultiere reichlich aufputzen können.
Flinke Hände hängten die rotgekleidete Puppe wie eine Vogelscheuche an den Galgen, und lange noch tönten die Schellen nach, nachdem die anfangs am Galgenstricke hin und her schwingende Figur längst zur Ruhe gekommen war.
Nun wurde ein Fußschemel neben die Gliederpuppe gestellt.
≫Da steig hinauf!≪ befahl der König dem Landstreicherkandidaten.
≫Alle Wetter!≪ rief Gringoire, nachdem er gehorcht hatte. ≫Der Schemel hat ja ungleiche Beine, da breche ich mir den Hals!≪
≫Halt’s Maul!≪
Nach mehrfachem Ausbalancieren mit in der Luft herumgeflügelten Armen gelang es Peter endlich, eine Art festen Stand auf dem wackelnden Schemel zu gewinnen.
≫Jetzt den rechten Fuß um das linke Bein≪, befahl der König. ≫So, und jetzt stell dich auf die Fußspitze.≪
≫Gnädiger Herr, wollt Ihr, daß ich mir alle Glieder breche?!≪
≫Höre, Freund, du schwätzt mir zuviel! Paß lieber auf, um was es sich handelt. Sobald du auf der Fußspitze stehst, greifst du der Puppe in die Tasche und ziehst die Börse heraus, die du darin finden wirst. Hört man dabei nicht den leisesten Glockenton, so hast du ein Recht zum Landstreichertum. Dann geschieht dir weiter nichts, als daß du alle acht Tage gründlich verdroschen wirst.≪
≫Wie soll das gelingen?! Die verdammten Glocken klingen schon, wenn man sie bloß anhaucht!≪
≫Deine Sache. Klingt nur eine Schelle, so hängst du an Stelle der Puppe, und damit Schluß.≪
≫Das verstehe ich nicht!≪
≫Was verstehst du nicht? Daß du die Puppe bestehlen sollst ohne jeden Glockenlaut?≪
≫Das schon. Aber dann?≪
≫Was dann? Wenn dir dies gelingt, bist du ein Rotwelscher, und als solcher wirst du alle Woch’ einmal zur Abhärtung versohlt. Das ist doch klar?≪
≫Nein, nicht so ganz, gnädiger Herr. Wo liegt da mein Vorteil? Im einen Falle gehangen, im anderen verprügelt! Um meine Haut geht es so oder so!≪
≫Die Prügel bekommst du doch nur in deinem eigenen Interesse, damit du nicht gleich von der Polizei kaputtgemacht wirst, wenn sie dich erwischt.≪
≫Ach so, dann allerdings.≪
≫Nun aber rasch, beeile dich. Stell dich auf und lang in die Puppe hinein!≪
Dabei gab der bereits ungeduldige König seinem Fasse einen Fußstoß, der es wie eine große türkische Trommel erklingen ließ.
Inzwischen hatte sich das ganze Gesindel um das Gerüst mit der Puppe versammelt. Aus ihren erbarmungslos-neugierigen Gesichtern ersah Gringoire nur zu wohl, daß er das Schlimmste zu erwarten hatte, wenn ihm das Meisterstück mißlang.
Seine einzige Hoffnung bestand daher im glücklich-zufälligen Bestehen der ihm auferlegten Probe. Nachdem er in Gedanken ein heißes Stoßgebet an die Puppe gerichtet hatte, die wohl leichter als die Gauner zu rühren war, blickte er noch einmal ängstlich auf die vielen Schellen, deren gähnende Rachen mit den kleinen kupfernen Glockenzungen ihn an eine Ansammlung gehässiger, giftgeschwollener Vipern denken ließ.
Von der kleinsten ihrer Bewegungen sollte also sein Leben abhängen! Diese Absurdität wäre lächerlich gewesen, wenn sie nicht so bitteren Ernst bedeutet hätte.
Noch einmal versuchte er mit Trouillefou zu handeln.
≫Und wenn zufällig gerade ein Windhauch durch die Schellen fährt?≪
≫Mein Lieber, das ist deine Angelegenheit≪, entgegnete der Oberbettler kalt.
Also es mußte sein. Gringoire faßte sich ein Herz, stellte sich in der vorgeschriebenen Weise auf eine Fußspitze und streckte den Arm aus.
Aber er hatte die Puppe noch gar nidit berührt, als er auch schon auf dem wackelnden Schemel das Gleichgewicht verlor und der Länge nach zu Boden stürzte. Während er halb betäubt ein verhängnisvolles Klingeln wie aus Tausenden von Glocken hörte, pendelte die von ihm ins Schwingen gebrachte Puppe majestätisch hin und her.
≫Verdammt≪, knirschte er und fiel vor Schreck wie tot aufs Gesicht.
Und in das Geläut der vermaledeiten Puppe mengte sich das Hohngelächter der Rotwelscher zu einer Teufelssymphonie. Alle aber überdröhnte die Stimme des Bettlerkönigs, der schonungslos rief:
≫Packt ihn und hängt ihn statt der Puppe auf!≪
Flink wurde Gringoire emporgerissen, nachdem die Puppe aus der fatalen Schlinge genommen worden war. Dann mußte er wieder auf den Schemel steigen, der jetzt direkt unter dem Stricke stand. Nachdem man diesen um seinen Hals gelegt hatte, kam Clopin herbei und sagte zu ihm mit einem derben Schulterschlag:
≫Leb wohl, Alter! Dir ist nicht zu helfen, selbst wenn du die Gedärme des Papstes hättest.≪
Das Wort ≫Gnade≪ erstarb auf Peters blassen Lippen, und vergebens sah er sich hilfeflehend im Kreise um. Nur auf hohnvoll lachende Mienen fiel sein suchender Blick.
≫Etoile≪, befahl Clopin einem baumlangen Gauner, ≫steig auf den Querschragen hinauf.≪
Hurtig folgte der Bursche dem erhaltenen Befehle, und mit Entsetzen sah der aufblickende Dichter das zu ihm herabgrinsende Gefrieß.
Der König von Thunes erteilte kaltblütig seine weiteren Dispositionen:
≫Sobald ich in die Hände klatsche, wirfst du, Abry Le Rouge, den Schemel mit einem Fußtritt um, du, Chante Prune, hängst dich an die Beine des Gehängten, und du, Etoile, springst von oben auf seine Schultern herab.≪
Mit Schaudern hörte Gringoire dies an.
≫Seid ihr soweit?≪ fragte Clopin die drei Gauner.
Mit fürchterlicher Spannung wartete das arme Opfer auf das verhängnisvolle Signal, während Clopin ganz gleichgültig mit dem Fuß ein zu weit herausliegendes Holzscheit ins Feuer stieß.
≫Seid ihr bereit?≪ wiederholte er und schickte sich an, in die Hand zu klatschen.
Nur der Bruchteil einer Sekunde noch, und um das unglückliche Opfer war es geschehen.
Aber, in einem plötzlichen Einfalle, hielt der Bettler die bereits erhobenen Hände still. ‘
≫Ich vergaß! Das alte Galgenrecht!≪
Gringoire atmete tief auf. Wo Zögerung, da war Hoffnung. Fragend blickte er den Bettlerkönig an.
Dieser nickte ihm zu:
≫Ja, das Galgenrecht. Ihr Spießer kennt es manchmal auch. Wenn eine von den Frauen hier dich zum Manne will, ist dir der Galgen geschenkt.≪
Gringoire fühlte sich wie neugeboren. Aber trotzdem wagte er noch nicht, an ein glückliches Ende zu denken. ≫Holla≪, rief indes Clopin, der sein Faß wieder bestiegen hatte. ≫Achtung! Weiber, hört zu! Welche von euch, Hexe oder Katze, will diesen Halunken zum Manne? Her mit ihr!≪
Die Rotwelscherinnen schienen von diesem Vorschlage nicht sehr erbaut zu sein. In seiner benommenen Haltung machte der arme Dichter allerdings eine jämmerliche Figur und entsprach dadurch wenig dem brutalen Mannesideale dieser Weiblichkeit.
≫Hängt ihn lieber auf! Das ist mehr Spaß!≪ wurden mehrere Weiberstimmen laut.
Aber schließlich fanden sich doch drei, die zögernd aus der Weiberschar hervortraten und zu näherer Besichtigung des eventuellen Zukünftigen herankamen.
Die erste war ein vierschrötiges Weibsstück mit breiter, gemeiner Fresse. Zunächst befühlte sie aufmerksam die ganz noch an Peters Leib verbliebenen Reste seines abgenützten Rockes, wobei sie ihr Gesicht verzog.
≫Alter Hader≪, brummte sie verächtlich. ≫Laß deinen Mantel sehen!≪
≫Den habe ich verloren.≪
≫Also deinen Hut!≪
≫Den hat man mir vom Kopf geschlagen.≪
≫Soso? Und wie sind deine Schuhe?≪
≫Die Sohlen sind durch.≪
≫Und deine Börse?≪
≫Da ist leider nichts drin.≪
≫Dann laß dich nur hängen, mein Schatz≪, grinste das Unweib und drehte ihm den Rücken zu.
So stand der arme Dichter immer noch mit der furchtbaren Schlinge um den Hals wie auf glühenden Rosten, nachdem die erste Hoffnung gegangen war. Aber schon humpelte die nächste heran. Die aber war so abscheulich, daß Gringoire nur alle Heiligen anflehen konnte, sie möchte ebenfalls vorübergehen. Denn weniger schrecklich erschien ihm der Tod, als die jetzt herantretende Megäre, die selbst auf dem Wunderhofe durch ihre widerliche Dreckigkeit und Abscheulichkeit auffiel. Es war eine uralte, runzlige, gebückte Weibsperson, die ihn zunächst unter fortwährendem Gemummel ihrer zahnlosen Kiefer von allen Seiten beschnüffelte und dann mit einem ≫zu mager≪ brummend wieder abzog. Mit einem Seufzer der Erleichterung sah Gringoire sie gehen.
Die dritte und letzte Hoffnung war ein junges Mädchen, nicht uneben und noch ziemlich frisch. Auch schien sie sich noch etwas Gemüt bewahrt zu haben, denn sie blickte Peter mitleidig an, als er ihr flehend seine Bitte um Rettung zuflüsterte.
Mit niedergeschlagenen Augen stand sie unentschlossen da, und voll atemloser Spannung verfolgte Gringoire jede ihrer Bewegungen.
Eine Zeitlang kämpfte sie sichtlich mit sich, aber dann sagte sie doch: ≫Nein, verzeiht, ich kann es nicht. Langwange Wilhelm schlägt mich tot, wenn er es erfährt.≪
Und sie wandte sich ab, um unter der Menge unterzutauchen.
≫Kamerad, du hast Pech≪, stellte Clopin fest. ≫Holla! Achtung! Meldet sich keine mehr? Niemand? Zum ersten… Zum zweiten… Zum…≪
≫Esmeralda! Esmeralda!≪ ertönte es da aus der Menge, die eine Gasse frei ließ, aus der wie eine Lichterscheinung die Tänzerin mit der Ziege trat.
≫Esmeralda≪, wiederholte Gringoire benommen. ≫Schon wieder dieses zauberhafte, unerklärliche Wort!≪
Esmeralda, die Tänzerin, schien durch ihre Anmut und Schönheit eine ganz besondere Stellung im Wunderhofe einzunehmen, denn alle machten ihr achtungsvoll Platz, während sich die tierischsten Visagen erheiterten.
Mit schnellen, schwebenden Schritten trat sie an den Dichter heran, Während die niedliche Ziege in lustigen, kurzen Sprüngen folgte.
Einige Augenblicke lang ließ sie schweigend ihre Blicke zwischen Peter und Clopin hin und her gehen. Dann wandte sie sich dem Bettlerkönig zu:
≫Ihr wollt diesen Mann hängen?≪
≫Ja, Schwester, außer du nimmst ihn zum Mann.≪
Sie zog das Gringoire bereits wohlbekannte schiefe, schnippische Gesicht.
≫Gut, ich nehme ihn≪, sagte sie dann.
Peter glaubte zu träumen, als er diese unfaßbare Heilsbotschaft vernahm. Ihn äffte wohl nur ein rasch wieder zerrinnender Traum?!
Aber die Rotwelscher machten sogleich Ernst.
Im Nu war die Schlinge von seinem Halse gelöst, hilfreiche Hände hoben ihn vom Schemel herab, und alles schien auf einmal gut Freund mit ihm zu sein.
Gringoire mußte sich direkt auf den verhängnisvollen Schemel niedersetzen, da von der übergroßen Bewegung die einknickenden Knie unter ihm nachgaben.
Da kam langsam und würdevoll der Herzog von Ägypten auf ihn zu. Wortlos reichte er ihm einen irdenen Krug, den Peter verständnislos betrachtete.
Esmeralda half ihm aus.
≫Werft den Krug zu Boden≪, forderte Sie ihn auf.
Gringoire beeilte sich, ihr zu gehorchen, und niederschmetternd schlug er den Krug in vier auseinanderspringende Stücke.
≫Bruder≪, sagte feierlich der Herzog der Zigeuner und legte ihnen beide Hände aufs Haupt, ≫Bruder, sie ist dein Weib, Schwester, er ist dein Mann. Auf vier Jahre. Geht!≪
Eine sonderbare Hochzeitsnacht
Seit der merkwürdigen Zeremonie waren nur wenige Minuten verstrichen, als sich Peter Gringoire in einem kleinen, gotisch gewölbten Zimmer sah, welches gut geheizt und wohlverschlossen war.
Mit sich und aller Welt zufrieden, sah er den dreifachen Genuß eines Abendessens, eines warmen Bettes und eines schönen Mädchens vor sich. Bei dieser zauberhaften Wendung des nächtlichen Abenteuers begann er allen Ernstes die reizende Tänzerin für die gute Fee aus dem Märchen zu halten. Und er war in dieser Vorstellung befangen, als er von Zeit zu Zeit seine Blicke um sich warf, um den von zwei Drachen gezogenen Flammenwagen noch sehen zu können, der ihn in dieses Paradies gebracht haben mußte.
Dabei blickte er auch unwillkürlich auf sich hinab, aber statt des glänzenden Prinzenkleides bot sich nur der zerfetzte, schlechte Rock seinen ernüchterten Augen. Dies bewahrte ihn davor, den Boden der Wirklichkeit unter den Füßen zu verlieren. An diesem Faden der Tatsachen fand sein in die Traumwelt irrender Verstand wieder einen Halt.
Das junge Mädchen dagegen schien wenig auf ihn achtzuhaben. Hin- und widergehend, rückte sie einige der bescheidenen, aber sauberen Einrichtungsgegenstände zurecht, wobei sie mit ihrer Ziege plauderte und ab und zu ihr schiefes Mäulchen zog.
Ganz in ihre Betrachtung versunken, sah Gringoire Bilder aus glücklicher, sorgloser Kinderzeit vor seinem geistigen Auge vorüberziehen. Von Staude zu Stande flatterten an einem hellen Sommertage schöne blaue und grüne Libellen die Ufer eines munter plätschernden Baches entlang. Im Zickzack umschwirrten sie die Spitzen der Zweige, bevor sie dieselben berührten. Summende Gaukler voll reizvoller Anmut, deren purpur- und azurfarbene zarte Flügel mit unfaßbarer Schnelligkeit die schlanken Leiber vorwärtsbewegten. Unfaßbar, unsichtbar, nur erträumt schien das luftige Wesen, das undeutlich im Schwirren der Fittiche hervorblitzte. Mit verhaltenem Atem sah er eine Libelle schließlich auf die Spitze eines Riedhalmes niederschweben und zur Ruhe die langen Gazeflügel an den gestreckten Emailleib legen, der allen zwei Kristallkugeln gleich Erstaunen und Furcht ob der anscheinenden Zerbrechlichkeit erregte.
Noch glaubte Gringoire dieses Bild zu sehen, als er auf Esmeralda blickte, die er bisher nur im Taumel des Tanzes, im Strudel des Straßenlärms gesehen hatte.
Das also war Esmeralda, das Zauberwort! Ein Geschöpf aus Himmelshöhen! Und nur eine Straßentänzerin?! ‘
So viel und so wenig in einer Person!
Heute nachmittag noch hatte sie durch ihr Erscheinen, wenn auch unbewußt, seinem Schauspiele den Todesstoß versetzt. Abends aber sein Leben gerettet!
War sie sein guter oder sein böser Genius?
So oder so, ein reizendes Weib jedenfalls!
Mußte sie nicht närrisch in ihn verliebt sein, um ihn unter dem Galgen weg zu freien?
Wie immer auch, jetzt war er ihr Mann.
Mit diesem Gedanken im Kopfe erwachte er endgültig aus seinen phantastischen Träumen. Sein Blut begann zu sprechen, und er näherte sich der Tänzerin in so eindeutiger Liebhaberweise, daß sie erschreckt vor ihm zurückwich.
≫Was wollt Ihr?≪ fragte sie.
≫Könnt Ihr noch fragen, schöne, anbetungswürdige Esmeralda?!≪
Sein Ton war so leidenschaftlich, daß sie ihn ganz erstaunt anstarrte.
≫Ich verstehe Euch nicht≪, sagte sie, ihn mit ihren großen Augen durchbohrend.
Aber Gringoire glaubte nicht an eine Verbindung von Unschuld und Wunderhof. Seine Antwort fiel daher ebenso barsch wie feurig aus.
≫Ach was!≪ sagte er nur und griff dreist um ihren Leib. Aber mit einem einzigen Satze befand sie sich bereits in der entgegengesetzten Zimmerecke, nachdem ihr Leibchen aalglatt seinen Händen entronnen war. Rasch, bückte sie sich, um unter ihren Rock zu fahren, und schon im nächsten Augenblicke stand sie wieder hochaufgerichtet mit einem kleinen, blitzenden Dolch in der Hand da. Stolz und gereizt blähten sich ihre rassigen Nüstern. Herausfordernd blitzte sie den Angreifer mit funkelnden Augensternen an.
Auch die kleine Ziege schien die Situation erfaßt zu haben. Sturmbereit stellte sie sich mit gesenktem Gehörn wie schützend vor der Herrin auf.
Sprachlos, blöden Blickes stierte der enttäuschte Philosoph auf dieses unerwartete Bild. Das war keine Libelle mehr, das war eine Wespe! Erst langsam gewann er die Sprache wieder: ≫Heiliger Moses, Ihr seid mir zwei!≪
≫Und Ihr ein frecher Narr≪, tönte es zurück.
Da mußte Peter lächeln.
≫Verzeiht, gutes Mädchen. Aber warum habt Ihr mich denn eigentlich zum Manne genommen?≪
≫Sollte ich zusehen, wie Ihr gehängt wurdet?≪
≫Ach, so≪, sagte der wie mit kaltem Wasser übergossene Dichter, ≫ach so! Aus Mitleid bloß Ihr habt also nur an den Galgen gedacht, als Ihr mich nahmt?≪
≫Das gebt Ihr gut! An was sonst hätte ich in einem solchen Augenblicke denken sollen?!≪
Beschämt, ernüchtert biß sich Peter auf die Lippen.
≫Ihr habt recht≪, sagte er nach einer Weile. ≫Ich sehe schon, daß der Krug ganz zwecklos zerbrochen worden ist.≪
Der Dolch Esmeraldas und die goldenen Hörner der Ziege aber gaben ihre Abwehrstellung noch nicht auf.
≫Kommt≪, sagte daher Gringoire in ruhigem Alltagstone, ≫kommt wir wollen uns vertragen. Ich bin kein Gerichtsschreiber und will daher kein Wesen davon machen, daß Ihr allen Ordonnanzen des Herrn Oberrichters zum Trotz einen Dolch bei Euch führt. Ihr wißt wohl auch, daß eine Mindeststrafe von zehn Pariser Sols darauf steht. Aber das geht mich glücklicherweise nichts an. Kommt, ich schwöre Euch bei meinem Anteil am Paradiese, daß ich Euch ohne Eure Erlaubnis nicht mehr nahetreten will. Seid friedfertig und gebt mir etwas zum Essen. Mein leerer Magen kracht schon laut genug!≪
Gringoire war im Grunde eine wenig sinnliche Natur, auch fehlte ihm jene ritterliche, soldatische Art, die im Sturme Mädchenherzen zu erobern weiß. Er war im Gegenteil in Sachen der Liebe einer von jenen, die alles durch geduldiges Abwarten erhoffen und die den goldenen Mittelweg lieben. Ein gutes Abendbrot in liebenswürdiger Gesellschaft, zumal, wenn er, so wie jetzt, hungrig war, erschien ihm als treffliche Pause zwischen Prolog und Handlung eines Liebesstücks.
Die Tänzerin gab ihm keine Antwort, sie verzog bloß spöttisch den Mund, worauf sie herauslachend den Dolch wieder versorgte, der so rasch wie der Stachel einer Biene verschwand, ohne daß Gringoire feststellen konnte, wie dies eigentlich geschah.
Dann brachte sie ein Roggenbrot, eine Speckseite, einige verschrumpelte Äpfel und einen Krug Bier herbei. Eine hochwillkommene Gabe, über die der ausgehungerte Dichter sogleich gierig herfiel. Seine ganze Liebe schien sich in unersättlichen Appetit verwandelt zu haben.
Schweigend sah ihm die Tänzerin zu, nachdem sie ihm gegenüber an dem Tischlein Platz genommen hatte. Ihre Hand kraute dabei den Kopf der Ziege, die sich an die Falten ihres Rockes schmiegte.
Eine flackernde, gelbe Wachskerze beleuchtete dieses Stilleben männlichen Heißhungers und mädchenhafter Träumerei.
Sobald Gringoire das Knurren seines Magens befriedigt hatte, empfand er einige Scham darüber, daß nur ein einzelner schäbiger Apfel übriggeblieben war.
≫Eßt Ihr nicht, Jungfrau?≪ fragte er etwas spät.
Sie nickte ihm bloß geistesabwesend zu, während ihr träumerischer Blick an der Wölbung der Zelle hängenblieb.
≫Womit, zum Teufel, sie sich so beschäftigen mag≪, dachte satt zurückgelehnt der Philosoph. ≫Sicherlich ist es nicht die da oben in der Wölbung ausgehauene Steinfratze, die so intensiv ihre Gedanken beschäftigt.≪
≫Jungfer≪, sagte er dann laut.
Sie schien ihn gar nicht gehört zu haben.
≫Jungfer Esmeralda≪, rief er daher doppelt so laut.
Vergebliche Mühe.
Der Geist des Mädchens war nicht anwesend, und Peters Stimme hatte nicht die Macht, ihn herbeizurufen.
Da legte sich die Ziege ins Mittel, indem sie die Herrin sanft am Ärmel zupfte.
≫Was gibt’s, Djali?≪ fragte die Tänzerin erwachend.
≫Hunger hat sie≪, verdolmetschte Peter, erfreut, die Unterhaltung beginnen zu können.
Da holte Esmeralda etwas Brot, welches sie in Brocken der Ziege reichte, die ihr zierlich aus der hohlen Hand fraß.
Gringoire benützte diese Unterbrechung und suchte zu verhindern, daß sein schönes Gegenüber noch einmal in Träumereien versank.
≫Ihr wollt mich also nicht als Mann?≪
≫Nein≪, entgegnete das junge Mädchen entschieden.
≫Und als Liebhaber?≪
Die Antwort war ein deutliches Verziehen des Gesichts.
≫Aber als Freund doch?≪
≫Vielleicht≪, sagte sie nach einigem Bedenken.
Dieses für den Philosophen so wertvolle ≫Vielleicht≪ ermutigte Gringoire wieder einigermaßen.
≫Wißt Ihr, was Freundschaft ist?≪ fragte er.
≫Gewiß, wie Bruder und Schwester sein; zwei Seelen haben, die einander ohne gegenseitige Verwirrung berühren; zwei Finger an einer Hand sein.≪ ‘
≫Und was versteht Ihr unter Liebe?≪ setzte Gringoire das Examen fort.
≫Ach, die Liebe≪, sagte sie mit zitternder Stimme und mit glänzenden Augen, ≫Liebe heißt zwei in einem, dabei aber doch nur eins sein. Mann und Weib zu einem Engel vereinigt. So wie im Himmel!≪
Während die Tänzerin derart den Begriff der Liebe definierte, war sie von einer ergreifenden Schönheit, die im vollen Einklange mit der orientalischen Glut ihrer Sprache stand. Auf ihren halbgeöffneten Rosenlippen schwebte ein keusches Lächeln, welches wundersam zu dem auf ihre reine Stirne gelagerten heiteren Ernste paßte. Wie ein den Spiegel überfliegender Hauch war es zu sehen. Und von ihren gesenkten langen, schwarzen Wimpern erstrahlte ein eigenartiger Schimmer, der ihrem Antlitze jene ideale Anmut verlieh, die Raffaels göttlicher Pinsel als das geheimnisvolle Zeichen von vereinter Jungfräulichkeit, Mutterschaft und Göttlichkeit seinen Marien aufzuprägen verstand.
Aber Gringoire wurde dadurch in seinem Werben noch immer nicht entmutigt! ≫Wie muß man beschaffen sein, um Euch zu gefallen?≪ hub er wieder an.
≫Man muß ein Mann sein.≪
≫Was bin dann ich?≪
≫Ein Mann trägt einen Helm und goldene Sporen, er hat den blanken Degen in der Faust.≪
≫Gut. Ohne Pferd kein Mann! Ich verstehe. Ihr habt also bereits an jemandem Gefallen gefunden?≪
≫Gefallen und Liebe!≪
≫Liebe?≪
Diese Gegenfrage machte sie nachdenklich, aber schon nach kurzer Zeit hob sie wieder den Kopf und sagte:
≫Ich werde bald erfahren, ob es Liebe ist.≪
≫Warum wollt Ihr dies nicht heute nacht feststellen? Zusammen mit mir≪, entgegnete der Dichter zärtlich.
Sie maß ihn mit einem rätselhaft abwägenden Blick.
≫Ich werde nur einen Mann lieben, der mich beschützen kann.≪
Da verstand Gringoire endlich. Er errötete und ließ es sich gesagt sein.
Selbst der unempfindlichste Dickhäuter hätte ja verstehen müssen, daß er keinen Erfolg bei einem Mädchen haben konnte, welches Gewicht auf starkes Mannestum legte. Bei dem also von Haus aus eine so klägliche Jammerfigur verspielt haben mußte, wie sie Gringoire unter dem Galgen dargestellt hatte.
Aber da erinnerte er sich auch, daß er an diesem Abende nicht nur von ihr gerettet worden war, sondern auch seinerseits vorher sie zu retten versucht hatte.
≫Ganz recht, Jungfer≪, sagte er daher. ≫Damit hätte ich anfangen sollen. Verzeiht meine Zerstreutheit. Wie habt Ihr’s angestellt, doch noch den Pranken Quasimodos zu entrinnen?≪
Bei dieser Erinnerung erbebte die Tänzerin.
≫Oh, dieses Scheusal!≪ rief sie in klagendem Tone, indem sie ihr Haupt verbarg.
Ein Frostschauer schien ihren Leib zu durchschütteln.
≫In der Tat, ein entsetzlicher Kerl!≪ sagte Gringoire, der nicht von dem begonnenen Gedankengange lassen wollte. ≫Wie seid Ihr entkommen?≪
Da lächelte das Mädchen, seufzte und schwieg.
≫Wißt Ihr, warum er Euch verfolgte?≪ fragte Gringoire, der auf diesem Wege das Mädchen an seine eigene Verfolgung und Intervention erinnern wollte.
≫Nein.≪ Aber dann setzte sie schnell hinzu: ≫Und Ihr? Warum verfolgtet Ihr mich?≪
≫Offen gestanden: Das weiß ich selbst nicht.≪
Da die Tänzerin nicht weiterfragte und Gringoire nicht sich selbst rühmen wollte, wenn sie nicht zuerst damit begann, entstand eine Pause, welche der Dichter dadurch ausfüllte, daß er mit dem Messer auf der Tischplatte schabte.
Esmeralda aber schien mit ihrem Geiste nicht im Raume zu weilen, sondern durch die Wände hindurch in weite Fernen zu schauen.
Lächelnd summte sie dazu ein spanisches Lied:
≫Wenn die bunten Vögel schweigen, liegt öd und tot die ganze Welt …≪
Abbrechend begann sie ihre Ziege zu liebkosen.
≫Ein nettes Tierchen≪, nahm Peter den Faden wieder auf.
≫Meine Schwester.≪
≫Warum nennt man Euch Esmeralda?≪
≫Ich weiß es nicht.≪
≫Das heißt, Ihr wollt es mir nicht sagen!≪
Daraufhin zog sie aus ihrem Busen ein kleines längliches Säckchen hervor, das auf einer Schnur von rosenkranzartig aufgefädelten Adrezarachkörnern hing. Ein starker Kampfergeruch entströmte dem grünseidenen Säckchen, auf dessen Mitte eine große grüne Glasperle aufgenäht war, die Ähnlichkeit mit einem Smaragd hatte.
≫Vielleicht nennt man mich Esmeralda nach dem spanischen Namen dieses Steins≪, meinte sie sinnend.
Neugierig wollte Gringoire nach dem Säckchen greifen, um es näher zu untersuchen. Sie aber wich sehen vor ihm zurück.
≫Nicht anrühren!≪ rief sie. ≫Das ist mein Amulett. Ihr würdet entweder dem Zauber desselben schaden oder aber sein Zauber Euch!≪
Das erregte natürlich nur noch mehr die Wißbegier des Dichters.
≫Wer hat es Euch gegeben?≪ fragte er.
Zur Antwort machte sie mit auf die Lippen gelegtem Finger das Zeichen des Schweigens, während ihre andere Hand das Säckchen wieder im Busen barg.
≫Also Esmeralda ist spanisch?≪ fragte Gringoire nach einer Weile.
≫So glaube ich. Aber es kann auch ägyptisch sein.≪
≫Das scheint mir eher wahrscheinlich≪, entgegnete Peter, der von keiner der beiden Sprachen eine Ahnung hatte.
≫Ich weiß es nicht≪, entgegnete sie bloß.
≫Aber ich. Ihr seid also nicht Französin?≪
≫Auch das weiß ich nicht.≪
≫Leben Eure Eltern?≪
Da begann sie das alte Volkslied zu singen:
≫Meine Eltern sind Vöglein, und ich ziehe ohne Kahn noch Schiff über die Wasser hin. Denn mein Vater ist ein Vöglein und meine Mutter auch.≪
≫Schön, also Vöglein≪, stellte Gringoire fest. ≫In welchem Alter seid Ihr in Frankreich eingeflogen?≪
≫Als ich noch ganz klein war.≪
≫Und in Paris?≪
≫Im vergangenen Jahr. Als wir durch das Papsttor einzogen, flog gerade der Weidenzweig fort. Das war im August. Da sagte ich mir, daß es ein harter Winter werden würde.≪
≫Das ist er auch. Schon seit dem Herbst hauche ich mir die Finger an. Habt Ihr die Gabe, in die Zukunft zu sehen?≪
≫Nein≪, entgegnete sie kurz.
≫Der Herzog von Ägypten ist Euer Stammesoberhaupt?≪
≫Ja.≪
≫Der, der uns verheiratet hat?≪
Da zog sie ihr Mäulchen und lächelte dazu mit leichtem Spott.
≫Heirat?≪ dehnte sie dann. ≫Nicht einmal Euren Namen habe ich bis jetzt gehört.≪
≫Ach so! Peter Gringoire.≪
≫Da kenne ich einen Namen, der viel schöner ist.≪
≫Ihr böses Ding≪, ärgerte sich der verletzte Dichter. ≫Aber hört, vielleicht gewinnt Ihr mich lieb, wenn Ihr meine Geschichte kennt! Ich will sie Euch erzählen, schon um mich für die ausführliche, offenherzige Darstellung Eures Lebenslaufes zu revanchieren. Mein Vater war Pächter der Gerichtsschreiberei von Genosse, bevor er von den Burgundern gehängt wurde. Meiner Mutter wurde vor zwanzig Jahren bei der Belagerung von Paris von den Picarden der Leib aufgeschlitzt. Damals war ich sechs Jahre alt, wie ich als Waise auf das Straßenpflaster flog und nicht einmal eine Sohle unter den Füßen hatte. Wie ich bis zum sechzehnten Jahre gelebt habe, ist mir noch immer rätselhaft. Ein Dach über dem Kopfe hatte ich nur dann, wenn ich von der Nachtwache aufgegriffen und ins Gefängnis gesteckt wurde. Meine Nahrung bestand aus den Abfällen der Bäcker und Obsthändlerinnen, die mir von ihnen mitleidig zugeworfen wurden. Trotzdem wuchs ich gesund heran und wurde so groß und schlank, wie Ihr mich jetzt seht. Mit sechzehn Jahren ging ich unter die Soldaten, denen aber war ich nicht kriegerisch genug. Dann versuchte ich es bei den Mönchen, aber diese fanden, daß ich zuwenig stark im Glauben und im Saufen war. So kam ich in die Lehre eines Zimmermannes, der aber warf mich bald hinaus, weil ich nicht die Kraft zum Schwingen der großen Äxte hatte. Meine Neigung ging dahin, den Schulmeister zu spielen, aber leider fehlte mir das Wichtigste dazu, da ich weder lesen noch schreiben konnte. So merkte ich, daß mir zu allem Vernünftigen Neigung und Anlage mangelten, weshalb ich hinging und Dichter und Komponist wurde. Dieser Stand empfiehlt sich für jeden Landstreicher, weil er immer noch besser als Stehlen ist. Auch fand ich im neuen Berufe bald mein Glück. Ich wurde mit Dom Claude Frollo, dem Archidiakon von Notre-Dame, bekannt, der großen Gefallen an mir fand und mir das Wissen der Lateinschulen beibrachte. Auf diese Weise konnte ich der Autor des Schauspiels werden, das heute mit glänzendem Erfolge vor einem zahlreichen Auditorium im Großen Saale des Justizpalastes aufgeführt worden ist. Außerdem habe ich ein sechshundert Seiten starkes Buch über den wunderbaren Kometen des Jahres 1465 geschrieben, der dadurch bemerkenswert war, daß ein Mann über seinen Anblick verrückt geworden ist. Von meinen sonstigen Leistungen wäre zu erwähnen, daß ich während meiner Dienstzeit bei der Artillerie an der großen Feldschlange des Meisters Mangue mitgearbeitet habe, nämlich an den Zimmermannsarbeiten der Lafette. Diese Bombarde ist übrigens bei der ersten Schießprobe an der Charentonbrücke aus dem Leim gegangen, wobei zwei Dutzend Zuschauer erschlagen worden sind. Also ein tatsächlich formidables Geschütz. Aus all dem seht Ihr leicht, daß ich als Ehemann keineswegs eine schlechte Partie bin. Zudem sind mir manche Kunststücke bekannt. So werde ich Eure Ziege lehren, den Bischof von Paris nachzuäffen, diesen vermaledeiten Pharisäer, dessen verdammte Mühlen alle Passanten der Müllerbrücke bespritzen. An Geld wird es mir demnächst auch nicht fehlen, das heißt, wenn man mir mein heutiges Stück bezahlt. Kurz, ich stehe Euch mit allem, was ich bin und habe, zu Diensten, mit meiner Wissenschaft, meiner Gelehrsamkeit, meinem Geist. Ich bin bereit, Euch zu Gefallen zu leben: keusch oder frei, als Mann und Frau, als Bruder und Schwester. Ihr braucht es Euch nur auszusuchen, wie es Euch besser paßt.≪
Innehaltend, beobachtete Gringoire die Wirkung, welche seine Lebensbeschreibung auf die junge Tänzerin gemacht haben mochte, die mit zu Boden gesenkten Blicken dasaß.
≫Phöbus≪, sagte sie endlich leise. ≫Was bedeutet das Wort Phöbus?≪
Gringoire starrte sie verdutzt an. Er konnte nicht begreifen, was dieses Wort mit seiner Erzählung zu tun haben konnte.
Aber er war nicht böse darüber, daß ihm Gelegenheit geboten wurde, sein Licht leuchten zu lassen.
≫Phöbus ist die lateinische Bezeichnung der Sonne≪, belehrte er die Tänzerin.
≫Sonne≪, wiederholte sie.
≫Allegorisch natürlich. Eigentlich ist es der Name eines schönen, göttlichen Bogenschützen.≪
≫Bogenschütze! Gott!≪ wiederholte sie begeistert.
Da klirrte einer ihrer kupfernen Armreifen zu Boden, und Peter bückte sich eifrig, um ihn aufzuheben.
Aber als er sich wieder aufrichtete, war er in der kleinen Kammer allein.
Tänzerin und Ziege waren verschwunden, und nur das Knirschen eines Riegels an einer kleinen Türe war zu vernehmen, die anscheinend in eine nebenan liegende Kammer führte.
≫Hoffentlich ist wenigstens ein Nachtlager zurückgeblieben≪, meinte resigniert der Philosoph.
Aber trotz allen Suchens konnte er in der kleinen Zelle nichts entdecken, was Ähnlichkeit mit einem Bette gehabt hätte. Nur eine längliche Truhe fand sich vor, deren bildgeschnitzten Deckel er abhob, um sich in ihr, so gut es ging, zur Ruhe zu betten.
≫Eine schöne Hochzeitsnacht≪, murrte er. ≫Und dabei hat sie so schön natürlich und vielversprechend mit dem Zerbrechen eines Kruges begonnen!≪
Teil III
3
Gute Herzen
Sechzehn Jahre vor Beginn unserer Erzählung war an einem schönen Morgen des Sonntags Quasimodo, nach der Messe, in der Notre-Dame-Kirche ein lebendes Wesen auf dem Bettgestelle niedergelegt werden, welches sich im Vorhofe zwischen dem großen Bildnisse des heiligen Christoph und der knienden Steinfigur des Ritters des Essens befand. Dieses Bettgestell wurde dem Brauche gemäß zum Niederlegen von Findelkindern benützt, die man dadurch der öffentlichen Wohltätigkeit überließ, an die außerdem durch ein daneben angebrachtes kupfernes Almosenbecken eine ständige Mahnung gerichtet war.
Das an diesem Sonntage Quasimodo im Jahre des Heils 1467 ausgesetzte Lebewesen erregte in hohem Grade die Neugier der sich um das Bettgestell versammelnden Menge, in der das schöne Geschlecht durch seine Abwesenheit glänzte, da sie fast nur aus alten Weibern bestand. In der ersten Reihe drängten sich vier graue Kuttenträgerinnen heran, deren Namen der Nachwelt nicht vorenthalten werden sollen. Es waren dies Agnes La Henne, Johanna de la Tarme, Henriette La Gaultière und Gauchére La Violette. Vier ebenso verschwiegene wie achtbare Bürgerinnen, die als Halbreligiöse von ihrer Oberin, gemäß den Regeln Peter d’Aillys, die Erlaubnis zum Verlassen ihres Stifts behufs Anhörens der Messe erhalten hatten.
Zwar befolgten sie mit ihrer Anwesenheit die erwähnten Regeln, übertraten aber nun die Michaels von Brache und des Kardinals von Pisa, indem sie dem Zuge ihres weiblichen Herzens nachgaben und das ihnen auferlegte grausame Schweigen brachen.
≫Was in aller Welt mag das sein?≪’ fragte Agnes, während sie das kleine ausgesetzte Geschöpf betrachtete, das, vor so vielen Blicken entsetzt, aufkreischte und sich auf dem Gestell krümmte und wand.
≫Wenn lauter solche Mißgeburten zur Welt kommen, muß das Menschengeschlecht unbedingt untergehen≪, meinte die kritische Johanna.
≫Ich verstehe nichts von Kindern, aber es scheint schon eine Sünde, dieses da nur anzusehen!≪
≫Das ist kein Kind!≪
≫Was denn sonst?≪
≫Ein kleiner Affe!≪
≫Nein, ein Wunder!≪
≫Dann ist es das dritte seit Lätare≪, entschied Agnes das Wortgestreit. ≫Denn vor kaum einer Woche haben wir das Wunder mit dem Spötter über die Pilger erlebt, den durch unsere Liebe Frau die göttliche Strafe ereilte. Und das war schon das zweite Wunder in diesem Monate.≪
≫Das da ist kein Wunder!≪
≫Sondern ein abscheuliches Ungetüm!≪
≫Ein feines Findelkind!≪
≫Sein Gebrüll kann einen Kantor taub machen!≪
≫Schweig still, kleiner Schreihals!≪
≫Dieses Ungetüm hat sicher der hochwürdige Bischof von Reims geschickt!≪
≫Um Seiner Ehrwürden, dem Bischofe von Paris, einen Schabernack anzutun!≪
≫Ein Vieh!≪
≫Ein tierisches Geschöpf!≪
≫Wer, der Bischof von Reims?≪
≫Aber! Das kleine Scheusal da, natürlich!≪
≫Na ja! Wahrscheinlich von einem Juden mit einer Sau gezeugt!≪
≫Kein Christengeschöpf!≪
≫Ins Wasser damit!≪
≫Nein, ins Feuer! Sicher ist sicher!≪
≫Hoffentlich übernimmt niemand dieses Geschöpf?≪
≫O weh, dann müssen es die armen Ammen am Flusse nehmen.≪
≫Wehe ihnen, wenn sie diesen Vampir an die Brust bekommen!≪
≫Du bist wirklich gut! Siehst du denn nicht, daß das Monstrum schon mindestens seine vier Jahre hat? Das fragt eher nach einem Bratspieß als nach einer Brust!≪
In der Tat. Das kleine Scheusal war keine Neugeburt, sondern eine über die erste Kindheit bereits hinausgelangte eckige Quabbelmasse, die den bloßen Kopf aus einem leinenen, mit den Initialen des Bischofs von Paris gezeichneten Sacke heraussteckte.
Der Kopf war ein Unikum an Mißbildung, besetzt mit einem Borstengestrüpp roter Haare, mit nur einem Auge, welches weinte, einem Munde, der schrie, und Zähnen, die nach einem Biß zu jappen schienen.
Inzwischen hatte sich eine immer größere Menschenmenge angesammelt, die mit Erstaunen dieses zappelnde Sackgewächs betrachtete.
Da kam majestätisch Frau Aloise von Gondelaurier dahergeschritten, eine reiche und adelige Dame, die am goldenen Horne ihres Kopfputzes einen Schleier wehen hatte und an der Hand ein etwa sechsjähriges Mädchen führte.
Im Vorbeigehen blieb sie einen Moment vor der Fundstätte stehen, um neugierig auf das unförmige Wesen herabzusehen, während ihre Enkelin Fleur de Lys (Lilienblume) von Gondelaurier, ganz in Samt und Seide gekleidet, mit ihrem lieblichen Zeigefingerchen buchstabierend über die hier angebrachte Holztafel fuhr, auf der ≫Findelkinder≪ zu lesen stand.
Nach kurzer Betrachtung wandte sich die adelige Dame voll Abscheu weg.
≫Bis jetzt glaubte ich, daß hier nur Kinder ausgesetzt werden≪, meinte sie naserümpfend, während sie einen Silbergulden ostentativ in das Kupferbecken klirren ließ, was ein Augenaufreißen der frommen Schwestern verursachte. In der Tat nahm sich der Silberling unter den bereits vorhandenen paar Hellern wie ein Fürst unter Bettlern aus.
Eben kam auch der Pronotar Seiner Majestät des Königs, der sehr ehrenwerte und gelehrte Meister Robert Misticolle mit einem ungeheuren Meßbuche unter dem einen und mit seiner Gemahlin, der Frau Guillemette La Mairesse, am anderen Arme daher. Er hatte also sowohl seine weltliche als auch seine geistliche Führung an seinen Seiten.
Nachdem er den lebenden Fundgegenstand nachdenklich beaugenscheinigt hatte, begann er in dozierendem Tone: ≫Ein Findelkind. Hm. Offenbar am Gelände des Stromes Phlegeton in der Unterwelt geboren …≪
≫Es hat nur ein Auge, scheint’s≪, unterbrach ihn seine bessere Hälfte. ≫Über dem anderen ist jedenfalls eine Warze.≪
≫Warze?≪ wägte der gelahrte Gatte ab. ≫Nein, das ist keine Warze. Das ist ein Ei, in dem ein ganz ähnlicher Dämon enthalten ist, wie dieser da. Und in dem Ei ist wieder ein Dämon, der hat wieder ein solches Ei, in welchem wieder ein Dämon…≪
≫Wieviel Dämonen noch?≪ unterbrach ihn die Gattin scharf.
≫Immer wieder bis in die Unendlichkeit≪, sagte der Gelehrte.
≫Was du nicht weißt?!≪
≫Ich weiß es ganz bestimmt!≪
≫Herr Promotar≪, mengte sich da Gauchére ein, ≫Was prophezeit Ihr diesem Findlinge hier?≪
≫Die größten Unglücksfälle≪, entschied Meister Misticolle prompt.
≫Ach Gott doch!≪ begann sofort eine zahnlose Alte zu winseln. ≫Das hat uns noch gefehlt! Erst im Vorjahre hatten wir die Pest, und zudem erzählt man sich, daß Fürst die Engländer bei Harefleu gelandet sind!≪
≫Da kommt die Königin sicher nicht im Herbst nach Paris≪, fiel ein biederer Handwerker ein. ≫Und die Geschäfte gehen ohnehin so schlecht.≪
≫Der kleine Dämon da gehört unbedingt auf die Reisigbündel! Wie kommen wir dazu!≪ rief Johanna de la Tarme.
≫Hihi≪, kicherte die Alte. ≫Ein hübsch brennendes Reisigbündelchen! Fein!≪
≫Gewiß, das wäre das vernünftigste≪, stimmte Meister Misticolle ein.
Diesem Gedankenaustausch hatte schon seit einer Weile ein junger Priester gelauscht, dessen strenges Aussehen durch den stechenden Blick tief unter breiter Stirne gelagerter Augen verschärft wurde. Nun schob er wortlos die Menge beiseite und, vor den Findling hintretend, streckte er seine Hand über ihn aus.
Sein Einschreiten kam keinen Augenblick zu früh, denn ist schon waren einige besondere Dummköpfe aus der abergläubischen Menge bereit, das Weibergewäsch vom helfenden Reisigbündel zu verwirklichen.
≫Ich nehme ihn an Kindes Statt an≪, sagte der Priester feierlich.
Damit nahm er den lebenden Sack ohne weiteres auf, barg ihn unter seinem Chorrock und ging davon.
Stumpfsinnig starrte ihm die verdutzte Menge nach.
Er aber entschwand ihren Blicken alsbald durch die Rote Pforte, welche damals die Kirche mit dem zugehörigen Stiftshause verband.
Als die erste Überraschung verdaut war, gab Johanna de la Tarme der allgemeinen Stimmung Ausdruck:
≫Kein Wunder, dieser junge Geistliche, Dom Claude Frollo, ist ja selbst ein Hexenmeister!≪
Dom Claude Frollo
Dom Claude war in Wahrheit keiner von der gewöhnlichen Priestersorte.
Er gehörte einer jener Mittelstandsfamilien an, die man in der albernen Ausdrucksweise des vorigen Jahrhunderts als ≫Niederer Adel≪ oder ≫Vornehmer Bürgerstand≪ zu bezeichnen pflegte.
Seine Familie besaß in Erbschaft das Lehen Tirechappe, welches unter der Jurisdiktion des Bischofs von Paris stand, eines der dreiundzwanzig Häuser, die im dreizehnten Jahrhundert der Gegenstand heftiger Sachwalterkämpfe vor dem heiligen Offizium (dem geistlichen Gerichte) gewesen waren. Als Besitzer dieses Lehens war Dom Claude einer der siebenundzwanzig Lehnsherren, die in Paris und seinen Vorstädten Grundzins beanspruchten, was getreulich im Archive zu Saint-Martin verzeichnet stand, ohne sonst weitere Vorteile zu bringen. Von Kindheit an war er von seinen Eltern für den geistlichen Stand bestimmt gewesen, weshalb er nicht nur im Lateinlesen, sondern auch im Niederschlagen der Augen und im Leisesprechen unterrichtet worden war.
Noch im zarten Alter war er dem Kollegium Torchi im Universitätsviertel übergeben und so von der Welt abgesperrt worden.
Er war ein trübsinniges, stilles und ernstes Kind, eifrig in seinen Studien, schnell von Begriff. Nie lärmte er während der Pausen, und ebensowenig nahm er je an den heimlichen Trinkgelagen seiner Kollegen teil.
Mit dem Heranwachsen beteiligte er sich an keinem der üblichen Studentenstreiche, dagegen war er unablässig in den Hörsälen der niederen und der höheren Schulen zu finden.
Der erste Student, welchen der Vortragende im Hörsaale erblickte, war Claude Frollo mit seinem Tintenfasse aus Horn, der an der Feder kaute, auf einem über das abgeschabte Knie gelegten Blatte kritzelte oder sich im Winter die Finger durch Anhauchen erwärmte.
So kam es, daß der kaum sechzehnjährige Gelehrte bereits im kanonischen Rechte einem Konsiliumsvater, in den theologischen Mysterien einem Kirchenlehrer und in der Scholastik einem Doktor der Sorbonne hätte standhalten können.
Nachdem er die Theologie beendet hatte, warf er sich auf das Studium der Rechte und verschlang da nach und nach alle Wissenschaften, die von den Kapitularien Karls des Großen bis zu der Bulle Gregors des Großen reichten. Dadurch wurde er mit der ganzen langen und stürmischen Entwicklung vertraut, aus welcher im Mittelalter das Chaos des bürgerlichen und geistlichen Rechtslebens bestand.
Sobald er die Rechte verdaut hatte, machte er sich an die Medizin und an die freien Künste. Er studierte die Kunde der Kräuter und Salben, lernte die Behandlung von Fieber und Quetschungen, von Verwundungen und Geschwüren. Gleichzeitig mit seiner Ausbildung zum Chirurgen lief die in allen Graden des Lizentiats, wobei er das Diplom der Lehrbefähigung als Magister und den Doktorhut der freien Künste erwarb. An Sprachen hatte er Griechisch, Latein und Hebräisch betrieben, das dreifache Sanktum, zu dem damals nur die wenigsten Zutritt hatten.
Derart arbeitete er sich durch alle vier Fakultäten durch, besessen von einem wahren Fieber, alle Schätze des Wissens zu erwerben und zu besitzen.
Schon mit achtzehn Jahren war er so weit, daß das Leben für ihn keinen anderen Zweck zu haben schien außer dem des Wissens.
Das war um die Zeit herum, als im übermäßig heißen Sommer des Jahres 1466 die große Pest über Paris hereinbrach und in ihrem Weichbilde mehr als vierzigtausend Menschen dahinraffte. Im Universitätsviertel verbreitete sich damals unter anderem auch das Gerücht, daß die Seuche besonders im Tirechappe wütete, wo die Eltern Claudes mit seinem spätgeborenen Bruder Johannes auf ihrem Lehen saßen.
Erschrocken eilte der junge Doktor nach dem elterlichen Heime und fand dort Vater und Mutter tot. Nur der noch in den Windeln liegende Johannes gab durch seine Schreie der Verlassenheit ein Lebenszeichen von sich. Das war alles, was Dom Claude von seiner Familie übrigblieb, und das erste, was ihn daran mahnte, daß es außer der Wissenschaft noch andere Aufgaben des Daseins gab.
Tief nachdenkend über dieses neuerstandene Problem, nahm er seinen Bruder mit sich, als er das verödete Familienheim wieder verließ. Er war durch dieses Unglück an einen Wendepunkt seines Lebens gedrängt worden, was ihn jäh seinen akademischen Träumen entriß und als Haupt der Familie in die Wirklichkeit der Welt zurückrief.
Von Mitleid mit dem kleinen, hilflosen Wesen bewegt, faßte er eine leidenschaftliche Liebe und Hingabe für dieses. Dabei fand er, daß es noch größere Köstlichkeiten und menschlichere Neigungen gab, als in den Büchern zu lesen stand.
So stark war die plötzlich aufspringende Empfindung für seinen Bruder, daß sie in seinem jungen, unberührten Herzen die Rolle der ersten Liebe einnehmen konnte. Von klein auf von den kaum gekannten Eltern getrennt, ins Kloster gesperrt und hinter einem Walle von Büchern verschanzt, hatte sein Geist im Lernen und Erfassen der Wissenschaft volles Genüge gefunden. Seine ganze Einbildungskraft war von seinen Studien voll und ganz erfüllt gewesen. Nie hatte er die Zeit gehabt, den Pulsschlag seines Herzens zu fühlen.
Der wie vom Himmel plötzlich in seine Bruderarme gefallene Waisenknabe machte einen neuen Menschen aus ihm.
Er erkannte, daß es auf der Welt Wichtigeres gab als die Forschungen der Sorbonne und als die Verse Homers. Daß der Mensch der Liebe zu einem Mitgeschöpfe bedarf. Daß ein Leben ohne Zärtlichkeit und ohne Liebe ein gefühllos sich selbst zerreibendes Räderwerk ist.
Und da er noch jung genug war, um sich großen Selbsttäuschungen hingehen zu können, vermeinte er die plötzlich in ihm laut gewordene Stimme der Natur in den Banden des Blutes und der Familienzusammengehörigkeit so stillen zu können, daß dadurch sein ganzes Dasein ausgefüllt werden konnte.
In diesem Glauben überließ er sich seiner Neigung zu dem Bruder mit der Leidenschaft eines tiefempfindenden und schon fast glühenden Gemüts. Dieses arme, blondgelockte, hübsche Knäblein bewegte ihn durch seine Hilflosigkeit bis in den verborgensten Grund der Seele. Als ernster Denker begann er mit großem Mitgefühl über den Bruder nachzusinnen, dessen Gebrechlichkeit ihn mit viel Kummer und Sorge erfüllte und so seinem Herzen doppelt teuer machte.
Auf diese Weise wurde er dem Knaben mehr als ein Bruder. Er wurde seine Mutter.
Da er als solche dem Kleinen nicht die noch nötige Brust reichen konnte, gab er ihn vorläufig zu einer Amme, die in Le Moulin, einer Mühle auf dem in der Nähe des Schlosses Bicêtre gelegenen Hügel wohnte und dort vom Universitätsviertel aus leicht erreichbar war.
Mit der neuen Würde kam für Dom Claude natürlich auch eine neue Bürde, und er begann infolgedessen das Leben noch viel ernster als bisher zu nehmen.
Der Gedanke an den Bruder wurde nicht nur der Lichtblick in seinem Dasein, sondern auch der Antrieb zu neuem Studium.
Dabei beeinflußte die neu übernommene Verantwortung in einschneidender Weise seinen weiteren Lebenslauf. Das Amt eines Vertreters der dahingeschiedenen Eltern glaubte er nur dann ausfüllen zu können, wenn er sich einem Berufe widmete, der ihn von der Gründung einer anderweitigen Familie ausschloß.
Deshalb wandte er sich nun auch von ganzem Herzen dem geistlichen Stande zu, den er bisher nur dem elterlichen Gelöbnisse zuliebe hatte vor sich liegen sehen.
Seine Verdienste, seine Gelehrsamkeit und sein Stand als unmittelbarer Lehensmann des Bischofs öffneten ihm eine weite Pforte in der Kirche, so daß er schon im zwanzigsten Lebensjahr mit besonderem päpstlichem Dispens als Jüngster unter den Kaplänen von Notre-Dame eingereiht werden konnte.
Währenddem hatte er sein Lehen mit dem von Le Moulin getauscht, wo in der Mühle der kleine Johannes prächtig gedieh. Claude teilte nunmehr seine Zeit zwischen seinen kirchlichen Pflichten, seinen geliebten Studien und den Besuchen, die er seines Bruders halber auf dem Lehen machte.
In diesem einfachen, nur Pflichten gewidmeten Leben erstarkte er zu einer so seltenen Mischung von Gelehrsamkeit und Charakterfestigkeit, daß er sich rasch die die Achtung und Bewunderung des ganzen Klerus von Notre-Dame erwarb.
So war der Sonntag Quasimodo herangekommen, an dem er eben von der Messe kam, als seine Aufmerksamkeit durch die um den Findling gescharten alten Weiber das beiderlei Geschlechts erregt wurde.
Als er die abscheuliche Bedrohung des armen Geschöpfes vernahm und dabei dessen Hilflosigkeit sah, lenkte eine unwillkürliche Assoziation der Ideen seine Gedanken auf den ehemals ebenso hilfsbedürftigen Bruder, und es kam ihm die eisig erschreckende Vorstellung, daß dieser wohl ebenso kläglich auf einem solchen Findelbrette liegen könnte, falls er selbst durch einen plötzlichen Tod hinweggerufen werden würde.
Dies bewog ihn zu dem impulsiven Schritte, sich des armseligen Geschöpfes anzunehmen.
Als er dieses in seiner Klause aus dem Sacke zog, mußte er allerdings feststellen, daß er da eine der seltensten Mißgeburten vor sich hatte.
Der arme kleine Tropf hatte nicht nur die scheußliche Warze über dem Auge, sondern auch noch vorne und hinten eine doppelte Verwachsung, ein gekrümmtes Rückgrat, den Kopf halslos zwischen den Schultern, krumme Beine, aber er erschien sehr lebensfähig, und in seinem unverständlichen, aber kraftvollen Gelalle lagen Anzeichen einer starken und gesunden Konstitution.
Beim Anblicke dieser Häßlichkeit wuchs das Mitleid des jungen Priesters, und er gelobte sich im Herzen, dieses Kind seinem Bruder zuliebe aufziehen zu wollen. Die so geübte Barmherzigkeit wollte er am Altare des Höchsten als Opfergabe zugunsten des kleinen Johannes darbringen.
Es war dies nach dem Denken seiner Zeit und Kaste eine Kapitalsanlage in Gestalt eines guten Werkes, dessen Zinsen dem Bruder zugute kommen sollten. Eine gute Handlung, die dem kleinen Schelm eines Tages als Brückengeld dienen konnte, falls er beim Einzuge in die ewige Seligkeit knapp an Münze sein sollte.
Zunächst taufte er den Findling ordnungsgemäß, und er gab ihm dabei den Namen Quasimodo, zur Erinnerung an den Sonntag seines Fundes und mit dem Nebengedanken, daß die Bedeutung dieses lateinischen Wortes (das Beinahe, das Ungefähre) der Krüppelhaftigkeit dieses Beinahe-Menschleins entsprach.
Der Glöckner von Notre-Dame
Nun, im Jahre 1482, war Quasimodo bereits herangewachsen und seit einigen Jahren als Glöckner von Notre-Dame angestellt. Diese Stelle hatte er durch seinen Pflegevater erhalten, als dieser selbst Archidiakon geworden war.
Quasimodo war also einer der Glockenläuter von Paris. Dabei hatte sich zwischen ihm und seiner Kirche mit der Zeit ein inniges Band geknüpft, hervorgerufen nicht nur durch das natürliche Moment der Berufsliebe, sondern noch mehr durch den Umstand, daß er infolge seiner unbekannten Herkunft und seiner Mißgestalt durch einen doppelten Abgrund von der normal-bürgerlichen Welt getrennt war. Von Kindesbeinen an in diesen zwiefachen Kreis des Mißgeschicks gebannt, hatte sich der arme Unglückliche daran gewöhnt, im Schatten der ihn hegenden frommen Mauern seine ganze Welt zu sehen. Und diese Empfindung verstärkte sich immer tiefer, je mehr er selbst heranwuchs, bis sie schließlich zu seinem Um und Auf wurde, als er mit dem schützenden Gebäude noch durch die Verantwortung seines Amtes verbunden war.
Notre-Dame war somit in der Reihe der Begebenheiten Quasimodos Ei, Nest, Haus, Vaterland und All.
Zwischen ihm und der Kirche bestand zudem eine geheimnisvolle Harmonie. Als er noch ein Knirps war und sich mit der Behendigkeit einer Schlange sprungweise unter ihren Wölbungen dahinbewegte, erschien er mit seiner Zwittererscheinung zwischen Mensch und Tier als das geborene Reptil dieses feucht-dunklen Mauergrundes, auf den die Schatten der romanischen Säulenkapitäle in so seltsamen Verzerrungen niederfielen.
Später, als er mit der gleichförmigen Emsigkeit einer Maschine am Glockenstrange schwang, machte er auf seinen Pflegevater den Eindruck eines Kindes, dessen Zunge sich zum ersten Male zum Sprechen löst.
Immer mehr entwickelte sich mit seinem Amte in Quasimodo das Verständnis für das Wesen der Kirche, in der er lebte und die er fast nie verließ, wodurch sie in fortgesetzter Einwirkung solche Macht über ihn gewann, daß er sich selbst ihm immer ähnlicher werden fühlte. Er versenkte sich dabei derart in sie, daß er einen sie ergänzenden Teil zu bilden begann. Die hervortretenden Ecken seiner Mißgestalt schienen in die zurückweichenden Winkel des Gebäudes zu passen, so daß er nicht nur als dessen Insasse, sondern als dessen Inhalt wirkte. Gewissermaßen nahm Quasimodo ebenso die Gestalt der Kirche an wie die Schnecke die ihres Gehäuses.
Die Kirche wurde zu seiner Hülle, und zwischen beiden ergab sich eine instinktive, tiefe Zusammengehörigkeit, eine magnetische Wahlverwandtschaft, wobei er an ihr wie die Schildkröte an ihrer Schale hing. Die furchige Kirche wurde zu seinem Rückenschild.
In ganz Notre-Dame gab es keine Tiefe, in die Quasimodo nicht hinabgekrochen, keine Höhe, zu der er nicht hinaufgeklommen wäre. Unzählige Male kletterte er an den Gesimsen ihrer Front herum, überstieg alle ihre Erhebungen und klammerte sich von einer vorspringenden Steinhauerarbeit zur anderen. Wie eine Eidechse schlüpfte er an der senkrechten Außenseite der Türme hinauf. Diese beiden drohenden Zwillingsriesen hatten nichts Schreckhaftes für ihn. Fast schien es, als hätte er sie mit seinen bloßen Händen gezähmt, wenn man ihn mit so selbstsicherer Ruhe an ihnen zur Höhe steigen sah.
Dabei schien nicht nur Quasimodos Körper, sondern auch seine Seele nach der Kathedrale geformt zu werden. Natürlich hatte es seine Schwierigkeit, bei einem so scheuen und auf sich selbst zurückgezogenen Außenseiter des Menschentums eine Seelenanalyse vorzunehmen. Nur mit unendlicher Mühe und Geduld hatte ihm Dom Claude das Sprechen beigebracht, als den Unseligen ein neues Verhängnis ereilte, indem in seinem vierzehnten Lebensjahre seine Trommelfelle durch das Glockengeläute zerrissen wurden. So schloß ihm die daraus entstandene Taubheit die einzige Pforte, welche ihm die Natur als Verbindung mit der Außenwelt gelassen hatte.
Nach dem Erlöschen seines einzigen Licht- und Freudenstrahles, der Gespräche mit seinem Pflegevater, fühlte Quasimodo, wie seine Seele in tiefster Nacht versank. Völlige, unheilbare Schwermut ergriff ihn, und wenn er auch physisch die Fähigkeit der Sprache bei diesem Unglücksfalle behielt, nahm er dennoch freiwillig die Rolle der Stummheit an, da er denen keine erneute Ursache zum Spott geben wollte, die ihn ohnehin schon seiner abnormen Häßlichkeit wegen verhöhnten. So fesselte er bis auf seltene Gelegenheit seine Zunge, welche zu lösen Dom Claude so viel Mühe gekostet hatte. Und wenn er schon einmal unbedingt sprechen mußte, klang seine schwerfällige Rede ungeschickt und wie das zögernde Geknarr eines Tores, dessen Angeln durch Nichtgebrauch eingerostet sind.
Versuchte man durch diese Panzerkruste der Zurückgezogenheit zu Quasimodos Seele zu dringen, die Tiefen derselben auszuloten, dieses düstere Innenleben zu ergründen und dessen unbegreifliche Schlupfwinkel zu durchleuchten, so mußte man den Geist dieses unglückseligen Geschöpfes in einer ähnlichen, geknickten, verkrüppelten und elenden Lage finden, wie die Körper jener unglücklichen Gefangenen, die unter den Bleidächern Venedigs in einem nach allen Richtungen zu engen Gefängnisloche zusammengekrümmt dahinsiechten. In einem mißgestalteten Leibe verkrüppelt zufolge eines ehernen Gesetzes der Natur auch der Geist. Quasimodo empfand kaum noch, daß sich in seinem Innern eine Seele regte, und die von außen kommenden Eindrücke konnten nur noch in geknickter Strahlenbrechung an die Schwelle seines Vorstellungslebens gelangen. Auf dem Spiegel seines Bewußtseins wurden alle Bilder verkehrt dargestellt, und die dadurch entstehenden Gedanken entsprachen nicht der Wirklichkeit. Seine Sinne wurden getäuscht, seine Urteile verwirrt, und seine Ansichten bewegten sich in blödsinnigen Bocksprüngen.
Die Außenwelt war dadurch für ihn weiter entfernt, als es normalerweise nötig gewesen wäre. Und eine große Bösartigkeit begann sich in seinem Gemüte festzusetzen. Er verwilderte aus Boshaftigkeit, und er wurde noch boshafter, je mehr diese Verwilderung fortschritt und er sich dessen bewußt wurde, welche furchtbare Waffe er an seiner ungewöhnlich entwickelten Körperkraft besaß. In seinem Hirne erwuchs eine unbarmherzige Logik, welche nur Feinde in all diesen gedankenlosen Menschen sehen konnte, die ihn von frühester Kindheit an ob seiner mißgestalteten Häßlichkeit grausam verhöhnt hatten.
Nur noch mit Widerwillen zeigte er sich der Außenwelt. Er zog es vor, unter den stummen Gestalten zu leben, welche seine Kirche als Statuen von Heiligen, Königen, Bischöfen und Rittern schmückten. Keine derselben lachte ihm höhnisch ins Gesicht, alle schienen sie ein stilles, wohlmeinendes Mitgefühl mit ihm zu haben. Auch die Bilder der Teufel und der Dämonen schreckten ihn nicht. Im Gegenteil, durch ihre Ähnlichkeit mit ihm selbsr schienen sie ihm. Mitgeschöpfe, Feinde der Welt, gleich ihm, bestimmt, seine Freunde und Beschützer zu sein. Stundenlang konnte er ihnen in stummer Betrachtung sein Herz ergießen, und wenn er hierbei unversehens überrascht wurde, entfloh er mit der Scheu eines Liebhabers, der bei einer Zusammenkunft mit seinem Liebchen ertappt worden ist.
Am meisten aber liebte er seine Glocken. Er koste sie, sprach mit ihnen, verstand ihr Geläut, das er nicht hören, aber an den Schwingungen erraten konnte. Sie sangen für seine Seele. Obgleich sie ihn taub gemacht hatten, liebte er sie mit der bevorzugten Vorliebe einer Mutter für jenes Kind, das ihr das meiste Herzeleid angetan.
Seine Favoritin aber war die große Glocke des Vordergiebels, die er unter der Familie kreischender Töchter bevorzugte, als welche er sich die übrigen Glocken dachte. Marie, die große Brummerin, schien ihm die Königin unter all diesen fünfzehn Glocken zu sein.
Feste mit feierlichem Geläut waren Quasimodos Freudentage. Sobald er an solchen den üblichen Befehl des Archidiakons erhielt, eilte er die Wendeltreppe zum Turme mit einer Geschwindigkeit hinauf, die ein anderer Mensch nur im Abstiege entwickeln konnte. Ganz atemlos trat er in das luftige Gelaß der großen Glocke, betrachtete sie mit Andacht und Liebe, sprach freundlich zu ihr und beklopfte sie schmeichelnd mit der Hand, wie ein Reiter sein Pferd, auf dem er einen weiten Ritt zu machen gedenkt. Dann gab er seinen Gehilfen das Zeichen zum Beginn. Diese hängten sich an die Seile, die achte Gangspille krachten, und das ungeheuere Metallstück begann sich schwingend zu bewegen. Am ganzen Körper zitternd, folgte ihr Quasimodo mit den Blicken, und er erbebte vor Glück, sobald der machtvolle Klöppel durch seinen ersten Schlag gegen die erzene Mündung das Gerüst erschütterte, auf welchem er stand.
≫Rasch!≪ konnte er da brüllen und in ein aberwitziges Gelächter ausbrechen. Und je weitausholender die Pendelschwingungen der Baßglocken wurden, desto mehr entflammte und erglühte sein Blick.
Bis die Glocke endlich in vollem Schwunge war. Da zitterte der ganze Turm, von den Grundpfeilern an bis zu den Kreuzblättern des Helmdaches vibrierte alles, Quadersteine, Holzwerk, Bleiplatten erbebten im gleichen Takt.
Jetzt schäumte Quasimodo bereits vor Erregung. Hin und her laufend, zitterte er mit dem Turme vom Kopfe bis zum Fuß. Die rasend stürmende Glocke zeigte abwechselnd den beiden Turmseiten ihren metallenen Schlund und entsandte diesem das orkanhafte, vier Meilen weit hörbare Wehen. Quäsimodo stellte sich vor diesem weiten Rachen auf, um mit begleitenden Körperbewegungen das furchtbare Getöse in sich hineinzuatmen. Dann warf er zur Abwechslung seinen Blick zweihundert Fuß tief hinunter, um das Gewimmel der Menschheit zu sehen, deren Gang durch das Läuten seiner Glocke gelenkt wurde.
Das weite Schlagen der ungeheueren Erzzunge war der einzige Laut, den sein Ohr verstand. Sobald dieser in die Stille seiner Taubheit Einlaß fand, packte es Quasimodo wie eine Raserei. Mit unheimlichem Gesichtsausdrucke warf er sich auf die Glocke, sobald er lauernd den richtigen Moment ihres Vorbeifliegens erfaßt hatte. Über den Abgrund hinauspendelnd hielt er sich im Schwebefluge an den Ohrzapfen des ehernen Ungeheuers fest, drückte dieses mit seinen beiden Knien und spornte es mit seinen Hacken, bis er durch das Gewicht seines Körpers die Raserei der Glocke verdoppelt hatte. Während hierbei der Turm in seinen Grundfesten erbebte, sträubte sich Quasimodos rotes Borstengestrüpp, seine Zähne knirschten aneinander, und seine Brust hob und senkte sich mit dem Gerassel eines Blasebalgs. Sein Auge sprühte züngelnde Flammenblitze, und laut schnaubend, wie ein aufstöhnender Gaul, tobte die Riesenglocke unter ihm.
Wie der eines Zentauren besonderer Art, halb Mensch, halb Glocke, war Quasimodos Traumritt durch den Wirbelsturm.
Erfaßten ihn so die entsetzten Blicke der Kirchenbesucher, dann schien ein Fluidum eigener Art von ihm zu dieser abergläubischen Menge hinabzuströmen. In ihren Köpfen schienen sich mit seinen Atemzügen alle Steine des Baues zu beleben und all die Statuen der Galerien und der Pforten zu bewegen. Gleich als wäre die ganze Kathedrale ein gelehriges Wesen, von welchem Quasimodo Besitz ergriffen hatte, um ihm wie ein Hausgeist den Stempel seines Willens aufzudrücken.
In Ägypten hätte man ihn für den Gott des Tempels gehalten, im Aberglauben des Mittelalters sah man in ihm nur einen dämonischen Geist.
Herr und Sklave
Nur ein Mensch war von Quasimodos tückischem Hasse ausgeschlossen, ja er wurde von ihm noch mehr als die Kathedrale geliebt.
Dom Claude Frollo war es, der ihn ernährt und erzogen hatte.
Als kleines Kind hatte Quasimodo die Gewohnheit, sich zwischen die Beine des Priesters zu flüchten, wenn er von Hunden und Kindern gejagt wurde. Von Dom Claude hatte er sprechen, lesen und schreiben gelernt. Und Dom Claude hatte ihm durch Ernennung zum Glöckner einen Lebenszweck gegeben.
So ist es verständlich, daß Quasimodo seinem Pflegevater mit tiefer, leidenschaftlicher und grenzenloser Erkenntlichkeit ergeben war. Obwohl die Miene des Priesters meist kalt und finster war und seine Rede kurz und hart, für seinen Zögling blieb er immer ein Wesen höherer Art. Und Quasimodo sein unterwürfigster Sklave, sein gelehrigster Diener, sein wachsamster Hund. Als der arme Teufel taub geworden war, hatte sich zwischen den beiden eine nur ihnen verständliche Zeichensprache ausgebildet, was zur Folge hatte, daß der Archidiakon das einzige menschliche Wesen wurde, mit dem Quasimodo verkehren konnte.
Dies erhöhte den Einfluß des Priesters auf seinen Glöckner in einem solchen Grade, daß nichts auf dieser Welt mit diesem Abhängigkeitsverhältnisse vergleichbar war. Es hätte nur eines Zeichens des Archidiakons bedurft, und Quasimodo hätte sich von der Höhe der Notre-Dame-Türme in die Tiefe gestürzt.
Es lag etwas Unheimliches darin, wie bedingungslos die ungeheure Körperkraft des Krüppels seinem Meister zur Verfügung stand. Kindliche Hingabe, hündische Treue und sklavische Ergebenheit lagen darin, aber auch die Unterwerfung unter den überlegenen Geist.
Elend, linkisch und ungeschickt stand Quasimodo gesenkten Hauptes und flehenden Blickes vor der Erhabenheit seines Meisters, dem er sich durch grenzenlose Erkenntlichkeit für all die von ihm empfangenen Wohltaten verbunden fühlte.
Dieses Dankbarkeitsgefühl war vielleicht die einzige Tugend in Quasimodos tierischer Seele, bevor ein anderes, nachhaltiges Ereignis in sein Leben griff.
Geheimnisse
Im Jahre 1482 war Quasimodo erwachsen und ungefähr zwanzig Jahre alt, während sein Pflegevater deren sechzehn mehr zählte.
Claude Frollo war nicht mehr der bedürfnislose Hilfspriester und der zärtliche Beschützer eines hilflosen Findelkindes, aber auch nicht mehr der junge und in Träumereien verlorene Philosoph, der vieles wußte und von ebenso vielem keine Ahnung hatte.
Er war ein würdevoller und strenger, meist schlechtgelaunter Seelsorger geworden, der außer seinem Archidiakonat von Josas noch die Funktion eines zweiten Meßbeistandes des hochwürdigen Bischofs von Paris bekleidete. Alles in allem eine Ehrfurcht gebietende, düstere Persönlichkeit, der Schreck der Chorknaben und der Kirchensänger, vor dem in gleicher Weise die ihm untergebenen Hilfsgeistlichen der Frühmette als auch die in gleicher Lage befindlichen Brüder vom heiligen Augustin zitterten, wenn er langsam und majestätisch mit gekreuzten Armen unter den hohen Bogen des Chores einherkam und dabei, in Gedanken versunken, das Haupt so tief auf die Brust gesenkt hielt, daß von seinem finsteren Antlitz nur die hoch-kahle Stirn sichtbar war. Während Dom Claude auf der Leiter der Hierarchie höher stieg, hatte er weder die Pflege der Wissenschaft noch die Erziehung seines Brüderleins vernachlässigt. Beide waren im Gegenteile die Hauptziele seines Lebens geblieben.
In diese angenehmen Angelegenheiten hatte sich aber im Laufe der Begebenheiten einige Bitternis gemischt. So wie nach Ansicht des Apostels Paulus mit der Zeit der beste Speck ranzig wird.
Der kleine Johannes — nach der Lebensmühle Du Moulin benannt — war nicht so geraten, wie es sein älterer Bruder und Mentor gewünscht hätte. Dom Claude hatte auf einen ehrbaren, gelehrigen, frommen und gehorsamen Zögling gerechnet, Johannes aber glich den jungen Bäumen, die, aller Mühe des Gärtners ungeachtet, ihre Krone gegen die Luft und Sonne drehen. Dabei wucherten bei Johannes reichlich die Zweige der Faulheit, Ignoranz und Sittenlosigkeit. Mit einem Wort, der Bursche war ein Teufelsbraten, dabei aber einer so drolliger Art, daß Dom Claude unwillkürlich gleichzeitig über ihn lächeln mußte, während er die Brauen drohend runzelte.
Dom Claude hatte den Bruder in demselben Kollegium Torchi untergebracht, in welchem er selbst ausgebildet worden war. Und er mußte nun den Schmerz erleben, daß hier der einst so geachtete Name Frollo allen Guten zum Ärgernisse ward. Oft sah er sich daher zu langen Strafreden veranlaßt, die der kleine Bruder tapfer über sich ergehen ließ. Aber der ganze Effekt solcher Predigten war, daß der Junge ungebessert auf seinen losen Pfaden weiterging. Dabei war Johannes zwar ein Taugenichts, aber einer von der gutmütigen, aus den Lustspielen bekannten Sorte. Seine Streiche bewegten sich im Rahmen der üblichen Studentenulke, sei es, daß ein Neuling im Bereiche der Musen, ein sogenannter ≫Grüner≪, vermöbelt wurde, sei es, daß man eine Kneipe demolierte, den Wirt versohlte und seine Weinfässer im Keller zerschlug. Solche Skandale überschritten nicht das Maß des damals Üblichen, erschreckend aber war, daß der kaum sechzehnjährige Strick wiederholt in der übelberüchtigten Rue de Glatigny gesehen wurde.
Für Dom Claude waren diese Enttäuschungen durch den jüngeren Bruder zur Ursache geworden, sich mit desto mehr Eifer in die Arme der Wissenschaft zu stürzen. Bei dieser fühlte er sich wenigstens für seine Mühe bezahlt, mochte dies auch oft genug mit hohler Münze geschehen.
Auf diese Weise wurde der Archidiakon immer gelehrter und infolgedessen als Mensch immer finsterer und als Priester immer strenger.
Denn für jeden Menschen auf dieser Welt besteht ein Gleichlauf zwischen Entwicklung, Moral und Charakter, eine kontinuierliche Parallele, deren Linien nur durch große Störungen unterbrochen werden können.
Nachdem Dom Claude das ganze einem Kleriker gestattete Wissensgebiet durchmessen hatte, war er auf einen Punkt gelangt, auf dem es kein Stehenbleiben mehr, sondern nur noch ein Vorwärts in die verbotenen Regionen gab.
Das alte Sinnbild der sich in den eignen Schwanz beißenden Schlange gilt insbesondere für die Wissenschaft. Der Geist des Forschenden wird immer unersättlicher, immer hungriger sieht er nach neuer Nahrung aus.
Claude Frollo sollte dies aus eigener Erfahrung kennenlernen. Nachdem er das Fas, das Erlaubte, erschöpft hatte, drang er in das Nefas, in den verbotenen Bereich der Alchimie und der verwandten Zaubereien ein. Nachdem er am Baume der Erkenntnis gekostet hatte, biß er herzhaft alle Früchte desselben an.
Er hatte all die gutgeheißenen Gerichte verschlungen, die aus den vier orthodoxen Küchen geliefert werden, welche man die vier Fakultäten benannte. Aber er war ihrer überdrüssig geworden, bevor noch sein Hunger gestillt worden war.
Weiter und tiefer war er in die Beschränktheit des materiellen Wissens eingedrungen, und er hatte seine Seele aufs Spiel gesetzt, als er in den Bannkreis der Astrologie, Alchimie und der verwandten okkulten Zweige geriet.
Aber darüber war niemandem Genaueres bekannt. Das darüber im Umgange befindliche Gerede blieb lediglich auf Vermutungen angewiesen. Man wußte nur, daß er häufig den Friedhof der Schuldlosen aufsuchte, auf dem das Grab seiner Eltern neben dem der anderen Pestopfer lag. Es war aber bekannt, daß er hier weniger deshalb erschien, um ein frommes Gebet an diesem Grabe zu verrichten, als vielmehr, um die seltsamen Figuren zu studieren, mit denen die dicht daneben befindliche Gruft der großen Hermesjünger und Zauberer Flamel und Pernelles verziert war.
Oft sah man ihn durch die Rue des Lombards verstohlen in dem kleinen Häuschen verschwinden, in welchem Flamel 1417 gestorben war. Seit dem Tode des berühmten Alchimisten stand dieses von ihm erbaute Haus leer, und es begann bereits stark zu verfallen, weil der seither durchgezogene Schwarm von Hermesjüngern aus aller Herren Ländern die Mauern durch Mitnahme von Andenken benagt und durch Namensinschriften zerkratzt hatte. Einer der Nachbarn wollte da durch ein Kellerloch beobachtet haben, wie Dom Claude unter den Fundamenten des Häuschens die Erde durchwühlte. Man fand dafür leicht eine Erklärung in der Überlieferung, die behauptete, daß Flamel den von ihm gefundenen Stein der Weisen im Keller vergraben habe. Tatsächlich haben zwei Jahrhunderte hindurch die Alchimisten von Magistri bis zum Pater Pacifique hier den ganzen Kellerboden um- und umgegraben, bis schließlich das aller Grundsteine beraubte Haus zusammenfiel.
Auch war es festgestellt worden, daß der Archidiakon eine besondere Leidenschaft für das symbolische Portal von Notre–Dame hatte. Es war dies das in Stein geschriebene Zauberbuch des Bischofs Wilhelm von Paris, der zweifelsohne in ewiger Verdammnis dafür büßen muß, daß er ein so höllisches Titelblatt an das durch diese ehrwürdige Kathedrale gesungene Hohelied gefügt hat. Es wurde außerdem mit Bestimmtheit gesagt, daß Dom Claude die Kolossalstatue des heiligen Christoph untersucht habe, jene rätselhafte Bildsäule, die damals am Eingange des Vorhofes stand und die vom Volksmunde spöttisch ≫der alte Sauertopf≪ genannt wurde.
In der Tat konnte männiglich sehen, wie der Archidiakon stundenlang auf der Brustmauer des Vorhofes saß und die Bildhauerarbeiten des Portals betrachtete. Bald sah er da auf die törichten Jungfrauen mit ihren umgestürzten Lampen, bald auf ihre klugen Mitschwestern mit den hochgehaltenen Leuchtem Bald wieder berechnete er den Gesichtswinkel des links am Portale dargestellten Raben, wobei er herauszubekommen suchte, nach welchem Punkte der Kirche dieser Vogel blickte. Denn dort sollte der Stein der Weisen vergraben sein, falls er sich nicht im Keller Flamels befand.
Es war ein sonderbares Zusammentreffen der Schicksale, daß diese fanatische Liebe des Archidiakons in dieselbe Epoche von Notre-Dame fiel wie die Neigung Quasimodos. Der eine, ein Halbmensch, liebte die Kirche instinktmäßig ihrer Schönheit und Gesamtharmonie wegen; der andere, ein gelehrter Phantast, wegen der bedeutenden Gedanken, als deren Symbole die Skulpturen ihrer Fassade gleich Palimpsesten6 seinem grübelnden Verstande ewige Rätsel aufgaben.
Am meisten wurde darüber geredet, daß der Archidiakon sich auf dem nach dem Grève-Platze zu gelegenen Turme von Notre-Dame eine eigene Zelle eingerichtet hatte, von der es hieß, daß nicht einmal der Bischof sie ohne Erlaubnis Dom Claudes betreten durfte. Diese Zelle befand sich in der Turmspitze unter den Rabennestern und war der Sage nach bereits zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts vom Bischof Hugo zu Zauberzwecken benützt worden. Niemand wußte etwas Genaueres über dieses geheimnisvolle Gelaß, aber man hatte oft des Nachts gesehen, daß aus dessen Luke jener regelmäßig wiederkehrende Rotblink leuchtete, der beim Treten des Blasebalges durch das Wechseln der Flammenstärke entsteht.
Da blieb manch altes Weiberpaar stehen und tuschelte sich zu:
≫Seht, da oben prasselt der Archidiakon mit dem Feuer der Hölle!≪
Natürlich waren das alles noch lange keine zuverlässiges Anzeichen von Zauberei, aber man sagte sich, daß da auch Feuer sein müsse, wo Rauch zu sehen war.
So kam es, daß der Archidiakon einen für einen Geistlichen doppelt schrecklichen Ruf genoß. Die ägyptischen Wissenschaften, die Geisterbeschwörung, die schwarze und die unschuldsvollere weiße Magie, das war das rote Tuch für das geistliche Gericht und dieses dafür ein erbarmungsloser Feind. Sei es aus aufrichtigem Abscheu, sei es nach dem Trick des verfolgten Diebes, der zur Abwendung der Aufmerksamkeit ≫Haltet den Dieb!≪ brüllt.
Mochte auch das Heilige Offizium im Falle des Archidiakons von Notre-Dame ein Einschreiten nicht für gegeben erachten, so hielten ihn doch die ehrwürdigen Häupter des Ordenskapitels für eine verdammte Seele, die im Vorhofe der Hölle schweifte und dabei in die Abgründe der Kabbala und in die Finsternis geheimer Wissenschaften geraten war.
Das Volk im allgemeinen war da in seiner Meinung noch präziser und zweifelte nicht daran, daß Quasimodo der verkorperte Beelzebub und Dom Claude sein Hexenmeister war. Es war klar, daß Satan selbst in dieser Form eine Zeitlang seinem Beschwörer dienen mußte, um dann dessen Seele unter dem üblichen Schwefelstunk einheimsen zu können.
Es war daher nicht verwunderlich, daß der Archidiakon trotz seines strengen Lebenswandels bei der Schar der Frommen im übelsten Geruche stand und daß jede Betschwester mit ihrer Schnuppernase den Duft der Zauberei zu wittern meinte.
Je mehr Abgründe der Wissenschaft sich dem rasch alternden Priester auftaten, desto mehr Risse öffneten sich in seinem Herzen. Wie durch trübes Gewölk schien auf seinem Antlitze die Seele zu leuchten, und betroffen sah man auf diese breite Kahlstirne, auf dies gesenkte Haupt, auf diese wie von steten Seufzern geschwellte Brust. Neugierig grübelte man über die geheimen Gedanken, die diesen bitter verzogenen Mund lächeln ließen, während die zusammengezogenen Brauen im gegenseitigen Kampfe zu liegen schienen. Das frühzeitige Grau der wenigen verbliebenen Haare wirkte befremdend, wenn aus den schon erloschen scheinenden Augen manchmal ein Flammenstrahl brach, der sie plötzlich gebrochenen Löchern in der Wand eines Glühofens gleichen ließ. Zur Zeit unserer Erzählung hatten die durch Jahre gegen Dom Claude angesammelten Vorurteile bereits einen außerordentlichen Grad der Intensität erreicht. Mancher Chorknabe ergriff entsetzt das Hasenpanier, wenn er allein in der Kirche dem stechenden Blick des Archidiakons begegnete. Und die Wäscherin des Klosterkapitels hatte mehr als einmal mit Schaudern in den Chorhemden Dom Claudes Spuren gesehen, die nur vom Einkrallen scharfer Nägel entstanden sein konnten.
Je mehr der Charakter des Archidiakons an Härte zunahm, desto musterhafter wurde sein Lebenswandel. Von Frauen hatte er sich immer ferngehalten, und er mußte sie sehr hassen, weil ihn schon das bloße Rauschen eines Weiberrockes veranlaßte, seine Kapuze über die Augen zu ziehen. Hierin war er so strikt, daß er ein Jahr vor Beginn unserer Erzählung einen furchtbaren Affront beging. Er wies Frau von Beaujeu, die Tochter des Königs, von der Schwelle des Stiftes Notre-Dame und berief sich dabei auf die Verordnungen des ≫Schwarzen Buches≪, welche 1334 am Vorabende des heiligen Bartholomäus der Bischof gegeben hatte, des Inhaltes, daß der Zutritt zum Stifte jedweder Frau, ob alt, ob jung, ob Herrin oder Dienerin, verboten sei. Daraufhin hatte ihm der Bischof von Paris die Verordnung des Legaten Odo zitiert, welche von diesem Verbote gewisse vornehme Damen ausnimmt, die ohne Beleidigung nicht abgewiesen werden können. Gegen diese weltkluge Auslegung fuhr Dom Claude mit dem Schwergeschütze des Widerspruches auf, und die Sache endete damit, daß Frau von Beaujeu das Stiftshaus nicht betreten durfte. Den größten Abscheu aber schien der Archidiakon vor Zigeunerinnen zu haben. Denn er hatte einen eigenen bischöflichen Erlaß verlangt, der den Zigeunerinnen verbieten sollte, auf dem Domhofe zu tanzen und hierzu ihre gewohnte Schlagmusik mit den Tamburins zu machen. Auch hatte er vergeblich die vergilbten Akten des Offiziums durchgestöbert, um eine Verordnung gegen Zigeunerinnen mit Ziegen finden zu können.
Unbeliebtheit
Weder der Archidiakon noch sein Glöckner genossen also eine nennenswerte Beliebtheit in der Öffentlichkeit.
Gingen sie einmal miteinander aus, Quasimodo dienermäßig hinterdrein, dann konnten sie manches böse Wort hinter ihrem Rücken hören. Manch beleidigender Witz wurde über ihren Gang gemacht, bis sich Dom Claude hoheitsvoll aufrichtete und den eingeschüchterten Frechling durch seinen bloßen Blick zum Schweigen brachte. An Quasimodo wagte sich die Bande schon kühner heran. Da setzte ein wüster Bursche seine geraden Glieder aufs Spiel, indem er heimtückisch eine Nadel in den Buckel des Monstrums stieß. Dort streifte eine junge hübsche Dirne mit unverschämter Vertraulichkeit Dom Claudes Priesterrock. Und ihre Freundinnen sangen dazu:
≫Verdufte, Satan ist gefangen!≪
Die auf den Hausschwellen der schmutzigen, engen Straßen hockenden alten Weiber zerrissen sich ihre unflätigen Mäuler mit heimischen Bemerkungen, wie: ≫Des einen Seele ist so schön wie des andern Leib!≪
Oder es rottete sich eine Bande von Studenten oder Soldaten zusammen, um frech die Lauge ihres Hohnes auf das ungleiche Paar auszuschütten.
Aber in der Regel glitten all diese Infamien an den beiden ab, da Quasimodo taub und Dom Claude zu sehr in seine Gedanken versunken war.
Teil IV
4
Der Leibarzt des Königs
Der eigentümliche Ruf des Archidiakons und schließlich die Szene mit Frau von Beaujeu verschafften ihm einen Besuch, der noch lange in seiner Erinnerung bleiben sollte.
Eines Abends hatte er sich soeben nach der Messe in seine Stiftswohnung zurückgezogen, in der außer einigen Retorten und Phiolen nichts Unheimliches zu sehen war. Bemerkenswert war höchstens in einigen der Flaschen ein dem Schießpulver ähnliches Gemenge und an der Wand einige Inschriften, deren frommer oder wissenschaftlicher Inhalt jedoch nur guten Autoren entnommen war.
Dom Claude hatte sich gerade beim Scheine eines dreiarmigen Leuchters vor einer großen, mit Manuskripten angefüllten Truhe niedergelassen, aus denen er das von Honorius verfaßte Werk über die Vorherbestimmung und die Willensfreiheit als einziges Druckwerk hervorzog. Als er sich in diesen damals noch ein buchdruckerisches Unikum bildenden Band vertiefen wollte, wurde an seine Türe gepocht
≫Wer ist’s?≪ fragte er mit der Freundlichkeit einer hungrigen Dogge, der man ihren Knochen entreißen will.
≫Euer Freund, Doktor Coictier≪, schallte es von draußen zurück.
Es war dies der Leibarzt des Königs, eine etwa fünfzigjährige Persönlichkeit, deren harte Miene durch den Ausdruck der Listigkeit etwas abgeschwächt wurde.
Jakob Coictier kam nicht allein, sondern hatte noch einen Mann mit sich, der gleich ihm selbst in einen schiefergrauen, pelzbesetzten Talar gekleidet war. Beide hatten auch die Kopfbedeckungen von der gleichen Farbe. Diese waren tief in ihre Gesichter gezogen, und außerdem hielten die beiden Besucher ihre Hände in den weiten Ärmeln versteckt.
≫Ein ehrenvoller Besuch≪, ließ sich der Archidiakon vernehmen.
Dabei warf er einen mißtrauischen Blick auf den Begleiter des Arztes.
≫Keine besondere Ehre, wenn es sich um den bedeutenden Gelehrten Dom Claude Frollo handelt≪, erwiderte Coictier die Höflichkeit, indem er mit seinem burgundischen Dialekt die Worte mit der Hoheit einer Hofschleppe schleifen ließ.
Nach dieser Einleitung entwickelte sich zwischen dem Priester und dem Leibmedikus jener Phrasenschwall, der nach damaligen Begriffen jede Unterredung unter Gelehrten einzuleiten hatte. Was sie übrigens nicht hinderte, sich trotzdem so recht von Herzen zu verabscheuen.
Heute ist es schließlich auch nicht anders. Der Glückwunsch eines Gelehrten an den andern läßt stets an honigsüße Galle denken.
So komplimentierten die zwei Männer der Wissenschaft sich gegenseitig an: Dom Claude rühmte die Vorteile, welche der Leibarzt im Laufe seiner berühmten Karriere aus den Krankheiten seines erlauchten Patienten gezogen hatte, was sicherlich eine rentablere Alchimie als die Suche nach dem Stein der Weisen darstellte.
≫Es war mir eine außerordentliche Freude≪, sagte der Archidiakon, ≫von der Ernennung Eures Neffen zum Bischof von Amiens zu hören.≪
≫Ja, es war ein Huldgeschenk der gnädigen Vorschung≪, entgegnete der andere salbungsvoll.
≫Am Weihnachtstage bewunderte ich Euch an der Spitze der Rechnungskammer, Herr Präsident.≪
≫Oh, nur Vizepräsident, bitte≪, wehrte der Doktor mit bescheidener Miene ab.
≫Was macht Euer prächtiger Hausbau in der Andreas-straße? Das wird ja ein zweites Louvre, in der Tat! Besonders gefällt mir da der ins Portal gemeißelte Aprikosenbaum. Ich dachte an das Wortspiel: A l’abri cotier!≪7
≫Ja, ja, der Fleiß der Steinarbeiter kostet eine schwere Menge Geld! Je mehr das neue Haus wächst, desto mehr nimmt meine Kasse ab≪, meckerte der Gelehrte, über seinen eigenen Witz entzückt.
≫Wieso? Ihr habt doch Eure glänzenden Einkünfte vom Stockhause, vom Amtsbezirke des Justizpalasts und die Rente von allen Häusern, Fleischbänken, Meß- und Marktbuden innerhalb der Ringmauern! Da melkt Ihr doch eine tadellos ergiebige Kuh!≪
≫Schon, aber zum Beispiel meine Banngerichtsbarkeit von Poissy, die hat mir heuer gar nichts eingebracht!≪
≫Aber die vielen Zollhäuser dafür!≪
≫Pah, hundertzwanzig Pfund, nicht einen einzigen Sou mehr.≪
≫Und Euer Amt als königlicher Ratl? So ein Amt hat seine festen Einnahmen wie kein zweites!≪
≫Nicht mehr als sechzig Goldtaler im Jahr!≪
In all den Bewunderungsworten des Archidiakons lag ein spitzer Beiklang, eine fast unmerkliche spöttische Nuance und das herbe Lächeln eines überlegenen Geistes, der sich den Spaß macht, einen Dummkopf wegen seines Glückes ein wenig aufzuziehen.
≫Bei meiner Seele≪, sagte schließlich Dom Claude, ≫es freut mich, Euch bei so guter Gesundheit zu sehen.≪
≫Dank, Meister Claude, Dank!≪
≫Apropos! Was macht Euer königlicher Patient?≪
≫Er zahlt schlecht≪, entgegnete der Medikus, mit einem schiefen Blick auf seinen Begleiter.
≫Findet Ihr, Meister Coictier?≪ fragte dieser prompt in überrascht-tadelndem Tone.
Der Klang dieser Stimme ließ den Archidiakon aufhorchen, der schon seit dem Eintritte des stummen Begleiters keinen Moment seinen Blick ganz von demselben weggewandt hatte. Nur einem Manne wie dem einflußreichen Leibarzte des Königs sah er es nach, daß ihm auf diese Weise und zu so später Stunde ein Unbekannter ins Haus gebracht wurde. Daher hatte seine Miene keinen übermäßig verbindlichen Ausdruck, als ihm Coictier jetzt erläuternd mitteilte:
≫Nebenbei, Dom Claude, bringe ich Euch hier einen Mitbruder, den Euer Ruf zum Wunsche nach Eurer Bekanntschaft verführt hat.≪
≫Der Herr ist Gelehrter?≪ fragte der Archidiakon trocken, indem er ebenso durchbohrend wie argwöhnisch unter die Brauen des Unbekannten sah, um dort einem ebenso durchbohrenden und argwöhnischen Blicke zu begegnen.
Soweit es sich beim schwachen Lichtscheine beurteilen ließ, war der Unbekannte ein etwa sechzigjähriger Greis von Mittelgröße und von einem krankhaft gebrochenen Aussehen. Sein Antlitz hatte trotz seines alltäglichen Schnittes einen Ausdruck strenger Gewalttätigkeit, und unter seinen machtvoll gewölbten Brauen blinkten die funkelnden Augen wie tief in Höhlen liegende Lichter. Was unter der Mütze von der Stirne sichtbar war, ließ auf geniale Breite derselben schließen.
Der Fremde unternahm es selbst, auf die Frage des Archidiakons zu erwidern:
≫Ehrwürdiger Meister≪, sagte er ernst, ≫Euer Ruf hat in mir den Wunsch ausgelöst, Euren Rat einzuholen. Im übrigen bin ich nur ein armer Edelmann aus der Provinz, der seine Schuhe abzulegen hat, bevor er bei einem Gelehrten eintritt. Gevatter Tourangeau ist mein Name.≪
≫Jedenfalls ein sonderbarer Name für einen Edelmann≪, dachte Dom Claude.
Dessenungeachtet fühlte er, daß er einer bedeutungsvollen Angelegenheit gegenüberstand. Instinktiv witterte er unter dieser ins Gesicht gezogenen Mütze eine der ihm eigenen gleichwertige, hohe Intelligenz, und je schärfer er sein unbekanntes Gegenüber betrachtete, desto mehr schwand von seinen eigenen Zügen der ironische Ausdruck, den diese beim Eintritte Coictiers angenommen hatten.
Wie das Abendrot auf düsterem Himmel ging auf seiner mürrischen Miene das Licht interessierter Erwartung auf.
Nachdem er sich selbst niedergelassen und den beiden Besuchern durch ein Zeichen die Einladung zum Sitzen gegeben hatte, richtete er nach kurzem, finsterem Nachdenken an Gevatter Tourangeau das Wort:
≫Ihr wünscht also meinen Rat? Über welche Wissenschaft?≪
≫Hochwürden, ich bin ein sehr kranker Mann und suche in Euch den mir gerühmten, großen Äskulap, der sicher für mich das richtige Heilmittel weiß.≪
≫Heilmittel?!≪
Der Archidiakon schüttelte unwillig sein Haupt.
≫Gevatter Tourangeau, dreht Euch dort zu jener Wand, da findet Ihr die Antwort deutlich aufgeschrieben!≪
Der Gevatter gehorchte und las halblaut folgende in die Wand gekratzte Worte:
≫Die Heilkunde ist die Tochter leerer Träume.≪
Hatte der gelehrte Doktor Coictier schon die Frage des Gevatters nach einem Heilmittel unbehaglich vernommen, so steigerte sich seine Mißstimmung durch die erteilte Antwort noch um ein bedeutendes.
Sich an das Ohr des Gevatters neigend, sagte er ihm deutlich vernehmbar ins Ohr:
≫Ich hatte Euch gewarnt, daß Ihr es mit einem Narren zu tun haben würdet. Nun seht Ihr selbst, wie recht ich hatte.≪
Der Angeredete lächelte bitter dazu.
≫Vielleicht hat der sogenannte Narr recht≪, entgegnete er im gleichen Bühnenflüsterton.
≫Nach Eurem Belieben≪, schnappte Coictier. Und dann zu Dom Claude: ≫Ihr seid rasch mit Eurem Urteil bei der Hand! Um Hippokrates nicht mehr in Verlegenheit wie der Affe um seine Haselnuß! Die Heilkunde ist also ein Traum?! Wenn Euch die Ärzte und Apotheker hörten, könnte man Euch wohl schwer vor dem Gesteinigt-werden bewahren! Leugnet Ihr ernstlich den Einfluß der Salben auf das Fleisch und der Heiltränke auf das Blut? Seid Ihr wirklich blind dagegen, daß die Welt nur eine große Pharmazie an Metallen und Kräutern ist, geschaffen zum Heile der kranken Menschheit?≪
≫Erlaubt mir die Feststellung, daß ich weder die Pharmazie noch die Kräfte der Natur angegriffen habe≪, entgegnete Dom Claude kalt. ≫Ich sprach nur von den Ärzten.≪
≫So?! Von den Ärzten?! Würdet Ihr ohne Arzt wissen, daß die Gicht eine Flechte im Körperinnern ist? Daß man eine Schußwunde durch das Auflegen einer Maus heilen kann? Daß junges Blut, in alte Adern eingespritzt, die Jugend wiedergibt? Daß der Starrkrampf auf den Rückenkrampf folgt? Daß dies alles so klar ist wie zwei mal zwei gleich vier?!≪
Der Doktor war immer mehr in Eifer geraten, als er seine angegriffene Wissenschaft verteidigte.
Der Archidiakon ließ sich aber dadurch nicht aus seiner Ruhe bringen.
≫Über gewisse Dinge habe ich meine bestimmte Meinung≪, entgegnete er trocken.
Coictier wurde rot vor Zorn.
Da legte sich jedoch der Gevatter ins Mittel.
≫Regt Euch nicht auf, guter Coictier. Der Herr Archidiakon ist unser guter Freund!≪
≫Ein Narr ist er!≪
Coictier brummte es mit halblauter Stimme.
Gevatter Tourangeau brach als erster das nun entstandene Schweigen.
≫Beim allmächtigen Gotte, Meister Claude! Ihr habt mir eine sehr ungelegene Antwort erteilt. Denn ich beabsichtigte, Euch um zwei Gutachten zu bitten. Das eine betreffs meiner Gesundheit und das andere, vielleicht damit zusammenhängende, über meinen Stern und mein Geschick.≪
≫Wenn das alles ist, was Ihr wissen wollt, so hättet Ihr Euch die Mühe des Stufensteigens sparen können! Ich glaube weder an die Heilkunde noch an die Astrologie.≪
≫In der Tat?≪
Der Gevatter fragte es in höchst überraschtem Tone.
Coictier aber brach dazu in ein gezwungenes Lachen aus.
≫Ein Narr! Ein Narr!≪ wiederholte er eigensinnig.
Dom Claude blieb jedoch ganz kalt.
≫Kann es einen größeren Unsinn geben als die Einbildung, daß jeder Sternstrahl ein Faden ist, der am Haupte eines Menschen haftet?≪ fragte er.
≫An was glaubt Ihr dann?≪ rief der Gevatter.
Ein düsteres Lächeln huschte über das Gesicht des Archidiakons. Und dann sprach er einen Satz, dessen Inhalt durch seinen Gesichtsausdruck Lügen gestraft zu werden schien: ≫Ich glaube an Gott.≪
≫Unsern Herrn≪, fiel der Gevatter andachtsvoll ein, wobei er sich bekreuzigte.
