Theophilus North – Ein Heiliger wider Willen

Thornton Wilder

1973

1

Frühling 1926. Theophilus North, ein junger Mann von knapp 30 Jahren aus Wisconsin, der wie Thornton Wilder als Sohn eines Zeitungsredakteurs in der Provinz aufgewachsen ist, in China deutsche Schulen besucht und in Yale Sprachn studiert hat, kommt unversehens nach Newport, Rhode Island, der Sommerresidenz der Reichen und der Superreichen, um sich von anstrengenden Lehrerjahren zu erholen.

Neun Ambitionen haben Theophilus Norths jugendliche Begeisterung entzündet — nicht immer der Reihe nach und mitunter gleichzeitig. Archäloge, Detektiv, Zauberer, Liebhaber, Schurke wollte er werden — der Schriftsteller war jedoch nicht vorgesehen. Kaum verdient er sich als Tennistrainer für Kinder und Sprachlehrer und Vorleser in vornehmen Häusern sein Brot, findet er schon Gelegenheit, gleich einem Schliemann in Troja, die Neun Städte von Newport zu entdecken und allen seinen Neigungen zu leben: er heilt mit »elektrischen« Händen ein junges Mädchen, er befreit einen alten Mann aus den Klauen seiner geldgierigen Familie, er entlarvt eine Fälscherbande und tröstet eine kinderlose Matrosenfrau.

Alle Abenteuer des Theophilos North sind von der neunten Ambition geprägt: ein freier Mensch zu sein, mit Menschen zu tun zu haben, ihr Schicksale teilnehmend zu gestalten, mit heller Vernunft, Witz und Freude am Spiel. Denn für Theophilus North — und für Thornton Wilder — ist der Mensch ein der Einsicht zugängliches, in der Beschränkung sich erfüllendes Wesen. Gewiß, den Ehrgeiz, ein Heiliger zu werden, hatte der Sechzehnjährige als vermessen empfunden, sobald er nicht mehr an die Existenz Gottes glaubte ; jetzt zeigen die Sommermonate in Newport Theophilus North aus Liebe zu den Menschen als Heiligen wider Willen.

Inhaltsverzeichnis

Die neun Ambitionen

Die neun Städte von Newport

Diana Bell

Das Wyckoff-Haus

»Neun Giebel«

RIP

Bei Mrs. Keefe

Die Fenwicks

Myra

Mino

Alice

»Der Hirschpark«

Bodo und Persis

Edweena

Der Dienstbotenball

Für Robert Maynard Hutchins

Die neun Ambitionen

Im Frühling 1926 kündigte ich meine Stellung auf.

Die ersten Tage nach einer solchen Entscheidung ähneln denen der Entlassung aus dem Hospital nach langer Krankheit. Man lernt langsam wieder gehen, hebt langsam und verwundert den Kopf.

Ich erfreute mich der besten Gesundheit, nur innerlich war ich erschöpft. Ich war viereinhalb Jahre lang als Lehrer an einer Knabenschule in New Jersey tätig gewesen und dreieinhalb Sommer lang als Tutor in einem von der Schule organisierten Ferienlager. Nach außen hin wirkte ich heiter und pflichtbewußt, aber im Grunde war ich zynisch und brachte andern Menschen, mit Ausnahme meiner nächsten Familienangehörigen, nur wenig Sympathie entgegen. Ich war neunundzwanzig Jahre alt, beinahe dreißig. Ich hatte zweitausend Dollar gespart — beiseite gelegt und nicht angetastet —, um entweder nach Europa zurückzukehren (ich hatte 1920/21 ein Jahr in Frankreich und Italien verbracht), oder um mich an irgendeiner Universität zu immatrikulieren.

Mir war noch gar nicht klar, was ich werden wollte. Auf keinen Fall Lehrer, obwohl ich wußte, daß ich dafür begabt war; dieser Beruf ist nur allzu häufig ein Sicherheitsnetz für solch unschlüssige Naturen wie mich. Ich mochte auch kein Schriftsteller werden, der seinen Unterhalt mit der Feder verdient; ich wollte viel tiefer ins Leben eintauchen. Sollte ich wirklich, was man so »schreiben« nennt, je aufgreifen, dann erst nach meinem fünfzigsten Jahr. Sollte es mir aber bestimmt sein, vorher zu sterben, besaß ich immerhin die Gewißheit, so vielfältige Erfahrungen wie nur irgend möglich gemacht zu haben — und nicht auf jenes noble, aber vorwiegend sitzende Streben nach den »schönen Künsten« beschränkt gewesen zu sein.

Berufe. Lebensläufe. Karrieren. Man tut gut daran, den Ambitionen, die in buntem Wechsel die Phantasie eines heranwachsenden Knaben oder Mädchens überfluten, Beachtung zu schenken. Sie hinterlassen tiefe Spuren. Wenn der erste Saft aufsteigt, läßt der zukünftige Baum bereits seine Umrisse erkennen. Wir werden durch die Verheißungen unserer Phantasie geformt.

Neun Ambitionen haben im Lauf der Jahre meine Begeisterung entzündet — nicht immer der Reihe nach, mitunter auch gleichzeitig; manche wurden begraben und später von neuem lebendig, mitunter sogar sehr lebendig, obschon in veränderter Form, und zu meiner eigenen Verwunderung waren sie erst wiederzuerkennen, nachdem die Ereignisse, die sie aus dem Unterbewußtsein heraufgeschwemmt hatten, bereits der Vergangenheit angehörten.

Die erste, und früheste, Ambition tauchte zwischen meinem zwölften und vierzehnten Jahr auf. Fast schäme ich mich, von ihr zu erzählen. Ich wollte ein Heiliger werden, ein Missionar unter primitiven Völkern. Ich hatte zwar noch nie einen Heiligen zu Gesicht bekommen, aber schon sehr viel darüber gehört und gelesen. Ich besuchte damals eine Schule in Nord-China, und die Eltern aller meiner Mitschüler (und auf ihre Art auch die Lehrer) waren Missionare. Es traf mich wie ein Schlag, als mir zum erstenmal auffiel, daß sie (vielleicht ohne es zu merken) die Chinesen für ein primitives Volk hielten. Ich wußte es besser. Trotzdem hat es mich nicht von meinem Plan abgebracht, als Missionar inmitten eines wirklich primitiven Stammes zu wirken. Ich würde ein beispielhaftes Leben führen und vielleicht sogar die Märtyrerkrone erringen. In den folgenden zehn Jahren überblickte ich allmählich die Schwierigkeiten dieser Laufbahn. So viel glaubte ich nun zu wissen, daß der Heiligenanwärter vollkommen in seiner Beziehung zu Gott aufgehen muß, in seinem Bestreben, Ihm zu gefallen und Seinen Kreaturen hier auf Erden zu dienen. Leider hatte ich bereits 1914 (in meinem siebzehnten Jahr) aufgehört, an die Existenz Gottes zu glauben; meine Vorstellung von dem zutiefst Göttlichen in meinen Mitmenschen (und in mir selbst) hatte sich verflüchtigt, und niemals würde ich den Geboten striktester Selbstlosigkeit, Wahrhaftigkeit und Keuschheit genügen können.

Vielleicht habe ich als Folge dieses kurzen Strebens eine zeit meines Lebens immer wieder auftauchende Kindlichkeit bewahrt. Mir fehlten Aggressionen und der Antrieb zum Wettkampf. Ich konnte mich über einfache Dinge freuen wie ein Kind, das am Meeresufer mit Muscheln spielt. Ich wirkte oft »leer« und abwesend. Manch einen störte das; sogar von mir geschätzte Freunde, Männer wie Frauen (vielleicht auch mein Vater), brachen die Beziehung ab mit dem Vorwurf, ich wäre nicht »seriös«, oder eben »einfältig«.

Meine zweite Ambition — eine Säkularisierung der ersten — war: Anthropologe unter primitiven Völkern, und dieses Interesse hat sich auch später immer wieder erneuert. Vergangenheit und Zukunft sind stets in uns gegenwärtig. Der Leser wird bemerken, daß der Anthropologe und sein Sprößling, der Soziologe, weiterhin durch dieses Buch geistern.

Dritte Ambition: Archäologe.

Vierte Ambition: Detektiv. Im dritten Collegejahr nahm ich mir vor, ein staunenerregender Detektiv zu werden. Ich las die einschlägige Literatur, nicht nur Kriminalromane, sondern auch Sachbücher über die verfeinerten wissenschaftlichen Methoden auf diesem Gebiet. Chief Inspector North sollte eine führende Rolle spielen unter allen, die unser Leben in dem braven Heim und der Werkstatt vor dem Einbruch des auflauernden Bösen und des Wahnsinns beschützen.

Fünfte Ambition: Schauspieler. Ein genialer Schauspieler. Diese Selbsttäuschung dürfte im Zusammenhang mit den übrigen acht Ambitionen nicht weiter überraschen.

Sechste Ambition: Zauberer. Ich hatte mir dieses Ziel nicht ausgesucht, und es fällt mir schwer, ihm einen Namen zu geben. Jedenfalls hatte es nichts mit Vorführungen auf einem Theater zu tun. Schon früh hatte ich eine heilende Kraft in mir entdeckt, eine Gabe, die an »Mesmerismus« erinnerte, oder — darf ich so sagen? — an Dämonenaustreibung. Ich begriff, worauf sich ein »Schamane« oder ein Medizinmann verläßt. Diese Gabe freute mich nicht, und ich machte auch nur selten davon Gebrauch: Er wurde mir, wie der Leser noch sehen wird, gelegentlich aufgezwungen. Ein gewisses Maß von Betrug und Quacksalberei gehört dazu. Je weniger Worte man darüber verliert, desto besser.

Siebente Ambition: der Liebhaber. Was für ein Liebhaber? Ein Allesfresser wie Casanova? Nein. Ein Liebhaber der edlen und erhabenen Frau, wie die provençalischen Troubadoure? Nein.

Jahre später hat mich ein höchst kenntnisreicher Gesprächspartner über den von mir vertretenen Typus belehrt. Sigmund Freud verbrachte jeden Sommer in Grinzing. Ich verbrachte damals auch einen Sommer in Grinzing und, ohne daß ich etwas dazu getan hätte, erhielt ich die Einladung, mich am Sonntagnachmittag zu seinen sogenannten »Plaudereien« in seiner Villa einzufinden. In einer dieser äußerst reizvollen Plaudereien kam auch die Rede auf den Unterschied zwischen »lieben« und »sich verlieben«.

»Herr Doktor«, sagte er, »kennen Sie eine alte englische Komödie — der Name ist mir entfallen —, in welcher der Held an einer ganz bestimmten Hemmung leidet? In Gegenwart von ›Damen‹ und wohlerzogenen Mädchen ist er scheu und stumm, er kann die Augen kaum vom Boden erheben. Aber in der Gegenwart von Dienst- und Barmädchen und den sogenannten ›emanzipierten Frauen‹ ist er äußerst dreist und unverschämt. Wissen Sie zufällig den Titel dieser Komödie?«

»Ja, Herr Professor, ›She Stoops to Conquer‹.«

»Und wer ist der Autor?«

»Oliver Goldsmith.«

»Danke vielmals. Wir Ärzte haben herausgefunden, daß Oliver Goldsmith auf beispielhafte Weise ein Problem dargestellt hat, das wir häufig bei unseren Patienten vorfinden. Ach, die Dichter haben alles gekannt.«

Er erklärte mir dann, wie dieses Problem mit dem Ödipus-Komplex zusammenhängt sowie mit dem Inzest-Tabu, demzufolge »ehrbare« Frauen, die mit der Mutter und den Schwestern des Mannes assoziiert werden, »jenseits des Erlaubten« stehen.

»Wissen Sie noch, wie der junge Mann heißt?«

»Charles Marlow.«

Er wiederholte den Namen, befriedigt lächelnd. Ich beugte mich vor und sagte: »Herr Professor, könnten wir dies nicht den Charles-Marlow-Komplex nennen?«

»Ja, das wäre durchaus angebracht. Ich habe schon lange nach einem passenden Namen gesucht.«

Theophilus litt, wie man so sagt (obwohl kein Leiden damit verbunden war), an dieser Hemmung. Mögen doch die anderen Monat um Monat den stolzen Schwan und die unnahbare Lilie umwerben und umschmeicheln und Theophilus die kecke Elster und das nickende Gänseblümchen überlassen!

Achte Ambition: der Schurke. Hier muß ich meine Zuflucht zu einem Fremdwort nehmen — el pícaro. Meine Neugier wirft ihre Netze weit aus. Mich hat immer ein Charakter fasziniert, der das Gegenteil meines neuenglisch-schottischen Erbes verkörpert — der Mann, der, einen Schritt dem Sheriff voraus, ein skrupelloses Leben führt, ohne festen Plan, ohne Ehrgeiz, am Rande der Ehrbarkeit; mit Vergnügen legt er die Dummköpfe herein, die Vorsichtigen, die Geldgierigen, die Nörgler und die Selbstgefälligen. Ich träumte davon, leichten Fußes, mit leichtem Gepäck und leichter Geldbörse die ganze Welt auszukundschaften, in Millionen Gesichter zu sehen und Hunger, Kälte und anderem Elend durch meinen Witz ein Schnippchen zu schlagen. Das gilt nicht nur für Betrüger, sondern auch für Abenteurer. Neiderfüllt hatte ich viele Lebensläufe studiert und dabei festgestellt, wie oft sie, zu Recht oder Unrecht, ins Gefängnis führten. Mein Instinkt sagte mir, und gelegentlich hatten Angstträume es mir bestätigt, daß eingesperrt zu sein das schlimmste Leiden sei, das ich mir vorstellen konnte. Zwar war ich hin und wieder ein fast gerissener Schurke gewesen, aber ich hatte mir vorher jedesmal das damit verbundene Risiko klar vor Augen geführt. Diese achte Ambition führt mich gradeswegs zu der letzten, die alle andern in den Schatten stellt.

Die neunte Ambition: ein freier Mensch zu sein. Man beachte all die andern nicht aufgegriffenen Projekte. Ich wollte weder Bankier, Kaufmann oder Rechtsanwalt werden, noch irgendeine Karriere einschlagen, die von Verwaltungs- und Aufsichtsräten bestimmt wurde — Politiker, Verleger, Weltreformer oder dergleichen kamen nicht in Frage. Ich mochte keinen Boß über mir dulden, überhaupt keine Beaufsichtigung. In all meinen Ambitionen drückte sich der Wunsch aus, mit Menschen zu tun zu haben — aber mit Menschen als Individuen.

Wie der Leser feststellen wird, wirkten alle diese Aspirationen weiterhin in mir fort. Wenn sie miteinander in Konflikt gerieten, brachten sie mir Scherereien; da sie aber einem inneren Bedürfnis entsprachen, verschaffte mir ihre Verwirklichung oft ein Gefühl tiefer Befriedigung.

Nach viereinhalb Jahren bedingter Gefangenschaft war ich nunmehr ein freier Mensch. Seit meiner Reise nach Übersee vor sechs Jahren hatte ich ein Tagebuch geführt (von dessen beträchtlichem Umfang das vorliegende Buch nur einen Auszug von viereinhalb Monaten bildet). Die meisten Eintragungen dieses Tagebuches zeichnen Charakterskizzen von Männern und Frauen, die ich kannte, und berichten von ihren Lebensläufen, soweit ich sie in Erfahrung bringen konnte. Ich selbst spielte nur die Rolle des Zeugen — obwohl sich einige noch unverdaute Brocken versuchter Selbstdarstellung unter den Notizen befinden. Fast könnte ich sagen, daß jene Porträtgalerie in den letzten zwei Jahren zu meinem eigentlichen Lebensinhalt geworden war. Erst viel später wurde mir klar, daß dieser Blick nach außen eine Form der Introspektion bildete. Wunderbar, wie die Natur immer wieder die Harmonie in uns herzustellen vermag.

Seit ich mich entschlossen hatte, meine Stellung aufzugeben, zwei Tage vor Verlassen der Schule, merkte ich, daß meine neugewonnene Freiheit mich verwandelte. Ich entdeckte den Geist des Spiels wieder — nicht des jugendlichen Spiels, des Sports (durch Regeln gebändigte Aggression), sondern des kindlichen Spiels, das nichts als Phantasie, nichts als Improvisation ist. Es stieg mir zu Kopf. Der Geist des Spiels fegte den Zynismus hinweg und die Gleichgültigkeit, die mich befallen hatten. Darüber hinaus erwachte in mir eine neue Bereitschaft zum Abenteuer, zum Risiko, das Verlangen, mich in das Leben anderer einzumischen, Spaß an der Gefahr zu haben.

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Der Zufall wollte es, daß ich 1926 von meiner Freiheit früher, als ich es erwartet hatte, Gebrauch machen konnte. Sechs Wochen vor Schulschluß brach in New Jersey eine Grippe-Epidemie aus. Die Schulklinik war schnell überbelegt, und Betten wurden im Turnsaal aufgestellt, der bald einem Lazarett glich. Eltern reisten an, um ihre Söhne mit nach Hause zu nehmen. Der Unterricht wurde abgebrochen und uns Lehrern freigestellt, wegzufahren. Ich ließ es mir nicht zweimal sagen. Ich kehrte nicht einmal mehr in mein Elternhaus in Connecticut zurück, da ich dort erst vor kurzem genußreiche Osterferien verbracht hatte. Einem Kollegen, Eddie Linley, hatte ich einen Wagen abgekauft unter der Bedingung, daß er ihn von unserer Schule in New Jersey zu seinem Haus in Providence, Rhode Island, fahren würde, wo ich ihn dann übernehmen wollte. Ich kannte den Wagen recht gut. Er gehörte zu dem Ferienlager in New Hampshire, in dem Eddie ebenfalls als Tutor angestellt war. Wir fuhren abwechselnd mit den anderen Lehrern die Schüler — meist in den größeren Fahrzeugen — zur Kirche, zum Tanz oder ins Kino. Der kleine Wagen, »Hannah« genannt nach dem damals populären Schlager »Hartherzige Hanna«, wurde für kürzere Routinefahrten eingesetzt: zum Postamt ins nächste Dorf, zum Einkaufen, zum Arzt, und gelegentlich entführte sie ein paar Lehrer zu einem gemütlichen Gläschen Calvados. »Hannah« konnte auf eine lange Dienstzeit zurückblicken und stand kurz vor dem Zusammenbruch. Zwei Jahre zuvor hatte die Direktion des Ferienlagers sie Eddie für fünfzig Dollar verkauft. Eddie war ein geborener Mechaniker. Die arme »Hannah« wollte sich nur noch auf irgendeinem Schutthaufen in New Hampshire zur Ruhe legen, aber Eddie hielt sie unermüdlich am Leben. Er wußte über ihre Mucken Bescheid, er nahm sich ihrer an. »Hannah« pendelte zwischen New Hampshire, Rhode Island, und New Jersey hin und her. Ich bot ihm fünfundzwanzig Dollar unter der Bedingung, daß er mir ein paar knappe Anweisungen für den Notfall mitgebe. Er willigte ein, und ich fuhr ihn nach Trenton und wieder zurück. »Hannah« benahm sich bewunderungswürdig. Er lud mich ein, ihn nach Providence zu begleiten, aber ich sagte ihm, ich wolle eine Nacht in New York bleiben und mich erst am nächsten Tag bei ihm melden. Er erklärte sich bereit, zwei kleine Koffer und ein paar Bücher mitzunehmen — die geringen Habseligkeiten, die sich in den Jahren meiner Lehrtätigkeit angesammelt hatten, darunter die beiden Bände meines kostbaren Tagebuchs. Ich fuhr nach New York nur mit einer leichten Reisetasche. Von diesem Tage an, einem Dienstag, war ich endgültig frei.

Damals fand ich New York die wunderbarste Stadt auf der Welt, und heute, nach etwa fünfzig Jahren, bin ich noch immer derselben Meinung. Ich hatte bereits viele andere Städte kennen- und liebengelernt: Rom und Paris, Hong-Kong und Schanghai, wo ich einen Teil meiner Jugend verbracht hatte; später sollte ich mich auch in London, Berlin und Wien zu Hause fühlen. Aber keine Stadt kann es mit New York aufnehmen, mit seiner Vielfalt, seiner Fülle an Überraschungen und mit seinem Klima.

Außergewöhnlich an diesem Klima sind nicht nur die extreme Hitze und Kälte, sondern die von Sonnenlicht strahlenden Tage im strengen Winter und jene wunderbaren Tage eines wohltemperierten Wetters, mit denen New York in den Monaten Juli und August gesegnet ist. Überdies glaubte ich damals (und glaube heute noch daran) an die immer wieder von sogenannten Autoritäten verbreitete Theorie, derzufolge sich ein magnetähnliches Band, ungefähr hundert Meilen breit und tausend Meilen lang, unterhalb des Erdbodens von New York bis Chicago hinzieht. Menschen in dieser Gegend werden von einem galvanischen Strom belebt, sie sind wach, erfinderisch, optimistisch und sterben früh. Herzerkrankungen durch Überanstrengungen kommen häufig vor; jeder steht vor der Wahl des Achilles, und er muß sie akzeptieren: entweder ein kurzes, aber bewegtes Leben oder ein ruhiges und ereignisloses. Männer, Frauen und Kinder sind sich der Kraft bewußt, die aus dem Pflaster von New York und Chicago aufsteigt (samt allen dazwischen liegenden Städten), vor allem im Frühling und Herbst. Entomologen berichten, daß sogar Ameisen in diesen Zonen sich schneller fortbewegen.

Ich hatte vor, die Nacht — wie meist — in dem Klubhaus der Verbindung zuzubringen, der ich während meines Studiums in Yale angehört hatte, und ich wollte mich für den Abend verabreden. Von meiner Schule in New Jersey aus hatte ich einige meiner Freundinnen angerufen.

»Guten Morgen, hier ist Dr. Caldwell aus Montreal. Kann ich Mrs. Denham sprechen?«

Der Butler antwortete. »Mrs. Denham ist in North Carolina, Sir.«

»O danke vielmals. Ich melde mich wieder, wenn ich das nächste Mal in New York bin.«

»Danke sehr, Sir.«

»Guten Morgen, hier ist Dr. Caldwell aus Montreal. Kann ich Miß LaVigna sprechen?«

»Welche Miß LaVigna, Anna oder Grazia?«

»Miß Grazia, bitte.«

»Grazia nicht mehr wohnen hier. Sie einen Job haben in Newark. ›Aurora Schönheitssalon‹. Im Telefonbuch.«

»Vielen Dank, Mrs. La Vigna. Ich werde dort anrufen.«

Ich war derart enttäuscht, daß ich meinen Plan änderte. Ich stieg in New York nur um und fuhr sofort nach Providence weiter. Ich übernachtete in einem Hotel und ging am nächsten Nachmittag bei Eddie Linley vorbei, um mein Auto abzuholen.

Ich war mir nicht ganz klar, wie ich den Sommer verbringen sollte. Man hatte mir gesagt, in der Provinz Quebec könne man verhältnismäßig billig leben. Ich würde mich also kurz in der mir kaum bekannten Gegend von Boston aufhalten, mir Concord ansehen, Waiden Pond, Salem, und dann durch Maine nach Norden fahren und meinem Vater eine Ansichtskarte aus seinem Geburtsort schreiben … irgend so etwas.

Mir genügte, am Steuer meines eigenen Wagens zu sitzen, die Straßen der Nördlichen Hemisphäre vor mir … dazu vier Monate ohne eine einzige Verpflichtung.

Die neun Städte von Newport

Am frühen Nachmittag stellte ich mich also bei Eddie Linley ein, um »Hannah« und meine Sachen abzuholen. Ich bat Eddie, während der Fahrt durch die Stadt neben mir zu sitzen und mich noch einmal über die Idiosynkrasien des alten Autos zu unterrichten.

Plötzlich fiel mein Blick auf ein Schild: Newport, 30 Meilen

Newport! Ich wollte Newport wiedersehen, wo ich vor sieben oder acht Jahren gedient hatte, allerdings bescheiden, erst als Gemeiner, dann als Korporal der Küsten-Artillerie, die die Bucht von Narragansett verteidigen mußte.

In meiner Freizeit hatte ich oft auf langen Spaziergängen die Gegend durchstreift, und ich hatte die Stadt liebengelernt, die Bäume, das Meer, das Wetter, den nächtlichen Himmel. Ich kannte dort nur eine einzige Familie, gastfreundliche Menschen, die dem Gebot »Jeden Sonntag ein Soldat zum Abendessen« nachgekommen waren, und die Einwohner der Stadt hatten auf mich einen recht guten Eindruck gemacht. Von dem berühmten »Kurort der Schwerreichen« war wenig zu sehen, ihre Luxusvillen blieben den Blicken Neugieriger entzogen, und da das Benzin rationiert war, drehten sich nicht viele Räder auf der Bellevue Avenue. Als ich das Schild entdeckte, fiel mir ein, ich könnte mir durch eine Teilzeitbeschäftigung meinen Lebensunterhalt verdienen und brauchte meine Ersparnisse gar nicht anzugreifen. Ich setzte Eddie vor seiner Tür ab, schüttelte den verschiedenen Familienmitgliedern die Hände, bezahlte ihm die fünfundzwanzig Dollar, und los ging’s nach Newport auf der Insel Aquidneck.

Was für ein Tag! Was für ein Vorgeschmack des noch immer sich verzögernden Frühlings! Wie viele Anzeichen, daß ich mich dem Meer näherte!

»Hannah« benahm sich recht gut bis zur Stadtgrenze, dort begann sie zu husten und zu stolpern. Wir schafften aber noch Washington Square, wo ich anhielt und mich nach der Adresse des »Christlichen Vereins Junger Männer« erkundigte, nicht des CVJM für Soldaten und Matrosen gleich vor meiner Nase, sondern des CVJM für Zivilisten. Ich ging in einen Laden, in dem Zeitungen, Postkarten usw. verkauft wurden — die Besitzer treffen wir in dem Kapitel »Nino« —, und fragte telefonisch beim CVJM an, ob noch ein Zimmer frei wäre. Ich fügte munter hinzu, ich sei unter dreißig, als Angehöriger der Ersten Kongregationalen Kirche in Madison, Wisconsin, getauft und im übrigen ein ziemlich umgänglicher Mensch.

Eine müde Stimme antwortete: »Wozu die Aufregung, mein Lieber? Geht in Ordnung. Fünfzig Cents pro Nacht.« »Hannah« verweigerte die Weiterfahrt, ließ sich dann aber überreden, in die Thames Street einzubiegen. Ich hielt vor »Josiah Dexter. Garage. Reparaturen«. Ein Mechaniker untersuchte »Hannah« lange und nachdenklich und murmelte einige mir unverständliche Worte.

»Wieviel kostet das alles ungefähr?«

»Sieht mir nach fünfzehn Dollar aus.«

»Kaufen Sie alte Autos?«

»Mein Bruder. Josiah! Josiah!«

Das war im Jahre 1926, als alle Mechaniker, Elektriker und Klempner nicht nur zuverlässig waren, sondern auch in hohem Ansehen standen als Eckpfeiler eines jeden Haushalts, der etwas auf sich hielt. Josiah Dexter war viel älter als sein Bruder. Er hatte eins von jenen Gesichtern, wie man sie jetzt nur noch auf Daguerreotypien von Richtern und Vikaren findet. Auch er untersuchte das Auto. Sie berieten miteinander.

Ich sagte: »Ich verkaufe Ihnen den Wagen für zwanzig Dollar, wenn Sie mich und mein Gepäck zum CVJM fahren.«

Josiah Dexter sagte: »Abgemacht.«

Wir luden mein Gepäck in seinen Wagen um, und ich wollte schon einsteigen, als ich sagte: »Einen Augenblick!« Die Luft war mir zu Kopf gestiegen, war ich doch etwa eine Meile von dem Ort entfernt, an dem ich mit zwanzig und einundzwanzig Jahren einen Teil meines Lebens verbracht hatte. Ich drehte mich zu »Hannah« um und streichelte ihre Haube. »Lebwohl, Hannah, nichts für ungut, beiderseits. Verstehst du?« Dann flüsterte ich in den einen Scheinwerfer, der mir am nächsten war: »Alter und Tod kommen zu jedem von uns. Sogar der müdeste Fluß windet sich dem Meer entgegen. Oder wie Goethe sagt: ›Balde ruhest du auch‹.«

Dann setzte ich mich neben Mr. Dexter. Nachdem er langsam einen Block entlang gefahren war, sagte er: »Haben Sie den Wagen lange gehabt?«

»Genau eine Stunde und zwanzig Minuten bin ich der Eigentümer dieses Wagens gewesen.«

Nach dem nächsten Block: »Regt Sie alles so auf, das Ihnen gehört?«

»Mr. Dexter, ich war im Krieg auf Fort Adams stationiert. Jetzt bin ich wieder hier, seit einer Viertelstunde wieder in Newport. Es ist ein wunderbarer Tag. Es ist ein wunderbarer Ort. Ich bin überdreht. Traurigkeit ist die Kehrseite des Glücks.«

»Darf ich Sie fragen, was Sie zu dem Auto gesagt haben?«

Ich wiederholte meine Abschiedsworte, wobei ich ihm das Zitat ins Englische übersetzte. »Es sind Gemeinplätze, Mr. Dexter, aber in letzter Zeit habe ich eingesehen, wenn wir vor Gemeinplätzen zurückschrecken, schrecken die Gemeinplätze vor uns zurück. Ich mache mich nie über die Gedichte von Henry Wadsworth Longfellow lustig, der so viele glückliche Wochen in und um Newport verbracht hat.«

»Ich weiß.«

»Können Sie mir sagen, wo ich hier ein Fahrrad mieten kann?«

»Bei mir.«

»Dann werde ich in einer Stunde bei Ihnen in der Garage vorsprechen. Mr. Dexter, hoffentlich nehmen Sie mir meine Verdrehtheit nicht übel!«

»Wir Neu-Engländer haben dafür nicht viel übrig, aber ich habe nichts Kränkendes gehört. Was hatte dieser Deutsche doch gleich gesagt?«

»Er sprach zu sich selbst in einem Gedicht, spät in der Nacht, in einer Holzhütte im tiefen Wald. Er schrieb die Verse auf die Bretterwand. Sie hörten die letzten Worte des berühmtesten Gedichtes in deutscher Sprache. Er war Anfang dreißig. Mit dreiundachtzig fand er seine Ruhe.«

Wir hatten den Eingang des CVJM erreicht. Er hielt und saß einen Augenblick still da, die Hand auf dem Steuerrad, dann sagte er: »Morgen sind es fünf Wochen, daß ich meine Frau verloren habe … Sie hat viel von Longfellows Gedichten gehalten.«

Er trug mit mir das Gepäck in die Halle, drückte mir einen-Zwanzig-Dollar-Schein in die Hand, nickte kurz und sagte: »Guten Tag auch«, und verließ das Gebäude.

Eine Stunde später war Josiah Dexter nicht in seiner Garage, aber sein Bruder half mir, ein Velo — wie man damals sagte — auszusuchen. Ich fuhr die Thames Street entlang und dann den »Zehn-Meilen-Fahrweg«, vorbei an dem Eingang zu Fort Adams (»Korporal North, T!« — »Hier!«), vorbei an Agassiz-Haus (»Selten ist ein großer Reichtum an Wissen so leicht getragen worden«) bis zur Seemauer vor dem Budlong-Haus. Den Wind im Gesicht, schaute ich über das glitzernde Meer in Richtung Portugal.

Noch vor sechs Monaten — ich fühlte mich innerlich ja so erschöpft — hatte ich einen Kollegen abgekanzelt: »Schlag dir diese Ideen aus dem Kopf. Das Meer ist weder grausam noch freundlich. Es ist so wesenlos wie der Himmel. Nur eine große Ansammlung von H2O. Und selbst Worte wie ›groß‹ oder ›klein‹, ›schön‹ oder ›gräßlich‹ entsprechen lediglich den Vorstellungen und Wertbegriffen, die ein menschliches Wesen von durchschnittlicher Körpergröße darauf projiziert. Ebenso dichtet man Farben und Formen gerne Eigenschaften an, die dem entsprechen, was wir als angenehm oder unangenehm, eßbar oder ungenießbar, sexuell anziehend, unsern Sinnen schmeichelnd und dergleichen empfinden. Die ganze physische Welt ist eine leere Seite, auf der wir unsere ständig wechselnden Bemühungen, uns unserer Existenz bewußt zu werden, aufschreiben oder ausradieren. Beschränke dein Staunen auf ein Glas Wasser oder einen Tautropfen — beginne dort, du wirst nicht weiterkommen.« Aber an diesem Nachmittag spät im April brachte ich nur mühsam die Worte hervor: »O Meer! O mächtiger Ozean!«

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Ich fuhr die zehn Meilen der berühmten Straße nicht ganz ab, sondern kehrte auf einer Abkürzung in die Stadt zurück. Ich wollte durch ein paar Straßen gehen, die ich so oft während meines ersten Aufenthaltes in dieser Stadt durchwandert hatte. Vor allem wollte ich die Bauten meiner Lieblingsepoche — des achtzehnten Jahrhunderts — wiedersehen, Kirche, Rathaus, Villen, und dann die herrlichen Bäume von Newport: mächtig, schattenspendend und mannigfaltig. Im östlichen Teil von Rhode Island begünstigt das Klima, nicht der Boden, das Wachstum großer exotischer Bäume. Eine ganze Generation von Gelehrten hatte sich offenbar ein Vergnügen daraus gemacht, ausländische Bäume auf der Insel Aquidneck anzupflanzen, und danach hatte eine ganze Generation von Hochseeseglern miteinander gewetteifert, Exemplare aus fernen Ländern hierher zu bringen. Viel Mühe war damit verbunden gewesen. Karawanen von Eisenbahnwaggons hatten Erde aus dem Inneren herbeigeschleppt. Später stellte sich heraus, daß viele Bewohner nicht einmal die Namen der schönen Bäume auf ihrem Anwesen kannten. »Wir glauben, dies hier ist ein indischer Feigenbaum oder ein … Arekanusbaum.« »Ich glaube, Großvater hat gesagt, der hier stammt aus Patagonien … Ceylon … Japan …«

Zu meinen später wieder aufgegebenen Ambitionen hatte auch der Archäologe gehört. Ich hatte in Rom sogar fast ein Jahr dem Studium der Archäologie, ihren Methoden und Fortschritten gewidmet. Aber schon viel früher war ich — wie viele andere Jungen — von Schliemanns Entdeckung des antiken Troja fasziniert: neun Städte lagen dort übereinander. In den viereinhalb Monaten, über die dieses Buch berichtet, stellte ich fest, daß Newport sich aus neun Städten zusammensetzte, einige waren übereinandergelagert, andere ohne nähere Beziehung zu den übrigen geblieben, jede war auf ihre Weise schön, eindrucksvoll, absurd oder nichtssagend, und die eine beinahe schmutzig.

Die erste Stadt — sie trägt die Spuren der ersten Siedler — ist ein Dorf aus dem siebzehnten Jahrhundert mit dem berühmten runden Turm aus Stein, der, Schauplatz von Longfellows Gedicht »Das Gerippe in Waffen«, noch lange Zeit für ein Überbleibsel aus der Zeit der Wikinger gehalten wurde. Heute glaubt man, daß es sich um eine alte Mühle handelt, erbaut von dem Vater oder Großvater Benedict Arnolds.

Die zweite Stadt stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert und weist einige der schönsten öffentlichen und privaten Gebäude Amerikas auf. Es war diese Stadt, die eine so wichtige Rolle im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg spielte, denn von ihr aus führten die begeisterten und hochherzigen französischen Freunde unserer Erhebung unter Rochambeau und Washington die Kampagne zur Vertreibung der Briten aus ihren Stützpunkten entlang der Küste, was dem Krieg die Wendung zum guten Ende geben sollte.

Die dritte Stadt besteht aus den Überresten eines der blühendsten Seehäfen Neu-Englands, die sich jenseits der Thames Street in das zwanzigste Jahrhundert hinüberretten konnten. Die dritte Stadt mit ihren Werften und Docks und nach Teer und Werg riechenden Krämerläden, ihren flüchtigen Ausblicken auf trocknende Netze und zum Flicken ausgelegte Segel ist jetzt im wesentlichen auf die vor Anker liegenden Yachten und Vergnügungsdampfer angewiesen; ihre Vergangenheit lebt fort in einer Reihe schmutziger Bars und Tavernen, wie sie die Seeleute lieben, in die sich aber eine Landratte kaum ein zweites Mal wagen würde.

Die vierte Stadt gehört dem Heer und der Marine. Schon seit langem gibt es ein ganzes System von Festungswerken, um die Bucht von Narragansett zu verteidigen. Der Kriegshafen und die Ausbildungsstation sind während des Krieges beträchtlich ausgebaut worden — es ist eine Welt für sich.

Die fünfte Stadt wird seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts von einigen hochintellektuellen Familien aus New York, Cambridge und Providence bewohnt, nachdem sie das schöne Newport als Sommerfrische entdeckt hatten. (Nur wenige Leute aus Boston tauchten hier auf, da sie ihre Sommerfrischen an der Nord- oder Südküste verbrachten.) Der Philosoph in der Nachfolge Swedenborgs, Henry James, brachte seine Familie hierher, darunter der junge Philosoph William James und der junge Romancier Henry James. In seinem letzten, unvollendeten Roman »Der Elfenbeinturm« kehrt dieser in seiner Erinnerung zu den Häusern und Gärten zurück, die vom Klippenweg eingesäumt werden. Hier lebte bis in ihr hohes Alter Julia Ward Hower, Verfasserin des »Kampflieds der Republik«. Eine ganze Schar von Harvardprofessoren hatte sich eingefunden. Das Haus von John Louis Rudolph Agassiz, an dem ich soeben vorbeigefahren war, hatte man in ein Hotel umgewandelt, und das ist es bis heute, 1927, geblieben. Bei einem späteren Besuch gelang es mir, das fünfeckige Turmzimmer zu reservieren, und von diesem magischen Raum aus konnte ich nachts die Lichter von sechs verschiedenen Leuchttürmen sehen und das Heulen oder Läuten von ebenso vielen Bojen hören.

Die sechste Stadt wurde von den Millionären errichtet, den Unternehmensgründern, die von ihren Schlössern am Hudson oder ihren Villen in Saratoga Springs gekommen waren, da sie plötzlich gemerkt hatten, wie entsetzlich heiß der Sommer im Staate New York sein kann. Mit ihnen erschienen Eleganz, modischer Wettbewerb und das befriedigende Gefühl der Exklusivität. Dieses sogenannte »Große Zeitalter« war längst vorbei, vieles freilich blieb davon übrig.

In einer Großstadt mischt sich die Armee der Dienstboten mit der übrigen Bevölkerung, aber auf einer kleinen Insel, und gar einem kleinen Teil dieser Insel, bilden die Dienstboten eine siebente Stadt. Alle, die den Vordereingang des Hauses, in dem sie leben, nur betreten, um ihn zu putzen, werden sich ihrer Unentbehrlichkeit inne und entwickeln eine Art Untergrundsolidarität.

Die achte Stadt (wie die siebente Stadt von der sechsten abhängig) bevölkern Schlachtenbummler und Parasiten: neugierige Journalisten, Detektive, Mitgiftjäger, halbverrückte Anwärter auf soziales Prestige, Propheten, Gesundbeter, fragwürdige Protégés beiderlei Geschlechts — wunderbares Material für mein Tagebuch.

Endlich gab, gibt es und wird es noch lange geben die neunte Stadt des amerikanischen Mittelstandes, die Handel treibt, Kinder aufzieht und ihre Toten begräbt, viel zu beschäftigt, um den acht so eng benachbarten Städten besondere Beachtung zu schenken.

Ich beobachtete sie alle und machte meine Aufzeichnungen: allmählich fühlte ich mich wie Gulliver auf der Insel Aquidneck.

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Am Morgen nach meiner Ankunft holte ich mir Rat bei einem Mann, zu dem ich eine entfernte Beziehung zu haben glaubte — William Wentworth, Direktor des Casino. Vor zehn Jahren hatte mein Bruder noch während seines Studiums in Yale an den Tennis-Meisterschaften von New England teilgenommen und einen der vorderen Plätze belegt. Er hatte mir von Mr. Wentworths gewinnendem Wesen und seiner unermüdlichen Hilfsbereitschaft erzählt. Ich schlenderte durch den Eingang, besichtigte die Tennisplätze und die Anlage der Zuschauertribüne. Das Gebäude war — wie auch andere in Newport — von dem ebenso brillanten wie unglücklichen Architekten Stanford White entworfen worden. Wie jedes seiner Werke war es zugleich hervorragend durchdacht und phantasievoll. Obwohl der Frühling erst begonnen hatte, bildeten die berühmten Rasenplätze bereits einen Teppich aus Grün.

Ich klopfte an die Tür der Verwaltung und wurde von einem frisch aussehenden Mann um die Fünfzig eingelassen. Er streckte seine Hand aus und sagte: »Guten Morgen, Sir. Bitte nehmen Sie Platz. Womit kann ich Ihnen dienen?«

Ich erzählte ihm, daß mein Bruder an den Tennismeisterschaften teilgenommen hatte.

»Lassen Sie mich mal nachdenken. Neunzehnhundertsechzehn. Hier ist sein Bild. Und hier ist sein Name auf dem Pokal. Ich erinnere mich noch sehr gut an ihn, ein feiner Junge und ein erstklassiger Tennisspieler. Was macht er jetzt?«

»Er ist Geistlicher.«

»Gut«, sagte er.

Ich erzählte ihm von meinem Militärdienst auf Fort Adams. Ich erzählte ihm, daß ich vier Jahre ununterbrochen unterrichtet hatte, daß ich Abwechslung brauchte und einen weniger anstrengenden Stundenplan. Ich zeigte ihm den Entwurf einer Annonce, die ich in die Zeitung setzen wollte, und bat ihn um die Gefälligkeit, eine Abschrift davon mit Reißzwecken an das schwarze Brett des Casino zu heften. Er las und nickte.

»Mr. North, die Saison fängt erst an, aber es gibt immer Schüler, die aus irgendeinem Grunde jetzt zu Hause sind und einen Tutor brauchen. Meist wenden sie sich an die Lehrer der in der Nähe gelegenen Schulen, aber die Lehrer haben gegen Ende des Semesters kaum noch Zeit für sie. Vielleicht können Sie ihnen einige Schüler abnehmen. Aber es gibt noch eine andere Gruppe, die Ihre Dienste gewiß sehr gerne in Anspruch nimmt. Würden Sie sich bereit erklären, alten Leuten mit schlechten Augen vorzulesen?«

»Ja, Mr. Wentworth.«

»Alle nennen mich Bill, ich hingegen nenne jeden über sechzehn Mister. Spielen Sie auch Tennis?«

»Natürlich nicht so gut wie mein Bruder, aber ich bin zum Teil in Kalifornien aufgewachsen, und da spielt jeder Tennis.«

»Glauben Sie, daß Sie Kindern zwischen acht und fünfzehn Trainerstunden geben könnten?«

»Ich habe zahllose Trainerstunden gehabt.«

»Bis um zehn Uhr dreißig sind drei Plätze für Kinder reserviert. Der angestellte Trainer trifft erst Mitte Juni ein. Ich werde Ihnen gleich eine Tennisklasse zusammenstellen. Ein Dollar pro Stunde und Kopf. Sie können zwei Dollar pro Stunde für Ihr Vorlesen verlangen. Haben Sie Ihre Tennissachen mitgebracht?«

»Ich kann mir leicht welche beschaffen.«

»Wir haben ein ganzes Hinterzimmer voll mit diesem Zeug, weggeworfen, verloren, vergessen und so weiter. Ich habe sogar einen ganzen Stoß Flanellhosen auf Vorrat, chemisch gereinigt, damit sie nicht verkommen. Auch Schuhe und Schläger in allen Größen. Ich zeige Ihnen alles später. Können Sie tippen?«

»Ja, Bill.«

»Gut, dann setzen Sie sich mal hier an diesen Tisch und tippen Sie Ihre Annonce für die Zeitung. Sie sollten sich übrigens ein Postfach für die Antwortbriefe mieten. Und geben Sie die Telefonnummer des CVJM an. Ich muß mich jetzt um die Handwerker kümmern.«

Freundlichkeit ist nichts Ungewöhnliches, aber Freundlichkeit mit schöpferischer Phantasie verbunden, kann umwerfend wirken.

Ich bin selbst mitunter altruistisch — aber nur aus Freude am Spiel. Geben ist einfacher als nehmen. Ich schrieb:

T. Theophilus North

Yale, 1920. Lehrer an der Raritan-Schule in New Jersey; 1922-1926. Tutor für Schul- und Collegeexamen in Englisch, Französisch, Deutsch, Latein und Algebra. Mr. North steht zum Vorlesen in den genannten Sprachen sowie im Italienischen zur Verfügung. Zwei Dollar die Stunde. Adresse: CVJM, Zimmer 41

Ich ließ die Anzeige in drei aufeinanderfolgenden Ausgaben der Zeitung erscheinen.

Schon nach vier Tagen gab ich Trainerstunden auf dem Tennisplatz, und die Arbeit machte mir Spaß. (Früher hatte ich mich für Tennis nicht sonderlich interessiert. Im Casino fand ich ein paar Handbücher mit vielen Eselsohren: »Die neue Tennisschule«, »Tennis für Anfänger«. Auch respektablere Berufe als der meine können nicht auf ein Element von Bluff verzichten.) Eine Woche lang bekam ich täglich Briefe und Telefonanrufe. Einer der ersten Briefe enthielt die Aufforderung, mich in den »Neun Giebeln« vorzustellen, was zu Komplikationen führen sollte — doch davon später. Eine alte Dame verlangte, ich solle aus den Werken von Edith Warton vorlesen, da sie Mrs. Warton noch gekannt hatte, als sie in Newport lebte; und derlei mehr. Die Telefonanrufe boten eine bunte Palette. Zum erstenmal machte ich die Erfahrung, wer sich der Öffentlichkeit stellt, läuft Gefahr, mit Spinnern, wie man sie leichthin nennt, in Kontakt zu kommen. Eine zornige Stimme ließ mich wissen, daß ich ein deutscher Spion wäre und daß »wir Sie nicht aus den Augen verlieren werden«. Eine Frau wollte mich überreden, Globo zu lernen und zu lehren, um die Welt auf den ewigen internationalen Frieden vorzubereiten.

Andere Anrufe muteten mir mehr zu.

»Mr. North, hier spricht Mrs. Denbys Sekretärin. Mrs. Denby möchte gerne wissen, ob Sie ihren Kindern jeden Donnerstagnachmittag zwischen drei Uhr dreißig und sechs Uhr dreißig vorlesen könnten.«

Ich merkte sofort, daß es sich um den freien Nachmittag des Kindermädchens handelte. Ich war noch immer leicht verdreht und zu allerhand Streichen aufgelegt. Am Telefon kann ich viel deutlicher und sogar unhöflicher werden als bei einer persönlichen Begegnung. Das liegt vermutlich daran, daß ich dem andern nicht in die Augen zu sehen brauche.

»Darf ich fragen, wie alt Mrs. Denbys Kinder sind?«

»Nun … sie sind sechs, acht und elf Jahre alt.«

»Wünscht Mrs. Denby, daß ich ihren Kindern ein bestimmtes Buch vorlese?«

»Das überläßt sie ganz Ihnen, Mr. North.«

»Ich danke Mrs. Denby. Würden Sie ihr bitte ausrichten, daß es unmöglich ist, ein Kind länger als vierzig Minuten lang mit einem Buch zu beschäftigen. Ich schlage vor, daß die Kinder Streichhölzer als Spielzeug erhalten sollten.«

»Oh!«

Ende des Gesprächs.

»Mr. North, Mrs. Hugh Cowperthwaite ist am Apparat. Ich bin die Tochter von Mr. Eldon Craig.«

Sie machte eine Pause, um mich die Würze des mir eingeräumten Privilegs auskosten zu lassen. Ich habe immer vergessen, woher der Reichtum meiner Arbeitgeber stammte. Bis heute weiß ich nicht, ob Mr. Craig in dem Rufe stand, er verdiene jedesmal einen halben Dollar, wenn die Tür eines Lastwagens mit Gefrierfleisch sich schloß, oder er verdiene ein Zehn-Cent-Stück, wenn ein Schlächter eine neue Rolle von braunem Packpapier holte.

»Ja, gnädige Frau?«

»Mein Vater möchte mit Ihnen besprechen, ob es Ihnen möglich wäre, ihm die Bibel vorzulesen … Ja, die ganze Bibel. Er hat sie bereits elfmal gelesen, und er möchte wissen, ob Sie sehr schnell lesen können … Sehen Sie, er will seinen eigenen Rekord brechen, der, wenn ich mich nicht irre, vierundachtzig Stunden beträgt.«

»Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen, Mrs. Cowperthwaite.«

»Falls Sie ein Interesse daran haben, möchte er wissen, ob Sie vielleicht zu — Sondervereinbarungen bereit sind.«

»Sondervereinbarungen?«

»Nun ja, Rabatt sozusagen.«

»Ich verstehe. Der volle Betrag beläuft sich meiner Schätzung nach auf über hundertundfünfzig Dollar. Das ist gewiß eine ganz erhebliche Summe.«

»Ja, mein Vater möchte darum wissen, ob Sie eventuell …«

»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, gnädige Frau? Ich könnte das Alte Testament auf Hebräisch lesen. Im Hebräischen gibt es keine Vokale, nur sogenannte ›Atempausen‹. Das würde die Zeit um sieben Stunden reduzieren. Vierzehn Dollar gespart.«

»Aber das würde er doch nicht verstehen, Mr. North.«

»Verstehen spielt hier keine Rolle, Mrs. Cowperthwaite. Mr. Craig hat das Alte Testament bereits siebenmal gehört. Es auf Hebräisch zu hören, würde bedeuten, Gottes eigene Worte zu hören, wie Er sie Moses und den Propheten diktiert hat. Außerdem könnte ich das Neue Testament auf Griechisch vorlesen. Griechisch ist voll von tonlosen Digammas und Enklitikons und Prolegomena. Kein Wort wird verlorengehen und meine Rechnung würde sich auf einhundertundvierzig Dollar reduzieren.«

»Aber mein Vater …«

»Ferner könnte ich im Neuen Testament die Worte unseres Herrn in seiner eigenen Sprache lesen, aramäisch. Sehr kurz und kondensiert. Es ist mir gelungen, die Bergpredigt in vier Minuten einundsechzig Sekunden zu lesen, nicht mehr und nicht weniger.«

»Würde auch nach diesen Regeln ein neuer Rekord Gültigkeit haben?«

»Es tut mir leid, daß Sie es nicht so sehen wie ich, Mrs. Cowperthwaite. Ihr verehrter Vater hat die Absicht, seinem Schöpfer zu gefallen. Ich mache Ihnen einen Sonderpreis: einhundertundvierzig Dollar.«

»Ich muß leider die Unterhaltung beenden, Mr. North.«

»Sagen wir einhundertunddreißig.«

Ende des Gesprächs.

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Bald radelte ich also die Avenue hinauf und hinunter wie ein Lieferjunge. Unterrichtsstunden. Lesungen. Die Arbeit machte mir Freude (die Fabeln von Lafontaine im »Hirschpark«, die Werke von Bischof Berkeley in den »Neun Giebeln«), aber bald stieß ich auf die allerseits bekannte Wahrheit, daß die Reichen niemals zahlen — oder nur gelegentlich. Ich verschickte meine Rechnungen alle vierzehn Tage, aber selbst die liebenswürdigsten Arbeitgeber übersahen sie geflissentlich. Ich griff mein Kapital an und wartete, aber mein Traum von einer eigenen Wohnung (ein Traum, der natürlich andere Träume nach sich zog) schien auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben. Abgesehen von ein paar Verpflichtungen, nach Einbruch der Dunkelheit vorzulesen, war ich abends frei, und das machte mich ruhelos. Ich schaute in die Tavernen der Thames Street und der Langen Werft, spürte aber keine Lust, mich einer dieser trübe beleuchteten, lärmenden Runden anzuschließen. Kartenspiele waren in den Aufenthaltsräumen des CVJM erlaubt, vorausgesetzt, daß es nicht um Geld ging, doch mein Interesse schwand schnell ohne den Anreiz auf Gewinn.

Schließlich geriet ich in »Hermanns Billardsalon«, zwei langgestreckte Räume mit sieben Tischen unter grellen Hängelampen und einer Bar, an der gesetzlich erlaubte Getränke ausgeschenkt wurden, denn noch herrschte die Prohibition. Man drückte zwar ein Auge zu, wenn einer Alkohol in der eigenen Tasche mitbrachte, aber wie die meisten Spieler begnügte ich mich mit »Bevo«. Dieses Lokal sagte mir zu. An den Wänden standen zwei Reihen Bänke, eine erhöhte für die Zuschauer, eine niedere für die wartenden Spieler. Damals spielte man vor allem Poule. Es ist weniger ein fröhlicher als ein in sich gekehrter Sport, begleitet von Grunzlauten, stummen Schwüren, Stoßgebeten, unterbrochen durch Aufschreie des Triumphes oder der Verzweiflung. Die Habitues in »Hermanns Salon« waren Diener von den großen Besitzungen, Chauffeure, auch ein paar Verkäufer fanden sich ein, meistens jedoch Dienstboten. Gelegentlich wurde ich zum Mitspielen aufgefordert. Ich stellte mich vor als der Tennistrainer vom Casino, der für Anfänger Stunden gab. Ich spiele Poule ziemlich gut (viele Stunden lang in meiner Studentenzeit), aber ich spürte, daß man mich zusehends kühler behandelte. Ich wollte mir schon einen neuen Billardsalon suchen, als mich Henry Simmons adoptierte und damit meinem Außenseitertum ein Ende setzte.

Was sollte ich Henry nicht alles verdanken: seine Freundschaft zu mir, die Bekanntschaft mit seiner Verlobten Edweena, der unvergleichlichen Edweena, und mit Mrs. Cranston samt ihrer Pension sowie all das, was sich daraus ergab. Henry war ein hagerer englischer Diener von vierzig Jahren; sein Gesicht — länglich, rot, pockennarbig — belebten zwei dunkle, scharf beobachtende Augen. Seine Rede hatten sieben Jahre Amerika geläutert, doch in gehobener Stimmung fiel er in die Sprache seiner Jugend zurück, eine Sprache, die mich entzückte, weil sie Erinnerungen an Figuren derselben Herkunft bei Dickens und Thackeray heraufbeschwor. Er war bei einem bekannten Hochseesegler und Regatta-Enthusiasten angestellt, den er sehr bewunderte — ich werde ihn hier Timothy Forrester nennen. Wie auch andere seiner gesellschaftlichen Klasse und seiner Generation, stellte Mr. Forrester seine Yacht wissenschaftlichen Expeditionen und Forschungsfahrten zur Verfügung, wo ein Gentleman-Diener nicht am Platz gewesen wäre. Da er selbst daran teilnahm, blieb Henry oft monatelang allein in Newport zurück. Diese Einteilung paßte ihm um so mehr, als die Frau, die er heiraten wollte, den größten Teil des Jahres ebenfalls in Newport verbrachte. Henry trug stets wunderbar geschneiderte schwarze Anzüge, nur die auffallend bunten Westen zeugten von seinem individuellen Geschmack. Er war allgemein beliebt in »Hermanns Salon«, den er durch seine halblaut hingeworfenen Scherze um ein Element extravaganter und exotischer Komik bereicherte.

Offenbar hatte er mich ziemlich lange beobachtet und mich mit meiner Zeitungsannonce in Verbindung gebracht, denn als ich eines Abends bereits viel zu lange auf der Bank gewartet hatte, kam er plötzlich auf mich zu und sagte: »Sie hier, Professor! Wie wär’s mit einem Spielchen. Drei Sätze zu 12 1/2 Cents. Wie war doch gleich Ihr Name, Kamerad? Ted North? Ich heiße Henry Simmons.«

Zur Zeit unserer ersten Begegnung war Henry ein sehr unglücklicher Mensch. Sein Herr hatte sich einem Team angeschlossen, das die Vögel der Tierra del Fuego photographierte, und Henry haßte das Nichtstun. Seine Verlobte war ebenfalls verreist, und er vermißte sie aufs schmerzlichste. Wir spielten ohne viel zu reden. Ich hatte eine Glückssträhne, vielleicht auch hielt sich Henry zurück. Als das Spiel zu Ende war, leerten sich bereits die Räume. Er lud mich zu einem Drink ein. Einige Kisten Ale blieben hier stets für seinen persönlichen Gebrauch reserviert, ich aber bestellte das übliche Ersatzbier.

»Also, erzählen Sie von sich, Ted, sind Sie glücklich und zufrieden? Ich werde Ihnen sagen, wer ich bin. Ich stamme aus London und bin mit zwölf von der Schule abgegangen. Ich habe Schuhe geputzt und Barbierläden ausgefegt. Ich hab’ meine Augen aufgemacht und was gelernt. So bin ich ein Diener geworden, ein Gentleman-Diener.« Er hatte seinen Gentleman nach Amerika begleitet und war schließlich von Mr. Forrester engagiert worden. Er erzählte mir von seiner Edweena, die zur Zeit als Zofe eine Damengesellschaft auf einer berühmten Yacht bediente. Er zeigte mir einige bunte Postkarten, die sie ihm aus Jamaica, aus Trinidad und von den Bahamas geschickt hatte — ein magerer Trost.

Dann erzählte ich ihm meine Lebensgeschichte — Wisconsin, China, Kalifornien, Schulen und Anstellungen, Europa, der Krieg, zuletzt die Gründe, die mich nach Newport geführt hatten. Dann stießen wir miteinander an und unsere Freundschaft war besiegelt. Diesem ersten folgten noch viele Poulespiele mit anschließendem Gespräch. Beim zweiten oder dritten fragte ich ihn, warum die Spieler sich soviel Zeit ließen, mich aufzufordern. Lag es etwa daran, daß ich ein Neuankömmling war?

»Kamerad, in Newport ist man furchtbar mißtrauisch gegen Neuankömmlinge. Argwöhnisch, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es gibt eine ganze Menge Typen, die wir hier nicht haben wollen. Nehmen wir einmal an, ich wüßte nicht, daß Sie in Ordnung sind. Verstanden? Darf ich jetzt ein paar Fragen stellen? Mr. North, sind Sie nach Newport abkommandiert worden?«

»Was soll das heißen?«

»Gehören Sie irgendeiner Organisation an? Hat man Sie mit einem besonderen Auftrag hierhergeschickt?«

»Ich habe Ihnen doch gesagt, warum ich herkam.«

»Ich frage wie bei einem Gesellschaftsspiel. Sind Sie ein Flikker?«

»Ein was?«

»Ein Detektiv?«

Die Wandlung bestimmter Wörter auf ihrem Weg von Land zu Land und durch die Jahrhunderte hat mir immer Vergnügen bereitet. »Flicker« ist ein Vogel, eine in Amerika vorkommende Spechtart, und der Titel eines Films im Jahre 1926. Aber in Frankreich ist ein »flic« ein Polizist oder ein Detektiv, dieses Wort muß den Kanal überquert haben und in den Slang der englischen Unterwelt eingedrungen sein. Nach Newport ist es wahrscheinlich von Henry selbst importiert worden. Ich hob die Hand wie zum Schwur. »Ich schwöre bei Gott, Henry, nie im Leben habe ich damit zu tun gehabt.«

»Als ich in der Zeitung las, daß Sie Latein unterrichten, wußte ich Bescheid. Kein Flicker hat sich jemals auf Latein eingelassen. Es ist nämlich so: nichts gegen den Job, man kann sein Geld auf hundert verschiedene Arten verdienen. Wenn die Saison beginnt, tauchen die Flicker scharenweise auf. Wochenlang findet jeden Abend ein großer Ball statt. Für prominente Besucher oder schwindsüchtige Kinder, zum Beispiel. Diamantencolliers. Versicherungsgesellschaften schicken ihre Männer her, als Kellner verkleidet. Manchmal werden sie sogar offiziell als Gäste eingeladen. Kleben mit ihren Augen an dem Gefunkel. Viele Familien sind so ängstlich, daß ein Flicker die ganze Nacht wach neben dem Safe sitzen muß. Eifersüchtige Ehemänner lassen ihre Frauen von einem Flicker beschatten. Ein Mann wie Sie kommt in die Stadt, kennt niemanden, kein triftiger Grund, hier zu sein. Vielleicht ist er ein Flicker — oder ein Dieb. Als erstes pflegt sich ein regulärer Flicker beim Polizeichef zu melden, um ihm reinen Wein einzuschenken. Aber viele machen das nicht, sie möchten ganz geheim bleiben. Sie können Gift darauf nehmen, daß Sie noch nicht drei Tage in der Stadt waren, als der Chef Sie bereits ins Auge gefaßt hatte. Gut, daß Sie gleich ins Casino gingen und den alten Bericht über sich ausgruben …«

»In Wirklichkeit über meinen Bruder.«

»Wahrscheinlich hat Bill Wentworth den Chef angerufen und ihm gesagt, daß er Vertrauen zu Ihnen hat.«

»Danke für diese Mitteilung. Doch Ihr Vertrauen nützt mir in ›Hermanns Salon‹ mehr als alles andere.«

»Es verkehren sogar hier ein paar Flicker, doch keinesfalls wollen wir einen Flicker unter uns haben, der vorgibt, keiner zu sein. Immer wieder hat man von einem Flicker gehört, der Smaragde stiehlt.«

»Und mit was für verdächtigen Typen könnte man mich noch verwechseln?«

»Das werde ich Ihnen später erzählen. Jetzt sind Sie dran.«

Ich erzählte ihm, was ich über die herrlichen Bäume von Newport herausgefunden und zusammengetragen hatte. Ich erzählte ihm von meiner Theorie der »Neun Städte von Newport« (und von Schliemanns Troja).

»Das sollte Edweena hören! Edweena liebt Fakten und das Herausschälen von Ideen aus Fakten. Sie sagt immer, die Leute in Newport können bloß klatschen und tratschen. Oh, diese Sache mit den Bäumen würde ihr gefallen und auch die Sache mit den neun Städten.«

»Bisher habe ich nur fünf ausfindig gemacht.«

»Vielleicht sind’s fünfzehn. Vielleicht können Sie das mit einer Freundin von mir, mit Mrs. Cranston besprechen. Ich hab ihr von Ihnen erzählt und sie möchte Sie gerne kennenlernen. Das ist eine ganz besondere Ehre, Professor, denn sie macht selten eine Ausnahme: im allgemeinen empfängt sie nur Diener oder Dienstboten bei sich zu Hause.«

»Aber ich bin ein Diener, Henry.«

»Darf ich Sie etwas fragen: in all diesen Häusern, in denen Sie Schüler haben, treten Sie da durch die Vordertür ein?«

»Nun … ja.«

»Sind Sie jemals zum Mittag- oder Abendessen eingeladen worden?«

»Zweimal, aber ich bin nie …«

»Dann sind Sie kein Diener.« Ich schwieg. »Mrs. Cranston weiß sehr viel von Ihnen, aber sie meinte, sie würde sich sehr freuen, wenn ich Sie zu einem Besuch überreden könnte.«

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»Mrs. Cranstons Pension«, im Schatten der Dreifaltigkeitskirche gelegen, war ein großes Gebäude, das aus drei aneinandergebauten Häusern bestand, so daß man nur die Wände hatte durchbrechen müssen. Die Sommerkolonie in Newport wurde von fast eintausend Dienstboten versorgt, von denen die meisten in dem Haus, in dem sie beschäftigt waren, auch schliefen. Mrs. Cranstons Pension war eine vorübergehende Bleibe für viele und eine ständige für wenige. Zur Zeit meines ersten Besuches waren die meisten der großen Häuser (die Cottages) noch nicht geöffnet, aber die bereits vorausgeschickten Dienstboten sollten alles für die Saison herrichten. In vielen Fällen hatten weibliche Dienstboten sich geweigert, die Nacht allein in den abgelegenen Häusern an der Ozeanstraße zu verbringen. Außerdem beherbergte Mrs. Cranston eine beträchtliche Anzahl von Aushilfen für besondere Gelegenheiten, obwohl sie mit aller Deutlichkeit erklärt hatte, kein offizielles Stellenvermittlungsbüro zu sein.

Das Haus war in der Tat ein Segen für die siebente Stadt — für die Alten, die vorübergehend Stellenlosen, die plötzlich Entlassenen — zu Recht oder häufiger zu Unrecht Entlassenen — und für Rekonvaleszenten. Der große Salon und die sich anschließenden Aufenthaltsräume neben dem Vestibül dienten als ein Treffpunkt und waren an Donnerstag- und Sonntagabenden überfüllt. In einem Rauchzimmer hinter dem vorderen Salon wurden gesetzlich erlaubtes Bier und Fruchtsäfte verabreicht für vertrauenswürdige Freunde des Hauses — männliche Dienstboten, Kutscher und sogar Küchenchefs. Das Speisezimmer war ausschließlich für die ständigen Gäste reserviert, sogar Henry hatte es noch nie betreten.

Mrs. Cranston achtete darauf, daß in ihrem Unternehmen das Dekorum gewahrt blieb, kein Gast hätte je ein unfeines Wort über die Lippen gebracht, und sogar der Klatsch über den jeweiligen Arbeitgeber hielt sich in Grenzen. Mit Staunen entdeckte ich, daß Geschichten über das legendäre Newport — die glorreichen Tage vor dem Ersten Krieg — nur selten erwähnt wurden, ebenso die Fehden zwischen den tonangebenden Familien, die Grobheiten einer berühmten Gastgeberin, die babylonische Extravaganz phantastischer Masken- und Kostümbälle, jeder kannte das alles. Auch in jüngster Zeit hatte es in den Sommermonaten nicht an großen Ereignissen gefehlt, an Verrücktheiten, Dramen und Melodramen, aber darüber unterhielt man sich nur streng vertraulich.

Mrs. Cranston ließ verlauten, es sei berufsschädigend, das Privatleben von Leuten durchzuhecheln, die uns ernähren. Sie war zwar jeden Abend anwesend, verzichtete jedoch darauf, über der allgemeinen Unterhaltung zu thronen. Sie pflegte reihum an den kleinen Tischen zu sitzen und bestellte lieber ihre Freunde, entweder allein oder zu zweit, zu sich. Sie hatte einen hübschen, vornehm frisierten Kopf und eine eindrucksvolle Figur, sie sah und hörte ausgezeichnet. In der Kleidung ahmte sie Damen nach, bei denen sie in jungen Jahren angestellt gewesen war — enggeschnürtes Oberteil, schwarze Jetperlen und ein halbes Dutzend rauschender Unterröcke. Nichts machte ihr mehr Vergnügen, als in irgendeiner problematischen Angelegenheit, die Diplomatie und eine gründliche Lebenserfahrung verlangte, um Rat gebeten zu werden. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, daß sie schon manche Seele vor dem Ertrinken gerettet hatte. Vom Geschirrwaschen und anderem niederen Küchendienst hatte sie sich in den Rang einer Zofe emporgearbeitet. Einem Gerücht zufolge — das ich erst jetzt nach so vielen Jahrzehnten weitergebe — hat es niemals einen »Mister« Cranston gegeben (Cranston ist ein kleiner Ort, etwa einen Krähenflug von Newport entfernt), ein bekannter Bankier soll ihr die Pension eingerichtet haben.

Mrs. Cranstons beste Freundin war die unvergleichliche Edweena, die auf unbegrenzte Zeit die Gartenwohnung zu ebener Erde gemietet hatte. Edweena wartete nämlich auf den längst überfälligen Zusammenbruch und Tod ihres alkoholischen Gatten im fernen London, um danach ihre Hochzeit mit Henry Simmons zu feiern. Ein Vorteil, den der Besitz der Gartenwohnung ihr eintrug, erkannten einige Beobachter ohne Mühe: Henry konnte nach Belieben ein- und ausgehen, ohne einen Skandal zu erregen.

Nach den Regeln des Hauses mußten sich sämtliche Damen — mit Ausnahme von Mrs. Cranston und Edweena — um dreiviertel elf für die Nacht zurückziehen, entweder auf ihr Zimmer im oberen Stock oder in ihre Bleibe in der Stadt. Die Herren gingen erst um Mitternacht. Henry war der große Favorit der Dame des Hauses, der er eine noch aus der Alten Welt stammende Ehrerbietung entgegenbrachte.

Diese letzten fünfviertel Stunden waren Henry (und unserer Gastgeberin) besonders lieb. Die Mehrzahl der Männer blieb an der Bar sitzen, aber gelegentlich leistete Mrs. Cranston ein sehr alter, leichenblasser Mr. Danforth Gesellschaft, ebenfalls ein Engländer, der einst in großen Häusern in Baltimore und Newport als ein zweifellos majestätischer Butler gedient hatte. Sein Gedächtnis ließ sehr nach, aber er wurde noch immer von Zeit zu Zeit eingestellt, um ein Büfett oder ein Vestibül durch seine Anwesenheit zu veredeln.

Um diese nächtliche Stunde stellte mich Henry Mrs. Cranston vor. »Mrs. Cranston, ich möchte gern, daß Sie meinen Freund Ted North kennenlernen. Er arbeitet im Casino und liest einigen Damen und Herren laut vor, deren Augen nicht mehr das sind, was sie früher waren.«

»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. North.«

»Danke vielmals, gnädige Frau, ich betrachte es als einen besonderen Vorzug.«

»Soweit mir bekannt ist, besitzt Ted nur einen Fehler, gnädige Frau, er kümmert sich nicht um anderer Leute Angelegenheiten.«

»Das macht ihn mir um so sympathischer, Mr. Simmons.«

»Henry überschätzt mich, Mrs. Cranston. Gewiß ist dies meine Absicht gewesen, aber während meines kurzen Aufenthaltes in Newport habe ich bereits entdeckt, wie schwierig es ist, nicht in halsbrecherische Situationen verwickelt zu werden.«

»Zum Beispiel mit jener Person, die ihren Eltern davonläuft. Es ist noch gar nicht lange her.«

Ich war wie vom Donner gerührt. Wie konnte jenes kurze Abenteuer publik geworden sein! Ich war gewarnt. Zum ersten Mal erfuhr ich, daß in Newport nichts geheim bleibt, auch nichts, was in einer Großstadt kaum bemerkt werden würde. (Schließlich wird Dienstpersonal hochgepriesen, wenn es seinem Arbeitgeber jeden Wunsch von den Augen abliest, und das erfordert eine niemals erlahmende Aufmerksamkeit. Aquidneck ist keine große Insel, und das Herz ihrer sechsten Stadt ist dementsprechend eng.)

»Gnädige Frau, man kann es mir nicht verübeln, wenn ich meinem Freund und Arbeitgeber im Casino einen Gefallen erweisen wollte.«

Sie senkte den Kopf und lächelte leise, doch mit Wohlwollen. »Mr. Simmons, entschuldigen Sie bitte, aber würden Sie vielleicht für ein paar Minuten in die Bar gehen? Ich möchte mit Mr. North etwas besprechen, was für ihn wichtig sein könnte.«

»Ja, aber gewiß, Verehrteste«, sagte Henry erfreut und verließ das Zimmer.

»Mr. North, diese Stadt hat eine ausgezeichnete Polizei und einen hochintelligenten Polizeichef. Sie setzt diese Kräfte nicht nur zum Schutz von Wertgegenständen einiger Bürger ein, sondern auch zum Schutz einiger ihrer Bürger vor sich selbst und vor unliebsamen Enthüllungen. Was immer man Ihnen vor zweieinhalb Wochen aufgetragen hat, Sie haben sehr geschickt gehandelt. Das Ganze hätte ebenso gut auch in einer Katastrophe enden können. Sollten Sie je wieder in eine solche Lage kommen, so bitte ich Sie, sich an mich zu wenden. Ich habe dem Polizeichef manche Gefälligkeit erwiesen, und er ist freundlicherweise auch mir und meinen Pensionsgästen oft gefällig gewesen.« Sie legte ihre Hand kurz auf die meine. »Merken Sie sich das bitte ein für allemal.«

»Ja, ganz gewiß. Ich danke Ihnen, Mrs. Cranston, daß Sie mir erlauben, Sie zu behelligen, wenn die Situation es erfordert.«

»Mr. Simmons! Mr. Simmons!«

»Ja, gnädige Frau?«

»Sie können wiederkommen, wir wollen ein wenig das Gesetz übertreten.« Sie läutete eine Tischglocke und gab dem Jungen an der Bar eine geheime Order. Zum Zeichen unserer Verbundenheit bekamen wir einen Drink serviert, den ich als Gin-Fizz in Erinnerung habe. »Durch Mr. Simmons habe ich schon gehört von Ihren Theorien über die Bäume und über die verschiedenen Städte in Newport. Wollen Sie es mir nicht mit Ihren eigenen Worten erzählen?«

Ich erzählte, Schliemann und Troja und alles. Meine Aufteilung Newports war natürlich noch unvollständig.

»So! So! Vielen Dank. Ach, wie wird sich Edweena freuen, davon zu hören. Ich habe zwanzig Jahre in der Bellevue-Avenue-Stadt gelebt, wie die meisten Gäste von mir im oberen Stock, aber jetzt bin ich eine Pensionsinhaberin in der letzten Ihrer Städte, und ich bin sogar noch stolz darauf. Henry Simmons sagt mir, die Männer in ›Hermanns Billardsalon‹ hielten Sie für einen Detektiv.«

»Ja, Mrs. Cranston, sie vermuteten sogar noch Schlimmeres, das er mir aber nicht verraten will.«

»Gnädige Frau, ich wollte unserem jungen Freund in den ersten Wochen nicht zuviel zumuten. Glauben Sie, er ist stark genug zu hören, daß er im Verdacht stand, ein Jiggala oder gar ein Schmierer zu sein?«

»Oh, Henry Simmons, Sie reden Ihre eigene Sprache. Sie meinen Gigolo. Ja, ich glaube, man sollte ihm alles sagen. Es wird ihm auf die Dauer nützen.«

»Ein Schmierer, Teddie, ist ein Journalist, der Unrat wittert, ein Skandal-Bluthund. Während der Saison schwirren sie wie Fliegen hier herum. Sie versuchen sogar, die Dienstmädchen zu bestechen, um zu erfahren, was vorgeht. Wenn sie keinen Schmutz finden, dann erfinden sie welchen. In England ist es genauso. ›Herzogstochter in Opiumhöhle — hier der genaue Bericht‹. Und Millionen und Millionen lesen mit Genuß über die verruchten Reichen. Jetzt ist Hollywood dran mit den Fillum-Stars. Die meisten Schmierer sind Frauen, aber es gibt auch viele Männer darunter. Mit denen wollen wir nichts zu tun haben, nicht wahr, Mrs. Cranston?«

Sie seufzte. »Man darf ihnen nicht alles ankreiden.«

»Wenn Teddy jetzt die Avenue hinauf und hinunter radelt, werden ihm Fühler dafür wachsen. Hat man sich schon an Sie herangemacht, alter Junge?«

»Nein«, sagte ich aufrichtig. Im nächsten Augenblick hielt ich den Atem an. Man hatte sich in der Tat schon an mich »herangemacht«, doch ich hatte nicht gemerkt, daß etwas dahinter steckte. Flora Deland! Ich werde später davon berichten. Mir fiel ein, daß ich mein Tagebuch einschließen sollte — es enthielt bereits geheimes Material.

»Und der Gigolo, Mr. Simmons?«

»Wie Sie wünschen, gnädige Frau. Sie werden mir verzeihen, wenn ich meinem Freund dann und wann einen Spitznamen gebe. Das ist so meine Art.«

»Und welchen Spitznamen würden Sie Mr. North jetzt geben?«

»Seine Zähne, Gnädigste, sie blenden mich. Dann und wann muß ich ihn ›Hacker‹ nennen.«

An meinen Zähnen war nichts Bemerkenswertes. Ich erklärte ihm, daß ich meine ersten neun Jahre in Wisconsin verbracht hatte, einem Staat mit viel Milchwirtschaft, der seine Kinder unter anderem mit ausgezeichneten Zähnen beschenkt. Henry hatte allen Grund, mich darum zu beneiden. Kinder, die im Herzen Londons aufwachsen, sind in dieser Hinsicht oft benachteiligt. Das konnte Henry nicht verschmerzen.

»Hacker, alter Junge, die Männer in ›Hermanns Billardsalon‹ glaubten eine Zeitlang, Sie wären einer von diesen …«

» … Gigolos.«

»Danke, gnädige Frau. Das ist Französisch und bedeutet Tanzpartner mit Ambitionen. Nächsten Monat werden sie uns heimsuchen wie die Heuschrecken. Mitgiftjäger. Sehen Sie, es gibt hier für Dutzende von Erbinnen keinen Mann ihrer Klasse. Heutzutage reisen diese jungen Leute mit Dr. Grenfell nach Labrador, um Büchsenmilch zu den Eskimos zu tragen, oder sie schwirren davon wie mein Herr, um Vögel am Südpol zu photographieren, oder sie ziehen auf eine Ranch in Wyoming und brechen sich beide Beine. Ein paar entschließen sich auch für Long Island, weil es dort so munter zugehen soll. Kein junger Mann kann sich unter den Augen von Eltern oder Verwandten amüsieren. Außer bei Segelregatten oder Tennisturnieren ist hier kein Mann unter dreißig weit und breit zu erblicken.«

»Kein Junggeselle unter vierzig, Henry.«

»Danke, gnädige Frau. Wenn also unsere Gastgeberinnen einen Ball für ihre schönen Töchter geben wollen, telephonieren sie ihrem lieben Freund, dem Admiral von der Marinestation, und erbitten von ihm vierzig junge Männer, die Walzer und Polka tanzen können, ohne zu stolpern. Die alten Damen haben aus Erfahrung gelernt, daß man außerordentlich viel Brunnenwasser in den Punsch gießen muß. Außerdem wenden sie sich an die Gesandtschaften in Washington, um Hausgäste für einen Monat einzuladen, junge Grafen und Marquis und Barone, die eben erst die unteren Sprossen der diplomatischen Leiter erklimmen. So wird’s gemacht. Hacker, ich bin in Ihr Land gekommen als Butler für einen Earl sechsten Grades. Er verlobte sich mit einer Tochter von Dr. Bosworth aus den ›Neun Giebeln‹. Er war einer der nettesten Kerle, die man je anzutreffen hofft, aber er fand nicht vor zwölf Uhr mittags aus dem Bett. Schlief bei Dinner-Parties. Er liebte das Essen, haßte aber das Warten zwischen den einzelnen Gängen. Trotz taktvollem Überreden meinerseits kam er zu jeder Verabredung genau eine Stunde zu spät. Seine Frau, so energisch wie ein Bienenschwarm, ließ sich von ihm für rund eine Million scheiden, sagt man … Das einzige, was ein ehrgeiziger junger Mann hier braucht, ist eine nette Konversation, ein Paar Lackschuhe und ein kleines anständiges Empfehlungsschreiben — alle Türen stehen ihm offen, einschließlich das Kasino mit einer Dauerkarte. Darum dachten wir zuerst, Sie wären einer von diesen …«

»Danke, Henry.«

»Mrs. Cranston, wir werden dennoch nicht gleich das Schlechteste von Mr. North annehmen, wenn er sich ein süßes kleines Ding mit Kupferminen oder Eisenbahnen anlacht.«

»Das würde ich Ihnen nicht empfehlen, Mr. North.«

»Ich habe auch nicht die Absicht, Mrs. Cranston. Aber darf ich wissen, warum Sie mir abraten?«

»Wer das Geld besitzt, besitzt auch die Peitsche, und wenn ein Mädchen in großem Reichtum aufgewachsen ist, glaubt sie, daß sie ein großes Gehirn besitzt. Mehr will ich jetzt nicht sagen. Wenn der Sommer um ist, werden Sie Ihre eigenen Erfahrungen gesammelt haben.«

Ich habe diese vormitternächtlichen Unterhaltungen sehr genossen. Da ich mir ohnehin zuweilen wie der schiffbrüchige, auf die Insel Aquidneck verschlagene Kapitän Lemuel Gulliver vorkam, der ihre Sitten und Gebräuche zu studieren sich anschickt, konnte ich mir nichts Besseres wünschen. Fernrohre stehen gewöhnlich auf drei Beinen. Ein Bein von mir stand bei meinen täglichen Besuchen in der Avenue auf sicherem Boden, ein zweites ruhte auf den Erfahrungen und Lebensweisheiten von Mrs. Cranstons Pension, ein drittes mußte ich mir erst noch suchen.

Ich hatte es keineswegs ehrlich gemeint, als ich Mrs. Cranston versprach, mich in einer schwierigen oder sogar gefährlichen Situation an sie zu wenden. Von Natur aus kümmere ich mich lieber um meine eigenen Angelegenheiten, halte den Mund und winde mich aus meinen Fehlern allein heraus. Wahrscheinlich würde Mrs. Cranston bald genug erfahren, daß ich in der Woche acht bis neun Stunden in den »Neun Giebeln« verbrachte, einem Cottage, wo es in der Tat seltsam zuging. Wahrscheinlich ahnte sie auch, daß ich in George Granberrys Haus in Dinge verwickelt werden sollte, die meine Kräfte überstiegen und jeden Moment in der Regenbogenpresse eine wahre Feuersbrunst der Enthüllungen auslösen konnten.

In der einen Angelegenheit, die mit meinem Vorlesen im Wyckoff-Haus zusammenhing, habe ich mich tatsächlich an sie um Rat und Hilfe gewandt und sie auch prompt erhalten.

Diana Bell

Da radelte ich also emsig die Avenue hinauf und hinunter, verdiente mir meinen Lebensunterhalt und legte außerdem noch Geld zurück, um mir eine kleine Wohnung zu mieten. Wie ich eines Morgens, etwa um die Mitte der dritten Woche, im Casino meine Trainingsklasse für Kinder beendet hatte und mich eben vor meinem literarischen Tagesprogramm duschen und umziehen wollte, hielt Bill Wentworth mich fest. »Mr. North, können Sie heute gegen Abend einmal vorbeikommen? Ich möchte gern mit Ihnen sprechen.«

»Ja, natürlich, Bill. Würde Ihnen sechs Uhr fünfzehn passen?«

Ich hatte Bill näher kennengelernt und bewunderte ihn mehr und mehr. Ich war auch schon an einem Sonntag bei ihm zu Hause gewesen und hatte mit dem Ehepaar Wentworth, einer verheirateten Tochter und ihrem Mann — alles alteingesessene Rhode Islander — zu Abend gegessen. Jetzt schien mir Bill bedrückt, er sah mir in die Augen und sagte: »Als Sie bei uns waren, haben Sie ein paar von Ihren Abenteuern zum besten gegeben. Hätten Sie Lust zu einer kleinen, aber ungewöhnlichen Expedition? Sie können ohne weiteres ablehnen, falls Sie nicht mögen — zwischen uns würde sich nichts ändern. Es braucht allerdings ein bißchen Grips dazu, aber die Sache wird gut bezahlt.«

»Ja, gern, Bill, wenn ich Ihnen damit einen Gefallen erweisen kann. Schicken Sie mich ruhig zum Nordpol.«

»Das wäre zu auffällig. Es handelt sich nämlich um eine sogenannte geheime Mission.«

»Nichts ist mir lieber.«

Punkt sechs Uhr fünfzehn betrat ich sein Büro mit den Pokalen und Trophäen. Bill saß an seinem Schreibtisch und fuhr sich verzweifelt mit der Hand über das graue, kurzgeschnittene Haar. Er kam ohne Umschweife zur Sache.

»Ein Problem brennt mir auf den Nägeln. Unser Aufsichtsratsvorsitzender ist seit einigen Jahren Mr. Augustus Bell, ein New Yorker Geschäftsmann. Seine Frau und seine Tochter verbringen allerdings den größten Teil des Jahres hier in Newport. Nur im Winter fahren sie für ein paar Monate nach New York. Seine ältere Tochter Diana ist etwa sechsundzwanzig, also schon alt für ein Mädchen ihrer Herkunft. Es gibt bei uns ein Sprichwort: ›Sie hat zu viele Schuhe zertanzt.‹ Sie ist extravagant, lustig und ruhelos. Jedermann weiß, daß sie sich in New York mit unerwünschten Elementen umgibt. Die Zeitungen haben darüber berichtet — Sie können sich denken, was für Zeitungen. Dann geschah noch Schlimmeres. Vor zweieinhalb Jahren folgte ihr einer von diesen unerwünschten Typen hierher. Ihre Familie weigerte sich, ihn zu empfangen. Daraufhin brannte sie mit ihm durch. Man brachte sie zurück, sie war nicht weit gekommen. Polizei, Privatdetektive und so weiter. Die Zeitungen überschlugen sich … Es ist eine rechte Verlegenheit, daß Newport als Sommerfrische für junge Männer ihrer Klasse nicht mehr attraktiv ist. Newport wählt der Mann in mittlerem Alter und darüber.« Bill rang einen Augenblick mit sich selbst. »Jetzt geht es wieder los. Ihre Mutter hat in ihrem Zimmer den Brief eines Mannes gefunden, der übermorgen mit ihr durchbrennen will, um sie in Maryland zu heiraten. Es ist nicht leicht, Mr. North, mit reichen Leuten umzugehen. Mr. Bell ist der Ansicht, es wäre meine Pflicht, alles stehen und liegen zu lassen, um zwei erwachsenen Menschen nachzurennen und sie irgendwie festzuhalten. Er will nichts mehr mit Polizei und Privatdetektiven zu tun haben. Ich möchte mich da nicht einmischen und setze damit höchstwahrscheinlich meine Stellung aufs Spiel.«

»Natürlich helfe ich aus, Bill, nach Kräften.« Bill schwieg und versuchte seiner Gefühle Herr zu werden. »Wer ist der Mann?« fragte ich.

»Mr. Hilary Jones, Präsident des regionalen Turnlehrerverbandes. Er ist etwa zweiunddreißig Jahre alt, geschieden, und hat eine Tochter. Allgemein spricht man nur Gutes über ihn, auch seine ehemalige Frau.« Er nahm einen großen Briefumschlag vom Tisch. »Hier sind einige Pressephotos von Miß Bell und Mister Jones und auch Zeitungsberichte über die beiden. Können Sie chauffieren?«

»Ja, ich habe vier Sommer in dem Camp in New Hampshire alle möglichen Wagen chauffiert. Hier ist mein Führerschein; er läuft in drei Wochen ab.«

»Mr. North, ich habe mir eine große Freiheit herausgenommen, die sie mir hoffentlich nicht übelnehmen werden. Ich habe Mr. Bell gesagt, ich wüßte einen tatkräftigen jungen Mann mit Köpfchen, der mit Menschen umzugehen versteht. Ihren Namen habe ich nicht genannt, aber ich erwähnte, daß Sie in Yale studiert haben. Wie Mr. Bell übrigens. Sie sollen aber nicht mir zuliebe mitmachen. Es steht Ihnen frei, dieses heimtückische Geschäft widerlich zu finden und abzulehnen.«

»Bill, ich freue mich darauf, denn ich mag das, wenn meinem Köpfchen Aufgaben gestellt werden. Die ganze Geschichte möchte ich noch von Mr. Bell hören.«

»Er wird Sie fürstlich belohnen.«

»Halt! Das will ich mit ihm persönlich ausmachen. Wann kann ich ihn sehen?«

»Könnten Sie morgen abend um sechs hier in meinem Büro sein? Das gibt uns noch einen Tag Bedenkzeit.«

___________

Ich muß nun viel von dem bereits behandelten Stoff wiederholen, allerdings unter einem etwas anderen Blickwinkel. Am folgenden Abend saß Bill pünktlich um sechs Uhr in seinem Büro. Ein Herr von ungefähr fünfzig Jahren, dessen Haar und Schnurrbart verdächtig getönt wirkten, stürmte mit langen Schritten im Zimmer auf und ab und versetzte gelegentlich einem Stuhl einen Fußtritt.

»Mr. North, dies ist Mr. Bell. Mr. Bell, dies ist Mr. North. Setzen Sie sich bitte, Mr. North.«

Mr. Bell gibt einem Tennistrainer nicht die Hand.

»Mr. Bell, ich schlage vor, daß Sie zunächst mich sprechen lassen. Bitte, korrigieren Sie, was nicht stimmt.« Mr. Bell ließ ein unglückliches Grunzen vernehmen und tigerte weiter auf und ab.

»Mr. Bell hat ebenfalls in Yale studiert, er war dort ein höchst erfolgreicher Leichtathlet. Mit Unterbrechungen gehört er seit zwanzig Jahren dem Vorstand des Casinos an, was beweisen dürfte, wie sehr man ihn schätzt. Mr. Bell hat eine Tochter Diana, von klein auf eine hervorragende Tennisspielerin auf unseren Plätzen. Sie ist eine sehr attraktive junge Dame mit einem Schwarm von Freunden … vielleicht ein wenig eigenwillig. Darf ich so sagen, Mr. Bell?«

Mr. Bell versetzte den Fenstervorhängen einen Hieb und warf ein oder zwei Meisterschaftspokale um.

»Mr. und Mrs. Bell haben zufällig entdeckt, daß Miß Diana beabsichtigt, von zu Hause fortzulaufen. Sie ist schon einmal durchgebrannt, aber nicht sehr weit gekommen. In drei oder vier Staaten wurde die Polizei alarmiert und brachte Miß Diana nach Hause zurück. Ziemlich beschämend für ein so stolzes Mädchen.«

»O Gott, mach es kurz, Bill!«

»Mr. und Mrs. Bell leben fast das ganze Jahr über hier in Newport, verbringen aber ein paar Wintermonate in ihrer New Yorker Wohnung. Mr. Bell wird nichts dagegen einwenden, wenn ich seine Tochter eine unternehmungslustige junge Dame nenne — einige Reporter erwähnten regelmäßig, daß sie in der Öffentlichkeit mit unpassenden Begleitern gesehen wurde. So auch mit jenem Mann, mit dem man sie auf der Flucht aufgriff.«

Ich sah Bill an und merkte, daß er seinen Neu-England-Mumm in hohem Maße wiedergewonnen hatte. Mr. Bell sollte nicht so leicht davonkommen. »Mrs. Bell hat nun, unter der Wäsche ihrer Tochter versteckt, einen Brief gefunden. Ein Mann in Newport — ich kenne ihn flüchtig — teilt ihr darin seine Vorbereitungen mit für die auf morgen abend angesetzte Flucht. Geplant ist eine Fahrt nach Maryland, um dort so schnell wie möglich zu heiraten.«

»Gott im Himmel, Bill, ich halte das nicht aus!«

»Wessen Wagen werden sie nehmen, Bill?« fragte ich.

»Ihren Wagen. Er hat nur den Schulbus, mit dem er seine Teams zu den Sportveranstaltungen fährt. Sie wollen nachts mit der 10-Uhr-Fähre von der Insel nach Jamestown übersetzen, um dann mit einer zweiten Fähre zum Narragansett-Pier zu kommen. Natürlich will Mr. Bell nicht ein zweites Mal die Polizei rufen. Auch möchte die Familie nicht noch mehr Publicity haben in der sogenannten Skandalbeilage der Sonntagszeitungen.«

Mr. Bell ging wütend auf Bill zu. »Nun reicht’s mir aber.«

»Dies sind die Fakten, Mr. Bell«, antwortete Bill ruhig. »Wir müssen die Fakten auf den Tisch legen. Mr. North muß wissen, was wir von ihm verlangen.« Mr. Bell schüttelte die geballten Fäuste vor Bills Gesicht. »Es geht darum, Mr. North, daß Sie den beiden den Weg abschneiden, irgendwo, irgendwie, und Miß Diana wieder zurückbringen. Sie sind ein freier Mann, keinerlei Zwang wird auf Sie ausgeübt. Miß Diana ist eine erwachsene Frau, eventuell möchte sie unter keinen Umständen zu ihren Eltern zurückkehren. Mr. Bell bittet Sie als alter Yale-Mann lediglich um den einen Gefallen, es zu versuchen. Wären Sie damit einverstanden?«

Ich sah zu Boden.

Ich glaubte in keiner Weise an den Kosmos. Ich meinte, auch nicht an Loyalität oder Freundschaft zu glauben, aber da war Bill Wentworth, dessen Lebensstellung auf dem Spiel stand. Und da war noch dieser apoplektische Bulle, und Mrs. Bell, die in den Schubläden einer Sechsundzwanzigjährigen nach Briefen stöberte — und sie auch las.

Natürlich würde ich zusagen und erfolgreich handeln. Aber ich wollte es Mr. Bell nicht zu leicht machen.

»Was soll ich Ihrer Ansicht nach unternehmen, Mr. Bell?«

»Nun, den beiden folgen, am besten noch über Narragansett-Pier hinaus, damit Sie so weit wie möglich von Newport entfernt eingreifen, wie Ihnen gut scheint. Warten Sie ab, wo sie zum Essen anhalten oder für die Nacht absteigen. Demolieren Sie ihr Auto. Rennen Sie ihre Tür ein, wenn es sein muß. Machen Sie ihr klar, was für ein Dummkopf sie ist. Welche Schande sie über uns bringt. Wie sie ihrer Mutter das Herz bricht.«

»Wissen Sie etwas Ehrenrühriges über jenen Mann?«

»Was?«

»Dieser Mr. Jones, kennen Sie ihn?«

»Um Himmels willen, nein! Er ist ein Niemand! Ein Mitgiftjäger, ein erbärmlicher. Ein Stück Dreck.«

»Haben Sie den Brief von Mr. Jones bei sich, Mr. Bell?«

»Ja. Hier ist er, und der Teufel soll ihn holen!« Er zog den Brief aus der Tasche und warf ihn zwischen uns auf den Teppich. Bill und ich waren nun ebenfalls »Niemand« und »Dreck«.

Bill stand auf und nahm den Brief vom Boden. »Mr. Bell, wir bitten Mr. North, uns in einer äußerst vertraulichen Angelegenheit behilflich zu sein. Wir hoffen, daß er Erfolg hat und daß Sie und Mrs. Bell sich ihm dafür erkenntlich zeigen.«

Mr. Bell rang mit sich, mit erstickter Stimme sagte er: »Ich bin sehr verstört. Bitte entschuldigen Sie, daß ich den Brief auf den Boden geworfen habe.«

Ich sagte zu Bill: »Wir werden ihn in einen größeren Briefumschlag stecken, versiegeln und an Miß Bell adressieren mit dem Zusatz: ›Von Mr. Augustus Bell erhalten und ungelesen versiegelt von Bill Wentworth und Theophilus North.‹ Mr. Bell, darf ich Sie fragen, wo Ihre Tochter Mr. Jones kennengelernt hat?«

»Wir verbringen den größten Teil des Jahres in Newport. Meine Tochter und einige ihrer Freundinnen arbeiten als freiwillige Helferinnen im Krankenhaus. Diana ist wahnsinnig kinderlieb. Sie lernte diesen Mr. Jones kennen, als er seine dreijährige Tochter besuchte, die dort als Patientin lag. Er ist ein vulgärer, gewissenloser Mitgiftjäger, genau wie die andern. Wir haben uns diese Banditen oft genug vom Halse halten müssen. Das springt ja in die Augen.«

Einem solchen Mann kommt man nur mit folgendem Mittel bei: man starre ihn weiterhin erwartungsvoll an, als ob er sogleich das völlig überzeugende Wort finden würde. Ohne Zustimmung und Applaus schrumpfen diese Leute nämlich zusammen und schnappen nach Luft.

Nach einer Pause begann ich wieder. »Mr. Bell, ich möchte Ihnen gern ein paar vernünftige Bedingungen unterbreiten. Zunächst darf unter keinen Umständen von meiner Bezahlung die Rede sein. Ich werde Ihnen eine Rechnung in Höhe meiner Verluste schicken, die mir aus der Absage meiner hiesigen Verpflichtungen erwachsen. Es handelt sich also nicht um Bezahlung, sondern um Entschädigung. Ferner möchte ich ein Auto zur Verfügung haben, dunkelblau oder schwarz — wenn möglich ein Fabrikat, in dem drei Personen vorne sitzen können. Außerdem brauche ich einen guten Revolver.«

»Warum?«

»Ich werde keine konventionelle, sondern selbstverfertigte Munition verwenden. Sollte die Polizei das Auto Ihrer Tochter mit durchschossenen Reifen auf einer Autobahn in Rhode Island oder Connecticut finden, so steht das unweigerlich in der Zeitung. Ich kann einen Reifen sozusagen auf natürliche Weise durchlöchern. Ich möchte von Ihnen auch einen verschlossenen Briefumschlag mit zehn Zehn-Dollar-Scheinen für gewisse vielleicht notwendige Ausgaben. Ich werde das Geld wahrscheinlich nicht brauchen, in diesem Falle werde ich den Briefumschlag ungeöffnet Mr. Wentworth zurückgeben. Die wichtigste Bedingung aber ist diese: Ich werde, ob erfolgreich oder nicht, mit niemandem außer Ihrer Familie über diese Angelegenheit sprechen. Sind Sie mit meinen Bedingungen einverstanden?«

Er grunzte: »Ja.«

»Ich habe diese fünf Bedingungen schriftlich festgehalten. Wollen Sie bitte unterschreiben?«

Er las das Dokument durch und setzte zur Unterschrift an. Plötzlich sah er auf. »Natürlich bezahlen wir — ich bin bereit, Ihnen tausend Dollar zu bezahlen.«

»In diesem Falle, Mr. Bell, müssen Sie leider einen Kidnapper dingen, der Miß Bell gewaltsam zurückbringt. Um keinen Betrag in der Welt würde ich mich dazu hergeben. Meine Mission ist die Überredung, mehr nicht.«

Er sah mich verdutzt an, als würde er in eine Falle gelockt. Dann warf er Bill einen fragenden Blick zu.

»Ich habe nichts von diesen Bedingungen gewußt, Mr. Bell, aber ich halte sie für vernünftig.«

Mr. Bell unterzeichnete nun endgültig das Dokument und legte es auf den Tisch. Ich schüttelte Bill die Hand und sagte: »Wollen Sie den Vertrag bitte an sich nehmen? Ich werde morgen abend um sechs Uhr hier sein, um das Auto abzuholen.« Ich verbeugte mich leicht vor Mr. Bell und ging hinaus.

Der Portier vom CVJM borgte mir ein paar Straßenkarten von Rhode Island und Connecticut. Am folgenden Tag studierte ich sie mehrmals sehr sorgfältig. Die selbstverfertigte Munition war natürlich der reine Bluff, schiere Prahlhanserei. Beim Übungsschießen auf Fort Adams hatten wir Korkkugeln mit einer Nadel benutzt, die in die Zielscheibe eindrang. Ich nahm an, daß sie auch einen Autoreifen durchlöchern würde, und kaufte mir ein Paket.

___________

Das Auto war wunderschön. Ich ließ mich mit einer frühen Fähre nach Jamestown übersetzen und wartete am Anlegeplatz, bis ich Miß Bells Auto auf die zweite Fähre rollen sah. Miß Bell saß am Steuer. Ich fuhr hinterdrein in den großen, matt erleuchteten Schiffsrumpf. Sobald die Fähre abgelegt hatte, stieg Miß Bell aus und musterte, zwischen den Wagen umhergehend, die Gesichter der Insassen. Sie erblickte mich von weitem und kam geradeswegs auf mich zu. Mr. Jones folgte ihr verwirrt. Ich stieg aus meinem Auto aus und wartete nicht ohne Bewunderung auf sie. Sie war eine große, hübsche junge Frau mit dunklen Haaren und frischen Farben.

»Ich weiß, wer Sie sind, Mr. North. Sie trainieren den Kindergarten im Casino und mein Vater bezahlt Sie, damit Sie hinter mir herspionieren. Sie verdienen nicht einmal meine Verachtung. Sie sind ein minderwertiges Subjekt! Ich könnte Ihnen ins Gesicht spucken … Nun, haben Sie etwas zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen?«

»Ich bin hier in einer einzigen Eigenschaft, Miß Bell — als Vertreter des gesunden Menschenverstandes.«

»Sie!«

»Was Sie jetzt vorhaben, wird in der Presse zur Groteske verzerrt breitgetreten. Sie werden Mr. Jones um seine Karriere als Lehrer bringen.«

»Quatsch! Unsinn!«

»Ich kann nur hoffen, Sie heiraten Mr. Jones und Ihre Familie sitzt bei der kirchlichen Trauung in der ersten Reihe, wie es sich für eine Dame Ihres gesellschaftlichen Ranges gehört.«

»Ich halte es nicht aus. Ich halte es nicht aus, daß Polizisten und Detektive wie Spürhunde mich jagen und abschleppen. Ich werde wahnsinnig. Ich will tun und lassen, was mir paßt.«

Mr. Jones berührte leicht ihren Ellbogen. »Diana, laß uns anhören, was er zu sagen hat.«

»Ihn anhören? Ihn anhören? Diesen spionierenden Molch?«

»Diana, tu es doch!«

»Was, du willst mir Befehle geben?« Sie versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

Noch nie habe ich einen Mann so erstaunt und zugleich so gedemütigt gesehen. Er senkte den Kopf. Sie schrie mich weiter an. »Ich verbitte mir jedes Nachspionieren. Nie mehr werde ich in dieses Haus zurückkehren. Jemand hat da meinen Brief gestohlen. Warum kann ich nicht leben wie jeder andere Mensch auch? Warum kann ich nicht mein eigenes Leben führen?«

Ich wiederholte mit ruhiger Stimme: »Miß Bell, ich bin hier als Vertreter des gesunden Menschenverstandes. Ich möchte Ihnen und Mr. Jones eine Menge Ärger und Kränkungen ersparen.«

Mr. Jones fand seine Sprache wieder. »Diana, du bist ja ganz anders als das Mädchen, das ich im Krankenhaus kennenlernte.«

Sie legte ihre Hand auf seine gerötete Backe. »Aber, Hilary, merkst du denn nicht, was für Blödsinn er redet? Er will uns einfangen. Er will uns zurückhalten …«

Ich fuhr fort: »Diese Überfahrt wird etwa eine halbe Stunde dauern. Wollen Sie Mr. Jones und mir erlauben, auf dem Oberdeck diese Angelegenheit in Ruhe miteinander zu besprechen?«

Er sagte: »Bei einer solchen Unterredung muß Diana dabeisein. Diana, ich frage dich nochmals, willst du dir nicht anhören, was er uns zu sagen hat?«

»Also schön, gehen wir nach oben«, sagte sie verzweifelt.

___________

Das Oberdeck wirkte wie ein billiger, seit zehn Jahren nicht mehr benutzter Tanzsaal. Es gab eine Theke für Kaffee und Sandwiches, die aber jetzt, zu Beginn der Saison, noch nicht in Betrieb war. Tische und Stühle waren schmutzig und verrostet. Die Lampen verbreiteten ein stahlblaues Licht, das sich gut zum Photographieren von Verbrechern geeignet hätte. Sogar Diana und Hilary — beides hübsche Menschen — wirkten häßlich.

»Wollen Sie zuerst sprechen, Miß Bell?«

»Wie konnten Sie diesen gräßlichen Job annehmen, Mr. North? Kinder im Casino haben Sie mir gezeigt und behauptet, sie mögen Sie.«

»Ich werde Ihnen später alle Fragen beantworten. Doch erst sollen Sie beide von sich erzählen.«

»Ich habe Hilary im Krankenhaus kennengelernt, wo ich als Helferin arbeitete. Er saß am Bett seiner Tochter, und es war wunderbar, wie die beiden sich miteinander unterhielten; da verliebte ich mich sofort in ihn. Die meisten Väter bringen ihren Kindern Schokolade mit oder eine Puppe und benehmen sich, als wünschten sie sich tausend Meilen weit weg. Ich liebe dich, Hilary, und ich bitte dich um Verzeihung wegen der Ohrfeige. Ich werde es gewiß nicht wieder tun.« Er legte seine Hand auf die ihre. »Mr. North, manchmal kann ich mich nicht beherrschen. Mein Leben war ein einziges Durcheinander und voller Fehler. Von drei Schulen hat man mich nach Hause geschickt. Wenn Sie — und mein Vater — mich jetzt wieder nach Newport zurückholen, dann mache ich Schluß — wie Tante Jeannine. Mein Fuß soll nie wieder Newport betreten, solange ich lebe. Hilarys Cousin in Maryland, wo wir heiraten wollen, sagt, daß Hilary dort an den vielen Schulen und Universitäten schon eine Stellung finden kann. Ich habe etwas Geld, das mir Tante Jeannine in ihrem Testament vermacht hat. Damit finanzieren wir im nächsten Jahr die notwendigen Operationen von Hilarys Tochter. Mr. North, was meint der gesunde Menschenverstand dazu, den Sie dauernd im Munde führen?«

Ein Augenblick des Schweigens.

»Danke, Miß Bell. Jetzt sind Sie an der Reihe, Mr. Jones.«

»Sie wissen wahrscheinlich nicht, daß ich geschieden bin. Meine Frau ist Italienerin. Dem Rat ihres Anwalts folgend hat sie vor Gericht ausgesagt, wir paßten nicht zusammen, aber ich schätze sie noch immer. Sie arbeitet jetzt in einer Bank und … behauptet, glücklich zu sein. Wir beide bezahlen von unserm Gehalt Lindas Krankenhausrechnungen. Als ich Diana kennenlernte, trug sie eine Art blaugestreifter Schwesterntracht, und als ich sah, wie sie sich über Lindas Bett beugte, hielt ich sie für das schönste Wesen, dem ich je begegnet bin. Ich wußte nicht, daß sie aus einer der vornehmsten Familien kommt. Zum Mittagessen trafen wir uns an einem Ecktisch im Schottischen Tea-Room. Ich wollte bei ihren Eltern vorsprechen, wie das so Sitte ist. Aber Diana meinte, es wäre sinnlos … und uns bliebe nichts anderes übrig als eben das Unternehmen von heute abend.«

Schweigen. Jetzt war die Reihe an mir.

»Miß Bell, darf ich Ihnen etwas sagen? Ich habe nicht die Absicht, Sie zu beleidigen. Ich will Sie auch nicht abhalten, Mr. Jones zu heiraten. Doch ich spreche noch immer im Namen des gesunden Menschenverstandes. Verzichten Sie auf dieses Davonlaufen. Sie sind eine vielbeachtete junge Dame. Alles, was Sie tun, erhält eine Unmenge Publicity. Die Ihnen zustehende Ausreißquote haben Sie bereits überschritten. Ich erwähne es ungern, aber wissen Sie, daß Sie Millionen Amerikaner mit dem Spitznamen nennen, den diese Sonntagszeitungen Ihnen angehängt haben?«

Sie sah mich böse an. »Wie heißt er?«

»Verzeihen Sie, aber ich trage so billiges Journalistengeschwätz nicht weiter.«

Ich erzählte eine Lüge — oder vielleicht eine Halbwahrheit. Außerdem wollte ich nichts riskieren.

»Hilary, ich bin nicht hier, um mich beleidigen zu lassen.«

Sie stand von ihrem Stuhl auf, ging im Saal auf und ab und griff sich an die Kehle, als ob sie ersticke. Aber sie begriff. Wieder schrie sie: »Warum kann ich nicht so leben wie jeder andere?« Endlich setzte sie sich erneut an unseren Tisch und schnaubte verächtlich: »Nun, was schlagen Sie mir vor, Doktor Schnüffelnase vom gesunden Menschenverstand?«

»Ich schlage vor, daß wir von Narragansett mit derselben Fähre auch wieder zurückfahren. Sie kehren in Ihr Elternhaus zurück, wie von einer kleinen abendlichen Spazierfahrt. Später werde ich Ihnen einige Winke geben, wie Sie Mr. Jones einfacher und würdiger heiraten können. Ihr Vater wird Sie in die Kirche führen, und Ihre Mutter sitzt, wie es sich gehört, weinend in der ersten Reihe. Ihre kleinen Freunde sollen so zahlreich wie möglich zu der Trauung gebracht werden und Dutzende von Mr. Jones’ Schul-Teams werden sich einfinden. Die Zeitungen schreiben dann: ›Newports vielgeliebte Kinderfreundin heiratet Newports beliebtesten Lehrer.‹«

Kein Zweifel, dieses Bild blendete Miß Bell, aber sie hatte ein schweres Leben hinter sich. »Wie läßt sich das machen?«

»Sie bekämpfen schlechte öffentliche Meinung mit guter öffentlicher Meinung. Ich habe hier, in Providence und in New Bedford ein paar Journalistenfreunde. Die Welt, in der wir leben, schwimmt in Publicity. Man wird über den bemerkenswerten Mr. Jones schreiben und ihn zum Lehrer des Jahres in Rhode Island vorschlagen. Der Bürgermeister muß davon Notiz nehmen — wer baut uns das Newport von morgen? Da wird eine Medaille verliehen — und wer wäre geeigneter, sie zu überreichen? Kein geringerer als Augustus Bell, Aufsichtsratsvorsitzender des Casinos. Bellevue Avenue sieht sich mit Begeisterung demokratisch, patriotisch, philanthropisch und großherzig. Damit ist das Eis gebrochen.«

Ich wußte, das war alles reines Geflunker, aber ich hatte Bill Wentworth zuliebe einen Auftrag zu erledigen. Und ich wußte auch, daß eine Heirat zwischen den beiden mit einer Katastrophe enden würde. Meine billige Strategie wirkte.

Sie schauten einander an.

»Ich will nicht, daß mein Name in die Zeitung kommt«, sagte Hilary Jones.

Ich sah Diana in die Augen und sagte: »Mr. Jones will nicht, daß sein Name in die Zeitung kommt.«

Sie begriff. Sie sah mir ebenfalls in die Augen und zischte: »Sie Teufel!«

Hilary hatte seine Sicherheit wiedergewonnen. »Diana«, sagte er, »glaubst du nicht, wir sollten umkehren?«

»Wie du meinst, Hilary«, antwortete sie und brach in Tränen aus.

Bei unserer Ankunft erfuhren wir, daß die Fähre den Betrieb für die Nacht eingestellt hatte. Wenn wir Newport noch erreichen wollten, mußten wir mit dem Auto die vierzig Meilen bis Providence fahren und dann weitere dreißig Meilen bis Newport. Hilary und auch ich schlugen vor, daß wir in einem Wagen fahren sollten — der andere könnte am nächsten Morgen abgeholt werden. Diana weinte und weinte: sie sah ihr Leben als eine einzige große Enttäuschung. Sie murmelte, daß sie nicht chauffieren könne, nicht chauffieren wolle. Wir luden also das Gepäck der beiden in meinen Wagen um. Ich setzte mich ans Steuer. Sie zeigte auf mich und sagte: »Neben diesem Mann da will ich nicht sitzen.« Sie wählte den Fensterplatz und schlief ein, jedenfalls erweckte sie diesen Anschein.

Hilary war nicht nur Leiter der Sportabteilung des Gymnasiums, sondern auch Sportinspektor an allen anderen Schulen. Ich fragte ihn, welche Chancen er den verschiedenen Teams bei den kommenden, alljährlichen Schulwettkämpfen einräume. Da wurde er ganz lebhaft.

»Bitte nennen Sie mich Hill.«

»Gut. Und ich heiße Ted.«

Ich hörte von den Hoffnungen und Ängsten aller Teams, ich hörte von vielversprechenden Pitchers, die sich die Sehne verzerrten, und von begabten Läufern mit Muskelkrämpfen, von der Aussicht, die Mannschaft der Fall-River-Schule zu besiegen, von den Qualitäten des Calvert-Teams, des Cranston-Teams und des Rogers-Teams. Sehr detailliert. Sehr interessant. Es begann zu regnen, wir mußten Diana aufwecken und das Fenster schließen. Doch nichts konnte Hills informativen Redestrom bremsen. Kurz vor Mitternacht erreichten wir die Arbeiterviertel am Stadtrand von Providence. Diana öffnete ihre Handtasche, zog ein Päckchen Zigaretten heraus und zündete sich eine an. Hill saß versteinert da: seine zukünftige Frau rauchte!

Eine Tankstelle wollte eben schließen. Ich fuhr vor und ließ den Tank auffüllen. Ich fragte den Mann: »Sagen Sie, gibt es hier in der Nähe ein Lokal, wo man noch eine Tasse irischen Tee trinken kann?«

»Da ist ein Club gleich um die Ecke, der manchmal spät offen hat. Wenn Sie ein grünes Licht über dem Nebeneingang sehen, dann lassen die Sie rein.«

Das Licht brannte. »Wir müssen noch eine ganze Stunde fahren«, sagte ich zu den beiden. »Ich brauche einen kleinen Drink, damit ich wachbleibe.«

»Ich auch«, sagte Diana.

»Sie trinken also nicht, Hill? Kommen Sie trotzdem mit und beschützen Sie uns als unsere Leibwache bei einer Schlägerei.«

Ich habe vergessen, wie der Club hieß. »Gesellschaft für polnisch-amerikanische Freundschaft« oder »Les Copains Canadiens« oder »Club Sportivo Vittorio Emanuele«. Er war dunkel, gut besucht, mit herzlicher Atmosphäre. Jeder schüttelte jedem die Hand. Man erlaubte uns nicht mal, unsere Getränke selber zu bezahlen.

Diana wurde munter. Sie war umringt.

»Sie, Lady, Sie sind einfach fabelhaft.«

»Sie aber auch.«

Diana wurde zum Tanzen aufgefordert und ging mit. Hill und ich saßen an einem entlegenen Tisch. Er war erschlagen. Wir konnten uns nur schreiend über den Lärm hinweg verständlich machen.

»Ted?«

»Ja, Hill?«

»Ist sie so erzogen worden?«

»Es ist alles vollkommen harmlos, Hill.«

»Ich habe noch nie ein Mädchen gekannt, das raucht und trinkt — noch dazu mit fremden Männern.«

Wir sahen vor uns hin — geradewegs in die Zukunft. Bei der nächsten Pause der Musik sagte ich: »Hill?«

»Ja.«

»Sie haben einen Vertrag mit der Schulbehörde, nicht wahr?«

»Ja.«

»Läuft er jetzt etwa ab?«

Die Ellbogen auf dem Tisch, hatten wir nun den Kopf auf unsere gefalteten Hände gestützt. Er wurde puterrot. Er biß sich in die Knöchel der rechten Hand.

»Weiß Miß Bell Bescheid?« Hinter meiner Frage lagen noch andere Fragen. »Weiß sie, daß sie im ganzen Land keinen Ihrer alten Stellung entsprechenden Job finden? Daß für Sie nur noch private Clubs in Betracht kommen — Abmagerungsinstitute für Männer in mittleren Jahren?«

Gequält hob er langsam den Blick. »Nein.«

»Haben Sie Ihre Stellung schon gekündigt?«

»Nein.«

Vielleicht zum ersten Mal wurde ihm klar, daß seine Ehre auf dem Spiel stand.

»Begreifen Sie nicht? Wir haben uns so geliebt. Alles sah so einfach aus.«

Die laute Musik setzte wieder ein. Wir vermieden es, mit unsern Augen der jungen Frau zu folgen, die ein Tanzpartner dem andern wegschnappte. Schließlich schlug Hilary mir kräftig auf den Ellbogen: »Ted, helfen Sie mir, die Zelte abzubrechen.«

»Sie meinen, die kleine Party hier?«

»Nein, die ganze Geschichte.«

»Die ist bereits zu Ende, Hill. Hören Sie gut zu. Sie müssen sich während der Rückfahrt nach Newport ohne Pause über die Fußball-Chancen Ihres Teams verbreiten. Erzählen Sie uns alles, was Sie schon vorher erzählt haben, und alles noch etwas ausführlicher. Machen Sie genaue Angaben über Gewicht, Alter usw. jedes einzelnen Spielers. Lassen Sie sich durch nichts stören. Wenn Ihnen nichts mehr einfällt, nehmen Sie die College-Teams dran. Sie werden ja bald als Trainer für ein College-Team arbeiten.«

Ich stand auf und ging zu Diana. »Wir sollten jetzt aufbrechen, Miß Bell.«

Wir hatten einen großen Abgang — erneutes Händeschütteln, und »Danke schön« allerseits. Es hatte zu regnen aufgehört; die Nachtluft war wunderbar.

»Meine Herren, ich habe mich seit Jahren nicht mehr so amüsiert. Meine Schuhe sind hin. Diese ungestümen Kerle!«

Wir fuhren ab. Hilary hatte es die Sprache verschlagen, so half ich aus.

»Hill, wenn ich es mir recht überlege, müssen Sie doch am Abend immer ziemlich spät nach Hause kommen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und Ihre Frau hat sich gewiß beklagt, daß sie von morgens früh um sieben bis abends um acht Sie nicht zu Gesicht bekam?«

»Es tat mir schrecklich leid, aber was konnte ich machen?«

»Der Sonnabend war natürlich der schlimmste Tag, wenn Sie dann hundemüde von Woonsocket oder Tiverton heimkehrten. Sind Sie gelegentlich auch ins Kino gegangen?«

»Am Sonntag sind die Kinos geschlossen.«

Wir wandten uns wieder dem Fußball-Team zu. Ich stieß ihn heimlich an, das weckte ihn etwas auf. »Wendell Fusco von der Washington-Schule ist der kommende Mann. Sie sollten mal sehen, wie dieser Junge mit eingezogenem Kopf die Reihen durchbricht. Newport kann sehr bald stolz auf ihn sein.«

»Welche Disziplin trainieren Sie am liebsten, Hill?«

»Mittelstrecken wahrscheinlich. Ich bin selbst mal Mittelstreckenläufer gewesen.«

»Welche sportliche Veranstaltung gefällt Ihnen am besten?«

»Ich muß offen gestehen: Der große Newport-Stafettenlauf ist für mich das aufregendste Sportereignis des Jahres. Sie können sich nicht vorstellen, wie verschieden die Männer sind — ich nenne die Läufer ›Männer‹, das hebt ihre Moral. Sie sind alle zwischen fünfzehn und siebzehn. Jeder muß dreimal die Runde laufen, bevor er die Stafette dem nächsten Mann weitergibt. Nehmen Sie Bylinski, er ist der Kapitän der blauen Mannschaft. Er ist nicht so schnell wie die andern, aber er ist ein Denker. Er läuft gern als Zweiter. Er kennt die guten und schlechten Seiten seiner ›Männer‹ und jeden Millimeter der Rennbahn. Köpfchen, verstehen Sie, was ich meine? Und da ist Bobby Neuthaler, Sohn eines Gärtners in der Bellevue Avenue. Energisch, verbissen — und doch nervös. Bricht am Ende eines jeden Rennens in Tränen aus, egal ob Sieg oder Niederlage. Die andern Männer respektieren das, sie übersehen es. Ciccolino, er wohnt draußen am Point, dort in der Gegend habe ich auch gewohnt, als ich noch verheiratet war, ist der Clown der roten Mannschaft. Sehr schnell. Läuft wahnsinnig gern, aber er lacht immerzu. Das ist übrigens hochinteressant, Ted: vor jedem Rennen besuchen seine Mutter und seine ältere Schwester die Mitternachtsmesse in der Herz-Jesu-Kapelle und beten für ihn, bis sie zu Hause das Frühstück machen müssen. Stellen Sie sich das vor!«

Ich brauchte wirklich niemanden, der mir sagte, ich sollte mir das vorstellen. Mir war, als ob ich Homer zuhörte, dem blinden Bettler, wie er beim Mahle den Gesang vortrug von der Fürbitte der silberfüßigen Thetis bei Zeus für ihren Sohn Achilles:

Und sie setzte sich nahe vor ihn, umschlang mit der Linken / seine Knie und berührt’ ihn unter dem Kinn mit der Rechten: / Flehend zugleich begann sie zum herrschenden Zeus Kronion: / »Vater Zeus, wenn ich je mit Worten dir oder mit Taten / Frommt’ in der Götter Schar, so gewähre mir dieses Verlangen: / Ehre mir meinen Sohn, der frühhinwelkend vor anderen / Sterblichen ward!«

»Mensch, Ted, du solltest sehen, wie Roger Thompson den Stab abnimmt — ein kleiner Dicker, aber er legt seine ganze Seele hinein. Seinem Vater gehört die Eisdiele am unteren Ende des Strandbads. Unser Vertrauensarzt sagt, er läßt ihn nächstes Jahr nicht laufen; er ist erst vierzehn und es schadet seinem Herz, da er jetzt so schnell wächst.«

Der Katalog nahm kein Ende. Ich warf Diana — vernachlässigt, vergessen — einen Blick zu. Ihre Augen standen offen, sie wirkte gedankenversunken. Worüber hatten die beiden während der verliebten Stunden im Schottischen Tea-Room wohl gesprochen?

Hill wies mir den Weg bis vor die Tür seiner Pension. Während wir sein Gepäck aus dem Kofferraum holten, stieg Diana aus und betrachtete die menschenleere Straße der Neunten Stadt, die ihr Fuß so selten betreten hatte. Es war längst nach ein Uhr. Anscheinend hatte Hill seiner Pensionsmutter nichts von seiner Abreise mitgeteilt, denn er zog den Haustürschlüssel aus der Tasche.

Diana ging auf ihn zu. »Hilary, ich habe dich geohrfeigt. Bitte, gib mir jetzt auch eine Ohrfeige, dann sind wir quitt.«

Er trat ein paar Schritte zurück und schüttelte den Kopf. »Nein, Diana, nein!«

»Bitte.«

»Nein, nein. Ich danke dir für die glücklichen Stunden, die wir zusammen hatten. Und dafür, daß du so nett zu Linda gewesen bist. Willst du mir bitte einen Kuß geben, damit ich ihr sagen kann, du schickst ihr einen Kuß?«

Diana küßte ihn auf die Wange und stieg unsicher wieder in den Wagen, ihre Hand zitterte. Hill und ich gaben uns schweigend die Hand, und ich setzte mich wieder ans Steuer. Sie zeigte mir den Weg zu ihrem Haus. Als wir durch das große Tor rollten, sahen wir, daß eine Party im Gange war. Vor dem Haus parkten Autos mit schlafenden Chauffeuren. Sie murmelte: »Alle spielen wie verrückt Mahjong. Heute findet ein Turnier statt. Bitte fahren Sie mich zum Hintereingang. Ich will nicht, daß man mich mit Gepäck zurückkommen sieht.«

Sogar der Hintereingang besaß eine große Sandsteinauffahrt. Ich trug ihre Koffer vor den dunklen Eingang.

Sie sagte: »Nehmen Sie mich in die Arme.«

Ich legte meine Arme um sie, es war keine feste Umarmung, und unsere Gesichter berührten sich nicht. Sie wollte sich nur einen Augenblick an etwas halten, das nicht so steinern war wie das stolze Portal, unter dem wir standen. Sie zitterte unter der fröstelnden Erkenntnis der ewigen Wiederholungen in ihrem Leben.

Dienstboten gingen in der Küche umher; sie brauchte nur noch zu klingeln. Und sie klingelte.

»Gute Nacht«, sagte sie.

»Gute Nacht, Miß Bell.«

Das Wyckoff-Haus

Unter den ersten Antworten auf meine Annonce befand sich auch ein in zierlicher, altmodischer Schnörkelschrift geschriebener Brief einer Miß Norine Wyckoff, Bellevue Avenue Nummer soundso; darin bat sie mich, zwischen drei und vier an einem mir genehmen Tag bei ihr vorzusprechen. Sie wollte mit mir Vorlesestunden vereinbaren. Die Arbeit würde mich vielleicht langweilen; außerdem müsse sie mir einige Bedingungen stellen, die ich allerdings akzeptieren könnte oder nicht, wie es mir gefiele.

___________

Am nächsten Abend traf ich mich mit Henry Simmons zu einer Partie Billard. Gegen Ende der Partie fragte ich so nebenbei: »Henry, was weißt du von der Wyckoff-Familie?«

Mitten im Stoß hielt er inne, richtete sich auf und sah mich scharf an. »Komisch, daß du mich das fragst.«

Dann beugte er sich wieder über den Tisch und spielte weiter. Wir beendeten die Partie. Auf Henrys Wink hin stellten wir die Queues ein, bestellten unsere Getränke und schlenderten zu einem Tisch in der entferntesten Ecke der Bar. Als Tom die Bierseidel gebracht hatte und wieder verschwunden war, schaute Henry sich um und flüsterte: »Das Haus ist verhext. Skelette fliegen den Schornstein rauf und runter wie wahnsinnige Schmetterlinge.«

Ich hatte gelernt, Henry nicht zu drängen.

»Soviel ich weiß, gibt es in Newport vier Spukhäuser unter den großen Villen. Höchst unbehagliche Situation. Dienstmädchen wollen dort nicht arbeiten, sie weigern sich, über Nacht zu bleiben. Sie sehen Erscheinungen in Korridoren, sie hören Geräusche in Wandschränken. Nichts ist ansteckender als Hysterie. Zwölf Gäste zum Abendessen. Die Mädchen lassen Tablette fallen, schlagen ohnmächtig der Länge nach hin. Köchin nimmt Hut und Mantel und verläßt das Haus. Das gibt dem Haus einen schlechten Ruf, verstehst du? Kein Wachmann wird geloben, nachts die Runde durch das ganze Haus zu machen … Die Hepworth-Villa — an die Küstenwache verkauft. Chivers Cottage — da soll der Hausherr das französische Dienstmädchen erwürgt haben — alles unbewiesen. Die Familie hat eine Prozession von Priestern kommen lassen mit Kerzen und Weihrauch und dem ganzen Kram … sie vertrieb die Gespenster und verkaufte das Haus an eine Klosterschule. Colby Cottage — jahrelang unbewohnt, in einer Dezembernacht abgebrannt. Geh hin und schau dir’s an: nur noch Disteln. War früher berühmt für seine wilden Rosen. Nun zu deinem Wyckoff-Haus. Ein wunderbares Haus. Niemand weiß, was wirklich los war. Keine Leiche, kein Prozeß, kein Vermißter, nichts. Nur Gerüchte und Klatsch — aber das Haus hat einen schlechten Namen bekommen. Alte Familie, hochangesehene Familie. Schwerreich. Edweena sagt, könnte den Staat Texas kaufen oder verkaufen, ohne etwas zu merken. Vor dem Ersten Weltkrieg große Diners, Konzerte, Paderewski — sehr musikalische Familie —, dann gingen die ersten Gerüchte um. Miß Wyckoffs Eltern pflegten für wissenschaftliche Expeditionen Schiffe zu chartern. Er war Sammler, Muscheln und heidnische Gottheiten. Blieb oft ein halbes Jahr fort. So um 1911 kehrte er zurück, schloß das Haus ab und lebte in seinem New Yorker Stadthaus. Während des Krieges starben Mr. Wyckoff und seine Frau einen anständigen Tod in einem New Yorker Krankenhaus, sie ließen Miß Norine allein zurück, die letzte ihres Namens. Was sollte sie tun? Sie ist sehr mutig, geht nach Newport und macht den Familiensitz wieder auf, ihr Elternhaus, in dem sie aufwuchs. Aber nach Einbruch der Dunkelheit bleibt ihr keine Hilfe. Vor acht Jahren mietete sie eine Wohnung in den La Forge Cottages und fährt jetzt jeden Tag zum Wyckoff-Haus, lädt Leute zum Mittagessen ein, zum Tee — aber wenn die Sonne sinkt, sagen ihre Mädchen, der Butler und alle Diener: ›Wir müssen jetzt gehen, Miß Wyckoff‹, und gehen. Und dann fährt sie im Wagen mit ihrer Zofe zu den La Forge Cottages zurück und läßt hinter sich alle Lichter im Haus brennen …«

Schweigen.

»Henry, schwöre mir, gibt es wirklich nichts, was das Gerücht verursacht haben könnte? Mrs. Cranston weiß alles. Glaubst du nicht, daß sie eine Theorie bereit hat?«

»Mir hat sie nichts gesagt, und Edweena, das scharfsinnigste Mädchen auf der Aquidneck-Insel, weiß auch nichts.«

___________

Am nächsten Tag stand ich um drei Uhr dreißig vor dem Wyckoff-Haus. Ich bewunderte es seit langem. Ich stieg jedesmal von meinem Fahrrad, um meine Augen auf dem schönsten Cottage von Newport ruhen zu lassen. Ich war noch nie in oder auch nur in der Nähe von Venedig gewesen, aber ich erkannte sofort, daß das Haus im Stil von Palladio erbaut war und jenen berühmten Villen an der Brenta glich. Später sollte ich das Erdgeschoß sehr genau kennenlernen. Die Eingangshalle war groß, doch nicht erdrückend. Die Decke wurde von freskengeschmückten Säulen und Bogen getragen. Die breiten, marmorumrahmten Eingänge öffneten sich nach allen Seiten — zugleich schwerelos und einladend, sehr nobel. Ein älteres Mädchen öffnete mir die große Bronzetür und führte mich in die Bibliothek, wo Miß Wyckoff an einem vor das brennende Kaminfeuer gerückten Teetisch saß. Der Tisch war für ziemlich viele Gäste gedeckt, aber die Flamme unter der Teemaschine brannte noch nicht. Miß Wyckoff, die ich für etwa sechzig hielt, war ganz in schwarze Spitzen gekleidet. Sie fielen ihr von einem Häubchen über die Ohren und reichten in Rüschen und Volants bis auf den Boden. Ihr Gesicht war noch immer ungewöhnlich hübsch und drückte zugleich Aufrichtigkeit, Anmut und, wie Henry sagte, auch Mut aus.

»Vielen Dank, daß Sie gekommen sind, Mr. North.« Sie streckte die Hand aus, dann sagte sie zum Mädchen: »Vielleicht möchte Mr. North eine Tasse Tee trinken, bevor er uns verlassen muß. Sollte jemand anrufen, lassen Sie sich Name und Telefonnummer geben, ich werde später zurückrufen.« Als das Mädchen gegangen war, flüsterte sie mir zu: »Darf ich Sie bitten, die Tür zu schließen? Danke vielmals. Ich weiß, Sie haben viel zu tun. Sprechen wir also sofort über die Angelegenheit, deretwegen ich Sie hergebeten habe. Mein alter Freund Dr. Bosworth hat Sie mir aufs wärmste empfohlen.«

Sie hatten sich durch ein Zeichen verständigt. Die Reichen verhalten sich wie die Mitglieder einer Freimaurerloge, sie tauschen in verschlüsselter Sprache oder mit Kennworten Empfehlungen und Warnungen aus.

»Überdies konnte ich Ihnen mit Sicherheit trauen, sobald ich las, daß Sie in Yale studiert haben. Mein Vater hat in Yale studiert und ebenso mein Großvater. Auch mein Bruder, wäre er noch am Leben, hätte in Yale studiert. Ich bin der Ansicht, die Yale-Universität hat noch immer im wahren Sinn des Wortes ehrenwerte christliche Gentlemen herangebildet.« Sie war gerührt, ich war gerührt, Elihu Yale drehte sich im Grabe um. »Sehen Sie diese beiden häßlichen alten Koffer? Ich habe sie vom Dachboden herunterholen lassen. Sie sind voller Familienbriefe, die zum Teil sogar sechzig oder siebzig Jahre alt sind. Ich bin die letzte meines Namens, Mr. North. Die meisten Briefe sind inzwischen uninteressant geworden. Schon seit langem war es mein Wunsch, sie kurz durchzusehen … und, wenn möglich, zu vernichten. Meine Augen sind leider nicht mehr so gut, um Handgeschriebenes zu lesen, vor allem, wenn die Tinte schon verblaßt ist. Haben Sie gute Augen, Mr. North?«

»Ja, gnädige Frau.«

»In den meisten Fällen dürfte ein flüchtiger Blick auf Anfang und Ende des Briefes genügen. Meines Vaters wissenschaftliche Korrespondenz — er war ein bedeutender Gelehrter, ein Konchologe — liegt mit seiner Sammlung in der Yale-Universität, wo beides sicher aufgehoben ist. Wären Sie bereit, diese Aufgabe mit mir zusammen anzupacken?«

»Ja, Miß Wyckoff.«

»Beim Lesen alter Briefe besteht natürlich immer die Möglichkeit, daß intime Dinge zur Sprache kommen. Versprechen Sie mir als Yale-Absolvent und Christ, daß dies alles unter uns bleibt?«

»Ja, Miß Wyckoff.«

»In einer weiteren Angelegenheit muß ich Sie ebenfalls um Diskretion bitten. Mr. North, meine Situation in Newport ist ganz außergewöhnlich. Hat jemand mit Ihnen darüber gesprochen, über mich?«

»Nein, gnädige Frau.«

»Ein Fluch lastet auf diesem Haus.«

»Ein Fluch?«

»Ja. Viele Leute glauben, es ist ein Spukhaus.«

»Ich glaube nicht, daß es solche Häuser gibt, Miß Wyckoff.«

»Ich auch nicht.«

Von diesem Augenblick an waren wir Freunde. Mehr noch, Verschwörer und Kampfgenossen. Sie erzählte mir von ihren Schwierigkeiten, Dienstboten zu finden, die bei Einbruch der Dunkelheit nicht das Haus verließen. »Es demütigt mich, meine Freunde nicht zum Abendessen einladen zu können, obwohl sie mich dauernd zu sich bitten. Es demütigt mich, bemitleidet zu werden … und zu spüren, wie auf meinen Eltern ein Verdacht lastet. Andere Frauen hätten wohl schon längst resigniert und das Haus aufgegeben. Aber hier habe ich meine Kindheit verlebt, Mr. North! Hier war ich glücklich! Abgesehen davon teilen viele Leute meine Ansicht, daß dies das schönste Haus in Newport ist. Nie werde ich es aufgeben. Solange ich lebe, werde ich dafür kämpfen.«

Ich sah sie ernst an. »Was wollen Sie damit sagen: kämpfen?«

»Das Haus rehabilitieren! Seinen Schatten vertreiben!«

»Wenn ich Sie recht verstehe, Miß Wyckoff, werden wir diese Briefe lesen, um einen Hinweis auf jenen ungerechtfertigten Verdacht zu finden?«

»Genau! Glauben Sie, daß Sie mir helfen können?«

Von einem Atemzug zum andern verwandelte ich mich in Chief Inspector North von Scotland Yard. »In welchem Jahr fiel Ihnen zum erstenmal auf, daß die Hausangestellten sich weigerten, über Nacht zu bleiben?«

»Mein Vater und meine Mutter unternahmen lange Expeditionen. Ich konnte sie nicht begleiten, weil ich immer furchtbar seekrank wurde. Ich wohnte bei Verwandten in New York und studierte Musik. Mein Vater kehrte 1911 hierher zurück. Wir hatten die Absicht, hierzubleiben, als er sich plötzlich anders entschloß. Er machte das Haus zu, entließ die Angestellten, und wir zogen alle nach New York. Den Sommer verbrachten wir jeweils in Saratoga Springs. Ich flehte ihn an, nach Newport zurückzukehren, aber er lehnte ab. Er hat niemals verraten, warum. Während des Krieges starben meine Eltern. Im Jahre 1919 war ich allein auf der Welt. Ich beschloß, nach Newport zurückzukehren und das ganze Jahr in diesem Haus zu verbringen. Damals stellte ich zum erstenmal fest, daß kein Dienstbote hier wohnen wollte.«

Fiel Miß Wyckoff irgend etwas ein, das diese Angelegenheit erhellen könnte? Hatte ihr Vater Feinde? Nein, überhaupt keine! Wurde die Polizei eingeschaltet? Was war da zu melden, außer dem Widerstand des Personals und den vagen Gerüchten über ein Spukhaus.

»Wer hütete das Haus, wenn Ihr Vater verreist war?«

»Alle Hausangestellten. Meinem Vater lag daran, jederzeit ohne Vorankündigung zurückkehren zu können. Die Leitung über das Ganze hatte ein Butler oder Majordomo, der schon seit Jahren bei uns war.«

»Miß Wyckoff, wir werden mit den Briefen zwischen den Jahren 1909 und 1912 beginnen. Wann soll ich kommen?«

»Kommen Sie doch jeden Tag um drei. Meine Freunde finden sich nicht vor fünf zu einer kleinen Tasse Tee bei mir ein.«

»Ich habe nur jeden zweiten Tag um drei Uhr Zeit. Ich bin morgen hier.«

»Danke, danke vielmals. Ich werde die Briefe aus den betreffenden Jahren aussortieren.«

Der große Weise Mann hatte das letzte Wort. »Es gibt keine Spukhäuser, Miß Wyckoff, nur erregbare, vielleicht auch boshafte Gemüter. Wir wollen herausfinden, worauf diese ganze Geschichte zurückgeht.«

Als ich am folgenden Nachmittag bei Miß Wyckoff eintrat, lagen die in Frage kommenden Briefe gebündelt und mit roten Bändchen verschnürt für mich bereit: die Briefe ihrer Eltern an sie; sechs Briefe ihres Vaters an ihre Mutter (die beiden waren selten auch nur einen Tag getrennt); die Briefe ihres Vaters an seinen Bruder (von ihm zurückgegeben) sowie die Antworten seines Bruders; die Briefe des Majordomo in Newport (Mr. Harland) an ihren Vater; Briefe ihres Vaters an seine Rechtsanwälte in New York und Newport sowie deren Antworten; und Briefe von Freunden und Verwandten an Mrs. Wyckoff. Das Lesen der privaten Korrespondenz war für Miß Wyckoff sehr schmerzlich, aber entschlossen sonderte sie viele zur Vernichtung aus. Winde, Stürme vor Borneo, Blizzards in New York, Gesundheit (ausgezeichnet), Hochzeiten und Sterbefälle in der Familie Wyckoff und ihrer Verwandtschaft, Pläne für das kommende Jahr und Änderungen dieser Pläne, »Unserer geliebten Tochter alles Liebe mit vielen Küssen«.

Miß Wyckoff und ich hatten uns in die Aufgabe geteilt, da sie feststellte, daß ihre Augen noch gut genug waren, die an sie gerichteten Briefe ihrer Eltern selber zu lesen. Wir arbeiteten also mit verteilten Rollen. Ich las die Schreiben von Mr. Harland: undichte Stelle im Dach repariert, fremde Leute weggeschickt, die um Besichtigung des Hauses ersuchten; Reparatur des Treibhauses, das übermütige Fastnachtsbummler beschädigt hatten, und so weiter. Dann vertiefte ich mich in die Briefe von Mr. Wyckoff an seinen Bruder: Entdeckung seltener Muscheln, zur Identifizierung an das Smithsonian Institute geschickt; Durchquerung der Sundastraße unter Lebensgefahr; »einverstanden mit finanziellen Transaktionen«; »entzückt von den musikalischen Fortschritten unsere Norine«.

Endlich entdeckte ich einen Hinweis auf diese unglückselige Geschichte. Der Brief war am 11. März 1911 in Newport geschrieben worden:

Ich nehme an, daß Du meinen gestern abgeschickten Brief vernichtet hast. Ich möchte diese ganze Sache begraben und vergessen. Ein Glück, daß ich Milly und Norine in New York gelassen habe. Sie sollen nur glückliche Erinnerungen an dieses Haus bewahren. Das gesamte Personal habe ich entlassen, bezahlt und mit einer fürstlichen Summe beschenkt. Ich habe nicht einmal Mr. Mullins (Mr. Wyckoffs Rechtsanwalt in Newport) davon verständigt. Jetzt habe ich einen neuen Verwalter engagiert und ein paar Hilfskräfte, die tagsüber hier arbeiten. In ein paar Jahren können wir vielleicht zurückkommen und das Haus wieder aufmachen, wenn diese ganze ekelhafte Geschichte vergessen sein wird.

Ich steckte diesen Brief in einen Umschlag, der für »Später noch einmal zu lesen« bereitlag.

Ich konnte mir jetzt vorstellen, was wahrscheinlich passiert war.

Als Student hatte ich im »Yale Literary Magazine« ein noch unausgegorenes Theaterstück veröffentlicht: »Die Trompete soll ertönen«. Ich hatte den Vorwurf von Ben Jonson »Der Alchimist« übernommen: Dienstherr begibt sich auf Reise von unbestimmter Dauer und läßt das Haus in der Obhut seiner ihm treu ergebenen Dienstboten; Dienstboten führen sich allmählich wie die Herren auf; Freiheit führt zu Zügellosigkeit, Dienstherr kehrt unangemeldet zurück und setzt dem ausschweifenden Treiben ein Ende. Was für ein lebensvoller Schriftsteller, dieser Ben Jonson.

Mr. Wyckoff hatte bei seiner Rückkehr Verkommenheit und Unordnung vorgefunden und vielleicht das Personal bei einer Orgie überrascht.

Aber wie konnte das zu Gerüchten über ein »Spuk«haus führen? Spuk — ein Wort, das unwillkürlich an Mord und dergleichen erinnert. Ich beschloß, das Miß Wyckoff gegebene feierliche Versprechen zu brechen und anderwärts Nachforschungen anzustellen. Außerdem wollte ich verhindern, daß unsere Lese-Nachmittage zu schnell enden sollten. Ich brauchte das Geld. An jedem Wochenende drückte mir das Mädchen, wenn es mich hinausbegleitete, einen Briefumschlag mit einem Scheck über zwölf Dollar in die Hand.

Ich sprach bei Mrs. Cranston kurz nach halb elf vor, als sich die um sie versammelten Damen eben für die Nacht zurückzogen. Ich verbeugte mich vor ihr und murmelte, daß ich gern etwas mit ihr besprochen hätte, setzte mich an die Bar und wartete bei einem Glas Ersatzbier, bis das Feld geräumt war. Als es soweit war, erhielt ich ein Zeichen. Ich zog einen Stuhl herbei und setzte mich neben sie. Wir plauderten erst ein paar Minuten über unsere Gesundheit, das Wetter, meine Absicht, mir eine kleine Wohnung zu mieten, meine wachsende Zahl von Vorleseverpflichtungen und so weiter. Dann sagte ich: »Mrs. Cranston, ich brauche Ihren klugen Rat in einer vertraulichen Angelegenheit, die mich im Augenblick sehr beschäftigt.«

Ich erzählte ihr von dem Vorhaben im Wyckoff-Haus, erwähnte aber nicht den von mir entdeckten wichtigen Brief.

»Eine traurige Geschichte! Eine traurige Geschichte!« sagte sie mit schlecht verhehltem Behagen, während sie die vor ihr stehende Tischglocke läutete. In den späten Abendstunden genehmigte sie sich gern ein hohes Glas mit etwas, das ich für Weißwein hielt. Als Jerry ihre Bestellung ausgeführt und sich wieder entfernt hatte, wiederholte sie: »Eine traurige Geschichte. Eine der ältesten und angesehensten Familien. Hat Ihnen Miß Wyckoff nichts erzählt?«

»Nicht alles, Mrs. Cranston. Sie hat nicht gesagt, warum das Haus in Verruf gekommen ist. Sie versicherte mir feierlich, daß sie keine Ahnung habe.«

»Sie weiß es auch nicht, Mr. North. Lesen Sie die Familienbriefe, die kurz vor dem Krieg geschrieben wurden?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Sind Sie auf etwas … Sensationelles gestoßen?«

»Nein, gnädige Frau.«

»Sie können noch.«

Der Ausdruck »sensationell« ist in Newport sehr gefühlsbelastet. Die sechste Stadt lebte im blendend weißen — ich sollte wohl sagen, im neidgelben Licht einer enormen Publicity. Es war schlimm genug, für frivol zu gelten. Oder gar für skandalös. Aber man fürchtete nichts mehr als die Lächerlichkeit.

Mrs. Cranston ging einen Augenblick mit sich zu Rate, ergriff dann den Telephonhörer und wählte eine Nummer — die Nummer des Polizeichefs.

»Guten Abend, Mr. Diefendorf. Amelia Cranston am Apparat. Guten Abend. Wie geht’s Bertha? Und den Kindern? … Danke, mir geht’s ausgezeichnet … Ach, Sie wissen ja, am Donnerstagabend gibt es immer viel zu tun … Mr. Diefendorf, ein junger Mann ist hier bei mir, der von einer bestimmten, sehr angesehenen Dame in dieser Stadt engagiert wurde, um Nachforschungen über eine ziemlich unerfreuliche Familienaffaire anzustellen … Nein, o nein! Damit hat er nichts zu tun. Er wurde gebeten, die alten Familienbriefe vom Dachboden vorzulesen. Ich glaube, das sollten Sie wissen. Offiziell haben Sie ja nie damit zu tun gehabt, darum muß die Sache sehr vertraulich behandelt werden. Es besteht natürlich die Möglichkeit, daß er etwas findet und daß die Zeitungen darüber berichten. Ich habe volles Vertrauen zu dem jungen Mann, obwohl er selbstverständlich nicht Ihre Erfahrung und Ihr Urteil besitzt. Könnten Sie vielleicht in nächster Zeit an einem Abend hier vorbeikommen und Ihn sehen, oder soll er Sie in Ihrem Büro aufsuchen? Oh, das wäre aber wirklich sehr nett von Ihnen. Ja, er ist jetzt bei mir. Sein Name ist North … Ja, derselbe.« (Wahrscheinlich »derselbe«, der in die Diana-Bell-Geschichte verwickelt war.)

Unser gutes Einvernehmen zeigte sich, als Mrs. Cranston (die selten ein sarkastisches Wort über andere fallen ließ), mir einen Blick zuwarf und trocken bemerkte: »Nach meiner Erfahrung läßt sich der Polizeichef keine Gelegenheit entgehen, um sich aus dem Schoß seiner Familie zu entfernen.«

Wir brauchten nicht lange zu warten. Ich erhielt noch die Erlaubnis, ein zweites Bier zu bestellen. Der Chef war groß und breit und erweckte den Eindruck einer unbehaglichen Freundlichkeit. Später sollte ich erfahren, daß er wohl allzulange von der Arroganz der Reichen eingeschüchtert worden war, die einen vom Glück weniger Begünstigten gern für schwachsinnig halten. Zu seiner Verteidigung gab er vor, an der Wahrheit eines jeden zu ihm geäußerten Wortes zu zweifeln. Er reichte Mrs. Cranston herzlich und mir ein bißchen vorsichtig die Hand. Sie erzählte ihm kurz, worum es sich handelte und drückte erneut ihr Vertrauen zu mir aus.

»Mr. Diefendorf, ich glaube, beim Lesen dieser alten Briefe kann die ganze Geschichte ans Licht kommen, und vielleicht sollte sie das auch. Schließlich steht ja nichts Ehrenrühriges auf dem Spiel, niemand in der Familie wird belastet. Sie haben mir alles gesagt, was Sie darüber wußten, und ich habe mein Wort gehalten und geschwiegen wie das Grab. Sollte nun Mr. North in einem Brief einen deutlichen Hinweis finden, so vertraue ich ihm, daß er Sie zuerst davon verständigen wird. Und dann können Sie entscheiden, ob man Miß Wyckoff aufklären soll oder nicht.«

Die Augen des Chefs ruhten gedankenvoll auf mir. »Was hat Sie nach Newport geführt, Mr. North?«

»Ich war im letzten Kriegsjahr auf Fort Adams stationiert, und die Gegend hier hat mir gefallen.«

»Wie hieß damals der Kommandant?«

»General Kalb oder De Kalb.«

»Sind Sie hier in die Kirche gegangen?«

»Ja, in die Emmanuelskirche. Dr. Walter Lowrie war der Pfarrer.«

»Hat Ihnen Mr. Augustus Bell einen großen Betrag bezahlt, als Sie ihm seine Tochter zurückbrachten?«

»Ich sagte ihm von vornherein, daß ich nur meine abgesagten beruflichen Verpflichtungen vergütet haben möchte. Ich habe ihm zweimal eine Rechnung geschickt, aber sie steht immer noch offen.«

»Was hatten Sie und Ihr Fahrrad vor einigen Tagen in aller Frühe an Brenton’s Point zu suchen?«

»Ich liebe Sonnenaufgänge. Und das war einer der schönsten, den ich je in meinem Leben zu sehen bekam.«

Diese Auskunft bereitete ihm Mühe, und er betrachtete ein paar Minuten lang die Tischplatte. Wahrscheinlich erklärte er mein Benehmen mit den durch ein Universitätsstudium nun einmal hervorgerufenen Verrücktheiten.

»Was wissen Sie über das Wyckoff-Haus?«

»Daß es ein Spukhaus sein soll.«

Er resümierte die mir bereits bekannten Tatsachen … »auf einmal sprach man dann von Gespenstern … Mr. North, kurz nach dem Krieg war der Hafen viel belebter als heute. Mehr Yachten und Vergnügungsdampfer, dazu die Fall-River-Linie, der Fischereibetrieb und eine große Anzahl von Handelsschiffen. Seeleute trinken. Wir haben sie Nacht für Nacht aufgegriffen: sternhagelbetrunken, mit irren Augen, Delirium tremens. Der Besuch der Tavernen in der Thames Street war den Angehörigen der Marine-Ausbildungsstation verboten. Zu viel Schlägereien. Im Jahre 1918 mußten wir eines Nachts einen Mann einsperren, Bill Owens, Matrose auf einem Handelsschiff, ungefähr einundzwanzig, in Newport geboren und aufgewachsen. War jede Nacht besoffen, erzählte dann, was er Schreckliches im Wyckoff-Haus gesehen hatte. Das konnten wir nicht dulden. Und so haben wir Stück für Stück zusammengesetzt, was er alles in seiner Zelle zusammenphantasierte und brüllte.«

Hier ließ uns der Chef warten, während er sich eine Zigarre ansteckte. (In Mrs. Cranstons Salon war Rauchen verboten.)

»Mr. Wyckoff pflegte jeweils sechs bis acht Monate zu verreisen. Er war ein Sammler. Was war es doch gleich, Mrs. Cranston? Haifischzähne?«

»Muscheln und chinesische Kunst, Herr Polizeichef. Er hat alles dem großen Museum in New York vermacht« (Informationen in Newport waren nie akkurat; das lag an seinem intellektuellen Klima).

»Das Haus wurde solange von einem Super-Butler verwaltet namens Harland. Harland suchte sich seine Leute selber zusammen.«

»Mädchen, die er in New York auflas, Chef. Ich hatte nie etwas mit ihnen zu tun.«

»Das Haus war bis Mitternacht hell erleuchtet. Alles schien völlig in Ordnung zu sein. Owens, ein Junge von etwa zwölf Jahren, mußte das Spülwasser ausgießen und die Kohlen für die verschiedenen Kaminfeuer nach oben tragen — Handlangerdienste. Mrs. Cranston wird mir zustimmen, wenn ich sage, Dienstboten sind wie Schulkinder, sie brauchen eine starke Hand. Sobald der Lehrer das Klassenzimmer verläßt, treiben sie lauter Unfug.«

»Da ist leider was Wahres dran, Chef«, sagte Mrs. Cranston kopfschüttelnd. »Ich habe es immer wieder erlebt.«

»Mr. Wyckoff war kein Menschenkenner. Sein Butler Harland war so verrückt, wie man nur sein kann … Bill Owens sagte, man habe ihn nach der Arbeit jeden Abend um sechs Uhr nach Hause geschickt. Aber ein paarmal schlich er zum Haus zurück. Die Vorderzimmer waren hell erleuchtet, doch die Türen und Fenster des Speisezimmers mit Filzvorhängen verhängt. Dicken Filzvorhängen. Sie konnten ihr ruchloses Treiben nicht unten in die Küche verlegen — o nein, sie waren ja die Herren und mußten des Herrn Speisezimmer benutzen. Owens sagte, er habe sich in einem Schrank versteckt, um dann durch eine Spalte der Vorhänge zu gucken. Er beobachtete schreckliche Dinge. Er erzählte den Leuten in der Thames Street von Festgelagen, bei denen sich die Leute ausgezogen und wie Kannibalen benommen hätten.«

»Chef, dieses Wort haben Sie noch nie benutzt!«

»Nun, er hat’s benutzt. Ich bin überzeugt, er hat nichts Derartiges gesehen, er hat es nur geglaubt.«

»Gott im Himmel«, sagte Mrs. Cranston und bekreuzigte sich.

»Halbgares Fleisch mit den Fingern gegessen, da kann ein Junge von zwölf Jahren schon auf so etwas kommen.«

»Gott sei uns gnädig«, sagte Mrs. Cranston.

»Ich habe keine Ahnung, was Mr. Wyckoff sah, doch höchstwahrscheinlich die Filzvorhänge und auf dem Boden Flecken, die das rohe Fleisch hinterließ, dazu die Bestialität in den Augen der Dienstboten … Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber Gerüchte sind wie Gestank. Bill Owens’ Geschichten brauchten drei Jahre, um den Weg von der Thames Street in das Stellenvermittlungsbüro von Mrs. Turberville zu finden. Und Gerüchte malen auch immer schwärzer und schwärzer. Was meinen Sie, Mr. North?«

»Zunächst glaube ich, daß niemand ermordet oder auch nur verwundet wurde — in der Phantasie der Leute hat sich das rohe Treiben in Spuk verwandelt.«

»Und daran können wir leider nichts mehr ändern. Bedenken Sie, was sollte auf unserem Schreibtisch liegen? Die Phantasien eines Mannes im Delirium tremens ersetzen nicht eine eidesstattliche Aussage. Owens heuerte auf einem Schiff an, man hat nie wieder von ihm gehört. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Mr. North.«

Ich hatte erfahren, was ich erfahren wollte. Ich verabschiedete mich von ihm mit der gewohnten, unaufrichtigen Versicherung, ich würde jede Information sofort an ihn weiterleiten. Für mich war dieses eine Problem nun gelöst, aber meine Phantasie beschäftigte seit geraumer Zeit eine viel schwierigere Aufgabe: Wie ließ sich der »Fluch« bannen, der auf dem Wyckoff-Haus lag? Erklärungen und Appelle an die Vernunft haben nicht die Kraft, tief verwurzelte und sogar schon liebgewonnene Ängste zu verscheuchen.

Ich hatte eine noch unklare Idee.

Als ich mich eines Nachmittags wie üblich zum Vorlesen einfand, wartete in der Auffahrt ein Landauer mit zwei prächtigen Pferden und einem Kutscher. Zum Ausgehen angezogen empfing mich Miß Wyckoff in der Halle. Sie bat mich um Entschuldigung — man habe sie dringend gebeten, eine kranke Freundin zu besuchen, sie würde in einer halben Stunde wieder zurück sein. Ihr Hausmädchen stand neben ihr.