≫Amen≪, schloß sich Coictier an.
Nun nahm der Gevatter die Verhandlung wieder auf.
≫Verehrter Meister≪, sagte er verbindlich, ≫es ist herzerfreuend, Euch so guten Glaubens zu sehen. Aber kann ein so großer Gelehrter auf dem Punkte angelangt sein, daß er nicht mehr an die Wissenschaft glaubt?≪
Da flammte ein Strahl der Begeisterung in den trüben Augen des Archidiakons auf.
≫Nein, Gevatter≪, rief er, den Arm seines Gegenübers ergreifend, ≫nein! Die Wissenschaft als solche leugne ich nicht! Nicht umsonst habe ich mich mit den bloßen Nägeln in die Erde eingewühlt! Nein, am Ende des finsteren Ganges sah ich ein Licht, eine Flamme, ein Etwas blinken! Ohne Zweifel war es der Reflex des blendenden Feuerherdes, an dem Dulder und Weise die Gottheit erspähten!≪
≫Und so haltet Ihr für gewiß?≪
≫Die Alchimie!≪
≫Bei Gott, da habt Ihr recht≪, stimmte Coictier bei. ≫Aber weshalb sollen außer der Alchimie nicht auch Heilkunde und Astrologie ihre Geltung haben?≪
Da richtete sich der Archidiakon hoheitsvoll auf: ≫Weil die Heilkunde die Kenntnis des Menschen voraussetzt und die Astrologie die des Himmels.≪
≫Hoho≪, lachte Coictier voll Hohn.
≫Hört mich ruhig an, Meister Jakob≪, entgegnete Dom Claude ernst. ≫Ich spreche in gutem Glauben. Ich bin nicht des Königs Leibarzt, und Seine Majestät hat mir keinen Garten des Dädalus geschenkt, wo ich die Sternbilder beobachten kann. Ereifert Euch nicht, sondern horcht auf meine Worte. Sagt ehrlich, welche Wahrheit Ihr in der Astrologie gefunden habt? Nach der Heilkunde kunde will ich gar nicht fragen. Die ist ein zu törichtes Gefasel. Was bringen Euch an Wissen solche Tüfteleien wie die Furchenschrift Boustrophedon oder die Funde aus den Zahlen Ziruph und Zephirod?≪
≫Wollt Ihr die sympathische Kraft des Schlüssels Salomons oder die Kabbala des Abtriftwinkels leugnen?≪ fragte Coictier.
≫Lauter Spielereien ohne praktischen Wert! Seht dagegen die Resultate der Alchimie! Bedenkt, wie sich das Eis in den Bergkristall verwandelt, nachdem es tausend Jahre im Erdinnern eingeschlossen war. Erinnert Euch, daß das Blei der König der Metalle ist. Daß die Alchimie festgestellt hat, daß das Gold kein Metall, sondern eine Form des Lichtes ist. Nur vier Perioden zu zweihundert Jahren benötigt das Blei, um die Wandlung über Rotarsenik und Zinn in Silber durchzumachen. Ist das vielleicht keine Tatsache? Was ist dagegen der Schlüssel Salomons? Was die Berührungslinie zweier Körper und was die Sterne? Das sind ebensolche Lächerlichkeiten wie der Aberglaube der Einwohner von Cathay8 , die da meinen, daß die Goldamsel sich in einen Maulwurf verwandeln kann und daß die Karpfenfische aus Getreidekörnern entstehen!≪
≫Auch ich habe die Alchimie studiert und kann sagen…≪
Aber der in Feuer geratene Archidiakon ließ seinen Widerpart nicht ausreden. ≫Und ich habe Medizin, Astrologie und Alchimie studiert! Nur in der letzteren liegt Wahrheit, sage ich Euch!≪
Mit diesen Worten langte er in seine Truhe und holte eine mit schwärzlichem Pulver gefüllte Phiole hervor.
≫Hier ist das Licht≪, rief er triumphierend. ≫Das Gold ist die Sonne. Goldmachen ist Gott sein. Alles andere ist Traum und Schaum.≪
Überwältigt von seiner Bewegung, sank er in seinen Lehnstuhl zurück.
Die ganze Zeit über hatte sich der Gevatter Tourangeau als schweigender Beobachter verhalten.
≫Und?≪ fragte er jetzt gespannt. ≫Habt Ihr Gold gemacht?≪
≫Wenn ich es gemacht hätte, würde der König von Frankreich nicht Ludwig, sondern Claude heißen.≪
Zu dieser feierlich vorgetragenen Behauptung runzelte der Gevatter die Stirne, während Coictier verbissen immer wieder dasselbe in höhnischem Tonfalle wiederholte: ≫Ein Narr! Ein kompletter Narr!≪
Dom Claude aber achtete nicht darauf.
≫Was rede ich von Frankreich≪, sagte er geringschätzig. ≫Was hatte der ganze französische Thron dagegen zu bedeuten, wenn ich den des Orients wiedererrichten könnte?≪
≫Das lass’ ich mir gefallen≪, murmelte der Gevatter.
≫Ein Narr! Ein ganz verdammter Narr!≪
Der Archidiakon hörte gar nicht, was der wütende Doktor sagte.
Er schien nur mit sich selbst zu sprechen, als er fortfuhr: ≫Noch liege ich im Staube. Noch stoße ich mich an den Steinen des steilen Pfades wund. Noch weiß ich nicht, wie der Weg ins Erdinnere führt. Ich erkenne, aber ich weiß nicht. Ich buchstabiere, aber ich lese nicht.≪
≫Und Ihr werdet Gold machen können, sobald Ihr lesen könnt?≪ forschte neugierig der Gevatter.
≫Daran ist nicht zu zweifeln≪, erwiderte der Archidiakon fest.
≫Heilige Jungfrau, dann erinnert Euch, daß ich Eures Goldes sehr bedürftig bin! Dann lehrt auch mich in Euren Büchern lesen! Aber sagt, verehrter Meister, mißfällt diese Wissenschaft nicht Unserer Lieben Frau?≪
Der Archidiakon richtete sich stolz auf:
≫In wessen Dienste stehe ich?≪
≫Es ist wahr. Ihr seid der Diener Unserer Lieben Frau. Verzeiht. Aber wohlan, habt die Güte, weiht mich ein, lehrt mich vorläufig buchstabieren!≪
Da wuchs der Archidiakon zu der hoheitsvollen Haltung eines alttestamentarischen Samuel.
≫Alter Mann≪, sagte er mit feierlicher Würde, ≫um diese Kunst zu lernen, bedarf es mehr Jahre, als Ihr noch vor Euch habt. Euer Haar ist heute bereits grau, den dunklen Pfad aber muß man mit dunklen Locken betreten, wenn man mit weißen noch sein Ende erreichen will. Die Wissenschaft muß mit glatten Wangen begonnen werden und nicht erst mit runzeligen, wenn man in ihr zu etwas erreichen will. Denn man wird ohnehin runzelig, bis man an die ersten Ziele kommt. Aber immerhin, wenn Ihr wirklich nach dem Born der Weisheit dürstet, so kommt zu mir. Ich will’s versuchen, Euch in dem furchtbaren Alphabet zu unterweisen und mit Euch in die Grabkammern der Pyramiden steigen, von denen der alte Herodot spricht. Will mit Euch den Backsteintrog des Turmes von Babel öffnen und mit Euch in das marmorweiße Allerheiligste der indischen Tempel zu Eklinga dringen. Noch habe ich ebensowenig wie Ihr die nach der geheiligten Sikraformel errichtete Chaldäische Mauer gesehen, noch den zerstörten Tempel Salomons. Auch nicht die längst zertrümmerten Steinpforten am Grabmale der Könige Israels. Aber hier habe ich die Reste eines Buches, welches Hermes geschrieben hat. Ich werde Euch die Bildsäule des heiligen Christoph, das Sinnbild des Sämannes erklären. Und die beiden Engel am Portale der heiligen Kapelle, von denen der eine seine Hand in einem Gefäße und der andere in einer Wolke hat…≪
Hier ersah der ungeduldig trippelnde Doktor Coictier eine Gelegenheit, das Licht seiner Gelehrsamkeit leuchten lassen zu können:
≫Da irrt Ihr, Freund≪, fiel er ein, ≫gewaltig irrt Ihr Euch. Dies Symbol ist keine Zahl! Ihr verwechselt Hermes und Orpheus!≪
Dom Claude bewahrte seine unerschütterliche Würde. ≫Der Irrtum ist auf Eurer Seite, Meister Jakob. Dädalus ist Fundament, Orpheus die Mauer, Hermes aber das ganze Gebäude.≪
Nach dieser Abfertigung wandte er sich wieder dem Gevatter zu.
≫Kommt, wann es Euch beliebt. Ich will Euch dann die Goldteilchen zeigen, die im Schmelztiegel Flamels zurückgeblieben sind. Ihr könnt sie mit dem Golde Bischof Wilhelms vergleichen. Ich werde Euch die geheimen Kräfte lehren, die in der griechischen Übersetzung der Taube, in dem Worte Peristera liegen. Hier im Notre-Dame werde ich Euch die Marmorbuchstaben des Alphabets zeigen. Das Portal des Bischofs Wilhelm, die heilige Kapelle. Und von hier wollen wir dann zum Hause und zum Grabe Flamels pilgern und dann seine beiden Hospitäler in der Rue Montmorency besuchen. Ich werde Euch die Bedeutung der Hieroglyphen erläutern, mit denen da die eisernen Feuerböcke an den Eingangstoren bedeckt sind. Und all die großen Fassaden an anderen alten Bauten will ich Euch weisen.≪
So klug auch die Augen des Gevatters zu blicken schienen, des Archidiakons Worte schienen doch über sein Verständnis zu gehen.
≫Zum Teufel hinein≪, rief er. ≫Wie verhält sich das mit Euren Büchern, Meister Claude?≪
≫Hier habt Ihr eins derselben.≪
Mit dieser Antwort öffnete der Archidiakon das Fenster zeigte auf die das Stiftshaus mächtig überragende Kathedrale Notre-Dame, die mit den schwarzen Konturen ihrer beiden Türme, ihrer Steinflächen und ihres machtvollen Firstes gegen den Hintergrund des sternbedeckten Firmaments wie eine doppelköpfige Sphinx wirkte, die sich beherrschend auf die Stadt niedergelassen hatte.
Der Archidiakon versank in Betrachtung des Riesenbaues und wandte sich erst nach einer Weile seufzend ab, um nach dem gedruckten Buche zu langen, welches er beim Eintritte der Besucher auf den Tisch gelegt hatte. ≫Wehe≪, sagte er. ≫Dieses da wird jenes vernichten!≪
Und er sah von dem Buche auf die Kathedrale zurück. Coictier hatte nicht das geringste Verständnis für diese Reflexion, sondern fragte nach einem Blicke auf das Buch erstaunt:
≫Was seht Ihr da so Schreckliches an dem Buch? Das ist doch die Nürnberger Glosse, also fürwahr nichts Neues mehr! Wundert Euch vielleicht daran, daß es gedruckt ist?≪
≫Ihr sagt es≪, bestätigte Dom Claude und versank in schweigsames Grübeln.
Und nach einer Weile hob er klagenden Tones ein Selbstgespräch an:
≫Wehe, dreimal wehe! Das Kleine folgt dem Großen. Der Zahn besiegt die Masse. Die Nilratte das Krokodil, der Schwerthai den Wal, das Buch den Bau!≪
≫Ein Narr! Ein dreifach gesiebter Narr!≪ heulte der Leibarzt.
Der Gevatter aber sagte leise: ≫Ich glaube, er hat recht.≪
Die Abendglocke von Notre-Dame sang ihre wehmutsvolle Weise dazu.
Es war die Stunde gekommen, in der jeder Fremde das Stift verlassen mußte.
Die beiden Besucher rüsteten daher zum Aufbruch.
≫Meister Claude≪, sagte der Gevatter, ≫ich liebe die Gelehrten und die großen Geister. Daher habe ich eine ganz besondere Hochachtung für Euch. Kommt morgen in den Parlamentspalast und fragt nach dem Abt des heiligen Martin von Tours.≪
Damit gingen die beiden, und der bestürzte Archidiakon erkannte nun, wer der unbekannte Besucher gewesen war. Er erinnerte sich, daß der Titel eines Abtes des heiligen Martin von Tours von den Königen Frankreichs geführt wurde.
Es heißt, daß seit diesem denkwürdigen Abende Dom Claude häufig mit der Gegenwart der geheiligten Majestät Ludwigs XI. beehrt wurde, sooft der Herrscher nach Paris kam. Und daß das Ansehen des Archidiakons alsbald das Olivier Le Daims in den Schatten stellte. Und nicht minder das des hochgelehrten Leibarztes, der sich seiner Gewohnheit nach dann dafür rächte, indem er den König noch saugrober als sonst behandelte, sobald dieser mit seinen vielen Krankheiten hilfesuchend zu ihm kam.
Dies wird Jenes vernichten
Welche Gesichtspunkte hatte der Gedanke des Archidiakons, daß das Buch den Bau vernichten müsse?
Anscheinend zwei.
Zunächst war es ein geistlicher Gesichtspunkt. Der Schrecken des Klerikers vor einer neuen Kulturmacht, vor der Buchdruckerkunst. Die instinktive Priesterangst vor dem Leuchten der Presse Gutenbergs.
Kanzel und Handschrift, das gesprochene und das geschriebene Wort, hatten in gleicher Weise über das gedruckte Wort das Schreckempfinden eines Sperlings, der die himmlische Legion ihre sechs Millionen Flügel ausbreiten sieht.
Das gedruckte Wort war der Ruf des Propheten, den die vom Joche bedrängte Menschheit als Freiheitsbotschaft tauschen und sausen hörte.
Es war das Urteil, welches dem Glauben entrinnen und die Übermacht Roms abschütteln sollte. Das Untergraben der Religion durch die Erkenntnis. Die Vorhersage des Philosophen, der den von der Presse beflügelten menschlichen Gedanken aus dem theokratischen Destillierkolben verflüchtigen sieht. Der Schreck des Soldaten, der einen gegen seinen Turm gerichteten ehernen Sturmbock erblickt.
≫Der Turm muß zusammenbrechen≪, sagt er sich.
Es bedeutete, daß eine Macht die andere ablösen wollte. ≫Die Presse wird die Kirche vernichten.≪
Aber hinter diesem für einen Priester naheliegenden Gesichtspunkte stand bei Dom Claude noch ein anderer, moderner.
Nämlich der Folgegedanke des ersten, nicht so leicht zu erfassen, aber schwieriger zu leugnen.
Nicht mehr der Gesichtspunkt eines Priesters, sondern der eines Künstlers und Weisen.
Es war das Feingefühl dafür, daß mit der Änderung der äußeren Form für den menschlichen Gedanken auch eine Änderung der Ausdrucksweise eintreten mußte. Daß da nicht mehr dasselbe Material und dieselbe Manier gebraucht werden konnte. Daß das dauerhafte Steinbuch dem noch dauerhafteren Papierdruck weichen mußte. Daß eine Kunst die andere verdrängen, daß der Höhe der Baukunst die Höhe der Buchdruckerkunst folgen mußte.
Unleugbar bildete seit Beginn aller Kultur bis zum fünfzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung die Baukunst das große Buch der Menschheit, den niedergelegten Gedanken ihres Werdens und ihrer Entwicklung, das oberste Ausdrucksmittel ihrer Macht und ihres Wissens. Als die Gedächtniskraft der ersten Menschheit zu stark überlastet wurde und der Ballast ihrer Erinnerungen in ein Chaos auszuarten drohte, lief das flüchtige gesprochene Wort Gefahr, unterwegs von der fortschreitenden Menschheit verloren zu werden. Da übertrug man es dem sichtbarsten und zugleich dauerhaftesten Material, dem Erdgestein. Man legte die Überlieferung in Baudenkmälern fest. In einfachen Gevierten, die vom Eisen nicht berührt worden waren, wie Moses sagt.
Gleich der Schreibkunst war die Architektur in ihren Anfangsgründen ein Alphabet. Man stellte einen Stein lotrecht auf und hatte den ersten Buchsraben. Jeder der Buchstaben war eine Hieroglyphe, und auf jeder Hieroglyphe ruhte eine Gedankengruppe gleich dem Kapitäl auf der Säule.
Derart schufen alle Rassen, voneinander unabhängig, auf der ganzen Erde. Man findet den aufgestellten Stein bei den Kelten, in Sibirien und auf den Pampas.
Später erst bildete man das Wort, indem man Stein auf Stein stellte. So entstanden die Granitsilben, die zu Worten vereinigt wurden. Das Wort aber suchte sich dann schon selbst die zugehörigen Verbindungen. Aus diesen wurde der Satz.
Die Kelten hatten in den Dolmen ihre ältesten Steinbauten und in den Cromlech ihre ersten Druidentempel. Die Etrurier im Tumulus ihren Grabhügel, die Juden im Galgal ihren Begräbnisplatz. Alle aber ihre ersten Worte. War dann die Landstrecke weit genug, so entstand aus der Nachbarschaft dieser Wortbauten der Satz. In diesem Sinne sind die Steinmassen von Carnac bereits eine riesige Formel.
Schließlich kam man dazu, ganze Bücher zu bauen. Die Tradition hatte gewisse Sinnbilder festgelegt, die sich wie Blätter so lange aneinanderreihten, bis unter ihnen, wie beim Baume der Stamm, die Überlieferung selbst verschwand. Und immer mehr begann die Zahl dieser Sinnbilder zu wachsen. Sie vervielfältigen sich und verbanden sich zu einer immer größer werdenden Verwirrung. Die ersten Baudenkmäler wurden ein zu unzulänglicher Ausdruck, sie drängten aus den sie beengenden Formen heraus. Kaum waren sie noch eine Wiedergabe der alten Tradition, die einfach und nackt wie sie selbst auf dem bloßen Erdboden gestanden hatte.
Das Sinnbild fühlte das Verlangen, sich im Gebäude zu enthüllen. Die Baukunst entwickelte sich mit dem menschlichen Gedanken zu einer tausendköpfigen und tausendarmigen Riesin, indem sie in ewig sicht- und greifbarer Form das schwankende Sinngebilde festzuhalten begann.
So bedeutete Dädalus die Kraft, Orpheus die Intelligenz. Jener maß und dieser sang, bis sich die Gruppen nach den Gesetzen der Kunst vereinten. Aus Meßkunst und aus Dichtkunst erstanden die Säule als Buchstabe, die Wölbung als Silbe, die Pyramide als Wort. Diese verschmolzen ineinander, senkten oder haben sich und schichteten sich himmelan, bis der Zeitgedanke Wunderbücher diktierte, wie da sind: die Pagode zu Eklinga, das Rhamseion in Ägypten, der Tempel Salomons.
Das Wort als Grundgedanke war aber in den Bauten nicht nur in ihrer Anlage, sondern auch in ihrer Form vertreten. Der Tempel Salomons war kein einfacher Bucheinband, sondern das Heilige Buch selbst. An jeder seiner konzentrischen Einfriedungen konnten die Hohenpriester das überlieferte und geoffenbarte Wort lesen. Sie konnten seine Umbildungen von Heiligtum zu Heiligtum verfolgen, bis sie es im letzten Zufluchtsorte, in der sinnfälligsten Form der Baukunst, in der Arche fanden. Derart war das Wort in dem Riesenbaue eingekapselt, sein Abbild aber auf der Hülle sichtbar wie die Menschenform an den Konturen der Mumienbewicklung.
Der Gedanke wurde nicht bloß in der Gestalt des Bauwerkes, sondern auch in dem dafür gewählten Bauplatze ausgedrückt. Je nach beabsichtigter Anmut oder Düsterkeit stellte Griechenland seine harmonischen Tempel auf die Bergeshöhen, wühlte Indien seine granitenen Elefantenkolonnaden ins Erdinnere hinein.
Eine Kulturepoche von sechstausend Jahren reicht von den ältesten Hindupagoden zum Kölner Dom, die in Bauten aufgezeichnete Geschichte der Menschheit überhaupt.
Das ist eine so unbezweifelbare Wahrheit, daß in dieser Serie von Bauten nicht nur jedes religiöse Dogma, sondern überhaupt jeder menschliche Gedanke wie in einem ungeheueren, erdumspannenden Buche gelesen werden kann.
Jede Zivilisation beginnt mit der Priesterherrschaft und endet mit der Demokratie. Und diese gesetzmäßige Entwicklung ist in der Baukunst wortgetreu aufgezeichnet. Man darf nicht glauben, daß die Kunst der Maurer darauf beschränkt war, Tempel zu bauen, Mythen und kirchlichen Symbolismus darzustellen, daß nur die geheimnisvollen Tafeln des Gesetzes in Hieroglyphen eingetragen worden sind. Jedes geheiligte Sinnbild nutzt sich im Gebrauche ab, jeder Mensch kommt in die Jahre, in denen er dem Priester entwächst. Die Entwicklung der Philosophie verdrängte die religiösen Glaubenssätze. Und die Baukunst sollte dies alles nicht wiedergegeben haben?! Ihre auf der Vorderseite beschriebenen Blätter wären auf der Rückseite leer geblieben? Das Buch würde unvollständig sein, wenn nicht jeder menschliche Gesellschaftszustand darin seinen Ausdruck gefunden hätte. Selbstverständlich geschah dies nicht.
Am besten ersehen wir dies aus dem Mittelalter, das uns zeitlich am nächsten liegt. In seiner ersten Periode organisierte die Priesterherrschaft die europäische Gesellschaftsstruktur, und der Vatikan versammelte zu seinen Füßen die Elemente Roms, die rings um das Kapitol zu Schutt zerfallen waren. Von hier strahlte als Neubelebung das Christentum in die Ruinen versinkender Kulturen hinaus, um alle Schichten der Menschheit zu durchdringen und aus den Trümmern des Gestürzten ein neues hierarchisches Weltall aufzubauen. Aus dem Chaos entstand eine Wölbung, deren Schlußstein die Priesterschaft war.
Unter dem belebenden Hauche des Christentums bildete sich aus dem Schutt der abgestorbenen griechisch-römischen Bauten unter den Händen von Barbaren die geheimnisvolle romanische Baukunst als Schwester der unter Priesterherrschaft geschaffenen Mauerwerke Ägyptens und Indiens, als unvergängliches Symbol des katholischen Glaubens, als die unwandelbare Hieroglyphe des päpstlichen Einheitsgedankens. Die ganze damalige Gedankenwelt ist in den romanischen Baudenkmälern ausgedrückt. Deren Düsterkeit ist ein Reflex ihrer Zeit. An ihr fühlt man die Gewalt der päpstlichen Einheit, die unumschränkte Herrschsucht und die festgefügte Verschlossenheit Gregors VII. Überall sieht man an ihr nur den Priester, nie den Menschen, überall die Kaste, nie das Volk.
So kam die Zeit der Kreuzzüge heran.
Sie waren eine große Volksbewegung. Und was immer die Ursachen und die Ziele einer Volksbewegung sein mögen, jede von ihnen weckt den Geist der Freiheit aus künstlich erzwungenem Schlummer hervor. Neuerungen verlangen neue Bahnen. Volksaufstände, Bauernkriege, Fürstenbündnisse lösten einander ab. Die Autorität begann zu wanken. Die Einheit spaltete sich. Das Lehenswesen forderte eine Teilung mit der geistlichen Herrschaft. Dabei rechnete es auf die Hilfe des Volkes, das dann den Löwenanteil an sich riß. So wechselten Priester, Lehensherren und Volk in der Führung ab. Das Aussehen Europas machte die entsprechenden Änderungen durch. Und die Baukunst hielt damit gleichen Schritt. Sie schlug ebenso wie die Zivilisation eine neue Seite auf. Der neue Zeitgeist aber fand sie bereit. Unter seiner Eingebung schrieb sie ein neues Buch.
Aus den Kreuzzügen wurde der arabische Spitzbogen nach dem Abendlande gebracht, ebenso wie für die Völker der Freiheitsgedanke.
Die romanische Baukunst begann zu verfallen, in gleicher Weise, wie Roms Hegemonie nach und nach zerstückelt wurde.
Aus den Dornen verschwand die Hieroglyphe, und in die Wappenkunde wurde der Turm eingeführt, der dem Lehenswesen seinen Zauber verlieh.
Der Dom war nicht mehr das den Glauben sicher ausdrückende Bauwerk, er entzog sich dem Priester, um der Macht des Künstlers anheimzufallen. Bürgerschaft und Freiheit nahmen ihn als Gemeindeeigentum in Besitz.
Mysterium, Mythus und Dogma verabschiedeten sich, Phantasie und Laune lösten sie ab.
Zwar behielt in der Regel der Priester den Altar und das Kirchenschiff. Aber dies hatte nichts zu sagen, da der Künstler die vier Mauern besaß. Das steinerne Buch gehörte nicht mehr dem Priestertume, nicht mehr der römischen Religion. Die Poesie, die Einbildungskraft, das Volk hatten es sich angeeignet.
Von da an begann die schnelle Flucht der zahllosen Umformungen in diesem Zweige der Architektur.
Die nur durch drei Jahrhunderte blühte, welche aber nach dem siebenhundertjährigen Stillstande der Romanik um so bemerkenswerter war.
Mit Riesenschritten schritt die Kunst über die freigegebene Bahn. Der Genius und die Ursprünglichkeit des Volkes besorgten, was einst die Bischöfe getan. Jede Generation schrieb ihre Zeile in das große Buch. Die romanischen Hieroglyphen an dessen Einband wurden ausgelöscht, die Fassaden der Dome änderten sich, und dies zeigte sich um so klarer, als man das Dogma immer noch stellenweise unter den neuen Sinnbildern hervorblinzeln sah.
Aber die Drapierungskunst des Volkes versteckte den dogmatischen Untergrund immer mehr. Kaum daß noch das Knochenskelett des Alten übrigblieb. Wie immer, schoß auch da das Neue zuweilen über das Ziel hinaus. Es war oft unglaublich, welche Ausschweifungen sich die Baumeister gegen das Priestertum erlaubten. Da entstanden Kapitäle wie die in der Kamingalerie des Pariser Justizpalastes, auf denen Mönche und Nonnen in unzüchtigen Paarungen zu sehen waren. Da wurden die Abenteuer Noahs in ganzen Zügen ausgemeißelt, wie am Portale des Doms von Bourges. Da sah man einen bacchantischen Mönch mit Eselsohren, der mit einem Glase in der Hand die Kirchenbesucher angrinste, wie am Waschbecken der Abtei zu Bocherville.
Der in Stein gehauene Gedanke war jeder Zensur entwachsen, er glich unserer Preßfreiheit. Es war die freie Zeit der Kunst.
Ihre Freiheit ging sehr weit.
Manches Portal, manche Fassade einer Kirche zeigte Gedanken, die mit dem Gottesdienst nicht das geringste zu tun hatten, ja sogar solche, die diesem direkt feindlich waren. Vom dreizehnten Jahrhundert an, mit Bischof Wilhelm von Paris, im fünfzehnten mit Flamel sind Seiten rebellischen Inhaltes vollgeschrieben worden. Die Kirche Saint-Jacques de la Boucherie war ein den Widerstreit darstellendes Gotteshaus. Nur in dieser Form genoß damals der Gedanke Freiheit, nur in dieser Form konnte er daher ausgedrückt werden. Als Handschrift hätte ihn auf öffentlichem Platze der Henker verbrannt, dessen Zugriff er als Steingebilde entrückt war. Als Kirchenportal verkleidet, hätte der Gedanke sich selbst als Pergament in den Flammen winden gesehen, wenn er töricht genug gewesen wäre, sich in dieser verpönten Form ans Licht zu wagen.
Da die Maurerkunst das einzige Ventil für den die Geister belastenden Druck war, wurde in ihr der Freiheitsdrang aller Richtungen vereint.
Daher stammt die ungeheure Zahl der Europa bedeckenden Kathedralen.
Alle körperlichen und geistigen Kräfte sind in ihnen zusammengeströmt.
Unter dem Vorwande des Gottesdienstes entfaltete sich die Kunst.
Wer damals sich als Dichter fühlte, der machte keine Verse, sondern er ging hin und wurde Baumeister. Das in den Volksmassen verstreute Genie war unter erzene Helme gezwängt werden und fand in der Baukunst den einzigen Ausweg aus dieser Panzerung. So dichtete es statt der Iliaden die Kathedralen. Und alle anderen Künste ordneten sich der Disziplin der Baukunst unter. Sie wurden zu Arbeitern an dem großen gemeinsamen Werke. Der Baumeister war Dichter und Magister zugleich. Ihm gehorchten der Steinmetz, der die Fassaden meißelte. Der Maler, der die Fensterbilder schuf. Der Musiker, der den Glocken und der Orgel ihre Harmonien verlieh.
Daneben gab es nur eine ärmliche Dichtkunst, die hartnäckig auf einem Vegetieren in Handschriften bestand. Die sich nicht als Hymnus oder Prosa der Baukunst einfügen wollte und welche dieselbe Rolle spielte wie die Tragödien des Äschylus bei den Priesterfesten Griechenlands oder wie das erste Buch Mosis im Tempel Salomons.
Bis zum Auftreten Gutenbergs war die Baukunst die führende Kunst, die gemeinsame Allgemeinschrift. Sie war ein Buch aus Granit, begonnen im Orient, fortgeführt von der klassischen Epoche Griechenlands und Roms, beendet vom Ausgange des Mittelalters.
Die im Mittelalter beobachtete Erscheinung einer Volksbaukunst war bei gleichartiger Richtung des Menschengeistes schon zu anderen Zeiten zu sehen gewesen, wenn die Bauweise einer Gesellschaftsklasse durch die einer anderen verdrängt wurde.
Die verschiedenen Geschichtsepochen enthüllten dadurch ein Gesetz, demzufolge in der Urzeit im Morgenlande auf die Kunst der Hindus die der Phönizier folgte. Diese war die üppige Mutter des arabischen Stils. Andrerseits schloß sich im Altertume an die ägyptische Baukunst der etruskische Stil, dessen Abart die Zyklopenbauten waren. Ihr folgte gleichfalls die griechische Baukunst, von der die römische befruchtet wurde, nachdem Karthago das Zwischenglied geliefert hatte. In neuerer Zeit trat dann der hieraus erstandene romanische Stil dem gotischen die Herrschaft ab.
Bei Trennung dieser drei Stilreihen ergibt sich am indisch-ägyptisch-römischen Aste das Symbol der Priesterherrschaft, der Kaste, der Einheit, des Dogmas, der Mythen, mit einem Worte Gott.
Der phönizisch-griechisch-gotische Zweig zeigt bei aller Verschiedenheit der Ausführung und Form die Freiheit, das Volk, den Menschen selbst.
Indien, Ägypten oder Rom, Brahmane, Augur oder Papst, Priester ist Priester, und seine Kunst ist von der des Volkes durch einen Abgrund geschieden. Diese ist nicht so heilig, aber reicher. Im phönizischen Stil erkennt man den Kaufherrn, im griechischen den Republikaner, im gotischen den Bürger.
Die aus der Zeit der Priesterherrschaft stammenden Bauwerke zeigen als Haupteigenschaften Unveränderlichkeit, Abscheu vor dem Fortschritte, Festhalten an überlieferten Formen, unerschütterliche, oft unbegreifliche Normen bei der Darstellung von Mensch oder Natur. Sie gleichen Büchern, deren Sinn in Dunkel gehüllt ist, um nur von den Eingeweihten entziffert werden zu können. Jede darin enthaltene Form oder Mißform hat einen unveränderlichen Sinn, dessen Verletzung ein Sakrileg ist. Die indischen, ägyptischen oder romanischen Baumeister würden auch in Jahrmillionen keine Änderung ihrer Baupläne oder Verbesserung ihrer Bildnerkunst leisten können. Denn durch ihre Bindung an die Starre ihres Glaubensdogmas müßten sie in jeder noch so geringen Änderung eine Gottlosigkeit sehen. So gleicht ihre Kunst der Versteinerung ihrer Religion.
Die vom Volke geschaffenen Kunstwerke stehen dazu im schroffsten Gegensatz. Sie zeigen Mannigfaltigkeit, Fortschritt, Ursprünglichkeit, Reichtum, beständige Abwechslung. Ihre Entfernung von den Dogmen der Religion gestattet ihnen Bewegungsfreiheit und mit dieser das Streben nach der Schönheit der Form. Immer wieder trachtet die Volkskunst die Ausschmückung ihrer Säulen und Arabesken zu verbessern. Jede derselben ist ein Widerschein ihrer Zeit. Dadurch machen sie einen menschlichen Eindruck, ohne der göttlichen Symbolik ganz zu entraten, die sich ab und zu unter der führenden Richtung feststellen läßt. Aus dieser Volkskunst stammen daher nur Bauwerke, zu deren Verständnis kein Eingeweihtentum erforderlich ist. Jede Intelligenz kann sie verstehen, jedes Herz begreifen, jede Phantasie ergründen. Denn ihre Symbole sind leicht faßlich wie die Natur selbst.
Es besteht zwischen Priesterstil und Volkskunst ein Unterschied wie der, welcher fromme Sprüche von einer Volksrede trennt. Eine Differenz wie zwischen Salomo und Phidias.
Um die einschneidende Wirkung der Buchdruckerkunst auf die Entwicklung der menschlichen Geistesrichtung voll erfassen zu können, darf es nie aus dem Auge verloren werden, daß bis in das fünfzehnte Jahrhundert hinein die Baukunst das Hauptbuch der Menschheit gewesen ist, daß bis zu diesem Zeitpunkte nicht ein Gedanke von Bedeutung gedacht werden ist, der nicht seine Ausdrucksform als Baudenkmal gefunden hätte. Daß jedes Religionsgesetz, jede Volksidee das entsprechende Steinbild gefunden hat. Daß nichts geschah, was nicht im Granit niedergeschrieben worden ist.
Und warum?
Weil jeder Gedanke, sei es in der Religion, sei es in der Philosophie, nach Verewigung drängt.
Weil der Gedanke sich nicht daran genügen läßt, nur eine Generation zu erregen. Sondern allen folgenden Generationen seinen Stempel aufzudrücken strebt.
Wie zweifelhaft muß da eine bloße Aufzeichnung auf Pergament erscheinen. Wie begreiflich die Suche nach einem festeren, dauerhafteren Material! Das geschriebene Wort konnte ein Schwamm, eine Tücke vernichten. Das gebaute Wort nur eine Revolution, ein Erdbeben. Die Barbaren sind über das Kolosseum gebraust, die Sintflut vermutlich über die Pyramiden.
Erst im fünfzehnten Jahrhundert trat eine Änderung ein.
Der Menschengeist fand ein Mittel, das noch unvergänglicher als die Baukunst ist. Dauerhafter und widerstandsfähiger, dabei leichter fortzupflanzen und nicht lokal gebunden.
Die Baukunst wurde von ihrem Herrscherthron gestürzt. An die Stelle ihrer steinernen Buchstaben wurden die bleiernen Lettern Gutenbergs gesetzt.
Das gedruckte Buch war berufen, das Bandenkmal zu vernichten.
Daher ist die Erfindung der Buchdruckerkunst das größte Ereignis der Weltgeschichte gewesen.
Sie wurde die fortzeugende Revolution.
Sie ist die sich stets von selbst verjüngende menschliche Ausdrucksweise, der stets neue Formen annehmende Gedanke, die vollständige und letzte Häutung jener symbolischen Schlange, unter der seit Adams Zeiten der Geist zu verstehen ist.
Der Buchdruck verleiht dem Gedanken eine vorher nie erreichte Unvergänglichkeit. Er ist beflügelt, unangreifbar, unvertilgbar. Mit Festigkeit verbindet er Schnelligkeit. Aus Dauerhaftigkeit erreicht er Unsterblichkeit. Zur Blütezeit der Baukunst war der Gedanke zu einem Berge angewachsen, indem er gewaltsam Besitz von einem Jahrhundert und von einer Gegend nahm.
Der Buchdruck zerstreut ihn in alle vier Winde und macht ihn zu einem Vogelschwarm, der alle Punkte des Himmels und der Erde besetzte.
Obwohl der Gedanke nur auf Papier gedruckt wird, ist er doch in dieser Form unverwüstlicher als das Gebilde aus Stein. Diese Unverwüstlichkeit liegt bei der weltumspannenden Verbreitbarkeit in der Allgegenwart. Diese läßt sich nicht vernichten wie ein beliebiges Material. Mag eine Sintflut kommen und alle Gebirge zermürbt hinwegschwemmen, die Vögel des gedruckten Gedankens werden ihre Flugfähigkeit behalten, und eine einzige schwimmende Arche wird ihnen genügen, um sich auf derselben niederzulassen und die neue aus dem Chaos tauchende Welt mitzuerleben, zu beflügeln und mit den Ideen der versunkenen Welt zu verbinden. Der Buchdruck ist nicht nur die ausdauerndste und konservativste Art der Gedankenbewahrung, sondern auch die einfachste, die bequemste und für alle erreichbare. Er führt auf seiner Fahrt um die Welt kein schwerfälliges Gepäck, kein ungefüges Gerät mit sich.
Der in der Baukunst niedergelegte Gedanke bedarf einer Anzahl von Hilfskünsten, Tonnen an Gold, Berge an Steinen, Wälder an Balken, Völker als Arbeitsscharen. Der buchgedruckte Gedanke dagegen nur ein wenig Papier und Druckerschwärze, weiter nichts!
Wer mag sich da noch wundern, daß der Menschengeist willig von der Baukunst zum Buchdruck übergegangen ist?
Man durchsuche das Bett eines unter seinem Niveau unterhöhlten Flusses oder Kanals, sofort wird dasselbe vom Gewässer verlassen sein.
Man kann daher sehen, wie seit der Erfindung des Buchdrucks die Baukunst dahinsiecht und an Auszehrung zugrunde geht. Man kann es fühlen, wie das Wasser versiegt, der Saft vertrocknet. Der Gedankengang der Zeiten und Völker hat sich von der Baukunst abgewandt.
Im fünfzehnten Jahrhundert war die Abkühlung der Baubegeisterung erst in ihrem unmerklichen Anfangsstadium begriffen. Die Druckerpresse war noch zu schwach, um der Baukunst mehr als ihre Kraftüberschüsse abnehmen zu können.
Erst seit dem sechzehnten Jahrhundert wird das Siechtum der Baukunst offenkundig. Schon ist sie nicht mehr der wesentliche Ausdruck des gesellschaftlichen Lebens. Schon beginnt sie kläglich in Klassizität zu erstarren. Aus eingeborener gallischer, europäischer Kunst wird sie ein haltloses Gebilde lang versunkener römischer und griechischer Formen, aus wahrer zur falschen Antike, die mit ihrer Zeit ohne inneren Zusammenhang ist. Und dieser Verfall wird Renaissance, Wiedergeburt benannt.
Immerhin ist es ein glanzvoller Verfall. Hinter der Mainzer Buchdruckerpresse hervor leuchtet der altehrwürdige Genius der Gotik wie eine sinkende Sonne mit ihren letzten Strahlen. Noch eine Weile belichtet er das Bastardgewirr aus lateinischen Bogen und korinthischen Säulen.
Aber gerade diese untergehende Sonne kündet die darauffolgende Morgenröte einer neuen Zeit.
Sobald die Baukunst zu einer bloßen Kunst wie jede andere geworden war, verlor ihre Tyrannis jede Berechtigung. Als Gesamtkunst hatte sie unumschränkt die anderen Künste geknechtet und sie ihren selbstherrlichen Regeln unterworfen. Jetzt aber hatte sie nicht mehr die Macht, die bisherigen Trabanten noch weiter im Zaum zu halten.
Die emanzipierten Künste machten sich vom Joche des Baumeisters frei. Jede von ihnen schlug den Weg ein, der zu ihrem Fortkommen der beste war. Jede von ihnen gewann somit bei diesem Auseinandergehen. Jede wurde durch die Teilung größer als das frühere Ganze.
Aus dem Steinmetz entwickelte sich der Bildhauer, aus dem Holzschnitzer der Maler, aus dem strengen Kanon die freie Musik.
Das Weltreich der Musik zerfiel gleich dem Alexanders des Großen, damit aus den Provinzen souveräne Königreiche entstehen konnten.
Die Zeit der Raffaele, der Michelangelos, der Goujons, der Palestrinas, kurz der glanzvollen Sterne des sechzehnten Jahrhunderts begann.
Mit der Befreiung der Künste hielt die des Gedankens gleichen Schritt. Schon hatten die Freigeister des Mittealters dem katholischen Dogma fühlbare Wunden geschlagen. Das sechzehnte Jahrhundert aber brachte in die Glaubenseinheit den unheilbaren Riß. Ohne Buchdruckerkunst wäre die Reformation ein Schisma gleich ihren Vorgängerinnen geblieben, erst Gutenbergs Kunst machte sie zur Grundfesten stürzenden Revolution. Ohne Presse wäre die Ketzerei Luthers wirkungslos im kleinen Kreise verpufft. Und er selbst hätte, wie Savonarola, Hus und andere, auf dem Scheiterhaufen geendet.
Verhängnis oder Vorsehung: Ohne Gutenberg kein Luther.
Als die Sonne des Mittelalters völlig versunken, der gotische Genius erstorben war, begann die Baukunst immer unscheinbarer zu werden, ihr Glanz immer mehr zu erbleichen, bis sie schließlich erlosch.
Wie ein Nagewurm hatte der Buchdruck so lange an ihrem stolzen Gefüge genagt, bis sie morsch zusammenbrach.
Entblößt und entblättert, nahm sie zusehends ab, bis sie arm, dürftig und nichtssagend wurde. Ausdruckslos erinnerte sie in nichts mehr an die Zeit, da sie steingewordener Gedanke gewesen war.
Auf sich allein angewiesen und von allen anderen Künsten verlassen, wurde sie vom menschlichen Gedanken glatt gemieden, und ihre Ausüber sanken von Künstlern zu bloßen Handwerkern und Geschäftsleuten herab.
Dazu kamen die Fortschritte auf anderen Gebieten, um sie ganz erblassen zu lassen. Die Glasscheibe ersetzte das Kirchenfenster, der Steinhauer den bildenden Künstler. Jede Kraft, Ursprünglichkeit und Geistigkeit war dahin. Ausgeblasen wie ihr eigenes Lebenslicht.
Als klägliche Bettlerin schleppte sie sich von Nachahmung zu Nachahmung, und das größte Genie des sechzehnten Jahrhunderts, Michelangelo, widmete ihr einen letzten Gedanken der Verzweiflung, als er wie ein Titan Pantheon auf Pantheon türmte, um den Sankt-Peters-Dom zu Rom zu schaffen. Dieses gewaltige Werk verdient es, das letzte seiner Art geblieben zu sein, denn es ist der letzte Repräsentant einer einst stolzen Kunst. Der Namenszug eines großen Künstlers auf der letzten Seite des ungeheueren Geschichtswerkes, das durch sechs Jahrtausende auf Stein geschrieben werden war.
Was aber tat nach Michelangelos Tod die Baukunst, die ihr eigenes gespensterhaftes Schattendasein längst überlebt hatte?
Sie wagte sich an Sankt-Peter heran, formte ihn ab, parodierte ihn. Das siebzehnte Jahrhundert mit der Kirche Val de Grace, das achtzehnte mit Sankt Genoveva. Bald hatte jedes Land seinen Sankt-Peters-Dom. London, St. Petersburg sogar. Paris hatte deren gleich ein paar. Nichtssagende Nachäffung einer großen versinkenden Kunst, die vor Altersschwäche kindisch wurde, ehe sie ganz verschied!
Aber nicht nur an diesem Kitsch, sondern auch im Gesamteindrucke der vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert ausgeübten Baukunst bemerken wir allenthalben die Zeichen hinsiechenden Verfalls.
Seit Franz II. verschwindet die architektonische Form der Bauwerke immer mehr und mehr, und statt ihrer tritt der geometrische Konstruktionsplan immer aufdringlicher hervor. Ähnlich wie bei einem abgezehrten Kranken das Knochenskelett! Statt schwungvoller Kunst öde gradlinige Mathematik! Eine anerkennenswert genaue Zusammenstellung von Flächen!
Dabei aber das qualvolle Versuchen, diese Blöße zu verdecken. Da wird dann ein griechischer Giebel auf römische Flächen aufgesetzt. Oder umgekehrt. Pantheon im Pantheon, frei nach Sankt Peter zu Rom.
Aus dieser Zeit stammen die Ziegelsteinhäuser, die Place Royale, die Place Dauphin. Die Kirchen Ludwigs XIII. Plumpe, ungefüge Kloben, untersetzt, zusammengedrückt, mit einer aufgestülpten Kuppel, die einem Buckel gleicht. Daher die Bauart a la Mazarin, verpfuschte italienische Pastetenbäckerei, wie an der Quatre Nations. Ebendaher auch die Palastbauten Ludwigs XIV., diese kaltherzigen, ultrafaden, übergeräumigen Höflingskasernen. Und der Baustil Ludwigs XV. mit seinem Zichorienblatt-Geranke und seiner Makkaroni-Arabeskerei, mit seinen Pilzen und Warzen, der die Bauwerke alten, zahnlosen, verdatterten Kokotten ähnlich macht.
Von Franz II. bis Ludwig XV. wächst das Elend mit dem Fortschritte der Geometrie. Haut und Knochen, das ist die ganze Kunst. Ein klägliches Ringen gegen den unvermeidlichen Tod.
Und die Buchdruckerkunst? Sie saugt die ganze entschwindende Lebenskraft der Baukunst in sich hinein.
Je mehr die Baukunst niedergeht, desto höher steigt der Buchdruck hinan.
Der früher in den Bauwerken niedergelegte Reichtum an Menschenkräften wird in den Denkmälern der Buchdruckerkunst ausgelebt. Vom sechzehnten Jahrhundert an wächst der Buchdruck immer überragender über das Bauwerk empor, bis er es vernichtet und vertilgt.
Schon im siebzehnten Jahrhundert ist das gedruckte Buch der souveräne Herrscher, unumschränkt, siegreich und im Siege befestigt genug, um der Welt das große wissenschaftliche Jahrhundert bieten zu können.
Nur eine kurze Periode lang liegt unter Ludwig XIV. die Buchdruckerkunst brach. Dann umgürtet sich Voltaire mit Luthers Schwert und zieht zum Sturme gegen das alte Europa aus, dessen Baukunst bereits durch den Buchdruck vernichtet war. Unter lautschallendem Echo wird das Altersmorsche zerstört, bevor das Jahrhundert zur Neige geht.
Und im neunzehnten Jahrhundert baut der Buchdruck zeitgemäß all das wieder auf, was er in der vorhergegangenen Epoche als überlebt in Stücke zerschlagen hat.
Seit drei Jahrhunderten spiegelt so die Buchdruckerkunst den menschlichen Gedanken wider, um ihn auszudrücken und weiterzugeben in tiefgehender allseitiger Bewegung. Ohne Riß und Lücke lagert sie über dem Menschengeschlechte, diesem ungeheuren, stets nach vorne drängenden Tausendfüßler.
Die Baukunst aber ist tot, verschieden, ohne Hoffnung auf eine Wiederkehr. Erschlagen durch das Buch, weil sie zu teuer und zu wenig nachhaltig ist. Man bedenke, welcher Aufwand an Mitteln nötig wäre, um das sechs Jahrtausende alte Steinbuch zu rekonstruieren. Wieviel Bauwerke da über die Erdoberfläche gesät werden müßten, damit keine Lücke übrigbleibt. Nur was die Kirchen allein anbelangt, die wie ein weißes Gewand die Welt bedecken würden.
Das Buch ist bald hergestellt, verursacht nicht viel Kosten und kann überall hingelangen. Es ist daher nicht zu wundern, daß der menschliche Gedanke diese Ausdrucksform vorgezogen hat.
Damit soll der Baukunst nicht die Fähigkeit abgesprochen werden, hie und da ein vereinzeltes schönes Hauptwerk schaffen zu können. Auch unter der Hegemonie des Buchdrucks wird dann und wann eine Säule errichtet werden müssen, um eine besonders markante Begebenheit darzustellen. Wie zum Beispiel die von einem ganzen Heere zusammengetragene Denksäule aus Kanonen. Ebenso wie auch unter der Herrschaft der Baukunst vereinzelte große Dichtungen entstanden sind. Die Ilias, die Romanzeros, die Maharattas, das Nibelungenlied. Sie sind auch durch Zusammentragen entstanden. Denn in ihnen sind alle Heldenlieder des betreffenden Volkes vereint.
Vielleicht ereignet sich im zwanzigsten Jahrhundert der Glücksfall, daß ein baumeisterliches Genie geboren wird, ebenso wie zur Baukunst im dreizehnten Jahrhundert ein Dichtergenie, Dante, ganz unerwartet erschien.
Aber nie wieder kann die Baukunst die Alleinkunst, die führende Kunst der Gesellschaft sein.
Das große Denkmal wird nicht mehr gebaut, es wird gedruckt.
Selbst neubelebt, kann die Baukunst nie wieder die Gebieterin sein. Die große Dichtung wird immer das große Kunstwerk der Menschheit bleiben. Die Baukunst aber wird der Wissenschaft untertan bleiben, die einst von ihr inspiriert werden ist.
Baukunst und Buchdrucker werden immer zueinander in ihrem verkehrten Verhältnisse stehenbleiben. In der Epoche der Baukunst waren die Dichterwerke eine Seltenheit. Zudem glichen sie in ihrer ganzen Struktur Baudenkmälern. Die indische Vyasa ist bunt, merkwürdig und unergründlich wie eine Pagode. Die Dichtungen Altägyptens haben die Größe und Ruhe der Pyramiden. Die altgriechischen Poesien atmen dieselbe Schönheit und Heiterkeit wie die Tempelbauten aus. Im christlichen Europa des Mittelalters herrscht die Erhabenheit des katholischen Kirchenbaus und zur Zeit der Gotik volkstümliche Anmut bei üppigem Wachstum. Die Bibel ist eine Pyramide, die Ilias ein Parthenon, Homer ist der Bruder des Phidias, Dante die letzte romanische Kirche, Shakespeare der letzte gotische Dom.
Das Menschengeschlecht hat zwei Bücher, zwei Register, zwei Testamente geschaffen, die Baukunst und den Buchdruck, die Bibel aus Stein und die Bibel aus Papier. Beim Blättern in diesen beiden seit Jahrhunderten weit geöffneten Bibeln erfaßt den Beschauer Wehmut über die Erhabenheit der granitenen Schrift, über die Kolossalalphabete in den Kolonnaden, Portalen und Obelisken, über die von Menschenhand getürmten Berge, die von der Cheops-Pyramide an bis zum Straßburger Münster die Welt und ihre Vergangenheit darstellen. Niemand kann diesen Marmorblättern im Buche der Baukunst gegenüber kalt bleiben, aber bei aller Bewunderung für sie kann niemand gegen die überlegene Größe des Denkmals blind sein, das die Buchdruckerkunst errichtet hat.
Dieses Denkmal ist gigantisch fürwahr!
Würde man alle seit Gutenberg gedruckten Bücher übereinanderschichten, so könnte damit der zwischen Erde und Mond liegende Raum ausgefüllt werden.
Aber diese rein körperliche Größe ist gar nicht gemeint. Um eine Vorstellung über die bisher geschaffenen Erzeugnisse des Buchdrucks zu bekommen, muß man sich deren Inhalt als ein Riesengebäude denken, welches auf der ganzen Welt ruht. In welchem die ganze Menschheit ohne Unterbrechung emsig schafft. Dessen Giebel in das Dunkel der Zukunft ragt.
Dieser Kolossalbau ist die Zusammenfassung aller geistigen Kräfte, der Bienenstock, in welchem die Phantasien als goldschimmernde Bienen ihren süßen Honig lagern. Ein Bau mit ungezählten Stockwerken, aus dessen dunklem Innerem die Gänge der Wissenschaft ins Freie münden.
An der Außenseite hat die Kunst ihre reichverschlungenen Arabesken, ihre Rosetten und spitzenartigen Verzierungen angebracht.
Mögen die einzelnen Teile des Baues noch so abgesondert und phantastisch-launenhaft erscheinen, das Ganze ist die Harmonie selbst.
Von der Shakespeare-Kathedrale bis zur Byron-Moschee erheben sich zahllose Türme in buntem Gemenge über dem Firste der Gedankenmetropole.
Unter dem Grundsteine des Geistesbaues liegen einige alte Urkunden der Menschheit, die von der Baukunst nicht verzeichnet worden sind. Links vom Hauptportale erblickt man das Homer-Basrelief, rechts die sieben Häupter der polyglotten Bibel. Da sträubt sich im Entrée der Romanzerodrache, umlagert von den Bastardformen der Vedas und der Nibelungen.
Nie wird der Bau vervollständigt sein, sondern ewig unvollendet bleiben.
Unaufhörlich saugt der Riesenapparat aller vereinigten Druckerpressen sämtliche Säfte des Geisteslebens ein, unaufhörlich speit er sie wieder aus als wiederkehrendes Arbeitsmaterial für den Bau.
Das ganze Menschengeschlecht ist auf dem Baugerüst versammelt, jeder Geist ist ein Maurergeselle. Der niedrigste Handlanger stopft ein Loch und legt einen Stein darauf. Restif de la Bretonne schleppt eine Bütte voll Gips daher. Täglich wird eine neue Schicht errichtet. Sammelbeiträge folgen auf die unabhängigen Einzelspenden selbständiger Schriftsteller. Das achtzehnte Jahrhundert bringt die Enzyklopädie, die große französische Revolution den ≫Moniteur≪. Auch da haben wir einen Teilbau, der im Wachsen eine endlose Spirale zur Höhe führt. Auch da gibt es Sprachverwirrungen wie zu Babel. Es ist eine unablässige Arbeit, ein nie ruhender, erbitterter Wettstreit der gesamten Menschheit.
Aber auch ein Zufluchtsort, der den Geist gegen eine neue Sintflut der Barbarei schirmt.
Es ist der neue Babel-Turm der Menschheit.
Teil V
5
Der alte Richterstand
Eine sehr vom Glück begünstigte Persönlichkeit war im Jahre des Heils 1482 der Edelmann Robert d’Estouteville, Ritter, Herr auf Beyne, Baron von Ivry und Saint-Andry de la Marche, Rat und Kammerherr Seiner Majestät des Königs, Vorsteher des Gerichtsamtes zu Paris.
Schon siebzehn Jahre vorher, im Kometenjahr 14659 , hatte er vom Könige diese schöne Stellung im Gerichtsamte erhalten, die eher eine Lehensherrlichkeit denn ein Amt war.
Die Bestallungsurkunde Herrn d’Estoutevilles datierte vom 7. November genannten Jahres, also vom Datum der Vermählung der natürlichen Tochter Ludwigs XI. mit dem Bastard von Bourbon. An demselben Tage, da der neue Vorstand des Pariser Gerichtsamtes seinen Vorgänger Jakob de Villiers ablöste, trat Johann Dauvet für den gestrengen Herrn von Thorlettes in das Amt eines Oberpräsidenten beim Parlamentsgerichtshofe ein, verdrängte Jouvenel des Ursins, den Herrn von Morvilliers, aus dem Amte eines Kanzlers von Frankreich, ersetzte Herr des Dormans den Peter Puy als Chef der Bittschriftenkanzlei.
Seither waren alle diese Ämter durch verschiedene andere Hände gegangen, nur Robert d’Estouteville saß in seinem Gerichtsamte immer noch fest. Dieses Amt war ihm laut Bestallungsschreiben ≫in Obhut≪ gegeben worden, und er tat sein Bestes, um es in seiner Obhut zu behalten. Er hatte sich daran festgekrallt, sich damit identifiziert und war derart mit ihm eine körperliche Einheit geworden, daß daran, wie an einem Felsen, die Flut der Veränderungen abprallte, nach denen der ewig mißtrauische, geizige und arbeitsame König Ludwig XI. stets Verlangen trug. Es gehörte zur Regierungstaktik dieses königlichen Sonderlings, durch fortwährenden Wechsel in den Reichsämtern die Macht seiner Willkür wach zu erhalten.
Der tapfere Ritter hatte aber nicht nur sich selbst zu behaupten verstanden, sondern auch seinem Sohne die Nachfolgerschaft im Amte gesichert, so daß schon seit zwei Jahren neben seinem Namen auch der des Junkers d’Estouteville am Kopfe des Zivilregisters für das Pariser Gerichtsamt prangte.
Das war dazumal gewiß eine ebenso schöne wie seltene Gunst. Allerdings war Robert d’Estouteville auch ein guter Soldat und so königlich gesinnt, daß er das Banner gegen die Liga des Volkswohles10 erhoben hatte. Auch hatte er der Königin bei ihrem Einzuge einen wundervollen Hirsch aus Zuckerwerk überreicht. Und außer diesen unleugbaren Verdiensten besaß er auch noch den Vorzug, mit Tristan d’Hermite, dem Obersten der königlichen Schloßwache, auf gutem Fuße zu stehen. Es war also eine ebenso angenehme wie bequeme Position, die des Herrn d’Estouteville. Wie Trauben in einem üppigen Weinberge wuchsen ihm nebst einer guten Besoldung die Sporteln in den Mund, die mit diesem Amte verbunden waren. Es waren dies die Einkünfte der Zivil- und Kriminalkammern, kleine Brückenzölle, die Abgaben der Pariser Samenhändler, der Zehnt der Holz- und Salzmesser. Dazu das Vergnügen, in prächtigem Aufzuge die Straßen der Stadt durchreiten zu können, begleitet von den Schöffen und Viertelsmeistern in ihren halb roten, halb lohfarbenen Galaröcken, selbst angetan in dem leuchtenden Ornate, der noch heute, in Stein verewigt, an seiner Grabfigur in der Abtei Valmont zu sehen ist.
Auch gebot er über eine ansehnliche Macht. Diese bestand aus einem Dutzend Obergerichtsdienern, aus dem Schloßvogt und Kommandanten des Châtelet, aus zwei Gerichtsbeisitzern, aus je einem Polizeikommissar für jedes der sechzehn Stadtquartiere, aus dem Kerkermeister des Châtelet, aus vier Lehenspolizeidienern, aus je einhundertzwanzig berittenen und stocktragenden Gerichtsdienern, aus dem Kommandanten der Scharwache samt seiner Truppe, die in Wach-, Unter-, Nacht- und Gegenrunden zerfiel.
Auf diese Organe gestützt, übte der Vorstand des Pariser Gerichtsamtes die höhere und niedere Gerichtsbarkeit aus, als da war Pranger, Galgen, Rad und Schleife. Er war ein königlicher und kein städtischer Beamter, besaß aber die niedere Rechtspflege erster Instanz über den ganzen Pariser Stadtbereich, wofür er ein würdiges Einkommen aus sieben adeligen Balleien bezog.
Tag für Tag genoß er die unbezweifelbare Annehmlichkeit, unter dem weiten flachen Gewölbebaue Philipp Augusts Haftbefehle zu erlassen und Urteile auszufertigen.
Und nach des Tages Lasten kehrte er geruhsam in das schöne Haus im Bezirke des Königspalastes zurück, wo sein Ehegespons, die hochedle Frau Ambroise de Loré, seiner in Züchten harrte. Hier fand er die wohlverdiente Ruhe nach den Anstrengungen, mit denen er irgendeinem armen Teufel eine weniger angenehme Unterkunft in einer der Miniaturzellen der Rue de l’Eschorcherie verschafft hatte.
Damit waren aber die Funktionen des Herrn d’Estouteville keineswegs erschöpft. Er übte nicht nur die Pflege der Gerechtigkeit als Amtsrichter und Gerichtsverwalter von Paris aus, sondern er hatte auch Sitz und Stimme über Leben und Tod im hohen Gerichtshofe Seiner Majestät des Königs selbst. Kein irgendwie hohes Haupt konnte unter dem Henker fallen, bevor es nicht auch durch seine Hände gegangen war.
Bei all diesen Würden und Ehren bedurfte es keines Mehr, um ein glückliches und glänzendes Leben zu führen. Gleichwohl, am Morgen des 7. Januar 1482 war Seine Gestrengen sehr schlechter Laune in einem Teufelshumor erwacht, ohne daß er selbst hätte sagen können, wovon diese Verstimmung kam. War es, weil der Himmel trübe war? Oder weil seine alte Degenkoppel beim Umschnallen Schwierigkeiten machte und seinen Oberrichterbauch zu sehr beengte? Oder weil an seinem Fenster vier liederliche Burschen im bloßen Hemde ohne Wams, mit zerfetzten Hüten und geschwungenen Flaschen vorübergezogen waren, in der offenkundigen Absicht, ihn zu verhöhnen? Oder weil er ein dunkles Vorgefühl davon hatte, daß der sparsame König im nächsten Jahre seine Einkünfte um dreihundertsiebzig Pariser Pfund und diverse Sols und Heller beschneiden würde?
Wie dem auch sei, Tatsache war jedenfalls, daß Herr d’Estauteville an diesem Morgen miserabel aufgelegt und daß dafür vielleicht die naheliegendste Erklärung auch die einzig richtige war, nämlich daß er einfach deshalb schlechte Laune hatte, weil er eben schlechter Laune war.
Zudem war es der Tag nach einem Feste, also ein Tag der Langeweile für jedermann, namentlich aber für die Behörde, deren Aufgabe es war, sowohl eigentlich als auch bildlich betrachtet, all den Schmutz wegzuräumen, den seit je ein Pariser Fest hinter sich zurückzulassen pflegte. Nach Erledigung dieser Aufgabe stand auch noch eine Sitzung im Grand-Châtelet bevor.
Es ist eine oft beobachtete Tatsache, daß die Richter ein Talent dafür haben, die Tage großer Sitzungen mit denen ihrer schlechten Laune zusammenfallen zu lassen. Begreiflicherweise, denn da haben sie gleich jemanden bei der Hand, an dem sie in aller Bequemlichkeit im Namen des Königs und des Gesetzes Gerechtigkeit ausüben können.
Indes hatte die Sitzung bereits begonnen, bevor Herr d’Estouteville persönlich erschien. Dem Brauche gemäß warteten seine Beisitzer nicht auf ihn, um sein Amt für Zivil-, Straf- und Privatrechtsfälle zu versehen. Schon von acht Uhr früh an hatten ein paar Dutzend neugieriger Bürger und Bürgerinnen die Genugtuung, in einem dunklen Winkel des im Erdgeschosse des Châtelets gelegenen Gerichtssaales dem abwechslungsreichen, unterhaltsamen Schauspiele beizuwohnen, wie Zivil- und Kriminalfälle behandelt wurden.
Als Leiter dieser Amtshandlungen fungierte Meister Florian Barbedienne, Untersuchungsrichter des Châtelets und Beisitzer des Oberrichters, wobei es nicht an Buntheit und Kernigkeit mangelte.
Der Gerichtssaal war klein, niedrig und gewölbt. An einem seiner Enden stand ein mit den königlichen Wappenlilien geschmückter Tisch und hinter diesem ein großer Lehnstuhl aus geschnitztem Eichenholz, der jedoch leer war, weil er dem Herrn Oberrichter gehörte. Zur Linken dieses Oberstuhles stand ein Schemel, der gebührende Platz des Beisitzers und Unterrichters Meister Florian. Am unteren Tischende hatte der Gerichtsschreiber mit seinen Protokollutensilien Platz genommen. Gegenüber stand das Volk. An der Türe und vor dem Richtertische ein Schwarm von Gerichtsdienern in ihren Röcken aus violettem Wollstoffe mit weißen Kreuzen auf der Brust. Hinter dem Tische befand sich eine schmale Wandtüre, an der zwei Diener des Bürgerrates in ihren Allerheiligenfest-Jacken, halb rot, halb blau, Wache hielten. Ein einziges in die dicke Mauer eingezwängtes Spitzbogenfenster beleuchtete mit dem bleichen Scheine des Januarmorgens den wunderlichen Gegensatz zwischen einem als phantastische Deckenzier angebrachten Teufel aus Stein und dem Richter, der im Hintergrunde des Saales bei den Lilien saß.
Zwischen zwei Aktenstößen saß Meister Florian, der Untersuchungsrichter, auf seinem Platze am Richtertische, auf seine Ellbogen gestützt, während sein Fuß auf der Schleppe seiner glattbraunen Robe ruhte. Sein rotes, widerwärtiges Gesicht war unter einer Schaube aus weißem Lammfell noch abstoßender als ohnehin. Seine Brauen schienen ausgerissen werden zu sein, und seine Augen zwinkerten, während er seine Backen mit dummstolzer Würde aufblähte, bis sie sich unter dem Kinne zusammenwulsteten.
Außerdem besaß er nur einen für einen Untersuchungsrichter ganz unbedeutenden Fehler, den, daß er taub war. Nichtsdestoweniger fällte er seine Urteile sehr angemessen und in letzter Instanz.
Es genügt sicherlich, wenn ein Richter die Parteien anzuhören scheint. Und gerade dies verstand Meister Florian tadellos, weil seine Aufmerksamkeit infolge seiner Taubheit durch nichts abgelenkt werden konnte, was ja das Wesentliche für eine gute Justizpflege ist.
Im übrigen hatte Meister Florian unter den Zuhörern im Gerichtssaale einen unbestechlichen Kritiker an dem Studiosus Johannes Frollo du Moulin, der immer da zu finden war, wo kein Katheder eines Professors stand. ≫Halt!≪ teilte er eben seinem Nachbarn, dem Studenten Poussepain mit, der kichernd seine Glossen machte, ≫halt! Da ist ja Hänschen, die kleine Tochter dieses Tagediebes Buisson. Bei meiner Seele, der Alte verknallt sie richtig! Fünfzehn Sols, weil sie zwei Rosenkränze getragen hat! Das ist ein teurer Luxus, in der Tat!… Und wer kommt denn da? Robin, der Panzerlehensmann. Das Antrittsgeld für seine Aufnahme in die Meistergilde. Pah! Was man sich dafür kauft!… Hoho! Zwei Edelleute. Was suchen die unter dem Bürgerpack? Zwei Junker, bei Christi Leib! Aha! Wegen Würfelspiel. Da gehört unser Rektor von Rechts wegen auch einmal her! Hundert Pariser Pfund an die königliche Kasse. Das rentiert sich. Der Meister Florian versteht’s. Er haut drein wie ein Tauber. Na, das ist er auch. Ich will mein Bruder, der Archidiakon sein, wenn mich das daran hindern wird, zu spielen, sobald sich mir nur die Gelegenheit dazu bietet. Meinetwegen kann dabei meine Seele nach dem leuten Hemd zum Teufel gehen!…Heilige Mutter Gottes, ein ganzer Auftrieb von Mägduleins! Eine nach der anderen, die süßen Schäfchen. Alle versohlt! Weil sie goldene Gürtel getragen haben. Zehn Sols Buße für die Koketterie. Blöder Idiot! Taub und dumm! Aber leider nicht stumm. Schwein, zehrt an den Sporteln und mästet sich, bis er platzt… hihi, ein verliebtes Frauenzimmer. Die kenne ich! Thibaud La Thibaude. Weil sie die Glatigny-Straße verlassen hat. Ein großes Verbrechen, das ist gewiß… Und wer ist das? Der Rottenführer der Handbogenschützen. Den Namen Gottes gelästert. Auch bestraft. Der alte taube Schuft hat gewiß beide Fälle verwechselt und dem Bogenschützen die Buße wegen Liebesbrunst, der Dirne wegen Gotteslästerung erteilt… Huch! Was wird denn da hereingeschleppt? Eine ganze Bande von Schergen auf einem Knäuel. Beim Jupiter! Alle Fanghunde der Meute sind dabei! Sicher ein Wildschwein, das sie da hereinzerren. Richtig. Und ein Prachtexemplar auch noch dazu! Beim Herkules! Unser Freund Quasimodo, der Narrenpapst. Das bucklige Fratzengesicht! Niemand geringeres als er!≪
Es war Quasimodo, gefesselt und geschnürt, von Stricken bedeckt, scharf bewacht. Der ihn umringende Trupp von Bütteln wurde vom Hauptmann der Scharwache persönlich angeführt, der das Wappen von Paris auf Brust und Rücken eingestickt trug. Quasimodos Mißgestalt verschwand fast in diesem Wald von Hellebarden und Hakenbüchsen, deren Aufwand nichts in seinem Benehmen zu rechtfertigen schien. Denn er war finster, schweigsam und ruhig. Nur ab und zu glitt der Blick seines tückischen Auges zornig auf seine Fesseln hinab, erlosch aber alsbald wieder, um teilnahmslos über die lachenden und fingerweisenden Weiber hinzugehen. Unterdes blätterte Meister Florian emsig in den Akten, welche die Anklage gegen Quasimodo enthielten. Nachdem er flüchtig hineingeblickt hatte, schien er mit sich einen Moment zu Rate zu gehen. Diese Vorsichtsmaßregel beobachtete er prinzipiell immer, damit er im voraus in großen Zügen über Namen und Vergehen des Angeklagten unterrichtet war und sich auf die vermutlichen Einwände vorbereiten konnte, die von diesem zu erwarten waren. So konnte er sich durch die Irrgänge eines Verhörs ziehen, ohne daß — nach seiner Meinung — seine Taubheit offenbar wurde. Die Prozeßakten waren für ihn dasselbe, was ein Hund für einen Blinden ist. Verlor er dabei im Laufe eines Verhörs trotzdem den Zusammenhang, so galten seine unverständlichen Fragen den einen als tiefe Weisheit, den anderen als Vertrottelung, je nachdem sie ihm gegenüber eingestellt waren. In keinem der beiden Fälle aber erlitt die Würde des Richterstandes eine Einbuße, denn es ist besser, wenn man einen Richter für tiefsinnig oder idiotisch als für taub hält. Aus dieser Erkenntnis heraus verwandte Meister Florian große Sorgfalt darauf, daß man seine Taubheit nicht bemerkte, was ihm so gut gelang, daß er sich selbst darüber hinwegtäuschte. Ähnliches geschieht häufiger, als man glauben möchte. Bucklige gehen hocherhobenen Hauptes einher, Stotterer sprechen viel und laut, Taube leise. Und ein jeder von ihnen glaubt, daß man infolgedessen ihren Fehler nicht sieht. So hielt sich Meister Florian für höchstens etwas schwerhörig, aber auch dies nur in den seltenen Augenblicken, in denen er sich zu Offenherzigkeit und Gewissensprüfung vor der öffentlichen Meinung veranlaßt fühlte.
Nachdem also der Untersuchungsrichter den Fall Quasimodo in einer seiner Ansicht nach hinlänglichen Weise erwogen hatte, warf er sein Haupt in den Nacken und schloß dabei seine Augen zur Hälfte, um würdevoller und unparteiischer zu erscheinen. Dies machte er so tadellos, daß er jetzt taub und blind zu gleicher Zeit war, ein zwiefaches Erfordernis für eine unbestechliche Gerechtigkeit.
In dieser gebieterischen Haltung begann Meister Florian das Verhör.
≫Euer Name?≪
Nun aber lag der in keinem Gesetzbuche vorgesehene Fall vor, daß ein Tauber von einem Tauben verhört werden sollte. Auch war dies eine nicht in Meister Florians Vorsichtsmaßnahmen inbegriffene Kombination. Denn Quasimodo konnte nicht die erwartete Antwort geben, da er die Frage nicht verstand.
Der Angeklagte sah daher seinen Richter bloß starr an, ohne den Mund aufzumachen.
Meister Florian dagegen war von niemandem auf die Taubheit Quasimodos aufmerksam gemacht worden und glaubte daher, daß seine Frage in der entsprechenden Weise beantwortet werden war.
Er fuhr daher mit der ihm eigenen zuversichtlichen Gedankenlosigkeit und Albernheit fort:
≫Gut. Euer Alter?≪
Dieselbe Szene. Quasimodo schwieg, und der Richter meinte, die erforderliche Antwort erhalten zu haben.
≫Euer Stand?≪
Schweigen.
Nur unter den Zuhörern begann es zu zischeln.
≫Genug≪, beendete der Untersuchungsrichter die Vorfragen, die er für bestens erledigt hielt. ≫Wir schreiten jetzt zum Inhalte der Anklage. Ihr seid beschuldigt: prima, der nächtlichen Ruhestörung; secundo, des unsittlichen Angriffes auf ein liederliches Frauenzimmer; tertio, des Widerstandes und der Unehrerbietigkeit gegen die Ordonnanzwache Seiner Königlichen Majestät. Was habt Ihr zu Eurer Rechtfertigung anzuführen? — Aber halt, Schreiber! Habt Ihr alle bisherigen Antworten des Angeklagten ordnungsgemäß protokolliert?≪
Bei dieser lächerlichen Frage brach das Auditorium los. Es war ein so unbändiges Gejohle und Gelächter, daß es selbst die beiden Tauben bemerken mußten. Quasimodo wandte sich um und zog verachtungsvoll seinen Buckel hoch, während der verblüffte Meister Florian der Meinung war, irgendeine freche Antwort des Angeklagten müßte diesen Tobsuchtsanfall der Heiterkeit verursacht haben. In dieser Annahme wurde er durch Quasimodos Achselzucken bestärkt, das er auf sich bezog.
≫Schuft≪, schnaubte er den Angeklagten an. ≫Für diese freche Bemerkung verdient Ihr den Strick! Wißt Ihr, mit, wem Ihr sprecht?≪
Bei diesem Zornausbruch ging das Gelächter erst recht los. Der ganze Vorgang war aber auch zu seltsam und zu toll. Die Heiterkeit der Leute wurde so laut, daß man das Gegröle bis ins Ratszimmer der Bürgerschaft hinüber hörte und daß es sogar die Gerichtsdiener ansteckte, obwohl bei dieser Sorte der Stumpfsinn mit zur Uniform gehört.
Nur Quasimodo bewahrte seinen unerschütterlichen Ernst, begreiflicherweise, weil er nebst dem Richter der einzige war, der nichts von der ganzen Sache begriff.
Dem Richter aber schwoll nur noch mehr der Kamm, und in seiner gereizten Stimmung glaubte er energisch dreinfahren zu müssen, um diesen unverschämten Angeklagten einzuschüchtern und dabei gleichzeitig die Zuhörer wieder zu der angemessenen Ehrerbietung zurückzubringen.
≫Gauner, Schurke, Schuft!≪ donnerte er. ≫Ich werde euch den Respekt beibringen, den Ihr einem Untersuchungsrichter des Châtelet, einem Beamten der öffentlichen Sicherheit von Paris schuldig seid! Wißt Ihr, wer ich bin? Meister Florian Barbedienne, wirklicher Stellvertreter des Herrn Oberrichters, bevollmächtigter Untersuchungsbeamter, Oberaufseher, Examinator mit der gleichen Machtbefugnis bei Gericht, in den Amtsbezirken, bei der Verwaltung und beim Obergerichtshofe von Paris. Mit der Obliegenheit, nach jedwedem Gesindel und nach allen Verbrechen und Vergehen zu forschen, alle Erwerbszweige zu beaufsichtigen, jedes Vorrecht zu verbieten, das Straßenpflaster in Ordnung zu halten, den Hausierhandel mit Federvieh und Wildbret zu unterdrücken, das Brennholz messen zu lassen, die Stadt von jedem Unrate und die Luft von jeder Ansteckungsgefahr zu reinigen, kurz, mich in allem dem öffentlichen Wohle zu widmen. Dies alles ohne festes Gehalt und ohne Aussicht auf Belohnung…≪
Sobald ein Tauber zu einem Tauben spricht, besteht kein Grund für ihn, sich kurz zu fassen. Gott weiß, wann und wo Meister Florian endlich einmal haltgemacht hätte, nachdem er mit vollem Winde auf dem Meere der Beredsamkeit zu segeln begonnen hatte. Aber da wurde plötzlich die erwähnte kleine Türe hinter dem Richtertische geöffnet und dem Herrn Oberrichter in eigener Person Zutritt gegeben.
Bei seinem Eintritte wurde er von dem bereits zur Standpauke an Quasimodo aufgestandenen Untersuchungsrichter durch eine halbe Körperbewegung begrüßt und sogleich angesprochen:
≫Gnädiger Herr≪, sagte Meister Florian, ≫ich beantrage gegen diesen Angeklagten die schwerste Strafe, die Euch belieben wird, weil er sich eines unerhörten Vergehens gegen die Obrigkeit schuldig gemacht hat.≪
Damit setzte der ganz außer Atem geratene Beisitzer sich wieder nieder und trocknete sich die Schweißtropfen ab, die in großen Flocken, wie Tränen, auf das vor ihm liegende Pergament hinabgefallen waren.
Der gestrenge Herr Oberrichter aber maß den Angeklagten mit gerunzelter Stirne und machte ihm eine so ausdrucksvolle, befehlende Gebärde, daß der arme Teufel trotz seiner Taubheit begriff, worum es sich handelte. Daraufhin ergriff der Oberrichter die Zügel des Verhörs. ≫Was hast du verbrochen, Schuft?≪
Nun meinte Quasimodo, daß jetzt mit der Besetzung des oberrichterlichen Stuhles erst die Gerichtsverhandlung begann; und da er aus Erzählungen seines Pflegevaters etwas über die hierbei beobachteten Formalitäten wußte, glaubte er, daß es sich um die als Einleitung übliche Personalaufnahme handelte.
Als erstes wurde man da um seinen Namen gefragt, erinnerte er sich.
≫Quasimodo≪, antwortete er daher.
Natürlich schwoll sofort das Gelächter der Zuhörer wieder an, mit dem Erfolge, daß der Oberrichter blaurot vor Wut wurde.
≫Willst du mich foppen, Bestie?≪
≫Glöckner von Notre-Dame≪, versicherte Quasimodo auf die vermeintliche Frage zwei.
≫Ich werde dich schon beglöcknern, du unverschämte Kanaille!≪
≫Zwanzig Jahre≪, meldete Quasimodo sein Alter.
In der Tat, das war zuviel! Die Zuhörer trampelten bereits, und manche fielen von den Bänken, weil sie sich vor Lachen nicht mehr auf denselben halten konnten. ≫Das war noch nicht da!≪ heulte Herr d’Estouteville, dessen schon erwähnte schlechte Laune diesen Morgen zum Siedezorn gestiegen war. ≫Beim Haupte des Heilandes, das sollt Ihr mir blutig büßen! Stockmeister! Führt diesen Schurken an den Schandpfahl des Grève-Platzes, peitscht ihn dort tüchtig aus, dreht ihn eine Stunde lang auf dem Rade. Dieses Urteil ist von allen vier vereidigten Trompetern in allen sieben Sprengeln der Stadt bekanntzumachen.≪
Der Gerichtsdiener beeilte sich, dieses Urteil zu Papier zu bringen.
≫Alle Wetter≪, bemerkte Studiosus Frollo, ≫das nenne ich ein gesundes Urteilsvermögen!≪
Auch dies mußte der Unglücksrabe Quasimodo ausbaden.
Der Oberrichter hatte die Worte ≫alle Wetter≪ gehört und bildete sich ein, es vom Angeklagten vernommen zu haben.
≫Ich werde Euch schon bewettern≪, schnaubte er. ≫Gerichtsschreiber, notiert noch zwölf Pariser Heller als Buße dazu.≪
In wenigen Minuten war das Urteil ausgefertigt, klar, deutlich und rasch. Denn damals ging man in der Rechtsprechung geradewegs aufs Ziel zu, ohne Windung oder Kniff; und am Ende des Rechtsweges standen Rad, Galgen oder Pfahl. Da wußte man wenigstens, wohin man gelangte.
Nachdem der Oberrichter das Urteil gefertigt und gesiegelt hatte, ging er wieder durch die Hintertüre ab, um seine tägliche Runde durch die Gerichtssäle zu machen und für einen seiner schlechten Laune angemessenen Zuwachs in den Pariser Gefängnissen Sorge zu tragen.
Johannes Frollo und sein Spießgeselle Poussepain kamen aus dem Lachen nicht heraus, während Quasimodo mit erstaunter und gleichgültiger Miene dreinblickte.
Von allen Anwesenden hatte nur der Gerichtsschreiber Mitleid mit dem armen Teufel, und in der Annahme, dadurch etwas zu dessen Gunsten vorbringen zu können, neigte er sich an das Ohr Meister Florians, um mit einem Hinweise auf Quasimodo hineinzubrüllen: ≫Der Mensch ist taub!≪
Aber Meister Florian verstand ihn leider falsch.
≫So, das ist etwas anderes≪, meinte er in der Annahme, der Schreiber habe eine weitere Beschuldigung vorgebracht. ≫Das wußte ich nicht. In diesem Falle natürlich noch eine Stunde Pranger dazu.≪
Und er unterzeichnete das entsprechend ergänzte Urteil.
≫Wacker≪, belobte ihn Poussepain, der seit der Narrenpapstwahl einen Pik auf Quasimodo hatte. ≫Das wird dem Burschen Manieren lehren.≪
Das Rattenloch
Zehn Uhr morgens auf dem Grève-Platz. Alles verrät hier, daß tags zuvor ein Fest gewesen ist. Der ganze Platz ist mit allerlei Resten bedeckt. Bänder, Fetzen, Federbuschfragmente, Wachstropfen, Speisekehricht liegen allenthalben herum. Durch diesen Unrat spazieren Bürger und Bürgerinnen, einige von ihnen stoßen mit dem Fuße in der Asche des Freudenfeuers herum, andere ergötzen sich vor dem Säulenhause an der Erinnerung der schönen Ausschmückung, die gestern da gewesen war und von der nur noch die zum Befestigen verwendeten Nägel zu bewundern sind. Die Bier- und Ziderverkäufer rollen ihre leeren Fässer durch die Menge. Händler tratschen von Ladenschwelle zu Ladenschwelle. Mehr oder weniger geschäftige Passanten kommen und gehen. Alles schwatzt über das Fest, über die Gesandten, besonders über Coppenole. Der Narrenpapst ist in aller Munde. Man lacht, kritisiert, glossiert mit miteinander um die Wette.
In diese mäßige Geschäftigkeit brachten vier berittene Gerichtsdiener einen neuen Gesprächsstoff, indem sie an den vier Ecken des Prangers Posto falßten und so die angenehme Abwechslung einer kleinen, amüsanten Urteilsvollstreckung erwarten ließen.
Während sich dies auf dem offenen Platze abspielte, richtete sich kaum ein Blick auf das halb gotische, halb romanische Bauwerk des Rolandsturmes, das die Ecke des Kais nach Westen zu bildete, wo in einem Winkel der Vorderseite ein dickes Gebetbuch zur öffentlichen Benutzung auflag. Dieses war gegen den Regen durch ein Schutzdach und gegen Diebe durch ein Gitter geschützt, welches gerade so weitmaschig war, daß man in dem Buche blättern konnte, ohne es herausnehmen zu können. Zur Seite dieses Gebetbuches befand sich eine enge, gotisch gewölbte Luke, die nach dem Platze zu ging und mit einem eisernen Stangenkreuz verschlossen war. Es war dies die einzige Licht- und Luftöffnung für eine kleine türlose Zelle, die zu ebener Erde aus der dicken Mauer des alten Gebäudes herausgebrochen war. Hier herrschte um so tieferer Friede und um so düstereres Schweigen, je lärmender und volksbewegter es auf dem davorliegenden Platze zuging.
Diese Zelle war schon an die dreihundert Jahre berühmt, seit Frau Roland vom Rolandsturm sie hatte herstellen lassen, um hier für immer in weltabgewandter Zurückgezogenheit für die Seele ihres als Kreuzfahrer gefallenen Vaters zu beten, nachdem sie das ganze Gebäude und ihr sonstiges Hab und Gut den Armen und Gott geschenkt hatte. Bei zugemauerter Türe, im Sommer und Winter durch die stets offene Gatterluke Wind und Wetter preisgegeben, hatte die lebendig Begrabene zwanzig trostlose Jahre lang ihren eigenen Tod erwartet, während sie ohne Unterlaß für den dahingeschiedenen Vater betete. In einen schwarzen Sack gehüllt, schlief sie im Staube, ohne ihr Haupt auch nur auf einen Stein zu betten. Dabei lebte sie einzig von den milden Spenden an Brot und Wasser, die von Vorübergehenden am Lukenrande niedergelegt wurden als dankbare Vergeltung dafür, daß sie selbst Mildtätigkeit geübt hatte. Und als endlich der Tod sie erlöste, war ihrer Verfügung nach die Zelle all jenen Frauen, Müttern, Jungfrauen und Witwen überlassen worden, die vom Lebenssturme zerschmettert hier für sich oder andere zu beten oder sich als Buße oder Opfer lebendig-tot zu begraben wünschten.
Die dankbaren Armen ihrer Zeit hatten ihrer Wohltäterin ein schönes Begräbnis bereitet, bei welchem es an Segnungen und Tränen nicht gemangelt hatte. Und es war allgemein schmerzhaft empfunden werden, daß die Tote nicht heiliggesprochen werden konnte, weil die hierzu nötige Fürsprache nicht vorhanden war. Die ruchloseren unter den Leidtragenden trösteten sich damit, daß sich die Heiligsprechung leichter im Paradiese als in Rom erledigen werde. Sie hatten daher in Ermangelung eines willig zuhörenden Papstes die Sache direkt Gott selbst vorgetragen. Die Mehrzahl aber hatte sich damit zufriedengegeben, in Frau Roland eine Heilige zu sehen und ihre Lumpen als Reliquien zu verehren. Die Stadt aber hatte das erwähnte Gebetbuch gestiftet, damit die Passanten zu einem Gebete für die Verstorbene und auch zu milden Gaben für die jeweilige Insassin der Zelle veranlaßt würden, indem man bei ihnen dergestalt die Erinnerung an die Eingeschlossenen wachrief, die sonst durch Nichtbeachtung seitens der Außenwelt zugrunde gegangen wären.
Derlei Grabhöhlen waren in den Städten des Mittelalters nicht so selten. Oft waren sie gerade in den belebtesten Straßen zu finden, im betäubendsten Marktgewühl, zuweilen in der Mitte der Passage, sozusagen unter den Tritten der Fußgänger, unter den Rädern der Wagen, unter den Hufen der Pferde, als Höhlen, Gruben, vermauerte, vergitterte Löcher, in deren Tiefe Menschen freiwillig in lebenslanger Buße oder Klage zu ihrem Gotte flehten.
Keinem Menschen jener Zeiten fiel es ein, an diesem Vorgange etwas Absonderliches zu finden. Niemand hatte ein Gefühl dafür, wie schrecklich eine solche Büßerzelle war, die einen Übergang von der Wohnung zum Grabe, von der Stadt zum Friedhofe darstellte. Niemand machte sich Gedanken über diese Flucht eines Lebenden aus der menschlichen Gemeinschaft zu den Toten. Niemand gab sich der Vorstellung hin, daß hier ein Fortleben bei den Toten stattfand, wobei eine im Schattenreiche glimmende Lebenslampe ihre letzten Öltropfen verzehrte. Niemand dachte darüber nach, daß ein in solcher Höhle flackender Lebensrest seinen letzten Hauch, seine letzte Stimme in endlosem Gebete einer Steinwand widmete mit einem schon einer anderen Welt zugewandten Angesicht, mit einem schon in anderer Sonne spiegelnden Auge, mit einem an Grabeswand geschmiegten Ohre. Mit einem Satze, niemandem kamen die uns heute geläufigen Gedanken beim Anblick einer so an den eigenen Körper gefesselten Seele, eines so in einem Kerker gefangenen Körpers, bei einer derartigen Klage eines so unter der Doppelhülle von Fleisch und Stein gepeinigten Menschengeistes.
Nichts von alledem wurde in jenen Tagen begriffen.
Die wenig klügelnde und gar nicht spitzfindige Frömmigkeit sah nicht so viele Seiten an einer religiösen Handlung. Sie nahm die Sache nur in großen Zügen, achtete und ehrte das gebrachte Opfer, wurde aber von seinen Leiden nicht gerührt, weil es an dieselben gar nicht dachte. Man brachte dem elenden Büßer ab und zu Speise und Trank, sah durch das Loch, ob er noch am Leben war, fragte nicht viel nach seinem Namen und Schicksal und wußte kaum, wie lange er schon in seiner Höhle dahinsiechte. Fragte ein Fremder einmal nach dem Woher und Warum des lebenden Skeletts, so erhielt er von den Nachbarn des in seiner Höhle verfaulenden Geschöpfs je nach dessen Geschlecht die vage Auskunft: ≫Es ist der Klausner≪ oder ≫Es ist die Klausnerin.≪
Den Menschen jener Zeit fehlte das Vergrößerungsglas für Übertreibungen und Übernatürlichkeiten. Sie sahen sich die Dinge höchst nüchtern an. Tatsächlich war ja das Mikroskop damals noch nicht erfunden werden, weder das für materielle Dinge noch das für geistige Sachen und Gefühle.
Es gab also im Innern der Städte genug solcher Zellen für Klausner und Klausnerinnen. Besonders in Paris war ihre Zahl sehr groß, und alle waren stets besetzt. Denn falls sich nicht genug Leute fanden, die hier beten und büßen wollten, so sorgte schon die Geistlichkeit dafür, daß die Zellen nicht leer blieben und so den Lauen Ärgernis gaben. Im Falle solcher Vakanzen hatte man immer noch einen Aussätzigen bei der Hand, den man sich dadurch bequem vom Halse schaffte.
Außer der geschilderten kleinen Zelle auf dem Grève-Platz gab es zu Paris deren verschiedene, zum Beispiel in Montfaucon, auf dem Friedhofe der Schuldlosen, am Hause Clichon und noch mehrere, wie es in den Lokalchroniken zu lesen ist. Auch das Universitätsviertel hatte seine Büßerhöhlen. Auf dem Hügel der heiligen Genoveva befand sich eine aufgelassene Zisterne, die zur Müllabfuhr benutzt wurde. Unten auf ihrem Grunde saß dreißig Jahre lang ein Mann auf dem Misthaufen, um als zweiter Hiob ununterbrochen die sieben Bußpsalmen zu singen, wobei er in seiner Litanei sofort wieder mit dem ersten Psalm begann, nachdem er mit dem letzten aufgehört hatte. Besonders des Nachts schien er diese Beschäftigung dem Schlafe vorzuziehen, indem er sich dabei eines besonderen, weitschallenden Stimmenaufwandes befleißigte, was dieser Zisterne im Volksmunde die Bezeichnung ≫der plätschernde Brunnen≪ einbrachte. Dieser Name übertrug sich in der Folge auf die ganze Straße, wovon man sich noch heute überzeugen kann.
Mußten manche dieser Zellen künstlich durch Aussätzige besetzt werden, so hatte sich die Nische am Rolandsturm nie über Mangel an Zuspruch zu beklagen. Hier fehlte es nie an Büßerinnen, und sie hatte seit Frau Rolands Tod in all den drei Jahrhunderten alles in allem kein Jahr leergestanden. Viele Frauen hatten hier eiander abgelöst, um Eltern, Geliebte oder Fehltritte bis zu ihrem Tode zu beklagen. Der Pariser Humor wollte übrigens wissen, daß man nur wenige Witwen hier gesehen hatte.
Der Zeitmode entsprechend war eine lateinische Inschrift angebracht, die den ortsfremden Passanten über die Bestimmung der Zelle aufzuklären bestimmt war. Bis in die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts hat sich der Brauch erhalten, ein Gebäude durch einen über seiner Eingangspforte angebrachten Denkspruch kenntlich zu machen. So konnte man über dem Gefängnisse des Herrenhauses zu Tourville lesen: ≫Schweige und hoffe≪. Oder unter dem Torwappen des irischen Schlosses Fortescu: ≫Ein starker Schild ist der Schutz des Fürsten≪. Oder über dem Hauptportale des gastfreundlichen englischen Herrensitzes der Grafen Cowper: ≫Es ist dein≪.
Diese Beispiele zeigen, wie man es damals verstand, eine Gedankenréihe durch eine einzige Geste auszudrücken, wobei man es liebte, die Ausspinnung des angeregten Gedankens dem Beschauer zu überlassen.
So hatte auch die Rolandszelle ihre Inschrift, die jedöch in Ermangelung einer Türe über dem Gatterfenster angebracht war. Hier stand in großen Latein-Buchstaben:
TU ORA11
Da es jedoch der gesunde Volkswitz nicht liebt, nach gar zu tiefliegenden Bedeutungen zu forschen, zog er es vor, in diesem Falle ein Wortspiel zu machen und der Nische die Bezeichnung ≫Rattenloch≪ zu geben, was vielleicht nicht so erhaben war, wie die lateinische Phrase, dafür aber den Vorzug hatte, den Nagel auf den Kopf zu treffen.
Was mit einem Maiskuchen angerichtet wurde
Auch zur Zeit unserer Erzählung war die Rolandszelle besetzt.
Das Nähere hierüber ist aus dem Gespräche dreier braver Gevatterinnen zu ersehen, die eben von der Seite des Châtelets her den Fluß entlang gegen den Grève-Platz schritten.
Zwei von diesen Frauen waren nach Art ehrbarer Pariser Bürgerinnen gekleidet. Sie trugen feine weiße Busentücher, rot-blau gestreifte Wollröcke, gestrickte weiße, mit farbigen Zwickeln durchwirkte Strümpfe, die straff die gut entwickelten Waden umspannten und in rot-gelb karierten Lederschuhen mit schwarzen Sohlen steckten. Bemerkenswert war ihre Kopfbedeckung, ein mit Spitzen und Bändern beladenes Horn aus Flittergold, wie es heute noch die Frauen der Champagne und die Grenadiere der kaiserlich russischen Garde im tragen.
Diese Aufmachung bewies, daß es sich um ein Paar jener reichen Kaufmannsfrauen handelte, deren Klasse die Mitte zwischen den beiden Stufen hält, die von anmeldenden Lakaien einerseits mit ≫Frau≪ und andererseits mit ≫Dame≪ bezeichnet werden. Obzwar keine der zwei Frauen Ringe oder Goldkreuze trug, war es ihnen doch anzusehen, daß diese Enthaltung nicht durch Nichtbesitz, sondern durch die Furcht vor der Unsicherheit auf den Straßen veranlaßt wurde.
Ihre Begleiterin war in ähnlicher Weise getakelt, aber ihre Art und Weise ließ erraten, daß sie keine Pariserin war, sondern etwa eine Notarsgattin aus der Provinz sein mußte. Man konnte dies schon aus der Manier ersehen, in der ihr Gürtel um ihre gutgenährten Hüften geschlungen war. Dazu noch einige kleine Abweichungen von der Tagesmode, wie ein gefälteltes Busentuch, dann die Rockstreifen der Breite statt der Länge nach und noch einige solcher Stilfehler, welche jeden wirklich guten Geschmack entsetzen mußten: Kurz, die Gute war sicherlich lange nicht mehr in Paris gewesen. Die beiden ersten mochten solches denken, während sie mit dem sogenannten ≫Pariser Gang≪ einherschritten. Auch hierin unterschieden sie sich von der Provinzlerin, die einen großen Knaben an der Hand führte, der, traurig zu melden, seine Zunge als Nasentuch benutzte, wozu er infolge der Rauheit der Jahreszeit fortgesetzt Veranlassung fand.
Der Knabe ließ sich mehr schleppen, als er selber ging, wodurch seine Vorwärtsbewegung zum Stolpern wurde. Denn zum größten Ärger seiner Mutter sah er weniger auf den Weg als auf einen Maiskuchen, den er in der Rechten trug. Es war ihm anzusehen, daß nur ein sehr wichtiger Grund ihn daran verhinderte, in das lockende Gebäck hineinzubeißen und sich statt dessen mit liebevollen Blicken auf dasselbe zu begnügen. Von Rechts wegen hätte die Mutter den Kuchen tragen sollen, da es eine aufgelegte Grausamkeit war, den dicken Pausback zum Tantalus zu machen. Statt dessen sprach sie ununterbrochen mit den beiden anderen Frauen und jede der drei überdies meist noch zur gleichen Zeit.
Am umfangreichsten unter diesen drei wohlbeleibten Frauen war die jüngere der beiden Pariserinnen. Eben hatte sie das Wort:
≫Eilen wir, Frau Mahiette≪, sprach sie zu der Provinzlerin, ≫sonst sehen wir nicht mehr, wie er an den Pranger geführt wird.≪
≫Aber, Frau Oudarde≪, wandte die andere Pariserin ein, ≫er wird doch zwei ganze Stunden am Pranger sein. Da haben wir Zeit genug. Habt Ihr schon einmal jemanden am Pranger gesehen, liebe Frau Mahiette?≪
≫Gewiß, in Reims.≪
≫Bah, was will das sagen! In Reims! Ein elendes Gerüst, um Bauern zu zwiebeln. Das ist schon was Rechtes!≪
≫Wie? Bauern? Auf dem Tuchmarkte in Reims!≪ entrüstete sich die aus der Provinz. ≫Wir haben in Reims schon die schönsten Verbrecher gehabt. Sogar solche, die ihre Eltern ermordet haben. Bauern, in der Tat! Für was haltet Ihr uns, Frau Gervaise?≪
Die Frau vom Lande war auf dem besten Punkte, über den Angriff auf die Ehre ihres heimatlichen Prangers in Harnisch zu geraten, wenn nicht Frau Oudarde besonnen genug gewesen wäre, die Unterhaltung in andere Bahnen zu lenken.
≫Apropos, Frau Mahiette. Was sagt Ihr zu unseren flämischen Gesandten? Habt Ihr auch so schöne Gesandte in Reims?≪
≫Nein, da muß ich gestehen, daß man so schöne Gesandte nur in Paris zu sehen bekommt.≪
≫Habt Ihr unter ihnen den gesehen, den man den Strumpfwirker nennt?≪
≫Sicherlich. Er sieht wie ein Saturn aus.≪
≫Und den Großen, dessen Gesicht wie ein Schmerbauch aussieht?≪
≫Den Kleinen mit den Schweinsäugeln?≪
≫Den mit den wimperlosen Augen?≪
≫Den mit dem Distelkopf?≪
≫Und erst ihre Pferde!≪
≫Wie schön die sind!≪
≫Nach der flämischen Mode gezäumt.≪
Bei Pferden wußte die Landfrau besser als die Pariserinnen Bescheid. Sie nahm daher unwillkürlich einen überlegenen Ton an, als sie bemerkte:
≫Betreffs Pferden, meine Lieben! Was würdet ihr da sagen, wenn ihr vor achtzehn Jahren, bei der Krönung des Königs in Reims, die Pferde der Prinzen von Geblüt und des königlichen Gefolges gesehen hättet?! Satteldecken und Schabracken aller Art. Aus Damast. Aus feinem, zobelverbrämtem Goldstoff. Aus hermelingefüttertem Samt. Andere wieder ganz mit Gold bestickt und mit Gold- und Silberquasten behangen. Das schöne Geld, das dies gekostet haben muß! Und richtig, die schönen Pagen, die auf den Pferden saßen!≪
≫Das hindert alles nicht, daß die Flamen schöne Pferde haben≪, entgegnete Frau Oudarde trocken. ≫Und daß sie gestern ein Mahl beim Bürgermeister hatten, wo ihnen Gewürzwein, Konfekt, Zuckerbackwerk und andere Delikatessen vorgesetzt wurden.≪
≫Was Ihr nicht sagt, Gevatterin!≪ fiel Frau Gervaise ein. ≫Das Mahl war doch beim Herrn Kardinal im Kleinen Bourbon-Palast!≪
≫Was fällt Euch ein? Im Rathause war es!≪
≫Gott bewahre, im Kleinen Bourbon!≪
≫Das muß ich besser wissen≪, erklärte Frau Oudarde scharf. ≫Ich habe es von meinem Manne, der vereidigter Buchhändler der Universität ist. Ich weiß sogar mehr. Nämlich daß der Doktor Secourable eine lateinische Ansprache an die Gesandten gehalten hat, von der sie sehr befriedigt waren.≪
≫Nichtsdestoweniger sage ich Euch, daß es im Klein-Bourbon war≪, erwiderte Frau Gervaise nicht minder scharf. ≫Ich weiß noch mehr als Ihr, nämlich die Speisenfolge, die der Herr Haushofmeister des Herrn Kardinals den Gästen vorgesetzt hat. Auch über die Getränke bin ich unterrichtet. Zwölf Doppelquart weißer Gewürzwein, ebensoviel Claret und roter Gewürzwein, sechs Demijonen weißer Beaune, ebensoviel moussierender. Dazu vierundzwanzig Schachteln vergoldetes Lyoner Doppelmarzipan. Als Beleuchtung wurden zwei Dutzend doppelpfündige Wachskerzen verwendet. Ich habe es von meinem Gatten, der bekanntlich Vorsteher der Fünfzigmänner im Bürgerrate ist. Er machte noch heute morgen einen treffenden Vergleich zwischen den Gesandten aus Flämerland und denen des Priesters Johannes12 und des Kaisers von Trapezunt, die unter die der Regierung des letzten Königs aus Mesopotamien nach Paris gekommen sind und die Ringe in den Ohren trugen.≪
Frau Oudarde hörte gar nicht zu.
≫Im Rathause haben sie gespeist≪, wiederholte sie hartnäckig. ≫Nie hat man solche Leckerbissen gesehen, wie bei dieser Gelegenheit.≪
≫Im Palais Bourbon. Le Sec, der Polizeioffiziant, hat dort mit bedient.≪
≫Im Rathause, sage ich Euch!≪
≫Im Klein-Bourbon, meine Liebe!≪
≫Im Rathause, im Rathause, meine Teuere.≪
≫Im Klein-Bourbon, wo noch das Hauptportal mit bezaubernden Versen als Transparent illuminiert war.≪
≫Auf dem Rathause, wo Husson Levoir die Flöte blies.≪
≫Nein, Nein!≪
≫Ja, ja!≪
≫Nein, sage ich!≪
≫Ja, ich!≪
≫Nein, und damit basta!≪
Die dicke Frau Oudarde wollte scharf entgegnen, und vermutlich hätte die Angelegenheit mit einigen ausgerissenen Haarbüscheln abgeschlossen, wenn nicht Mahiette plötzlich was Neues gebracht hätte.
≫Holla!≪ rief sie. ≫Was rotten sich die Leute dort am Brückenende zusammen? In der Mitte haben sie etwas, das sie alle ansehen!≪
Die beiden Gegnerinnen waren sofort interessiert.
≫In der Tat! Und Tamburinschläge hört man auch!≪
≫Das wird die kleine Esmeralda sein.≪
≫Die mit ihrer Ziege Kunststücke macht.≪
≫Schnell, schnell!≪
≫Macht Doppelschritte, Frau Mahiette!≪
≫Das müßt Ihr sehen!≪
≫Zieht Euren Knaben mit!≪
≫Wenn Ihr schon in Paris seid, müßt Ihr auch die Merkwürdigkeiten sehen.≪
≫Gestern die Flamen, heute die Zigeunerin!≪
≫Bei uns gibt’s was zu sehen! Nicht?≪?
≫Zigeunerin≪, kreischte Frau Mahiette und riß ihren Sprößling zurück. ≫Gott soll mich bewahren! Die stehlen Kinder! Komm, Eustache!≪
Und eilig lief sie mit dem nachzappelnden Knaben über den Flußdamm, dem Grève-Platz zu, bis sie die Brücke weit im Rücken hatte. Endlich fiel der Junge in die Knie und brachte die atemlose Frau durch sein Gewicht zum Stehen. Die nachkeuchenden Pariserinnen konnten dadurch wieder aufholen.