»Miß Wyckoff, geben Sie mir die Erlaubnis, die Zimmer im ersten Stock zu besichtigen? Was ich bisher von Ihrem Hause kennengelernt habe, finde ich so wunderschön, daß ich gern noch ein paar andere Zimmer sehen möchte.«

»Ja gewiß, Mr. North. Fühlen Sie sich hier wie zu Hause. Mrs. Delafield wird Ihnen gern alle Fragen beantworten.«

Es war ein wunderbarer Frühlingsnachmittag. Alle Türen standen offen. Ich besichtigte die große Halle von allen Seiten. Und zum erstenmal sah ich das Speisezimmer und die Bibliothek. Zahllose Feinheiten fesselten meine Aufmerksamkeit, aber am meisten bewunderte ich die Harmonie des Ganzen. Das ist Palladio, dachte ich, er selbst war der Erbe großer Meister, und hier finde ich einen Nachkommen von ihm, wie in Versailles, aber der italienische Einfluß ist hier stärker. Als ich durch die große Halle zu meinem Arbeitstisch zurückkehrte, sagte Mrs. Delafield: »Lange bevor der gnädige Herr auf seine Expeditionen ging, veranstaltete er hier oft musikalische Soireen. Haben Sie von Paderewski gehört, Mr. North? Er hat hier gespielt, und Ole Bull, der norwegische Violinist. Und Madame Nellie Melba, haben Sie von ihr gehört? Sehr, sehr gut war sie. Sich das jetzt vorzustellen! Es ist ein Jammer, finden Sie nicht?«

»Haben Sie jemals etwas Beunruhigendes gesehen oder gehört, Mrs. Delafield?«

»O nein, Sir, nicht das mindeste.«

»Wären Sie bereit, hier eine Nacht zu verbringen?«

»Lieber nicht, Sir. Es ist vielleicht albern von mir, aber wir sind nicht immer Herr unserer Gefühle. Verstehen Sie, Sir?«

»Was soll sich nach Ansicht der Leute hier abgespielt haben?«

»Ich will nicht davon sprechen und auch nicht daran denken, Sir. Die einen sagen das eine und die andern sagen das andre. Ich glaube, man sollte die Dinge ruhen lassen.«

___________

Das Vorlesen ging weiter. Miß Wyckoff war sichtlich erleichtert, daß wir bisher noch keine düstere Anspielung gefunden hatten. Wir lasen weiter aus reiner Freude am Lesen, denn die Wyckoffs waren herrliche Briefschreiber. Aber die Idee einer Lösung nahm in meinem Bewußtsein langsam feste Form an.

Ich habe von den verschiedenen Ambitionen erzählt, die mich in meiner Jugend der Reihe nach beschäftigt hatten. Ein Leben als Journalist befand sich nicht darunter. Mein Vater war vor und nach seiner konsularischen Amtszeit in China als Redakteur an einer Zeitung tätig gewesen. Er übte den Beruf mit einer Hingabe aus, die ich nie teilen konnte wegen des Beigeschmacks von Manipulation der öffentlichen Meinung, wenn auch in bester Absicht. Die Idee in meinem Kopf, mit der ich das Wyckoff-Haus »rehabilitieren« wollte, hing eben damit zusammen, aber ich wußte noch nicht recht, wie ich es anstellen sollte.

Der Zufall zeigte mir den Weg.

Mein Bericht über das Wyckoff-Haus zerfällt in zwei Teile. Der zweite Teil bringt mich in die achte Stadt der mir so nahe verwandten Schlachtenbummler und Parasiten. Er bringt mich zu Flora Deland.

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Von der fünften Woche an hatte ich in Newport einen anstrengenden Stundenplan beisammen. Der festangestellte Tennislehrer war zwar an das Casino zurückgekehrt, und ich wurde von der zweiten Trainerstunde für Kinder befreit, dafür gab ich den ganzen Tag in dem einen oder anderen Hause Französisch oder Latein oder Arithmetik. Ich suchte ein Lokal, in dem ich so ruhig, wie es in dieser Stadt möglich war, zu Mittag essen konnte. Ich fand im Herzen der neunten Stadt »Misses Laughlins Scottish Tea Room«, dort hatten Diana Bell und Hilary Jones sich ihre Liebe gestanden. Sekretärinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Hausfrauen beim Einkauf, schlichte Gäste besuchten das Lokal. Das Essen war einfach, gut gekocht und billig. Mir war eine seltsame Erscheinung dort aufgefallen, und ich hoffte, sie wiederzusehen: eine große Frau, allein an einem Tischchen, meiner Ansicht nach hochmodisch gekleidet. Eines Tages tauchte sie wieder auf. Ihr Hut glich einem Nest, auf dem ein exotischer Vogel hockte, und ihr kompliziert geschnittenes Kleid, aus einer Art Satin, der einmal, wenn mich nicht alles täuscht, »Changeant« genannt wurde, schillerte von Blau zu Grün wie eine Pfauenfeder. Vor dem Essen zog sie mit betont selbstverständlicher Anmut ihre Handschuhe aus und schob den Schleier nach oben. Donnerwetter. Was war denn das? Sooft sie das Lokal betrat oder verließ, ertönte das Rascheln von hundert Unterröcken. Was und wer war sie nur, und warum beehrte sie unser bescheidenes Lokal mit ihrem Besuch?

Ihr Gesicht war nicht eigentlich schön. Die Maßstäbe weiblicher Schönheit wechseln von einem Jahrhundert zum andern, mitunter sogar noch häufiger. Sie hatte ein längliches, dünnes, blasses und knochiges Gesicht, Henry Simmons nannte es, wie Sie später hören, ein Pferdegesicht. Man sieht es auf den französischen und flämischen Gemälden des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. 1926 war die netteste Bezeichnung dafür »aristokratisch«, eine Bezeichnung, die mehr apologetisch als schmeichelhaft klingt. Sensationell an ihr war ihre »Klassefigur«, wie wir lüsternen Soldaten auf Fort Adams das zu nennen pflegten, ihr »fabelhafter Bau« — »ein tolles Weib«.

Sie können sich meine Überraschung vorstellen, als sie vor dem Fortgehen mit ausgestreckter Hand auf mich zukam und sagte: »Mr. North, wie ich annehme. Ich wollte mich Ihnen schon lange vorstellen. Ich bin Mrs. Edward Darley. Darf ich mich einen Moment zu Ihnen setzen?«

Sie nahm sich Zeit dazu, während ihre Augen in glücklicher vager Erinnerung auf den meinen ruhten. Mir fiel ein, daß eine Schauspielerin am Theater zuallererst lernt, sich hinzusetzen, ohne die Augen niederzuschlagen.

»Vielleicht kennen Sie mich besser unter meinem nom de plume. Ich bin Flora Deland.«

Ich hatte ein behütetes akademisches Leben geführt und war einer von jenen bedauernswerten dreißig Millionen Amerikanern, die noch nie etwas von Flora Deland gehört hatten. Von diesen dreißig Millionen hatte die Mehrzahl überhaupt nicht lesen gelernt. Trotzdem gab ich Laute der Anerkennung von mir.

»Sagt Ihnen das Leben in Newport zu, Mr. North?«

»Ja, sogar sehr.«

»Sie kommen ziemlich viel herum, nicht wahr? Sie sind ja überall. Sie lesen mit Dr. Bosworth diese faszinierenden Bücher von Bischof Berkeley und mit dem Skeelmädchen die Fabeln von Lafontaine. Welche Bildung in Ihrem Alter! Und geschickt sind Sie auch — ich meine erfinderisch. Wie Sie Diana Bell ihren Blödsinn ausgeredet haben — alle Achtung! Ich bin mit Diana über die Haverlys verwandt, sie ist eine weit entfernte Kusine von mir. So ein eigensinniges Mädchen. Wunderbar, daß Sie sie überzeugen konnten, ihr lächerliches Unternehmen aufzugeben. Sagen Sie mir, wie haben Sie das nur gemacht?«

Ich bin nie ein gut aussehender Mann gewesen. Was ich aufzuweisen habe, ist mir von meinen Vorfahren vermacht worden, einschließlich meines schottischen Kinns und jener wisconsinschen Zähne. Noch nie sind Frauen quer durch ein Zimmer auf mich zugekommen, um eine Bekanntschaft mit mir vom Zaun zu brechen. Ich fragte mich, was wohl hinter dieser auffallenden Liebenswürdigkeit stecken möge. Plötzlich kam mir ein Gedanke: Flora Deland war eine »Schmierantin«, eine journalistische Klatschtante. Mit ihr befand ich mich in der Achten Stadt der Parasiten und Schlachtenbummler.

Ich sagte: »Mrs. Darley … Oder wie soll ich Sie anreden, gnädige Frau?«

»Sagen Sie Miß Deland«, und leichthin fügte sie hinzu: »Sie können mich auch ruhig Flora nennen, ich bin eine berufstätige Frau.«

»Flora, ich kann Ihnen über Miß Bell nichts sagen, nicht ein Wort. Ich habe es versprochen.«

»Mr. North, ich meine doch nicht zur Veröffentlichung. Mich interessiert eben eine wendige Intelligenz. Ich mag Leute, die nicht auf den Kopf gefallen sind. Wahrscheinlich bin ich eine verhinderte Romanautorin. Wollen wir Freundschaft schließen, ja?« Ich nickte. »Ich lebe nämlich noch ein zweites Leben, das mit Zeitungen nichts zu tun hat. Ich habe ein Cottage am Narragansett-Pier und lade gerne am Wochenende ein paar Gäste zu mir ein. Ich habe ein kleines Gästehaus und kann Sie dort jederzeit unterbringen. Jeder von uns braucht gelegentlich etwas Abwechslung.« Sie stand auf und reichte mir wieder die Hand.

»Kann ich Sie beim CVJM anrufen?«

»Ja … ja.«

»Und wie darf ich Sie nennen, Theophilus?«

»Teddie ist mir am liebsten.«

»Sie müssen mir von Dr. Bosworth und Bischof Berkeley erzählen, Teddie. Und von den ›Neun Giebeln‹. Was für ein Haus! Nochmals: Auf Wiedersehen, Teddie, und bitte besuchen Sie mich in meinem lieben, kleinen ›Strandläufer‹, wo wir schwimmen und Tennis oder Karten spielen können.«

Ein berufstätiges Mädchen mit hundertzwanzig Millionen Lesern, einer Figur wie Nita Naldi und einer dunklen Samtstimme wie Ethel Barrymore … Oh, mein Tagebuch!

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Dies war nichts für Mrs. Cranston, dies mußte von Mann zu Mann besprochen werden. »Henry«, sagte ich, als wir in »Hermanns Salon« unsere Billardqueues einkreideten, »kennen Sie die Schmierer hier in der Stadt?«

»Komisch, daß du mich das fragst«, sagte er und führte einen Stoß aus. Nach der Partie wies er mich an den entferntesten Tisch und bestellte für uns das übliche.

»Komisch, daß du mich das fragst. Ich habe Flora Deland gestern auf der Straße gesehen.«

»Wer ist das?«

In allen Friseurläden und Billardsalons gibt es Tische und Regale mit altem und neuem Lesestoff für die wartenden Kunden. Henry ging zu einem Stoß und zog mit unbeirrbarer Sicherheit die Sonntagsbeilage einer Bostoner Zeitung hervor. Er schlug sie auf und breitete sie vor mir aus: »New Yorker Richter macht Mütter für steigende Scheidungsquote unter den Oberen Vierhundert verantwortlich. Von unserer Sonderkorrespondentin Flora Deland.«

Ich las den Artikel. Furchtbare Situation. Keine Namen, nur gewisse Anspielungen, die besser orientierte Leser als ich wahrscheinlich verstehen würden.

»Cowboy«, sagte Henry, der Wisconsin mitten in den Wilden Westen versetzte, »Flora Deland stammt von den ältesten und angesehensten Familien in New York und Newport ab. Nichts da von Eisenbahn- und Bergwerkparvenus. Die gute, alte Garde. Mit allem und jedem verwandt. Sehr leichtlebig, sehr ›emanzipiert‹, wie man heute sagt. Hat einige Fehler gemacht. Ein oder zwei Familien zerstören — na gut, aber eine Familie, die kein Geld besitzt … Nein, sie hat ihr Soll an verzeihlichen Fehlern längst überschritten. Ein Mann wird ihretwegen enterbt. Floras Verwandte wollen sie nicht mehr empfangen. Kannst du mir folgen, Cowboy? Was soll das arme Mädchen anfangen? Kann nicht einmal Geld borgen von Tante Henrietta, sie ist erledigt. Also greift sie zur Feder und wird eine Schmierantin. Enthüllungen, Indiskretionen. Zum Beispiel … viele Frauen überziehen ihr Konto; trauen sich nicht, es ihren Männern zu sagen. Wo kann man eine Diamanten-Tiara versetzen? In Wisconsin fressen die Leute so was. Unter dem Namen Deland schreibt sie halbwegs nachprüfbare Sachen, aber wir wissen, daß sie auch noch andere Pseudonyme besitzt. Sie hat eine Kolumne ›Was Susanne mir zuflüsterte‹, gezeichnet: Belinda. Du traust deinen Augen nicht. Muß einen Haufen Geld verdienen, so oder so. Hält auch Vorträge. ›Backfischjahre in Newport‹, lauter komische Geschichten, die beweisen, was für Affen wir hier sind.«

»Verbringt sie den ganzen Sommer in Newport, Henry?«

»Wohin soll sie gehen? Das La Forge Cottage kommt für sie nicht in Frage. Der Muenchinger-King hat vorgeschrieben — oder sagt es zumindest —, daß kein Gast länger als drei Nächte bleiben darf. Sie hat ein Haus am Narragansett-Pier. Dort ist mehr Betrieb als in Newport — besserer Strand, jüngere Leute, mehr Schlupfwinkel, auch Clubs, in denen man spielen kann — und so weiter.«

»Woher bekommt sie denn ihre Informationen?«

»Das weiß niemand. Wahrscheinlich setzt sie Spione ein, Krankenschwestern in Hospitälern, zum Beispiel. Patienten reden. In Schönheitssalons wird furchtbar viel ausgeplaudert. Von Dienstboten beinahe nichts.«

»Ist sie schön, Henry?«

»Schön? Schön! Mit ihrem Pferdegesicht!«

Die Einladung zum Besuch des »Strandläufers« erfolgte telefonisch. Sonnabend zum Abendessen, bis Montag früh. »Ich habe mehr als genug Badehosen für Sie hier. Sie brauchen ja nur tagsüber eine. Häufig baden wir um Mitternacht au naturel, um uns abzukühlen.« Um zu erfrieren, nehme ich an. Die Wassertemperatur in Neu-England ist vor August kaum erträglich.

Ich sagte zu, um Flora Deland für meine Pläne zur Rehabilitation des Wyckoff-Hauses einzuspannen. Flora Deland hatte mich eingeladen, weil sie sich von mir Informationen erhoffte. So faßte ich einen kleinen Handel ins Auge. Nicht im Traum fiel mir ein, daß sich daraus eine Liebesaffaire entwickeln könnte. Ich hatte mich noch niemals mit einer fast fünfzehn Jahre älteren Frau eingelassen, aber wie es in dem alten Kirchenlied heißt: »Wenn Pflicht dich ruft und die Gefahr / Da stelle deinen Mann.«

Mir lag viel daran, ungesehen (und von der Polizei unbemerkt) mit meinem Fahrrad die Insel zu verlassen. Ich hatte Glück. Als ich auf das erste Fährschiff wartete (wie der Leser sich erinnern wird, stieg man damals nach Narragansett in ein zweites Fährboot um), hörte ich, wie jemand aus einem Auto meinen Namen rief:

»Herr North!«

»Herr Baron!«

»Kann ich Sie mitnehmen? Ich fahre zum Narragansett-Pier!«

»Ich auch. Haben Sie noch Platz für mein Fahrrad?«

»Natürlich.«

Baron Egon Bodo von Stams hatte ich schon im Casino getroffen und mit ihm in meinem abenteuerlichen Deutsch lange Unterhaltungen geführt. Bis auf Bill Wentworth und mich nannten ihn alle einfach »Bodo«. Er war Attache bei der österreichischen Gesandtschaft in Washington und verbrachte zum zweitenmal seinen Sommerurlaub in Newport; er wohnte als Gast bei den Venables in »Surf Point«, sogar während ihrer Abwesenheit. Er war einer der liebenswertesten Menschen der Welt. Zwei Jahre älter als ich und von einer Direktheit und Offenheit, die an Naivität grenzte. Ich kletterte in seinen Wagen und schüttelte ihm die Hand.

Er sagte: »Ich bin übers Wochenende bei Miß Flora Deland eingeladen. Kennen Sie sie?«

»Ich bin auch dort.«

»Wunderbar! Ich wußte nicht, wen ich alles antreffen würde.«

Wir sprachen von diesem und jenem. Auf der zweiten Fähre fragte ich: »Wo haben Sie Miß Deland kennengelernt, Herr Baron?«

Er lachte. »Sie kam auf mich zu und stellte sich mir vor. Auf dem Wohltätigkeitsbasar für verkrüppelte Kinder in der Spring-Street-Kirche.«

Ich machte in der nächsten halben Stunde den Mund nicht mehr auf. Als wir uns der Einfahrt zum Cottage unserer Gastgeberin näherten, sagte ich: »Halten Sie bitte einen Augenblick an, Herr Baron. Sind Sie eigentlich im Bilde, zu wem Sie gehen?«

Er bremste und sah mich fragend an.

»Sie sind Diplomat, und ein Diplomat sollte ganz genau wissen, was um ihn herum vorgeht. Was wissen Sie über Miß Deland und ihre Interessen?«

»Nicht viel, old man.« (Bodo hatte in Eton studiert.) »Sie ist eine Kusine der Venables und schreibt Romane und dergleichen.«

Ich machte eine Pause und sagte dann: »Die Venables haben sie seit mindestens fünfzehn Jahren nicht mehr eingeladen. Vielleicht werden sie es Ihnen übelnehmen, wenn sie von Ihrem Besuch hören. Flora Deland ist in diese Gesellschaftsklasse und diesen Kreis hineingeboren worden, aber sie hat beides verwirkt. Fragen Sie mich nicht wie, ich weiß es nicht. Sie verdient sich ihr Geld mit wöchentlichen Gesellschaftskolumnen. Gibt es bei Ihnen in Wien auch diese Gattung Journalisten?«

»O ja, in der Politik! Sie sind unverschämt.«

»Und Miß Deland schreibt unverschämt über das Privatleben von Männern und Frauen.«

»Wird sie auch über mich so schreiben?«

»Ich glaube nicht, aber sie wird erwähnen, daß Sie bei ihr zu Gast waren, und das gibt ihren Geschichten über andere den Anflug des Authentischen.«

»Aber das ist ja schrecklich! Vielen Dank, daß Sie es mir gesagt haben. Ich sollte Sie jetzt vor ihrem Haus absetzen, nach Newport zurückfahren, sie anrufen und mich mit einer Grippe entschuldigen.«

»Herr Baron, das wäre das Gescheiteste. Sie repräsentieren Ihr Land.«

Er drehte sich in seinem Sitz um und sagte mir ins Gesicht: »Und warum sind Sie dann hier? Wenn sie so schlimme Dinge treibt, warum lassen Sie sich von ihr einladen?«

»Herr Baron …«

»Reden Sie mich nicht mit Herr Baron an! Sagen Sie Bodo zu mir. Wenn Sie schon so nett sind, mich über einen Irrtum aufzuklären, so seien Sie bitte noch netter und nennen mich Bodo.«

»Danke. Ich werde nur in diesem Auto von Ihrer Erlaubnis Gebrauch machen. Ich bin ein Angestellter des Casinos. Außerdem ein Lehrer auf einem Fahrrad, der stundenweise bezahlt wird.«

»Aber wir sind in Amerika, Theophilus (was für ein herrlicher Name das ist!). Hier spricht nach fünf Minuten jeder jeden mit seinem Vornamen an.«

»Nein, wir sind nicht in Amerika. Wir befinden uns in einer kleinen exterritorialen Provinz, die klassenbewußter ist als Versailles.«

Er lachte und fragte dann wieder ernst: »Warum sind Sie hier?«

»Das werde ich Ihnen ein andermal erzählen.« Ich zeigte auf das Haus vor uns. »Das da ist ein Teil von Newports Demimonde. Miß Deland ist eine ›declassée‹; die Gesellschaft hat sie geächtet, aber im Sommer denkt sie nur noch an Newport — ihr verlorenes Paradies. Ich weiß nicht, wer außer uns heute abend bei ihr eingeladen ist, doch die Deklassierten halten genauso zusammen wie Ihr feinen Leute.«

»Ich komme mit. Es ist mir egal, was sie über mich schreibt.« Er ließ den Motor an, aber ich hielt ihn zurück.

»Ich bin an Flora Deland interessiert. Sie ist eine echte Paria und weiß, daß sie sich mit einem degradierenden Geschäft abgibt, aber sie macht es nicht ohne Bravour. Finden Sie sie schön?«

»Ja, sehr. Sie erinnert an eine flämische Elfenbeinmadonna. Wir besitzen so eine. Theophilus, verdammtnochmal, ich will mir das anschauen. Sie haben ganz recht: ich lebe in einer kleinen Arena wie ein Zirkuspferd. Ich muß ein paar Deklassierte kennenlernen. Wenn die Venables davon hören sollten, so werde ich mich bei ihnen entschuldigen. Ich werde mich sogar entschuldigen, bevor sie davon hören. Als Ausländer war ich eben nicht auf dem laufenden.«

»Aber Bodo, Ihr Gesandter könnte alles erfahren. Heute nacht betrinken sich die Gäste bestimmt; sie werden Gläser zerschmeißen. Alles mögliche kann passieren, denn Flora hat angekündigt, wir sollten zusammen splitternackt schwimmen gehen. Die Nachbarn werden uns der Polizei anzeigen, die uns ins Kittchen steckt. Das setzt Sie auf die schwarze Liste, Herr Baron — ich meine Bodo.«

Er saß einen Augenblick schweigend da. »Aber ich muß es mir anschauen. Theophilus, lassen Sie mich doch zum Essen dableiben. Hinterher werde ich sagen, daß ich einen Anruf aus Washington erwarte und deswegen nach Newport zurückfahren muß.«

»Gut, sagen Sie es ihr, sobald Sie zur Tür hereinkommen. Am Sonnabend geht die letzte Fähre um Mitternacht.«

Er schlug mir freudestrahlend auf den Rücken. »Du bist ein ganzer Kerl! Vorwärts!«

Der »Strandläufer« war ein hübsches kleines Cottage am Meer, ein gotisches Pfefferkuchenhäuschen aus der Zeit unserer Großmütter, lauter Spitzbogenfenster — kurz, ein »Kleinod«, wie mit der Laubsäge ausgesägt. Ein Butler führte uns zu dem Gästehaus, wo ein Dienstmädchen uns die Zimmer anwies. Bodo pfiff: silberne Bürsten, Kimonos und japanische Sandalen zum Baden. Toulouse-Lautrec-Plakate an den Wänden; der »Gesellschaftsalmanach« und »Der Große Gatsby« von Scott Fitzgerald auf jedem Nachttisch. Das Mädchen sagte: »Cocktails um sieben, meine Herren.«

Er erschien auf der Schwelle. »Theophilus …«

»Herr Baron, im Hinblick auf den Ort, an dem wir uns befinden, nennen Sie mich bitte Mr. North. Was möchten Sie wissen?«

»Sagen Sie mir noch einmal, was für Leute wir beim Essen treffen könnten.«

»Ein paar Männer aus Newport installieren hier ihre Mätressen für den Sommer; hoffentlich sind ein oder zwei von ihnen eingeladen. Wir werden keinem Juwelendieb begegnen, aber vielleicht einigen Detektiven, die im Auftrag von Versicherungsgesellschaften hinter ihnen her sind. Und dann gibt es da immer ein paar junge Leute, die gerne einen Fuß in die Tür der Gesellschaft stellen möchten, mit anderen Worten: Mitgiftjäger.«

»Oh!«

»Wir sind alle Abenteurer, Außenseiter, Anrüchige, louches.«

Er seufzte. »Und ich muß um elf wegfahren! Aber sind Sie denn in Sicherheit?«

»Ich will Ihnen noch einen weiteren Grund für mein Hiersein verraten. Ich arbeite an einem wohldurchdachten Plan und brauche Flora Delands Hilfe. Der Plan ist ganz harmlos. Wenn alles gut geht, werde ich Ihnen diese Geschichte am Ende der Saison erzählen.«

»So lange kann ich nicht warten.«

»Beim Abendessen werde ich für kurze Zeit die Unterhaltung an mich reißen. Wenn Sie gut zuhören, können Sie einen kleinen Einblick in meine Strategie gewinnen.«

Man hatte uns gebeten, uns nicht in Gesellschaftskleidung zu werfen, aber Flora empfing uns in einem wunderschönen Kleid aus gelber Seide, mit kleinen Tupfen aus gelbem Samt und allerlei Drum und Dran aus gelben Spitzen in immer wieder anderem Gelb. Mein Gesicht drückte Bewunderung aus.

»Hübsch, nicht wahr?« sagte sie. »Es ist von Worth, 1910; gehörte meiner Mutter. Baron, ich bin entzückt, Sie zu sehen. Möchten Sie einen Cocktail oder ein Glas Champagner? Ich trinke nur noch Champagner. Wir müssen beim Essen über Österreich reden. Meine Eltern wurden Ihrem Kaiser vorgestellt, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ich war noch zu jung dazu, natürlich. Aber ich sah ihn jeden Tag auf seinem Spaziergang in Ischl.«

Bodo drückte sein tiefstes Bedauern aus, daß er nach Newport zurückkehren müsse, er erwarte am Sonntagmorgen einen wichtigen Anruf seines Gesandten. »Mein Chef wickelt seine wichtigsten Geschäfte gern am Sonntag ab, und man hat mich verständigt, daß er anrufen würde.«

»Ach, wie schade, Baron! Sie müssen an einem andern Wochenende wiederkommen; wenn Sie wissen, daß Sie frei sind.«

Bei Tisch waren wir zehn, darunter nur vier Frauen. Neben Bodo saß eine typische Französin, Mlle. Desmoulins, die ihn (wie er mir später sagte) unausgesetzt ins Bein kniff, was er galant erwiderte. Ihr Chauffeur, vielmehr ihre Leibwache, erschien um zehn Uhr dreißig, und sie verabschiedete sich zärtlich von ihrem »bon petit Baron Miche-Miche« (Bodo war ein Meter achtzig groß). Da war ferner eine beleibte, juwelenbehängte alte Dame — Flora flüsterte mit zu, sie sei früher eine berühmte Operettensoubrette gewesen —, die kaum ein Wort sagte, aber doppelte Portionen verschlang von allem, was gereicht wurde. Da war ein junges Ehepaar aus New Orleans namens Jameson, das in der Nachbarschaft ein Cottage für den Sommer gemietet hatte, beide außerordentlich zurückhaltend und in steigendem Maße verblüfft.

Ich saß zu Floras Linken neben Mrs. Jameson und fragte sie, wo sie Miß Deland kennengelernt habe. »Durch Zufall hier im Dorf. Mein Mann hatte eine Auseinandersetzung mit einem Verkehrspolizisten, sie hat ihm herausgeholfen und uns beide zum Essen eingeladen. Mr. North, was sind das für Leute?«

»Das kann ich unter diesem Dach nicht diskutieren. Ich überlasse die Antwort Ihrem Scharfblick.«

»Mein Scharfblick ist sehr unsicher.«

»Sie sind auf dem richtigen Wege.«

»Danke. Wir gehen, sobald es sich einrichten läßt. Und Sie? Wie fühlen Sie sich?«

»Mrs. Jameson, ich bin ein Salamander. Ich kann in der Luft, im Feuer und im Wasser leben.«

Und dann waren noch drei junge Männer da, alle wunderbar angezogen (was man so zu einer zwanglosen Dinner-Party in einem berühmten Badeort trägt), alle in steigendem Maß betrunken und äußerst ungeniert.

Die Unterhaltung drehte sich um die vergangene Saison in Newport, um die Gesellschaften und Bälle, zu denen man eingeladen oder nicht eingeladen worden war; um berühmte, aber so idiotische Gastgeberinnen, daß niemand sie ernst nahm; um die abgrundtiefe Langeweile »dieses ganzen Lebens«.

Endlich kam der Augenblick, da ich das Wort ergriff.

»Flora, das Schönste an Newport sind die Bäume.«

»Die Bäume?« Alle sahen mich an.

Ich beschrieb die von Harvard-Gelehrten und Weltreisenden eingeführten Arten, beklagte die Armut des Bodens und ließ vor aller Augen lange Karawanen von Eisenbahnwaggons Erde aus Massachusetts heranrollen (eine durchaus mögliche Improvisation von mir). Ich erzählte von den Zedern des Libanon und von Buddhas Bo-Baum — »Wer in seinem Schatten schläft, träumt vom Nirwana; ich erhielt die Erlaubnis für die nächste Woche« —; vom chilenischen Taratara-Baum, dem sich kein Vogel je nähert; von dem Eukalyptus Australiens, dessen Gummi Asthma heilt; von der Esche Yggdrasill, dem »Baum des Lebens«, dessen Beeren die Melancholie und Selbstmordsehnsüchte junger Menschen heilen (»Es gibt eine solche Esche im Garten der Venables, bei denen der Baron jetzt wohnt«).

Bodo blickte überrascht zu mir hin.

»Teddie, Sie sind ein Engel«, rief Flora aus. »Ich könnte ja darüber einen Artikel schreiben!«

»Oh, es gibt eine Reihe ganz ungewöhnlicher Themen für Sie hier in Newport. Zum Beispiel dieses Haus, das ein berühmter italienischer Architekt, Dr. Lorenzo Latta, das schönste Haus in Neu-England — und das gesündeste genannt hat, im neunzehnten Jahrhundert gebaut. Er nannte es ›das Haus, das atmet‹, ›das Haus mit den Lungen‹.«

»Das Haus mit den Lungen! Welches meinen Sie denn?«

»Sie kennen es wohl kaum. In Newport gibt es auch ein Haus, dessen große Halle eine so perfekte Akustik besitzt, daß Paderewski bei seinem Spiel in Tränen ausbrach; er entschuldigte sich bei seinen Zuhörern und sagte, er hätte noch nie so herrlich gespielt.«

»Welches Haus meinen Sie jetzt?«

»Ich bin fast sicher, daß Sie es nicht kennen. Als der große norwegische Geiger Ole Bull dort ein Konzert gab, spielte er natürlich auf seiner Stradivari, aber nachher sagte er, der Raum selber wäre die schönste Stradivari der Welt.«

»Teddie, wie haben Sie das alles herausgefunden?«

»Es gibt auch ein Haus in Newport, in dem eine einfache Frau als Nonne hingebungsvoll Kranke pflegte, Schwester Colomba. Wahrscheinlich wird sie eines Tages kanonisiert werden: St. Colomba von Newport. Nach Einbruch der Dunkelheit knien immer Leute aus den Arbeitervierteln vor den Toren des Hauses. Die Polizei weiß nicht, was sie tun soll. Kann man kniende Menschen wegen Herumtreiberei verhaften?«

Flora war ganz fasziniert. Die alte Dame hörte zu essen auf. Die »Jiggalas«, die Glücksjäger und »Flickers« sahen sich verzweifelt nach einem starken Drink um.

»Flora, wenn Sie diese Geschichte aufschreiben könnten …«

»Und warum nicht Sie?«

»Ich kann doch nicht schreiben, Flora. Sie haben zahllose Artikel über Newport geschrieben, allerdings meist in satirischem Ton. Wenn Sie nun anfangen würden, die attraktiven Seiten von Newport zu schildern, so könnten Sie Ihren Verwandten eine große Freude machen — eine sehr große Freude.«

Das schlug ein. Sie saß da wie betäubt. Dann kniff sie mich unter dem Tisch in, was man gemeinhin Schenkel nennt, wie ich glaube.

Als wir vom Tisch aufstanden, flüsterte sie: »Sie sind ein Prachtkerl! Zum Verlieben! Und dazu auch ein ganz kleiner Teufel! Meine Herren, begeben Sie sich bitte in das Rauchzimmer. Baron, passen Sie auf, daß nicht zuviel getrunken wird. Später gehen wir alle schwimmen. Ich will nicht, daß einer einen Krampf bekommt und ertrinkt. Das ist nämlich schon zu oft passiert.«

Bodo und ich traten in den Garten hinaus. »Teddie, geben Sie mir einen Anhaltspunkt! Worum ging es eigentlich? Wozu diese Kriegslist? Sagen Sie nur ein Wort, damit ich auf der Rückfahrt nach Newport darüber nachdenken kann.«

»Gut, ich will Ihnen einen Anhaltspunkt geben. Haben Sie ein Schloß?«

»Ja.«

»Ein altes?«

»Ja.«

»Soll es in Ihrem Schloß spuken?«

»Teddie, wofür halten Sie mich? Es gibt keine Gespenster. Nur das Personal erzählt sich gerne Gruselgeschichten und fürchtet sich dann.«

»Bleiben die Dienstboten bei Ihnen?«

»Von einer Generation zur nächsten.«

»Nun, ich bin damit beschäftigt, ein angeblich verhextes Haus zu exorzieren. Dort weigern sich die Dienstboten, nach Einbruch der Dunkelheit zu bleiben. Die drei Häuser, über die Flora, schreiben soll, sind in Wahrheit eins. Aberglaube ist schwarze Magie und läßt sich nur mit weißer Magie bekämpfen. Darüber können Sie nachdenken.«

Er schaute zu den Sternen auf; er schaute hinab auf den Boden; er lachte. Dann legte er mir die Hand auf die Schulter und sagte: »Teddie, Sie sind ein Gauner.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Und Sie behaupten, in Ihrem Leben kein festes Ziel zu haben!«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. Dann wurde er sehr ernst. Noch nie hatte ich Bodo sehr ernst gesehen. »Ich werde Sie in Kürze nochmals um Rat bitten müssen. Ich muß mit einem bestimmten Problem fertig werden.«

»In Newport?«

»Ja, in Newport.«

»Kann es noch etwas warten?«

Sein Ernst hatte sich in Traurigkeit verwandelt. »Ja, es kann noch etwas warten.«

Bodo und ein »Problem, mit dem er fertig werden mußte«? Ich konnte mir das gar nicht vorstellen. Bis auf eine gewisse Naivität, die seiner Unschuld und Herzensgüte entsprang und ihn auch in den »Strandläufer« geführt hatte, schien er seiner Welt durchaus gewachsen. Was konnte das Problem nur sein?

»Jetzt will ich Ihnen auch einen Anhaltspunkt geben, Theophilus; ich bin ein Mitgiftjäger! Aber ich liebe die Erbin von Herzen — ich liebe sie von Herzen, und sie sieht mich nicht einmal an.«

»Kenne ich sie?«

»O ja.«

»Wer ist es?«

»Ich verrate Ihnen den Namen am Ende der Saison. Jetzt will ich mich von Flora verabschieden, um die letzte Fähre noch zu erwischen. Vergessen Sie nicht, mir später alles zu erzählen. Gute Nacht, alter Freund.«

»Gute Nacht, Herr Baron.«

Ich hatte ihn bis zum Gästehaus begleitet. Bei meiner Rückkehr in den »Strandläufer« waren die Jamesons und Mlle. Desmouline bereits gegangen. Die alte Dame war nach oben geschafft worden. Die drei jungen Leute sangen und zerschmissen Gläser.

»Was macht Ihr Kopf? Besser?« fragte Flora zärtlich.

Ich hatte nichts von Kopfschmerzen erwähnt. Ich sagte: »Ich muß mich mit einem Drink stärken. Darf ich mir einen Whisky eingießen, Flora?«

»Sie gehen auf Ihr Zimmer und legen sich hin, ich lasse Ihnen einen Drink bringen. Später werde ich zu Ihnen kommen, und wir werden uns ein bißchen miteinander unterhalten … Ich schicke die Jungen nach Hause. Sie benehmen sich unmöglich, und zum Schwimmen ist es jetzt viel zu kalt … Nein, die wohnen im Club der Angler und Jäger, ein Stückchen weiter unten … Ich will etwas Bequemeres anziehen, und wir sprechen dann über all diese ungewöhnlichen Häuser — falls es sie wirklich gibt, Teddie.«

Ich sagte den Clubmitgliedern gute Nacht. Wieder in meinem Zimmer, schlüpfte ich in den Kimono und die japanischen Sandalen. Ich hatte einen Stoß Notizen über die drei Aspekte des Wyckoff-Hauses mitgebracht. Der erste Aspekt enthielt ein Fünkchen Wahrheit; der zweite manches, was ich frei erfunden hatte; und der dritte war ein reines Phantasieprodukt. Diese Notizen konnte Flora als Unterlage für ihre Artikel benutzen. Ein kleiner Philippino brachte mir ein Tablett mit Flaschen und Eiswürfeln. Ich goß mir einen Drink ein und machte weitere Notizen. Endlich erschien meine Gastgeberin in einem leichten, bequemen Gewand unter einem langen dunkelblauen Cape.

»Sie haben ja schon Ihren Drink! Seien Sie ein Engel und gießen Sie mir ein Gläschen Champagner ein. Die Jungen sind sehr laut geworden, und ich muß auf die Nachbarn Rücksicht nehmen, die sich immer beschweren, wenn die jungen Leute Pistolen abfeuern und auf dem Dach herumklettern … Danke, ich trinke nur Champagner aus Stillweinen. Nun also, sagen Sie mir, wem gehören die Häuser, von denen Sie erzählt haben.«

Ich machte eine lange Pause und sagte dann: »Die drei Häuser sind in Wirklichkeit ein Haus, das Wyckoff-Haus.«

Sie richtete sich auf. »Aber da spukt es doch. Dieses Haus steckt voller Gespenster.«

»Flora, ich schäme mich für Sie. Sind Sie ein abergläubisches Dienstmädchen? Sie wissen doch, daß es keine Gespenster gibt.«

»Ich habe so viel irisches Blut, darum glaube ich alle Gespenstergeschichten! Nun erzählen Sie mir mehr.«

Ich überreichte ihr meinen Stoß Notizen. »Hier ist einiges Material, das Sie bei Gelegenheit für Ihre Artikel verwenden können — Artikel, die Sie zum Liebkind von Newport machen.«

»Bei Gelegenheit! Bei Gelegenheit! Morgen früh fange ich mit der Arbeit an. Zeigen Sie her.«

»Flora, ich bin nicht in der Stimmung, über Häuser zu sprechen. Ich kann jetzt nur an eines denken.« Ich erhob mich und stellte mich vor sie, indem ich ihre Knie zwischen den meinen zusammenpreßte. »Wenn eine schöne Frau einen Mann in den Schenkel kneift, so ist er berechtigt, weitere Zeichen« — ich beugte mich vor und küßte sie — »ihrer Zuneigung zu erwarten.«

»Oh, ihr Männer seid so exigeants.« Sie stieß mich weg, stand auf und ging in das Schlafzimmer.

In jener Nacht war vom Schreiben nicht mehr die Rede.

Die Arbeit begann am nächsten Morgen um elf.

»Lies mir deine Notizen vor«, sagte sie, während sie das gelbe Konzeptpapier der Journalisten und ein halbes Dutzend Bleistifte bereitlegte.

»Nein, ich möchte dir daraus erzählen, damit ich beim Reden deine schönen Augen vor mir habe.«

»Ihr Männer.«

»Da wäre also das Haus mit den Lungen. Ich muß weit ausholen: Kennst du New Haven, Connecticut?«

»Ich bin oft zu den Universitätsbällen in Yale eingeladen worden. Es war eine wunderbare Zeit.«

»Wo hast du gewohnt?«

»Ich wohnte mit einer Kusine im Hotel Taft und eine andere Kusine spielte die Anstandsdame.«

»Dann erinnerst du dich gewiß noch an die Ecke von New Haven Green. An einem kalten Tag überquerte ich mit einer Dame beim Hotel Taft diese Straße. Ein Wind zerrte Röcke und Hut der Dame in alle Richtungen. Plötzlich sagte sie, was mich sehr überraschte, denn sie war eine gesetzte Professorengattin: ›Verdammter Vitruvius!‹ Ich wußte von Vitruvius nur, daß er im antiken Rom gelebt und ein berühmtes Buch über Architektur und Städteplanung geschrieben hatte. ›Warum Vitruvius?‹ fragte ich. ›Wissen Sie denn nicht, daß in Neu-England viele Städte nach seinen Prinzipien angelegt wurden? Baut eure Städte wie einen großen Bratenrost. Studiert die Winde und Gegenwinde und so weiter. Laßt die Stadt atmen, gebt der Stadt Lungen. Paris und London haben sich zu spät auf seinen Rat besonnen. Boston hat seinen Park, aber die Straßen folgen den alten Kuhpfaden.‹ — Vitruvius’ Werk bezog sich natürlich auf Italien, wo es ziemlich kalt sein kann, aber nicht so kalt wie in New Haven. Vergiß nicht: jene Ecke beim Hotel Taft ist der einzig kühle, erträgliche Ort in ganz New Haven während der schrecklichen Sommerhitze. Die Tauben wissen das und versammeln sich dort zu Hunderten; und auch die Landstreicher. Die Weisheit des Vitruvius!«

»Teddie, warum reden wir eigentlich über Tauben und Strolche?«

»Jenes Haus ist im Stil Palladios gebaut worden, einem überzeugten Anhänger des Vitruvius. Und jetzt komme ich zur Sache: Ein bedeutender italienischer Architekt erklärte auf seiner Besichtigungstour durch Neu-England, dies sei das schönste und gesündeste Haus, das er je gesehen habe. In Neu-England gab es nur Holzhäuser mit einem zentralen Kamin, um das Haus im Winter zu heizen; aber diese Häuser sind fürchterlich heiß im Sommer, die Korridore falsch angelegt; die Zimmer des ersten und zweiten Stocks grenzen an den Kamin, und darum sind auch die Türen und Fenster falsch eingesetzt: Die Luft zirkuliert nicht, die schlechte Luft kann nicht abziehen. Aber die Architekten des Wyckoff-Hauses hatten genug Geld und gesunden Menschenverstand, um überall Kamine einzubauen; das Zentrum des Hauses besteht somit aus einer großen hohen Halle, die ein- und ausatmet. Miß Wyckoff sagte mir, hier kenne man den Schnupfen nicht, jenen verbreiteten großen amerikanischen Schnupfen! Das Haus wurde 1871 von einem italienischen Architekten gebaut, der eine Gruppe von Dekorateuren, Malern und Steinmetzen mitgebracht hatte; es ist ein Traum, heiter, gelassen, voller Frieden — gesunde Lungen und ein gesundes Herz!«

»Das will ich schreiben! Warte nur ab!«

»Das ist noch nicht alles. Hast du Musik gern, Flora?«

»Ich liebe Musik, alle Musik, bis auf die beiden entsetzlichen Langweiler Bach und Beethoven, und diesen anderen da, Mozetti.«

»Was hast du gegen ihn?«

»Mozetti? Er hat nur einen einzigen Einfall gehabt und ihn zu Tode geritten.«

Ich wischte mir die Stirn.

»Ich habe dir erzählt, wie Paderewski die Akustik in der großen Halle zu Tränen rührte. Er fragte die Wyckoffs, ob es sie stören würde, wenn er nach dem Aufbruch der Gäste noch eine Stunde für sich allein spielte. Nachdem Dame Nellie Melba dort gesungen hatte, überredete sie Thomas Alva Edison, nach Newport zu fahren, um ihre Plattenaufnahmen in jener Halle zu überwachen. Das Lied von der ›Letzten Rose‹ übertraf im Verkauf alle anderen Platten, bis Caruso kam. Madame Schumann-Heink sang den ›Rosenkranz‹ in jener Halle und mußte ihn dreimal wiederholen. Alle weinten wie kleine Kinder. Deinem ersten Artikel könntest du den Titel geben: ›Ein Haus perfekten Wohlbehagens‹, und dem zweiten ›Ein Haus himmlischer Musik‹. Newport wird dich vergöttern.«

»Hast du mir all diese Namen aufgeschrieben, Teddie?«

»Der dritte Artikel aber ist der beste. Vor vielen Jahren gab es in dieser Stadt eine Heilige. Sie wurde niemals Mitglied eines religiösen Ordens, weil sie weder lesen noch schreiben gelernt hatte; sie war eine Laienschwester, doch die arme Bevölkerung nannte sie Schwester Colomba. Sie verbrachte ihre Tage und Nächte mit den Kranken, den Alten und Sterbenden. Sie beruhigte die Fiebernden, sie betrat die Zimmer der ansteckend Kranken, ohne sich selbst je anzustecken. Ein kleiner Junge im Wyckoff-Haus hatte Diphtherie. Sie pflegte ihn täglich, und er wurde gesund. Ein Wunder, wie es hieß. Sie schlief in einem kleinen Zimmer ihm gegenüber, auf der andern Seite der Halle. Als sie in hohem Alter ihr Ende kommen fühlte, bat sie darum, in demselben Zimmer sterben zu dürfen. Wie ich schon bei Tisch erwähnte, knien die Leute in Scharen vor den Toren des Hauses, vor Schwester Colombas Zimmer.«

Flora legte in tiefer Bewegung ihre Hand auf die meine. »Bei mir werden Gläubige um Mitternacht leise Engelsstimmen vernehmen, Weihrauch wird duften … Bellevue Avenue … Wie hieß sie in Wirklichkeit?«

»Mary Colomba O’Flaherty.«

»Warte nur ab, was ich aus diesem Stoff machen kann! Gott im Himmel! Es ist dreiviertel eins! Gleich kommen meine Gäste zum Mittagessen. Gib mir deine Notizen. Ich werde sofort mit der Arbeit beginnen.«

___________

Was man auch über Flora Deland denken mag, sie war eine fleißige, arbeitsame Frau. Bienen und Ameisen könnten von ihr lernen. Meine Vorlesestunden bei Miß Wyckoff wurden zwei Wochen unterbrochen, da sie am Squam-See in New Hampshire alte Freunde in deren ländlichem Sommerhaus besuchte. Nach ihrer Rückkehr lud sie mich sofort zum Tee ein. Ich nahm aus Prinzip keine gesellschaftlichen Einladungen an, aber der Wunsch, Neues über die Fortschritte meines Planes zu erfahren, war stärker als alle Prinzipien.

Miß Wyckoff empfing mich höchst aufgeregt.

»Mr. North, etwas ganz Ungewöhnliches ist passiert; ich bin richtig ratlos. Eine Journalistin hat eine Artikelfolge über dieses Haus geschrieben! Sehen Sie sich die Stöße von Briefen an, die ich bekommen habe! Architekten wollen das Haus besichtigen und ihre Studenten mitbringen. Auch Musiker wollen das Haus sehen. Aus allen Teilen des Landes erhalte ich Anfragen von allen möglichen Leuten. Herden von Fremden klingeln von morgens bis abends an der Haustür.«

»Was haben Sie daraufhin unternommen, Miß Wyckoff?«

»Ich habe keinen einzigen Brief beantwortet. Und Mrs. Delafield hat Weisung, keine Fremden einzulassen. Was hätte ich Ihrer Ansicht nach tun sollen?«

»Haben Sie die Artikel jener Journalistin gelesen?«

»Dutzende von Leuten haben sie mir zugeschickt.«

»Haben Sie sich sehr geärgert?«

»Ich weiß nicht, von wem sie all diese Informationen hat. Es steht ja nichts Schlimmes drin, aber es stehen da hundert Dinge über dieses Haus, von denen ich keine Ahnung hatte … und dies ist doch mein Heim. Ich habe viele Jahre meines Lebens hier verbracht. Ich weiß nicht, ob das alles wahr ist oder nicht.«

»Miß Wyckoff, ich gestehe, daß ich die Artikel gelesen habe und sehr überrascht war. Aber Sie müssen zugeben, dies ist ein sehr schönes Haus. Ruhm ist eine Folge von Vortrefflichkeit, Miß Wyckoff. Ein Besitz von außergewöhnlicher Schönheit bringt gewisse Verpflichtungen mit sich. Haben Sie je Mount Vernon besucht?«

»Ja, Mrs. Tucker lud uns zum Tee ein.«

»Wußten Sie, daß Teile des Hauses zu bestimmten Wochenstunden besichtigt werden können? Ich schlage vor, daß Sie einen Sekretär engagieren, der das Ganze in die Hand nimmt. Lassen Sie Eintrittskarten drucken und von ihrem Sekretär an alle ernsthaften Interessenten schicken, mit genauer Zeitangabe, wann das Haus besichtigt werden kann.«

»Ich habe Angst, Mr. North. Wie soll ich die vielen Fragen beantworten?«

»Oh, Sie selbst werden nicht anwesend sein. Ihr Sekretär macht die Führungen und beantwortet alle Fragen sehr oberflächlich.«

»Danke. Danke. Mir bleibt wohl gar nichts anderes übrig. Aber, Mr. North, da ist noch ein viel ernsteres Problem.« Sie senkte die Stimme. »Leute wollen ihre Kranken herbringen … religiöse Schulen wollen in Gruppen hier beten. Ich habe noch nie von dieser Schwester Colomba gehört. Mein seliger Bruder, von dem ich Ihnen erzählte, war ein kränkliches Kind, und ich erinnere mich, daß wir in der Tat ein paar fromme Schwestern hier hatten; aber ich kann mich nicht an eine einzige erinnern.«

»Miß Wyckoff, es gibt ein altes griechisches Sprichwort: ›Weise nicht die Gabe der Götter zurück.‹ Sie sagten, über diesem Haus liege ein Fluch. Mir scheint, daß dieser Fluch sich jetzt auflöst … Ganz Newport spricht von diesem schönen und gesunden Haus und von dem Segen, den es birgt.«

»Mr. North, ich habe Angst. Ich habe etwas sehr Schlimmes getan. Sogar meine alten Freunde, die seit Jahren zu mir zum Tee kommen, möchten jetzt das Sterbezimmer von Schwester Colomba besichtigen. Was sollte ich machen? Ich habe ihnen etwas vorgeschwindelt und eine neben dem Zimmer meines armen Bruders gelegene Kammer ausgesucht, in der eine Nachtschwester wahrscheinlich geschlafen hat.«

»Sie können den nächsten Schritt bereits voraussehen, nicht wahr, Miß Wyckoff?«

»O Gott, o Gott. Was ist der nächste Schritt, Mr. North?«

»Die Dienstboten werden sich darum reißen, in diesem Haus wohnen zu dürfen.«

Sie legte die Hand auf den Mund und starrte mich an. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.«

Ich beugte mich vor und sagte leise, aber sehr deutlich: »Miß Wyckoff gibt sich die Ehre, Sie an dem-und-dem Tag zu einem Diner einzuladen. Nach dem Essen wird das Kneisel-Quartett mit einem berühmten Violinisten als Gast die beiden letzten Streichquintette von Wolfgang Amadeus Mozart zu Gehör bringen.«

Sie sah mich an. Sie stand auf, schlug die Hände zusammen und sagte: »Meine Kindheit! Meine wunderbare Kindheit!«

»Neun Giebel«

Als eine der ersten hatte Sarah Bosworth (Mrs. McHenry Bosworth), »Neun Giebel«, Bellevue Avenue Nummer soundso, mir ein kurzes Schreiben zukommen lassen. Ihr Vater, so lautete der Brief, Dr. James McHenry Bosworth, habe schon viele Vorleser engagiert, die sich aber mit wenigen Ausnahmen als unzulänglich erwiesen hätten. Könnte sich Mr. North Freitag morgen um elf Uhr zu einer Besprechung mit Mrs. Bosworth bei obenstehender Adresse einfinden? Dazu die Bitte um telephonische Bestätigung der Verabredung, etcetera, etcetera. Ich sagte telephonisch zu und begab mich sogleich in die Volksbücherei, um mich aus mehreren Nachschlagewerken über die Familie zu belehren.

Der Ehrenwerte Dr. James McHenry Bosworth war vierundsiebzig Jahre alt, Witwer, Vater von sechs Kindern sowie mehrfacher Großvater. Er hatte seinem Lande als Attaché gedient, als Staatssekretär, Minister und Botschafter in mehreren Ländern und drei Kontinenten. Außerdem war er Autor mehrerer Bücher über die Anfänge der amerikanischen Architektur, vor allem in Newport. Weitere Nachforschungen ergaben, daß er das ganze Jahr in Newport verbrachte und seine Kinder in der Umgebung — Portsmouth und Jamestown — Sommerhäuser besaßen. Mrs. McHenry Bosworth war seine Tochter, geschieden und kinderlos; sie hatte ihren Mädchennamen in dieser Form wieder angenommen.

An jenem Freitagmorgen gegen Ende April — es war der erste strahlende Frühlingstag — fuhr ich mit meinem Rad vor der Tür vor und läutete. Das Haus war weder ein französisches Château noch ein griechischer Tempel oder eine normannische Festung, sondern ein langgestrecktes, unregelmäßig gegliedertes Cottage mit einem vom Wetter silbrigen Schindeldach, mit weiten Veranden, Türmchen und Giebeln. Es stand in einem vornehmen Park mit mächtigen und erlesenen Bäumen. Das Innere des Hauses war nicht im geringsten rustikal. Durch die offene, festgehakte Haustür sah ich ein ganzes Aufgebot von Dienern in gestreiften Westen und von Dienstmädchen mit wehenden Schürzenbändern, die Fußböden bohnerten und Möbel polierten. Später sollte ich erfahren, daß die Möbel diese Pflege verdienten, denn hier befand sich die größte Privatsammlung von Newports berühmten Kunsttischlerarbeiten aus dem achtzehnten Jahrhundert.

Ein gewaltiger Butler mit rotgestreifter Weste und grüner Schürze erschien unter der Tür. Ich brachte mein Anliegen vor. Seine Augen hefteten sich mißbilligend auf mein Fahrrad. »Äh … Sie sind Mr. North?« Ich wartete. »Im allgemeinen, Sir, wird diese Tür am Morgen nicht benutzt. Die Gartentür befindet sich gleich um die Ecke, zu Ihrer Linken.«

Ich hätte das Haus auch durch den Schornstein oder den Kohlenkeller betreten — aber der Butler gefiel mir nicht, seine hervorquellenden Augen, sein Doppelkinn und sein verächtlicher Ton. Es war ein wunderbarer Morgen. Mir war so wohl und ich war auf diesen Job nicht angewiesen. Ich nahm mir also Zeit. »Mrs. Bosworth hat mich gebeten, um diese Zeit hier vorzusprechen.«

»Diese Tür wird für gewöhnlich nicht benutzt …«

In meiner Jugend — und auch beim Militär — hatte ich gelernt, daß man Überheblichkeit und Arroganz am besten mit folgender Methode begegnet: einem liebenswürdigen, sogar ehrerbietigen Lächeln und einem leisen Wortschwall; unter Vortäuschung von partieller Taubheit rede man die Leute tot, schlage Haken, erzähle Schnurren. Unweigerlich ereifert sich daraufhin der Herr Wichtigtuer, verliert schließlich die Fassung und (die Hauptsache!) lockt andere Leute auf die Bildfläche.

»Danke vielmals, Mr. Gammage … Mr. Kammage. Ich nehme an, Sie erwarten den Klavierstimmer oder …«

»Was?«

»Oder den Hühneraugenoperateur. Was für ein herrlicher Tag, Mr. Gammage! Bestellen Sie bitte Mrs. Bosworth, daß ich hier war, wie sie es wünschte …«

»Mein Name ist nicht … Sir, gehen Sie bitte mit Ihrem Fahrrad zu der von mir angegebenen Türe …«

»Guten Morgen. Ich werde Mrs. Bosworth schreiben, daß ich hier war … Irasci celerem tarnen ut placabilis essem.«

»Sir, sind Sie taub oder verrückt?«

»Dr. Bosworth, ich kannte ihn gut in Singapore, Hotel Raffles, verstehen Sie. Wir spielten zusammen Fan-tan.« Ich flüsterte noch leiser. »Tempelglocken mit allem Drum und Dran. Palmenwedel von der Decke herunterfächelnd …«

»Lassen Sie mich … lassen Sie mich in Ruhe! Gehen Sie fort!«

Es wirkt immer: Andere Leute waren bereits auf der Bildfläche erschienen. Das Dienstboten-Kommando stand mit offenem Mund da. Eine hübsche Frau in mittleren Jahren zeigte sich in einiger Entfernung; eine junge Frau im blaßgrünen Leinenkleid (Persis selber) war die große Treppe heruntergekommen. Die »Neun Giebel« sind seitdem für mich zum Haus der unsichtbaren Lauscher geworden.

Die Dame in einiger Entfernung rief: »Willis, ich erwarte Mr. North … Persis, dies ist meine Angelegenheit … Mr. North, wollen Sie mir bitte in meinen Salon folgen.«

Die göttliche Persis schwebte zwischen Willis und mir zur Tür, hakte sie auf, ohne nach rechts oder links zu sehen, und verschwand. Ich dankte Mr. Willis (dem es glatt die Sprache verschlagen hatte) und schritt langsam durch die große Halle. In einem Salon entdeckte ich durch die offenstehende Tür ein großes Portrait, »Die drei Schwestern Bosworth«, 1899 gemalt, vielleicht von John Singer Sargent. Es zeigte drei reizende Mädchen, ausgestattet mit allen Vorzügen, einschließlich einer engelhaften Erscheinung. Diese drei Schwestern waren: Sarah, nach kurzer Ehe mit dem Ehrenwerten Algernon De Bailly-Lewyss nun Mrs. McHenry Bosworth; Mary, jetzt Mrs. Cassius Marcellus Leffingwell; und Theodora, jetzt Mrs. Terence Onslowe, die schon lange in Italien lebte. Mrs. Bosworth war sehr indigniert. »Ich bin Mrs. Bosworth. Bitte nehmen Sie Platz.«

Ich schaute mich um und bewunderte sowohl den Salon als auch die Lady. Es fiel mir auf, daß eine Tür zu meiner Linken angelehnt war; alle anderen Türen standen offen. Vermutlich hörte der Ehrenwerte Dr. Bosworth unserem Gespräch zu. Mrs. Bosworth hatte drei Bücher vor sich liegen, in jedem prangte ein farbiges Lesezeichen. Vermutlich bestimmte ein Lesezeichen die Seite, die den Bewerber den Kopf kosten sollte.

»Die Augen meines Vaters werden leicht müde. Aus den verschiedensten Gründen haben alle Vorleser versagt. Ich kenne seinen Geschmack. Um Ihnen Zeit zu ersparen, möchte ich Sie bitten, gleich oben auf dieser Seite zu beginnen.«

»Gern, Mrs. Bosworth.«

Ich ließ sie warten. Sieh mal an! Das Geschichtswerk meines alten Freundes Gibbon. Es stand nicht gut um das Ostreich am Mittelmeer, ein Durcheinander von höfischen Intrigen, Dutzende von byzantinischen Namen, Zungenbrecher aller Art; aber eine herzerfrischende Lektüre. Ich las langsam und mit Genuß.

»Danke vielmals«, sagte sie endlich und unterbrach mich mitten in einer Ermordung, stand auf und schloß unauffällig die Tür neben mir. »Ihr Lesen ist durchaus passabel. Doch leider ermüdet es meinen Vater sehr, wenn mit wechselnder Betonung vorgelesen wird. Ich glaube, ich sollte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«

Hinter der geschlossenen Tür hörte man die Stimme eines alten Mannes: »Sarah! Sarah!« Sie reichte mir die Hand. »Danke vielmals, Mr. North. Guten Morgen!«

»Sarah! Sarah!« Im Nebenzimmer wurde eine Tischglocke geläutet, dann ein Gegenstand gegen die Tür geworfen, die sich öffnete, und eine Krankenschwester erschien. Ich schaute zu Boden, als ob ich etwas suchte. Willis erschien; Persis erschien.

»Willis, gehen Sie an Ihre Arbeit zurück. Persis, dies ist meine Angelegenheit.«

Und dann erschien der alte Mann selber. Er trug einen wattierten Schlafrock; auf der Nase tanzte sein Pincenez, und sein Van-Dyck-Bart stand waagrecht vor.

»Schick den jungen Mann zu mir herein, Sarah; endlich haben wir jemanden gefunden, der vorlesen kann. Du konntest bisher nur pensionierte Bibliothekare auftreiben mit einem Frosch im Hals, so wahr mir Gott helfe!«

»Vater, ich werde Mr. North zu dir hereinschicken. Geh sofort zurück an deinen Schreibtisch. Du bist ein kranker Mann. Du darfst dich nicht aufregen. Schwester, führen Sie meinen Vater am Arm.«

Zum zweiten Mal hatte ich Aufruhr in die »Neun Giebel« getragen. Ich mußte es anders anfangen. Nachdem die Zuschauer sich zurückgezogen hatten, setzte sich Mrs. Bosworth wieder auf ihren Sessel und bat mich, auch Platz zu nehmen. Wie sie mich haßte!

»Für den Fall, daß Dr. Bosworth Sie als Vorleser akzeptieren sollte, noch ein paar Ratschläge: Mein Vater ist ein alter Mann, vierundsiebzig, und sehr zart. Seine Gesundheit macht uns große Sorge. Außerdem hat er gewisse Idiosynkrasien, die Sie aber nicht beachten dürfen. Mit Vorliebe macht er generöse Versprechungen und extravagante Projekte. Sollten Sie sich dafür interessieren, handeln Sie sich ernste Ungelegenheiten ein.«

»Sarah! Sarah!«

Sie stand auf. »Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe. Haben Sie mich verstanden?«

Ich sah ihr in die Augen und sagte liebenswürdig: »Danke, Mrs. Bosworth.«

Das war weder die Antwort, die sie erwartet hatte, noch der gewohnte Ton. Sie antwortete scharf: »Wenn Sie nochmals schwierig werden, verlassen Sie augenblicklich dieses Haus.« Sie öffnete die Tür. »Vater, hier ist Mr. North.«

Dr. Bosworth saß in einem mit Kissen gepolsterten Sessel vor einem großen Tisch. »Bitte setzen Sie sich, Mr. North. Ich bin Dr. Bosworth. Sie kennen wahrscheinlich meinen Namen. Ich habe meinem Land in mancher Hinsicht nützlich sein können.«

»Ihre bemerkenswerte Karriere ist mir durchaus bekannt, Dr. Bosworth.«

»Hm … sehr gut. Darf ich fragen, wo Sie geboren sind?«

»In Madison, Wisconsin, Sir.«

»Was war Ihr Vater von Beruf?«

»Besitzer und Redakteur einer Zeitung.«

»Was Sie nicht sagen! Hat Ihr Vater auch eine Universität besucht?«

»Er studierte in Yale und promovierte dort.«

»Wirklich? Vous parlez français, Monsieur?«

»J’ai passé une année en France.«

Weitere Fragen folgten: Meine berufliche Tätigkeit seit Verlassen der Schule? Alter? Zivilstand? Zukunftspläne? Etcetera, etcetera.

Ich stand auf. »Dr. Bosworth, ich wollte mich in diesem Haus um eine Stellung als Vorleser bewerben. Dieser Posten soll bisher nicht zu Ihrer Zufriedenheit besetzt gewesen sein — ich fürchte, ich muß Sie ebenfalls enttäuschen. Guten Morgen.«

»Was? Was?«

»Guten Morgen, Sir.«

Er schien höchst erstaunt. Als ich aus seinem Zimmer durch die große Halle ging, rief er hinter mir her: »Mr. North! Mr. North! Erlauben Sie, daß ich mich rechtfertige!« Ich kehrte zur Tür seines Arbeitszimmers zurück. »Nehmen Sie doch Platz, Sir. Ich war nicht mit Absicht indiskret, bitte verzeihen Sie mir. Ich habe dieses Haus außer für einen Aufenthalt im Krankenhaus seit sieben Jahren nicht mehr verlassen. Wir Eingesperrten entwickeln leider allzuhäufig eine übertriebene Neugier auf unsere Umwelt. Akzeptieren Sie meine Entschuldigung?«

»Ja, Sir. Ich danke Ihnen.«

»Danke. Hätten Sie Zeit, mir heute morgen bis um zwölf Uhr dreißig vorzulesen?«

Ich hatte Zeit. Er legte mir ein frühes Werk von George Berkeley hin. Als die verschiedensten Glocken um zwölf Uhr dreißig die halbe Stunde schlugen, las ich den Absatz noch zu Ende und erhob mich. Er sagte: »Dies ist eine Erstausgabe. Vielleicht interessiert Sie auch die Widmung auf der Titelseite.« Ich klappte das Buch wieder auf und sah eine Widmung des Autors an seinen geschätzten Freund und Dekan Jonathan Swift. Es dauerte eine Weile, bis ich mich von meinem ehrfürchtigen Staunen erholt hatte. Dr. Bosworth fragte mich, ob Bischof Berkeley für mich ein Begriff sei. Ich sagte, daß ich während meines Studiums in der Berkeley Hall von Yale gewohnt hatte, daß der Philosoph einen Teil seiner Bibliothek der Universität vermacht hatte, was jeden Yale-Absolventen mit Stolz erfüllte — die Bücher waren mit Ochsenkarren von Rhode Island nach Connecticut transportiert worden; daß ich ferner einen großen Teil meiner Jugend in dem nach dem Bischof benannten Berkeley, Kalifornien, verbracht hatte, wo wir oft an diese Tatsache erinnert wurden. Wir beide sprachen den Namen verschieden aus, aber es handelte sich zweifellos um denselben Mann.

»Gott sei mir gnädig!« rief Dr. Bosworth. »Ein Harvard-Mann kann sich nur schwer vorstellen, daß auch andernorts ernsthafte wissenschaftliche Forschung geleistet wird.«

Wir vereinbarten, daß ich an vier Tagen in der Woche je zwei Stunden kommen sollte. George Berkeley ist nicht leicht zu lesen, und wir verfügten beide nicht über eine gründliche philosophische Schulung. Trotzdem ließen wir keinen Absatz unverdaut passieren.

Zwei Tage später unterbrach Dr. Bosworth unsere Lektüre, da er mir mit Verschwörerstimme etwas zuraunen wollte. Er stand auf, öffnete jäh die Tür zur großen Halle und spähte, ob sich Lauscher ertappen ließen, er wiederholte dieses Manöver an der Tür zu seinem Schlafzimmer, dann kehrte er an den Tisch zurück und fragte mich mit leiser Stimme: »Wissen Sie, daß Bischof Berkeley in Newport gelebt hat?« Ich nickte. »Ich beabsichtige, sein Haus Whitehall sowie die umliegenden fünfzig Morgen Land zu kaufen. Mein Plan ist noch mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Und streng geheim. Ich will hier eine Akademie der Philosophen gründen. Ich habe gehofft, Sie würden mir helfen, die Einladungen an die führenden Philosophen der Welt aufzusetzen.«

»Eine Einladung, Vorträge zu halten, Dr. Bosworth?«

»Pst … Pst! Nein, hier zu wohnen. Jeder würde ein eigenes Haus bekommen. Alfred North Whitehead und Bertrand Russell. Bergson, Benedetto Croce und Gentile. Wittgenstein — wissen Sie, ob er noch lebt?«

»Ich bin nicht ganz sicher, Sir.«

»Unamuno und Ortega y Gasset. Die Meister sollen jede Freiheit haben; sie mögen lehren oder nicht lehren, Vorträge halten oder keine Vorträge halten, sie brauchen sich nicht einmal zu treffen. Newport soll wie ein großer Leuchtturm auf einem Berge sein, ein Leuchtfeuer des Geistes, der erhabenen Gedanken. Wie viele Vorbereitungen müssen noch erledigt werden! Zeit! Zeit! Zeit! Man sagt mir, ich wäre ein kranker Mann.«

Er hörte hinter der Tür Schritte — oder glaubte sie zu hören —, hielt den Zeigefinger warnend an den Mund, und wir nahmen unsere Lektüre wieder auf. Die Akademie wurde eine Zeitlang nicht mehr erwähnt, anscheinend fürchtete er zu viele Spione in unserer Umgebung.

Am Ende der zweiten Woche fragte er mich, ob ich gegen die späten Abendstunden Einwände hätte; er liebe es, nachmittags eine lange Siesta zu halten und bleibe dann bis Mitternacht munter. Dies paßte mir um so besser, als mehr und mehr Verpflichtungen meine Vormittage ausfüllten. Die Bosworths gaben mehrmals in der Woche große Diners, aber der Gastgeber machte sich zur Gewohnheit, um zehn Uhr dreißig vom Tisch aufzustehen (er aß eine bestimmte Diät) und sich in die Bibliothek zurückzuziehen, wo ich auf ihn wartete. Im Laufe der Saison fanden diese zunehmend festlichen Anlässe immer häufiger statt. Der ehemalige Diplomat ließ es sich in kindischer Eitelkeit nicht nehmen, bei seinen Diners die Nationalfeiertage der Länder zu begehen, bei denen er akkreditiert gewesen war. Das gab ihm Gelegenheit, die ihm dort verliehenen Orden anzulegen. Zufällig fielen weder unser Unabhängigkeitstag noch der Bastillesturm mit meinen Besuchen zusammen, doch oft genug kam er strahlend herein und murmelte mir sanft zu, Polen blicke auf eine tragische, aber tapfere Geschichte zurück und Garibaldis (oder Bolivars oder Gustav Adolfs) Beitrag sei gar nicht zu überschätzen.

Wir setzten unsere Studien über Dekan Berkeleys Besuch der westlichen Hemisphäre fort, und Dr. Bosworth konnte sehen, daß mein Interesse fast so groß war wie das seine. Wie entzückt waren wir, als sich bei der Lektüre des »Analyst« herausstellte, daß »unser Mann« — jetzt Bischof Berkeley — Sir Isaac Newton und den mächtigen Leibniz mit ihren Grundlagen des Infinitesimalkalküls glatt zerschmettert und zu Pulver zerrieben hatte. Dr. Bosworth und ich waren Wickelkinder auf dem Gebiet der kosmologischen Physik, aber wir begriffen, worauf es ankam. Newtons Freund Edmund Halley (der mit dem Kometen) hatte sich über die Unvorstellbarkeit von Berkeleys Gottesbegriff mokiert, und der Bischof hatte geantwortet, daß Newtons infinitesimale »Fluxionen« ebenso »obskur, unvereinbar und prekär« seien wie alles andere, was sie zur Theologie beizutragen hätten, und er fügte hinzu: »Was sind denn diese Fluxionen … diese Geschwindigkeiten von unendlichem Wertzuwachs? Sie sind weder endliche Größen noch unendlich kleine Größen, noch einfach Nichts. Sollen wir sie die Geister abgeschiedener Größen nennen?« Krach! Bums! Die Struktur des Universums, ebenso wie die Prinzipien des christlichen Glaubens, waren — nach Ansicht des Bischofs — nur durch Intuition zu erkennen. Dr. Bosworth und ich sind nicht gerade im Arbeitszimmer herumgetanzt, aber die an den Türen lauschenden Spione müssen berichtet haben, daß Seltsames vorging — und das um Mitternacht! Das waren noch Giganten! Swift eingeschlossen, mein Schutzpatron, seit ich mir wie ein Gulliver vorkam. Wir waren im Herzen der zweiten Stadt, im achtzehnten Jahrhundert.

Seit unserm ersten Zusammentreffen hatte ich Dr. Bosworths übermäßiges Interesse an meiner Person in die Schranken gewiesen; unsere weiteren, nicht allzu häufigen Gespräche beschränkten sich nunmehr auf historische Themen, aber ich merkte, daß er immer noch von Neugier aufgefressen wurde. Wenn ein Millionär einen vom Schicksal weniger Begünstigten ins Herz schließt, so fragt er sich, nicht ohne heimliches Mitleid und Staunen, wie wir wohl mit unserm Elend und den uns auferlegten Entbehrungen »fertig werden«, kurz und gut, er fängt an sich auszurechnen, wieviel wir verdienen. Haben wir genug zu essen? Ich bin dieser Sorge in jenem Sommer ständig begegnet. Unausgesetzt wurden Teller mit Sandwiches oder Schalen mit Obst vor mich hingestellt. Nur ein einziges Mal (bei einer anderen Gelegenheit) habe ich eingewilligt, im Hause eines Arbeitgebers eine Tasse Tee anzunehmen, obwohl Einladungen zu Mittagessen, zu Diners und Gesellschaften sich häuften.

Mit Unbehagen stellte ich fest, daß Flora Delands unermüdliche Feder die Hauptschuld trug, wenn die Avenue sich übertrieben neugierig mit meiner Person beschäftigte. Wie ich bereits erwähnte, verlor Flora keine Zeit, Newport ganz für sich zu gewinnen. Ihre nationale (und auch lokale) Leserschaft hatte die Artikel über die neun Städte, über die herrlichen Bäume der Insel Aquidneck und die Wunder des Wyckoff-Hauses begeistert verschlungen. Ich hatte den »Strandläufer« mehrmals wieder besucht, aber die Blume unserer Freundschaft verblühte zusehends; Flora nörgelte an mir herum und zankte sich auch mit mir. Sie konnte nicht begreifen, warum ich nicht unter Aufbietung aller Kräfte in den Cottages meinen gesellschaftlichen Erfolg aufbaute, möglichst Arm in Arm mit ihr. Ich machte ihr unmißverständlich klar, daß ich bislang keine Einladung angenommen hätte und es auch nie zu tun gedächte. Bevor wir auseinandergingen, hatte sie noch einen sechsten Artikel veröffentlicht, ein überschwengliches Lob der kulturellen Renaissance, die über dieses Paradies auf Erden hereingebrochen war. Er wurde mir zugeschickt, aber ich habe ihn erst viel später gelesen. Ohne mich mit Namen zu nennen, beschrieb Flora einen unglaublich gebildeten jungen Mann, die »Sensation« der Sommerkolonie, der mit jung und alt Homer, Goethe, Dante und Shakespeare lese. Er habe den Browning-Klub neu belebt, dessen französische Matineen Baileys Strandbad entvölkerten. Ihr Artikel begann mit der zornigen Widerlegung des zwanzig Jahre alten Scherzwortes, daß die »Damen von Newport niemals den ersten Akt einer Oper hören noch den zweiten Teil eines Romans lesen würden«. Newport, so versicherte sie, ist — und war immer — eine der aufgeklärtesten Gemeinden des Landes, der Nährboden für George Bancroft, Longfellow, Lowell, Henry James, Edith Wharton und für Mrs. Edward Venable, Autorin jenes rührenden Gedichtbandes »Träume in einem Aquidneck-Garten«.

Freilich wußte ich damals noch nicht, daß ich auch aus einem weniger schmeichelhaften Grund in jenen Kreisen einer fast krankhaften Neugier begegnete.

Um Mitternacht begaben sich Dr. Bosworths Gäste jeweils in sein Arbeitszimmer, um sich ein zweites Mal von dem berühmten Gastgeber zu verabschieden. Ich stellte mich dann an die Wand in jener Haltung des Nichtvorhandenseins, die meiner Stellung entsprach. Mrs. Bosworth begleitete die Gäste nicht, aber Dr. Bosworth und Persis kümmerten sich darum, daß ich allen vorgestellt wurde, darunter auch ein paar ehemaligen oder momentanen Arbeitgebern von mir: Miß Wyckoff begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln, Bodo (ein häufiger Gast) mit einem brüderlich-uneleganten Wort auf Deutsch. Damen, die ich nie gesehen hatte, erzählten mir von den Fortschritten ihrer Kinder:

»Mein Michael will um jeden Preis Tennis-Champion werden, dank Ihrem Einfluß, Mr. North.«

Mrs. Venable: »Bodo sagte mir, daß Sie Bischof Berkeley lesen. Faszinierend, nicht wahr?«

Eine andere Dame: »Mr. North, Mr. Weller und ich geben Sonnabend in einer Woche eine kleine Tanzgesellschaft. Wohin darf ich die Einladung schicken?«

»Das ist sehr nett von Ihnen, Mrs. Weller, aber ich bin leider so beschäftigt, daß ich keine Einladungen annehmen kann.«

»Keine einzige Einladung?«

»Nein — vielen Dank — keine.«

Eine weitere Dame: »Mr. North, ist es zu spät für mich, Ihrer Robert-Browning-Gesellschaft beizutreten? Ich habe die Brownings immer so geliebt.«

»Gnädige Frau, ich kenne keine Browning-Gesellschaft in Newport.«

»Oh? — Oh? Vielleicht bin ich falsch informiert.«

Die Fenwicks, denen wir später noch begegnen, begrüßten mich herzlich und mit dem Lächeln von Komplizen. Ich wurde den Eltern von Diana Bell vorgestellt, die darauf nicht reagierten. Ich beugte mich vor und sagte mit leiser, dennoch deutlich hörbarer Stimme: »Ich habe Mr. Bell zweimal eine Rechnung geschickt für gewisse Dienste. Wenn er meine Rechnung nicht bezahlt, erzähle ich die ganze Geschichte Miß Flora Deland und sechzig Millionen Amerikaner lesen über den gestohlenen Brief. Guten Abend, Mrs. Bell.«

Das war gemein, das war meines Yale-Studiums nicht würdig. Sie starrte vor sich hin, aber die Rechnung wurde bezahlt. Mag, wer will, ein Gentleman sein.

Unter den Gästen lernte ich nach und nach alle Mitglieder des Familienclans kennen: Mr. und Mrs. Cassius Marcellus Leffingwell und ihre älteren Kinder, die Familie Edward Bosworth mit Kindern, dazu die Newton Bosworths mit ein oder zwei Kindern. Die Damen streckten jeweils die Hand aus und erklärten, sie seien entzückt, mich kennenzulernen, die Herren verweigerten mir mit steinernem Blick den Handschlag oder drehten mir den Rücken. Als diese Feindseligkeiten sich wiederholten, merkte ich, daß Gulliver solche Hinweise auf die »mores« der Insel Aquidneck genauer studieren sollte.

Ich fühlte mich nicht wohl in den »Neun Giebeln«. Ich war als Beobachter nach Newport gekommen, der sich auf nichts einläßt. Bei den Bosworths hatte ich das dunkle Gefühl, in ein Komplott aus einem spätelisabethanischen Drama gefährlich verwickelt zu werden. Ich hatte mir in diesem Hause bereits zwei Feinde gemacht: Willis verabscheute mich, und wenn ich Mrs. Bosworth in der großen Halle begegnete, senkte sie leicht den Kopf, aber ihr Blick sagte: »Sehen Sie sich vor, junger Mann, wir wissen, was Sie im Schilde führen …« Jeden Tag war ich drauf und dran, meinen Job hinzuwerfen. Andererseits genoß ich die Lektüre von Bischof Berkeleys Schriften, genoß ich Dr. Bosworths unermüdliches Bemühen, das nur eine halbe Meile von uns entfernte Newport des achtzehnten Jahrhunderts wieder lebendig zu machen. Ich interessierte mich sehr für Persis, Mrs. Tennyson, die mich mit einem merkwürdig verwunderten Mißtrauen betrachtete. Ich fragte mich, wie sie es das ganze Jahr hindurch in diesem Haus aushalten konnte, das von ihrer rachsüchtigen »Tante Sally« beherrscht wurde. Am meisten aber begeisterte mich meines Arbeitgebers absurde Vision, die größten lebenden Denker hier zu versammeln; eine Vision, über die er sich nur im Flüsterton äußerte. Ich hatte viereinhalb ereignislose Jahre in New Jersey verlebt, wo es keine Gefahren gegeben hatte und keine Visionen, keine Dramen und keine Wahnsinnigen — und sehr wenig Gelegenheit, all jene jugendlichen Ambitionen, die in mir schlummerten, auszuleben. Ich blieb also.