≫Gottes Kreuz≪, stieß Frau Gervaise hervor, während die noch dickere Frau Oudarde keinen Ton hervorbrachte. ≫Was Ihr rennen könnt! Und die ausgewachsene Idee dazu! Daß die Zigeuner Euren Jungen stehlen werden!≪
Frau Mahiette nickte bloß bedeutungsvoll dazu. Reden konnte sie vorerst noch nicht. Dafür hatte Frau Oudarde ihre Puste bereits wieder gesammelt.
≫Merkwürdig, daß die Klausnerin dasselbe von den Zigeunern glaubt≪, meinte sie kopfschüttelnd.
≫Die Klausnerin?≪ gewann nun auch Frau Mahiette ihre Stimme zurück ≫Von welcher Klausnerin sprecht Ihr?≪
≫Ei, von Schwester Gudule.≪
≫Wer ist das?≪
≫Ihr in Eurem Reims wißt aber auch rein gar nichts!≪
≫Es ist die Büßerin im Rattenloch.≪
≫Wie, das arme Weib, dem wir diesen Maiskuchen bringen?≪ fragte Frau Mahiette.
≫Dieselbe. Gleich sind wir an ihrer Luke am Grève-Platz.≪
≫Die hat dasselbe Urteil über das braune Gesindel wie Ihr.≪
≫Uber diese ägyptischen Vagabunden mit ihren Handtrommeln.≪
≫Die den Leuten die Zukunft voraussagen.≪
≫Man weiß aber nicht, woher Schwester Gudule diesen Abscheu hat.≪
≫Aber Ihr? Frau Mahiette? Warum lauft Ihr so vor den Ägyptern davon?≪
≫Oh≪, sagte Frau Mahiette, indem sie den Rundschädel ihres Jungen umfaßte. ≫Ich mag nicht das erleben, was der Paquette La Chantefleurie begegnet ist.≪
≫Ah, Ihr wißt da eine Geschichte! Erzählt sie doch, gute Frau Mahiette!≪
≫Gerne. Aber Ihr müßt nie aus Eurem Paris herausgekommen sein, daß Ihr diese Geschichte nicht kennt. Also, Paquette war ein hübsches Mädchen, etwa achtzehn Jahre alt, zu derselben Zeit wie ich selbst, so daß es nur ihre eigene Schuld ist, wenn sie heute nicht so wie ich eine gute stattliche Sechsunddreißigerin mit Mann und Kind ist. Ihr Leben wurde allerdings schon in ihrem vierzehnten Jahre in andere Bahnen gedrängt. Sie war die Tochter des Spielmanns Guybertaut, eines der Schiffer von Reims, der vor Karl VII. gelegentlich der Krönungsfeste gespielt hat, als der König auf unserem Vesleflusse von Billery nach Muison stromabwärts fuhr. Damals war die berühmte Jungfrau Jeanne d’Arc auch dabei. Also, was ich sagen wollte. Richtig. Der alte Guybertaut starb, als Paquette noch ganz jung war, und hinterließ außer der Tochter noch die Gattin als Witwe. Diese war die Schwester des Herrn Pradon, des Kupferschmiedes und Gelbgießers zu Paris, der im Vorjahre in seinem Hause in der Rue Parin Garlin gestorben ist. Die Mutter war eine gute, gute Frau, leider zu gut, in der Tat, und von ihr lernte daher Paquette weiter nichts, als ein wenig Handel mit Kinderspielzeug und derlei Tand. Aber dabei wuchs die Kleine doch recht stattlich heran, während sie gleichzeitig recht arm blieb. Sie wohnten beide in Reims, auf der Flußseite, in der Rue Felle Peine. Und das war sicher die eigentliche Ursache zu Paquettes Unglück, wie ihr gleich sehen werdet. Paßt nur auf! Bei der Krönung unseres Königs Ludwigs XI., den Gott erhalte, war Paquette so reizend und lebenslustig, daß man sie allgemein nur Chantefleurie (die Liederreiche) nannte. Armes Mädchen! Sie hatte schöne Zähne, daher lachte sie gerne. Nun, ein Mädchen, das lacht, kommt ja bald dahin! Schöne Zähne verderben rasch die schönsten Augen. Weil dann das Weinen nach dem Lachen kommt! So ging es auch mit Chantefleurie. Sie und die Mutter verdienten kümmerlich ihr tägliches Brot, wobei sie seit dem Tode des Spielmannes immer mehr herunterkamen. Ihr Kleinkramhandel brachte ihnen keine sechs Heller in der Woche ein, was noch keine zwei Adlerheller waren. Die Zeit war eben vorüber, wo der alte Guybertaut für ein einziges Lied bei der Krönung zwölf Pariser Sols erhalten hatte. Im Winter des Jahres 61, des Krönungsjahres unseres jetzigen Königs, den Gott erhalten möge, waren die beiden Frauen soweit, daß sie weder Zündholz noch Brennscheit besaßen. Und es war ein kalter Winter in diesem Jahr! Der Frost gab der Kleinen ein so frisches, schönes Aussehen, daß die Männer sie Paquerette (Tausendschön) statt Paquette (Maßliebchen) riefen und daß sie schließlich dabei zu Fall kam. Eustache! Daß ich dich nicht noch einmal am Kuchen naschen sehe, während ich erzähle! Wie sie nun eines Sonntags mit einem goldenen Kreuze am Halse zur Kirche kam, wußten wir sofort, daß sie verloren war. Mit vierzehn Jahren! Anfangs war es der junge Vicomte von Cormontreuil, dessen Schloß drei Meilen von Reims entfernt lag. Dann ein königlicher Reiter, der gnädige Herr Heinrich von Triancourt. Nach diesem stieg sie schon etwas hinab, zu einem Unteroffizier, Herrn von Beaulion. Und dann sank sie immer tiefer hinab. Es folgten einander Aubergeron, ein königlicher Tafeldiener, Frépus, der Barbier des Herrn Dauphin, Le Moine, einer von des Königs Köchen. Und so weiter fort. Sie fiel immer mehr, aus den Händen eines Bejahrteren in die eines Gemeineren. Wilhelm Racine, der Bänkelsänger, war darunter, sowie Thiérry, der Lampenputzer. Schließlich war die Arme das Gemeingut aller und dabei so auf den Hund gekommen, daß sie das letzte verdiente Goldstück wieder ausgegeben hatte. Was soll ich euch mehr sagen, als daß sie noch in demselben Jahre bereits dem Bordellwirt das Bett machte. Im nämlichen Jahre, guter Gott!≪
Frau Mahiette seufzte und wischte sich eine Träne ab.
≫Ich weiß nicht≪, sagte Frau Gervaise, ≫aber an Eurer Geschichte scheint mir wirklich nichts Besonderes zu sein.≪
≫Mir auch nicht≪, fiel Frau Oudarde ein. ≫Ihr wolltet uns doch von Zigeunern und Kindesraub erzählen.≪
≫Seid ihr aber ungeduldig≪, wies Frau Mahiette die beiden zurecht. ≫Ich bin schon dabei. Das Kind kommt bereits. Allerdings erst im Jahre 66. Da wurde Paquette am Tage der heiligen Paula eines Mädchens entbunden. Die Unglückliche! Sie hatte eine Riesenfreude darüber, denn sie hatte sich schon lange ein Kind gewünscht. Ihre Mutter war gestorben, nachdem sie immer nur zu gut gewesen war und stets ein Auge zugedrückt hatte. Paquette war daher allein auf der Welt, verlassen, jeder zeigte mit dem Finger auf sie. Man jagte sie mit Schimpfworten durch die Straßen, die Gerichtsdiener schlugen sie, die Gassenjungen höhnten hinter ihr her. Ihre Liederlichkeit brachte ihr jetzt auch nicht mehr ein als vordem der Kramladen, nachdem sie vom Bordell hinausgeworfen werden war. Schon mit neunzehn Jahren bekam sie Falten im Gesicht, und jede dieser Falten war ein Taler weniger Verdienst. Es war wieder ein harter Winter, der vor sechzehn Jahren. In ihrem Feuerloche war das Holz wieder rar und in ihrem Backtroge das Brot eine Seltenheit. Dabei war sie durch ihre Ausschweifungen zu faul zur Arbeit geworden, und sie litt daher viel mehr, als wenn sie aus Trägheit liederlich geworden wäre. So wenigstens erklärte es der hochwürdige Herr Pfarrer von Saint-Rémy, warum diese Sorte von Frauenzimmern mehr Frost und Hunger zu leiden habe als andere Arme, wenn sie zu altern beginnen.≪
≫Ganz recht, aber die Zigeuner?≪
≫Und der Kindesraub?≪
≫Wo bliebe der Schluß, wenn alles zu Beginn erzählt würde! Das macht man vielleicht so in eurem Paris! Bei uns erzählt man der Ordnung nach.≪
≫Nun, in Gottes Namen, so erzählt.≪
≫Ja, laßt hören!≪
≫Trauer, Elend und Tränen bleichten ihre Wangen, und in ihrer Schande und Hilflosigkeit meinte sie weniger liederlich und verlassen zu sein, wenn sie ein Kind bekam. Sie würde dann jemand haben, den sie lieben konnte und von dem sie wiedergeliebt wurde. Zuerst hatte sie sich in ihrer Sehnsucht nach einem solchen Wesen mit einem Diebe zusammengetan, aber bald mußte sie bemerken, daß auch dieser Auswürfling sie ebenso verachtete wie all die anderen, statt sie zu lieben. Es blieb daher nur die Hoffnung auf das Kind. Solche Frauenzimmer müssen ja immer einen Zuhälter oder ein Kind als Lebensinhalt haben. Bei all ihrer Liederlichkeit war Paquette fromm geblieben, und so betete sie unaufhörlich so lange um ein Kind, bis der liebe Gott Erbarmen mit ihr hatte und ihr eine kleine Tochter schickte. Ihre Freude war eine Raserei von Tränen, Liebkosungen und Küssen. Sie stillte das Kind selbst, machte ihm die Windeln aus ihrem letzten Bettlaken und empfand weder Kälte noch Hunger mehr. Sie wurde sogar wieder schön durch ihre Mutterschaft. Aus einem alten Mädchen war eine junge Frau geworden, wie es so oft geht. Das galante Leben begann jetzt von neuem, die Kundschaft stellte sich bei der verschönten Chantefleurie wieder ein, und aus dem so verdienten Sündengelde schaffte Paquette für ihre Kleine Wickelzeug, Brustlätze, Spitzenjacken und Seidenhauben an. Aber an den Kauf eines neuen Bettlakens dachte sie dabei nicht! Eustache, laß den Kuchen in Ruh! Wie oft soll ich das noch sagen?! Das Kind hieß Agnes mit dem Taufnamen. Einen Familiennamen hatte Chantefleurie ja längst nicht mehr. Sicher ist, daß das Kind kostbarer gekleidet war als eine Prinzessin der Dauphiné. Unter anderem hatte es ein paar kleine Schuhe, wie sie wohl Ludwig XI. selbst nicht besaß. Die Mutter hatte sie selbst genäht und gestickt, mit einem Aufwande und Putz, der eigentlich nur dem Kleide der Gottesmutter gebührt. Niedliche rosaseidene Dingelchen, rosig wie die Füßchen selbst, nicht länger als mein Daumen. Es war das Reizendste, was man sich denken konnte. Wenn Ihr einmal Kinder haben werdet, Frau Oudarde, werdet Ihr selbst die Erfahrung machen, daß nichts über Kinderfüßchen oder Kinderhändchen geht.≪
≫Oh≪, seufzte Frau Oudarde, ≫ich würde nichts inniger wünschen als das. Aber mein Gatte…≪
≫Überdies hatte die kleine Agnes nicht nur herrliche Füßchen. Ich habe sie mit vier Monaten gesehen. Augen, größer als der Mund, die feinsten schwarzen Haare. Das wäre eine Prachtbrünette geworden, mit sechzehn Jahren! Ihre Mutter wurde von Tag zu Tag närrischer aus Liebe. Sie liebkoste, küßte, streichelte, kitzelte das Kindchen, wusch und putzte es, aß es schier aus lauter Liebe auf. Bald verlor sie darüber ganz den Kopf, bald dankte sie Gott mit aller Inbrunst, deren sie fähig war. Vor allem aber blieben die rosigen Füßchen der Gegenstand ihrer nie enden wollenden Bewunderung und Freude. Beständig hatte sie ihre Lippen darauf, nie konnte sie sich an ihrer Winzigkeit satt sehen. Sie streifte die schönen Schuhe darüber, zog sie wieder ab, kam immer wieder aufs neue ins Staunen und Wundern dabei.≪
≫Sehr gut geschildert≪, sagte trocken Frau Gervaise. ≫Aber was das mit den Zigeunern zu tun haben soll…≪
≫Die Zigeuner sind schon da. Eines Tages erschien in Reims ein eigenartiger Reitertrupp. Lauter Bettler und Landstreicher, die unter dem Oberbefehle ihres Herzogs und ihrer Grafen das Land durchstreiften. Sie waren dunkelhäutig, fast braun, hatten krauses Schwarzhaar und Silberringe in den Ohren. Die Weiber waren noch abscheulicher als die Männer. Sie hatten fast schwarze Gesichter und trugen um den Leib häßliche Tücher. Ihre Brusttücher waren aus grober Wolle, und ihr Haar sah wie ein Pferdeschweif aus. Zwischen ihren Beinen wälzten sich scheußliche Affen herum, welche ihre Kinder waren. Die ganze Bande war im Kirchenbanne, und es war ihr als Buße auferlegt werden, sieben Jahre lang die Welt zu durchziehen, ohne in einem Bette zu schlafen. Sie kamen geradeswegs aus Ägypten über Polen, und der Heilige Vater hatte ihnen selbst die Beichte abgenommen und die erwähnte Buße auferlegt. Daher nannten sie sich die Büßer, und sie verbreiteten viel Gestank um sich. Da sie an Jupiter glaubten, waren sie wohl vordem Sarazenen gewesen. Eine Bulle des Papstes hatte ihnen gestattet, von allen Erzbischöfen, Bischöfen und infulierten Äbten eine Wegzehrung von zehn Pfund zu fordern. Und sie ließen keinen aus. Nach Reims waren sie außerdem noch gekommen, um im Namen des Königs der Algier und des deutschen Kaisers den Leuten ihre Zukunft aus der Hand zu prophezeien. Mehr bedurfte es natürlich nicht, um ihnen den Eintritt in die Stadt zu verwehren. Sie machten sich aber nicht viel daraus und schlugen bereitwillig ein Lager vor der Porte Braine auf, wo ein Hügel steht mit einer Mühle und verlassenen Kreidegruben. In diesen Löchern krochen sie unter, und die Bewohner von Reims wetteiferten untereinander darin, zu ihnen hinauszuziehen. Wer da wollte, konnte sich von ihnen durch einen Blick in die Hand die wunderbarsten Zukunftsdeutungen sagen lassen. Selbst ein Judas konnte von ihnen hören, daß er es zum Papste bringen würde. Dabei aber gingen alsbald Schreckensgerüchte um von gestohlenen Kindern, abgeschnittenen Börsen und von Menschenfresserei. Die Klügeren unter unseren Bürgern warnten vor dem Besuche des Zigeunerlagers, gingen aber dabei heimlich selbst hinaus. Die Aufregung war eben allgemein und hatte einen jeden ergriffen. Tatsache ist, daß einem Kardinal erstaunliche Sachen vorhergesagt worden sind. Eustache, wenn du den Kuchen nicht in Frieden läßt, wirst du etwas erleben! Alle Mütter strahlten, seitdem ihren Mädchen aus der Hand die wundervollen Dinge prophezeit worden waren, die darin in heidnischer und türkischer Schrift als Handlinien zu lesen waren. Die eine würde einen Kaiser bekommen, die zweite einen Papst, die dritte einen Hauptmann. Da wurde auch die arme Chantefieurie von der Neugier gepackt. Auch sie wollte wissen, ob nicht auch die kleine Agnes eines Tages Kaiserin von Armenien oder etwas Ähnliches werden würde. Sie trug also ihre Kleine zu den Zigeunerinnen hinaus, und diese wurden nicht satt, das liebliche Geschöpf zu herzen und zu kosen. Vor allem bewunderten sie die reizenden Füßchen in den niedlichen Rosaschuhen. Das Mädchen war damals etwa ein ahr alt, konnte zwar erst nur lallen, dafür aber lachen wie eine kleine Närrin. Feist und kugelrund. sah es aus wie ein Engel des Paradieses. Die Zigeunerinnen aber konnte es nicht leiden, sondern weinte schon, als es dieselben sah. Die Mutter aber strahlte und war ganz erfreut über die glänzende Zukunft, die dem Kind verheißen war. Agnes sollte eine Schönheit, die Tugend in Person und eine Königin werden. Es war also eine verkappte Prinzessin, welche Chantefleurie stolz in ihre elende Behausung heimtrug. Die ganze Nacht konnte sie vor freudiger Erregung nicht schlafen, und es war kaum Morgen geworden, als sie auch schon zur Nachbarin hinübereilte, um ihr zu erzählen, daß ihre Tochter dereinst bei Tisch vom Könige von England und vom Erzherzoge von Äthiopien bedient werden würde. Als sie nach Hause zurückkam, war das Kind fort. Nur einer der kleinen reizenden Schuhe war alles, was von ihm zurückgeblieben war. Wer kann den Gram und die Verzweiflung der unglücklichen Mutter schildern?! Sie rannte mit dem Kopfe gegen die Mauern, fegte die öden Straßen auf und ab, eilte den ganzen Tag wahnsinnig und verstört umher, forschte an allen Türen und Fenstern wie ein wildes Tier, das sein Junges verloren hat. Geradezu entsetzlich sah sie aus, wie sie verweint, mit zerrauften Haaren und mit glühenden Augen, auf und ab keuchte, alle Leute anhielt, jeden nach ihrem Kinde fragte und sich anbot, die lebenslängliche Sklavin dessen zu sein, der ihr die Kleine wiederbrachte. Es war so herzzerreißend, daß selbst Sachwalter Tränen bei diesem Anblicke vergossen. Die arme Mutter! Als sie abends ganz zerschlagen heimkam, erzählte ihr die Nachbarin, daß zwei Zigeunerinnen mit einem Bündel im Hause eingestiegen waren und daß sie dann so etwas wie den Schrei eines Kindes vernommen zu haben glaubte. Ganz glücklich und lachend schloß Paquette auf, um eiligst die Treppe hinaufzueilen, in der sicheren Voraussetzung, ihr Kind oben wiederzufinden. Aber o Graus! Statt der rotbäckigen Agnes fand sie ein kleines abscheuliches Krüppelgewächs, vorne und rückwärts bucklig, einäugig, mit einer Warze statt des andern Auges, kurz ein Monstrum, welches kreischend über die Diele kroch. War die süße Agnes wie ein wahres Geschenk des Himmels zu sehen gewesen, so mußte dieses Scheusal da direkt die Hölle ausgespien haben. Man mußte die entsetzliche Mißgeburt schleunigst hinausschaffen, damit die Unglückliche sie nicht erwürgte. Sie war einfach rasend vor Schmerz, und dieser wurde noch durch die Qual verschärft, daß sie sich fragte, ob es nicht doch ihr Kind sei, das so von den Zigeunerhexen verwandelt worden war. Aber dann ließ sie es sich erklären, daß es ein Balg war, den eine Zigeunerin vom Teufel empfangen hatte. Auch konnte es nicht die verwandelte Agnes sein, da es ein etwa vierjähriger Knabe war. Die arme Chantefleurie hatte nur noch den zurückgebliebenen kleinen Schuh, und diesen koste und küßte sie jetzt unter Tränen, als ob er das verlorene Kind selbst gewesen wäre. Noch heute muß ich weinen, wenn ich an dieses Herzleid denke. Und seit ich selbst Mutter bin, weiß ich erst ganz, was die Unglückliche gelitten hat. Die Kinder sind ja das Mark aus unseren eigenen Knochen. Mein armer Eustache! Du bist so schön, mein Kleinod. Wenn ihr wüßtet, was das für ein Junge ist! Gestern erst sagte er mir, daß er Soldat werden will. Ich war ganz entsetzt. Soll ich ihn denn verlieren müssen?!≪
≫Was war mit dem Kind?≪ fragte Frau Gervaise, die sich nicht im geringsten für die Vorzüge Eustaches interessierte.
≫Chantefleurie begann nun ganz Reims in Bewegung zu setzen, als aber die Gerichtsdiener ins Zigeunerlager gehen wollten, war die ganze Bande verschwunden. Während der stockdunklen Nacht war an keine Verfolgung zu denken, und am nächsten Morgen fand man etwa zwei Meilen von Reims auf der Heide von Gueux die Reste eines Feuers, daneben ein paar Bänder der kleinen Agnes, einige Blutstropfen und etwas Bockmist. Da die vergangene Nacht Sonnabend gewesen war, zweifelte niemand daran, daß die Zigeuner hier ihren Sabbat gefeiert und das Kind in Gesellschaft des Satans verzehrt hatten, wie das bei den Mohammedanern üblich ist. Man gab daher die zwecklose Suche auf und brachte der armen Paquette die schreckliche Botschaft heim. Als sie dieselbe vernahm, konnte sie nicht mehr weinen. Nur ihre Lippen bewegten sich, ohne daß sie einen Laut hervorbringen konnte. Am Tage darauf war ihr Haar grau, und am übernächsten Tage verschwand sie aus der Stadt.≪
≫Entsetzlich≪, rief Frau Oudarde. ≫Da müßte sogar ein Burgunder weinen!≪
≫Kein Wunder, daß Ihr eine solche Angst vor den Zigeunern habt≪, bemerkte Frau Gervaise.
≫Die Zigeuner hier in Paris sind ja auch aus Polen≪, fügte Frau Oudarde hinzu.
≫Nein, aus Spanien, aus Katalonien≪, widersprach Frau Gervaise.
≫Na, Katalonien oder Polonien, das ist doch alles gleich≪, entschied Frau Oudarde. ≫Zigeuner bleibt Zigeuner.≪
≫Und sicher ist, daß sie lange Zähne haben, um kleine Kinder besser fressen zu können≪, stellte Frau Gervaise fest. ≫Ich wundere mich nur, wie es die Esmeralda mit ihrem kleinen Munde zustande bringt. Denn die ist sicher eine Hexe, man braucht nur die Kunststücke ihrer Ziege zu sehen. Da ist gewiß Freigeisterei im Spiel.≪
Frau Mahiette verhielt sich still, und im Weiterschreiten überließ sie sich jenem gedanklichen Ausspinnen, welches die Erinnerung an ein leidvolles Begebnis in uns auszulösen pflegt und das erst dann ein Ende findet, wenn die Schwingungen der Erschütterung die letzte Herzfiber erreicht haben. Sie hörte nicht einmal hin, als Frau Gervaise sie fragte: ≫Hat man nie wieder etwas über Chantefleurie erfahren?≪
Da die Fragerin keine Antwort erhielt, schüttelte sie die ganz in ihre Gedanken verlorene Freundin so lange am Arme, bis diese wie aus tiefem Schlafe erwachte.
Nachdem Frau Gervaise ihre Frage wiederholt hatte, besann sich Frau Mahiette noch einen Augenblick, bevor sie erwiderte:
≫Chantefleurie? Was aus ihr geworden ist? Ach, das hat man nie erfahren.≪
Und nach einer Pause setzte sie hinzu:
≫Erzählt hat. man sich da wohl allerlei. Man will sie in der Dämmerung durch verschiedene Stadttore aus Reims hinausgehen gesehen haben. Ein alter Mann fand das goldene Kreuz, von dem ich euch erzählt habe, Chantefleurie hatte es wieder ausgelöst, als mit der Mutter Schönheit die Einnahmen wiederkamen. Nun hing es an einem Arme des Steinkreuzes, das auf dem Marktplatze steht. Wir wußten, wieviel Sie auf dieses Geschenk ihres ersten Liebhabers, des Vicomte, hielt. Man nahm daher an, daß sie den Tod gesucht haben müsse, weil sie es sonst nicht weggegeben hätte. Selbst im größten Elend hatte sie es nie verkaufen wollen, nur verpfänden. Dann aber erzählten zu Markte kommende Landleute, man habe sie barfuß in der Richtung gegen Paris reiten gesehen. Ich glaube aber, daß sie zur Forte Vesle direkt aus der Welt hinausgegangen ist.≪
≫Wie meint Ihr das?≪
≫Nun, da ist gleich der Fluß.≪
≫Entsetzlich!≪
≫Ertränkt!≪
Die beiden Pariserinnen schauderte es, während sie dies ausriefen.
≫Ertränkt≪, bestätigte Frau Mahiette. ≫Wenn dies Vater Bertraut geahnt hätte, daß der von ihm so oft in Frohlaune befahrene Fluß die letzte Zuflucht seines einzigen Kindes werden würde!≪
≫Und der kleine Schuh?≪
≫Mit der Mutter verschwunden.≪
≫Armer kleiner Schuh!≪ seufzte die sentimentale Frau Oudarde.
Die überaus wohlbeleibte Frau Oudarde würde Genüge gefunden haben, in Gesellschaft der Freundinnen Schicksal Paquettes empfindsam zu beseufzen, aber dies war nicht Frau Gervaisens Art, die es liebte, den Dingen auf den Grund zu gehen.
≫Und das Scheusal?≪ fragte sie daher.
Die anderen sahen sie verblüfft an.
≫Welches Scheusal?≪ fragte Frau Mahiette.
≫Nun, das Ungetüm, der Teufelsbalg, der statt der kleinen Agnes zurückblieb. Hoffentlich ist es ordnungsgemäß ertränkt werden!≪
≫Oh, nein.≪
≫Also wenigstens verbrannt?≪
≫Nichts derlei.≪
≫Wieso? Es wardoch todsicher ein Hexenkind.≪
≫Der Herr Erzbischof war nicht der Ansicht. Er meinte daß es ein ganz irdisches Zigeunerkind sei. Etwas deformiert allerdings. Auf alle Fälle hat Seine Ehrwürden den durch die vorgeschriebene Beschwörung den allenfallsigen Teufel aus dem Kinde ausgetrieben und es dann nach Paris gesandt, um es auf das Findelkinderbrett von Notre-Dame legen zu lassen.≪
≫Die Bischöfe müssen immer ihre eigenen Wege haben≪, kritisierte Frau Gervaise unzufrieden. ≫Ausgerechnet den Teufel unter die armen Findelkinder mengen! Die ohnehin nichts Gutes auf dieser Welt haben. Ich möchte nur wissen, was man in Paris mit dem Teufelsbraten angefangen hat. So menschenfreundlich kann ja gar niemand sein, um sich eine solche Mißgeburt auf den Hals zu laden.≪
≫Darüber weiß ich nichts. An den ferneren Schicksalen des Balges hat natürlich niemand bei uns ein Interesse gehabt.≪
Unter diesen Gesprächen waren die drei ehrbaren Bürgerinnen auf dem Grève-Platz angelangt. Dabei waren sie so in den fesselnden, von Frau Mahiette vorgebrachten Gegenstand vertieft gewesen, daß sie achtlos an der Rolandsnische und an dem hier aufgelegten Gebetbuche vorbei waren. Jetzt strebten sie eilig gegen den Pranger zu, und in Erwartung des hier zu sehenden interessanten Schauspiels hätten sie keinen Gedanken für ihr ursprüngliches Wegziel, das Rattenloch, übrig gehabt, wenn sie nicht durch den immer noch von der Mutter nachgeschleppten Eustache daran erinnert werden wären. Der pfiffige Bursche glaubte annehmen zu dürfen, daß der Besuch des Rattenloches erledigt war.
≫Mutter, kann ich jetzt den Kuchen essen?≪ fragte er daher.
Das war keine kluge Frage, sondern schlechte Diplomatie.
≫Mein Gott≪, rief prompt Frau Mahiette aus, ≫die arme Büßerin! Zeigt mir das Rattenloch, damit wir ihr den Kuchen bringen können.≪
≫Natürlich≪, stimmte Frau Oudarde bei. ≫Dies Werk der Barmherzigkeit dürfen wir nicht vernachlässigen.≪ Und die drei Frauen lenkten ihre Schritte gegen den Rolandsturm zurück.
Das war nicht im Sinne des gefräßigen Eustache, und er gab Zeichen höchster Unzufriedenheit von sich.
Als die drei Frauen beim Rolandsturme angelangt waren, übernahm Frau Oudarde die Direktion.
≫Wir dürfen nicht alle drei an die Luke treten≪, teilte sie mit. ≫Da wird die Klausnerin zornig auf uns. Tut ihr beiden, als ob ihr ein wenig im Gebetbuche lesen wolltet, und ich werde indes in die Luke sehen. Schwester Gudule kennt mich ein wenig. Ich will euch dann rufen, sobald ich sie vorbereitet habe.≪
Gesagt, getan.
Frau Oudarde trat allein an die Luke heran. Aber kaum hatte sie ihr Gesicht in deren Nähe gebracht, als aus der demselben der bisherige fröhlich-offenherzige Ausdruck plötzlich verschwand, um tiefstem Mitleide Platz zu machen. Es war, als ob der bleiche Mond aus dem strahlenden Sonnenlichte getreten wäre. Ihre Augen wurden feucht, ihr Mund zog sich zusammen, als ob sie weinen wollte. Und gleich darauf legte sie einen Finger auf die Lippen, während sie ihren Gefährtinnen winkte, näher zu kommen.
Gerührt, schweigend, auf den Zehenspitzen, wie an ein Sterbelager kam Frau Mahiette heran.
Es war aber auch ein elender Anblick, der sich da den beiden Frauen bot, als sie in atemloser Starre durch die Gatterluke in das Rattenloch hineinsahen.
Die Zelle war eng, mehr breit als tief, gotisch gewölbt, so daß sie der Innenhöhlung einer bischöflichen Mitra glich. Den Boden bildete eine nackte Steinplatte, und auf dieser saß oder, besser gesagt, kauerte gegen den Hintergrund gedrückt eine Frau. Sie hatte das Kinn auf die hochgezogenen Knie gestützt und hielt die kreuzweise verschlungenen Arme gegen die Brust gepreßt. Ihre Kleidung war ein brauner Sack, in dessen Falten sie ganz und gar verschwand. Ihre langen, verfilzten, grauen Haarsträhnen fielen wie ein Schleier über ihr Gesicht bis an die Fußspitzen herab, so daß von der völlig in sich selbst versunkenen Unglücksgestalt auf den ersten Blick nur die Konturen eines dunklen Dreieckes sichtbar waren, die der in die Luke spärlich einfallende Tagesstrahl unsicher beleuchtete.
So bot sie eine der halb dunklen, halb lichten Erscheinnungen, wie man sie in Träumen und auf den wunderlichen Bildern Goyas sehen kann. Bleich, starr, finster, auf ein Grab gekauert oder an die Gitter eines Fensters gelehnt.
Man war sich nicht klar, ob es ein Mann oder ein Weib, ein lebendes Wesen, eine feste Gestalt überhaupt war. Es schien eine Alpfigur zu sein, in deren Erscheinung Wirklichkeit und Einbildung wie Licht und Finsternis ineinander verflossen. Und nur durch Spaltlücken des Haarschleiers waren Teile eines abgemagerten, strengen Antlitzes bei näherem Zusehen zu erspähen. Menschlich war nur das Zusammenkrampfen der aus dem Sacke hervortretenden Fußspitzen als ein Zeichen dafür, daß dieses Wesen die Eiseskälte der Steinplatte spürte. Aber dieses geringe Maß an menschlicher Empfindlichkeit vermehrte nur noch das Schaudern, welches diese Spukgestalt einflößte.
Im übrigen schien das hier kauernde Wesen weder Bewegung noch Denkvermögen oder Lebensodem zu haben. In dieser Januarkälte, bei offener Luke, ohne Feuer nur in ein Sackleinen gehüllt, also so gut wie nackt, auf einem Granitpflaster zu hocken, dabei in einem Kerkerloche durch die einzige schräge Öffnung nie einen wärmenden Sonnenstrahl, sondern nur ein Minimum an Tageslicht zu empfangen, trotzdem anscheinend nicht zu leiden, nichts zu fühlen, das war ein Bild, vor dem man nur mit unfaßbarem Entsetzen stehen konnte. Man konnte glauben, daß dieses Geschöpf mit seinem Kerker zu Stein, mit der Jahreszeit zu Eis geworden war.
Mit den verschlungenen Augen und dem unter dem Haargestrüpp sichtbar werdenden Starrblicke glich die Klausnerin einem Gespenste oder einem Säulenbilde. Aber dann sah man, wie die blaugefrorenen Lippen an sich leise in langsamem Atmen öffneten und schlossen, wie leicht im Winde bewegte Blätter bebten, daß man es also mit einem Lebewesen zu tun hatte.
Manchmal zuckte aus diesen finsteren, weltfremden Augen ein Blick unsagbarer, tiefer, untröstlicher Trauer, erschütternd und rührend, wie nichts auf dieser Welt. Und dieser Blick war nicht gegen die Luke, die Außenwelt, gerichtet, sondern nach einem Winkel der Nische, wo ein geheimnisvoller Gegenstand liegen mußte, der all die düsteren Gedanken dieser leidenden Seele auf sich zog.
Das war das Wesen, welches als Büßerin unter dem Namen einer Schwester Gudule bekannt war.
Inzwischen war auch Frau Gervaise hinzugetreten, und schweigend blickten die drei Frauen in die Zelle hinein. Dabei hemmten ihre Köpfe die ohnehin schwache Beleuchtung, ohne daß die dadurch um ihr bißchen Licht verkürzte Büßerin diesem Umstande irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken schien.
≫Wir wollen sie nicht stören≪, meinte endlich Frau Oudarde mit leiser Stimme. ≫Sie ist in Verzückung. Sie betet.≪
Frau Mahiette betrachtete indes immer eindringlicher das wenige, was von den Zügen der Klausnerin sichtbar war.
≫Das wäre aber sonderbar≪, murrnelte sie dabei.
Und dann steckte sie ihren Kopf zwischen das Lukengitter, um herauszubekommen, wonach die Unglückliche so andauernd sah.
Als sie hierauf ihren Kopf wieder herauszog, waren ihre Wangen von Tränen benetzt.
≫Wie nennt Ihr diese Frau?≪ fragte sie mit eigentümlichem Tone.
≫Schwester Gudule wird sie genannt.≪
≫Und ich nenne sie Paquette La Chantefleurie≪, entgegnete Frau Mahiette.
Dabei bedeutete sie Frau Oudarde, auch tiefer in die Luke hineinzublicken.
Neugierig gehorchte diese und sah im hinteren Zellenwinkel einen kleinen rosa Seidenschuh, der reich mit Gold und Silber bestickt war.
Dann überzeugte sich auch Frau Gervaise von der Richtigkeit der Entdeckung, und alle drei Frauen brachen in reichlich fließende Tränen aus.
Kein Zweifel, da war der Schuh der kleinen Agnes, die Büßerin war die unglückliche Paquette.
Aber nicht einmal das bittere Weinen der drei Frauen schien die Klausnerin irgendwie zu berühren. Ihre Hände blieben verschlungen, ihre Lippen stumm, ihr Auge starr. Aber für die Wissenden war es ein herzzerreißender Anblick, sie so unverwandt auf den Schuh des verlorenen Kindes schauen zu sehen.
Keine der drei Frauen wagte zu sprechen oder zu flüstern. Dieser tiefe, schweigende Schmerz der Unglücklichen, dieses alles vergessende Aufgehen in einen einzigen Gegenstand erweckte in den Beschauerinnen dasselbe feierliche Gefühl, welches sie sonst nur an den großen Kirchenfesttagen vor dem Hochaltar empfanden. In Andacht gesammelt, waren sie bereit, in die Knie zu sinken.
Frau Gervaise war die erste, die sich diesem Banne entriß. Sie war die am wenigsten beleibte und wahrscheinlich daher die am wenigsten gefühlvolle unter den dreien. Zumindest war sie die neugierigste. Sie wollte wissen, was die Klausnerin zu der Entdeckung der Frau Mahiette sagen würde.
≫Schwester≪, rief sie, ≫Schwester Gudule!≪
Keine Antwort, obgleich sie ihren Anruf dreimal wiederholte.
Die Klausnerin rührte sich nicht. Kein Wort, kein Blick, kein Seufzer, nicht das geringste Lebenszeichen kam von ihr.
Da versuchte Frau Oudarde ihr Glück.
≫Schwester≪, schmeichelte sie sanft, ≫heilige Schwester Gudule.≪
Das gleiche Schweigen, dieselbe Regungslosigkeit.
≫Eine sonderbare Frau. Nicht einmal ein Feldgeschütz könnte sie beunruhigen, wie es scheint≪, bemerkte Frau Gervaise.
≫Vielleicht ist sie taub≪, meinte Frau Oudarde.
≫Oder blind≪, vermutete Frau Gervaise.
≫Oder im Sterben≪, sagte Frau Mahiette.
In der Tat, wenn diese Seele noch nicht im Begriff war, diesen reg- und gefühllosen, erstarrten Leib zu verlassen, so mußte sie sich in Tiefen zurückgezogen und verborgen haben, in welche Wahrnehmungen der körperlichen Sinnesorgane nicht mehr zu dringen vermochten.
≫Wenn wir den Kuchen nur so an die Luke legen, wird er von irgendeinem Gassenjungen gestohlen≪, meinte Frau Oudarde. ≫Aber wie können wir ihre Aufmerksamkeit erregen?≪
Inzwischen hatte Eustache sich mit der Beobachtung eines kleinen Wagens beschäftigt, der von einem großen Hunde gezogen wurde. Wie er nun bemerkte, daß die drei Frauen sich andauernd mit der Gatterluke abgaben, wurde auch seine Neugier erweckt. Er stieg daher auf den dort befindlichen Eckstein und richtete sich auf den Zehenspitzen auf, um sein dickes Rotbackengesicht in die Öffnung hineinstecken zu können.
≫Mutter≪, rief er, nachdem er dies bewerkstelligt hatte, ≫Mutter, schau mal an!≪
Beim hellen frischen Laute seiner Kinderstimme schrak die Klausnerin aus ihrer brütenden Versunkenheit empor. Mit der raschen, knappen Bewegung einer stählernen Sprungfeder schnellte sie ihren Kopf gegen die Luke zu und heftete ihren erstaunten Blick bitter-verzweifelt auf den Knaben.
≫Mein Gott≪, schrie sie auf, ≫zeigt mir wenigstens nicht die Kinder anderer Leute!≪
Und sie ließ ihr Haupt zwischen die Knie sinken.
≫Guten Tag, Madame≪, sagte der Knabe mit ernster Artigkeit.
Da lief ein Schauer durch die gespenstischen Glieder der Büßerin. Mit klappernden Zähnen zog sie ihre Arme und Beine enger an den hageren Knochenleib, als ob sie erst jetzt zur Empfindung der eisigen Luft gelangt wäre.
≫Wie kalt≪, wimmerte sie dabei.
≫Arme Frau≪, sagte die Bürgerin Outarde mitleidsvoll. ≫Wünscht Ihr etwas Feuer?≪
Die Klausnerin antwortete mit einem abwehrenden Kopfschütteln.
Frau Oudarde ließ sich jedoch nicht abweisen.
≫Vielleicht etwas Würzwein≪, schlug sie vor, ein Fläschchen hinhaltend. ≫Das wird Euch wärmen und gut tun.≪
≫Wasser≪, lispelte die Büßerin, ohne das Fläschchen zu beachten. Frau Oudarde wurde aber nur dringender.
≫Das ist nichts im Jänner, glaubt mir≪, versicherte sie eifrig. ≫Nehmt ein wenig von dem Wein und dem Maiskuchen, den wir für Euch gebacken haben.≪
Aber auch den Kuchen stieß die Klausnerin zurück.
≫Nur Schwarzbrot≪, entgegnete sie.
Da wurde sogar Frau Gervaise fortgerissen. Sie zog ihren Wollrock ab und reichte ihn bei der Luke hinein. ≫Nehmt≪, sagte sie. ≫Wärmt Euch mit dem! So müßt? Ihr ja zugrunde gehen!≪
Doch auch der warme Rock wurde zurückgewiesen.
≫Einen Sack≪, verlangte die Unglückliche.
≫Aber heute ist doch ein Festtag≪, machte sie die gutmütige Frau Oudarde aufmerksam.
≫Das merke ich, weil seit zwei Tagen kein Wasser in meinem Kruge ist≪, begann Schwester Gudule zum ersten Male zusammenhängend zu sprechen. ≫An Festtagen vergißt man immer auf mich. Da haben die Leute anderes zu schauen. Wenn die Glut verlischt, wird die Asche kalt.≪
Nachdem sie diese Sentenz mit bitterem Tone von sich gegeben hatte, ließ sie ihr Haupt wieder auf die Knie sinken.
Frau Oudarde bezog diese Äußerung auf die Kälte und fragte die Arme nochmals, ob sie ein wenig Feuer wünsche.
≫Feuer≪, wiederholte die Klausnerin in seltsamer Weise. ≫Ja, bringt ein wenig davon der Kleinen, die seit fünfzehn Jahren in der kalten Erde liegt.≪
Und wie mit einem Ruck begann sie plötzlich an allen Gliedern zu heben, ihre Augen funkelten, ihre bleiche Knochenhand streckte sich gegen den Knaben aus, der verdutzt zurückprallte.
≫Nehmt das Kind fort≪, gellte sie. ≫Die Zigeunerin wird gleich vorüberkommen!≪
Diese Anstrengung schien alle ihre Kräfte erschöpft zu haben. Zusammenbrechend, schlug sie mit dem Kopfe so heftig auf die Granitplatte auf, daß es erklang, als ob ein Stein einen anderen getroffen hätte.
Schon hielten sie die entsetzten Frauen für tot.
Aber da kam wieder Leben in das elende Skelett, das sich langsam auf den Händen und Knien in Bewegung setzte, um nach dem Winkel zu rutschen, in welchem der Kinderschuh lag.
Erschüttert wagten die Frauen kaum hinzusehen, als sie den Laut von Küssen und Liebkosungen, von herzzerreißenden Seufzern und Schreien hörten. Dazwischen mengten sich kurz und dumpf die Töne, welche der an die Mauer geschlagene Kopf der Büßerin hervorrief. Nach einem letzten solchen Schlage war plötzlich alles still.
≫Hat sie sich erschlagen?≪
Mit erblaßten Lippen fragte es Frau Gervaise.
≫Gudule! Schwester Gudule!≪
Frau Gervaise hatte ihren Kopf tief in die Gatterluke hineingezwängt, um die Unglückliche sehen zu können. ≫Mein Gott, sie rührt sich nicht≪, rief sie erschüttert.
≫Gudule, Gudule! Ist sie denn tot?≪
Da legte sich Frau Mahiette ins Mittel.
≫Paquette! Hörst du mich? Paquette La Chantefleurie!≪
Kaum hatte Frau Mahiette es gerufen, als sie schon entsetzt zurückfuhr.
Wie ein vorwitziges Kind, das den glimmenden Zünder einer Petarde angeblasen hat.
Flammensprühenden Auges, mit fliegenden Flanken, wie eine aufgescheuchte Raubkatze schnellte sich die Angerufene nach der Luke hin, so furchterweckend, daß die Frauen mit dem Knaben bis an die Brustmauer des Flußdammes zurücksprangen.
Von hier aus blickten die Erschreckten starrgebannt auf das verzerrte Antlitz hinüber, das zwischen den Gitterstäben sichtbar war.
Die Büßerin aber brach in ein entsetzliches Gelächter aus. ≫Haha≪, schrillte sie. ≫Bist du es, verdammte Zigeunerin, die mich ruft?≪
Da wurde ihr wilder Blick durch eine Szene am Pranger gefesselt. Und mit drohend aus der Luke herausgestreckten Knochenarmen schrie sie mit überschlagender Stimme: ≫Kindesräuberin! Ägypterin! Verflucht seist du!≪
Eine Träne für einen Tropfen Wasser
Der über den Grève-Platz geliende Fluch der Klausnerin verband zwei dramatische Szenen, die sich zu gleicher Zeit auf dem düsteren Richtplatze abspielten. Die eine vor dem Rattenloche und die andere auf dem Gerüst des Schandpfahles.
Während aber die eine Szene nur drei mitfühlende Frauen und einen Knaben als Zuschauer hatte, versammelte sich vor der anderen das ganze Publikum.
Das erwähnte Eintreffen der vier Gerichtsdiener hatte in der Menge die angenehme Erwartung auf eine mittlere Exekution erweckt, wie etwa ein Auspeitschen oder Ohrabschneiden, wenn es schon kein Aufhängen war. Die Versammlung war daher rasch angewachsen, und sie begann bereits so stark gegen den Pranger anzudrängen, daß die eingekeilten Gerichtsdiener sich nur durch schwingende Gertenstreiche und durch Kehraustanzen mit den Pferdekruppen Luft machen konnten. Abgesehen von diesem Zudrange, war das Publikum zu sehr an das Wartenmüssen bei Urteilsvollstreckungen gewöhnt, um große Zeichen der Ungeduld von sich zu geben.
Man unterhielt sich einstweilen damit, den Pranger wieder einmal genau zu betrachten. Es war dies ein sehr einfaches Bauwerk, dessen Postament aus einem gemauerten, innen hohlen Würfel mit etwa zehn Fuß messenden Kanten bestand. Die oberste Fläche des Würfels diente als Plattform, und zu dieser führte eine Stufentreppe aus roh behauenen Steinen, die sogenannte Schandleiter, hinauf. Auf der Plattform selbst war waagrecht ein Rad aus hartem Eichenholz angebracht, dessen Nabe um eine feste Vertikalachse drehbar war. Die Speichen dieses Rades dienten dazu, um auf ihnen den Delinquenten in kniender Stellung anzuschnallen, nachdem man ihm die Hände auf dem Rücken zusammengeschnürt hatte. Hierauf wurde das Rad durch eine Winde in Drehung versetzt, so daß das Gesicht des armen Sünders nach und nach von allen Seiten des Platzes gesehen werden konnte. Dieses Verfahren wurde das Drehen des Missetäters genannt.
Der Pranger auf dem Grève-Platz bot somit bei weitem nicht all die Ergötzlichkeiten, die an dem vor den Hallen zu sehen waren. Nichts Architektonisches, Denkmalähnliches war an ihm zu bemerken. Er hatte kein eisernes Kreuzdach, kein achteckiges Türmchen, keine Säulen mit laub- und blumengeschmückten Kapitälen unter den Dachrändern, keine Holzschnitzereien, keine chimärischen Dachrinnnen, keine grotesken Dachtraufen, keinerlei geschmackvoll ausgeführte Steinbildarbeiten. Keine dieser Herrlichkeiten des Prangers vor den Hallen war auf dem Grève-Platze zu finden.
Vier Bruchsteinflächen, zwei Sandsteinmauern, ein häßlicher, ebenso schmuckloser wie dürrer Steingalgen, das war alles, was da zu beschauen war. In der Tat, ein magert Genuß für Liebhaber gotiscber Kunst. Aber die biederen Pariser Gaffer scherten sich damals ebensowenig wie in unseren Tagen um die Schönheit, wenn ihre Sensationsgier anderweitig Befriedigung fand.
Endlich wurde der Delinquent auf dem Arme-Sünder-Karren angefahren, auf dem er wie ein wildes Tier angekettet war. Mit ein paar sachgemäßen Griffen beförderten ihn die Schergen im Handumdrehen auf die Plattform hinauf, wo er von allen Zuschauern gesehen werden konnte. Ein ungeheueres Hohngelächter vermengte sich mit wüstem Beifallsgeklatsch und Bravogeschrei, als man in dem armen Sünder Quasimodo erkannte.
Es war ein seltsamer Glückswechsel für den armen Teufel, an der nämlichen Stelle am Pranger zu sein, wo man ihn am vorhergehenden Abend als Papst und Herrscher aller Narren in Begleitung von exotischen Kaisern, Königen und Herzogen zugejubelt und beifällig zugejauchzt hatte. Solcher Beweis des Wankelmuts der Menge war schon Besseren als ihm widerfahren, und es war überdies zweifelhaft, ob er und die ihn umtosende Menge sich über dieses Auf und Nieder des Geschicks Gedanken machten. Hierzu wäre vielleicht nur Gringoire fähig gewesen, der jedoch nicht zugegen war.
Die Exekution wurde von Herrn Michel Noiret, dem vereidigten Trompeter Seiner Königlichen Majestät, eingeleitet, der zunächst dem Volke Schweigen gebot und dann das Urteil, der oberrichterlichen Verfügung gemäß, verkündete. Dann stellte er sich mit seinen uniformierten Begleitern zur Seite auf.
Am gleichgültigsten von allen blieb der Verurteilte selbst, der keine Miene verzog. Da ihm die Riemen und Stricke tief ins Fleisch einschnitten, war ihm jeder Widerstand unmöglich gemacht, und einen anderen Protest als den mit seiner Körperkraft kannte er nicht. Für seinesgleichen war ja die Stärke und Festigkeit der Fesseln berechnet, um im damaligen Kriminalstile zu sprechen, wovon die aus Bagno und Galeere stammende Tradition sich auch heute noch nicht verloren hat, da die Handschellen auch unserer sanften Zivilisation erhalten geblieben sind, ganz abgesehen vom Zuchthause und von der Guillotine.
Quasimodo hatte sich infolge seiner Wehrlosigkeit schweigend führen, zerren, stoßen und auf die Plattform schleppen lassen. In seinem Gesichte war nichts als das Staunen eines Wilden oder eines Idioten zu erkennen. Er schien nicht nur taub, sondern auch blind zu sein, nach der Art, wie er die ganze Prozedur über sich ergehen ließ.
Nun wurde er kniend auf das Rad geschnallt und seines Wamses und Hemdes entledigt, so daß sein ganzer Oberleib entblößt war. Dann schnürte man ihn in ein neues System von Stricken und Riemen, was er ohne eine andere Lebensäußerung außer einem zeitweiligen tiefen Schnaufen geschehen ließ, das an das Stöhnen eines Kalbes erinnerte, dessen Kopf über den Rand eines Fleischkarrens herabbaumelt.
≫Der Tölpel≪, kritisierte ihn der Studiosus Johannes Frollo, der mit dem unvermeidlichen Poussepain dem Arme-Sünder-Zuge gefolgt war. ≫Er begreift von der ganzen Sache soviel wie ein Maikäfer, der in eine Schachtel gesperrt worden ist.≪
Die gedankenlose Menge brach in ein tolles Gelache aus, als der nackte Buckel und die Kamelsbrust, die behaarten, muskelbepackten Schultern Quasimodos sichtbar wurden.
Unter dieser allgemeinen Heiterkeit stieg ein robuster, untersetzter Mann in städtischer Uniform die Schandleiter hinauf und nahm neben dem armen Sünder Stellung. Der Name des Ankömmlings wurde rasch in der Runde gemurmelt, es war der des Meisters Pierrat Torterue, des vereidigten Foltermeisters beim Châtelet.
Vor allem brachte dieser an einer Ecke des Prangers eine schwarze Sanduhr an, deren obere Kapsel mit rotem Sande gefüllt war, der beim Ablaufen in die untere Kapsel durch seine Farbe gut sichtbar gemacht wurde. Dann legte der Foltermeister seinen halbteiligen Überrock ab und ergriff hierauf mit seiner nervigen Rechten eine Peitsche, die an kurzem, steifem Stiele ein Garbenbündel langer, weißlederner, knotig verflochtener und an den Enden mit Metallhaken versehener Riemen trug. Während dieser Vorbereitungen hob Johannes Frollo seinen blonden Lockenkopf über die Menge, wozu er auf die Schultern Poussepains geklettert war.
≫Meine Herren und Damen≪, rief er nach Marktschreierart, ≫kommt und schaut! Die Auspeitschung des Glöckners meines hochwürdigen Herrn Bruders, des Archidiakons von Notre-Dame, ist zu sehen! Meister Quasimodo, der närrische Kauz, das abenteuerliche Knochengerüst mit einem Buckel wie ein Turmdach und verdrehten Säulen als Beinen wird ausgeklopft!≪ Der Haufe brach in ein albernes Gelächter aus, wobei sich vor allem die Kinder und jungen Mädchen hervortaten.
Endlich gab der Foltermeister durch Fußklopfen das Anfangszeichen, worauf sich das Rad zu drehen begann. Als der darauf kniende Quasimodo dadurch ins Schwanken geriet, trat auf sein häßliches Gesicht ein Ausdruck maßloser Bestürzung, was den Mob veranlaßte, sein johlendes Gewieher zu verdoppeln.
Und jedesmal, wenn bei diesen Drehungen des Rades der nackte Rücken Quasimodos dem Foltermeister zugekehrt wurde, drosch dieser mit voller Kraft aus hochgeschwungenem Arme auf den Elenden los. Wie bissige Nattern pfiffen die langen Knotenriemen durch die Luft. Prasselnd klatschten sie auf den gegenzuckenden Leib des Gezüchtigten nieder.
Wie aus stumpfem Schlafe schreckend, erbebte Quasimodo, als er beim ersten dieser furchtbaren Hiebe sein Los begriff. Schmerz und staunende Überraschung durchkrampften die starken Muskeln seiner Züge, aber nicht ein einziger Seufzer löste sich aus seiner Brust. Nur den Kopf wandte er hin und her. Er wiegte ihn von rechts nach links und zurück, wie ein von einer Bremse in die Flanke gestochener Stier.
So folgte Hieb auf Hieb. Infolge der Raddrehung hatte der Henker Zeit, für jeden neuen Hieb seine volle Kraft zu sammeln, die er noch dazu ganz in Anwendung brachte, indem er sich vor jedem Hieb auf die Fußspitzen erhob. Dabei drehte sich das Rad schnell genug, daß es ein Platzregen von Hieben wurde.
Schon die ersten Hiebe rissen blutrünstige Striemen und Kerben, aus denen alsbald der rote Lebenssaft zu sprühen begann, um teils durch die ausschwingenden Riemen der Peitsche über die Köpfe der Menge gespritzt zu werden, teils in stetigen Rinnsalen über den schwarzbraunen Leib des Gemarterten herabzuströmen. Nur bei den ersten Hieben hatte Quasimodo mit zusammengebissenen Zähnen Anstrengungen gemacht, seine Fesseln zu sprengen. Sobald er aber die Aussichtslosigkeit seines Beginnens erkannt hatte, fand er seine anfängliche ruhige Haltung wieder. Erschöpft, zusammengesunken, tiefgeneigten Hauptes überließ er sich der Bitterkeit, die sich in seinen entmutigten Zügen malte. Nur noch einmal, als der Schmerz ihn an die Grenze des Wahnsinns brachte, versuchte er flammenden Blickes die Bande zu zerreißen. Seine Glieder zogen sich zusammen, seine Muskeln spannten sich, die Riemen und Stricke begannen sich unter diesem gewaltigen, in seiner Verzweiflung übermenschlichen Kraftaufwande zu dehnen. Aber sie hielten stand.
Von da an rührte sich Quasimodo nicht mehr. Sein einziges Auge blieb geschlossen, er schien tot zu sein. Nichts vermochte ihm auch nur die geringste Bewegung abzunötigen, obgleich der über diese stumme Passivität in Zorn geratene Henker die Wucht seiner Hiebe verdoppelte und, vom Blute seines Opfers berauscht, mit rasender Wut die schrecklich sausenden Peitschenriemen schwang.
Währenddem rann mit fürchterlicher Langsamkeit der Sand der Uhr in die untere Kapsel hinab. Ein eigener Beamter des Châtelet, hoch zu Roß, in schwarzer Robe, beobachtete den Ablauf der für die Züchtigung bestimmten Zeit. Endlich, endlich streckte er seinen Ebenholzstab gegen das Uhrgehäuse aus, in demselben Augenblicke, in welchem die obere Kapsel leer geworden war.
Sogleich hielt der Henker inne, stand das Rad. Quasimodos Auge öffnete sich langsam wieder.
Zwei Knechte des Foltermeisters eilten auf die Plattform hinauf, um den blutüberströmten Rücken des Gezüchtigten abzuwaschen und dann mit einer Salbe einzureiben, die sogleich alle offenen Wunden schloß. Dann warfen sie über seine Schultern ein braunes Tuchkleid, das wie ein ärmelloses Meßgewand geschnitten war. Der Foltermeister stand daneben und ließ von seinem Peitschenbündel das noch daranhaftende Blut abtropfen.
Damit aber war Quasimodos Marter noch nicht zu Ende. Es kam jetzt noch die zweite Stunde der Prangerbuße, die ihm die mißverstandene Intervention des gutmütigen Schreibers bei Meister Florian eingetragen hatte.
Man beließ daher den Gefolterten in seiner Stellung auf dem Rade und drehte bloß die Sanduhr um, damit die zweite Stunde ordnungsgemäß ablaufen und so der Gerechtigkeit Genüge getan werden konnte.
Vermutlich ist das Volk in der Gesellschaft das, was in der Familie das Kind ist.
Besonders aber war dies im Mittelalter der Fall.
Volk und Kind befinden sich in einem Zustande jugendlicher Unwissenheit, der mit geistiger und sittlicher Unmündigkeit Hand in Hand geht. Und insbesondere betreffs der Kindheit kann man sagen, daß es ein Alter ist, welches das Mitleid nicht kennt.
Hierzu kam noch, daß Quasimodo allgemein verhaßt war, so daß es in der angesammelten Menge kaum einen Menschen gab, der nicht Anlaß zu einer Beschwerde über den boshaften Buckligen zu haben meinte.
Es herrschte daher allgemeine Freude, als man die rohe Bestrafung des Elenden sah. Und seine darauffolgende klägliche Lage war weit davon entfernt, beim Pöbel Erbarmen auszulösen. Im Gegenteil, das Unglück des Buckligen schien den Haß der Menge noch geschärft und um den Stachel der Schadenfreude vermehrt zu haben. Als daher — um im Jargon der viereckigen Mützen13 zu rotwelschen — das beleidigte Rechtsgefühl des Volkes Genugtuung erhalten hatte, kamen die Akte persönlicher Rache an die Reihe.
Hier taten sich, wie bei allen Volksansammlungen, die Weiber besonders hervor. Sie alle hatten einen Groll auf Quasimodo, teils wegen seiner Boshaftigkeit und hauptsächlich wegen seiner Häßlichkeit.
Zunächst machte sich diese in entsprechendem Gekreische laut.
≫Larve des Satans!≪
≫Teufelsfresse!≪
≫Besenstielreiter!≪
≫Jammerfratze!≪
≫Heut wärst du sicher nicht der Narrenpapst!≪
≫Warum nur Pranger? Auf den Galgen mit ihm!≪ heulte eine andere.
≫Hundert Fuß unter die Erde, mit der großen Glocke um den Hals!≪
≫Verfluchter Glöckner!≪
≫Bei uns läßt man den Teufel den Angelus läuten!≪
≫Taubian!≪
≫Einglotzer!≪
≫Buckeltier!≪
≫Dromedar!≪
≫Monstrum!≪
≫Wenn den eine Schwangere sieht, macht sie auch ohne Apothekertränke eine Fehlgeburt≪, versicherte eine Alte. Und unter dem allgemeinen Gejohle grölten die Studiosi Johannes und Poussepain den alten Volksrefrain: ≫Einen Strick fürs Diebsgenick — ein Birkenreis für den Affensteiß!≪
So regnete es Hohn- und Schimpfworte, Verwünschungen und Fläche.
Da kam der erste Stein geflogen.
Und ein ganzer Hagel folgte nach.
Obzwar taub, erkannte Quasimodo die Wut des Pöbels deutlich an den verzerrten Mienen, in denen sich all die ausgestoßenen Schimpfworte widerspiegelten. Und schließlich machten ihm die Steinwürfe die Stimmung klar und deutlich genug.
Anfangs bewahrte er seinen Gleichmut, aber nach und nach gab seine unter der Marter der Peitschenhiebe bewährte Geduld vor den Insektenstichen des Pöbels nach.
Zuerst warf er drohende Blicke in die Runde, die jedoch nicht viel Eindruck machten, da man ihn in seinen Fesseln wehrlos wußte. Als er aber so wütende Körperverrenkungen zu machen begann, daß das Rad in seinen Fugen krachte, nahm Spott- und Hohngeschrei nur noch zu.
Die Fesseln hätten ein wildes Tier halten können, waren daher allen Kraftanstrengungen des Delinquenten gewachsen. Diese endgültige Einsicht machte ihn wieder ruhig, nur von Zeit zu Zeit hob sich ein ingrimmiges Stöhnen aus der Tiefe seiner Brust.
Dabei zeigte oder empfand er keine Scham. Dazu war er zu primitiv, der Natur zu nahe und der Gesellschaft zu sehr entfremdet. Die dem Pranger anhaftende Schande begriff er nicht.
Desto schärfer empfand er dafür Zorn, Haß und Verzweiflung, die auf seinem häßlichen Gesicht wie düstere Wolken erschienen und aus seinem Einauge wie tückische Blitze zuckten.
Die Zorneswolke erhellte sich nur eine kurze Zeit lang, als Quasimodo von weitem einen Priester auf einem Maultiere gegen den Pranger zu reiten sah. Als der Geistliche durch die ehrerbietig Platz machende Menge herankam, besänftigte sich die Miene des armen Teufels immer mehr und mehr. Ihr Ausdruck wurde um so offenherziger, strahlender und lächelnder, je geringer der Abstand des Heranreitenden vom Pranger wurde.
Statt Wut war auf Quasimodos Zügen bloß Zärtlichkeit, Sanftmut und unaussprechliche Milde zu sehen. Es war, als ob der Elende die Ankunft seines Erlösers begrüßen würde.
Sobald aber der Priester nahe genug an den Pranger herangekommen war, um aufblickend in dem Delinquenten Quasimodo erkennen zu können, riß er wortlos sein Maultier zurück, wandte es um und gab ihm die Hacken, als hätte er höchste Eile, einem demütigen Gruße oder einer flehentlichen Bitte des Unglücklichen auszuweichen.
Dieser Priester war der Archidiakon Dom Claude Frollo.
Da senkte sich die Wolke um so düsterer auf Quasimodos Gesicht herab. Und nur noch kurz zitterte ein sich verlierendes Lächeln nach, aber es war bitter, mutlos und unendlich traurig geworden.
Bleiern langsam verfloß die Zeit. Schon anderthalb Stunden währte die Tortur. Zerfleischt, mißhandelt, verhöhnt, gesteinigt, schien der Gepeinigte in immer tieferen Stumpfsinn zu versinken.
Aber plötzlich kam neue Bewegung in seinen Leib. Mit verdoppelter Kraft und Verzweiflung riß er an seinen Fesseln, daß das ganze Gerüst erbebte. Und das beharrliche Schweigen endlich brechend, brüllte er mit einer all das Gegröl und Hohngelächter überdröhnenden Stimme das Wort ≫Wasser!≪ hinaus.
Die unvermeidliche Qual des Durstes hatte den gemarterten Leib erfaßt, und dieser primitiven Forderung gab der Naturmensch haltlos nach.
Dem wüsten Pöbel aber erklang dieser Notschrei der gepeinigten Kreatur wie süße Musik. Kaum weniger grausam und vertiert als die Gaunerhorden des Wunderhofes war dazumal die niedrige Volksschicht, die bei solchen Exekutionen die Hauptgruppe unter den Zuschauern abzugeben pflegte. Unter all den Anwesenden fand sich nicht eine Stimme des Erbarmens für den Elenden, nur Hohn und Spott wurden ihm zuteil.
Freilich war für wenig feinfühlende Menschen an dem Unglücklichen nichts Bemitleidenswertes zu sehen. Mit seinem rotgeschwollenen, schweißtriefenden Gesichte, mit dem vor Zorn und Leid schäumenden Munde und mit der durstig herausquellenden Zunge bot er einen Anblick, der wahrhaft abstoßend war. Die rohen Seelen der Umstehenden gehorchten daher nur der sie überkommenden Empfindung des Abscheus. Und selbst wenn jemand unter ihnen gewesen wäre, der genug Erbarmen gefühl hätte, um dem Leidenden einen Trunk Wasser bieten zu mögen, so hätte ihn doch das dem Pranger anhaftende Vorurteil von Schimpf und Ehrlosigkeit davon abgehalten, die Schandleiter mit der Labe hinanzusteigen.
Mit minutenlangen Pausen ließ der Dürstende immer wieder seinen verzweifelten Ruf nach. einem Trunke erschallen, immer herzzerreißender wurde seiner Stimme Ton und immer gemeiner und roher das darauffolgende Gelächter des Pöbels.
≫Trink das≪, rief Poussepain und warf ihm einen Schwamm ins Gesicht, der mit der Gosse herangetrieben war. ≫Sauf, tauber Schurke! Jetzt sind wir quitt!≪ Eine Weibsperson war noch bestialischer als dieser verkommene Student. Sie warf dem Elenden einen Pflasterstein auf den erdröhnenden Kopf und johlte dazu:
≫So klingt bei Nacht deine verwünschte Läuterei!≪
Eine andere warf den Scherben eines zerbrochenen Geschirrs nach ihm.
≫Da hast du einen Napf, hol dir das Wasser selbst!≪
≫Das ist dem Kerl gesund≪, behauptete ein Mann. ≫Nur er ist schuld, daß meine Frau ein Kind mit zwei Köpfen geboren hat!≪
≫Und meine Katze einen sechsbeinigen Kater!≪ sekundierte eine alte Vettel, indem sie einen Dachziegel schmiß.
Ein Gelähmter mühte sich ab, mit seiner Krücke nach dem Elenden zu schlagen.
≫Der Schuft hat mich verhext≪, brüllte er.
≫Wasser!≪ wimmerte der Unglückliche.
Da sah er, wie sich die Rotte teilte und ein junges, wunderlich gekleidetes Mädchen aus der Menge hervortrat. In ihrer herabhängenden, bebenden Hand klirrten die Glöckchen eines Tamburins, und eine schneeweiße Ziege mit vergoldeten Hörnern trappelte ihr nach.
Mit funkelndm Blicke maß Quasimodo die Herankommende. Das war ja die Tänzerin, die er in der vergangenen Nacht zu entführen versucht hatte. Dunkel war er sich bewußt, daß seine heutige Qual die Folge dieses Attemats war. Obwohl er sich hierin teilweise irrte, wie wir wissen, da der Hauptgrund seine und seines Richters Taubheit gewesen war.
Jedenfalls zweifelte Quasimodo nicht im geringsten daran, daß die Tänzerin auf ihn zukam, um gleich den anderen ihr Mütchen und ihre Rache an ihm zu kühlen. Darin wurde er bestärkt, als er sah, wie hastig sie die Schandleiter heraufstieg. Zorn und Ärger schnürten ihm die Kehle zu, während er den Schimpf kommen fühlte, von einem schwachen Mädchen sich wehrlos mißhandeln lassen zu müssen. Hätte der Flammenblick seines Einauges Blitzeskraft gehabt, er würde die Tänzerin auf den Stufen des Prangers niedergeschmettert und zu Staub zermalmt haben.
Ohne ein Wort zu sagen, trat sie dicht an ihn heran. Dann löste sie aus ihrem Gürtel eine kleine Kürbisflasche und hielt deren Hals an die zerborstenen Lippen des Dürstenden hin. Da starb in Quasimodos Auge der Flammenblitz, und eine dicke Träne löste sich aus demselben, um schwer über das mißgestaltete, qualverzerrte Gesicht herabzurollen.
Es war die erste Träne, die der Unglückliche in seinem ganzen elenden Leben weinte.
Er vergaß im ersten Augenblick sogar das Trinken ob dieses ungewohnten Erlebnisses. Als aber die Tänzerin ihr bekanntes Mäulchen zog und ihm mit ihren Wunderaugen ermutigend zublinzelte, zog er mit einem langen, durstigen Zuge den ganzen Inhalt der Flasche heraus. Als er so den brennendsten Durst gestillt hatte, spitzte er seine Lippen, als ob er die schöne Hand der barmherzigen Samariterin hätte küssen wollen. Aber nie frei von dem für sie in ihrem Straßenleben notwendigen Mißtrauen, zog die Tänzerin rasch die Hand zurück. Vielleicht mochte in diesem Augenblicke auch die Szene der vergangenen Nacht allzu deutlich vor ihrem geistigen Auge stehen. Denn ihre Gebärde glich ganz der eines erschreckten Kindes, das von einer zuschnappenden Bestie gebissen zu werden fürchtet.
Der arme Teufel richtete daraufhin einen Blick voll unsäglich traurigen Vorwurfes auf sie.
Das ganze Schauspiel aber war durch das Milieu und durch die handelnden Personen von geradezu erhabener Dramatik. Unter dem Schandpfahle ein junges, frisches, reizendes, reines und zartes Mädchen so mitleidig zum Beistande von Elend, Häßlichkeit und Bosheit herbeieilen zu sehen, das war ein so rührender Anblick, daß selbst der hier angesammelte wüste Mob sich ihm nicht entziehen konnte.
≫Bravo! Hurra!≪ erbrauste es in der Runde.
Nur ein Mißton mengte sich in diesen Beifallssturm. Es war der uns bereits bekannte Ruf der Klausnerin im Rattenloch: ≫Kindsräuberin! Ägypterin! Verflucht! Verflucht seist du!≪
Das Ende des Maiskuchens
Als Esmeralda diesen Unkenruf vernahm, stieg sie erblassend die Stufen der Schandleiter hinab.
Die Klausnerin ließ aber nicht locker und kreischte nur um so lauter.
≫Steig nur herab, verruchte Diebin! Steig nur herab! Du wirst schon bald genug wieder hinaufsteigen müssen!≪
≫Die Nonne hat wieder einmal ihren närrischen Tag≪, hieß es in der Volksmenge, gleich, als ob man dem Mädchen eine Entschuldigung bieten wollte. Aber mehr als diese leise gesprochenen Worte wagte niemand, weil man zu sehr gewöhnt war, solche Büßerinnen und Büßer mit einer Scheu zu betrachten, die ihnen einen Anstrich von Heiligkeit verlieh. Mit jemandem, der Tag und Nacht betete und so im steten Verkehre mit dem Himmel stand, wollte kein Mensch der damaligen Zeit gerne zu schaffen haben.
Endlich war die Sanduhr zum zweiten Male abgelaufen, und der Moment der Erlösung für Quasimodo gekommen.
Der Delinquent wurde losgebunden, und die Menge begann sich zu zerstreuen.
Auch die drei Frauen mit dem Knaben wandten dem Platze den Rücken und schritten der großen Brücke zu. Plötzlich blieb Frau Mahiette stehen.
≫Eustache, wo ist der Kuchen hin?≪
≫Mutter≪, entgegnete der Pfiffikus, ≫während wir mit der Frau im Loche sprachen, kam ein großer Hund und schnappte ihn weg.≪
≫Bursche, lüg nicht! Du hast ihn aufgefressen!≪
≫Nur ein Stück, Mutter, das der Hund übriggelassen hat!≪
≫Du Schlingel≪, sagte die Mutter halb lachend, halb scheltend. ≫Du bist mir der Richtige! Liebe Freundinnen, habt ihr eure Ahnung? In unserem Gärtchen ißt er allein den ganzen Kirschbaum kahl! Sein Großvater behauptet daher immer, daß er einmal ein Hauptmann werden wird. Aber wart’, Bursch, laß dich noch einmal erwischen, dann sollst du’s sehen!≪
Teil VI
6
Die indiskrete Ziege
Mehrere Wochen waren verflossen, und. die ersten Tage des März herangekommen. Es war einer der freudig strahlenden Vorfrühlingstage, deren milde Schönheit die Pariser zu Bummelgängen und Promenaden zu verlocken pflegt, als ob es ein Feiertag wäre.
An solch hellen, warm-heiteren Tagen ist die Notre-Dame-Kathedrale besonders in der Zeitspanne bewundernswert, in welcher die schon dem Untergange nahe Sonne dem Dome gegenübersteht. Die fast waagrecht fallenden Strahlen beginnen da bereits das Pflaster zu verlassen und die Fassade entlang zur Höhe zu schweifen. Hier lassen sie die zahlreichen Erhabenheiten aus dem eigenen Schatten hervortreten und die große Mittelrosette wie ein Zyklopenauge erglühen, in welchem sich der Widerschein des Schmiedefeuers spiegelt.
Gegenüber der ragenden, von der Abendsonne rot getünchten Kathedrale stand ein reiches gotisches Haus, welches die Ecke des Platzes und der Domstraße einnahm. Es hatte einen geräumigen Steinbalkon, auf welchem mehrere lachende junge Damen ihre Mädchenscherze trieben. Das kundige Auge konnte in ihnen leicht adelige und reiche junge Erbinnen erkennen. Sie trugen langwallende Schleier, die von der Spitze der perlengeschmückten Haube bis an den Fußboden herabflossen. Die feingestickten Hemden ließen nach der Mode der Zeit die schönen Rundungen der festen jungfräulichen Brüste durchschimmern und durch ihr Material auf den Reichtum der Unterkleidung schließen, die damals viel kostbarer zu sein pflegte als die Oberkleider aus Samt, Seide oder Gaze. Und schließlich konnte man an der Weiße ihrer gepflegten Hände ersehen, daß die Besitzerinnen an ein arbeitsloses und müßiges Dasein gewöhnt waren.
Die Tochter des Hauses, Fräulein Fleur de Lys von Gondelaurier, ist uns bereits aus ihrer Kinderzeit von der Auffindung Quasimodos an der Findelkrippe her bekannt. Ihre Freundinnen und Gespielinnen waren aus ebenso vornehmen Familien. Diane von Christeuil, Amelotte von Montmichel, Colombe von Gaillefontaine und das Kleinchen derer von Champchevrier waren hier als Logiergäste der verwitweten Frau von Gondelaurier versammelt.
Die jungen Damen waren von den Landsitzen ihrer Familie in die Stadt gekommen, weil im April die Ankunft des erlauchten Herrn von Beaujeu und seiner durchlauchtigsten Gemahlin erwartet wurde. Denn dieses hochgeborene Paar hatte den königlichen Auftrag, das Gefolge zusammenzustellen, welches die künftige Dauphine, die Prinzessin Margarete von Flandern, in der Pikardie aus den Händen der flämischen Gesandten übernehmen und feierlich nach Paris geleiten sollte. Eine so ehrenvolle Mission hatte natürlich schon Wochen vorher den ganzen Landadel in der Runde veranlaßt, die Töchter nach Paris zu senden, um so für sie Chancen des Gewähltwerdens zu vermehren. Aus diesem Grunde waren auch die genannten jungen Damen von ihren vorsichtigen Eltern der getreuen Obhut der Frau Aloise von Gondelaurier, der Witwe von einem Chef der königlichen Bogenschützen, anvertraut worden, die sich nach dem Tode ihres Gemahls mit ihrer Tochter in ihr Haus auf dem Domplatze von Notre-Dame vom Hofleben zurückgezogen hatte.
Das milde Wetter hatte die jungen Damen auf den Steinbalkon hinausgelockt, ohne sie dadurch von der übrigen Gesellschaft zu trennen, da derselbe sich auf einen dahinterliegenden Salon öffnete und so ein zwangloses Kommen und Gehen ermöglicht wurde.
Es war ein reich mit goldgepreßtern flandrischem Leder tapezierter Salon, dessen Deckbalken mit ihren seltsamen bunten und goldverzierten Schnitzereien eine wahre Augenweide boten. An den Wänden standen geschnitzte Truhen mit schillerndem Emailbelag und eine mit einem prachtvollen Eberkopfe aus Fayence geschmückte Kredenz, deren zwiefache Zugangsstufen bewiesen, daß die Dame des Hauses die Witwe eines Ritters aus des Königs Heerbann war. Der Kamin war mit Wappen und Schildereien bedeckt und strahlte seinen Feuerschein auf einen rotsamtenen Lehnstuhl, in welchem eben Frau von Gondelaurier saß.
Die etwa fünfzigjährige Dame unterhielt sich mit einem vor ihr stehenden jungen Kavalier, einem jener eitlen und ziemlich stolzen Großsprecher, die Frauen so sehr gefallen, während erfahrene Männer und Menschenkenner über sie mit der Achsel zucken. Er trug die reiche Uniform eines Rittmeisters der königlichen Bogenschützen, die eine große Ähnlichkeit mit dem Kostüme Jupiters in Peter Gringoires Mysterienspiel hatte. Die jungen Damen saßen abwechselnd auf dem Balkon und im Salon auf Polstern aus Utrechter Samt mit goldgezierten Ecken oder auf kunstvoll geschnitzten Schemeln aus Eichenholz. Eine jede von ihnen hatte eine Stickerei auf dem Schoße, an der sie tändelnd arbeitete. Dabei plauderten, flüsterten und kicherten die Damen untereinander, mit dem leisen, halbverschluckten Lachen junger Mädchen, in deren Mitte sich ein begehrenswerter Kavalier befindet.
Obgleich seine Gegenwart zur Anregung aller weiblichen Eitelkeiten Anlaß bot, schien sich der junge Offizier nicht sonderlich um den reizenden Damenflor zu kümmern. Wenigstens beschäftigte er sich eifrig damit, die Schnalle seiner Degenkoppel mit einem seiner Samlederhandschuhe zu polieren, während sie sich die hübschen Köpfe darüber zerbrachen, wie sie seine Aufmerksamkeit besser fesseln konnten. Auf die von Zeit zu Zeit an ihn gerichteten leisen Bemerkungen der alten Dame antwortete er nur knapp und mit gezwungener, verlegener Höflichkeit.
Für einen unbefangenen Beobachter bot das ganze gesellschaftliche Ensemble eine klare Situation. An den kleinen Zeichen lächelnden Einverständnisses zwischen Mutter und Tochter war leicht zu erkennen, daß der junge Kavalier und das junge Mädchen ein versprochenes Paar waren. Andrerseits aber ließ das gleichgültige Gebaren des jungen Herrn auf kein besonderes Übermaß an Liebe, sondern mehr auf jene Stimmung schließen, die der schneidige Kasernenhofton moderner junger Offiziere mit ≫saufad≪ bezeichnen würde.
Die würdige Dame war aber nach Mutterart zu sehr von den Vorzügen ihrer Tochter eingenommen, um die geringe Begeisterung des Bräutigams wahrzuhaben. Im Gegenteile, sie meinte ihm eine höchst interessante Mitteilung zu machen, wenn sie ihn auf die Geschicklichkeit aufmerksam machte, mit der das Töchterlein die Sticknadel handhabte und die verwickelten Strähnen löste. ≫Seht, Vetter, wie sie sich auf die Arbeit bückt≪, flüsterte sie ihm zu, wobei sie eifrig seinen Arm erfaßte.
≫In der Tat≪, entgegnete der Rittmeister zerstreut und verfiel dann wieder in sein eisiges Schweigen.
Frau Aloise ließ aber nicht locker:
≫Habt Ihr je ein anmutsvolleres Wesen gesehen? So weiß und so blond! Einfach süß! Die tadellosen Hände! Zum Küssen! Dieser Hals! Mit den Biegungen eines Schwans! Ihr beneidenswerter Mann! Ihr habt mehr Glück, als Ihr Leichtfuß verdient! Sagt selbst, ist mein Lilienblättchen nicht zum Anbeten schön? Ihr müßt ja wahnsinnig in sie verliebt sein!≪
≫Ohne Zweifel≪, sagte der Kavalier gleichgültig und weilte augenscheinlich mit seinen Gedanken ganz anderswo.
≫Seid nicht so schüchtern! Geht hin und sprecht mit ihr!≪
Nun gehörte Schüchternheit weder zu den Vorzügen noch zu den Lastern des Rittmeisters. Aber mit militärischer Disziplin schickte er sich an, dem erhaltenen Schwiegermutterbefehle nachzukommen.
≫Schönes Bäschen≪, sagte er, an die junge Dame herantretend, ≫was ist der Gegenstand Eurer Stickerei?≪
≫Schöner Vetter≪, entgegnete sie mit unwilligem Augenaufschlage, ≫Ihr fragt mich dies schon zum dritten Male und ebensooft antworte ich Euch: Es ist die Grotte Neptuns.≪
Offenbar war die Tochter weniger verblendet als die Mutter. Der Rittmeister sah sich daher gezwungen, mehr Interesse zu zeigen.
Er fing dies aber nicht besonders geistreich an.
≫Ah≪, sagte er. ≫Und für wen ist die ganze Neptunerei?≪
≫Für die Abtei des heiligen Anton≪, erwiderte sie im gleich schnippischen Tone, ohne die Augen zu erheben.
≫Und wer ist der dicke Landsknecht, der mit vollen Backen in die Trompete stößt?≪
≫Triton.≪
Der kurzangebundene Ton seiner Verlobten zeigte dem galanten Kavalier, daß er sich auf dem Holzwege befand und daß es unerläßlich war, sie mit einer jener geflüsterten Vertraulichkeiten zu versöhnen, die, ungeachtet ihrer Abgeschmacktheit, bei jungen Damen in gutem Kurse stehen. Er neigte sich daher zu ihr hinab und strengte dabei mit aller Macht sein Hirn an, um etwas Zartes und Galantes zu finden. Leider ließ ihn jedoch seine Einbildungskraft im Stich, und er brachte nichts Gescheiteres hervor als die Frage:
≫Warum trägt Eure Mutter immer diese wappenbestickten Röcke aus der Zeit Karls VII.? Sagt Ihr doch gelegentlich, daß sie damit wie ein wandelnder Kaminmantel aussieht! Man legt heutzutage nicht mehr soviel Gewicht auf Wappen, auf Ehre!≪
Ein indignierter Augenaufschlag antwortete ihm.
≫Habt Ihr mir sonst nichts mitzuteilen?≪ fragte sie mit leiser Stimme.
Die würdige Frau Aloise aber betrachtete wohlgefällig das ihr gebotene Bild.
≫Wie rührend! Ein solches Liebespaar≪, bemerkte sie. Der arme Rittmeister geriet dadurch nur noch mehr in Verlegenheit.
Auf die Stickerei deutend, rief er laut im Brusttone der Überzeugung aus:
≫Welch reizende Stickerei!≪
Dieses Stichwort benützte eine der Freundinnen, in der Hoffnung, ein Gespräch mit dem schönen Rittmeister anknüpfen zu können. Es war dies Colombe von Gaillefontaine, eine schöne Blondine mit blendendweißem Teint, der durch ein prachtvolles blaues Damastkleid besonders gehoben wurde.
≫Liebe Gondelaurier≪, sagte sie zu der Freundin, ≫habt Ihr die Stickereien im ‘Hôtel de la Roche’ gesehen?≪
Rasch mengte sich auch eine andere der jungen Damen mit demselben Hintergedanken ein.
≫Ist das nicht das Hotel in der Nähe des Louvre?≪ fragte Diane von Christieul und lachte dazu, weil sie sehr schöne Zähne zu zeigen hatte.
Die reizende, brünette Amelotte von Montmichel wollte da selbstredend nicht zurückstehen.
≫Beim Turm der Festungsmauern?≪ warf sie ein und seufzte, wie es ihre Gewohnheit war, um sich vom Lachen der anderen zu unterscheiden.
≫Ja, da sind köstliche Haute-Lice-Stickereien zu sehen≪, bestätigte Frau von Gondelaurier. ≫Aus der Zeit Karls VI.≪
≫Ausgerechnet Karl VI.≪, dachte der Reiteroffizier, seinen Schnurrbart streichend. ≫An was für vorsintflutlichen Plunder die alte Dame sich erinnert!≪
Frau von Gondelaurier aber fuhr fort, die prächtige Arbeit dieser hochgeschätzten, kostbaren Spitzen zu preisen. Wenn sie einmal aufgezogen war, kam sie nicht so bald wieder zur Ruhe. Diesmal aber wurde sie durch die kleine Berangère von Champchevrier unterbrochen, die, erst siebenjährig, weniger Interesse für den schönen Rittmeister als für die Straßenbegebenheiten hatte und daher auf dem Balkon geblieben war.
Jetzt kam sie eifrig ins Zimmer gesprungen.
≫Seht die hübsche Tänzerin, seht!≪ rief sie. ≫Sie tanzt mitten unter den Leuten und schlägt dazu das Tamburin!≪
Das dumpfe Rasseln einer baskischen Trommel drang gleichzeitig durch die Balkontüre herein.
≫Pah, irgendeine Zigeunerin≪, sagte Fleur de Lys nachlässig.
Ihre Freundinnen waren jedoch neugieriger und eilten daher auf den Balkon hinaus. Auch Frau von Gondelaurier folgte ihrem Beispiele, so daß Fleur de Lys nicht zurückbleiben konnte. Sie schritt aber nur zögernd hinter den anderen her, während ihr Verlobter, augenscheinlich froh über die Unterbrechung einer lästigen und peinlichen Situation, sich mit der befriedigten Miene einer abgelösten Schildwache in den Hintergrund des Salons zurückzog.
Sein Benehmen war eigentlich nicht recht zu begreifen. Der Dienst bei Fleur de Lys war doch ebenso angenehm wie reizvoll, und früher hatte er ihn auch so gefunden. Aber das Näherrücken des Hochzeitstages kühlte seine Gefühle immer mehr und mehr ab, statt sie zu entflammen. Diese Scheu vor der ehelichen Bindung lag in seinem unruhigen Temperamente begründet. Zudem hatte er einen etwas gewöhnlichen Geschmack und trotz seiner vornehmen Abkunft im Truppendienste bereitwillig die rauhen Sitten des Kriegerstandes angenommen. Er war bald dahin gelangt, sich nur in der Wirtshausatmosphäre wohlzufühlen und in all den Liederlichkeiten, die damit zusammenhingen. Schlüpfrige Unterhaltungen, soldatische Liebeshändel, gefällige Weiber und mühelose Eroberungen bildeten das Element, in welchem er am liebsten und mit Behagen schwamm. Seine von Haus aus gemessene gute Erziehung und Bildung erwies sich da als geringer Schutz, weil er in zu jungen Jahren sein eigener Herr geworden und ins Garnisonleben gekommen war. So kam es, daß der ursprüngliche edelmännische Schliff immer mehr unter den Reibungen seines Kriegerharnisches verschwand. Und wenn er auch seine Besuche im Hause der Verlobten natürlich nicht ganz einstellen konnte, machte er sich doch immer rarer, wobei er sich in ihrer Gegenwart doppelt verlegen fühlte: einerseits, weil er sein Liebesgefühl zu sehr anderweitig verpuffte und andrerseits, weil er in Gesellschaft feiner Damen immer die unbehagliche Angst vor einer Entgleisung hatte. Er fürchtete, sich einmal den Mund zu verbrennen, indem er ihm die bereits zur Gewohnheit gewordenen Kneipenausdrücke entschlüpfen ließ.
Dabei aber stand seine zunehmende innerliche Verrohung in einem sonderbaren Gegensatze zu den von gestellten Ansprüchen auf Anmut, Schönheit und Kleiderpracht.
Er mochte, mit weiß Gott was beschäftigt, einige Minuten am Kamin gelehnt haben, als sich Fleur de Lys plötzlich zu ihm zurückwandte. Sie schmollte zwar mit ihm, aber nur, weil ihr Herz unter seiner Vernachlässigung litt.
≫Schöner Vetter≪, sagte sie, ≫habt ihr uns nicht vor etwa zwei Monaten Von einer Zigeunerin erzählt, die Ihr aus den Händen eines Scheusals befreit habt?≪
≫Es dürfte irgend etwas Ähnliches gewesen sein≪, entgegnete er ohne sonderliches Interesse.
≫Vielleicht ist es dieselbe Zigeunerin, die da unten tanzt. Kommt und seht, ob Ihr sie wiedererkennt! Kommt, lieber Phöbus!≪
In der Art der Namensaussprache verriet sich deutlich der geheime Wunsch nach einer Versöhnung, und der Rittmeister konnte daher nicht umhin, seiner Braut auf den Balkon zu folgen. Hier legte ihm diese zart die Hand auf den Arm, um mit der anderen auf die Tänzerin zu weisen und zu bemerken:
≫Seht, es ist die Kleine dort. Ist dies Eure Zigeunerin?≪
≫Ja, das heißt, die Ziege scheint dieselbe zu sein.≪
≫Ach, das reizende Tierchen!≪ rief Amelotte, indem sie bewundernd die Hände zusammenschlug.
≫Sind die Hörner aus echtem Gold?≪ fragte neugierig die kleine Berangère.
Frau Gondelaurier hatte inzwischen wieder Platz genommen und fragte von ihrem Lehnstuhle aus:
≫Ist das nicht eine von der Zigeunerhorde, die im Vorjahre beim Gibard-Tore hereingekommen ist?≪
≫Es heißt jetzt das Höllentor≪, verbesserte sie die Tochter sanft.
Sie tat dies, weil sie wußte, wie sehr ihr Verlobter an der altmodischen Art ihrer Mutter Anstoß nahm.
Tatsächlich lachte dieser höhnisch dazu.
≫Natürlich! Gibard-Tor!≪ murmelte er zwischen den Zähnen. ≫Wahrscheinlich hieß es zur Zeit Karls VI. so!≪
Inzwischen hatte Berangère neugierig ihre Äuglein in die Runde geschickt.
≫Patin!≪ rief sie plötzlich. ≫Was ist das für ein schwarzer Mann auf dem Kirchturm droben?≪
Als die jungen Mädchen in die Höhe blickten, sahen sie einen schwarzgekleideten Mann auf dem Dachgeländer des nördlichen Turms. Er hielt sein Gesicht in die Hände gestützt und verweilte ganz regungslos, wie eine Statue, mit starr nach der Tiefe gerichtetem Blick. So glich er einem Turmfalken, der auf einen entdeckten Sperling niederspäht.
≫Der Herr Archidiakon von Josas≪, erkannte ihn Fleur de Lys.
≫Wie gute Augen Ihr habt≪, wunderte sich die Gaillefontaine.
≫Er fixiert die kleine Tänzerin≪, stellte Diane fest.
≫Weil er die Zigeunerinnen haßt≪, belehrte sie Fleur de Lys.
≫Dann ist er ein rechter Dummkopf ≪, behauptete Amelotte. ≫Sie tanzt zum Entzücken schön!≪
≫Schöner Phöbus≪, sagte da Fleur de Lys, ≫da Ihr die Zigeunerin kennt, winkt Ihr doch, daß sie heraufkommen soll.≪
≫Bravo!≪ spendeten die anderen jungen Mädchen ihren Beifall zu diesem eine Abwechslung verheißenden Vorschlage.
≫Narretei≪, meinte der junge Krieger. ≫Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt. Und sie wird mich auch längst vergessen haben!≪
Er hatte kaum gesprochen, als er auch schon selbst einsah, wie wenig verbindlich er geantwortet hatte. Um den begangenen Fehler auszubessern, beugte er sich rasch über das Balkongeländer, um ein lautes ≫He, Kleine!≪ hinunterzubrüllen.
Die Tänzerin wandte den Kopf, und ihre Augen leuchteten auf, als sie den Rufer erkannte.
≫He, Kleine≪,schrieder Rittmeister nochmals und winkte mit dem ganzen Arm dazu.
Eine Flamme schlug in Esmeraldas Antlitz, aber ohne weiteres brach sie ihren Tanz ab, um auf das Haus zuzuschreiten. Langsam, schwankend, mit dem eigentümlich verstörten Blick, mit dem ein Vogel der Zauberkraft einer Schlange gehorcht.
Kaum war sie aber im Toreingange verschwunden, als sich auch schon die gestickte Portiere des Saales auseinandertat und die Tänzerin atemlos an der Schwelle stand. Verlegen errötend, zauderte sie eine Weile, bevor sie, gefolgt von ihrer Ziege, ganz hereintrat.
Während Berangère freudig in die Hände klatschte, fühlten die jungen Damen sich sonderbar berührt. Es war sicher, daß sie alle der gemeinsame, wenn auch undeutliche und unbestimmte Wunsch belebte, dem jungen Reiteroffizier zu gefallen. Daß seine Schönheit und seine glänzende Uniform das gemeinschaftliche Ziel ihrer Koketterien waren. Und daß seine Gegenwart in ihnen eine geheime gegenseitige Eifersucht erregte, die sie sich selbst kaum zu gestehen wagten, die aber trotzdem aus allen ihren Blicken, Gesten und Reden hervorzüngelte. Es war aber ein Kampf mit gleichen Waffen, da sie alle auf derselben Stufe der Schönheit standen. Durch die Tänzerin wurde dagegen dieser Gleichgewichtszustand gestört.
Sie war von einer so seltenen und auffallenden Schönheit, daß mit ihrem Eintritte in den Salon ein neuer strahlender Glanz in den Raum gekommen schien. Der düster-vornehme Hintergrund der Ledertapeten und Wandtäfelungen hob ihre Reize noch blendender und leuchtender hervor. Es schien, als ob glänzende Tageshelle in nachtdunkle Finsternis gedrungen sei.
Gegen ihren Willen wurden die adeligen Fräulein von der sieghaften Macht einer solchen Schönheit hingerissen, aber gleichzeitig jede von ihnen durch dieselbe tödlich verletzt.
Ohne ein Wort zu sprechen oder einen Wink zu wechseln, verständigten sie sich untereinander auf der Stelle. Und ebensorasch waren sie über die einzuschlagende Taktik einig. Dies alles besorgten sie ganz instinktiv mit ihrer weiblichen Empfindung, die rascher und folgerichtiger zu entsprechenden Entschlüssen gelangt als der logischste und schärfste Mannesgeist.
Sie alle fühlten und wußten, daß eine gefährliche Gegnerin auf dem Schlachtfelde erschienen war. Und dieses Gefühl reichte aus, um sie in nibelungenhafter Bundestreue aneinanderzuketten.
Befindet sich nur ein einziger Mann in einer Versammlung hübscher Frauen, so genügt das Erscheinen einer überlegenen Schönheit, um die ganze Gesellschaft zu alarmieren. So färbt sich das Wasser im Glase sofort ins Rote, sobald nur ein Tropfen Wein in dasselbe fällt. Die Empfangstemperatur sank daher sofort auf Eiseskälte. Die jungen Damen maßen die Tänzerin vom Kopf bis zu den Füßen und wechselten dann untereinander einen bedeutsamen Blick. Esmeralda aber stand mit niedergeschlagenen Wimpern da und wagte es nicht, ungefragt zu sprechen.
Der Rittmeister war der erste, der das peinliche Schweigen brach.
≫Auf Ehre≪, sagte er mit seiner unerschrockenen Albernheit. ≫Auf Ehre, ein reizendes Geschöpf! Meint Ihr nicht auch, schöne Base?≪
Das war nicht das richtige, um die rings um ihn glimmende Eifersucht zu dämpfen. Zumindest hätte ein feinfühligerer Kavalier diese Bemerkung etwas leiser gemacht.
≫Nicht übel≪, entgegnete Fleur de Lys in einem Tone, dessen Verächtlichkeit in raffinierter Art durch Süßlichkeit unterstrichen war.
Die anderen zischelten dazu.
Frau Aloise litt mit ihrer Tochter alle Qualen der Eifersucht, und sie suchte alle weiteren Bewunderungsworte des Rittmeisters für die Tänzerin dadurch abzuschneiden, daß sie dieser mit herablassender Kälte näher zu kommen befahl.
≫Tritt näher, Kleine≪, sagte sie.
≫Tritt näher, Kleine≪, wiederholte eifrig die kleine Berangère mit um so komischer wirkender Würde, als sie der Fremden kaum an die Hüften reichte.
Gehorsam bewegte sich Esmeralda gegen die Edeldame zu.
Aber auch der leichtsinnige Phöbus bewegte sich impulsiv in derselben Richtung.
≫Schönes Kind≪, sprach er die Tänzerin an, ≫ich weiß nicht, ob ich das Glück habe, von Euch wiedererkannt zu werden…≪
≫Oh ja≪, unterbrach sie ihn mit einem lächelnden Blick voll anmutsvoller Lieblichkeit.
≫Ein gutes Gedächtnis, das ist wahr≪, bemerkte Fleur de Lys trocken.
≫Nun ja≪, fuhr Phöbus unbeirrt fort. ≫Warum seid Ihr damals so rasch durchgebrannt? Hattet Ihr Angst vor mir?≪
≫Ach nein≪, entgegnete leise die Tänzerin.
Fleur de Lys hatte bereits Mühe, an sich zu halten.
Der Rittmeister merkte aber noch immer nichts.
≫Meine Teuere≪, sprach er weiter zu Esmeralda, während seine Zunge die gewohnte Gewandtheit fand, da es sich um keine Dame der guten Gesellschaft handelte, ≫meine Teuere, an Eurer Stelle habt Ihr einen einäugigen verkrüppelten Schuft zurückgelassen, ein sauertöpfisches Vieh, das — wenn ich nicht irre — der Glöckner des Bischofs war. Wie man mir sagte, soll er der Bastard eines Archidiakons und außerdem von Geburt ein Teufel sein. Der Kerl hat einen spaßigen Namen, so was wie Fastnacht, Palmsonntag oder Quatember, was weiß ich! Kurzum, er heißt wie ein hoher Feiertag. Das ist schließlich seine Sache, Aber was wollte der vermaledeite Schurke von Euch? Wie kommt, zum Teufel, eine solche Nachteule zu Euch? Sprecht!≪
≫Ich weiß es nicht!≪
≫Das ist gut! Ihr kennt ihn gar nicht, und er wollte Euch entführen! Ja, benimmt sich denn heutzutage schon jeder Nachtwächter wie ein Baron?! Seit das aufsässige Bauerngesindel sich einbildet, das Wild der Edelleute jagen zu dürfen, geht alles drunter und drüber. Aber dem Hundesohn ist es ordentlich versalzen worden! Der Foltermeister Torterue ist der roheste Stallknecht, wenn es das Striegeln eines Schurken gilt.≪
≫Der arme Mensch≪, sagte Esmeralda, die sich an die furchtbare Prangerszene erinnerte.
Der Rittmeister brach in ein Gelächter aus.
≫Beim Horne des Teufels! Das geht Ihr gut! Mitleid mit so einem Schuft! Das paßt genausogut wie Federn auf einen Schweinshintern! Ich will ein verfressener Dickwanst wie der Papst selber sein…≪
Betreten hielt er inne.
≫Verzeihung, meine Damen≪, entschuldigte er sich verlegen. ≫Ich glaube, mir ist so eine Dummheit entschlüpft.≪
≫Meint Ihr?≪ fragte Gaillefontaine voll Hohn.
Fleur de Lys ergriff jedoch sofort die Partei ihres Verlobten.
≫Laßt ihn! Er muß doch mit dem Geschöpf da in jener Sprache reden, die ihr geläufig ist.≪
Dabei kochte aber alles in ihr, während sie zusehen mußte, wie ihr Bräutigam sichtlichimmer mehr Interesse an Esmeralda fand und sich dabei in der eitlen Weise wie eines Pfaus auf den Hacken zu drehen begann.
≫Auf Ehre, ein ent—zük—kendes Weib≪, rief er dazu mit militärischer Dreistigkeit.
≫Nur ein wenig wild kostümiert≪, lachte Diane, um ihre schönen Zähne zeigen zu können.
Das war das von den anderen längst erwartete Stichwort. Da an der Schönheit der Tänzerin nichts zu bemängeln war, mußte ihre Kleidung herhalten.
≫In der Tat. Wie kann man ohne Halstuch über die Straße gehen≪, meckerte die Montmichel.
≫Und mit so kurzem Rock≪, sekundierte die Gaillefontaine.
≫Meine Liebe≪, sagte Fleur de Lys mit erheuchelter Sachlichkeit, ≫Ihr werdet von der Zwölferwache aufgegriffen werden, wenn Ihr diesen goldenen Gürtel nicht ablegt.≪
≫Kleine≪, lächelte die Christeuil mit der Aufrichtigkeit einer Viper, ≫Eure Arme würden weniger von der Sonne verbrannt werden, wenn Ihr längere Ärmel tragen würdet.≪
Dieses Hornissengesteche hätte einen intelligenteren Zuhörer verdient, als es der gute Phöbus war. Ein solcher hätte Amüsernent und Nachdenklichkeit in der Art gefunden, wie so wohlerzogene, junge und hübsche Damen schlangengleich mit bösen Giftzungen die Straßentänzerin umzischten, um mit lächelnder Erbarmungslosigkeit an dem Flitterkleide ihres Berufes zu mäkeln und sie mit hämischem Gelache und Gespötte zu demütigen. Mit ihren bissigen Stimmen und. bösartig glänzenden Blicken erinnerten diese feinen Damen an jene römischen Patrizierinnen, die sich daran ergötzten, die Busen schöner Sklavinnen mit goldenen Nadeln zu durchbohren, endlos, mit nie gesättigtern Genuß. Vornehmen Windspielen glichen sie, die beim Halali mit geblähten Nüstern und weitoffenen Blicken das gestellte Rotwild umkreisen und es nur deshalb nicht in Stücke reißen, weil das Auge des Herrn es ihnen verbietet.
Was lag diesen wohlbehüteten Töchtern vornehmer Häuser an den Gefühlen einer elenden öffentlichen Tänzerin? Vor ihr brauchten sie doch keine Rücksicht zu nehmen oder anders über sie zu sprechen, als man mit lauter Stimme ungeniert über etwas Unrein-Niedriges, dabei aber einigermaßen Ergötzliches spricht!
Die Tänzerin war aber gegen diese Wespenstiche durchaus nicht unempfindlich. Auf ihren zarten Wangen flammte die Schamröte, in ihren Wunderaugen blitzte der Zorn, und auf ihren Lippen schwebten verächtliche Worte, während sie ihr wohlbekanntes Mäulchen zog. Aber die Gegenwart des schönen Offiziers bewog sie zu schweigen und sich mit resignierten, traurigen Blicken auf ihn zu begnügen.
Glück und Zärtlichkeit lagen in gleicher Weise in ihren Augen, und sicherlich mäßigte sie sich nur deshalb, um nicht hinausgejagt zu werden und so vorschnell die Nähe des Geliebten zu verlieren.
Phöbus verstand nichts von der Situation, aber seine natürliche Gutmütigkeit ließ ihn die Partei des Mädchens ergreifen.
≫Laßt sie reden, Kleine≪, sagte er lachend zu der Tänzerin, wozu er seine goldenen Sporen aneinanderklirren ließ, ≫laßt sie lachen! Euer Anzug ist ja freilich ein wenig außergewöhnlich, aber einem so reizenden Mädchen schadet das nicht!≪
≫Mein Gott≪, sagte die Gaillefontaine bitter und streckte ihren vielbewunderten Schwanenhals, ≫die Herren von den Bogenschützen fangen aber rasch Feuer, wenn sie ein Paar hübsche Zigeuneraugen sehen!≪
≫Warum auch nicht≪, lachte Phöbus unbekümmert.
Die nonchalante Art des Offiziers brachte all die jungen Damen zum Lachen. Irgendwie fühlten sie, daß die Nebenbuhlerin für diesen flatterhaften Schmetterling weniger gefährlich war, als sie gefürchtet hatten. Nur Esmeralda war harmlos genug, sich freudig und stolz aufzurichten. Sie nahm jedes Wort des Geliebten so ernst, daß sie sein soldatisches Geplänkel für die Erwiderung ihrer Gefühle hielt. Und der Glaube an ihr Liebesglück ließ sie schöner als je erscheinen.