Ohne es zu wollen, sollte ich mich mehr und mehr in Schwierigkeiten verstricken. Ich hatte aus Dr. Bosworths Schrift »Häuser des 18. Jahrhunderts auf Rhode Island« vorgelesen. Am Schluß eines Kapitels, das eine detaillierte Beschreibung von Bischof Berkeleys »Whitehall« enthielt, äußerte ich meine Bewunderung für seine Kunst des Schreibens. »Dr. Bosworth, ich würde es als eine große Auszeichnung betrachten, wenn ich mit Ihnen das Haus besichtigen könnte. Wäre es möglich, daß wir einmal zusammen an einem Nachmittag dort hinfahren?«

Schweigen. Ich sah auf und bemerkte, daß er mich mit einem bangen, herzzerreißenden Blick ansah. »Ich wünschte, wir könnten es. Ich dachte, Sie verstehen … Leider bin ich körperlich nicht dazu in der Lage. Ich kann kaum länger als eine Viertelstunde das Haus verlassen und auch nur kurze Zeit im Park Spazierengehen. Ich werde dieses Haus nie mehr verlassen. Ich werde hier sterben.«

Ich erwiderte seinen Blick mit jenem passiven Ausdruck, den ich mir beim Militär angewöhnt hatte, wo die Unvernunft keine Grenzen kennt und uns Untergebenen nichts anderes übrigbleibt, als uns abgrundtief dumm zu stellen. Ich dachte im stillen: Er ist irre. Er ist total verrückt. Wir hatten oft nahezu drei Stunden ohne Unterbrechung in seinem Arbeitszimmer gesessen, und er pflegte mich dann ohne Eile zur Haustür zu begleiten. Ich wußte jetzt nur eins: daß ich nichts mehr davon hören wollte, kein Wort. Ich wollte nichts mit diesem flehentlichen, bittenden, abhängigen Ausdruck in seinem Gesicht zu tun haben. Ich war kein Arzt. Ich weiß nicht, was ich war, aber Dr. Bosworth besaß keine Menschenkenntnis, wenn er in mir einen mitfühlenden Zuhörer sah. Ein unglücklicher Mensch kann dann nicht den Mund halten, und ich sollte bald die ganze dumme und zugleich lächerliche Geschichte erfahren.

Hier muß ich jedoch meine Erzählung unterbrechen.

Zunächst muß ich erklären, warum Dr. Bosworths Dinergäste am Schluß der Einladung mich so verschieden behandelten.

Immer noch besuchte ich gelegentlich zu vorgerückter Stunde Mrs. Cranstons Pension, wo die Erwartung von Edweenas baldiger Rückkehr die Gemüter bewegte. Henry zeigte immer noch ihre Postkarten herum, auf denen von Walfischen und mächtigen Stürmen, von fliegenden Fischen und von den Schönheiten der Leeward-Inseln die Rede war. Die Unterhaltung plätscherte recht lebhaft dahin. Meistens spielte ich die Rolle eines aufmerksamen Zuhörers. Ich erwähnte nur obenhin meinen Job, nannte nur wenige Namen. Nachdem die anderen Damen sich zurückgezogen hatten, erlaubte uns Mrs. Cranston, Vornamen zu gebrauchen, was sonst gegen die Regeln des Hauses verstieß. Meist saß Mr. Griffin dabei, gedankenversunken oder geistesabwesend, doch ab und zu erheiterte er uns durch ein paar tiefsinnige Zusammenhanglosigkeiten. Mein Tagebuch nahm viele Reflexionen von Mrs. Cranston auf.

»Die Whitecombs!« verkündete Mrs. Cranston. »Wieder eine Totenwache, Henry. Ach, wenn doch nur Edweena hier wäre und Teddie ihre Theorie der Totenwache erklären könnte. Sagen Sie es ihm, Henry. Ich bin jetzt zu müde. Versuchen Sie’s, es wird ihn interessieren.«

»Unterbrechen Sie mich bitte, Gnädigste, wenn ich, wie so oft, auf dem Glatteis ausrutsche … Es handelt sich um folgendes, mein Guter: in Newport gibt es ungefähr ein Dutzend Häuser, in denen eine alte Person, männlich oder weiblich, auf einem Berg von Geld thront …«

»Zwanzig Häuser, Henry, mindestens zwanzig.«

»Vielen Dank, gnädige Frau. Nennen wir einmal diese Person den alten Mogel — einige sagen auch Mogul, man kann es so oder so aussprechen. Newport ist der einzige Ort im ganzen Land, wo reiche alte Männer länger leben als reiche alte Frauen. Diese Bemerkung haben Sie einmal gemacht, Mrs. Cranston.«

»Ja, es stimmt gewiß. Das gesellschaftliche Leben wirkt tödlich. Ein alter Mann zieht sich einfach in den oberen Stock zurück. Aber keine alte Frau verzichtet freiwillig auf das gesellschaftliche Leben.«

»Und der alte Mogel hat Söhne und Töchter und Enkelkinder, verliebt sich in seine Krankenschwester oder Sekretärin. Oder eine schöne geschiedene Frau taucht aus Europa auf, zupft ihn am Bart und streichelt ihm die Hand bei Tisch. Eine alte Dame verliebt sich in ihren Chauffeur; wir kennen Hunderte von Beispielen. Die Totenwache treibt das zum Wahnsinn. Zum Wahnsinn — und sie trifft Maßnahmen. Wir haben hier einige schreckliche Maßnahmen dieser Art erlebt. Schmeißt sie raus, zerschmettert sie …«

»Sie haben etwas vergessen, Henry.«

»Danke. Und das wäre, gnädige Frau?«

»Die Schnorrer, die für eine noble Sache schnorren …«

»Wie konnte ich die vergessen! Weltfriede. Universitäten, die ›Ihren Namen tragen sollen‹! Eskimos. Gefallene Mädchen, besonders beliebt. Alte Männer sind nämlich sehr weichherzig bei gefallenen Mädchen.«

»Hundefriedhöfe«, sagte Mr. Griffin.

»Wie gescheit Sie heute abend sind, Mr. Griffin! — Das alles stiehlt den Nächsten und Liebsten das Brot aus dem Munde!«

Das Zimmer schien unbehaglich heiß zu werden.

»Was für Gegenmaßnahmen treffen sie denn, Henry?« fragte ich.

»Zweierlei können sie unternehmen. Um einen Günstling unschädlich zu machen, arbeiten sie mit Verleumdungen. Sie streuen Märchen aus. Selbst wenn es sich um den nächsten Verwandten handelt. Das ist einfach. Aber als der Ziele höchstes — wie der Dichter sagt — versuchen sie, die Feder der Hand des Großmoguls zu entreißen, sie nehmen ihm die Vollmacht, Schecks auszuschreiben. Sie treiben ihn zum Wahnsinn, bis er zitternd in Tränen ausbricht. Vormundschaft. Sie machen ihn reif für die Vormundschaft.«

»Schrecklich«, sagte Mrs. Cranston und schüttelte den Kopf.

»Sie lassen eine Reihe von Ärzten und Anwälten aufmarschieren. Es gibt in dieser Stadt einen Mogel, der hat seit zehn Jahren keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt.«

»Seit acht Jahren, Henry.«

»Sie haben recht, wie immer, Mrs. Cranston.«

»Keine Namen, Henry.«

»Er ist genauso gesund wie Sie und ich. Aber alle reden ihm ein, daß er Sofakissenkrebs hat. Der große Spezialist aus New York kommt angefahren — so was läßt sich nur mit Spezialisten machen —, Spezialisten sind der Totenwache beste Freunde. Professor Nadel-und-Faden sagt, höchste Zeit, ich muß Sie mal wieder ein bißchen operieren. Der Mogel wird also hereingerollt, und sie schneiden ein Stückchen aus der betreffenden Gegend ab. Die Schwestern lachen sich ins Fäustchen. ›Zehntausend Dollar, bitte.‹«

»Henry, ich glaube, Sie sind auf dem Eis ein wenig ausgerutscht.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich übertreibe. Doch Teddie ist neu in der Stadt, man kann nie wissen, ob er nicht auch diesen Dingen begegnet.«

»Reden wir von etwas Erfreulicherem, Henry. Teddie, wem lesen Sie jetzt alles vor?«

»Meistens habe ich Kinder auf den Unterricht vorbereitet, Mrs. Cranston, eine ganze Anzahl von Angeboten mußte ich deswegen ablehnen. Im Augenblick ist es offenbar Mode, den Familienstammbaum bis auf William den Eroberer zurückzuführen.«

»Das ist schon immer so gewesen.«

Und die Unterhaltung ging weiter.

Ich kehrte nachdenklich zu meinem Zimmer zurück.

___________

Mein nächster Besuch in den »Neun Giebeln« war auf den folgenden Sonntagmorgen angesetzt. Dr. McPherson hatte plötzlich entschieden, daß die Sitzungen zu später Stunde nicht ratsam wären. Zu meiner Überraschung sah ich Dr. Bosworth zum Ausgehen angezogen und in eine Auseinandersetzung mit der Krankenschwester verwickelt. »Sie brauchen uns nicht zu begleiten, Mrs. Turner.«

»Aber Dr. Bosworth, ich muß mich an Dr. McPhersons Anordnungen halten und jederzeit um Sie sein.«

»Wollen Sie bitte das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich schließen, Mrs. Turner!«

»Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich machen soll«, antwortete sie und ging hinaus.

Er flüsterte mir zu. »Lauschen! Immerzu lauschen!« Seine Augen suchten die Decke ab. »Mr. North, könnten Sie auf diesen Stuhl steigen, um zu sehen, ob da vielleicht so etwas wie ein Abhörgrammophon installiert ist?«

»Nein, Dr. Bosworth«, sagte ich laut. »Ich bin hier angestellt, um Ihnen vorzulesen. Ich bin kein Fachmann für Elektronik.«

Er hielt sein Ohr an die Schlafzimmertür. »Sie telephoniert im ganzen Haus herum. Kommen Sie, folgen Sie mir.«

Wir gingen durch die große Halle auf die Haustür zu, da rauschte Mrs. Leffingwell die Treppe herunter.

»Guten Morgen, lieber Papa. Guten Morgen, Mr. North. Wir kommen alle zum Mittagessen herüber. Ich bin schon früher hier, weil ich mit Sally besprechen wollte, ob wir in die Kirche gehen. Sie ist noch unentschlossen. Aber ich möchte viel lieber beim Vorlesen dabeisein. Mr. North, können Sie meinen Vater nicht überreden, daß ich mich Ihnen anschließen darf? Ich werde auch mäuschenstill sein.«

Etwas in ihrer Stimme erstaunte und schmerzte ihn. Er starrte sie einen Augenblick lang an und sagte: »Du auch, Mary?« dann fügte er schroff hinzu: »Unsere Diskussionen dürften dich kaum interessieren. Lauft, geht in die Kirche, amüsiert euch … Wir gehen in den Park, Mr. North.«

Es war ein wunderbarer Morgen, er hatte kein Buch mitgenommen. Wir saßen schweigend auf einer Bank unter den großen Bäumen. Plötzlich spürte ich, daß Dr. Bosworths Augen mit einem Ausdruck des Leidens, ja der Verzweiflung auf mich gerichtet waren.

»Mr. North, Sie sollen über meine Krankheit Bescheid wissen. Ich habe ein Nierenleiden, das nach Ansicht meiner Ärzte mit einer viel gefährlicheren Krankheit zusammenhängen kann, einer tödlichen Krankheit. Mir kommt das äußerst seltsam vor, zumal ich, abgesehen von einem gewissen lokalen Reiz, überhaupt keine Schmerzen habe. Aber ich bin kein Arzt, so muß ich dem Wort der Spezialisten vertrauen.« Seine Augen bohrten sich in die meinen. »Als eine Nebenerscheinung dieser unangenehmen Sache leide ich an einem Drang zu urinieren und muß es alle zehn oder fünfzehn Minuten versuchen.«

Ich erwiderte seinen Blick so ernst, wie er es sich nur wünschen konnte.

»Dr. Bosworth, Sie und ich haben stundenlang ohne Unterbrechung zusammengesessen, ohne daß Sie auch nur einmal das Arbeitszimmer verlassen hätten.«

»Das ist ja gerade das Lächerliche an der Geschichte. Vielleicht ist alles nur Einbildung, was ja Bischof Berkeley beständig nachzuweisen versuchte! Solange ich in meinem eigenen Haus bin, mich sozusagen ruhig verhalte, komme ich nicht in Verlegenheit. Man hat mir versichert, es handle sich nicht um das übliche Alt-Männer-Leiden; es hat nichts mit der Prostata zu tun; das macht es um so schlimmer.«

(Zum Teufel! Verdammt noch einmal! Kündige auf der Stelle! Nebenbei bemerkt, ich hatte alle vierzehn Tage Mrs. Bosworth als meiner angeblichen Arbeitgeberin eine Rechnung geschickt, ohne darauf eine Antwort zu erhalten. Dies war meine fünfte Woche. Sie schuldete mir über sechzig Dollar!)

Der alte Mann fuhr fort: »Ich habe meinem Land viele Jahre lang als Diplomat gedient. Öffentliche Verpflichtungen ziehen sich oft lange hin. Staatsbegräbnisse, Hochzeiten, Taufen, Parlamentseröffnungen, nationale Feiertage. Unvorhergesehene Verspätungen! Schneestürme in Finnland, Hurrikane in Burma! Das Warten auf Bahnhöfen und auf Tribünen! Ich war das Haupt meiner Delegation … Ich bin immer ein gesunder Mann gewesen, Mr. North, aber ich fing an, mich davor zu fürchten, mich vor dem kleinen Bedürfnis zu fürchten. Jetzt weiß ich, daß alles nur in meiner Einbildung existiert. Bischof Berkeley! Die Ärzte lachen mich hinter meinem Rücken aus. Einer von ihnen hat mir so eine Art Ziegeneuter aufgenötigt.« Hier bedeckte er sein Gesicht mit beiden Händen und murmelte: »Ich werde in diesem Haus sterben oder in ihrem gräßlichen Krankenhaus.«

Schweigen. Er ließ die Hände fallen und flüsterte: »Das allerschlimmste aber ist das Gerücht, ich sei verrückt. Glauben Sie auch, daß ich verrückt bin?«

Ich hob die Hand, um Ruhe zu gebieten. Autoritär wie ein Richter und feierlich wie eine Eule sagte ich: »Dr. Bosworth, das alles ist mir nicht neu, ich kenne diese Nierenbeschwerden. Ich weiß darüber sehr genau Bescheid.«

»Was sagen Sie da?« Er packte mich am Ärmel. »Was sagen Sie da, junger Mann?«

»Als Student gab ich während eines Sommers Schwimm- und Sportunterricht in einem Badeort in Florida. Wie immer trat ein Hurrikan auf. Die Touristen bestellten ihre Stunden ab — ich war arbeitslos. So nahm ich einen Job als Lastwagenchauffeur an. Lange Fahrten, von Miami nach Winston-Salem, von St. Petersburg nach Dallas, Texas. Ein Lastwagenchauffeur hat nur drei Dinge im Kopf: die Zulage für schnelle Warenablieferung, das Wachbleiben am Steuer und Nierenbeschwerden. Das Gerüttel in einem Lastwagen von morgens bis abends legt sich auf das Wasserlassen; es ruft Störungen hervor. Chauffieren wirkt katastrophal auf die Nieren. Manche Männer haben Angst vor einer Harnverhaltung, und daß sie nie mehr pissen können. Andere spüren, wie Sie, einen dauernden Kitzel. Natürlich können sie heruntersteigen, sooft sie wollen; aber nichts kommt. Halt, ich habe eine Idee.«

»Eine Idee? Was … was für eine Idee?«

»Morgen gebe ich nur sehr wenige Stunden. Ich werde sie absagen und nach Providence fahren, wo es einen Rastplatz für Lastwagenschauffeure gibt. Dort verkauft man Pillen zum Wachbleiben und ein bestimmtes Zubehör mit einem ziemlich ordinären Namen, den ich hier jetzt nicht wiederholen möchte. Das werde ich Ihnen mitbringen und dann fahren wir zusammen nach Whitehall, um es auszuprobieren.«

Tränen liefen über das Gesicht des alten Mannes. »Wenn Sie das tun, Mr. North, wenn Sie das für mich tun, dann weiß ich, daß es noch einen Gott gibt! Das schwöre ich Ihnen.«

Ich war seit meinem achten Jahr nicht mehr in Florida gewesen, und ich hatte noch nie einen Lastwagen mehr als zwanzig Meilen gefahren — und das war der kleine Aushilfswagen des Ferienlagers gewesen. Aber in der Kaserne kann ein Mann leicht eine Unmenge meist skatologische Informationen aufschnappen.

»Ich habe drei Schüler am Vormittag. Sie, Dr. Bosworth, entschädigen mich für die ausgefallenen Stunden und kommen für die Fahrtkosten nach Providence auf sowie für das Zubehör, das ich hoffentlich auftreiben werde. Mein Budget ist sehr beschränkt, Dr. Bosworth. Ich glaube, das ganze Unternehmen kostet Sie zwanzig Dollar, vielleicht ist das Zubehör etwas teurer. Ich werde eine spezifizierte Rechnung vorlegen. Soll ich sie Ihnen oder Mrs. Bosworth zuschicken?«

»Was?«

Ich fuhr unbeirrt fort. »Ich habe Mrs. Bosworth alle zwei Wochen eine Rechnung für unsere gemeinsame Lektüre zugestellt, aber bis jetzt noch keinen Cent erhalten. Sie besitzt die Rechnungen.«

»Was? Das verstehe ich nicht!«

»Ich brauche Geld, um nach Providence zu fahren.«

»Kommen Sie ins Haus. Kommen Sie sofort mit mir ins Haus. Ich bin außer mir, untröstlich, Mr. North.«

Er lief wie ein Rennpferd auf das Haus zu. An der Tür stieß er auf Willis. »Willis, sagen Sie Mrs. Bosworth, sie möchte mir sofort mein Scheckbuch in das Arbeitszimmer bringen samt den Rechnungen von Mr. North.«

Langes Warten. Er schwang die Tischglocke. Persis trat ein. »Was ist, Großvater?«

»Ich möchte mit deiner Tante Sarah sprechen.«

»Sie ist wahrscheinlich in der Kirche.«

»Suche sie. Wenn sie ausgegangen ist, hole aus ihrem Schreibtisch mein oder ihr Scheckbuch. Sie hat vergessen, die Rechnungen von Mr. North zu bezahlen.«

»Großvater, sie hat strikte Anweisung gegeben, daß niemand ihren Schreibtisch aufmachen darf. Kann ich einen Scheck für dich ausschreiben?«

»Es geht um mein Scheckbuch. Ich werde ihren Schreibtisch öffnen.«

»Vielleicht kann ich sie finden, Großvater.«

Während des Wartens füllte ich die Zeit mit weiteren anschaulichen Berichten über die Leiden der Lastwagenchauffeure. Da wurde an die Tür geklopft; Willis trat ein und brachte in nobler Haltung ein Bronzetablett, auf dem sich ein Scheckbuch befand sowie meine beiden Couverts, geöffnet. Dr. Bosworth bat mich, ihm die Gesamtsumme für meine geleisteten und zukünftigen Dienste anzugeben. Er erinnerte sich meines vollen Namens und schrieb den Scheck aus. Ich quittierte die Rechnungen.

Mrs. Bosworth kam herein. »Vater, du hattest angeordnet, daß ich in diesem Haus die Ausgaben überwache.«

»Überwache sie! Bezahle sie!«

»Ich hatte angenommen, daß Mr. North mit einer monatlichen Bezahlung zufrieden sei.«

»Hier ist dein Scheckbuch für die Haushaltsausgaben. Ich habe Mr. North für unsere Lektüre bezahlt und für gewisse Einkäufe, die er noch für mich erledigen will. Würdest du so freundlich sein und mir mein Scheckbuch für meine privaten Ausgaben zurückgeben. Mr. North, könnten Sie die Stunden wie früher wieder auf den späten Abend verlegen?«

»Vater, Dr. McPherson ist der Ansicht, daß dir das schadet.«

»Einen schönen Gruß an Dr. McPherson … Mr. North, ich begleite Sie zur Tür. Ich bin jetzt zu aufgeregt, um weiterzuarbeiten. Darf ich Sie Dienstag abend erwarten?«

In der Halle schritten wir an Mrs. Bosworth vorbei. Sie sagte nichts, aber unsere Augen begegneten sich. Ich verbeugte mich leicht. Im Orient glaubt man daran, daß Haß töten kann; und ich bin in China aufgewachsen.

An der Tür flüsterte ihr Vater mir wie im Fieber zu: »Vielleicht werde ich wieder leben.«

Am nächsten Morgen stattete ich mich, dank Spenden von Bekannten im CVJM, mit einem schmutzigen Sweater, schmutzigen Hosen und einem zerbeulten Hut aus. Ich war ein Lastwagenchauffeur. Auf dem Rastplatz in Providence kaufte ich als Vorwand ein Schächtelchen Aufputschtabletten und erkundigte mich nach dem nächsten von uns Lastwagenchauffeuren frequentierten Drugstore. Er lag gegenüber auf der anderen Straßenseite. »O’Halloran’s Drugstore«. Ich kaufte noch mehr Aufputschtabletten und führte eine intime Unterhaltung mit Joe O’Halloran über gewisse Schwierigkeiten, die mir unterwegs zu schaffen machten.

»Ich werde Ihnen mal was zeigen, Jack. Zuerst haben sie’s für Babies erfunden, dann haben sie’s in größeren Ausführungen für Hospitäler und Irrenhäuser hergestellt, verstehen Sie?«

Ich entschied mich für eine mittlere Größe. »Mr. O’Halloran, ich habe Schmerzen in den Handgelenken und Vorderarmen. Haben Sie irgendein mildes, ein wirklich mildes schmerzstillendes Mittel? Nichts übermäßig Starkes, ich muß über vierhundert Meilen am Tag fahren.«

Er stellte eine Flasche mit scharlachroten Pillen auf den Ladentisch. »Wieviel soll ich nehmen?«

»Wenn man so viel fährt wie Sie, nicht mehr als eine pro Stunde.«

Riskierte ich zuviel? Ich überlegte mir das sehr gründlich. Medizin hatte nie zu meinen jugendlichen Ambitionen gehört, aber unter meinen neugierigen Interessen befand sie sich ganz oben. Nach meiner Überzeugung war Dr. Bosworth seit Jahren das Opfer einer wohlüberlegten Verschwörung, die eine Schwäche, wie sie häufig bei Diplomaten, Polizisten im Nachtdienst, Schauspielern und Musikern auftritt, für sich ausbeutete. In der Kaserne hatten ehemalige Chauffeure unter den Soldaten heitere Histörchen erzählt, es sei die reine »Hölle« gewesen, die feinen Damen zum Einkaufen in Geschäftsviertel zu fahren, wo es keine Parkplätze gab. Wenn Dr. Bosworth und ich tief im achtzehnten Jahrhundert steckten, schien ihm nichts zu fehlen; das intellektuelle Vergnügen entzückte ihn, und er hatte auch Selbstvertrauen. Aber sobald die Zwangsvorstellung ihn quälte, verwandelte er sich in ein klägliches und bemitleidenswertes Geschöpf. Wenn ich ein Risiko einging, so nur für mich und nicht für ihn. Ich konnte mir aber das Risiko — sogar mit Behagen — leisten.

Nachmittags um vier Uhr war ich wieder in Newport. Ich hatte zwei rote Pillen geschluckt; sehr bitter, im Grunde wirkungslos — bis auf ein etwas dumpfes Gefühl im Nacken. Ich rief meinen Arbeitgeber an.

»Ja, Mr. North? Ja, Mr. North?«

»Ich muß Ihnen etwas Wichtiges mitteilen. Können wir diese Leitung benutzen?«

»Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken. Sagen Sie mir doch Ihre Nummer. Ich rufe Sie vom Gärtnerhaus an.«

Er rief zurück. »Ja, Mr. North?«

»Dr. Bosworth, in einer Viertelstunde wird ein Telegrafenbote bei Ihnen ein Paket abgeben, das nur Sie gegen Ihre eigenhändige Unterschrift in Empfang nehmen dürfen. Sorgen Sie dafür, daß es niemand abfängt. Ich glaube, Sie werden den Inhalt gut gebrauchen können. Sie sagten mir, daß Sie um fünf Uhr in Ihrem Park Spazierengehen. Schlucken Sie vorher eine von den roten Pillen, Tausende von Männern nehmen sie täglich auf ihren Fahrten. Ungefähr nach zehn Minuten werden Sie einen kleinen Drang verspüren, der aber vorübergeht. Ignorieren Sie ihn. Das andere ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Sie können es nach ein oder zwei Wochen wegwerfen.«

Seine Stimme zitterte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll … Ich werde an der Haustür sein … Dienstag abend hören Sie meinen Bericht.«

Als ich am Dienstagabend in sein Arbeitszimmer kam, packte er mich aufgeregt am Arm und schloß dann beide Türen. »Am ersten Nachmittag eine halbe Stunde! Heute morgen eine halbe Stunde! Heute nachmittag fünfundvierzig Minuten!«

»Das ist schön«, sagte ich ruhig.

»Schön? Schön?« Er wischte sich die Augen. »Mr. North, können Sie mich am Sonntagmorgen oder -nachmittag nach ›Whitehall‹ begleiten?«

»Ich bin leider jeden Sonntagmorgen bei Oberst Vanwinkle. Aber ich würde es als eine große Auszeichnung empfinden, wenn ich mit Ihnen an einem Sonntagnachmittag hinfahren dürfte.«

»Ja, ich werde auch meine Enkeltochter mitnehmen.«

Es klopfte. »Herein!«

Mrs. Bosworth trat ein. »Entschuldige die Störung, Vater. Ich muß mit dir unser Abendessen Dienstag in einer Woche besprechen. Die Thayers sind nach New York gereist. Wen möchtest du statt dessen einladen?« Ihr Vater murmelte verärgert ein paar Worte. »Entschuldige, Vater, aber ich muß wissen, ob du lieber die Ewings hier hast oder die Thorpes.«

»Sarah, wie oft muß ich dir noch sagen, daß ich beim Arbeiten nicht gestört sein will?«

Sie starrte mich an. »Vater, du benimmst dich in letzter Zeit äußerst seltsam. Ich glaube, diese Lektüre und vor allem diese Spaziergänge regen dich zu sehr auf. Du solltest Mr. North gute Nacht sagen und …«

»Sarah, du hast dein Auto und deinen Chauffeur. Ich möchte dich unter keinen Umständen stören. Bitte miete mir für morgen ein Auto mit Chauffeur für meinen persönlichen Gebrauch. Ich möchte morgen nach meiner Siesta fahren, um vier Uhr dreißig.«

»Du wirst doch nicht etwa …?«

»Was du ›seltsam‹ an mir findest, ist die Besserung meiner Gesundheit.«

»Ausfahren! Ohne die Erlaubnis von Dr. McPherson, deinem Arzt seit dreißig Jahren!«

»Dr. McPherson ist dein Arzt. Ich brauche im Augenblick keinen. Und sollte ich einen brauchen, so werde ich den jungen Dr. So-und-so, von dem mir Forebaugh erzählt hat, kommen lassen … Ich möchte jetzt meine Lektüre wieder aufnehmen.«

»Aber die Kinder …?«

»Edward? Mary? Was haben die damit zu tun?«

»Wir sind alle sehr besorgt. Wir lieben dich!«

»Dann wird es dich freuen, daß ich mich viel besser fühle. Ich möchte mit Persis sprechen.«

Persis erschien fast im gleichen Augenblick. Dies war das »Haus der Lauscher«.

»Persis, kannst du mich von jetzt ab jeden Nachmittag nach meiner Siesta auf einer kurzen Ausfahrt begleiten?«

»Mit dem größten Vergnügen, Großvater.«

»Sonntag in einer Woche werden wir Mr. North ›Whitehall‹ zeigen.«

Als sie das hörte, brach für Mrs. Bosworth das Haus zusammen. Sie würdigte mich keines Blickes. Ihr Verhalten ließ erkennen, daß die Zeit für durchgreifende Maßnahmen gekommen war.

Wir lasen weiter in dem Werk von Bischof Berkeley, wenn auch nicht mehr so angespannt. Dr. Bosworth sprudelte über vor Freude. Sie machten jetzt täglich eine Spazierfahrt auf dem »Zehn-Meilen-Weg«, und dann wollte er so schnell wie möglich Providence wiedersehen, wo sie im Hotel übernachten würden, »ohne Mrs. Turner«. Er träumte auch von einer Reise nach New York im Herbst — die Pläne für die Akademie!

Ein Sturm zog sich über meinem Kopf zusammen.

Ich genoß das Aufzucken der Blitze.

Die Leffingwells waren jetzt bei jedem Diner in den »Neun Giebeln« anwesend und schlossen sich stets der späten Parade in Dr. Bosworths Arbeitszimmer an. Mrs. Leffingwell reichte mir zur Begrüßung die Hand; ihr Gatte starrte mich an und schien etwas sagen zu wollen, aber der Kampf in seinem Innern zwischen schnaubender Wut und guter Erziehung ließ ihn jedesmal verstummen. (Cassius Marcellus erinnerte mich immer an »Vercingetorix oder der sterbende Gallier« — der einzige mir bekannte Kopf mit Schnurrbart unter den antiken Skulpturen — wahrscheinlich strohblond). Eines Abends kam es — wie bei allen Paraden — zu einer Stockung. Die Leffingwells traten vor mir auf der Stelle. Mrs. Leffingwell fing eine Unterhaltung mit mir an, über das Wetter, über die Schönheiten von Newport und über die Besserung im Befinden ihres Vaters, doch schließlich war sogar ihr Vorrat an Konversation erschöpft. Sie fächelte sich mit einem Taschentuch und lächelte reizend. Ihr Mann brummte: »Los, Mary. Geh weiter.«

»Ich kann nicht, Cassius. Mrs. Venable hält uns alle auf.«

Endlich löste sich Cassius’ Zunge. Er näherte sich mir mit vorgestrecktem Kopf und zischte (direkt aus »Die Mörderhand im Dunkel«): »Sehen Sie sich vor, North, demnächst werde ich Sie auspeitschen.«

Seine Frau hatte die Drohung gehört. »Cassius! Cassius! Ich warte hier nicht länger, bis wir bei meinem Vater an der Reihe sind. Komm nach oben!«

Aber er weigerte sich, er wollte mir seine Absicht noch deutlicher beibringen: »Vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe: Auspeitschen!«

Ich blickte ihn ernst an. »Ist Auspeitschen im Süden immer noch üblich, Mr. Leffingwell? Ich dachte, das wäre vor fünfzig Jahren abgeschafft worden.«

»Cassius, komm mit!«

Es war ein Befehl, und er gehorchte — wahrscheinlich hatte er noch nicht genug getrunken.

Ein paar Nächte später fand ich im CVJM eine Nachricht für mich vor: »Lieber Mr. North, ich habe erfahren, daß ein Mitglied einer Familie — in der Sie vorlesen — in der ganzen Stadt verbreitet, daß er Ihnen Böses antun will. Ein Freind von mir — Sie haben ihn kennengelernt — hat veranlaßt, daß ein Wagen am Freitag um Mitternacht Sie abholt. Verlassen Sie das Haus nicht eher, als bis man Ihnen meldet, ein Auto mit Chauffeur warte draußen auf Sie.« Unterschrieben: »Ein Freind von der Spring Street.« Freinde waren es in der Tat.

Amelia Cranston hatte, mehr um Newports als um meinetwillen, zusammen mit dem Polizeichef beschlossen, daß einem Sommergast nichts zustoßen dürfe.

Am Freitag fand kein Diner statt. Dr. Bosworth und ich lasen »Die Philosophie Giambattista Vicos« von Benedetto Croce. Die italienischen Sprachkenntnisse meines Arbeitgebers waren besser als meine, und es machte ihm Vergnügen, mir über die schwierigen Passagen hinwegzuhelfen. Mit nicht weniger Vergnügen stellte er sich vor, daß in Kürze der Autor sein Gast und Nachbar in der »Akademie der Philosophen« sein würde. Ich las auch mit Vergnügen, weil der Autor und sein Gegenstand für mich neu waren, staunenswert und groß. Ich vergaß, daß man mich abholen wollte.

Um Viertel vor zwölf Uhr klopfte Persis Tennyson an die Tür und durfte eintreten. »Großvater, ich möchte heute nacht Mr. North nach Hause fahren. Bitte, laß ihn diesmal etwas früher aufhören, es ist schon spät.«

»Ja, meine Liebe. Meinst du: sofort?«

»Ja, Großvater, bitte.«

Ich wollte mich eben verabschieden, als Mrs. Bosworth unter der Tür erschien. Sie hatte den Vorschlag ihrer Nichte gehört. (In den »Neun Giebeln« ging niemand zu Bett, bevor nicht der gräßliche Mr. North das Haus verlassen hatte.) »Laß das bleiben, Persis. Es gehört sich nicht, daß du um diese Zeit noch in der Stadt herumfährst. Dorsey soll Mr. North in meinem Wagen nach Hause bringen.«

»Nun, mein Freund«, sagte Dr. Bosworth auf Italienisch, »heute nacht liegt es doch allen sehr am Herzen, Sie sicher nach Hause zu geleiten.«

Da meldete Willis, daß draußen ein Wagen für Mr. North bereitstehe.

»Was für ein Wagen, Willis, meiner?«

»Nein, gnädige Frau, der Wagen, den Mr. North bestellt hat.«

»Also gut«, sagte Persis, »bringen wir alle Mr. North an die Tür.«

Es war eine ganze Prozession, die mir durch die Halle das Geleit gab. Am Fuß der Treppe stürzte uns Mrs. Leffingwell aufgeregt entgegen: »Sally, ich kann Cassius nirgends finden. Er ist wahrscheinlich gar nicht im Haus. Hilf mir doch, ihn zu suchen. Wenn wir ihn nicht finden, werde ich Mr. North in meinem Wagen nach Hause fahren. Willis, haben Sie Mr. Leffingwell gesehen?«

»Ja, gnädige Frau.«

»Wo ist er?«

»Gnädige Frau, draußen im Gebüsch.«

»Ja, Tante Mary«, sagte Persis. »Er liegt im Gebüsch, ich habe ihn auch gesehen. Deshalb wollte ich Mr. North nach Hause fahren. Er hatte etwas in der Hand.«

»Persis, nun genug davon!« sagte Mrs. Bosworth. »Halte den Mund! Geh auf dein Zimmer!«

Willis wandte sich an Mrs. Bosworth: »Gnädige Frau, kann ich Sie einen Augenblick allein sprechen?«

»Sprich, Willis!« befahl Mrs. Bosworth. »Was wollen Sie sagen? Was hatte Mr. Leffingwell in der Hand?«

»Einen Revolver.«

Mrs. Leffingwell war zu gut erzogen, um laut aufzukreischen. Sie piepste nur: »Cassius spielt schon wieder mit Schußwaffen. Er wird sich noch umbringen.«

Der Chauffeur, der nach mir gefragt hatte, trat auf uns zu. »Nicht jetzt, gnädige Frau. Wir haben ihm den Revolver abgenommen.« Und er hielt ihn uns vor die Nase.

»Und wer sind Sie?« fragte Mrs. Bosworth majestätisch. Der Chauffeur schlug den Rockaufschlag hoch und ließ seine Erkennungsmarke sehen.

»Gott im Himmel«, rief Dr. Bosworth aus.

»Und«, fragte Mrs. Bosworth, die gern eine Frage mit »Und« begann, »wer hat Ihnen erlaubt, meinen Grund und Boden widerrechtlich zu betreten?«

»Mr. Loft … Mr. Left … der Gentleman im Gebüsch … hat an drei verschiedenen Orten gedroht, Mr. North umzubringen. Da müssen wir eingreifen, gnädige Frau. Ist Mr. Leveringwell in Newport polizeilich gemeldet?«

»Mr. Leffingwell wohnt in Jamestown.«

»Der Chef hat uns gesagt, wir sollen keine Anzeige erstatten, wenn der Gentleman außerhalb des Landkreises Aquidneck gemeldet ist. Er muß sich jedoch verpflichten, während der nächsten sechs Monate die Gemeinde Newport nicht zu betreten. Felix, bring ihn herein.«

Mrs. Leffingwell sagte: »Bitte rufen Sie ihn jetzt nicht herein. Ich bin seine Frau und bürge dafür, daß er nicht mehr hierherkommt. Wir haben eine Farm in Virginia, wo ein Mann zu seiner Selbstverteidigung überall einen Revolver mit sich herumtragen kann.«

Man nennt dies »das letzte Wort«. Sie sprach es nicht ohne Grandezza und hätte dazu nicht hübscher aussehen können.

Mein Retter (»Joe«) hatte eine ständige Freikarte für alle Kinos. Er wußte, wie man sich in großen Häusern benimmt. »Wenn Mr. North jetzt aufbrechen will, der Wagen steht vor der Tür. Wir haben auch noch in Daubigny Cottage zu tun. Gute Nacht, meine Damen und Herren, entschuldigen Sie die Störung.«

Ich verbeugte mich stumm vor der versammelten Gesellschaft und ging.

Draußen sagte Joe zu seinem Kollegen: »Wollen mal sehen, wo der Strolch steckt.«

»Er klopft an die Hintertür, Joe. Vielleicht braucht er Hilfe?«

»Ach, die werden ihn schon finden … Der Chef sagt, wir sollen uns so wenig wie möglich mit diesen Leuten einlassen. Lauter verrückte Hühner, sagt er. Sollen ihre schmutzige Wäsche gefälligst selber waschen.«

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Mit auch nur einem Körnchen Anstand im Leibe hätte ich am nächsten Morgen kündigen müssen. Aber was ist schon eine kleine Familienszene, verglichen mit dem Vergnügen, Bischof Berkeley, Croce, Vico zu entdecken oder meine Augen auf Persis Tennyson ruhen zu lassen.

Als ich mich zu unserer Sonntagsausfahrt nach »Whitehall« einfand, erwarteten mich Dr. Bosworth und seine Enkelin an der Haustür. Es war ein wunderbarer Augustnachmittag (aber ich erinnere mich an lauter solche Nachmittage, denn auf der Insel Aquidneck regnete es — sehr rücksichtsvoll — nur, wenn die Bewohner schliefen).

Persis sagte: »Ich werde vorn bei Jeffries sitzen. Mr. North, nehmen Sie bitte neben Großvater Platz. Er fährt gern gemächlich, und ich weiß, er möchte sich mit Ihnen unterhalten.«

»Mrs. Tennyson, ich hatte noch nicht den Vorzug, Ihnen vorgestellt zu werden.«

»Was?« sagte Dr. Bosworth.

»Wir grüßen uns bloß«, sagte ich.

Persis lachte. »Geben wir uns also die Hand, Mr. North.«

Dr. Bosworth staunte. »Nie kennengelernt? Nie vorgestellt worden? In was für einem Haus lebe ich? Cassius liegt im Gebüsch. Polizisten zeigen Revolver vor. Sarah und Mary benehmen sich wie …« Er begann zu lachen. »Da muß sich ja ein alter Mann wie König Lear vorkommen.«

»Denken wir nicht mehr dran, Großvater.«

»Ja.« Er machte mich auf einige Häuser und Fensterrosetten aus dem 18. Jahrhundert aufmerksam. »Es gibt ein paar herrliche Häuser in dieser Stadt, doch sie zerfallen und verrotten. Niemand scheint einen Sinn für ihre Schönheit zu haben.«

»Dr. Bosworth, ich habe in Newport jemand gefunden, der uns bei den metaphysischen Passagen von Bischof Berkeley hätte helfen können.«

»Wer denn?«

»Sie kennen ihn gut, Baron Stams. Er hat in Heidelberg seinen Doktor in Philosophie gemacht.«

»Bodo? Gott im Himmel! Hat Bodo von irgend etwas eine Ahnung?«

»Er besitzt auch einen Doktor der politischen Wissenschaften von der Universität Wien.«

»Hast du das gehört, Persis? Er ist ein netter Mensch, ja, aber ich dachte, er sei auch nur einer aus Mrs. Venables Sammlung von Tanzpartnern. Du hast ihn doch immer für ziemlich belanglos gehalten, Persis?«

»Nicht belanglos, Großvater. Es ist nur schwer, mit ihm ins Gespräch zu kommen.«

»Ja, ich erinnere mich, daß du das gesagt hast. Es hat mich gewundert. Er scheint sich mit jeder Tischdame ohne Schwierigkeiten zu unterhalten, außer mit dir. Ein richtiger Gigolo. Tante Sally setzt ihn immer neben dich, und auch Mrs. Venable, soviel ich höre.«

Persis schwieg.

Dr. Bosworth wandte sich wieder an mich, vertraulich. »Ich dachte immer, er wäre ein Mitgiftjäger. Sie wissen doch, was ich meine: Adelstitel, gutes Aussehen, weiter nichts.«

Ich lachte.

»Warum lachen Sie, Mr. North?«

»Dr. Bosworth, in diesem Falle hat Baron Stams das Vermögen.«

»Er hat Geld, ja?«

Ich sah Dr. Bosworth in die Augen und sagte ebenso laut wie vorher: »Er hat ein Vermögen — hervorragenden Verstand sowie hervorragenden Charakter, eine vornehme Familie, eine gesicherte Karriere. Sein Land hat ihm einen Orden für Tapferkeit vor dem Feind verliehen und an seinen Wunden wäre er beinahe gestorben. Sein Schloß in Stams ist fast so schön wie das berühmte Kloster dort, das Sie gewiß kennen. Außerdem ist er furchtbar lustig.« Wieder lachte ich. »Das nenne ich mir ein Vermögen.«

Persis drehte uns ihr Profil zu. Sie schien beunruhigt und verwirrt.

Wir erreichten »Whitehall«, und ich hielt vor Ehrfurcht den Atem an. Von Bischof Berkeley stammt der Satz: »Westwärts nimmt das Reich seinen Lauf.« Und da standen wir, Pilger aus dem Osten.

Trotz Dr. Bosworths wiederholter freundlicher Aufforderung bin ich nie wieder mit ihm ausgefahren; doch von Persis Tennyson ließ ich mich einmal im Wagen mitnehmen — den Bericht über diese Fahrt im Sternenlicht muß ich auf später verschieben, auf das Kapitel »Bodo und Persis«, wo es eher hingehört. Persis begleitete nun ständig ihren Großvater — und lieferte sich damit Hals über Kopf einer Gefahr aus, der ich mehr und mehr entkam: »Favoritismus«. Mrs. Bosworth schlug ihr gegenüber einen zunehmend schrofferen Ton an, aber Persis blieb fest. Eines Nachmittags hatte ich Dr. Bosworth nach seiner täglichen Ausfahrt aufgesucht, da er mich kurz zu sprechen wünschte. Während er sich umzog und ich in seinem Arbeitszimmer auf ihn wartete, überhörte ich folgende Unterhaltung in der Halle:

»Du mußt zugeben, Tante Sally, daß diese Ausfahrten Großvater gut tun.«

»Du bist eine Ignorantin, Persis, sie bringen ihn um.«

»Ich habe Großvater gebeten, sich mir zuliebe von Dr. Tedeschi untersuchen zu lassen. Dr. Tedeschi hat ihm zu diesen Fahrten sehr zugeraten.«

»Wie konntest du eine solche Verantwortung auf dich nehmen? Dr. Tedeschi ist ein Scharlatan und noch dazu ein italienischer Scharlatan.«

Dr. Bosworth kam in sein Arbeitszimmer, übersprudelnd von neuen Ideen. Er wollte sein großes Projekt einem noch zu bildenden Aufsichtsrat unterbreiten. Geplant war ein Verwaltungsgebäude mit zwei Vortragssälen, einem großen und einem kleinen; ferner eine möglichst reichhaltige Bibliothek; mindestens neun Wohnhäuser; hohe Jahresgehälter für die Magister; und für die von ihnen ausgewählten Studenten ein Schlaf- und ein Speisesaal. Weitere Kosten wurden mit Bleistift am Rande vermerkt. Das Projekt würde Millionen und Millionen kosten. Sehr erheiternd.

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Zwei Tage später traf ich am Abend um die gewohnte Stunde ein. Persis erwartete mich vor dem Haus. Sie legte ihren Finger an die Lippen, runzelte die Augenbrauen und deutete auf die Halle. In ihrem Gesicht spiegelten sich Bestürzung und ein leichtes Amüsement. Sie sprach kein Wort. Ich klingelte und wurde von Willis eingelassen. In der Halle hielt mich Mrs. Bosworth in einiger Entfernung vom Arbeitszimmer ihres Vaters auf. Sie sagte leise, aber sehr deutlich: »Mr. North, seitdem Sie dieses Haus zum erstenmal betraten, haben Sie nichts als Verwirrung angerichtet. Sie sind ebenso dumm wie gefährlich. Wollen Sie mir bitte erklären, was Sie mit meinem Vater vorhaben?«

Ich antwortete noch leiser. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Mrs. Bosworth.«

Es wirkte. Sie erhob die Stimme. »Dr. Bosworth ist ein sehr kranker Mann. Diese Anstrengungen können ihn das Leben kosten.«

»Ihr Vater hat mich eingeladen, ihn nach ›Whitehall‹ zu begleiten. Ich nahm an, daß dies mit Einwilligung des Arztes geschah.«

»Nahm an! Es steht Ihnen nicht zu, irgend etwas anzunehmen!«

Ich war kaum noch zu hören. »Dr. Bosworth erwähnte eine Erlaubnis seines Arztes.«

»Er weigert sich, seinen Arzt zu sehen, einen Mann, der ihn seit dreißig Jahren behandelt! Sie sind ein Störenfried, ein vulgärer Eindringling. Mr. North, ich war es, die Sie engagiert hat. Ihre Tätigkeit in diesem Hause ist hiermit gekündigt. Jetzt! Sofort! Wollen Sie mir bitte mitteilen, wieviel ich Ihnen noch schulde?«

»Danke … Dr. Bosworth erwartet mich. Ich werde mich noch von ihm in seinem Arbeitszimmer verabschieden.«

»Ich verbiete Ihnen, auch nur einen Schritt weiterzugehen!«

Ich hatte noch einen Trick in petto, ich wurde laut. »Mrs. Bosworth, Sie sind sehr blaß. Ist Ihnen nicht wohl? Kann ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«

»Mir fehlt nichts. Wollen Sie bitte nicht so brüllen.«

Ich flitzte hin und her unter lautem Geschrei: »Mr. Willis! Mr. Willis! Ist jemand da? Mrs. Turner! Schwester!«

»Hören Sie sofort mit diesem Unfug auf. Es fehlt mir nichts.«

Ich lief durch die Halle. »Riechsalz! Hilfe! Baldrian! Asafoetida!«

Ich warf einen Tisch um. Persis erschien. Mrs. Turner erschien. Willis erschien. Mägde tauchten aus der Küche auf.

»Seien Sie still! Ich bin vollkommen in Ordnung!«

»Rufen Sie einen Arzt! Mrs. Bosworth ist ohnmächtig geworden!« Mir fiel ein umwerfender Satz aus den Romanen des achtzehnten Jahrhunderts ein: »Schnürt sie auf!«

Willis schob Mrs. Bosworth so heftig einen Stuhl hin, daß sie darin versank, empört. Persis kniete nieder und streichelte ihre Hände. Da zeigte sich Dr. Bosworth unter der Tür seines Arbeitszimmers, und es wurde ganz still in der Halle. »Was ist geschehen, Sarah?«

»Nichts! Dieser Idiot hat viel Lärm um nichts gemacht!«

»Persis?«

»Großvater, Tante Sally ist plötzlich schlecht geworden. Zum Glück war Mr. North hier und hat um Hilfe gerufen!«

Es war hier wie in der großen Oper — die Erleichterung, die sich ausbreitet, wenn das Verborgene an den Tag kommt.

Mrs. Bosworth stand auf und ging auf ihren Vater zu. »Vater, entweder verläßt dieses Ungeheuer das Haus oder ich!«

»Willis, rufen Sie Dr. McPherson. Sarah, du bist müde. Du hast dich überarbeitet. Mrs. Turner, wollen Sie bitte Mrs. Bosworth auf ihr Zimmer begleiten. Geh zu Bett, Sarah, geh zu Bett! Persis, bleib hier, ja? Willis!«

»Ja, Sir?«

»Ich möchte einen Whisky mit Soda. Bringen Sie Mr. North auch einen.«

Whisky, das war’s, Mrs. Bosworth erkannte klar das Ende ihrer Herrschaft. Nach Jahren des Haferschleims: Whisky! Sie wandte sich der Treppe zu und fegte Mrs. Turner beiseite. »Fassen Sie mich nicht an! Ich kann sehr gut allein gehen!«

»Dr. Bosworth«, sagte ich, »aus Respekt vor Mrs. Bosworth werde ich meine ihr so unwillkommenen Besuche auf keinen Fall mehr fortsetzen. Darf ich noch einen Moment hierbleiben, um Ihnen für die Auszeichnung zu danken, die Sie mir erwiesen, indem ich hier mit Ihnen zusammen arbeiten durfte.«

»Was? Was? Das müssen wir noch besprechen. Persis, komm her.«

»Ja, Großvater.«

»Mr. North muß uns verlassen, wie er meint. Hoffentlich kann er es ermöglichen, mich von Zeit zu Zeit in den ›Lesesälen‹ aufzusuchen.«

Willis kam mit unseren Drinks. Dr. Bosworth erhob sein Glas und sagte: »Dr. Tedeschi hat mir heute einen kleinen Whisky am Abend erlaubt.«

Persis und ich tauschten keinen Blick, aber ich spürte, wir beide teilten das Gefühl des Gelingens.

Das war mein letzter Besuch in den »Neun Giebeln«.

Mrs. Bosworth und ich verließen das Haus; sie, um eine liebe Freundin in England zu besuchen, ich, um meine Dienste anderen zur Verfügung zu stellen. Doch dauerten, wie der Leser bereits weiß, meine Beziehungen zu einigen Bewohnern der »Neun Giebel« noch fort.

Gegen Ende des Sommers begegnete ich Dr. Bosworth durch Zufall. Er war genauso herzlich wie immer und vertraute mir an, daß er in seinem Alter den zahllosen Details, die mit der Gründung einer Akademie der Philosophen zusammenhingen, nicht mehr gewachsen sei. Ihm schwebte jetzt ein anderes — allerdings noch streng geheimes — Projekt vor: der Bau und die Finanzierung einer Klinik für jenen »hervorragenden jungen Arzt Dr. Tedeschi«.

RIP

Zu meiner Überraschung entdeckte ich Ende Juni, daß ein früherer Studienkollege von mir in Newports »sechster Stadt« lebte. Als ich eines Abends auf der Avenue nach Hause radelte, hörte ich plötzlich aus einem vorbeifahrenden Auto eine Stimme: »Theophilus! Theophilus! Was um Himmels willen machst du hier?« Ich hielt am Straßenrand an. Das Auto ebenfalls. Ein Mann stieg aus und kam lachend auf mich zu. Noch immer lachend schlug er mir auf den Rücken, boxte mich vor die Brust, packte meine Schultern und schüttelte mich wie eine Ratte. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich Nicholas Vanwinkle wiedererkannte. Natürlich hatte man ihn — auf der Schule, beim Militär, auf der Universität — nur »Rip« genannt. In seiner Familie hielt sich die Legende, Washington Irving habe Nicholas’ Großvater, seinen guten Bekannten, eines Tages schriftlich um die Erlaubnis gebeten, den Namen Vanwinkle für einen liebenswerten alten Mann, Rip, in einer Geschichte benutzen zu dürfen, die von den Holländern in den Catskills handelte. Sie wurde ihm gerne gewährt, und das Resultat ist der Welt wohlbekannt.

Noch ein zweites Mal erlangte der Name »Rip Van Winkle« weltweite Berühmtheit, denn der Mann, der in Bellevue Avenue so rauh mit mir umging, war das Kampffliegeras aus dem Ersten Weltkrieg; er zählte zu den vier am höchsten ausgezeichneten Kämpfern »auf unserer Seite« und war der Schrecken der Deutschen, die ihn zugleich bewunderten. Er gehörte zur Abschlußklasse 1916, aber unter den Absolventen von 1920 befanden sich viele, die lange vorher das College verlassen hatten, um in den Krieg zu ziehen. Die einen dienten vor Amerikas Kriegserklärung als Freiwillige in der kanadischen Armee, die anderen, wie mein Bruder und Bob Hutchins, gingen als Sanitäter nach Frankreich oder auf den Balkan, um dann später von Amerika übernommen zu werden. Von den Überlebenden dieser in alle Himmelsrichtungen versprengten Studenten kehrten viele nach Yale zurück, wo sie ihr Studium 1919 und 1920 fortsetzten. Ich hatte Rip nicht näher gekannt, er verkehrte in viel vornehmeren Kreisen als ich; er war die Blüte der jeunesse dorée und außerdem eine internationale Berühmtheit, doch hatte ich mich oft mit ihm im »Elisabethanischen Klub« unterhalten, wo er für uns die Rolle von Sir Philip Sidney spielte, dem Prototyp eines Ritters. Groß, gut aussehend, reich, ein hervorragender Sportler (obwohl er weder Fußball noch Baseball spielte) und in seinem Auftreten von einer Schlichtheit, die sich deutlich von der herablassenden Steifheit seiner »Clique«, den Söhnen der großen Stahl- und Banktrusts, abhob.

Durch Zufall traf ich ihn im Frühjahr 1921 eines Mittags in Paris auf der Avenue de l’Opera wieder, kurz nachdem ich mein einjähriges Studium in Rom beendet hatte. Wir standen vor dem Café de Paris, und er lud mich prompt zum Mittagessen ein. Er hatte noch nichts von seiner schlichten Spontaneität verloren. Am nächsten Tag wollte er nach Amerika zurückkehren, um »das wunderbarste Mädchen der Welt« zu heiraten. Es war eine zauberhafte Stunde. Damals ahnte ich nicht, daß er für unser Essen sein letztes Geld zusammengekratzt hatte.

In den letzten fünf Jahren hatte ich nichts von ihm gesehen und gehört. Fünf Jahre sind eine lange Zeit, wenn eine Jugend zu Ende geht. Er war jetzt fünfunddreißig, wirkte aber wie ein guter Vierziger. Der Überschwang, mit dem er mich begrüßt hatte, wich bald einer kaum noch zu verbergenden Erschöpfung oder Niedergeschlagenheit.

»Was treibst du so, Theo? Erzähl mir von dir. Ich bin zum Abendessen eingeladen, aber ich habe vor dem Umziehen noch eine ganze Stunde Zeit. Können wir uns nicht irgendwo zu einem Drink hinsetzen?«

»Ich habe nichts vor, Rip.«

»Gehen wir in den ›Muenchinger-King‹. Stell dein Rad auf den Rücksitz. Du, ich freu mich so, dich wiederzusehen. Du hast doch unterrichtet, stimmt das?«

Ich erzählte ihm, was ich alles gemacht hatte und was ich jetzt machte. Ich zog den Zeitungsausschnitt mit meiner Annonce aus meiner Brieftasche. Es war erfrischend und rührend, wie er sich so selbstlos für meine Person interessierte, aber bald merkte ich, daß es ihn zugleich auch erleichterte, nicht über sich selbst sprechen und nachdenken zu müssen. Schließlich verstummte ich. Er sah immer auf den Zeitungsausschnitt.

»Sprichst du alle diese Sprachen?«

»Ja, mit viel Glück und ein bißchen Bluff, Rip.«

»Hast du genug Schüler oder Zuhörer oder wie du sie nun nennst?«

»Gerade soviel, wie ich bewältigen kann.«

»Kannst du auch Deutsch?«

»Ich habe als Junge in China deutsche Schulen besucht und habe mich seitdem immer wieder mit dieser Sprache beschäftigt.«

»Theo?«

»Nenne mich Ted, ja, Rip? Theophilus ist zu umständlich und Theo zu plump. Alle nennen mich jetzt Ted oder Teddie.«

»Also gut … Hör zu, Ted, ich habe eine Idee. Im Frühling nächsten Jahres findet in Berlin ein Bankett statt und ein zweitägiges Treffen der Angehörigen aller Luftstreitkräfte. Das Kriegsbeil begraben, und so weiter, verstehst du? Einander über den Ozean hinweg die Hände reichen. Seid nett zu euren Feinden. Reden auf die Toten und all das. Ich möchte hin. Ich muß hin. Aber ich möchte vorher mein Deutsch etwas verbessern. Ich lernte zwei Jahre Deutsch auf der Schule, und ich hatte eine deutsche Großmutter. Bei dem Treffen möchte ich den Leuten zeigen, daß ich auf Deutsch zumindest herumstottern kann. Ted, könntest du mir zweimal die Woche je zwei Stunden geben?«

»Ja. Früh am Morgen. Würde dir das passen? Acht Uhr? Ich habe ein paar Tennisstunden weniger, weil die Berufstrainer wieder zurück sind.«

Er sah einen Augenblick auf den Tisch. »Es wird meiner Frau wahrscheinlich nicht recht sein. Aber dies möchte ich unbedingt machen, und, bei Gott, ich werde es machen.«

»Deine Frau will nichts mit Deutschland zu tun haben?«

»Ach, das ist es nicht. Sie hat hundert Gründe dagegen. Zum Beispiel, daß ich sie mit den Kindern allein in New York zurücklasse. Außerdem glaubt sie, die Erinnerung an den Krieg schadet mir. Verflucht nochmal, diese Reise würde mir so gut tun. Und dann natürlich die Kosten, Ted, diese überflüssigen Kosten. Verstehst du, ich liebe meine Frau, sie ist wunderbar, aber sie haßt überflüssige Ausgaben. Wir haben ein Haus in New York und das Cottage hier, das reicht ihr. Aber, Ted, ich muß hin. Ich muß ihnen die Hände schütteln. Das Kriegsbeil begraben — verstehst du. Ich soll drüben genauso berühmt sein wie Richthofen hier. Kannst du dir vorstellen, wie mir zumute ist?«

»Ja.«

»Du, es ist wunderbar, daß ich dich wiedergetroffen habe. Es gibt mir die nötige Kraft, die Sache durchzuboxen. Findest du nicht, daß ich schon aus Höflichkeit versuchen müßte, deutsch zu sprechen? Du kannst mich den Sommer über unterrichten, und ich werde wie ein Verrückter den Rest des Jahres dafür arbeiten. Weiß Gott, ich hab ja nichts anderes zu tun.«

»Was soll das heißen, Rip?«

»Ich habe ein Büro. Ursprünglich, um das Vermögen meiner Frau zu verwalten. Aber das Vermögen wuchs und wuchs und die Ratgeber auf der Bank wurden immer wichtiger und wichtiger — so daß ich immer weniger zu tun hatte.«

Ich verstand und antwortete schnell: »Was möchtest du denn tun?«

Er stand auf und sagte: »Tun? Tun? Schlag was vor. Straßenbahnschaffner. Telephontechniker.« Er wischte sich die Stirn. Dann mit forcierter Lustigkeit: »Ich möchte meine Verabredung heute abend schießenlassen und mit dir essen gehen, aber ich kann nicht.« Er setzte sich wieder.

»Gut«, sagte ich auf Deutsch. »Ich bleibe ja in der Stadt. Wir können einen anderen Abend ausmachen.«

Er schob nachdenklich sein Glas vor und zurück, als ob diese Möglichkeit kaum in Betracht käme. »Ted, erinnerst du dich, wie Gulliver im Land der kleinen Menschen …«

»In Liliput.«

»In Liliput durch Tausende von zarten Seidenfäden an die Erde gefesselt wurde? Das bin ich.«

Ich stand auf und sah ihm fest in die Augen. »Du wirst zu diesem Bankett nach Deutschland fahren.«

Er antwortete mit dem gleichen Ernst leise: »Ich sehe nicht, wie. Ich sehe nicht, woher ich das Geld nehmen soll.«

»Ich dachte immer, deine Familie sei sehr reich.«

»Weißt du nicht?« Er nannte seinen Geburtsort. »1921 sind in dieser Stadt drei große Gesellschaften und fünf prominente Familien bankrott gegangen.«

»Hattest du damals, bei unserem Pariser Treffen, schon eine Ahnung davon?«

Er deutete auf seinen Kopf. »Oh, mehr als eine Ahnung. Zum Glück war ich mit einem reichen Mädchen verlobt. Ich sagte ihr, daß ich außer meinem Abschiedssold nichts einbringe. Sie lachte und sagte: ›Darling, natürlich hast du Geld. Ich mache dich zu meinem Vermögensverwalter, und du wirst ein sehr gutes Gehalt beziehen.‹ Mit meinen letzten hundert Dollar kam ich gerade noch bis zur Kirche.«

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1919 und 1920, und auch in den unmittelbar darauffolgenden Jahren, habe ich mit vielen ehemaligen Kriegsteilnehmern gesprochen — um jetzt von all denen zu schweigen, die ich in einem späteren Krieg auf Befehl verhören mußte. (»Rips Krieg« verlebte ich, wie bereits berichtet, wohlbehalten unter den Verteidigern der Narragansett-Bucht.) Der Krieg hatte bei jedem ganz verschiedene Spuren hinterlassen, aber eine bestimmte Waffengattung — die Luftwaffe — zeigte deutliche Nachwirkungen. Die jungen Soldaten, die zu Wasser und zu Lande kämpften, erlebten, was einst Journalisten ihre »glorreiche Stunde« nannten: ein Gefühl großer Verantwortung, verbunden mit dem Bewußtsein, einer »Einheit« anzugehören, dazu das Erlebnis von Erschöpfung, Gefahr und Tod; viele belastete das Vernichten von Menschenleben. Aber die »Stunde« der ersten Generation von Kampffliegern enthielt noch einige andere Elemente. Der Luftkampf war damals neu, und seine Regeln und Praktiken wurden von Tag zu Tag improvisiert. Das Beherrschen technischer Errungenschaften über der Erde erfüllte die Flieger mit großer Genugtuung, wie sie auch keine grauhaarigen Offiziere als Vorgesetzte über sich hatten. Sie waren die Pioniere und Entdecker. Ihre Beziehungen untereinander und zum Feind waren im höchsten Maße kameradschaftlich. Sie entwickelten ohne Einmischung von außen einen Kodex der Ritterlichkeit mit den deutschen Fliegern. Keiner hätte sich einfallen lassen, ein kampfunfähig geschossenes feindliches Flugzeug auf seinem Rückflug anzugreifen. Wurde ein Gegner aus einem früheren Kampf wiedererkannt, so gab man ihm lachend ein Zeichen der Herausforderung.

Die Flieger lebten »homerisch«; eben davon handelt die Ilias — von jungem, heldenhaftem, bedrohtem Leben (Goethe lernte von Homer: »Da wir denn aber die Hölle eigentlich hier oben vorzustellen haben, so mag denn das auch für ein Leben gelten«). Viele Veteranen zerbrachen danach und führten mit den Ihren ein elendes Leben. (»Wir hatten nicht das Glück zu sterben«, sagte einer zu mir.) Andere fanden sich stoisch mit einem langen Leben ab. In einigen Fällen konnte man jedoch bei näherer Betrachtung feststellen, daß in ihnen eine »Feder gesprungen war«; eine Quelle ihres Muts und ihrer Heiterkeit war versiegt. Zu ihnen gehörte Rip.

Zunächst gab es ein längeres Hin und Her, wo wir uns früh um acht treffen würden. »Ich hätte die Stunden am liebsten bei mir zu Hause, aber die Kinder frühstücken um diese Zeit, und dann wird meine Frau dauernd hereinkommen, um mir zu sagen, was ich alles erledigen muß.«

»Bill Wentworth erlaubt uns gewiß, im Casino einen Aufenthaltsraum zu benutzen. Vielleicht müssen wir gelegentlich umziehen, wenn geputzt wird. Ich habe dich nie im Casino gesehen, nehme aber an, daß Euer Hochwohlgeboren dort Mitglied sind.«

Er grinste und hielt die Hand seitlich vor den Mund, als wollte er mir ein unheiliges Geheimnis anvertrauen. »Ich bin lebenslängliches Mitglied und von allen Beiträgen befreit.« Er stieß mir den Zeigefinger in die Rippen, als hätte er eine Tüte Bonbons gestohlen.

Der Unterricht begann; eine Stunde Vokabeln und Grammatik, danach eine Stunde Konversation, in der ich die Rolle eines deutschen Offiziers spielte. Rip besaß eine Sammlung von Kriegsbüchern in beiden Sprachen. Es verging keine Stunde, ohne daß er zum Telefon gerufen wurde und mit einer zusätzlichen Liste von Besorgungen zurückkam, aber er konnte sich ohne Schwierigkeiten sofort wieder konzentrieren. Offensichtlich machte ihm die Arbeit großen Spaß; sie half ihm, sich selbst wiederzufinden. Er bereitete sich eifrig auf den Unterricht vor, und ich auch (»Schularbeiten machen«, wie er sich auszudrücken pflegte). Mein Tagesprogramm ließ mir nicht viel Zeit, am Ende der Stunde noch zu plaudern, und ihm erging es ebenso. Wenn er aufstand, zog er sofort die Liste mit seinen Aufträgen zu Rate: Einschreibebriefe auf das Postamt tragen; den Hund zum Veterinär bringen; Miß So-und-So, die Halbtagssekretärin seiner Frau, abholen; Eileen um elf zur Tanzstunde bei Mrs. Brandon abliefern und um zwölf wieder abholen … Anscheinend brauchte Mrs. Vanwinkle ihren Wagen und Chauffeur den größten Teil des Tages für sich. Rip sah allmählich besser aus, er lachte häufiger und hatte auch etwas von seiner alten Ausgelassenheit zurückgewonnen. Aber es fiel kein Wort, daß er die Erlaubnis bekommen hätte, nach Deutschland zu fahren.

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Eines Abends besuchte ich Mrs. Cranston.

»Guten Abend, Mr. North«, sagte Mrs. Cranston huldvoll und beäugte ein Strohkästchen in meinen Händen. Es war mit Moos ausgepolstert und enthielt Adonisröschen, Vogelwicke und andere Blumen, deren Namen ich nicht kannte. »Wild wachsende Blumen! Mr. North, woher wissen Sie, daß ich diese Blumen über alles liebe?«

»Es ist wohl nicht erlaubt, sie auszugraben, aber ich bin extra zu diesem Zweck aus der Stadt hinausgeradelt. Ich habe auch einen Spaten und eine Taschenlampe mitgebracht, um die Blumen in Ihrem Garten an jedem von Ihnen gewünschten Platz einzupflanzen.«

In diesem Augenblick kam Henry Simmons zufällig von der Straße herein.

»Henry, sehen Sie nur, was Mr. North mir gebracht hat. Helfen Sie ihm doch, die Blumen unter Edweenas Fenster für ihre Rückkehr einzupflanzen. Ein Geschenk wie dieses ist ein Geschenk für uns alle, und ich danke Ihnen für mein Teil von ganzem Herzen.« Sie läutete ihre Tischglocke. »Jerry wird Ihnen einen Krug Wasser bringen. Dann werden sich die Blumen gleich wohl fühlen.«

Weder Henry noch ich waren erfahrene Gärtner, aber wir taten unser Bestes. Dann wuschen wir uns die Hände und gingen in den Salon zurück, wo uns illegale Drinks erwarteten.

»Wir haben Sie in letzter Zeit vermißt«, sagte Mrs. Cranston.

»Wir dachten schon, du würdest mit deiner Zuneigung nur noch den Narragansett-Pier beehren. Ehrenwort, Teddie.«

»Ich habe Sie auch vermißt, gnädige Frau, und dich, Henry. Ich gebe jetzt ein paar Stunden spät am Abend, und an gewissen Tagen habe ich so viel zu tun, daß ich um zehn todmüde ins Bett falle.«

»Hoffentlich überarbeitest du dich nicht und gehst dabei mit deinem Witz vor die Hunde, alter Junge.«

»Geld! Geld!« seufzte ich. »Ich bin immer noch auf der Jagd nach einer kleinen Wohnung. Ich habe mir ein Dutzend angesehen, aber die Miete ist unerschwinglich. Ein paar meiner erwachsenen Schüler wollten mir eine sehr annehmbare Wohnung in einem ehemaligen Stall oder einem leeren Gärtnerhaus als Geschenk überlassen, aber ich halte an der Regel fest, daß die Beziehung zwischen Mieter und Vermieter so unpersönlich wie nur möglich bleiben sollte.«

»Eine schöne Regel, die jedoch Ausnahmen zuläßt«, sagte Mrs. Cranston mit einer unmißverständlichen Anspielung auf Edweenas »Gartenwohnung« und wahrscheinlich noch mehrere Mietarrangements.

»Ich glaube, ich habe jetzt das Richtige gefunden. Die Wohnung liegt nicht in einer eleganten Gegend, sie ist bescheiden, aber sauber und gut eingerichtet, und ich werde sie mir leisten können, wenn ich den Preis noch ein bißchen herunterhandele. Ich bin von Hause aus nicht verschwenderisch, Mrs. Cranston, da mein Vater aus Neu-England und meine Mutter aus Schottland stammen. Ich bin nach Neu-England-Begriffen sparsam. Schuljungen würden sagen knauserig.«

Mrs. Cranston lachte. »Auf Rhode Island heißt das zugeknöpft. Ich gestehe offen, daß ich geschäftlich ziemlich zugeknöpft bin.«

Henry protestierte. »Aber Mrs. Cranston, Sie sind der freigebigste Mensch, den ich je getroffen habe. Sie haben ein Herz aus Gold.«

»Ich habe diesen Ausdruck nie gemocht, Henry. Ich hätte weder dieses Haus führen können, noch meinen Kopf über Wasser gehalten, wenn ich nicht vorsichtig gewesen wäre — ein Wort nach Ihrem Geschmack, Mr. North. Ich hasse natürlich filzigen Geiz, aber ich empfehle dringend, einen genauen Überblick über Geld und seine Möglichkeiten zu besitzen.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und dachte einen Augenblick lang nach. »Vor zwanzig oder dreißig Jahren war Newport berühmt für seine Verschwendungssucht. Sie können sich nicht vorstellen, wieviel Geld in einer einzigen Nacht, geschweige denn in einer Saison verschleudert wurde. Aber Sie können sich auch nicht vorstellen, wieviel Geiz, Knickrigkeit und Pfennigfuchserei in dieser Stadt vorkommen — wie heißt schon das Gegenteil von Extravaganz, Mr. North?«

»Kleinlichkeit?«

»Das ist es.«

»Habgier?«

»Hören Sie sich das an, Henry! Das nenne ich mir Bildung. Immer den Nagel auf den Kopf treffen. Edweena findet, daß Extravaganz — nennen Sie mir noch ein andres Wort, Mr. North.«

»Übertriebene Verschwendung.«

»Oh, wie schön Sie das wieder gesagt haben — daß übertriebene Verschwendung und Geiz miteinander verwandt sind — zwei Seiten derselben Hoffnungslosigkeit. ›Newports Geiz‹, behauptete sie, ›war von einer ganz besonderen Art. Alle waren sie millionenschwer, aber ihr Benehmen ging wie eine Fieberkurve rauf und runter.‹ Da gab es eine vornehme Dame, die zweihundert auf Gold gedruckte Einladungen verschickte; Essen und Lohnpersonal wurde bei Delmonico oder Sherry bestellt. Aber vier Tage vor der Party bekam sie plötzlich irgendeine Attacke und sagte die ganze Geschichte ab. Nachdem dies mehrfach passiert war, arrangierten ihre nächsten Freunde ein ›Ersatz-Essen‹, für den Fall einer erneuten Absage. Dieselbe Dame bestritt auch zwei ganze Saisons mit zwei Abendkleidern; sie erschien entweder im schwarzen oder im purpurroten. Sie kaufte ihre Kleider schriftlich bei einer New Yorker Firma, vergaß aber stets, die Briefe in den Kasten zu stecken. Diese Leute glauben immer, daß niemand etwas merkt! In ihrem Inneren sitzt ein Dämon und raubt ihnen die Kraft, einer Ausgabe ins Auge zu sehen. Es ist einfach krankhaft.«

Es folgten weitere niederschmetternde Beispiele von Geiz und Sparsucht.

»Und da gibt es doch in dieser Stadt eine Frau«, sagte Henry, »eine sehr junge Frau, verheiratet mit einem Mann, der so berühmt ist wie General Pershing.«

»Beinahe, Henry.«

»Danke, gnädige Frau. Fast so berühmt wie General Pershing.«

»Keine Namen bitte! Das gehört zur Hausordnung.«

»Sie interessiert sich ausschließlich für Tiere. Sie hat den umliegenden Gemeinden ein halbes Dutzend Tierheime gestiftet und zahlt den Unterhalt. Sie sitzt im Vorstand des Tierschutzvereins. Sie wird hysterisch, wenn sie Federn auf einem Hut sieht. Aber die Geschichte …«

Mrs. Cranston unterbrach ihn: »Mr. North, sie macht ihre Besorgungen meist allein. Bindet sich einen dicken, braunen Schleier vor das Gesicht, steigt in ihren Wagen und fährt in das Viertel zu den Läden, die Schiffe mit Lebensmitteln beliefern. Sie schickt ihren Chauffeur hinein und läßt dem Schlächter sagen, daß ›Mrs. Edom‹ draußen mit ihm sprechen möchte. Mrs. Edom war früher einmal ihre Haushälterin. Sie kauft ein halbes Rind direkt aus dem Pökelfaß. Es dauert zwei Wochen, bis das Salz herausgewässert ist — halb herausgewässert. Das wird dem ›Volksheld‹ und seinen Kindern vorgesetzt. Sie fährt auch auf den portugiesischen Markt und kauft dort riesige Milchkannen voll Kohlsuppe mit dieser Linguiça-Wurst. Wenn die Dienstboten sich beschweren und kündigen, bekommen sie nicht einmal ein anständiges Abgangszeugnis. Die Dame besorgt sich Ersatz bei den Vermittlungsbüros für Einwanderer in Boston und Providence. Aber sie selber stammt aus einer alten Beilevue-Avenue-Familie. Ungefähr alle zehn Tage lädt sie Gäste ein, das Essen wird ihr von Providence ins Haus geliefert, und so schmeißt sie dann all das zusammengeknauserte Geld wieder raus. Oh, ich könnte die Wände hochgehen bei der Vorstellung, daß ihr wunderbarer Mann und ihre Kinder von Corned Beef und Kohlsuppe leben müssen, während sie Tausende von Dollars für Hunde und Katzen ausgibt.«

»Mrs. Cranston, bei uns in England gibt es ein Sprichwort: ›Gut zu Tieren, grausam zu Menschen‹.«

»Es ist krankhaft, Mr. North, sprechen wir von etwas Erfreulicherem.«

Ich erkannte, daß Mrs. Cranston einen unvorteilhaften Aspekt des von ihr geliebten Newport nur innerhalb gewisser Grenzen zu diskutieren wünschte.

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Der Deutsch-Unterricht machte weiterhin Fortschritte, aber das Aufwischen und Abstauben sowie die Anrufe aus Rips Haus förderten ihn nicht sonderlich. Eines Tages fragte mich Rip: »Hast du auch schon am Sonntagmorgen Stunden gegeben?«

»Ja.«

»Könntest du die eine Stunde nicht auf Sonntagmorgen um elf Uhr verlegen? Meine Frau ist dann in der Kirche. Ich nicht. Würde dir das passen? … Ich werde dich also nächsten Sonntag um dreiviertel elf im CVJM abholen. Ich habe ein Zimmer gefunden, wo wir ungestört arbeiten können. Ich bin nämlich Mitglied des ›Mönchs-Klubs‹; die Mitglieder gehen auf die Jagd, fischen, essen, trinken und machen ab und zu ein kleines Spielchen. Das Haus, gleich jenseits der Grenze von Massachusetts, hinter Tiverton, gehört einer Clique von unternehmungslustigen jungen Leuten. Frauen sind nicht zugelassen, aber von Zeit zu Zeit taucht mal ein Mädchen auf, aus New York, Bedford oder Fall River. Niemand geht vor Sonnenuntergang dorthin, schon gar nicht am Sonntag. Die Mönche haben die Jagd so ziemlich aufgegeben.« Er fügte mit seinem vertraulichen Grinsen hinzu: »Die Mitgliedschaft ist sehr teuer, aber sie haben mich zum Ehrenmitglied gemacht — keine Beiträge! Dort können wir wunderbar zusammen arbeiten.«

Die Vorstellung einer viertelstündigen Autofahrt störte mich zunächst ein wenig. Ich hatte Rip mehr und mehr schätzengelernt, aber ich wollte nicht erfahren, wie der auf dem Rücken liegende Gulliver durch tausend zarte Seidenfäden an den Boden gefesselt wurde. Die Situation war gewiß beklagenswert — doch was konnte ich dagegen unternehmen? Ich merkte, wie er darauf brannte, mir alles zu erzählen, die ganze traurige Angelegenheit. Bisher hatte ich Mrs. Vanwinkle noch nicht kennengelernt und fühlte auch kein Bedürfnis danach. Mich interessieren exzentrische Menschen immer, und mein Tagebuch ist voll von ihren »Porträts«, aber ich schrecke vor jenen Grenzfällen zurück, die sich bereits bedenklich dem Wahnsinn nähern: wilde Eifersucht, despotische Herrschsucht, neurotischer Geiz.