Nur die alte Dame fühlte kein Schwinden des Grolls, mit dem sie der ganzen Szene gelauscht hatte. ≫Heilige Jungfrau≪, schrie sie plötzlich auf. ≫Was ist das für ein häßliches Tier, das mir da zwischen die Beine kommt?!≪
Es war die bisher unbeachtet gebliebene Ziege, die sich in den faltig und weit ausgebreiteten Rock der sitzenden Edeldame verwickelt hatte.
Rasch sprang Esmeralda hinzu und machte das sich immer mehr verheddernde Tier wieder frei.
≫Die schöne Ziege mit den goldenen Füßen!≪ jubelte die kleine Berangére.
Währenddem war die Zigeunerin niedergekniet, und die Ziege drückte schmeichelnd den Kopf an ihre Wange. Es war wie ein gegenseitiges Verzeihen der vorübergehenden Nichtbeachtung.
≫Die Ziege≪, tuschelte Diane in Colombes Ohr. ≫Das hatte ich ja ganz vergessen. Es ist die Ziege, die Zauberkunststücke macht, weil die Zigeunerin eine Hexe ist.≪
≫So? Dann soll sie uns auch etwas von diesen Kunststücken zeigen!≪ entgegnete neugierig die andere.
Und lebhaft sprachen die beiden Mädchen die Tänzerin an:
≫Kleine, laß deine Ziege einige Wunder tun!≪
≫Ich verstehe nicht, was Ihr wünscht≪, entgegnete Esmeralda.
≫Wunder!≪
≫Zaubereien!≪
≫Irgendeine Hexerei!≪
≫Ich verstehe nicht≪, wiederholte die Tänzerin, ihre Ziege liebkosend.
Da bemerkte Fleur de Lys, daß die Ziege ein Säckchen am Halse trug.
≫Was ist das?≪ fragte sie.
≫Mein Geheimnis≪, erwiderte Esmeralda ernst.
≫Das möchte ich kennen≪, dachte Fleur de Lys.
Die alte Dame aber war am Ende ihrer Geduld angelangt.
≫Nun, Zigeunerin≪, sagte sie ärgerlich, ≫wenn ihr, du und deine Ziege, nichts könnt, was sucht ihr dann noch hier?≪
Ohne ein Wort zu entgegnen, bewegte sich die Tänzerin langsam der Türe zu. Aber je näher sie dem Ausgange kam, desto zögernder wurde ihr Schritt. Ein starker Magnet schien sie im Zimmer zurückzuhalten. Und plötzlich blieb sie stehen und wandte ihren tränenüberströmmten Blick Phöbus zu.
≫Beim Jupiter!≪ rief da der Rittmeister. ≫Nicht so schnell! Bleibt und tanzt uns etwas vor! Und dann, wie heißt Ihr eigentlich, schönes Kind?≪
≫Esmeralda.≪
Dieser fremd klingende Name löste ein um so unverschämteres Gelächter bei den jungen Damen aus, als die Aufforderung des Rittmeisters den Teufel der Eifersucht wieder erweckt hatte.
≫Hihi!≪ prustete Diane. ≫Was für ein komischer Mädchenname!≪
≫Gut für eine Tänzerin≪, sagte Amelore höhnisch.
Frau Aloise aber war ernstlich beunruhigt.
≫Das kann unmöglich ein Name aus einem christlichen Taufbecken sein≪, erklärte sie feierlich.
≫Während dieses Auftrittes hatte die kleine Berangère mit einem Stück Marzipan die Ziege in eine Ecke gelockt. Dort waren die beiden rasch gute Freundinnen geworden, und das neugierige Kind hatte alsbald das Säckchen vom Halse der Ziege losgefingert, um dessen Inhalt auf die Bodenmatte auszuleeren.
Es waren über zwei Dutzend Buchsbaumstäbchen, deren jeder einen Buchstaben des Alphabets eingeritzt trug. Kaum lagen diese offen auf der Strohmatte da, als auch schon, zur Verwunderung des Kindes, die Ziege unter ihnen mit ihren goldenen Hufen zu scharren begann. Augenscheinlich gehörte es zu den >Wundertaten< des gelehrigen Tieres, mit diesen Buchstaben bestimmte Worte zusammenzustellen. Berangère schrie entzückt auf, als sie dies begriff.
>Patin<, rief sie jubelnd, >schaut, was die Ziege kann!< Ihr Ruf ließ Fleur de Lys herbeieilen, und erbebend sah sie den Namen
PHOEBUS
auf dem Fußboden liegen.
>Hat das die Ziege so zusammengestellt?< fragte sie hocherregt das Kind.
>Ja, Patin<, erwiderte dieses.
Fleur de Lys zweifelte nicht.
>Das also ist das Geheimnis der Zigeunerin<, dachte sie zornig.
Inzwischen hatte der Jubel Berangères alle anderen herbeigelockt. Selbst Phöbus war herangetreten und starrte verblüfft auf seinen Namen hinab.
Als die Zigeunerin bemerkte, welchen Streich ihr die Ziege gespielt hatte, erglühte und erblaßte sie abwechselnd vor Scham und Schreck. Zitternd stand sie vor dem Offizier, der sie mit einem aus Staunen und Zufriedenheit gemengten Lächeln ansah.
>Phöbus<, zischelten die anderen jungen Damen. >Das ist doch der Name des Rittmeisters!<
Da brach die Bitterkeit bei Fleur de Lys sich Bahn.
>Euer Gedächtnis ist wahrhaft bewundernswert<, sagte sie mit niederschmetterndem Hohne zu der Tänzerin. Das zurückgehaltene Schluchzen überwältigte sie.
Schmerzbewegt barg sie ihr schönes, in Tränen gebadetes Gesicht in den Händen. >Ach<, klagte sie, >sie ist eine wirkliche Zauberin!< Und in der Tiefe ihres Herzens sprach es dazu: >Und eine gefährliche Nebenbuhlerin!< Diese Überzeugung war zuviel.
Ohnmächtig sank sie zu Füßen der entsetzten Mutter hin.
>Fleur de Lys!< kreischte diese im höchsten Diskant. >Die verfluchte Zigeunerin!<
Esmeralda aber raffte mit der Geschwindigkeit eines gehetzten Rehs die verräterischen Buchstaben zusammen und war mit ihrer Ziege schneller bei der Türe draußen, als man die bewußtlose Rivalin in ein anderes Zimmer tragen konnte.
Wenige Augenblicke stand Rittmeister Phöbus von Châteaupers unschlüssig zwischen den beiden Türen da. Dann folgte er — der Tänzerin.
Priester und Philosoph
Der von der Turmwarte des Notre-Dame auf den Tanz Esmeraldas herabblickende Priester war tatsächlich der Archidiakon Dom Claude Frollo gewesen.
Wir wissen, daß er dort auf dem Nordturme, dem Grève-Platze zu, eine geheimnisvolle Zelle hatte, in die er sich zuweilen allein zurückzuziehen pflegte. Ihr Inneres ist noch heute durch eine kleine viereckige Luke erkennbar, die in Mannshöhe über der Plattform nach Norden zu angebracht ist. Gegenwärtig ist es eine vermauerte, nackte und vom Zahn der Zeit benagte Höhle, deren verschmierte Wände mit einigen häßlichen, vergilbten Zeichnungen verunstaltet sind, die vermutlich Kirchenbilder vorstellen. Im übrigen ist dieses Loch heute kaum von einer Fliege bewohnt, weil ihr die dort hausenden Fledermäuse und Spinnen auf der Stelle den Garaus machen würden.
Täglich, eine Stunde vor Sonnenuntergang, pflegte der Archidiakon da hinaufzusteigen, um manchmal die ganze Nacht zu verbleiben.
So war er auch an dem erwähnten Spätnachmittage auf die Plattform getreten und eben im Begriffe, den kunstvollen kleinen Schlüssel in das Schloß der damals noch vorhandenen Türe einzuführen, als das Geräusch eines baskischen Tamburins an sein Ohr klang.
Das Geklapper kam unverkennbar vom Domhofe herauf und, ohne aufzuschließen, trat Dom Claude an den Rand der Plattform heran, um finster-beobachtend auf den Platz hinabzublicken.
Ernst, regungslos, in nur einen Blick und nur einen Gedanken versunken, stand er da.
Zu seinen Füßen lag ganz Paris mit den zahllosen Spitzdächern seiner Gebäude. Ringsherum die Kette sanft ansteigender Hügel, mittendurch der sich unter Brücken hinschlängelnde Fluß, in den Straßen das Gewoge der Bevölkerung und qualmende Rauchschwaden über den Dachfirsten, deren immer enger werdende Ringe sich bis an die Kathedrale heranschoben.
Aber für das ganze wunderbare Panorama hatte der Archidiakon nicht einen einzigen Blick. Wie gebannt starrte er ausschließlich auf die Tänzerin hinab, deren Gestalt die einzige war, die er in dem Menschengewimmel des Domplatzes mit Bewußtsein sah.
Eine fanatische Glut lohte in diesem starren Blicke, Aufruhr und Unruhe zugleich, seltsam widerstreitend gegen die Unbewegtheit des Körpers, den nur ab und zu die Ahnung eines Schauers, gleich einem in leichter Brise stehenden Baume, fast unmerklich erbeben ließ. Seine auf die Balustrade gestützten Arme glichen steingehauenen Gebilden, und steinern war das in seinen Zügen festgefrorene, unheimliche Lächeln.
Ahnungslos tanzte unten Esmeralda ihren lebensfrohen Tanz. Sie ließ das Tamburin auf der gestreckten Fingerspitze kreisen, während ihr geschmeidiger Leib sich in den Figuren der leichtbeschwingten Sarabande14 drehte. Rings um die Tänzerin wogte die Menge, deren neugieriger Andrang durch einen Mann in gelb-roter Jacke geregelt wurde. Dieser saß einige Schritte von der Tänzerin entfernt auf einem Sessel, den er nur ab und zu verließ, um durch einen Rundgang den zur Freihaltung des Tanzraumes angemessenen Kreis unter den Zuschauenden offenzuhalten. Zu seinen Füßen kauerte vertraulich die Ziege, was seine Zugehörigkeit zu der Tänzerin bewies.
. Vergeblich bemühte sich Dom Claude, von seiner hohen Warte aus die Züge dieser Neuerscheinung zu erkennen. Und sein Blick wurde immer düsterer, je weniger ihm dies gelang.
>Wer mag der Mensch sein?< murmelte er. >Bisher habe ich sie stets allein gesehen.<
Ein Zittern durchlief seinen Körper, und er fühlte sich nicht mehr imstande, die Qual der Ungewißheit länger zu ertragen. Rasch entschlossen wandte er sich ab, um eiligst die Turmtreppe hinabzusteigen.
Als er dabei an der halboffenen Tür der Glockenstube vorüberkam, sah er zu seinem Erstaunen Quasimodo in einer der Öffnungen des verhängenden Schieferdaches kauern und anscheinend mit größter Spannung auf den Platz hinabblicken. So tief war der Glöckner in seine Betrachtung Versunken, daß er das Vorübergehen des Archidiakons gar nicht bemerkte. In seinem wilden Auge lag ein eigenartig sanft-verzückter Glanz.
>Seltsam<, dachte Dom Claude. >Glotzt er so intensiv auf die Tänzerin hinab?<
Er hatte jedoch keine Zeit, der Sache weiter nachzugehen. Weitereilend trat er schon wenige Augenblicke später aus der Turmpforte auf den Domplatz hinaus.
Vergebens aber spähte er hier nach der Tänzerin aus. Die Menschen gingen hin und her, aber von Esmeralda war weder etwas zu sehen noch ihr Tamburin zu hören. >Wo ist die Tänzerin?< fragte er endlich einen der Müßiggänger.
>Keine Ahnung<, entgegnete dieser.
>Ich glaube, im Haus dort drüben<, mengte sich ein geschwätziger Nachbar ein. >Man wird sie dorthin gerufen haben, um einen Fandango15 zu tanzen.<
Da erblickte das unruhig umherschweifende Auge des Archidiakons auf dem Tanzteppiche Esmeraldas den gelb-rot angezogenen Mann, der eben damit beschäftigt war, seinen Stuhl zwischen den Zähnen zu balancieren und dabei mit zurückgebogenem, rot angeschwollenem Kopfe im Kreise zu gehen. Auf der Sitzfläche des Stuhles hatte er eine kläglich miauende Katze angebunden, was das Groteske des ganzen Auftrittes erhöhte.
Beim Anblicke des Gauklers fühlte der Archidiakon dicke Schweißtropfen auf seiner kahlen Stirne perlen.
>Bei der heiligen Jungfrau<, rief er aus. >Wie kommt Peter Gringoire in dieses Narrenkleid?<
Die scharf herausgestoßenen Worte des Priesters versetzten dem armen Poeten einen solchen Schock, daß Stuhl und Katze auf die Köpfe der auseinanderstiebenden Zuschauer fielen. Dies verursachte einen gewaltigen Krawall, und wahrscheinlich hätte der arme Poet eine unangenehme Rechnung mit einem Dutzend zerkratzter Gesichter und der Besitzerin der Katze auszugleichen gehabt, wenn er nicht so vorsichtig gewesen wäre, in die offene Kirchenpforte zu flüchten, in die ihn der Archidiakon hineinwinkte.
Die Kathedrale war bereits finster und unbesucht, ihre Kirchenschiffe lagen in Dunkelheit gehüllt, und nur aus den Seitenkapellen blinkten die Ampeln wie ferne Sterne aus den nächtlichen Wölbungen. Gerade brachen waagerechte Strahlen der sinkenden Sonne durch die große Mittelrosette und ließen im prächtigen Farbenspiele eines Riesendiamanten das Abbild derselben auf der Gegenwand des Kirchenschiffes widerspiegeln.
Die beiden Eingetretenen machten nur einige Schritte, bis sie den ersten Pfeiler erreichten, an den sich der Archidiakon lehnte, um seinem ehemaligen Schüler scharf ins Gesicht zu blicken. Peter Gringoire aber empfand keinerlei Furcht dabei, nur klägliche Scham darüber, daß ihn sein früherer Lehrer in einer so entwürdigenden Lage überrascht hatte. Es lag im Blicke des Gelehrten jedoch nicht der geringste Spott über Peters Narrenkostüm, sondern nur ruhiger und durchdringender Ernst.
>Meister Peter<, brach der Priester als erster das minutenlang lastende Schweigen, >Ihr seid mir als Eurem Lehrer einige Aufklärung schuldig. Habe ich Euch dazu in die Wissenschaft eingeführt, damit Ihr in einer Affenjacke, halb rot, halb gelb, wie ein Caudebecapfel, Narrenspossen auf der Straße treibt? Ganz abgesehen davon, daß Ihr seit zwei Monaten nicht mehr sichtbar seid!<
>Gestrenger Herr<, entgegnete Gringoire kläglich, >es ist in der Tat ein seltsamer Aufzug, und Ihr seht mich darob ebenso beschämt wie eine Katze, der man einen Kürbis auf den Kopf gebunden hat. Ich weiß, daß ich unrecht handle, indem ich den Rücken eines pythagoräischen Philosophen der Gefahr aussetze, von den Stöcken der Scharwache bearbeitet zu werden. Aber! Und dieses ‘Aber’ war mannigfach. Mein Rock war zerrissen, und ein kalter Jännerwind wehte, was ein entschiedener Nachteil gegen den alten Diogenes unter dem ewig blauen Griechenhimmel war. Zudem krachte mein leerer Magen, und mein Hausherr hatte mich an die Luft gesetzt. Dazu kann noch ein anderer, sehr dringender Zwang, und das Endresultat seht Ihr hier an dieser Narrenjacke, in der ich aussehe wie der heilige Genestos. Schließlich hat Apoll beim Admet die Schafe gehütet.<
>Ein schönes Handwerk habt Ihr Euch ausgesucht, das muß man Euch lassen<, entgegnete trocken der Archidiakon.
>Zugegeben, daß es besser wäre, hinter dem Ofen Verse zu machen und zu philosophieren, statt Katzen in den Straßen auf der Nase herumzutragen. Daher habt Ihr mich auch durch Euren Anruf so mächtig erschreckt und mich dumm gemacht, wie den Esel vor dem Bratenwender. Aber bedenkt nur selbst, daß man Tag für Tag leben muß und daß die schönsten Alexandrinerverse zwischen den Zähnen weniger wert sind als ein Schafkäse. Erinnert Euch nur an das schöne Mysterienspiel, das ich zu Ehren der Prinzessin von Flandern und ihrer Gesandtschaft verfaßt habe. Die Stadt hat mir bis heute nicht einen Sol dafür bezahlt. So bin ich gezwungen worden, entweder vor Hunger zu sterben oder mir auf diese meiner Fähigkeiten wenig würdige Weise mein Brot zu verdienen.<
Schweigend hatte Dom Claude zugehört, aber plötzlich wurde sein durchdringender Blick geradezu stechend, als wollte er die verborgenste Tiefe in Peters Seele durchforschen.
>Das isr alles schön und gut<, sagte er endlich langsam. >Aber wie kommt es, daß Ihr Euch in Gesellschaft dieser ägyptischen Tänzerin befindet?<
>Ganz einfach, meiner Treu. Weil wir Mann und Weib sind.<
Die Worte waren kaum aus Peters Mund gekommen, als ihn auch schon der Archidiakon bei der Brust erfaßt hatte und ihn mit sprühendem Wutblicke so heftig rüttelte, daß es ihm den Atem verschlug.
>Elender<, herrschte Dom Claude den verdutzten Poeten an. >Elender Wicht! Bist du so von Gott verlassen gewesen, deine Hand an dieses Mädchen zu legen?!<
>Bei meiner ewigen Seligkeit<, schwer der vor Schreck an allen Gliedern Zitternde. >Ich schwöre Euch, daß ich sie nie berührt habe.<
>Was faselst du dann von Mann und Frau, Bursche?<
Gringoire beeilte sich, kurzgedrängt die Geschichte seiner Hochzeit unter dem Galgen zu erzählen. Er schilderte die Zeremonie des zerbrochenen Kruges und wie ihm seither die schlaue Tänzerin Nacht für Nacht das Nachsehen gelassen hatte.
>Leider habe ich das Pech gehabt, eine Jungfrau als Gattin zu erhalten<, schloß er bitter seinen Bericht.
>Was wollt Ihr damit sagen?< fragte der Archidiakon, beruhigt aufatmend.
>Nichts von Bedeutung. Es ist nur ein alter Aberglaube dabei. Wie mit ein alter Gauner, der sogenannte Herzog von Ägypten, erzählt hat, ist meine Frau ein Findelkind, und sie trägt an ihrem Halse ein Amulett, mit dessen Hilfe sie eines Tages ihre Eltern finden kann, wenn sie sich ihre jungfernschaft bewahrt. Denn mit ihrer Tugend würde auch dieser Talisman seine Kraft verlieren. Sie müssen daher beide die Ehre des Mädchens bewachen.<
Dom Claudes Stirn entwölkte sich immer mehr und mehr. >So glaubt Ihr also, daß ihr noch kein Mann nahegetreten ist?< fragte er in einem bei ihm ungewöhnlichen, freundlichen Tone.
>Gewiß. Glaubt Ihr, Meister, daß es einen Mann gibt, der gegen einen festen Aberglauben etwas auszurichten vermag? Sicher ist eine solche Sprödigkeit eine so große Seltenheit unter dem Zigeunergesindel, daß schon daraus die Stärke ihres Aberglaubens zu ersehen ist. Und der abgefeimte Schuft, ihr Herzog, bestärkt sie augenscheinlich darin, weil er vermutlich eines Tages aus ihrer Jungfräulichkeit bei irgendeinem feisten Abt besonderes Kapital zu schlagen hofft. Ob dies gelingen wird, bezweifle ich übrigens. Trotz aller Profosenordonnanz trägt die Kleine einen haarscharfen Dolch Tag und Nacht bei sich, mit dem sie ebenso flink bei der Hand ist wie eine Wespe mit ihrem Stachel.<
Daraufhin begann der Archidiakon dem Dichter mit zahllosen Fragen zuzusetzen, deren Refrain immer wieder Esmeralda war.
Nach Gringoires Urteil war die Tänzerin harmlos, reizend und, abgesehen von der leidigen Gewohnheit des Mäulchenziehens, sogar hübsch. Naiv, fröhlich, weltfremd und begeisterungsfähig. Der Unterschied der Geschlechter war ihr — immer nach Gringoire — nicht einmal im Traume bekannt. Sie selbst war übrigens sozusagen ein Traumbild, indem sie wie im Traume dahinlebte. Dabei hatte sie eine närrische Freude an Tanz, an lauter Fröhlichkeit und an vornehmem Wesen. Ein bienenartiges Geschöpf, das gleichsam Flügel an den Füßen hatte, mit denen sie über die Strudel des Lebens hinwegschwebte. Dieses Naturell war eine Folge des unruhigen Wanderlebens, das sie in ihrer Kindheit geführt hatte. Wie Gringoire erfahren, hatte sie von klein auf Spanien, Katalonien und Sizilien durchstreift und war mit der Zigeunerkarawane schließlich auch nach Algier gekommen. Dieses Königreich lag augenscheinlich in der Landschaft Achaja. Und diese grenzte einerseits an Kleinalbanien und andererseits an Griechenland und an das sizilianische Meer, dort, wo der Weg nach Konstantinopel vorüberführte. Der König von Algier in seiner Eigenschaft eines Selbstbeherrschers der weißen Mauren war gleichzeitig auch der oberste Lehensherr des Herzogs von Ägypten und somit der Zigeuner überhaupt. Von Algier war dann Esmeralda über Hungarn nach Frankreich gekommen. Auf all diesen Reisen hatte sie in den verschiedenen Ländern Brocken seltsamer Sprachen aufgeschnappt und sonderbare Gesänge erlernt. Auch war sie da auf allerlei merkwürdige Gedanken gekommen, die ihre Ausdrucksweise ebenso buntgemischt machten, wie es ihre Kleidung war. Im großen und ganzen war sie in den von ihr besuchten Pariser Stadtvierteln beliebt, wenn sie auch mehr afrikanisch als pariserisch in ihrem Gehaben war. Aber die Leute fanden trotzdem Gefallen an ihrer heiteren Laune, an ihrer Anmut und an der lebhaften Art ihrer Tänze und Gesänge.
Nach ihrer Meinung wurde sie in ganz Paris nur von zwei Personen gehaßt, von denen sie nur mit großer Ängstlichkeit sprach: von der Klausnerin im Rolandsturm, einer häßlichen Büßerin, die einen Groll gegen alle Zigeuner hatte, und von der Esmeralda jedesmal verflucht wurde, sobald sie in die Nähe der Klause kam, und von einem Priester, dem sie nicht begegnen konnte, ohne durch seine Blicke und Worte in Schreck versetzt zu werden.
Dieser letzte Punkt von Gringoires Bericht berührte den Archidiakon sehr peinlich, ohne daß der harmlose Dichter seine Verwirrung gewahrte. Die seit dem Überfall auf Esmeralda verstrichenen zwei Monate hatten genügt, um in dem sorglosen Poetenhirne jede Erinnerung daran zu verwischen, daß er damals Dom Claude als einen der Angreifer erkannt zu haben meinte.
Im übrigen, so erzählte er daher ganz unbefangen weiter, fürchtete Esmeralda nichts auf dieser Welt. Da sie sich nicht mit Wahrsagereien abgab, fühlte sie sich vor den Hexenprozessen geschützt, die das gewöhnliche Los der Zigeunerinnen waren. Zudem hatte sie einen Beschirmer an ihm, Peter Gringoire selbst, der für sie, schon nicht als richtiggehender Ehemann, so doch als älterer Bruder sorgte. Allmorgendlich verließ er mit ihr den Wunderhof, um ihr bei ihren öffentlichen Vorstellungen als Platzordner und Geldeinsammler behilflich zu sein. Mit den so erworbenen Hellern und Weißpfennigen kehrten dann beide abends in ihr gemeinsames Heim zurück, wo jeder in seinem Kämmerlein den wohlverdienten Schlaf des Gerechten schlief. Alles in allem keine so üble Existenz, keine Nahrungs- und Wohnungssorgen, das Ganze wie geschaffen, um sich seinem Sinnen und Träumen hingehen zu können.
Ob er in Esmeralda verliebt war? Nun, dessen war er, auf Ehre und Gewissen, nicht so ganz sicher. Als Philosoph meinte er zwar zuweilen, rasend für die Tänzerin entflammt zu sein. Aber bei näherer Überlegung schien es ihm häufig, daß er die Ziege ebenso gernhatte wie ihre Besitzerin. Es war dies ein außerordentlich nettes und gutes Tier, ungemein gelehrig, klug, ja geistreich und intelligent.
Gewiß. So ein dressiertes Tier war schließlich nichts Außergewöhnliches. Man staunte derlei so lange an, bis der betreffende Lehrmeister den Scheiterhaufen bestiegen hatte. Aber die Hexereien mit dieser Ziege waren, im Grunde genommen, nur mädchenhafte Schelmereien. Die genauere Erklärung dieser Kunststücke schien den Archidiakon ganz besonders zu interessieren. Der Trick bestand darin, daß die Ziege daran gewöhnt war, den mit dem Tamburin gegebenen Zeichen zu gehorchen. Zu einer solchen Abrichtung hatte Esmeralda Talent und die nötige Portion Geduld. So hatte sie zwei Monate gebraucht, um der Ziege beizubringen, wie sie aus einer Anzahl hölzerner Buchstaben den Namen Phöbus herauszuscharren hatte.
>Phöbus?< fragte der Archidiakon. >Warum gerade Phöbus?<
>Das weiß ich nicht<, entgegnete Gringoire. >Vielleicht meint sie, daß in diesem Worte irgendeine übernatürliche Kraft liegt. Sie spricht es oft mit. leiser Stimme aus, wenn sie allein zu sein glaubt.<
Der Archidiakon richtete einen seiner stechendsten Blicke auf den Dichter. >Seid Ihr sicher<, fragte er, >daß es nur ein Wort und kein Name ist?<
>Wessen Name?<
>Was weiß ich?<
>Ich denke mir das so, hochwürdiger Herr: Die Zigeuener sind abergläubisch und beten daher die Sonne an. Und da Phöbus die griechische Personifikation der Sonne ist…<
>Das scheint mir nicht ganz so klar wie Euch.<
>Meinetwegen<, entgegnete der Dichter achseizuckend. >Die Sache hat wohl kaum viel auf sich. Sicher ist, daß mir Djali ebenso am Herzen liegt wie die Zigeunerin.<
>Djali? Wer ist denn das schon wieder?<
>Die Ziege, Hochwürden.<
Der Archidiakon versank in brütendes Nachdenken, während ihn Gringoire verständnislos anblickte.
Plötzlich aber fuhr der Priester auf:
>Ihr schwört also, daß sie unberührt ist?<
>Wer? Djali?<
>Nein, die Tänzerin.<
>Meine Gattin? Erlaubt einmal…<
>Bantwortet meine Frage!< fertigte ihn der Archidiakon barsch ab.
>Ich lege da ruhig meine Hand ins Feuer für sie<, beeilte sich Peter zu versichern.
>Aber Ihr seid doch oft allein mit ihr!<
>Gewiß; jeden Abend var dem Schlafengehen plaudern wir ein Stündchen miteinander.<
Der Archidiakon runzelte die Stirn.
>Na, wenn Mann und Weib abends beieinandersitzen, werden sie kaum das Vaterunser beten!<
>Bei meiner Seele! Ich glaube, ich könnte die ganze Litanei herbeten, ohne bei ihr weiterzukommen<, scherzte der Dichter.
>Schwört beim Leibe Eurer Mutter, daß Ihr dies Geschöpf nicht berührt habt!< schnaubte ihn der Archidiakon grimmig an.
>Wenn Ihr es wünscht, auch beim Haupte meines Vaters. Die beiden Sachen stehen ohnehin in mehr als einem Verhältnisse zueinander. Aber, hochwürdiger Herr, gestattet mir eine Frage.<
>Sprecht!<
>Was geht Euch das an?<
Das bleiche Antlitz des Archidiakons übergoß sich mit blutroter Verlegenheit.
>Hm<, sagte er nach einer Pause, >hört mich an! Soviel ich sehe, seid Ihr in dieser Angelegenheit noch nicht in die Gefahr ewiger Verdammnis geraten. Und daß mir dies nicht gleichgültig sein kann, wißt Ihr wohl selbst. Wenigstens meine ich, bisher genug Interesse für Euch bewiesen zu haben. Und es ist meine Überzeugung, daß die Gunst dieser Zigeunerin Euch den Klauen Satans ausliefern müßte. Der Körper ist es allemal, der die Seele ins Verderben stürzt. Daher: Wehe, dreimal Wehe, wenn Ihr dieses Weib berührt!<
Peter kratzte sich hinter den Ohren.
Schließlich meinte er: >Die Gefahr ist da wohl nicht sehr groß. Versucht habe ich es erst einmal, am sogenannten Hochzeitsabende. Es zeigte mit die Wespe aber gleich ihren Stachel, und seither ließ ich’s lieber sein.<
>Ihr habt die Frechheit gehabt?< donnerte der Archidiakon.
>Nun, ich meinte nur so<, begütigte ihn Gringoire schmunzelnd.
>Und nach dem ersten Abende nie wieder?< setzte ihm Dom Claude hartnäckig zu.
>Interessiert habe ich mich wohl für sie<, gestand der Dichter. >Einmal beobachtete ich sie durch das Schlüsselloch, bevor sie sich niederlegte. Da habe ich das holdeste Weib meines Lebens im Hemd erblickt. Schöneres hat nie die Gurte seines Bettes unter seinen Füßen knacken lassen!<
>Geht zum Teufel!< brüllte ihn der Priester an.
Und mit einem furchtbaren Wutblicke verschwand er in der Dunkelheit der Kathedrale.
Die Glocken schweigen
Seit Quasimodo die Qual des Prangers erlitten hatte, glaubten die Besucher des Notre-Dame bemerkt zu haben, daß die Läutewut des Glöckners bedeutend nachgelassen hatte.
Vordern gab es Geläute bei jedem nur denkbaren Anlasse. Lange Ständchen von den Morgenprimen bis zur letzten Abendvesper. Gebimmel aller Glocken zum Hochamte. Reiche Tonleitern einzelner Glocken zu den Hochzeiten. Ebenso bei den Taufen. Kurz, den ganzen Tag lang war die Luft mit Glockentönen sozusagen ständig vermengt gewesen.
Bis in seine Grundfesten erbebend und stöhnend war der altehrwürdige Dom in einem fortgesetzten Glockenjubel gewesen. Stets hatte man die Gegenwart eines eigensinnigen Lärmgeistes fühlen können, der mit all den metallenen Zungen seine Hohelieder sang.
Jetzt schien dieser Geist verschwunden zu sein und die Kathedrale in tiefer Trauer zurückgelassen zu haben. Die Feste und Begräbnisse erhielten ihr einfaches, kahles Geläute, streng nach der Kirchenordnung, und nicht einen Glockenton mehr. Der Doppellärm der Kirche, bestehend aus Orgel und Geläut, war auf das einfache Ertönen der Orgel zurückgegangen.
Es schien, als ob die Glockentürme ihren musikalischen Sinn verloren hätten, obgleich Quasimodo nach wie vor sein Amt versah.
Was mochte da vorgegangen sein?
Lebten die Scham und die Verzweiflung des Prangers in seinem Herzen fort?
Schwirrte das Sausen der Marterpeitsche endlos in seiner Seele nach?
Hatte die erlittene Unbill alles in ihm ausgetilgt? Sogar seine Glockenleidenschaft?
Oder aber hatte die >große Marie<, die Königin der Notre-Dame-Glocken, eine Nebenbuhlerin erhalten? Wurden sie und ihre vierzehn Schwestern einer Schöneren und Liebenswürdigeren wegen vernachlässigt?
__________
Im gnadenreichen Jahre 1482 fiel Mariä Verkündigung auf Dienstag, den 25. März. An diesem Tage war die Frühlingsluft so mild und rein, daß Quasimodo etwas von seiner alten Liebe zu den Glocken wiederkehren fühlte. Er stieg daher im Nordturme hinauf, während der Mesner unten alle Kirchentore weit öffnete. Es waren dies damals ungefüge Flügeltüren aus dickem, lederüberzogenem Holz, die kunstvoll mit vergoldeten Eisennägeln beschlagen und mit reichem Schnitzwerk beladen waren.
Als Quasimodo die untere Glockenstube erreicht hatte, betrachtete er die dort hängenden sechs Glocken mit einem betrübten Kopfschütteln, als ob er ihnen sein Leid darüber klagen wollte, daß ein fremder Einfluß zwischen sie und ihn getreten war. Nachdem er sie aber in Schwung gebracht hatte, ihre Reihe unter seiner Hand Leben gewinnen sah und trotz seiner Taubheit ihren bebenden Oktavsang wie einen Vogel von Zweig zu Zweig die Tonleiter auf und ab hüpfen fühlte, da bemächtigte sich seiner das Dämonische an dieser sprühenden Garbe von Fugen, Trillern und gebrochenen Akkorden. Da vergaß er alles und mit geweitetem Herzen fühlte er sich so glücklich wie nie zuvor.
Leuchtenden Antlitzes sprang er im Glockentakte hin und her. Er lief von einem Seile zum anderen und befeuerte die sechs ehernen Sänger mit Mund und Hand wie ein Kapellmeister seinen verständnisvollen Chor. >Auf, Gabriele!< rief er aus vollster Brust, >auf! Schleudere deine ganze Tonkraft hinaus! Festtag ist heut! Keine Müdigkeit vorgeschützt, Thibauld! Bist du eingerostet, alter Faulpelz? Schnell! Mach schnell! Deinen Klöppel darf man gar nicht sehn! Wilhelm, du Lackel, schämst du dich nicht vor dem kleinen Pasquier?! Sieh dir an, wie flink er springt! Gut, Gabriele, gut. Nur so weiter. Holla! Ihr da oben, ihr beiden Spatzen! Ihr tut gar nicht mit, wie mir scheint! Eure Mäuler gähnen, statt zu singen! Nur wacker heran! Heut ist Mariä Verkündigung! Schönes Wetter ist es auch! Also kein Grund zu einer Ausrede da! Brav, Wilhelm, dicker Bursche, brav!<
So spornte er die sechs Glocken wie Lebewesen an, während sie um die Wette tanzten und die blanken Rücken wie spanische Maultiere schüttelten, die vom Zuruf ihrer Treiber angefeuert werden.
Da fiel einer seiner Blicke zufällig auf den Domplatz hinab, und er sah dort unten, wie ein junges, sonderbar geputztes Mädchen einen Teppich ausbreitete, um darauf in Gesellschaft einer Ziege Stellung zu nehmen, während sich ringsum Zuschauer sammelten.
Dieser Anblick ließ all die freudige Stimmung seines Innern wie an die Luft quellendes Harz erstarren. Seine Begeisterung für das Glockengeläute war dahin. Er wandte dem Glockengestühle den Rücken und kauerte sich in einer der Öffnungen unter dem vorspringenden Schieferdache zusammen, wo er wie hinter einer Jalousie für die Außenwelt verborgen war.
Von hier aus heftete er auf die Tänzerin jenen träumerischen, milden und zarten Blick voll trauriger Resignation, der schon einmal den Archidiakon in Erstaunen versetzt hatte.
Und die vernachlässigten Glocken verstummten, sehr zum Mißvergnügen der Liebhaber ihres Geläutes. Bis von der Wechslerbrücke her hatten ihre Freunde ihren Tönen gelauscht, um jetzr enttäuscht weggehen zu müssen, Hunden gleich, denen man einen Knochen gezeigt hat, um ihnen dann einen Stein zu reichen.
Ananke
16 Am Festtage des heiligen Eustachius, Sonnabend, den 29. März 1482, mußte der Studiosus Johannes Frollo die peinliche Feststellung machen, daß in den Maschen seiner Börse nicht der geringste Metallglanz zu sehen war.
>Armer Beutel<, apostrophierte er das auf Fülle berechnete Utensil. >Nicht ein Pariser Heller ist mehr in dir zu sehen! Wein, Weib und Würfel haben dich ausgeleert! Jetzt hängst du schlaff und runzlig wie der Rachen einer alten Vettel da. Herr Cicero und Herr Seneca, die ihr in verkommenen Exemplaren dort am Boden liegt, steht mir bei! Was nützt es mir, daß ich besser als ein Münzmeister oder Jude die Wechselkurse kenne, wenn es bei mir nichts zu wechseln gibt!<
Nachdem der Studiosus auf diese Weise sein Morgengebet verrichtet hatte, kleidete er sich schlechtgelaunt an und überlegte währenddem, wie er der Ebbe abhelfen konnte. Beim Zuschnallen der Schuhe kann ihm eine Idee, die er jedoch zunächst als unfruchtbar abwies, bis ihn das verkehrte Anziehen der Weste darüber belehrte, daß er sich in einem innerlichen Kampfe gegen den immer wiederkehrenden Gedanken befand.
Ärgerlich warf er seine Mütze zu Boden.
>Hol’s der Geier<, brummte er. >Was hilft’s?! Beim Bruder erwische ich meine Strafpredigt, aber dann hoffentlich einen Taler auch! Also los!<
Damit zog er sein pelzverbrämtes Wams an, nahm die Mütze wieder auf und verließ seine Bude.
Als er nach der Altstadt zu an der Rue Huchette vorbeikam, sog er gierig den würzigen Duft der sich hier beständig drehenden Bratspieße ein. Mit einem besonders liebevollen Blicke bedachte er da die riesige Garküche, die schon die Bewunderung des Franziskaners Calatagironne derart erregt hatte, daß er sie in einem Preisliede feierte. Es ging dem Studiosus aber hier wie dem seligen Tantalus, und seufzend wandte er sich wieder von diesen Herrlichkeiten ab, um unter den Zwillingstürmen des Kleinen Châtelet in die Altstadt zu tauchen. Im Vorwärtseilen nahm er sich nicht einmal die Zeit, den üblichen Steinwurf nach dem Standbilde des elenden Périnet Leclerc zu tun, der unter Karl VI. Paris Lehen an die Engländer verraten hat. Ein Verbrechen, das sein Bildnis durch drei Jahrhunderte wie ein Schandpfahl unter den Stein- und Kotwürfen der Passanten büßen mußte, bis es zur Unkenntlichkeit entstellt worden war.
Nachdem johannes die kleine Brücke überschritten hatte, erreichte er bald durch die St.-Genoveva-Straße den Domplatz von Notre-Dame. Hier faßte ihn erneute Unsicherheit und veranlaßte ihn, einige Male unentschlossen die Bildsäule Seigneur Legris’ zu umkreisen.
>Die Predigt ist gewiß<, murmelte er dabei. >Ob aber auch der Taler?<
Da kam ihm einer der Mesner vom Stiftshause her in den Weg.
Johannes nahm dies für einen Schicksalswink.
>Ist der Herr Archidiakon von Josas daheim?< fragte er den würdigen Mann.
>Ich meine, daß er oben in seiner Turmzelle ist. Dort stört Ihr ihn besser nicht, wenn ich Euch raten darf. Außer Ihr kommt mit einer direkten Empfehlung vom Könige oder Vom Papst.<
Diese Auskunft beseitigte sogleich Johannes’ Unentschlossenheit.
>Famos!< rief er, in die Hände klatschend. >Da bekomme ich endlich diese Wunderzelle zu sehen!<
Und nur diesem einen Gedanken Raum gebend, schlüpfte er wie ein Wiesel in die kleine Pforte, um von da die Wendeltreppe hinanzusteigen.
>Beim Zeus!< sagte er sich. >In dieser Zelle muß etwas ganz Besonderes verborgen sein, weil mein Herr Bruder da den abweisenden Zerberus spielt. Man behauptet, daß er den Stein der Weisen auf einem Riesenherde siedet. Dieser Stein interessiert mich zwar nicht mehr als der nächstbeste Kiesel. Da wäre mir’s schon lieber, er machte mir auf seinem Herde einen Riesenosterkuchen mit Speck!<
Unter diesen Betrachtungen war der Studiosus beim Säulengange angelangt. Hier verschnaufte er sich einen Augenblick, um ganze Wagenladungen von Teufeln auf die endlose Treppe herabzufluchen. Dann setzte er seinen Aufstieg durch die enge Türe des Nordturmes fort, die jetzt für das Publikum wegen Baufälligkeit gesperrt ist.
An der Glockenstube vorbei erreichte er einen kleinen Treppenansatz, der in eine Seitenvertiefung führte, um vor der Wölbung einer niederen Spitzbogentüre zu enden. Auf diese konnte Johannes durch eine in die Zirkelmauer der Treppe gebrochene Schartenluke blicken und ihr mächtiges Schloß mit den klobigen Eisenbeschlägen sehen. Hier kann heutigentages folgende >rätselhafte Inschrift< gelesen werden, die mit heller Farbe auf die dunkle Mauer gepinselt ist:
>Ich bete Coralie an, 1823. Unterzeichnet: Ugéne.<
Diese Pikanterie konnte der Studiosus damals allerdings noch nicht genießen. Er schritt daher geradewegs auf die Türe zu und sagte sich:
>Hier muß es sein!<
Da der Schlüssel im Schlosse steckte und die Türe nur angelehnt war, schob er diese langsam auf, um den Kopf spähend hineinzustecken.
Um den sich ihm bietenden Anblick recht naturgetreu zu schildern, erinnern wir an das bewunderungswürdige Werk Rembrandts, dieses Shakespeare der Malerei, nämlich an jenen Stich, der den Doktor Faust in seiner Hexenküche darstellt.
Man sieht da eine düstere Zelle, in deren Mitte ein Tisch steht. Dieser ist mit unheimlichen Gegenständen, wie Totenköpfen, Planetarkreisen, Retorten, Zirkeln und Pergamenten bedeckt. Vor ihm steht der Doktor im weiten Überrock, das Pelzbarett tief auf die Brauen herabgezogen. Er ist nur mit dem Oberkörper sichtbar, beim halb aus seinem geräumigen Lehnstuhle erhoben, mit auf den Tisch gestützten runzeligen Händen. Halb neugierig, halb erschreckt betrachtet er einen aus magischen Leuchtbuchstaben geformten Riesenkreis, der auf der Mauer des Hintergrundes wie ein Sonnenspektrum erglänzt. Diese kabbalistische Sonne ist so leuchtend dargestellt, daß sie vor den Augen zu flimmern scheint, und ihr Beleuchtungseffekt so treffend ausgedrückt, daß sie die matterleuchtete Zelle mit einem geheimnisvollen Glanze erfüllt. Es ist schrecklich und schön zugleich.
Eine solche Faustzelle bot sich dem durch den Türspalt geschobenen Kopfe des Studenten dar. Es war gleichfalls ein düsteres, kaum erleuchtetes Gemach. Ein großer Lehnstuhl war ebenfalls zu sehen. Und der große Tisch mit Zirkeln und Destillierkolben fehlte ebensowenig. Von der Decke hingen Tierskelette herab, auf den Boden hingerollt lag ein Himmelsglobus neben verschiedenen Pferdeköpfen und einer Batterie von Flaschen und Retorten, in denen es ab und zu von Blattgold schimmerte. Außerdem waren einige Totenköpfe zu sehen nebst einer Unmenge von Pergamenten, die mit Figuren und Schriftzeichen besät waren. Dicke Handschriften, meist aufgeschlagen und ohne Rücksicht auf Knickecken übereinandergeworfen, vervollständigten diesen Kéhrichthaufen der Wissenschaft, der, mit Staub und Spinnweben gemengt, ein Chaos bildete, in das keine Faustsche Kabbalasonne einen leuchtenden Glanz brachte. Auch kein Doktor Faust in Verzückung war zu erblicken, der nach diesem Strahlenkreise geblickt hätte, wie nur ein Adler in die Sonne blicken kann.
Trotzdem war die Zelle nicht verlassen. Mit dem Rücken gegen die Türe saß ein Mann im Lehnstuhle, von dem Johannes nur die Schultern und den Hinterkopf sehen kennte. Aber an des letzteren Kahlheit war es nicht schwer zu erraten, daß diese von der Natur unvergänglich gemachte Tonsur (als anscheinend unabwendbare Bestimmung zum Priester) nur die seines Bruders, des Archidiakons, sein konnte.
Die Türe hatte sich so leise aufschieben lassen, daß Dom Claude ganz ahnungslos über die Ankunft seines Bruders blieb. Dies benutzte der neugierige Student als willkommene Gelegenheit, um mit Muße die geheimnisvolle Zelle zu betrachten.
Zunächst bemerkte er bei näherem Zusehen einen breiten Kochofen, der sich links vom Lehnstuhle unter der Fensterluke befand.
Durch diese Öffnung drang eben ein schüchterner Sonnenstrahl und durchleuchtete dabei ein darübergebreitetes Spinngewebe, das geschmackvoll wie eine feine Rosette wirkte. In der Mitte saß beutelüstern die Weberin als Zentralpunkt des Spitzenrades.
Auf dem Ofen waren verschiedene Gefäße, Retorten und Steintöpfe aufgestellt, alles mögliche, nur keine Bratpfanne, wie Johannes mit einem stillen Seufzer feststellte.
>Ofen kalt, kein Kochgeschirr<, summierte er den empfangenen Eindruck.
Es schien auch, als ob in diesem Ofen schon seit langem kein Feuer gebrannt hätte.
Von hier schweifte der Blick des Studenten in die daranliegende Ecke der Zelle, wo eine gläserne Maske lag, eines jener Utensilien, welches die Alchimisten zum Schutze gegen giftige Gase benützen, wenn sie mit ihren fürchterlichen Substanzen manipulierten.
Neben dieser Maske lag ein Blasebalg, auf dessen Oberfläche mit Kupferbuchstaben die lateinische Aufschrift >Blase und hoffe< aufgetragen war.
Nach Alchimistensitte waren auch noch andere Inschriften bedeutsamer Art in der Zelle zu sehen. Einige mit Tinte geschrieben, andere mit ehernen Griffeln eingeritzt. Gotische, hebräische, griechische und lateinische Schriftzüge, bunt durcheinander. Aufs Geratewohl hingeschrieben, manche kreuz und quer über ältere hinweg, die dadurch unleserlich geworden waren. Alles ineinander verwirrt, wie Zweige eines Gestrüpps oder Lanzen bei einem Handgemenge.
Ein wahres Potpourri philosophischer Systeme und Sentenzen war da aus allerlei Einfällen und Weisheitssprüchen der Menschheit zusammengebraut. Und aus längeren Phrasen ragten hie und da kernig-kurze Schlagsätze, wie Lanzenfahnen aus dem Kampfgetümmel, hervor. In solchen knappen, aber ausdrucksvollen Sprüchen war das Mittelalter besonders beschlagen, wie etwa:
Woher? Daher!
Der Mensch des Menschen Feind.
Die Sterne sind Festungen.
Der Name ist das Schicksal.
Je dicker das Buch, desto größer das Übel.
Der Wind weht in seiner eigenen Richtung.
Und dergleichen mehr.
Manchmal waren es auch nur einzelne Schlagworte oder einer der Lehrsätze der Kirchenzucht, die man in regelrechten Hexametern abzufassen liebte, um sie dem Gedächtnisse leichter einzuprägen.
Derlei Sprüche las Johannes hier an den Zellenwänden, darunter auch einige hebräische, die ihm unverständlich waren, während er die griechischen noch halbwegs ausdeuten konnte.
Diese Spruchschriften wurden alle Augenblicke von dazwischen gezeichneten Sternen, Menschen- und Tierbildern unterbrochen und von sich schneidenden geometrischen Figuren durchkreuzt. So glichen die Zellenwände Papierblättern, auf denen ein Affe mit einer Tintenfeder sinnlos spazierengefahren ist.
Damit im Einklange stand die über der ganzen Zelle liegende Vernachlässigung, was dem Ganzen einen Anschein des Verfalles gab. Auch ließ die Ungepflegtheit der Instrumente und Utensilien darauf schließen, daß Bewohner seine hier üblichen Arbeiten schon seit geraumer Zeit zur Seite geschoben hatte.
Gegenwärtig war er über ein dickes, mit seltsamen Malereien geschmücktes Manuskript gebeugt, von dessen aufmerksamer Lektüre ihn jedoch quälende Gedanken abzulenken schienen, die sich unaufhörlich in seine Betrachtungen mengten.
Diesen Eindruck hatte wenigstens Johannes, als er ihn nach langer, nachdmklicher Pause wie einen eben aus einem Traume Erwachenden vor sich hin sprechen hörte:
>Menu17 sagt es und Zoroaster18 lehrt es. Die Sonne entsteht aus Feuer, der Mond aus der Sonne. Das Feuer ist die große Seele des Weltalls. Seine Atome durchziehen unaufhörlich die ganze sichtbare Welt. Dadurch entstehen Strömungen und an deren Schnittpunkten am Himmel das Licht. Trifft jedoch diese Strömung die Erde, dann entsteht das Gold. Licht und. Gold sind daher ein und dasselbe. Eines flüssig, das andere fest. Wie etwa Wasserdampf und Eis. Beide auch dasselbe, nämlich Wasser. Es ist dies ein allgemein gültiges Naturgesetz, kein Hirngespinst. Der Vergleich mit den zwei Formen des Wassers beweist es klar. Die Frage ist nun: Wie legt man betreffs des Goldes dieses Naturgesetz fest? Der Sonnenstrahl hier auf meiner Hand ist Gold. Wie halte ich ihn fest? Man muß das Gesetz kennen, nach welchem der Übergang aus der flüssigen in die feste Form erfolgt. Dann hat man ohne weiteres das Gold. Einige haben daran gedacht, Sonnenstrahlen in der Erde zu vergraben. Averrhoes19 hat’s getan. In Córdoba20 in der großen Moschee, links vom Hochtische des Korans, beim ersten Pfeiler. Man darf aber erst in achttausend Jahren diese Grube mit dem Sonnenstrahl wieder öffnen. Diese Zeit hat Averrhoes berechnet.<
>Zum Teufel, das ist hübsch lang<, kommentierte der Lauscher. >Hoffentlich muß ich nicht auch so lange auf meinen Taler warten!<
>Andere haben gemeint, daß man da besser mit einem Lichtstrahle des Sirius operieren würde. Es ist aber schwer, diesen Strahl rein zu bekommen, weil die anderen Gestirne ihre Strahlen daruntermengen. Flamel hielt es für einfacher, das Erdfeuer zu nehmen. Flamel, flamma, die Flamme! Wie oft doch der Name eine Vorherbestimmung ist! Ja, das Feuer ist das ganze Um und Auf. Der Diamant ist in der Kohle, das Gold im Feuer! Wie sie herauszuziehen? Das ist die Frage! Übrigens, Bedeutung der Namen. Manche Alchimisten behaupten, daß man bei den Experimenten gewisse Frauennamen von geheimnisvoll süßem Zauber aussprechen muß. Wie zum Beispiel Maria, Sophia, Esmeral…, Hölle und Teufel! Kommt immer dasselbe in den Sinn?!<
Mit einem heftigen Klaps schloß er das Buch und fuhr sich dann mit der Hand über die Stirne, als ob er einen qualvollen Gedanken verscheuchen wollte.
Dann nahm er vom Tische einen Spitzmeißel und einen Hammer auf, dessen Stiel mit kabbalistischen Zeichen bemalt war.
Mit bitterem Lächeln schaute er auf diese Werkzeuge hinab.
>Seit einiger Zeit mißlingt mir jedes Experiment! Es ist wie eine fixe Idee! Nicht einmal das Geheimnis der Lampe ohne Docht habe ich ergründen können. Was doch sicherlich eine einfache Sache ist!<
>Sehr einfach<, dachte Johannes dazu.
>Statt dessen macht mich ein einziger, immer wiederkommender Gedanke zum albernen Tropf! Flamel ließ sich durch die Pernelle nicht einen Augenblick von seinem großen Werke abhalten! Hier halte ich in der Hand aber den magischen Hammer Zechiels. Mit seinen Schlägen aus diesem Spitzeisen sandte der furchtbare Rabbi jeden Feind in die für ihn auseinanderklaffende Erde, selbst wenn er zweitausend Meilen von ihm entfernt war! Als der König von Frankreich unvorsichtigerweise an die Tür dieses großen Magiers klopfte, sank er bis an die Knie in den Boden seiner guten Stadt Paris. Das ist keine drei Jahrhunderte her. Den Hammer und das Eisen habe ich, aber sie nützen mir nicht mehr, als die Werkzeuge des nächstbesten Schmiedes. Denn mir fehlt das Zauberwort, das Zechiel zu seinen Hammerschlägen sprach.<
>Blech<, dachte der respektlose Bruder.
>Aber ich will es versuchen. Beim richtigen Zauberwort muß ein blauer Funken aus dem Eisen sprühen.<
Und er rief einige bekannte Zauberworte, wie Emen-Hatan oder Sigeani, während er mit dem Hammer auf den Kopf des Spitzmeißels schlug. Aber es war kein blauer Funke zu sehen.
Außerdem hatte der Archidiakon jedesmal noch den Namen Phöbus dazugerufen, um denjenigen zu bezeichnen, den auf Gebot des Zauberhammers die Erde verschlingen sollte.
>Verflucht!< knirschte er, den Hammer in die Ecke schleudernd. >Verflucht!<
Dann sank er so tief in seinem Lehnstuhl zusammen, daß Johannes von der Türe aus nichts mehr von ihm sehen konnte.
Plötzlich aber wurde die gen Himmel gestreckte, geballte Faust des Archidiakons sichtbar. Dann dieser selbst in ganzer Größe. Er war aufgestanden, um einen der großen, auf dem Tische liegenden Eisenzirkel zu ergreifen. Mit diesem trat er an die Wand heran und schnitt hier in griechischen Lettern das Wort
ANANKE
ein.
>Er muß übergeschnappt sein<, dachte der Student.
Dann setzte sich Dom Claude wieder in seinen Lehnstuhl und stützte seinen Kopf in beide Hände, wie ein Kranker, dessen glühender Kopf zu schwer für die Halsmuskeln ist.
Mit Verwunderung blickte der Student auf die Gemütsbewegungen, die augenscheinlich seinen Bruder aufs tiefste erschütterten.
Das Weltkind hatte freilich wenig Verständnis dafür. Er war so sehr gewöhnt, allen seinen Impulsen widerstandslos nachzugeben und sich von seinen sinnlichen Eindrücken leiten zu lassen, daß ein Ankämpfen gegen solche Regungen einfach über seine Begriffe ging. Bei ihm war der See der großen Gemütsbewegungen sozusagen immer trocken, da er täglich dessen Abzugsschleusen öffnete. Daher war es ihm zeitlebens unbekannt geblieben, mit welcher Raserei das Meer der menschlichen Leidenschaften wogen und tosen kann. Wie es bei versperrtem Abflusse immer höher steigt, bis es die begrenzenden Ufer überschwemmt und dann mit seinem Strudel alles niederreißt. Er wußte nicht, daß eine starke Empfindung das Herz zu höhlen vermag, bis es in dumpfen Zuckungen unter innerlichern Schluchzen birst. Außerdem kannte er von seinem Bruder nur die täuschende eisige Außenhülle. Der leichtsinnige Student hatte nie daran gedacht, daß unter dem ewigen Schneegipfel eines hohen Vulkans die kochendheiße Lava liegt. So gab sich auch jetzt Johannes keine vollkommene Rechenschaft über seines Bruders Seelenqual. Aber eines begriff er trotz seines Leichtsinns sofort. Er hatte heute einen Blick in das Innere des Archidiakons getan, von welchem dieser nichts ahnen durfte. Denn er kannte den Charakter seines Bruders insoweit gut genug, um zu wissen, wie tief es diesen beschämen mußte, wenn sich in seinen geheimsten Empfindungen belauscht fühlte.
Als er daher bemerkte, daß der Archidiakon regungslos im Lehnstuhle verharrte, zog er seinen Kopf leise zurück. Er wollte sich still entfernen, wurde aber daran durch das Geräusch von Schritten verhindert, welche die Treppe heraufstiegen.
Da es augenscheinlich nur ein Besuch für Dom Claude sein konnte, wäre es ein Bekenntnis der eigenen geheimen Anwesenheit gewesen, wenn er, ruhig die Treppe hinabsteigend, es darauf ankommen ließ, daß der Besucher dem Archidiakon gegenüber die Begegnung erwähnte.
Er zog es daher vor, außerhalb der Türe die Trittgeräusche eines soeben Angekommenen zu machen.
>Herein<, rief von drinnen sogleich Dom Claude. >Ich erwarte Euch bereits, wie Ihr aus der offenen Tür ersehen könnt. Tretet nur ein, Meister Jakob!<
Auf das hin trat der Student dreist über die Schwelle. Bei seinem Anblicke erschrak der Archidiakon sichtlich.
Es war nicht zu verkennen, wie unangenehm es ihm war, von seinem Bruder in dieser Zelle gesehen zu werden.
>Du bist es, Johann?< sagte er mit allen Anzeichen der Verlegenheit.
>Jawohl, auch einer, dessen Namen mit J anfängt<, lachte der freche Bursche.
Dom Claudes Antlitz nehm einen düster-strengen Ausdruck an.
>Was hast du hier zu suchen?< fragte er scharf.
Da bemühte sich der Student, recht kläglich dreinzusehen, wozu er pantomimisch die Verlegenheitsdrehungen mit der in beide Hände genommenen Mütze machte.
>Bruder, ich wollte Euch bitten…<
>Worum?<
>Um etwas moralische Belehrung, die ich sehr nötig habe.<
Und in Gedanken fügte er hinzu:
>Und nach der unvermeidlichen Predigt um etwas Geld, das ich noch mehr benötige.<
Der Archidiakon schien dies Manöver zu durchschauen.
>Ich bin sehr unzufrieden mit dir<, sagte er kalt.
>Au<, dachte der Student. >Der ist aber heute zugeknöpft!<
>Es ist mir daher lieb, daß du gekommen bist.<
>Der Anfang gefällt mir durchaus nicht<, dachte der Student.
>Täglich laufen Beschwerden über dich ein. Was war das mit der Prügelei, bei der du den kleinen Vicomte von Ramonchamp so übel mit dem Stocke zugerichtet hast?<
>Oh, das? Dieser Vicomte ist ein frecher Rotzjunge, der uns Studenten mit Dreck bespritzte, indem er absichtlich zu nahe an uns vorbeigaloppierte.<
>Und was ist das mit dem Studenten Fargel, dessen Rock du zerrissen hast?<
>Bah, der alte Fetzen!<
>Aber das ist noch das wenigste<, fuhr der Archidiakon fort, >Im Lateinischen ist es bei dir nicht weit her, vom Griechischen aber hast du überhaupt keinen Dunst!<
‘Wer? Ich?≪ fragte der Student, sich wie ein Beleidigter in die Brust werfend. ≫Prüft mich getrost einmal! Soll ich Euch das griechische Wort übersetzen, das dort in die Wand eingeritzt ist?≪
≫Welches Wort?≪
≫Ananke≪, entgegnete der Student.
Da überzog die Wangen des Archidiakons ein flüchtiges Rot, gleich dem Aufglühen, welches einem Vulkanausbruche vorangeht.
Johannes aber gab nicht viel acht darauf.
Erst nach kurzer Pause gewann Dom Claude so viel Selbstbeherrsehung, daß er mit anscheinender Unbefangenheit sagen konnte:
≫Übersetz es meinetwegen.≪
≫Das Verhängnis.≪
Trotz der erwarteten Antwort wurde Dom Claude bleich.
Der sorglose Studiosus setzte jedoch unbekümmert fort: ≫Und darunter ist ein anderes griechisches Wort eingekratzt: Anankeia, die Unlauterkeit. Ihr seht also, daß ich ganz gut des Griechischen mächtig bin.≪
Das von seinem Bruder in dieser Weise bestandene griechische Examen schien jedoch den Archidiakon wenig angenehm zu berühren, da er in ein düsteres Schweigen verfiel.
Johannes aber hielt den Augenblick für günstig, um auf den zweiten, für ihn interessanteren Teil der Unterredung überzugehen.
≫Mein lieber Bruder≪, begann er daher im sanftesten Register, ≫zürnt Ihr ernstlich wegen der erwähnten Studentenstreiche? Ihr habt Euch ja soeben selbst überzeugt, daß das Studium dabei nicht vernachlässigt wird.≪
Der Archidiakon schien jedoch wenig Neigung zu haben, den dargebotenen Honigkuchen anzubeißen.
≫Was willst du?≪ fragte er trocken.
≫Geld≪, entgegnete der Student prompt.
Bei dieser kecken Erklärung nahm der Archidiakon eine väterlich-schulmeisterliche Miene an.
≫Du weißt recht gut, was unser Leben trägt. Keine vierzig Pariser Pfund im Jahr.≪
≫Dessenungeachtet brauche ich Geld≪, entgegnete stoisch Johannes.
≫Und ebensogut wie ich weißt du, daß du allein mehr als diesen Betrag verbrauchst.≪
≫Ich weiß nur, daß ich jetzt Geld benötige≪, entgegnete hartnäckig der Student.
≫Wozu?≪
Diese Frage erschien dem Studiosus wie ein Hoffnungsstrahl.
≫Glaubt mir≪, begann er in schmeichelndem Tone, ≫ich brauche das Geld nicht dazu, mir einen guten Tag zu machen.≪
≫Sondern?≪
≫Um damit ein gutes Werk zu tun.≪
≫Ein gutes Werk?≪
Dom Claude fragte es überrascht und zweifelnd.
≫Jawohl. Zwei meiner Freunde wollen einer armen Witwe Wickelzeug für ihr Kind kaufen. Sie brauchen dafür drei Gulden, und ich möchte etwas dazu beitragen. Die Witwe ist von einem Kloster empfohlen.≪
≫Wer sind diese Freunde?≪
≫Peter l’Assommeur21 und Baptist Croque-Oison22 .≪
≫Hm. Das sind Namen, die zu einem guten Werke passen wie ein Geschütz auf den Hochaltar.≪
Zu spät bereute es Johannes, bei der Wahl der Freundesnamen zu sehr seiner witzigen Ader gefolgt zu haben.
Dom Claude gab aber noch einen Beweis seines überlegenen Scharfsinnes.
≫Was ist das für ein Wickelzeug, das drei Gulden kostet? Ist die arme Witwe eine Prinzessin von Geblüt? Und seit wann kommen arme Witwen ins Wochenbett und werden dann von Klöstern empfohlen? Die Sache stimmt mir nicht!≪
≫Nun gut≪, sagte der Studiosus frech. ≫Ich brauche das Geld für eine Nacht bei der schönen Isabeau.≪
≫Elender Bursche und Wüstling!≪ donnerte ihn der ste Priester an.
≫Anankeia≪, erwiderte ihm der Frechling, die Wandinschrift zitierend.
Da errötete der Archidiakon vor Scham.
≫Geh≪, sagte er, ≫geh! Ich erwarte einen Besuch.≪
Johannes wagte noch einen Versuch: ≫Gebt mir wenigstens eine Kleinigkeit, Bruder. Ich habe Hunger.≪
≫Wie weit bist du in den Dekretalien Gratians?≪
≫Ich habe das Präparationsheft verloren.≪
≫Und wie steht’s mit den Humanisten?≪
≫Mein Horaz ist gestohlen worden.≪
≫Wie weit bist du im Aristoteles?≪
≫Meiner Treu, Bruder, wißt Ihr nicht, daß ein Kirchenvater die Lehre des Aristoteles als Ketzerei bezeichnet hat? Wollt Ihr, daß ich meinen Glauben verliere?≪
≫Dann kann ich dir nur mit einem lateinischen Sprichwort antworten, mein Lieber: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.≪
≫Ihr verweigert mir also einen lumpigen Sou, um mir damit ein Stück Brot kaufen zu können?≪
≫Wer nicht arbeitet…≪
Als Johannes die Unbeugsamkeit des Bruders sah, verbarg er sein Gesicht, wie ein schluchzendes Weib, in den Händen und schrie dazu im Tone der Verzweiflung:
≫Otototoi!≪
≫Was ist das wieder für ein Blödsinn?≪
≫Das ist griechisch. Der Anapäst, mit dem Äschylus den vollkommensten Schmerz ausdrückt.≪
Dom Claude mußte unwillkürlich lächeln. Schließlich war es seine eigene Schuld, daß kein Ernst in dem Burschen war. Er hatte ihn als Kind viel zu sehr verzogen. Als Johannes dieses Lächeln sah, faßte er sogleich neue Hoffnung. ≫Ach Bruder! Seht Euch doch meine zerrissenen Sohlen an!≪
≫Gut, ich will dir neue Stiefel kaufen. Aber Geld gebe ich dir nicht≪, beschied ihn der wieder ernst gewordene Archidiakon.
≫Geht mir doch wenigstens einen Sou! Einen einzigen lumpigen Sou! Ich will gerne den ganzen Gratian auswendig lernen dafür!≪
Dom Claude schüttelte den Kopf.
≫Nun gut≪, schrie ärgerlich der Student. ≫Dann will ich zum Teufel gehen! Huren und saufen und alles krumm und klein schlagen!≪
Mit diesen Worten schmiß er seine Mütze gegen die Wand, daß es klatschte.
Der ältere Bruder blickte ihn finster an.
≫Seele scheinst du überhaupt keine zu haben≪, tadelte er ihn.
≫Als Epikureer brauche ich keine.≪
≫Weißt du, wohin dich dein Weg führen wird?≪
≫Ins Wirtshaus.≪
≫Gut, und von da auf den Pranger wegen Zechprellerei.≪
≫Auch nicht schlechter als das Faß des Diogenes.≪
≫Aber die Vorstufe zum Galgen.≪
≫Was weiter? Der Galgen ist auch nur ein Verbindungsstück zwischen Leben und Tod.≪
≫Ganz richtig. Aber mit der Hölle nach dem Tode.≪
≫Bah. Ein Feuer wie jedes andere auch.≪
≫Johannes, du wirst ein böses Ende nehmen!≪
≫Da wurden Schritte vor der Zellentüre hörbar.
>Still!< warnte der Archidiakon leise. >Das ist Meister Jakob. Der braucht dich nicht zu sehen. Verbirg dich dort hinter dem Ofen! Aber hüte dich, ein Wort von dem zu verraten, was du hören oder sehen wirst!<
>Nur, wenn Ihr mir vorher einen Gulden gebt<, benutzte der freche Schlingel die Gelegenheit.
>Elender Erpresser! Aber schau, daß du verschwindest. Den Gulden bekommst du dann.<
>Nein, nein, nur gegen Vorauszahlung!<
>Nimm, Schuft!<
Und der Archidiakon warf ihm zornig seine Börse hin. Johannes hatte gerade noch Zeit, sie aufzuraffen und hinter dem Ofen niederzutauchen, als auch schon die Türe geöffnet wurde.
Schwarzröcke unter sich
Ein finsterblickender Mann in schwarzem Talare war es, der die Schwelle überschritt. Außer der in Miene und Kleidung ausgedruckten tiefen Trauer bemerkte der aus seinem Verstecke herauslugende Student an ihm noch einen Zug jener ungewissen Freundlichkeit, den man an Katzen und Richtern beobachten kann.
Der Ankömmling mochte ein Sechziger sein. Sein Haar war grau und seine Haut in Falten gerunzelt. Die Augen
zwinkerten unter völlig weißen Brauen. Außerdem fiel das Herabhängen seiner Unterlippe und die Größe seiner Hände auf.
Johannes meinte, nur eine beliebige Persönlichkeit, irgendeinen Arzt oder Gerichtsbeamten zu sehen. Er machte sich daher darauf gefaßt, eine langweilige Unterredung in unbequemer Lage endlos lang anhören zu müssen. Zudem hielt er den Mann wegen der weit vom Munde abstehenden Nase für einen Dummkopf, was seine Resignation verstärkte.
Der Archidiakon nahm sich nicht einmal die Mühe, zur Begrüßung seines Besuches aus dem Lehnsessel aufzustehen. Er wies ihm mit einer Handbewegung einen bei der Türe stehenden Schemel als Sitzplatz an und sagte dann in gönnerhaftem Ton:
>Guten Tag, Meister Jakob.<
>Meister, ich begrüße Euch<, entgegnete der andere.
Obgleich sich beide mit dem Meistertitel ansprachen, bestand doch infolge des dabei gebrauchten Akzents ein großer Unterschied darin. Der Fremde sprach es aus wie ein Schüler, der Archidiakon aber wie ein Lehrer. Nachdem einige Minuten in gegenseitigem Schweigen verstrichen waren, nahm der Archidiakon das Wort.
>Nun, gelingt es Euch?<
>Ach teurer Meister, Asche und immer wieder Asche, aber kein Gold!<
Dom Claude machte eine ungeduldige Handbewegung. >Ich spreche nicht von Eurer Goldmacherei, Meister Charmolue! Sondern von dem Zaubereiprozesse gegen Mark Cenaine, den Schaffner des Rechnungshofes. Ist Euch die peinliche Untersuchung geglückt? Hat er gestanden?<
>Leider nein<, erwiderte Meister Jakob trübselig. >Der Mensch ist hart wie Granit. Ich glaube, daß wir ihn wie ein Ferkel sieden können, ehe er gesteht. Er ist schon ganz von der Folter verrenkt, und wir haben schon alle Mittel vergebens aufgeboten. Ein wirklich schrecklicher Mensch! Ich bin bei ihm mit meinem Latein zu Ende.<
>In seinem Hause habt Ihr kein neues Belastungsmaterial gefunden?<
>O doch, dies hier.< Damit zog der Inquisitor ein Pergament aus der Tasche. >Den Text können wir nicht entziffern, obgleich der Herr Kriminalanwalt Lheulier etwas Hebräisch versteht.<
>Gebt her!< sagte der Archidiakon, nach dem aufgerollten Pergament greifend. >Emen-Hatam! Das ist der Ruf der Nachtgeister, wenn sie zum Hexensabbat kommen. Per ipsum, cum ipso et in ipso. Durch ihn, mit und in ihm. Ein lateinischer Spruch, mit dem der Teufel in der Hölle festgebannt werden kann. Hax, pax, max! Das ist eine Formel der Heilkunde, die man gegen den Biß toller Hunde gebraucht. Alles in allem, ein abscheuliches Pergament!<
>Wir werden ihn auch deshalb wieder auf die Folter legen. Außerdem habe ich im Hause des Delinquenten noch etwas gefunden.<
>Zeigt her! Ah! Ein alchimistischer Schmelztiegel.<
>Ich habe ihn bereits auf meinem Ofen probiert<, bemerkte der Prokurator des Kirchengerichtes vertraulich. >Aber er ist kein Jota besser als die meinen.<
Der Archidiakon unterzog das Gefäß einer genauen Prüfung, bevor er seine Meinung abgab.
>Was ist da eingraviert? OCH, OCH. Das ist auch aus der Heilkunde. Die Formel, mit der man die Flöhe vertreibt. Dieser Cenaine scheint ein Idiot zu sein. Mit dem Schmarren bringt Ihr Euer Lebtag kein Gold zusammen! Stellt das Gefäß unter Euer Bett. Zu etwas anderem ihn taugt es nicht.<
>Da wir gerade von Irrtümern reden. Im Heraufkommen habe ich mir das Portal angesehen. Seid Ihr ganz sicher, daß da unten die Schöpfung naturgetreu abgebildet ist? Und glaubt Ihr wirklich, daß, unter den sieben nackten Sockelfiguren, die fußbeflügelte Gestalt die des Merkur ist?<
>Ganz sicher. Wenn Ihr wollt, steige ich mit Euch hinab, um Euch die Sache an Ort und Stelle zu erläutern.<
>Dank, hochwürdiger Herr. Übrigens, wann wünscht Ihr, daß ich die kleine Zauberin festnehmen soll?<
>Welche Zauberin?<
>Nun die, welche mit der Ziege auf dem Domplatze tanzt, trotzdem es da vom heiligen Offizium verboten ist. Die Ziege ist jedenfalls besessen. Sie trägt Teufelshörner, liest und schreibt und versteht Mathematik wie ein Magister. Schon das allein genügt, um jene Zigeunerin an den Galgen zu bringen. Der Prozeß wäre daher eine Kleinigkeit. Im übrigen ist diese Tänzerin ein reizendes Geschöpf, meiner Treu! Zwei Augen wie zwei ägyptische Karfunkeln! Wann sollen wir loslegen gegen sie?<
Der Archidiakon war totenblaß geworden.
>Laßt die Sache einstweilen<, stammelte er. >Ich werde Euch schon zur rechten Zeit verständigen. Haltet Euch vorläufig nur an den Mark Cenaine.<
>Über den macht Euch keine Sorge. Den lasse ich noch heute aufs Lederbett schnallen<, grinste der Prokurator. >An diesem Teufelskerl ist sogar Meister Torterue ermüdet, der doch fester zupacken kann als ich. Diesmal werden wir ihn über die Haspel ziehen.<
Der Archidiakon schien so zerstreut zu sein, daß er gar nicht hinhörte.
>Ja, ja<, murmelte er, >haltet Euch an den Cenaine.<
>Ein bedauernswerter Kerl, eigentlich<, meinte der Inquisitor behaglich, >aber selbst schuld. Wer hieß ihn auf die Walpurgisnacht gehen?! Ein Schaffner des Rechnungshofes noch dazu! Der sollte doch das Gesetz Karls des Großen über Hexen und Zauberer kennen! Im übrigen abgemacht! Ich warte auf Eure Weisungen, bevor ich gegen die Kleine vorgehe. Esmeralda heißt sie wohl? Nun, ja. Und wenn Ihr mir die Portalfiguren erklären wollt, sagt mir bei dieser Gelegenheit auch, was der Gärtner in der Flachgrundmalerei am Kircheneingange bedeuten soll. Oder ist es ein Sämann? Holla, Meister, woran denkt Ihr?<
Der Archidiakon war so in seine Grübeleien versunken, daß er den Inquisitor gar nicht hörte. Dieser folgte der Richtung seines starren Blickes und sah, daß derselbe auf das Spinngewebe geheftet war, welches das Lukenfenster überdeckte. Gerade war eine leichtsinnige Fliege hineingestürzt, die durch den leuchtenden Sonnenstrahl verlockt werden war. Während sich das zappelnde Insekt immer mehr verwickelte, war auch schon die lauernde Spinne mit einem einzigen Sprunge da, um ihre Beute mit den Vorderfüßen zusammenzupressen und den scheußlichen Saugrüssel in ihren Kopf zu bohren. >Arme Fliege<, sagte der Inquisitor mitleidig und erhob sich, in der Absicht, die Fliege zu retten.
Der plötzlich wie aus dem Schlafe aufschreckende Archidiakon hielt ihn jedoch am Arme fest.
>Laßt dem Verhängnisse seinen Lauf<, rief er heftig dazu.
Bestürzt sah der wie mit einer eisernen Zange angepackte Prokurator auf den Archidiakon hinab, dessen Blick mit flammender Wildheit starr auf den Todeskampf der Fliege gerichtet war.
>Das Sinnbild des Alls<, sagte er dazu mit einer aus tiefster Brust kommenden Stimme. >Eben zum Leben erwacht, fliegt die Fliege fröhlich in den Frühling, in die Freiheit hinein. Und was ist das Ende? Eine Berührung des gefährlichen Netzes, und die schreckliche Spinne ist über ihr. Arme Fliege, arme, dem Untergang geweihte Tänzerin! Aber laßt sie gewähren, Meister Jakob! Es ist ihr Verhängnis! Man fliegt zur Sonne, zum Lichte der Wissenschaft. Man sucht den Weg, der in die Welt der Klarheit und der Erkenntnis führt. Da plötzlich, schon an der blendenden Lichtöffnung angelangt, rennt man an ein Netz, welches man übersehen hat. Und zwischen Streben und Erkennen zappelt man in der unerbittlichen Macht des Verhängnisses. Laßt die Spinne, laßt! Gegen das Schicksal kann niemand an!<
>Ich lasse sie schon<, versicherte Charmolue verständnislos. >Aber laßt auch Ihr meinen Arm endlich los! Ihr habt ja eine Hand wie eine Zange!<
Der Archidiakon gab nicht im geringsten auf den Prokurator acht.
>Tor! Wenn du auch das Gewebe zerreißt, gelangst du trotzdem nicht an das Ziel der Erkenntnis! Du taumelst dann nur an eine davorliegende durchsichtige Kristallwand, durch welche du sehen, aber nicht fliegen kannst. Denn sie ist härter als Erz. Sie ist es, die immerdar alles Weltwissen von der Wahrheit trennt! Alles menschliche Wissen ist eitel.<
Er schwieg. Das Aussprechen seiner Gedanken schien ihn beruhigt zu haben.
Jakob Charmolue ließ ihm Zeit, ganz ins Bewußtsein der Gegenwart zurückzukommen, bevor er das Gespräch wieder eröffnete.
>Sagt, Meister<, fragte er, sich den frei gewordenen Arm reibend, >Wann wollt Ihr mir bei meinen alchimistischen Versuchen helfen? Ich möchte endlich die Golderzeugung herausbekommen.<
Der Archidiakon lächelte bitter dazu.
>Wißt Ihr nicht, daß diese Beschäftigung das Seelenheil gefährdet?<
>Leise<, flüsterte der Prokurator ängstlich, >leise! Aber sagt selbst: Muß ein geistlicher Inquisitor mit dreißig Talern Jahreslohn nicht Alchimist werden?<
Kaum hatte er dies gesagt, als er auch schon bebend zusammenfuhr. Denn vom Herde her war deutlich ein schmatzender Laut hörbar geworden.
War das schon der Höllenhund, der den saftigen Braten witterte?
Es war unser Student. Er hatte hier etwas Brot und Käse entdeckt, beides alt zwar, aber für einen ohne Frühstück gebliebenen Magen besser als nichts.
Heißhungrig biß Johannes in die halbverschimmelten Sachen hinein. Und da sie stark ausgedörrt waren, mußte er tüchtig schmatzen, um sie weich zu bekommen.
>Was ist das?< fragte der Inquisitor zitternd.
>Meine Katzen<, beeilte sich der Archidiakon zu entgegnen. >Wahrscheinlich haben sie eine Maus erwischt.<
>Ach so<, sagte Meister Charmolue beruhigt. >Ihr macht es so wie alle großen Philosophen. Ein jeder von ihnen hat irgendeine Tiergattung lieb und gerne um sich.<
Dom Claude legte aber wenig Gewicht auf diese Schmeichelei. Er war ganz von der Besorgnis benommen, daß sein leichtsinniger Bruder noch in einer anderen Weise seine Anwesenheit verraten könnte.
>Kommt!< sagte er hastig, >wir wollen das Portal besehen!<
Flüche und ihre Wirkung
>Gelobt sei Jesus Christus!< streckte und dehnte Johannes seine verbogenen Glieder, als er allein in der Zelle zurückgeblieben war. >Die beiden Nachteulen sind endlich fort! OCH! OCH! Hax, pax, max! Schmecks! Der Schädel brummt mir wie ein Glockenturm! Aber jetzt heißt es weiterkommen, bevor der Herr Bruder die Börse zurückverlangt! Da steckt manche gute Flasche drin!<
Nach einem zärtlichen Blicke auf den kostbaren Inhalt der Börse putzte er seine staubig gewordenen Kleider und Stiefel ab, wobei er ein lustiges Lied pfiff und seine beweglichen Augen flink in der Zelle nach etwas Mitnehmenswertem herumwandern ließ. Schnell raffte er ein paar Amulette aus Glasperlen als geeignetes Geschenk für seine Dirnen zusammen, und dann hüpfte er sorglos wie ein Vogel die Treppe hinab, ohne sich darum zu kümmern, daß hinter ihm die Zelle unversperrt zurückblieb.
Mitten auf der dunklen Stiege stieß er mit dem Ellenbogen an ein sich brummend zur Seite drückendes Lebewesen, in welchem er Quasimodo vermutete. Das kam ihm so spaßhaft vor, daß er noch lachte, als er unten den Platz betrat.
>Ah! Gutes, ehrbares Pflaster von Paris!< stieß er vergnügt mit dem Fuße auf. >Gottlob, daß ich aus dem mystischen Stunk heraus bin!<
Ein paar Schritte entfernt sah er den Archidiakon und seinen Besucher in die Schnitzarbeit des Hauptportals versunken dastehen. Er schlich sich auf den Zehen heran und vernahm, wie Dom Claude leise sagte:
>Diesen Hiob hier im Blaugestein hat Bischof Wilhelm ausmeißeln lassen. Unter Hiob dachte er sich den Stein der Weisen, der geprüft und gepeinigt werden muß, damit er die Vollkommenheit erreichen kann.<
>Sehr interessant<, dachte Johannes. >Aber die Börse ist mir lieber als der Stein der Weisen.<
Im gleichen Augenblicke hörte er hinter sich eine helle, militärische Stimme gottsjämmerlich fluchen.
>Donner und Teufel! Beim Nabel Satans! Himmelherrgott noch einmal!<
>Holla<, rief Johannes aus. >Das kann nur mein Freund Phöbus sein!<
Beim Namen >Phöbus< fuhr der Archidiakon wie der Blitz herum, um zu sehen, wie sein Bruder freundschaftlich einen Offizier der königlichen Bogenschützen begrüßte.
Es war der Rittmeister Phöbus von Châteaupers, der vor dem Hause der Frau von Gondelaurier wie ein Heide geflucht hatte.
>Meiner Treu<, sagte Johannes, >Ihr versteht’s!<
>Der Teufel soll alles holen!<
>Warum denn das?<
>Verzeiht, Euch meine ich nicht dabei<, entgegnete der Rittmeister und schüttelte dem Studenten die Hand. >Aber wenn ich aus der sittsamen Langeweile da drinnen komme, mache ich meinem Herzen immer auf diese Weise Luft.<
Der Student war sogleich ganz Mitgefühl.
>Kommt! Setzen wir einen guten Tropfen darauf<, schlug er verständnisvoll vor.
>Mit größtem Vergnügen, aber leider habe ich kein Geld.<
>Aber ich!<
>Oho! Zeigt her!<
Gutmütig ließ Johannes den Inhalt von seines Bruders Börse klirren.
Beide kehrten bei dieser Unterhaltung der Kathedrale den Rücken und konnten daher nicht wissen, daß der Archidiakon sich bis auf wenige Schritte genähert hatte, um in Hörweite lauschend stehenzubleiben.
>Eine volle Börse in Eurer Tasche!< rief der Offizier erstaunt aus. >Das ist geradeso wirklich, wie der Mond im Wasserschaff. Man glaubt, ihn drinzuhaben, und statt dessen ist es nur eine Spiegelung. So rührt vielleicht die Prallheit Eurer Börse nur von Kieselsteinen her.<
>Seht, das sind meine Kiesel<, protzte der Student und leerte die Börse auf den Eckstein aus.
>Beim Jupiter!< rief Phöbus. >Pfennige und Heller aller Sorten. Es ist zum Blindwerden!<
Johannes bewahrte seine würdige Ruhe, während er die Münzen sortierte. Einige der Münzen waren in den Straßenkot gerollt, und Phöbus bückte sich, um sie aufzuheben.
>Pfui!< hielt ihn Johannes zurück. >Das ist nicht standesgemäß für den Rittmeister von Châteaupers.<
Als der horchende Archidiakon diesen vollen Namen des Offiziers vernahm, machte er sich geistig eine besondere Notiz.
Die beiden Freunde hatten inzwischen das Geld gezählt. >Dreiundzwanzig Pariser Sols<, verkündete Johannes triumphierend das Resultat.
>Wen habt Ihr erschlagen?< fragte Phöbus.
>Niemanden<, entgegnete Johannes stolz. >Man hat einen Bruder, der Archidiakon und ein gutmütiger Mensch ist.<
>Ein höchst ehrenwerter Herr<, lobte der Rittmeister.
>Wir wollen auf seine Gesundheit trinken.<
>Famos! Wo? Im ‘Apfel der Eva’?<
>Nein. Lieber in der ‘Alten Weisheit’.<
>Bei der ‘Eva’ ist der Wein besser.<
>Also meinethalben. Auf zur ‘Eva’!< rief der Student übermütig und schob seinen Arm unter den des Offiziers. Und die beiden Freunde machten sich unverzüglich auf den Weg.
Der Archidiakon folgte ihnen von weitem nach.
Seit er den Namen Phöbus gehört hatte, war er ganz die Beute seiner Leidenschaft. >Ist das der Phöbus?< fragte er sich unaufhörlich. >Ist das derselbe verfluchte Name, den Gringoire erwähnt hat?<
Obgleich er sich darauf natürlich keine positive Antwort geben konnte, wirkte der Name auf ihn mit magischer Kraft. Er mußte herausbekommen, ob dies der von Esmeralda gemeinte Phöbus war. Daher schlich er den beiden Zechbrüdern nach, in der Hoffnung, vielleicht einen Anhaltspunkt erfahren zu können.
Es war übrigens kein Kunststück, die Unterhaltung der beiden Leichtfüße zu belauschen. Sie sprachen ganz ungeniert und laut, als ob sie allein auf der Welt gewesen wären. Sie unterhielten sich von Wirtshäusern, Dirnen, Zweikämpfen und betrunkenen Possen, ohne sich daum zu kümmern, daß sie jeden Passanten zum Mitwisser ihrer Geheimnisse machten.
Gefolgt vom Archidiakon, waren sie an einer Straßenecke angelangt, als ihnen der Lärm eines baskischen Tamburins entgegenklang:
>Donnerwetter, schnell!< rief der Offizier.
>Warum?<
>Damit mich die Zigeunerin nicht sieht!<
>Welche Zigeunerin?<
>Die Kleine mit der Ziege.<
>Esmeralda?<
>Ganz recht, dieselbe. Den vertrackten Namen vergesse ich immer wieder! Kommt! Es ist mir peinlich, wenn sie mich auf der Straße anspricht.<
>Wie kommt sie dazu? Kennt Ihr sie?<
Hier sah der Archidiakon grimmig, wie Phöbus statt einer Antwort lächelte und dann dem Studenten etwas ins Ohr flüsterte.
Auf diese Weise entging dem Horcher eine für ihn besonders wichtige Mitteilung, und die Qual der Eifersucht erfaßte ihn mit doppelter Heftigkeit, als er das triumphierende Lachen des Rittmeisters und das erstaunte >Wirklich?< seines Bruders als nächstes hörte.
>Bei meiner Seele!< versicherte Phöbus.
>Heute abend?<
>Ganz richtig. Heute abend.<
>Ob sie aber auchkommen wird?<zweifelte der Student.
>Seid Ihr simpel? Sie brennt doch darauf!<
>Glücklicher Phöbus!<
Die Zähne des Archidiakons klirrten in kalten Fieberschauern. Er mußte sich wie ein Trunkener einige Augenblicke auf einen Eckstein stützen, bevor er den beiden Zechgenossen weiter folgen konnte. Als er sie wieder eingeholt hatte, war von Esmeralda keine Rede mehr.
Die beiden trinkfreudigen Kehlen sangen eben den Gassenhauer: >Die kleinen Schufte hängt man, die großen werden hoch geehrt!<
Der geheimnisvolle Mönch
Das in Studentenkreisen berühmte Wirtshaus >Zum Apfel der Eva< war ein Eckhaus an zwei belebten Straßen des Universitätsviertels. Das ganze Erdgeschoß des Gebäudes war ein großer, niedriger Saal, dessen Deckenwölbung mit ihren Mittelbogen auf einem massiven Holzpfeiler ruhte.
Überall standen Tische umher. Die Wandborde waren mit zahlreichen Zinnkrügen besetzt, Nach den Straßen zu öffneten sich Glasfenster. Neben der Türe stand ein Weinstock. Darüber befand sich das Wahrzeichen des Hauses, eine Weibsfigur mit einem Apfel, auf eine Eisenplatte gemalt, die von einem horizontal herausstehenden Eisenstabe herabhing und, wie eine Wetterfahne knarrend, vom Winde bewegt wurde. Trinker und Mädchen waren im Überflusse vorhanden.
Als die Nacht herabsank, leuchteten die hellen Wirtshausfenster wie Schmiedeessen auf die finsteren Straßen hinaus. Und da einige der Fenstergläser zerschlagen waren, konnte man den ganzen, aus Flächen, Streitereien und Bechergeklirr bestehenden Zecherlärm deutlich heraushören. Mit dem Gezänk und Gelächter drangen auch unaufhörlich warme Dunstschwaden aus dem menschenüberfüllten Raum, besonders stark aber dann, wenn bei dem unablässigen Kommen und Gehen der Gäste die Türe aufgerissen wurde.
Die an diesen Betrieb gewöhnten Straßenpassanten eilten vorüber, ohne mehr als einen flüchtigen Blick auf das Gasthaus zu verschwenden. Höchstens, daß sich ab und zu ein frecher Gassenjunge aufs Fensterbrett schwang, um ein höhnisches >Saufaus!< hineinzuschreien und dann schleunigst Fersengeld zu geben.
An diesem Abende aber promenierte unermüdlich ein einzelner Mann vor dem Wirtshause auf und ab. Beim jedesmaligen Vorüberkommen blickte er durch eines der Fenster in den Wirtssaal hinein, als ob er sich von der Anwesenheit einer bestimmten Person überzeugen wollte. Dieser sonderbare Schildwachposten war bis an die Nase in einen dunklen Mantel gehüllt, den er sich kurz vorher bei einem Trödler gekauft hatte, sei es, um sich gegen die Kälte der Märznacht zu schützen, sei es, um nicht erkannt zu werden. Nach jedem der erwähnten Blicke stampfte er mit dem Fuße auf, um dann seinen Hinundhermarsch wieder aufzunehmen.
Endlich schien seine Geduld von Erfolg gekrönt zu werden. Wieder einmal öffnete sich die Wirtshaustüre und zwei Zecher traten heraus, deren weinlustige Züge von dem Innenlichte rötlich beleuchtet wurden.
Bei ihrem Anblicke querte der einsame Aufpasser auf die andere Straßenseite hinüber, um sich dort in den tiefsten Schatten der Häuserwand zu drücken.
>Donner und Teufel<, schrie einer der Zecher. >Sieben Uhr! Es ist Zeit für mein Stelldichein!<
>Ihr seid gehörnt wie ein Eichhorn, wenn Ihr daran glaubt<, brüllte der andere, der anscheinend gut geladen war.
>Ihr seid besoffen<, versicherte ihm sein Genosse.
>Diese Behauptung macht Euch Spaß, Phöbus<, grölte der Student schwankend. >Ich aber behaupte, daß Plato das Gesicht eines Jagdhundes hatte.<
Der Rittmeister gab weiter keine Antwort und bemühte sich, als der Trinkfestere, den Zickzackkurs zu mildern, den der an seinem Arme hängende Student einschlug. Der einsame Mann im Mantel folgte vorsichtig in Hörweite nach, wobei er sich stets im Dunkeln hielt.
>Zum Teufel, Herr Baccalaureus, bemüht Euch doch ein wenig, gerade zu gehen. Ich muß Euch leider allein lassen. Es schlägt sieben, und das Mädchen wartet auf mich<, sagte endlich der Rittmeister.
>Haha<, lachte der andere, ohne auf die Worte des Gefährten zu hören. >Wer einmal auf einem Bären geritten ist, kennt keine Furcht!<
>Bei den Warzen meiner Großmutter, rafft Euch ein wenig zusammen, Johannes!<
>Hoho! Laßt mich nur ruhig aus! Ich sehe Sterne und feurige Lanzen! Und Ihr seid das Schloß Dammartin, das vor Lachen zerbirst.<
>Das heiße ich mit Ausdauer Unsinn schwafeln! Aber meinetwegen. Sagt, habt Ihr noch übriges Geld?<
>Herr Rektor, es ist kein Zweifel daran…<
>Hört, Johannes, alter Bursche. Ihr wißt, daß ich um sieben Uhr bei der St.-Michaels-Kirche sein muß. Der Kleinen wegen. Die Kupplerin Falourdel hat gleich an der Brücke ihr Haus, und ich muß bei ihr das Zimmer bar bezahlen. Aber die alte Weißbartvettel gibt mir keinen Kredit. Also pumpt mir das Nötige aus Eurer Börse, vorausgesetzt, daß wir nicht alles versoffen haben.<
>Eine gute Zeitanwendung ist eine gute Tafelwürze<, dozierte lallend Johannes, ohne seinen Gefährten zu verstehen.
>Bauch und Darm! Zum Satan hinein! Johannes, Teulskerl! Habt Ihr noch ein paar Sols? Her damit, oder ich durchsuche Euch wie den gottseligen Hiob.<
>Herr Dekan, erlaubt mir Euch aufzuklären…<
>Der Bursche ist rein des Teufels! Was mache ich mit ihm?<
>Achtung. Es steigt ein Lied: Wenn die Ratten die Katze fressen…<
>Verdammter Schüler des Antichrist<, fluchte der Rittmeister. >Dich hätte man in den Gedärmen deiner Mutter erdrosseln sollen!<
Mit diesen Worten ließ er den betrunkenen Studenten gegen die Mauer fallen, wo dieser taumelnd auf das Pflaster niederglitt.
Mit der gutmütigen Kameradschaft des Trinkgenossen rollte der Rittmeister den wie tot Daliegenden an den Eckstein heran, um sein Haupt auf dieses von der Vorsehung für die Armen gestiftete Ruhekissen zu betten. Hier befand sich auch ein Kehrichthaufen aus Kohlstrünken und anderem Zeug, so daß der Betrunkene nicht auf das bloße Pflaster zu liegen kam. Anscheinend fühlte er sich hier ganz behaglich, da er sogleich laut zu schnarchen begann.
Der Rittmeister sah nun ein, daß mit Johannes nichts mehr anzufangen war. Er ließ ihn daher liegen, wie er war, um seinem Stelldichein zuzueilen.
Der Mann im Mantel stand einen Augenblick bei dem schlafenden Studenten still, wie unentschlossen, ob er sich seiner annehmen sollte oder nicht. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und wandte sich, um den Rittmeister nicht aus dem Auge zu verlieren.
Dieser bemerkte alsbald, daß er verfolgt wurde. Und als die ihm nachschleichende Schattengestalt zu nahe kam, blieb er stehen und machte Front. Sofort machte auch der Verfolger halt, was den Offizier jedoch nicht sonderlich beunruhigte.
>Bah, ich habe nicht einen Sol bei mir<, dachte er.
Damit schritt er sporenklirrend weiter, bis er an das Kollegium Autun gelangte, in welchem er als Jüngling das betrieben hatte, was seiner Meinung nach >Studieren< gewesen war. Jedenfalls hatte er das Haus in wenig angenehmer Erinnerung, und er versäumte daher nie, seinem Ärger in einer eigenartigen Weise Ausdruck zu geben, sooft ihn seine nächtlichen Streifereien daran vorüberführten. Auch diesmal trat er an die an der Fassade befindliche Statue des Kardinals Bertraud heran, um an ihr sein Bedürfnis zu verrichten. Dabei entwickelte er einen solchen Eifer, daß die Sockelinschrift ganz überschwemmt wurde.
Während er seine Nesselschnüre wieder zuband und dabei allein inmitten der einsamen Straße stand, bemerkte er, daß der ihn verfolgende Schatten mit so ruhiger Langsamkeit auf ihn zukam, daß er denselben mit Muße betrachten konnte. Es war aber außer Mantel und Hut nicht viel zu sehen.
Als der Schatten in die Nähe des Offiziers gekommen war, blieb er regungslos wie eine zweite Kardinalstatue stehen. Dabei heftete er aus dem schmalen Spalt zwischen Hut und Mantelkragen heraus auf Phöbus einen stechenden Blick, in welchem das unheimliche Flackern von Katzenpupillen lag.
Der Rittmeister war nicht nur von Berufs wegen ein mutiger Mann, und ein mit einem Knüppel heranspringender Verbrecher würde ihn nicht aus dem Gleichgewichte gebracht haben.
Aber beim Anblicke dieses zu Stein erstarrten Nachtwandlers mit den unheimlichen Augen wurde das Blut in seinen Adern kalt.
Es zirkulierten damals allerhand Gruselgeschichten über einen Gespenstermönch, den man mehrfach in den dunklen Straßen gesehen haben wollte. Und dem Übernatürlichen gegenüber versagte der sorglose Kriegermut.
Um sich selbst zu beruhigen, brach Phöbus in ein erzwungenes Lachen aus, das seltsam hohl erklang.
>Herr<, sprach er den Unbekannten an, >wenn Ihr ein Bandit seid, verliert Ihr nur Eure Zeit mit mir! Haltet Euch lieber an die Kapelle im Kollegium nebenan. Da findet Ihr genug Silberzeug.<
Da fuhr der Arm des Nachtwandiers wie der eines Polypen aus der Mantelhülle hervor und erfaßte den Arm des Offiziers mit der zwingenden Kraft einer Adlerklaue.
>Rittmeister Phöbus von Châteaupers!<
>Holla! Ihr kennt meinen Namen?<
>Nicht nur das<, fuhr die Grabesstimme fort. >Ich weiß auch, daß Ihr zu einem Stelldichein geht.<
>In der Tat?<
>Fur sieben Uhr23 .<
>Was Ihr nicht sagt!<
>Bei der Falourdel.<
>Hol’ Euch der Teufel!<
>Der Kupplerin.<
>Ihr seid präzis wie der Erzengel Michael beim Vaterunserbeten!<
>Gottloser Mensch!<
>Meinethalben!<
>Mit einem Weib!<
>Mit was sonst?<
>Namens…<
>Esmeralda, ganz richtig.<
Dem Rittmeister war bei dieser Wechselrede seine ganze Sorglosigkeit zurückgekehrt.
Als der Name der Tänzerin fiel, schüttelte der Unbekannte den Arm des jungen Mannes wie einen Obstzweig.
>Lügner!< brüllte er dazu.
Das wirkte auf den Offizier wie ein Peitschenhieb. Mit einem Satze rückwärtsschnellend, riß er sich aus dem Zangengriff des Fremden los, sein Pallasch fuhr gleichzeitig aus der Scheide hoch in die Luft, und funkelnden Blickes schrie er mit Donnerstimme:
>Hölle und Satan! Das mir? Einem Châteaupers!<
Es ging ihm aber wie Don Juan vor der steinernen Statue des Kommodore. Die düstere Unbeweglichkeit des Gegners lähmte seinen schlagbereiten Arm.
>Lügner<, wiederholte der Unheimliche ganz kalt, ohne nur mit einer Wimper zu zucken.
Der Pallasch zitterte in der Hand des vor Wut erstickenden Offiziers.
>Zieht vom Leder<, knirschte er heraus. >Zieht!<
>Ihr vergeßt Euer Stelldichein<, entgegnete der andere trocken.
Da sank die Pallaschspitze klirrend auf das Straßenpflaster. Es war, als ob ein kalter Wassertropfen in überkochende Milch gefallen wäre.
>Rittmeister<, fuhr der Unbekannte in bitterem Tone fort. >Erledigt Euer Stelldichein! Dann sollt Ihr mich bereit finden, Euch die Kehle abzuschneiden.<
>In der Tat<, sagte Phöbus, dessen sanguinisches Temparament sich ebenso rasch beruhigte, wie es aufgebraust war. >Erst das eine, dann das andere. Ein ganz nettes Doppelabenteuer für eine Nacht.<
Und er stieß den Pallasch in die Scheide zurück.
>Laßt Euch nicht länger aufhalten<, sagte der Fremde kühl.
>Herr, vielen Dank für Eure Artigkeit<, entgegnete der Rittmeister mit einiger Verlegenheit. >Unsere Kadaver können wir uns ebensogut morgen zerschlitzen, da habt Ihr recht. Es ist dies kein Grund, um eine angenehme Viertelstunde zu versäumen. Die Sache hat nur einen verdammten Haken. Das Stelldichein nützt mir verdammt wenig, weil ich nicht weiß, wohin ich mit der Kleinen gehen soll.<
>Da habt Ihr Geld für die Kupplerin. Wir rechnen dann schon ab.<
Verblüfft fühlte der Offizier, wie ihm der sonderbare Gegner ein großes Geldstück in die Hand drückte. Dann lachte er heraus:
>Beim Papst! Ihr seid ein eigenartiger Kauz!<
>Nicht so ganz. Ihr habt eine Behauptung aufgestellt, und ich habe sie angezweifelt. An mit ist es daher, Euch Gelegenheit zum Wahrheitsbeweise zu geben. Zeigt mir, daß Ihr wirklich das bewußte Stelldichein habt, indem Ihr mir Gelegenheit gebt, mich mit eigenen Augen zu überzeugen. Mietet die Kammer bei der Kupplerin derart, daß ich aus einem Verstecke sehen kann, ob es tatsächlich das von Euch genannte Mädchen ist.<
>Meinetwegen, wenn Euch sonst nichts interessiert! Ich werde das sogenannte Zimmer der heiligen Martha nehmen. Da könnt Ihr durch ein Loch, vom Nebenraume aus, alles sehen, was geschieht.<
>Abgemacht<, entgegnete der Schatten.
>Also vorwärts! Mensch oder Teufel, heute abend wollen wir Freunde sein. Morgen will ich Euch meine Schulden mit Gold und Eisen zahlen.<
Ohne weiter Zeit zu verlieren, eilten die beiden seltsamen Gefährten gegen das Rauschen zu, welches die Nähe der St.-Michaels-Brücke verkündete. Diese sah im übrigen mehr wie eine Straße aus, da sie an beiden Seiten von Häuserreihen besetzt war.
>Zuerst führe ich Euch zu der Kupplerin, und dann hole ich die Schöne<, schlug der Rittmeister vor.
Da der andere keine Antwort gab, pochte Phöbus mit dem Säbelknauf gegen eine niedrige Türe, durch deren Spalten ein Lichtschein sickerte.
>Wer ist’s?< kreischte es von drinnen.
>Macht auf, altes Stinktier!< brüllte der Rittmeister zurück.
>Beim Leibe Gottes!<
>Und bei seinen Gebeinen!< ergänzte Phöbus. >Macht endlich auf, zum Teufel hinein!<
Da öffnete sich zögernd die Türe und zeigte ein zitterndes, altes Weib mit einem ebenso zitternden Licht.
Es war eine in schmierige Lampen gehüllte, vom Alter gekrümmte Vettel, die mit dem Kopfe wie eine Pagode wackelte. Ihr zahnloser, runzeliger Mund war von einem weißen Katzenbart umgeben, was ihr im Verein mit den funkelnden Augen ein hexenmäßiges Aussehen verlieh.
Das Innere der Hütte war ebenso verfallen und vernachlässigt wie die Bewohnerin selbst. Die Deckbalken rauchgeschwärzt, der Kamin eingestürzt, Staub und Spinnweben überall. In der Asche des Herdes saß ein schmutziges Kind, welches die Eintretenden blöde anblinzelte. Im Hintergrunde des einzigen Raumes des Erdgeschosses führte eine Holzstiege zu einer Falltüre hinauf, durch die man in den 0berstock gelangen konnte. Beim Betreten dieser Lasterhöhle zog der Begleiter des Rittmeisters den Mantelkragen noch höher hinauf.