Ich fand Rips Frau total verrückt, und meine Ansicht wurde durch einen seltsamen Vorfall bestätigt, der meine berufliche Routine über den Haufen warf.

Ich mußte eine Schülerin, ein sechzehnjähriges Mädchen, für ihr Examen in Französisch vorbereiten. Penelope Temple und ich arbeiteten zusammen in der Bibliothek, als Mrs. Temple hereinstürzte: »Mr. North, verzeihen Sie, aber das Telephon im oberen Stock wird gerade benutzt, und ich muß einen Anruf hier abnehmen. Es wird kaum lange dauern.«

Ich stand auf. »Sollen wir in ein anderes Zimmer gehen, Mrs. Temple?«

»Das ist nicht nötig … Ich kenne diese Dame gar nicht … Ja, Mrs. Vanwinkle? Ich bin Mrs. Temple. Verzeihen Sie, daß ich Sie so lange warten ließ, aber mein Mann erwartet einen dringenden Anruf auf dem anderen Apparat … Ja … Ja … Ja, das stimmt, ich trug Reiherfedern auf dem Ball, auf dem das Photo gemacht wurde … Darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen … Diese Federn haben meiner Mutter gehört. Sie sind mindestens dreißig Jahre alt. Wir haben sie sehr sorgsam aufbewahrt … Verzeihen Sie, daß ich Sie wieder unterbrechen muß … Die Federn sind bereits brüchig, und ich werde sie auf Ihren Wunsch hin vernichten … Nein, bitte lassen Sie Ihren Gatten nicht extra deshalb herkommen. Jedes Heim in Amerika würde sich durch seinen Besuch geehrt fühlen, aber Mr. Vanwinkle ist viel zu berühmt, um in der Stadt alte, kaputte Federn einzusammeln … Nein, Mrs. Vanwinkle, ich bitte Sie, mir zu glauben, wenn ich Ihnen versichere, daß ich die Federn sofort vernichten werde. Guten Morgen, Mrs. Vanwinkle, danke für Ihren Anruf … Entschuldigen Sie, Mr. North. Penelope, ich glaube, die Frau ist geisteskrank.«

Zwanzig Minuten später läutete es an der Haustür, und ich hörte Rip mit Mrs. Temple sprechen.

Ich habe ihm gegenüber diese Episode natürlich nie erwähnt.

Unsere erste Fahrt nach Massachusetts fand an einem wunderbaren Sonntagmorgen Anfang Juli statt. Rip chauffierte wie der Teufel — wie alle ehemaligen Flieger. Sogar mit diesem alten Wagen überschritt er die in der Stadt und auf dem Land erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Die Polizei griff niemals ein, war vielmehr stolz, wenn er ihr zuwinkte. Um jeder vertraulichen Mitteilung über den gefesselten Gulliver vorzubeugen, stürzte ich mich in meine bereits abgewetzte Theorie über die neun Städte von Troja und Newport. Ferner erlaubte ich mir einen vom Thema weit abschweifenden Diskurs über den großen Bischof Berkeley, da wir an dessen Haus vorbeikamen. (»Ich wohnte im ›Berkeley Oval‹ während meines ersten Studentenjahres«, sagte er.) Ich war mit meinen Ausführungen beinahe zu Ende, als wir vor der Tür des Mönchs-Klubs vorfuhren. Er hielt an, blieb aber am Steuer sitzen und starrte vor sich hin.

»Ted?«

»Ja, Rip?«

»Du hast mich doch gefragt, was ich tun möchte.«

»Ja.«

»Ich möchte Historiker werden … Ist es dafür schon zu spät?«

»Rip, du hast deinen Platz in der Geschichte. Es ist nicht zu spät, alles, was du darüber weißt, auszubreiten und von dort aus weitere Kreise zu ziehen.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. »Nein, darüber möchte ich nichts schreiben. Aber was du vorhin über das achtzehnte Jahrhundert in Newport gesagt hast — Rochambeau und Washington und Berkeley —, das hat mich plötzlich daran erinnert, daß ich immer schon Historiker werden wollte … Außerdem hat ein Historiker ein Arbeitszimmer mit einer Tür, die er abschließen kann — nicht wahr? Oder er kann eine beliebige Bibliothek aufsuchen, wo auf jedem Tisch ein Schild ›Ruhe‹ steht.«

»Rip«, äußerte ich aufs Geratewohl, »in New York ist dein Leben doch nicht anders als hier — tagsüber viele Laufereien und jeden Abend Einladungen?«

Er sagte leise: »Schlimmer, schlimmer. In New York muß ich die Einkäufe machen.«

»Aber ihr habt doch eine Wirtschafterin?«

»Ja, wir hatten Mrs. Edom. Wäre sie nur wieder bei uns! Tüchtig, weißt du, ruhig und tüchtig. Keine Kräche.«

Der Mönchs-Klub war vor der Revolution eine bekannte Taverne gewesen und hatte seitdem manche Veränderungen erfahren. Er hatte als Lagerhaus, Wohnhaus und Schule gedient, aber der alte Backsteinbau mit den vielen Schornsteinen und der großen Küche war fast ganz erhalten geblieben. Das Vorderzimmer mußte ursprünglich ein Tanzsaal gewesen sein, mit einer Galerie für die Kapelle gegenüber von dem großen Kamin. Die »Mönche« hatten das Haus als ein kleines luxuriöses Jagdschlößchen eingerichtet, bemerkenswert einige meisterhaft ausgestopfte Tiere. Wir arbeiteten im oberen Stock in einer Bibliothek, umgeben von Landkarten, Stößen von Sportmagazinen und Gesetzbüchern des Staates Massachusetts über Schiffahrt und Jagd. Das Zimmer, von dem aus man die Eingangstür überblicken konnte, war groß genug, um darin während unserer internationalen Schein-Dialoge auf- und abzugehen. Ein ideales Plätzchen. Um ein Uhr schlossen wir unsere Textbücher und fuhren widerstrebend nach Rhode Island zurück.

Am zweiten Sonntag morgen läutete das Telephon unten an der Treppe.

»Ich weiß, wer das ist! Komm mit, Ted, ich möchte, daß du dabei bist.«

»Ich will mir nicht deine Privatunterhaltungen anhören, Rip.«

»Aber ich will es. Du bist jetzt ein Teil meines Feldzuges. Laß wenigstens die Tür offen. Ich brauche dich als Rückendeckung, so wahr mir Gott helfe. — Hallo? Ja, dies ist der Mönchs-Klub … Du bist’s, Pam. Ich dachte, du wärst in der Kirche … Ich hab’s dir doch gesagt … Ja, ich habe meine Deutschstunde … Ich weiß, daß die Sonne scheint … Wir haben das alles doch längst besprochen. Die Kinder sind in Baileys Strandbad vollkommen sicher. Es gibt dort drei Bademeister — einen auf dem Beobachtungsturm und zwei in Ruderbooten. Am Strand sitzen mindestens dreißig Krankenschwestern, Kindermädchen, Ammen, Fräulein, Mademoiselles und Gouvernanten. Ich will nicht drei Stunden lang mit Hunderten von Weibern herumhocken … Kann Rogers sie nicht abholen? … Dann mache etwas mit Cynthia oder Helen oder den Winstons mit ihrem Chauffeur aus. Pamela, ich muß dir etwas mitteilen: ich gehe nie wieder in Baileys Strandbad … Nein, die Kinder werden nicht ertrinken. Beide hassen das Wasser. Sie sagen, es ssst-inkt … Nein, ich weiß nicht, wo sie das herhaben. Sie sagen, alle Kinder sagen es. Sie wollen an den öffentlichen Strand gehen, wo es eine richtige Brandung gibt … Ich möchte nicht gestört werden, wenn ich Stunde habe … Nein, es ist außer mir niemand im Haus, soviel ich weiß; die Angestellten sind in der Kirche … Pam, bleib du selbst und sprich nicht wie deine Mutter … Das möchte ich nicht am Telephon diskutieren … Pamela, sei lieb und vernünftig … Ich habe mich nie so ungezogen über deine Mutter geäußert, wie du es oft genug getan hast … Ich werde bestimmt vor ein Uhr dreißig zurück sein … Dieses Ferngespräch kostet eine Menge Geld … Ja, ich kaufe schnell noch etwas Eis im Milchgeschäft … Nein, im Milchgeschäft, weil ich da Kredit habe … Ich habe keinen Penny in der Tasche … Hör mal, ich muß jetzt wieder an die Arbeit, aber ich möchte bei meiner lieben Frau nicht aufhören; ich möchte, daß du zuerst aufhörst … Ja … Ja … Nein … Auf Wiedersehen … bald!«

Er kam mit hochgezogenen Augenbrauen zurück und sagte: »Gulliver und die hundert Seidenfäden. Jeden Tag zerschneide ich wieder ein paar.«

Ich schwieg, und wir machten uns wieder an unsere Arbeit. Er schien neu belebt, oder vielmehr stolz auf sich.

Ich wurde hier in eine Situation verwickelt, die über meine Kräfte ging. Und ich brauchte keinen guten Rat — der mir selten Gewinn brachte —, sondern Tatsachen; nicht Klatsch, sondern Fakten. Ich glaubte zu wissen, warum Rip als Mann so reduziert war. Doch ich wollte mehr über seine Frau erfahren. Ich wollte ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen, und dazu mußte ich über sie alle nur verfügbaren Tatsachen herausfinden. Ich hatte das Gefühl, daß Mrs. Cranston und Henry in dieser Hinsicht mir nicht weiterhelfen konnten.

Plötzlich fiel mir Bill Wentworth ein. Ich fragte ihn, ob er eine halbe Stunde für mich Zeit hätte. Am Ende des Tages saß ich wiederum in seinem Büro, umgeben von schimmernden Pokalen. Ich erzählte ihm von den Deutsch-Stunden, den dauernden Störungen und von der entwürdigenden Lage, in der mein Freund sich befand. »Bill, wie lange kennen Sie Oberst Vanwinkle?«

»Lassen Sie mich mal sehen. Pamela Newsome — so lernte ich sie kennen — brachte ihn im Sommer 1921 her, kurz nach ihrer Heirat.«

»Kannten Sie sie schon lange?«

»Seit ihrer Kindheit. Im Sommer war sie jeden Tag hier, seit ihrer Heirat sehe ich sie kaum noch. Ihre Eltern sind alte Newporter.«

»Wissen viele Leute in Newport, wie sie mit ihrem Mann umgeht?«

»Mr. North, die ganze Stadt macht sich über die beiden lustig.«

»Wie kommt es, daß sie über soviel Geld verfügt?«

»Die Newsomes sind nicht so sehr ein Familien- als ein Unternehmensverband. Mit einundzwanzig erhält jedes Kind einen ganzen Schwung Aktien — weit über eine Million, sagt man, und jedes Jahr kommt noch mehr dazu … Sie war ein sehr schwieriges Mädchen mit einem sehr schlechten Verhältnis zu ihren Eltern, die ihr vielleicht deshalb das Cottage in Newport überließen und seither den Sommer in Bar Harbor verbringen.«

»Entschuldigen Sie, Bill, meine offene Frage: Ist sie wirklich so geizig und berechnend, wie die Leute behaupten?«

»Meine Frau ist eine gute Freundin ihrer Haushälterin, Mrs. Edom. Eine großartige Person, charakterfest. Sie besuchte manchmal am Sonntagmorgen meine Frau, denn es brach ihr das Herz, was Pamela mit ihrem Mann anstellte. Sie können sich nicht vorstellen, was alles in diesem Hause vorging. Mrs. Edom kam zu meiner Frau, um sich bei ihr auszuweinen …«

»Bill, warum hat Oberst Vanwinkle so wenig Freunde?«

»Alle haben ihn gern. Und man bewundert ihn nicht nur, sondern liebt ihn. Aber Männern und Frauen gefällt nicht, was sie sehen. Mr. North, es hat hier vor dem Krieg viele junge Männer gegeben, die nichts taten — sie genossen ihr Leben, und niemand schien etwas dabei zu finden. Aber die Zeiten haben sich geändert. Die jungen Leute haben Jobs, auch wenn sie das Geld nicht brauchen. Nichtstun ist altmodisch geworden, man macht sich darüber lustig. Und man weiß ja auch, wohin es führt. Man hat es oft genug erlebt — ein armer Mann heiratet ein schwerreiches Mädchen; sie knallt mit der Peitsche, und er springt wie ein Affe durch den Reifen.«

Ich schilderte ihm dann meine Version: der junge Mann, der zu früh seine »glorreiche Stunde« erlebt und dessen Vitalität und Willenskraft dadurch gebrochen wird. Ich erzählte ihm, wie Rip sich an mich klammerte, um mit meiner Hilfe etwas mehr Freiheit zu erlangen.

»Wenn Sie Einfluß auf ihn haben, dann sagen Sie ihm, daß er arbeiten soll. Wenn die Gerüchte stimmen, so hat er keinen Penny. Er muß sie auf allen vieren um sein Taschengeld bitten, das sie ihm nach Laune gibt oder verweigert. Ich will Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen, die ich noch keiner Menschenseele anvertraut habe … Zwei Jahre, nachdem er hierhergekommen war, wählte ihn der Aufsichtsrat des Casinos zum Ehrenmitglied. Ich bat ihn, doch einen Tag vorher bei mir vorbeizukommen, damit ich die Einzelheiten des Festaktes mit ihm besprechen könnte. Ich fragte ihn auch, ob seine Frau nicht mitkommen wollte, und er rief später zurück und sagte, sie würde zwar bei der Feier anwesend sein, könne aber wegen einer Sitzung des Tierschutzvereins nicht an der Besprechung teilnehmen. Na schön, er kam also — ich freue mich immer, wenn ich ihn sehe. Ein prachtvoller Kerl. Ich sagte ihm, daß ein Photograph dabei sein würde, wir wollten sein Bild aufhängen. Dort ist es! Wir geben nie Pressephotos aus, nur beim Tennisturnier. Ich sagte ihm auch, der Aufsichtsrat würde sich sehr freuen, wenn er in Uniform mit seinen Orden erschiene. Er erzählte mir, bei der Parade am 4. Juli hätte er in Uniform mit ein paar Orden neben dem Bürgermeister auf der Tribüne gesessen. Was für Orden man sich hier wünsche? Am liebsten die amerikanischen ›Großen Drei‹, sagte ich und die französischen und englischen dazu. ›Ich hab sie nicht mehr, Bill.‹ Und dann grinste er. Kennen Sie sein Grinsen?«

»O ja, wenn er von seinen Kriegserlebnissen oder von seinem Ruhm spricht, fängt er jedesmal zu grinsen an.«

»Er sagte, um seiner Frau ein Geschenk zu ihrem ersten Geburtstag nach der Hochzeit kaufen zu können, habe er die Orden in einem New Yorker Leihhaus verpfändet. Und jetzt will ich Ihnen noch etwas verraten: sie ist zu der Feier gar nicht gekommen. Sie haßt seinen Ruhm; sie fürchtet, er steige ihm zu Kopfe und verderbe ihn. Mr. North, dringen Sie darauf, daß er einen Job annimmt. Er wird ein anderer Mensch sein.«

»Danke, Bill. Hat er schon Angebote erhalten?«

»Natürlich — bei seinem Namen! Generaldirektorposten, unter anderem. Sie ist dagegen — kommt gar nicht in Frage. Sie wissen, daß er aus dem westlichen Teil des Staates New York stammt. Der Gouverneur wollte ein hohes Amt extra für ihn schaffen, vorausgesetzt, er nimmt seinen Wohnsitz in Albany. Gehalt etwa 20000 pro Jahr. Seine Frau hat sich totgelacht. Für sie ist das ein Butterbrot. Sie sagte, es erniedrige ihn.«

»Stimmt es, daß sie der Familie fast nur Corned Beef und Kohlsuppe vorsetzt?«

»Die Leute saugen sich alle möglichen Geschichten über sie aus den Fingern. Aber es stimmt, daß sie Konserven beim Großhandel einkauft.«

Es zahlt sich aus, die richtigen Leute um Rat zu fragen.

Am nächsten Sonntagmorgen vergnügten wir uns in der Bibliothek des Mönchs-Klubs mit dem Deklinieren unregelmäßiger Verben. Rip hatte den entscheidenden Punkt beim Erlernen einer Fremdsprache erreicht, wo Worte, die bisher nur gedruckt zur Kenntnis genommen wurden, Sprache werden — ein erhebender Moment.

»Na ja, Herr Major, ich kenne Sie.«

»Und ich kenne Sie, verehrter Herr Oberst. Sie sind der Herr Oberst Vanwinkle, nicht wahr?«

»Jawohl. War das nicht ein Katzenjammer über dem Hügel Saint-Charles-les-Moulins? Dort haben Sie meinen linken Flügel kaputtgemacht. Sie waren ein Teufel, das kann man sagen.«

Rip warf einen Blick aus dem Fenster. »Jesus! Da ist meine Frau!« Richtig, da stand der Wagen, und der Chauffeur kam auf das Haus zu. Es klingelte. »Geh runter. Tu so, als ob du der Steward vom Klub wärst. Sag, daß ich angeordnet habe, nicht vor ein Uhr gestört zu werden.«

Ich zog mir meine Sportjacke an. (»Yale 1920«). »Ich kann so keinen Steward vorstellen, aber immerhin ein Mitglied. Ich werde mir schon etwas ausdenken.« Ich ging langsam die Treppe hinunter und öffnete die Tür.

»Sir, Mrs. Edom möchte Oberst Vanwinkle sprechen.«

Ich warf einen verstohlenen Blick auf die tief verschleiert im Wagen sitzende Mrs. Edom und sagte laut: »Soviel ich weiß, möchte er unter keinen Umständen gestört werden. Ist zu Hause etwas Schlimmes passiert? Feuer? Blinddarmentzündung? Tollwut durch Hundebiß?«

»Ich … glaube nicht.«

»Warten Sie. Ich will sehen, ob er doch zu sprechen ist. Sagen Sie Mrs. Edom, daß der Deutschprofessor in puncto Störungen keinen Spaß versteht. Er ist ein echter Furor teutonicus.«

Rip erwartete mich auf der Treppe. »Sie will dich sprechen — als Mrs. Edom.«

»Sie kommt. Verlaß dich drauf. Nichts kann sie aufhalten.«

»Ich werde die Tür zum oberen Stock abschließen. Es ist schon zwölf Uhr dreißig. Ich bleibe unten und leiste ihr Gesellschaft.«

»Verdammt noch einmal, ich will hören, was du sagst. Ich werde mich der Länge nach auf den Boden der Galerie legen. Da kann sie mich von unten nicht sehen.«

Ich ging hinunter, verriegelte die Tür zur Treppe, steckte den Schlüssel in die Tasche, nahm mir eine Nummer der Zeitschrift »Yachting« und setzte mich hin, um zu lesen. Ich hörte ein Geräusch auf der Galerie. Rip hatte sich unter einer Wolldecke hingelegt. Es läutete wieder. Ich öffnete und sah mich einer zu allem entschlossenen Frau gegenüber — sie hatte jetzt ihren Schleier über den Hut zurückgeschlagen —, einer sehr gut aussehenden jungen Frau, außer sich vor Wut. Sie stieß die Tür auf und ging an mir vorbei ins Vorderzimmer.

»Guten Morgen.«

»Guten Morgen. Verzeihen Sie, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß nach den Regeln des Klubs Damen hier nicht zugelassen sind. Es gibt kein Empfangszimmer für Damen.«

»Wollen Sie bitte Oberst Vanwinkle ausrichten, Mrs. Edom wünsche ihn zu sprechen.«

»Gnädige Frau, wie Ihnen der Chauffeur bereits gesagt hat …«

Sie setzte sich. »Entschuldigen Sie, sind Sie der Klubsteward?«

»Nein«, sagte ich, aufs tiefste verletzt.

»Wer ist hier zuständig? Gibt es kein Personal?«

»Der Verwalter und seine Frau sind in der Kirche, glaube ich.«

»Vielleicht hätten Sie die Freundlichkeit, sich mir vorzustellen.«

Ich war die Freundlichkeit, oder darf ich sagen, der Charme selber. »Mrs. Edom, ich bin überzeugt, daß Sie über Männer-Klubs etwas Bescheid wissen. Nach unseren Regeln darf kein Mitglied mit dem Namen angesprochen werden, den es in seinem Privatleben führt … Wir reden uns gegenseitig mit den uns vom Abt verliehenen Namen an. Ich bin Bruder Asmodius. Das Mitglied, das Sie erwähnten, ist Bruder Bellerophon.«

»Kindischer Blödsinn.«

»Wie bei den Kreuzrittern im Mittelalter. Ich bin dazu noch Freimaurer und Mitglied einer Bruderschaft. In jedem Klub ist mir ein Name gegeben worden, den ich nur in diesem Klub benutzen darf. Bekanntlich machen das auch die Mönche eines religiösen Ordens. Meine Frau findet es unverzeihlich, daß ich ihr nicht jede Einzelheit unseres Rituals berichten kann … Sind Sie nicht die Wirtschafterin von Bruder Bellerophon?«

Sie starrte mich schweigend an. Dann stand sie auf und sagte: »Ich will mit dem Oberst sprechen.« Sie ging zu der Tür, die nach oben führte, und rüttelte an der Klinke.

Ich säuberte meine Fingernägel. »Ich nehme an, der Deutschprofessor hat sie verriegelt. Dem ist alles zuzutrauen.«

»Ich werde hier sitzenbleiben, bis der Oberst herunterkommt.«

»Möchten Sie etwas zu lesen haben, Mrs. Edom?«

»Nein, danke.«

Ich wandte mich schweigend wieder meiner Lektüre zu. Sie blickte um sich. »Ich sehe, daß ihr Mönche — wie ihr euch ja nennt — Hirsche schießt, Füchse und Vögel. Ein verabscheuungswürdiger Sport.«

»Er wird kaum noch ausgeübt. Sie wissen, warum.« Sie starrte mich schweigend an. »Aus Respekt vor Bruder Bellerophons Frau … Sie kennen ihren Feldzug gegen Tierquälerei. Was für eine wunderbare Frau das sein muß. Jahr für Jahr Hunden und Katzen und wilden Tieren das Leben zu retten! Ein großes Herz! Ein weites Herz!«

Ich schlenderte langsam durch das Zimmer und rückte ein Bild an der Wand zurecht. Nonchalant fügte ich hinzu: »Da ich gehört habe, was für eine gescheite Frau sie ist — und eine wunderbare Gattin und Mutter —, wundert es mich, daß sie ihre Kinder in Baileys Strandbad schickt. Meine Frau würde das meinen Kindern nie erlauben.«

»Was ist dagegen einzuwenden?«

»Ich bin überrascht, daß Sie überhaupt noch fragen, Mrs. Edom. Es ist nur wenige Meilen von der sehr befahrenen transatlantischen Schiffsroute und dem Golfstrom entfernt. Durch ein unglückliches Zusammenwirken von Land, Strömungen und Winden wird der über Bord geworfene Abfall Baileys Strandbad wie einem Magneten zugetrieben. Jeden Morgen harken die Angestellten körbeweise zusammen: Seemannsstiefel, verfaultes Obst, tote Papageien, Photos, die für Kinder ungeeignet sind, und nicht zu erwähnende unappetitliche Dinge.«

Sie starrte mich erschrocken an. »Das ist bestimmt nicht wahr …«

»Wie unhöflich von Ihnen, mir das zu sagen, Mrs. Edom. In diesem Klub bezichtigen sich Gentlemen nicht gegenseitig der Lüge.«

»Verzeihen Sie. Ich meinte ja nur, daß es mir schwerfällt, so etwas zu glauben.«

»Ich danke Ihnen … Ferner hörte ich, daß die Dame, von der wir gesprochen haben, die Mahlzeiten für ihre Familie und ihre Angestellten sehr sorgfältig auswählt. Meine Frau und ich sind der Ansicht, daß Kohlsuppe eines der nahrhaftesten — und schmackhaftesten — Gerichte ist, die es gibt. (Pause) Aber ein sehr erfahrener Arzt riet uns ab, Kinder unter zwölf Jahren die stark gewürzte Kohlsuppe mit Linguiça-Wurst vom portugiesischen Markt essen zu lassen … Und gepökeltes Rind und Schwein — ausgezeichnet! Die britische Flotte hat jahrhundertelang ihre Matrosen damit ernährt und die Meere beherrscht. Die Schlacht bei Trafalgar soll mit Corned Beef gewonnen worden sein. Derselbe Arzt gab jedoch meiner Frau zu verstehen, daß zuviel von diesem eingesalzenen Fleisch den kleinen Kindern schade, auch wenn es wochenlang in klarem Wasser gelegen hat.«

»Kommt Bruder Bellerophon — wie Sie ihn nannten — häufig in diesen Klub?«

»Nicht so häufig, wie wir es gern hätten. Ohne Übertreibung, er ist eines der beliebtesten und am meisten bewunderten Mitglieder. Die Klubmitglieder, alles sehr wohlhabende Männer, merkten sehr bald, daß seine Familie zu den vom Schicksal weniger Bevorzugten gehört. Sie machten ihn zum Ehrenmitglied, wodurch sich alle Beiträge erübrigen. Vier von ihnen, darunter auch ich, schlugen ihm hohe Positionen in ihren Gesellschaften und Geschäftsunternehmen vor. Bruder Prudentius bot ihm sogar die Stelle eines Vizepräsidenten in einer Lebensversicherungsgesellschaft in Hartford an. Bruder Candidus beschäftigt sich mit Siedlungsbauten in Florida. Bruder Bellerophons Name auf dem Briefkopf, seine stattliche Erscheinung, seine allenthalben gerühmte Redlichkeit könnten der Firma Millionen Dollar einbringen, die sie gerne mit ihm teilen würde. Und wir anderen standen nicht nach. Bruder Bellerophon aber hängt sehr an seiner Familie, seine Frau möchte nicht nach Connecticut oder Miami ziehen. Ich hoffe sehr, daß er es sich noch einmal überlegt und in meine Firma eintreten wird, sie hat es nötig.«

»Womit befaßt sich Ihre Firma?«

»Das möchte ich Ihnen lieber nicht sagen. Doch in Anbetracht seiner hohen Verdienste um dieses Land würde die Bundesregierung bei unseren Transaktionen gewiß ein Auge zudrücken.« Ich fügte leise hinzu: »Glauben Sie, daß noch Hoffnung auf seine Zusage besteht?«

»Bruder Asmodius, ich habe nicht die Absicht, diese Unterhaltung fortzusetzen.«

»Ein Mann muß arbeiten. Ein Mann muß auf eigenen Füßen stehen, gnädige Frau.«

»Ich werde jetzt sofort mit meinen Fäusten gegen diese Tür donnern!«

»Oh, Mrs. Edom, das bitte nicht. Sie werden mir noch die Mädchen aufwecken.«

»Mädchen! Was für Mädchen?«

»Am Wochenende pflegt es hier mitunter lustig zuzugehen. Alkohol und angenehme Gesellschaft aus New Bedford und Fall River. Die Mitglieder kehren oft zu sehr später Stunde in ihr Haus zurück. Aber wir gestatten ihren hübschen Freundinnen, hier auszuschlafen. Sie werden um zwei Uhr von einer Limousine abgeholt.«

»Mädchen! Wollen Sie etwa damit sagen, daß jetzt der Oberst sich dort oben mit einer Horde Isebels amüsiert?«

Ich machte ein nachdenkliches Gesicht. »An diesen Namen kann ich mich nicht erinnern … Ich habe eine Anita kennengelernt, eine Ruth, eine Lilian, eine Irene. Und eine Betty.«

»Ich verlasse augenblicklich dieses Haus. Nein, ich werde an die Tür donnern.«

»Gnädige Frau, als ein Klubmitglied muß ich verhindern, daß Sie in diesem Haus einen unziemlichen Aufruhr verursachen.« Scharf fügte ich hinzu: »Mrs. Edom ist mir als eine echte Lady geschildert worden, was man von ihrer Herrin allerdings nicht behauptet.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

Ich zeigte auf die Uhr. »Sie brauchen nur noch eine Viertelstunde zu warten.«

»Was soll diese unverschämte Bemerkung bedeuten?«

»Es war keine unverschämte Bemerkung. Ich wollte nur Ihnen, Mrs. Edom, meine hohe Achtung aussprechen.«

»Ich warte …«

»Wenn Sie sich hinsetzen und aufhören, unsern Klub zu beschimpfen, werde ich … es Ihnen kurz erklären.«

Sie setzte sich wieder hin und starrte mich erwartungsvoll an. Ich polierte weiterhin meine Fingernägel und sagte aus dem Stegreif: »Meine liebe Frau ist im allgemeinen nicht an Klatsch interessiert. Ich habe sie nie eine häßliche Bemerkung wiederholen hören, bis auf ein einziges Mal. Übrigens haben wir den Rat des Arztes befolgt. Wir setzen den Kindern weder Kohlsuppe noch Pökelfleisch vor.«

»Sie wollten mir von einer Bemerkung über Mrs. Vanwinkle berichten.«

»Ach ja.« Ich sprach mit leiser Stimme und zog meinen Stuhl zu ihr heran.

»Es gibt einen Spitznamen, den man dieser doch sonst so wunderbaren Frau gegeben hat.«

»Einen Spitznamen?«

»Meine Frau hat es von Mrs. Delgrade, die es von Mrs. Bracknell hat, die es von Mrs. Venable selbst gehört hat.«

»Mrs. Venable!«

Ich stand auf. »Nein! Ich habe es mir anders überlegt. Ich trage solche Dinge nicht weiter!«

»Sie können einem sehr auf die Nerven gehen, Bruder Asmodius. Jetzt rücken Sie endlich mit der Sprache heraus.«

»Also gut«, seufzte ich, »aber versprechen Sie mir, es nicht weiterzuerzählen — vor allem nicht Mrs. Vanwinkle.«

»Nein, bestimmt nicht.«

»Also, Mrs. Venable hat gehört, daß Mrs. Vanwinkle ihren Mann — den großen Vanwinkle — zu Mrs. Temple schickte, um dort eine dreißig Jahre alte Reiherfeder abzuholen, nur weil sie Mrs. Temples Beteuerungen nicht glauben wollte, daß die Feder sofort vernichtet würde. Mrs. Venable schwor: ›Ich werde diesem Tierschutzverein keinen Penny mehr geben, solange Mrs. Vanwinkle nicht hinter Schloß und Riegel ist. Sie ist eine Dalila.‹«

»Dalila!«

»Sie erinnern sich vielleicht, daß Dalila dem mächtigen Samson die Haare abschnitt, um ihm seine Kraft zu rauben. Daraufhin stürzten seine Feinde in das Zelt und blendeten ihn. Unter Zymbel- und Tamburinklängen tanzte Dalila auf dem am Boden liegenden Körper. Deuter des Alten Testaments wissen sehr wohl, was damit gemeint war — daß sie eine weitaus ernstere Operation an ihm vornahm.«

Mrs. Vanwinkle war kreideweiß geworden. Es hatte ihr die Sprache verschlagen.

»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«

»Ja, bitte.«

Als ich aus der Küche zurückkam, war Rip von der Galerie herabgestiegen und donnerte jetzt unten an der Treppe gegen die verriegelte Tür. Ich öffnete.

Mann und Frau sahen einander schweigend an. Sie nahm das Glas aus meiner Hand entgegen, ohne die Augen von Rip zu wenden. Schließlich sagte sie: »Nicholas, willst du bitte diesen gräßlichen Mann sofort aus diesem Zimmer schicken?«

»Das ist mein Deutschlehrer, Pam. Ich bringe ihn in ein paar Minuten nach Newport zurück. Ted, möchtest du bitte nach oben gehen und warten, bis ich dich rufe?«

»Ich werde auf der Straße vorausgehn, Rip; du kannst ja in deinem Wagen nachkommen … Guten Morgen, gnädige Frau.«

Auf der Schwelle der Haustür hörte ich, wie Mrs. Vanwinkle von einem Weinkrampf überwältigt wurde.

Es war ein wunderbarer Tag. Ich war etwa eine Viertelstunde gegangen, als ich, kurz hinter Tiverton, Mrs. Vanwinkles Wagen an mir vorbeifahren sah. Sie hatte ihren Schleier heruntergelassen, aber sie trug den Kopf hoch. Kurz danach hielt Rip an, und ich stieg ein.

»Du warst wirklich grob, Ted … Wirklich sehr grob.« Er startete den Wagen. Ein paar Minuten später sagte er: »Sehr, sehr grob.«

»Ich sehe ein, daß ich zu weit gegangen bin, Rip, und bitte dich um Entschuldigung.«

Wir fuhren eine Zeitlang schweigend.

Zehn Meilen Schweigen. Dann sagte er: »Ich stellte dich als alten Witzbold aus meiner Studentenzeit hin, und der Ausspruch von Mrs. Venable sei reine Erfindung gewesen … Aber wie hast du die Sache mit Mrs. Temples verdammten Reiherfedern herausbekommen, zum Teufel noch einmal …«

»Das verrate ich dir nicht.«

Er hielt an und stieß meinen Schädel gegen den seinen. »Ach, du bist ein alter Saukerl — aber ich habe tausend Dollar bekommen, um nach Berlin zu fahren.«

»Du hast mich einmal im Cafe de Paris wunderbar bewirtet, obwohl du nicht gut bei Kasse warst — erinnerst du dich noch?«

Bei Mrs. Keefe

Die Ereignisse, die mir eine Wohnung einbrachten, spielten sich während meiner sechsten Woche in Newport ab, vielleicht etwas später. Ich wohnte im CVJM und fühlte mich dort gut aufgehoben; meine Beziehungen zu den anderen blieben unpersönlich und ließen mir genug Zeit, mich auf meine Unterrichtsstunden vorzubereiten. Ich stand gut mit dem Leiter, den man fälschlicherweise den »Heiligen Joseph« nannte — er war alles andere als ein »Scheinheiliger«. Zur Abwechslung ging ich auch hinunter in die »Bibliothek«, wo harmlosere Kartenspiele, wie zum Beispiel Romme, und nicht sehr profunde Unterhaltungen geduldet waren.

In dieser Bibliothek nun lernte ich einen höchst bemerkenswerten jungen Mann kennen, dessen Porträt ich samt seinen mißlichen Erlebnissen in meinem Tagebuch wiederfand. Elbert Hughes war schmächtig, kaum fünfundzwanzig und gehörte zu jener oft ein wenig langweiligen Kategorie von Menschen, die man als sensibel zu bezeichnen pflegt. Unter diesem Adjektiv verstand man einstmals die Fähigkeit, ästhetische und geistige Werte besonders intensiv wahrzunehmen; dann wurde es auf Personen übertragen, die leicht etwas übelnehmen, und heute ist es eine euphemistische Umschreibung für alle, die noch mit den geringsten vom Alltag an sie gestellten Anforderungen nicht fertig werden. Auf Elbert traf vornehmlich die dritte Deutung zu. Er war klein, aber gut proportioniert, mit tiefliegenden Augen unter einer hervortretenden Stirn, was seinem Blick etwas Intensives gab. Seine Finger streichelten gern einen in Ansätzen vorhandenen Schnurrbart. Er hatte etwas von einem Dandy und trug a kühlen Abenden eine wallende schwarze Krawatte, die mich an die Kunstschüler der Académie des Beaux Arts in Paris erinnerte. Er erzählte mir einiges aus seinem Leben, und ich merkte sofort, daß ich es mit einem Genie zu tun hatte, Unterabteilung: kalligraphische Mimikry. Er war aus Boston, hatte dort auch Kurse an der Technischen Hochschule genommen, wobei er eine Leidenschaft für Kupferstechen und jegliche Art von Schriften entwickelte, insbesondere Grabsteininschriften.

Mit zwanzig hatte er sich bereits einen einträglichen Posten in einer führenden Juwelierfirma gesichert, er entwarf die Gravuren der silbernen Repräsentationsgeschenke sowie gedruckte Einladungen und Visitenkarten. Einer anderen Firma verfertigte er Diplome auf Pergamentpapier und Ehrenurkunden für in den Ruhestand tretende Bankpräsidenten. Er erhob nicht den Anspruch auf Originalität; er imitierte die Schriften aus den gängigen Schriftbüchern oder richtete sich nach den von ihm bewunderten frühen englischen und amerikanischen Drucken in Museen und Privatsammlungen. Aber er konnte noch mehr. Wenn er sich einen Augenblick in eine Vorlage vertieft hatte, vermochte er jede Signatur, jede x-beliebige individuelle Handschrift nachzuahmen, zum Beispiel die Schrift fast aller Personen, welche die Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet hatten. Er war eben ein Genie.

Es war mir nicht neu, daß sensible Menschen aus einer unglücklichen Mischung von Bescheidenheit und Verwegenheit bestehen. Eines Abends bat er mich, doch irgendeinen Spruch aufzuschreiben und zu unterzeichnen. Ich schrieb auf Französisch (das er mit keinem Wort beherrschte) eine Maxime des Duc de la Rochefoucauld und unterschrieb mit meinem Namen. Er studierte sie ein paar Minuten sehr gründlich und schrieb dann: »Mr. Theodore Theophilus North bedauert, die Einladung des Gouverneurs von Massachusetts und seiner Frau an dem und dem Abend leider nicht annehmen zu können.« Das war meine Handschrift, jedenfalls verblüffend ähnlich getroffen. Dann schrieb er das Ganze noch einmal und gab mir das Blatt mit der Bemerkung: »So hätte es Edgar Allan Poe geschrieben. Ich mache seine Handschrift am liebsten nach. Dabei spüre ich, wie er meine Hand führt. Die Leute sagen, ich gleiche ihm. Finden Sie das auch?«

»Ja. Aber ich habe nie gehört, daß er gut kopieren konnte.«

»Wir haben trotzdem viel Gemeinsames. Wir sind beide in Boston geboren … Am liebsten entwerfe ich Inschriften für Grabsteine. In Poes Werken steht viel über Gräber und Grabstätten. Er ist mein Lieblingsautor.«

»Was machen Sie in Newport?« fragte ich.

»Ziemlich dasselbe, was ich in Boston gemacht habe. Ein Mr. Forsythe sah die Luxusausführung eines Gedichts von Edgar Allan Poe, das ich in Poes Handschrift auf feines Pergament geschrieben hatte, sowie mehrere Alphabete in verschiedenen Schriftarten. Er sagte, er sei Architekt und Bauunternehmer mit einem Büro in Newport. Er bot mir ein ziemlich gutes Gehalt an, wenn ich zu ihm käme. Ich entwerfe jetzt die Lettern für Häuserfronten, bei Postämtern, Rathäusern und dergleichen. Ich schreibe auch den Steinmetzen die Inschriften der Grabsteine. Das mache ich am liebsten.«

Ich starrte auf unsere (meine und Poes) Absage an den Gouverneur.

»Ich zeige Ihnen noch etwas anderes«, sagte er. Er zog aus der neben ihm liegenden Mappe einen Briefbogen des Gouverneurs mit dessen erhaben gedrucktem Wappen und schrieb jetzt die Einladung, die er zweimal schriftlich abgesagt hatte.

»Ist das des Gouverneurs Handschrift?«

»Ich habe viel für seine Villa und sein Amtsgebäude entworfen. Ich arbeite mit den besten Schreibwarenfirmen zusammen und sammle die besten Muster, davon habe ich einen ganzen Koffer voll. Es gibt Sammler auf der ganzen Welt, verstehen Sie, aber man hält es geheim. Ich handle mit Duplikaten.« Er legte mir einige vor: »Das Weiße Haus«, »L’Ambassade de France«, »John Pierpont Morgan«, »The Foreign Office«, Enrico Carusos Selbstkarikatur als Briefkopf …

»Und so was machen Sie für Forsythe in Newport?«

»Nicht unbedingt«, sagte er ausweichend und legte die Muster wieder in seine Mappe. »Aber etwas Ähnliches.«

Er wechselte das Thema.

Elbert Hughes hätte ein guter Gesellschafter sein können — doch er war es keineswegs. Er litt, wie viele seinesgleichen, unter dem ständigen Wechsel von Vitalität und Apathie. Kaum hatte er sich begeistert auf ein Thema gestürzt, so verstummte er auch schon wieder, wie ein Blasebalg, dem die Luft ausgegangen ist. Er war verlobt mit Abigail, einer wunderbaren Frau; sie war (wie er mir zuflüsterte) geschieden, sechs Jahre älter als er und hatte zwei Kinder. Er fügte mit bereits erschlaffendem Enthusiasmus hinzu, er habe dreitausend Dollar gespart, um ein Haus zu kaufen (in dem sie wahrscheinlich bis an ihr Lebensende düster zusammenhocken würden). Man mußte Elbert bewundern, ja sogar gern haben, aber mein Interesse für ihn ließ nach. Ich neige dazu, um unglückliche Leute einen Bogen zu machen. Indessen bin ich dankbar, daß Elbert mir für einen von mir bisher vernachlässigten Aspekt Newports die Augen geöffnet hat.

Er pflegte seine Arbeit in die kleine Bibliothek herunterzubringen, weil das Licht dort tatsächlich besser war als in seinem Zimmer. Auch ich benutzte die Bibliothek manchmal für meine »Schulaufgaben«, falls sie nicht durch eine allzu unterhaltungsfreudige Gesellschaft besetzt war. Eines Abends bat ich ihn, mir zu zeigen, was er da arbeite. Er antwortete, etwas verwirrt, es sei so ein »Unsinn, den er aus Jux mache«. Er hatte einen Brief des bedeutenden Historikers George Bancroft vor sich, in dem dieser den ebenfalls bedeutenden Louis Agassiz zu einem Abend »mit Punsch und guten Gesprächen« zu sich einlud. Und Elbert machte sich anscheinend ein Vergnügen daraus, Agassiz’ Antwort auf diese verlockende Einladung zu schreiben.

»Wo sind die Originalbriefe?« fragte ich.

»Mr. Forsythe besitzt eine große Sammlung. Er sagt, er inseriert in der Zeitung und kauft dann die angebotenen Stücke ihren Eigentümern ab.«

Ganz unabhängig von dem »Jux«, den Elbert sich leistete, entzückten mich diese Dokumente. Dies war die »fünfte Stadt« — die Stadt, die fast spurlos verschwunden war, das Newport der Intellektuellen um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Durch meinen Job hatte ich die »zweite Stadt«, die »sechste Stadt« und die »siebente Stadt« kennengelernt; und in der »neunten Stadt« lebte ich. Anfang der zwanzig wollte ich Archäologe werden. Hier bot sich mir ein reiches Feld für Ausgrabungen. Dr. Schliemann hatte ein Vermögen besessen — ich keinen überflüssigen Dollar. Ich erinnerte mich eines Sprichwortes, das ich irgendwo gehört hatte: »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.«

In meinem Stundenplan gab es immer einen freien halben Vormittag oder Nachmittag. Zur Vorbereitung ging ich in die »Volksbibliothek«, um die betreffende Periode aufzuarbeiten. Dann besuchte ich die Antiquariate und Trödelläden in der Hoffnung, daß ich vielleicht auf einen bislang unbemerkten Fund stoßen würde. Ich konzentrierte mich auf Briefe und Manuskripte, auf Tagebücher, Korrespondenzen, ausrangierte Bücher und Dokumente aus alten Häusern, auf Alben mit Familienphotos, kurz, auf den Ertrag aus geleerten Dachkammern: die James-Familie, die Agassiz-Familie (der große Vater und der große Sohn), die Bancrofts, Longfellow. Longfellow verbrachte den Sommer zwar in Nahant, aber er besuchte oft seinen Freund George Washington Greene in West Greenwich an der Bucht von Narragansett — und auch Greenes Eltern in Newport. Zwei seiner bekanntesten Gedichte bezeugen sein Interesse für unsere »erste Stadt«: »Das Gerippe in Waffen« und »Der Judenkirchhof in Newport«.

Die Antiquitätenläden verkauften noch immer Sachen aus der »ersten« und »zweiten« Stadt. Das herablassende Wohlwollen für die Möbel und Dekorationen des viktorianischen Zeitalters sollte erst zwanzig Jahre später einsetzen. Hier und da fand ich eine Sammlung mit den ersten Daguerreotypien, eingerahmte Briefe oder Gedichte, signiert von bedeutenden Männern der Zeit, aber das alles war bereits entdeckt und für mich unerschwinglich. Ich begab mich in die Trödelläden und erhielt die Erlaubnis, mit einer Taschenlampe auf Leitern herumzusteigen und in alten Fässern und alten Anrichten herumzustöbern: hier hatte eine Pastorenfrau ihres Mannes lebenslängliche Predigten als Altpapier verkauft, dort eine sparsame Kaufmannsfamilie die Kontobücher des Vaters und so fort.

Beinahe sofort machte ich eine kleine Entdeckung: das Album eines Schulmädchens, in roten Samt gebunden, von Motten zerfressen, verschimmelt. Es enthielt blaue verblichene Photographien von Picknicks und Geburtstagsgesellschaften, Tanzkarten und Autographen. Auf einer Seite hatte H. W. Longfellow seine »Stunde der Kinder« abgeschrieben, »für meine liebe kleine Freundin Faith Somerville«. Mit einem gespielt beiläufigen Interesse erstand ich das Buch für 2 Dollar, um es im Herbst in New York für dreißig Dollar zu verkaufen. Ich fand Somerville-Papiere bündelweise und kaufte sie für vierzig Cents das Pfund. So glaubte ich, in diese magische Welt (von der mein Vater sagte: »Einfach leben und groß denken«) einzudringen und einen flüchtigen Blick zu werfen auf jene zauberhaften Spätnachmittage von Newport, wenn Professoren mit ihren Kindern Krockett spielten, bis die Leuchtkäfer sich um die Tore tummelten und eine Stimme rief: »Kommt, Kinder, und wascht euch vor dem Abendessen die Hände!«

Ich wußte, daß jede Erstausgabe eines Werkes von Edgar Allan Poe bei allen amerikanischen Sammlern die höchsten Preise erzielte und auch seine Briefe sehr begehrt waren. Poe hatte sich länger in dem nur dreißig Meilen entfernten Providence aufgehalten, aber es gab keinen Beweis für einen Besuch von Newport. Wenn ich ein Bündel Briefe von Poe entdecken würde — was für ein Gewinn für mich und später für mein Sparkonto! Kein Biograph hat bisher die ganze Spannweite von Poes jugendlichen Ambitionen beschrieben: Dichter, Detektiv, Gentleman, vielleicht auch Schauspieler (wie seine Mutter), Metaphysiker (»Heureka«), Kryptograph, Gartenarchitekt, Innenarchitekt, gequälter Liebhaber — eine Last, zu vielfältig und schwer zu tragen für jeden Amerikaner.

Ich fand keine Poe-Briefe, aber sein Name tauchte wiederholt auf. Eines Abends fand ich, unter meiner Tür durchgeschoben, ein Exemplar seines Gedichts »Ulalume«, vom Dichter signiert — ein Triumph der Kunst Elberts. Als ich Hughes zufällig in der Halle begegnete, dankte ich ihm; aber die Fälschung zerriß ich.

Es gab im CVJM keinen Nachtwächter, der die Korridore kontrollierte, sondern nur einen Nachtportier unten beim Empfang. Maury Flynn, ein pensionierter Polizeibeamter, war ein freudloser alter Mann, der sich keiner guten Gesundheit erfreute und wie viele seiner Kollegen in Clubs und Hotels arbeitete. Eines Nachts gegen drei Uhr wurde ich durch Klopfen an der Tür geweckt. Es war Maury.

»Ted, sind Sie mit Hughes auf 32 befreundet?«

»Ich kenne ihn, Maury. Was ist los?«

»Der von nebenan sagt, Hughes hätte Angstträume. Stöhnt. Fällt aus dem Bett. Der von nebenan telephoniert deswegen runter. Könnten Sie hingehen und ihn beruhigen?«

Ich warf mir einen Bademantel um, schlüpfte in ein Paar Hausschuhe und stieg hinunter zu Zimmer 32. Maury hatte die Tür offengelassen und auch das Licht nicht ausgemacht. Elbert saß auf dem Bettrand, den Kopf über die Knie gebeugt.

»Elbert! Elbert! Was ist los?«

Er hob den Kopf, sah mich geistesabwesend an und fiel wieder in seine frühere Haltung zurück. Ich schüttelte ihn heftig, aber er reagierte nicht. Ich schaute mich im Zimmer um. Auf dem Tisch in der Mitte lag ein unvollendetes Muster seiner vollendeten Kunst, der Anfang von »Der Untergang des Hauses Usher«. Auf dem Nachttisch stand eine halb geleerte Flasche mit »Dr. Quimbys Schlafsirup«. Ich setzte mich und beobachtete Elbert, während ich ihn leise, aber deutlich mehrmals bei Namen rief. Dann ging ich zum Waschbecken, tauchte einen Lappen in kaltes Wasser und legte ihn dem jungen Mann auf Gesicht, Nacken und Handgelenke, wie ich es bei betrunkenen Kumpanen in Paris 1921 getan hatte. Dies wiederholte ich mehrmals.

Endlich hob er den Kopf und murmelte: »Hallo, Ted. Nichts … Schrecklich schlecht geträumt.«

»Steh auf, Elbert. Ich werde jetzt mit dir ein bißchen im Korridor auf- und abgehen. Atmen. Tief atmen.«

Er fiel auf das Bett zurück und schloß die Augen. Noch mehr kaltes Wasser. Ich schlug ihm mit der Hand ins Gesicht und auf den Rücken. Schließlich wanderten wir auf dem Korridor hin und her, im ganzen bestimmt eine halbe Meile. Wir kehrten in das Zimmer zurück. »Nein! Sie bleiben stehen! Atmen Sie noch ein paarmal tief ein und aus … Erzählen Sie mir Ihre Träume … Ja, Sie können sich an der Wand festhalten.«

»Lebendig begraben. Komme nicht raus. Niemand kann mich hören.«

»Nehmen Sie dieses Schlafmittel dauernd?«

»Schlafe nicht sehr gut. Möchte nicht schlafen, weil … sie kommen … Aber ich muß schlafen, denn wenn ich nicht schlafe, mache ich Fehler bei der Arbeit. Das gibt Gehaltsabzüge.«

»Kennen Sie Dr. Addison?«

»Nein.«

»Warum nicht? Er ist der Arzt des CVJM und geht hier täglich aus und ein. Ich werde ihn bitten, daß er Sie morgen abend aufsuchen soll. Sprechen Sie mit ihm, sagen Sie ihm alles. Und lassen Sie die Hände von diesem Sirup. Erlauben Sie mir, die Flasche mitzunehmen? Elbert, lesen Sie nicht mehr Edgar Allan Poe. Es bekommt Ihnen nicht, alle diese Grüfte und Grabgewölbe. Glauben Sie, daß Sie jetzt ruhig schlafen werden? Oder soll ich Ihnen etwas vorlesen, zehn Minuten?«

»Ja, bitte, Ted.«

»Ich werde Ihnen jetzt in einer Sprache vorlesen, die Sie nicht verstehen. Sie brauchen nur zu wissen, daß das Buch so heiter und so schön ist wie ein Druck von Elzevir.«

Ich las ihm aus Ariost vor, und er schlief ein wie ein Baby.

Ich hatte Elbert etwa zehn Tage nicht mehr gesehen. Dr. Addison gab ihm Schlaftabletten und ein paar strenge Vorschriften für seine Ernährung, denn Elbert hatte kaum noch etwas gegessen. Ich setzte meine Suche nach der »fünften Stadt« fort. In einem anderen Laden — der schon Lumpensammler-Niveau hatte — machte ich wieder einen Fund: die verworfenen Studien des älteren Henry James zu einem Swedenborg-Kommentar; sie schlummerten in einem Faß, gemeinsam mit Bündeln alter Briefe an die Familie. Ich trennte die Briefe von der Theologie und kaufte sie für sehr wenig Geld. Mein Interesse für die schreibende James-Familie war geweckt worden, als ich (in meiner frühesten Phase) mit steigendem Mißbehagen William James’ »Varieties of Religious Experience« las; und erst kürzlich hatte ich einige Romane seines Bruders gelesen. Die James-Familie hatte während des ganzen Bürgerkrieges in Newport gelebt. Die beiden ältesten Brüder waren in die Armee eingetreten. William, Henry und ihre Schwester erlitten im gleichen Jahr, 1860, einen Nervenzusammenbruch, so kam ein Militärdienst für die beiden Brüder nicht in Frage. Die Briefe konnten mir nur wenig Neues bieten, aber ich hatte das Gefühl, auf dem rechten Weg zu sein.

In den nächsten vierzehn Tagen hatte ich so viel Stunden zu geben, daß ich meine Nachforschungen ganz einstellen mußte. Was mir noch an Zeit blieb, verwandte ich auf Wohnungssuche. Und diese beschränkte sich notgedrungen auf die für mich erschwingliche Gegend: auf die mit billigen Arbeiterhäuschen gesäumten Straßen, die vom äußersten Ende der Thames Street den Hügel hinaufführten. Ich läutete an jeder Tür, ob ein Schild »zu vermieten« aushing oder nicht. Ich wußte ziemlich genau, was ich wollte: zwei Zimmer oder ein großes Zimmer mit Bad und Kochgelegenheit, sie konnte auch primitiv sein. Ich suchte eine Wohnung im zweiten Stock, mit einer Außentreppe, so daß ich nicht die Wohnung der Familie zu betreten brauchte (aber das war nicht der einzige Grund). Ich hatte nichts gegen weinende Babies und lärmende Kinder, nichts gegen eine Küche unter mir oder ein schräges Dach über mir, nichts gegen einen Gesang- oder Turnverein oder eine Feuerwache oder Kirchenglocken in unmittelbarer Nähe. Der Wunsch nach einem separaten Eingang war nicht so ungewöhnlich, wie es vielleicht erscheinen mag. Die alten Häuser wurden mehr und mehr in Einzelwohnungen aufgeteilt, und ältere Mieter fürchteten sich vor den in dieser heruntergekommenen Gegend häufig auftretenden Bränden. Man zeigte mir viele Wohnungen, und die Begegnungen auf dieser Suche machten mir ausgesprochen Spaß.

Eines Morgens fand ich meine Wohnung. Ich hatte das Haus gemustert und die Außentreppe entdeckt. Auf dem Briefkasten stand »Keefe«. Eine dünne, mißtrauische Frau in den Fünfzigern öffnete mir die Tür. Ihr Gesicht war voller Falten, aber von jener lebhaften Frische, wie man sie bei Menschen von der nördlichen Küste antrifft. Später erfuhr ich, daß sie nach dem Tod ihres Mannes vor mehr als zwanzig Jahren eine Pension aufgemacht und zwei stramme Söhne aufgezogen hatte, die dann zur Handelsmarine gingen. Trotz mancher Enttäuschungen hatte sie sich nicht von der Vorstellung frei machen können, daß eine Pension den Charakter eines »Heims« haben müßte. Sie war mißtrauisch, aber bereit, zu trauen.

»Guten Morgen, Mrs. Keefe. Haben Sie eine Wohnung zu vermieten?«

Sie antwortete nicht sofort. »Ja und nein. Für wie lange wollen Sie sie haben?«

»Den ganzen Sommer über, falls sie mir zusagt.«

»Sind Sie allein? Was ist Ihr Beruf?«

»Ich gebe Tennisstunden im Casino. Mein Name ist Theodore North.«

»Gehen Sie regelmäßig in die Kirche?«

»Ich bin erst seit kurzem in Newport. Während des Krieges war ich auf Fort Adams stationiert. Ich bin damals regelmäßig in die Stadt gegangen, um den Abendgottesdienst in der Emmanuel-Kirche zu besuchen.«

»Kommen Sie herein und nehmen Sie Platz. Entschuldigen Sie meinen Aufzug, es ist noch früh am Morgen, und ich mache gerade sauber.«

Sie führte mich in einen Salon, der verdient hätte, künftigen, noch ungeborenen Generationen in einem Museum aufbewahrt zu werden.

»Sagen Sie mir genau Ihre Wünsche, Mr. North.«

»Ein großes Zimmer oder zwei kleine, Bad und eine Kochgelegenheit. Dazu Saubermachen und frische Bettwäsche einmal die Woche.«

Sie betrachtete mich prüfend von oben bis unten. »Wieviel wollen Sie ausgeben, Mr. North?«

»Ich hatte mir ungefähr fünfundzwanzig Dollar monatlich vorgestellt, Mrs. Keefe.«

Sie seufzte und betrachtete schweigend den Fußboden. Ich schwieg ebenfalls. Jeder Penny zählte für uns beide, aber ihr machte ein noch schwierigeres Problem zu schaffen. »Sie ist im Augenblick besetzt, aber ich habe den Männern gesagt, daß sie mit einer vierzehntägigen Kündigung rechnen müssen.«

»Passen Ihnen die Leute nicht, Mrs. Keefe?«

»Ach, ich weiß nicht, was ich von ihnen halten soll. Sie schlafen nicht hier, und ich mußte auch die Betten herausnehmen. Sie benutzen die Wohnung als Büro, einen großen Tisch haben sie hineingestellt, an dem arbeiten sie. Es sollen Architekten sein, die an irgendeinem Projekt arbeiten, für einen Wettbewerb. Die ideale Stadt, oder so etwas.«

»Machen sie Ihnen Unannehmlichkeiten?«

»Manchmal sehe und höre ich eine ganze Woche lang überhaupt nichts von ihnen, höchstens das Kommen und Gehen auf der Hintertreppe. Ich habe noch keinen von ihnen gesehen bis auf den einen, der die Miete bezahlt. Die Türen sind Tag und Nacht verriegelt. Sie machen selbst sauber. Kein Brief, kein Telefonanruf, Mr. North, sie geistern durch das Haus ohne guten Morgen oder guten Abend. Ich nenne das nicht Mieter.«

Sie sah mich zum erstenmal vertrauensvoll, ja sogar hilfeheischend an.

»Haben Sie Referenzen angegeben, als sie einzogen? Eine andere Adresse?«

»Der älteste, ich glaube, es ist der Chef, gab mir die Nummer seines Postschließfaches, 308. An einem Sonntag sah ich sie alle zusammen im ›Blauen Stern‹ an der Thames Street zu Mittag essen.«

»Haben Sie schon anderen Leuten die Wohnung gezeigt?«

»Ja, zwei Ehepaaren. Sie gefiel ihnen nicht, keine Betten, kaum Stühle. Sie fanden, es sei wohl keine richtige Wohnung. Und dann ist da noch dieser Geruch.«

»Geruch?«

»Ja, er zieht durch das ganze Haus. Irgendeine chemische Säure, die sie benützen.«

»Mrs. Keefe, ich glaube, Sie sind mit Grund besorgt.«

»Wie meinen Sie das?«

»Das mag ich noch nicht sagen. Können Sie jetzt mit mir hinaufgehen?«

»Ja, ja. Sehr gern!«

Jener staunenerregende Chief Inspector Theophilus North war wieder zum Leben erwacht. Er folgte ihr die Treppe hinauf, und nachdem sie heftig an die Tür geklopft hatte, gab ich ihr lächelnd zu verstehen, sie solle beiseite rücken. Ich legte mein Ohr an die Türspalte und hörte einen unterdrückten Fluch, geflüsterte Befehle, hastige Bewegungen, einen fallenden Gegenstand. Endlich wurde die Tür aufgeschlossen, und ein großer Mann mit dem Schnauz- und Knebelbart eines Obersten aus dem amerikanischen Süden stand, sehr ärgerlich, vor uns. Er trug einen weißen Leinenkittel, der mich an einen Chirurgen erinnerte.

»Verzeihen Sie die Störung, Mr. Forsythe, aber da ist ein Herr, der sich gern die Wohnung ansehen möchte.«

»Ich habe Sie ausdrücklich darum gebeten, derartige Belästigungen auf die Mittagszeit zu verlegen, Mrs. Keefe.«

»Meine Besucher müssen sich nach ihrer eigenen Zeit richten, sie sehen sich jeden Morgen fünf oder sechs Wohnungen an. Entschuldigen Sie, aber so ist es nun einmal.«

Es war ein großes Zimmer, voller Sonnenschein, den ich freilich selten genießen könnte. Es wirkte um so größer, als so gut wie keine Möbel darin waren. Eine große, auf Böcken ruhende Tischplatte nahm fast die ganze Länge des Zimmers ein. Auf dem einen Ende stand das Modell eines »idealen Dorfes« en miniature — eine bezaubernde Arbeit. Die vier Männer waren mit dem Rücken zur Wand aufgereiht, wie bei einer militärischen Inspektion.

Zu meiner nicht geringen Überraschung war der jüngste unter ihnen Elbert Hughes. Er war ebenso überrascht wie ich und sehr verstört. In meiner Rolle als Detektiv wußte ich, daß man nicht den Schatten eines Verdachts zeigen darf. Ich schlenderte auf Elbert zu, schüttelte ihm die Hand.

»Guten Morgen, Hughes. Wie dumm, an einem so schönen Morgen drinnen zu hocken. Wir werden Sie sofort auf den Tennisplatz schicken.« Ich schlug ihm auf die Schulter. »Sie sehen aber dünn und spitz im Gesicht aus, Hughes. Tennis, Mann, das brauchen Sie. Was! Sie fabrizieren Kinderspielzeug! Das ist aber wirklich hübsch, das Dorf, das Sie da gebaut haben. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, meine Herren, ich muß sehen, ob ich in diesen Schränken auch meine Sammlung von Tennispokalen unterbringen kann.« Es stand eine ganze Reihe von Geschirrschränken da mit Glastüren und Seidenvorhängen. Ich wollte sie öffnen, aber alle waren verschlossen. »Machen Sie sich nicht die Mühe, jetzt aufzuschließen, meine Herren.« Ich schaute in das Badezimmer und in die Küche. »Genau das Richtige für mich«, sagte ich zu Mrs. Keefe. »Komischer Geruch, was? Ich habe auch eine Sammlung von Steinen, eine alte Liebhaberei von mir, Halbedelsteine. Dafür brauche ich auch ziemlich geräumige Schränke.« In das Zimmer zurückgekehrt, sah ich mich noch einmal in Ruhe um. Es war alles andere als ein Architekten-Studio: die Papierkörbe fehlten. Es war so sauber und ordentlich wie ein Muster-Büro in einem Warenhausschaufenster — bis auf eine Ausnahme: Vor den offenen Fenstern hingen Bogen von Papier, lose aneinanderbefestigt, feucht und zum Trocknen bestimmt, hellbraun gefärbt wie blonder Tabak.

Ich lächelte Mr. Forsythe zu und sagte: »Waschtag, wie?«

»Mrs. Keefe«, sagte er, »ich glaube, der Herr hat jetzt genug gesehen. Wir müssen wieder an unsere Arbeit gehen.«

Ich hatte angenommen, die Herstellung von Falschgeld und die Kunst des Ätzens und Gravierens erforderten eine riesige Druckerpresse und Töpfe mit blauer und grüner Tinte, aber nichts dergleichen war hier zu entdecken. Das Papier im Fenster wurde offenbar »alt« gemacht. Ich hingegen verjüngte mich zusehends.

»Dort oben in der Ecke gibt es ja noch mehr Schränke für meine Sammlungen«, rief ich begeistert aus. Diese da hatten keine Schlösser; da ich den Griff kaum erreichen konnte, sprang ich zweimal hinauf. Die Türen öffneten sich, und um meinen Fall abzuschwächen, hielt ich mich an den im Schrank aufgestapelten Stößen von Papier fest, wobei Kaskaden von Blättern auf den Boden flatterten und ihn bedeckten — ja, dicht wie die Herbstblätter auf den Bächen von Vallombrosa. Alle vier Männer stürzten herbei, um sie aufzuheben, vorher konnte ich jedoch erkennen, daß es sich um viele Abschriften des »Kampflieds der Republik« handelte, geschrieben in einer altmodischen, schönen Handschrift und von Julia Ward Howe signiert, die ja in Newport gelebt hatte. Wie ich auf dem Bauche lag, konnte ich sehen, daß jedes Blatt einem anderen Empfänger gewidmet war: »Meinem lieben Freund …« »Dem Ehrenwerten So-und-So, Richter in …« Nichts in meinem Benehmen verriet, daß mir irgend etwas aufgefallen wäre. »Mein Gott, was habe ich da angerichtet«, sagte ich und erhob mich vom Boden. »Hoffentlich habe ich mir nicht den Fuß verstaucht. Gehen wir, Mrs. Keefe. Vielen Dank für Ihre Geduld, meine Herren.«

Als ich zur Tür hinaushinkte, sagte Mr. Forsythe: »Mrs. Keefe, hoffentlich erlauben Sie uns, die Zimmer noch bis Ende August zu behalten — ohne weitere Störungen. Ich wollte Ihnen gerade einen solchen Vorschlag unterbreiten.«

»Wir werden das ein anderes Mal besprechen, Mr. Forsythe. Jetzt überlasse ich Sie Ihrer Arbeit.«

Unten an der Treppe fragte ich: »Wo können wir uns unterhalten — vielleicht in der Küche?«

Sie nickte und ging den Korridor entlang. Ich drehte mich um, öffnete die Haustür und sagte laut: »Es tut mir leid, Mrs. Keefe, aber die Wohnung kommt nicht in Frage. Erst nach Wochen würden wir diesen unangenehmen Geruch hier herauskriegen. Danke für Ihre Mühe. Guten Morgen, Mrs. Keefe!« Ich schlug die Türe zu und folgte ihr auf Zehenspitzen in die Küche.

Sie beobachtete mich mit aufgerissenen Augen. »Sie glauben, mit diesen Leuten stimmt etwas nicht?«

»Es sind Fälscher.«

»Fälscher! Gott sei meiner armen Seele gnädig. Fälscher!«

»Sie fälschen kein Geld. Sie fälschen Autographen.«

»Fälscher! Das habe ich hier noch nie gehabt. Mr. North, der Vater des Polizeichefs war ein guter Freund meines verstorbenen Mannes. Soll ich zu ihm gehen?«

»Ich würde nicht allzuviel Aufhebens davon machen. Sie schaden niemandem. Auch wenn sie hundert gefälschte Briefe von George Washington verkaufen — gekauft werden sie nur von Dummköpfen.«

»Ich will sie nicht hier im Haus haben. Fälscher! Was soll ich nur machen, Mr. North?«

»Wann läuft der Vertrag ab?«

»Wie ich Ihnen schon sagte, sie haben sich mit einer zweiwöchigen Kündigungsfrist einverstanden erklärt.«

»Lassen Sie sich auf keinen Fall anmerken, daß Sie Bescheid wissen. Es sind häßliche Kunden. Verhalten Sie sich in den nächsten Tagen wie gewöhnlich. Ich werde mir etwas ausdenken.«

»Mr. North, helfen Sie mir, sie vor die Tür zu setzen. Sie zahlen dreißig Dollar im Monat, aber ich lasse Ihnen die Wohnung für fünfundzwanzig. Ich stelle auch die Betten wieder auf und noch ein paar hübsche Möbel dazu.« Plötzlich brach es aus ihr hervor: »Meine Schwester hat mir gesagt, ich hätte nach Providence zurückkehren sollen, als mein Mann starb. Ich würde hier nie glücklich werden, eine Sorte von Menschen in dieser Stadt sei der Auswurf der Menschheit und ziehe anderen Auswurf an. Ich habe das leider wieder und wieder erlebt.«

Ich wußte, auf wen sie anspielte. Aber ich fragte: »Sie meinen die auf der anderen Seite der Thames Street?«

»Nein! Nein!« Sie deutete mit dem Kopf in nördliche Richtung. »Ich meine dort, Bellevue Avenue. Keine Gottesfurcht. Schmutziges Geld. Das meine ich.«

Ich tröstete sie, so gut ich konnte, und radelte pfeifend einem anstrengenden Tagespensum entgegen. Ich hatte meine Wohnung gefunden und dazu noch die Stimme der Neunten Stadt vernommen.

Um neun Uhr am Abend desselben Tages frischte ich gerade meine Griechischkenntnisse auf, um mit einem Schüler das Neue Testament zu lesen, als es an der Tür klopfte. Ich öffnete Elbert Hughes. Er machte den Eindruck des unglücklichsten Menschen auf der Welt.

»Was kann ich für Sie tun, Elbert? Angstträume? Oder sonst was? Setzen Sie sich doch.«

Er setzte sich und brach in Tränen aus. Ich wartete.

»Hören Sie endlich zu weinen auf und sagen Sie mir, was los ist.«

Schluchzend sagte er: »Sie wissen alles, Sie haben alles gesehen.«

»Was weiß ich? Was habe ich gesehen?«

»Man hat mir gesagt, wenn ich etwas ausplaudere, würden sie mir meine Hand verstümmeln.« Er streckte die rechte Hand aus.

»Elbert! Elbert! Wie konnte sich ein anständiger amerikanischer Junge wie Sie mit einer solchen Bande einlassen? Was würde Ihre Mutter sagen, wenn sie das wüßte?«

Es war ein Schuß ins Ungewisse, aber er traf. Schweres Atmen.

Ich stand auf und machte die Tür auf. »Entweder Sie hören zu heulen auf oder Sie verlassen dieses Zimmer.«

»Ich werde … ich werde Ihnen alles erzählen.«

»Hier, nehmen Sie dieses Handtuch und waschen Sie sich. Trinken Sie ein Glas Wasser, dann fangen Sie von vorne an.«

Nachdem er sich gefaßt hatte, begann er:

»Ich habe Ihnen schon erzählt, wie Mr. Forsythe mir anbot, für ihn zu arbeiten. Er wollte keine Schriftentwürfe von mir, sondern diese andere Sache. Sie hatten eine Menge Erst- und Zweitausgaben von ›Hiawatha‹ und ›Evangeline‹ gekauft und sagten mir, ich solle Widmungen an die Freunde des Autors hineinschreiben. Zuerst dachte ich, es sei ein Ulk. Dann kopierte ich die Gedichte und widmete sie noch einmal. Dann allerlei kurze Briefe. Er denkt sich dauernd was Neues aus, zum Beispiel Edgar Allan Poe. Viele Leute sammeln auch die Unterschriften der Präsidenten der Vereinigten Staaten.«

»Wo verkaufen sie die Sachen?«

»Sie sprechen in meiner Gegenwart kaum davon … Hauptsächlich durch die Post. Sie haben einen Stempel mit der Aufschrift ›John Forsythe. Historische Dokumente und Autographen‹. Täglich kommen Briefe aus Texas und solchen Gegenden.«

Seit zwei Monaten hatte er diese Arbeit getan; acht Stunden am Tag, fünfeinhalb Tage in der Woche. Die Männer ließen ihn Tag und Nacht nicht aus den Augen. Sie wohnten in einem Hotel am Washington Square. Elbert fiel nicht durch besondere Willensstärke auf, aber es war ein kleiner Sieg gewesen, als er darauf bestanden hatte, im CVJM zu wohnen. Sie bildeten einen Kordon um ihn. Er konnte nicht essen geben oder einen Vortrag anhören, ohne daß einer von ihnen sich seiner freundschaftlich annahm. Als er erklärte, daß er über das Wochenende seine Mutter und seine Verlobte in Boston besuchen werde, sagte Mr. Forsythe: »Wir machen alle im September Ferien«, und zog aus seiner Tasche einen umfangreichen Vertrag, den Elbert unterzeichnet hatte. Darin stimmte er seinem »ständigen Aufenthalt in Newport, Rhode Island« zu. Mr. Forsythe hatte freundlicherweise hinzugefügt, er werde, falls Elbert den Vertrag brechen sollte, auf Rückerstattung des gesamten bisher ausbezahlten Gehalts klagen. »Ein Team ist ein Team, Elbert, ein Job ist ein Job.« Mir war schon länger aufgefallen, daß das eine oder andere Mitglied des Teams am Abend im Foyer des CVJM las oder Dame spielte und die Treppe beobachtete.

Kein Wunder, daß er in seinen Träumen lebendig begraben wurde oder Wände ihn erdrückten.

»Was tut der mit den Locken?«

»Er macht die Wasserzeichen und bearbeitet das Papier auf alt. Er macht Flecken hinein und manchmal Brandstellen.«

»Und der andere?«

»Er rahmt die beschriebenen Blätter ein und setzt sie unter Glas. Dann trägt er die Kisten zum Postamt.«

»Und warum wollen sie Ihnen die Hand verstümmeln?«

»Er hat es zuerst als Witz gemeint, natürlich. Eines Tages sagte ich ihnen, ich sei ernsthaft an Schriften interessiert — dafür hätten sie mich ja auch engagiert —, und ich wolle zwei Wochen nach Washington fahren, um die Schriften an den staatlichen Gebäuden zu studieren, zum Beispiel am Justizministerium und dem Lincoln-Denkmal. Er sagte, ich solle gefälligst hierbleiben, denn … ›Sie möchten doch nicht, daß Ihrer rechten Hand etwas passiert?‹ Dabei bog er mir die Finger über den Handrücken zurück … so. Er sagte es lächelnd, aber es hat mir nicht gefallen.«

»Ich verstehe … Möchten Sie fort von diesen Leuten, Elbert?«

»Oh, Ted. Ich wünschte, ich hätte sie nie gesehen. Helfen Sie mir! Helfen Sie mir!«

Ich betrachtete ihn einige Minuten lang. Verdammt nochmal, es hatte mich erwischt. Ich war in der Falle. Fast sah es so aus, als wäre ich allein für das Wohl und Wehe dieses hilflosen, unselbständigen Halb-Genies verantwortlich. Wenn wir zur Polizei gingen, würden diese Männer früher oder später sich an ihm oder mir oder Mrs. Keefe rächen, oder auch an uns dreien. Ich war sehr beschäftigt und konnte nicht alles stehen und liegen lassen, um diesem Unglückseligen aus der Klemme zu helfen. Ich mußte das Baby jemand anderem auf den Schoß setzen — und da hatte ich eine Idee.

»Wir werden eine Lösung für Sie finden, Elbert. Sie machen noch ein paar Tage weiter wie bisher und lassen sich nicht anmerken, daß eine Änderung bevorsteht, sonst ruinieren Sie den ganzen Plan.«

»Ich verspreche es Ihnen.«

»Gehen Sie jetzt auf Ihr Zimmer und legen Sie sich schlafen. Hat Ihnen Dr. Addison Tabletten verschrieben? Können Sie jetzt ruhiger schlafen?«

»Ja«, sagte er ohne große Überzeugung. »Er gab mir ein paar Pillen.«

»Sie sind jetzt sehr aufgeregt, aber ich kann Ihnen heute nacht nicht vorlesen. Nehmen Sie eine von Dr. Addisons Pillen. Wissen Sie etwas Beruhigendes, woran Sie denken können?«

Er sah vertrauensvoll zu mir auf. »Ich werde einen schönen Grabsteinentwurf für Edgar Allan Poe ausdenken.«

»Nein! Nein! Vergessen Sie Poe! Denken Sie an Ihre Zukunft, an Ihre Freiheit, Ihre Heirat, Abigail. Schlafen Sie gut! Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Ted.«

Es gab ein Telefon am Ende des Ganges. Ich rief Dr. Addison an. »Doktor, hier ist Ted North. Kann ich in etwa zehn Minuten bei Ihnen vorbeikommen?«

»Aber gewiß! Aber gewiß! Ich bin immer für einen kleinen Plausch zu haben.«

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Dr. Winthrop Addison, der Arzt des CVJM, war eine hohe, stämmige Eiche, über siebzig. Sein Schild hing noch immer am Pfosten der Veranda, obwohl er Fremden zu sagen pflegte, er lebe jetzt im Ruhestand; doch kein einziger Patient, den er einmal behandelt hatte, wurde abgewiesen. Er schnitt sich eigenhändig die Haare, kochte sich eigenhändig seine Mahlzeiten, arbeitete eigenhändig im Garten und verfügte, da die Reihen seiner Patienten sich gelichtet hatten, über genug freie Zeit. Er saß gern im Foyer des CVJM herum und schwatzte mit jedem, der dazu Lust hatte. Ich schätzte seine Gesellschaft sehr und porträtierte ihn auch in meinem Tagebuch. Er hatte einen Fundus von Geschichten, die sich nicht immer für jugendliche Zuhörer eigneten.

Ich lief zur Thames Street, kaufte eine kleine Flasche vom Besten, ging wieder unsere Straße hoch und läutete an seiner Tür.