Phöbus dagegen benahm sich wie zu Hause.
>Das Zimmer der heiligen Martha<, befahl er, wobei er den Taler des Unbekannten im Lichte blinken ließ.
Die Megäre griff zunächst nach dem Geld.
>Vielen Dank, gnädiger Herr<, grinste sie mit ihrer widerlichen Fresse. Dann humpelte sie mit dem Geldstück zu einer Truhe, in deren Schublade sie es verwahrte. Kaum aber hatte sie sich wieder umgewandt, als auch schon der Knabe aus der Herdasche zu der Lade schlich und unbemerkt den Taler mit einem trockenen Baumblatt vertauschte, welches er von einem neben dem Herde liegenden Reisigbündel abgerissen hatte. Den Taler aber grub er flink in die Asche ein.
Währenddessen war Phöbus, gefolgt von seinem Schatten, auf die Holzstiege zugeschritten, um dieselbe hinaufzusteigen. Nachdem außer den beiden Männern auch die Alte und die Lampe oben angelangt waren, befanden sie sich auf einem schmalen Gange, auf den einige Kammertüren mündeten.
Die Vettel öffnete nun das sogenannte Zimmer der heiligen Martha, wozu sie eine gastlich einladende Handbewegung machte.
Phöbus aber nahm ihr die Lampe ab und hieß sie die Stiege wieder hinuntersteigen. Nachdem er dann den Unbekannten in der verabredeten Weise verborgen hatte, folgte er der Alten mit der Lampe nach.
Ein Opfer der Leidenschaft
Alleingeblieben, sah sich Dom Claude in seinem Verstecke um. Es war einer jener Verschläge, wie sie bei Bodenraumbauten zwischen Dach und Stützmauer übrigbleiben. Die Dachneigung verhinderte ein aufrechtes Stehen, und da weder Fenster noch Luke vorhanden war, ließ auch die Güte der darin enthaltenen Luft zu wünschen übrig.
Der Archidiakon kauerte sich in den Staub und Kehricht dieses Loches nieder, und als er da mit den Fingern herumtastete, fand er einen großen Glasscherben, den er flach an seine heiße Stirne drückte, um ihrer Fieberglut etwas Kühlung zu verschaffen.
So wartete er, von allen Qualen leidenschaftlicher Eifersucht zerrissen, etwa eine Viertelstunde, die ihm wie ein Jahrhundert erschien.
Endlich hörte er die Holzstiege knarren, die Falltüre wurde zurückgeklappt, und ein aus dem Zimmer der heiligen Martha kommender Lichtstrahl verriet dem Lauscher, daß Phöbus zurückgekommen war.
Sogleich legte der Archidiakon sein Auge an das Guckloch und sah neben der Alten mit dem Katerbart den Rittmeister und die schöne, reizende Gestalt Esmeraldas stehen.
Zitternd fühlte Dom Claude, wie sich ein Nebel über seine Augen legte. Seine Pulse dröhnten und tobten, in seinen Ohren schien sich ein tosendes Rauschen immer mehr und mehr in der Ferne zu verlieren, bis er bewußtlos zusammensank.
Als er wieder zu sich kam und seinen Lauscherposten erneut beziehen konnte, erblickte er Phöbus und Esmeralda allein. Die beiden jungen und schönen Menschenkinder saßen im Scheine der Lampe nebeneinander auf einer Truhe, die neben einer unordentlichen Bettstelle stand.
Von hier schweifte der Blick des Archidiakons an ein dahinterliegendes Fenster, durch dessen zerbrochene Buzenscheiben ein Stück mondbeleuchteten Himmels sichtbar war.
Man sah es der jungen Tänzerin an, daß sie sich zum ersten Male in einer derartigen Situation befand. Schamröte lag auf ihren zarten Wangen, auf die sich die langen Wimpern niedersenkten. Sie wagte gar nicht, ihren Blick zu dem verlangenden ihres Galans zu erheben. Mechanisch zeichnete sie in reizender Verlegenheit mit der Fingerspitze imaginäre Figuren auf den Deckel der Truhe. Ihr zu Füßen kauerte die Ziege, deren vergoldete Hufe und Hörner mit den Goldpuffen an Hals und Handgelenken des jungen Kavaliers um die Wette glitzerten.
Das Rauschen in Dom Claudes Ohren war noch immer so heftig, daß er nur mühsam der Unterhaltung des Liebespaares folgen konnte. Es war dies hauptsächlich ein Austausch des alltäglichen und doch immer wieder neuen >Ich liebe dich<, dessen zahlreiche Varianten für einen Dritten langweilig sind, mögen sie mit noch soviel Koseworten verbrämt sein. Aber Dom Claude war kein unbeteiligter Dritter, sondern ein in seiner tiefsten Leidenschaft verwundeter Rivale.
Nachdem der erwähnte Gesprächsstoff aller Liebespaare in allen seinen Fällen abgewandelt werden war, wandte sich die Unterhaltung einem mehr sachlichen Thema zu.
>Ach<, stammelte das junge Mädchen, >ich fühle, daß ich unrecht tue, hier zu sein. Verachtet mich nicht deshalb!<
Phöbus machte eine Geste weltmännisch-überlegener Galanterie:
>Potztausend! Warum sollte ich Euch verachten, schönes Kind?<
>Weil ich hierher gekommen bin.<
>Da müßte ich Euch eher hassen!<
>Warum?< fragte das Mädchen, aufs höchste erschreckt.
>Weil Ihr Euch so lange bitten ließt!<
>Wenn Ihr wüßtet, was mich dies gekostet hat! Ich bin einem Gelübde untreu geworden! Die Kraft meines Amuletts zerstöre ich! Meine Eltern werde ich nie wiedersehen! Aber was tut’s! Ich bedarf jetzt keiner Eltern mehr!<
Freude und Zärtlichkeit lagen in ihren großen, feuchten Augen.
>Der Teufel soll mich holen, wenn ich Euch verstehe<, entgegnete Phöbus.
Die Tänzerin schwieg einige Augenblicke, während eine Träne langsam über ihre Wange hinabrollte. Dann stieß sie einen tiefen Seufzer aus.
>Gnädiger Herr<, sagte sie. >Ach, ich liebe Euch so sehr!<
Phöbus hatte sich bereits in der von dem jungen Mädchen ausgehenden Atmosphäre von Reinheit höchst unbehaglich gefühlt. Die letzten Worte Esmeraldas gaben ihm wieder Mut.
>Ihr liebt mich!< rief er und legte den Arm mit leidenschaftlicher Gebärde um ihren Leib.
Als der Archidiakon dies sah, zog er einen langen Dolch und prüfte die Schärfe seiner Spitze mit dem Finger.
Aber die Tänzerin machte sich sanft wieder los.
>Phöbus<, sagte sie mit bebender Stimme, >Phöbus, seid edel und gut! Ich bin nur ein armes, unter Zigeunern aufgewachsenes Mädchen, das Euch für seine Rettung vor einem Unholde dankbar ist. Immer habe ich von einem schönen Offizier geträumt und Euch schon geliebt, bevor ich mit Euch bekannt wurde. Ihr gleicht so sehr meinem Traumbilde, mit Eurem stolzen Kriegerschwert. Laßt es mich sehen!<
>Kindskopf<, lächelte der Hauptmann, den Pallasch aus der Scheide ziehend.
Mir reizender Neugier nahm Esmeralda die blanke Waffe entgegen. Sie betrachtete aufmerksam Griff und Klinge und buchstabierte den auf dem Stichplatte eingravierten Namenszug.
>Phöbus von Châteaupers! Welch schöner, stolzer Name!<
Und sie küßte den Pallasch, während sie sprach:
>Du bist eines Tapferen Schwert. Ich liebe deinen und meinen Herrn.<
Diese Gelegenheit benutzte Phöbus, um seinerseits einen Kuß auf den schönen, niedergebeugten Nacken zu drücken. Rot wie eine Kirsche fuhr Esmeralda empor.
Der heimliche Lauscher knirschte mit den Zähnen dazu. >Phöbus! Geht einmal auf und ab, damit ich Eure schöne Gestalt sehen und Euer Sporenklirren hören kann<, bat hierauf die verliebte Tänzerin.
Mit selbstgefälligem Lächeln gehorchte der Offizier, während er fragte:
>Habt Ihr mich schon im Paradewaffenrock gesehen, Kleine?<
>Nein, noch nicht.<
>Das müßtet Ihr sehen! Da schaue ich erst prächtig aus.<
Dann nahm er wieder neben dem Mädchen. Platz, rückte ganz nahe heran und streckte die Hand begehrlich aus.
>Süße…<
Weiter kam er nicht. Ein heftiger Klaps auf seine vorwitzige Hand schnitt ihm den Faden ab.
Aber eine versöhnende Berührung seines Mundes mit derselben Hand folgte nach, kindlicher Mutwille und Frohsinn lagen in des anmutigen Mädchens Blick.
>Liebt Ihr mich?< fragte sie dann.
>Ob ich Euch liebe<, erwiderte er pathetisch und sank vor ihr auf ein Knie.
>Mein Blut, mein Leib, meine Seele, alles ist Euer Eigentum! Ihr seid die einzige, die ich je geliebt!<
Diese leidenschaftliche Liebeserklärung war dem Rittmeister durch öftere Übung sehr geläufig, Esmeralda aber meinte den Himmel des Glückes offen zu sehen.
>Ach<, flüsterte sie, >ach! Das ist ein Augenblick, in dem man sterben sollte!<
Phöbus benutzte dies, um ihr einen Kuß zu rauhen, der dem Lauscher alle Martern der Hölle bereitete.
>Sterben<, rief er dann aus, >sterben? Was ficht Euch an, schöner Engel? Leben muß man in solchen Augenblicken, leben, sage ich Euch! Beim Horn des Stieres! Sterben, bevor die angenehme Sache noch begonnen hat. Hahal Welcher Scherz! So ist’s nicht gemeint! Hört mich an, teure Similar, äh, Esmenarda, nein…<
>Esmeralda<, sagte die Tänzerin vorwurfsvoll.
>Verdammter Sarazenenname! Verzeiht! Ich bin aufgeregt.<
>Ooh! Ich dachte immer, daß mein Name schön ist!<
>Wie ein Gestrüpp, in dem man leicht mit den Sporen hängenbleibt, hahaha!<
>Wenn er Euch mißfällt, nennt mich Goton.<
>Pah, laßt diese Nebensächlichkeit! Ich werde mir den Namen schon merken mit der Zeit! Aber jetzt hört mich an, schöne Similar! Ich bete Euch wahnsinnig an! Ich liebe Euch! Obgleich es eine Kleine gibt, die vor Wut bersten würde, wenn sie dies hörte!<
>Das schöne Präulein?< erblaßte Esmeralda vor Eifersucht.
>Laßt sie! Liebt Ihr mich?<
‘Ach!≪
≫Schön! Die Hauptsache ist also in Ordnung: Ihr liebt mich, ich liebe Euch, wir lieben uns. Mag mich der Teufel spießen, wenn man mehr für ein vollkommenes Liebesglück braucht! Ich will Euch ein hübsches Häuschen mieten und meine Bogenschützen unter Eurem Fensrer paradieren lassen. Sie sind alle beritten, Hellebardiere, Armbrustschützen und Artilleristen mit Handbüchsen. Ich werde Euch zu den großen Schaumanövern führen, die demnächst in Rully stattfinden. Achtzigtausend Mann werden da ausrücken, davon dreißigtausend Panzerreiter. Alle Standarten der Gewerke, siebenundsechzig an der Zahl samt denen des Parlaments, der Rechnungs- und der Generalschatzkammer. Es wird, mit einem Worte, ein verdammter Spaß! Und im Königsschlosse werde ich Euch die Löwen und das Rotwild zeigen. Das gefällt allen Weibern gut!≪
Das junge Mädchen träumte glückselig vor sich hin, ohne auf seine Worte besonders achtzugeben.
≫Glücklich sollt Ihr sein≪, rief der Rittmeister, wobei er ihr sachte den. Gürtel löste.
Da fuhr sie aus ihren Träumereien auf.
≫Was tut Ihr?≪ rief sie erregt.
≫Nichts≪, entgegnete er verblüfft zurückfahrend. ≫Ich wollte nur sagen, daß Ihr dann diese auffällige Kleidung aufgeben müßt.≪
≫Ich werde es tun, wenn ich bei Euch sein werde, Phöbus≪, entgegnete sie zärtlich.
Ihre Sanftmut machte den Jüngling wieder dreist. Er umfaßte sie leidenschaftlich und, da er keinen Widerstand fand, begann er ihr Mieder aufzuschnüren, wobei er ihr Busentuch so tief herabzog, daß der keuchende Priester die schöne Rundung ihrer nackten, braunen Schultern aus der Spitzenhülle wie den Mond aus den Nebeln des Horizonts hervortreten sah.
Esmeralda ließ ihren Galan gewähren. Augenscheinlich befand sie sich in einer derartigen Erregung der Gefühle, daß sie gar nicht merkte, was mit ihr geschah.
≫Phöbus≪, sagte sie plötzlich, ≫Ihr müßt mich in Eurer Religion unterweisen.≪
≫In meiner Religion≪, lachte der Rittmeister verdutzt heraus. ≫Donner und Blitz, das gebt Ihr gut! Meine Religion? Was wollt Ihr mit der beginnen?≪
≫Wenn wir heiraten, muß ich doch Euren Glauben teilen.≪
Das Gesicht des Rittmeisters war ein Bild zum Malen. Mit offenem Munde sah er Esmeralda an.
≫Wer will denn heiraten?≪ fragte er schließlich, mit einem sonderbaren, aus Überraschung und Verachtung, aus zügelloser Leidenschaft und Gleichgültigkeit gemengtem Gesichtsausdruck.
Esmeralda ließ ihr erblaßtes Haupt sinken.
≫Schönes Liebchen≪, redete ihr Phöbus zärtlich zu, ≫setzt Euch keine solche Flausen in den Kopf. Hat das etwas mit der Liebe zu tun, daß ein Pfaff seinen lateinischen Hokuspokus dazugibt?!≪
Dabei drängte er sich ganz an Esmeralda heran, während seine liebkosenden Hände ihren Leib betasteten und dadurch seine eigene Leidenschaft immer wilder entflammten.
Sein sprühendes Auge zeigte, daß der Angriff des Manntieres nicht mehr ferne war.
Der sein Leben lang zu klösterlicher Keuschheit verurteilt gewesene Priester kochte bei dieser Szene bevorstehender Liebeslust. Mit einem aus Wut und Wollust gemischten Gefühle verfolgte er die Entkleidung des Mädchens und die geschichten Bewegungen der geübten Männerhand. Dabei blitzte in seinen geröteten Augen das Leuchten des Schakal.s, der sich zum Sprunge auf eine Gazelie duckt.
Mit einer raschen Bewegung nahm Phöbus der Tänzerin Busentuch ab und entblößte dadurch ihre herrliche Büste ganz. Als Esmeralda dies gewahrte, flüchtete sie in die entfernteste Zimmerecke, wo sie tief errötend die Arme über ihre Blöße kreuzte. Ärgerlich betrachtete sie der enttäuschte Galan, wobei sein Blick auf das freigelegte Amulettsäckchen fiel.
≫Was ist das?≪ fragte er, um einen Vorwand der Annäherung zu haben.
≫Nicht berühren!≪ rief sie lebhaft. ≫Es ist mein Talisman! Mit ihm kann ich meine Eltern finden, wenn ich dessen würdig bleibe. O Mutter! Wo bist du? Hilf mir! Herr Phöbus, Gnade! Gebt mir mein Busentuch wieder!≪
≫Ihr liebt mich also nicht!≪ erwiderte er, einigermaßen ernüchtert.
Dies löste bei Esmeralda die gegenteilige Wirkung aus.
≫Ich Euch nicht lieben?≪ rief sie und warf sich an seinen Hals. ≫Böser Mann! Nehmt mich und macht, was Ihr wollt! Aber sagt nicht, daß ich Euch nicht liebe! Was schiert mich der Talisman! Was Vater und Mutter! Ihr seid mir beides zugleich! Mit Seele und Leib gehöre ich Euch! Auch ohne Heirat! Ich war wohl verrückt! Ich, die arme Waise und Tänzerin! Ihr, der glänzende Edelmann und Offizier! Es ist ja klar, daß Ihr mich nicht heiraten könnt! Nehmt mich hin und laßt mich Eure Geliebte sein!≪
Ihr schöner Leib war so innig an den des Offiziers gepreßt, daß diesem der heiße Rausch zu Kopfe stieg. Schon war er daran, mit der Geliebten in einem Meere der Wonnen zu versinken, als er eine fahle, gelbe Fratze vor seinem leidenschaftumnebelten Blicke auftauchen sah. Eine tückische Klinge blitzte durch die Luft, Esmeralda stieß einen gellenden Schrei aus, und mit einem ≫Verdammt!≪ brach der Rittmeister zusammen. Über ihm fiel die entsetzte Tänzerin ohnmächtig hin. Noch in den leuten Wellen des Bewußtseins meinte sie einen glühenden Kuß, sengend wie das Brandmal eines Henkers, auf ihren Lippen zu fühlen.
Als sie wieder zu sich kam, sah sie sich von Mannschaften der Scharwache umgeben, während der in seinem Blute schwimmende Rittmeister auf eine Tragbahre gehoben wurde. Der Mörder war verschwunden, und nur am Fenstersims lag der dunkle Mantel, der den Weg seiner Flucht verriet.
Und an ihr sausendes Ohr schlugen wie aus weiter Ferne die entsetzlichen Worte:
≫Das ist die Hexe, die den Rittmeister ermordet hat.≪
Teil VII
7
Der Hexentaler
Peter Gringoire und der ganze Wunderhof befanden sich in der größten Sorge um Esmeralda, von der man schon über einen Monat lang nichts gehört hatte. Ebensowenig wußte man, was aus ihrer Ziege geworden war, was insbesondere den Schmerz Gringoires verdoppelte. Vergeblich hatten sämtliche Bettler auf Bitten des betrübten Herzogs von Ägypten ganz Paris nach ihr durchstöbert. Alle Nachforschungen waren vergeblich geblieben.
Wohl hatte man festgestellt, daß sie an einem der letzten Märzabende an der St.-Michaels-Brücke mit einem Offizier gesehen worden war. Aber es hatte sich nicht erkunden lassen, wohin sie diesen begleitet hatte.
Über diese Mitteilung regte sich der Ägypterherzog ganz besonders auf, während Peter als nächstbeteiligter Ehemann die Sache ziemlich kühl nahm. Er hielt die Unschuld Esmeraldas im Schutze ihres Aberglaubens und Talismans gesichert, und zudem war er eitel genug, um an den Erfolgen eines anderen da zu zweifeln, wo er selbst abgewiesen werden war. In seinen Augen gab es nach wie vor keinen Zweifel an Esmeraldas Jungfernschaft.
Um so weniger konnte er sich einen Vers auf ihr Verschwinden machen. Und das Rätselhafte an der Sache machte seinem mathematischen Hirne mehr Kummer als das Verschwinden der Tänzerin selbst.
Wenn es möglich gewesen wäre, würde er darüber noch magerer geworden sein, als er ohnehin schon war.
Über diesen Grübeleien vernachlässigte er sogar seine Arbeiten an dem großen Werke ≫Über regelmäßige und unregelmäßige Figuren≪, welches er im Druck erscheinen lassen wollte, sobald er das hierfür nötige Geld haben würde.
Als er nun eines Abends trübselig am Kriminalgefängnisse vorbeiflanierte, gewahrte er die Ansammlung einer großen Menschenmenge vor einer der Türen des Justizpalastes.
≫Was ist hier los?≪ fragte er einen herauskommenden jungen Mann.
≫Ich weiß es nicht genau. Vielleicht wird über die junge Frau geurteilt, die einen Offizier erdolcht haben soll. Scheinbar steckt Hexerei hinter dieser Geschichte, weil sich der Bischof und das heilige Offizium eingemischt haben. Mein Bruder, der Archidiakon von Josas, behauptet es steif und fest, daß die Weibsperson eine Hexe ist. Ich wollte gerade mit ihm sprechen, weil ich dringend Geld brauche.≪
≫Das ist ganz mein Fall≪, lächelte Gringoire, ohne zu verraten, daß er mit dem Archidiakon bekannt war. Er genierte sich, weil er seit der Unterredung in der Kathedrale nicht mehr zu seinem ehemaligen Lehrer gekommen war.
Der Student eilte weiter, und Gringoire schloß sich dem Menschenstrome an, der nach dem großen Verhandlungssaale floß. Dabei leitete ihn kein besonderes Interesse für den erwähnten Hexenprozeß, aber er meinte, daß es kein besseres Mittel gegen melancholische Anwandlungen geben konnte, als bei einem Kriminalprozeß die Albernheiten anzuhören, welche die Richter dabei verlauten ließen.
Es war eine starke Zuschauermenge, die sich sonderbar schweigsam und schrittweise vorwärtshob. Der Weg führte durch einen langen, engen Gang an eine niedrige Türe, durch die man in den Gerichtssaal gelangte.
Infolge seiner Größe konnte Peter den Verhandlungssaal leicht über die Köpfe der Menge hinweg übersehen. Es war ein großer Raum, den seine Düsterkeit noch größer erscheinen ließ. Da der Tag zur Neige ging, fielen durch die hohen Spitzbogenfenster nur noch blasse Lichtstrahlen herein, die schon halb erloschen waren, bevor sie das ungeheure Gitterwerk der Steinwölbungen erreichten. Die hierdurch entstehenden schwankenden Schatten brachten den Eindruck hervor, daß die geschnitzten Gitterfiguren wie Lebewesen untereinanderliefen.
Auf den Tischen brannten bereits die Kerzen und warfen ihr schwaches Licht auf die Köpfe der über ihre Aktenbündel gebeugten Schreiber.
Der Vorderteil des Saales war von den Zuschauern besetzt, und an den beiden Seitenwänden standen die Richtertische, an denen Männer in Amtstalaren saßen. Im Hintergrunde befand sich eine Estrade, auf der eine größere Anzahl von Richtern mit finsteren und starren Mienen saß, deren letzte Reihen sich im Dunkeln verloren.
Sämtliche Wände waren mit unzähligen Lilien des französischen Königswappens besät. Ein Riesenaufgebot von Piken und Hellebarden vervollständigte das unerfreuliche Bild.
≫Herr≪, fragte Peter neugierig einen Nachbarn, ≫wer sind die Konziliumsprälaten, die da versammelt sind?≪
≫Zur Rechten seht Ihr die Oberkammerräte, zur Linken die Untersuchungsrichter. Jene sind die Meister in der schwarzen, diese in der roten Tracht.≪
≫Und der dicke Rote über ihnen, der so gewaltig schwitzt?≪
≫Das ist der Herr Präsident.≪
≫Und die Hammelherde im Hintergrunde?≪
Peter Gringoire hatte für einen ehrbaren Beamtenstand wenig übrig, weil er ihm die Schuld an seinem dramatischen Mißerfolge im Justizpalaste beimaß.
≫Das sind die Herren Richter von der königlichen Kassationskanzlei.≪
≫Schön. Und das Wildschwein, das vor dem roten Dickwanst sitzt?≪
≫Der Herr Gerichtsschreiber des Parlamentsgerichtshofes.≪
≫Meinetwegen. Und das Krokodil zur Rechten?≪
≫Meister Philipp Lheulier, der peinliche Kronanwalt.≪
≫Und der große Kater zur Linken?≪
≫Meister Jakob Charmolue, der Inquisitor und Prokurator des geistlichen Gerichts.≪
≫Und die Fuchsgesichter hinter ihm?≪
≫Die Herren vom heiligen Offizium.≪
≫Eine feine Versammlung. Und was tut die ganze Bande hier?≪
≫Sie richten.≪
≫In der Tat? Wo ist der Angeklagte?≪
≫Es ist kein Angeklagter, sondern eine Frau.≪
≫Wo?≪
≫Dort, sie dreht Euch den Rücken zu. Wo die vielen Hellebarden sind.≪
≫Wie heißt sie?≪
≫Das weiß ich noch nicht. Ich bin auch erst jetzt gekommen. Jedenfalls muß sie eine Hexe sein, weil die Herren vom geistlichen Gericht gekommen sind.≪
≫Nur zu. Diese Menschenfresserei ist schließlich eine Komödie wie jede andere auch.≪
≫Herr≪, begann Gringoires Nachbar nach einer Pause wieder das Gespräch, ≫findet Ihr nicht auch, daß Meister Charmolue ein sanftes Gesicht macht?≪
≫So sanft wie ein Kater, der auf eine Maus lauert≪, bestätigte Gringoire.
≫Pst≪, erscholl es da aus der Nachbarschaft.
Es wurde soeben eine sehr wichtige Zeugin vernommen, eine alte Vettel, die ein wandelndes Lumpenbündel war. ≫Gnädige Herren≪, krächzte die Falourdel, die alte Kupplerin von der St.-Michaels-Brücke, ≫die Sache ist ebenso wahr, wie ich einst ein schönes Mädchen gewesen und jetzt eine arme alte Frau bin, die pünktlich ihre Abgaben zahlt. Seit vierzig Jahren wohne ich an der St.-Michaels-Brücke, gegenüber dem Färbermeister Caillart. Schon seit einigen Tagen warnte man mich. ‘Frau Falourdel’, sagte man zu mir, ‘laßt Euer Spinnrad nicht so laut scimurren, denn der Teufel hechelt gerne in den Röcken alter Weiber.’ Das war ganz berechtigt, wenn man an den Gespenstermönch denkt, der nun schon ein ganzes Jahr lang nachts die Gassen der Altstadt durchstreift. ‘Paßt auf’, sagte man daher zu mir, ‘eines Nachts wird es an Eure Türe klopfen.’ Und richtig, da sitze ich eines Nachts an meinem Spinnrade, als es an meine Türe pocht. Ich frage, wer draußen ist. Ein gotteslästerlicher Fluch antwortet mir. Ich öffne voll Furcht, daß man mir die morsche Türe zerschlägt. Zwei Männer stehen da. Ein Schwarzer und ein schöner Offizier. Der Schwarze ließ von sich nichts sehen als zwei unheimliche Augen, die wie feurige Kohlen glänzten. Alles übrige an ihm war Hut und Mantel. Der Offizier befahl mir, ihm die Stube der heiligen Martha zu geben. Es ist ein sehr schönes Zimmer in meinem Oberstock. Dafür gaben mir die beiden einen Taler. Der war mir sehr willkommen, weil ich mir anderntags dafür Kaldaunen kaufen wollte. Wir stiegen nun in den Oberstock hinauf, dort schickte man mich weg, und dann kam der schöne Offizier allein herunter. Der Schwarze aber war verschwunden. Ich dachte mir gleich, daß dies nicht mit rechten Dingen zugeben konnte. Der schöne Offizier ging allein wieder weg, aber ich hatte kaum die Zeit zum Spinnen einer Viertelsträhne gehabt, als er auch schon wieder da war. Mit einer schönen Puppe, die wie eine geputzte Sonne glänzte. Sie hatte einen großen Bock mit sich. Ich weiß nicht mehr, ob dieser schwarz oder weiß war. Das machte mich nachdenklich. Das Mädchen ging noch an, obgleich die Kleidung ungewöhnlich war. Aber der Bock! Ich mag Böcke nicht. Mit ihrem Bart und den Hörnern haben sie so viel Ähnlichkeit mit den Männern. Und dann riecht’s in ihrer Nähe immer nach Hexensabbat. Aber ich sagte nichts. Ich hatte meinen Taler erhalten. Es war ein ordnungsgemäßes Geschäft, Herr Richter. Hier Stube, hier Taler. Ich geleitete den Offizier, das Mädchen und den Bock in das gemietete Zimmer. Vom Schwarzen war natürlich nichts mehr zu sehen.
Dann ging ich zu meinem Spinnrad zurück. Ich muß Euch da mein Haus beschreiben. Das Erdgeschoß hat nur einen Raum, und dieser hat nach rückwärts ein Fenster auf den Fluß. Wie alle die Häuser, die auf der Brücke stehen. Oberhalb dieses Fensters ist eines in der Stube der heiligen Martha, also auch nach dem Flusse zu. Wie ich so im besten Spinnen bin und mir, ich weiß nicht warum, der Schwarze, der Bock und der Gespenstermönch fortwährend im Kopfe herumgehen und zusammen nur eine Person zu sein scheinen, höre ich plötzlich einen entsetzlichen Schrei. Gleichzeitig fällt oben etwas schwer zu Boden, und gleich darauf kommt das ganze Fenster der Oberstube auf meinen Fenstersims heruntergeprasselt. Eilig reiße ich mein Fenster auf und sehe noch, wie eine schwarze Masse vor meinen Augen vorübersaust. Es war ein als Priester gekleidetes Gespenst, das mit einem Riesenplatsch in den Fluß stürzte. Ich konnte dies ganz deutlich sehen, weil der Mond hell genug schien. Das Gespenst schwamm gegen die Altstadt zu, wo der Gespenstermönch umgeht! Ich aber eilte angstbebend vor das Haus und rief so lange um Hilfe, bis die Scharwache kam. Die Herren von den Zwölfern waren gerade gut aufgelegt, und da ich mich ihnen in meinem Schreck nicht verständlich machen konnte, prügelten sie mich zunächst durch. Dann konnte ich ihnen endlich die Sache erklären. Wir stiegen in den Oberstock, und was fanden wir da? Der Offizier liegt in seinem Blute, leblos ausgestreckt, einen Dolch im Nacken. Über ihm das Mädchen, das sich ohnmächtig stellt. Und im Zimmer schießt wütend der Bock umher, der jeden mit seinem Gehörn angehen will. Meine Herren, sage ich sofort, da kann ich jetzt zwei Wochen lang den Boden scheuern und kratzen, bis die Blutflecke weggehen. Die Herren von der Wache schafften eine Bahre herbei und trugen den schönen Offizier weg. Das nackte Mädchen nahmen sie auch mit. Aber das Schlimmste kam am nächsten Tag! Wie ich mir die Kaldaunen kaufen und dazu meinen Taler nehmen wollte, war er weg. Er war in ein dürres Baumblatt verwandelt worden, das an seiner Stelle lag.≪
Ein Geraune und Gemurmel des Entsetzens glitt durch die Zuschauermenge.
≫Das Gespenst!≪
≫Der Bock!≪
≫Hexerei!≪
≫Das dürre Blatt!≪
≫Zauberei!≪
≫Kein Zweifel≪, faßte Gringoires Nachbar die Situation zusammen, ≫das Mädchen ist eine Hexe, die mit ihrem Liebhaber, dem Gespenstermönche, den Offizier ausplündern wollte.≪
Peter war nicht abgeneigt, dieser Ansicht zuzustimmen.
Auch die übrigen schienen mehr oder weniger dasselbe zu denken.
≫Weib, habt Ihr sonst noch etwas zu vermeiden?≪ fragte der Gerichtspräsident würdevoll.
≫Nein, gnädiger Herr. Nur zum Berichte der Scharwache. Man hat da mein Haus eine alte, schiefe und stinkende Bude genannt. Das ist eine Ehrenbeleidigung. Die Häuser auf der St.-Michaels-Brücke sind keine Paläste, gewiß. Es wohnen auch keine Grafen und Barone dort. Aber wir haben einige Fleischer in der Nachbarschaft, die doch alle reiche Leute mit sehr schönen Frauen sind. Bei den Fleischern ist das immer so.≪
≫Still≪, sagte der Beamte, den Gringoire für ein Krokodil gehalten hatte, ≫still! Von Eurem Gewäsch haben wir allmählich genug. Meine Herren, ich mache darauf aufmerksam, daß man bei der Angeklagten einen zweiten Dolch gefunden hat. Es ist daher kaum anzunehmen, daß der erste ihr gehört haben kann. Wo ist übrigens das dürre Blatt, von dem das Weib Falourdel erzählt hat?≪
≫Hier, gnädiger Herr.≪
Die Alte reichte ihm das geheimnisvolle Blatt.
Das Krokodil schüttelte traurig sein Haupt darüber und ließ es dann durch einen Gerichtsdiener dem Präsidenten übergeben. Von diesem gelangte es an den Prokurator des Königs beim Kirchengerichtshofe, Meister Jakob Charmolue. Auf diese Weise hatte es die ganze Runde im Saal gemacht.
≫Es ist ein Birkenblatt≪, stellte Meister Charmolue fest. ≫Das ist ein neuer Beweis für Zauberei.≪
Einer der Gerichtsräte bat um das Wort.
≫Zeugin, Ihr sagt, daß zwei Männer bei Euch waren. Ein Schwarzer, der zuerst spurlos verschwunden und dann in Priesterkleidung in die Seine gesprungen ist. Und dann ein Offizier. Welcher der beiden hat Euch den Taler gegeben?≪
Die Alte dachte etwas nach und sagte dann:
≫Der Offizier.≪
Bei dieser Aussage lief ein Murmeln durch den Saal.
≫Das macht die frühere Meinung unhaltbar≪, sagte Gringoire.
Da, ergriff das Krokodil, pardon, Meister Philipp Lheulier, der peinliche Kronanwalt, das Wort.
≫Meine Herren! Der gestochene Offizier hat auf seinem Siechenbette eine Aussage zu Protokoll gegeben, in welcher er erzählt, wie sich der Schwarze gewaltsam an ihn herangedrängt und ihm schließlich den Taler für die Zimmermiete übergeben hat. Der Taler stammte also nicht von dem verwundeten Offizier, sondern aus der Hölle.≪
Diese Logik zerstreute jeden Zweifel bei Gringoire und bei den anderen Zuhörern.
≫Die Herren können diese Aussage des Herrn Phöbus von Châteaupers aus den Akten ersehen≪, schloß der Kronanwalt, bevor er wieder Platz nahm.
Bei der Nennung dieses Namens erhob die Angeklagte den Kopf.
Entsetzt erkannte Gringoire Esmeralda in ihr.
Sie war leidvoll blaß. Ihre früher so zierlich mit Zechinen durchflochtenen Haare hingen verwirrt herab, und ihre gramerfüllten Augen lagen tief in ihren Höhlen. ≫Phöbus≪, sagte sie schluchzend, ≫Phöbus! Habt Erbarmen, gnädige Herren und sagt mir, ob er am Leben ist.≪
≫Schweigt≪, fuhr sie der Präsident an. ≫Das gehört nicht zur Sache.≪
≫Habt Erbarmen und sagt es mir≪, jammerte die Unglückliche. ≫Dann führt mich weg und tötet mich!≪
Man hörte die Ketten klirren, als sie flehend die abgemagerten Arme erhob.
≫Wenn Ihr es schon wissen müßt: er liegt im Sterben≪, sagte trocken der Kronanwalt.
Stumm und bleich wie ein Wachsbild sank bei dieser brutalen Mitteilung die Angeklagte auf ihren Schemel zurück.
Der Präsident aber winkte einem Manne mit goldener Mütze und schwarzem Talar, der als Abzeichen seiner Würde um den Hals eine Goldkette und in der Hand einen Stab trug.
≫Obergerichtsdiener≪, befahl er ihm, ≫führt die zweite Angeklagte herein.≪
Alle Augen wandten sich nun einer kleinen Türe zu, durch die zum größten Schrecken Gringoires sein Liebling, die Ziege, hereingeführt wurde. Das zierliche Tier blieb einen Augenblick an der Schwelle stehen und streckte dabei suchend seinen Hals. Als es die Tänzerin entdeckt hatte, sprang es mit einem Satz über den Gerichtstisch und einen Schreiberkopf hinweg zu der Herrin hin, um sich friedlich zu ihren Füßen niederzulassen und, eine Liebkosung erbettelnd, an sie anzuschmiegen. Aber die Angeklagte in ihrer schmerzlichen Versunkenheit dachte nur an den im Sterben liegenden Geliebten, der treuen Ziege schenkte sie nicht einen Blick.
≫Das ist der abscheuliche Bock, meiner Treu!≪ kreischte die Falourdel.
Jetzt ergriff Meister Charmolue das Wort.
≫Wenn es den Herren recht ist, wollen wir nunmehr zum Verhöre der Ziege schreiten.≪
Nach der damaligen Gerichtsordnung war das kein schlechter Witz, sondern barer Ernst. Prozesse wegen Zauberei wurden nicht selten gegen Tiere geführt. Wie z. B, der Prozeß gegen Soulard und seine Sau (1466), für die fünfhundert Reisigbündel als Sehéiterhaufen und drei Maß Wein samt Brot als Henkersmahlzeit verrechnet wurden, wie aus den Akten des Amtsgerichtes zu ersehen ist.
Man prozessierte dazumal auch gegen Naturereignisse, und die Kapitularien Karls des Großen und Ludwigs des Frommen sahen schwere Strafen für die ≫feurigen Erscheinungen in der Luft≪ vor24 .
Es war das Amt des Prokurators des Kirchengerichts, das Verhör der Ziege zu führen.
Laut rief er zunächst die Warnung aus:
≫Bisher hat der in diese Ziege gefahrene Satan allen Beschwörungen Widerstand geleistet! Wenn er noch weiter den Gerichtshof in Schrecken versetzen will, so tun wir ihm kund, daß wir gegen ihn mit dem Galgen oder mit dem Scheiterhaufen vorgehen werden.≪
Bei dieser feierlichen Kundmachung gegen sein Lieblingstier trat der Schweiß auf die Stirne Gringoires.
Meister Charmolue hatte indes das vor ihm auf dem Tische liegende Tamburin der Zigeunerin in die Hand genommen. Nun hielt er es der Ziege hin und fragte:
≫Wieviel Uhr ist es?≪
Da hob die Ziege mit klugem Blicke ihren vergoldeten Vorderhuf und schlug damit siebenmal gegen das Tamburin.
Es war in der Tat die siebente Stunde seit Mittag.
Entsetzt stellte es die bewegte Menge fest.
Gringoire aber konnte sich nicht mehr halten.
≫Seht Ihr denn nicht, daß sie nur gewohnheitsmäßig klopft!≪ schrie er laut.
≫Ruhe!≪ ermahnte ihn einer der Gerichtsdiener.
Meister Charmolue ließ nun unbeirrt die Ziege ihre anderen bekannten Kunststücke machen, Und sonderbarerweise war hier im Gerichtssaale dieselbe Menge darüber entsetzt, die sich oft genug an den gleichen Dressurakten des Tieres auf der Straße belustigt hatte. Offenkundig war die Ziege vom Teufel besessen. Außer Gringoire zweifelte niemand daran.
Und als schließlich der Prokurator von der Ziege den Namen Phöbus aus den Holzbuchstaben zusammenscharren ließ, ging ein furchtsames Geraune durch die erschreckten Menschen. Von ihrem Standpunkte aus war es klar, daß dieses Kunststück der Ziege das Sympathiemittel gewesen war, mit welchem die Hexe den Offizier an sich gezogen hatte.
Esmeralda selbst gab nicht das geringste Lebenszeichen von sich. Weder die Liebkosungen Djalis noch die Drohungen der Richter oder die Verwünschungen der Zuhörer bewegten sie, ihre stumpf brütende Haltung aufzugeben. Die Gerichtsdiener mußten sie rütteln und schütteln, damit sie überhaupt auf die an sie gerichtete Ansprache des Gerichtspräsidenten achtgab.
≫Mädchen, Ihr seid vom Stamme der Zigeuner und daher der Hexerei ergeben. Gemeinsam mit der mit angeklagten Ziege habt Ihr im Einverständnis mit den Mächten der Hölle und unter Beihilfe Eurer Reize und Ränke den Rittmeister der berittenen Bogenschützen Phöbus von Châteaupers ermordet.≪
Da fuhr Esmeralda mit einem Entsetzensschrei in die Höhe: ≫Ich?! Meinen Phöbus! O Gott!≪
≫Leugnet Ihr?≪ fragte der Vorsitzende kalt.
≫Ja, ich leugne es≪, rief sie flammenden Blickes.
≫Was habt Ihr zur Begründung Eures Leugnens vorzubringen?≪
≫Ich habe es schon gesagt≪, entgegnete die Unglückliche mit stockender Stimme. ≫Ich weiß über die Sache so gut wie nichts. Es ist ein höllischer Priester gewesen, der mich schon immer verfolgte.≪
≫Um den handelt es sich eben. Es ist der Gespenstermönch.≪
≫Gnädiger Herr, ich bin nur ein armes Mädchen…≪
≫Aus Ägypten. Das wissen wir bereits.≪
Da mengte sich Meister Charmolue in das Verhör.
≫In Anbetracht der Hartnäckigkeit der Angeklagten beantrage ich die Anwendung der Tortur.≪
≫So sei es≪, bewilligte der Präsident.
Am ganzen Leibe bebend, wurde nun die Unglückliche von einigen Hellebardenträgern in eine Prozession gezerrt, die unter Vortritt Meister Charmolues von allen geistlichen Richtern gebildet wurde, um die Angeklagte in die Folterkammer zu geleiten. Als dieser unheilvolle Zug hinter der Ausgangstür verschwunden war, hatte der entsetzte Gringoire den Eindruck, daß ein furchtbarer Rachen die Arme verschlungen hatte. Die zurückgelassene Ziege blökte kläglich hinter der Herrin her.
Die Sitzung wurde zwar unterbrochen, die Richter durften sich jedoch nicht entfernen. Als nun einer der Räte den Vorsitzenden auf die vermutlich längere Dauer des peinlichen Verhörs aufmerksam machte, entgegnete dieser bloß:
≫Ein Gerichtsbeamter muß für seine Pflicht Opfer bringen.≪
≫So eine widerwärtige Vettel≪, murrte der Rat. ≫Muß sie sich auf die Folter bringen lassen, wenn andere Menschen zu Abend speisen wollen?≪
Die Tortur
Nachdem Esmeralda mit ihrem schauerlichen Gefolge mehrere auf und nieder führende Gänge durchschritten hatte, die so dunkel waren, daß sie selbst bei Tag beleuchtet werden mußten, wurde sie schließlich von den Gerichtsdienern in ein unheimliches, düsteres Gelaß gestoßen.
Es war ein runder Raum im Keller eines der dicken Türme, die noch heute die Gebäudeschicht durchdringen, mit der das moderne Paris das alte zugedeckt hat.
In die dicke Grundmauer war ein Kamin eingelassen, dessen mächtiges Feuer den Raum mit einem rotglühenden Widerschein erfüllte und eine an der Wand befestigte Lampe ihres Schimmers beraubte. Mit dem hochgezogenen Fallgatter und den spitzhackigen Roststäben glich diese Feuerstelle einem flammenspeienden Drachenschlund.
Ringsherum sah die entsetzte Tänzerin schreckliche Instrumente, deren Gebrauch ihr unbekannt war. In der Mitte der Folterkammer lag auf dem Boden eine Ledermatratze, und darüber hing die Schlinge eines langen Riemens, dessen oberes Ende an einem Kupferringe im Maule einer scheußlichen Deckenfigur befestigt war.
Auf den Kosten des Kamins glühten Zangen, Scheren und große Eisenkolben, die schon durch ihren Anblick das Mark der Angeklagten erschauern ließen.
Auf dem Lederbette saß mit erwartungsvoller Behaglichkeit der beeidigte Foltermeister Pierrat Torterue, und seine beiden Folterknechte, vierschrötige Lümmel in Lederhosen, waren mit dem Wenden der auf den Kaminrosten glühenden Schandwerkzeuge beschäftigt.
Kein Wunder, daß das arme, schwache Mädchen vor Entsetzen taumelte.
Zunächst faßten die geistlichen Gerichtsbeisitzer auf ihrer einen Seite Posto, und die Schergen stellten sich gegenüber auf. An einem kleinen Tische nahm der Schreiber mit seinem Tintenzeug Platz.
Meister Charmolue trat sanft lächelnd an die Angeklagte heran.
≫Liebes Kind≪, fragte er süßlich, ≫beharrt Ihr noch beim Leugnen?≪
≫Ja≪, entgegnete sie mit erloschener Stimme.
≫In diesem Falle obliegt uns die schmerzliche Pflicht, Euch mit größerem Nachdruck zu fragen. Meister Pierrat, übernehmt die Jungfer.≪
Mit unsäglichem Grauen starrte die Elende auf das gräßliche Lederbett, auf dem sich schon viele Unglückliche in unsäglicher Qual gekrümmt hatten. Torterue führte sie auf dasselbe zu.
Inzwischen waren auch die beiden Folterknechte herangekommen und packten, auf einen Wink ihres Meisters, die Angeklagte, um sie aufrecht auf das Marterbett zu setzen.
Die beiden Burschen taten ihr für den Augenblick sonst nichts zuleide. Aber schon die Berührung dieser groben Fäuste und des Lederbettes ließ alles Blut vom Herzen des Mädchens zurückströmen.
Verstört um sich blickend, meinte sie alle Folterwerkzeuge kreisen und tanzen zu sehen, als wollten sie jeden Moment heranspringen, um ihr Opfer zu beißen und zu sengen.
≫Wo ist der Arzt?≪ fragte Charmolue.
≫Hier≪, entgegnete ein schwarzer Talar.
≫Jungfer≪, sagte der Prokurator zu dem schaudernden Mädchen, ≫Zum letzten Male richte ich an Euch die Frage: Bekennt Ihr Euch im Sinne der Anklage schuldig?≪
Die Unglückliche konnte bloß mit dem Kopfe vermeinen, da ihr die Stimme versagte.
≫Dann müssen wir, so leid es uns tut, die Pflichten unseres Amtes erfüllen.≪
≫Womit sollen wir beginnen?≪ fragte der Foltermeister barsch.
Der Prokurator musterte einige Augenblicke lang das ihn angstvoll-flehend anstarrende Mädchen mit seinen falschen Katzenaugen.
≫Mit dem spanischen Stiefel≪, entschied er endlich.
Bei diesen Worten sank der bebenden Angeklagten der Kopf kraftlos, wie ein fremdes Etwas, auf die Brust herab.
Das Gefühl., von Gott und den Menschen verlassen zu sein, überkam sie mit seiner ganzen Bitterkeit.
Der Foltermeister und der Arzt nahten ihr nun gleichzeitig, während die Knechte das anbefohlene Folterinstrument hervorsuchten. Das dabei entstehende Eisengeklirr klang furchtbar an des armen Mädchens Ohr. ≫Phöbus, mein Phöbus≪, weinte sie leise vor sich hin.
Dann versank sie in martnorgleiche, herzzerreißende Regungslosigkeit. Sie glich einer armen, sündigen Seele, die von Satan an den Eingang der flammenden Hölle gezogen worden ist. Inmitten aller dieser furchtbaren Sägen, Räder und Marterwerkzeuge, zwischen den Krallen und Zangen ihrer Henker erschien ihr zarter, schwacher Leib von wahrhaft rührender Reinheit. Sie war ein armes Korn, welches die menschliche Gerechtigkeit zwischen den grirnmigen Mahlsteinen der Folter zermalmen wollte.
Die Knechte des Henkers zauderten nicht länger mehr. Mit ihren brutalen Händen entkleideten sie rasch das reizende Bein, dessen Schönheit und Anmut ganz Paris an allen Straßenecken bewundert hatte.
≫Schade darum≪, brummte der Foltermeister, als er die feinen, zarten Formen sah.
Wie durch einen Nebelschleier sah die Unglückliche die Kombination klobiger, eisenbeschlagener Kurzbalken, die den Namen eines spanischen Stiefels führte. Bald mußte sie es fühlen, wie ihr zitternder, armseliger Fuß zwischen zwei Balkenknüppel gelegt wurde, unter deren grauenerregender Umklammerung er ganz verschwand. Da gab ihr der Schreck die gelähmten Kräfte wieder. ≫Nehmt das weg, um Gottes Barmherzigkeit!≪ schrie sie wild. ≫Nehmt es weg! Gnade!≪
Sie wollte aufspringen und sich dem Inquisitor zu Füßen werfen, aber das schwere Marterwerkzeug hielt sie unerbittlich fest.
Matt sank sie zurück, wie eine Fliege, der man eine Bleikugel an den Flügel gebunden hat.
Auf einen Wink Charmolues wurde sie nunmehr von den beiden Folterknechten ausgestreckt auf das Marterbett zurückgelegt. Dann schlang man ihr die Endschleife des von der Decke herabhängenden Riemens um den zarten Leib.
≫Angeklagte≪, sagte der Prokurator mit unveränderter Katzenfreundlichkeit, ≫zum dritten Male frage ich Euch: Wollt Ihr gestehen?≪
≫Ich bin unschuldig.≪
≫Wie erklärt Ihr dann das stattgefundene Verbrechen?≪
≫Ich weiß nicht mehr darüber als Ihr.≪
≫Ihr leugnet also?≪
≫Alles.≪
≫Meister Torterue, waltet Eures Amtes.≪
Der Foltermeister hatte bereits die Faust am Griffe des Schraubengewindes, durch welches die beiden Esmeraldas Füße umklammernden Balkenkloben einander genähert werden konnten.
Nun begann er langsam die Schraube zu drehen.
Als der Druck dieser furchtbaren Presse immer enger und enger wurde, bis erischließlich das Fleisch am Knochen fester und fester zusammenzudrücken begann, näherte sich immer mehr der entsetzliche Augenblick, in welchem der Knochen selbst zermalmt werden mußte. Da stieß Esmeralda einen Schrei aus, der nichts Menschliches mehr an sich hatte.
≫Halt≪, befahl Charmolue. ≫Gesteht Ihr jetzt?≪
≫Ja≪, winselte die Elende. ≫Alles! Alles!≪
Das arme Kind hatte nicht gewußt, welcher Unterschied zwischen ihren schwachen Kräften und denen des erbarmungslosen Marterwerkzeuges war. Der erste große Schmerz ihres friedlichen, kleinen Lebens überwältigte sie nun zu rasch.
≫Es ist meine Pflicht, Euch zu sagen, daß dieses Geständnis den Tod für Euch bedeutet≪, teilte ihr der Prokurator mit.
≫Macht mich nur endlich los!≪
≫Nicht so rasch. Erst müssen Eure Aussagen und Euer Geständnis zu Protokoll genommen werden.≪
≫Nur wacker, Jungfer≪, lachte der Foltermeister roh. ≫Ihr hängt ja da wie der goldene Schöps25 auf der Brust des Herzogs von Burgund.≪
≫Schreiber, protokolliert!≪ befahl Charmolue. ≫Zigeunerin Esmeralda, Ihr gesteht, an den Sabbaten, Liebesmahlen und Zaubereien der Hölle mit anderen Gespenstern, Hexen und, Nachtgeistern teilgenommen zu haben?≪
≫Ja≪, hauchte die Angeklagte.
≫Ihr gesteht, den Bock gesehen zu haben, der im Auftrage Satans in den Wolken erscheint, um die Hexenversammlungen anzusagen?≪
≫Ja.≪
≫Ihr bekennt, die Götzenbilder der Templer, die Köpfe Baphomets angebetet zu haben?≪
≫Ja.≪
≫Ihr gesteht, daß der Teufel in Gestalt einer Ziege mit Euch fleischlichen Umgang gehabt hat?≪
≫Ja.≪
≫Ihr gesteht, daß dieser Teufel die mit angeklagte Ziege ist?≪
≫Ja.≪
≫Ihr gesteht, daß Ihr mit dem Teufel in Gestalt des Gespenstermönchs in vertrautem Verhältnis gestanden habt?≪
≫Ja.≪
≫Ihr gesteht, daß Ihr mit Hilfe dieses Gespenstermönches den Rittmeister Phöbus von Châteaupers erdolcht habt?≪
Bisher hatte die Gefolterte immer nur mechanisch ihr Ja gestöhnt, um möglichst bald an das Ende der unerträglichen Pein zu kommen. Bei der letzten Frage hob sie das erstemal ihr Haupt, und etwas von ihrer früheren Widerstandskraft schien in ihr erwachen zu wollen. Aber die Qual war stärker als sie. Zusammenknickend hing sie wieder kraftlos in der Riemenschleife, als sie ihr letztes ≫ja≪ herausstieß.
≫Macht die Gefangene los und führt sie in den Gerichtssaal zurück≪, gab endlich Charmolue den erlösenden Befehl.
Als der arme Fuß aus dem abscheulichen Stiefel befreit worden war, schwoll er sogleich an. Der Prokurator untersuchte ihn und meinte dann mit seiner Katzenmanier:
≫Der Schaden ist nicht groß. Ihr habt zur rechten Zeit gestanden, um mit Eurem Bein noch tanzen zu können. Das heißt, wenn Ihr dazu noch Gelegenheit haben würdet!≪
Und dann hielt er seine Schlußansprache an die sich zum Zuge ordnenden Mitglieder des geistlichen Gerichts.
≫Die Wahrheit ist an den Tag gekommen, und die Gerechtigkeit hat gesiegt. Das ist der Trost für den leidvollen Weg, der hierzu nötig war. Die Jungfer aber wird uns bezeugen, daß wir mit äußerster Milde verfahren sind.≪
Das Urteil
Als Esmeralda totenblaß und mühsam humpelnd in den Gerichtssaal zurückgeführt wurde, begrüßte sie ein allgemeines Freudengemurmel. Das Publikum befand sich in jener Stimmung heiterer Ungeduld, mit der im Theater nach der großen Pause das Heben des Vorhangs zum letzten Akte der Komödie begrüßt wird. Die Richter ihrerseits sahen mit neubelebter Hoffnung das schon so schmerzlich erwartete Abendessen nähergerückt. Selbst die Ziege meckerte vor Freude, und sie wäre auf die Herrin zugeeilt, wenn man sie nicht mittlerweile angebunden hätte.
Die Nacht war indessen völlig hereingebrochen, und die Kerzen spendeten ein so spärliches Licht, daß die Wände des Saales unsichtbar blieben. Alle Einrichtungsgegenstände waren nur wie durch einen Nebel sichtbar, aus dem nur einige der gefühllosen Richtergesichter deutlich hervortraten. Die Angeklagte selbst erschien im Hintergrunde des Saalendes wie ein weiß schimmernder Punkt.
Die geistlichen Richter hatten in feierlichem Zuge wieder ihre Plätze eingenommen, und der Prokurator des Königs teilte dem Gerichtspräsidenten mit:
≫Die Angeklagte hat alles gestanden.≪
≫Zigeunermädchen≪, nahm nun der Vorsitzende das Wort, ≫Ihr habt Eure Hexerei, Unzucht und Teilnahme an der Ermordung des Rittmeisters eingestanden?≪
Esmeraldas Herz krampfte sich zusammen. Was nützte alles Leugnen? Man hätte sie doch nur wieder auf die Folter zurückgeschleppt.
≫Alles≪, schluchzte sie, ≫alles, was Ihr wollt! Nur tötet mich recht rasch!≪
≫Herr Prokurator des Königs! Die Kammer ist bereit, Eure Anträge zu hören.≪
Meister Charmolue legte los. Aus einer vor ihm liegenden Aktenschwarte las er mit vielen Gesten und mit den sonstigen Mätzchen der Sachwalterkunst eine endlose lateinische Rede vor, in der alle Beweise des Prozesses, mit ciceronischen Floskeln und Zitaten aus seinem Lieblingsautor Plautus gespickt, breitgetreten waren. Diesen Schwulst trug er mit einer solchen Begeisterung vor, daß ihm der Schweiß bereits von der Stirne perlte, bevor er noch über die umständliche Einleitung hinweggekommen war.
Plötzlich aber, inmitten einer hochgeschraubten Periode, brach er mit einem urdummen Gesichte ab.
≫Meine Herren≪, rief er, nachdem er sich einigermaßen gefaßt hatte, ≫der Satan mischt sich in die Verhandlung ein!≪
Damit deutete er auf die Ziege, die bei seinen Gestikulationen gemeint hatte, daß es Zeit zu der gewohnten Vorstellung war. Bekanntlich war die Figur Meister Charmolues eine ihrer gewohnten Rollen, und als das gelehrige Tier das Original vor sich gesehen, hatte es sogleich seine Nachahmung zum besten gegeben.
Die arme Ziege erntete aber bei niemand den gewohnten Beifall. Im Gegenteil, man schürte sie alsogleich so fest, daß sie kein Glied mehr rühren und der Prokurator ungestört seinen bombastischen Wortschwall fortsetzen konnte.
Endlich hatte auch diese Tirade ihr Ende. Sie schloß mit der Wendung:
≫Da die Hexe und ihr Verbrechen einwandfrei und öffentlich überwiesen sind, beantragen wir im Namen des Kollegiums der heiligen Notre-Dame-Kathedrale zu Paris, als Inhaberin der hohen, mittleren und niederen Gerichtsbarkeit und in Übereinstimmung mit den hier anwesenden Richtern: erstens eine Geldbuße, zweitens öffentliche Kirchenbuße vor dem Hauptportale von Notre-Dame und drittens einen Urteilsspruch, kraft dessen die angeklagte Hexe samt ihrer Ziege auf der Richtstätte des Grève-Platzes hingerichtet wird.≪
Dann setzte er sein Barett wieder auf und nahm mit stolzer Genugtuung über die Meisterschaft seiner Rede wieder Platz.
≫Schauderhaftes Mönchs- und Küchenlatein≪, nörgelte Peter Gringoire.
Jetzt erhob sich ein anderer Mann im schwarzen Talar. Es war der vom Gericht bestellte Verteidiger.
Die hungrigen Richter begannen ebenso zu knurren wie ihre Mägen.
≫Faßt Euch kurz≪, mahnte daher der Präsident.
≫Herr Präsident≪, entgegnete der Verteidiger, ≫da die Angeklagte gestanden hat, habe ich nur wenig zu bemerken. Nach dem salischen Gesetze kann meine Klientin zu höchstens achttausend Hellern Buße verurteilt werden. Ich beantrage daher, daß dieses Urteil gefällt wird.≪
≫Dieses Gesetz ist nicht mehr in Kraft≪, entgegnete der Prokurator des Königs.
≫Ich beantrage eine Abstimmung darüber≪, beharrte der Verteidiger.
≫Dazu ist es doch schon zu spät! Das Verbrechen ist doch klar, und der Prokurator hat vollkommen recht≪, widersprach ein ungeduldiger Richter.
Der Vorsitzende entschied jedoch für eine Abstimmung im offenen Gerichtssaale, und die eiligen Richter sagten schnellstens zum Antrage des Prokurators ja, um baldigst zu ihren heimischen Fleischtöpfen kommen zu können, indem sie auf die Anfrage des Präsidenten mit einem gemeinsamen Abnehmen ihrer Barette antworteten.
Die arme Angeklagte sah nicht viel von dieser hastigen Entscheidung über ihr Geschick, weil sie von ihren unaufhörlichen Tränen halb geblendet war.
Der Gerichtsschreiber ließ nun hastig seine Feder spritzen und überreichte alsbald dem Präsidenten die lange Pergamentrolle, auf der er das Urteil ausgefertigt hatte. Und wie im Traume hörte die Angeklagte, wie unter allgemeiner Totenstille eine eisige Stimme folgende fürchterlichen Worte verlas:
≫Das Zigeunermädchen Esmeralda soll an einem noch von des Königs Majestät zu bestimmenden Tage zur Mittagsstunde auf einem Karren vor das Hauptportal von Notre-Dame gebracht werden. Hier soll sie barfüßig und im bloßen Hemde an einem um ihren Hals gelegten Strick an das Portal herangeführt werden und mit einer zwei Pfund schweren Wachskerze in der Hand öffentliche Buße tun. Dann soll sie mit dem Karren auf den Grève-Platz geschafft werden, wo sie am Galgen der Stadt erdrosselt werden soll. Das gleiche soll dortselbst mit ihrer Ziege geschehen. Außerdem hat die Verurteilte zu Händen des geistlichen Gerichts eine Buße von drei Goldtalern zu erlegen. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein!≪
≫Es ist gewiß nur ein Traum≪, stammelte die Unglückliche, während sie abgeführt wurde.
Im Verlies
Bei den Gebäuden des Mittelalters reichten die Keller ebensotief in die Erde hinab, wie die auf der Oberfläche sichtbare Höhe betrug. Besonders jede Festung oder Kirche hatte einen doppelt tiefen Keller, wenn sie nicht (wie beispielsweise Notre-Dame) auf unterirdischem Pfahlwerk stand. Die Domkirchen hatten in der Regel einen zweiten unterirdischen Dom als Kellerung, fensterlos, dunkel, geheimnisvoll, der zumeist als Totengruft verwendet wurde.
Die Paläste und Burgen dagegen hatten in ihrem unterirdischen Gegenstück außer den Grabstätten noch die Gefängnisse und Verliese.
Statt einfacher Grundmauern hatten diese großen Bauten sozusagen ein aus Kreuz- und Quergängen bestehendes Wurzelwerk, das sich treppauf, treppab nach allen Seiten verästelte und verschiedene Räume miteinander verband. Man stieg in diese unterirdischen Gebäude ebenso hinab, wie in die oberirdischen empor. Ein durch einen derartigen Doppelbau gelegter Querschnitt würde an jenes Bild an Wabern und Seen erinnern, an deren Rand Schlösser oder Kirchen stehen und sich im Wasser spiegeln.
In der Bastille, im Justizpalaste und im Louvre wurden diese unterirdischen Gegenbauten ausschließlich als Gefängnisse verwendet. Dabei wurden die untereinandergeschachtelten Stockwerke immer düsterer und schauerlicher, je tiefer man hinunterstieg. jede Schicht war ein Grad des Schreckens mehr.
Dante hätte für seine Hölle kein besseres Modell haben können, wenn er sein unsterbliches Werk in Paris gedichtet hätte.
In der untersten Schicht befanden sich die Verliese, scheußliche Trichterlöcher, würdig für den Aufenthalt von Dantes Satansbrut. Hier wurden die zum Tode Verurteilten hineingeworfen.
War ein unglückseliges Dasein einmal in einem dieser Löcher begraben, so konnte es dem Leben, der Luft und dem Lichte Lebewohl sagen und fürwahr jenen Satz wiederholen, der als Lasciate ogni speranza (Laßt jede Hoffnung fahren) den Eingang zu Dantes Hölle bezeichnet. Denn der Gefangene kam nur einmal wieder ans Sonnenlicht herauf, um zur Richtstätte geführt zu werden.
Wer aber aus irgendeinem Grunde dem Galgen, Rad oder Scheiterhaufen entging, der verfaulte hier unten lebendigen Leibes. Es war dies der Gnadenakt des ≫Vergessenwerdens≪.
Wie ein Alp lagen die mächtig-trotzigen Bauten auf diesen unterirdischen Verliesen und schlossen die darin schmachtenden Opfer auf ewig von dieser Welt ab.
In eines dieser von Ludwig dem Heiligen im Kriminalgefängnisse angelegten faßartigen Löcher hatte man die zum Galgen verdammte Esmeralda geworfen, wohl weil man fürchtete, daß sie sich sonst durch ihre Hexenkünste der irdischen Gerechtigkeit entziehen könnte. So lag der ganze gewaltige Justizpalast auf ihr, der armseligen Fliege, die aus keinem Gefähgnisse einen Ausweg gefunden hätte. Vorsehung und menschliche Gerechtigkeit hatten einträchtig ein Übermaß von Unglück und Marter vereinigt, um ein so schwaches Wesen zu zermalmen. Lebend in Kerkersnacht begraben, bot sie einen erbarmungswürdigen Gegensatz zu der Esmeralda jener glücklichen Tage, die sie im Sonnenlichte durchlacht und durchtanzt hatte. Fern jedem menschlichen Laute, in tiefster Finsternis, von schweren Ketten erdrückt, lag sie, neben einem Wasserkruge und einem Brote kauernd, auf einem Strohbündel, das in der zusammengeronnenen Lache des Grundwassers faulte. Regungslos, nur mühsam in der verdorbenenLuft dieses menschenunwürdigen Loches atmend, war sie in einen Zustand der Fühllosigkeit geraten, der barmherzig die letzten Schrecken ihres Loses ihrem Bewußtsein entzog.
Nur wie in unbestimmten Traumbildern gingen die Ereignisse der jüngsten Zeit vor ihr vorüber: Phöbus, die Sonne, der helle Tag, die freie Luft, die Straßen von Paris, die unter Beifall ausgeführten Tänze, das süße Liebesgeplauder mit dem Geliebten, der Priester, die alte Kupplerin, der Dolch, das entsetzliche Blut, die Folter und das Todesurteil. Bald schienen diese Begebenheiten wie eine glänzende Vision, bald wie ein Zerrbild des Grauens, die, wesenlos untereinandergemengt, vor ihrem getrübten geistigen Auge vorübergaukelten. Weder schlafend noch wachend, konnte sie längst nicht mehr die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit erkennen, ebensowenig, wie sie einen Unterschied von Tag und Nacht bemerkte. Alles war verwirrt, zerrissen, schwankend, übereinandergemengt. Es war, als ob sie in ein leeres Nichts geschleudert worden wäre, wo man weder denkt noch fühlt, nichts mehr weiß und höchstens träumt. Es war nur noch ein schreckliches, endloses Ringen gegen die völlige geistige Umnachtung.
In dieser tagelangen, fühllosen und betäubten Erstarrung hatte sie nur selten das Öffnen der Falltüre vernommen, die den einzigen Zugang zu ihrem Loche bildete. Aber auch da war nicht ein einziger Lichtstrahl sichtbar geworden, nicht einmal die Hand, die ihr ein neues Stück Brot zuwarf.
Dies war das einzige, letzte Bindeglied mit der ganzen Menschheit gewesen. Und nur ein einziges Geräusch, außer diesen wenigen Besuchen des Gefängniswärters, nahm mechanisch und fortgesetzt ihr Ohr in Anspruch. Es war das stete, tropfende Sichern der Feuchtigkeit, die sich in den moderbedeckten Steinwölbungen des unterirdischen Baues gesammelt hatte und zu ihr herab in die Pfütze fiel.
Aber noch ein anderes Lebenszeichen unterbrach die grauenhafte Öde ihres Gefängnisses: Von Zeit zu Zeit plätscherte es in der sie umgebenden Kloake, worauf meist ein schauderhaftes, kaltes Etwas über ihre Glieder schlüpfte oder kroch.
Sie hatte längst jeden Begriff dafür verloren, wie lange sie in dieser Lache von Kot und Wasser lag. Und ebenso nebelhaft waren die letzten Ereignisse. Wie im Traume hatte sie über sich das Todesurteil aussprechen gehört. Dann hatte man sie fortgezerrt, ihr eiserne Ringe um die Fußknöchel geschmiedet, an denen schwere Ketten klirrten. Hierauf war sie in dieses Loch gestoßen worden, und seither war es ewige, bange Nacht um sie. Zwar hatte sie gleich zu Beginn versucht, nach dem Takte der fallenden Wassertropfen die Minuten zu zählen, in dem instinktiven Drange, eine Zeitrechnung zu bewahren. Aber bald hatte ihr krankhaft überreiztes Hirn diese nutzlose Tätigkeit aufgegeben. Und sie war immer tiefer in Stumpfsinn versunken.
Draußen war es um die mitternächtliche Stunde, als sie wieder einmal das Öffnen der Falltüre zu ihren Häupten vernahm. Diesmal blieb jedoch nicht das gewohnte Dunkel erhalten, sondern ein rötlicher Schein drang an ihre lichtscheu blinzelnden Augen. Rasselnd und in ihren verrosteten Gelenken ächzend wurde die Falltüre ganz aufgeschlagen und die Unterkörper von zwei Männern sichtbar, von denen der eine eine Laterne in der Hand trug.
Vor dem direkten Lichtstrahle derselben mußte Esmeralda die geblendeten Augen völlig schließen. Und als sie sie wieder öffnete, sah sie, daß nur einer der Männer in ihrem Verliese geblieben war. Die Laterne stand auf einer der Leiterstufen, und die Falltüre war wieder geschlossen worden.
Der Besucher war in eine schwarze Mönchskutte gehüllt, deren Kapuze er über das Gesicht gezogen hatte. Weder seine Hände noch seine Füße waren sichtbar, so daß er einem aufrechtstehenden, langen Leichentuche glich.
Starr blickte Esmeralda auf dieses regungslose Gespenst. Selbst ebenso bewegungslos auf ihrem Strohbündel kauernd, bildete sie mit dem Unbekannten eine Gruppe zweier Statuen, die in gegenseitigem Schweigen verharrten.
Nur zwei Dinge schienen in diesem Gefängnisloche Leben zu besitzen: der in der feuchten, schweren Luft knisternde Lampendocht und das unaufhörliche Tropfen des Modergerinnsels.
Endlich brach die Gefangene das lastende Schweigen.
≫Wer seid Ihr?≪ fragte sie.
≫Ein Priester.≪
Der Tonklang dieser Stimme ließ Esmeralda erzittern.
≫Seid Ihr bereit?≪ fuhr die dumpfe Mannesstimme fort.
≫Wozu?≪
≫Zum Tode.≪
≫Ach! Ist es schon soweit?≪
≫Morgen.≪
Ihr hoffnungsfroh erhobenes Haupt fiel wieder zurück. ≫Noch so lange! Warum nicht jetzt?≪ klagte die Unglückliche.
≫Ihr seid also sehr unglücklich?≪
≫Mich friert so sehr.≪
Dabei faßte sie mit den Händen ihre Füße, eine instinktive Bewegung, die bei Frostleidenden gewöhnlich ist.
Der Besucher ließ aus einem Kapuzenschlitz einen Rundblick über das Gefängnisloch gleiten.
≫Schauderhaft≪, sagte er dann, ≫ohne Licht und ohne Feuer im Wasser zu liegen!≪
≫Ja≪, entgegnete die Unglückliche. ≫Warum raubt man mir alles Licht?≪
≫Wißt Ihr, weshalb Ihr hier seid?≪ fragte der Unbekannte.
≫Ich glaube, ich habe es gewußt≪, entgegnete die Gefangene, sich über die Stirne streichend.
Plötzlich brach sie in Tränen aus.
≫Herr, nehmt mich fort von hier≪, flehte sie. ≫Ich friere und ich fürchte mich vor den ekligen Tieren, die es hier gibt.≪
≫Gut. Folget mir!≪
Bei diesen Worten griff der Fremde mit der Hand nach ihr.
Trotzdem Esmeralda von Kälte bis ans Mark erstarrt war, glaubte sie, von der eisigen Hand eines Toten berührt werden zu sein.
≫Wer seid Ihr?≪ schrak sie zurück.
Da hob der Priester seine Kapuze, und entsetzt starrte Esmeralda in das unheilvolle Gesicht, welches sie schon so oft als Verfolger und zum letzten Male in der Mordnacht erblickt hatte, als es, zur Teufelsfratze verzerrt, neben einer tückisch geschwungenen Klinge sichtbar gewesen war.
Da war es, als ob ein über ihr Gedächtnis gebreiteter Schleier zerrissen würde, und all die Einzelheiten von der nächtlichen Grauensszene bis zu ihrer Verurteilung jagten mit Blitzesschnelle vor ihrem wiedererwachten Bewußtsein vorbei.
≫Ach≪, rief sie zusammensinkend. ≫Ach! Der Priester!≪
Der Besucher ließ auf sie den Blick eines Falken hinabschießen, der auf eine ängstlich zusammengeduckte Lerche niederstoßen will, nachdem er sie, hoch in des Äthers Blau, beutegierig umkreist hat. Seine Finger zuckten dabei wie die zum Einhacken bereiten Fänge des Räubers der Lüfte.
≫Macht ein Ende!≪ wimmerte das Mädchen. ≫Was läßt man mich so lange auf den Tod warten?!≪
≫Ich verursache Euch also Grauen?≪
Sie antwortete nicht.
≫Bereite ich Euch wirklich nur Entsetzen?≪
≫Ja≪, sagte sie endlich. ≫Ihr seid der Henker, der mit dem Verurteilten Hohn treibt. Seit Monaten verfolgt Ihr mich, seid Ihr für mich ein Bild des Schreckens. Wie glücklich wäre ich ohne Euch! Ihr habt mich in einen Abgrund des Elends gestürzt. Und ihn habt Ihr ermordet! Meinen Phöbus≪, schluchzte sie.
Und mit funkelndem Blicke setzte sie hinzu:
≫Elender! Was habe ich Euch getan? Warum haßt Ihr mich?≪
≫Ich liebe Euch!≪
Es klang wie der Aufschrei eines zur Hölle Verdammten.
Esmeraldas Tränen versiegten, und erstaunt betrachtete sie das düstere Gesicht des Archidiakons.
≫Ja, ich liebe Euch≪, wiederholte dieser.
≫Was für eine Liebe≪, entgegnete sie bitter, mit bebender Stimme.
≫Die eines für ewig Verfluchten≪, entgegnete er grimmig.
Beide schwiegen. Die Wucht ihrer Erregung drückte sie nieder.
≫Hört≪, sagte endlich der Priester mit beherrschter Stimme, ≫Ihr sollt alles wissen. Auch was ich nicht einmal mir selbst bisher zu gestehen wagte, was heimlich mein Gewissen zugab, in jenen endlosen Nachtstunden, die so finster sind, daß Gott uns nicht mehr zu sehen scheint. Also höret: Ehe ich Euch begegnete, war ich ein glücklicher Mensch.≪
≫Und ich erst recht≪, seufzte sie leise.
≫Schweigt! — Ja, ich war glücklich. Oder ich glaubte es wenigstens zu sein. Rein und keusch besaß ich eine Seele, die voll lichter Klarheit war. Stolz und strahlend konnte ich mein Haupt erheben. Den Priestern war ich ein Muster der Tadellosigkeit, den Gelehrten eines der Weisheit. Die Wissenschaft war alles für mich, sie war mir Mutter, Schwester und Geliebte. Bis in das reifste Mannesalter hinein genügte sie meinem Leben. Wohl hatten sich zuweilen die Versuchungen des Fleisches geregt, beim Anblicke schöner Frauen. Die Macht des Blutes rüttelte an den ehernen Ketten meines Gelübdes, durch welches ich sie als unreifer Jüngling erstickt zu haben glaubte. Aber Kasteiungen, Fasten und Beten, sowie ein doppelt eifriges Studium machten meine Seele immer wieder zur Herrin des Körpers. Zudem mied ich möglichst jede Berührung mit Frauen. Ich brauchte nur meine Bücher zu öffnen, um alle unreinen Dünste vor den siegreichen Strahlen der Wissenschaft verflüchtigt zu sehen. So wurde ich stets wieder Satans Meister, weil es sich nur um Frauen handelte, die nicht mehr als einen flüchtigen Eindruck bei mir hinterließen. Und wenn ich nicht bis ans Ende Sieger blieb, so liegt die Schuld nur an Gott allein, der dem Menschen weniger Kraft gegeben als dem Teufel!≪
Röchelnd hielt der Priester inne, und es verging eine Weile, bevor er weitersprechen konnte.
≫Eines Tages lehnte ich am Fenster meiner Zelle. Ich sah nicht auf den Platz hinaus, ich las. Da wurde ich durch das Lärmen einer Trommel gestört. Ärgerlich blickte ich nach der Ursache aus und sah im hellen Mittagssonnenschein ein Wesen tanzen, so schön, daß Gott es der heiligen Jungfrau vorgezogen hätte. Es war kein Anblick für schwache Sterbliche! Ihr wart es, Mädchen, Ihr! Erstaunt, berauscht, bezaubert überließ ich mich ganz dem Schauen. Und dann erkannte ich mit eisigem Schreck, daß ich mein Schicksal gefunden hatte!≪
Nur mit Mühe konnte der Priester atmen, und wieder mußte er warten, ehe er fortsetzen konnte.
≫Ich ergab mich nicht ohne Kampf. Ich erinnerte mich der Schlingen, die mir Satan schon vorher gelegt hatte. Schon stürzend klammerte ich mich an dem Gedanken fest, daß ein Wesen von solcher Schönheit nur ein Blendwerk der Hölle sein konnte. Und die mit Euch tanzende Ziege bestärkte mich in dieser Vorstellung. Der Bock mit seiner menschenähnlichen, spöttischen Miene, er konnte nur das Tier des Hexensabbats sein. Seine vergoldeten Hörner leuchteten in der Mittagssonne mit feurigem Schein. Ich zweifelte nicht mehr, daß Ihr beide der Hölle entsprungen wart, um mir eine Falle zu legen.≪
Mit durchbohrendem Blicke musterte er die vor ihm Kauernde.
≫So glaubte ich damals, und so glaube ich noch heute. Aber der Zauber wirkte fort. Er schläferte die Wachsamkeit meiner Seele ein. Ich gab mich ganz dem Genusse hin, Euch singen und tanzen zu hören. Und in mir entstand ein Mensch, den ich bis dahin nicht gekannt hatte. Die gewohnten Heilmittel der Kirche und der Wissenschaft halfen nichts. Zwischen meinen Büchern und mir stand die leuchtende Erscheinung, aber nicht in ihrer Farbenpracht, sondern düster wie der finstere Kreis, der sich vor den Augen des Toren dreht, nachdem er zu lange in die Sonne geblickt hat. Da kam mir die Hoffnung, das Traumbild durch die Wirklichkeit verscheuchen zu können. Ich suchte nach einer Gelegenheit, Euch wiederzusehen. Und damit geriet ich ganz auf die schiefe Bahn. Nachdem ich Euch einmal, zweimal wiedergesehen hatte, wollte ich es tausendmal wieder tun. Der Teufel hielt den Faden fest, an dessen Ende er mich gebunden hatte. Unaufhaltsam zog er mich der Hölle zu. Es war kein Einhalt mehr. Ich nahm Eure Lebensweise an, vagabundierte in den Straßen herum, lauerte von der Spitze meines Turmes auf Euch. Und jeden Abend kehrte ich entzückter, verzweifelter, behexter, verlorener in meine Zelle zurück. Nachdem ich erfahren hatte, daß Ihr eine Ägypterin seid, zweifelte ich nicht mehr daran, daß es eine Zauberei war. Das gab mir einen Hoffnungsstrahl. Ich erinnerte mich an Bruno von Ast, der sich in gleicher Lage von einer Hexe befreit hat, indem er sie verbrennen ließ. So wollte auch ich mich durch einen peinlichen Prozeß von Eurem Zauber lösen. Zunächst wollte ich es jedoch mit dem Vergessen versuchen, indem ich Euch das Tanzen auf dem Domplatze verbieten ließ. Ihr aber kehrtet Euch nicht an dieses Verbot. Ihr kamt immer wieder. Da beschloß ich, Euch in meine Gewalt zu bringen. Der verdammte Offizier verhinderte es. Und das wurde der Anfang des Uhglückes für uns alle drei, für mich, für Euch und für den Offizier. Zunächst führte ich jetzt meinen ersten Vorsatz aus und machte gegen Euch eine Anzeige beim geistlichen Gericht. Aber nicht mehr, weil ich Euch auf den Scheiterhaufen bringen wollte, wie Bruno von Ast. Nein, weil ich Euch auf diesem Wege besitzen zu können hoffte. Wenn ihr im Kerker lagt, würdet Ihr in meiner Gewalt sein und mir nicht mehr entgehen können. Ich war auf dem Standpunkte angelangt, daß man das Böse ganz tun soll, sobald man es überhaupt tut. Es ist unsinnig, da auf halbem Wege stehenzubleiben. Erst wenn ein Verbrechen ganz durchgeführt werden ist, kommt der Freudenrausch. Ein Priester und eine Hexe können sich selbst auf dem Strohbündel eines Kerkers in Wonne vereinen. Da sah ich eines Tages den Menschen, dem die Wollust aus den Augen sprühte, als er lachend Euren Namen aussprach! Der leichtfertig das nehmen sollte, um was ich unter allen Qualen der Hölle mit mir gerungen hatte! Und es kam dann, wie es kommen mußte.≪
Der Archidiakon schwieg.
Das Mädchen aber erwiderte ein einziges Wort:
≫Phöbus.≪
Da packte sie der Priester mit wütendem Krallengriff am Arm:
≫Sprecht nicht diesen verfluchten Namen aus! Er hat uns alle ins Verderben gestürzt. Oder vielmehr, gegenseitig haben wir uns durch eine Laune des Schicksals zugrunde gerichtet. Ihr leidet hier in der Nacht und der eisigen Kälte des Kerkers, aber wahrscheinlich habt Ihr doch noch etwas Licht im Herzen durch Eure kindliche Liebe zu einem Menschen, der nur sein Spiel mit Euch getrieben hat. Ich aber trage den Kerker in meiner Brust! In meiner Seele herrscht die Winternacht der Verzweiflung. Wißt Ihr, was ich gelitten habe, noch leide?! Ich war bei der Gerichtsverhandlung, es war mein Golgatha! Es war mein verbrecherisches Tun, das ich da sich entwickeln sah. Akt für Akt. Die Zeugen, das Verhör. Nur mit der Folter hatte ich nicht gerechnet. Ich dachte, Ihr würdet unter der Wucht der Anklage gestehen. In der Folterkammer sah ich Euern Fuß unter den rohen Fäusten der Henker. Denselben Fuß, den ich hätte küssen mögen, um dann zu sterben. Unter dem ich mit Wonne meinen Kopf hätte zertreten lassen, Diesen Fuß sah ich in den klobigen Schreckensstiefel schnüren, der Menschenglieder in blutige Klumpen verwandeln kann. Bei diesem Anblicke zerarbeitete ich mir die Brust mit dem unter meinem Talar verborgenen Dolche. Und bei Eurem Schmerzensschrei stieß ich mir den Stahl ins Fleisch. Härtet Ihr ein zweites Mal geschrien, würde ich ihn in mein Herz gestoßen haben! Seht her! Meine Wunde blutet noch!≪
Damit schlug er seine Kutte auseinander und zeigte seine von einer Tigerkralle zerrissene Brust. Auch in seiner Weiche war eine frische, tiefe Fleischwunde zu sehen. Entsetzt fuhr Esmeralda vor diesen Zeichen des Wahnsinns zurück.
≫Habt Mitleid mit mir, junges Mädchen! Ihr glaubt unglücklich zu sein und wißt nicht, was Unglück ist! Priester sein. Ein Weib lieben. Haß statt Liebe ernten. Mit einer solchen Raserei lieben, daß man irdisches und ewiges Heil für das leiseste Lächeln geben würde. Daß man Kaiser oder Gott sein möchte, um alles der Geliebten zu Füßen legen zu können. Tag und Nacht ein Weib mit seinen Gefühlen und Gedanken umfassen, um sie in eine Offiziersuniforrn verliebt zu sehen! Während man selbst nichts als eine schmutzige Soutane aufzuweisen hat. Gegenwärtig sein, während die Geliebte an einen hohlköpfigen Prahlhans Schätze der Liebe und der Schönheit verschwendet. Formen sehen, deren Reize jeden Mann entflammen müssen. Sie unter den Küssen eines anderen erheben sehen. Glühende Zangen der Hölle sind nichts dagegen! Junges Mädchen, foltert mich mit einer Hand, aber liebkoset mich mit der anderen! Habt Mitleid mit mir!≪
Der Unselige hatte sich in eine solche Ekstase hineingeredet, daß er sich in der Kerkerpfütze wälzte und seinen Kopf gegen die Leiterpfosten schlug.
Esmeralda sah ihm schweigend zu, und als sein Keuchen nachließ, sagte sie leise wieder nur das eine Wort:
≫Phöbus.≪
Der Archidiakon rutschte auf den Knien zu ihr hin.
≫Habt Ihr kein Herz im Busen? Sprecht! Müßt Ihr alle Fibern meines Herzens mit diesem Namen zerreißen? Erbarmen! Wenn Ihr aus der Hölle gekommen seid, will ich mit Euch dort hingehen! Mit Euch zusammen wird sie für mich ein Eden sein. Lieber will ich Euer Antlitz schauen, als dasjenige Gottes! Warum stoßt Ihr mich zurück?! Ich will mit Euch fliehen und Euch an einen Ort bringen, wo die Sonne am hellsten, die Natur am grünsten ist. Dort sollen unsere Seelen ineinander verfließen!≪
Da brach Esmeralda in ein schreckliches Lachen aus.
≫Mit Euch! Der Ihr Blut an Euren Händen habt!≪
≫Nun ja≪, sagte der Priester, nachdem er wie versteinert seine Hand betrachtet hatte. ≫Schmäht mich, verachtet mich! Aber kommt! Morgen ist bald da und damit der Galgen auf dem Grève-Platz. Kommt! Ich will warten und Euch Zeit lassen, bis Ihr Euch gewöhnen könnt, mich zu lieben. Kommt!≪
Ganz verstört wollte er die Kauernde am Arme in die Höhe ziehen.
Sie widerstand mit einem finsteren Blick.
≫Sagt zuerst, was aus Phöbus geworden ist!≪
≫Er ist tot.≪
≫Tot≪, wiederholte sie eisig. ≫Und Ihr sprecht mir von künftigen Lebensfreuden?!≪
≫Ja, er muß wohl tot sein≪, sagte der Priester, wie mit sich selbst sprechend. ≫Die Klinge ist zu tief eingedrungen. Ich lebte in der Spitze des Dolches und fühlte, wie sie in sein Herz drang.≪
Da sprang Esmeralda auf und gab ihm einen Stoß, der ihn gegen die Leiter schleuderte.
≫Unhold! Mörder!≪ schrie sie ihn an. ≫Schert Euch hinweg, Ihr Scheusal! Sein Blut möge auf Eurer Stirne ein ewiges Schandmal sein! Euch je angehören, Ihr verflachter, gotteslästerlicher Priester?! Nicht, wenn es mich die Hölle auf Erden und in Ewigkeit kosten soll! Hinweg, sage ich Euch! Verruchter! Nie will ich Euch gehören! Nie!≪
Schweigend raffte sich der Archidiakon auf. Nachdem er mechanisch die Laterne ergriffen hatte, stolperte er die Stiege hinauf. Schon war er durch die zurückgeklappte Falltüre gestiegen, als Esmeralda wieder sein Gesicht herunterblicken sah. Es war eine entsetzliche Fratze rasender Wut.
≫Er ist tot!≪ kreischte er.
Da schlug sie die Hände vor das Gesicht und fiel zu Boden hin. Und nachdem die Falltüre zugeworfen worden war, konnte man keinen anderen Laut mehr hören als das tropfende Sickern des Modergewässers.
Die Mutter
Lieblich sind die Gedanken eines Mutterherzens beim Anblicke eines kleinen Kinderschuhes, zumal wenn es ein reizender Festtagsschuh ist, etwa für die Taufe oder Sonntage bestimmt gewesen, noch bevor das Kind wirklich darin gehen konnte. Bei seinem Anblicke glaubt die Mutter, ihr Kind in Wahrheit vor sich zu sehen. Sie lacht ihn an, sie küßt ihn, sie spricht mit ihm.. Sie fragt sich stets mit neuem Staunen, wie es möglich war, daß ein Fuß so klein sein konnte, um in dieser reich bestickten Winzigkeit Platz zu haben. Und in Abwesenheit des Kindes genügt der kleine Schuh, um ihr das süße, zarte Wesen vor die Augen zu zaubern.
Sie glaubt das Kind in Fleisch und Blut zu sehen, wie es munter und froh mit seinen Händchen an den runden Kopf greift und in seinen heiteren Augen das Weiße blau schimmern läßt. Im Winter sieht sie es auf der Bodenmatte kriechen. Mühsam klettert es auf einen Schemel, und zitternd befürchtet die Mutter, daß es dem Feuer zu nahe kommen könnte. Im Sommer sieht sie es über den Hof schleichen und das Gras zwischen den Pflastersteinen auszupfen. Unbefangen betrachtet es die großen Hunde und Pferde, es kennt noch keine Furcht. Es spielt mit Muscheln oder mit Blumen und zieht sich die Schelte des Gärtners zu, weil es Sand in seine Beete streut oder diese in Unordnung bringt.
Alles lacht und glänzt um so ein Kind, sogar der Hauch der Lüfte und die Strahlen der Sonne wetteifern miteinander, um in seinen zarten Locken spielen zu können.
Dies alles vermag ein einzelner Kinderschuh der Mutter zu zeigen, und ihr Herz schmilzt dabei wie eine Wachskugel am Feuer.
Wenn aber das Kind auf eine schreckliche Weise abhanden gekommen ist, werden die zahllosen Bilder der Freude, des Entzückens und der Zärtlichkeit zu ebenso vielen des Entsetzens. Der reizende, gestickte Schuh wird dann zum Folterinstrument, welches das Herz der Mutter ohne Unterlaß zerfleischt. Zwar ist es immer dieselbe Fiber, die stärkste und empfindlichste des Mutterherzens, welche betroffen wird, aber an Stelle eines liebkosenden Engels zerrt ein grausamer Teufel daran.— Eines Morgens, als die Maisonne an dem tiefblauen Himmel emporstieg, hörte die Büßerin im Rolandsturm einen vom Grève-Platz herüberklingenden Lärm von Wagenrädern, Pferden und eisernen Geräten. Dadurch erwachte sie aus ihrem gewohnten Stumpfsinne, und sie schichtete sich das Haar über die Ohren, um das Geräusch nicht hören zu müssen. So konnte sie sich wieder ungestört dem Gegenstande widmen, vor dem sie seit fünfzehn jahren anbetend auf den Knien lag.
Ihr kleiner Kinderschuh war ihre ganze Welt. Seit fünfzehn Jahren waren die Wände ihrer Klause Zeugen ihrer Gebete und Seufzer, ihrer Verwünschungen und Klagen gewesen.
Nie waren hoffnungslosere Tränen um einen so kleinen Gegenstand geflossen!
An diesem Morgen schien ihr Schmerz noch das Maß des Gewohnten zu überschreiten.
Mit herzzerbrechend eintöniger Stimme ließ sie ihre Klage hören.
≫Tochter, meine Tochter! Mein armes, liebes Kind! Nie wieder soll ich dich sehen! Alles vorbei. Gott, mein Gott! Warum hast du sie mir entrissen? Wäre es da nicht besser gewesen, du hättest sie mir nie gegeben? Du weißt es doch, wie sehr der Leib der Mutter mit dem des Kindes zusammenhängt! Daß eine Mutter ihren Glauben an einen Gott verlieren muß, der es geschehen läßt, wenn man ihr das Kind raubt. Oh, wäre ich an jenem Morgen nur nicht aus dem Hause gegangen!≪
Schluchzend schlug sie sich an die Brust.
≫Wehe, wehe! Da ist der Schuh! Wo ist der Fuß dazu? Wo das Kind? Meine Tochter, arme Tochter! Was hat man aus dir gemacht? Herr, gib sie mir wieder! Seit fünfzehn Jahren bete ich mir die Knie wund darum! Ist das noch nicht genug? Nur für einen Tag, eine Stunde, eine armselige Minute gib sie mir! Dann wirf meinetwegen meine elende Seele dem Teufel hin! Ach, wenn ich dich am Saume deines Gewandes fassen könnte, Herr! Ich würde dich nicht loslassen, ehe du mir das Kind wiedergibst. Hier ist der kleine Schuh. Hast du kein Erbarmen damit? Hast du mich nicht genug fünfzehn Jahre lang gemartert? Süße Jungfrau im Himmel, dein eigenes Kind hat man mir genommen! Dein Jesuskindlein gestohlen, um es auf der Heide zu fressen. Sein Blut hat man dort vergossen und seine Knochen zermalmt. Heilige Jungfrau, bitt’ für mich! Gib mir meine Tochter zurück! Was hilft es mir, daß sie im Paradiese ist? Was hilft es mir, daß die schuldlose Kleine ein Engel ist? Hier will ich sie haben, bei mir! Deine Engel kümmern mich nichts! Verfluchen will ich dich, Herr, wenn du mir das Kind noch weiter vorenthältst. Meinen Kopf an den Steinen zerschmettern, damit du mich verdammen mußt! Ich bin nur eine gemeine Sünderin. Aber meine Tochter wird mich fromm und gut machen! In ihrem Lächeln habe ich voll Frömmigkeit den Himmel offen gesehen. Nur ein einziges Mal möchte ich meinen Mund an das rosige Füßchen wieder drücken, das in diesem kleinen Schuh gesteckt! Dann will ich sterben, süße Jungfrau, und dich segnen. Fünfzehn Jahre! Sie müßte schon groß sein, jetzt. Soll ich dich nie wiedersehen, unglückliches Kind?! Nicht einmal im Himmel? Denn dort komme ich gar nicht hin, ich sündiges Weib! Elend, o Elend, nur ein Schuh und weiter nichts!≪
Das Herz zerriß der Unglücklichen, und jammervoll beugte sie sich über ihr einziges Besitztum, über den Schuh, wie schon Tag für Tag seit fünfzehn Jahren. Für eine Mutter bleibt es immer der erste Tag, an dem sie ihr Kind verloren hat. Ihr Schmerz bleibt immer neu. Nie nützt er sich ab. Die Trauerkleider mögen verbleichen, die Träne im Herzen bleibt.
Da zog frisch-fröhlich eine Kinderschar an der Büßerklause vorbei. Bei solchen Gelegenheiten stürzte die unglückliche Mutter immer in den innersten Winkel ihrer Höhle, um sich dort die Ohren zu verhüllen. Es war, als ob sie ihren Kopf in der harten Mauer verstecken wollte, um die Kinderlaute nicht zu hören.
Diesmal aber horchte sie auf.
Denn eine Kinderstimme hatte gesagt:
≫Heute wird die Zigeunerin gehenkt.≪
Mit einem Raubtiersprunge schnellte sich die Klausnerin an die Gatterluke, um auf die Richtstätte zu blicken.
In der Tat, dort wurden die Vorbereitungen zu einer Hinrichtung getroffen.
Eine Leiter war an den Galgen angelehnt werden, und der Henker war eben damit beschäftigt, die vom Regen verrosteten Ketten wieder in Ordnung zu bringen. Ringsherum sammelten sich bereits Zuschauer, und auch der muntere Kinderhaufe strebte dahin.
Die Klausnerin spähte nach einem Passanten aus, um Näheres erfragen zu können.
Da sah sie neben ihrer Zelle einen Priester stehen, der in dem hier aufgelegten öffentlichen Gebetsbuche zu blättern schien, dabei aber keinen seiner düsteren, wilden Blicke vom Galgen verwandte.
Sie kannte diesen heiligen Mann.
Es war der Archidiakon von Josas.
≫Hochwürdiger Herr≪, fragte die Klausnerin, ≫wer wird heute gehenkt?≪
Der Priester sah sie geistesabwesend an, ohne ihre Frage zu beantworten.
Da fragte sie noch einmal, ungeduldiger und schärfer, so daß er zusammenfuhr.
≫Wer wird gehenkt?≪
≫Ich weiß es nicht.≪
≫Ich hörte früher Kinder von einer Zigeunerin sprechen.≪
≫Dann wird es seine Richtigkeit haben.≪
Da brach die unglückliche Mutter in ein Hyänengelächter aus.
Betroffen sah sie der Priester an.
≫Schwester≪, fragte er nach einer Weile, ≫haßt Ihr die Zigeunerinnen?≪
≫Ob ich sie hasse! Diese Hexen und Kindsräuberinnen! Mir haben sie das Töchterlein geraubt und aufgefressen! Mein Kind, mein einziges Kind! Ich habe kein Herz mehr, seit sie es mir mit dem Kinde aus der Brust gerissen haben.≪
Kaltblütig betrachtete der Priester diese Raserei.
≫Vor allem aber hasse ich eine von ihnen≪, rief die Büßerin. ≫Die ist in dem Alter, welches meine Tochter haben könnte. Wenn ihre Mutter nicht mein Kind gefressen hätte. Sobald ich diese junge Viper an meiner Zelle vorübergeben sehe., kocht mir das Blut.≪
≫Welche ist es?≪ fragte da der Priester, dem zum ersten Male die Angelegenheiten der Klausnerin nahegingen.
≫Eine Tänzerin mit einer verhexten Ziege.≪
≫Dann freut Euch, denn die beiden werden heute noch gehenkt.≪
Er sagte es eisig, wie eine Säule des Grabes.
Dann ließ er das Haupt auf die Brust sinken. Langsam entfernte er sich.
Die Klausnerin aber jubelte freudig hinter ihm her.
≫Schönen Dank, hochwürdiger Herr! Schönen Dank! Ich habe es ihr immer prophezeit, daß sie zum Galgen himufsteigen wird!≪
Und mit fliegenden Haaren begann sie mit großen, schwingenden Schritten in ihrer engen Zelle, wie ein gefangenes Raubtier in seinem Käfig, auf und ab zu rennen. Ihre Augen flammten und sahen die Mauern trotzdem nicht, bevor sie nicht dagegenstieß.
Die unglückliche Mutter glich einer Wölfin, deren Stunde der Fütterung nahe ist.
Drei Menschenherzen
Phöbus war nicht tot.
Menschen seines Schlages haben ein zähes Leben.
Als der Kronanwalt der armen Esmeralda gesagt hatte, daß der Rittmeister im Sterben liege, war dies aus Irrtum oder aus Bosheit geschehen.
Und als der Archidiakon dieselbe Unglücksbotschaft übertrieben als endgültigen Tod wiederholt hatte, da war es der Wunsch seines Hasses gewesen, der ihn die Vernichtung seines Nebenbuhlers als gewiß annehmen ließ. Zudem würde kaum ein Mann an seiner Stelle anders gehandelt haben, statt der geliebten Frau gute Nachrichten über einen glücklicheren Rivalen zu bringen. Allerdings war die Verwundung des Rittmeisters eine gefährliche gewesen. Aber nicht in dem von Dom Claude erwünschten Maße.
Die ersten acht Tage hatte der ihn behandelnde Heilkünstler künstler für sein Leben gefürchtet, dann aber hatte, trotz der Kur, die Jugendkraft des Patienten die Oberhand gewonnen. Wie das so häufig geschieht, war der Kranke ungeachtet aller Symptome und Diagnosen wieder gesund geworden.
Die Natur hatte wieder einmal erfolgreich der medizinischen Wissenschaft ins Handwerk gepfuscht.
Noch auf dem Krankenbette war der Rittmeister von den zuständigen Gerichtspersonen vernommen worden, was ihn höchlichst gelangweilt hatte.
Und als er sich eines Morgens besser fühlte, hinterließ er dem Pillendreher seine goldenen Sporen an Zahlungs Statt, worauf er sich davonmachte.
Das Gericht kümmerte sich jedoch nicht weiter um ihn. Für die Gerechtigkeit jener Zeit genügte es vollkommen, wenn der Angeklagte ordnungsgemäß hingerichtet wurde. Ob der Ermordete tot war oder weiterlebte, war ganz belanglos. Esmeralda hatte den Mord gestanden, damit war die Sache erledigt.
Natürlich war Phöbus nicht weit aus dem Hause des Arztes geflüchtet. Er war einfach in den Rayon seiner Truppe zurückgekehrt, die in Queue en Brie bei Paris in Garnison lag.
Während des Prozesses vermied er es, sich viel in Paris zu zeigen. Er hatte das Gefühl, bei der ganzen Angelegenheit eine lächerliche Rolle zu spielen. Außerdem war er als Kind seiner Zeit und als wenig gebildeter Soldat abergläubisch genug, um hinsichtlich der Ziege seine Bedenken zu haben. Auch schien es ihm hinterdrein befremdlich, auf welche Weise er Esmeralda kennengelernt hatte und wie ihm durch die Indiskretion der Ziege ihre Liebe bekannt geworden war. Dazu kam noch ihr Stand als Zigeunerin und das sonderbare Nachtabenteuer mit dem ≫Gespenstermönch≪. In all dem schien ihm mehr Zauberwerk als Liebe zu liegen. Und im Geist seiner Zeit meinte er, daß bei der ganzen Sache der Teufel eine seiner beliebten Komödien inszeniert habe, bei der ihm, dem Rittmeister der königlichen Bogenschützen, die Rolle des Geprellten und Gefoppten zugewiesen worden sei.
Diesen Gedanken konnte er nur mit Schamröte erfassen und dabei hoffen, daß die Sache möglichst wenig in die Öffentlichkeit kam. Jedenfalls war er entschlossen, selbst dabei in keiner Weise hervorzutreten. Er wußte wohl, daß sein Name bei der Gerichtsverharidlung genannt werden würde. Aber da kamen als Zuhörer nur Angehörige des niederen Volkes hin, so daß es wenig wahrscheinlich war, daß man in seinen Kreisen etwas über seine Beteiligung an der Sache erfahren würde. Damit hatte er recht, zumal es ja in jener Zeit noch keine Zeitungen mit Gerichtssaalrubriken gab, welche für weiteste Öffentlichkeit gesorgt hätten. Kapitalprozesse und Hinrichtungen waren außerdem in jener Zeit nicht so rar. Es verging im Gegenteil kaum eine Woche, in der nicht ein Falschmünzer gesotten oder eine Hexe verbrannt oder ein sonstiger Verbrecher gehenkt worden wäre. Man war daher etwas abgestumpft dagegen, die alte, feudale Gerechtigkeit auf allen Kreuzwegen ihr Geschäft mit Galgen, Rad und Pranger verrichten zu sehen. Meist wußte daher die dagegen gleichgültig gewordene vornehmere Welt nicht einmal den Namen des armen Sünders, geschweige denn den Grund, warum er an ihren Fenstern vorbei zur Richtstätte geführt wurde, wenn sie sich überhaupt die Mühe nahm, hinauszusehen. Nur der Pöbel fand an diesen Exekutionen ein nie versiegendes Vergnügen, und er war es, der sich dabei als Zuschauermenge zusammenrottete.
Phöbus war daher über die Zauberin Similar (wie er sie statt Esmeralda in seinen Reflexionen nannte) bald mit sich im reinen, und der Verlauf des Prozesses berührte ihn weiter nicht.
Sobald er sein Herz von diesem Abenteuer frei gemacht hatte, beschloß er, zu Fleur de Lys zurückzukehren; denn ohne Frauen in irgendeiner Form konnte er nun einmal nicht existieren.
Zumal da es in seiner Garnison, einem richtigen Dorfe höchst langweilig war. Hier konnte er höchstens mit seinen Soldaten bei den Bauerndirnen in Konkurrenz geraten.
Da kehrte er lieber reumütig zu der Braut zurück. Die Ehrbarkeit der Ehe hatte wenig Verlockendes, gewiß. Aber schließlich war Fleur de Lys ein hübsches, vornehmes Mädchen mit einer ganz netten Mitgift, die entschieden nicht zu verachten war. So stellte er sich eines Tages ganz unbefangen wieder als verliebter Kavalier bei ihr ein. Um seinem Auftreten mehr Glanz zu verleihen, erschien er hoch zu Roß vor dem Hause Gondelaurier, nachdem er wieder genesen war und annehmen konnte, daß die Geschichte mit der Zigeunerin und ihrem indiskreten Ziegenbock in Vergessenheit geraten war.
Bei diesem Antrittsbesnche beachtete er es nicht besonders, daß sich eine größere Menschenmenge als sonst im Vorhofe des Notre-Dame-Domes drängte. Da es Mai war, mochte es wohl eine der in dieser Jahreszeit beliebten Maiandachten sein. Dafür hatte er kein weiteres Interesse. Er band daher seinen GauJ an den dafür bestimmten Torring des Hauses Gondelaurier und stieg dann wohlgemut die Treppe hinauf.
Mutter und Tochter waren allein.
Fleur de Lys grämte sich noch immer über die Kunstfertigkeit der Ziege und über die Zigeunerin, von der dieselbe das Zusammenstellen des Wortes Phöbus gelernt hatte. Und da man seither nichts mehr über den schönen Rittmeister gehört hatte, konnte sie nur annehmen, daß sich der Ungetreue mit dem verhaßten Mädchen irgendwo einem stillen, verbotenen Glücke hingab.
Als aber jetzt der Rittmeister in einem funkelnagelneuen Waffenrocke an der Türschwelle erschien, flog ihm ihr Herz sofort wieder entgegen. Er war aber auch so strahlend schön mit seinem gleißenden Wehrgehenk, und er machte ein so verliebtes Gesicht, daß sie vor Freude erröten mußte.
Und auch dem jungen Offizier erschien das Fräulein schöner denn je. Ihr prachtvolles Blondhaar war entzückend geflochten und wurde in seiner Schönheit durch das für Blondinen so vorteilhafte Himmelblau ihres Kleides gehoben. Dazu schwammen ihre Augen in Liebessehnsucht, was seine Eitelkeit höchst wohltuend berührte.
Nach den Trampeln von Queue en Brie erschien die junge Dame dem empfänglichen Rittmeister wie eine Göttin der Schönheit, und ganz berauscht verliebte er sich sogleich aufs neue in sie.
Auch Frau von Gondelaurier war viel zu sehr Mutter, um dem flatterhaften Offizier länger grollen zu können. So erstarben ihre beabsichtigten Vorwürfe in den Liebkosungen, welche sich das wiedervereinte Brautpaar angedeihen ließ.
Dann nahm man Platz. Das junge Mädchen auf ihrem Fenstersitze, wo sie noch immer mit ihrer Neptunstickerei beschäftigt war, Frau von Gondelaurier in ihrem gewohnten Lehnstuhle am Kamin, während der Rittmeister, auf die Lehne von Fleur de Lys’ Sessel gestützt, seiner Braut galante Nichtigkeiten in das errötende Ohr flüsterte.
Jetzt erst machte das Fräulein dem Ungetreuen mit halber Stimme zärtliche Vorhaltungen.
≫Wo habt Ihr zwei Monate lang gesteckt, Ihr böser Mann?≪ eröffnete sie das Liebesverhör.
Diese Frage brachte den wackeren Rittmeister in einige Verlegenheit.
≫Ich schwöre Euch, daß Eure Schönheit einen Erzbischof verführen könnte≪, bemerkte er ablenkend.
Nachdem diese Schmeichelei lächelnd quittiert worden war, kam das Fräulein wieder zur Sache zurück.
≫Lassen wir meine Schönheit und antwortet mir, wo Ihr die ganze Zeit gewesen seid.≪
≫Ich wurde in meine Garnison abberufen.≪
≫In der Tat? So schnell, daß Ihr Euch nicht verabschieden konntet? Wo liegt denn diese Garnison? Ganz aus der Welt?≪
≫Nein, in Queue en Brie≪, entgegnete der Rittmeister ziemlich einf’alltig.
≫Das weiß ich natürlich. Ich meinte mit meiner Frage etwas anderes, nämlich: warum Ihr uns aus einem so nahen Orte nicht ab und zu besuchen konnte?≪
Phöbus wand sich vor Verlegenheit.
≫Dienst, schöne Base≪, brachte er endlich hervor.
Sie lächelte spöttisch.
≫Tag und Nacht Dienst? Alle vierundzwanzig Stunden lang?≪
≫Nun, das gerade nicht. Aber ich war auch krank.≪
≫Krank!≪ wiederholte sie erschrecken.
≫Ja, verwundet.≪
≫Verwundet? O Gott!≪
Das arme Fräulein geriet nachträglich außer alle Fassung. ≫Nichts Besonderes, beunruhigt Euch nicht! Ein kleiner Streit, ein Degenstich. Das braucht Euch nicht weiter aufzuregen.≪
≫Mich nicht aufzuregen?≪ Das Fräulein brach in Tränen aus. ≫Als ob mich das gar nichts anginge! Aber ich verstehe. Weshalb dieser Degenstich?≪
≫Ein kleiner Streit mit Leutnant Fédy. Nichts von Bedeutung, versichere ich Euch.≪
Der Rittmeister stand bereits wie auf Nadeln. Wohl wußte er, daß ein kleines ritterliches Duell den eigenen Wert in den Augen der Herzensdame nur heben kann, aber meist vermutet diese doch irgendeine Weibergeschichte dahinter.
So sah ihm auch jetzt Fleur de Lys voll vergnügter und doch scheuer Bewunderung ins Gesicht; aber man merkte es ihr an, daß sie von der erhaltenen Auskunft durchaus nicht befriedigt war.
≫Wenn Ihr nur wieder vollkommen hergestellt seid, teurer Phöbus!≪ begann sie mit weiblicher Diplomatie. ≫Dieser Leutnant Fédy ist sicherlich ein ganz abscheulicher Mensch. Wie kamt Ihr mit ihm in Streit?≪
Da war sie, die gefürchtete Frage. Phöbus verwünschte seine eigene Schwatzhaftigkeit, während er von einem Bein aufs andere trat.
Das Fräulein blickte ihn sehr forschend an.
≫Um nichts≪, sagte er endlich. ≫Was weiß ich. Ein Nichts, ein Pferd, ein übereiltes Wort. Was man so unter Kameraden spricht. Holla≪, rief er, in der Absicht, mit der unangenehmen Sache ein Ende zu machen, ≫was drängen sich die Leute da draußen auf dem Platz?≪
Dabei trat er ganz ans Fenster heran.
≫Wahrscheinlich handelt es sich um die Hexe≪, entgegnete das Fräulein gleichgültig. ≫Sie soll heute Kirchenbuße tun und dann auf dem Grève-Platz gehenkt werden, wie mir meine Zofe heute morgen erzählte.≪
≫Sollte es Similar sein?≪ fragte sich der Rittmeister. ≫Anscheinend weiß Fleur de Lys nichts darüber.≪
Er wollte sich aber jedenfalls über diesen Punkt Aufklärung verschaffen und fragte daher:
≫Welche Hexe?≪
≫Keine Ahnung.≪
Das Fräulein zuckte bei dieser Antwort mit den Schuhltern. Phöbus war nun überzeugt, daß sie nichts über sein nächtliches Abenteuer wußte. Erleichtert atmete er auf. Die Blamage blieb ihm also erspart, gottlob.
Das Wort ≫Hexe≪ öffnete die Schleusen der Beredsamkeit bei Frau de Gondelaurier.
≫O du lieber Jesus≪, begann sie, ≫wer soll all die Namen den Hexen wissen, die man jetzt verbrennt? Da könnte man geradesogut die Wolken am Himmel benennen. Es genügt, daß der liebe Gott darüber das Register führt.≪
Damit hob die würdige Dame ihre stattlichen Formen aus dem Lehnstuhle, um auch ans Fenster zu treten.
≫Herr des Himmels!≪ fuhr sie hier fort. ≫Wißt Ihr, woran mich dieser Auflauf da erinnert? An meine Jugendzeit, an den Einzug Karls VII. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahre dies war. Aber damals waren die Straßen auch so voll Menschen. Der König hatte die Königin hinter sich auf dem Pferde. Und nach den Hoheiten kamen die Damen und die Kavaliere. Auch hinten auf den Pferden, die Damen natürlich. Man lachte da noch, weil hinter dem kleinen Garlande die stattliche, große Matefalon saß. Es war auch zu spaßhaft! Aber es war doch sehr schön. Der ganze Aufzug. Alle Edelleute Frankreichs mit ihren Oriflammen26 , die in die Augen leuchteten. Und alle Banner Frankreichs waren dabei. Wie traurig, daß dies alles schon so lange vorüber ist!≪
Das Liebespaar hörte der würdigen Dame gar nicht zu. Phöbus hatte wieder den Platz an der Rückenlehne seiner Braut bezogen, wo er sein frivoles Auge unter die Geheimnisse ihres Busentuches verirren lassen konnte. Dieses war genügend geöffnet, um köstliche Dinge zu verraten und um auf noch köstlichere schließen zu lassen, so daß Phöbus von dieser Samthaut einer schönen Blondine ganz geblendet war.
≫Wie kann man eine Brünette mit ihrer braunen Haut lieben?≪ fragte sich der Stimmungsmensch. ≫Für mich sind nur die Blonden schön!≪ ‘
Beide schwiegen, aber Fleur de Lys mochte die Blicke ihres Liebhabers fühlen. Eine sanfte Röte spielte über ihre Pfirsichwangen, und ihre Augen glänzten mit dem Goldschimmer um die Wette, den die auf ihrem Haare spielende Sonne erzeugte.
≫Phöbus≪, fragte sie plötzlich leise, ≫wollen wir in einem Vierteljahr heiraten? Schwört aber, daß Ihr nie ein anderes Weib als mich geliebt!≪
≫Ich schwöre es mit Begeisterung≪, rief der Rittmeister feurig. Sein leidenschaftlicher Blick und sein überzeugungsvoller Ton schienen dem Fräulein vollkommen ausreichende Wahrheitsbeweise zu sein.
Indes hatte Frau de Gondelaurier das Zimmer verlassen, da sie einige Hausfrauenpflichten zu erledigen hatte.
Sobald sich Phöbus mit seiner Verlobten allein sah, wurde er so unternehmungslustig und kühn, daß ihm ein seltsamer Einfall in den Kopf stieg. Seine Braut liebte ihn, er war mit ihr allein, seine alte Neigung war in vollster Glut wieder erwacht, da konnte es nach seiner Ansicht kein so großes Verbrechen sein, die ihm entgegenreifende Frucht etwas grün zu verspeisen. Zufällig blickte ihm bei dieser Überlegung Fleur de Lys gerade ins Gesicht, und sie erschrak instinktiv vor dem, was sich darin abmalte. Mit ängstlichem Umblick bemerkte sie zudem erst jetzt, daß ihre Mutter hinausgegangen war.
≫Mein Gott≪, sagte sie, um ihr Erröten zu erklären, ≫wie heiß es ist!≪
≫In der Tat≪, entgegnete der nicht minder rote Offizier. ≫Es kann nicht mehr weit auf Mittag sein. Die Sonne brennt schon recht scharf herab. Soll ich die Vorhänge schließen?≪
≫Nein, nein!≪ rief sie eifrig. ≫Im Gegenteil, laßt nur die frische Luft herein.≪
Und sie entfloh auf den Balkon.
Verdrossen folgte ihr Phöbus nach.
Da der Balkon direkt auf den Domplatz hinausging, bot sich ihnen hier ein unheimliches Schauspiel dar, welches die furchtsame Fleur de Lys alsbald den Gegenstand ihres Schreckens wechseln ließ.
Der Platz war mit einer so zahlreichen Menschenmenge besetzt, daß alle Zufahrtsstraßen verstopft waren. Der eigentliche Vorhof von Notre-Dame wurde allerdings durch eine brusthohe Mauer von diesem Andrange freigehalten, aber auch nur deshalb, weil er von einem Kordon von Polizeidienern und Büchsenschützen umzingelt war, die ihre brennenden Lunten in der Faust hielten. Außer diesem Feuergewehr starrte dem Publikum ein ganzer Wald von Piken und Hellebarden entgegen, welche die Mannen des Bischofs trugen.
Die großen Kirchentüren waren geschlossen und standen dadurch im Gegensatz zu den Fenstern aller Häuser des Platzes, die sämtlich geöffnet und mit dichtgedrängten Menschen besetzt waren.
Der Gesamteindruck der auf dem Platze versammelten Menge war ein schmutziges Grau, welches abschreckend genug wirkte. Offenbar war hier hauptsächlich der Pöbel vertreten, der es, wie immer, als sein Vorrecht betrachtete, bei Schauspielen dabeizusein, denen ein feinfühlender Mensch lieber aus dem Wege geht. Es war eine Versammlung schmutziger Mützen und ungepflegter Kopfhaare, die lärmend und ausgelassen durcheinanderwogte. Man unterschied in diesem Zusammenlauf mehr Weiber als Männer.
Manchmal übertönte eine oder die andere schärfere Stimme ihre Nachbarschaft:
≫Heda, Mahiette!≪
≫Wird sie hier gehenkt?≪
≫Einfaltspinsel! Hier tut sie nur die Kirchenbuße.≪
≫Im bloßen Hemd?≪
≫Mit der Kerze in der Hand.≪
≫Einen Strick um den Hals.≪
≫Bloßfüßig.≪
≫Wo henkt man sie?≪
≫Auf dem Grève-Platz.≪
≫Hier will ihr der liebe Herrgott bloß sein Latein ins Gesicht husten.≪
≫Er beginnt damit zu Mittag.≪
≫Wenn du sie hängen sehen willst, geh beizeiten auf den Grève-Platz.≪
≫Später! Ich will erst das hier sehen.≪
Und an anderer Stelle:
≫Ist es wahr, daß sie den Beichtvater ausgeschlagen hat?≪
≫So eine Heidin.≪
≫Eine Zigeunerin.≪
≫Na ja, eine Hexe.≪ ‘
Ein Fremder erkundigte sich über die Gebräuche der Hinrichtung.
Bereitwillig wurde er von einem Kundigen belehrt.
≫Herr, so ist das Herkommen: Sobald der Verbrecher abgeurteilt ist, übergibt ihn der Amtmann des Justizpalastes an den Oberrichter beim Châtelet, der die Hinrichtung ausführen läßt. Das heißt, wenn der Verbrecher ein Laie ist. Ist er ein Geistlicher, wird er den Beamten des Bischofsgerichtes überliefert.≪
≫Gutet Gott≪, seufzte Fleur de Lys. ≫Das arme Geschöpf!≪
Schmerzlich sah sie über die Volksmenge hin, ohne vorläufig etwas von der Verurteilten bemerken zu können.
Der Rittmeister kümmerte sich überhaupt nicht um die Vorgänge auf dem Platze, sondern beschäftigte sich damit, mit dem Gürtel seiner Braut zu tändeln.
Mit einem bittenden Blick lächelte ihm Fleur de Lys zu. ≫Laßt mich, Phöbus, ich bitte Euch! Was soll meine Mutter sagen, wenn sie plötzlich kommt und sieht, wo Eure Hand ist.≪
Eben schlug es Mittag von der Kathedrale.
Da durchlief ein freudiges Gemurmel den Mob.
≫Sie kommt!≪
≫Sie ist da!≪
Wie von einem Windstoße herumgeworfen, wandten sich alle Köpfe derselben Richtung zu.
Fleur de Lys bedeckte das Gesicht mit den Händen.
≫Süße≪, schlug der Rittmeister vor, ≫wollen wir wieder ins Zimmer zurückgehen?≪
≫Nein, nein!≪ und sie öffnete aus Neugier die Augen, die sie aus Furcht geschlossen hatte.
Ein schwerer Normannengaul zog einen Karren mit Gabeldeichsel heran, der von Reitern in violetten Waffenröcken mit großen weißen Brustkreuzen umringt war. Vor dieser Eskorte liefen Gerichtsdiener mit langen Ruten einher und peitschten damit eine Gasse in die Menge. Hinter dem Karren ritten einige Gerichts- und Polizeibeamte, die sowohl an den schwarzen Talaren wie an ihrem unsicheren Sattelsitz erkennbar waren. Meister Charmolue stolzierte an ihrer Spitze einher. Auf dem Henkerkarren saß Esmeralda mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen. Kein Geistlicher befand sich, wie sonst üblich, an ihrer Seite. Sie war im bloßen Hemde, und ihr langes, schwarzes Haar hing freigelöst herab. Nach damaligem Brauche sollte es erst am Fuße des Galgens abgeschnitten werden. Ihre Schultern und Brüste waren halb entblößt.
Um den Hals trug sie die Schlinge eines rauhen, dicken Strickes, der ihre zarte Haut wundscheuerte, während er sich um sie wie ein häßlicher Regenwurm um eine liebliche Blume schlang.
Unter diesem Schandstricke glänzten die grünen Glasperlen ihres Amuletts, das man ihr gelassen hatte, weil man den Todgeweihten ähnliche letzte Bitten nie zu verweigern pflegte.
Zu Füßen der Verurteilten kauerte ihre Leidensgenossin, die Ziege, die man nicht nur gefesselt, sondern auch geknebelt hatte, um ihr Gemecker zu verhindern.
Anscheinend schämte sich Esmeralda bei diesem ganzen schändlichep Aufzuge am meisten ihrer Entblößung, da sie den Brustsaum des Büßerhemdes mit den Zähnen festhielt.
≫Um Gottes willen≪, sagte Fleur de Lys erregt. ≫Seht doch, Phöbus, es ist die abscheuliche Zigeunerin mit der häßlichen Ziege!≪
Auch Phöbus hatte bereits Esmeralda erkannt und starrte blaß auf den Arme-Sünder-Karren hinab.
≫Welche Zigeunerin?≪ stotterte er.
≫Wie? Ihr solltet Euch nicht mehr erinnern?!≪
Der Ton des Fräuleins war sehr scharf geworden.
≫Ich weiß nicht, was Ihr meint≪, entgegnete der Rittmeister hartnäckig.
Damit machte er Miene, ins Zimmer zurückzutreten.
Aber die Eifersucht der ≫Lilienblume≪ stand wieder in den hellsten Flammen.
Mißtrauisch blickte sie auf ihren flatterhaften Galan. Dabei kam ihr dunkel in Erinnerung, daß neulich ihre Zofe bei der Morgentoilette etwas von einem Offizier geschwätzt hatte, der in einen Hexenprozeß verwickelt war. Sollte…? Das war nicht zum Ausdenken!
≫Phöbus!≪ sagte sie kategorisch.
Dieser zwang sich zu einem hohl klingenden Lachen. ≫Ich weiß nicht, was Ihr wollt, hahaha! Man sollte meinen, daß Euch dieses Weib mit seinen Zauberkünsten in Verwirrung gebracht hat!≪
≫Mich? Nicht daß ich wüßte! Eher Euch, mein Teurer!≪
≫Ihr seht wohl Gespenster! Gehen wir lieber ins Zimmer hinein!≪
≫Bleibt≪, entgegnete sie in befehlendem Tone. ≫Bleibt! Wir wollen die Sache bis zum Ende sehen!≪
Der Rittmeister verstand, daß er gute Miene zum bösen Spiel machen mußte. Etwas beruhigte ihn zudem die Beobachtung, daß Esmeralda ihren Blick niedergeschlagen hielt und ihn daher vielleicht gar nicht bemerken werde.
Mit einem scheuen Blicke sah er überdies, daß die Tänzerin auch auf dieser letzten Stufe des Unglücks und der Schande immer noch schön war. Infolge der Abmagerung ihrer Wangen erschienen ihre großen, dunklen Augen noch größer, und auf ihrem bleichen Antlitze lag ein Zug erhabener Reinheit. Sie glich mehr als ie einer Raffaelschen Madonna, seit sie schwächer und zarter geworden war.
Betäubt, von Scham und Verzweiflung geknickt, schlotterte die Unglückliche bei den Stößen des rumpelnden Karrens, was ihr das Ansehen einer bereits halb Gestorbenen gab. In ihren Augen schienen die Tränen festgefroren zu sein.
Indes hatte sich der schandbare Zug durch die johlende, rohe Menge hindurchgeschoben und war im Vorhof der Kathedrale angelangt. Vor dem Mittelportal machte er halt.
Hier stellte sich die Eskorte in Schlachtordnung auf. Die Menge aber wurde totenstill.
Da öffneten sich mit langsamer Feierlichkeit die beiden schweren Flügel des großen Tores, und das Knarren ihrer Angeln war bei dem allgemeinen erwartungsvollen Schweigen über den ganzen Platz zu hören.
Und durch die so entstandene breite Öffnung sah man das ganze Hauptschiff der Innenkirche, das, nur von wenig Kerzen beleuchtet und ganz schwarz ausgeschlagen, in tiefster Düsterkeit dalag. Als Gegenstück des sonnigen Platzes erschien es wie ein finsterer Grabesschlund.
Ganz im Hintergrunde, im dunklen Schatten des Chores, stand ein ungeheures großes Silberkreuz, welches auf ein von der Wölbung bis zum Boden herabwallendes schwarzes Tuch eingestickt war.
Das ganze Kirchenschiff war leer, nur in den letzten Reihen der Chorstühle waren einige Priesterköpfe zu sehen.
Gleichzeitig mit dem Öffnen des Tores begann dem Dome ein ernster, eintöniger Gesang zu entquellen, der gleichsam Bruchstücke der Trauerpsalrnen über das Haupt der Büßerin ergoß.
Diesem Vorgesange des Chores antwortete mit anderen Psalmen eine schwermütige Stimme vom Hauptaltar.
Es war der Beginn der feierlichen Totenmesse, der Sang einiger in der Dunkelheit verlorener Greise über ein dem vorzeitigen Tode geweihtes, jugendfrisches, noch zu höchster Lebenslust berechtigtes Wesen. Die kalte Nacht des Winters klagte über Frühlingsluft und Sonnenschein.
Andächtig hörte die Menge zu.
Die Verurteilte aber hatte den letzten Rest ihrer Fassung verloren. Ihre bleichen Lippen bewegten sich wie in lautlosem Gebet, und ihr Bewußtsein schien sich mit ihren Blicken in die dunkle Tiefe der Kathedrale zu verlieren.
Als der Henker die Verurteilte vom Karren hob, hörte er, wie sie in einförmiger Weise das Wort ≫Phöbus≪ wiederholte.
Die beiden Delinquentinnen, Herrin und Ziege, wurden nun ihrer Fesseln entledigt. Das arme Tier begann freudig zu blöken, als man ihm den Knebel abnahm. Esmeralda aber mußte barfuß über das holperige Pflaster bis an die unterste Stufe des Portals herantreten, während der um ihren Hals gelegte Strick wie eine sie verfolgende Schlange nachschleifte.
Da brach der Kirchengesang ab.
Vom Hintergrunde des Kirchenschiffes, vom Hauptaltare her, setzten sich ein großes, goldenes Kruzifix und eine Anzahl Kerzen in Bewegung.
Die Hellebarden der buntgekleideten Domwächter erklirrten, als sie den langen Zug von Priestern und Diakonen grüßten, der langsam und psalmodierend aus dem Hauptportale auf die Büßerin zukam. Diese feierliche Prozession umstellte die Verurteilte im Halbkreise und pflanzte das Kruzifix vor ihr auf. Esmeraldas Blick wurde von einem dieser Priester angezogen, der gleich neben dem Kreuzträger stand.
≫Schon wieder der Priester≪, murmelte sie.
In der Tat, es war der Archidiakon von Josas.
Zu seiner Linken stand der Unterkantor und zu seiner Rechten der Kantor selbst mit dem Amtsstabe seiner Würde in der Hand.
Mit zurückgesvorfenem Haupte und weit offenen starren Augen sang Dom Claude den Eröffnungspsalm. Dabei war er von einer solchen Leichenblässe, daß es den Anschein hatte, als habe sich einer der auf den Grabmälern des Chores knienden marmornen Bischöfe erhoben, um an der Schwelle des Grabes die dem Tode Geweihte zu empfangen. Dieser statuenhafte Eindruck wurde durch seine steife Haltung und durch die Weiße des lang herabwallenden Chorhemdes noch verstärkt.
Esmeralda, ebenso blaß, glich einer anderen Bildsäule. Sie bemerkte es kaum, daß man ihr eine schwere, gelbe Wachskerze in die Hand drückte und dieser Feuer gab. Ebensowenig vernahm sie, wie der Gerichtsschreiber mit krächzender Stimme die vorgeschriebene Formel der Kirchenbuße verlas. Und nur mechanisch sagte sie auf dessen Drängen das erforderliche ≫Amen≪ dazu.
Es kam erst dann Leben in die Verurteilte, als Dom Claude ihre Wächter zur Seite winkte und dann ganz nahe an sie herantrat, um mit ihr allein sprechen zu können.
Da fühlte sie, wie das Blut heiß durch ihre Pulse flog und wie die letzten Reste gerechter Empörung aus ihrem schon fast todesstarren Herzen emporflammten. Langsamen Schrittes näherte sich ihr der Archidiakon. Sein in Wollust, Eifersucht und Verlangen funkelndes Auge glitt über ihren Leib hinab.
≫Junges Mädchen≪, sagte er zunächst mit lauter Stimme ≫habt Ihr Gott um Vergebung Eurer Sünden gebeten?≪ Und dann neigte er sich an ihr Ohr, um im Publikum den Glauben zu erwecken, daß er mit ihr wegen ihrer Beichte sprach.
≫Noch vermag ich Euch zu retten≪, flüsterte er heiß. ≫Wollt Ihr die Meine sein?≪
≫Hebe dich hinweg, Satan≪, schrie sie zornig zurück.
Da stieß er ein furchtbares Lachen aus.
≫Hinweg oder ich zeige Euch an!≪ herrschte ihm Esmeralda zu.
≫Nur zu≪, höhnte der verbrecherische Priester, ≫nur zu! Glaubst du, daß dir jemand Glauben schenken wird?! Man würde zu den anderen Verbrechen nur das der Priesterbeleidigung auf deine Rechnung setzen! Antworte: Willst du die Meine sein?≪
≫Was habt Ihr mit Phöbus gemacht?≪
≫Er ist tot.≪
In diesem Augenblicke wollte es der Zufall, daß der nichtswürdige Mensch seine Blicke hob und gegenüber, auf dem Balkon, den Rittmeister in blühendster Gesundheit neben Fleur de Lys stehen sah.
Dom Claude fuhr sich mit der Hand über die Augen, als ob er ein Gespenst gesehen hätte. Dann stieß er mit einknickenden Knien einen unterdrückten Fluch aus, während sich seine Züge zu einer krampfhaften Fratze verzerrten.
≫Wohlan, so stirb!≪ stieß er zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. ≫Niemand soll dich besitzen, wenn ich dich nicht haben kann!≪
Und die Hand mit priesterlicher Gebärde über Esmeralda erhebend, sprach er mit dumpfer Grabesstimme laut die rituelle Formel aus:
≫Zeuch hin, ratlose Seele, Gott sei dir gnädig!≪
Es war dies die unheimliche Schlußformel, nach deren Aussprache die Büßerin zur Richtstätte zu führen war. Mit derselben trat der Priester vor dem Henker zurück.
Sogleich fiel das Volk in die Knie.
≫Herr erbarme dich≪, rief der Priesterchor.
≫Herr erbarme dich≪, klang es tausendfach aus der Menschenmenge wieder.
Es war wie das Brausen der hochbewegten See.
≫Amen≪, verkündete feierlich der Archidiakon.
Damit kehrte er der Verurteilten den Rücken. Sein Haupt sank auf die Brust hinb, über die er seine Arme kreuzte.
In dieser Haltung schritt er langsam auf die Priesterschaft zu, die sich zum Zuge formierte, um hinter ihm und dem Kruzifixe in das Innere des Doms zu verschwinden. Dabei sangen sie den Schlußpsalm, den man allmählich verklingen hörte, während sie von den düsteren Schatten im Hintergrunde des Kirchenschiffes verschlungen wurden.
Zu diesem Psalmensange schlug das zeitweilige Klirren der mit den Priestern abmarschierenden Hellebarden der Domwächter den Takt, gleich den Schlägen eines Uhrhammers, der die letzte Stunde der Verurteilten zu künden hatte.
Unbeweglich harrte Esmeralda dessen, was nun mit ihr geschehen würde.
Tatsächlich wartete man auf eine diesbezügliche Anordnung des Prokurators des Königs, der nunmehr über die Delinquentin zu verfügen hatte, nachdem die Priester ihre Hand von ihr zurückgezogen.
Meister Charmolue war aber indes seiner alchimistischen Neugier erlegen und hatte sich in das Studium des Basreliefs am Hauptportale versenkt, wo er sich den Kopf darüber zerbrach, ob dieses nur das Opfer des Abraham oder eine Allegorie darstellte, die einen Schlüssel zur Auffindung des Steines der Weisen gab. Er gedachte dabei der kürzlich von Dom Claude erfahrenen Auslegung, wonach die Sonne durch den Engel des Herrn, das Feuer durch den Reisigbund und der Alchimist durch den Patriarchen Abraham vertreten wurde.
Es kostete einige Mühe, den Prokurator aus diesen Reflexionen zur Wirklichkeit zurückzubringen. Endlich wandte er sich wieder der Eskorte zu, aus der er zwei in Gelb gekleidete Männer heranwinkte. Es waren die beiden Henkersknechte, die auf ein weiteres Zeichen die Hände Esmeraldas wieder auf dem Rücken zusammenbanden.
Als die Unglückliche erneut an den Karren gebracht wurde, fühlte sie ihres Lebens herzzerreißendsten Schmerz. Sie richtete ihre tränengeröteten Blicke gegen den Himmel, gegen die Sonne und gegen die Silberwolken, die sich in Trapezen und Dreiecken teilten, um den blauen Grund des Firmamentes sichtbar werden zu lassen.
Nachdem Esmeralda dieses Bild des Friedens in sich aufgenommen hatte, ließ sie ihre Blicke über die Menschenansammlung hinwegschweifen und dann an den Häusern hinaufgleiten, als ob sie sich dies alles noch einmal gut einprägen wollte.
Eben fesselte man ihr die Hände, als ihr wanderndes Auge an dem gegenüberliegenden Balkon haftenblieb und sie hier den Inhalt ihres Lebens, den strahlenden Bogenschützenoffizier erblickte.
Da stieß sie einen lauten Schrei der Freude aus.
Alle hatten sie gelogen! Der Richter, der verruchte Priester!
Phöbus lebte! Er war gesund, wie je zuvor!
Da stand er, schön, in seiner schimmernden Uniform, mit winkendem Federbusch und glänzendem Pallasch und Wehrgehenk!
≫Phöbus!≪ rief sie. ≫Mein Phöbus!≪
Und sie wollte ihre Arme gegen ihn erheben.
Aber diese waren bereits fest auf den Rücken geschnürt.
Entsetzen!
Denn sie mußte sehen, daß der Abgott ihrer Träume die Stirne runzelte, während ihm das danebenstehende Fräulein mit höhnischem Blicke gereizte Worte zu sagen schien. Und dann sah die Unglückliche noch, wie Phöbus seiner Nachbarin einiges antwortete, worauf beide ins Zimmer zurücktraten.
Die Fenstertüre des Balkons fiel klirrend hinter den Abgegangenen zu.
≫Phöbus!≪ rief Esmeralda außer sich. ≫Phöbus! Hältst du mich für schuldig?≪
Furchtbar stieg der Gedanke in ihr auf, daß Phöbus sie für den Lockvogel des Mörders halten konnte.
Alles hatte sie bisher über sich ergehen lassen.
Dies aber war zu fürchterlich!
Ohnmächtig sank sie auf das Pflaster nieder.
≫Hebt sie auf und tragt sie in den Karren≪, befahl Charmolue ungerührt.
Bisher hatte niemand einen Zuschauer beachtet, der in der Galerie der Königsstatuten, unmittelbar über den Wölbungen des Hauptportals, der ganzen Szene beigewohnt hatte.
Mit einer seltsam scheinenden Gefühllosigkeit hatte dieser mißgestaltete Beschauer seinen Hals gereckt, und dabei hielt er sich so bewegungslos, daß er, abgesehen von seiner halb roten, halb violetten Tracht, einem der steinernen Ungeheuer glich, deren Rachen die Ausgüsse der langen Dachrinnen der Kathedrale bildeten.
Aber trotz seiner scheinbaren Teilnahmslosigkeit war ihm nicht das geringste von all den Ereignissen entgangen.
Und gleich zu Beginn der Bußszene hatte er an einer der Galeriesäulen das Ende eines langen Strickes befestigt und diesen selbst im Schutze eines der Torflügel auf die Vortreppe des Domes hinabgleiten lassen.
Als sich nun die Henkersknechte anschickten, dem Befehle des Prokurators entsprechend, die Verurteilte auf den Arme-Sünder-Karren zu heben, ließ sich der seltsame Beobachter mit der Geschwindigkeit einer Katze an dem Seile herab. Kaum auf festem Boden angelangt, schnellte er auch schon mit einem Panthersatze auf die Henker zu. Je ein mächtiger Prankenschlag links und rechts schmetterte die beiden Flegel nieder. Dann hob er mit einem einzigen Armgriffe die Tänzerin wie eine Puppe hoch, um mit ihr in einem gewaltigen Rückwärtssprunge die Kirchenschwelle zu erreichen.
≫Asyl!≪ rief er hier. ≫Asyl!≪
Das alles hatte sich mit der Schnelligkeit eines Blitzes abgespielt.
≫Asyl! Asyl!≪ wiederholte die Menschenmenge, und das Klatschen von zehntausend Händen ließ das einzige Auge Quasimodos vor Stolz funkeln.
Esmeralda war dabei wieder zu Bewußtsein gekommen. Sie öffnete ihre Augen, schloß sie aber ebenso rasch wieder, als ob ihr die Person ihres Retters mehr Schreck als Freude eingeflößt hätte.
Charmolue, die Henker, die Eskorte, alle starrten wie betäubt auf diese Gruppe hin.
In der Tat. Machen konnten sie nichts. Das Asylrecht war unverletzlich. Die Kathedrale ein unangreifbarer Zufluchtsort. An ihrer Schwelle verlor der Arm der menschlichen Gerechtigkeit jede Kraft.
Im Bewußtsein seiner Sicherheit stand Quasimodo breitbeinig auf der geweihten Schwelle und gab den Blick des Prokurators wild zurück. Seine unförmigen Füße schienen wie Säulen auf dem Steinboden des Domes zu wurzeln, und sein dicker, borstiger Kopf war wie der eines angriffsbereiten Ebers zwischen die mächtigen Schultern gezogen. In seinen schwieligen Händen ruhte das Mädchen mit der Leichtigkeit eines weißen Gewandes. Und es war rührend zu sehen, wie er sie vorsichtig hielt, als ob sie aus zerbrechlichem Stoffe bestände. Er schien sogar den Atem anzuhalten, um sie nicht mit demselben zu berühren.
Plötzlich aber drückte er die Gerettete inbrünstig an seine Brust. Es lag aber mehr Mütterlichkeit als Leidenschaft in dieser Bewegung. Sein Gnomenauge strömte von mitleidsvoller Zärtlichkeit über, um sich dann wieder in leuchtendem Glanze zu erheben.
Da lachten und weinten die Frauen, die dies sahen. Voll Begeisterung wogte die wetterwendische, leicht gerührte Menge hin und her, und manchem schien der mißgestaltete Glöckner in diesem Augenblicke geradezu schön zu sein.
Er war auch wirklich schön, im erhabenen Sinne dieses Wortes, indem er dieser menschlichen Gerechtigkeit, diesen um ihre Beute betrogenen Tigern, diesen Richtern, Bütteln und Henkern mit der ganzen drohend hinter ihnen stehenden königlichen Gewalt furchtlos Trotz bot, um seine gute Tat zu vollbringen.
In der von ihm und Esmeralda gebildeten Gruppe waren die beiden schmerzlichsten Ausflüsse der menschlichen Gesellschaft, unverschuldete Mißgestalt und unverschuldetes Leid, vereint.
Aber Quasimodo begnügte sich mit einigen Minuten des Triumphs.
Dann verschwand er mit seiner süßen Last im Inneren der Kathedrale.
Das bereits in ihn wegen seiner Heldentat verliebte Volk bedauerte schon lebhaft, daß er sich so schnell allen Beifallsbezeugungen entzogen hatte, als man ihn plötzlich am äußersten Punkte der Galerie der Königsstatuen wieder auftauchen sah.
Seine Eroberung hoch in beiden Händen haltend, durchlief er die Galerie der französischen Könige und rief dabei immer wieder das eine Wort:
≫Asyl!≪
Und bei jeder dieser Wiederholungen brach die Menschenmasse in einen lautjubelnden Beifallsschrei aus.
Nachdem Quasimodo die Galerie durcheilt hatte, verschwand er wieder im Inneren der Kirche.
Aber nicht auf lange.
Schon war er auf der oberen Plattform erneut zu sehen, auf der er, mit der Tänzerin auf den Armen, wie toll hin und her lief.
Dazu schrie er immer wieder:
≫Asyl!≪
Und jedesmal erklang der brausende Beifallsjubel der Zuschauer zurück.
Endlich wurde er ein drittes Mal auf der Spitze des Glockenturmes sichtbar.
Stolz zeigte er von hier aus der ganzen Stadt die von ihm Gerettete. Und seine so selten vernehmbare Stimme erklang wie lauter Donnerschall, als er aus voller Brust zum letzten Male seinen Siegesruf ertönen ließ:
≫Asyl! Asyl!≪
Und wie ein tausendfach verstärktes Echo rollte der frenetische Beifallsschrei der Menge zu ihm empor.
Verblüfft horchten bei diesem Aufschrei der Volksseele die auf dem Grève-Platz versammelten Menschen auf.
Die Klausnerin im Rolandsturme aber hielt unerschütterlich ihren Blick auf den steinernen Galgen gerichtet, der vergeblich seines Opfers harrte.
Teil VIII
8
Visionen
Als Quasimodo auf die geschilderte drastische Weise den Knoten der Verwicklung durchhieb, hatte Dom Claude bereits die Kathedrale verlassen.
Nachdem er in der Sakristei seinen Ornat abgerissen und dem bestürzten Mesner hingeworfen hatte, war der Archidiakon durch die geheime Türe des Stiftshauses ins Freie getreten, welche auf den Fluß hinausmündete. Hier winkte er eines der Verkehrsboote heran, um sich über die Seine setzen zu lassen. Am linken Ufer angelangt, verlor er sich ziellos im Gassengewirr des Universitätsviertels.
Wie ein geblendeter, ergrimmter Nachtvogel im Tageslicht, irrte er bleich und verstört umher. Dabei begegnete er immer neuen Menschenhaufen, die lustig und guter Dinge vorwärtseilten, um noch zum Hochgerichte auf dem Grève-Platz zurechtzukommen.
Dom Claude achtete nicht viel auf das Gerede dieser Neugierigen, sondern eilte, wie von einer unsichtbaren Macht getrieben, immer weiter, ohne zu wissen, wohin und weshalb. Es war, als ob der Galgen der Richtstätte hinter ihm her gewesen wäre, er selbst auf der Flucht vor demselben. Nachdem er derart über den St.-Genoveva-Hügel gekeucht war, verließ er schließlich durch das St.-Viktor-Tor die Stadt.
Aber auch außerhalb der Stadtmauern hielt er noch nicht an. Immer schneller bewegte er sich weg von dem verhaßten Paris, bis er eine Bodensenke erreicht hatte, in der er, rückwärts schauend, mit erleichtertem Aufatmen nichts mehr von den Türmen und Vorstadthäusern sehen konnte. Da hatte er das angenehme Gefühl, so gut wie hundert Meilen von der Stadt entfernt und in den menschenleeren Feldern wie in einer wohltuenden Einöde zu sein.
In seinem Hirne drängten sich schrecklich die Gedanken. Klar in seine Seele blickend, schauderte er vor ihr zurück. Und qualvoll kam ihm die Erinnerung, wie er die Geliebte und sie ihn ins Verderben gestürzt hatte.
Vor seinem scheuen geistigen Blick lag der verschlungene Pfad des beiderseitigen Verhängnisses, an dessen Ende sie sich gegenseitig vernichtet hatten.
Er dachte an die Torheit, die in dem Gelübde ewiger Keuschheit lag. An die Nichtigkeit religiöser Tugendregeln und an die Machtlosigkeit der Wissenschaft, sobald das Gebot des Blutes sprach. Gott schien ihm in dieser Stimmung eine höchst nutzlose Erfindung zu sein. In diese fürchterlichen Gedanken verbohrte er sich mit einer wahren Lust, während er in seinem Inneren alle Geister der Hölle lachen hörte.
Während er so sein Herz zerfleischte, erkannte er mit Hohn, welchen Spielraum hier die Natur den Leidenschaften gab. Haß und Bosheit durchschüttelten ihn bei dieser Entdeckung. Und mit dem kalten Blicke des im Beichtstuhle geübten Seelenarztes sah er nur zu wohl, daß dieser Haß und diese Bosheit nichts anderes als verkehrte Liebe waren. Eine verderbte Liebe, wie sie nur im Gemüte eines Priesters keimen und wachsen konnte, den alberne Vorschriften von der natürlichsten Betätigung ausgeschlossen hatten.
Dabei fehlte es ihm nicht an der Selbsterkenntnis, daß ein Mensch seines Charakters zum Satan werden mußte, sobald er die Laufbahn eines Priesters ergriff. Abwechselnd erbleichend und furchtbar lachend, wurde er sich des unheilvollen Wesens seiner Leidenschaft bewußt. Er sah das Zerstörende, Vergiftete, Haßerfüllte und Unversöhnliche an seiner Liebe. Und wie dies folgerichtig den Gegenstand seiner Verblendung an den Galgen und ihn selbst in die Verdammnis der Hölle führen mußte. Mit teuflischem Gelächter dachte er daran, daß Phöbus wieder vergnügt und munter am Leben war, um noch schönere Uniformen als früher zu tragen und darin einer neuen Geliebten den Kopf zu verdrehen, während ihre Vorgängerin am Galgen schwang.
Und voll grimmigen Hohns erkannte er die Zwecklosigkeit seines menschlichen Tuns und Planens, während ein stupid und blind dahertappendes Schicksal den Gegenstand seines Hasses zum Wohlbefinden und den Gegenstand seiner Liebe auf die Richtstätte führte.
Dann schweiften seine Gedanken vom Rittmeister zu der Menge, welche Esmeraldas Kirchenbuße beigewohnt hatte.
In lodernder Eifersucht erinnerte er sich daran, wie alle diese Glotzaugen auf ihren Blößen geweilt hatten, wie die Formen des heißbegehrten Weibes auf öffentlichem Platze im hellsten Mittagssonnenschein in einer Weise preisgegeben worden waren, als ob sie dem Mob für eine wollüstige Nacht vorgeführt worden wäre. Er weinte vor Wut über diese unwiderrufliche Entweihung geschändeter, bloßgestellter und besudelter Geheimnisse der Jungfräulichkeit, daß der Geliebten Scham, dieser vergeblich ersehnte Becher der Wonne, in ein gemeinsames Gefäß für die lüsternen Begierden der Hefe von Paris verwandelt werden war.
Selbstquälerisch malte er sich ein Bild der paradiesischen Freuden, die ihm erblüht wären, wenn er kein Priester und Esmeralda keine öffentliche Tänzerin gewesen wäre. Wenn es keinen Phöbus gegeben und seine eigene Liebe Erwiderung gefunden hätte.
Mit zornigem Neide überlegte er, wie viele glückliche Paare in diesem Augenblick auf Erden leben mochten, für die es keine trennenden Schranken gab, die in der Pracht dieses Maitages in Orangenhainen, an munter plätschernden Bächen, im Angesichte der Sonne ihren Liebesfrühling unbehindert ausleben durften.
≫Gott≪ knirschte er. ≫Warum hast du dies nicht auch bei mir gewollt? Warum durfte ich nicht auch zu einem dieser zärtlich gesegneten Paare gehören?≪
In Verzweiflung und zarter Sehnsucht krampfte sich bei diesen Fragen sein gefoltertes Herz.
Sie wurden zur fixen Idee, die immer wiederkehrend sein Hirn zernagte und sein Inneres zerriß.
Und da er keine Antwort finden konnte, verhärtete sich sein Gemüt gegen jede Reue über die von ihm begangenen Verbrechen. Lieber wollte er die Geliebte in der Hand des Henkers als in der eines glücklicheren Rivalen, in der dieses hohlköpfigen Offiziers wissen.
Dabei litt er so sehr, daß er sich ein Büschel seiner spärlichen Schläfenhaare ausriß und dabei verdutzt bemerkte, daß diese in den letzren paar Tagen schneeweiß geworden waren.
Plötzlich überfiel ihn eisig die Vorstellung, daß vielleicht eben die Minute war, in welcher die fürchterliche Kette des Galgens ihre eiserne Schlinge um den zarten Hals Esmeraldas zusammenzog. Bei diesem Gedanken brach aus allen seinen Poren kalter Schweiß.
Und dann mußte er jäh und teuflisch herauslachen, weil ihm als Gegenbild zu dieser Schreckensszene vorschwebte, wie Esmeralda an ihren heiter-sorglosen Tagen libellenhaft in ihren Tänzen umhergegaukelt war.
Er sah beide Bilder gleichzeitig nebeneinander, das in ihrem phantastischen Tanzkostüm und das im weißen Büßerhemd.
Er sah sie, mit dem Büßerstricke um den Hals, mit ihren zarten, bloßen Füßen die kantigen Stufen der Galgenleiter hinaufsteigen. Und bei dieser gräßlichen Vorstellung schrie er auf.
Ein Sturm der Verzweiflung brauste über seine Seele, der alles darin entwurzelte, untereinanderwarf, zerbrach und niederriß. Es war ein Orkan der Leidenschaft, der mit der Friedfertigkeit der ihn umgebenden Natur seltsam im Widerspruche stand.
Zu seinen Füßen liefen pickende Hühner umher, Goldkäfer schwirrten im Sonnenschein, und über seinem Haupte segelten Schäferwolken unter dem blauen Himmelsgrund. Fern am Horizonte durchbrach der Turm der St.-Viktors-Abtei die Wellenlinie der Hügelkette, auf der sich Windmühlen geschäftig drehten.
Dieses tägliche, ruhige und geordnete Leben tat ihm so in tiefster Seele weh, daß er erneut die Flucht ergriff.
Er rannte quer über die Felder, planlos, bis der Abend niedersank.
Er flüchtete vor den Menschen, vor der Natur, vor dem Leben und vor Gott.
Nur sich selbst konnte er nicht entgehen.
Zuweilen warf er sich mit dem Gesicht auf die Ackererde nieder und riß dabei mit krallenden Fingern die jungen Saaten aus.
Dann hielt er wieder an öden Feldwegen Rast, bis ihm seine Gedanken so unerträglich wurden, daß er am liebsten seinen Kopf mit beiden Händen ausgerissen und an einem der Feldsteine zerschmettert hätte.
Und als die Sonne sank, glaubte er, bereits wahnsinnig zu sein.
Seit er mit Esmeraldas letzter Ablehnung jede Hoffnung und Willenskraft verloren hatte, war er die Beute eines Seelensturmes gewesen, der in seinem Hirne jeden vernünftigen Gedanken und jeden gesunden Begriff zerstört hatte.
Nur zwei deutliche Vorstellungen blieben schließlich in seinem Bewußtsein übrig: Esmeralda und der Galgen. Diese beiden Figuren bildeten eine entsetzliche Gruppe, die immer phantastischere Formen annahm, je mehr er die Reste seiner Denkkraft und Aufmerksamkeit darauf konzentrierte.
Esmeralda gewann dabei immer mehr an Anmut, Reiz, Glanz und Schönheit, der Galgen immer mehr an Schandbarkeit und Schrecken.
Esmeralda wurde schließlich in seinem müden Hirn zum glänzenden, unerreichbaren Stern, der Galgen zu einem dürren Arm von entsetzlicher Länge.
Nicht einen Augenblick kam dabei dem Elenden der Gedanke, ein Ende seiner Qualen im eigenen Tode zu suchen.
Während er für seine verbrecherische Leidenschaft unbedenklich das Leben der anderen opferte, hing er mit allen Fasern an dem eigenen Sein.
Vielleicht fürchtete er wirklich die Hölle, die den Selbstmörder bedroht.
Vielleicht machte er es sich gar nicht ernstlich klar, daß seine Verbrechen ihn in dieselbe Gegend führen mußten. Falls er von den Lehren des von ihm vertretenen Glaubens wirklich überzeugt war!
So ging der Tag zur Neige.
Der Gewohnheitsmensch in ihm gemahnte an die Heimkehr.
Dabei machte er die überraschende Entdeckung, daß er gar nicht von Paris weggelaufen war, wie er es gewollt hatte.
Sondern nur im Kreise um das Weichbild der Stadt sich bewegt hatte.
Sich orientierend, sah er zu seiner Rechten die Turmspitze von Saint-Sulpice und die drei Türme von Saint-Germain Germain über den Horizont ragen. Er wandte sich gegen diese Landmarken zu, um den Heimweg anzutreten.
Unter den zinnengeschmückten Wällen der Abtei von Saint-Germain verjagte ihn das ≫Halt! Wer da?≪ der bewaffneten Wächter, worauf er den Pfad zwischen der Mühle und dem Hospital des Fleckens wählte, der ihn nach einer knappen Stunde an den Rand der Studentenwiese führte.
Diese Wiese war durch ihre nächtliche Unsicherheit berüchtigt, der Archidiakon kannte aber keine körperliche Furcht. Nachdem er hier eine Zeitlang herumgeirrt war, schritt er durch die einsamen Auen an den Fluß hinab, wo er, nach einigem Suchen im Dunkeln, einen Fährmann fand, der ihn die Seine hinauf bis zur Inselspitze der Altstadt fuhr.
Hier ließ er sich an jener menschenverlassenen Landzunge absetzen, auf die Gringoire nach dem Durchfalle seines Mysterienspiels geflüchtet war, um — wie erinnerlich — jenseits der königlichen Gärten über dem Eilande des Viehfährmannes zu träumen.
Das gleichmäßige Wiegen des Nachens und das einförmige Rauschen des Bugwassers hatten den Archidiakon schläfrig gemacht. Nach der Landung blieb er noch eine Weile halb betäubt am Ufer stehen, wobei er die Gegenstände der Umgebung nur in nebelhaften Schwingungen sah.
Ein übergroßer Schmerz ermüdet zumeist in dieser Weise den Geist.
Und als der Archidiakon sich müde durch die Straßen der Altstadt schleppte, schienen ihm die im Scheine der Schaufenster sich drängenden Menschen nur zwecklos hin und her laufende Schemen zu sein. Seltsame Geräusche drangen an sein Ohr, und sonderbare Bilder verwirrten seinen Geist.
Er sah weder die Häuser noch den Verkehr der Straße, sondern nur ein verschwommenes Chaos unbestimmbarer Dinge.
Als er an einem Materialladen vorüberkam und hier die altem Herkommen gemäß an Bügelhaken herabhängenden eisernen Lichthalter in der Abendbrise wie Kastengnetten aneinanderklapperten, glaubte er unter den Galgenskeletten von Montfaucon zu sein.
≫Der Nachtwind läßt die Galgenketten an die Knochen der Gehängten schlagen≪, dachte er. ≫Vielleicht ist auch sie unter ihnen.≪
So kam er ganz geistesabwesend, wie ein Nachtwandler, auf die St.-Michaels-Brücke. Hier sah er im Erdgeschosse einer Hütte Licht und trat an das zerbrochene Fenster heran. Im Inneren erblickte er ein verwahrlostes Zimmer und einen blonden Jüngling, der lachend mit einem geputzten, schamlos aussehenden Mädchen schäkerte. Eine scheußliche Hexe betrachtete wohlgefällig das zuchtlose Paar.
Die Alte war die Falourdel, das Mädchen eine öffentliche Dirne und der Jüngling der Bruder des Archidiakons.
Dom Claude starrte auf dieses Bild, ohne in seinem umnebelten Bewußtsein etwas Besonderes daran zu finden. Er empfand nicht die geringste moralische Entrüstung darüber, daß sich sein Bruder in dieser Lasterhöhle befand. So sehr hatte er im Laufe des Tages all seinen Vorrat an Empfindungen ausgegeben, daß ihm der ganze Vorgang höchst alltäglich erschien.
Nur mechanisch sah er, wie sein Bruder an das gegenüberliegende Fenster trat, dieses öffnete und auf den Flußdamm hinausblickte, wo in der Ferne zahllose Lichter schimmerten. Dann hörte er, wie Johannes sagte:
≫Bei meiner Seele, diese Bürger sind wie der liebe Gott. Sobald es finster wird, beleuchten sie alle Fenster, so wie der liebe Gott seine Sterne anzündet.≪
Dann trat der Student an den Tisch und schlug eine dort stehende Flasche in Scherben.
≫Schon wieder leer!≪ wetterte er dabei. ≫Und ich habe nicht einen lumpigen Sol mehr! Schad’, daß deine Brüste keinen Wein hergeben, Isabeau!≪
Bei diesem Scherze brachen die Weiber in wieherndes Lachen aus, während der Student ärgerlich die Hütte verließ.
Beim Heraustreten kam Johannes seinem Bruder so nahe, daß Dom Claude sich auf die Erde werfen mußte, um nicht von ihm erkannt zu werden. Dies glückte ihm, da die Straße dunkel und der Student betrunken war.
Johannes wäre aber bald über ihn gestolpert.
≫Hoppla≪, rief er, ≫da liegt ein anderer lustiger Patron!≪ Er stieß den Archidiakon mit dem Fuße an. Dieser hielt jedoch den Atem an und rührte sich nicht.
≫Toll und voll! Wie ein von der Tonne gefallener Blutegel! Ein Kahlkopf! Das heißt, ein paar weiße Haare hat er anscheinend noch! Ruhe sanft, glücklicher Greis!≪ Und achselzuckend entfernte sich der Student.
Dom Claude hörte noch, wie er im Abgehen sagte:
≫Die Alten haben es besser als unsereiner! Da ist gleich mein Bruder, der Herr Archidiakon, zum Beispiel: Der ist glücklich, weil er Weisheit und Geld besitzt.≪
Kaum war der Student in der Dunkelheit verschwunden, als Dom Claude aufsprang und gegen die Notre-Dame-Kathedrale zu lief, deren mächtige Türme über den Häusern zu sehen waren.
Aber knapp vor dem Dome blieb er stehen, als wagte er nicht, näherzukommen.
Mit Schaudern erinnerte er sich der Mittagsszene, und er fragte sich, ob sie wirklich stattgefunden hatte.
Scheu blickte er zu der Fassade empor, die sich düster gegen den sternenklaren Himmel abhob. Eben wuchs die Mondsichel über den Horizont und schien wie ein leuchtender Vogel auf dem Kleeblattsaume des Turmgeländers zu hocken.
Da das Stiftshaus bereits geschlossen war, entschloß sich der Archidiakon, zu der Turmzelle hinaufzusteigen, weil er die hierzu nötigen Schlüssel bei sich hatte.
Er betrat die Kirche, in der die Stille und Dunkelheit des Grabes herrschte. Die noch nicht herabgenommenen schwarzen Behänge der Totenmesse glichen langen, breiten Schatten, und im Hintergrunde flimmerte das große Silberkreuz. Durch die obersten, von den Behängen freien Spitzen der Chorfenster spielten die Mondstrahlen und warfen auf vereinzelte Gegenstände ein aus Weiß, Blau und Violett gemengtes Licht, ähnlich der Farbe, die auf den Gesichtern der Toten zu sehen ist. Wo diese unheimlichen Strahlen auf die Köpfe der Marmorbischöfe fielen, glaubte der Archidiakon eine Versammlung Toter zu sehen.
Erschreckt floh er quer durch das Kirchenschiff, während sein eigenes Furchtbeben die optische Täuschung hervorrief, als ob der ganze Dom wankte und jeder Säulenknauf eine ungeheuere Pranke wäre. Die ganze Kirche schien beseelt zu leben und ein gigantisches apokalyptisches Mammut zu sein, welches schnaubend auf den Säulen als Füßen ruhte und die Türme wie drohende Rüssel in die Luft streckte.
In das Seitenschiff einbiegend, glaubte der Flüchtling in der ewigen Lampe über dem öffentlichen Gebetbuche einen freundlich blinkenden Leitstern zu sehen. Begierig warf er sich über das aufgeschlagene Andachtsbuch, in der Hoffnung, darin einen Trost oder eine Ermutigung zu finden.
Sein Auge fiel auf die Stelle aus Hiob:
≫Ein Geist ging an meinem Angesichte vorüber, und ich vernahm einen leisen Odem, und die Haare meines Leibes sträubten sich.≪
Beim Lesen dieser Worte hatte er die Empfindung eines Blinden, der sich mit dem eigenen Stabe schlägt.
Seine Knie gaben unter ihm nach, und er sank auf die Steinplatten nieder. Sein ganzes Bewußtsein war durch die heute Gestorbene erfüllt, und in seinem Kopfe stiegen so heiße Dünste auf, daß er ihn für eine Esse der Hölle hielt.
So lag er ziemlich lange, in sich selbst versunken und machtlos allen Einflüssen Satans preisgegeben. Derartig grenzenlos wurde dabei schließlich sein Einsamkeitsgefühl, daß er sich erhob, um in der Turmstube bei Quasimodo Zuflucht zu suchen. In seiner Angst nahm er die bei dem Andachtsbuche brennende Lampe mit. Dieser kirchliche Frevel erschien ihm als bloße Geringfügigkeit. Langsam klomm er die Turmtreppe empor, von dem geheimen Schrecken begleitet, den einzelne Passanten des Vorhofes verspürten, als sie das wandelnde Licht von Luke zu Luke im Turme zur Höhe steigen sahen.
Plötzlich schlug ein eisiger Luftzug in das Gesicht des einsamen Wanderers. Er hatte die Türe zur höchsten Galerie erreicht.
Die Luft war kalt, und über den Nachthimmel zogen Wolken, die sich in weißgrauen Bänken übereinanderschoben. Inmitten dieser fließenden Gebilde tanzte die Mondsichel, und zeitweilig schien sie sich wie ein zwischen Eisbergen festgeranntes Schiff in die Wolkenschwaden zu verbohren.
Nachdem Dom Claude dieses Bild in sich aufgenommen hatte, senkte er den Blick, um durch das Säulengatter zwischen den beiden Türmen in die fernen Dunst- und Nebelschleier zu schauen, die über die Giebel und Firste des Häusermeeres wogten und wallten.
Da erdröhnten von der Turmuhr die Schläge der Mitternacht.
≫Ebensooft hatte es zu Mittag geschlagen≪, dachte der Einsame. ≫Sie ist sicher schon ganz kalt.≪
Er wollte seinen Weg fortsetzen, als ein jäher Windstoß die Lampe verlöschte. Und zu gleicher Zeit trat aus dem gegenübérliegenden Winkel des Turmes eine weiße Frauengestalt hervor.
Mit aneinanderschlagenden Zähnen sah der Archidiakon hinter dieser Erscheinung eine Ziege hervorkommen, deren Blöklaute die letzten Glockenschläge wiederholten. Mit aller Kraft zwang sich Dom Claude, die weibliche Gestalt ins Auge zu fassen.
Kein Zweifel, sie war es!
Blaß und schwermütig sah sie aus. Ihre Haare fielen, ebenso wie zu Mittag, auf ihre Schultern hinab. Aber am Halse trug sie nicht mehr den Strick, und ihre Hände waren ungefesselt.
Sie war frei, weil sie tot war.
Ganz in Weiß gekleidet, hatte sie eine weiße Haube auf dem Kopf. Mit langsamen Schritten kam sie auf Dom Claude zu, dessen Haare entsetzt zu Berge standen. Ihre Blicke waren gen Himmel erhoben, und die Ziege schritt geisterhaft leise hinter ihr her.
Bei jedem ihrer Vorwärtsschritte machte der Archidiakon einen Tritt nach rückwärts, bis er unter das dunkle Treppengewölbe gekommen war. Hier hielt er bebend inne, ohne die Kraft zur Wendung und Flucht zu haben. Mit einem Stoßgebet flehte er zum Himmel, daß sie ihm nicht hierher folgen möchte.
So kam die Erscheinung dicht bis an die Treppentür heran, wo sie stehenblieb, um starr ins Dunkle zu blicken.
Dann ging sie weiter, anscheinend ohne den zitternden Priester bemerkt zu haben.
Sie schien dem Lauscher größer als im früheren Leben, und er sah durch ihr Gewand den Schein des Mondes. Als die gespenstische Erscheinung vorübergeglitten war, stieg Dom Claude mit wankenden Gelenken die Treppe hinab.
Und er vermeinte ganz deutlich eine Stimme zu hören, die da lachte:
≫Ein Geist ging an meinem Angesichte vorüber, und ich vernahm einen leisen Odem, und die Haare meines Leibes sträubten sich.≪
Missgestaltet
Im Mittelalter hatte bis in die Zeit Ludwigs XII. jede Stadt Frankreichs ihre Freistätte.
Diese Asyle waren wahre Rettungsinseln inmitten einer Sintflut barbarischer Gerichtsbarkeit. Wer sie erreichen und sich in ihnen behaupten konnte, war der menschlichen Gerechtigkeit entzogen, selbst wenn er der größte Verbrecher war.
Annähernd gab es in jedem Weichbilde ebenso viele Frei- wie Richtstätten, was zuweilen zu einem ebensolchen Mißbrauch der Asylfreiheit wie der Rechtsprechung führte. So hob oft ein Übel das andere auf.
Alle Paläste und Schlösser der Könige und der Prinzen waren solche Zufluchtsorte. Vor allem aber stand jeder gottgeweihten Stätte das unbedingte Asylrecht zu.
Manchmal machte man aus wirtschaftspolitischen Gründen eine ganze Stadt oder einen Landstrich zeitweilig zum Asyl, wenn man diese wiederbevölkern oder kolonisieren wollte. So erklärte Ludwig XI. nach der großen Epidemie im Jahre 1467 ganz Paris als Freistätte.
Sobald der Flüchtige das Asyl betreten hatte, war er unverletzlich aber er verurteilte sich selbst damit zu lebenslänglicher Gefangenschaft. Ein Schritt aus dem freien Bezirke heraus warf ihn sogleich wieder in die Arme der Gerechtigkeit zurück, die für ihn weit geöffnet blieben. Denn die Freistätte wurde in einem solchen Falle gut bewacht, und die Schergen umlauerten sie, beutegierigen Haien gleich, die ein Schiff umkreisen.
Da gab es Verurteilte, die auf diese Weise auf der Treppe eines Palastes, in der Vorhalle einer Kirche oder im Bezirke einer Abtei ergrauten, während das Leben vor ihren Augen vorüberzog.
Zuweilen kam es auch vor, daß ein Parlamentsbeschluß in einem bestimmten Falle das Asylrecht aufhob und den Flüchtling seinen Richtern zurückgab. Aber es blieben immer nur vereinzelte Fälle.
Die Parlamente hatten zu große Scheu vor den geistlichen Behörden und gingen Kompetenzstreitigkeiten der beiden Talare lieber aus dem Wege.
Es mußte sich daher schon um einen ganz brutalen Mörder handeln, damit die weltliche Gerechtigkeit sich zu einer Verletzung des Asylrechtes entschloß. Aber wehe, wenn dies ohne Parlamentsbeschluß geschah. Selbst so hohe Herren wie der Marschall von Frankreich, Robert Herzog von Clermont, und der Graf von Châlons mußten es auf dem Schafott büßen, daß sie einen gemeinen Mörder, den Wachszieher Perin Marc, eigenmächtig aus Saint-Méry herausgeholt hatten.
In den Kirchen befand sich oft eine kleine Zelle für solche Flüchtlinge. Auch die Notre-Dame-Kathedrale hatte eine solche an derselben Stelle, an der sich jetzt ein Gärtchen für die Frau des Turmwächters befindet. Es ist dies ein ≫Hängender Garten der Semiramis≪ im kleinen, wo die Salatstauden die Palmen vertreten.
In diese Zelle hatte Quasimodo die Gerettete gebracht. Bis hierher hatte Esmeralda, halb wach, halb bewußtlos, nichts weiter empfunden, als daß sie immer höher und höher getragen wurde, ähnlich dem erschöpften Schwimmer, der von den Wagen gehoben wird, bevor sie ihn auf das rettende Festland spülen. Die Brandung vertrat dabei Quasimodos Freudengelächter. Und wenn sie zeitweilig zwischen den halbgeöffneten Augen sein vergnügtes, mißgestaltetes Gesicht sah, meinte sie bereits hingerichtet worden zu sein und sich in den Armen eines Gnoms zu befinden, der sie einem unbekannten Lose entgegentrug. Willenlos überließ sie sich der stärkeren Gewalt.
Als Quasimodo sie keuchend in der Zelle niederlegte, um ihre Arme loszubinden, empfand sie die eigentümliche Erschütterung eines Schiffspassagiers, der inmitten der Nacht durch das Auflaufen des Fahrzeuges aus dem Schlafe geschreckt wird.
Ihre Gedanken sammelnd, erinnerte sich Esmeralda, daß Phöbus sich von ihr abgewandt hatte. Und in der Bitterkeit dieses Erlebnisses richtete sie an ihren Beschützer die undankbare Frage:
≫Warum habt Ihr mich gerettet?≪
Er sah sie voll Beklemmung an, während er den Sinn ihrer Worte zu erraten suchte.
≫Warum habt Ihr mich gerettet?≪ wiederholte sie noch einmal.
Instinktiv erriet der arme Taube den Sinn dieser grausamen Frage. Er antwortete aber bloß mit einem unendlich traurigen Blick und floh dann aus der Zelle hinaus. Erstaunt sah sie ihm nach.
Aber schon nach kurzer Zeit kam er wieder und legte ihr ein Bündel zu Füßen. In diesem befanden sich einige Kleidungsstücke, welche mitleidige Frauen für die Gerettete an der Kirchenschwelle niedergelegt hatten.
Erst jetzt besann sich Esmeialda, schamhaft errötend, auf ihre halbe Blöße. Mit dieser Schamempfindung erwachte auch die Lebenslust wieder in ihr.
Auch Quasimodo schien dieselbe Schamhaftigkeit zu fühlen, da er die Hand aufs Auge legte, bevor er sich entfernte.
Rasch kleidete sie sich nun an, nachdem sie aus den Sachen das weiße Habit und die weiße Haube einer Krankenschwester vom Hôtel Saint-Dieu gewählt hatte. Esmeralda war kaum mit ihrem Anzuge fertig geworden, als auch schon Quasimodo wieder da war. Diesmal brachte er eine Matratze und einen Korb mit Lebensmitteln herbei. Es war sein eigenes Bett und seine eigene Tagesration, die er seinem Schützling darbot.
Gern hätte sie ihm einige Worte des Dankes gesagt, aber seine Häßlichkeit erschreckte sie so sehr, daß sie keine Silbe über die Lippen brachte.
Quasimodo verstand nur zu wohl die sie bewegenden Gefühle, denn er sagte zu ihr:
≫Ich mache Euch Furcht. Aber seht mich nicht an, sondern hört mir bloß zu: Über Tag müßt Ihr hierbleiben, nachts aber könnt Ihr durch die ganze Kirche wandern. Aber hütet Euch, sie zu verlassen! Ihr würdet sofort ergriffen und verloren sein. Und dies wäre auch mein Tod!≪
Bewegt wollte sie endlich ihrer Dankbarkeit Ausdruck geben, aber er war bereits verschwunden, ehe sie den Mund geöffnet hatte.
Allein geblieben, sann sie über das seltsame Wesen und über die sonderbare Schlußbemerkung ihres Beschützers nach und über den merkwürdigen Gegensatz zwischen seiner rauhen Stimme und seinen zartfühlenden Worten. Dann sah sie sich in ihrer Zelle um. Diese hatte etwa sechs Fuß im Geviert, ein kleines Lukenfenster und eine Türe im sanft geneigten Plattendach. Vor der Luke schlängelten mehrere Dachrinnen, und zwischen ihnen war der Essenwald der Pariser Häuser als Hintergrund zu sehen, über dem sich die Rauchwolken in Schwaden ballten und verzogen.
Ein bitteres Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit wollte die Tänzerin eben überkommen, als sich ein zottiund bärtiger Kopf an ihre Knie drängte.
Schreckhaft, wie sie durch die Ereignisse der letzten Zeit begreiflicherweise geworden war, fuhr sie zusammen.
Es war jedoch nur die Ziege, die in ebendemselben Augenblicke den verblüfften Schergen entwischt war, als Quasimodo als Deus ex machina erschien. Vergeblich hatte sich die arme Djali die ganze Zeit bemüht, die Aufmerksamkeit ihrer Herrin zu erwecken. Jetzt endlich gelang es ihr. Esmeralda bedeckte das treue Tier mit Küssen.
≫Ach, Djali≪, klagte sie, ≫wie konnte ich dich nur vergessen! Ich bin recht undankbar, während du doch an mich denkst!≪
Mit diesem Ausrufe schien eine schwere Last von ihr zu sinken. Sie konnte endlich Tränen finden, die sie reichlich fließen ließ. Und in ihnen zerschmolz viel von der Bitterkeit und Herbheit ihres Herzens.
Indes dämmerte der Abend dieses bewegten Tages nieder, und als der friedliche Mond seine Strahlen in ihre Zelle sandte, fand Esmeralda den Mut, einen Spaziergang auf der oberen Galerie zu machen, die um die ganze Kirche herumführte.
Auf dieser Wanderung fand sie im Anblicke des stillen, schlafenden Paris die Ruhe ihrer Seele wieder.
Taub
Esmeralda hatte lange nicht so fest und ruhig geschlafen wie in der ersten Nacht ihres Asyls.
Sie erwachte erst, als die durch ihre Zellenluke eindringenden Sonnenstrahlen auf ihrem Antlitze spielten. Als sie die Augen aufschlug, gewahrte sie an ihrem Fensterlein außer der freundlichen Sonne noch eine Fratze, vor der sie jäh erschrak.
Es war aber nur das Gesicht Quasimodos, der zu ihr sagte:
≫Fürchtet Euch nicht Ich gehe schon!≪
Es lag etwas rührend Klagendes im Tone dieser Bemerkung, die kaum ausgesprochen war, als auch das Gesicht des Sprechers verschwand.
Mit lebhaftem Bedauern eilte Esmeralda an die Luke, und hinausblickend gewahrte sie den armen Buckligen in schmerzhafter Haltung in einer Mauerecke stehen.
≫Kommt≪, sagte sie sanft.
Der Taube meinte, daß sie ihn weiter fortwies. Er wollte sich daher gesenkten Kopfes abwenden, ohne auch nur einen verzweiflungsvollen Blick auf das junge Mädchen zu wagen.
Esmeralda bekämpfte tapfer das Gefühl der unwillkürlichen Abneigung, die seine Mißgestalt ihrem schönheitsfrohen Auge einflößte.
≫Kommt doch≪, rief sie noch einmal.
Auf das hin begann er sich zu entfernen.
Da sprang sie aus ihrer Zelle heraus und faßte ihn am Arm.
Bei dieser Berührung erbebte Quasimodo und warf ihr einen flehenden Blick zu. Dabei aber strahlte sein ganzes Gesicht vor Freude und Zärtlichkeit.
Sanft wollte sie ihn in die Zelle hineinführen, aber an ‘ der Schwelle leistete er ihr Widerstand.
≫Nein, nein≪, beteuerte er. ≫Die Eule paßt nicht ins Lerchennest!≪
Schließlich blieb er innerhalb der Schwelle kauern, und Esmeralda nahm auf ihrem Ruhelager Platz, wo die Ziege sich an sie schmiegte.
So verharrten schweigend die beiden einsamen Menschen, die so treffend Schönheit und Häßlichkeit vertraten.
Esmeraldas Blicke schweiften von den krummen Beinen ihres Gegenübers zu dessen Buckel und einem Auge. Es schien ihr unfaßbar, daß sich in einem einzigen Lebewesen so viel Häßlichkeit vereinen konnte.
Aber der über Quasimodo liegende Schleier der Traurigkeit und Milde machte es ihr leicht, sich an ihn zu gewöhnen.
Quasimodo brach als erster das Schweigen:
≫Ihr wünschtet, daß ich in Eure Zelle kam?≪
≫Ja≪, erwiderte sie.
Er erriet dieses Wort aus ihrer gleichzeitigen Kopfbewegung.
≫Ich bin taub≪, bemerkte er leise.
≫Armer Kerl!≪ rief sie mit allen Zeichen des Mitgefühls aus.
Schmerzlich lächelte Quasimodo dazu.
≫Es fehlte nur das zum übrigen, nicht? Ihr aber, Ihr seid so schön!≪
In dieser Selbstverspottung lag ein so tief unglückliches Empfinden, daß Esmeralda nicht die Kraft hatte, ein Wort dazu zu sagen.
Was er infolge seiner Taubheit ohnehin nicht verstanden hätte.
≫Nie habe ich meine Häßlichkeit so verwünscht wie jetzt. Ich muß ja auf Euch den Eindruck eines Ungeheuers oder eines Tieres machen Auf Euch, die Ihr wie ein Sonnenstrahl seid, ein Tropfen des Taues, ein verkörpertes Lied! Ich dagegen bin weder Mensch noch Tier, sondern ein Monstrum, das man mit Füßen von sich stößt!≪
Und er brach in ein herzzerreißendes Gelächter aus.
≫Ja, ich bin auch taub≪, sagte er nach einer Weile. ≫Ihr müßt mit Zeichen zu mir sprechen. Ich habe einen Freund, der sich auf diese Weise sehr gut mit mir verständigt. Bei Euch werde ich noch leichter wie bei jenem Eure Meinung aus Euren Blicken und bloßen Lippenbewegungen erraten.≪
≫Nun gut≪, sagte sie lächelnd. ≫Sagt mir, warum Ihr mich gerettet habt?≪
Quasimodo hatte aufmerksam ihre Lippen beobachtet, und jetzt entgegnete er:
≫Ich habe Euch verstanden. Ihr wollt wissen, warum ich Euch gerettet habe. Seht, Ihr hattet wohl vergessen, daß ich Euch entführen wollte, als Ihr an den Pranger kamt und mir den labenden Trunk reichtet. Damals faßte ich den Entschluß, Euch vorkommendenfalls meine Dankesschuld mit dem Leben zu bezahlen. Im Vergleich dazu hatte es nicht viel auf sich, Euch den Bütteln abzunehmen.≪
Mit tiefer Rührung hörte Esmeralda diese Worte. In Quasimodos Auge aber perlte eine Träne, ohne herabzurollen.
Es schien ihm Ehrensache, nicht vor einer Frau zu weinen. ≫Hört≪, sagte er, ≫hier sind die Türme sehr hoch, und ein herabstürzender Mensch würde tot sein, bevor er noch das Pflaster erreicht. Gebt einen Wink, wenn es Euch Vergnügen macht, und ich stürze mich vor Euren Augen hinab.≪
Dabei erhob er sich, als ob er eines so grausamen Befehles gewärtig wäre, um ihm sogleich zu gehorchen. Sie gab ihm ein Zeichen, auf seinem Platze zu bleiben. ≫Ich muß jetzt gehen≪, meinte er, ohne sich wieder niederzulassen. ≫Ich darf nicht zu lange hier weilen. Es tut mir nicht gut.≪
Dann zog er eine kleine Metallpfeife aus der Tasche und reichte sie der Tänzerin.
≫Wenn Ihr meiner bedürft, so pfeift≪, teilte er ihr dabei mit. ≫Das Geräusch dieser Pfeife kann ich trotz meiner Taubheit vernehmen.≪
Damit verschwand er jäh durch die Zellentüre.
Gegensätze
So ging der Tage Gleichmaß hin.
Nach und nach kehrte volle Ruhe in Esmeraldas Seele zurück.
Kein Übermaß, weder das der Freude noch das des Schmerzes kann von langer Dauer sein.
Gewaltsame Zustände haben keinen Bestand. Das Herz des Menschen kann nicht in anhaltender Spannung verharren.
Esmeralda hatte so viel gelitten, daß schließlich nur das Staunen darüber erhalten blieb.
Mit der Sicherheit des Asyls kehrte die Hoffnung wieder bei ihr ein. Es machte ihr nichts aus, daß sie außerhalb der menschlichen Gesellschaft, ja, noch mehr, außerhalb des Lebens stand. Seit je war sie daran gewöhnt gewesen, als elternloses Kind auf sich allein angewiesen zu sein.
Sie hatte nur dumpf das Gefühl, einer Verstorbenen zu gleichen, die den Schlüssel zu ihrer eigenen Gruft bei sich trägt.
Die Schrecken der letzten Vergangenheit verblaßten jetzt mehr und mehr vor ihrem geistigen Auge, der Foltermeister, der Inquisitor und der entsetzliche Priester wurden zu scheußlichen Trugbildern, bis sie nach und nach erloschen.
Es war ihr ein großer Trost, Phöbus am Leben zu wissen. Die Liebe zu ihm hatte den Niedersturz ihres gewohnten Lebens überdauert. Von allen diesen schrecklichen Schicksalsschlägen war der Gedanke an seinen Tod der schwerste gewesen.
Nun aber hatte sie ihn gesehen. Er lebte. Und sein Leben war ihr alles. Ihre Liebe hatte alle Erschütterungen der Seele siegreich überdauert.
Die wahre Liebe gleicht einem Baume. Sie schlägt ihre Wurzeln tief in unser ganzes Wesen, sie treibt allein Zweige und Blüten, und sie grünt noch bei gebrochenem Herzen weiter. je blinder die Leidenschaft ist, desto größer ist ihre Beharrlichkeit. Sie ist am standhaftesten, wenn sie unbefriedigt bleibt.
Zweifelsohne konnte Esmeralda nicht ohne Bitterkeit an Phöbus denken. Es war entsetzlich, daß er an ihre Beteiligung an dem Mordanschlage zu glauben schien. Und sie konnte es nicht fassen, daß er annehmen konnte, der Dolchstich wäre von derselben veranlaßt werden, die gern tausendmal das eigene Leben für ihn hingegeben hätte.
Aber hatte sie nicht selbst dies Verbrechen eingestanden? War er da nicht berechtigt, sie für schuldig zu halten?
Allerdings hatte sie nur unter dem Einflusse der Tortur gestanden.
Aber hätte ihre Liebe nicht stärker als ihre weibliche Schwäche sein müssen?
War es nicht ein Sakrileg, eine solche schwere Schuld gegen den Geliebten einzugestehen? Und wenn es hundertmal unter dem Einflusse der Folterqualen geschehen war!
Gewiß, nur sie allein war an diesem Mißverständnisse schuld!
Sie hätte sich eher zerfleischen als ein solches Geständnis entreißen lassen sollen!
Trotzdem war sie überzeugt, daß es bei einem Zusammentreffen mit Phöbus nur eines Wortes, ja, nur eines Blickes bedürfen würde, um das ganze Mißverständnis aufzuklären.
Daran zweifelte sie nicht im geringsten. Und in dieser Überzeugung war sie auch nicht sehr darüber beunruhigt, daß er sich seit ihrer Kirchenbuße nicht mehr um sie gekümmert zu haben schien.
Das Fräulein auf dem Balkon konnte schließlich auch eine Schwester von ihm gewesen sein. So albern diese Annahme auch scheinen mag, Esmeralda beruhigte sich bei derselben, weil es ihr ein Bedürfnis war, sich von Phöbus ebenso geliebt zu glauben, wie sie ihn selbst liebte.
Hatte er ihr doch geschworen, daß sie seine einzige Liebe war!
In ihrer naiven Leichtgläubigkeit nahm sie einen solchen Liebesschwur für das bare Evangelium.
So harrte und hoffte sie.
Zu dieser Geruhsamkeit trug auch das sie umgebende Milieu bei. Die Obdach gewährende Kirche war selbst eine ruhespendende Gebieterin, in deren Schatten Friedsamkeit zu finden war. Ihre mächtigen Dimensionen, die feierlichen Linien ihres Baues, die heilige Haltung aller in ihr enthaltenen Gegenstände erzeugten von sich selbst fromme und ruhige Gedanken. Das geweihte Gebäude hatte ein so segenspendendes Gepränge, daß seine Erhabenheit jede kranke Seele beruhigen mußte.
Zur Zeit des Gottesdienstes wirkte alles zusammen, um die Bewohnerin des heiligen Baues in eine erhabene Stimmung zu bringen. Den Wechselsang der Priester und der Andächtigen ließ im Verein mit dem feierlichen Orgelklang die Fenster harmonisch erklirren, die Türme summten wie Bienenstöcke, das Forte auf der Orgel schmetterte wie hundertfacher Trompetenschall, und der Zusammenklang der Glocken brauste die ganze Tonleiter auf und nieder. Dies war, wie nichts auf dieser Welt, geeignet, jedes Gedächtnis, jede Einbildungskraft und jeden Schmerz zu betäuben.
Besonders die Glocken verstanden es, die Lauscherin mit einem auf das Gehör wirkenden, magnetischen Fluidum einzuwiegen, das sich in breitem Prangen über sie ergoß. Jede neu aufgehende Sonne fand Esmeralda ruhiger, wohliger und weniger blaß. Mit dem allmählichen Vernarben der Seelenwunden erblühte Esmeraldas Anmut und Schönheit wieder, während ihre Wangen voller und ihre Blicke glänzender wurden. Immer mehr kehrte sie zu ihrer frohen Gemütsart, zu ihren Tändelspielen mit der Ziege und zu ihrer Sangesfreudigkeit zurück.
Sobald die Gedanken an Phöbus ihr die Zeit dazu ließen, erinnerte sich Esmeralda auch Quasimodos. Schließlich war er das einzige Band, das zwischen ihr und der Außenwelt geblieben war. Im Grunde konnte sie aus ihm nicht recht klug werden. Und trotz aller Selbstvorwürfe und Dankbarkeit konnte sie sich nicht an sein entsetzliches Äußeres gewöhnen.
Deshalb hatte sie noch nie die Signalpfeife benutzt. Quasimodo war ihr zu häßlich, um ihn damit herbeizurufen. So lag die Pfeife unbeachtet neben ihrer Ruhestatt.
Überdies kam Quasimodo zeitweilig von selbst, auch gerufen worden zu sein. Er brachte ihr täglich die nötigen Lebensmittel, und sie bot bei dieser Gelegenheit alle Willenskraft auf, um sich nicht von ihm abzuwenden.
Er las jedoch in ihrer Seele wie in einem offenen Buch und ging daher jedesmal tieftraurig davon.
Einmal kam er gerade in einem Augenblicke, da sie ihre Ziege liebkoste. Nachdenklich betrachtete er eine Weile diese anmutige Gruppe, bis er mit einem Schütteln seines plumpen Schädels sagte:
≫Schade, daß ich unglücklicherweise noch so viel Ähnlichkeit mit einem Menschen habe. Ich möchte lieber ganz ein Tier, wie zum Beispiel diese Ziege, sein.≪
Sie antwortete bloß mit einem erstaunten Blick.
≫Jawohl≪, entgegnete er. ≫Ich weiß, was ich sage.≪
Und damit ließ er sie allein.
Ein andermal kam er, als sie gerade eine ihrer spanischen Balladen sang, deren unverstandene Worte ihr als Wiegenlieder der sie betreuenden Zigeunermutter im Gedächtnisse haftengeblieben waren.
Als sie mitten im Singen plötzlich sein häßliches Gesicht erblickte, brach sie mit einer Schreckensgebärde ab.
Da fiel er auf die Knie und faltete flehend seine unförmigen Hände.
≫Singt weiter, bat er, >und verjagt mich nicht!<
Da sie ihn nicht kränken wollte, fing sie, am ganzen Leibe zitternd, mit der Romanze wieder an.
Während des Singens verlor sich ihre Angst, und sie gab sich immer inniger der schwermütigen Weise hin, in der diese Ballade gehalten war. Quasimodo aber blieb, von ihr nicht weiter beachtet, die ganze Zeit auf den Knien liegen, wobei er ununterbrochen seinen glänzenden Blick auf die Sängerin geheftet hielt. Es war, als ob der Taube die Melodie ihres Sanges aus ihrem Gesichtsausdruck lesen konnte.
Wieder ein andermal kam er mit einer linkischen Geste herein.
>Hört<, begann er, >ich habe Euch etwas zu sagen.<
Sie gab ihm ein Zeichen, weiterzusprechen.
Nun seufzte er zunächst, und dann hatte er bereits die Lippen zum Reden geöffnet, als er plötzlich mit einem Kopfschütteln abbrach und schweigend hinausging. Dabei hatte er sie so forschend angesehen, daß sie ihm ganz betroffen nachblickte.
Und statt an Esmeralda richtete er an eine der Steinfiguren in der Galerie das Wort:
>Warum bin ich nicht von Stein wie du?<
Eines Morgens stand Esmeralda am Dachrande und sah auf den Domplatz hinab. Quasimodo war neben sie getreten, wobei er sich so hinter ihr hielt, daß er ihr den Anblick seiner Häßlichkeit ersparte.
Plötzlich stieg eine Freudenträne in das Auge der Tänzerin, und auf dem äußeren Rande des Daches niederkniend, streckte sie ihre Arme aus, wobei sie klagenden Tones hinunterrief:
>Phöbus, ach Phöbus! Ein einziges Wort!<
Stimme, Haltung und Gesichtsausdruck waren die einer Schiffbrüchigen, die einem am fernen Horizonte stolz vorübersegelnden Schiffe das Notsignal gibt.
Quasimodo beugte sich auf den Platz hinab, um den Gegenstand von Esmeraldas Flehen zu erkennen. Da sah er, daß es ein schmucker in Waffen strahlender Reiter mit wehendem Helmbusch war, der eine lächelnde, schöne Dame auf dem gegenüberliegenden Balkon ritterlich begrüßte.
Der schöne Offizier war viel zu weit, um Esmeraldas zarte Mädchenstimme hören zu können.
Aber der arme Taube hörte sie nur zu wohl mit seinem schmerzlich zusammengezogenen Herzen.
Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich ab, um die aufsteigenden Zähren zu verbergen. Krampfhaft ballte er seine Fäuste gegen seinen Leib, und dann fuhr er sich mit beiden Händen so verzweiflungsvoll über den Kopf, daß ihm in jeder derselben ein rotes Haarbüschel blieb. Esmeralda beachtete ihn gar nicht.
Unverwandt sah sie in der gleichen flehenden Haltung auf den Offizier hinab.
Da knirschte Quasimodo halblaut zwischen den Zähnen hervor:
>Verdammt! So also muß man aussehen!<
Sie aber rief:
>Er steigt vom Pferd!… Er geht in jenes Haus!…Phöbus!… Phöbus! Dieses schändliche Weib! Wie sie ihn grüßt und anlacht!… Phöbus! Mein Phöbus!<
Verständnisvoll betrachtete der Taube ihr lebhaftes Gebärdenspiel. Mannhaft unterdrückte er die eigenen Tränen und zog sanft den Ärmel des Mädchens.
Als sie sich zu ihm wandte, hatte er eine vollkommen ruhige Miene angenommen.
>Soll ich ihn holen?< fragte er.
Da stieß sie einen Freudenschrei aus.
>Schnell! Lauft! Eilt!< drängte sie. >Bringt ihn herauf!<
Er nickte bloß mit dem Kopfe und stürmte dann mit Riesensätzen die Treppe hinab.
Aber er kam trotzdem zu spät. Auf dem Platze war nur noch das schöne Pferd zu sehen, welches an dem Torringe des Hauses Gondelaurier angebunden war. Der Rittmeister war bereits eingetreten.
Es fand hier eine jener Festlichkeiten statt, welche man vor der Hochzeit abzuhalten pflegt. Daher sah der wartende Quasimodo zwar viele Menschen hineingehen, aber keinen einzigen wieder herauskommen. Unentschlossen blieb er jedoch auf dem Platze und blickte von Zeit zu Zeit zu Esmeralda hinauf, die ebenso regungslos auf ihrem Flecke verharrte.
Endlich kam ein Stallknecht heraus, um das Pferd des Rittmeisters in den Stall zu führen.
Und dann verfloß der Rest des Tages ganz ereignislos. Quasimodo saß auf dem Ecksteine des Hauses Gondelaurier und Esmeralda oben am Rande des Daches.
Beide warteten geduldig auf das Wiedererscheinen des Rittmeisters.
Dieser spielte indes ahnungslos bei seiner Braut den galanten Kavalier.
Schließlich fiel die Nacht dunkel und mondlos herab.
Vergeblich spähte Quasimodo zu Esmeralda hinauf. Das Weiß ihrer Kleidung war immer undeutlicher geworden, bis es schließlich die Schatten ganz aufgesogen hatten. Alles war Nacht und Rabenfinsternis.
Quasimodo widmete sich nun ganz der Bewachung des Hauses Gondelaurier, dessen Fenster in festlicher Beleuchtung erstrahlten. Bei seiner Taubheit konnte er den aus diesem Hause erklingenden Festlärm nicht hören, weshalb er sich da draußen in der Dunkelheit recht einsam fühlte, nachdem der spärliche Abendverkehr auf dem Domplatze aufgehört hatte.
Erst gegen ein Uhr morgens verstummten Musik und Lachen im Hause Gondelaurier, worauf die Gäste sich zu entfernen begannen.
Quasimodo musterte genau jede herauskommende Person, ohne den Rittmeister darunter entdecken zu können. Schwere und traurige Gedanken erfüllten während dieser Wache sein Gemüt. Und zuweilen sah er gegen den Himmel, wie es Leute aus übergroßer Langeweile zu tun pflegen. Da oben hingen schwere, schon halb gerissene, schwarze Wolkenballen wie Hängematten herab, was auf ein nabes Ungewitter schließen ließ.
Als Quasimodo wieder einmal so gegen das Spiel der Wolken blickte, bemerkte er, daß aus dem dunkel gewordenen Zimmer zwei Personen auf den Balkon heraustraten.
Es waren eine weibliche und eine männliche Gestalt.
Angestrengt die Finsternis mit seinen Blicken durchdringend, konnte Quasimodo feststellen, daß es der schöne Offizier und das hübsche Fräulein waren, das jener bei seinem Eintreffen so ritterlich begrüßt hatte.
Ohne ein Wort verstehen zu können, begriff Quasimodo an der Haltung der beiden ganz gut, daß sie sich einem Liebesgetändel hingaben, welches damit endete, daß der Offizier das Fräulein um den Leib faßte, um ihr unter nur schwachem Widerstreben einen Kuß zu rauhen.
Mir bitteren Gefühlen betrachtete der Glöckner dieses nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Liebesduett. Trotz des seiner Mißfigur empfand er ganz als normaler Mann, und er begriff nur zu wohl, daß die Freuden der Liebe für ihn ewig verschlossen bleiben mußten. Daß die Wollust immer nur an ihm vorüberfliehen und er stets nur der Zuschauer bleiben würde, der verstohlen fremdes Glück betrachten durfte. Bei diesem Schauspiele hier aber empfand er außer dieser allgemeinen Bitterkeit noch den besonderen Schmerz, daß Esmeralda leiden mußte, wenn sie hiervon Kenntnis erhielt.
Freilich war es dunkle Nacht und Esmeraldas Beobachtungsposten so weit, daß sie schwerlich etwas von der Balkonszene sehen konnte. In dieser Überlegung fand Quasimodo einen großen Trost.
Indes wurde die Unterhaltung da oben immer feuriger. An den bittenden Gesten der jungen Dame erkannte Quasimodo, daß sie ihren Galan anflehte, in seinen Liebeszärtlichkeiten nicht mehr weiterzugeben. Schon leistete sie nur noch sehr wenig Widerstand gegen die Attacke des verliebten Rittmeisters, als sich glücklicherweise die Balkontüre öffnete und die Dame des Hauses heraustrat. Kurz darauf gingen alle drei ins Zimmer zurück, wobei an der Haltung des Fräuleins Verwirrung und an der des Offiziers Verdruß zu erkennen war. Bald darauf wurde das Haustor weit geöffnet, Hufschlag erscholl, und an Quasimodo vorbei sprengte der Rittmeister in die Nacht hinein.
Eilig stürzte Quasimodo hinter ihm her.
Schon hinter der Straßenbiegung hatte er mit seiner unglaublichen Behendigkeit den Reiter eingeholt.
>Herr Rittmeister<, brüllte er. >Halt! Halt!<
Erstaunt zügelte der Rittmeister sein Pferd.
>Was willst du, Schuft?< schnaubte er den Keuchenden an.
>Kommt, Herr Rittmeister! Es ist jemand da, der Euch zu sprechen wünscht.<
Der Rittmeister musterte die vor ihm stehende Mißgestalt.
>Beim Horne des Teufels! Den struppigen Vogel muß ich schon irgendwo gesehen haben! Holla! Wollt Ihr die Pratzen von den Zügeln lassen!<
>Herr Rittmeister, ich darf nicht sagen, wer es ist!< entgegnete der Taube auf die von ihm vermutete Frage.
>Deine Pranken sollst du von meinem Pferde lassen!< schrie der Offizier. >Glaubst du, daß es der Galgen ist, weil du dich so fest daran hältst?<
Quasimodo ließ jedoch die Zügel nicht nur nicht los, sondern er schickte sich im Gegenteile an, das Pferd herumzuwenden.
>Kommt, kommt<, sagte er dazu. >Ein Mädchen erwartet Euch. Sie liebt Euch. Kommt!<
Dies hatte Quasimodo nur mit größter Anstrengung hervorgebracht, als er die geringe Bereitwilligkeit des Offiziers erkannte.
>Ein sonderbarer Spaßvogel!< rief Phöbus. >Da hätte ich viel zu tun, wenn ich zu allen Weibern rennen würde, die behaupten, in mich verliebt zu sein! Vermutlich ein ebensolches Nachteulengesicht wie du selbst! Sag ihr, daß sie sich zum Teufel scheren soll!<
Quasimodo begriff nur die ablehnende Haltung des anderen.
>Es ist die Tänzerin<, sagte er daher, in der Meinung, dadurch jedes Bedenken zu zerstreuen.
Er erreichte aber mit seiner Mitteilung das gerade Gegenteil.
Der Rittmeister hatte von der Rettungsaktion Quasimodos nichts gesehen, da er schon vorher mit seiner Braut vom Balkon weggegangen war. In der Folge hatten dann sowohl er wie sie es vermieden, auf das mißliebige Thema von der Zigeunerin zurückzukommen. Und da sich der leichtfertige Offizier außerdem nicht weiter um die Sache gekümmert hatte, glaubte er, daß >Similar< schon längst ordnungsgemäß hingerichtet und tot war.
Als nun diese Mißgeburt im Dunkel der Nacht mit einer Botschaft von ihr zu ihm kam, dachte er nur an das nächtliche Abenteuer mit dem >Gespenstermönch<. Dazu Quasimodos Grabesstimme und das Schnauben seines Pferdes. Das waren Sachen, die genügten, um ihm einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen.
>Von der Tänzerin!< rief er entsetzt. >Kommst du aus einer anderen Welt?<
Damit legte er die Hand an den Degengriff.
>Kommt!< drängte Quasimodo und zog an den Zügeln des zurückweichenden Pferdes.
Da traf ihn ein gewaltiger Fußtritt des Reiters mitten auf die Brust.
Mit funkelnden Blicken zog sich Quasimodo zusammen, als wollte er den Offizier raubtiergleich anspringen.
Dann aber besann er sich. In diesem hier würde er nur Esmeralda treffen. Er ließ den Zügel los und trat zurück.
>Geht!< herrschte er den Offizier an.
Fluchend gab dieser seinem Gaul die Sporen, um alsbald im Nachtdunkel zu verschwinden.
>Wie kann man eine solche Einladung ausschlagen?< dachte Quasimodo, während er sich langsam heimwärts wandte.
In den Dom eingetreten, zündete er sich seine Laterne an und stieg mit derselben die Treppe hinauf. Oben fand er Esmeralda in derselben Stellung, in der er sie verlassen hatte.
Bei seinem Anblicke sprang sie auf.
>Allein?< klagte sie enttäuscht.
>Ich habe ihn verfehlt<, log Quasimodo kalt.
>Du hättest besser aufpassen sollen!< fuhr sie ihn heftig an.
Er sah die zornige Gebärde und verstand den darin enthaltenen Vorwurf.
>Ein andermal will ich besser nachspüren<, erwiderte er mit geneigtem Haupt.
>Hinweg mit dir!< herrschte sie ihn an.
Traurig verließ er sie. Ihre Unzufriedenheit schmerzte den treuen Burschen, und er hätte lieber von ihr mißhandelt werden wollen, als sie betrüben.
Von diesem Tage an vermied er es, Esmeralda zu begegnen. Die Lebensmittel brachte er in ihrer Abwesenheit in die Zelle, und sie konnte nur sehr selten von ferne sein schwermütig auf sie gerichtetes Gesicht erblicken. Aber auch da verschwand er sofort, sobald er sich bemerkt sah.
Im Grunde ihres Herzens war Esmeralda über sein Fernbleiben nicht im geringsten betrübt, sondern sie wußte ihm sogar Dank dafür. In dieser Hinsicht gab sich andererseits Quasimodo keiner Täuschung hin.
Er begnügte sich damit, Esmeralda die Nähe eines guten Geistes fühlen zu lassen.
So fand sie eines Morgens zu ihrer Freude an ihrem Lukenfenster ein mit zwitschernden Insassen versehenes Vogelbauer.
Ein andermeü war eine häßliche Skulptur entfernt, vor der sie seinerzeit in Quasimodos Gegenwart erschrocken war. Die fragliche Figur befand sich über ihrer Zellenluke in einer Position, die nur unter Lebensgefahr erreichbar war.
Eines Morgens standen zwei mit Blumen gefüllte Vasen in der Luke. Die eine der Vasen war gesprungen, das Wasser ausgeronnen und die darin enthaltenen Blumen verwelkt, während die der anderen Vase in den herrlichsten Farben leuchteten.
Unerklärlicherweise trug Esmeralda die verwelkten Blumen den ganzen Tag an der Brust.
Geschah es, weil die zersprungene Vase glänzendes Kristall und die gebliebene plumpes Steingut war?
Erriet sie instinktiv, daß in der Verschiedenheit der Hülle und der Blumen ein Gleichnis zwischen Phöbus und Quasimodo sowie ihrer Gefühle lag?
An diesem Tage hörte sie nichts von den reimlosen Versen, die Quasimodo in einförmiger Weise zu singen liebte.
Sie machte sich jedenfalls keine Sorge darüber.
Ihre liebsten Beschäftigungen waren, mit der Ziege zu kosen und das Haus Gondelaurier zu beobachten. Dabei führte sie leise Gespräche mit einem imaginären Phöbus, während sie den Turmschwalben Brotkrumen hinstreute.
Seit der Blumenspende war von Quasimodo nichts mehr zu sehen oder zu hören. Wenn sie nicht allmorgendlich beim Erwachen die Lebensmittel gefunden hätte, würde sie zu der Vermutung gekommen sein, daß der Glöckner die Kirche verlassen habe.
Bis sie eines Nachts durch einen schweren Seufzer aus dem Schlafe geschreckt wurde.
Als sie dem Geräusch nachging, sah sie im Lichte des Mondes quer vor ihrer Außenschwelle Quasimodo liegen.
Ohne ihr Wissen hatte er schon lange hier sein Nachtquartier erwählt.
Wie ein treuer Wachthund, der die Schwelle des schlafenden Herren hütet.
Eifersucht
Natürlich hatte Dom Claude längst die Geschichte von der Rettung Esmeraldas erfahren.
Als er die wunderbare Kunde zum ersten Male vernahm, wußte er kaum, was er dabei empfand.
Er hatte bereits damit abgeschlossen gehabt, daß Esmeralda tot war. Mit dieser Tatsache hatte er sich abgefunden, und in diesem Gedanken war er beruhigt gewesen. Er hatte sie nicht haben können, aber der Rivale ebensowenig! Damit war er zufrieden gewesen.
Wie bei Esmeralda, hatten sich auch bei Dom Claude Schmerz und Verzweiflung selbst erschöpft gehabt, und er glich bereits einem vollgesogenen Schwamme, über den ein ganzer Ozean hinwegrollen kann, ohne auch nur einen Tropfen mehr in denselben hineinpressen zu können.
Der Schwamm war voll, Esmeralda war tot. Die Sache war für Dom Claude damit erledigt gewesen.
Als er aber ihre Rettung erfuhr, sprang ihn das Leben von neuem wieder an. Er schlich sich in seine Zelle, erschien weder beim Gottesdienste noch bei den Mahlzeiten und hielt seine Türe selbst dem Bischof verschlossen.
So blieb er mehrere Wochen in der Klausur, ohne daß man eine Ahnung hatte, was er darin trieb. Man hielt ihn für krank, und tatsächlich war er es auch.
Nicht einmal dem ängstlich besorgten Lieblingsbruder öffnete er, als dieser an seine Türe pochte und ihn flehend beim Namen rief.
Was tat er in dieser strengen Abgeschlossenheit? Mit welch furchtbaren Gedanken schlug er sich da herum? Lieferte er seiner verbrecherischen Leidenschaft einen letzten Kampf? Schmiedete er neue Vernichtungspläne gegen die Geliebte und gegen den glücklicheren Rivalen? Ganze Tage verbrachte er am Fenster, das Gesicht gegen die Scheiben gepreßt. Von hier aus konnte er den ganzen Dom übersehen, der für seine Gedanken nur noch die Freistatt Esmeraldas war.
Oft erblickte er sie und ihre Ziege, und nie weit von ihr, irgendwie verborgen, seinen Glöckner, dessen stille Aufmerksamkeit er mit Sorgfalt registrierte.
Das Gedächtnis ist die Folter der Eifersüchtigen.
Dom Claudes Gedächtnis war besonders gut.
Selbstquälerisch erinnerte er sich der eigentümlichen Blicke, die Quasimodo einmal auf das tanzende Mädchen gerichtet hatte. Und jetzt sah er dessen unterwürfige Haltung gegen die Tänzerin. Er war Zeuge zahlloser kleiner Vorfälle zwischen Esmeralda und Quasimodo, dessen Gebärden für ihn wie gesprochene Worte lesbar waren. War er es doch selbst gewesen, der den Tauben die Zeichensprache gelehrt hatte, die dieser bei Monologen gewohnheitsgemäß ebenso zu benützen pflegte wie ein normaler Mensch die Sprache.
Dom Claude mißtraute den Frauen so sehr, daß er bei ihnen die seltsamsten Neigungen für möglich hielt. Sollte Esmeralda Phöbus vergessen und in Quasimodo einen Nachfolger für jenen gefunden haben?!
Seit der Archidiakon Esmeralda am Leben wußte, waren alle frostigen Gespenster- und Grabesgedanken entschwunden, und der Stachel des Fleisches begann wieder fühlbar zu werden.
Er errötete daher in zornigem Unwillen über Quasimodos vermeintliches Liebesglück, und der Gedanke an ein solches marterte ihn mit besonderer Gewalt.
Dabei war es entsetzlich, das geliebte Weib ständig in der nächsten Nähe und doch unerreichbar fern zu wissen. Ruhelos warf sich der leidenschaftliche Mensch die ganzen schlaflosen Nächte auf seinem Lager hin und her.
Jede Nacht sah er in seiner halb wahnsinnigen Phantasie Esmeralda in allen möglichen verführerischen Körperstellungen, deren jede sein unbefriedigtes Blut zum Sieden brachte.
Er sah sie mit entblößtem Busen, auf den erdolchten Nebenbuhler hingestreckt, und er gedachte bebend der Wonne, mit der er seine Lippen damals auf die ihren gepreßt hatte.
Er sah sie wieder, entkleidet von den rohen Fäusten der Folterknechte. Wie diese ihren schönen Fuß entblößten, um ihn in den Folterstiefel zu klemmen.
Er sah ihr zartes, geschmeidiges Bein, ihr weißes, rundes Knie. Wie Elfenbein hatte es zwischen den rauhen Händen der Schergen geglänzt.