»Kommen Sie herein, Professor. Was ist denn?«

Ich übergab ihm mein Geschenk. Da er wußte, daß ich keinen Alkohol trank, setzte er die Flasche an die Lippen und murmelte: »Himmel, schierer Himmel.«

»Doktor, ich habe ein Problem. Der Eid des Hippokrates verpflichtet Sie, sechs Monate zu schweigen wie das Grab.«

»Einverstanden, mein Junge! Einverstanden! Ich kann Sie in zwei Monaten wieder gesund machen. Ich hätte Sie doch vor ›Hatties Hängematte‹ warnen sollen.«

»Ich brauche keinen Arzt. Hören Sie, ich brauche einen guten, vernünftigen, erstklassigen Rat.«

»Ich höre.«

»Wie fanden Sie Elbert Hughes?«

»Er braucht Ruhe, er braucht Essen, er braucht Rückgrat. Vielleicht braucht er eine Mutter. Er steckt tief in der Misere. Aber er will nicht reden.«

Ich erzählte ihm von der Fälscherbande, von Elberts ungewöhnlicher Begabung und von seiner Versklavung. Das gefiel dem Doktor, und er tat einen tiefen Schluck. »Elbert will von ihnen fort, ohne den Verdacht zu erwecken, daß er bei der Polizei oder sonstwo ausplaudert. Es sind häßliche Typen, sie haben bereits gedroht, sie wollten ihn verstümmeln und seine rechte Hand brechen. Können Sie Elbert nicht irgendeine Krankheit injizieren, so daß er mindestens sechs Wochen lang das Bett hüten muß? Das würde ihnen das Geschäft verderben, und sie müßten die Stadt verlassen. Er ist für sie unentbehrlich. Er ist ihre Goldmine.«

Der Doktor lachte laut und lange. »Das erinnert mich an einen Fall, den ich vor fünfundzwanzig Jahren …«

»Erzählen Sie das ein andermal! Bitte!«

»Die Frau des Mannes hatte einen Ausschlag, gräßlich. Ich nannte ihn ›Distel-Pocken‹. Der Mann sagte mir, daß er eine Ausrede brauchte, um nicht mit seiner Frau im selben Bett schlafen zu müssen, die angeblich ohne ihn an ihrer Seite kein Auge zutun konnte.«

»Doktor, erzählen Sie bitte ein andermal. Ich möchte die ganze Geschichte ein andermal hören. Vergessen Sie nicht, wir schreiben ein Buch zusammen« (mit dem Titel: »Nur wer Diamanten hustet … Memoiren eines Newporter Arztes«, die besten Stellen stehen in meinem Tagebuch). »Konzentrieren Sie sich bitte auf Elbert Hughes. Wie heißt die Krankheit, bei der die Hände zu zittern anfangen? Oder kann man ihn für eine Weile erblinden lassen?«

Dr. Addison hob abwehrend die Hände. Er dachte angestrengt nach.

»Ich hab’s!« rief er.

»Ich wußte, daß Ihnen etwas einfallen würde.«

»Vorigen Monat hat Bill Hinkle im Keller Wäsche gewaschen. Dabei ist er mit der Hand in die Wäschemangel geraten — begreifen Sie? Seine Hand wurde plattgerollt wie eine Spielkarte. Ich hab ihm die Knöchel wieder eingerenkt und die Finger. Um Weihnachten kann er wieder Poker spielen. Ich werde Elbert einen Gipsverband anlegen, so groß wie ein Wespennest.«

»Sie sind ein wahres Wunder. Jetzt müssen Sie nur noch im CVJM ein Schild anbringen: ›Besuche verboten‹, denn die Gangster werden bestimmt kommen. Außer sich vor Wut reißen sie ihm den Gipsverband herunter und brechen seine Hand. Er hat ihnen ihr Spiel verdorben. Sie würden ihn bis China verfolgen. Könnten Sie dem Heiligen Joseph in einem Brief schreiben, er solle aufpassen, daß keine Besucher eingelassen werden?«

»Wann soll ich den Gipsverband anlegen?«

»Heute ist Dienstag. Ich möchte, daß Elbert noch einige Tage arbeitet wie bisher. Sagen wir Sonnabendmorgen. Hat Ihre Tochter Gedichte gern?«

»Sie schreibt selbst Gedichte, meist Texte für Kirchenlieder.«

»Ich werde dafür sorgen, daß sie eine Kopie von ›Ein Psalm des Lebens‹ bekommt, eingerahmt, unter Glas, mit der beinahe eigenhändigen Unterschrift des Autors.«

»Sie würde Ihnen sehr dankbar dafür sein. ›Ernst des Lebens drückt uns schwer! Und das Grab ist nicht sein Ziel.‹ Quatsch mit Sauce, aber begabt.« Er verfiel wieder in tiefes Nachdenken. »Einen Augenblick bitte! Der Heilige Josef hat nicht das Zeug dazu, die Gangster von seinem Haus fernzuhalten. Elbert ist dort nicht sicher.«

»Könnten Sie ihn nicht bei sich verstecken? Elbert hat viel Geld gespart. Er könnte sich sogar einen muskelstarken Pfleger leisten, der ihn bewacht, wenn Sie nicht zu Hause sind.«

»Zu Hause oder nicht zu Hause, ich bin zu alt, um mich mit Rowdys herumzuschlagen. Ich könnte womöglich einen umbringen, ohne es zu wollen. Verstecken Sie ihn in New Hampshire oder Vermont.«

»Sie kennen Elbert nicht. Er wird mit nichts fertig, außer mit dem Alphabet. Er nimmt dann mit seiner Mutter und seiner Verlobten Kontakt auf, und diese Burschen kennen deren Adressen. Jemand muß alles für ihn denken. Er ist nicht ganz bei sich. Er ist ein verrücktes Genie und hält sich für Edgar Allan Poe.«

»Herrgott! Ich hab’s. Wir verbreiten ganz einfach, daß er verrückt geworden ist. Zwanzig Meilen von hier befindet sich eine Irrenanstalt, die ein Freund von mir leitet. Dort hineinzukommen ist so schwer wie in einen türkischen Harem.«

»Ist das nicht sehr kompliziert? Fällt Ihnen nichts Einfacheres ein?«

»Verdammt nochmal. Man ist ja nur einmal jung. Machen wir es so kompliziert wie nur möglich. Sonnabendmorgen entführe ich ihn mit ›Gehirnfieber‹.«

»Großartig, Doktor. Ich wußte, daß Sie der richtige Mann sind. Wir haben jetzt Elbert in Sicherheit gebracht. Aber wir müssen noch mit einem anderen Problem fertig werden, und dazu erbitte ich Ihre Vorschläge. Nehmen Sie einen Schluck, Sie brauchen Inspiration, wirkliche Inspiration. Wir wollen diese Kerle so schnell wie möglich aus der Stadt heraushaben. Ohne Polizei! Wir wollen sie hinausgraulen.«

»Ich hab’s«, sagte er. »Die einzige Möglichkeit, sie unter Anklage zu stellen, hat die Postbehörde, denn diese Leute verschicken ihre Schwindelware mit der Post. Kein Wunder, daß sie bei Mrs. Keefe weder Briefe noch Anrufe erhalten. Sie mußten eine Ortsadresse angeben, um ein Schließfach mieten zu können. Wahrscheinlich haben sie das ›Union Hotel‹ am Washington Square als Wohnsitz genannt. Dieser Forsythe ist wahrscheinlich tagsüber nie im Hotel. Morgen abend gehe ich dort vorbei und frage mit gewichtiger Stimme nach Mr. Forsythe. ›Nicht auf seinem Zimmer.‹ ›Sagen Sie ihm, ein Vertreter der USA-Postbehörde hat nach ihm gefragt. Er will wiederkommen‹«

»Kennt das Hotel Sie nicht?«

»Ich habe seit zwanzig Jahren von diesem Hotel keine Patienten mehr behandelt. Und dann werden Sie sich die Zeit nehmen und am Nachmittag mit demselben Spruch hingehen. Und ich werde einen Patienten von mir ebenfalls mobilisieren, einen Gärtner, jetzt im Ruhestand, feierlich wie ein Richter. Das wird ihnen einen heiligen Schrecken einjagen. Ferner soll Mrs. Keefe ihnen ausrichten, ein Vertreter der Postbehörde hätte am Abend vorgesprochen. Das wird ihnen den Rest geben.«

»Gut! Ich habe mir auch noch etwas ausgedacht. Darf ich Ihnen einen Brief des Gouverneurs von Massachusetts vorlesen, den ich für Elbert aufgesetzt habe, damit er ihn auf dem Briefpapier des Gouverneurs schreibt? Nehmen Sie noch einen Schluck.«

»Mr. John Forsythe. Historische Dokumente und Autographen. Newport, Rhode Island. Sehr geehrter Mr. Forsythe! Wie Ihnen bekannt sein dürfte, hängen in meinem Amtsbüro Porträts von berühmten Persönlichkeiten der amerikanischen Geschichte. Sie sind Eigentum des Staates. Hingegen habe ich in meinem kleinen Empfangszimmer handschriftliche Briefe aus meiner eigenen Sammlung hängen. Eine vervielfältigte Liste Ihrer sehr interessanten Angebote für den Herbst 1926 ist mir soeben von einem Freund übergeben worden, er fand sie in einem Hotelzimmer in Tulsa, Oklahoma. Es gibt einige Lücken in meiner Sammlung, die ich gerne auffüllen würde, vor allem Briefe von Thoreau, Margaret Fuller und Luisa May Alcott. Außerdem würde ich gerne eine Anzahl Briefe, die ich besitze — von Emerson, Lowell und Bowditch — gegen solche mit einem gewichtigeren Inhalt eintauschen. Würden Sie mir freundlicherweise die Adresse Ihres Büros oder Ausstellungsraums in Newport angeben, damit ich einen Sachverständigen hinschicken kann, der mir einen Bericht verfaßt über die vorhandenen Objekte. Dies ist kein offizieller Brief, und ich bitte Sie, ihn vertraulich zu behandeln. Ihr sehr ergebener, etc. etc.«

»Das wird sie ausräuchern!«

»Ich werde Elbert morgen früh um sechs wecken, damit er vor seiner Arbeit den Brief noch schreibt. Aber wie kann ich diesen Brief von Boston aus abschicken lassen?«

»Meine Tochter besorgt das. Bringen Sie ihn mir, sobald er fertig ist. Morgen ist Mittwoch; Freitag früh bekommen die Rowdys den Brief. Elbert muß bereits verschwunden sein, wenn sie ihn lesen.«

»Fällt Ihnen noch etwas ein, Doktor?«

»Ja. Glauben Sie, daß Elbert etwa dreißig Dollar für seine Rettung aufbringen kann?«

»Bestimmt.«

»Ich werde einen Freund von mir bitten, vor Mrs. Keefes Haus auf- und abzugehen. Er braucht das Geld, und er wird an dem Auftrag einen Mordsspaß haben. Er war früher Schauspieler. Wenn der Bote mit den Paketen zur Post geht, soll Nick ihn dauernd beschatten. Dann kehrt er zu Mrs. Keefe zurück, und wenn die Fälscher mit ihrer Arbeit aufhören, spielt er den Sherlock Holmes, der in seinem Notizbuch genau aufschreibt, wann sie kommen und gehen. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Wunderbar.«

»Sie teilen Mrs. Keefe telephonisch mit, daß Nick zu ihrem Schutz draußen aufgestellt ist. Die Kerle werden einen Möbelwagen bestellen und Sonnabend morgen ausziehen, so wahr ich Dr. Addison heiße. Sagen Sie Mrs. Keefe, daß sie mich sofort anrufen soll, sobald sie von dem Auszug erfährt, und ich gehe sofort zum CVJM und passe im Foyer auf, daß die Burschen kein Unheil anrichten. Nick und ich könnten in der Nacht abwechselnd Wache halten, falls das notwendig sein sollte.«

Und so geschah es, in der darauffolgenden Woche zog ich ein. Der Gestank hielt nicht lange vor.

Die Fenwicks

Meine Lieblingsschülerin in der frühmorgendlichen Tennisklasse des Casinos, Eloise Fenwick, war vierzehn, hätte aber ebensogut auch zehn oder sechzehn sein können, je nach Stimmung. Wenn ich auf den Tennisplatz ging, hielt sie mich an manchen Tagen mit beiden Händen am linken Ellbogen fest und verlangte, daß ich sie bis zur weißen Linie schleppen sollte; ein andermal schritt sie mir voraus, die einzige Tennis-Weltmeisterin, die auch eine Dame war, Gräfin von Aquidneck und der angrenzenden Inseln. Außerdem war sie auf eine oft atemraubende Weise intelligent und nachdenklicher, als es den Anschein hatte; und sie war so schön wie der Morgen, ohne sich dessen bewußt zu sein. Wir hatten bisher kaum Gelegenheit zu Gesprächen gehabt, betrachteten uns jedoch als alte Freunde. Eine Freundschaft zwischen einer Shakespeareschen Heroine von vierzehn und einem Mann von dreißig ist ein Geschenk, das auch Eltern nur selten erlangen.

Eloise trug eine Last auf ihren Schultern.

Eines Tages sagte sie: »Ich wünschte, mein Bruder Charles könnte bei Ihnen Trainerstunden nehmen, Mr. North.« Sie zeigte unauffällig auf einen jungen Mann, der seine Bälle gegen die Übungswand am äußersten Ende des Platzes schlug. Ich hatte ihn bereits eine Zeitlang beobachtet. Er war schätzungsweise sechzehn und immer allein. Er strahlte Arroganz aus, was aber auch reiner Selbstschutz sein konnte. Sein Gesicht war mit pubertären Pickeln und Flecken bedeckt.

»Tennis, Eloise? Mr. Dobbs ist für Schüler in seinem Alter zuständig.«

»Er mag Mr. Dobbs nicht. Und er würde auch nicht zu Ihnen kommen, weil Sie Kinder trainieren. Er mag im Grunde niemanden. Nein — ich möchte, daß Sie ihm andere Stunden geben.«

»Das geht nicht, bevor ich nicht darum gebeten werde.«

»Mama wird Sie bitten.«

Ich sah auf sie herunter. Der Ton ihrer Stimme und die Haltung ihres Kopfes drückten deutlicher als alle Worte aus, daß sie, Eloise, die Sache arrangiert hatte, wie sie wahrscheinlich vieles, was sie für notwendig hielt, arrangierte.

Zwei Tage später sagte Eloise am Ende unserer Stunde: »Mama möchte mit Ihnen wegen Charles sprechen.« Mit den Augen wies sie auf eine Dame unter den Zuschauern. Ich hatte Charles bereits hinten an seiner Übungswand bemerkt. Ich folgte Eloise, die mich ihrer Mutter vorstellte und sich dann entfernte.

Es war in der Tat Eloises Mutter. Sie wollte ihre Kinder nach dem sehr anstrengenden Training abholen und hatte sich für die Autofahrt einen Schleier umgebunden. Sie reichte mir die Hand.

»Mr. North, kann ich Sie einen Augenblick sprechen? Bitte nehmen Sie Platz. Ihr Name wird in unserem Haus oft genannt, auch in den Häusern meiner Freunde, denen Sie vorlesen. Eloise schätzt Sie sehr.«

Ich lächelte und sagte: »Das hätte ich kaum zu hoffen gewagt.«

Sie lachte leise, und das Vertrauen zwischen uns beiden war hergestellt.

»Ich wollte mit Ihnen über meinen Sohn Charles sprechen. Eloise sagte mir, Sie würden ihn vom Sehen kennen. Ich hoffe, daß Sie Zeit haben, sein Französisch aufzubessern. Er ist zum Herbst in der Schule angemeldet.« Und sie erwähnte eine sehr angesehene römisch-katholische Schule in der Nähe von Newport. »Er hat in Frankreich gelebt und spricht die Sprache einigermaßen, aber er beherrscht die Grammatik nicht, wegen einer Hemmung, sich mit dem Geschlecht der Substantive und den Zeitformen der Verben zu befassen. Er bewundert alles Französische, und ich habe den Eindruck, daß er wirklich in dieser Sprache ein höheres Niveau erreichen möchte.« Sie senkte ein wenig die Stimme. »Es ist ihm peinlich, daß Eloise ein viel korrekteres Französisch spricht als er.«

Ich zögerte mit meiner Antwort. »Mrs. Fenwick, ich habe während vier Schuljahren und in drei Ferienlagern Schülern Französisch beigebracht, die meistens alles andere lieber getan hätten. Es ist, als ob man Wackersteine einen Berg hinaufschleppt. Diesen Sommer habe ich beschlossen, nicht mehr so schwer zu arbeiten. Ich habe bereits eine Anzahl von Schülern abgewiesen, die ihr Französisch, Deutsch oder Latein aufbessern wollten. Der Schüler selbst muß ausdrücklich bereit sein, Französisch zu lernen und mit mir zu arbeiten. Ich würde gern einmal kurz mit Ihrem Sohn reden und von ihm selbst hören, ob er damit einverstanden ist.«

Sie sah einen Augenblick zu Boden und betrachtete dann ihren Sohn am anderen Ende des Tennisplatzes. Endlich sagte sie, nicht ohne Trauer, aber sehr offen: »Das ist ein bißchen viel verlangt von einem Menschen wie Charles Fenwick … Es ist für mich nicht leicht zu sagen, was ich sagen muß. Und ich bin gar nicht schüchtern, nein, ich bin alles andere als schamhaft; aber es fällt mir wirklich schwer, gewisse Züge — oder Eigenschaften — in Charles’ Charakter zu beschreiben.«

»Vielleicht kann ich Ihnen helfen, Mrs. Fenwick. In der Schule, an der ich unterrichtete, pflegte der Direktor mir jeden Jungen zu schicken, der nicht in das von ihm gewünschte Klischee des ›American Boy‹ hineinpaßte — Jungen mit ›Problemen‹, wie er es nannte. Das Telephon klingelte dann. ›Mr. North, ich möchte, daß Sie mit Frederic Powell sprechen; sein Stubenwart hat mir gemeldet, daß er nachts im Schlaf umhergeht und stöhnt. Er fällt in Ihr Ressort.‹ Mein Ressort umfaßte Schlafwandler, Bettnässer sowie heimwehkranke Jungen, die die ganze Nacht weinten und sich dauernd übergeben mußten. Auch jenen Jungen, der sich aufhängen wollte, weil er in zwei Fächern versagt hatte und fürchtete, daß sein Vater während der Osterferien nicht ein einziges Wort mit ihm sprechen würde.«

»Ich danke Ihnen, Mr. North. Ich wünschte, Charles würde in Ihr Ressort fallen. Er hat zwar keines von diesen Problemen, aber ein viel schlimmeres: die an Verachtung grenzende Abneigung gegen alle und jeden, mit denen er zusammenkommt, ausgenommen Eloise und einige Geistliche, die er durch seine Religion kennengelernt hat. Eloise steht ihm viel näher als seine Eltern.«

»Warum hat Charles eine so schlechte Meinung von dem Rest der Menschheit?«

»Aus einem Gefühl der Überheblichkeit … Ich habe den Mut für den richtigen Namen: er ist ein Snob, ein maßloser Snob. Er sagt niemals ›danke‹ zu einem Dienstboten, noch wirft er einen Blick auf ihn. Wenn er sich bei seinem Vater oder bei mir für irgend etwas bedankt — und wir geben uns alle Mühe, ihm Freude zu machen —, so bleibt sein Dank beinahe unhörbar. Wenn beim Essen die Familie unter sich ist (er lehnt es ab, herunterzukommen, sobald wir Gäste haben), sitzt er schweigend bei Tisch. Er interessiert sich nur für eins: unsere gesellschaftliche Position. Sein Vater und ich, wir kümmern uns kein Jota darum. Wir haben unsere Freunde, und das genügt uns, hier und in Baltimore. Charles aber verfolgt ängstlich, ob wir zu den Anlässen, die er für wichtig hält, eingeladen werden; ob die Klubs, denen mein Mann angehört, auch die besten sind; ob ich ›tonangebend‹ bin, wie das die Zeitungen so nennen. Er bringt seinen Vater zum Wahnsinn mit seinen Fragen, ob wir reicher seien als die So-und-So. Charles schätzt uns deshalb so wenig, weil wir seiner Ansicht nach nicht alles tun, um — oh — ich möchte nicht mehr davon sprechen …«

Sie errötete unter ihrem Schleier und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.

Ich sagte schnell: »Bitte erzählen Sie mir noch etwas mehr, Mrs. Fenwick.«

»Wir sind römisch-katholisch, wie ich schon sagte, und Charles ist sehr religiös. Pater Walsh, der bei uns verkehrt, mag Charles, und — ich habe mit ihm darüber gesprochen, über diese absurde Vorliebe für das Weltliche. Er findet das nicht so wichtig; er glaubt, es wird sich bald von selbst legen.«

»Könnten Sie mir etwas über Charles’ Erziehung erzählen?«

»Mit neun erkrankte Charles an einem Herzleiden. Baltimore mit der Johns-Hopkins-Universitätsklinik ist berühmt für seine hervorragenden Ärzte. Die haben ihn behandelt und geheilt. Sie versichern mir, er sei vollkommen wiederhergestellt. Aber damals nahmen wir ihn aus der Schule und seitdem ist er ausschließlich von Privatlehrern erzogen worden.«

»Hat er deshalb so wenig Freunde und ist fast immer allein?«

»Gewiß. Aber er spielt sich auch immer so auf. Alle Jungen mögen ihn nicht, und er findet alle Jungen blöde und vulgär.«

»Haben die Flecken in seinem Gesicht etwas mit seiner selbstgewählten Einsamkeit zu schaffen?«

»Die haben sich erst in den letzten zehn Monaten entwickelt. Er wird jetzt von den besten Hautspezialisten behandelt. Seine Haltung uns gegenüber ist aber nicht erst von heute.«

Ich lächelte sie an. »Glauben Sie, man könnte ihn überreden, herzukommen und mit mir zu sprechen?«

»Eloise kann ihn zu allem überreden. Wir danken Gott alle Tage, daß dieses kleine Mädchen von vierzehn schon so klug ist und so hilfreich.«

»Gut, dann will ich gleich meine nächste Stunde absagen. Bitten Sie Eloise, daß sie ihn hierherbringt, an diesen Tisch, um mit mir zu sprechen. Könnten Sie beide unter einem Vorwand uns für eine halbe Stunde allein lassen?«

»Ja, wir müssen Einkäufe machen.« Sie winkte Eloise herbei und erzählte ihr von unserem Plan. Eloise und ich tauschten einen bedeutungsvollen Blick, und ich ging zum Telefon. Als ich zurückkam, saß Charles auf dem Stuhl, den seine Mutter soeben verlassen hatte; er hatte ihn so gedreht, daß er mir nur sein Profil zeigte. In der Schule, die ich besuchte, und in der Schule, in der ich unterrichtet hatte, standen die Schüler auf, wenn der Lehrer das Zimmer betrat. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, senkte Charles nur leicht den Kopf, zum Zeichen, daß er von meiner Anwesenheit Notiz genommen hatte. Sein Gesicht war ansprechend, aber die mir zugewandte Wange war übersät mit Pusteln und Kratern.

Ich setzte mich. Ausgeschlossen, daß er dem niedrigsten unter allen Knechten des Newporter Casinos die Hand reichen würde.

»Mr. Fenwick — diese Anrede gilt für den Beginn unserer Unterhaltung, später werde ich zu Charles übergehen —, Eloise sagte mir, daß Sie lange in Frankreich waren und auch einige Jahre Privatunterricht hatten. Wahrscheinlich brauchen Sie nur ein paar Wochen, um Ihre Kenntnisse der unregelmäßigen Verben aufzufrischen. Eloise ist ein erstaunliches Mädchen. Sie könnte ohne weiteres morgen zu einem Weekend auf ein Château eingeladen werden und würde sich glänzend bewähren. Sie wissen vielleicht, daß wirklich vornehme Franzosen Amerikaner, die ihre Sprache nur fehlerhaft sprechen, ablehnen. Sie halten uns für Barbaren. In ein paar Minuten werde ich Sie fragen, ob Sie mit mir arbeiten wollen, aber zunächst sollten wir uns ein wenig kennenlernen. Eloise und Ihre Mutter haben mir einiges über Sie erzählt; möchten Sie nicht auch einiges über mich erfahren?«

Schweigen. Ich hielt das Schweigen so lange durch, bis er plötzlich zu reden anfing, herablassend und nicht sehr höflich. »Sie haben in Yale studiert … Ist das wahr, daß Sie in Yale studiert haben?«

»Ja.«

Lange Pause.

»Wenn Sie in Yale studiert haben, warum arbeiten Sie dann im Casino?«

»Um Geld zu verdienen.«

»Sie sehen nicht — arm aus.«

Ich lachte. »O doch, ich bin wirklich arm, Charles, aber fröhlich.«

»Haben Sie dort einer Verbindung angehört … oder einem Klub?«

»Ich war Mitglied einer Verbindung, der ›Alpha Delta Phi‹ und des ›Elisabethanischen Klubs‹. Ich war nicht in einer Senioren-Vereinigung.«

Zum erstenmal würdigte er mich eines Blickes. »Haben Sie versucht hineinzukommen?«

»Versuchen hilft da nichts. Man hat mich nicht eingeladen.«

Erneuter Blick. »Haben Sie sich darüber geärgert?«

»Vielleicht war es richtig, mich nicht aufzunehmen. Ich hätte wohl nicht zu ihnen gepaßt. Klubs sind für Männer, die viel miteinander gemeinsam haben. In was für einem Klub möchten Sie Mitglied sein, Charles?« Schweigen. »Die besten Klubs werden durch Hobbies zusammengehalten. So gibt es in Ihrem Baltimore einen Klub — er ist hundert Jahre alt —, von dem ich glaube, daß er der netteste Klub ist und zugleich der exklusivste.«

»Was ist das für ein Klub?«

»Er nennt sich die ›Darmsaite‹.« Er traute seinen Ohren nicht. »Man hat schon immer gewußt, daß zwischen Medizin und Musik eine Affinität besteht. In Berlin wurde ein Sinfonieorchester ausschließlich aus Ärzten gebildet. Um Ihre Johns-Hopkins-Universitätsklinik herum gibt es mehr gute Ärzte als an irgendeinem anderen vergleichbaren Ort. Nur die bedeutendsten Professoren gehören der ›Darmsaite‹ an, als Pianisten, Violinisten, Bratschisten, Cellisten, auch ein Klarinettenspieler ist unter ihnen. Jeden Dienstagabend treffen sie sich zu einer kleinen musique de chambre.«

»Was?«

»Musique de chambre.«

Etwas Seltsames geschah. Charles’ Gesicht, ohnehin rot und weiß gesprenkelt, lief puterrot an. Er errötete heftig.

Schlagartig erinnerte ich mich, daß sehr junge Menschen das Wort chambre mit pot de chambre assoziieren und daß der Nachttopf all den Schrecken, die Aufregung und die Ekstase ausstrahlt, die von etwas »Verbotenem«, einem Tabu ausgeht. Und jedes »verbotene« Wort ist wiederum mit anderen, noch viel schlimmeren Wörtern verfilzt. Charles Fenwick durchlebte mit sechzehn eine Phase, die er bereits mit zwölf überwunden haben sollte. Natürlich! Er hatte sein Leben lang Privatstunden gehabt und war nur mit sehr wenigen Altersgenossen zusammengekommen, die ihre Hemmungen in Gekicher, Geflüster, Geschrei und Unfug abreagieren. Charles war in seiner Entwicklung irgendwo steckengeblieben.

Ich legte ihm eine Falle — ich wollte die Richtigkeit meiner Vermutung überprüfen. Ich erzählte ihm von einem anderen, ebenfalls sehr exklusiven Klub in Saratoga Springs, dessen Mitglieder wohl einen Rennstall haben, selbst aber nie auf einem Pferd sitzen, sondern nur auf ihrem Hinterteil, weshalb man ihnen den Spitznamen »Goldpodexe« angehängt hat. Es wirkte. Die karmesinrote Flagge wurde aufgezogen. Mir fielen gewisse Bibelstellen ein, die im Schulgottesdienst ähnliche Reaktionen hervorzurufen pflegten. Das Auditorium wurde unruhig; in den Sitzreihen, die für die jüngeren Schüler reserviert waren, griff krampfhaft unterdrücktes Gelächter um sich, vermischt mit verzweifelten Hustenanfällen. Ich wandte mich wieder an Charles. »Welchem Klub würden Sie lieber angehören?«

»Was?«

»Baltimores Ärzte würden nie im Leben dem Millionärs-Klub in Saratoga Springs beitreten, und die Rennstallbesitzer würden lieber sterben, als dauernd Kammermusik hören zu müssen … Aber ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Sagen Sie mir jetzt nur eins: Sind Sie bereit, mit mir zusammen Ihr Französisch aufzupolieren? Sie können ganz offen mit mir sprechen.«

Er schluckte und sagte: »Ja.«

»Gut. Bei Ihrem nächsten Aufenthalt in Frankreich werden Sie und Eloise gewiß zu einem Weekend auf einen vornehmen Landsitz eingeladen, und dann sind Sie mühelos der Unterhaltung gewachsen … Ich werde hier sitzenbleiben und auf Ihre Mutter warten. Lassen Sie sich bitte nicht von Ihrem Tennis abhalten.« Ich reichte ihm die Hand, er schüttelte sie und erhob sich. Ich verabschiedete ihn mit einem Nicken.

Mrs. Fenwick kam zurück, Eloise folgte ihr.

»Charles meint, daß er es mit mir versuchen will, Mrs. Fenwick.«

»Ich bin ja so froh.«

»Das verdanken wir nicht zuletzt Eloise.«

»Kann ich nicht an den Stunden teilnehmen?«

»Eloise, Ihr Französisch ist sehr gut. Charles würde den Mund nicht aufmachen, wenn Sie dabei sind. Natürlich werden Sie mir fehlen. Darf ich jetzt noch einige Details mit Ihrer Mutter besprechen?« Eloise seufzte und zog ab.

»Mrs. Fenwick, hätten Sie zehn Minuten für mich übrig? Ich möchte Ihnen einige Vorschläge unterbreiten.«

»Gewiß, Mr. North.«

»Lieben Sie Musik?«

»In meiner Jugend wollte ich unter allen Umständen Pianistin werden.«

»Welches sind Ihre Lieblingskomponisten?«

»Bach, später Beethoven; und in letzter Zeit habe ich mehr und mehr meine Liebe zu Mozart entdeckt. Warum fragen Sie?«

»Weil ein wenig bekannter Aspekt in Mozarts Leben Ihnen manche Schwierigkeiten im Leben Ihres Sohnes erklären könnte.«

»Charles und Mozart?«

»Beide haben in ihrer Jugend etwas sehr Wichtiges entbehren müssen.«

»Mr. North, das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«

(Hier muß ich meinen Bericht mit einer kurzen Erklärung unterbrechen. Es wird dem Leser nicht entgangen sein, daß ich, Theophilus, mich nicht scheue, mit den unwahrscheinlichsten Erfindungen mich und andere zu vergnügen. Es liegt jedoch nicht in meiner Natur, zum Nachteil anderer Leute eine Lüge oder auch die Wahrheit auszuplaudern. Die Passage über Mozarts Briefe kann auf ihren Wahrheitsgehalt leicht überprüft werden.)

»Mrs. Fenwick, vor einer halben Stunde haben Sie mir versichert, Sie wären alles andere als schamhaft. Was ich Ihnen jetzt sage, verlangt eine vorurteilslose Diskussion über Dinge, die manche Leute vielleicht vulgär oder geschmacklos finden. Es steht Ihnen frei, die Unterhaltung jederzeit abzubrechen; nach meiner Ansicht werden Sie nachher besser verstehen, warum Charles ein so verschlossener, unglücklicher Mensch ist.«

Sie sah mich einen Augenblick schweigend an, umklammerte dann die Armlehnen des Stuhls und sagte: »Sprechen Sie weiter.«

»Leser von Mozarts Briefen wissen seit langem, daß er auch an eine in Augsburg lebende Cousine schrieb. Diese Briefe sind mir mit vielen Sternchen veröffentlicht worden, denn kein Herausgeber oder Biograph Mozarts hat je das Ganze abgedruckt, wahrscheinlich aus dem Gefühl heraus, es könnte den Leser befremden und das ›Image‹ des Komponisten beeinträchtigen. Diese Briefe an das ›Bäsle‹, voll von infantilen Unanständigkeiten, hat vor nicht langer Zeit der berühmte Schriftsteller Stefan Zweig gekauft. Mit einem von ihm verfaßten Vorwort hat er sie als Privatdruck einem kleinen Kreis von Freunden zugänglich gemacht. Ich habe das Bändchen selbst nicht gelesen, aber ein Musikologe in Princeton, ein Bekannter von mir, hat ziemlich genau darüber berichtet; auch über Stefan Zweigs Vorwort. Die Briefe sind ›skatologisch‹, wie man das zu bezeichnen pflegt, und befassen sich mit den menschlichen Körperfunktionen. Laut Bericht spielt das Sexuelle kaum eine Rolle, es ist reiner ›Verdauungshumor‹. Mozart schrieb diese Briefe im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren. Wie erklärt man sich nun, daß er, der Frühreife, an solchen kindischen Scherzen Gefallen finden konnte? Die wunderbaren Briefe an seinen Vater, in denen er ihn auf den Tod der Mutter in Paris vorbereitete, wurden nicht lange danach geschrieben. Zweig weist darauf hin, daß Mozart nie eine ›normale‹ Jugend gehabt hat. Er war noch nicht zehn Jahre alt, als er bereits den ganzen Tag bis tief in die Nacht hinein komponierte oder Konzerte gab. Sein Vater führte ihn ganz Europa als Wunderkind vor. Sie erinnern sich doch, daß er der Kaiserin Maria Theresia auf den Schoß geklettert ist. Ich bin nicht nur Lehrer an einer Knabenschule gewesen; ich habe während der Sommermonate als Leiter von Ferienlagern gearbeitet und mußte mit sieben bis zehn Knirpsen im selben Zelt schlafen. Jungen gehen durch eine Phase, wo alles Verbotene fasziniert — es ist so ungeheuer komisch, aufregend und natürlich auch beunruhigend für sie. Vor allem sollen ja Mädchen kichern, aber ich versichere Ihnen, daß Jungen zwischen neun und zwölf eine geschlagene halbe Stunde lang kichern können, wenn ein kleines physiologisches Malheur passiert ist. Sie teilen die Angst, die das Tabu umgibt, mit den anderen und befreien sich so davon. Aber Mozart — wenn ich mich in einem Bild ausdrücken darf — hat niemals Baseball an der Straßenecke gespielt und ist niemals mit Pfadfindern schwimmen gegangen.« Ich machte eine Pause. »Ihr Sohn Charles ist von seinen Altersgenossen abgeschirmt worden, und die vollkommen natürliche Anpassung des Kindes an unsere körperliche Natur ist unterbunden worden und schwärt deshalb unterirdisch weiter.«

Sie antwortete kalt: »Mein Sohn Charles hat noch nie ein vulgäres Wort in den Mund genommen.«

»Das ist es ja gerade, Mrs. Fenwick.«

»Woher wissen Sie, daß etwas in ihm ›schwärt‹?« Hohn war in ihrer Stimme. Sie war eine sehr nette Frau, aber ich mutete ihr etwas zu viel zu.

»Durch Zufall. Bei unserer Unterhaltung hat er mir hart zugesetzt. Er hat mich gefragt, ob ich in Yale bestimmten, sehr exklusiven Clubs angehört habe, und als ich dies verneinte, versuchte er mich zu demütigen. Aber ich habe ziemlich viel Erfahrung in solchen Dingen. Ich fing sogar an, ihn gern zu haben, ich sah, daß er sich ganz in seine Angst verkapselt hatte.«

Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Dann faßte sie sich wieder und sagte mit leiser Stimme: »Sprechen Sie weiter, bitte.« Ich erzählte ihr von meinem Experiment mit einem erfundenen Klub, in dem die besten und die schlechtesten Kartenspieler, die »Hintern«, preisgekrönt werden; dieses Wort rief bei ihm ein heftiges Erröten hervor. Ich erklärte ihr, daß für Jungen, und wahrscheinlich auch für Mädchen, in gewissen Jahren die Sprache ein mit Sprengkörpern besätes Minenfeld ist; Wörter sind für sie Dynamit. Auch sein »Snobismus« sei nichts anderes als eine Flucht in eine Welt, in der kein anrüchiges Wort falle.

»Mrs. Fenwick, erinnern Sie sich an jene Stelle bei Shakespeare, wo Macbeth den Arzt fragt, ob dieser nicht der nachtwandelnden Lady Macbeth helfen kann: ›Könnt Ihr nicht … den verstopften Busen von dem Stoff befreien / Der auf dem Herzen lastet?‹«

Ohne den geringsten Vorwurf in ihrer Stimme sagte sie: »Aber Sie sind doch kein Arzt, Mr. North.«

»Nein. Aber Charles braucht einen Freund mit Erfahrung in diesen Dingen. Man weiß nie, ob Ärzte auch potentielle Freunde sind.«

»Glauben Sie, daß Mozart diesen ›kindischen‹ Zug überwand?«

»Nein. Das kann kein Mann. Er überwindet allerdings den größten Teil seiner Angst; der Rest setzt sich in Gelächter um. Ich frage mich, ob Charles überhaupt eine Ahnung hat, was Lächeln heißt.«

»Mr. North, ich hasse jedes Wort, das Sie sagen, aber Sie haben wahrscheinlich recht. Wollen Sie Charles als Ihren Schüler akzeptieren?«

»Nur unter einer Bedingung. Sie müssen die Sache mit Ihrem Mann und mit Pater Walsh besprechen. Ich könnte Tim, Dick und Harry französische Syntax beibringen; aber nachdem ich Charles’ Kummer zu erraten glaube, kann ich nicht Stunden mit ihm zubringen ohne den Versuch, ihm zu helfen. Ich könnte nicht — wie ein Freund von mir — ein Mädchen, das an religiösem Wahnsinn leidet, härene Hemden trägt und sich Nägel in den Körper bohrt, in Algebra unterrichten. Ich möchte Sie um die Erlaubnis bitten, für etwas, das ich auf keinen Fall ohne Ihre Erlaubnis tun würde: Ich möchte in jeder Stunde ein oder zwei ›Dynamit‹-Wörter einführen. Hätte ich einen Schüler, den nur Vögel beschäftigen, so würde ich meine Französischstunde um Strauße und Stare gruppieren. Lernen hat nur einen Sinn, wenn es zu dem Innenleben des Schülers in Beziehung gebracht wird. Charles versucht verzweifelt, in eine Männerwelt hineinzuwachsen, und sein Snobismus ist mit diesem Problem verkettet. Er wird sich dessen nicht bewußt werden, daß meine Stunden sich auf seinen Phantasien aufbauen — Phantasien von gesellschaftlichem Glanz und von den erschreckenden Tabus.«

Sie hatte ihre Augen geschlossen und sah mich jetzt erst wieder an: »Entschuldigen Sie bitte — was möchten Sie?«

»Ihr Einverständnis, daß ich gelegentlich handfeste, kräftige Vergleiche in meinen Stunden anführen darf. Verlassen Sie sich darauf, ich werde nie die Grenze zur Zote und dem unanständigen Witz überschreiten. Ich kenne Charles nicht. Er könnte eine Abneigung gegen mich entwickeln und dann Ihnen und Pater Walsh berichten, ich sei ein ordinärer Bursche. Sie wissen wahrscheinlich, daß Patienten sich an ihre Krankheit klammern.«

Sie erhob sich. »Mr. North, dies ist für mich eine höchst peinliche Unterhaltung gewesen. Ich muß mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Sie werden von mir hören … Guten Morgen.«

Sie bot mir zögernd die Hand. Ich verbeugte mich und sagte: »Wenn Sie meine Bedingung akzeptieren, so kann ich mich mit Charles in dem blauen Tea-Room hier jeden Montag, Mittwoch und Freitag um 8 Uhr 30 treffen.«

Sie sah sich verwirrt nach ihren Kindern um, aber Eloise und Charles hatten uns beobachtet und liefen schon herbei. Eloise sagte: »Mr. North will nicht, daß ich am Unterricht teilnehme, aber ich verzeihe ihm.« Dann drehte sie sich um und legte ihre Arme um den Leib ihres Bruders: »Ich bin so froh, daß du unterrichtet wirst.«

In sehr gerader Haltung sagte Charles über den schimmernden Kopf seiner Schwester hinweg: »Au revoir, monsieur le professeur!«

Mrs. Fenwick betrachtete ihre Kinder mit einem Ausdruck schmerzlichen Entsetzens und sagte: »Bitte, kommt jetzt mit mir zum Wagen«, und führte sie fort.

Zwei Tage später kam Eloise nach ihrer letzten Trainerstunde auf mich zu und gab mir einen Zettel von ihrer Mutter. Ich steckte ihn in die Tasche.

»Wollen Sie ihn nicht lesen?«

»Ich kann warten. Jetzt will ich Sie zu einem Eis mit Früchten und heißer Schokoladensauce in den blauen Tea-Room einladen. Was steht wohl auf diesem Zettel: engagiert oder nicht engagiert?«

Eloise pflegte auf drei verschiedene Arten zu lachen. Jetzt ließ sie das langgezogene Gurren einer Taube vernehmen. »Das sage ich Ihnen nicht«, meinte sie. An diesem Morgen entschloß sie sich, zwanzig Jahre alt zu sein, dennoch schob sie ihre Hand in die meine, mitten auf der Bellevue Avenue, zum Erstaunen der Pferde und zum Entsetzen der alten Damen in ihren Wägelchen. So eröffnete sie feierlich die Sommersaison.

»Mr. North, war dies wirklich meine letzte Trainerstunde? Werde ich Sie nie wiedersehen?«

Wir setzten uns nicht auf die hohen Barstühle an der Soda-Theke wie schon einmal, sondern an einen Tisch in der hintersten Ecke. »Ich hoffe, daß ich Sie jeden Freitag nach meiner Stunde mit Charles zu einem Eis mit Früchten und heißer Schokoladensauce einladen darf.« Nach dem Tennis hatten wir Hunger und widmeten uns energisch unserem Eis.

»Sie wissen wirklich gut Bescheid, nicht wahr, Eloise?«

»Einem jungen Mädchen wie mir wird ja nichts gesagt, also muß man sich zu einer Hellseherin entwickeln und die Gedanken der Menschen lesen lernen. Als ich noch klein war, habe ich oft an den Türen gelauscht, aber das tue ich jetzt nicht mehr … Ihr Erwachsenen habt euch plötzlich über Charles Gedanken gemacht, ihr habt gemerkt, daß er in … in einem Spinnennetz zappelt, er hat vor allem Angst. Sie müssen Mutter etwas gesagt haben, das sie sehr erschreckt hat. Haben Sie ihr auch gesagt, daß sie Pater Walsh zum Essen einladen soll?« Ich schwieg. »Er war gestern abend bei uns, und nach dem Essen hat man Charles und mich nach oben geschickt, und sie gingen alle in die Bibliothek und hielten einen Kriegsrat ab. Und sogar dort oben, meilenweit entfernt, hörten wir Pater Walsh lachen. Mutters Stimme klang nach Tränen, aber Pater Walsh hat mit seinem polternden Gelächter kein Ende gefunden. Bitte lesen Sie den Brief, Mr. North. Sie brauchen ihn mir nicht vorzulesen.«

Ich las: »Lieber Mr. North, Pater Walsh bittet mich, Ihnen mitzuteilen, daß er in seiner Jugend auch Ferienlager geleitet hat. Er hat mir gesagt, Sie sollten ruhig anfangen; er wird das Beten übernehmen und Sie die Arbeit. Der Gedanke an die Dame in Salzburg tröstet mich, für die sich alles noch zum Guten wandte. Ihre Millicent Fenwick.«

Ich bin nicht dafür, jungen Menschen unnötig etwas zu verheimlichen. »Eloise, lesen Sie diesen Brief, aber bitten Sie mich nicht um eine Erklärung.«

Sie las. »Danke«, sagte sie und dachte einen Augenblick lang nach. »War Beethoven nicht in Salzburg geboren? Wir besuchten, als ich etwa zehn war, dort sein Haus.«

»Ist es schwer, eine Hellseherin zu sein, Eloise? Erschwert es das Leben?«

»Nein. Man hat nur sehr viel zu tun … Es hält einen in Atem … und bewahrt vor Muffigkeit.«

»Machen Sie sich etwa darüber Sorgen?«

»Tut das nicht jeder?«

»Nicht in Ihrer Nähe. Eloise, ich frage immer meine jungen Freunde, was sie in letzter Zeit gelesen haben. Wie steht es bei Ihnen?«

»Ich lese die Encyclopaedia Britannica — ich habe sie für mich entdeckt, als ich über Heloise und Abälard Genaueres wissen wollte. Dann habe ich George Eliot nachgeschlagen, Jane Austen und Florence Nightingale.«

»Gehen Sie einmal zum Buchstaben B über und lesen Sie über Bischof Berkeley, der in Newport gelebt hat, und sehen Sie sich sein Haus an. Ferner finden Sie unter M etwas über Mozart, der in Salzburg geboren wurde.«

Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund. »Ach, es muß furchtbar langweilig für Sie sein, sich mit so ahnungslosen Mädchen abzugeben.«

Ich brach in Lachen aus. »Das überlassen Sie ruhig mir, Eloise. Bitte erzählen Sie mehr von Ihrer Encyclopaedia.«

»Ich habe mich auch über Buddhismus und Gletscher und vieles andere informiert, aus einem besonderen Grund.«

»Verzeihen Sie, daß ich Sie so ausfrage, aber warum interessieren Sie sich für Buddhismus und Gletscher?«

Sie errötete zart und warf mir einen scheuen Blick zu. »Damit ich ein Thema habe, worüber ich bei Tisch reden kann. Wenn Papa und Mama Gäste haben, esse ich mit Charles oben. Aber wenn Verwandte oder alte Freunde eingeladen sind, dann dürfen wir dabeisein, Charles kommt allerdings nur für Pater Walsh herunter. Sind wir zu viert, setzt er sich an den Tisch und sagt kaum ein Wort … Mr. North, darf ich Ihnen ein Geheimnis anvertrauen? Charles glaubt, er wäre eine Waise, und Mama und Papa hätten ihn adoptiert. Ich weiß nicht, ob er wirklich daran glaubt, aber jedenfalls sagt er das.« Sie wurde leiser. »Er hält sich für einen Prinzen aus einem anderen Land — Polen oder Ungarn oder sogar Frankreich.«

»Und Sie sind die einzige, die das weiß?«

Sie nickte. »Sie sehen also, wie schwer es für Mama und Papa ist, ein Gespräch in Gang zu bringen — noch dazu in Gegenwart des Personals — mit einem, der sich so weit weg fühlt.«

»Glaubt er, Sie wären auch von königlichem Blut?«

Sie antwortete scharf: »Ich erlaube es ihm nicht.«

»Sie füllen also beim Mittagessen die Pausen mit Buddhismus und Florence Nightingale.«

»Ja — und ich bringe auch, was Sie mir erzählt haben. Ihre Schulzeit in China. Die hat ein ganzes Mittagessen gereicht. Ich habe sie ein bißchen ausgeschmückt. Sagen Sie immer die Wahrheit, Mr. North?«

»Ihnen ja. Es ist langweilig, den Leuten die Wahrheit zu sagen, die lieber das Gegenteil hören möchten.«

»Ich habe erzählt, daß in Neapel die Mädchen Ihnen den bösen Blick andichteten. Ich habe es so komisch erzählt, daß Mario prustend das Zimmer verließ.«

»Und jetzt will ich Ihnen etwas sagen. Liebe Eloise, wenn Charles sich aus dem Spinnennetz ein wenig herauswindet, so hat er es Ihnen allein zu verdanken.« Sie sah mich erstaunt an. »Wenn man jemanden liebt, dann überträgt man auf ihn die eigene Liebe zum Leben und den Glauben an das Leben; man verscheucht die Drachen.«

»Aber Mr. North, Sie haben ja Tränen in den Augen!«

»Tränen des Glücks.«

___________

Ich traf also Charles am folgenden Montag um acht Uhr dreißig. In der Zwischenzeit war er wieder in sein altes, mißtrauisch-arrogantes Benehmen zurückgefallen. Dennoch ließ er sich dazu herab, mir gegenüber Platz zu nehmen. Er war wie ein Fuchs, der aus dem Gebüsch den Jäger beobachtet.

Mein Tagebuch enthält keinen fortlaufenden Bericht über unsere Stunden, nur einen angehefteten, kaum leserlichen Zettel mit dem Schema, nach dem ich vorging: jeweils ein syntaktisches Problem und das »Dynamit«, das sich daraus ergab; Hilfsverben, Konjunktiv, die vier Vergangenheitsformen, und so weiter; dazu derrière, coucher, cabinet, und so weiter. Ich finde nirgends einen Hinweis auf meinen Feldzug gegen seinen Snobismus, obwohl ich mich fast pausenlos damit beschäftigte. Der Tag begann gewöhnlich mit einer kleinen Schockbehandlung; es folgten vierzig Minuten Grammatikbüffelei, und am Schluß Übungen in französischer Konversation. Der Unterricht wurde ausschließlich in französischer Sprache geführt, doch werde ich hier das meiste übersetzen (und nur hier und da ein paar Kostproben des Originals geben, damit der Leser etwas für sein Geld hat).

Zu Anfang legte ich Wert darauf, ihn während der zwanzig Minuten französischer Konversation nicht allzusehr aus der Fassung zu bringen, aber beim Einpauken der Grammatik verlangte ich immer mehr — und er benahm sich bewundernswert.

»Charles, wie nennt man diese komisch aussehenden Kioske in den Straßen, die ausschließlich von Männern benutzt werden?«

Es bereitete ihm einige Schwierigkeiten, sich an das Wort Pissoirs zu erinnern.

»Ja, sie haben auch einen eleganteren, interessanteren Namen, Vespasiennes, nach einem römischen Kaiser, dem wir diese glückliche Idee verdanken. Da Sie jetzt in Ihrem Alter in Frankreich mit reiferen Leuten zusammenkommen, wird es Ihnen auffallen, wie unbefangen selbst sehr vornehme Damen und Herren über diese Dinge reden. Darauf müssen Sie vorbereitet sein.«

»Ja, Sir.«

»Charles, ich hoffe, daß Sie mit zwanzig auch in Paris studieren werden wie ich. Wir waren alle arm, aber wir hatten viel Spaß. Sehen Sie zu, daß Sie auf der Rive Gauche wohnen, und geben Sie sich als arm aus. Trinken Sie nicht zuviel Pernod, ich war ein einziges Mal fürchterlich betrunken, und das war von Pernod. — Also passen Sie auf … Wir hatten eine herrliche Zeit! Soll ich Ihnen eine Geschichte erzählen? Sie ist ein bißchen gewagt, aber das macht Ihnen doch sicher nichts aus, solange sie nicht unappetitlich ist, nicht wahr? Um Geld zu sparen, bügelten wir unsere Hosen, indem wir sie unter die Matratze legten; dadurch erhielten sie eine rasiermesserscharfe Bügelfalte. Ich wohnte mit einem Musikstudenten zusammen, und eines Tages lud uns ein Professor zum Nachmittagstee ein — er, seine Frau und seine Tochter waren wirklich reizende Leute. Madame Bergeron stellte fest, wie elegant mein Freund angezogen sei, und bewunderte vor allem seine Bügelfalte. ›Danke vielmals, Madame‹, sagte er, ›Monsieur North und ich haben ein geheimes Verfahren entwickelt. Wir legen jede Nacht unsere Hosen unter unsere Maitresses.‹ Madame Bergeron lachte herzlich, warf die Hände in die Luft und korrigierte ihn dann lächelnd.«

Da war ein Dynamit-Wort. Charles war so überrascht, daß er zehn Minuten lang darüber nachdachte. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich den Schatten eines Lächelns auf seinem Gesicht.

Eines Morgens bestellte mir Charles eine Botschaft von seiner Mutter — Mrs. Fenwick lud mich zu einem zwanglosen Abendessen mit der Familie am darauffolgenden Sonntag ein.

»Charles, das ist reizend von Ihrer Mutter und von euch allen. Ich werde mich schriftlich bei ihr bedanken und ihr erklären, daß ich keine Einladungen annehme. Ich möchte, daß Sie meinen Brief lesen, wenn ich ihn geschrieben habe — ich weiß, daß Sie beide für meine Gründe Verständnis haben werden. Es fällt mir sehr schwer, die Einladung Ihrer Mutter abzulehnen. Charles, darf ich Ihnen im Vertrauen sagen: Ich komme in Newport durch meine Tätigkeit in viele Cottages und habe einige der berühmten Salondamen kennengelernt. Aber keine kann den Vergleich mit Ihrer Mutter in bezug auf Charme, Vornehmheit und was der Franzose ›race‹ nennt, aufnehmen. Dies unter uns. Man sagt immer, die Damen von Baltimore seien eine ganz besondere Klasse von Frauen, und jetzt weiß ich, daß es stimmt.« Dabei schlug ich ihm auf die Schulter. »Sie haben Glück, junger Mann. Hoffentlich zeigen Sie sich dieses Privilegs würdig. Ich könnte mir denken, daß Sie auf tausend verschiedene Arten nicht nur Ihrer Zuneigung, sondern auch Ihrer Bewunderung und Ihrer Dankbarkeit für eine so ungewöhnliche Mutter Ausdruck geben — wie übrigens alle französischen Söhne und — ich mußte es leider feststellen — keineswegs alle amerikanischen Söhne. Das machen Sie doch, nicht wahr, Charles?«

»Oui, oui, monsieur le professeur.«

»Gut, daß mir nicht Eloise die Einladung überbracht hat. Der Mann ist noch nicht geboren worden, der ihr eine Bitte abschlagen könnte.« Auf Englisch fügte ich hinzu: »Verstehen Sie, was ich meine?«

Ich sah ihm dabei tief in die Augen, er erwiderte den Blick.

»Ja«, sagte er, und zum erstenmal lachte er kurz. Er hatte verstanden.

Aber mir blieb noch eine Menge Arbeit.

___________

»Bonjour, Charles.«

»Bonjour, monsieur le professeur.«

»Heute beschäftigen wir uns mit dem Konditional, den Verben auf ›ir‹ und mit der zweiten Person Singular ›tu‹. Man benutzt diese Form im Gespräch mit Kindern, sehr nahen Freunden und Mitgliedern der Familie, doch bis 1914 sollen sogar Eheleute sich gegenseitig mit ›vous‹ angeredet haben. Sie sehen, daß ich Sie mit ›vous‹ anrede; sollten wir uns bis dahin nicht verzankt haben, so werde ich Sie in fünf Jahren mit ›tu‹ ansprechen. Gott wird im Französischen häufig, im Spanischen immer mit ›Tu‹ angeredet, wobei das T groß geschrieben wird. Liebende benutzen natürlich das ›tu‹; alle ihre Gespräche im Bett werden in der zweiten Person Einzahl geführt.«

Sofort ging die scharlachrote Flagge hoch.

Vierzig Minuten Grammatik-Drill.

Zehn Minuten nach neun. »Nun einige Konversationsübungen. Heute werden wir uns einmal von Mann zu Mann unterhalten. Zu diesem Zweck sollten wir uns lieber an den Tisch hinten in der Ecke setzen, damit uns niemand hört.«

Er schaute mich beunruhigt an, und wir begaben uns in die Ecke. »Charles, Sie sind doch in Paris gewesen. Sie werden dort gewiß beobachtet haben, wie nach Eintreten der Dunkelheit gewisse Mädchen, einzeln oder zu zweit, auf der Straße flanierten. Vielleicht haben Sie auch gehört, was sie aus Hauseingängen oder kleinen Seitenstraßen den vorbeigehenden Männern zuflüstern. Was pflegen sie zu sagen?«

Die scharlachrote Flagge wehte von der Mastspitze. Ich wartete. Endlich murmelte er mit erstickter Stimme: »Voulez-vous coucher avec moi?«

»Gut. Da Sie noch sehr jung sind, werden Sie vielleicht zu Ihnen sagen: ›Tu es seul, mon petit? Veux-tu que je t’accompagne?‹ Oder Sie sitzen allein an einer Bar, und eine von diesen petites dames hängt sich bei Ihnen ein: ›Tu veux m’offrir un verre?‹ Wie antworten Sie auf diese Frage, Charles? Sie sind Amerikaner und obendrein ein Gentleman, und Sie haben einige Erfahrungen auf diesem Gebiet.«

Charles war puterrot bis zu den Haarwurzeln. Ich wartete. Endlich entschloß er sich zu einem Wagnis: »Non, mademoiselle … merci!« Dann fügte er großzügig hinzu: »Pas ce soir.«

»Très bien, Charles! Könnten Sie es etwas leichter, etwas charmanter bringen? Diese armen Dinger müssen nämlich Geld verdienen. Sie sind nicht ausgesprochen arm, nein, das sind sie nicht. Sie haben ja etwas zu verkaufen. Sie sind keine verächtlichen Geschöpfe, jedenfalls nicht in Frankreich. Können Sie es noch einmal versuchen?«

»Ich … ich weiß nicht.«

»In der Schule, an der ich unterrichtete, gibt es einen Französischlehrer, er liebt Frankreich und geht jeden Sommer dorthin. Frauen haßt er, und er hat auch Angst vor ihnen, ein selbstgerechter, eingebildeter und ziemlich schrecklicher Mensch. In Paris schlendert er abends durch die Straßen, nur um diese Mädchen zu beleidigen. Er hat uns, seinen Kollegen, folgende Geschichte erzählt, als ein Musterbeispiel christlicher Moral. Wenn eines von diesen Mädchen ihn anspricht, dreht er sich um und sagt: ›Vous me faites ch-!‹ Das ist ein sehr ordinärer Ausdruck, viel schlimmer, als wenn man bei uns sagt: ›Sie sind zum Kotzen.‹ Das oder die Mädchen prallen entsetzt zurück und schreien: ›Pourquoi? Pourquoi?‹ Und er genießt seinen kleinen Triumph. Was halten Sie davon?«

»Ich finde es … ekelhaft.«

»Sehr sympathisch an Frankreich ist der in allen Kreisen und Schichten anzutreffende Respekt vor den Frauen. Ob zu Hause oder im Restaurant, der Franzose lächelt immer die Bedienung an und sieht ihr in die Augen, wenn er ›merci‹ sagt. In Frankreich flirtet jeder Mann mit jeder Frau — respektvoll — und umgekehrt jede Frau mit jedem Mann, ganz gleich, ob sie neunzig ist oder eine Prostituierte. Ich möchte jetzt mit Ihnen einen kleinen Einakter improvisieren. Sie gehen aus dem Zimmer, kommen wieder herein und geben vor, am Abend durch eine der berüchtigten Straßen hinter der Opera zu schlendern. Ich spiele eines von diesen Mädchen.«

Er tat, was ich ihm gesagt hatte und näherte sich mir, als ob er einen Käfig mit Tigern betreten sollte.

»Bonsoir, mon chou.«

»Bonsoir, mademoiselle.«

»Tu es seul? Veux-tu t’amuser avec moi?«

»Je suis occupé ce soir … Merci.«

Er warf mir einen unsteten Blick zu und fügte an: »Peut-être une autre fois. Tu es charmante.«

»O-là-là … Dis donc, une demie-heure, chéri. J’ai une jolie chambre avec tout le comfort américain. On s’amusera à la folie!«

Er drehte sich zu mir und fragte auf Englisch: »Wie komme ich aus dieser Geschichte wieder raus?«

»Ich schlage vor, daß Sie sich schnell, aber höflich aus dem Staube machen: ›Mademoiselle, je suis en retard. Il faut que je file. Mais au revoir!‹ Und dabei klopfen Sie ihr lächelnd auf den Arm oder auf die Schulter und sagen: ›Bonne chance, chère amie!‹«

Er wiederholte dies mehrmals und baute es auch noch aus. Dann fing er zu lachen an.

Theater ist wie ein Traum — Flucht, Befreiung.

Ich bemerkte, daß an den Tagen, die mit einer heftigen Aktivität im »Minenfeld« begannen, mein Schüler schneller, lebendiger reagierte. Er konnte lachen, er konnte über versteckte Bomben hinweg Schlittschuh laufen, und er konnte die Konversation durch Erinnerungen an seine eigene Vergangenheit bereichern. Außerdem arbeitete er zu Hause intensiv an seinen Grammatik-Aufgaben — und sein Teint besserte sich zusehends.

Hier der Bericht über eine Sitzung, die in der darauffolgenden Woche stattfand, nachdem wir noch einmal das Geschlecht und die Pluralformen von dreihundert gebräuchlichen Hauptwörtern durchexerziert hatten:

»Wir werden jetzt wieder einen Einakter improvisieren. Schauplatz: ein großes Pariser Restaurant, Le Grand-Véfour. Charles, Frankreich ist eine Republik. Was wurde aus der königlichen und der kaiserlichen Familie — den Bourbonen und Bonapartes? O ja, sie sind noch immer da. Wie nennen sie den König von Frankreich, der aber diesen Titel nicht benutzen und seine Krone nicht tragen darf? Sie nennen ihn Le Prétendeur, den Anwärter; er selbst nennt sich Le Comte de Paris. In diesem Einakter werden Sie ihn spielen. Man wird Sie mit Monseigneur und Votre Altesse anreden. In Ihren Adern fließt das Blut von Saint Louis, dem König und Heiligen, von Karl dem Großen — an den Ihr eigener Name erinnert — und von all den anderen Louis und Henris.«

Sein Gesicht lief rot an.

»Ihr Sekretär hat im Restaurant einen Tisch für das Diner reservieren lassen. Sie treffen pünktlich ein. Pünktlichkeit wird ›die Höflichkeit der Könige‹ genannt. Ihre drei Gäste sind vor Ihnen eingetroffen — so verlangt es die Etikette, und wehe dem Gast, der zu spät kommt. Sie sind sehr schön und geben sich mit vollendeter Grazie. Natürlich befindet sich das Personal in höchster Aufregung. Ich werde den Inhaber spielen — sagen wir Monsieur Véfour. Ich warte an der Tür. Der Portier steht auf der Straße und gibt mir ein geheimes Zeichen, wenn Ihr Wagen pünktlich um acht Uhr eintrifft. Sie steigen jetzt aus und kommen herein.«

Er tat es ganz benommen.

Ich verneigte mich und murmelte: »Bonsoir, Monseigneur. Vous nous faites un très grand honneur.«

Charles gab sich aus lauter Unsicherheit sehr hochnäsig. Er nickte leicht mit dem Kopf. »Bonsoir, monsieur … merci.«

»Einen Augenblick, Charles. Die Hocharistokratie und auch die Könige verkehren seit langem in einem Ton familiärer Vertrautheit mit anderen, einem Ton, der sogar den Präsidenten der Vereinigten Staaten überraschen würde. Drüben ist es nämlich so: je mehr einer gesellschaftlich darstellt, desto demokratischer benimmt er sich. Die Franzosen haben ein Wort für kalte, herablassende Überheblichkeit: morgue. Sie würden entsetzt sein, nehme ich an, wenn Ihre Untertanen, das große französische Volk, so verächtlich über Sie sprechen würde. Machen wir’s noch mal.« Wie ein Regisseur flüsterte ich ihm ein paar Anweisungen zu — Gänge, Bewegungen, Sätze. Dann machten wir es noch einmal. Er brachte jetzt auch eigene Ideen.

»Wollen Sie’s noch mal versuchen? Los! Tun Sie, was Ihnen gerade in den Sinn kommt, aber vergessen Sie nicht, daß Sie der König von Frankreich sind. Übrigens — wenn Sie mich begrüßen, dann schütteln Sie mir nicht die Hand, Sie klopfen mir auf die Schulter; aber wenn Sie meinen Sohn begrüßen, dann dürfen Sie ihm ruhig die Hand schütteln. Allons!«

Er betrat das Restaurant mit strahlendem Lächeln. Er übergab seinen imaginären Frackmantel und seinen Zylinder einer imaginären Garderobiere und sagte: »Bonjour, Mademoiselle. Tout va bien?«

Ich verbeugte mich und sagte: »Bonsoir, Monseigneur. Votre Altesse nous fait un très grand honneur!«

»Ah, Henri-Paul, comment allez-vous?«

»Très bien, Monseigneur, merci.«

»Et madame votre femme, comment vat-elle?«

»Très bien, Monseigneur, elle vous remercie.«

»Et les chers enfants?«

»Très bien, Monseigneur, merci.«

»Tiens! C’est votre fils? Comment vous appelez-vous, Monsieur? Frédéric? Comme votre grand-père! Mon grand-père aimait bien votre grand-père. — Dites, Henri-Paul, j’ai demandé des couverts pour trois personnes. Serait-ce encore possible d’ajouter un quatrième? J’ai invité Monsieur de Montmorency. Ça vous gênerait beaucoup?«

»Pas du tout, Monseigneur. Monsieur le Duc est arrivé et vous attend. Si votre Altesse aura la bonté de me suivre.«

Charles belebte sich; er errötete, aber es war eine andere Art von Erröten. »Monsieur le professeur … könnten wir Eloise bitten, sich das anzusehen? Sie sitzt dort und wartet auf mich.«

»Ja! Natürlich! Ich werde sie selbst einladen. Machen Sie’s gut, Charles! Sie können ruhig etwas übertreiben … Eloise, wir improvisieren hier einen kleinen Einakter. Wollen Sie Publikum spielen?«

Ich erklärte die Szene, den Plot und die auftretenden Personen.

Charles übertraf sich selbst. Während er mir die Hand auf die Schulter legte, erzählte er mir, wie seine Mutter ihn zum ersten Mal in dieses Restaurant mitnahm, als er zwölf Jahre alt war. Stimmt es, daß ich ein Gericht auf meiner Speisekarte nach seiner Mutter genannt hatte? Auf dem Weg zu seinem Tisch entdeckte er eine Freundin (Eloise) unter den Gästen. »Ah, Madame la Marquise … chère cousine!«

Eloise machte einen tiefen Knicks und murmelte: »Mon Prince!« Er hob sie auf und küßte ihr die Hand.

Am Tisch entschuldigte er sich bei seinen Gästen für sein Zuspätkommen. »Mes amis, les rues sont si bondées, c’est la fin du monde.«

Der Duc de Montmorency (ich) versicherte ihm, daß er absolut pünktlich gekommen sei. Und damit endete unser Theaterstück. Eloise hatte mit offenem Munde zugeschaut, sie fand gar nichts komisch daran. Sie stand langsam auf, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Sie umarmte ihren Bruder und küßte ihn sehr innig. Ich erhaschte von ihr nur einen Blick über seine Schulter hinweg, aber was für einen Blick! Sie konnte mich nicht sehen, aber ich sah sie.

»Charles«, sagte ich, »das nächste Mal prüfe ich Sie mit einem Text, der drei Jahre Französischunterricht voraussetzt. Ich bin überzeugt, daß Sie das Examen blendend bestehen und unser Unterricht zu seinem Ende kommt.«

»Ende?«

»Ja. Lehrer sind wie Vögel. Der Augenblick kommt, wo sie die Jungen aus dem Nest werfen müssen. Jetzt müssen Sie sich mit amerikanischer Geschichte und mit Physik beschäftigen, und darin kann ich Sie nicht unterrichten.«

Am darauffolgenden Freitag traf ich Eloise im Tea-Room. An diesem Morgen war sie weder eine Zehnjährige noch die Gräfin von Aquidneck und den angrenzenden Inseln. Sie erschien ganz in Weiß gekleidet; nicht dem Weiß der Tennisplätze, sondern dem Weiß des Schwans. Sie war eine andere geworden — nicht Julia, nicht Viola, nicht Beatrice —, vielleicht Imogen, vielleicht Isabella. Sie schob ihre Hand nicht in die meine, aber sie ließ keinen Zweifel an unserer echten Freundschaft. Sie ging mit gesenktem Kopf. Wir setzten uns an unsern Tisch hinten in der Ecke.

Sie murmelte: »Heute morgen möchte ich Tee haben.«

Ich bestellte Tee für sie und Kaffee für mich. Schweigen mit Eloise war ebenso ergiebig wie eine Unterhaltung.

»Gestern abend waren keine Gäste bei uns. Am Tisch schob Charles Mario beiseite und hielt den Stuhl für Mutter bereit. Er küßte sie auf die Stirn.« Sie sah mich lächelnd an. »Als er sich hinsetzte, sagte er: ›Papa, erzähl mir von deinem Vater, deiner Mutter und dir selbst, als du noch ein Junge warst.‹«

»Eloise! Und Sie wollten ihnen doch so gern von den Eskimos erzählen.«

»Nein, ich wollte sie über die Fenwicks und die Conovers ausfragen.«

Wir brachen beide in Gelächter aus.

»O Eloise, Sie Kind des Himmels!«

Sie sah mich erstaunt an. »Warum sagen Sie das?«

»Es ist mir so entfahren.«

Wir tranken schweigend, und dann fragte ich: »Eloise, wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor?«

Wieder sah sie mich verwundert an. »Sie sind heute morgen sehr seltsam, Mr. North.«

»Nein, das stimmt nicht. Ich bin noch derselbe alte Freund.«

Sie dachte einen Augenblick lang nach und meinte dann: »Ich werde Ihnen Ihre Frage beantworten. Aber Sie müssen mir versprechen, es niemandem weiterzusagen.«

»Ich verspreche es Ihnen, Eloise Fenwick.«

Sie legte ihre Arme auf den Tisch und schaute mir gerade in die Augen: »Ich möchte eine Nonne werden.«

Ich hielt den Atem an.

Sie beantwortete meine unausgesprochene Frage. »Ich bin Gott so dankbar für meinen Vater und für meine Mutter … und für Charles, für die Sonne und das Meer und für Newport, daß ich mein Leben in seine Hand legen möchte. Er wird mir zeigen, was ich tun soll.«

Ich sah sie ebenso ernst an. »Eloise, ich stamme aus einer alten protestantischen Familie. Verzeihen Sie, daß ich Sie etwas frage: Können Sie Gott Ihre Dankbarkeit nicht außerhalb eines religiösen Ordens bezeugen?«

»Ich liebe meine Eltern so sehr … und ich liebe Charles so sehr, daß ich fürchte, diese Gefühle würden zwischen mich und Gott treten. Ich möchte Ihn über alles lieben, und ich möchte jeden auf Erden ebenso lieben wie meine Familie, die ich allzusehr liebe.«

Tränen liefen ihr über das Gesicht.

Ich rührte mich nicht.

»Pater Walsh weiß es. Er sagte mir, ich solle noch warten. Tatsächlich muß ich noch drei Jahre warten. Mr. North, dies ist das letzte Mal, daß wir uns hier treffen. Ich lerne jetzt beten, und wo immer in der Welt ich sein werde, werde ich für Papa und Mama und für Charles und für Sie beten und« — sie zeigte auf Gäste im Tea-Room — »für so viele Kinder des Himmels, wie mein Geist und mein Herz fassen können.«

Während der noch verbleibenden Sommermonate kreuzten sich unsere Wege des öfteren. Eloise löste sich allmählich von der Liebe zu ihrer Familie — und auch von ihren Freundschaften —, um uns alle in ein großes Opfer einzubeziehen, das ich nicht verstehen konnte.

Myra

Kurz bevor ich — Mitte Juli etwa — in meine Wohnung einziehen konnte, wurde ich im CVJM ans Telephon gerufen.

»Mr. North?«

»Ja, ich bin Mr. North.«

»Mein Name ist George Granberry. Eigentlich sollte ich sagen: George Francis Granberry, denn ich habe noch einen Cousin hier in der Stadt, George Herbert Granberry.«

»Ja, Mr. Granberry?«

»Man hat mir erzählt, daß Sie vorlesen — englische Literatur und so.«

»Ja, das stimmt.«

»Ich möchte gerne, daß Sie meiner Frau vorlesen. Könnten wir das besprechen? Meine Frau ist krank; sie muß diesen Sommer über viel liegen, und es würde ihr … sozusagen … ein bißchen die Zeit vertreiben. Wo könnten wir uns treffen?«

»Wie wäre es heute oder morgen abend an der Bar des Hotels Muenchinger-King um sechs Uhr fünfzehn?«

»Gut. Heute abend im M-K um sechs Uhr fünfzehn.«

Mr. Granberry war etwa fünfunddreißig, für Newport ein junger Mann. Er gehörte in die Kategorie von Menschen, die Journalisten wie Flora Deland mit »sportive Lebemänner« bezeichnen. Er sah entsprechend gut aus, obwohl sein Gesicht seltsam zerfurcht war. Erst dachte ich, er habe offenbar schon in früher Jugend Wind und Wasser getrotzt — Segelregatten, Bermuda-Pokal und dergleichen; aber später beschloß ich, daß Zimmerluft zu Lande dieses Resultat gezeitigt hatte. Er besaß das Zeug zu einem liebenswerten Burschen, aber Müßiggang und Ziellosigkeit hatten ihn zerfressen. Ich hatte den Eindruck, daß das bevorstehende Interview mit dem »Professor« ihn schüchtern und unsicher machte — und daß er getrunken hatte. Er lud mich zu einem Drink ein. Ich entschied mich für ein Bevo, und wir zogen uns auf einen Fensterplatz zurück, von dem aus man Bellevue Avenue und die Leseräume überblicken konnte.

»Mr. North, meine Frau ist eine hochintelligente Frau. Schlagfertig wie eine Peitsche. Sie kann Sie um und um reden — wenn Sie verstehen, was ich meine. Leider hatte sie als Mädchen einen Unfall. Fiel vom Pferd. Mußte die Schule ein paar Jahre aufgeben. Die Lehrer unterrichteten sie zu Hause — furchtbar langweilige Menschen, Sie verstehen, wie Lehrer nun mal sind. — Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, seitdem haßt sie Bücher. Oder, um ihre eigenen Worte zu gebrauchen, sie kann den Unsinn nicht leiden. — ›Die drei Musketiere‹ und Shakespeare und all das Zeug. Sie ist sehr realistisch. Dabei hat sie es gern, wenn man ihr vorliest; aber nicht zu lange. Ich habe ihr vorzulesen versucht, und ihre Krankenschwester, Mrs. Cummings auch, doch nach zehn Minuten sagt sie, daß sie sich lieber unterhalten möchte … Wo war ich doch gleich stehengeblieben? Ach ja, wegen ihres abgebrochenen Schulbesuchs schneidet sie in der Unterhaltung nicht immer so gut ab, wie sie es verdient. Sie kennen dieses ›Ich hasse-Shakespeare‹-Gerede und ›Poesie ist etwas für Schafe‹ … Newport ist voll von Granberrys, die das für schlechte Erziehung und für finsterste Provinz halten. Mir und meiner Mutter ist das etwas peinlich, ebenso meinen vielen Cousins und Cousinen … Wie ich Ihnen schon sagte, im Augenblick muß sie viel liegen. Sie hat den Fall vom Pferd ganz gut ausgeheilt, aber sie hat zwei Fehlgeburten gehabt. In etwa sechs Monaten erwarten wir wieder ein Kind. Die Ärzte haben ihr am Morgen ein wenig Bewegung erlaubt und auch Einladungen zum Essen an ein paar Abenden in der Woche, doch die Nachmittage muß sie auf dem Sofa zubringen. Das ist natürlich sehr langweilig für sie. Zweimal in der Woche hat sie Bridgeunterricht, aber es macht ihr keinen Spaß … und ein Französischlehrer kommt auch noch.«

Es entstand eine Pause. Ich fragte: »Hat sie Freunde, die sie besuchen?«

»In New York ja, hier nicht. Sie unterhält sich furchtbar gern, aber sie findet, daß in Newport nur die anderen reden. Sie hat den Arzt gebeten, alle Besuche zu verbieten, außer mir. Ich liebe Myra, aber ich kann nicht alle Nachmittage ihr unausgesetzt zuhören. Und es sind gerade diese Nachmittage, die ihr auf die Nerven gehen … Übrigens bin ich ein Erfinder mit einem Laboratorium in Portsmouth. Das nimmt meine Zeit ziemlich in Anspruch.«

»Ein Erfinder, Mr. Granberry?«

»Oh, ich pfusche so ein bißchen herum. Gewisse Ideen, die ich habe. Hoffentlich sind sie eines Tages erfolgreich … Bis dahin halte ich alles geheim. So … äh … wären Sie bereit, ihr vorzulesen, sagen wir, dreimal in der Woche nachmittags von vier bis sechs?«

Ich nahm mir Zeit. »Mr. Granberry, darf ich mir eine Frage erlauben?«

»Aber natürlich.«

»Ich nehme nie einen Schüler, bevor ich nicht Gewißheit habe über seine Mitarbeit. Ich kann bei gleichgültigen oder widerspenstigen Schülern nichts erreichen. Glauben Sie, daß Mrs. Granberry sich über mich so ärgern wird wie über ihren Bridgelehrer?«

»Ich sage Ihnen ganz offen — es ist ein Risiko. Aber meine Frau ist inzwischen älter geworden, siebenundzwanzig. Sie weiß, daß sie etwas versäumt hat und daß einige Damen denken, sie wäre … nun ja … ungebildet. Myra ist nicht dumm … o nein! Sie ist energisch und aufrichtig. Wenn man sie vor ein Hinrichtungskommando stellte, und sie könnte sich mit dem Aufzählen von Shakespeare-Stücken retten, so würde sie sagen: ›Schießt los!‹ Sie kann Shakespeare wirklich nicht ausstehen. Sie hält ihn für reinen Quatsch. Ich mehr oder weniger auch, aber ich halte wenigstens den Mund. Sie stammt aus Wisconsin, und da läßt sich niemand von niemandem dreinreden.«

»Ich stamme auch aus Wisconsin.«

»Sie stammen auch aus Wisconsin?«

»Ja.«

»Sie sind ein Dachs!«

Alle Staaten haben ihre Totems, aber die Staaten des Mittelwestens verehren ganz besonders die Tiere, mit denen man sie identifiziert.

»Das ist eine gute Empfehlung. Myra ist sehr stolz auf ihre Herkunft. Ach, das ist aber schön! Werden Sie es mit ihr versuchen?«

»Ja, aber unter einer Bedingung. Sobald das Interesse von Mrs. Granberry erlahmt oder sie ungeduldig wird, höre ich auf.«

»Ich wäre Ihnen schrecklich dankbar dafür. Zu Anfang müssen Sie mit ihr noch etwas Geduld haben!«

»Gewiß.«

Wir machten einen Stundenplan. Ich dachte bereits, es sei alles erledigt, da hatte er noch etwas auf dem Herzen.

»Wollen Sie nicht noch ein Bevo, Mr. North? Oder vielleicht etwas Stärkeres? Bestellen Sie sich, was Sie wollen. Ich bin Mitinhaber dieses Hotels.«

»Danke vielmals. Ich nehme noch ein Bevo.«

Es wurde gebracht.