Und schließlich sah er sie halbnackt, mit dem Schandstricke um den Hals, mit nackten Schultern, nackten Füßen, fast entblößtem Busen, wie er sie bei der Kirchenbuße erblickt hatte.
Diese und noch andere immer wiederkehrende wollüstige Bilder jagten einen Schauer nach dem anderen über sein Rückgrat hinab.
Oft erhitzten ihn diese Bilder so sehr, daß er in sein Kopfkissen beißen mußte.
Eines Nachts aber sprang er im Paroxysmus der Leidenschaft aus dem Bett. Er warf einen Chorrock über sein Hemd, nahm eine Handlampe und verließ seinen Raum.
Halbnackt, verstört, glühenden Blickes nahm er den direkten Weg, der zu der Zelle Esmeraldas führte.
Liebeswahn
Von Hoffnungen und süßen Gedanken eingewiegt, war Esmeralda in tiefen Schlaf versunken, um — wie immer — selbstvergessen von ihrem Phöbus zu träumen. Aber sie war es von ihrem Wanderleben her gewöhnt, beim geringsten Geräusche auch aus dem festesten Schlafe zu erwachen.
So schlug sie auch diesmal sogleich die Augen auf, um in die sie umgebende Finsternis hineinzuspähen.
Da tauchte an ihrer Fensterluke ein Gesicht auf, welches von einer Handlampe schwach beleuchtet war. Diese verlosch in dem gleichen Augenblicke, in welchem das Gesicht Esmeraldas Erwachen sah.
Aber die erschreckte Tänzerin hatte es bereits erkannt.
>Wieder der Priester<, sagte sie schaudernd.
Wie mit einem Blitzschlage trat ihr das ganze Elend vor Augen, das ihr dieser schreckliche Mensch bisher bereitet hatte. Starr fiel sie auf ihr Lager zurück.
Aber kurz darauf fühlte sie an der ganzen Länge ihres Körpers eine Berührung, die sie wütend in die Höhe fahren ließ.
Der Priester hatte sich zu ihr in das Bett gelegt.
Mit beiden Armen umschloß er ihren zitternden Leib. >Hinweg!< wollte sie schreien, aber es wurde nur ein bebendes Lispeln. So sehr lähmten sie Entsetzen und Schreck.
>Mörder!<
>Erbarmen<, flüsterte heiß der Liebeswahnsinnige. >Erbarmen!<
Und er preßte seine glühenden Lippen auf ihre Brust. Da faßte sie mit beiden Händen seinen kahlen Schädel und stieß ihn von sich, als ob seine Küsse Schlangenbisse wären.
>Erbarmen!< winselte Dom Claude. >In meinem Herzen sind tausend Dolche, und meine Liebe ist heiß wie geschmolzenes Blei! Du weißt nicht, was ich leide!<
Dabei hielt er ihre Hände wie in Schraubstöcken fest.
>Laß mich oder ich speie dir ins Gesicht, du Ungeheuer!< fauchte sie ihn an.
Da ließ er ihre Hände fahren.
>Beschimpfe mich, hasse mich<, flehte er, >aber sei mein!<
Zur Antwort fuhr sie ihm ins Gesicht.
>Hinweg Satan! Ich zerkratze dir die Fratze!<
>Liebe mich! Erbarmen!<
Mit diesem Gewimmer begann er sich auf sie zu wälzen, wobei er ihre Schläge mit Liebkosungen vergalt.
Mit eisiger Angst fühlte sie, daß er der Stärkere war. >Du mußt mein sein<, knirschte er, als er dieselbe Wahrnehmung machte.
Durch seine Willensmacht gebrochen, zuckte sie unter den schamlosen Griffen seiner unzüchtigen Hand.
Als er ihr aber zu nahe kam, raffte sie sich zu neuem Widerstande auf.
>Zu Hilfe! Vampir!< schrie sie.
Aber niemand kam.
Nur Djali ließ ihr ängstliches Blöken hören.
>Schweig!< keuchte der Angreifer.
Während sie sich verzweifelt unter ihm wand und drehte, stieß ihre wild umherschlagende Hand an einen metallischen Gegenstand.
Es war die Pfeife Quasimodos.
Freudig umklammerte sie dieselbe. Im nächsten Augenblicke hatte sie das Röhrchen an den Lippen und ließ es mit aller Lungenkraft schrillen.
>Was tust du?< fuhr sie der Archidiakon an.
Aber schon rissen ihn starke Arme in die Höhe, knapp hinter seinen Ohren hörte er das knackende Malmen eines fürchterlichen Gebisses, und im nächsten Augenblicke hing er kraftlos, wie ein Bündel, in der Luft, während vor seinem Auge eine breite Messerklinge funkelte.
Dom Claude erriet sogleich, daß es Quasimodo sein mußte. Schon beim Eintritte war er auf der Schwelle beinahe über einen Körper gestolpert, den er für die Ziege gehalten hatte. Jetzt begriff er, daß es der Glöckner gewesen war.
Vergeblich rief er >Quasimodo!<, ohne daran zu denken, daß der Taube ihn gar nicht hören konnte. Im Handumdrehen lag er auf dem Boden, auf den ihn ein bleischweres Knie niederdrückte.
Schon saß das Messer an seiner Kehle. Er fühlte, daß er verloren war.
Aber plötzlich setzte der Mordstahl wieder ab.
>Kein Blut in ihrer Zelle<, hörte er Quasimodo murmeln.
Und mit mächtiger Faust schleifte ihn dieser über die Schwelle hinaus.
Das war seine Rettung.
Mittlerweile war der Mond aufgegangen, und im Scheine seiner Strahlen erkannte Quasimodo, wen er unter seinen Händen hatte.
Betroffen ließ er seine Beute los.
Mit Staunen sah es Esmeralda, die an die Schwelle gekommen war, um, erbarmungslos wie eine gereizte Tigerin, die Erledigung ihres Todfeindes zu beobachten. Überrascht bemerkte sie, wie schnell sich jetzt die Rolle zwischen Sieger und Besiegtem tauschten.
Der Priester drohte, und Quasimodo zitterte.
Als aber der Archidiakon dem Tauben mit zornigen Gebärden den Befehl zum Verschwinden gab, stellte sich dieser vor der Zellentüre auf.
>Gnädiger Herr<, sagte er ergeben zu seinem Meister, >macht was Ihr wollt, aber vorher tötet mich!<
Damit wollte er ihm selbst das Messer überreichen.
Aber Esmeralda war flinker als der Archidiakon.
Knapp vor seiner wütend zufahrenden Hand hatte sie die Mordwaffe erfaßt und hob dieselbe mit Zorneslachen hoch.
>Komm heran, du Schuft!< höhnte sie.
Und als Dom Claude stutzte, setzte sie verachtungsvoll hinzu:
>Jetzt ist dir der Mut vergangen, elender Feigling!<
Aber noch besser als mit dem mörderischen Stahl wußte sie das Herz des Gegners mit der Zunge zu treffen.
>Ich weiß daß Phöbus lebt!< triumphierte sie mit grausamen Lachen.
Wütend führte der Archidiakon einen gewaltigen Tritt gegen Quasimodo und wandte sich dann ab, um die Treppe hinunterzustelgen.
Esmeralda aber taumelte zu ihrem Lager zurück, auf das sie weinend niedersank. Ihr schon so friedlicher Horizont bedeckte sich wieder mit drohendem Gewölk. Quasimodo nahm die zu Boden gefallene Signalpfeife auf und reichte sie ihr hin.
Dann ließ er sie allein.
Dom Claude aber wandte jetzt seinen ganzen eifersüchtigen Groll gegen den armen Krüppel.
>Niemand soll sie besitzen!< stieß er grimmig zwischen den Zähnen hervor, nachdem er seine Zelle wieder erreicht hatte.
Teil IX
9
Pläne
Obwohl Peter Gringoire Esmeraldas offizieller Gatte war, hatte er sich doch sogleich zur Seite gedrückt, als er bemerkte, daß ihr Lebensschifflein dem Galgen zutrieb.
Er war aber trotzdem im Wunderhofe wohnen geblieben, da er die Gesellschaft der Landstreicher für die beste von Paris hielt. Auch fand er es begreiflich, daß die Vagabunden das weitere Schicksal Esmeraldas mit dem größten Interesse verfolgte, da sie, seiner Ansicht nach, keine anderen Aussichten als den Galgen hatten, während er selbst in den Regionen der Phantasie seinen Pegasus zu tummeln verpflichtet war.
Immerhin freute er sich, als er vernahm, daß Esmeralda eine Freistätte in Notre-Dame gefunden hatte. Dadurch geriet er aber noch nicht in die Versuchung, ihr dort einen Besuch abzustatten, Nur manchmal gedachte er der Ziege, und damit war seine Anteilnahme erschöpft. Im übrigen führte er das Leben der letzten Monate fort. Bei Tag erwarb er sich den laufenden Lebensunterhalt als Straßenakrobat, und abends arbeitete er an einem Pamphlet gegen den Bischof von Paris, dem er es nicht verzeihen konnte, daß ihn seine Mühlen durchnäßt hatten.
Außerdem beschäftigte Sich Gringoire in neuester Zeit mit Werken der Baukunst, die in seinen Gedanken den mystischen Unsinn der Alchimie verdrängt hatte. Bei der nahen Verwandtschaft zwischen Alchimie und Freimaurerei hatte sich dieser Übergang automatisch vollzogen, indem Peter von der Idee zu ihrer Gestaltung kam.
Eines Tages stand er daher vor der aus dem vorhergegangenen Jahrhunderte stammenden Kapelle des Bischofsgerichtes, um andächtig die Bildhauerarbeiten an der nach der Straße zu gelegenen Chorseite zu betrachten. In diesem Genusse wurde er durch eine auf seine Schulter fallende Hand gestört.
Sich umwendend, sah er seinen alten Lehrer, den Archidiakon, vor sich stehen.
Diese Begegnung war ihm nicht sehr angenehm. Er hatte nicht nur ein schlechtes Gewissen, weil er sich seit der Unterredung im Dome nicht mehr gezeigt hatte, sondern es war auch an sich für einen skeptischen Weltweisen meist wenig erfreulich, mit einem so feierlichen und leidenschaftlichen Manne zusammenzutreffen.
Der Archidiakon blickte den Poeten eine Zeitlang schweigend an, was diesem Muße zu einer eingehenden Betrachtung gab.
Gringoire fand, daß Dom Claude sehr verändert war. Sein weißes Haar und seine hohläugige Blässe fielen ihm auf.
Endlich brach der Archidiakon das Schweigen mit der eisigen Frage:
>Wie geht es Euch, Meister Peter?<
>So, so, was die Gesundheit betrifft. Im großen und ganzen gut. Ich genieße die Dinge mit Maß.<
>Ihr habt also gar keinen Kummer<, fragte der andere mit einem scharfen Blick.
>Nicht, daß ich wüßte.<
>Hm! Und was treibt Ihr jetzt?<
>Wie Ihr seht, hochwürdiger Herr, studiere ich dieses Basrelief hier.<
Der Archidiakon lächelte bitter.
>Gefällt es Euch?<
>Großartig<, ereiferte sich Gringoire. Und begeistert setzte er die Schönheiten der Skulptur auseinander.
>Findet Ihr nicht, daß dies alles höchst bemerkenswert ist?< fragte er dann.
>Giewiß, gewiß<, entgegnete der Archidiakon zerstreut. AlS aber Peter neuerdings seinen Lobgestang auf die Bildarbeiten anstimmen wollte, unterbrach er ihn barsch mit der Frage:
>Ihr seid also vollkommen glücklich und zufrieden?<
‘Warum denn nicht?≪
≫Und weiter bekümmert Euch nichts?≪
≫Gar nichts.≪
≫Ihr habt auch nichts zu bereuen?≪
≫Nichts. Mein Leben ist höchst geordnet, gottlob!≪
≫Die Menschen ordnen, und die Umstände werfen über den Haufen≪, bemerkte Dom Claude sentenziös.
≫Nicht bei einem Skeptiker wie mir, der das Gleichgewicht zu finden weiß.≪
≫Von was lebt Ihr jetzt?≪
≫Von ebendem wie früher.≪
≫Also von der Straßengaukelei≪, bestätigte Dom Claude grob.
≫Teilweise. Außerdem mache ich Gedichte.≪
≫Sehr rentabel! Für einen Philosophen habt Ihr ein plumpes Gewerbe gewählt!≪
≫Das gehört auch zum skeptischen Gleichgewicht, Hochwürden. Am Ende ist alles gleich.≪
≫Möglich. Aber am Ende seid Ihr auch recht elend daran.≪
≫Elend ist nicht unglücklich.≪
Dieser sich zuspitzende Dialog wurde durch ein Pferdegetrappel unterbrochen. Aufblickend, gewahrten die beiden eine vorbeitrabende Abteilung der berittenen Bogenschützen, an deren Spitze ein glänzender Offizier seinen Gaul tanzen ließ.
≫Kennt Ihr den Kavalier?≪ fragte Gringoire.
≫Warum?≪
≫Weil Ihr ihn so scharf fixiert.≪
≫Ich glaube, daß es ein gewisser Phöbus von Châteaupers ist.≪
≫Phöbus? Was für ein sonderbarer Name! Ich erinnere mich eines Mädchens, das immer bei Phöbus schwur.≪
Der Archidiakon trat unruhig von einem Fuß auf den andern.
≫Begleitet mich≪, sagte er schließlich. ≫Ich habe etwas mit Euch zu besprechen.≪
Nachdem sie schweigend eine Weile dahingeschritten waren, blieb der Archidiakon plötzlich stehen.
≫Was habt Ihr mir mitzuteilen?≪ erinnerte ihn Gringoire.
≫Findet Ihr nicht, daß das Gewand eines Offiziers schöner ist als das unsere?≪ fragte der Priester nach kurzem Nachdenken.
Gringoire starrte den Frager verblüfft an.
≫Meiner Treu≪, lachte er endlich. ≫Ich weiß nicht, wo der Unterschied zwischen meiner Narrenjacke für die Straßenvorstellungen und der anderen Aufmachung ist! Sicherlich ist mein Anzug der bequemere. Es muß kein Vergnügen sein, die Brustplatten und Schuppenröcke zu tragen.≪
≫Habt Ihr nie die Burschen in den schönen Waffenröcken beneidet?≪
≫Wieso? Auf was soll ich da neidisch sein? Auf die Freuden der Disziplin etwa? Lieber eine unabhängige Fliege als ein Löwe im Käfig!≪
≫Eine schöne Uniform bleibt doch immer schön≪, meinte der Archidiakon nachdenklich.
Gringoire hatte ihn nicht mehr gehört. Er war vor einer Hausfassade stehengeblieben und wies seinen Begleiter auf ihre Schönheiten hin.
Der Archidiakon warf jedoch nur einen flüchtigen Blick darauf und überraschte dann den Poeten mit der Frage:
≫Was habt Ihr mit Eurer Tänzerin angefangen?≪
≫Mit der Esmeralda? Wie kommt Ihr auf die?≪
≫War sie nicht Eure Frau?≪
≫Gewiß. Das heißt, über einem zerbrochenen Krug. Komisch, daß Ihr Euch daran erinnert.≪
≫Ihr scheint es aber vergessen zu haben.≪
≫Ich habe allerdings manche anderen Dinge im Kopf. Aber die Ziege war einfach fabelhaft.≪
≫Habt Ihr auch im Kopf, daß Euch die Tänzerin das Leben gerettet hat?≪
≫Beim Himmel! Das ist wahr!≪
≫Nun, und wo ist sie jetzt?≪
≫Mir scheint, man hat sie gehenkt.≪
≫Seid Ihr dessen sicher?≪
≫Das heißt≪, gab Gringoire zögernd zu, ≫man erzählt, daß sie in Notre-Dame eine Zuflucht gefunden habe. Ich weiß aber nicht, ob die Ziege auch gerettet wurde. Seit der Hexengeschichte habe ich mich zurückgehalten.≪
≫So?! Das ist alles, was Ihr wißt≪, donnerte der Archidiakon den verblüfften Dichter an. ≫Da werde ich Euch besser informieren. Eure Frau hat allerdings eine Freistätte in der Kirche gefunden. Aber nicht mehr auf lange! Es liegt ein Parlamentsbeschluß vor, daß sie heute über drei Tage auszuliefern ist, um dann gehenkt zu werden.≪
≫Ach Gott! Wie traurig≪, sagte Gringoire lahm.
Der Archidiakon war wieder ganz kalt geworden.
Er schwieg.
≫Wer, zum Teufel, hat das Parlament mobilisiert?≪ fragte jetzt Gringoire.
≫Welcher Schuft kann das arme Mädchen nicht in Frieden lassen?≪
≫Es gibt Satane auf der Welt≪, entgegnete der Priester orakelhaft.
≫Das muß ein verteufelter Satan gewesen sein.≪
Der Archidiakon erwiderte nichts darauf. Erst nach einer Weile begann er wieder:
≫Sie hat Euch das Leben gerettet.≪
≫Ohne Zweifel.≪
≫Wollt Ihr Euch nicht erkenntlich zeigen?≪
≫Wie?≪
≫Indem Ihr das ihre rettet.≪
≫Ich hätte nichts dagegen, wenn ich nicht fürchten müßte, dabei meinen eigenen Hals in die Schlinge zu stecken.≪
≫Was liegt daran?≪
≫Euch vielleicht nichts. Aber mir desto mehr.≪
Das Gesicht des Archidiakons zuckte nervös.
≫Wie könnte man sie retten?≪ fragte er wie im Selbstgespräch.
≫Hochwürden, Gott ist die Hoffnung≪, entgegnete Gringoire salbungsvoll.
≫Wie kann sie gerettet werden?≪ fragte der Archidiakon noch einmal.
≫Vielleicht durch ein Gnadengesuch an den König≪, schlug Peter vor.
≫Ludwig XI. und Gnade!≪
≫Warum nicht?≪
≫Geht lieber und versucht, einem Tiger seinen Knochen zu entreißen.≪
≫Wie wäre es, wenn die Matronen ein Gesuch machten mit dem Hinweise, daß die Dirne schwanger ist.≪
≫Schwanger?!≪ Die hohlliegenden Priesteraugen. sprühten Flammen. ≫Bursche! Weißt du etwas über eine Schwangerschaft?!≪
≫Ganz und gar nichts≪, beeilte sich der eingeschüchterte Dichter zu versichern. ≫Unsere Ehe wurde ja nie vollzogen. Ich meinte nur, daß man durch eine vorgebliche Schwangerschaft vielleicht einen Aufschub erlangen könnte.≪
≫Unsinn!≪
≫Zeit gewonnen, alles gewonnen!≪
≫Quatsch!≪
≫Dann weiß ich nicht…≪
≫Der Parlamentsbeschluß kann erst in drei Tagen vollzogen werden. Der verdammte Beschluß wäre gar nicht erfolgt, wenn nicht Quasimodo… Die Weiber haben oft einen verteufelten Geschmack…≪
Der Dichter schaute bei diesem Gemurmel verständnislos auf den Sprecher.
≫Ich verstehe nicht≪, meinte er dann.
≫Aber ich. Das genügt. Jedoch zur Sache. Ich habe einen Plan.≪
Der Dichter horchte auf.
≫Hört mich an≪, fuhr der Archidiakon fort. ≫Haltet Euch vor Augen, daß Ihr dem Mädchen Euer Leben verdankt. Darum will ich offen mit Euch reden. Die Kirche ist scharf bewacht, und die Büttel würden die Tänzerin beim Kragen haben, sobald sie nur die Nasenspitze heraussteckt. Aber sonst kann jedermann nach Belieben aus- und eingehen. Ihr werdet daher hineingehen und das Mädchen statt Eurer in Euren Kleidern herausschicken. Ihr bleibt in Euren Kleidern drin.≪
≫Nicht schlecht. Aber dann?≪
≫Dann? Im schlimmsten Falle werdet Ihr statt Eurer entkommenen Frau gehenkt.≪
Gringoire kratzte sich hinter dem Ohr.
≫Der Plan ist so großartig, daß er mir nie eingefallen wäre≪, meinte er diplomatisch.
Seine Miene verdüsterte sich aber dabei immer mehr und mehr, wie eine italienische Landschaft, die von einer Regenwolke überzogen wird.
≫Also, was sagt Ihr zu meinem Plan?≪ fragte der Archidiakon.
≫Ich sage, daß er mich zweifelsohne den Hals kosten wird.≪
≫Das geht uns nichts an.≪
≫Den Teufel auch!≪
≫Sie hat Euer Leben gerettet, und Ihr zahlt nun Eure Schuld.≪
≫Ich würde lieber mit anderer Münze zahlen.≪
≫Ihr müßt!≪
Der Archidiakon sagte es mit der ganzen, gewohnten Lehrerautorität.
Der Dichter wand sich bei diesen kategorischen Worten. ≫Hört, Dom Claude, Ihr habt unrecht, Euch so auf diesen Plan zu versteifen. Ich sehe nicht ein, warum ich mein Leben hergeben soll. Ich habe nur eines.≪
≫Hängt Ihr so sehr daran?≪
≫Ich habe meine Gründe dazu.≪
≫Welche?≪
≫Potztausend! Welche?! Ist das Dasein an sich nicht Grund genug?! Und noch dazu eines, welches in ständiger Gesellschaft eines Genies verfließt.≪
≫Das Genie seid Ihr vermutlich selbst?≪
≫Ihr habt es erraten.≪
≫Schellenkopf! Ich frage nochmals: Wem verdankt dieses Genie, daß es Eure Gesellschaft haben kann? Doch nur ihr! Was ist Euer überflüssiges Vogeldasein mit seinen Possen und Albernheiten im Vergleich zu ihr? Sie soll sterben?! Dieses schöne, anbetungswürdige, süße, zum Lichte der Welt notwendige Geschöpf! Sie, die göttlicher als Gott selbst ist!≪
Der Dichter wurde durch den Enthusiasmus des Priesters wider wider Willen gerührt. Seine Phantasie begann zudem mit ihm durchzugehen.
≫Wer weiß? Vielleicht werde ich auch nicht gehängt?! Vielleicht löst sich alles in Lachen auf, wenn man mich in Weiberkleidern findet. Und dann! Schließlich ist das Hängen ein Tod wie jeder andere auch. Eigentlich der einzige: der eines Skeptikers würdig ist. So zwischen Himmel und Erde schwebend, gleichsam der Ausdruck der Unentschlossenheit. Man stirbt, wie man gelebt hat.≪
≫Wir sind also einig?≪
≫Einen Moment! Ich muß mir die Sache noch überlegen.≪
≫Also topp! Schlagt ein!≪ drängte der Archidiakon, ihm die Hand bietend.
Diese Bewegung brachte den Dichter in die Wirklichkeit zurück.
≫Nein≪, sagte er zurückweichend. ≫Nein! Der Galgen ist kein Kinderspiel!≪
Der Archidiakon zerbiß einen zornigen Fluch zwischen den Zähnen und wandte sich zum Gehen.
≫Ich werde dich wiederfinden≪, murmelte er dabei.
Da erschrak der Dichter und Philosoph.
≫Von dem Menschen wiedergefunden werden?! Ich verzichte gerne darauf!≪ dachte er bestürzt.
Es war ihm unheimlich zumute. Die Rachsucht des Archidiakons war sicherlich nicht auf die leichte Achsel zu nehmen.
Da kam ihm ein erlösender Einfall.
≫Halt!≪ rief er dem Priester nach. ≫Halt! Ich habe eine Idee!≪
Der Archidiakon wandte sich ungeduldig um.
≫Schwätzt nicht viel! Was ist es?≪
≫Die Landstreicher! Sie lieben das Mädchen! Ein Handstreich! Verwirrung! Entführung!≪ stieß der Dichter atemlos heraus.
≫Sprecht deutlicher≪, entgegnete Dom Claude und schüttelte ihn an der Brust.
≫Morgen abend schon!≪
≫Erklärt Euch besser!≪
≫Bewunderungswürdig! Sicherer Erfolg!≪ strahlte der Poet.
≫Zum Henker, redet endlich!≪
≫Ich will es Euch ganz leise erklären. Kommt mit mir! Ihr werdet sehen, daß ich kein Dummkopf bin. Aber sagt: Seid Ihr sicher, daß die Ziege auch bei Esmeralda ist?≪
≫Zum Teufel mit der Ziege!≪
≫Diese wird auch gehenkt, nicht?≪
≫Was schert mich das!≪
≫Aber mich! Im vorigen Monat wurde ein Schwein gehängt. Das war ein Fressen für den Henker! Der spitzt schon sicher sein Maul auf Djali! Das arme kleine Tier!≪
≫Verflucht!≪ brach der Archidiakon los. ≫Ihr seid der blödeste Schwätzer, den ich je gesehen habe! Verdammter Narr, soll ich Euch Eure Idee mit der Geburtszange herausholen?!≪
≫Gemach, hochwürdiger Herr, gemach!≪
Und seinen Mund an das Ohr des Archidiakons legend, entwickelte er ihm seinen Plan.
Dieser hörte aufmerksam zu, ohne ein Wort zu sagen.
Als Gringoire geendet hatte, nickte Dom Claude mit dem Kopfe.
≫Auf morgen also≪, sagte er.
≫Auf morgen≪, bestätigte Gringoire.
Damit gingen sie nach verschiedenen Seiten auseinander.
Bruderliebe
Als der Archidiakon heimkam, fand er an der Türe seiner Zelle seinen Bruder Johannes wartend vor.
Der Student hatte sich inzwischen die Langeweile damit verkürzt, daß er mit Kohle eine Riesenkarikatur seines Bruders an die Wand zeichnete. Besonders die übermäßige Länge der Nase kam ihm höchst gelungen vor. Dom Claude beachtete es gar nicht. Auch um den Bruder kümmerte er sich nicht. Die Zeiten waren vorüber, da das immer fröhliche Wesen des lockeren Burschen das düstere Gesicht des älteren Bruders erheitern konnte. Jetzt war es ohnmächtig gegen die Schatten, die sich immer dichter und düsterer über diese verderbte Seele senkten.
≫Lieber Bruder≪, begann schüchtern der Student, ≫ich wollte nach Euch sehen.≪
≫Wozu?≪
≫Lieber Bruder, Ihr wart immer gütig gegen mich. Eure Ratschläge haben mir immer gutgetan.≪
≫Und?≪
≫Lieber Bruder, Ihr habt mir oft gut gepredigt≪, fuhr der schalkhafte Heuchler unentwegt fort.
≫Ja?≪
≫Lieber Bruder, ich bin ein schuldbeladener Verbrecher. Ein elender, ausschweifender Mensch. Aus Euren Ratschlägen habe ich Stroh und Mist gemacht. Dafür hat mich Gott gestraft. Denn er ist außerordentlich gerecht. Solange das Geld reichte, lebte ich freudig in den Tag hinein. Jetzt besitze ich keinen Pfennig mehr. Ich habe alle meine Sachen verkauft. So ein Elend! Ich trinke nur noch Wasser, und die Mädchen machen sich über mich lustig. Gewissensbisse und Gläubiger sind gleich scharf hinter mir her!≪
≫Weiter.≪
≫Weiter? Ach, teuerster Bruder, ich möchte in ein geordnetes Leben zurück. Voll Reue und Zerknirschung komme ich zu Euch. Auch möchte ich meine Studien fortsetzen. Aber ich habe weder Bücher noch das Geld zu ihrer Anschaffung. Nicht einmal für die Tinte langt mein Geld!≪
≫Ist das alles?≪
≫Jawohl. Ich brauche etwas Kapital, um ein neues Leben beginnen zu können.≪
≫Ich habe keins.≪
Da steckte der Studiosus eine ernste, entschlossene Miene auf.
≫Dann muß ich den Vorschlägen Gehör schenken, die man mir gemacht hat.≪
≫Diese sind?≪
≫Unter die Landstreicher zu gehen.≪
Damit nahm er eine erwartungsvolle Haltung an.
Der Bruder würde bei dieser Drohung gewiß empört auffahren, ein Donnerwetter loslassen, aber dann mit den Batzen herausrücken.
Aber nichts dergleichen geschah.
Der Archidiakon blieb ganz kalt.
≫Geh unter die Landstreicher≪, sagte er gleichgültig.
Mit einer tiefen Verbeugung verabschiedete sich hierauf der Student.
Dann schritt er laut pfeifend die Treppe hinab.
Als er im Stiftshofe unter dem Zellenfenster seines Bruders vorüberkam, steckte dieser den Kopf heraus.
Der Student hörte das Klirren der Scheibe und blickte erwartungsvoll hinauf.
Da sauste eine Börse herunter, die zuerst auf seiner Stirne eine Beule schlug und dann schwer auf das Pflaster kollerte.
≫Das ist das letzte, was du je von mir bekommst≪, schrie der Archidiakon herunter. ≫Scher dich zum Teufel und laß dich nie wieder blicken!≪
Der Student raffte fluchend den gut gefüllten Beutel auf.
Dann entfernte er sich in der halb zufriedenen, halb wehleidigen Haltung eines Hundes, dem man einen saftigen Markknochen auf den Schädel gehauen hat.
Kaschemmenfröhlichkeit
Der Wunderhof lehnte mit einer Flanke an der alten Stadtmauer, deren Türme bereits zu verfallen begannen. Einer dieser Türme war in eine von den Landstreichern mit Vorliebe besuchte Kaschemme verwandelt worden. Im Erdgeschoß des Turmes befand sich da ein allgemeiner Gastsaal, während in den oberen Stockwerken und in den Kellerräumen mehrere Zimmer für besondere Wünsche oder Gesellschaften zu haben waren.
Auf diese Weise war dieser Vergnügungsturm der Drehpunkt des Landstreicherlebens und zugleich auch der belebteste und lustigste Turm von Paris.
Wie in einem ungeheuren Bienenkorbe summten hier Tag und Nacht unaufhörlich die menschlichen Drohnen ein und aus. Und selbst wenn schon der ganze übrige Wunderhof im Schlafe lag, wenn in keinem der verlotterten Häuser dieses Platzes mehr Licht zu sehen war, wenn aus ihnen kein Rauflärm Betrunkener, kein Weibergekeif und kein Kindergeschrei mehr erklang, dann erdröhnte der Turm immer noch von dem Gegröle der Zecher, aus seinen Kellerlöchern und Schartenfenstern kam immer noch rötlicher Schein, der zudem an den unerwartesten Stellen der teilweise geborstenen Mauern wie Schweiß aus den Poren quoll.
Die Hauptkneipe war das Erdgeschoß. Es war dies ein halber Kellerraum, der durch die niedrige Eingangstüre über hinabführende Stufen erreichbar war. Über der genannten Türe befand sich an Stelle des üblichen Wirtshausschildes eine Schmiererei, die ein Stilleben aus geschlachteten Hähnchen und funkelnagelneum Hellern darstellte und mit der Anschrift Zu den Glöcknern der Verstorbenen versehen war.
Wenn sich die Scharwache in diese Gegend gewagt hätte, würde sie eines Abends in dieser Kaschemme einen mehr als gewöhnlichen Krawall festgestellt haben.
Es wurde drinnen mehr als sonst gezecht und geflucht, und draußen lungerten mehr Gruppen von Vagabunden als üblich herum.
Augenscheinlich lag ein besonderes Ereignis in der dicken Luft.
Irgendeine Sache, die nicht ungefährlich sein konnte, weil man allenthalben Strolche sehen konnte, die ihre Messer auf dem Straßenpflaster schliffen.
In der Kaschemme selbst wurde nicht soviel wie draußen gesprochen, dafür aber um so wackerer gespielt und getrunken. Aber auf allen Gesichtern lag der Abglanz einer gewissen Vorfreude. Und die kriegerische Stimmung der Anwesenden verriet sich weniger durch Worte als durch die Waffen, die ein jeder in Griffnähe oder zwischen den Knien lehnen hatte. Alle Gattungen von Hippen, Hellebarden, Spießen, Pallaschen und Streitäxten, ja sogar eine Anzahl Handfeuerschlangen und Hakenbüchsen waren da zu sehen.
Der Hauptraum der Kaschemme war ein ziemlich großer, runder Saal. Aber trotzdem hatten die Bänke und Tische sehr eng aneinandergerückt werden müssen, um allen Besuchern Platz bieten zu können. Aber auch so klebten sie wie die Pökelheringe aufeinander.
Auf den Tischen brannten einige Talgkerzen, jedoch die Hauptbeleuchtung empfing der Saal aus dem mächtigen Kamin, der in dieser feuchten Erdhöhle das ganze Jahr mit Torf und mächtigen Wurzelkloben geheizt werden mußte.
Es war ein ungeheures Stück, dieser Kamin, dessen mit Steinskulpturen bedeckter Mantel mit Feuerzangen und Kochgeschirrn behangen war.
Über seinem Feuer drehte sich ein gewaltiger Bratspieß, der von einem großen Hunde betrieben wurde.
Trotz der Mannigfaltigkeit der in dieser Kaschemme versammelten Zechergruppen waren noch drei Hauptpersonen erkennbar, um welche sich die ganze Menschenmenge zu bewegen schien.
Eine dieser Inseln war der Herzog von Ägypten, Matthias Hunyady Spicali, der an seinem bunten Flitterstaate kenntlich war. Dieser Halunke saß mit gekreuzten Beinen auf einem Tische und spendete an die Herandrängenden seine Weisheit in der weißen und schwarzen Magie.
Der zweite Gruppenmittelpunkt wurde durch den bis an die Zähne bewaffneten Bettlerkönig gebildet. Seine Majestät von Thunes, Herr Clopin Trouillefou, verteilte mit leiser Stimme und ernster Miene aus einer ungeheueren Tonne allerhand Waffen, die wie Äpfel und Birnen in diesem originellen Arsenale aufgeschichtet waren.
Am lustigsten und lärmendsten war die dritte Gruppe, die sich um ein schwatzendes und fluchendes Individuum scharte, dessen Flötenstimme merkwürdig gegen seine Ritterrüstung kontrastierte, aus der nur eine frech-aufgestülpte, rote Nase und über dreisten Augen ein Gebüsch blonder Haare sichtbar war. Dieser gewaltige Kämpe trug den Gürtel voller Messer und Dolche, außerdem einen riesigen Raufdegen an der Seite und eine verrostete Armbrust über der Schulter. An seinem Ellenbogen stand griffgerecht ein mächtiger Weinhumpen und als Gegenstück ein dickes, vollbrüstiges Weibsmensch, das sich der Hitze halber ganz ungeniert den Busen entblößt hatte. Es war Seine Hoheit der Kaiser von Galiläa in Person.
Ringsum wurde getrunken, gelacht, gestritten und geflucht.
In dieser baylonischen Verwirrung kamen und gingen die Kellner und Kellnerinnen, letztere mit den großen Weinkannen auf dem Kopfe, aus denen in die Gefäße der Trinker geschenkt wurde.
Etwa zwanzig Gruppen widmeten sich eifrig Glücksspielen aller Art, wie Mühle-, Würfel-, Brett- und Stäbchenspiel. Besonders das letztere bot allen Leidenschaften durch seine vielen Zufälligkeiten großen Raum.
In anderen Gruppen wurde geschäkert und gekost, und alle diese irgendwie beschäftigten Menschen bildeten in den schrägen Lichtstrahlen des Kamins die Akteure eines an die Wände geworfenen, grotesken Schattenspiels.
Dazu tobte ein fortgesetzter Lärm, in dessen seltene Pausen das Prasseln und Schmoren in den Bratpfannen hineinkrachte.
Inmitten dieses zuchtlosen Gelärmes saß auf einer der Kaminbänke ein einsamer Philosoph, der nachdenklich in die Flammen blickte.
Es war der Dichter Peter Gringoire.
Nur mit halbem Ohre hörte er auf die Unterhaltung in seiner nächsten Umgebung.
Da trällerte eine Dirne ≫Guten Abend, liebe Eltern, das Feuer wird bereits gelöscht.≪
Dort stritten zwei Spieler.
≫Bube?≪ rief der eine und streckte dem anderen die Faust unter die Nase. ≫Ich will dir deinen Treffbuben schon anstreichen!≪
≫Au≪, rief ein Zecher, ≫das ist die reinste Heiligenversammlung von Caillouville!≪
An seinem Näseln war der Sprecher als Normanne zu erkennen.
≫Kinder≪, ließ sich da die Falsettstimme des Herzogs von Ägypten vernehmen, ≫die Hexen von Frankreich kommen zum Sabbat ungesalbt und ohne auf Besen zu reiten. In Italien besteigen sie immer einen Bock, der sie erwartet. Aber alle sind verpflichtet, beim Schornstein hinauszufahren.≪
≫Juchhu≪, brüllte ein junger Bursche. ≫Heut ist meine erste Waffentat! Schenkt ein, Freunde! Ich bin ein Landstreicher wie ihr. Johannes Frollo ist mein Name. Du Moulin, bitte. Ich bin ein Edelmann! Als solcher kann ich nur Soldat oder Räuber sein. Gottvater könnte auch nichts anderes tun. Hört, Brüder! Wir sind tapfere Männer, und wir wollen uns tüchtig ins Zeug legen! Die Kirchentüren einschlagen und das junge Mädchen herausholen! Wir wollen sie dem Rachen der Pfaffen und Henker entreißen! Dazu das Stiftshaus demolieren und den Bischof in seinem eigenen Bistum verbrennen! Und Quasimodo wird auf der Turmspitze gehenkt! Kennt Ihr den Schuft? Es ist der Bursche, der die große Brummglocke in Bewegung setzt. Das ist ein Bissen für die hier versammelten Jungfrauen. Beim Horne Gottes, ein feiner Kerl! Hört auf mich! Mein Bruder ist der Herr Archidiakon von Notre-Dame! Ich kenne mich dort aus!≪
Die Menge lachte ihren Beifall dazu, bis der Herzog von Ägypten den Lärm überschrie:
≫Die Kappe eines Gnomen macht unsichtbar und läßt unsichtbare Dinge sehen. Sidragasum heißt der Teufel, der jedes Mädchen zwingen kann, nackt zu tanzen.≪
≫Bei der heiligen Messe≪, johlte der verbummelte Student, ≫der Teufel Sidragasum möchte ich gerne sein!≪
Unterdessen besprachen einige Zigeuner die kommende Aktion.
≫Unsere arme Schwester Esmeralda! Wir wollen Sie heute holen oder untergehen!≪
≫Ist sie noch immer in Notre-Dame?≪ fragte ein jüdischer Hausierer.
≫Ja, gewiß.≪
≫Um so besser≪, rief der Jude. ≫In dem Dom sind zwei Statuen ganz aus Gold. Der heilige Johannes und der heilige Antonius.≪
Johannes nahm der Kellnerin inzwischen das bestellte Abendessen ab, wobei er sich an ihren vollen Busen lehnte.
Dazu sang er den Gassenhauer:
≫Ich bin ein Bruder Liederlich und sauf mich durch das ganze Jahr.≪
≫He, alte Vettel!≪ brüllte er nach dem ersten Bissen. ≫Was sollen deine Haare da im Eierkuchen?! Eine schöne Sauwirtschaft, in der sich die Dirnen mit der Gabel kämmen!≪
Mit diesen Worten schmiß er Teller und Eierkuchen auf den Boden, daß es nur so klatschte.
Während dieser Szenen hatte der Bettlerkönig die Waffenverteilung beendet. Er näherte sich nun Gringoire, der noch immer unbeweglich am Kamine saß.
≫Freund Peter≪, sprach der König von Thames den Dichter an, ≫worüber zerbrichst du dir den Kopf?≪
Gringoire lächelte schwermütig.
≫Ich blicke gern ins Feuer, weil ich es besonders liebe. Nicht, weil es unsere Füße wärmt und unsere Suppen kocht. Sondern weil es Funken gibt. Man kann im Sprühen derselben tausenderlei Sternfiguren sehen, deren jede eine Welt für sich zu sein scheint.≪
≫Das ist mir zu hoch, beim Steiß des Teufels! Hast du einen Dunst, wie spät es ist?≪
≫Keine Ahnung.≪
Der Bettlerkönig wandte sich nun an den Herzog der Ägypter und Böhmen.
≫Kamerad, weißt du, daß Ludwig XI. in Paris lebt?≪
≫Ein Grund mehr, ihm unsere Schwester aus den Klauen zu reißen≪, entgegnete der Zigeuner.
≫Du sprichst wie ein Mann! Übrigens wird unsere Arbeit nicht so schwer sein. Im Dome selbst ist kein Widerstand zu befürchten. Die Domherren sind Hasenfüße, und wir haben eine verdammte Übermacht. Ich freue mich schon darauf, morgen die Gesichter der Parlamentsherren zu sehen, wenn sie das Nest leer finden werden.≪
≫Bei den Gedärmen des Papstes! Unsere Schwester sollen die Schurken nicht hängen!≪
Der Bettlerkönig verließ nun die Schenke, um bei seinen Leuten draußen die letzten Anordnungen zu treffen.
Johannes war schon halb bezecht und randalierte weiter. Peter Gringoire war aus seinen Grübeleien erwacht und machte im stillen seine Glossen über die mehr oder weniger betrunkene Versammlung.
Nach einiger Zeit kam der Bettlerkönig wieder in die Kaschemme zurück und verkündete mit Donnerstimme:
≫Mitternacht!≪
Dieser Ruf wirkte wie der Befehl zum Aufsitzen bei der königlichen Reiterei.
Alle Vagabunden, Männer, Weiber und Kinder, stürzten haufenweise zur Türe hinaus. Sie waren alle irgendwie bewaffnet, sogar ganz kleine Kinder. Denn niemand wollte bei dem Kriegszuge zurückbleiben.
Es war wie der Aufbruch eines ganzen Hunnenvolkes. Draußen war finstere Nacht, da der Mond hinter den Wolken verschwunden war.
Dunkel lag der ganze Wunderhof da.
Aber alles war Leben an ihm.
Zahllos waren die Gruppen, die flüsternd beieinanderstanden. Außer diesen leisen Gesprächen hörte man allenthalben Waffengeklirr.
Der Bettlerkönig bestieg nun ein erhöhtes Postament, das aus Pflastersteinen zusammengetragen werden war. ≫Jeder auf seinen Platz!≪ rief er mit weitschallender Stimme. ≫Jeder zu seinem Heerhaufen. Galiläa, Ägypten und Thunes.≪
Sogleich kam Bewegung in die Menge, und jeder eilte einem der drei genannten Heerhaufen zu.
Dann bildeten sich unter der Leitung von Ordnern die Kolonnen.
≫Achtung!≪ rief der Bettlerkönig, als alle abmarschbereit waren. ≫Beim Marsche durch Paris muß die allergrößte Stille herrschen. Auch die Fackeln werden erst entzündet, wenn wir auf dem Domplatze angelangt sind. Wir wollen die Sache möglichst ungestört abmachen.≪
Aber trotzdem begegneten die Reiter der Nachtwache dem Zuge. Sie flohen entsetzt, als sie diese endlose Menschenschlange sahen, die in drohendem Schweigen die gewundenen Gassen des Hallenviertels durchzog.
Ein tragischer Irrtum
Quasimodo hatte eine schlaflose Nacht.
Eben hatte er seine letzte Runde durch die Kirche gemacht und dabei nicht bemerkt, wie unwillig der Archidiakon ihn anblickte, als er alle Türen sorgfältig mit Riegeln und Vorhängeschlössern versicherte.
Er hatte sich nicht einmal darüber gewundert, daß Dom Claude ihm zu dieser Stunde in den Weg kam, da in der letzten Zeit zuviel Außergewöhnliches an seinem Meister zu Sehen war.
Dieser behandelte ihn seit der nächtlichen Szene in Esmeraldas Zelle noch elender als einen Hund. Er mißhandelte ihn, sobald er nur in seine Nähe kam.
Mit unterwürfiger Geduld nahm Quasimodo die Schläge hin, ohne auch nur einen leisen Vorwurf zu murmeln.
Nur wenn der Archidiakon die Turmtreppe hinaufstieg, folgte er ihm mit unruhigen Blicken. Und er lauschte gespannt, ob das Pfeifensignal ertönen würde.
Aber Dom Claude unterließ es freiwillig, sich vor der Tänzerin blicken zu lassen.
Nachdem Quasimodo seinen mitternächtlichen Rundgang gemacht hatte, war er auf die Spitze des Nordturmes gestiegen, um hier einen Rundblick auf die schlafende Stadt zu werfen. Da er seine Laterne verschlossen hatte und das damalige Paris noch ohne Straßenbeleuchtung war, konnte er in der dunkelbewölkten Nacht nur eine wirre, schwarze Häusermasse sehen, die hie und da von den weißschimmernden Windungen der Seine durchschnitten wurde.
Während Quasimodo sein Einauge im Kreise schweifen ließ, fühlte er eine unerklärliche Unruhe. Schon seit ein paar Tagen hatte er bemerkt, daß außer den gewöhnlichen Bütteln noch andere unheimliche Leute den Dom umschlichen, von denen er instinktiv erriet, daß sie sich für Esmeralda interessierten.
Sollte irgendein verbrecherischer Anschlag gegen die Flüchtige geplant sein?
Es schien ihm nicht unwahrscheinlich.
Da er beim Volke nur Haß gefunden hatte, konnte er es sich leicht vorstellen, daß man der Zigeunerin ähnliche Gefühle entgegenbrachte.
So hielt er Wache wie ein mißtrauischer Hofhund, dessen argwöhnische Instinkte den kommenden Dieb wittern. Während er in die nächtliche Finsternis hinausstarrte, sah er an den fernen Kais schattenhafte Windungen und Bewegungen, die von den hin und her schwankenden Köpfen einer großen, sich vorwärtsbewegenden Menge herrühren mußten.
Eine solche Erscheinung inmitten der Nacht erschien ihm befremdlich.
Er verdoppelte daher seine Aufmerksamkeit um so mehr, als sich diese Schattenwellen langsam der Altstadt näherten.
Zwar verschwanden sie alsbald in Deckung der dazwischenliegenden Häuser, aber Quasimodo lauschte nur um so angestrengter in die Nacht hinaus.
Sein Mißtrauen sollte sich nur allzubald als berechtigt herausstellen.
Schon sah er die Spitze eines großen Menschenzuges auf dem Domplatze erscheinen. Und es dauerte nicht lange, bis der ganze Platz mit einem Haufen von Menschen überfüllt war. Dies war ein um so unheimlicheres Schauspiel, als die vielen Leute das tiefste Schweigen bewahrten.
Der Aufmarsch einer Armee von Toten hätte nicht geräuschloser vor sich gehen können.
Da stieg Quasimodos Sorge um die Sicherheit Esmeraldas auf den Höhepunkt.
Was sollte er tun?
Die Tänzerin wecken?
Mit ihr fliehen?
Wohin?
Alle Straßen waren bereits besetzt, und am angrenzenden Flußufer lag in der Nähe der Kirche kein Kahn.
Es war kein Ausweg offen.
Und es gab nur ein Mittel.
Sich in Verteidigung Esmeraldas auf der Schwelle des Domes töten zu lassen.
Oder doch so lange Widerstand zu leisten, bis von irgendwoher Hilfe kam.
Keinesfalls wollte er Esmeralda unnötig beunruhigen. Es war vorläufig das beste, wenn er sie gar nicht weckte, sondern sie ruhig weiterschlafen ließ. Sie würde noch immer früh genug aus dem Schlafe gerissen werden, wenn er selbst gefallen war. Dann konnte er es nicht mehr verhindern, daß man sie zum Hochgericht zerrte. Nachdem Quasimodo diesen mannhaften Entschluß gefaßt hatte, konzentrierte er seine ganze Aufmerksamkeit darauf, die Bewegungen des Gegners mit Ruhe zu beobachten.
Unten begannen jetzt plötzlich Fackeln aufzuflammen, und in ihrem Scheine sah Quasimodo einen fürchterlichen Haufen bewaffneter Männer, Weiber und Kinder, deren Lumpen ihre Zugehörigkeit zur Hefe von Paris deutlich verrieten. Das Gesamtbild dieser Menschenansammlung erinnerte ihn an das Gesindel, welches ihn einige Monate zuvor als Narrenpapst umjohlt hatte. Besonders einer, anscheinend der Führer, kam ihm wohlbekannt vor, als er mit einem Birkenstabe in der Hand auf einen Eckstein stieg, um eine kurze Ansprache an den Mob zu halten.
Nun wurde der Dom regelrecht umzingelt, so daß der letzte Zweifel über die Absicht des ganzen Aufmarsches schwand.
Quasimodo begann daher an Verteidigungsmaßnahmen zu denken.
Zunächst nahm er seine Laterne auf und stieg dann auf die Plattform hinab, die beide Türme miteinander verband. Von hier aus konnte er den Feind mehr aus der Nähe rekognoszieren.
Der Bettlerkönig hatte inzwischen seine Truppen in Schlachtordnung aufgestellt. Obwohl er mit keiner Störung rechnete, wollte er sich als kluger Feldherr doch den Rücken decken, um einem eventuellen Eingreifen der Nachtrunde begegnen zu können. Nachdem dies in geeigneter Weise geschehen war, bildete er eine Sturmkolonne, die unter seiner und des Herzogs von Ägypten Führung stand. Sie war aus den mutigsten Landstreichern zusammengestellt, unter denen sich auch der Studiosus Johannes Frollo befand.
Derlei Unternehmungen waren in den Städten des Mittelalters keine so große Seltenheit. Eine regelrechte Polizei im modernen Sinne des Wortes gab es damals nicht, und ebenso fehlte in den größeren Städten eine für die Ordnung verantwortliche Zentralgewalt. Es war dies eine Folge des wunderlichen Lehenswesens, demzufolge eine große Stadt eigentlich eine willkürliche Vereinigung mehrerer Städte und zahlloser Lehen war. Hierzu kam noch die selbständige Gerichtsbarkeit der weltlichen und geistlichen Notabeln innerhalb ihrer Besitzungen, so daß ein Chaos sich häufig gegenseitig aufhebender Polizeiverordnungen, aber keine Polizeigewalt bestand. In Paris gab es beispielsweise an die zweihundert Persönlichkeiten, welche als Lehensherren eine eigene Gerichtsbarkeit beanspruchten und welche die Oberlehensherrlichkeit des Königs nur dem Namen nach anerkannten. Jeder von ihnen war Herr in seinem Bezirk und übte in demselben die Straßenpolizei aus.
Wohl hatte es Ludwig XI. versucht, diese Feudalwirtschaft zu sprengen, da dies im Interesse seiner königlichen Hausmachtpläne lag. Aber die von ihm angestrebte Zentralisation der Staatsgewalt gelang erst viel später dem Kardinal Richelieu und schließlich Ludwig, dem Sonnenkönig, nachdem der hohe Adel und die Stadtverwaltungen unterworfen worden waren. Allerdings stand da noch Staatsgewalt im Sinne von absoluter Königsmacht, und erst der Revolutionär Mirabeau konnte das ganze Problem zum Heile des Volkes lösen.
Ludwig XI. mußte sich noch damit begnügen, einige königliche Ordonnanzen in den Verordnungswirrwarr hineinzuwerfen, durch die er den Versuch zu einer allgemeinen Polizeiverordnung machte. Es waren dies Befehle, wie die Verpflichtung, die Straßen durch in die Fenster gestellte Lichter zu beleuchten, dann das Gebot, die Hunde nachts anzuschließen, und schließlich das Verbot des Tragens von Dolchen oder anderen nächtlichen Angriffswaffen. Aber kein Mensch scherte sich darum. Die Straßen lagen im Dunkeln, die Hunde trieben sich nach Belieben herum, und bei der nächtlichen Unsicherheit ging niemand ohne eine Waffe vor das Haus.
So blieb die alte Lehensherrlichkeit bestehen und mit ihr der ganze Unfug der Willkür und der bezirklichen Kompetenzstreitigkeiten. In ihrem Schatten wucherte ein unnützes Aufgebot an Wachen, Schergen und Bütteln, die sich gegenseitig in die Quere kamen, während sich rings um sie Aufruhr, Mord und Diebstahl ungeniert austobten.
Bei einer solchen Rechtsverwirrung war ein Handstreich des Pöbels gegen irgendein Gebäude nichts so Ungewöhnliches. Und die Nachbarschaft beteiligte sich ganz gerne daran, wenn es zum Schlusse zur Plünderung kam. Das Risiko des Bettlerkönigs war daher bei seinem Zuge gegen die Notre-Dame-Kirche nicht übermäßig groß.
Nachdem er alle seine Anordnungen getroffen hatte, konnte er es aber nicht unterlassen, seiner Aktion die Feierlichkeit einer ritterlichen Fehde geben zu wollen. Er ließ daher unter Fackelschwenken die Absage vom Stapel, die er sich für diese Gelegenheit nach bewährten Mustern zusammengestellt hatte.
≫Louis von Beaumont, Bischof von Paris und Rat beim Parlamentsgerichtshofe≪, rief er laut, ≫ich, Clopin Trouillefou, der große Bettlerkönig, spreche zu dir: Unsere Schwester Esmeralda wurde schuldlos wegen angeblicher Zauberei verurteilt und fand ein Asyl in Notre-Dame. Nun will sie das Parlament mit deiner Zustimmung aus dieser Zufluchtsstätte reißen, um sie morgen auf dem Grève-Platze zu hängen. Aber Gott und die Landstreicher sind noch da! Glücklicherweise! Wir fordern demnach die Auslieferung Esmeraldas, nachdem sie in der Heiligkeit deiner Kirche keinen Schutz mehr finden kann. Solltest du uns das Mädchen nicht sogleich ausliefern, werden wir es uns selbst holen und deine Kirche dazu plündern. Im Namen dessen pflanze ich mein Banner auf. Gott sei dir gnädig, Bischof von Paris.≪ Leider verstand der allein zuhörende taube Glöckner diese Aufforderung nicht.
Und Esmeralda schlief ahnungslos in ihrer Zelle.
Clopin pflanzte nun sein Banner auf, indem er dessen Fuß in den Zwischenraum zweier Pflastersteine einrammte. Es war eine große Mistgabel, auf deren Zinken ein Stück Aas gespießt war.
Dann gab der Bettlerkönig den Angriffsbefehl.
Dreißig robuste Kerle, ehemalige Schmiede und Schlosser, machten sich sogleich daran, mit Hammern, Zangen und Brecheisen das eisenbeschlagene Hauptportal zu bearbeiten. Hinter ihnen stand der erste Sturmtrupp auf der Treppenrampe in Bereitschaft.
Das schwere Tor hielt aber tapfer aus.
≫Teufel, ist das eine harte Nuß≪, fluchte einer der Zyklopen.
≫Ein alter, zäher Knorpel!≪ pflichtete ein anderer bei.
≫Mut!≪ feuerte Clopin die Einbrecher an. ≫Horcht! Ich glaube, das Schloß gibt schon nach!≪
Allerdings erscholl ein furchtbares Krachen.
Aber es kam nicht von einem Erfolge am Tore.
Sondern ein mächtiger Balken war es, der wie vom Himmel heruntergesaust kam. Dabei flegelte das kantige, schwere Holzstück um seine eigene Achse und mähte ein Dutzend Vagabmden nieder, bevor es mit der Wucht eines Gesciosses gegen das Pflaster dröhnte.
Im nächsten Augenblicke war der ganze Vorhof leer. Nur die Verletzren krümmten sich mit zerschmetterten Gliedern auf den Treppenstufen. Ein paar von ihnen führten sich überhaupt nicht mehr. Sie waren tot.
≫Heiliger Bimbam!≪ rief Johannes. ≫Dicht neben mir ist es niedergeflogen! Das nennt man Glück!≪
Selbst Clopin hatte sich in ehrerbietige Entfernung zurückgezogen.
Staunen und Entsetzen hielten die Angreifer gefangen. Wo kam das Holztrumm her?
Sie waren über dessen unerwartetes Erscheinen bestürzter, als wenn ihnen sämtliche Bogenschützen des Königs in den Rücken gefallen wären.
Tausende von Augen richteten sich forschend an der Kathedrale in die Höhe.
≫Verdammte Zauberei!≪ murrte der Herzog von Ägypten.
≫Vielleicht hat der Mond den Balken ausgespuckt≪, wieherte ein Spaßvogel.
≫Dann muß er ein Busenfreund der heiligen Jungfrau sein!≪
≫Ihr seid alle Idiotenl≪ wetterte Clopin.
Aber er selbst hatte keine Ahnung, woher der Balken gekommen sein konnte.
Denn still und schweigend stand die Kathedrale da.
Nicht das geringste Lebewesen war an ihrer ganzen Fassade zu sehen.
Es war wie ein Spuk.
Aber der auf dem Vorhofe liegende Balken und das Wimmern der Verletzten waren bittere Wirklichkeit.
≫Himmel und Hölle!≪ rief endlich Clopin. ≫Es können nur die verdammten Domherren sein! Dafür räumen wir ihnen den letzten Winkel aus!≪
Damit gab er der allgemeinen Meinung Ausdruck.
Beifallsrufe stimmten ihm zu. Eine Generalsalve aus sämtlichen Armbrüsten und Hakenbüchsen prasselte gegen die Fassade des Domes.
Bei diesem Gekrach erwachte die ganze Nachbarschaft. Fenster wurden aufgerissen, Lichter und Nachthauben wurden herausgestreckt.
≫Alle Fenster zu!≪ brüllte Clopin mit Stentorstimme.
Sofort fuhren sämtliche Lichter und Nachthauben wieder zurück. Alle Fenster schlossen sich.
Zitternd, vor Angst schwitzend, krochen die wackeren Bürger in ihre warmen Betten zurück, und ihre Weiber bekreuzten sich.
Kein Zweifel, der Hexensabbat war los.
Oder die Burgunder waren wieder einmal da.
Da dachten die Männer an die Plünderung und die Weiber an die Notzüchtigung. Denn in beidem besaßen die fürchterlichen Burgunder Meisterschaft.
Die Landstreicher aber feuerten sich gegenseitig mit Worten an, ohne daß vorerst einer den Anfang mit der Erneuerung des Angriffes machen wollte.
≫An die Arbeit!≪ ermunterte sie Clopin. ≫Frisch! Erbracht brecht das Tor! Sobald wir drin sind, gibt’s reiche Beute; Bart und Bauch! Habt ihr vor einem elenden Balken Furcht?≪
≫Hauptmann≪, entgegnete ihm ein älterer Schlosser, ≫der Balken schert uns keinen Pfifferling. Aber an der Türe ist nichts zu holen. Da biegen sich nur unsere Werkzeuge krumm!≪
≫Der kommen wir nur mit einem Sturmblock bei≪, stimmte ein andere Einbrecher zu.
≫Einen Sturmbock?≪ fragte der Bettlerkönig. ≫Den werde ich Euch gleich verschaffen!≪
Und mutig schritt er vorwärts, um seinen Fuß auf den Unglücksbalken zu setzen.
≫Da habt ihr Euren Sturmbock≪, sagte er. ≫Die Burschen haben ihn selbst geliefert!≪
Und mit einer spöttischen Verbeugung gegen den Dom setzte er hinzu:
≫Vielen Dank, hochwürdige Herren!≪
Dieses Auftreten ihres Anführers machte den Vagabunden wieder Mut.
Zweihundert nervige Fäuste erfaßten den Balken, zweihundert muskelbepackte Arme hoben ihn hoch, und zweihundert eherne Schenkel rannten mit ihm gegen das Portal los.
Es war ein fürchterlicher Stoß. Die Kathedrale erbebte bis in ihre Grundfesten, und das Echo des donnergleichen Aufschlages rollte wie ein auf hundert Trommeln geschlagener Generalmarsch zurück.
Aber die Türe wankte nicht.
Ein förmlicher Hagel von Steinen war die Antwort der Verteidigung.
Manche Faust ließ den Sturmbock fahren, um sich an den getroffenen Kopf zu greifen. Aber frische Fäuste griffen statt ihrer zu. Unter neuem Steingeschmetter wurde der Sturmblock immer wieder gegen das erdröhnende Tor gerannt.
Bald war keiner mehr am Sturmbalken, der nicht irgend einen Steinwurf abbekommen hatte, wenn auch die wenigsten Verletzungen schwerer Natur waren. Alle bluteten jedoch bereits und fluchten und stöhnten, während sie hartnäckig immer wieder und wieder vorwärtsgingen.
Es war Quasimodo, der dieses Bombardement unterhielt. Zum Glück oder Unglück wurden an der Kathedrale gerade Maurerarbeiten vorgenommen, und es lag daher auf der Galerie ein reichlicher Vorrat an Steinen und Dachbalken bereit. Quasimodo brauchte nur ins volle zu greifen, um mit beiden Händen seine Wurfgeschosse schleudern zu können. Als er zwischen die Steine auch Balkenstücke zu mengen begann, gab es unten außer den Verwundeten bald Tote genug.
Ein besonders riesiger Balken riß direkt eine Lücke an Erschlagenen, deren Hirn umhergespritzt wurde, aber er lieferte den Angreifern zugleich einen fürchterlicheren Sturmbock, als es der erste Balken gewesen war.
Das Entsetzen und das Wechseln des Sturmbalkens hatte aber auch dem Verteidiger Zeit zu besonderen Vorbereitungen gegeben. Mit fieberhafter Geschwindigkeit häufte er einen ganzen Steinberg auf der Balustrade über dem angegriffenen Tore auf. Dabei pfiffen die Bolzen und Kugeln um seine Ohren wie ein Hornissenschwarm, da die Landstreicher inzwischen seinen Standort herausbekommen hatten.
Als nun der neue Sturmbock zum ersten Male vorgetragen wurde, vermeinten die Angreifer, daß die ganze Fassade des Domes auf sie herunterkam.
Das war kein Steinhagel mehr, es war eine vernichtende Lawine.
Aber mit der Anzahl der Zerschmetterten wuchs auch der Rachezorn der Stürmer.
Schon krachten die Torfüllungen und splitterten Stücke der kostbaren Schnitzarbeiten und der getriebenen Verzierungen. Die Haspen begannen in den Angeln zu tanzen und die Bohlen zwischen den Eisenbeschlägen zu bersten. Das Tor hielt nur noch, weil es mehr aus Schmiedeeisen als aus Holz bestand.
Dabei hallte jeder Stoß so dröhnend in der erhebenden Kathedrale wider, daß Quasimodo trotz seiner Taubheit an den Erschütterungen merkte, wie nahe der Erfolg des Angriffes war. Es hätte gar nicht der siegesgewissen Gesten der Menschenmasse bedurft, um ihn über diesen Punkt aufzuklären.
Er begriff, daß seine bisherige Methode nicht genügte, gab um den Angriff zum Stehen zu bringen.
Ängstlich umherspähend, sah er unter der Balustrade zwei lange steinerne Dachrinnen, die unmittelbar oberhalb des Tores ihre Mündungsöffnungen hatten. Da fuhr ihm ein Gedanke durch den Kopf.
Im Laufschritt holte er Brennmaterial aus seinem Vorrate herbei und baute knapp vor den Abflußzugängen der beiden Dachrinnen einen Scheiterhaufen auf, dem er schleunigst Feuer gab. Und dann legte er eine größere Anzahl Bleiplatten aus dem für die Dachreparaturen bestimmten Stapel darauf.
Da während dieser Vorbereitungen Quasimodos das Stein und Balkenbombardement aufgehört hatte, blickten die Stürmer gar nicht mehr in die Höhe, als sie sich zu einem letzten, übermächtigen Stoße mit dem Sturmbocke anschickten.
Schon waren die Angreifer ihres Erfolges so sicher, daß alles sich an das Portal drängte, weil jeder der erste bei der Plünderung sein wollte. Ein jeder sah sich schon in den gold- und silberbestickten Altardecke und Ornaten wühlen, ein jeder fühlte bereits das Edelmetall und die kostbaren Steine der Monstranzen, Leuchter und Kruzifixe in seiner Hand. Der Jude schacherte schon um die goldenen Statuen, auf die die Aufmerksamkeit der Gauner gelenkt hatte.
An Esmeralda dachte wohl kaum einer mehr. Über der Beutegier war der ursprüngliche Zweck der ganzen Aktion in Vergessenheit geraten.
Vielleicht war die Befreiung des Mädchens für die meisten von allem Anfang an nur einer jener Vorwände gewesen, deren die Banditen zur Erhöhung ihres Kampfesmutes in der Regel bedürfen.
Jeder Atem war angehalten, jeder Muskel war gespannt, um die höchste Stoßkraft in den letzten, entscheidenden Ansturm zu pressen.
Um so schrecklicher war die Wirkung des von den zwei Dachtraufen ausgespienen geschmolzenen Bleies. Die glühenden Bäche zischten in die dichtgedrängte Menge, und die Getroffenen stießen Heullaute aus, die nichts Menschliches mehr an sich hatten.
Während die entsetzten Menschen auseinanderprallten, sengten die beiden Bleigüsse noch zwei tiefe schwarze Löcher in den Boden, ähnlich denen, die ein heißer Wasserstrahl im Schnee erzeugt. Halbverkohlte Sterbende wälzten sich daneben und erhoben ein Mark und Bein erschütterndes Geschrei. Und neben diesen beiden Hauptgüssen sprühte noch ein zischender Regen aus über die Dachrinnen gespritzten Bleitropfen, deren jeder eine furchtbare Brandwunde verursachte.
Da gab es kein Halten mehr. Der Sturmbalken kollerte über die Verstümmelten hin, und jeder, der auf den Beinen war, gab mit gesträubten Haaren Fersengeld. Aus respektvoller Entfernung richteten sich alle Blicke auf die Fassade hinauf. Über der Mittelrosette lohte eine wabernde Flamme, in die ein schwitzender Gnom unermüdlich neue Bleiplatten warf, deren Feuerstrom aus den Mäulern der Dachtraufen wie aus Drachenschlünden schoß.
In der entsetzten Stille der Angreifer war nun deutlich das Not- und Hilfegeschrei der Domherren aus dem Stiftshause zu vernehmen, die, gleich eingeschlossenen Pferden bei einer Stallpanik, sinnlos in ihren Räumen hin und her liefen. Ihr Gezeter gab im Verein mit dem Jammern der Sterbenden und Verwundeten und mit dem sprühenden Prasseln der unaufhörlich auf das Pflaster fallenden Bleigüsse eine wahre Höllen-Symphonie.
Die Führer der Landstreicher zogen sich unter den Balkon des Hauses Gondelaurier zu einem Kriegsrat zurück.
Unter ihnen befand sich der Herzog von Ägypten, der sich auf einen Eckstein niedergelassen hatte und von hier aus mit abergläubischer Scheu den Bleiguß betrachtete, während der Bettlerkönig wütend an seinen eigenen Fingern biß.
≫Nichts zu machen≪, knirschte er.
≫Es ist eine alte und gefeite Kirche≪, sagte der Ägypter feierlich.
≫Beim Schnurrbart des Papstes≪, entgegnete ein alter Vagabund, ≫die verdammten Dachtraufen speien das Feuer der Hölle aus!≪
≫Wer ist der Schuft, der da oben herumhantiert?≪ fragte der Zigeunerherzog.
≫Der verdammte Glöckner Quasimodo, den wir als Narrenpapst hatten≪, entgegnete wütend Clopin.
Aber der Herzog von Ägypten und Böhmen schüttelte das Haupt.
≫Mag sein, daß man ihn unter diesem Namen kennt. Ich aber sage euch, daß es der Geist des großen Sabnak ist.≪
≫Von mir aus! Aber wie kommen wir in die verdammte Tür hinein≪, schrie Clopin und stampfte zornig mit beiden Füßen auf.
Der Ägypter zuckte bloß die Achseln.
≫Es hat genug Kirchen gegeben, die sich selbst verteidigt haben. So hat die heilige Sophie von Byzanz dreimal den Halbmond durch Schütteln ihrer Kuppel abgeworfen. Und diese Kirche da hat Wilhelm der Zauberer gebaut.≪
≫Und sollen wir deshalb mit vollgemachten Hosen abziehen?≪ grollte der Bettlerkönig. ≫Und was wird dann aus Eurer Schwester Esmeralda, he?≪
≫Und aus dem Gold und Silber?≪ setzte der Jude hinzu.
≫Beim Barte Mohammeds! Das auch!≪ fluchte Clopin.
≫Macht noch einen Versuch≪, drängte der Jude.
Aber der Zigeuner gab ihm einen mißbilligenden Blick. ≫Durch das Tor kommt kein Mensch hinein≪, sagte er bestimmt. ≫Wir müssen zuerst sehen, wo die alte Zauberin ihre schwache Seite hat.≪
≫Holla, da weiß vielleicht der Student Bescheid≪, rief Clopin. ≫Der Bursche erzählte doch, daß er der Bruder des Archidiakons ist.≪
≫Gut. Ruft ihn her≪, stimmte der Ägypter zu.
≫Ich glaube, der ist schon hin≪, meinte der Jude. ≫Ich höre seit dem Bleiguß sein Lachen nicht mehr.≪
≫Hol’ ihn der Teufel! Und wo ist das Genie, Meister Gringoire?≪
≫Der hat sich schon auf dem Hermarsche bei der Wechslerbrücke gedrückt≪, meldete der rote Andry.
≫Verdammter Schurke! Erst heckt er diesen Sauplan aus und jetzt läßt er uns die ganze Arbeit allein machen! Ein feiger Hund und Kürbiskopf!≪
≫Hauptmann, da kommt der kleine Student.≪
≫Ah, er lebt noch? Desto besser! Her mit ihm!≪
≫Was, zum Teufel, schleppt er hinter sich her?≪
Es war in der Tat Johannes, der sich mühsam in einer schweren Rüstung vorwärts bewegte und eine lange Leiter hinter sich herschleifte, wie eine Ameise, die sich mit einem Grashalm abmüht, der zwanzigmal länger als sie selbst ist.
≫Siegl≪ brüllte er dabei aus Leibeskräften.
≫Was willst du mit der Leiter, Bursche?≪ fragte ihn Clopin.
Johannes erwiderte mit einem schlauen Blick.
≫Was ich damit machen will, erhabener König von Thunes? Auf die Kirche hinaufsteigen, natürlich. Seht Ihr die Reihe Bildsäulen mit den dummen Gesichtern über dem Hauptportal?≪
≫Ja, was weiter?≪
≫Es ist die Galerie der französischen Könige.≪
≫Sehr interessant! Aber nicht für mich!≪
≫Geduld! Am Ende dieser Galerie ist eine Türe, die nie verschlossen wird. Durch sie kann man ungeniert in die Kirche hinein, sobald man die Galerie mit der Leiter erreicht hat.≪
≫Famos! Da will ich als erster hinaufsteigen!≪ rief Clopin.
≫Nichts zu machen, Kamerad! Erst nach mir! Die Leiter habe ich gebracht!≪
≫Hol’ dich der Henker! Ich mag nirgends der zweite sein!≪
≫Dann bleibt unten oder sucht Euch selbst eine Leiter, werter Herr König≪, entgegnete Johannes achselzuckend.
Und dann begann er, mit seiner Leiter gegen die Kathedrale hin zu laufen.
≫Her da! Zu mir, Leute!≪ rief er dabei.
Rasch griffen willige Hände zu, und im Nu stand die Leiter mit der Spitze gegen die Balustrade der unteren Galerie gelehnt.
Da ihr Standplatz außerhalb des Bereiches der Bleiströme war, sammelte sich alsbald ein Haufen beherzter Verbrecher, die unter Führung des Studenten die Leiter besteigen wollten.
Es war ein ziemlich langer Weg nach oben, da die Galerie eine Höhe von sechzig Fuß hatte. Durch seine schwere Rüstung behindert, konnte Johannes nur langsam Fuß über Fuß auf die Sprossen setzen. Dicht hinter ihm rückten die anderen auf, so daß der ganze Zug alsbald einer Riesenschlange glich, deren Kopf Johannes war. Das kriegerische Pfeifen des Studenten vervollständigte dieses Bild.
Endlich hatte Johannes die Galerie erreicht und sich unter dem tobenden Beifallsgeschrei der Landstreicher über die Balustrade geschwungen. Da erstickte der eigene Siegesjubel in seinem Mund. Er sah in der Halbdunkelheit das tückische Einauge Quasimodos dicht vor sich blinken.
Ehe noch der zweite Mann von der Leiter auf die Balustrade springen konnte, war Quasimodo bereits da. Er packte die Leiterspitze mit beiden Fäusten und stieß sie so lange schaukelnd von der Brustwehr ab, bis sie mit der ganzen daranhängenden Traubenlast von Angreifern einen langsamen Bogen von der Fassade weg zu beschreiben begann. Mit atemloser Spannung sahen sämtliche zur Höhe gereckten Gesichter der auf dem Platze Versammelten, wie die Leiter einen Augenblick senkrecht stand. Würde sie nach vorne oder rückwarts fallen? Aber nur kurz zauderre das schwankende Gestell. Dann beschrieb seine obere Spitze einen fürchterlich weiten, immer beschleunigteren Kreisbogen nach auswärts, bis es mit seiner ganzen Menschenlast auf den Granit der Pflasterung niederplatschte. Nur wenige zu Krüppeln geschlagene Menschen schleppten srch aus dem Leichenhaufen hervor.
Ein tausendstimmiger Zorn- und Racheschrei donnerte gegen die Kathedrale und zu Quasimodo hinauf, der inmitten eines ihn umpfeifenden Geschoßregens mit verschränkten Armen in triumphierender Haltung an der Balustrade stand.
Johannes sah, daß er sich als der einzige auf der Galerie gelandete Angre1fer in einer mißlichen Lage befand. Während Quasimodo noch mit der Le1ter beschäftigt war, eilte er zu der Türe hin, durch die der Glöckner auf die Galerie gekomrnen war.
Er fand sie aber le1der verschlossen und war daher gezwungen, sich hinter einer der Königsstatuen zu verstecken, so gut es eben ging.
Als aber Quasimodo die Leiter erledigt hatte, sah er sich nach dem Eindringling um und erspähte ihn nur allzubald.
Er sprang ihn aber nicht sofort an, wie Johannes befürchtet hatte, sondern pflanzte sich nur regungslos vor ihm auf, um ihn starr zu betrachten.
≫Ho, ho?≪ foppte ihn der leichtsinnige Bursche. ≫Was glotzt du mich so an?≪
Quasimodo überlegte in seinem schwerfälligen Hirn, wie er sich des jungen Menschen entledigen konnte, ohne ihm als Bruder seines Meisters etwas anzutun.
Der Übermut des Studenten aber besiegelte sein Schicksal von selbst.
Johannes spannte seine Armbrust und rief:
≫Du hast ein Auge zuviel! Ich will diesen Schönheitsfehler ausgleichen!≪
Und er legte die tückische Waffe an, um auf das Einauge zu zielen.
Der Bolzen aber verfehlte weit sein Ziel und schwirrte ziemlich harmlos in das Dickfleisch auf Quasimodos Arm.
Mit einem wütenden Schnauben riß der Getroffene den Bolzen aus der Wunde, und dann schnellte er mit einem Panthersprunge auf den unglücklichen Schützen los. Mit ein paar Prankengriffen riß er dem vor Schreck gelähmten Studenten die Waffen aus der Hand und sämtliche Panzerstücke und Kleider vom Leibe, so daß Johannes im Handumdrehen völlig nackt dastand.
Der Student gewann während dieser rauhen Behandlung seine Kaltblütigkeit wieder und lachte dem Monstrum dreist ins Gesicht.
Damit rief er sein Ende selbst herbei.
Quasimodo entwurzelte ihn mit einem einzigen Griff seiner Riesenfaust, indem er im Niederbeugen ein Fußgelenk des Studenten erfaßte und ihn daran im Aufstehen senkrecht hochstemmte. Dann ließ er den kippenden Leib einige Male mit weitausholender Armbewegung um sein Haupt kreisen, um ihn mit der so erhaltenen Schleuderkraft in den freien Raum hinauszuwerfen. Schräg abkommend, flog jedoch Johannes nicht auf den Platz hinaus, sondern in einem Bogen gegen die Fassade des Domes zu, wo er etwa zwanzig Fuß über der Erde mit dem Krachen einer zerbrechenden Knochendose gegen die Mauer klatschte und zerschmettert an einem Vorsprunge hängenblieb. In Leibesmitte geknickt, mit zerbrochenen Gliedern und geborstener Hirnschale hing er da baumelnd herab.
Ein Schrei des Entsetzens scholl zum Himmel hinauf.
≫Rache!≪ überdröhnte Clopins Stimme den Lärm.
≫Sturm!≪ brüllte die Menge, ≫Sturm!≪
Scham und Zorn packte alle, weil sie sich von einem einzigen Buckligen in dieser Weise in Schach halten lassen mußten.
Von allen Seiten tauchten Leitern auf. Neue Fackeln verbreiteten fast Tageshelle, und Quasimodo sah mit Bestürzung, wie von allen Seiten Sturm auf die Kathedrale gelaufen wurde.
Wer keine Leiter hatte, bediente sich geknoteter Stricke, und wer keinen Strick hatte, turnte sich an den Vorsprüngen der Fassade in die Höhe.
Gegen diese von allen Seiten hochsteigende Flut von Angreifern gab es keinen Widerstand.
Da hätte er an zwei Dutzend Stellen gleichzeitig sein müssen.
Von überall sah er die schwitzenden, von Wut und Anstrengung getöreten Gesichter aufwärtsklimmen, Fratzen des Inferno gleich, die zum Angriffe auf die altehrwürdige Kathedrale aus dem tiefsten Höllenfeuer ausgespien schienen.
So zahlreich waren die Fackeln, wohl tausend an der Zahl, daß Quasimodo in all den wutverzerrten Mienen deutlich das Schicksal lesen konnte, welches seiner harrte. Außerdem hatte das Feuer des von ihm selbst errichteten Scheiterhaufens einen auf der oberen Galerie gestapelten Balkenstoß ergriffen und beleuchtete dadurch das Angriffsziel der Heraufkommenden mit seinem hochlodernden Flammenschein.
Diese nächtliche Riesenbeleuchtung warf ihren Widerschein auf den schwarzen Wolkenhimmel und begann bereits die Stadt zu alarmieren. Denn schon heulten Sturmglocken auf anderen Türmen nah und fern.
Quasimodo aber rannte wie ein gehetztes Wild auf der Galerie hin und her. Verzweiflungsvoll die Hände ringend, flehte er den Himmel um die Rettung Esmeraldas an.
Ludwig XI. von Frankreich
Ludwig XI., König von Frankreich, weilte seit zwei Tagen in Paris.
Es war aber nur einer der ganz kurzen und seltenen Besuche, die er seiner getreuen und guten Hauptstadt abzustatten pflegte.
Denn er liebte sie durchaus nicht, weil er hier nicht genug Fallgruben, Galgen und schottische Leibgarden in seiner Nähe wußte.
Auch hatte er nicht sein königliches Schloß, den Louvre, bezogen, sondern sein Quartier in der Bastille aufgeschlagen. Sie war ein festeres Schloß.
Zwar standen ihm hier keine gastlichen großen Räume zur Verfügung wie sie eines Königs würdig waren, sondern nur eine Kammer mit einem einfachen Bett. Aber dafür war sie von starken Wällen und Verteidigungswerken umgeben. Und das wog für den Herrscher jede Bequemlichkeit auf.
Im bürgerlichen Sinne war diese Kammer zudem ziemlich groß. Sie nahm den Oberstock eines kleinen Turmes ein, der auf einen der Haupttürme aufgebaut war. Infolgedessen hatte das Gemach eine runde Form. Es war überdies für die königlichen Besuche eingerichtet, hell getäfelt und mit weißen Bodenmatten belegt.
Das einzige Fenster war gut vergittert, und es war auch nur eine Türe vorhanden. Diese war mit einem schalldämpfenden Vorhange versehen, der keines der innen gesprochenen Worte zu den draußen wachenden Garden dringen ließ.
Das Meublement war augenscheinlich nur für eine Person berechnet, da sich außer einem mit Pergamenten und Schreibutensilien bedeckten Tische nur ein großer Lehnstuhl und das Bett im Raume befanden.
Eine Stunde nach dem Läuten der Abendglocke konnte man um den genannten Tisch beim Scheine einer einzigen flackernden Wachskerze fünf Personen versammelt sehen.
Am auffälligsten unter ihnen wirkte ein prächtig in silbergestreiften Scharlach gekleideter Herr, der auf der Brust ein prachtvolles Wappen mit einem springenden Damhirsch eingestickt trug. Von seinen Schultern wallte ein Mantel aus schwarz durchmustertem Goldstoff herab. Im Gürtel trug diese Persönlichkeit einen reich besetzten Dolch, dessen Knauf mit einer Krone geschmückt war. Es war ein Mann, dessen hocherhobenes Haupt im Vereine mit der stolzen Miene ein boshaftes Wesen verriet, gemischt aus anmaßendem Dünkel und tückischer Hinterlist.
Er stand, mit einem Aktenstücke in der Hand, unbedeckten Hauptes hinter dem Lehnstuhle, in welchem in zusammengesunkener Haltung eine schlechtgekleidete Person saß. Ebenso dürftig wie die Kleidung des Sitzenden war sein ganzer hagerer Körper. Auf dem Haupte trug er eine schmutzige Mütze, und da er diese in das gegen die Brust geneigte Gesicht gezogen hatte, war war von diesem nur eine ungewöhnlich lange Nase zu erblicken. Die runzeligen Hände und die dürren Schenkel ließen auf einen bejahrten Greis schließen. Diese schäbig gekleidete Person war Seine Majestät, König Ludwig XI. von Frankreich.
Die übrigen drei Personen bildeten eine entferntere; sich mit leiser Stimme unterhaltende Gruppe.
Zwei von ihnen waren auf flämische Art gekleidet: die uns wohlbekannten Herren Wilhelm Rym mit dem Fuchsgesicht, Stadtrat von Gent, und der volkstümliche Strumpfwirker Jakob Coppenole.
Wie erinnerlich, gehörten sie beide zu den Vertrauten der königlichen Politik.
Der dritte, Schweigsame, war ein kräftig gebauter Mann, dessen stämmiger Leib in einem Soldatenharnisch steckte, über dem ein wappengeschmückter Mantel hing. Er hatte ein vierkantiges, breites Gesicht mit einem ungeheuren Munde, was einen furchtbar brutalen Eindruck hervorrief.
Mit Ausnahme des Königs hatten alle das Haupt entblößt.
Der Herr hinter dem Lehnstuhle verlas aus seinem Pergament einen langen Rechnungsbericht, der den König sehr zu interessieren schien.
≫Kreuz Gottes≪, knurrte Coppenole. ≫Ich habe die Steherei satt. Nur ein Stuhl, das ist wenig! Da wachsen einem die Füße in den Bauch.≪
Das Fuchsgesicht lächelte dazu.
≫Zum Doppelkreuz≪, fuhr Coppenole fort, ≫lieber möchte ich in meiner Strumpfstrickerstube sitzen als hier!≪ Dabei war es ihm anzusehen, welche Mühe es ihm machte, sein lautes Organ etwas zu dämpfen.
≫Pst!≪ warnte ihn sein Landsmann.
≫Potztausend! Was gibt’s da zu psten? Muß man vor dem Mann immer stehen?≪
≫Oder knien≪, lächelte der andere.
Das Erheben der königlichen Stimme veranlaßte die beiden, zu schweigen.
≫Was?≪ raunzte der Herrscher. ≫Fünfzig Sons für die Kleider der Bedienten? Und zwölf Pfund für die Mäntel der Kanzlisten? Wollt Ihr mich zugrunde richten, Olivier? Ihr werft das Gold tonnenweise hinaus!≪
Dabei hob er sein grämliches, fleischloses Gesicht, so daß unterhalb desselben die glänzende Kette des heiligen Michaelsordens sichtbar wurde.
≫Wozu diese Verschwendung?≪ jammerte er weiter. ≫Zu was einen so großen Hofstaat? Zwei Kapläne und ein Kapellendienerl Ein Kammerdiener, vier Küchenmeister, ein Bratenwender, ein Suppenkoch, ein Soßenbereiter, ein Oberkoch, ein Waffenmeister, zwei Schaffner und zwei Küchenjungen. Ein Stallmeister mit zwei Gehilfen, ein Ausläufer, zwei Bäcker, zwei Fuhrleute, ein Hufschmied, der Aufseher der Schatzkammer und sein Kontrolleur. Das ist doch Raserei! Dieser Dienertroß ruiniert mit seinen Bezügen das Land!≪
≫Meister Olivier≪, fuhr er nach einer Pause fort, ≫laß dir sagen, daß mir dies höchst mißfällt. Sechsundsechzigtausend Pfund im Jahr für den Haushalt! Das ist zuviel! Dabei ist der Betrag seit meinem Regierungsantritte auf das Doppelte des damaligen gewachsen. Das ist einfach ungeheuerlich!≪
Atemlos hielt er inne, um dann zornig weiterzusprechen. ≫Rings um mich sehe ich nur Leute, die sich auf meine Kosten mästen und die mir die Taler aus allen Poren saugen.≪
Alle schwiegen.
Sie wußten aus Erfahrung, daß man die Zornesausbrüche des Königs am besten auslaufen ließ.
≫Dazu kommen mir noch die Barone mit ihrer albernen Bittschrift, in der sie von mir verlangen, daß ich die alten Hofschranzenwürden wiederherstellen soll. Wahrscheinlich glauben sie, daß man ohne einen solchen Hofstaat kein König sein kann! Aber, beim alleinigen Gott! Wir wollen ihnen zeigen, ob wir nicht auch ohnedem ein König sind!≪
Hierzu lächelte der König im Gefühle seiner Macht, was ersichtlich seine Laune verbesserte.
≫Haha!≪ meinte er dann. ≫Einen Oberbrotmeister, einen Oberkellermeister, einen Oberkämmerer und einen Oberseneschall! Mit solchen Oberwürden soll ich meinen Hof umgeben. Ich sage euch, liebe Gevattern Rym und Coppenole, jeder Lakai tut zehnmal besser solche Dienstleistungen. Dabei ist er wesentlich billiger. Solche Oberwürdenträger kommen mir vor wie die vier Evangelisten auf einer Uhr. Zweckloses Zeug, weiter nichts! Die Uhr geht ohne sie geradeso gut!≪
Belustigt schüttelte Ludwig XI. sein Haupt.
≫Hoho!≪ fuhr er dann fort. ≫Bei Unserer Lieben Frau! Davon mag ich nichts wissen! Setz deinen Bericht fort, Olivier!≪
Olivier le Daim las weitere Posten aus dem Rechnungsberichte vor. Aufmerksam hörte ihm der König zu.
Von Zeit zu Zeit hüstelte er und machte dann einen Zug aus einem vor ihm stehenden Arzneibecher, wobei er das Gesicht verzog.
Als aber der Vorleser zu einem Posten kam, welcher sechs Pfund für die halbjährige Verpflegung eines eingesperrten Landstreichers ausmachte, fuhr der König auf:
≫Was heißt das? Einen Landstreicher verpflegen?! Aufhängen, beim allmächtigen Gott! Sofort! Nicht einen Sou will ich mehr für solche Ausgaben sehen!≪
Olivier machte bei diesem Posten ein Kreuzzeichen und setzte dann seinen Bericht fort.
Als er die Ausgabe für ein schartig gewordenes Richtschwert nannte, nickte der König beifällig mit dem Kopf.
≫Gut so! Solche Ausgaben bewillige ich gern. Die braucht man nie zu bereuen. Weiter!≪
≫Für Herstellung eines neuen Eisenkäfigs…≪
≫Halt!≪ unterbrach ihn der König. ≫Den Käfig will ich selbst sehen! Meine Herren Flamländer, kommt mit! Den müßt Ihr in Augenschein nehmen!≪
Ludwig XI. erhob Sich, auf den Arm Oliviers gestützt, und gab dann dem schweigsamen Kriegsmanne ein Zeichen, voranzugehen. Hierauf schritt er, gefolgt von den beiden Flamen, bei der Türe hinaus.
Vor der Türe schlossen sich bewaffnete Garden und fackeltragende Pagen dem Zuge an. Die Führung übernahm der Kommandant der Bastille selbst, der auf dem Wege über die Treppen und Korridore zahllose Türen aufsthließen ließ, durch die der hüstelnde König mit seiner gebückten Haltung ohne weiteres durchgehen konnte, während ihre Niedrigkeit alle anderen Männer zu fortwährenden Kopfbeugungen zwang.
Endlich gelangte man an die letzte Türe, die den mißtrauischen König gegen die übrigen Bewohner der Bastille abschloß. Diese war so mit Schlössern und Riegeln versichert, daß man eine Viertelstunde brauchte, bis man sie aufbekam.
Von hier gelangte man in einen weiten und hochgewölbten gotischen Saal, in dessen Mitte ein großer, hohler Würfel aus Mauerwerk und Eisen stand. Es war dies einer der berüchtigten Käfige für Staatsgefangene, die der Despot witzelnd ≫die Töchter des Königs≪ nannte. Dieser Würfel hatte einige dicht vergitterte Luftlöcher und als Türe eine Steinplatte, wie eine Gruft. Diese Käfige waren ja auch nichts anderes als Begräbnisstätten, nur daß der darin beigesetzte Tote noch lebendig war.
Der König schritt nun langsam um dieses Bauwerk herum, wobei er alle Einzelheiten genauestens untersuchte.
≫Gute Arbeit!≪ sagte der König, gegen das Bauwerk klopfend.
≫Dreihundertsiebzehn Pfund Herstellungskosten≪, las Olivier aus seinem Berichte hervor.
≫Beim Allmächtigen!≪ rief da der König mit verdrießlichem Gesicht.
Bei diesem Lieblingsausrufe des Königs schien jemand im Inneren des Käfigs zu erwachen. Man hörte das Gerassel schwerer Ketten, und eine wie aus dem Grabe kommende Stimme begann kläglich zu jammern:
≫Gnade, Majestät, Gnade!≪
≫Dreihundersiebzehn Pfund≪, wiederholte der König stirnrunzelnd.
Selbst Olivier war von der unheimlichen Stimme anscheinend gerührt, bloß der König dachte an den Kostenpreis für den Sarg des lebend Begrabenen.
≫Gnade!≪ ächzte es noch einmal, ≫Gnade!≪
≫Unverschämte Preistreiberei≪, knurrte der König.
≫Erhört mich doch, Majestät! Nicht ich habe das Pamphlet geschrieben, sondern der Kardinal Balue!≪
≫Das sind teure Arbeiten, Olivier≪, tadelte der König.
≫Habt Erbarmen! Ist es nicht genug, daß all mein Hab und Gut konfisziert worden ist?! Ich bin unschuldig! Seit vierzehn Jahren habe ich in dem anderen Käfig gesessen! Erbarmen, Sire! Der Himmel wird es Euch lohnen!≪
≫Ein schändlicher Käfig! Dreihundertsiebzehn Pariser Pfund! Bei Unserer Lieben Frau! Das ist zuviel!≪
Und der König nahm das Pergament aus Oliviers Hand, um die einzelnen Posten zu überprüfen.
Währenddessen hörte man den Gefangenen ununterbrochen schluchzen und flehen.
Erblaßt sahen sich alle Anwesenden an.
≫Vierzehn Jahre, Majestät! Im Namen der Gottesmutter, hört mich an! Die ganze lange Zeit hindurch habt Ihr Euch der lieben Sonne erfreut! Soll ich Elender nie wieder das Tageslicht erblicken?! Gnade! Seid barmherzig! Die Milde ist die schönste Tugend der Könige! Ich bin unschuldig! Erbarmen, Sire, Erbarmen! Wenn nur die große Kugel an den Fußketten nicht wäre!≪
≫Olivier≪, tadelte der König, ≫hier bemerke ich das Faß Gips mit zwanzig Sous verrechnet! Das kostet über all nur zwölf! Du wirst dies richtigstellen!≪
Damit kehrte er dem Käfige den Rücken, um das Gemach zu verlassen.
Als der unglückliche Gefangene das Geräusch der Abgehenden hörte, machte er eine letzte verzweifelte Anstrengung.
≫Gnade!≪ schrie er, ≫Gnade!≪
Aber die Türe schloß sich hinter dem letzten Manne des königlichen Gefolges, und der Elende hörte nur noch die rauhe Stimme des Schließers, der ihn zur Ruhe ermahnte.
Entsetzt, das Jammern des Unglücklichen noch in den Ohren, folgte die Begleitung dem Könige nach seinem Turmzimmer zurück.
Auf dem Wege blieb Ludwig plötzlich stehen.
≫Wie war das?≪ fragte er den Kommandanten der Bastille. ≫War nicht aus dem Käfige eine Stimme zu hören?≪
≫Bei Gott, ja!≪ entgegnete der wackere Hauptmann erstaunt.
≫Wer war es?≪
≫Der Herr Bischof von Verdun.≪
Der König wußte dies natürlich recht gut. Aber derlei hielt er für Humor.
≫Ah!≪ sagte er. ≫Der Freund des Kardinals Balue. Ein spaßhafter Bursche, dieser Bischof.≪
Dann trat er in sein Zimmer ein, wohin ihm die bereits genannten vier Personen wieder nachfolgten.
Während der Abwesenheit des Königs waren einige Depeschen eingetroffen und auf seinen Tisch gelegt worden.
Ludwig durchlief sie rasch und übergab sie dann dem ≫Meister≪ Olivier.
Dann diktierte der König die Antworten, die Olivier vor dem Tische kniend niederschreiben mußte, weil kein Stuhl vorhanden war.
In dieser Beschäftigung wurde er durch das plötzliche Aufreißen der Türe unterbrochen.
Der Ankömmling stürzte ohne weiteres atemlos herein, um mit versagender Stimme herauszukeuchen:
≫Sire! Ein Volksaufstand in Paris!≪
Der König verzog nervös das Gesicht, beherrschte sich aber sogleich wieder, um kalt zu antworten:
≫Gevatter Jakob! Ihr kommt sehr ungestüm herein!≪
≫Sire! Ein Aufruhr!≪ rief der andere außer sich.
Da trat der König ganz nahe an ihn heran, packte ihn am Arme und zischte ihm mit einem Seitenblicke auf die Flamen zu:
≫Sprecht leise, beim Allmächtigen!≪
Der Ankömmling sah erst jetzt die Fremden und flüsterte dem Könige seinen Bericht ins Ohr.
Plötzlich aber fing Ludwig zu lachen an.
≫Sprecht nur laut, Meister Coictier≪, kicherte er. ≫Was braucht Ihr so leise zu reden? Der Himmel weiß, daß wir keine Geheimnisse vor unseren lieben flämischen Freunden haben.≪
Verdutzt schaute ihn Meister Jakob mit offenem Mund an. ≫Aber, Sire…≪
≫Sprecht laut, sage ich! Also, was gibt es? In unserer guten Stadt findet eine Bürgerbewegung statt?≪
≫Jawohl.≪
≫Die gegen den Herrn Vogt des Justizpalastes gerichtet ist?≪
≫So hat es den Anschein.≪
Meister Jakob stotterte bei seinen Antworten, da er immer noch über den Widerspruch in den königlichen Befehlen staunte. Er begriff den Gedankengang seines Herrn nicht.
Ludwig XI. aber setzte schmunzelnd das Fragespiel fort:
≫Wo ist die Nachtrunde dem Haufen begegnet?≪
≫In der Nähe der Wechslerbrücke, Sire. Ich habe auf meinem Wege hierher den Aufmarsch auch in derselben Gegend gesehen und selbst gehört, wie man der Nachtrunde nachrief : ‘Nieder mit dem Vogt des Justizpalasts!’≪
≫Was sind die Beschwerden gegen den Herrn Vogt?≪
≫Oh, er ist der Lehensherr der Landstreicher.≪
≫Wahrhaftig?≪
≫Gewiß, Site. Es sind die Bewohner des Wunderhofs. Sie sind schon lange mit ihrem Lehensherrn unzufrieden.≪
≫Ist das so?≪ Der König hatte offenkundig Mühe, seine Befriedigung über die Unbeliebtheit eines Notabeln zu unterdrücken, der ein Vertreter der ihm verhaßten feudalen Lehenswirtschaft war.
≫Jawohl. Die Landstreicher wollen nur zwei Herren anerkennen: Gott und Eure Majestät.≪
≫Ei, ei! Was hört man da?≪
Ludwig XI. rieb sich die Hände, wobei er mit strahlendem Gesichte in sich hineinkicherte. Dann aber nahm er wieder eine ernste, würdevolle Miene an.
Keiner der Anwesenden, nicht einmal sein Vertrauter, Olivier, konnte aus dem Benehmen des Königs klug werden.
Nachdem dieser einige Minuten in nachdenklichem Schweigen verharrt hatte, fragte er:
≫Wieviel Landstreicher sind ausgerückt?≪
≫Eine sehr große Zahl.≪
≫Wie groß beiläufig?≪
≫Es müssen an die sechstausend Menschen sein.≪
≫Schön. Sind alle bewaffnet?≪
≫Durch die Bank.≪
≫Hm.≪
≫Wenn Eure Majestät keine Hilfe senden, ist der Vogt verloren.≪
≫Gewiß werden wir dem Herrn Vogt helfen, gewiß. Er ist unser guter Freund. Sechstausend verwegene Schelme! Ha! Verwunderliche Frechheit, das! Gleich morgen früh müssen wir dem Vogt Hilfe senden.≪
Meister Jakob starrte ihn entgeistert an.
≫Morgen früh, Sire? Bis dahin steht auf dem Amtshause kein Stein mehr auf dem anderen! Sofort ist Hilfe nötig, Sire, sofort!≪
Der König machte eine hochmütige Miene.
≫Ich habe gesagt, morgen früh!≪
Wenn Ludwig XI. derart blickte, hütete sich jedermann, ihm zu widersprechen.
≫Der Herr Vogt hat einen zu großen Rayon≪, meinte der König nach einer Weile. ≫Der Herr Vogt hat einen guten Teil meiner Stadt Paris unter sich! Oh! Der Herr Vogt ist König über viel!≪
Und nach einer Pause:
≫Herr Vogt, Ihr habt ein artiges Stück von Paris zwischen Euren Zähnen!≪
Und plötzlich brach er los:
≫Beim Allmächtigen! Was sich diese Leute alles anmaßen, die sich Lehensherren in unserem Reiche nennen! An jeder Feldecke sitzen sie mit ihren Zollschranken, an jeder Straßenecke haben sie ihr Gericht! Bei Gott! Es gibt zu viele Könige in Frankreich! Als ob ein König und ein Parlamentsgericht nicht ausreichend wären! Bei meiner Seele! Es muß ein Tag kommen, an dem in Frankreich ein König, ein Richter und ein Henker existieren werden! Geradeso, wie es im Paradiese nur einen Gott gibt!≪
In seiner gebeugten Haltung ging er erregt in der Kammer auf und ab.
≫Brav, mein Volk, brav!≪ murmelte er. ≫Darauf! Zerfetzt diese großen Herren! Hängt sie! Plündert sie! Jagt sie zum Teufel! Drauf und dran!≪
Plötzlich aber seinen er sich zu erinnern, daß er nicht allein war. Er biß sich auf die Lippen und blickte die flämischen Herren forschend an. Hatte er so laut gesprochen, daß sie ihn verstanden hatten?
In dieser Haltung glich Ludw1g XI. einem Fuchse, der sich in seinem Bau erwischt sieht.
≫Ja, ja≪, sagte er. ≫Wir wollen dem Herrn Vogt Hilfe senden! Zum Unglück haben wir nur wenig Truppen da. Der Landstreicher sind viele. Man muß bis morgen warten. Natürlich! Die Ordnung in der Stadt muß morgen wiederhergestellt werden. Man wird einige von den Vagabunden hängen müssen!≪
≫Noch etwas, Majestät≪, sagte da Meiser Coictier. ≫Die Nachtrunde hat zwei Nachzügler der Bande aufgegriffen. Ich habe sie hierherschaffen lassen.≪
≫Warum sagt Ihr das erst jetzt?! Olivier, rasch, hole die zwei herein!≪
Meister Olivier kam rasch wieder mit einem Trupp königlicher Bogenschützen zurück, die zwei Gefangene in ihrer Mitte führten. Der eine von den beiden war ein in Lampen gehülltes, krummbeiniges Individuum mit einer gedunsenen Fresse, auf der sich Trunkenheit und Verwunderung mengten. Der andere war eine hagere, lange Gestalt mit einem philosophischen Lächeln im bleichen Gesicht.
Der König betrachtete sich zunächst wortlos die beiden Landstreicher. Dann fragte er den ersten:
≫Wie heißt du?≪
≫Pincebourde≪ (Flausenmacher).
≫Gewerbe?≪
≫Bettler.≪
≫Was suchtest du bei dem verdammten Aufstande?≪
Der Vagabund stierte den König stumpfsinnig an und schlenkerte mit den Armen dazu.
≫Ich weiß es nicht≪, sagte er endlich. ≫Ich ging mit den anderen mit.≪
≫Wolltet ihr den Palast des Herrn Vogtes plündern?≪
≫Irgendwo sollte geplündert werden. Wo, das war mir schnuppe.≪
Einer der Bogenschützen wies eine Hippe vor, die man dem Bettler abgenommen hatte.
≫Kennst du diese Waffe?≪ fragte Ludwig XI.
≫Es ist meine Hippe. Ich arbeite gelegentlich als Winzer!≪
≫Kennst du den anderen Menschen da?≪
≫Nein. Den habe ich nie gesehen.≪
≫Genug! Meister Tristan!≪
Auf diesen Ruf kann der Schweigsame in der Kriegerrüstung herbei.
≫Das ist ein Mann für Euch≪, sagte der König.
Tristan l’Hermite verneigte sich. Dann gab er zwei Bogenschützen einen leisen Befehl, worauf diese den armen Teufel hinausführten.
Der zweite Gefangene begann bei diesem summarischen Verfahren bereits dicke, kalte Tropfen zu schwitzen.
Da wandte sich der König an ihn.
≫Dein Name?≪
≫Peter Gringoire, Sire.≪
≫Gewerbe?≪
≫Philosoph, Majestät.≪
≫Und du unterstehst dich, den Herrn Vogt anzugreifen, Schurke?≪
≫Ich wollte niemand angreifen.≪
≫Was ist’s dann mit dem Volksaufstand?≪
≫Ich bin nicht daran beteiligt.≪
≫Lügner! Schuft! Die Wache hat dich doch auf frischer Tat ertappt!≪
≫Ein Mißverständnis, Majestät! Ein unglücklicher Zufall. Ich bin der Verfasser von Trauerspielen und ein Dichter. Ich habe als solcher die Gewohnheit, nachts durch die Straßen zu streifen. Es ist die schwermütige Art der Leute meines Berufs. So kam ich auch heute gerade zufällig an dem Aufmarsche der Landstreicher vorüber. Eure Majestät hat ja selbst gehört, daß mich der mitgefangene Gauner gar nicht kennt. Ich schwöre, daß ich unschuldig bin!≪
≫Ruhe!≪ schrie der König und stärkte sich aus dem Arzneibecher. ≫Ruhe! Dein Geschwätz zersprengt mir den Kopf!≪
Da trat Tristan l’Hermite vor.
≫Sire, soll der Mann da auch gehenkt werden? Es geht gleich in einem mit.≪
Es war der erste Satz, den der Profos des Königs an diesem Abende verbrachte.
≫Hm≪, sagte der König. ≫Es wäre nichts dagegen einzuwenden.≪
Die Todesangst gab dem Dichter Mut.
≫Sire≪, bemerkte er dreist. ≫Es gibt Einwände genug!≪
Als er aber in der Miene des Königs nur kalte Gleichgültigkeit sah, begann seine Gesichtsfarbe ins Grünliche hinüberzuspielen.
Er begriff, daß ihn nur eine dramatische Szene retten konnte.
Dem Könige zu Füßen stürzend, rief er daher aus:
≫Majestät, hört mich an! Verschwendet nicht Euren Donnerstrahl an meine Winzigkeit! Der Blitz Gottes zerschmettert auch keine Salatstaude statt eines hohen Baumes Sire, Ihr seid ein erhabener und mächtiger Herrscher, ich aber bin nur ein armer, ehrlicher Mann! Ich bin ebenso unfähig zu einem Aufruhr wie ein Eiszapfen zum Funkensprühen. Ich bin kein Vagabund und Räuber! Dies gehört nicht zum Zubehör der Dichterkunst. Ich bin ein treuer Diener Eurer Majestät! Bei Tag und Nacht will ich meine Knie im Gebet für Euch abnutzen! Ich bin arm, aber kein Schuft! Urteilt nicht nach meinem dürftigen Rock! Jedermann weiß, daß mit der Wissenschaft keine Reichtümer zu erwerben sind. Da schlucken die Advokaten das ganze Korn und lassen den Philosophen nur die Spreu zurück. Der durchlöcherte Mantel des alten Weisen ist bekannt. Sire! Die Milde trägt allen anderen Tugenden die Fackel voran. Sie ist das Licht, welches große Seelen erleuchtet. Was kümmert Eure erhabene Majestät ein Erdenwurm wie ich? Zudem ist jeder große König auch ein Beschützer der Wissenschaft! Nie hätte Alexander den Aristoteles hängen lassen! Es wäre eine schöne Schande für ihn gewesen! Sire, ich habe ein Mysterienspiel auf die durchlauchtigste Prinzessin von Flandern und auf den erhabenen Dauphin von Frankreich verfaßt. Das zeigt, wie wenig ich mit Aufruhr zu tun habe!≪
Während dieser Suada küßte der Dichter wiederholt die Pantoffeln des Königs, was den Stadtrat Rym veranlaßte, dem Master Coppenole ins Ohr zu flüstern:
≫Das macht er gut! Denn die Könige haben nur an den Füßen Ohren.≪
Der biedere Strumpfwirker aber lachte derb dazu:
≫Haha! Ich glaube den Kanzler von Burgund zu hören, der mich vor dem Schafott um Gnade anflehte!≪
Der König schabte währenddessen mit den Nägeln einen Schmutzfleck von seinen alten Hosen. Dann nahm er einen Schluck Arznei.
≫So ein Schreihals!≪ meinte er kopfschüttelnd. ≫Laß ihn laufen, Tristan!≪
Gringoire fiel vor freudigem Schreck auf sein Hinterteil.
≫Laufenlassen?≪ knurrte der Profos. ≫Soll man den Kerl nicht lieber in einen hübschen Käfig stecken?≪
≫Natürlich! Damit mir wieder dreihundertsiebzehn Pfund aufgerechnet werden. Nichts da, mein Lieber! Wirf mir nur schön den Schurken mit ein paar Rippenstößen hinaus!≪
≫Ach!≪ rief Gringoire begeistert. ≫So spricht ein wahrhaft großer König!≪
Aber, aus Angst vor einem Gegenbefehle, beeilte er sich, die Türe zu gewinnen. Die Bogenschützen folgten ihm mit kräftigen Fausthieben auf den Fersen nach. Gringoire ertrug diese Unbill jedoch als wahrer Philosoph. Die gegen ihn bewiesene ungewöhnliche Milde des Königs zeigte, wie guter Laune dieser wegen des Angriffes auf den Vogt war.
Tristan l’Hermite dagegen machte ein verdrossenes Gesicht, wie ein Bullenbeißer, der etwas gesehen hat, das er nicht erschnappen konnte.
Der König trommelte auf der Lehne seines Armstuhles einen lustigen Marsch. Er war zwar ein versteckter Charakter, verstand es aber besser, seine Sorgen als seine Freuden zu verbergen. So war er bei seiner Thronbesteigung derart frohgestimmt gewesen, daß er es vergaß, für das Leichenbegängnis seines Vaters Anordnungen zu treffen. Und als er die Nachricht erhielt, daß Karl der Kühne von Burgund gefallen war, stiftete er der Martinskirche zu Tours ein silbernes Geländer.
≫Was ist aus dem heftigen Krankheitsfalle geworden, Sire?≪ fragte da auf einmal Coicitier.
≫Ganz richtig, Meister. Ich habe schreckliches Ohrensausen und glühende Schmerzen in der Brust.≪
Der Doktor untersuchte darauf des Königs Puls.
≫Seht mal an, Coppenole≪, flüsterte Meister Rym. ≫Da sitzt er zwischen Tristan und Coictier! Der Henker und der Sterndeuter. Das ist sein ganzer Hofstaat.≪
Bei der Befühlung des königlichen Pulses nahm Meister Jakob eine immer unruhigere Miene an. Und das Gesicht des ihn ängstlich beobachtenden Königs wurde in gleicher Weise immer düsterer.
Die Gesundheit des Königs war des Astrologen Kuh. Er molk sie nach Leibeskraft.
≫Sehr bedenklich≪, murmelte er.
≫Nicht wahr?≪
Der König rückte rastlos hin und her.
≫Stark springender, unregelmäßiger Puls≪, fuhr der Leibarzt fort.
≫Beim allmächtigen Gott!≪
≫Ein solcher Zustand kann einen Kranken in drei Tagen dahinraffen.≪
≫Bei Unserer Lieben Frau! Wißt Ihr kein Heilmittel, Gevatter?≪
≫Ich denke gerade nach, Sire.≪
Der Doktor ließ sich die Zunge zeigen und schüttelte dann mit einer bedenklichen Grimasse den Kopf.
≫Sire, was ich sagen wollte. Ich habe einen Neffen, und bei der Steuerkasse ist ein Einnehmerposten frei.≪
≫Dein Neffe soll den Posten haben, guter Coictier. Aber zieh mir das Feuer aus der Brust!≪
≫Mein Hausbau stockt.≪
≫So, so?≪
≫Meine Kasse ist leer, Sire! Es wäre schade, wenn ich mit dem halbfertigen Bau steckenbleiben müßte!≪
≫Wo fehlt es da, du Quälgeist?≪
≫Am Dach, Sire.≪
≫Das kann doch nicht so viel kosten!≪
≫Aus vergoldetem Kupfer zweitausend Pfund.≪
≫Du bist ein Bandit!≪
≫Bekomme ich das Dach?≪
≫Hol’ dich der Teufel! Ja. Aber schau, daß du mich gesund machst!≪
Jakob Coictier dankte mit einer tiefen Verbeugung. ≫Sire, mein zurücktreibendes Mittel wird Euch retten. Ich werde den großen Nierenverband auflegen, und wenn Ihr dann noch mit dem bereits verschriebenen Arzneitranke fortfahrt, bürge ich für die Gesundheit Eurer Majestät.≪
Als Meister Olivier den König so freigebig sah, wurde er angezogen wie die Motte vom Lampenlicht.
≫Sire…≪
≫Was soll’s?≪
≫Eure Majestät weiß, daß Meister Radin gestorben ist.≪
≫Was weiter?≪
≫Er war königlicher Rat des Schatzamtes.≪
≫Nun?≪
≫Seine Stelle ist noch unbesetzt, Sire.≪
≫Ich verstehe.≪
König blickte grämlich in das Gesicht Meister Oliviers, das seinen dünkelhaften Ausdruck in den demütigen verwandelt hatte, mit welchem die Hofschranzen ihrem Herrn zu nahen pflegen.
Dann sagte der König fest:
≫Laß dir etwas sagen, Olivier: Schenken kann nur der König, und fischen kann man nur im Meer. Im Jahre 68 habe ich dich Zu meinem Kammerdiener gemacht. Seither bist du außerdem allerhand geworden: Brückenkastellan, Vogt des Waldes von Vincennes, Forstmeister von Saint-Cloud, Stallmeister, Rentner des Standplatzes der Pariser Kaufmannschaft, Forstverwalter von Senart, Schloßhauptmann von Loches, Stadtkommandant von Saint-Quentin, Brückenhauptmann von Manlan mit dem Titel Graf. Von dem Einkommen aller Barbiere hast du außer den genannten Einkünften auch noch deinen Zehnt. Beim Allmächtigen! Bist du noch nicht satt?≪
Bei diesen strengen Königsworten wandelte sich auf Oliviers Gesicht die Unterwürfigkeit in Frechheit.
≫Gut≪, murrte er, ≫gut! Heute hat der Arzt seinen Tag!≪
Der König regte sich jedoch über diese Unverschämtheit merkwürdigerweise nicht im geringsten auf.
≫Dabei habe ich gar nicht erwähnt, daß ich dich zum Gesandten in Gent ernannt habe. Ja, meine Herren≪, sagte der König zu den Flamen, ≫den Mann habe ich zum Gesandten bei Eurer Prinzessin gemacht. Aber darum wollen wir uns nicht streiten, Gevatter Olivier. Es ist schon spät! Hol dein Zeug und barbier mich!≪
Man wird schon längst erraten haben, daß Meister Olivier jener Figaro war, den die Vorsehung mit einem ihrer Treppenwitze in die ebenso lange wie blutige Regierungszeit Ludwigs XI. verflochten hat. Dieser so hochgekommene Barbier hatte drei Namen. Bei Hof hieß er Olivier Le Daim (der Damhirsch), im Volke Olivier der Teufel und mit seinem wirklichen Namen nicht minder bezeichnend Olivier Le Mauvais (der Schlechte).
Statt jetzt auf des Königs Befehl sein Barbierzeug zu holen, blieb er bockig stehen.
≫Ja, ja, der Arzt!≪ knurrte er.
≫Gewiß, der Arzt≪, lächelte der Monarch. ≫Der hat mehr Einfluß als du; denn er hält unseren ganzen Körper, du aber nur unser Kinn. Was würdest du anstellen, wenn ich einen Vollbart wie König Chilperich tragen würde, he? Jetzt mach keine Faxen mehr und hol dein Zeug!≪
Als Olivier sah, daß der König unnachgiebig war, ging er hinaus, um die Rasiersachen zu holen.
Währenddessen trat der König an das Fenster und blickte, an dasselbe trommelnd, hinaus.
≫Holla!≪ rief er plötzlich aus. ≫Was ist das für eine Glut am Himmel? Brennt’s schon beim Vogt? Es kann nichts anderes sein. Brav, mein Volk! Steck nur die ganze Lehensherrlichkeit in Brand!≪
Dann winkte er die Flamländer heran.
≫Kommt, ihr Herren, kommt! Ist das nicht ein großer Brand?≪
Die beiden Genter stellten sich am Fenster auf.
≫Das muß ein gewaltiges Feuer sein≪, meinte Wilhelm Rym.
≫Hoho!≪ rief Coppenole. ≫Das ist kein gewöhnlicher Brand. Da ist eine Rebellion sicher dabei!≪
≫Glaubt Ihr, Meister Coppenole?≪
Der König fragte es im fröhlichsten Ton.
≫Da wird es schwer sein, zu widerstehen. Meint Ihr nicht?≪ setzte er sodann hinzu.
≫Kreuz Gottes! Sire, da werdet Ihr einige Kompanien einsetzen müssen!≪
≫Ich? Wenn ich wollte…≪
≫Wenn Eure Majestät wollte, würde sie bei einem solchen Aufruhre wahrscheinlich vergeblich wollen≪, entgegnete der Strumpfwirker dreist.
≫Gevatter, Ihr wißt nicht, was Ihr sagt! Mit zwei Kompanien meiner Garde jage ich Euch ganz Paris auseinander. Laßt da nur erst die Feldschlangen krachen! Pöbel und Bauernpack, weiter nichts!≪
Vergebens machte Meister Rym dern Landsmanne Zeichen.
Der Strumpfwirker fuhr unbeirrt fort:
≫Sire, die Schweizer waren auch nur Bauern. Aber bei Granson haben sie trotzdem das Ritterheer des Burgunders zu Paaren getrieben.≪
≫Freund, das war eine Schlacht. Hier aber handelt es sich um einen Aufruhr. Mit dem werde ich jederzeit fertig, bevor ich noch meine Brauen runzele.≪
≫Möglich. Dann hat eben die Stunde des Volkes noch nicht geschlagen≪, erwiderte Coppenole kalt.
Wilhelm Rym versuchte sich da ins Mittel zu legen.
≫Meister Coppenole, Ihr sprecht mit einem großen König!≪
≫Ich weiß es.≪
≫Laßt ihn reden, Freund Rym≪, fiel der König ein. ≫Ich habe gegen diesen Freimut nichts einzuwenden.≪ Damit klopfte er dem Strumpfwirker vertraulich auf die Schulter.
≫Ihr sagtet also?≪
≫Ich sagte, Sire, daß in Eurem Reiche die Stunde des Volkes noch nicht gekommen ist, wenn es sich so leicht auseinanderjagen läßt.≪
Ludwig XI. erwiderte mit einem durchdringenden Blick:
≫Und wann wird diese Stunde kommen?≪
≫Bis sie geschlagen wird.≪
≫Auf welcher Uhr?≪
≫Hört mich an, Majestät. Ihr steht hier in einer festen Zwingburg. Aber wenn diese einst unter Sturmgeheul und Kanonendonner zusammenstürzen wird, dann wird die Stunde des Volkes schlagen.≪
Der König machte ein düster-nachdenkliches Gesicht.
Dann klopfte er auf die Zimmermauer.
≫Meine gute Bastille≪, sagte er dazu. ≫Du wirst standhalten, nicht?≪
Und dann kehrte er sich jäh dem Flamen zu:
≫Habt Ihr je einen Aufruhr erlebt, Meister Coppenole?≪
≫Sogar selbst angestiftet, Sire.≪
≫Wie machtet Ihr das?≪
≫Sire, das war nicht schwer. Voraussetzung bei solchen Sachen ist natürlich immer eine gewisse Unzufriedenheit der Bürgerschaft. Dann bedarf es nur einiger geschickter, energischer Worte, um die Leute zum Losschlagen zu bringen.≪
≫Gegen wen? Gegen die Vögte und Lehensherren?≪
≫Das hängt davon ab. Ich ging gegen den Herzog selbst!≪
≫Seht Ihr, das ist der Unterschied≪, lächelte der König. ≫Bei uns geht es nur gegen die Vögte und Lehensherren.≪ In diesem Augenblicke trat der gegrafte Barbier wieder ein. Zwei Pagen folgten ihm mit dem Rasierzeug und mit des Königs Nachtgewand.
Dieser Aufzug war dem Monarchen nichts Neues. Was ihn überraschte, war, daß der Barbier vom Kommandanten der Pariser Nachtwache, Herrn d’Estouteville, begleitet war.
Der rachsüchtige Figaro lächelte. Dann nahm er als erster das Wort.
≫Sire, verzeiht, wenn ich eine Unglücksbotschaft bringe.≪
≫Was gibt’s?≪ fuhr ihn der König an.
≫Sire≪, entgegnete Olivier, vor Bosheit strahlend. ≫Der Volksaufruhr geht nicht gegen den Vogt.≪
≫Sondern?≪
≫Gegen Eure Majestät!≪
Da streckte sich der greisenhafte König wie ein junger Mann.
≫Erkläre dich, Olivier!≪
≫Sire…≪
≫Auf die Knie, Schuft, wenn du etwas zu melden hast!≪ donnerte der Monarch. ≫Tristan! Hab auf diesen Burschen acht!≪
Da fiel Olivier in die Knie.
≫Sire≪, sagte er kalt, ≫eine Hexe ist von Eurem Parlamentsgerichte zum Tode verurteilt worden und in die Notre-Dame-Kirche geflüchtet. Von dort will sie das Volk mit Gewalt holen. Dort ist es, wo der Aufruhr tobt.≪
≫Wie?≪ sagte der König zornesblaß. ≫Notre-Dame! Unsere Liebe Frau! Sie belagern die Kathedrale meiner gnädigen Gebieterin?! Steh auf! Du hast recht, Olivier. Es geht gegen mich. Die verlangte Stelle sollst du haben. Ich bin es, den man angreift. Die Hexe steht unter dem Schutze der Kirche. Und die Kirche steht unter meinem Schutz.≪
Vor Wut begann er mit großen Schritten im Gemache auf und ab zu gehen. Er lachte nicht mehr. Der Fuchs hatte sich in eine Hyäne verwandelt.
Plötzlich rief er mit schmetternder Stimme, die wie der Alarmruf einer Sturmtrompete klang:
≫Tristan! Drauf los! Hand an die Schurken! Alles krumm und klein! Schlag die Canaillen tot!≪
Aber sofort hatte er sich wieder in der Gewalt. Er nahm Platz und sagte kalt:
≫Halt, Tristan! Nimm die fünfzig Lanzen der Bastille, unsere Leibgarde, die Bogenschützenkompanie des Herrn von Châteaupers, die Reiter deines Profosenkorps, die vierzig Bogenschützen von der Wache des Dauphins! Pack alle diese Mannschaften zusammen und reite nach der Notre-Dame. Schlag alles in den Grund. Keiner darf entkommen, außer für den Galgen von Montfaucon!≪
Tristan verneigte sich: ≫Zu Befehl, Majestät!≪
Aber er ging noch nicht.
≫Und die Hexe, Sire?≪
Da wurde der König nachdenklich.
≫Richtig, die Hexe! Herr d’Estouteville, was ist eigentlich mit der Hexe los? Warum reißt sich das Volk um sie?≪
Der Oberrichter und Stadtkommandant von Paris wußte es nicht. Aber auf alle Fälle meldete er:
≫Ich glaube, daß der Pöbel sich über das Asylrecht der Kirche ärgert und die Hexe haben will, um sie hängen zu können.≪
≫So?≪
Der König dachte einen Augenblick nach.
≫Also, dann mach ganze Arbeit, Tristan. Erschlag das Volk und häng die Hexe auf!≪
≫Das nennt man, das Volk für sein Wollen bestrafen und gleichzeitig seinen Willen tun≪, flüsterte Meister Rym seinem Landsmann zu. ≫Der König ist ein großer Diplomat!≪
≫Nur eins, Sire≪, wandte Tristan ein. ≫Falls die Hexe noch in Notre-Dame ist, soll ich da das Asylrecht verletzen?≪
≫Beim Allmächtigen, das Asylrecht!≪
Der König kratzte sich hinter den Ohren.
≫Alles eins! Das Weibsbild muß hängen≪, entschied er dann. ≫Aber warte einen Augenblick!≪
Er warf sich vor seinem Lehnstuhl auf die Knie, nahm die Mütze ab und legte sie auf den Sitz. Dann heftete er seine Blicke starr auf die beinernen Amulette, mit denen der Mützenrand besetzt war, und faltete seine Hände.
≫Unsere Liebe Frau von Paris!≪ betete er, ≫meine gnädige Beschützerin, vergeht! Ich will es nur dieses eine Mal tun. Es ist eine Hexe, die bestraft werden muß. Ich versichere Euch, daß sie Eures Schutzes nicht würdig ist. Sehr viele fromme Fürsten haben schon das Asylrecht der Kirchen verletzt, weil es die Staatsnotwendigkeit gebot. Vergebt mir daher, wenn ich es auch aus demselben Grunde tun muß. Ich will Euch dafür eine schöne Silberstatue schenken. Amen!≪
Er bekreuzte sich, stand auf und bedeckte wieder sein Haupt.
≫So, Tristan! Jetzt reite los! Laß die Sturmglocken läuten und gib kein Pardon! Ich gehe nicht zu Bett, bevor du deine Meldung machst. Und du, Olivier! Barbier! mich jetzt!≪
Nachdem Tristan l’Hermite klirrend abgegangen war, winkte der König den beiden Genter Bürgern verabschiedend mit der Hand.
≫Behüt euch Gott, ihr Herren! Pfleget der Ruhe, liebe Freunde!≪
Als die beiden Flamen draußen waren, sagte Coppenole zu Meister Rym:
≫Von diesem hustenden König habe ich bis zur Gurgel genug! Ich habe unsern Burgunder Herzog, den kühnen Karl, besoffen gesehen, aber er war mir dabei von hinten lieber als Ludwig XI. von vorn!≪
≫Freund Coppenole≪, entgegnete der Stadtrat mit dem Fuchsgesicht, ≫das kommt davon, daß der Wein einen Herrscher nie so blutgierig macht wie eine Arznei.≪
Das Passwort
Nachdem Gringoire aus der Bastille herausbefördert worden war, bewegte er sich mit der Geschwindigkeit eines durchgehenden Pferdes die Sankt-Antons-Straße entlang.
Erst am Tore Baudoyer, beim steinernen Kreuze, machte er halt.
Auf dessen Stufen saß eine in einen schwarzen Mantel gehüllte unkenntliche Gestalt.
≫Seid Ihr es, Meister?≪ fragte Gringoire.
Der Schwarze richtete sich auf. Sein Gesicht war unter der Kapuze verborgen.
≫Der Teufel soll Euch holen! Der Wächter von Saint-Gervais hat bereits die zweite Morgenstunde ausgerufen!≪
≫Bedaure, aber es ist nicht meine Schuld. Die Nachtrunde und der König haben mich aufgehalten. Eben bin ich mit knapper Not dem Galgen entronnen. Aber es scheint nicht meine Bestimmung zu sein, daß man mich hängt!≪
≫Euch mißlingt eben alles! Aber lassen wir das! Habt Ihr das Paßwort?≪
≫Selbstverständlich.≪
≫Wie lautet es?≪
≫Messer in der Tasche.≪
≫Recht bezeichnend. Hoffentlich kommen wir noch zurecht und läßt uns der Landstreicherkordon mit dem Paßwort durch!≪
≫Da hat es keine Gefahr! Aber wie sollen wir in den Dom gelangen?≪
≫Ich habe die Schlüssel zu den Turmpforten.≪
≫Und wie heraus?≪
≫Durch die geheime Hintertüre, die vom Stiftshause nach der Flußseite führt. Dort habe ich einen Nachen vorbereitet.≪
Damit eilten beide der Altstadt zu.
≫Hie Châteaupers!≪
Von allen Seiten angegriffen, verlor Quasimodo zwar nicht den Mut, aber jede Hoffnung.
Dabei dachte er gar nicht an sich, sondern an die Rettung Esmeraldas.
Als seine Verzweiflung den Höhepunkt erreicht hatte und schon die ersten Köpfe der Stürmer über der Brustwehr der Galerie sichtbar wurden, erdröhnte Pferdegalopp und lautes Kriegsgeschrei.
≫Frankreich! Frankreich!≪
≫Hie Tristan!≪
≫Haut ein!≪
≫Hie Châteaupers!≪
Es war der Angriff der von Tristan l’Hermite und Phöbus von Châteaupers geführten Reiterkolonnen, die von zwei Seiten her wie fegende 0rkanstöße über den Domplatz brausten.
Unter der überraschend und konzentrisch geleiteten Kavallerieattacke wurden ganze Reihen von Landstreichern niedergeworfen wie sturmgeknickte Ähren. Was nicht die Pferde zusammentrampelten, hieben die Pallasche nieder. Die Reiter hauten wie in Butter ein.
Bei diesem Anblicke entwickelte Quasimodo zwanzigfache Kraft. Mit einer Brechstange in der Hand raste er wie irrsinnig auf der Galerie hin und her. Und wo sich der Kopf eines Stürmers über der Brustwehr zeigte, zerschmetterte er ihn wie eine Eierschale. Die Stürzenden rissen ihre Hintermänner gleich dutzendweise mit sich.
Die in der Mitte des Platzes zusammengedrängten Vagabunden wehrten sich wie gestellte Raubbestien. Aber mit ihren Zufallswaffen konnten sie gegen die regulären Truppen wenig ausrichten. Am furchtbarsten wüteten die schottischen Garden und die königlichen Bogenschützen zu Pferd. Der Schlachtruf der letzteren ≫Hie Châteaupers!≪ war überall zu hören, und an ihrer Spitze blinkte ihres Rittmeisters Schwert.
Es war ein entsetzliches Gemetzel. Pardon wurde weder verlangt noch gegeben. Die Schneide der Säbel ereilte, hatte was ihre Spitze verschonte. Die meisten der Landstreicher hatten ihre für den Nahkampf unbrauchbaren Waffen weggeworfen, um sich mit Händen und Zähnen zu wehren. Männer, Weiber und Kinder stürzten sich auf die Flanken und Rücken der Pferde, wo sie sich wie wütende Katzen einkrallten und verbissen. Wer aus dem Sattel fiel, wurde in Stücke zerfetzt, wenn ihn nicht die eigenen Pferde zertraten.
Inmitten dieses Kampfgewühls bildete sich ein freies Eiland durch den Sensenschwung des Bettlerkönigs. Er mähte die Pferdebeine, während er näselnd seine Gassenhauer sang.
Ein wohlgezielter Büchsenschuß machte aber bald damit ein Ende.
Die Einmengung der auf dem Platze wohnenden Bürgerschaft beschleunigte das unvermeidliche Schicksal der Vagabunden. Aus allen Fenstern pfiffen die Kugeln und Bolzen mitten in die dichtesten Haufen hinein.
Nur klägliche Reste der Landstreicher entkamen dem schrecklichen Blutbade, nachdem sie sich mit der Kraft der Verzweiflung durch die Reihen der Angreifer ins Freie gearbeitet hatten. Ein Berg von Toten und Verwundeten blieb auf dem Platze.
Als Quasimodo diesen Zusammenbruch sah, fiel er auf beide Knie, um dankend die Hände gegen den Himmel zu erheben. Dann stürmte er freudetrunken nach der Zelle Esmeraldas.
Wie ein Vogel hüpfte er die Treppen empor.
Frohlockend wollte er der Geretteten zu Füßen stürzen.
Hastig riß er die Zellentüre auf.
Die Zelle aber war leer.
Teil X
10
Der Talisman
Esmeralda hatte zwar den ersten Angriff der Landstreicher verschlafen, war aber bald durch den Lärm und durch das ängstliche Blöken der Ziege aufgeschreckt worden.
Sie erhob sich von ihrem Lager, horchte und schaute, bis sie, bestürzt über den Feuerschein, fluchtartig ihre Zelle verließ.
Das Aussehen des Platzes, die hin und her wogende Menge, ihr Gekreisch und Gelärme, das Lodern der Fackeln und die ganze Verwirrung des nächtlichen Angriffes machten auf das erschreckene Mädchen den Eindruck eines losgelassenen Sabbats der Hölle.
Von Kindheit an in den abergläubischen Vorstellungen der Zigeuner aufgewachsen, glaubte sie in der ersten Überraschung, daß alle Geister Satans losgelassen worden waren, um die geweihte Stätte zu bekämpfen. Entsetzt eilte sie in ihre Zelle zurück, um sich dort unter das Bettlaken zu flüchten und bebend ihren Untergang zu erwarten.
Als jedoch die erste Betäubung des Schreckens geschwunden war, kam ihr bei näherer Überlegung und beim Hören der zu ihr dringenden Schreie die Gewißheit, daß es sich um Menschen und nicht um Gespenster und Geister handelte.
Ihre Angst nahm jedoch dadurch nur eine andere Form an. Schon hatte sie zuweilen an die Möglichkeit gedacht, daß ein Volksaufstand sie ihrem Asyl entreißen könnte, um sie dem Galgen zuzuführen. Nun schien es ihr, daß diese Befürchtung Wahrheit geworden war.
Schutzlos und verlassen wie sie war, kam ihr gar nicht der Gedanke an eine Flucht. Auch war ihre Sorge um das eigene Heil viel geringer als die Furcht, nie wieder Phöbus sehen zu können, wenn dieser Sturm ihr Ende herbeiführte.
Sosehr auch ihre religiöse Erziehung bei den Zigeunern vernachlässigt werden war, erinnerte sie sich in ihrer Verzweiflung jetzt doch lange vergessener Lehren, und sie betete zu Unserer Lieben Frau um Schutz und Hilfe. In ihrem Gebete wurde sie durch den Eintritt zweier Männer gestört.
Zitternd stieß sie einen Angstschrei aus.
≫Fürchtet Euch nicht≪, sagte der eine der Männer. ≫Ich bin es.≪
≫Wer?≪
≫Peter Gringoire.≪
Dieser Name beruhigte sie. Und beim Scheine der von einem der Männer mitgebrachten Laterne sah sie, daß es in der Tat ihr offizieller Gatte war, den eben auch die Ziege freudig begrüßte.
≫Oh≪, sagte Peter, ≫die Ziege hat mich rascher erkannt als Ihr!≪
≫Wer ist mit Euch?≪ fragte Esmeralda, unruhig den Mann im Kapuzenmantel musternd.
≫Beruhigt Euch. Es ist einer meiner Freunde.≪
Peter wollte sich nun der Freude des Wiedersehens mit Djali hingehen und diese liebkosen, aber der Mann im schwarzen Mantel ließ ihm keine Zeit dazu.
Barsch gab er ihm einen Rippenstoß, der Gringoire auffahren ließ.
≫Richtig! Ich vergaß, daß wir Eile haben! Macht Euch bereit, Esmeralda! Wir müssen fort!≪
≫Wohin?≪
≫Zu Freunden! Wir wollen Euch retten!≪
≫Ist das wahr?≪
≫Warum sollte es nicht wahr sein? Macht weiter!≪
≫Gerne≪, stammelte die Tänzerin. ≫Gern! Aber warum ist Euer Freund so stumm?≪
Der Mann im Mantel flößte ihr instinktives Mißtrauen ein.
≫Laßt ihn! Er ist ein schweigsamer Mensch.≪
Mit dieser Erklärung mußte sich Esmeralda zufriedengeben.
Gringoire nahm sie zudem bei der Hand, um sie hinauszuführen, während der Schwarze mit der Laterne vorausging.
Willenlos ließ sich das Mädchen leiten, während die Ziege den ihr wohlgeneigten Dichter fröhlich umsprang. Eiligst stiegen die Flüchtigen die Treppe hinab und durchschritten dann rasch die Kirche, deren finstere Öde gegen den draußen tobenden Lärm wohltuend abstach. Von hier traten sie durch die Rote Pforte in den Stiftshof und dann durch das Erdgeschoß des Stiftshauses an die Geheimtüre, die nach dem Flusse führte. Der Mann im Mantel öffnete dieses Pförtchen, und die kleine Gruppe trat nun auf die Landzunge hinaus, welche im Osten des Notre-Dame-Stiftes die Inselgrenze bildete. Es war ein ganz verlassener Fleck, auf dem nur einige Weiden standen, durch deren Gezweig der Nachtwind rauschte. Von hier aus konnte man auf die bischöfliche Residenz sehen, in welcher augenblicklich die größte Verwirrung herrschte.
Ohne Zögern schritt der Mann mit der Laterne auf die Inselspitze zu. Hier befand sich an dem äußersten Rande des Wassers ein verrotteter Lattenzaun, um den sich verdorrte Reben rankten.
Im Schatten dieser Hecke lag ein kleiner Nachen versteckt. Auf ein Zeichen ihres Führers sprangen Gringoire und Esmeralda, gefolgt von der Ziege, in das Fahrzeug, worauf der Schwarze den Kahn losmachte und mit einem Bootshaken abstieß, während er sich selbst hineinschwang.
Dann ergriff der Unbekannte das im Nachen liegende Ruderpaar und begann mit aller Kraft nach der Strommitte hin zu arbeiten. Infolge der reißenden Wirbel an der Inselspitze kostete es ihn große Anstrengung, vom Lande abzukommen.
Im Kahne sitzend war es Gringoires erste Sorge, die Ziege in seinem Schoße zu betten. Esmeralda drängte sich an ihn heran, um möglichst weit von dem ihr umheimlich scheinenden Fremden zu sein.
≫Gerettet!≪ klatschte der Philosoph in die Hände, als der Kahn vom Ufer scherte.
Der Schwarze gab keinen Ton von sich, sondern legte sich nur machtvoll in die Riemen, um das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Selbst bei dieser Betätigung war nichts von seinen Zügen zu erkennen, da er die Kapuze heruntergezogen behielt und die Laterne abgeblendet hatte.
Seine düstere Erscheinung wirkte so lähmend auf die anderen Bootsinsassen, daß sie in Schweigen verharrten und kein anderes Geräusch im Kahne hörbar war, als das Knarren der Ruder in den Dollen und das Geplätscher des an die Bordwand brechenden Flusses.
Unausgesetzt gegen die Stromversetzung ankämpfend, verfolgte das Fahrzeug seinen Weg, bis Gringoires Schwatzhaftigkeit nicht mehr zu halten war.
≫Was mir einfällt, Hochwürden≪, fragte er, ≫habt Ihr beim Eintreffen den armen Kleinen gesehen, der mit zerschmetterter Hirnschale, etwa zwanzig Fuß hoch, über einem Vorsprung der Fassade hing?≪
Bei dieser Frage ließ der Unbekannte beide Ruder fahren, und sein Haupt in den Händen bergend, brach er in ein bitteres Schluchzen aus.
Esmeralda zuckte zusammen, da ihr die Seufzer des Fremden plötzlich bekannt vorkamen.
Die Flußwirbel aber erfaßten den schwankenden Nachen und rissen ihn stromabwärts mit.
Da raffte sich der Schwarze wieder zusammen, um den Kampf gegen die Strömung mit doppelter Kraft erneut aufzunehmen.
Gringoire hatte mit offenem Munde dagesessen, ohne etwas zu begreifen.
Infolge seiner Kurzsichtigkeit hatte er keine Ahnung, daß er die Leiche des Studenten Johannes gesehen hatte. Der Nachen hielt nun auf die Lände der Heukähne zu. Währenddessen nahm der von der Notre-Dame-Kirche herüberschallende Tumult trotz der immer größer werdenden Entfernung immer mehr zu.
Die Bootsinsassen fanden dies sonderbar, da sie nicht wußten, daß gleich nach ihrem Abgehen der Kavallerieangriff eingesetzt hatte.
Sie vermuteten erst die Wahrheit, als zahlreiche Fackeln die am Ufer sichtbar wurden, in deren Beleuchtung die Rüstungen der regulären Truppen zu erkennen waren. Es wurde auch allzubald klar, was die Soldaten dort am Ufer suchten. Schreie, wie ≫Zigeunerin! Wo ist die Hexe? Hängt sie!≪ wurden infolge der Fortpflanzungskraft der Wasserfläche deutlich bis zum Nachen herübergetragen. Da legte sich der Unbekannte in die Riemen, daß sie zu brechen drehten.
Der Philosoph aber rückte unwillkürlich von Esmeralda ab und preßte die Ziege inniger an sich. Er hatte seine Wahl in diesem Rettungswerke getroffen.
Endlich stieß der Nachen mit einem heftigen Stoß an den Strand.
Das schreckliche Getöse von der Altstadt her dauerte fort.
Da trat der Schwarze an die Tänzerin heran und wollte sie am Arme ergreifen.
Sie aber stieß ihn heftig zurück.
Statt dessen hing sie sich an Gringoires Rock, der so sehr mit dem Ausladen der Ziege beschäftigt war, daß er Esmeralda fast in den Kahn zurückgeworfen hätte. Dies verwirrte sie derart, daß sie ratlos und wie betäubt ins Wasser starrte. Und als sie wieder Herrin ihrer Sinne wurde, bemerkte sie, daß sie sich allein mit dem Unbekannten an der Lände befand.
Gringoire war mit der Ziege im Häusergewirre verschwunden.
Die arme Jungfrau schauderte, als sie sich so von dem angeblichen Schützer und Gatten verlassen sah.
Sie wollte Peters Namen rufen, aber die Zunge klebte ihr wie gelähmt am Gaumen. Kein Ton kam dabei heraus.
Und plötzlich fühlte sie die Hand des Schwarzen auf ihren Schultern. Es war eine kalte und starke Hand.
Esmeraldas Zähne klapperten aneinander, und in den eben aufgehenden Strahlen des Mondes erschien ihr Gesicht doppelt blaß.
Der Fremde sprach noch immer kein Wort.
Sie fest an der Hand haltend, begann er mit langen Schritten nach dem Grève-Platz zu aufzusteigen.
Da fühlte sie sich als Gefangene einer unabweisbaren Schicksalsmacht. Ihre Spannkraft war dahin, und sie gab der Führung des Unbekannten willenlos nach.
Obgleich ihr Weg den Flußdamm hinaufführte, schien es Esmeralda, daß sie unaufhaltsam abwärtsglitt.
Vergebens blickte sie sich nach einem Lebewesen um. Öde lag das nächtliche Ufer da. Es war kein anderes Geräusch zu hören als das vom jenseitigen Ufer kommende Toben. Dunkel und massig lag das übrige Paris da, als ob es nicht im geringsten von dem Gelärm der Kämpfe und dem Ächzen der Sterbenden in der feuergeröteten Altstadt berührt würde.
Inzwischen zog sie der Schwarze unaufhaltsam und wortlos mit sich fort. Als sie aber an einem beleuchteten Fenster vorüberkamen, blitzte in Esmeraldas Hirn ein Strahl der Hoffnung auf.
≫Hilfe!≪ rief sie, ≫Hilfe!≪
Dabei suchte sie sich aus dem Griffe des Fremden frei zu machen.
Der zu dem Fenster gehörende Spießbürger öffnete dasselbe zögernd, um einen Augenblick stumpfsinnig herauszuschauen. Er verschwand aber ebensorasch wieder, und mit dem von ihm geschlossenen Fensterladen erlosch mit dessen Lichtschein auch Esmeraldas letzter Hoffnungsschimmer.
Der Schwarze fing nun an, nur noch schneller auszuschreiten, ohne ihr ein Wort des Vorwurfs zu sagen. Esmeralda leistete nicht den geringsten Widerstand mehr, obwohl sie auf dem holprigen Stöckelpflaster fortwährend stolperte und immer mehr und mehr an Atem verlor. Nur von Zeit zu Zeit wimmerte sie mit versagender Stimme:
≫Wer seid Ihr denn? Was wollt Ihr von mir?≪
So erreichten sie den Grève-Platz.
In dessen Mitte erkannte Esmeralda bebend die Umrisse des Galgens. Und jetzt blieb auch der Unbekannte stehen, um endlich die Kapuze nach hinten zu schlagen. ≫Ach!≪ fuhr Esmeralda, ihn erkennend, zurück.
Es war der furchtbare Archidiakon.
Im Mondscheine sah er bloß noch wie ein Schatten seiner früheren Erscheinung aus.
≫Höre!≪ sagte er, während sie beim Tone seiner Stimme erzitterte. ≫Höre! Hier ist der Platz des Hochgerichts.
, Hier sollst du über meine Seele und über deinen Leib entscheiden. Es ist unwiderruflich deine letzre Wahl. Aber sprich mir kein Wort von deinem verdammten Phöbus!≪
Die letzten Worte schrie er ihr keuchend ins Gesicht, während er ihre Hand fahrenließ.
Darauf begann er erregt knapp vor ihr auf und ab zu gehen.
≫Es ist ein entscheidender Augenblick! Wende deinen Kopf nicht ab! Höre, was ich dir zu sagen habe. Es liegt ein Parlamentsbeschluß vor, der deine Asylfreiheit aufhebt. Ich habe dich im letzten Augenblick gerettet. Man sucht dich schon. Sieh dorthin!≪
Dabei wies er nach der Altstadt hinüber, von wo das Lärmen der Sucher und Rufe wie ≫Hexe≪ oder ≫Zigeunerin≪ deutlich herüberklangen. Dabei schien die Verfolgung bereits nähergekommen zu sein. Auch in der Wachstube auf dem Grève-Platz brannte bereits ein Licht. Und auf dem gegenüberliegenden Ufer liefen immer mehr Soldaten mit Fackeln herum.
≫Du siehst, man kommt auf deine Spur. Ich läge nicht. Aber noch hast du Zeit. Ich liebe dich. Öffne den Mund und sage mir, daß du mich nicht mehr hassen willst. Denn ich kann dich retten. Es ist alles vorbereitet. Aber warte, sprich noch nicht.≪
Damit faßte er sie wieder an der Hand und zerrte sie geradeswegs auf den Galgen zu.
≫Wähle! Er oder ich!≪
Damit wies er mit vor Erregung bebender Hand auf das furchtbare Bauwerk hinauf.
Da riß sie sich von ihm los, und vor dem Galgen in die Knie fallend, umklammerte sie das schreckliche Gerüst. Bewegungslos starrte sie Dom Claude an. Seine erhobene Hand bebte immer noch in der Luft.
Endlich öffnete Esmeralda den Mund:
≫Der Galgen flößt mir weniger Entsetzen ein als Ihr!≪
Da ließ er die Hand sinken.
≫Wenn die Steine sprechen könnten≪, sagte er resigniert, ≫sie würden es künden, daß hier ein unglücklicher Mensch steht.≪
In tiefster Niedergeschlagenheit blickte er auf die Tänzerin, die in ihrem Nachtgewande mit den frei wallenden Haaren vor dem Galgen liegenblieb, während er fortfuhr:
≫Ich liebe Euch! Tag und Nacht verbrennt das Feuer dieser Liebe mein Herz. Verliert doch den Abscheu vor mir! Es ist keines Mannes Schuld, wenn er ein Weib liebt. Wollt Ihr mich immer hassen? Bei Gott, wie soll ich das ertragen?! Ihr macht mich entsetzlich schlecht durch Euren Haß! Nicht einmal ansehen wollt Ihr mich! Während ich hier zitternd an der Schranke der für uns beide bestimmten Ewigkeit stehe! Die Erde unter Euren Füßen möchte ich küssen! Und doch! Aber Ihr, Ihr denkt nur an Euren Offizier! Nicht das geringste Mitgefühl habt Ihr für mich! Und seid doch die Sanftmut und Anmut selbst! Für mich aber habt Ihr nur Bosheit übrig! Gott, welches Mißgeschick!≪
Er barg sein Gesicht in den Händen.
Esmeralda rührte sich nicht.
Geraume Zeit hörte sie ihn weinen, und er schien elender und hilfeflehender zu sein, als wenn er auf die Knie gesunken wäre.
Dann raffte er sich wieder zusammen.
≫Genug≪, sagte er fest. ≫Ich finde keine Worte mehr. Dabei hatte ich es mir so schön ausgedacht, wie ich Euer Herz rühren würde. Jetzt, im entscheidenden Augenblicke, kann ich nur zittern und beten. Ich bin schwach, weil Allgewaltiges uns umgibt.≪
Es war seltsam, den Mann aller vier Fakultäten so zu einem in den Tag hinein lebenden Wesen sprechen zu hören, das gar kein Verständnis für seine Not haben konnte.
Aber auch nur ein weltfremder Asket wie Dom Claude hatte sich so in eine hoffnungslose Leidenschaft verrennen können. Er wußte viel, aber nicht die einfache Wahrheit, daß Liebe und Abneigung einer Frau nicht nach logischen Gesetzen geregelt sind.
≫Verdammt uns nicht beide≪, fuhr er fort. ≫Wenn Ihr kein Mitleid mit mir habt, werdet Ihr auch keines bei mir finden! Wenn Ihr wüßtet, wie sehr ich Euch liebe! Wo hat je ein Herz so wie das meine gelitten?! Wie habe ich mich von jeder Tugend, ja von jedem Glauben dieser Liebe halber abgewandt! Als Gelehrter verhöhne ich die Wissenschaft! Als Edelmann und Sohn eines Offiziers meinen guten Namen! Als Priester mache ich mein Brevier zum Kopfkissen der Wollust und speie in das Antlitz meines Gottes hinein! Alles nur, um der Hölle einer Zauberin würdiger zu werden! Und sie will von dem um ihretwillen Verdammten nichts wissen!≪
Verwirrt hielt er inne.
Und dann fragte er sich selbst mit schrecklicher Stimme:
≫Kain, was hast du mit deinem Bruder getan?≪
Hatte er ihn nicht selbst unter die Landstreicher geschickt?
Vielleicht mit dem unausgesprochenen Hintergedanken, dadurch die Zahl der Retter Esmeraldas für den Angriff auf Notre-Dame um einen zu vermehren.
≫Ihretwegen≪, murmelte er. ≫Alles ihretwegen!≪
Sein Blick wurde irre. Seine Stimme erlosch.
Nach einer langen Pause murmelte er nur wieder:
≫Ihretwegen! Alles ihretwegen!≪
Und schließlich bewegten sich seine Lippen immer noch zu dieser Phrase, obgleich nicht der geringste Ton mehr über sie kam.
Eine Bewegung des jungen Mädchens am Fuße des Galgens rief ihn in die Wirklichkeit zurück.
Er fuhr sich über das Gesicht und gewahrte betroffen, daß seine Hand von Tränen feucht wurde.
≫Was? Habe ich geweint?≪ fragte er sich erstaunt.
≫Wehe!≪ rief er dann. ≫Wehe! Ihr habt mich weinen sehen und seid kalt geblieben?! Ihr wißt nicht, daß solche Tränen Lavaströme sind! So verhaßt bin ich Euch, daß nichts Euch rühren kann! Kein einziges, armseliges Trostwort habt Ihr für mich! Und ich verlange nicht einmal, daß Ihr mir etwas Liebes sagt! Sprecht nur ein Wort aus, daß Ihr gerne mit mir kommen wollt, und ich will Euch retten. Aber bald! Die Zeit vergeht. Wartet nicht, bis ich zu Stein werde wie dieser Galgen da, der Euer harrt! Bedenkt, daß unser beider Schicksal in Euren Händen liegt! Ein gütiges Wort! Nur ein einziges gütiges Wort!≪
Esmeralda öffnete den Mund.
≫Mörder≪, sagte sie gehässig.
Da brach er in ein entsetzliches Gelächter aus.
Wütend riß er sie in seine Arme.
≫Haha! Ein Mörder! Haba! Nur an ihren Phöbus denkt sie die ganze Zeit! Aber allen Phöbussen zum Trotz werde ich dich besitzen! Da du nicht den Sklaven in mir haben willst, sollst du den Herrn spüren! Du kommst mit in das Versteck, das ich bereitet habe, oder du sollst durch den Henker sterben, dem ich selbst dich zuschleppen werde! Sterben mußt du, meine Schöne, oder das Eigentum des abtrünnigen Priesters sein, des Mörders! Das Grab oder das Bett, du Närrin, du!≪
Seine Augen funkelten in wollüstiger Gier, und sein geiler Mund rötete den Hals der Jungfrau mit seinen wütenden Küssen. Sie wand und drehte sich in seinen starken Armen wie eine gefangene Katze.
≫Beiß nur, du Scheusal, beiß!≪ schrillte sie. ≫Widerwärtiger, elender Mensch! Ich reiße dir dein ekliges Weißhaar aus und schmeiße es dir in dein abscheuliches Gefrieß!≪
Erblassend ließ er sie fahren, als ihm diese Schimpfworte der Gosse entgegenprallten. Finsteren Blickes betrachtete er sie, während sie mechanisch ihr Haar ordnete.
Voll Haß überschüttete sie ihn dabei mit ihrem Hohn. ≫Phöbus liebe ich! Meinen Phöbus! Er ist so schön, wie du scheußlich bist! Scher dich zum Teufel, du Mörder du.≪
Es war, als ob sie ihn mit glühendem Eisen gebrannt hätte. Er stieß einen unmenschlichen Schrei aus, während er sie niederriß und am Boden hin und her beutelte.
≫So stirb also!≪ knirschte er.
Dann riß er sie wieder hoch und zerrte sie gegen den Rolandsturm zu. Hier, knapp vor der Zelle der Klausnerin, machte er halt.
≫Zum letzten Male: Willst du die Meine sein?≪
≫Nie!≪
≫Gudule! Gudule! Hier hast du deine Zigeunerin! Räche dich!≪
Da fühlte das entsetzte Mädchen plötzlich, wie eine knochige Hand sich in ihren Ellenbogen krallte.
Aufblickend sah sie aus der Luke der Büßerin einen fleischlosen Arm ragen, der sie wie ein Schraubstock festhielt.
≫Halt sie nur fest, Schwester. Ich hole einstweilen die Gerichtsdiener. Du sollst deine Zigeunerin hängen sehen!≪
Ein dumpfes Lachen aus der Klause war die Antwort auf diese furchtbaren Worte.
≫Hahaha! Die lasse ich nicht los!≪
Dieser Ruf klang dem Archidiakon in die Ohren, während er bereits mit schnellen Schritten gegen die Notre–Dame-Brücke zu ging, von wo das Getrappel eines Reitertrupps hörbar war.
Keuchend vor Entsetzen, suchte sich Esmeralda aus dem eisernen Griff der Klausnerin loszumachen. Verzweifelt sprang sie hin und her, aber die Büßerin hielt sie in ihrem Hasse mit über-menschlicher Kraft fest. Ihre Knochenfinger umspannten das Gelenk des Mädchens so enge, als ob sie daraufgenietet worden wären. Aus diesem Ringe gab es kein Entschlüpfen und kein Entkommen, soviel Geschicklichkeit auch Esmeralda aufbot, um sich windend herauszudrehen.
Endlich sank die Tänzerin erschöpft vor der Gatterluke nieder. Sie war nur noch eine haltlose Beute blasser Todesfurcht. Wie oft am Rande des Grabes, so zog auch vor ihrem geistigen Blicke das durchlebte Leben in blitzschnellen Bildern vorbei. Sie dachte an die Schönheit des Lebens, an die Erscheinungen der Natur, an die Liebe und an Phöbus. Und schließlich an den bevorstehenden Schluß, an den mit den Schergen zurückkehrenden Priester und an das Hochgericht.
Bei dem letzten Gedanken fühlte sie, wie das kalte Entsetzen aus den Wurzeln ihres Haares zur Höhe stieg. Und um so schauerlicher klang das Hohngelächter der einen Klausnerin in ihr Ohr.
≫Haha! Mein Täubchen! Hab’ ich dich! Heut wirst du gehenkt!≪
Todesmatt, wie ein Vogel mit gebrochenen Schwingen, blickte Esmeralda zu der Gatterluke auf.
≫Was hab ich Euch getan?≪ lispelte sie.
≫Eine Tochter Ägyptens bist du!≪ fauchte die Büßerin. Verzweifelt ließ die Tänzerin ihr Haupt wieder sinken. Sie begriff, daß sie in der Gewalt einer erbarmungslosen Feindin war.
≫HIaha! Was du mir getan hast?≪ begann jetzt die Klausnerin, in ihrer bevorstehenden Rache zu schwelgend.
≫Höre! Ich will es dir sagen, bevor man dich zum Galgen schleift. Ich hatte eine Tochter. Die reizende kleine Agnes! Heute wäre sie in deinem Alter, wenn deine Leute sie nicht geraubt hätten! Also, ein doppelter Grund, warum du hängen mußt, haha!≪
≫O Gott, wenn das Kind in meinem Alter war, kann ich doch nicht am Raube beteiligt gewesen sein! Zudem habe ich nie ein Kind verletzt!≪
≫Alles eins! Du zahlst mir für die anderen. Vielleicht warst du damals auch schon alt genug, dich an dem Fraße zu beteiligen. Denn ihr habt mein süßes Kind gefressen, auf der Heide! Vor fünfzehn Jahren. Großer, gütiger Gott! Fünfzehn Jahre sind es nun, daß ich verzweifelt meinen Kopf gegen diese Mauern renne! Heute aber ist die Reihe an mir. Heute fresse ich Zigeunerfleisch! Haha!≪
Währenddem graute der Tag herauf. Immer deutlicher konnte das unglückliche Mädchen den schrecklichen Galgen aus der Dämmerung herauswachsen sehen. Bald mußte das tägliche Leben auf dem Platze erwachen, und dann war das Ende da.
Noch einmal versuchte die Arme, das Marmorherz der Klausnerin zu rühren.
≫Gute Frau≪, flehte sie halb wahnsinnig vor Todesngst, ≫gute Frau! Habt Erbarmen mit mir! Ich habe Euch nie etwas getan! Wollt Ihr mir einen so elenden Tod bereiten?! Habt Erbarmen! Ich bin so jung! Laßt mich nicht auf diese Weise sterben!≪
≫Gib mir mein Kind zurück!≪
≫Gnade!≪
≫Mein Kind!≪
≫Erbarmen, im Namen des Himmels!≪
≫Meine süße Agnes!≪
Mit dem gläsernen Blicke einer bereits Verstorbenen sank Esmeralda hoffnungslos zurück.
Schon meinte sie den Trab der Reiter zu hören.
Das gab ihr wieder Kraft zu neuen Bitten.
≫Ihr sucht Euer Kind. Ich bin geradeso elend daran. Ich suche meine Eltern.≪
Die Klausnerin antwortete nicht darauf. Ihre ganzen Gedanken waren auf den eigenen Schmerz gerichtet.
≫Meine Agnes! Das süße, kleine, unschuldige Kind! Wenn deine Mutter, die elende Zigeunerin, kommt, werde ich nach dem Galgen zeigen. Auge für Auge, Zahn für Zahn, werde ich ihr sagen. Da hängt deine Tochter, weil du die meine geraubt! Mein schönes Kind. Mit den zarten Füßchen. Diesen Schuh werde ich ihr zeigen. Sieh, er umschloß meines Kindes Fuß!≪
Bei diesen Worten streckte sie mit der freien Hand den gestickten Kinderschuh beim Gatter heraus.
Es war bereits hell genug, um seine Einzelheiten unterscheiden zu können.
≫Großer Gott!≪ schluchzte Esmeralda. ≫Ist das Eures Kindes Schuh?!≪ Und mit bebenden Fingern nestelte sie ihr Brustsäckchen auf.
≫Seht!≪ rief sie und zeigte den zweiten, zum Paare gehörenden Schuh.
Hastig langte die Büßerin danach.
≫Meine Tochter!≪ schrie sie auf.
≫Mutter!≪ schluchzte Esmeralda zurück.
Aber ach! Das Gitter der Luke trennte Mutter und Kind.
Nur die Hände konnten sie sich gegenseitig mit Küssen bedecken, während der Strom ihrer Freudenzähren reichlich floß. Aber plötzlich erinnerte sich die Mutter der drohenden Gefahr.
≫Der Priester!≪ stammelte sie.
Dann aber kam ihr die Kraft der Löwin, die ihr Junges zu verteidigen hat. Sie packte den schweren Stein, der ihr als Kopfkissen diente, und schmetterte damit das Eisengitter aus den Angeln. Dann faßte sie die Tochter um die Leibesmitte und zog sie in ihre Zelle herein.
Es war aber auch die höchste Zeit.
Pferdegalopp und Waffengeklirr erscholl, und man hörte eine Stimme rufen:
≫Hierher, Herr Tristan, hierher! Der Priester sagte uns: am Rattenloch!≪
Der Hufschlag der Pferde dröhnte heran.
Entsetzt steckte die Klausnerin ihren Kopf bei der Luke hinaus.
≫Die Reiter!≪ rief sie, zurückfahrend. ≫Großer Gott! Was machen wir?≪
≫Das ist mein Tod!≪ stammelte Esmeralda mit blassen Lippen. ≫Der Priester hat sie geschickt. Sie wollen mich auf den Galgen hängen!≪
≫Zum Fliehen ist es zu spät. Soldaten sind überall! Versteck dich dort im Winkel. Zieh dein Kleid so über dich, daß es wie ein Bündel aussieht! Ich will mit den Schergen sprechen.≪
Rasch schlug die arme Mutter ein Kreuz, bevor sie wieder das Haupt hinausstreckte, um die Reiter zu empfangen. Schon waren diese heran.
Ihr Anführer wandte sein grausames Gesicht der Büßerin zu.
≫Alte≪, sprach er sie an, ≫wir suchen eine Hexe, die wir hängen wollen. Man hat uns gesagt, daß du sie hast.≪
Die Mutter heuchelte eine gleichgültige Miene:
≫Ich weiß nicht, was Ihr meint!≪
≫Bei Gottes Haupt! Was schwatzt der Narr von Archidiakon?! Wo ist der Kerl hin?≪
≫Gnädiger Herr, er ist verschwunden≪, meldete ein Soldat.
≫Hat er gesagt, daß die Hexe beim Rattenloch ist?≪
≫Jawohl. Er sagte, daß er sie der Klausnerin zum Festhalten übergeben habe.≪
≫Was schwatzt dann die alte Närrin da?! He, Alte! Lüg uns nichts vor! Man hat dir eine Hexe in Verwahrung gegeben. Was hast du mit ihr angestellt?≪
Die Klausnerin verstand, daß es nicht klug war, einfach alles abzuleugnen.
Sie entgegnete daher in beiläufigem Ton:
≫Ah, Ihr meint das junge Mädchen, das ein Priester hier zurückließ. Da hat man mir was Rechtes eingebrockt! Die Katze biß mich in die Hand, und im nächsten Augenblick war sie fort.≪
Der Befehlshaber machte ein enttäuschtes Gesicht.
≫Sprichst du auch die Wahrheit, altes Gespenst? Weißt du, wer ich bin? Tristan l’Hermite, des Königs Gevatter und Profos.≪
≫Und wenn Ihr Tristan der Satan wäret, könnte ich Euch nichts anderes mitteilen, Ihr altes Ekel, Ihr! Mich könnt Ihr nicht ins Bockshorn jagen! Ich sage, was ich weiß.≪
≫Bei Gottes Haupt! Die hat ein Maul! Das ist die richtige Gevatterin≪, wetterte der Profos, während die Soldaten heimlich grinsten.
≫Also die Dirne hat sich gerettet?≪ setzte er dann das Verhör fort. ≫In welcher Richtung denn?≪
≫Durch die Rue du Mouton, wenn ich nicht irre.≪
Schon gab Tristan seiner Truppe den Befehl zum Abmarsch. Aber zu früh atmete die heimlich zitternde Mutter auf.
≫Gnädiger Herr≪, bemerkte ein Reiter, ≫seht die zerbrochene Gatterluke!≪
Da faßte die arme Frau die blasse Todesangst —- und sie stammelte ungeschickt:
≫Das Gitter war schon immer zerbrochen.≪
≫Noch gestern war es ganz≪, behauptete der Reiter.
Tristan warf der Klausnerin einen schiefen Blick zu, der sie erbeben ließ. ≫Ich glaube, die Gevatterin ist verwirrt≪, sagte er trocken.
Die Unglückliche fühlte, daß alles von ihrer Kaltblütigkeit abhing. Sie stimmte daher ein höhnisches Gelächter an.
≫Besoffener Trotte!≪, fuhr sie den Soldaten an. ≫Das Gitter hat schon vor einem Jahr ein Lastwagen eingedrückt.≪
≫Ganz richtig≪, meldete sich ein anderer Soldat. ≫Ich war selbst dabei.≪
Es gibt immer solche Leute, die überall dabeigewesen sind.
≫Dann müßten die Stäbe nach innen verbogen sein≪, beharrte der erste Reiter.
≫Braver Bursch≪, belobte ihn der Anführer. ≫Du hast das Zeug zum Untersuchungsrichter im Châtelet! Was sagst du dazu, Alte?≪
≫Mein Gott≪, schrie sie, die salzigen Tränen mit aller Gewalt zurückhaltend. ≫Ich kann nur sagen, was ich gesehen habe. Ein Wagen hat das Gitter eingedrückt! Ihr hört ja, daß Euer Mann es selbst gesehen hat!≪
≫Hm≪, brummte Tristan l’Hermite.
Die arme Mutter wurde zwischen Hoffnung und Angst hin- und hergerissen. Sie hatte das Gefühl, auf der Schneide einer Klinge über einen Abgrund zu gehen.
≫Zum Teufel!≪ murrte der erste Reiter. ≫Die Bruchstellen sind noch ganz frisch.≪
Da schüttelte Tristan den Kopf.
Erblaßt starrte ihn die Mutter an.
≫Wie lange ist die Geschichte mit dem Karren her?≪ fragte er scharf.
≫Mein Gott! Was weiß ich! Ein Jahr, ein halbes, vier Wochen, vierzehn Tage vielleicht, gnädiger Herr. Ich zähle nicht die Zeit!≪
≫Faule Fische, wie mir scheint.≪
≫Zuerst war es ein Jahr≪, fiel der Reiter ein, den die Belobung seiner Fähigkeiten geschmeichelt hatte.
≫Gnädiger Herr, ich schwöre Euch, daß ein Karren das Gitter zerbrochen hat≪, rief die angstbebende Mutter.
≫Ich schwöre es bei den Engeln des Paradieses. Wenn es nicht wahr ist, will ich auf ewig verdammt sein!≪
≫Für eine so geringe Sache leistest du einen so großen Schwur≪, bemerkte Tristan, kalt lächelnd.
Die arme Mutter fühlte ihre Zuversicht immer mehr und mehr schwindem Mit Entsetzen erkannte sie, daß sie sich mit ihren Worten stets tiefer verhedderte.
Da mengte sich auch schon ein anderer Reiter ein:
≫Gnädiger Herr, die alte Hexe lügt! Das Mädchen ist nicht durch die Rue du Mouton gekommen. Die Nachtkette ist noch gespannt, und der Kettenwächter hat niemand passieren gesehen.≪
Der Gesichtsausdruck des Generalprofosen wurde immer tückischer. Auf seiner eckigen Stirne begannen sich unheilschwangere Wolken zu sammeln.
≫Paß auf, Alte, was ich dich frage: Was sagst du dazu?≪
≫Nichts, gnädiger Herr≪, versuchte sie ihm die Spitze zu bieten. ≫Was soll ich dazu sagen? Von meiner Zelle aus habe ich keinen weiten Ausguck. Vielleicht ist das Mädchen über das Wasser entkommen.≪
≫Also nach der entgegengesetzten Richtung! Hm! Und nach der Altstadt, wo sie sich verfolgt wußte?! Das ist eine verdammte Lüge, sage ich dir!≪
≫Auch hätten wir einen Kahn sehen müssen≪, fügte der Reiter mit dem Talent eines Untersuchungsrichters hinzu.
Die Klausnerin verteidigte sich Schritt für Schritt:
≫Vielleicht ist sie hinübergeschwommen.≪
≫Können denn Weiber schwimmen?≪ wunderte sich der Reiter.
Da brach Tristan los:
≫Beim Haupte Gottes! Du bist eine ganz gemeine Lügnerin! Ich habe große Lust, dich statt der Hexe baumeln zu lassen! Oder dich ein bißchen auf die Folter zu spannen! Das wird dir gleich deine verdammte Zunge lösen!≪
Die arme Mutter griff begierig diesen Ausweg auf:
≫Tut es, gnädiger Herr, tut es! Führt mich sogleich fort!≪
Sie hoffte, damit die Spürhunde von ihrer Tochter abzulenken.
≫Gottes Tod! Jetzt hat sie sogar Sehnsucht nach der Folter! Ich glaube, daß die Alte einfach närrisch ist!≪
Jetzt trat ein alter Sergeant vor :
≫Das dürfte das richtige Wort sein, gnädiger Herr. Die Alte ist sicher nicht bei Trost. Seit fünfzehn Jahren höre ich sie Gift und Galle gegen alle Zigeunerinnen speien, die sie mehr haßt als den Tod. Und besonders die gesuchte Hexe hat sie auf dem Zug. Freiwillig hat sie daher das Mädchen sicher nicht laufen lassen.≪
Die Klausnerin beeilte sich, diese Meldung zu unterstützen:
≫Ja, die verfluchten Zigeunerinnen!≪ kreischte sie. ≫Mein Kind haben sie aufgefressen! Mein süßes Kind!≪ Und Auch die übrigen Leute der Nachtrunde bestätigten die Worte des Sergeanten. Tristan meinte daher, daß er es mit einer Verrückten zu tun hatte, was bei ihrer Lebensweise schließlich kein Wunder gewesen wäre. Er gab es daher auf, hier weiter seine Zeit zu verlieren.
Da er kurz vorher abgesessen war, näherte er sich jetzt seinem Pferde, das von einem Soldaten gehalten wurde. Mit unaussprechlicher Angst folgte die Klausnerin jeder der seiner Bewegungen. Aber, bereits mit dem Fuße im Steigbügel, zögerte er noch.
Mit Beben sah die arme Mutter, wie er mit der unruhigen Miene eines um seine Beute geprellten Jagdhundes in die Runde sah. Es war, als ob seine Witterung die Nähe des Wildes spürte.
Endlich, endlich schüttelte er grimmig das Haupt, worauf er sich in den Sattel schwang.
Schon weitete sich das angstgepreßte Herz der zitternden Mutter.
≫Gerettet!≪ jubelte es in ihr.
Auch die unter ihrem Kleide bebende Esmeralda schloß bereits, aufatmend, aus dem entstandenen Schweigen, daß die furchtbare Gefahr sich zu verziehen begann.
Da hörte man eine laute, militärisch schnarrende Stimme über den Platz:
≫Beim Darm des Papstes, Herr Generalprofos! Das Gesindel ist in die Pfanne gehauen, und ich marschiere mit meinen Schützen ab. Die Hexenjagd ist kein Soldatengeschäft! Die überlasse ich Euch!≪
Als Esmeralda die geliebte Stimme hörte, gab es für sie kein Halten! Sie schob ihre Mutter beiseite und steckte den Kopf durch die Luke hinaus.
≫Phöbus!≪ rief sie zwischen Lachen und Weinen, ≫Phöbus! Hier bin ich!≪
Aber Rittmeister Phöbus von Châteaupers hörte sie nicht mehr. Unter dem Gedröhne der hinter ihm einschwenkenden Eskadron ritt er bereits vom Plata ab.
Dafür aber riß es den Generalprofosen herum.
≫Ei, ei≪, sagte er mit einem Wolfslächeln. ≫Was sieht man da?≪
Vergebens hatte die verzweifelte Mutter das unvorsichtige Kind zurückgerissen.
Tristan l’Hermite hatte bereits genug gesehen.
≫Zwei Mäuse in der Falle≪, lachte er.
≫Ich hatte doch recht≪, brüstete sich der Reiter mit dem Untersuchungsgenie.
Tristan schlug ihm wohlwollend auf die Schulter:
≫Du bist ein feiner Hecht, das ist wahr! Aber wo ist Gevatter Henriet?≪
Ein unsoldatisch aussehender Mann trat aus den Reihen vor. Er war halb grau, halb braun gekleidet und trug ein Bündel Stricke in der Hand. Es war Henriet Cousin, der ständige Schatten des Generalprofosen, der wieder, immer, in der Nähe Ludwigs XI. zu finden war.
≫Holla, Gevatter≪, sprach ihn Tristan an. ≫Dort ist eine Hexe, die du hängen wirst. Hast du deine Leiter mit?≪
≫Es ist eine da im Säulenhaus. Sollen wir die Sache gleich hier abmachen?≪
Damit wies der Henker mit seiner plumpen Hand auf den steinernen Galgen des Grève-Platzes.
≫Natürlich.≪
≫Hihi! Da haben wir keinen weiten Weg!≪
≫Grinsen kannst du hinterdrein. Jetzt schau, daß du weitermachst!≪
Seitdem der armen Mutter jede Hoffnung geschwunden war, hatte sie keinen Laut mehr von sich gegeben. Sie hatte die Tochter wieder in den hinteren Winkel der Zelle gedrängt und sich selbst an die Luke postiert! Mit ihren fleischlosen Händen in den Sims gekrallt, ließ sie ihren irrsinnig glänzenden Blick über die sie angaffenden Soldaten hin und her wandern.
Als sich nun der Henker bedächtigen Schrittes der Zelle näherte, sah sie ihn mit so furchtbarem Augengefunkel an, daß er verdutzt zurückfuhr.
≫Gnädiger Herr≪, wandte er sich an Tristan. ≫Welche ist festzunehmen?≪
≫Die Junge.≪
≫Desto besser! Die Alte scheint etwas unbequem zu sein.≪
≫Arme Kleine≪, murmelte der alte Sergeant von der Nachtrunde.
Inzwischen hatte sich Henriet wieder der Zelle genähert.
≫Gute Frau …≪, begann er.
Aber der Tigerblick der Klausnerin ließ ihn verstummen. Mit wutzitternder Stimme knirschte sie zwischen den Zähnen hervor:
≫Was willsr du?≪
≫Von Euch nichts. Von der anderen.≪
≫Von welcher anderen?≪
≫Von der Jungen.≪
≫Du irrst dich! Es ist niemand hier!≪
≫Doch, doch, gute Frau. Laßt mich die Junge holen. Euch will niemand etwas tun.≪
Da brach sie in ein Hohngelächter aus.
≫Haha! Mir will niemand etwas tun!≪
≫Laßt Euch sagen, gute Frau…≪
≫Ich sage dir: Außer mir ist niemand hier!≪
≫Wir haben alle gesehen, daß Ihr zu zweit seid.≪
≫Steck deinen Kopf herein und sieh selber nach!≪
Der Henker betrachtete jedoch mißtrauisch die starken, kralligen Fingernägel der Klausnerin.
≫Vorwärts! Mach weiter!≪ ermahnte ihn Tristan barsch, indem er gegen den Galgen zu reiten begann.
Der Henker aber kam mit verlegener Miene hinter ihm drein.
≫Wie soll ich in die Zelle gelangen, gnädiger Herr?≪
≫Durch die Türe.≪
≫Es ist keine da.≪
≫Also durch die Luke.≪
≫Die ist zu eng.≪
≫Dann hau sie mit einer Spitzhacke breiter aus.≪
Unter den scharf beobachtenden Blicken der verteidigungsbereiten Mutter ging der Henker in das Säulenhaus, aus dem er bald wieder mit einer Doppelleiter hervorkam, die er an den Galgen lehnen ließ. Dann winkte er sich ein halb Dutzend Soldaten herbei, die er im Säulenhause mit Spitzhacken und großen Brecheisen ausrüstete.
Inzwischen war Tristan wieder an die Luke des Rolandsturmes herangeritten.
≫Alte≪, sagte er streng, ≫ich rate dir, keine Geschichten zu machen!≪
Sie sah ihn an, als ob sie ihn nicht verstanden hätte.
≫Beim Haupte Gottes! Warum willst du die Hexe verteidigen, die auf Befehl des Königs zu hängen ist?≪
≫Warum?≪ lachte sie wahnsinnig, ≫warum? Weil sie meine Tochter ist!≪
Selbst der Henker erschauerte, als er dies vernahm.
Tristan aber sagte trocken:
≫Sehr bedauerlich. Aber des Königs Wille geht voran!≪
≫Was schert mich dein König?≪ rief sie voll grimmigen Hohns. ≫Ich sage dir, daß ich ihre Mutter bin!≪
≫Brecht die Mauer auf!≪ befahl Tristan.
Als die Arbeiten zur Erweiterung der Luke begannen, stieß die arme Mutter einen fürchterlichen Schrei aus. Flammenden Blickes rannte sie wie ein aufgescheuchtes Raubtier in der Zelle auf und ab.
Die Soldaten machten sich ohne sonderlichen Eifer an das Herausbrechen des Simses, ließen sich aber nicht abhalten, als die Klausnerin den ihr als Kopfkissen dienenden Stein zwischen sie warf.
Mittlerweile war es heller Tag geworden, und die Essen des Säulenhauses erglänzten rosenrot im aufgehenden Sonnenschein. Auf dem Grève-Plätze begann sich das alltägliche Leben zu entwickeln. Landleute und Obsthändler auf ihren Eseln zogen vorüber oder betrachteten neugierig die Vorgänge am Rattenloch.
Die Mutter hatte sich so vor ihrer Tochter niedergekauert, daß sie dieselbe gegen die Luke zu deckte, und betrachtete starren Blickes das Mädchen, welches unaufhörlich ≫Phöbus, mein Phöbus≪ vor sich hin wimmerte.
Als aber die Arbeiten an der Luke fortschritten, erwachte die Klausnerin aus ihrer Erstarrung. Sie drückte die Tochter ganz in den Winkel der Zelle hinein und schüttelte dann gegen die Außenwelt ihre Knochenfaust.
≫Räuber!≪ schrie sie, ≫Banditen! Wollt ihr mir mein Kind entreißen?! Feige Henkerseelenl Mordbrenner! Zu Hilfe! Wo ist der, den man Gott nennt?!≪
Und dann fuhr sie wie eine Pantherin an die Luke und fletschte den zurückfahrenden Generalprofosen an:
≫Komm her, du Schuft! Nimm mein Kind! Du Wolf, du! Hast du nie ein Junges gehabt?≪
≫Beeilt euch mit der Arbeit!≪ mahnte Tristan seine Leute.
Da setzten die Brecheisen ein, um die Schutzwehr der verzweifelten Mutter niederzureißen. Sie warf sich über diesen Steinblock und wollte ihn mit beiden Händen zurückhalten, während ihn die eisernen Brechstangen weghoben. Und als er, durch die vereinigte Hebel- und Armkraft von sechs Männern in Bewegung gesetzt, ihren Fingern entschlüpfte, stürzte sie sich quer vor der entstandenen Öffnung nieder, um den Zugang durch ihren Leib zu schließen.
Dabei schrie sie fortgesetzt, voll Wut und Verzweiflung, Mark und Bein erschütternd um Hilfe.
≫Ergreift endlich das Mädchen!≪ befahl Tristan.
Die Soldaten aber zögerten vor dem furchtbaren Blicke in dem wahnsinnigen Frauengesicht.
≫He, Henriet, vorwärts!≪ befahl der Generalprofos erneut.
Aber niemand hob den Fuß.
≫Beim Haupte Gottes! Habt ihr Angst vor einem alten Weib?!≪
≫Das ist eine Löwin und kein Weib≪, entgegnete der Henker.
≫Vorwärts! Die ersten drei Mann dort hinein! Wer zaudert, dem haue ich den Schädel auseinander!≪
Mit diesen barschen Worten zog der Generalprofos sein Schwert.
So zwischen Profos und Mutter geklemmt, entschlossen sich die Soldaten, gegen das Rattenloch vorzugehen.
Noch einmal versuchte es die Mutter mit flehentlichen Bitten und mit einer bewegten Schilderung des Verlustes und des Wiederfindens ihrer Tochter. Zwar wurde selbst der eiserne Tristan davon gerührt, aber er überwand diese Schwäche bald.
≫Der König≪, sagte er bloß kurz.
Und da der furchtbare Profos fühlte, daß selbst die Erinnerung an seinen gefährlichen Gebieter nicht stark genug sein würde, um diesem tragischen Schicksal gegenüber die Entschlossenheit zu bewahren, flüsterte er dem Henker zu:
≫Seht zu, daß Ihr ein Ende macht! Es muß sein!≪
Der Henker drang mit einigen Soldaten in die Zelle ein, nachdem die Mutter zu ihrer Tochter zurückgedrückt worden war. Erst jetzt erwachte Esmeralda aus ihrer Lethargie. Sie begriff, daß es noch andere Verluste gab als den des Geliebten.
≫Mutter≪, kreischte sie, ≫Mutter, hilf! Sie holen mich!≪
≫Kind, mein Kind≪, schluchzte die Unglückliche herzzerreißend, indem sie die Tochter mit Küssen bedeckte. Da faßte der Henker Esmeralda mitten um den zarten Leib, um sie aus den Mutterarmen zu reißen. Selbst ihm kamen dicke Tränen, als die arme Frau mit einem Wehlaute in Ohnmacht sank und dabei ihre Tochter so fest umklammerte, daß es unmöglich war, sie von ihr zu lösen. Man mußte daher mit der Tochter auch die der Mutter aus der Zelle zerren.
Jedenfalls beeilte er sich jetzt, um ein Ende zu machen, bevor die Mutter wieder zur Besinnung kam.
Die Sonne stand schon über dem Horizont, und auf dem Platze hatte sich bereits eine schaulustige Menge versammelt. Tristan ließ jedoch, seiner Gewohnheit nach, die Gaffer in respektvolle Entfernung treiben, so daß diese nicht recht wahrnehmen konnten, was da in Deckung des Soldatenkordons über den Boden geschleift wurde.
So verließ die Klausnerin zum ersten Male seit fünfzehn Jahren das Rattenloch, indem sie mit ihrer Tochter gegen den Galgen geschleppt wurde.
Schon schlang der Henker den fatalen Strick um den entzückenden Mädchenhals. Esmeralda war wieder in die frühere Erstarrung versunken, aber jetzt schlug sie die Augen zu dem steinernen Galgen auf. Ein Schauder schüttelte ihren zarten Körper und verzweifelt rief sie:
≫Nicht! Nicht!≪
Da kam auch die Mutter langsam zu sich und bedeckte ihr Kind mit Küssen. Das benützte der Henker, um rasch ihre Arme von Esmeralda zu lösen, was sie matt geschehen ließ. Dann nahm Henriet das Mädchen auf die Schultern und setzte den Fuß auf die unterste Sprosse der am Galgenarme lehnenden Leiter.
In diesem schrecklichen Augenblicke richtete sich die unglückliche Mutter langsam auf. Mit stierem Auge betrachtete sie die entsetzliche Gruppe; dann stürzte sie auf den Henker los und vergrub ihr Gebiß in seine rechte Hand.
Der Henker heulte auf vor Schmerz, und man mußte die zusammengebissenen Kiefer der Büßerin mit Messern auseinanderklemmen, um ihn zu befreien. Der Kopf der Klausnerin aber schlug leblos zu Boden. Ein Herzschlag hatte sie von allem Elend und Jammer erlöst.
Und nun begann der Henker mit seiner Last die Leitersprossen hinaufzusteigen.
Die weiße Gestalt
Als Quasimodo die Entdeckung machte, daß Esmeraldas Zelle leer war, begann er wie ein Irrsinniger in der Kirche umherzurennen. Er zerraufte sich dabei sein Borstenhaar und warf es büschelweise in alle Ecken und Winkel, während er die schauerlichsten Schreie ausstieß. Eben drangen auch die siegreichen Soldaten des Königs ein, um die Tänzerin zu suchen, und Quasimodo half ihnen eifrig dabei. Der arme Taube verstand ja nicht, zu welch unseligem Zwecke die Schergen das Mädchen haben wollten.
Für ihn war noch immer der Mob der Landstreicher Esmeraldas Feind.
Daher führte er selbst den Generalprofosen zu den verborgensten Plätzen des Domes. Er öffnete ihm bereitwillig die geheimen Türen, die Doppelböden der Altare und die Hinterkammern der Sakristeien.
Hätte sich die unglückliche Tänzerin noch in der Kathedrale befunden, so wäre es Quasimodo gewesen, der sie ihren Henkern auslieferte.
Und als selbst der auf einer frischen Fährte nicht so ermüdende Profos die Suche endlich aufgegeben hatte, fing Quasimodo erst von vorne wieder an.
Immer wieder und wieder durchmaß er den Dom von den Turmspitzen bis in die tiefsten Grüfte. Hundertmal stieg er von oben nach unten, von hinten nach vorn.
Er lief, schrie, spürte, witterte und suchte. In alle Löcher steckte er seinen Kopf, und jeden Winkel durchleuchtete er mit seiner Fackel.
Verstört irrte er umher, wie ein männliches Tier, das seine Artgefährtin verloren hat.
Endlich aber mußte er einsehen, daß Esmeralda nicht mehr im Bereiche von Notre-Dame war.
Langsam stieg er die Turmtreppe empor, die er noch vor einigen Stunden als siegreicher Verteidiger hinaufgestürmt war.
Die Kirche war wieder öde und leer, da sämtliche Häscher sich auf der Suche nach Esmeralda zerstreut hatten. Allein geblieben, trat Quasimodo in die Zelle, die wochenlang Esmeraldas Heim gewesen war.
Bevor er über die Schwelle schritt, hoffte er noch einmal, wenn auch gegen besseres Wissen, die Gesuchte vielleicht doch wieder hier zu finden.
Aber als er in dem einem Vogelneste ähnlichen Raume stand, sank ihm aller Mut. Er mußte sich an einen der Wandpfeiler lehnen, um nicht in die einknickenden Knie zu sinken.
Dann ging er langsam an das Bett und hob es auf. Natürlich auch vergebens. Dann schüttelte er das Haupt und warf mit einer plötzlichen, ärgerlichen Bewegung die Fackel zu Boden, um sie auszutreten. Wütend rannte er mit dem Kopf gegen die Wand, bis er taumelnd über Esmeraldas Bett fiel.
Wie ein Wahnsinniger küßte er die Stellen, auf denen noch der Eindruck von Esmeraldas Körper zu sehen war. Und dann blieb er bewegungslos liegen, als ob er seine Seele aushauchen wollte.
Endlich erhob er sich, schweißgebadet und sinnverwirrt, wie jemand, der nach langer, schwerer Krankheit wieder erwacht.
Und nochmals machte er den Versuch, seinen Schädel an der Wand zu zerschellen, bis er ein zweites Mal erschöpft zu Boden sank.
Dann schleppte er sich auf den Knien aus der Zelle, um an der Türe zu kauern und stumpfsinnig vor sich hinzustarren.
Stundenlang saß er so, Wie eine Mutter, die an der Wiege ihres verstorbenen Kindes sitzt, nachdenklich und düster, den Blick auf die von Esmeralda verlassene Zelle geheftet.
Heftiges Schluchzen schüttelte von Zeit zu Zeit seinen Leib, aber nicht eine Träne trat aus seinem Auge hervor. Sein Weinen glich den sommerlichen Blitzen, denen kein Donner folgt.
Vergeblich grübelte er lange darüber nach, wer Esmeralda entführt haben konnte. Dann erinnerte er sich, daß der Archidiakon den Schlüssel zu der Roten Pforte hatte. Er dachte an das neuliche Eindringen Dom Claudes und an den Überfall, den er selbst in der ersten Faschingsnacht im Auftrage des Archidiakons auf die Tänzerin ausgeführt hatte, Das und alle damit zusammenhängenden Nebenumstände ließen ihn nicht daran zweifeln, daß nur sein Meister die Tänzerin fortgebracht haben konnte.
Aber selbst in dieser Erkenntnis vermochte er weder über Haß noch Eifersucht gegen seinen Pflegevater zu empfinden. So tief wurzelten dankbare Liebe und Ergebenheit für den Archidiakon in seinem treuen Herzen. Statt Wut fühlte er nur einen qualvoll bohrenden Schmerz.
In dieser Stimmung sah er im Lichte des aufgehenden Morgens eine Gestalt die Balustrade des oberen Stockwerkes entlangwandeln.
Es war der Archidiakon, der schweren Schrittes herankam, dabei aber nicht in die Richtung des nördlichen Turmes blickte, sondern seinen Hals seitlich hochreckte, als ob er über die Häuser hinweg nach dem Grève-Platze sehen wollte.
In dieser seitwärts gerichteten Haltung glich der Priester einer Eule, die nach einem Punkte blickt und zu dem andern fliegt.
So ging Dom Claude zu Häupten Quasimodos vorüber, ohne ihn zu sehen. Bald war er im Treppeneingange zum nördlichen Turme verschwunden.
Man weiß, daß man von dieser Turmspitze aus den Steingalgen vor dem Säulenhause sehen konnte.
Quasimodo raffte sich auf und folgte dem Archidiakon vorsichtig nach.
Treppe auf Treppe ging er hinter ihm her, in der Hoffnung, etwas über Esmeraldas Verbleib erspähen zu können.
In seinem Herzen begann während dieses Aufstieges die Wut über die Entführung Esmeraldas mit der Ehrfurcht vor seinem Meister zu kämpfen.
Unter der Turmspitze angelangt, hielt sich Quasimodo im Schatten des Treppenganges zurück, um sich über die Bewegungen des Archidiakons zu versichern, bevor er auf die freie Plattform hinaustrat.
Dom Claude kehrte ihm den Rücken zu. Er lehnte an dem durchbrochenen Geländer des Glockenturms und schaute unverwandt gegen den Grève-Platz hinaus.
Leise, wie ein Wolf, schlich Quasimodo hinter ihm heran, um zu erfahren, was derart seine Aufmerksamkeit fesselte.
Der Priester achtete gar nicht darauf, ob etwas hinter seinem Rücken vor sich ging. Er hatte auch keinen Blick für das ihn umgebende glänzende Panorama des Sonnenaufganges, noch kümmerte er sich darum, was zu seinen Füßen auf dem Domplatze geschah.
Hier unten, auf dem Vorhofe der Kathedrale, erschienen bereits die ersten Hausfrauen mit ihren Milchtöpfen in der Hand und betrachteten verwundert die Zerstörungen am großen Portale und die geronnenen Bleiströme auf der Treppenrampe. Sonst war nicht mehr viel von dem nächtlichen Kampfe zu sehen. Quasimodos Scheiterhaufen war längst völlig niedergebrannt. Und Tristan hatte den Platz bereits räumen und die toten und schwerverwundeten Landstreicher in die Seine werfen lassen.
Unter Königen wie Ludwig XI. war es oberste Dienerpflicht, nach einer Metzelei das Pflaster schleunigst säubern zu lassen.
Knapp unter den Füßen des Archidiakons befand sich eine phantastische Dachrinne, in der zwei Levkojen blühten, die sich in der Morgenbrise wie lebende Wesen hin und her bewegten. Dom Claude hatte ebensowenig Interesse für diese seltsame Laune der Natur wie für das fröhhche Gezwitscher der ihn umschwirrenden kleinen Vögelchen.
Morgenröte, Blumen und Vögel waren ihm gleich. Der Brennpunkt seines Interesses war ein einziger, düsterer Platz.
Hinter ihm stand Quasimodo, der ebensowenig nach all den Herrlichkeiten dieses Morgens fragte. In ihm war ein einziges brennendes Verlangen, nämlich die Frage nach dem Schicksal der Tänzerin.
Solange er hierauf keine Antwort bekam, hätte das ganze Weltall einstürzen können, ohne daß er es bemerkt haben würde.
Aber er wagte es nicht, sich damit an den Archidiakon zu wenden. Denn dieser verharrte in einem so düsteren Schweigen und in einer so fürchterlichen Regungslosigkeit, daß Quasimodo hiervor ehrfurchtsvolle Scheu empfand.
Wohl aber sah er, wohin der Priester blickte.
Der von ihm verfolgte Augenstrahl des Archidiakons wies nach dem Galgen auf dem Grève-Platz.
Hier konnte Quasimodo die Leiter wahrnehmen, die gegen den Arm des Galgens lehnte. Außerdem bemerkte er viele Soldaten und an den Platzrand gedrückte Menschenhaufen.
Eben schleifte ein robuster Mann ein weißes Bündel hinter sich her, an dem ein schwarzer Klumpen hing.
Am Fuße des Galgens hielt diese sonderbare Gruppe an. Die nächsten Bewegungen derselben konnte Quasimodo nicht sehen, weil sich zu viele Soldaten ringsherum drängten.
Dann stieg ein Mann die Leiter hinauf. Es war derselbe vierschrötige Kerl, der früher das Bündel vorwärtsgezerrt hatte. Jetzt trug er es auf seiner Schulter, und für Quasimodo unterschied deutlich, daß es ein weißgekleidetes Weib mit einem Stricke um den Hals war.
Quasimodo erkannte sie sofort. Sie war es.
Stetig aufsteigend, hatte der Mann alsbald die Leiterspitze erklommen. Nun befestigte er das Ende des erwähnten Strickes am Galgenarm.
Um besser sehen zu können, beugte sich da der Archidiakon weit über das Geländer vor.
Plötzlich warf der Mann da drüben die Leiter mit einem kräftigen Fußtritte um, und im nächsten Augenblicke schlug der langgestreckte Strick wie ein mächtiges Pendel hin und her. An seinem Ende schwang, etwa zwei Klafter vom Erdboden entfernt, das unglückliche Kind, und auf seinen Schultern der Henker mit ihm.
Quasimodo sah, wie sich der Strick unter den Todeszuckungen des armen Opfers krümmte und straffte und wie der zusehende Archidiakon mit aus den Höhlen tretenden Augen nicht eine Phase dieses furchtbaren Todeskampfes verlor.
Von Schreck und Entsetzen gelähmt, starrte der Glöckner auf seinen Meister, als dieser urplötzlich in ein höllisches Hohngelächter ausbrach. Quasimodo konnte es nicht hören, aber er sah und fühlte es.
Vor seinem Auge kreisten rote Ringe, und eine aberwitzige Wut stieg in seiner Kehle hoch.
Wie ein beutegieriges Raubtier machte er einen Satz zurück, um desto besser anspringen zu können.
Dann schnellte er auf den Priester los, hob ihn mit beiden Fäusten an der Leibesmitte über die Balustrade hinaus und ließ ihn in die freie Tiefe fallen.
≫Verflucht!≪ war des Stürzenden Abschiedsgruß.
Er fiel vorerst nicht weit. Die Dachrinne zu seinen Füßen hemmte seinen Sturz, und mit beiden Händen klammerte er sich verzweiflungsvoll an dieselbe an.
Schon wollte er einen zweiten Schrei ausstoßen, als Quasimodos schreckliches Rächerantlitz über der Balustrade erschien. Da versagte dem Archidiakon das Wort.
Zweihundert Fuß tief unter Dom Claude gähnte der furchtbare Abgrund, der ihn zu verschlingen drohte. Aber kein Laut kam mehr über des Archidiakons Lippen. Er machte bloß die übermenschlichsten Anstrengungen, um sich auf die Dachrinne hinaufzuturnen. Jedoch mit den Armmuskeln allein war er zu schwach dazu, da seine Hände keinen rechten Griff hatten. Und mit den Füßen konnte er nicht nachstemmen, weil sich gerade unter der Dachrinne eine einwärts schwingende Buchtung in der Mauer befand und seine strampelnden Füße daher wirkungslos an der fliehenden schiefen Fläche abglitten. Der Elende erschöpfte somit bei allen seinen Anstrengungen nur seine Kraft.
Quasimodo war so nahe, daß er ihm durch ein bloßes Hinstrecken der Hand hätte aufhelfen können.
Aber er sah sein Opfer nicht einmal an.
Starr blickte er auf die schauerliche Richtstätte hinüber. Stumm, bewegungslos stand er an dem vorher vom Archidiakon eingenommenen Platze. Er verwandte keinen Blick von dem, was ihm das Teuerste auf dieser Erde gewesen war. Und unaufhörlich flossen dicke, bittere Tränen über seine rauhen Wangen hinab.
Indessen keuchte der Archidiakon zwischen Leben und Tod. Sein ganzer Körper war in kalten Schweiß gebadet, unter seinen krallenden Nägeln floß bereits das Blut, und seine Knie hatten sich an der Mauer zerschunden. Schon längst hätte er jeden Halt verloren, wenn nicht im Stürzen ein Teil seiner Soutane über die Spitze der Dachrinne gestülpt worden wäre. Aber dieses Kleidungsstück begann unter seiner Last in allen Nähten zu krachen, und der Augenblick war nicht mehr ferne, in dem es reißen mußte. Zudem bestand die Dachrinne nur teilweise aus Granit und endete in einem dicken Bleirohre, welches sich langsam zu biegen anfing.
Der Elende sah nur zu klar, daß das Ende da war, sobald seine Hände abglitten, der Rock riß und das Bleirohr nachgab.
Und das Entsetzen schüttelte seine Eingeweide derart, daß ihm totenübel wurde.
Verwirrten Blickes nach abwärts schielend, gewahrte er unter sich einen etwa zehn Fuß entfernten Vorsprung, der nach oben eine schmale Platte bildete. Und im Grunde seines geängstigten Herzen bat er den Himmel, sein Leben auf diesem schmalen Geviert verbringen zu dürfen, selbst wenn es hundert Jahre dauern sollte. Aber er sah keine Möglichkeit, im Hinabfallen auf dieser glatten Platte einen Halt zu finden. Die Haare standen ihm zu Berge, als sein Blick noch weiter hinab auf das Pflaster des Vorhofes fiel, und schleunigst schloß er die Augen, um diesen Schrecken nicht mehr zu sehen. Furchtbar war das Schweigen der beiden Männer. Oben weinte Quasimodo und stierte unablässig nach dem Hochgericht, während unbeachtet zu seinen Füßen sein Pflegevater mit einem entsetzlichen Tode rang.
Der Archidiakon hatte bald bemerkt, daß jede seiner Anstrengungen nur den einen schrecklichen Erfolg hatten, das Abbiegen des Bleirohres zu beschleunigen. Und er wußte nur zu gut, daß er längst nicht mehr die Kraft hatte, sich allein mit den Händen auf dem granitenen Teile der Dachrinne zu halten.
Er faßte daher den Entschluß, sich nicht mehr zu regen. So schwebte er, kaum noch atmend, mit starr aufgerissenen Augen. Und er durchlebte jede Zuckung des entsetzlichen Gefühles, das wir im Traume haben, wenn wir zu fallen vermeinen.
Nach und nach verloren seine Finger immer mehr und mehr Raum an dem glatten Stein, immer fühlbarer wurde die Schwäche seiner Arme, und immer schwerer schien ihm sein Körper zu sein. Stetig neigte sich das Bleirohr der Tiefe zu.
Schräg unter sich, klein wie ein geknicktes Kartenblatt, sah er den Giebel der St.-Johannes-Kapelle. Wohin sein angstvoller Blick auch streifte, alles war Stein, erbarmungsloser Stein, wie die Hauer in dem drohend und weit geöffneten Rachen eines fürchterlichen Ungeheuers. Und unten standen auf dem Domplatze einige Neugierige, die ganz gleichmütig zu erraten suchten, wer wohl der Narr sein konnte, der sich auf so absonderliche Weise die Zeit vertrieb. Da der Archidiakon keinen Hilferuf von sich gab, hatten die gedankenlosen Gaffer nicht das geringste Gefühl einer ihm drohenden Gefahr.
≫Er wird sich den Hals brechen≪, hörte mit seinem von der Todesangst geschärften Gehör der Archidiakon einen lauten Müßiggänger feststellen. Aber seine Zunge war wie gelähmt. Zudem wäre es für menschlichen Beistand von da unten doch bereits zu spät gewesen.
Nur einer konnte ihm noch helfen, sein in der Nähe befindlicher Pflegesohn.
Aber Quasimodo weinte über Esmeraldas Tod.
Mit Wut und Entsetzen erkannte der Archidiakon, daß jede Hoffnung vergeblich war. In einer letzten, verzweifelten Anstrengung sammelte er seine ganze vitale Kraft, um sich von selbst hinaufzuarbeiten.
Fast gelang es ihm.
Statt mit den Füßen stieß er sich mit den Oberschenkeln an der Mauer hoch, und schon glaubte er, das eine seiner Beine auf die Dachrinne schwingen zu können, als durch die Heftigkeit dieser Bewegung das Bleirohr nachgab. Die Augen schließend, fiel der Unglückliche in die Tiefe. Wie meist bei einem Sturze aus solcher Höhe, fiel er nicht in vertikaler Richtung hinab. Die unwillkürlich in der Luft einen Halt suchenden Arme und Beine verursachten ein immer rascheres Wirbeln des Körpers um seine eigene Achse, wodurch die Sturzbähn zu einer weit ausholenden Kurve wurde.
Der jetzt aufmerksam werdende Quasimodo sah, wie der Unglückliche zuerst auf das Dach eines Nebengebäudes aufschlug und sich hier vergeblich mit den Nägeln einzukrallen suchte. Aber der gerische Giebel war zu steil. Inimmer rascherer Fahrt glitt der Gestürzte ab und fiel dann wie ein losgelöster Ziegel schwer auf das Pflaster des Domplatzes hinab, wo er regungslos liegenblieb.
Quasimodo streifte die Leiche nur mit einem gleichgültigen Blick. Dann sah er wieder auf den Galgen hinüber, wo eine andere Leiche hing.
≫Alles, was ich geliebt habe≪, war sein bitterer Schluß.
Wie Phöbus endete
Als die Beamten des bischöflichen Gerichtes den zerschmetterten Leichnam des Archidiakons aufheben, sah man sich vergeblich nach seinem Pflegling um.
Quasimodo war und blieb verschwunden.
Durch diese Duplizität der Ereignisse entstanden die seltsamsten Gerüchte. Man zweifelte nicht mehr daran, daß dies alles nur die endliche Erfüllung des Vertrages war, den der Archidiakon mit dem Teufel geschlossen hatte. Und man nahm an, daß sich der Abgesandte Satans in Quasimodos Gestalt der Seele des Verstorbenen bemächtigt hatte und mit ihr zur Hölle gefahren war, nachdem er den Körper des Priesters zerschmettert hatte. So etwa, wie ein Affe seine Nußschale zertrümmert, um den Kern verspeisen zu können.
Infolgedessen wurde Dom Claude nicht in geweihter Erde bestattet.
Ein Jahr nach dieser Katastrophe starb auch Ludwig XI., im Monat August des Jahres 1483.
Peter Gringoire konnte die Ziege retten. Auch hatte er Erfolg als Dichter von Trauerspielen. Nachdem er die Astrologie, die Philosophie, die Architektur und die Alchimie durchkostet hatte, langte er beim Tollsten vom Tollen, bei der tragischen Dichtkunst, an. Er nahm also im wahrsten Sinne des Wortes ein tragisches Ende. Und nicht minder tragisch endete Phöbus von Châteaupers. Er wurde für seinen leichtfertigen Lebenswandel streng bestraft. Er wurde geheiratet.
Quasimodos Ausgang
Seit dem Sturze des Archidiakons blieb Quasimodo verschwunden. Nie erfuhr man, was aus ihm geworden war.
Esmeraldas Leichnam wurde, dem Brauche gemäß, in der auf ihre Hinrichtung folgenden Nacht vom Galgen abgenommen und von den Henkersknechten nach dem Beinhause der Richtstätte Monfaucon gebracht.
Dort war nämlich das mächtige Galgenpostament hohl. Und diese Höhlung war tief in die Erde hinein ausgegraben. Nach oben war sie mit einer verrosteten Eisengittertüre verschlossen. Durch diese warf man die Leiche der Hingerichteten hinein.
Es war dies die gemeinsame Gruft aller jener, die auf einer der Pariser Richtstätten ihr Leben verloren hatten. Hier moderten ebenso viele Verbrecher wie unschuldige Opfer einer barbarischen Justiz.
Hier warf man nur menschliche Abfälle hinein, nahm aber fast nie etwas heraus.
Aber etwa ein Jahr nach Ludwigs XI. Tod ereignete sich doch der seltene Fall, daß ein Leichnam aus diesem Massengrabe hervorgeholt werden sollte. Es war dies der Oliviers Le Daims, des gräflichen Barbiers, den nach seines Gönners Tod das wohlverdiente Schicksal erreicht hatte. Aber Karl VIII. hatte die Gnade gewährt, daß zwei Tage nach dem Gehängtwerden der Leichnam Oliviers in Saint-Laurent im eigenen Grabe beerdigt werden durfte.
Als man seine Leiche holen wollte, fand man in dem scheußlichen Abfallhaufen zwei Skelette, die sich innig umschlungen hielten. Es waren die Gerippe eines Mannes und einer Frau.
Um den Hals des weiblichen Skelettes sah man eine Kette aus Adrezarachperlen, an der ein mit grünem Glas besticktes Beutelchen hing. Zweifellos war es ein so wertloser Gegenstand, daß der Henker darauf verzichtet hatte, hier das ihm gebührende Erbe anzutreten. Das männliche Skelett hielt das weibliche innig in seinen Knochenarmen fest. Es hatte eine gekrümmte Wirbelsäule, einen zwischen den Schulterblättern sitzenden Kopf und ein kürzeres Bein. Da sein Nackenwirbel ungebrochen war, konnte sein ehemaliger Besitzer unmöglich auf dem Galgen aus dem Leben geschieden sein. Er war wohl im Beinhause selbst gestorben.
Als man die beiden Skelette voneinander lösen wollte, zerfielen sie zu Staub.
1Deutsch von Arthur von Riha (1958)
2Olivier Patru, französischer Schriftsteller und Advokat 1604–1681.
3Thibautodé — Thibaut aux dés (Thibaut mit den Würfeln).
4Französisch: Marguerite = Perle.
5Alles ist in der Philosophie und alle sind im Philosophen enthalten.
6Palimpseste sind die Pergamenthandschriften alter griechischer und römischer Klassiker, deren Texte im frühen Mittelalter von Klostermönchen ausgewischt wurden, um auf diese Weise das ihnen fehlende Schreibmaterial für ihre Heiligengeschichten zu erhalten. Die Wiederherstellung der kostbaren Urtexte ist eine eigene Wissenschaft.
7Gleichklang von à l’abricotier = ≫zum Aprikosenbaum≪ und ‘a l’abri cotier = ≫im Schutz der Lehenspflicht≪.
8Cathay, mittelalterliche Bezeichnung für China.
9Dieser Komet wurde von Papst Calixtus, einem Borgia und Onkel Alexanders VI., in den Bann getan. 1835 ist er wieder erschienen.
10Unter diesem irreführenden Titel barg sich ein Bund französischer Aristokraten, der sich gegen das Bestreben Ludwigs XI. richtete, die Königsmacht zu einer absoluten zu machen. Dieser Wesenszug der königlichen Hauspolitik wurde erst von Ludwig XIV. vollkommen erreicht.
11Phonetischer Gleichklang des lateinischen Tu ora (Bete du) mit dem französischen Trou aux rats (Rattenloch).
12Der Priester Johannes war nach einer spätmittelalterlichn Sage ein christlicher Fürst, dessen Herrschersitz in die Gegend des heutigen China oder Tibet verlegt wurde.
13Richter, nach der Form ihrer Barette.
14Sarabande, altspanischer Dreivierteltakt-Tanz mit Gesang- und Kastagnetten- oder Tamburinbegleitung.
15Fandango, spanischer Gesellschaftstanz irn Dreiachteltakt.
16Vgl. Einleitung
17Richtiger Manu (vgl. das deutsche Mensch), Sanskrit, Stammvater der Menschheit nach der indischen Schöpfungslehre, angeblicher Verfasser eines Gesetzbuches.
18Zoroaster, altpersisch Zarathustra, iranischer Prophet, vermutlich im achten Jahrhundert vor Christus. Gründer der Naturreligion von Licht und Finsternis. Hiervon Anbetung des Feuers.
19Averrhoes, eigentlich Ibn Roschd, arabischer Arzt und Philosoph, 1126–98, übersetzte und kommentierte den Arrstoteles.
20Córdoba, Andalusien, 755–1031 Residenz der maurischen Kalifen.
21Assommeur = Schlächter, Totschläger
22Croque-Oison entspricht dem deutschen Bauernfänger.
23Nach der damaligen Art der Zeitbestimmung ist damit die siebente Stunde nach Sonnenuntergang gemeint, Ende März also kurz nach 1 Uhr nachts.
24Man glaubte, daß, wie überall, so auch hinter dressierten oder schädlichen Tieren, Naturereignissen, Epidemien usw. der Teufel steckte.
25Der Orden vom Goldenen Vlies, der durch die Heirat Maximilians mit der Erbin von Burgund nachmals zum berühmten Habsburgischen Hausorden wurde.
26Kleine rotseidene Standarten, die züngelnden Flammen glichen. Die heilige Oriflamme war identisch mit dem aus der Gralssage bekannten ewigen Feuer auf Montsalvat und nebst Krone und Zepter das Wahrzeichen der französischen Königswürde.