»Einer der Gründe für meine Bitte, mich bei Myras Bildung zu unterstützen, war Ihr Verhalten in der Diana-Bell-Affaire.« Ich gab mir den Anschein, seine Worte zu überhören. »Sie hatten sich doch verpflichtet, nichts darüber verlauten zu lassen, und keine zehn Pferde haben auch nur ein Wort aus Ihnen herausgeholt. In Newport wird bloß geredet und geredet — Klatsch, gottverdammter Klatsch. Kann ich mit Ihnen dieselbe Vereinbarung treffen?«

»Natürlich. Ich spreche nie über meine Arbeitgeber.«

»Ich meine: Sie treffen mich wahrscheinlich hier und auch in meinem Hause wieder. Sind Sie nicht einer Freundin von mir bei einer Dinnerparty begegnet, einem reizenden Mädchen? Es hat ihr solchen Spaß gemacht, mit Ihnen Französisch zu sprechen.«

»Ich habe in Newport an keiner einzigen Dinnerparty teilgenommen, ich war nur bei Bill Wentworth.«

»Es war nicht hier, sondern in Narragansett-Pier, bei Flora Deland.«

»Ach, Miß Desmoulins, eine sehr charmante, junge Dame.«

»Sie werden ihr dort vielleicht wiederbegegnen. Ich habe Sie leider zweimal bei Flora Deland verpaßt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nichts erwähnten … in gewissen Kreisen … verstehen Sie, was ich meine?«

»Um noch einmal auf Wisconsin zurückzukommen: Haben Sie dort Ihre Frau kennengelernt?«

»Großer Gott, nein! Sie lebte weit weg, im Norden, in der Nähe von Wausau. Bin nur einmal in meinem Leben in jener Gegend gewesen, ein paar Tage vor der Hochzeit. Begegnete ihr auf Parties in Chicago — wir haben beide dort Verwandte.«

Die Unterhaltung torkelte einher wie ein steuerloses Schiff. Als ich gehen wollte, schaute er noch einmal aus dem Fenster und sagte: »Ah, da ist sie!« Ein Wagen war vorgefahren; der Chauffeur stieg aus und öffnete den Schlag. Bis auf ihren weißen Strohhut war sie ganz in Rosa gekleidet, von dem Schleier, der ihr Gesicht verhüllte, bis hinunter zu den Fußspitzen.

Er murmelte mir zu: »Sie gehen zuerst«, und ich öffnete die Eingangstür. Französische Frauen werden von der Wiege auf dazu erzogen, sich überrascht und aufs höchste entzückt zu zeigen bei der Begegnung mit einem Mann, irgendeinem ihnen bekannten Mann zwischen zwölf und neunzig.

»Ah, Monsieur North, quel plaisir de vous revoir. Je suis Denise Desmoulins …« etcetera. Ich drückte bewegt meine Bewunderung aus für ihr Aussehen, etcetera, und wir schieden, indem wir überschwenglich unserer Hoffnung Ausdruck gaben, uns bald am Narragansett-Pier wiederzusehen.

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Am vereinbarten Nachmittag radelte ich zu den »Marmorklippen« und wurde in Mrs. Granberrys »Nachmittagssalon« geführt. Die Lady, schön wie der Morgen, aber keineswegs so scheu wie die Morgenröte, lag auf einer Chaiselongue. Neben ihr saß eine untersetzte, bäuerlich anmutende Krankenschwester und strickte.

»Guten Tag, Mrs. Granberry. Ich bin Mr. North. Mr. Granberry hat mich zum Vorlesen engagiert.«

Die Lady starrte mich erstaunt, und wahrscheinlich sogar wütend, an und schwieg. Ich hatte zwei Bücher mitgebracht, die ich auf den Tisch neben mir legte. »Wollen Sie die Freundlichkeit haben, mich dieser Dame vorzustellen?«

Dies war die zweite Überraschung. Sie murmelte: »Mrs. Cummings, Mr. North.«

Ich ging auf Mrs. Cummings zu und gab ihr die Hand. »Sind Sie auch aus Wisconsin, Mrs. Cummings?« fragte ich.

»Nein, ich bin aus Boston.«

»Lesen Sie auch so gern?«

»Leidenschaftlich gern, aber ich habe leider nicht genug Zeit.«

»Ich nehme an, daß Ihre Patienten — sobald sie sich besser fühlen — sich gerne vorlesen lassen. Wählen Sie etwas Leichtes, Amüsantes?«

»Wir müssen da sehr vorsichtig sein. Als wir ausgebildet wurden, erzählte uns die Oberin von einer Schwester, die einem Frischoperierten ›Mrs. Wiggs vom Kohlfleck‹ vorgelesen hatte. Er mußte noch einmal genäht werden. Diese Geschichte dient als warnendes Beispiel.«

»Es ist ein sehr komisches Buch. Ich kenne es gut.«

Nun mußte ich wohl der Dame des Hauses meine Aufmerksamkeit zuwenden. »Mrs. Granberry, ich möchte Ihnen nichts Langweiliges vorlesen, und gewiß wollen Sie auch nichts Langweiliges hören. Ich schlage also vor, daß wir einige Spielregeln festlegen …«

Sie unterbrach mich heftig. »Was alles hat Ihnen Mr. Granberry gesagt, als er Sie zum Vorlesen engagierte?«

»Er hat gesagt, Sie seien eine sehr gescheite junge Frau, die ein oder zwei Schuljahre wegen eines Unfalls versäumt hat; ferner, daß Sie während Ihrer Rekonvaleszenz Lehrer hatten, die mit ihrem Routine-Unterricht in Ihnen ein Vorurteil gegen Dichtungen und die sogenannten ›Klassiker‹ erzeugten.«

»Was hat er Ihnen noch gesagt?«

»Ich kann mich an nichts anderes erinnern, doch er machte sich Sorgen, weil Ihnen am Nachmittag jede Anregung fehlt.«

Sie sah mich streng an. »Was für ›Spielregeln‹ wollen Sie festlegen?«

»Ich schlage vor, daß ich Ihnen aus einem Buch vorlese, und Sie lassen mich, ohne Unterbrechung, eine Viertelstunde lang lesen. Dann sehe ich Sie an. Sie geben mir durch ein Zeichen zu verstehen, ob ich noch eine Viertelstunde weiterlesen oder mit irgendeinem neuen Buch anfangen soll. Finden Sie das eine vernünftige Regelung, gnädige Frau?«

»Sagen Sie nicht ›gnädige Frau‹ zu mir. Im übrigen möchte ich Ihnen eins klarmachen, Mr. West — etwas an dieser Geschichte gefällt mir ganz und gar nicht. Ich lasse mich nicht für dumm verkaufen.«

»Dann«, sagte ich und erhob mich schnell, »muß es sich um ein Mißverständnis handeln. Darf ich mich von Ihnen verabschieden? Mr. Granberry hat mir zu verstehen gegeben, daß Sie am Vorlesen Vergnügen finden könnten.« Ich schüttelte Mrs. Cummings die Hand. »Auf Wiedersehen, Mrs. Cummings. Vielleicht treffen wir uns wieder einmal. Bitte erinnern Sie sich meiner als Mr. North, nicht als Mr. West.«

Die Dame des Hauses sagte scharf: »Mr. North, es ist nicht Ihre Schuld, daß mir das Ganze nicht gefällt. Mr. Granberry hat Sie gebeten hierherzukommen und mir vorzulesen, setzen Sie sich also bitte hin und fangen Sie an. Ich bin mit Ihren ›Spielregeln‹ einverstanden.«

Ich setzte mich hin und begann zu lesen: »Emma Woodhouse, hübsch, klug und reich, mit einem behaglichen Heim und einer glücklichen Veranlagung, war vom Schicksal mit vielen Segnungen bedacht worden; sie hatte fast einundzwanzig Jahre mit nur wenig Anlaß zur Unruhe und Besorgnis auf dieser Welt zugebracht …«

»Verzeihen Sie, Mr. North. Könnten Sie das bitte noch einmal lesen?«

Ich gehorchte.

»Wer hat das geschrieben?«

»Jane Austen.«

»Jane Austen. Sie hat keine Ahnung vom Leben.«

»Finden Sie das alles unglaubhaft, Mrs. Granberry?«

»Einundzwanzig! Ich war nicht häßlich, ich war nicht dumm, mein Vater war der reichste Mann in Wisconsin. Ich hatte ein behagliches Heim und die Veranlagung eines Engels. Mit dreiundzwanzig war mein Leben größtenteils die Hölle gewesen. Verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, Mrs. Cummings. Ich war nur glücklich auf dem Rücken eines Pferdes, und dann die vier Tage im Zirkus, als ich von zu Hause ausgerissen war. Fragen Sie jede x-beliebige Frau, wenn sie ehrlich ist, wird sie Ihnen dasselbe sagen … Aber ich habe mich verpflichtet, Sie eine Viertelstunde lesen zu lassen. Ich halte mich an unsere ›Spielregeln‹. Was kommt jetzt?«

Mir war nicht ganz behaglich zumute. Jane Austen zeigt, daß jedes Mädchen, das nicht auf den Kopf gefallen ist, sich im Leben schwertut. Ich las weiter. Meine Zuhörerin ließ es nicht an Aufmerksamkeit fehlen. Als wir Miß Bates und ihre Mutter kennenlernten, murmelte sie: »Warum schreibt man über solche alten Idioten? Nichts als Zeitverschwendung.«

Um vier Uhr fünfunddreißig sah ich auf und bekam die Erlaubnis, fortzufahren. Um sechs Uhr machte ich das Buch zu und stand auf.

»Danke«, sagte sie. »Das nächste Mal nehmen Sie bitte ein neues Buch. Es ist der Anfang, der mich wahnsinnig macht. Wenn ich ihn hinter mir habe, kann ich allein weiterlesen. Ist es ein dickes Buch?«

»In dieser Ausgabe zwei Bände.«

»Lassen Sie sie hier und bringen Sie das nächste Mal etwas anderes mit.«

»Ich möchte mich jetzt verabschieden, Mrs. Granberry.«

Ich verabschiedete mich, auch von Mrs. Cummings, die leise zu mir sagte: »Sie lesen wunderbar. Ich mußte lachen. War das falsch?«

An unserem nächsten Nachmittag war Mrs. Granberry schon etwas liebenswürdiger. Zum ersten Mal gab sie mir die Hand. »Handeln alle diese Austen-Bücher von Schwachsinnigen?«

»Es heißt, daß Jane Austen von Frauen und Männern keine sehr hohe Meinung hatte.«

»Sie sollte ein paar Leute kennen, die ich kenne. Wie heißt das neue Buch?«

»›Daisy Miller‹. Es wurde von einem Mann geschrieben, der in seiner Jugend in Newport lebte.«

»In Newport? In Newport?«

»Ja, nicht weit von diesem Haus.«

»Warum hat er dann Bücher geschrieben?«

»Verzeihung?«

»Wenn er so reich war, warum machte er sich die Arbeit mit dem Schreiben?«

Ich antwortete nicht gleich. Ich sah ihr gerade in die Augen. Sie errötete ein wenig. »Nun«, sagte ich langsam, »ich glaube, er hatte es satt, Eisenbahnen zu kaufen und zu verkaufen, Hotels zu bauen und sie nach seiner Familie zu benennen, er hatte es satt, in Saratoga Springs zu spielen, auf Pferde zu setzen, mit seiner Segelyacht immer dieselben Häfen anzulaufen, auf Dinnerparties und Bällen immer wieder dieselben Leute zu treffen. Also sagte er sich: ›Bevor ich sterbe, möchte ich tun, was mir wirklich Spaß macht, verdammt nochmal!‹ — verzeihen Sie meine Ausdrucksweise, Mrs. Cummings — ›Und ich werde niederschreiben, wie sich die Menschen in dieser Welt benehmen. Die Dicken und die Dünnen, die Glücklichen und die Unglücklichen.‹ Er schrieb und schrieb — über vierzig umfangreiche Bände über Männer, Frauen, Kinder. Sein letztes Buch — das bei seinem Tod unvollendet auf dem Schreibtisch lag — war ein Roman, der in Newport spielt, ›Der Elfenbeinturm‹, er handelt von der Leere und Sinnlosigkeit des hiesigen Lebens.«

Sie sah mich an, halb ärgerlich, halb erstaunt. »Mr. North, wollen Sie mich zum besten halten?«

»Nein, gnädige Frau. Von Mr. Granberry weiß ich, daß Sie sich oft ins falsche Licht setzen — mitunter sagen Sie aus lauter Langeweile das erstbeste, was Ihnen durch den Kopf fährt. ›Ich habe nur mit einer Feder vor deiner Nase gewedelt‹, wie wir in Wisconsin zu sagen pflegen …«

Sie kämpfte mit sich selber und gab mir dann ein Zeichen zu beginnen. Nachdem sie mir eine Stunde zugehört hatte, sagte sie: »Entschuldigen Sie, aber ich bin heute sehr müde. Ich werde das allein beenden. ›Emma‹ habe ich ausgelesen, das kann ich Ihnen gleich zurückgeben. Ist es teuer, ein Buch aus der Bibliothek auszuleihen?«

»Nein, es kostet nichts.«

»Wie, da kann jeder einfach hineingehen und Bücher mitnehmen? Wird da nicht viel gestohlen?«

»Im Winter werden jede Woche beinahe dreitausend Bände ausgegeben und zurückgenommen. Vielleicht gehen einige auch verloren.«

»Im Winter? Aber im Winter ist doch niemand hier?«

»Mrs. Granberry, Sie machen wirklich zu wenig von sich her.«

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Am Ende der zweiten Woche hatten wir den Anfang von »Ethan Frome« gelesen, die Autorin hatte drei Sommer lang ein Cottage in der Nachbarschaft bewohnt, den Anfang von »Jane Eyre«, von »Das Haus der Sieben Giebel« und von »David Copperfield«. Sie äußerte sich kaum über das Gelesene, aber die Leiden des jungen David erschreckten sie. Sie dachte an den Sohn, den sie erwartete. »Natürlich waren die Leute sehr arm«, fügte sie hinzu, als wollte sie die Sache von sich schieben. Ich fixierte sie einen Augenblick. Wieder errötete sie, wahrscheinlich fiel ihr ein, daß die Tochter des reichsten Mannes in Wisconsin ihre eigene Jugend als die reine Hölle bezeichnet hatte. Sie erwiderte meinen starren Blick, um ihre fehlerhafte Logik zu überspielen. Ich zweifelte, ob sie wirklich alle diese Bücher zu Ende gelesen hatte, und fragte Mrs. Cummings, als ich einen Augenblick mit ihr allein war.

»Mr. North, sie liest die ganze Zeit. Sie ruiniert sich die Augen.«

»Aber Sie erfahren nie, wie die Geschichten ausgehen.«

»Sie erzählt mir den Schluß. Es ist so spannend wie ein Film! Jane Eyre! Was der alles zustößt! Sagen Sie, ist das eine wahre Geschichte?«

»Sie wissen mehr vom Leben als ich, Mrs. Cummings. Könnte es eine wahre Geschichte sein?«

»Mr. North, ich habe noch Schlimmeres erlebt.«

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Als wir uns eines Tages auf den langen Atem von »Tom Jones« einließen, klopfte es an der Tür: zum erstenmal stattete uns Mr. Granberry einen Besuch ab.

»Kann ich hereinkommen?« Er küßte seine Frau, schüttelte mir die Hand und begrüßte Mrs. Cummings. »Nun, Myra, wie geht’s denn?«

»Sehr gut, Lieber.«

»Was liest du?«

»Das Buch heißt ›Tom Jones‹.«

Vage Erinnerungen an seine College-Zeit tauchten in ihm auf. Er wandte sich an Mrs. Cummings. »Äh … äh … ist das eine geeignete Lektüre für … ich meine … äh … eine Dame?«

»Sir«, sagte Mrs. Cummings mit unerschütterlicher Schwestern-Autorität, »falls in einem Buch etwas Unpassendes auftauchen sollte, würde ich Mr. North bitten, es unverzüglich in die Bibliothek zurückzutragen. Die Hauptsache ist doch wohl Mrs. Granberrys echtes Interesse. Beim Vorlesen wird sie nie gereizt. Und ich mag es gar nicht, wenn sie gereizt ist.«

»Ich werde mich jetzt für zehn Minuten hier hinsetzen. Tun Sie so, als ob ich nicht da wäre. Verzeihen Sie die Störung, Mr. North.« Mr. Granberry nahm einen Stuhl, trug ihn in die Ecke des Zimmers, schlug seine zwei langen Beine übereinander und stützte den Kopf in die Hand, als lauschte er einer schwierigen philosophischen Vorlesung — wie damals im Dartmouth College. Er blieb eine Viertelstunde. Dann stand er auf und entfernte sich, den Finger an die Lippen gelegt. Danach kam er einmal in der Woche wieder und konnte kaum die Augen offen halten. Myra las den ganzen »Tom Jones« an einem langen Weekend aus, ließ sich aber nicht zu irgendeinem Kommentar über das Gelesene bewegen.

An einem anderen Tag erschien ich mit »Walden« unter dem Arm.

»Guten Tag, Mr. North … Danke, es geht mir gut … Mr. North, Sie haben eine Regel eingeführt … die Fünfzehn-Minuten-Regel. Ich möchte ebenfalls eine Regel einführen: nach den ersten fünfundvierzig Minuten legen wir eine Pause ein und unterhalten uns.«

»Wie Sie wünschen, Mrs. Granberry.«

Auf dem Tisch neben ihr stand eine vergoldete Uhr, und um dreiviertel fünf unterbrach sie mich. »Unterhaltungspause. Was meinten Sie denn vor zwei Wochen, als Sie von der Leere und Sinnlosigkeit des Lebens in Newport sprachen?«

»Das waren nicht meine eigenen Worte, sondern die von Henry James. Ich habe nur berichtet.«

»In Wisconsin machen wir keine Ausflüchte. Sie haben es so gesagt und genauso gemeint.«

»Ich kenne Newport nicht gut genug, um mir ein Urteil darüber zu erlauben. Ich bin erst seit ein paar Wochen hier und noch ein Außenstehender. Ich komme und verschwinde auf meinem Fahrrad. Die meisten meiner Schüler sind Kinder.«

»Keine Ausflüchte. Sie müssen etwa achtundzwanzig Jahre alt sein und haben ein Studium hinter sich. In Newport suchen Sie Dutzende von Cottages auf, sitzen die halbe Nacht in den ›Neun Giebeln‹ oder betrinken sich auch an der Bar vom Muenchinger-King. Laufen Sie meinen Fragen nicht davon.«

»Mrs. Granberry …«

»Sagen Sie nicht wieder gnädige Frau und auch nicht Mrs. Granberry, sondern Myra.«

Ich sagte laut: »Mrs. Granberry, ich habe es mir zur Regel gemacht, daß ich in allen Häusern, in denen ich arbeite, nur Familiennamen benutze, und ich wünsche, ebenso angesprochen zu werden.«

»Ach, Sie und Ihre Regeln! Wir sind von Wisconsin! Seien Sie kein steifer Neu-Engländer. Seien Sie keine ausgestopfte Eule.«

Wir funkelten einander an. Ich wartete.

»Theophilus, ich verspreche Ihnen, Sie nicht zu unterbrechen, wenn Sie uns Ihr Leben in Newport schildern — Ihre Freunde, auch Ihre Freuden, Ihre Feinde — und ob Sie Geld verdienen.«

»Das steht nicht in meinem Vertrag, und ich mag das gar nicht, aber ich werde gehorchen. Sollte ich Namen nennen, so sind es erfundene Namen. Ich wohne im CVJM und spare Geld für eine kleine Wohnung. Ich mache nicht leicht Freunde, aber zu meiner Überraschung habe ich in Newport bereits ein paar sehr wertvolle gefunden.« Ich erzählte ihr von dem Leiter des Casinos, von dem beschäftigungslosen Butler »Eddie« (der genauso sprach wie gewisse Figuren in »David Copperfield«), von meinen Tennisschülern, darunter das Mädchen »Anemone«, das den Mädchen in Shakespeares Stücken zum Verwechseln ähnlich war, und auch von Mrs. »Willoughbys« Dienstboten-Pension. Ich lobte »Mrs. Willoughbys« Generosität und ihr ausgeprägtes Gefühl für Schicklichkeit. Am Schluß sah ich Tränen in Myras Augen. Es trat eine Pause ein.

»O Cora, wäre ich doch ein Dienstmädchen und würde in Mrs. Willoughbys Pension wohnen. Ich wäre ja so glücklich. Mein Baby würde sanft und unkompliziert geboren wie ein Lamm … Theophilus, könnten Sie nicht Cora und mich zu Mrs. Willoughby mitnehmen?«

»Mrs. Granberry«, sagte Cora abweisend, »ich bin eine approbierte Krankenschwester. Ich darf so etwas nicht machen.«

»Aber Sie begleiten mich doch zu Dinner-Parties.«

»Ja, ich sitze oben, bis Sie gehen.«

»Myra«, sagte ich ruhig, »es geht leider nicht. Die Leute möchten unter sich bleiben.«

»Ich würde kein Wort reden. Aber es wäre gut für mein Baby, wenn ich einfach dasitze und zuschaue.«

Ich nickte und sagte: »Schluß der Unterhaltungspause.«

Bei der Unterhaltungspause des nächsten Lesenachmittags bat ich Myra, mir ihre Freunde, auch ihre Freuden und dann ihre Feinde zu schildern. Sie dachte einen Augenblick lang nach. Ihr Gesicht verdüsterte sich.

»Ich werde älter. Ich warte auf mein Baby. Morgens frühstücke ich, dann kommt der Arzt und fragt, ob ich brav gewesen bin. Dafür bekommt er zehn Dollar. Wenn die Sonne scheint, gehe ich mit Cora an Baileys Strand. Wir sitzen eingemummt in einem geschützten Eckchen, so daß ich nicht mit den Leuten zu sprechen brauche. Da sitzen wir und sehen uns die vorbeischwimmenden Stiefel und Apfelsinenkisten an.«

»Verzeihung?«

»Meinem Vater gehören Hunderte von Seen. Wenn einer so verschmutzt wäre wie Baileys Strand, würde er ihn trocken legen und Bäume anpflanzen. Was tun wir dann, Cora?«

»Sie gehen zu Lunch-Parties.«

»Richtig, ja ich gehe zu Lunch-Parties. Damen. Männer sind nur an Sonntagen anwesend, und alle heißen Granberry. An Wochentagen bleiben die Damen immer sitzen und spielen Karten. Ich darf früher nach Hause, weil ich nach dem Essen schlafen muß und mich in einem ›anderen Umstand‹ befinde, wie die Lady in ›Jane Eyre‹. Dann kommen meine verschiedenen Lehrer. Ein paar Abende in der Woche bin ich eingeladen und sehe wieder dieselben Leute — wie Ihr Henry James schon sagte. Dann gehe ich wieder früh nach Hause und lese, solange Cora es erlaubt. Und sonst weiß ich nicht, was ich Ihnen noch erzählen soll.«

Ich wandte mich an Mrs. Cummings. »Darf ich fragen, was Sie in Ihrer freien Zeit machen?«

Sie sah mich unsicher an. Ich nickte und vielleicht zwinkerte ich ihr auch zu.

»Ich habe eine alte Freundin in Newport, Miß O’Shaughnessy, wir sind zusammen ausgebildet worden. Sie ist Oberschwester im Krankenhaus. Jeden Donnerstag um sechs Uhr läßt mich Mrs. Granberry freundlicherweise vom Chauffeur in das Krankenhaus fahren. Und Miß O’Shaughnessy, ich und manchmal noch ein paar andere Freundinnen gehen zum Abendessen in ein Restaurant am Klippenweg. Wir erzählen uns Geschichten aus unserer Ausbildungszeit. Und da wir nicht im Dienst sind, Mr. North, trinken wir auch einen Schluck Old Irish Whiskey und lachen viel. Ich weiß nicht warum, aber Schwestern lachen meistens, wenn sie nicht Dienst haben. — Am Sonntagmorgen gehen wir zu viert in die Messe. Ob Regen oder Sonnenschein — wir gehen gern zu Fuß. Aber ich bin immer froh, wenn ich wieder in dieses Haus zurückkehre, Mrs. Granberry.«

Myra sah sie unverwandt an. »Ich kenne Miß O’Shaughnessy. In meinem zweiten Sommer hier in Newport hat George erlaubt, daß ich dem Verein der ›Freiwilligen Helferinnen‹ im Krankenhaus beitrete. Ich fand die Arbeit herrlich. Später mußte ich sie aufgeben — ein Verbot meines Arztes. Ich hoffe, Miß O’Shaughnessy erinnert sich noch an mich. Ich hoffe, sie hat mich gern gehabt. Könnte ich nicht an einem Donnerstagabend mitgehen?« Schweigen. »Ich sehe keinen Menschen, der mir wirklich Spaß macht. Ich sehe keinen Menschen, den ich wirklich mag. Ich lache nie, das stimmt doch, Cora?«

»Mrs. Granberry, Sie vergessen, wie sehr Sie lachen können und wie Sie mich zum Lachen bringen. In der Küche fragen sie mich oft: Worüber lachen Sie mit Mrs. Granberry den ganzen Tag?«

»Myra«, sagte ich, mit einem Anflug von Strenge, »Cora hätte nichts von ihrer Freizeit, wenn sie am Donnerstagabend zusammen weggehen. Sie essen ja sowieso an vielen Abenden miteinander.«

»Es muß nicht unbedingt ein Donnerstagabend sein. Ich habe noch meine Helferinnentracht. Mr. North, würden Sie bitte dort die Glocke für mich läuten?« Ein Mädchen erschien. »Bitten Sie Madeleine, die Helferinnentracht herunterzubringen und unten im Ankleideraum zurechtzulegen. Nicht die Schuhe und Strümpfe. Aber die Haube möchte ich unbedingt haben. Danke sehr. Sie haben mich noch nie in meiner Tracht gesehen, Cora. Es muß nicht der Donnerstagabend sein. Wir könnten auch an einem anderen Abend ausgehen und Old Irish Whiskey trinken und lachen. Der Arzt sagt, ein Gläschen Whiskey würde mir gar nicht schaden. Außerdem verkleide ich mich schrecklich gern. Cora, Sie könnten mich dann ›Mrs. Nielson‹ nennen. Ach, können wir nicht zusammen ausgehen? Vielleicht bekommt Miß O’Shaughnessy noch an einem anderen Abend frei. Mein Mann ist im Aufsichtsrat des Krankenhauses und kann alles erreichen.«

Wir besprachen zuversichtlich das Projekt. Myra murmelte nachdenklich: »In einer Verkleidung fühlt man sich freier.«

Es klopfte an der Tür, und eine Stimme sagte: »Die Tracht liegt für Sie bereit, Mrs. Granberry.«

Myra stand auf. »Es dauert nur eine Minute.« Und sie verließ das Zimmer.

Mrs. Cummings vertraute mir an: »Der Arzt sagt, wir sollen ihr den Willen lassen, natürlich in Grenzen. Armes Kind!«

Wir warteten. Sie kehrte lächelnd zurück, strahlend, frei, in der Tracht mit der Haube. Wir applaudierten.

»Ich bin Miss Nielson«, sagte sie. Sie beugte sich über Mrs. Cummings und fragte teilnahmsvoll: »Wo tut es uns weh, meine Liebe? … Oh, das sind nur Gase. Das ist immer so nach einer Operation. Es ist ein Zeichen, daß alles gut verlaufen ist. Ihr Blinddarm wird Ihnen nie wieder zu schaffen machen.« Sie legte sich wieder auf die Chaiselongue. »Als Krankenschwester wäre ich glücklich, ich weiß es genau. Mr. North, wir wollen heute nicht mehr lesen, wir wollen nur noch plaudern.«

»Gut. Worüber?«

»Das ist mir gleich.«

»Myra, warum äußern Sie sich nie über die Romane, die wir zusammen lesen?«

Sie errötete ein wenig. »Weil … Sie sich über mich lustig machen würden. Sie verstehen das nicht. Alles ist so neu für mich — diese Schicksale, diese Leute. Manchmal sind sie sogar wirklicher als das Leben. Aber ich will nicht darüber sprechen. Reden wir von etwas anderem.«

»Gut. Lieben Sie Musik, Myra?«

»Konzerte? Gott im Himmel! In New York gehen wir immer am Donnerstagabend in die Oper, bei deutschen Komponisten dauert es immer am längsten.«

»Theater?«

»Nein. Ich bin ein paarmal im Theater gewesen. Dort geht es so künstlich zu. Nicht wie in Romanen; die sind wirklich. Warum fragen Sie mich so aus?«

Ich schob eine kleine Pause ein. Was hatte ich in diesem Haus zu suchen? Ich verdiente hier zwölf Dollar die Woche (obwohl man mir die fälligen Rechnungen noch nicht bezahlt hatte), und es verschaffte mir eine gewisse Befriedigung, eine kluge, wenn auch unzureichend geschulte junge Frau mit guter Literatur bekannt zu machen — ein Zeitvertreib, der ihr die Vernachlässigung durch ihren Mann erleichtern sollte. Aber mich entmutigte — wie schon in anderen Häusern in der Avenue — der Kontakt mit denen, die mehr als nötig an den Nachteilen, die ihnen ihre Vorteile einbrachten, zu tragen hatten.

Sie hatte mich gefragt, warum ich sie so ausfragte.

»Weil es eine Theorie gibt, Myra, daß werdende Mütter, die sich mit schöner Musik und schönen Bildern abgeben, schöne, harmonische Kinder zur Welt bringen können.«

»Wer sagt das?«

»Diese Theorie ist weit verbreitet. Vor allem bei den Italienerinnen, deren Söhne und Töchter wirklich so aussehen, als wären sie soeben aus einem der berühmten italienischen Gemälde herausspaziert.«

»Gibt es das in Newport, solche Gemälde?«

»Nicht daß ich wüßte, außer in Büchern.«

Sie setzte sich auf und fixierte mich: »Cora, haben Sie schon so was gehört?«

»Mrs. Granberry! Die Ärzte empfehlen allen Damen, die sich in dieser Verfassung befinden, an etwas Schönes zu denken, ja.«

Myra sah mich weiter unverwandt an, beinahe zornig. »Sitzen Sie nicht wie ein Stock da. Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

»Legen Sie sich bitte hin, schließen Sie die Augen und lassen Sie mich reden.« Sie sah sich verärgert nach allen Seiten um und gehorchte mir dann. »Myra, Newport gilt als eine der schönsten Städte dieses Landes. Sie fahren die Bellevue Avenue hinauf und hinunter und besuchen Ihre Freunde in den Cottages. Sie gehen an Baileys Strand, und ich weiß, was Sie davon halten. Nehmen Sie oft den ›Zehn-Meilen-Fahrweg‹?«

»Er ist mir zu lang. Wenn man eine Meile gesehen hat, kennt man alle anderen auch.«

»Die ungeheuerliche Architektur dieser Cottages ist das Gespött der Nation. Es gibt nur drei Häuser, die wahrhaft schön sind … Und jetzt will ich Ihnen etwas über Newport erzählen.« Ich erzählte ihr also von den Bäumen und, ziemlich ausführlich, von den Neun Städten. Mrs. Cummings ließ ihr Strickzeug sinken und saß mäuschenstill da. »Überdies ist der Blick auf das Meer und auf die Bucht von dem drei Meilen entfernten Budlong aus derart hinreißend, daß man nie genug davon bekommen kann — in der Morgendämmerung, am Mittag, in der Abenddämmerung, unter den Sternen und nicht zuletzt in Wind und Regen. Sie sehen die kreisenden Lichter von sechs Leuchttürmen, die den Seeleuten die Richtung weisen, und hören die Stimmen von vielen Bojen mit der Warnung: ›Halte dich von den Felsen fern, und du wirst sicher reisen!‹ Newport ist auf eine Weise immer interessant, am wenigsten allerdings in der sechsten Stadt.«

»Sie meinen hier?«

»Und die interessanteste und schönste ist die zweite.«

»Ich habe vergessen, welche das war.«

»Die Stadt des achtzehnten Jahrhunderts. Ich werde einen markierten Stadtplan für Ihren Chauffeur dalassen. Können wir jetzt zu ›Walden‹ zurückkehren?«

Sie legte die Hand an die Stirn. »Ich bin heute ziemlich müde. Darf ich Sie bitten, mich jetzt zu verlassen? Ich möchte nachdenken. Wir bezahlen den vollen Preis … Hören Sie, bevor Sie gehen, schreiben Sie mir bitte die Namen der italienischen Maler auf, deren Bilder einer Frau zu schönen Kindern verhelfen, dazu ein paar Musikstücke, die ebenfalls Gutes bewirken sollen.«

Ich notierte: »Raffael. Da Vinci. Fra Angelico.« Und eine Adresse in New York, wo man die besten Drucke kaufen konnte. Ferner: »Grammophonplatten von Mozart — Eine kleine Nachtmusik, Ave verum corpus.«

Es klopfte. Mr. Granberry trat ein. Begrüßung.

»Wie fühlt sich mein Täubchen heute?«

»Sehr gut, danke vielmals.«

»Was liest du gerade?«

»›Walden‹.«

»›Walden‹ — ja — ‘Walden’, das interessiert uns nicht allzusehr, glaube ich.«

»Warum nicht, George?«

Er kniff ihr in die Backe. »Wir würden mit dreißig Cents pro Tag nicht glücklich sein.«

»Mir gefällt ›Walden‹. Es ist das erste Buch, das ich mit Mr. North zu Ende lesen will. George, hier ist eine Liste von den Büchern, die ich schon gelesen habe. Kauf sie mir. Alle. Mr. North muß sie immer erst in der Volksbibliothek holen, sie sind nicht sehr sauber und voll von dummen Randbemerkungen. Ich möchte in meine eigenen Bücher meine eigenen dummen Randbemerkungen hineinschreiben.«

»Ich werde es erledigen, Myra. Meine Sekretärin bestellt die Sachen morgen früh. Kann ich sonst noch irgend etwas für dich tun?«

»Hier sind die Namen von ein paar italienischen Malern. Sei ein Engel und kaufe mir morgen die Bilder.«

Er rang nach Luft. »Aber Myra, jedes Bild von einem dieser Künstler würde hunderttausend Dollar kosten.«

»Du wendest doch mehr als das an deine nie benutzten Boote, nicht wahr? Du kannst mir ein Bild kaufen und Papa ein anderes. Hier ist der Name des Mannes, der gute Musik geschrieben hat.

Bitte kaufe mir das beste Grammophon, das du auftreiben kannst, und diese Platten … Ich bin heute ziemlich müde, und ich habe eben Mr. North gebeten, mit dem Lesen aufzuhören … Ich sagte ihm, wir würden den vollen Preis zahlen … Aber du gehst nicht.«

___________

Dann ereignete sich etwas sehr Betrübliches.

Zwei Tage später öffnete mir wie üblich der Butler Carel, ein Tscheche — dem Aussehen nach distinguiert wie ein Gesandter, aber dem Auftreten nach diskret wie der Privatsekretär des Gesandten. Er beugte den Kopf vor und flüsterte: »Mrs. Cummings möchte mit Ihnen sprechen, bevor Sie das Frühstückszimmer betreten.«

»Ich werde hier warten, Carel.«

Carel und Mrs. Cummings mußten irgendeinen Code miteinander vereinbart haben, denn schon erschien sie in der Halle. Sie sprach in großer Hast. »Mrs. Granberry hat heute früh zwei Briefe erhalten, die sie sehr aufgeregt haben. Ich glaube, sie möchte mit Ihnen darüber sprechen. Sie wollte auch nicht mit mir ausfahren. Sie hat kaum ein Dutzend Worte mit mir gesprochen. Wenn Sie gehen, hinterlassen Sie bitte Carel eine Botschaft für mich, falls ich etwas wissen muß. Warten Sie drei Minuten, bevor Sie an die Tür klopfen.«

Sie drückte mir die Hand und verschwand im Frühstückszimmer.

Ich wartete drei Minuten und klopfte dann an die Tür. Mrs. Cummings öffnete mir.

»Guten Tag, meine Damen«, sagte ich fröhlich.

Myras Gesicht war sehr ernst. »Cora, ich möchte mit Mr. North sprechen, könnten Sie uns fünf Minuten allein lassen?«

»Mrs. Granberry, bitte verlangen Sie das nicht von mir. Ich muß als Krankenschwester die Anweisungen des Arztes strikt befolgen.«

»Sie brauchen ja nur auf die Veranda zu gehen und die Tür offen zu lassen — aber bitte nicht zuhören.«

»Das habe ich gar nicht gern, Mrs. Granberry.«

»Mrs. Cummings«, sagte ich, »da Mrs. Granberry der Sache derart Gewicht beimißt, werde ich mich so neben die Verandatür stellen, daß Sie mich ständig sehen können. Sollte ein Thema berührt werden, das in den medizinischen Bereich fällt, werde ich Sie unverzüglich davon in Kenntnis setzen.«

Als Mrs. Cummings sich auf die Veranda zurückgezogen hatte, pflanzte ich mich wie eine Schildwache neben der Tür auf.

»Theophilus, ein Dachs sagt einem anderen Dachs immer die Wahrheit.«

»Myra, ich muß selbst entscheiden können, wieviel Wahrheit ich sagen will. Wahrheit kann ebensoviel Unheil anrichten wie Lüge.«

»Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Stellen Sie mir einige Fragen, und ich will versuchen, Ihnen nach Möglichkeit zu helfen.«

»Kennen Sie Flora Deland?«

»Ich war dreimal bei ihr am Narragansett-Pier zu Gast.«

»Kennen Sie eine Frau namens Desmoulins?«

»Ich habe sie dort bei einem Abendessen kennengelernt und bin ihr einmal zufällig auf der Straße in Newport begegnet.«

»Ist sie eine Hure, eine Dirne und, wie es in ›Tom Jones‹ heißt, eine liederliche Person?«

»Nein. Bestimmt nicht. Sie ist eine ungewöhnliche Frau, viele finden sie ›emanzipiert‹. Ich würde niemals so häßliche Worte auf sie anwenden.«

»Emanzipieren bedeutet, die Sklaven befreien. War sie eine Sklavin?«

Ich brach in Gelächter aus. »O nein. Hören Sie jetzt mit dem Unsinn auf. Sagen Sie mir, worauf Sie eigentlich hinaus wollen.«

»Sieht sie besser aus als ich?«

»Nein.«

»Dachs?«

»Dachs!«

»Dachs?«

»Dachs! — Sie ist eine sehr hübsche Frau. Sie sind eine sehr schöne Frau. Ich werde jetzt Mrs. Cummings rufen.«

»Halt! Essen Sie jeden Donnerstagabend mit meinem Mann und Miß Desmoulins im Muenchinger-King?«

»Nein. Niemals. Bitte kommen Sie zur Sache.«

»Ich habe zwei an-ano-ny-me Briefe bekommen.«

»Myra, die haben Sie auf der Stelle zerrissen!«

»Nein.« Sie nahm ein Buch vom Tisch auf und ließ zwei Briefumschläge sehen.

»Sie enttäuschen mich. Wir sind überall — und besonders in einer Stadt wie Newport — von Menschen umgeben, die nur Haß und Neid und Bosheit im Kopf haben. Von Zeit zu Zeit schreibt so einer dann anonyme Briefe. Das taucht auf und verschwindet wieder wie eine Grippe-Epidemie. Sie hätten diese Briefe ungelesen in Fetzen zerreißen und nicht mehr daran denken sollen. Steht dort drin, daß ich mit den beiden Personen im M-K zu Abend gegessen habe?«

»Ja.«

»Da sehen Sie, wie anonyme Briefe lügen.«

»Lesen Sie! Bitte lesen Sie!«

Ich sagte zu mir selber: »Zum Donnerwetter, ich gebe den Job heute noch auf.«

Ich betrachtete die Umschläge sehr genau. Dann überflog ich die Briefe; ich kann schnell lesen. Als ich das zweite Schreiben zu Ende gelesen hatte, mußte ich lachen. »Myra, es sind doch alle anonymen Briefe mit ›Ein Freund‹ oder ›Einer, der Ihnen wohl will‹ unterzeichnet.« Sie brach in Tränen aus. »Myra, kein Dachs weint, nachdem er elf geworden ist.«

»Entschuldigen Sie.«

»Vor vielen Jahren beschloß ich, Detektiv zu werden. Wenn Jungen ehrgeizig sind, dann sind sie sehr ehrgeizig. Ich las die einschlägige Literatur, lauter schwierige, anstrengende Lehrbücher. Und ich erinnere mich an einen wichtigen Abschnitt über das Aufspüren anonymer Briefschreiber. Jeder anonyme Brief enthält einundzwanzig Indizien, die als Fingerzeig benutzt werden können. Geben Sie mir die Briefe, und innerhalb von vierzehn Tagen will ich die Verfasser aus der Stadt verjagen.«

»Aber Theophilus, vielleicht hat er, oder sie, recht und mein Mann liebt Miß Desmoulins? Vielleicht hat mein Baby schon keinen Vater mehr. Dann könnte ich ebensogut sterben. Ich liebe meinen Mann über alles.«

»Dachse weinen nicht, Myra, sie kämpfen. Klug und tapfer. Und sie verteidigen, was sie haben. Außerdem besitzen Dachse eine Eigenschaft, die ich bei Ihnen leider vermisse.«

Sie sah mich verstört an: »Was?«

»Dachse wie Ottern haben einen Sinn für Lachen und Komik und durchtriebene Streiche.«

»Das hatte ich früher auch mal, Theophilus. Aber in letzter Zeit war zuviel Krankheit, Einsamkeit und Langeweile in meinem Leben. Sie werden es nicht glauben, doch mein Vater nannte mich seinen ›kleinen Teufel‹. Theophilus, können Sie mich eine Minute in Ihren Arm nehmen?«

Ich drückte ihr lachend die Hand und sagte: »Nicht einmal eine Sekunde. Versprechen Sie mir, eine Woche nicht mehr an diese widerliche Geschichte zu denken … Dachse fangen die Schlange. Kann ich jetzt Mrs. Cummings rufen? Mrs. Cummings, die Stunde beginnt. Mrs. Cummings, Sie sind eine wunderbare Freundin und sollten wissen, wovon wir gesprochen haben. Mrs. Granberry ist in eine widerliche Klatschgeschichte verwickelt. Ich habe ihr gesagt, daß niemand, der gescheit und schön und reich ist, davon verschont bleibt. Habe ich recht?«

»Gewiß, Mr. North, Sie haben vollkommen recht.«

Natürlich war der Hinweis auf die einundzwanzig Indizien nur ein Versuchsballon. Bei meiner hastigen Brieflektüre hatte ich gelesen, daß Mr. Granberry jeden Donnerstag mit Mademoiselle Desmoulins in einem kleinen Gästezimmer des Muenchinger-King zu Abend speise. Ferner war von Flora Delands Gesellschaften die Rede und auch von mir, mit dem herzerfrischenden Beiwort »gräßlich«, und dann folgten noch einige Zeilen in demselben Tonfall moralischer Entrüstung. Ich hatte den Eindruck, die Verfasserin sei eine Frau, eine Ex-Freundin von George Granberry, dem unbeschäftigten, planlosen Erfinder — vielleicht handelte es sich sogar um ein Mitglied der Familie Granberry. Ich nahm meinen Unterricht auf, als ob nichts geschehen wäre. Wir lasen »Walden«.

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Ich brauchte Hilfe — das heißt, ich mußte mehr erfahren.

Ich verabredete mich mit Henry zu einer Partie Billard in »Hermanns Salon«. Während einer Pause fragte ich ihn, ob er wohl George F. Granberry kenne. Er kreidete sein Billardqueue sorgfältig ein und sagte: »Komisch, daß du mich das fragst«, und führte einen Stoß aus. Nach dem Spiel zogen wir uns in eine Ecke zurück und bestellten das Übliche.

»Ich nenne nicht gerne Namen. Taufen wir diese Person Longears. Hacker, durch Müßiggang werden Männer und Frauen zu Kindern. Frauen finden sich leichter mit Nichtstun ab, aber alle Männer werden wieder zu Babies. Sieh mich an. Wenn mein Boß fort ist, muß ich jede Minute dagegen ankämpfen. Glücklicherweise bin ich im Augenblick sehr beschäftigt, Edweena und ich schreiben einander und schmieden Pläne für den Dienstbotenball am Ende der Saison, und diese Vorbereitungen machen uns viel Arbeit. Longears stammt aus einer sehr großen Familie. Er könnte jederzeit einen Job in der Firma bekommen, aber sie ist bereits mit Dutzenden seines Namens besetzt; und alle sind klüger als er. Sie wollen ihn nicht. Er hingegen ist auf das Geld nicht angewiesen. Vor dem Krieg gab es in New York und Newport jede Menge reicher junger Männer seines Kalibers, so untätig wie Schaufensterpuppen. Heute, 1926, kann man sie an einer Hand abzählen. Als ich hierherkam, war er bereits geschieden — der Mehltau hat ihn wahrscheinlich schon früh befallen. Alle behaupten, er wäre klug und sehr beliebt gewesen; aus irgendeinem Grunde war er dienstuntauglich. Er hat wieder geheiratet, ein Mädchen aus dem Wilden Westen, vielleicht Tennessee oder Buffalo. Sie ist kränklich. Man sieht sie kaum. Männer seines Schlages wenden sich dann Frauen, dem Alkohol oder dem Roulette zu. Einige entwickeln sich auch zu Angebern, spielen sich auf, als wären sie Genies — sie müssen irgend etwas Besonderes sein. Longears gibt sich als Erfinder aus. Er hat ein Laboratorium draußen in Portsmouth — alles sehr geheimnisvoll, sehr wichtigtuerisch. Viele Gerüchte darum herum — er soll Brot aus Seetang machen oder Benzin aus Dünger. Wie dem auch sei, er versteckt sich dort. Manche behaupten, er spiele nur mit elektrischen Eisenbahnen oder klebe Briefmarken in ein Album … War mal der beste Freund von meinem Boß; aber jetzt schüttelt der Boß den Kopf, wenn die Sprache auf Longears kommt.«

»Hat ihn die Scheidung kaputtgemacht?«

»Ich glaube eher, das Nichtstun. Müßiggang ist aller Laster Anfang … Er hat ein Mädchen hier im Gebüsch versteckt … natürlich ist er nicht der einzige, der so was tut … Das ist alles, was ich weiß.«

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Zu der nächsten Lesestunde erschien ich mit einer Mappe unter dem Arm mit Schulausgaben von »Was Ihr wollt« und »Wie es Euch gefällt«. Ich hatte stundenlang geeignete Szenen für das Lesen mit verteilten Rollen ausgewählt. »Guten Tag, meine Damen. Heute wollen wir etwas Neues ausprobieren.« Ich zog die drei Exemplare von »Was Ihr wollt« aus der Mappe.

»O Theophilus, bitte nicht Shakespeare!«

»Mögen Sie ihn nicht?« fragte ich mit gespielter Verwunderung und stopfte die Exemplare wieder in meine Mappe. »Das überrascht mich, aber Sie erinnern mich an unsere Vereinbarung, wir wollen nichts lesen, das Sie langweilen könnte. Verzeihen Sie. Ich besitze eben noch nicht viel Erfahrung, da ich bisher nur Jungen unterrichtet habe. Dabei mußte ich feststellen, daß die Jungen nach kurzem Widerstand von Shakespeare immer begeistert waren, sie stolzierten als Romeo und Julia oder Shylock und Portia im Klassenzimmer herum … Ich weiß noch, wie zu meinem Erstaunen Mr. Granberry mir sagte, er finde Shakespeare ›Quatsch‹. Nun, ich habe hier einen neuen Roman, den können wir mal in Angriff nehmen.«

Myra starrte mich an. »Einen Augenblick! Aber seine Stücke sind doch so kindisch. Alle diese Mädchen, die sich als Männer verkleiden. Der reine Blödsinn!«

»Ja, mitunter. Aber beachten Sie Shakespeares Darstellung. Die Mädchen handeln nämlich aus Verzweiflung; sie kämpfen mit dem Rücken zur Wand. Viola ist in ein fremdes Land verschlagen worden, Rosalinde in die Wildnis des Exils. Imogen hat man in Abwesenheit ihres Mannes verleumdet. Und Portia zieht sich wie ein Rechtsanwalt an, um dem besten Freund ihres Mannes das Leben zu retten. In jener Zeit konnte ein Mädchen, das auf sich hielt, nicht von Tür zu Tür gehen und um einen Job bitten … Genug davon! Aber was sind das für Mädchen: schön, mutig, gescheit, erfinderisch! Außerdem besitzen sie eine Gabe, die ich … ein bißchen … bei Ihnen vermisse, Myra.«

»Und das wäre?«

»Humor.«

»Was?«

»Ich kann mich nicht genauer ausdrücken, aber ich habe den Eindruck, daß diese Mädchen — trotz ihrer Jugend — das Leben so aufmerksam beobachtet haben, daß sie vor der Wirklichkeit nicht zurückschrecken; sie geben sich nie geschlagen; und sie sind nie schockiert oder am Ende ihrer Weisheit. Auch wenn das Schicksal zuschlägt, bleiben sie mit beiden Füßen auf der Erde stehen und ertragen alles mit Humor und Fröhlichkeit. Wenn Rosalinde in jene gefährliche Wildnis ausgesetzt wird, sagt sie zu ihrer Cousine Celia:

›So ziehn wir denn in Frieden,

Denn Freiheit ist uns, nicht der Bann beschieden.‹

Ich hätte diese Verse gerne von Ellen Terry gehört. Und kurz nachdem Viola ihren Bruder bei dem Schiffsuntergang verloren hat, antwortet sie auf die Frage nach ihrer Familie, nun als Junge verkleidet, der sich Cesario nennt:

›Ich bin, was aus des Vaters Haus an Töchtern

Und auch von Brüdern blieb.‹

Ich hätte diese Verse gerne von Julia Marlowe gehört.«

Myra fragte etwas brüsk: »Und wozu soll das gut sein — dieser berühmte Humor?«

»Shakespeare stellt diese klarsichtigen Mädchen unter viele Leute, die eine falsche Beziehung zur Realität haben. Wie ein späterer Autor einmal sagte: ›Die meisten Menschen sind Narren, und der Rest von uns ist in Gefahr, angesteckt zu werden.‹ Durch unseren Humor können wir uns fremder Narrheit anpassen — und unserer eigenen. Finden Sie das richtig, Mrs. Cummings?«

»Mr. North, dies ist wohl auch der Grund, warum Krankenschwestern soviel lachen, wenn sie frei haben. Es hilft uns — wie Sie es ausdrücken würden — zu überleben.«

Myra starrte mich an, ohne mich zu sehen.

Mrs. Cummings fragte: »Mrs. Granberry, können wir nicht Mr. North bitten, uns etwas aus Shakespeare vorzulesen?«

»Nur, wenn’s nicht zu lang ist …«

Ich griff probeweise in die Mappe. »Ich hatte mir gedacht, daß wir mit verteilten Rollen lesen. Ich habe Myras Rolle rot unterstrichen, Mrs. Cummings’ Rolle blau und den Rest lese ich.«

»Nein«, rief Mrs. Cummings, »ich kann keine poetische Sprache lesen. Unmöglich. Sie müssen mich schon entschuldigen, das geht einfach nicht.«

»Cora, wenn Mr. North es wünscht, müssen wir uns fügen.«

»Heiliger Strohsack!«

»Also, jetzt langsam, schön langsam.«

In einer Woche hatten wir mehrere Szenen aus den beiden Stücken gelesen, und hatten sie ein zweites Mal gelesen, mit vertauschten Rollen. Dazu die Balkonszene aus »Romeo und Julia« und die Gerichtsszene aus dem »Kaufmann von Venedig«. Mrs. Cummings übertraf sich zu ihrem eigenen Erstaunen als Shylock. Und Myra forderte uns am Ende jeder Szene auf: »Machen wir’s noch mal.«

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Eines Nachmittags empfing mich Myra an der Tür mit mühsam unterdrückter Erregung. »Theophilus, ich habe meinen Mann gebeten, um halb fünf hierherzukommen. Wir werden die Gerichtsszene aus dem ›Kaufmann von Venedig‹ lesen, und er soll den Shylock spielen. Sie sind Antonio, ich bin Portia, und Cora übernimmt alle anderen Rollen. Wir wollen die Szene einmal üben, bevor er eintrifft. Cora, erfüllen Sie meinen Wunsch und sprechen Sie den Dogen besonders schön …«

»Mrs. Granberry!«

Wir knieten uns hinein. Myra hatte ihren Text auswendig gelernt.

Es klopft, eintritt George F. Granberry II.

Myra war von bestrickender Liebenswürdigkeit. »George, mein Lieber, wir brauchen dich. Bitte sag nicht nein, es würde mich so unglücklich machen.«

»Was kann ich für dich tun?«

Sie gab ihm das geöffnete Buch. »George, du mußt den Shylock lesen. Sprich sehr langsam und sei bitte sehr blutdürstig. Wetze das Messer an deinem Schuh. Mr. North wird sich rückwärts über das Pult legen, mit entblößter Brust und gefesselten Händen.«

»Myra, das kommt nicht in Frage! Ich bin kein Schauspieler!«

»George, es ist doch nur zum Spaß. Wir machen es zweimal, dann weißt du, worum sich’s dreht. Und sprich schön langsam.«

Wir fingen stockend an, wir mußten unsere Worte auf der Seite zusammensuchen. Als Shylock sich über mich beugte, einen elfenbeinernen Brieföffner in der Hand, zischte er mir leise zu: »North, ich könnte Ihnen die Kehle durchschneiden. Was hier vorgeht, gefällt mir gar nicht. Sie verpesten mir die ganze Luft.«

»Sie haben mich engagiert, damit ich Ihre Frau zum Lesen — vor allem von Shakespeare — anrege. Das habe ich getan, und ich trete jederzeit ab, sobald Sie mir meine drei Rechnungen für je vierzehn Tage bezahlen.«

Das verschlug ihm den Atem.

Bei der ersten Probe hatte Myra mit Absicht ohne Betonung gelesen und sich oft versprochen. Beim zweitenmal spielten wir nach besten Kräften. Myra sprach den Text auswendig, ohne Buch; zuerst stellte sie den jungen Anwalt Balthasar dar, als fröhlichen Prahlhans, aber mit jeder Rede gewann sie mehr Autorität.

George packte das Stück ebenfalls. Er bestand brüllend auf seinem »Schein« und dem Pfund Fleisch. Wieder beugte er sich wie ein Wilder über mich, das Messer in der Hand. Dann geschah etwas Ungewöhnliches.

Portia: Den Schein erkennt ihr an?

Antonio: Ja

Portia: So muß der Jude Gnad’ ergehen lassen.

Shylock: Wodurch genötigt, muß ich? Sagt mir das.

In diesem Augenblick spürte George, wie eine Hand sich auf seine Schulter legte, und eine Stimme hinter ihm sagte — ernst, feierlich, mit einer Reife, die schon lange seinem Leben abhanden gekommen war:

Portia: Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang, Sie träufelt, wie des Himmels milder Regen … … wir beten all’ um Gnade, Und dies Gebet muß uns der Gnade Taten Auch üben lehren …

George richtete sich auf und warf den elfenbeinernen Brieföffner fort. Er sagte verwirrt: »Lies weiter … ich seh dich später …« und verließ das Zimmer.

Wir sahen einander überrascht und auch ein wenig schuldbewußt an. Mrs. Cummings wandte sich wieder ihrer Näharbeit zu. »Mr. North, Theaterspielen ist ein bißchen zu aufregend für uns alle. Ich habe bisher ja geschwiegen, aber Mrs. Granberry steht immerzu auf und geht im Zimmer hin und her. Ich kann mir nicht denken, daß der Arzt das gutheißt. Wir haben in letzter Zeit keine richtige Unterhaltungspause mehr gehabt. Sie wollten doch Mrs. Granberry bei Gelegenheit von Ihrer Schulzeit in China erzählen.«

Ich gelobte mir, noch am selben Abend zu kündigen — bevor man mich an die Luft setzte —, aber weder das eine noch das andere geschah. Ich war mehr als nur halb in Myra verliebt. Ich war stolz auf sie und auf meine Arbeit. Und ein Scheck traf am Montagmorgen mit der Post bei mir ein. Wir begannen mit der Lektüre von »Huckleberry Finn«. Am Freitag erlebte ich eine neue Überraschung. Ich radelte zum Portal des Hauses und sah einen jungen Mann von etwa vierundzwanzig Jahren auf dem Rasen herumschlendern und an einer langstieligen Rose riechen. Er war nach der neuesten Mode gekleidet: Flanellhosen, weiße Schuhe, Strohhut. Er ging auf mich zu und streckte die Hand aus.

»Mr. North, nehme ich an. Ich bin Caesar Nielson, Myra Granberrys Zwillingsbruder. Guten Tag!«

Donner und Doria! Es war Myra.

Gott, wie ich Transvestiten hasse! Mir schauderte, aber man soll einer schwangeren Frau nie widersprechen.

»Ist Ihre Schwester zu Hause, Mr. Nielson?«

»Wir haben den Wagen bestellt. Es wäre doch nett, nach Narragansett-Pier zu fahren und Ihre Freundin, Mademoiselle Desmoulins, um eine Tasse Tee zu bitten.«

»Sir, Sie vergessen, daß ich engagiert wurde, um mit Mrs. Granberry englische Literatur zu lesen. An diese vertraglichen Abmachungen bin ich gebunden. Würden Sie mich bitte entschuldigen? Ich möchte nicht zu spät kommen. Wollen Sie an der Stunde teilnehmen?«

Ich blickte zum Haus hinauf und sah Mrs. Cummings und Carel, die uns betroffen von den Fenstern des Salons aus beobachteten. Andere eingerahmte Gesichter zeigten sich an den Fenstern der oberen Stockwerke.

Myra flüsterte mir zu: »Ein Dachs kämpft, um seinen Besitz zu verteidigen.«

»Ja, aber da die Natur ihn klein gemacht hat, hat sie ihn auch klug gemacht. Kein vernünftiger Dachs oder keine vernünftige Frau zerstört ein Heim, um es sich zu erhalten. Bitte folgen Sie mir, Mr. Nielson.«

Sie betrat das Haus verstört, doch hoch erhobenen Hauptes. Als ich ihr durch die Halle folgte, sagte Carel leise zu mir: »Mr. Granberry ist seit einer halben Stunde im Hause. Er hat den hinteren Fahrweg benutzt.«

»Hat er sie in diesem Aufzug gesehen?«

»Ganz gewiß, Sir.«

»Danke, Carel.«

»Danke, Sir.«

Ich ging mit Myra und Mrs. Cummings in das Frühstückszimmer. »Myra, bitte ziehen Sie sich schnell um. Mr. Granberry ist im Haus und kann jeden Augenblick hier sein. Voraussichtlich wird er Mrs. Cummings und mich entlassen, so daß die nächsten Monate für Sie sehr trübselig sein werden.«

»Shakespeares Mädchen haben sich auch verkleidet.«

»Lassen Sie bitte die Tür zu Ihrem Ankleidezimmer einen Spalt offen, damit ich mit Ihnen reden kann, während Sie sich umziehen. Können Sie mich hören?«

Aber es war zu spät. Mr. Granberry trat, ohne anzuklopfen, ins Zimmer. »Myra!« rief er, sie erschien in der Tür, noch immer Caesar Nielson, und erwiderte seinen zornigen Blick furchtlos.

»Hosen«, sagte er, »HOSEN!«

»Ich bin eine emanzipierte Frau, wie Miß Desmoulins.«

»Mrs. Cummings, Sie packen Ihre Sachen und verlassen augenblicklich das Haus. Mr. North, folgen Sie mir bitte in die Bibliothek.«

Ich verneigte mich tief vor den Damen mit einem Blick voll lächelnder Bewunderung.

In der Bibliothek thronte Mr. Granberry hinter seinem Schreibtisch wie ein Richter. Ich setzte mich auf einen Stuhl und schlug mit Seelenruhe die Beine übereinander.

»Sie haben Ihr Versprechen nicht gehalten. Sie haben meiner Frau von Narragansett-Pier erzählt.«

»Ihre Frau hat mir von Narragansett-Pier erzählt. Sie hat zwei anonyme Briefe bekommen.«

Er wurde kreideweiß. »Das hätten Sie mir sagen sollen.«

»Ich bin von Ihnen engagiert worden, um Ihrer Frau englische Literatur vorzulesen und nicht als vertrauter Freund der Familie.«

Schweigen.

»Sie sind eine Landplage, Mr. North. Die ganze Stadt spricht davon, daß bei den Bosworths in den ›Neun Giebeln‹ die Hölle los ist. Und was im Wyckoff-Haus vorgeht, das weiß nur der Himmel. Ich bedauere aufrichtig, daß ich Sie gerufen habe. Gott, wie ich die Yale-Absolventen hasse!«

Schweigen.

»Mr. Granberry, ich hasse Ungerechtigkeit, und ich glaube, Sie auch.«

»Was hat das damit zu schaffen?«

»Wenn Sie Mrs. Cummings wegen Unfähigkeit hinauswerfen, werde ich dem Arzt oder der Agentur, die sie vermittelt hat, einen Brief schreiben mit der Schilderung der mir bekannten Vorgänge.«

»Das ist Erpressung.«

»Nein, das ist eine Zeugenaussage für eine Verleumdungsklage. Mrs. Cummings ist zweifellos eine hervorragende Krankenschwester und außerdem — soweit ich das beurteilen kann — der einzige Mensch, der Ihrer Frau in einer schwierigen Zeit beigestanden hat.« Ich betonte leicht das Wort »einzige«.

Erneutes Schweigen.

Er sah mich mit finsterer Miene an.

»Was soll ich Ihrer Ansicht nach tun?«

»Nur in sehr seltenen Fällen erteile ich Ratschläge, Mr. Granberry. Ich weiß einfach nicht genug.«

»Hören Sie mit diesem ewigen ›Mr. Granberry‹ auf. Da wir beide uns gegenseitig hassen, schlage ich vor, uns mit unseren Vornamen anzureden. Sie werden offenbar ›Teddie‹ genannt.«

»Danke. Ich gebe keine Ratschläge, George, aber es wird Ihnen schon helfen, wenn Sie ein bißchen von sich erzählen.«

»Verdammt noch einmal! Ich kann nicht wieder ein halbes Jahr wie ein Mönch leben, nur weil meine Frau unter ärztlicher Aufsicht steht. Ich kenne Dutzende von Männern mit einer Freundin wie Denise. Was habe ich eigentlich verbrochen? Denise war die Freundin eines meiner Freunde, der sie mir dann überlassen hat. Sie ist ein sehr nettes Mädchen, wenn sie nur nicht die halbe Zeit weinen würde. Franzosen müssen alle zwei Jahre nach Frankreich zurückfahren, sonst sterben sie hier wie auf Eis gelegte Fische. Denise vermißt ihre Mutter, sie vermißt den Geruch der Straßen von Paris — stellen Sie sich das vor! — Gut, ich weiß, was Sie sich jetzt denken: Ich werde ihr ein Bündel Granberry-Aktien zustecken und sie nach Paris zurückschicken. Aber was soll ich hier machen, Teufel nochmal? Den ganzen Tag Shakespeare spielen? Sagen Sie doch was! Sitzen Sie nicht da wie ein Hornochse, Menschenskind!«

»Ich versuche krampfhaft, mir etwas einfallen zu lassen. Sprechen Sie weiter, George.«

Schweigen.

»Sie denken, daß ich Myra vernachlässige. Jawohl, das tue ich, und ich weiß es auch. Wissen Sie, warum? — Ich … ich … Wie alt sind Sie?«

»Dreißig.«

»Verheiratet? Oder verheiratet gewesen?«

»Nein.«

»Ich ertrage es nicht, geliebt zu werden. Geliebt? Angebetet! Überschätzung lähmt mich. Meine Mutter überschätzte mich, und seit meinem fünfzehnten Jahr habe ich kein ehrliches Wort mehr zu ihr gesagt. Und jetzt Myra! Sie leidet, und ich weiß, daß sie leidet. Ich habe nicht gelogen, als ich Ihnen sagte, ich liebe sie. Und sie ist intelligent, nicht wahr?«

»Ja.«

»Und die ganze Zeit leidet sie … vier Jahre lang, und ich bin der einzige Mensch auf der Welt, an dem ihr was liegt. Ich halte es nicht aus. Ich ertrage die Verantwortung nicht. Ich fühle mich in ihrer Gegenwart wie gelähmt. Teddie, können Sie das verstehen?«

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«

»Schießen Sie los. Ich bin sowieso wie betäubt.«

»George, was machen Sie den ganzen Tag in Ihrem Laboratorium?«

Er erhob sich, warf mir einen wütenden Blick zu, ging im Zimmer umher und hing sich zuletzt mit den Händen an den Balken über der Tür zur Halle — wie ein Junge, wenn er nicht weiß, was er mit seinem Überschuß an Energie anfangen soll (und dazu sein Gesicht verstecken möchte).

»Ich werde es Ihnen sagen«, antwortete er, »ich will mich dort vor allem verkriechen und auf etwas warten. Warten, ob alles schlechter oder besser wird. Was ich tue? Ich spiele Krieg. Seit meiner Kindheit habe ich mit Bleisoldaten gespielt. Im Krieg wurde ich wegen eines Herzfehlers nicht eingezogen. Ich habe Dutzende von Büchern und spiele die Schlacht an der Marne nach und Napoleons und Caesars Schlachten. Sie sind ein berühmter Geheimhalter; halten Sie dies bitte auch geheim.«

Mit Tränen in den Augen sagte ich lächelnd: »Und bald werden Sie mit einer neuen Prüfung rechnen müssen. In etwa drei Jahren wird ein kleines Mädchen oder ein kleiner Junge in Ihr Zimmer kommen und sagen: ›Papa, ich bin hingefallen und habe mir weh getan. Hier, Papa, hier!‹ Und wieder wird Sie jemand lieben. Alle Liebe ist Überschätzung.«

»Lassen Sie es ein Mädchen werden, Professor. Ich kann Jungen nicht ausstehen.«

»Ich sehe bereits den nächsten Schritt, den Sie tun müssen, George. Lernen Sie, Liebe zu akzeptieren — mit einem Lächeln.«

»O Gott.«

»Darf ich mal ein Narr sein und Ihnen einen Rat geben?«

»Machen Sie’s kurz.«

»Gehen Sie durch die Halle zum Frühstückszimmer. Bleiben Sie unter der Tür stehen mit den Worten: ›Ich schicke Mademoiselle Desmoulins mit einem hübschen Abschiedsgeschenk nach Paris zurück.‹ Dann gehen Sie zur Chaiselongue, lassen sich auf ein Knie nieder und sagen: ›Vergib mir, Myra‹, dann sehen Sie Mrs. Cummings in die Augen und sagen: ›Vergeben Sie mir, Mrs. Cummings.‹ Frauen verzeihen uns nicht in alle Ewigkeit, aber sie verzeihen gerne, wenn man sie darum bittet.«

»Soll ich das sofort machen?«

»Gewiß, jetzt gleich. Übrigens laden Sie doch Ihre Frau am Donnerstagabend zum Essen in den Muenchinger-King ein.«

Er verließ das Zimmer.

Vor der Haustür schüttelte ich Carel die Hand. »Dies war das letzte Mal für mich in diesem Haus. Wollen Sie bitte bei Gelegenheit Mrs. Granberry und Mrs. Cummings meine Bewunderung übermitteln … und meine Liebe. Danke, Carel.«

»Danke, Sir.«

Mino

Unten am Broadway gab es an der dem Old Colony House gegenüberliegenden Ecke von Washington Square einen Laden, den ich täglich aufsuchte. Er führte Zeitungen, Illustrierte, Ansichtskarten für Touristen, Spielzeug und sogar Schnittmuster. Hier schlug das Herz der »Neunten Stadt«. Der Laden gehörte einer Familie Matera — Vater, Mutter, Sohn und Tochter bedienten abwechselnd die Kunden. Ich erfuhr, daß ihr Name im Grunde viel komplizierter war, doch die Eltern hatten für die Emigration nach Amerika den Namen ihres Geburtsortes angenommen, um die Einwanderungsformalitäten zu vereinfachen. Die Familie stammte aus jener trostlosen Gegend vom Spann des italienischen Stiefels, die von der Regierung in Rom und, wie uns Carlo Levi in seinem schönen Buch »Cristo si è fermato a Eboli« wissen läßt, von Gott vergessen worden war. Der Titel besagt nicht, daß Christus in Eboli aus Freude an der schönen Landschaft haltmachte, sondern aus reiner Verzweiflung.

Ich liebe die Italiener. Meine Freundschaft mit den Materas begann, als ich aus Zuneigung versuchte, mich mit ihnen in ihrer Sprache, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, zu unterhalten. Ich wurde kaum verstanden. Ich versuchte dann den neapolitanischen Dialekt, mit noch mehr Schwierigkeiten (und mit noch mehr Spaß daran!), aber die Dialekte von Lukanien kann ein Außenseiter nie ergründen. Wir sprachen also englisch miteinander.

Ruhm und Ehre den italienischen Müttern! Sie gehen ganz in Mann und Kindern auf: Aus reiner Selbstlosigkeit werden sie ganz sie selber. Mutterliebe will dort nicht beherrschen, sie ist ein Herdfeuer ständig sich erneuernden Staunens, daß viele Leben an ihr eigenes gebunden sind. Das kann dem heranwachsenden Mädchen und, mehr noch, dem heranwachsenden jungen Mann ebenso gefährlich werden wie die verschlingende Mutterliebe, die in anderen Teilen der Welt vorherrscht. Denn welcher junge Mensch wäre bereit, sich aus der Wärme und dem festen Halt von so viel Ergebenheit, Lachen und Kochen zu lösen?

Mamma besaß Liebe und Lachen im Überfluß. Wenn ich dort meine New Yorker Zeitung, meine Bleistifte, Tinte oder andere Utensilien kaufte, erwies ich den Eltern die ihnen gebührende Reverenz und schwatzte freundschaftlich mit den Kindern; bald sollte ich Signora Carlas großes Herz für mich gewinnen. Die Materas waren von dunkler Hautfarbe (wie die Sarazenen, die Eroberer Kalabriens). Rosa, vierundzwanzig, schien nicht zu bemerken, wie manche sie vielleicht für häßlich hielten; daß sie ihren Eltern und ihrem Bruder helfen konnte, erfüllte sie bereits mit Heiterkeit. Wenn die Reihe an ihm war, im Laden zu bedienen, saß Benjy, zweiundzwanzig, mit untergeschlagenen Beinen auf einem Brett neben der Kasse. Die Familie sprach englisch, aber alle nicht-italienischen Namen blieben für Signora Matera gleich unaussprechlich, bis auf die von ihr verehrten Männer »Presidente Vilson« und »Generale Perchin«. Nur gelegentlich werde ich die Aussprache der Signora wiedergeben. Nach einer gewissen Zeit überhören wir den fremden Akzent eines uns lieben Ausländers; die Kundgebungen der Freundschaft sind nicht an die Zufälle der Sprache gebunden.

Als ich an einem späten Nachmittag in den CVJM zurückkehrte, wurde mir am Empfang ausgerichtet, in dem kleinen Besuchssalon neben der Halle warte eine Dame auf mich. Zu meiner Überraschung entdeckte ich Signora Matera, die in majestätischer Gelassenheit dasaß, in der Hand einen sechs Wochen alten Zeitungsausschnitt mit meinem Inserat. Ich begrüßte sie aufs herzlichste.

Erstaunt fuchtelte sie mit dem Zeitungsausschnitt in der Luft herum. »Sie … Sie sind Mr. Nort’?«

»Gewiß, Signora. Ich dachte, Sie wüßten das.«

Sie wiederholte erleichtert: »Sie sind Mr. Nort’!«

»Ja, cara signora. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich komme wegen Benjamino und wegen mir. Benjamino möchte bei Ihnen Stunden nehmen. Er verdient Geld, er kann Sie gut dafür bezahlen. Er möchte mit Ihnen acht Stunden Dante lesen — das macht sechzehn Dollar. Sie kennen doch Benjamino?«

»Ja, ich sehe ihn beinahe jeden Tag in Ihrem Laden und treffe ihn häufig in der Volksbibliothek, umgeben von Bücherstößen. Wir dürfen natürlich dort nicht miteinander reden. Erzählen Sie mir von ihm. Warum sitzt er immer an derselben Stelle neben der Kasse?«

»Wußten Sie nicht, daß er ein Krüppel ist? Er hat keine Füße.«

»Nein, Signora, das war mir unbekannt.«

»Mit fünf Jahren lief er gegen einen fahrenden Zug und verlor beide Füße.«

Die Erinnerung an diesen schrecklichen Vorfall ließ sich von ihren Augen ablesen, aber nachdem so viele Tage voller Bewunderung und Liebe für ihren Sohn verstrichen waren, hatte sich ihr Kummer gewandelt, wie ihre folgenden Worte zeigen sollten. »Benjy ist ein sehr kluger Junge. Jede Woche gewinnt er irgendeinen Preis. Er löst alle Rätsel in den Zeitungen — und Sie wissen ja, wie viele Zeitungen und Illustrierte wir haben. Er gewinnt auch bei allen Preisausschreiben und bekommt Schecks über fünf Dollar, zehn Dollar, einmal sogar über zwanzig Dollar. Dazu Uhren, Fahrräder, Kisten mit Hundefutter. Er hat auch eine Reise nach Washington, D. C. gewonnen: als er ihnen schrieb, er sei ein Krüppel, schickten sie ihm das Geld. Aber das ist noch nicht alles.« Sie deutete auf ihre Stirn. »Er ist sehr gescheit, er erfindet Rätsel für die Zeitungen. Zeitungen in Boston und New York bezahlen ihn für Rechenrätsel, Scherzrätsel, Schachrätsel. Und jetzt hat er sogar eine neue Art von Rätsel erfunden. Ich verstehe nichts davon. Er macht Muster aus Worten, die rauf und runter gehen.«

»Was für Schulen hat er besucht, Signora?«

»Er hat eine höhere Schule besucht und war immer der Erste seiner Klasse. Aber das Gymnasium hat Steintreppen. Er fuhr in seinem kleinen Wägelchen zur Schule, doch er wollte dann nicht, daß die Jungen ihn zwanzigmal am Tag die große Treppe hinauf- und hinuntertragen. Die Jungen mögen ihn, alle lieben Benjy. Aber er ist sehr selbständig. Wissen Sie, was er gemacht hat? Er hat der Unterrichtsbehörde in Providence geschrieben und gebeten, ihm das Lehrmaterial und die Examensfragen zu schicken, nach denen hospitalisierte Schüler, gelähmte oder tuberkulosekranke, sich weiterbilden. Und er hat das Schlußexamen als Bester bestanden. Er erhielt eine Urkunde mit einem Brief vom Gouverneur!«

»Wunderbar!«

»Ja, Gott ist gut zu uns«, sagte sie und brach in Lachen aus. Sie hatte sich seit langer Zeit die Tränen abgewöhnt, aber irgend etwas mußte man schließlich tun.

»Möchte Benjamino gern auf die Universität gehen?«

»Nein. Er sagt, er kann allein studieren.«

»Warum will er Dante lesen?«

»Mr. Nort’, ich glaube, er hat mir was vorgemacht. Er wußte bestimmt die ganze Zeit über, daß Sie der Mr. North von dem Inserat sind. Ihm gefällt die Art, wie Sie sich mit ihm unterhalten. Er hat viele Freunde, Schulfreunde, Lehrer, Priester, aber sie reden alle mit ihm wie mit einem Krüppel. Er dachte wohl, Sie wüßten, daß er keine Füße hat, und sprächen dennoch mit ihm nicht wie mit einem Krüppel. Die anderen klopfen ihm auf den Rücken und machen laute Witze, sie sind eben nicht natürlich. Im Gegensatz zu Ihnen.« Leiser sagte sie: »Bitte verschweigen Sie ihm, daß Sie nicht wußten, was ihm fehlt.«

»Das verspreche ich Ihnen.«

»Vielleicht möchte er wissen, was Dante über Leute sagt, die einen Unfall gehabt haben — und warum Gott einige mit Unfällen schlägt und andere nicht.«

»Signora, sagen Sie Benjamino, daß ich kein Dante-Forscher bin. Das Studium Dantes ist ein weites Feld, dem Hunderte von Experten ihr Leben gewidmet haben. Dante ist auch voll von Theologie, und ich verstehe nicht viel davon. Ein Junge, der so gescheit ist wie Ihr Sohn, würde mir jeden Augenblick Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann.«

Signora Matera war traurig. Ich ertrage es nicht, an dem traurigen Gesicht einer italienischen Mutter die Schuld zu tragen.

»Signora, welche Messe besuchen Sie mit Ihrer Familie am Sonntag?«

»Die Sieben-Uhr-Messe. Wir müssen ab acht Uhr dreißig die Sonntagszeitungen verkaufen.«

»Am Sonntagmorgen gebe ich um dreiviertel elf eine Stunde. Würde es Ihnen passen, wenn ich um neun Uhr vorbeikomme und mich mit Ihrem Sohn unterhalte?«

»Grazie! Grazie!«

»Kein Unterricht. Kein Geld. Einfach reden.«

Ich war pünktlich. Der Laden war voller Kunden, die sich ihre Sonntagszeitungen aus Boston oder New York erstanden. Rosa stahl sich beiseite und öffnete mir die Verbindungstür vom Laden in das Haus. Sie legte den Finger an den Mund und zeigte auf die Zimmertür ihres Bruders. Ich klopfte.

»Herein.«

Sein Zimmer war so klein und sauber wie eine Schiffskabine. Er saß mit untergeschlagenen Beinen auf mehreren Kissen am Kopfende seines Bettes und trug einen schmucken Kapitänsmantel mit Silberknöpfen, der ihm gut stand. Auf seinen Knien lag ein Reißbrett, denn dies war auch sein Arbeitszimmer. Ein Tischler hatte an drei Wänden Regale eingebaut; die zu seiner Rechten und Linken konnte er mit seinen langen Armen bequem erreichen. Ich entdeckte Wörterbücher und andere Nachschlagewerke sowie Stöße liniiertes Papier, das er wohl für seine Rätsel benutzte. Benjy war ein sehr hübscher Junge mit seinem braungelockten mächtigen Kopf und den italienischen Sarazenen-Augen, die, wie das Matera-Lächeln, sein Gesicht erhellten. Ohne den Unfall wäre er ungewöhnlich groß gewesen. Sein überlegener Blick und die tiefe Baßstimme machten ihn älter, als er in Wirklichkeit war. Ein Sessel stand für mich am Fußende des Bettes bereit.

»Buon giorno, Benjamino!«

»Buon giorno, professore!«

»Sind Sie sehr enttäuscht, daß wir nicht zusammen Dante lesen?« Er schwieg und lächelte weiter. »Ich habe gestern an Dante gedacht. Ich war am Morgen zu Brenton’s Point geradelt, um den Sonnenaufgang am Meer zu sehen. Und

›L’alba vinceva l’ora mattutina,

che fuggia innanzi, sì che di lontano

conobbi il tremolar della marina.‹

Wissen Sie, wo das steht?«

»Zu Beginn des ›Purgatorio‹.«

Ich war verblüfft. »Benjamino, hier nennt Sie jeder Benjy, aber das klingt so nach Straßenjunge. Darf ich Mino sagen?« Er nickte. »Kennen Sie noch einen anderen Mino?«

»Mino da Fiesole.«

»Wovon war Mino hier die Abkürzung?«

»Vielleicht von Giacomino … oder Benjamino.«

»Wissen Sie, was Benjamin im Hebräischen bedeutet?«

»Sohn der rechten Hand.«

»Mino, dies klingt ja nach Schulprüfung. Wir wollen damit aufhören. Aber ich möchte noch einmal kurz auf Dante zurückkommen. Haben Sie je ein paar Verse von Dante auswendig gelernt?«

Der Leser wird diese Frage vielleicht beanstanden, aber es gehört zu den schönsten Freuden des Lehrers, einen hervorragenden Schüler mit seinen Kenntnissen prunken zu sehen. Es ist, als ob man ein vielversprechendes junges Pferd in allen Gangarten für das Rennen trainiert. Ein guter Schüler läßt sich das gern gefallen.

Mino sagte: »Nicht sehr viel — nur die berühmten Stellen, wie Paolo und Francesca oder La Pia und einige andere.«

»Als Graf Ugolino mit seinen Söhnen und Enkeln im Hungerturm eingesperrt war und ein Tag nach dem anderen ohne Nahrung verging — was bedeutet Ihrer Ansicht nach jener viel diskutierte Vers: ›Poscia, più che ‘l dolor, potè il digiuno‹?« Mino sah mich schweigend an. »Wie würden Sie ihn übersetzen?«

»Hunger … hatte da mehr Macht … als Trauer.«

»Und wie sollen wir das verstehen?«

»Er … aß sie auf.«

»Viele bedeutende Gelehrte, besonders im vorigen Jahrhundert, glaubten, es bedeutete: ›Ich starb vor Hunger, der noch mächtiger war als meine Trauer.‹ Wie kommen Sie zu Ihrer Auslegung?«

Plötzlich zeigte sein Gesicht einen Ausdruck leidenschaftlicher Heftigkeit. »Diese Passage ist voll von Hinweisen. Der Sohn sagt zum Vater: ›Du gabst uns das Fleisch; nimm es jetzt wieder zurück!‹ Und während er spricht — inmitten von Eis auf dem Boden der Hölle —, nagt er am Nacken seines Feindes.«

»Ich glaube, Sie haben recht, Mino. Das neunzehnte Jahrhundert hat sich geweigert, die grausame Wahrheit zur Kenntnis zu nehmen. Die ›Divina Comedia‹ wurde in Cambridge, Massachusetts, von Charles Eliot Norton übersetzt, außerdem noch von Henry Wadsworth Longfellow — mit Anmerkungen — und von Thomas Carlyles Bruder in London; sie weigerten sich, diese Stelle so zu sehen wie Sie. Das sollte uns lehren, daß Angelsachsen und Protestanten Ihr Land immer mißverstanden haben. Sie wollten die Süße haben ohne das Eisen — ohne diese berühmte italienische terribilità. Es ist ein Ausweichen und Zurückschrecken vor der Ganzheit des Lebens. Haben Sie nicht Leute getroffen, die so taten, als ob Sie nie einen Unfall gehabt hätten?«

Er sah mich ernst und schweigend an. Ich lächelte. Er lächelte. Ich lachte. Er lachte.

»Mino, was entbehren Sie jetzt am meisten?«

»Daß ich nicht tanzen gehen kann.« Er wurde rot. Wir brachen beide in Lachen aus.

»Was würden Sie ohne Augenlicht am meisten entbehren?«

Er dachte einen Augenblick nach und antwortete: »Das Sehen von Gesichtern.«

»Nicht Lesen?«

»Es gibt Ersatz fürs Lesen, aber es gibt keinen Ersatz für den Blick auf ein Gesicht.«

»Donnerwetter, Mino! Ihre Mutter hatte recht. Mit Ihren Füßen hatten Sie Pech, aber in Ihrem oberen Stockwerk sind Sie schwer in Ordnung.«

Ich weiß sehr wohl, meine lieben Leser, worüber er mit mir sprechen wollte (für zwei Dollar pro Stunde), und Sie wissen es auch. Ich habe den Verdacht, daß seine Mutter es auch wußte — nicht ohne Grund hatte sie in ihrem Bericht betont, daß die Jungen und Männer zu seinem Leidwesen sich nicht »natürlich« mit ihm unterhielten. Anscheinend durch Zufall (aber je älter ich werde, desto weniger überrascht mich, was man gemeinhin mit Zufall bezeichnet) war ich zu der Unterredung mit Mino nicht unvorbereitet gekommen, sondern ausgerüstet mit einem beträchtlichen Erfahrungsvorrat.

Die folgende Rekapitulation aus dem Jahre 1921 ist deshalb keine überflüssige Abschweifung:

Als ich aus der Armee entlassen wurde — ich hatte die Narragansett-Bucht hier verteidigt, ohne einen Gegner zu sehen —, beendete ich mein Studium und unterrichtete an der Raritan-Schule in New Jersey. In der Nähe gab es ein Hospital für amputierte und gelähmte Kriegsverletzte, dessen Personal aus überbeschäftigten Krankenschwestern und Beschäftigungstherapeuten bestand. Damen aus den umliegenden Ortschaften meldeten sich freiwillig als Hilfskräfte für diese Arbeit — zweifellos tapfere Damen, denn es ist nicht einfach, plötzlich in eine Welt von vierhundert Männern versetzt zu werden, von denen die meisten eines oder mehrere Gliedmaßen verloren hatten. Die Damen spielten mit den Männern Schach oder Mühle, sie gaben Mandolinen- oder Gitarrestunden, sie organisierten Kurse in Aquarellmalerei und freier Rede und stellten auch noch einen Theater- und einen Gesangverein auf die Beine. Aber die freiwilligen Frauen setzten sich nicht durch. Die vierhundert Männer konnten also fünfzehn Stunden am Tage bloß Karten spielen, die Schwestern piesacken und die Angst vor dem Danach voreinander verheimlichen. Außerdem fanden sich nur wenige Männer als freiwillige Helfer; wer aus dem Krieg heimgekehrt war, arbeitete schwer, um dort wieder anzuknüpfen, wo er aufgehört hatte. Und natürlich wollte kein Mann, der nicht selbst Soldat gewesen war, sich freiwillig diesem Dschungel von verstörten, verwundeten Männern aussetzen. Also schrieb der Direktor des Hospitals die umliegenden Privatschulen an, daß er ehemalige Soldaten zur Entlastung des Leiters der Beschäftigungstherapie brauchte. Für die Fahrt würde gesorgt. Einige von der Raritan-Schule (darunter T. T. North, Gefreiter, Küstenartillerie, demobilisiert) wurden nun jeden Montagmorgen und Freitagnachmittag in einen Munitionswagen verladen und in das dreißig Meilen entfernte Hospital transportiert.

»Meine Herren«, sagte der zuständige Abteilungsleiter, »eine große Anzahl von diesen Burschen wollen Journalismus lernen. Sie glauben nämlich, sie könnten eine Million Dollar scheffeln, wenn sie ihre Kriegserlebnisse der Saturday Evening Post verkaufen. Ein paar wollen den Krieg auch vergessen und Wild-west-Stories oder Kriminalromane verkaufen. Die meisten haben die Schule mittendrin abgebrochen. Sie können nicht einmal eine Wäscheliste schreiben … Ich werde Sie jetzt in Gruppen einteilen. Jeder von euch freiwilligen Helfern betreut zwölf Mann. Die haben sich begeistert für den Kurs gemeldet; Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen. Der Kursus heißt: ›Mit Schreiben Geld verdienen.‹ Die Patienten sind sehr willig, ja, aber ich muß Ihnen gleich sagen: sie werden leicht müde. Machen Sie alle fünfzehn Minuten eine Unterhaltungspause für die Leute. Die meisten sind wirklich nett; da brauchen Sie sich wegen der Disziplin keine Sorgen zu machen. Aber die Angst vor der Zukunft sitzt allen in den Knochen. Wenn sie Ihnen ihr Vertrauen schenken, hören Sie noch genug davon. Ich werde jetzt einmal ganz offen mit Ihnen sprechen, von Mann zu Mann: diese Leute fürchten, daß nie ein Mädchen sie heiraten wird; sie fürchten sogar, daß auch keine Hure mit ihnen schläft. Sie glauben, die da draußen halten sie für Eunuchen. Die meisten sind’s natürlich nicht. Aber die Amputation fördert die Einbildung, so daß sie sich kastriert fühlen. Nacht für Nacht wacht mindestens einer schreiend auf, weil er davon geträumt hat. Sie haben nur den einen Gedanken: Sex, Sex, Sex — neben der verzweifelten Angst, daß sie ihr Leben lang auf andere angewiesen sein könnten. Machen Sie also alle fünfzehn Minuten eine Unterhaltungspause. Ihr Beitrag hier besteht darin, daß Sie den Patienten Gelegenheit verschaffen, Dampf abzulassen. Und noch eins: alle gebrauchen unter sich die dreckigsten Ausdrücke aus New York und Kentucky, aus Oklahoma und Kalifornien. Das ist verständlich. Wir haben die Vorschrift: wer in Hörweite der Schwestern, der Geistlichen oder der freiwilligen Helfer so redet, wird bestraft. Die Zigarettenration wird herabgesetzt oder der Besuch des Schwimmbads fällt für einen Tag aus, oder es gibt auch Kinoverbot. Sie sollen uns in dieser Sache unterstützen. Sie werden nur dann respektiert, wenn Sie streng sind und unnachsichtig. Verteilen Sie Aufgaben. Sagen Sie, daß jeder einzelne einen Artikel oder eine Story oder ein Gedicht abliefern muß, wenn Sie in acht Tagen wiederkehren. Miß Warren wird Sie jetzt zu Ihren Tischen im Turnsaal führen. Ich danke Ihnen, meine Herren, daß Sie gekommen sind.«

___________

»Mino, ich finde es großartig, wie Sie sich allmählich selbständig machen, indem Sie Rätsel lösen und erfinden.«

»Mit zwölf habe ich damit angefangen. Die Schularbeiten waren nicht allzu schwer, also habe ich viel gelesen. Rosa brachte mir Bücher aus der Volksbibliothek.«

»Was für Bücher?«

»Damals wollte ich Astronom werden, aber es war zu früh, ich war noch nicht reif für die Mathematik. Jetzt bin ich’s. Dann wollte ich Geistlicher werden. Das ging natürlich nicht, aber ich habe viel Theologie und Philosophie gelesen. Ohne alles zu verstehen. Aber … damals habe ich auch viel Latein getrieben.«

»Hatten Sie niemanden, mit dem Sie darüber sprechen konnten?«

»Ich denke lieber allein darüber nach.«

»Und da wollten Sie Dante mit mir lesen?«

Er wurde rot und murmelte: »Das ist etwas anderes … Dann erfand ich also Rätsel, um mir Bücher kaufen zu können.«

»Zeigen Sie mir ein paar von Ihren Rätseln.«

Die Regale, die sich in Reichweite seiner Hände befanden, waren wie bei einem Wäscheschrank gearbeitet. Er zog ein Bündel Papiere hervor: die Rätsel waren mit chinesischer Tusche auf Zeichenpapier geschrieben. »Opus elegantissimum, juvenis!« sagte ich. »Macht Ihnen das nicht Spaß?«

»Nein. Das Geld macht mir Spaß.«

Ich sagte leiser: »Ich erinnere mich noch an meinen ersten Scheck. Das wirkte wie ein Tritt in den Hintern. Man ist ein Mann geworden. Ihre Mutter hat mir gesagt, daß Sie noch mehr erfinden.«

»Ich habe drei neue Spiele für Erwachsene entworfen. Kennen Sie Mr. Aldeburg?«

»Nein.«

»Er ist hier Anwalt und hilft mir, meine Sachen patentieren zu lassen. Es gibt viele Schwindler auf diesem Gebiet. Die sind verrückt nach neuen Ideen und stehlen wie die Raben.«

Ich lehnte mich zurück. »Mino, welches sind die drei wichtigsten Dinge, die Sie sich leisten wollen, wenn Sie sehr viel verdienen?«

Er griff in ein anderes Regal und zeigte mir den Fachkatalog einer Firma für Krankenpflege-Bedarf, darunter Rollstühle für Behinderte. Er öffnete den Katalog und zeigte auf eine Seite: ein Rollstuhl, motorisiert, nickelbeschlagen, mit einem abnehmbaren Verdeck zum Schutz gegen Regen, Schnee oder Sonne. Wunderbar. Zweihundertfünfundsiebzig Dollar.

Ich pfiff durch die Zähne. »Und danach?«

Ein anderer Katalog. »Ich bekomme jetzt Stiefel nach Maß. Sie werden oberhalb und unterhalb des Knies festgeschnallt. Ich brauche dann immer noch Krücken, aber meine Füße würden nicht so hin- und herpendeln. Und mit meinen Beinen könnte ich mich mehr auf den Boden stützen. Ohne Stock geht es allerdings nicht, sonst falle ich auf die Nase. Ich werde etwas erfinden, sobald ich mich an die Stiefel gewöhnt habe.«

Er sprach mit so viel Reife und Überlegenheit, als handele es sich um den Kauf eines Wagens. Dennoch gab es in seinem Selbstvertrauen einen wunden Punkt. Ich steuerte ihn an: »Und danach wollen Sie sich eine Wohnung nehmen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte er überrascht.

»Wo Sie Ihre Freunde einladen können?«

»Ja«, sagte er und schaute mich prüfend an, ob ich erraten hätte, was ihm vorschwebte. Ich lächelte und wiederholte meine Frage, während ich ihn fest ansah. Der Mut verließ ihn, und seine Augen irrten ab.

»Kann ich einen Blick auf Ihre Bibliothek werfen, Mino?«

»Natürlich.«

Ich stand auf und drehte mich um. Lauter antiquarische Bücher, durch langen Gebrauch — länger als Minos Leben — abgenutzt. Wenn er sie in Newport gekauft hatte, mußte er dieselben Antiquariate durchstöbert haben wie ich, als ich die Fünfte Stadt »ausgrub«. Vielleicht hatte er sie auch anhand von Katalogen in den größeren Städten bestellt. Im untersten Regal befanden sich die »Encyclopaedia Britannica« (elfte Auflage), einige Atlanten, Sternkarten und andere große Nachschlagewerke. Die Mehrzahl der Regale enthielt Werke der Astronomie und Mathematik. Ich holte Newtons »Principia« herunter. Das Buch war voll von Randbemerkungen, in einer schönen Handschrift mit schon verblassender Tinte geschrieben.

»Sind das Ihre Randbemerkungen?«

»Nein, aber sie waren sehr erhellend.«

»Wo ist Ihre ›Divina Comedia‹?«

Er zeigte auf zwei Regale in Reichweite: die »Summa«, Spinoza, die »Äneis«, die »Pensées« von Pascal, Descartes …

»Lesen Sie Französisch?«

»Rosa schwärmt für Französisch. Wir spielen Schach und andere Spiele auf Französisch.«

Ich mußte an Elbert Hughes denken. Es gab also noch ein zweites Halb-Genie in Newport, vielleicht sogar ein echtes Genie. Vielleicht eine späte Blüte der Fünften Stadt. Ich erinnerte mich, daß vor beinahe hundert Jahren in Concord, Massachusetts, die Leute zusammengekommen sein sollten, um an einem Abend Italienisch, Griechisch, Deutsch oder Sanskrit miteinander zu lesen. In Berkeley, Kalifornien, pflegte meine Mutter auch an einem Abend in der Woche mit Mrs. Day Französisch zu lesen und an einem anderen Italienisch mit Mrs. Vincent. Sie belegte Deutschkurse an der Universität (bei Professor Pinger), weil wir, ihre Kinder, in zwei deutschen Schulen in China etwas Deutsch gelernt hatten.

Mir lag die Frage auf der Zunge, ob er, Mino, nicht Lust hätte, eine der beiden Universitäten in der Nähe zu besuchen. Ich sah aber ein, daß sein extremes Gefühl für Unabhängigkeit ihn nicht nur davon abhielt, andere beim Gehen um Hilfe zu bitten, sondern daß seine Isolierung aus ihm einen Autodidakten gemacht hatte. (»Ich denke lieber allein darüber nach.«) Ich erinnerte mich, daß der Vater Pascals den Sohn dabei ertappte, wie er mit Begeisterung das »Erste Buch« von Euklid las. Der Vater hatte andere Pläne mit seinem Sohn, er nahm ihm das — kaum begonnene — Buch fort und schloß ihn ein; aber Pascal schrieb in seinem Zimmer das Buch zu Ende, indem er die Grundsätze für das Rechteck und das Viereck selbst ableitete, so wie der Seidenwurm aus seinen Eingeweiden die Seide spinnt. Der Fall Mino stimmte mich jedoch traurig. Es ist im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr möglich, als ein Autodidakt auf einem riesigen Interessengebiet sehr weit zu kommen. Ich kannte bereits solche einsamen Männer — und in späteren Jahren entdeckte ich noch andere hinzu —, die in ihrer Jugend eine gründliche Ausbildung von sich gewiesen hatten und später eine »Geschichte der menschlichen Intelligenz« schrieben oder über die »Ursprünge der moralischen Werte«.

Ich setzte mich wieder. »Mino, haben Sie in letzter Zeit ein Mädchen getroffen, das Ihnen gefiel?«

Er schaute mich an, als hätte ich ihn geschlagen oder mich über ihn lustig gemacht. Ich hielt seinen Blick fest und wartete ab.

»Nein … Ich kenne keine Mädchen.«

»O doch! Ihre Schwester bringt ihre Freundinnen her, damit sie Sie kennenlernen.« Er konnte und wollte dies nicht leugnen. »Habe ich Sie nicht mit einer Bibliothekarin im Zeitschriftensaal der Volksbibliothek sprechen sehen?« Er konnte und wollte dies nicht leugnen.

Endlich sagte er: »Die Mädchen nehmen mich nicht ernst.«

»Was meinen Sie damit: die Mädchen nehmen mich nicht ernst?«

»Sie unterhalten sich eine Minute mit mir und wollen so schnell wie möglich loskommen.«

»Zum Donnerwetter, was erwarten Sie denn von ihnen? Daß sie sich auf der Stelle ausziehen?«

Seine Hände zitterten. Er schob sie unter sein Gesäß und starrte mich weiter an. »Nein.«

»Sie glauben, daß die Mädchen mit Ihnen nicht natürlich reden, aber Sie tun das ja auch nicht mit den Mädchen. Ich wette, daß Sie Ihre Karten nicht richtig ausspielen. Ein gut aussehender junger Mann, mit einem erstklassigen, hochqualifizierten Verstand.« Atemloses Schweigen. Minos Panik wirkte ansteckend, doch ich wagte mich weiter vor. »Gewiß, Sie haben ein Handicap, aber das Handicap ist nicht so schlimm, wie Sie meinen. Sie bilden sich da viel ein. Seien Sie — Sie selber, Mino! Zahllose Männer mit so einem Handicap haben geheiratet und Kinder bekommen. Wollen Sie wissen, wieso ich das aus persönlicher Erfahrung bestätigen kann?«

»Ja.«

Ich erzählte ihm von dem Hospital mit den Amputierten und Gelähmten und schloß beinahe schreiend: »Vierhundert Männer in Rollstühlen. Und viele schicken mir noch heute Briefe und Ansichtskarten. Und Photos von ihrer Familie — ihrer eigenen neuen Familie, vor allem mit Weihnachtsgrüßen. Ich habe sie nicht hier in Newport, aber ich werde nach Hause schreiben und sie mir schicken lassen, um sie Ihnen zu zeigen. Gewiß, jene Männer sind älter als Sie, Mino, die meisten waren auch bei ihrer Verwundung älter. Warum sind Sie so verdammt ungeduldig? Warum haben Sie solche Angst vor der Zukunft? Können Sie nicht noch zehn oder zwanzig Jahre warten? Nein, es muß morgen sein, heute. Das haben Sie sich in den Kopf gesetzt. Und noch etwas anderes stimmt bei Ihnen nicht: Sie möchten die große Leidenschaft frei ins Haus geliefert haben. Natürlich, ein Mann braucht den Umgang mit Frauen, das sehe ich vollkommen ein. Aber verderben Sie sich nicht alles, indem Sie zu früh einen Überdruck produzieren. Fangen Sie mit Freundschaft an. Hören Sie: Mißis Laughlins’ Tea-Room ist acht Türen von Ihres Vaters Haus entfernt. Haben Sie schon mal dort gegessen?« Er schüttelte den Kopf. »Gut, Sie werden dort essen, Sie und Rosa. Ich möchte Sie und ein Mädchen aus Ihrer Bekanntschaft am nächsten Sonnabend zum Mittagessen einladen.«

»Ich kenne kein Mädchen gut genug, um es darum zu bitten.«

»Wenn Sie kein Mädchen am Sonnabendmittag mitbringen, werde ich die ganze Angelegenheit schießenlassen. Es wird mir immer ein Vergnügen sein, Sie zu besuchen, um mich mit Ihnen über Sir Isaac Newton oder Bischof Berkeley zu unterhalten — dessen Werke ich leider auf Ihren Regalen vermisse —, aber ich werde nie mehr Mädchen ins Gespräch bringen. Wie Eunuchen werden wir uns unterhalten. Ich hatte mir vorgestellt, daß Sie ein Mädchen für den kommenden Sonnabend mit uns dreien auffordern, um das Eis zu brechen, und daß Sie am darauffolgenden Sonnabend mit einem anderen Mädchen allein essen gehen. Ich nehme an, Sie können sich das leisten. Es gibt da eine sehr gute ›Blaue Platte‹ für fünfundsiebzig Cents. Und Sie hätten ja, ohne mit der Wimper zu zucken, sechzehn Dollar für ein paar lausige Dante-Stunden mit mir zum Fenster hinausgeworfen … Übernächsten Sonnabend will ich wieder eine Party geben und Sie bringen noch mal ein anderes Mädchen mit.«

Er kämpfte schwer mit sich. »Die einzigen Mädchen, die ich kenne — oberflächlich kenne —, sind Zwillingsschwestern.«

»Großartig. Sind sie amüsant?«

»Ja.«

»Wie heißen sie?«

»Avonzino. Filumena und Agnese.«

»Welche haben Sie lieber?«

»Ich habe beide gleich gern.«

»Gut. Am Sonnabend werden Sie neben Agnese sitzen, und ich will einen Freund für Filumena mitbringen. Sie wissen wahrscheinlich, was Agnese im Griechischen bedeutet?« Er reagierte nicht. »Der Name kommt von hagne — ›rein‹, ›keusch‹. Lassen Sie also ihre lasziven Gedanken zu Hause. Bleiben Sie ruhig. Dies ist nur ein nettes, heiteres Zusammensein. Sprechen Sie über das Wetter und über Ihre Rätsel. Die Mädchen werden begeistert sein, wenn wir ihnen von Ihren Erfindungen und Patenten erzählen. Abgemacht?« Er nickte. »Sie werden mir doch nicht im letzten Augenblick abspringen?« Er schüttelte den Kopf. »Und vergessen Sie nicht: Lord Byron mußte wegen seinem verkrüppelten Fuß einen komplizierten Stiefel anschnallen, und dennoch flogen ihm die Mädchenherzen aus halb Europa zu. Lassen Sie es sich gesagt sein. Was bedeutet der Name Ödipus?«

»Schwellfuß.«

»Und wen hat er geheiratet?«

»Seine Mutter.«

»Und wie hieß seine herrliche Tochter?«

»Antigone.«

Ich lachte, und Mino brachte ein zögerndes Lachen zuwege. Ich fuhr fort. »Ich muß jetzt gehen. Geben wir uns die Hand, Mino. Ich sehe Sie nächsten Sonntag hier um die gleiche Zeit, aber vorher treffen wir uns am Sonnabend um zwölf Uhr dreißig im Schottischen Tea-Room. Tragen Sie dasselbe, was Sie jetzt anhaben, und seien Sie bereit, sich zu amüsieren. Sie bekommen die netten Mädchen nicht, indem sie mit ihnen tanzen oder Tennis spielen. Sie bekommen sie, weil Sie ein feiner, anständiger Kerl sind mit einem gewissen Etwas in den Augen und genügend Geld auf der Bank, um eine kleine Antigone oder Ismene oder Polyneike oder Eteocle zum Essen auszuführen. Schluß jetzt!«

Als ich durch den Laden ging, erzählte ich Rosa von der Verabredung für Sonnabendmittag. »Werden Sie kommen?«

»O ja. Vielen Dank.«

»Sehen Sie zu, daß Mino die Avonzino-Mädchen auch wirklich einlädt. Sie müssen da vielleicht etwas nachhelfen, aber so wenig wie nur möglich. Signora Matera, Sie haben den klügsten Jungen auf der ganzen Insel Aquidneck.«

»Hab ich’s Ihnen nicht gesagt, professore?« Und sie küßte mich mitten in dem übervollen Laden.

Ich schüttelte ihrem Mann die Hand. »Auf Wiedersehen, Don Matteo!« (In Süd-Italien wird ein geachtetes Familienoberhaupt sogar in Arbeiterkreisen mit »Don« angeredet — ein Nachklang von Jahrhunderten spanischer Besetzung.)

Ich ging zum nächsten Telephon, wählte die Nummer des Venable-Hauses und verlangte, den Baron zu sprechen.

»Grüß Gott, Herr Baron.«

»Ach, der Herr Professor. Lobet den Herrn!«

»Bodo, wir haben in der Achten Stadt zu Abend gegessen — erinnern Sie sich noch?«

»Ich werde es nie vergessen.«

»Möchten Sie gern in der Neunten Stadt lunchen?«

»Schön! Wann?«

»Sind Sie am Sonnabend um zwölf Uhr dreißig frei?«

»Ich kann mich frei machen.«

»Sie sind mein Gast. Sie speisen die ›Blaue Platte‹ für fünfundsiebzig Cents Schlag zwölf Uhr dreißig im Schottischen Tea-Room. Wissen Sie, wo das ist?«

»Ich habe ihn gesehen. Wird die Polizei kommen?«

»Bodo! Die Neunte Stadt ist die anständigste von allen in Newport.«

»Haben Sie sich wieder etwas Schönes ausgedacht?«

»Ja. Ich will Ihnen einen Anhaltspunkt geben. Sie werden nicht der Ehrengast sein und auch nicht Baron. Der Ehrengast ist ein einundzwanzigjähriges Genie ohne Füße.«

»Was haben Sie gesagt?«

»Der junge Mann wurde von einem Zug überfahren, als er noch klein war. Keine Füße. Er liest, wie Sie auch, die ›Summa‹ und Spinoza und Descartes vor dem Frühstück, im Original natürlich. Bodo, wenn Sie keine Füße hätten, würden junge Mädchen Sie einschüchtern?«

»Ja … wahrscheinlich, ein bißchen.«

»Nun, es werden drei reizende junge Mädchen aus der Neunten Stadt anwesend sein. Ziehen Sie sich nicht zu elegant an, Mr. Stams. Und zwicken Sie auch keine in den Hintern, Mr. Stams.«

»Gott helfe uns. Du bist ein verfluchter Kerl.«

»Wiederschaun.«

___________

Am Sonnabendmorgen ging ich in den Tea-Room und sprach mit meiner geschätzten und hochkorrekten Freundin, Miß Ailsa Laughlin.

»Wir werden sechs Personen sein, Miß Ailsa. Können wir den runden Tisch in der Ecke haben?«

»Wir reservieren keine Tische über die Zeit hinaus, Mr. North. Das sollten Sie nun wissen. Fünf Minuten zu spät, und Sie müssen sich mit dem abfinden, was Sie bekommen.«

»Wenn ich Sie reden höre, Miß Ailsa, muß ich die Augen schließen — um der Musik des Hochlandes zu lauschen.«

»Es ist das Gegenteil von Hochland, Mr. North, nämlich Ayrshire. Die Laughlins waren Nachbarn von Robbie Burns.«

»Musik, reinste Musik. Wir werden pünktlich um zwölf Uhr dreißig hier eintreffen. Was bieten Sie uns?«

»Sie wissen, daß wir am Sonnabend immer Lammpastete haben.«

»O ja, agneau en croûte. Übermitteln Sie Miß Jeannie meine untertänigste Bewunderung.«

»Sie wird Ihnen nicht glauben, Mr. North. Sie hält Sie für einen unsicheren Kantonisten. Sie und Miß Deland haben sich in unserem Haus so skandalös aufgeführt!«

Wir waren sehr pünktlich, aber die Materas waren die allerpünktlichsten. Sie kamen fünf Minuten zu früh, damit wir nicht sehen sollten, wie Mino aus dem Rollstuhl aufstand, seine Krücken nahm und sich schaukelnd in den Tea-Room schleppte, wobei Rosas Hand ihn im Rücken stützte. Ich kam gerade zurecht, um jedem seinen Platz anzuweisen. Rosa gehörte zu jenen Mädchen, die von Mal zu Mal attraktiver wirken durch den Zauber ihrer Fröhlichkeit. Mr. Stams und die Avonzino-Mädchen trafen unmittelbar nach uns ein. Filumena und Agnese ähnelten einander verblüffend und waren so schön, daß die Welt durch ihre Verdoppelung sichtlich bereichert wurde. Die beiden hatten sich aufregend reizvoll angezogen. Rosa, die zu meiner Rechten saß, teilte mir mit, daß sie Kleider und Hüte vor fünf Jahren nach einem Schnittmuster selbst angefertigt hatten, als sie bei der Hochzeit ihrer älteren Schwester Brautjungfern waren. Die Kleider waren aus feinstem, orangefarbenem Organdy. Die breitrandigen Hüte hatten die Mädchen sich aus demselben Stoff und dünnem Draht »zusammengebaut«. Wenn die Zwillinge durch eine belebte Straße gingen, standen die Leute Spalier, um sie zu bewundern. Damit man sie voneinander unterscheiden konnte, trug jede das gestickte Initial ihres Namens über dem Herzen. Agnese hatte einen Trauring am Finger. Sie hieß Mrs. Robert O’Brien; ihr Mann, ein Marineoffizier, war vor drei Jahren auf hoher See umgekommen.

Ich machte die Anwesenden miteinander bekannt. »Wir werden uns jetzt mit unseren Vornamen anreden. Neben mir sitzt Rosa, dann kommt Bodo — er stammt aus Österreich —, dann Agnese, dann Mino, Rosas Bruder, und neben ihm Filumena. Bodo, wollen Sie bitte die Namen wiederholen.«

»Es sind alles so schöne Namen, außer dem meinen, daß ich mich richtig schäme. Also: Theophilus, Rosa, der arme alte Bodo, Agnese, Mino, Filumena.«

Wir applaudierten.

Es war ein warmer Tag. Wir tranken als Aperitif Traubensaft, in dem ein »Schlag« Zitroneneis schwamm (10 Cents extra). Zwei von meinen Gästen — Mino und Bodo — zeigten sich zunächst befangen, aber die Zwillinge wußten, daß man ihrer übermütigen Schönheit alles durchgehen lassen würde.

»Bodo«, sagte Filumena, »ich liebe Ihren Namen. Er klingt wie der Name eines sehr lieben Hundes. Und Sie sehen wie ein sehr lieber Hund aus.«

»Oh, vielen Dank.«

»Agnese, wir sollten in unserem Hof eine große Hundehütte für Bodo bauen, er könnte uns dann alle bösen Männer vom Leib halten. Mamma würde Sie lieben, Bodo, und Sie wunderbar füttern.«

»Und«, sagte Agnese, »Filumena und ich würden Ihnen eine Kette aus Blumen um den Hals hängen und Sie spazierenführen.«

Bodo bellte fröhlich und schwenkte dazu den Kopf auf und ab.

Agnese fuhr fort: »Aber werden Sie ja nicht eifersüchtig, Bodo. Mamma liebt Mino über alles, weil er alles weiß. Sie sagt ihm das Datum, an dem sie geboren ist, und er sieht zur Decke hinauf und sagt: ›Es muß ein Donnerstag gewesen sein.‹ Papa fragt ihn, warum es alle vier Jahre ein Schaltjahr gibt, und wenn Mino es erklärt, ist es so einfach wie zwei mal zwei.«

Ich sagte: »Mino hat mir erlaubt, Ihnen sein Geheimnis mitzuteilen.«

»Mino will heiraten!« rief Filumena.

»Natürlich will Mino heiraten, wie wir alle, aber Mino ist noch zu jung dafür. Nein, das Geheimnis ist etwas anderes. Mino hat einige Patente der von ihm erfundenen Spiele verkauft, und sie werden wahrscheinlich Amerika erobern wie Mahjong. Bald gibt es kein Heim mehr ohne diese Spiele, und er wird sehr reich sein.«

»O!« riefen die Mädchen aus.

»Vergessen Sie uns nicht, Mino!«

»Nein«, sagte Mino verwirrt.

»Vergessen Sie nicht, daß wir Sie geliebt haben, bevor Sie reich wurden.«

»Jetzt kommt noch ein Geheimnis«, verkündete ich. »Er will jetzt einen Schuh erfinden, mit dem er Berge besteigen und Schlittschuh laufen kann — und tanzen!«

Applaus. Bravo-Rufe.

Die Lammpastete war köstlich.

Agnese sagte zu Mino: »Und Sie werden Bodo herrliche Hundekuchen spendieren und Filumena eine Nähmaschine, die nicht dauernd bockt.«

»Und«, fuhr Filumena fort, »Agnese bekommt Gesangsstunden bei Maestro del Valle und Ihre Schwester eine Brosche mit Türkisen, weil sie im Juli geboren ist. Was werden Sie Theophilus geben?«

»Ich weiß, was ich mir wünsche«, sagte ich. »Mino soll uns alle am ersten Sonnabend des Monats August 1927 zum Lunch einladen, in demselben Lokal, mit denselben Menschen, demselben Menü, denselben Freundschaften.«

Bodo sagte: »Amen«, wir alle sagten: »Amen«, und Mino fügte hinzu: »Bestimmt.«

Wir aßen jetzt Pflaumenkompott mit Schlagsahne. Die Unterhaltung splitterte sich auf. Während ich mit Rosa schwatzte, sprach Bodo mit Agnese über ihre Liebe zum Gesang. Ich konnte aber nur den Namen »Mozart« aufschnappen. Bodo schlug ihr ein Rätsel vor, das Mino raten sollte. Er sagte ihr aber nicht die Lösung.

»Mino«, sagte sie, »ich werde dir ein Rätsel aufgeben: Was für ein Zusammenhang besteht zwischen dem Namen unseres Gastgebers und dem meines Lieblingskomponisten Mozart?«

Mino sah einen Augenblick zur Decke hinauf und lächelte dann. »Theophilus ist einer, der Gott auf Griechisch liebt, und Amadeus ist einer, der Gott lateinisch liebt.«

Applaus und entzücktes Erstaunen, besonders von meiner Seite.

»Bodo hat mir aufgetragen, ich sollte Sie fragen«, fügte sie bescheiden hinzu.

»Und Mozart wußte das recht gut«, sagte Bodo. »Er unterschrieb seinen zweiten Vornamen mitunter auf Griechisch oder Lateinisch oder auf Deutsch. Wie würde er da heißen, Mino?«

»Ich kann nicht viel Deutsch, aber … Liebe … und Gott — ich hab’s: Gottlieb.«

Mehr Applaus. Miß Ailsa stand hinter mir. Die Schotten lernen gern.

Agnese wandte sich wieder an Mino: »Und mein Name? Was bedeutet er? Lamm?«

Mino warf mir einen Blick zu und wandte sich dann wieder an sie. »Das wäre möglich, aber viele Leute glauben, daß er von einem älteren Wort abgeleitet wurde, von dem griechischen hagne, das ›rein‹ bedeutet.«

Tränen stiegen ihr in die Augen. »Filumena, bitte gib Mino einen Kuß von mir auf die Stirn.«

»Mit Vergnügen«, sagte Filumena und tat es.

Wir waren von diesen Überraschungen und Wundern alle ein wenig erschöpft und verstummten, während der Kaffee serviert wurde (fünf Cents extra).

Rosa flüsterte mir zu: »Ich glaube, dort in der Ecke sitzt jemand, den Sie kennen.«

»Hilary Jones! Mit wem sitzt er dort?«

»Mit seiner Frau. Sie sind wieder zusammen. Sie ist Italienerin, aber nicht römisch-katholisch, sondern eine Jüdin. Sie ist Agneses beste Freundin. Wir sind alle Freundinnen. Sie heißt Rachele.«

»Wie geht’s Linda?«

»Sie ist bei ihnen zu Hause und nicht mehr im Krankenhaus.«

Als meine Gäste sich verabschiedeten (Bodo flüsterte: »Du solltest die Unterhaltung hören, an die ich mittags gewöhnt bin!«), ging ich hinüber und schüttelte Hilary die Hand.

»Teddie, ich möchte dich meiner Frau vorstellen, Rachele.«

»Sehr angenehm, Mrs. Jones. Wie geht’s Linda?«

»Viel, viel besser. Sie ist bei uns zu Hause.«

Wir sprachen über Linda und Hills Sommerjob als Sportlehrer auf den städtischen Spielplätzen und über die Materas und die Avonzino-Schwestern.

Schließlich: »Darf ich dich etwas fragen, Hill — und Sie, Mrs. Jones. Ich frage bestimmt nicht aus purer Neugier. Ich weiß, daß Agneses Mann auf dem Meer umgekommen ist. Es muß viele solche Witwen in Newport geben, wie überhaupt der ganzen neu-englischen Küste entlang. Aber ich habe das Gefühl, daß sie noch etwas anderes bedrückt — eine zusätzliche Last. Habe ich recht?«

Die beiden sahen einander bekümmert an.

Hill sagte: »Es war schrecklich … Niemand spricht darüber.«

»Verzeihung. Es tut mir leid, daß ich gefragt habe.«

»Warum soll ich es Ihnen nicht erzählen«, sagte Rachele. »Wir alle lieben sie. Jeder liebt sie. Sie können doch sehen, warum jeder sie lieben muß, nicht wahr?«

»O ja.«

»Man kann nur hoffen, daß ihr reizender kleiner Junge und ihr Singen — sie singt sehr schön, wissen Sie — ihr darüber hinweghelfen. Erzähl du es Mr. North, Hilary.«

»Nein, du, Rachele … bitte.«

»Er gehörte zu der Besatzung eines Unterseebootes. Es war oben im Norden, in der Nähe von Labrador. Das U-Boot fuhr unter Wasser gegen ein Riff oder so etwas, und die Maschinen versagten. Die Wände wurden vom Eis eingedrückt, die Kammern geschlossen. Die Besatzung hatte noch eine Zeitlang Luft, konnte aber nicht mehr in die Kombüse … Sie hatte nichts zu essen.«

Wir sahen einander schweigend an.

»Flugzeuge haben nach dem U-Boot gesucht, natürlich. Dann trieb das Eis weiter und das Boot wurde gefunden. Man brachte ihre Leichen heim. Bobby ist hier auf dem Marine-Friedhof begraben.«

»Ich danke Ihnen. Ich bin nur an Sonntagnachmittagen frei. Kann ich Sie morgen in einer Woche besuchen und Linda sehen?«

»Ja, kommen Sie doch zum Abendessen.«

»Danke vielmals, das geht nicht. Bitte schreib mir eure Adresse auf, Hill. Ich bin gerne um vier Uhr dreißig bei euch.«

___________

In der folgenden Woche traf ich den einen oder den anderen der Matera-Familie, wenn ich mir mittags meine New Yorker Zeitung holte. Jeder von uns ein Italiener. Am Sonntagmorgen um neun Uhr besuchte ich Mino.

»Buon giorno, Mino.«

»Buon giorno, professore.«

»Mino, ich werde Sie nicht fragen, ob Sie Ihr Versprechen gehalten haben und gestern ein Mädchen zum Mittagessen einluden. Ich will kein Wort mehr davon hören. Von jetzt ab ist das ganz allein Ihre Angelegenheit. Worüber sollen wir heute sprechen?«

Er lächelte mit einer Miene, die mehr als üblich ausdrückte: »dieser Mann weiß, was er will«; das beantwortete meine Frage. Junge Menschen brennen darauf, über sich selbst zu sprechen oder zu hören, wie man über sie spricht; doch es kommt eine Zeit — so gegen zwanzig —, da schrecken sie davor zurück. Ihr Interesse für die eigene Person richtet sich nach innen. Deshalb hatte ich gefragt: »Worüber sollen wir heute sprechen?«

»Professore, können Sie mir sagen, wozu ein Universitätsstudium gut sein soll?«

Ich erklärte ihm, welch ein Gewinn der Zwang sei, sich mit Dingen beschäftigen zu müssen, die einem zunächst fremd erscheinen; welch ein Gewinn das Zusammenkommen mit gleichaltrigen jungen Männern und Frauen sei, die ebenso eifrig den größtmöglichen Nutzen aus allem ziehen wie man selber, und auch die Möglichkeit — obwohl es Glückssache ist —, auf einen wirklichen Lehrer, ja sogar einen großen Lehrer zu stoßen. Ich erinnerte ihn an das, worum Dante seinen Führer Virgil bittet: »Gib mir die Nahrung, auf die du mir Appetit gemacht hast.«

Er sah mich durchdringend an. »Glauben Sie, ich sollte auf die Universität gehen?«

»Das kann ich Ihnen noch nicht sagen. Sie sind ein sehr bemerkenswerter junger Mann, Mino. Es ist durchaus möglich, daß eine amerikanische Universität Ihnen nichts mehr geben kann. Sie haben den Appetit und Sie wissen, wo Sie die Nahrung finden können. Sie haben über ein Handicap triumphiert, und das Handicap hat Sie zu Ihrem Triumph angespornt. Es kann sein, daß Sie auch über das andere Handicap triumphieren — den Mangel an einer regulären Erziehung und Ausbildung.«

Er sagte leise: »Was fehlt mir Ihrer Meinung nach am meisten?«

Ich lachte und erhob mich, um zu gehen. »Mino, vor vielen Jahrhunderten hatte ein König in der Nähe von Griechenland eine Tochter, die er sehr liebte. Sie schien an einer geheimnisvollen Krankheit dahinzusiechen. Der alte Mann reiste also zu dem großen Orakel nach Delphi, brachte reiche Opfergaben mit und befragte die Sybille: ›Was kann ich tun, damit meine Tochter wieder gesund wird?‹ Und die Sibylle kaute an ihren Lorbeerblättern, geriet in Trance und antwortete mit einem Vers: ›Lehre sie Mathematik und Musik.‹ Sie besitzen die Mathematik, aber ich vermisse die Musik in Ihnen.«

»Musik?«

»Ich meine nicht die Musik im engeren Sinne, sondern den ganzen weiten Bereich, den die Musen repräsentieren. Sie haben Ihren Dante — aber die ›Divina Commedia‹ und die ›Äneis‹ sind die einzigen von den Musen inspirierten Werke, die ich hier gesehen habe.«

Er lächelte mich beinahe höhnisch an. »War nicht Urania die Muse der Astronomie?«

»O ja, ich habe sie vergessen. Aber ich stehe trotzdem zu meiner Bemerkung.«

Er schwieg einen Augenblick. »Was sind sie uns heute?«

Ich sagte schnell: »Eine Schule der Neigungen, der Leidenschaften und der Selbsterkenntnis. Denken Sie darüber nach. Mino, nächsten Sonntagmorgen kann ich nicht kommen, aber ich bin gern am darauffolgenden Sonntag wieder hier. Ave atque vale!« An der Tür drehte ich mich noch einmal um und fragte: »Übrigens — besuchen Sie manchmal Agneses Sohn und Racheles Tochter Linda?«

»Sie besuchen Rosa und meine Mutter, aber nicht mich.«

»Wissen Sie etwas über den Tod von Agneses Mann?«

»Er ist auf dem Meer umgekommen. Das ist alles, was ich weiß.«

Er wurde rot. Ich vermutete, daß er Agnese am Tag vorher zum Lunch eingeladen hatte. Ich winkte ihm mit der Hand zu und sagte: »Pflegen Sie die Musen! Sie sind ein Italiener von der Magna Graecia — wahrscheinlich haben Sie viel griechisches Blut in sich. Pflegen Sie die Musen!«

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In meinem Tagebuch, das mir als Stütze für diese Aufzeichnungen dient, habe ich, wie von so vielen anderen auf diesen Seiten, das Portrait von Mino skizziert. Ich stoße auf eine hastig niedergeschriebene Eintragung: »Minos Handicap bringt Beschränkungen mit sich, die ich nicht vorausgesehen hatte. Er merkt sehr gut, daß die Leute nicht ›natürlich‹ mit ihm sprechen; er ist nie von den Kindern der beiden besten Freundinnen seiner Schwester besucht worden und hat sie wohl auch nie zu sehen bekommen. Wahrscheinlich der ›morbiden‹ Wirkung wegen, die sein Anblick auf die Kinder ausüben könnte. Eine solche Erwägung wäre in Italien undenkbar, wo die Verstümmelten, die Skrofulösen und Verunstalteten auf öffentlichen Plätzen anzutreffen sind — meist als Bettler. Überdies hat man Mino wahrscheinlich die näheren Umstände von O’Briens Tod verheimlicht, die Hilary und Rachele Jones so bedrücken und das Leben seiner Witwe unerträglich überschatten. In Amerika wird der tragische Hintergrund des Daseins in einem Schrank versteckt und sogar den Betroffenen verheimlicht. Soll ich das Mino einmal klarmachen?«

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Am darauffolgenden Sonntag besuchte ich mit einem kleinen Biedermeier-Bouquet Linda und ihre Eltern. Hilary, mit seiner Frau wieder versöhnt, war stolz auf seine Familie, was immer ein erfreulicher Anblick ist. Racheles Familie stammte aus Norditalien, aus dem Industriegebiet um Turin, und dort werden junge Mädchen aus der Arbeiterklasse frühzeitig dazu erzogen, als Büroangestellte oder, wenn möglich, als Lehrerinnen ihr Geld zu verdienen. Die kleine Wohnung war makellos sauber und gediegen eingerichtet. Linda, noch nicht ganz genesen und ein bißchen blaß, freute sich sehr über den Teebesuch. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich hier ein Kleinklavier, dem die oberste und unterste Oktave fehlten.

»Spielen Sie Klavier, Rachele?«

Sie überließ ihrem Mann die Antwort. »Sie spielt sehr gut und ist bei den Boy-Clubs sehr beliebt. Sie singt auch.«

»Gewöhnlich kommt Agnese mit ihrem Johnny am Sonntagnachmittag auf einen Sprung herauf. Sie haben doch nichts dagegen?« fragte Rachele.

»O nein«, sagte ich. »Ich habe die Avonzino-Schwestern sofort ins Herz geschlossen. Werden Sie und Agnese uns etwas vorsingen?«

»Wir singen zusammen Duette. Maestro del Valle gibt uns Unterricht, jede nimmt zwei Stunden im Monat. Wir mußten ihm versprechen, daß wir stets vorsingen, wenn jemand uns ernsthaft darum bittet. Bitten Sie uns ernsthaft darum, Theophilus?«

»Und wie!«

»Dann werden Sie uns zu viert singen hören. Unsere Kinder haben uns nämlich zu Hause so oft gehört, daß sie die Musik bereits kennen und mitsingen. Erst werden wir allein singen, doch beim zweiten Mal werden sie einstimmen. Tun Sie so, als ob es die natürlichste Sache von der Welt wäre. Wir möchten nicht, daß die Kinder befangen werden.«

Da traf auch schon Agnese mit dem wie Linda knapp vierjährigen Johnny O’Brien ein. Sicher war Johnny zu Hause ein Ausbund an Energie, aber wie viele vaterlose Jungen schüchterte ihn die Gegenwart von erwachsenen Männern ein. Er setzte sich mit großen Augen neben seine Mutter. Ohne ihre vitale Schwester war Agnese ebenfalls ein wenig gedämpft. Wir sprachen über unser Mittagessen im Schottischen Tea-Room und über Minos Zukunft, die ich dort in so glühenden Farben ausgemalt hatte. Ich versicherte ihnen, daß dies der Wahrheit entspreche. Agnese fragte, wer Bodo sei und was er mache. Ich sagte es ihr. Eine Überraschung am Tage lieben alle Mädchen.

»Aber dann hätten wir ihn doch nicht mit einem Hund vergleichen dürfen!«

»Agnese, haben Sie denn nicht bemerkt, wie sehr es ihm gefallen hat?«

Nach dem Tee bat ich die jungen Frauen, für uns zu singen. Sie verständigten sich durch einen Blick, und Rachele setzte sich ans Klavier. Jede Mutter wandte sich an ihr Kind, legte den Finger an den Mund und flüsterte: »Später.« Sie sangen Mendelssohns »Oh, daß wir beide …« Mino hätte es hören sollen.

»Jetzt noch einmal.«

Die Mütter sangen leise, die Kinder fröhlich drauflos. Ich sah Hilary an. Und dies hätte er beinahe für Diana Bell aufgegeben.

Agnese sagte: »Für einen Wohltätigkeitsbasar in unserer Kirche haben wir auch etwas aus Pergolesis ›Stabat Mater‹ einstudiert.«

Sie sangen zwei Duette, erst allein, dann mit den Kindern. Pergolesi hätte es hören sollen.

Newport steckt voller Überraschungen. Ich stellte fest, daß die Neunte Stadt der Fünften — vielleicht auch der Zweiten — näher ist als jeder anderen.

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, begleitete ich Agnese, mit Johnny an der Hand, nach Hause.

»Sie haben eine wunderbare Stimme, Agnese.«

»Danke.«

»Ich kann mir denken, daß Maestro del Valle mit Ihnen viel vorhat.«

»O ja. Er hat sich angeboten, mir unentgeltlich Gesangsunterricht zu geben. Mit meiner Pension und meinem täglichen Job könnte ich sogar dafür aufkommen, aber ich habe überhaupt keinen Ehrgeiz.«

»Keinen Ehrgeiz«, wiederholte ich nachdenklich.

»Haben Sie jemals sehr gelitten, Theophilus?«

»Nein.«

Sie murmelte: »Johnny, Musik und Unterwerfung unter den Willen Gottes … das … das hält mich.«

Ich warf, noch immer in Gedanken, eine riskante Bemerkung hin. »Der Krieg hat Hunderttausende von jungen Witwen zurückgelassen.«

Sie antwortete schnell: »Es gibt da einiges bei dem Tod meines Mannes, über das ich mit niemandem sprechen kann, nicht mit Rosa oder Rachele, nicht einmal mit meiner Mutter oder Filumena. Bitte, sagen … sagen … Sie nicht …«

»Johnny, siehst du auch, was ich sehe?«

»Was?«

Ich zeigte auf ein Geschäft.

»Ein Bonbonladen?«

»Und noch dazu einer, der am Sonntag offen ist. Als ich Linda besuchte, habe ich ihr ein kleines Geschenk mitgebracht. Ich wußte nicht, daß du auch dasein würdest, such dir im Schaufenster etwas aus, das du gern haben möchtest.«

Es war ein Kramlädchen, und in einer Ecke des Fensters lag Spielzeug — Flugzeuge, Schiffe, Autos.

Johnny sprang in die Höhe und zeigte mir mit dem Finger: »Da! Da, Mr. North! Da ist ein U-Boot, das U-Boot von meinem Daddy. Kann ich das haben?«

Ich wandte mich an Agnese. Sie warf mir einen verzweifelten Blick zu und schüttelte den Kopf. »Johnny«, sagte ich, »heute ist Sonntag. Als ich noch ein kleiner Junge war, hat mir mein Vater nie am Sonntag Spielzeug gekauft. Am Sonntag gingen wir in die Kirche; es gab weder Spiele noch Spielsachen.« Und dann ging ich hinein und kaufte ihm etwas Schokolade. Als wir das Avonzino-Haus erreicht hatten, sagte er mir artig »Auf Wiedersehen« und verschwand.

Agnese legte eine Hand auf die Türklinke und sagte: »Sie haben wohl Benjy — ich meine Mino — nahegelegt, mich zum Essen einzuladen?«

»Bevor ich überhaupt wußte, daß es die Avonzino-Schwestern gibt, hatte ich ihm bereits nahegelegt, ein oder mehrere Mädchen in den Schottischen Tea-Room einzuladen. Ich habe ihm dann empfohlen, am darauffolgenden Sonnabend wieder mit irgendeinem Mädchen, am liebsten mit einem anderen Mädchen, um seinen Bekanntenkreis zu erweitern, dorthin zu gehen. Er hat mir kein Wort von Ihnen gesagt.«

»Ich habe ihm leider beibringen müssen, daß ich derartige Einladungen nicht mehr annehmen kann. Ich bewundere Mino wie wir alle, aber jede Woche mit ihm ein öffentliches Lokal besuchen, das schickt sich eben nicht … Theophilus, verraten Sie niemandem, was ich Ihnen jetzt sage: Ich bin eine namenlos unglückliche Frau … die nicht einmal mehr zu einer Freundschaft fähig ist. Alles ist nur Theater. Ich weiß, mir kann geholfen werden«, und sie wies mit dem Zeigefinger einer sonst regungslosen Hand nach oben, »aber darauf, darauf muß in Geduld warten.«

»Bitte spielen Sie weiter Theater, Johnny zuliebe. Sie sollen auch gar nicht mit Mino lunchen, doch von Zeit zu Zeit mit einigen von uns gesellig zusammenkommen. Ich glaube, Bodo plant ein Picknick; er hat aber nur Platz für vier in seinem Wagen, und er möchte Sie und Mino wiedersehen …« Sie hob ihre Augen nicht vom Boden auf. Ich wartete. Endlich fügte ich hinzu: »Ich weiß nicht, welche Last Ihr Leben so unerträglich macht, aber ich weiß, daß sie Johnnys Leben bestimmt nicht für immer überschatten soll.«

Sie sah mich erschrocken an und sagte dann abrupt: »Ich danke Ihnen, daß Sie mich nach Hause begleitet haben. Ich will gern mit Mino zusammenkommen, falls noch andere dabei sind.« Sie streckte mir die Hand entgegen. »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Agnese.«

Um sieben Uhr rief ich Bodo an. Man konnte ihn immer erreichen, wenn er sich gerade für eine Dinner-Party umzog.

»Grüß Gott, Herr Baron.«

»Grüß Gott in Ewigkeit.«

»Um wieviel Uhr sind Sie heute abend eingeladen?«

»Um acht Uhr fünfzehn. Warum?«

»Wann kann ich Sie in der Bar vom Muenchinger-King treffen, um Ihnen einen Schlachtplan zu unterbreiten?«

»Ist sieben Uhr dreißig zu früh?«

»Abgemacht.«

Diplomaten sind pünktlich. Bodo hatte sich in Schale geworfen, wie wir das als Studenten zu nennen pflegten. Er war zu einem Essen in der Kriegsmarineschule zu Ehren der »Goldküste« eingeladen — Admirale aus allen möglichen Ländern mit Orden (von den unteren Rängen »Fruchtsalat« betitelt) und allem, was dazugehört. Er bot einen imponierenden Anblick!

»Was haben Sie denn wieder ausgeheckt, old man?« fragte er gespannt.

»Bodo, diesmal etwas ganz Seriöses. Ich muß mich kurz fassen. Kennen Sie die Ugolino-Stelle bei Dante?«

»Natürlich.«

»Erinnern Sie sich an Agnese? Ihr Mann ist in seinem U-Boot auf hoher See umgekommen.« Ich erzählte ihm das wenige, das ich wußte. »Vielleicht starben sie nach wenigen Tagen den Erstickungstod; aber vielleicht lebten sie noch eine volle Woche ohne Nahrung. Das Boot wurde schließlich aus dem Eis herausgeholt. Glauben Sie, daß das Marineministerium den Witwen und Eltern mitgeteilt hat, was man dort vorgefunden hat?«

Er dachte einen Augenblick lang nach. »Etwas Schreckliches wahrscheinlich nicht.«

»Agnese wird von schlimmen Ahnungen verfolgt. Sie haben ihr den Lebenswillen genommen. Sie vermutet nicht, daß ich weiß, welche Ahnungen das sind.«

»Gott helfe uns.«

»Sie sagte mir, daß sie gewisse Dinge weder ihrer Schwester noch ihren besten Freunden und nicht einmal ihrer Mutter anvertrauen könne. Wer so etwas sagt, der möchte für sein Leben gern mit jemandem darüber sprechen. Mino hat sie nach meiner Party im Schottischen Tea-Room mehrmals zum Essen eingeladen. Sie will aber nicht mehr allein mit ihm ausgehen. Finden Sie nicht, daß Mino ein großartiger Bursche ist?«

»Ganz gewiß.«

»Ich möchte nächsten Sonntag ein Sonnenuntergangs-Picknick auf Brenton’s Point organisieren. Sind Sie von fünf bis acht Uhr abends frei?«

»Ja. Es ist einer meiner letzten Tage in Newport, um neun Uhr dreißig gibt man einen Empfang für mich. Es läßt sich einrichten.«

»Ich sorge für den Sekt, die Sandwiches und das Dessert. Können Sie, Ritter des doppelköpfigen Adlers, uns Ihren Wagen zur Verfügung stellen? Sie und Agnese und Mino werden vorne sitzen und ich mit dem Eimer voll Eis und dem Proviant hinten. Ich möchte aber nicht als Gastgeber in Erscheinung treten. Wollen Sie zum Schein einspringen?«

»Nein! Pfui! Nicht zum Schein, sondern wirklich. Ich muß mich jetzt auch kurz fassen. Für meine Gäste habe ich immer Sekt im Eisschrank. Und ich werde einen kleinen Kocher mitbringen und ein warmes Gericht zubereiten. Jeder Schweizer kann innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein Hotel aufmachen; wir Österreicher schaffen es in einer Woche. Falls es regnet oder zu kalt ist, können wir bei mir unterschlüpfen. Sie haben die Idee beigesteuert und damit Ihr Soll mehr als erfüllt. Nun zu Ihrem Schlachtplan, worum geht es denn?«

»Bodo! Fragen Sie mich nicht. Es ist nur eine Hoffnung, nicht mehr.«

»O! O! Geben Sie mir einen kleinen Anhaltspunkt.«

»Kennen Sie ›Macbeth‹?«

»Wir haben das Stück in Eton aufgeführt. Ich war Macduff.«

»Erinnern Sie sich an die Stelle, wo Macbeth den Arzt bittet, Lady Macbeth von ihrem Schlafwandeln zu heilen?«

»Warten Sie! — Ich hab’s. ›Könnten Sie nicht … ein tief verwurzelt Leid aus der Erinnerung reißen …‹, und dann ungefähr so: ›Und den verstopften Busen von dem Stoff befreien, der auf dem Herzen lastet?‹«

»Bodo! Damit werden Sie Persis gewinnen! Und wir Agnese!«

Er sah mich an und flüsterte: »Persis auch? Ist ihr Mann in einem U-Boot umgekommen?«

»Nur das dem Leiden geraubte Glück ist wirklich; der Rest ist die Bequemlichkeit des Besitzes.«

»Wo haben Sie das her?«

»So ähnlich hat sich einer von euren österreichischen Dichtern ausgedrückt. Ich glaube Grillparzer.«

»Schön. Ich muß laufen. Schreiben Sie mir kurz, wo ich meine Gäste abholen soll, und alle anderen Details. Ave atque vale!«

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Die Einladungen wurden durch Rosa übermittelt und beide sagten zu. »Rosa, wir würden Sie und Filumena sehr gerne dazu einladen, aber der Wagen ist nicht groß genug.« Rosas Augen verrieten, daß sie verstanden hatte — vielleicht sogar den ganzen Schlachtplan. »Wollen Sie mir zeigen, Rosa, wo Sie Ihre Hand auf Minos Rücken legen, wenn Sie ihm beim Ein- und Aussteigen behilflich sind?«

Ihre Mutter stand lachend daneben. »Ich weiß nicht, an was Sie jetzt denken, Signor Teofilo, aber ich habe keine Angst.«

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Der große Tag war gekommen, mit strahlend schönem Wetter. Mino wurde von geübten Händen in den Wagen gesetzt. Agnese stieg lieber vor dem Matera-Laden zu, um, wie ich annahm, ihren Sohn nicht zu enttäuschen, der sie gern auf einer Autofahrt begleitet hätte. Als wir auf Brenton’s Point ankamen, zauberte der große Hotelier Baron Stams zwei Klapptische hervor, über die er (mit Schwung) leinene Tischtücher breitete, dann entkorkte er eine Flasche. Mino und Agnese blieben im Wagen, mit einem Tablett auf den Knien, während die beiden anderen Kavaliere auf herangeholten Klappstühlen Platz nahmen.

Mino sagte: »Jetzt trinke ich zum zweiten Mal Sekt. An der Hochzeit meines Bruders gab es Asti spumante. Das erste Mal, daß ich Sekt getrunken habe, war an Ihrer Hochzeit, Agnese.«

»Sie waren damals doch erst fünfzehn, Mino. Ich freue mich, daß Sie ihn versucht haben.« Sie sprach wie jemand, der auf Eis geht. »Die Familie meines Mannes lebt in Albany, New York. Sie wohnten bei uns und hatten drei Flaschen Sekt mitgebracht … Erinnern Sie sich noch an Robert, Mino?«

»Gewiß. Sein Schiff lief nur selten in den Hafen ein, aber einmal fragte er mich, ob ich an Bord gehen wollte, und natürlich stimmte ich begeistert zu. An jenem Tag zog ein großer Sturm herauf, und so wären die Leitern und das Fallreep für mich zuviel gewesen. Er sagte mir, gut, ein andermal. Ich bewunderte ihn sehr. Meine Mutter hielt ihn für den bestaussehenden Mann unter ihren Bekannten — und den nettesten dazu.«

Agnese blickte verstört um sich.

Bodo fragte: »Hat er für seine Hochzeit Extraurlaub bekommen?«

»Nein, er hatte sich seinen Landurlaub dafür aufgespart. Wir reisten nach New York und haben einfach alles gesehen. Wir sind jeden Tag mit einer anderen Hoch- und mit einer anderen U-Bahn bis zur Endstation gefahren. Robert wußte, wie sehr ich Musik liebe, und wir gingen dreimal in die Oper.« Sie wandte sich an Mino und sah zu ihm auf. »Natürlich waren unsere Plätze hoch oben, aber wir haben alles wunderbar gehört und gesehen. Und wir sahen uns den Zoo an und besuchten die Messe in der St.-Patrick-Kathedrale.« Tränen traten ihr in die Augen, aber mit leisem Lachen fügte sie hinzu: »Und wir sind auch nach Coney Island gefahren und haben uns schrecklich amüsiert, Mino.«

»Ja, Agnese.«

»Ja … Theophilus, was macht Bodo eigentlich?«

Bodo hantierte gerade mit einer Pfanne. »Ich koche unser Abendbrot, Agnese. Es wird noch etwas dauern, trinken Sie inzwischen noch ein Glas Sekt.«

»Da werde ich ja betrunken.«

»Dieser Sekt ist nicht sehr stark.«

»Agnese«, sagte ich, »hat Maestro del Valle mit Ihnen Lieder einstudiert, die Sie ohne Klavierbegleitung singen können? Sie wissen, Sie sollen doch immer singen, wenn jemand Sie ernsthaft bittet. Und wir alle bitten jetzt sehr ernsthaft darum.«

»Es gibt ein italienisches Lied. Lassen Sie mich einen Moment nachdenken.«

Sie legte die Hand über die Augen, und dann sang sie »Caro mio Ben, caro mio Ben«, so rein wie ein Schwan, der über das Wasser gleitet. Bei der zweiten Zeile brach sie zusammen. »Ich kann nicht weitersingen, entschuldigen Sie bitte … Das war eines von seinen drei Lieblingsliedern … O Theophilus, o Bodo … er war ein so guter Mann. Eigentlich war er noch ein Junge, und er liebte das Leben so sehr. Und dann geschah dieses Fürchterliche — unter dem Eis, ohne einen Bissen Nahrung. Sie hatten doch wenigstens Wasser, nicht wahr? Aber nichts zu essen … Gar nichts zu essen …«

Bodo begann zu sprechen, deutlich, aber ohne Emphase, die Augen auf seine Arbeit gerichtet. »Agnese, im Krieg lag ich einmal vier Tage lang ohne Nahrung in einem Graben. Ich war so schwer verwundet, daß ich nicht mehr aufstehen konnte, um Wasser zu suchen. Ich verlor dauernd das Bewußtsein. Als die Ärzte mich fanden, sagten sie, ich wäre mehrmals gestorben, aber mit einem Lächeln. Sie können sicher sein, daß die Männer in dem U-Boot bei so wenig Luft sehr bald das Bewußtsein verloren. Luft ist wichtiger als Nahrung und Wasser.«

Sie starrte ihn überrascht an. Hier zeigte sich ein Hoffnungsschimmer. Sie legte ihre Hand an ihre Kehle und murmelte: »Keine Luft. Keine Luft.« Dann umschlang sie Mino; sie lehnte ihre Wange an seinen Rockaufschlag und schluchzte: »Mino, tröste mich! Tröste mich!«

Er legte seinen Arm um sie und wiederholte nur immer: »Liebe Agnese, wunderbare Agnese … liebe Agnese, tapfere Agnese …«

»Tröste mich!«

Bodo und ich sahen uns starr an.

Plötzlich richtete sich Agnese auf und sagte: »Bitte verzeiht mir«, und zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche.

Bodo meldete laut: »Das Abendbrot ist fertig.«

Alice

Während meines ersten Aufenthaltes in Newport — auf Fort Adams, 1918 und 1919 — hatte ich zur Vierten Stadt gehört, der Stadt des Militär- und Marine-»Establishments«. Im Sommer des Jahres 1926 war es höchst unwahrscheinlich — und auch von mir nicht beabsichtigt —, daß ich mit diesem in sich geschlossenen Bezirk in Berührung kommen würde.

Indessen sollte ich ein sehr demütiges angeheiratetes Mitglied der amerikanischen Marine kennen- und liebenlernen — Alice.

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Von Zeit zu Zeit packte mich ein Verlangen nach italienischer Küche. Ich war mehrmals zum Essen eingeladen worden von den Materas, den Avonzinos und den Hilary Joneses, die mir alle eine italienische Mahlzeit versprochen hatten, aber der Leser kennt ja mein Prinzip, nie eine Einladung anzunehmen. Mein Leben war so hektisch, so fragmentarisch, daß nur eine strenge Befolgung dieses Prinzips mich vor dem drohenden Zusammenbruch bewahren konnte. Ich aß allein. Es gab drei angeblich italienische Restaurants in Newport, aber wie Tausende ihresgleichen in Amerika hatten sie nur traurige Imitationen der echten Gerichte anzubieten. Ich bevorzugte deshalb das Lokal »Mama Carlotta« neben der Straßenbahnhaltestelle »One Mile Corner«, dort bekam man in einer Teetasse einen echten italienischen Wein serviert, im Volksmund »Roter Dago« genannt. Ungefähr alle vierzehn Tage radelte ich zu »Mama Carlotta« und bestellte mir Minestrone, Fettuccine con salsa und Brot; das Brot schmeckte ausgezeichnet.

Das Restaurant lag gegenüber von dem einen Tor (es gab deren sechs) zu dem großen, von hohen Zäunen umgebenen Flottenstützpunkt, an den eine riesige Kasernenstadt sich anschloß — sechs Wohnungen in jedem Haus, die Bleibe für die Familien der oft monatelang abwesenden Matrosen. Odysseus, König von Ithaka, war immerhin zwanzig Jahre lang von seiner Frau Penelope getrennt — zehn kämpfte er vor den Toren Trojas, zehn weitere brauchte er für die lange Heimreise. In Newport lebten die Seeleute, ihre Frauen und Kinder in einem dicht bevölkerten Quartier mit identischen Häusern, identischen Straßen, identischen Schulen und Spielplätzen und identischen Konventionen. Seit 1926 hat sich dieser Flottenstützpunkt um das Vielfache vergrößert, aber mit der Zunahme des Luftverkehrs wird der Heimaturlaub häufiger erteilt, und man verfrachtet jetzt sogar ganze Familien für eine gewisse Zeit in ähnliche Siedlungen auf Hawaii, den Philippinen oder anderswo. 1926 gab es noch Hunderte von »Heimwitwen«. Übervölkerung erzeugt reizbare Einsamkeit und Intoleranz den Mitmenschen gegenüber, dies alles noch verstärkt durch das Gefühl des Eingeschlossenseins. Penelope hatte gewiß ein schweres Schicksal; auch sie lebte mit den Frauen abwesender Seeleute zusammen; aber als Königin war zumindest nicht jede Minute ihres Alltags den Blicken von Frauen ausgesetzt, die ebenso unglücklich waren wie sie selber.

Die Bewohner des Flottenstützpunktes konnten nach Belieben ein- und ausgehen, aber sie wagten sich nur selten nach Newport hinein — sie hatten ihre eigenen Verkaufsläden, ihre eigenen Theater, Clubs, Krankenhäuser, Ärzte und Zahnärzte. Das Zivilleben interessierte sie nicht; es wirkte vielleicht einschüchternd. Aber mit Vergnügen entflohen sie kurzfristig dem »Kaninchenbau« oder dem »Getto«, wie sie es nannten, und besuchten die Lokale außerhalb des Zauns. »Mama Carlotta« gehörte zu jenen Restaurants und erlaubten Bars am »One Mile Corner«, die sie als ihre Welt empfanden. Das Lokal bestand aus zwei großen, gleichförmigen Räumen, einer Bar und dem Restaurant. Die Bar war immer gesteckt voll Männer, obwohl auch Tische für Damen (die allerdings nie allein kamen) reserviert blieben; das Restaurant war am Mittag und Abend meist gut besucht. Die Marinefamilien aßen aus Geldgründen selten auswärts; doch gelegentlich bei Eltern- oder Verwandtenbesuch erlaubten sie sich eine Mahlzeit außerhalb des Zauns. Oder Schiffsmaate und Zahlmeister feierten hier in der »großen Welt« einen Geburtstag. Es ist beim Militär geradezu ein Sprichwort, daß die Marine, vom Admiral abwärts, hübsche, nicht auffallend kluge Frauen heiratet, die aus den Südstaaten stammen. Ich fand diese Verallgemeinerung immer wieder bestätigt, vor allem bei »Mama Carlotta«.

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Kurz nachdem ich in den Besitz einer eigenen Wohnung gelangt war, leistete ich mir noch früh am Abend eine Mahlzeit bei »Mama Carlotta«. Ich las meistens eine Zeitung oder sogar ein Buch beim Essen. Daß ich allein war und las, genügte, um mich als Landratte auszuweisen. Aus mir unbekannten Gründen wurde mir an diesem Abend kein Wein serviert, und ich trank Bevo. Ich saß weithin sichtbar allein an einem Tisch für vier, obwohl das Lokal so überfüllt war, daß die Ladies außer der Bar auch das Restaurant eroberten, wo sie nun, je zwei und zwei, mit einem Glas in der Hand herumstanden und sich angeregt unterhielten.

Dieses Kapitel handelt von Alice. Ich habe ihren Nachnamen als verheiratete Frau nie erfahren. In den wenigen Stunden unserer Bekanntschaft erfuhr ich nur, daß sie aus einer vielköpfigen, immer hungrigen Bergarbeiter-Familie im Kohlenrevier von West-Virginia stammte und daß sie im Alter von fünfzehn Jahren mit ihrem Gentleman-Freund von zu Hause fortgelaufen war. Ich will ihren Akzent nicht nachahmen und auch nicht die Grenzen ihrer Bildung allzu deutlich machen.

Alice und ihre Freundin Delia (aus dem Inneren Georgias) standen direkt vor mir, ihre Hände auf zwei der noch unbesetzten Stühle an meinem Tisch gestützt. Sie sprachen, um gesehen zu werden — nicht nur von mir, sondern von allen anderen. Fast jeder in diesem Raum kannte jeden und beobachtete jeden. Oder wie ein Autor später sagen sollte: »Die Hölle — das sind die anderen.« Ich habe ein ungewöhnlich gutes Gehör und stellte deshalb eine leise Veränderung in ihrem Tonfall fest. Sie berieten nämlich flüsternd, ob es sich schickte, mich zu fragen, ob sie an meinem Tisch Platz nehmen könnten. Jetzt drehte sich Delia, die ältere der beiden, zu mir und fragte kühl und unpersönlich, ob die Stühle besetzt seien.

Ich stand halb auf und sagte: »Nein, keineswegs, bitte nehmen Sie Platz.«

Dieses halbe Aufstehen fanden sie offenbar besonders »interessant«. In ihren Kreisen war es nicht üblich, daß Männer sich erhoben, um die Anwesenheit einer Frau zur Kenntnis zu nehmen. Das taten nur Männer in Filmen, weshalb sie mich auch gleich so »interessant« einschätzten. Ich las weiter, zündete mir auch eine Pfeife an. Sie stellten die Stühle einander gegenüber und setzten die Unterhaltung in dem früheren, ungezwungenen Tonfall fort. Sie sprachen über eine Freundin, die zur Vorsitzenden des Komitees gewählt worden war und für einen wohltätigen Zweck einen »Bingo«-Wettbewerb veranstalten sollte. Es war wie auf der Bühne bei einem jener altmodischen Stücke, in denen — zum Nutzen des Publikums — zwei Personen sich über ihnen wohlbekannte Ereignisse unterhalten.

Das ging so eine ganze Weile. Delia fand es lächerlich, daß eine gewisse Dora gewählt worden war. Dora hätte schon einmal völlig versagt, als sie eine Abschiedsparty für ein nach Panama versetztes Ehepaar organisieren sollte und so fort.

»Sie will sich überall einschmeicheln, indem sie den Leuten aus der Hand liest. Weißt du, was Julia Hackmann gesagt hat?«

»Nein.« Geflüster. »Alice! Das hast du dir ausgedacht!«

»So wahr ich lebe.«

»Aber das ist ja schrecklich!« (Bühnenlachen)

»Sie tut alles, um ins Gespräch zu kommen. Neulich hat sie behauptet, ein Mann hätte sie durch das Badezimmerfenster beobachtet; worauf sie sofort das Fenster aufgerissen und ihm einen nassen, eingeseiften Schwamm ins Gesicht geschmissen hätte. In die Augen.«

»Alice! Das glaube ich nicht!«

»Delia, sie hat’s selbst erzählt. Sie erzählt jede Verrücktheit, um bekannt zu werden. So gewinnt man Stimmen. Jeder kennt ihren Namen.«

Ich hatte jetzt Gelegenheit, die beiden heimlich zu beobachten. Delia war die größere, sie war schlank und sah gut aus, zugleich aber unzufrieden und sogar verbittert; ich schätzte sie auf etwa dreißig. Alice war kaum mehr als ein Meter fünfzig groß und etwa achtundzwanzig Jahre alt. Sie hatte ein hübsches, vogelhaft spitzes Gesicht, dessen Blässe auf schlechte Gesundheit schließen ließ. Unter ihrem Hut quollen Strähnen von strohblondem, glanzlosem Haar hervor. Dieses Gesicht belebten jedoch zwei dunkle, intelligente Augen und eine fast atemlose Begierde, dem Leben Vergnügen abzugewinnen. Zwei Dinge wirkten sich zu ihrem Nachteil aus: ihre angeborene Intelligenz machte sie oft ungeduldig gegen die weniger Gescheiten, und dann besaß sie eine schlechte Figur, die, wie ihre Blässe, wahrscheinlich von ihrer Unterernährung als Kind herrührte. Trotz des Altersunterschiedes schien Alice bei ihrer Freundin den Ton anzugeben.

Sie leerten die Gläser. Ich sagte leise zu ihnen, wobei ich kaum die Augen hob: »Darf ich die Damen zu einem Glas Bier einladen?«

Die beiden sahen einander an, erstarrt, als ob sie etwas gehört hätten, das man nicht wiederholen kann. Keine schaute zu mir herüber. Nachdem sie die Kühnheit meiner Einführung zur Kenntnis genommen hatten, nahm Delia die Verantwortung auf sich, mir ohne Lächeln mit gesenktem Kopf zuzumurmeln: »Das ist sehr nett von Ihnen.«

Ich stand auf, bestellte mit leiser Stimme beim Kellner das Gewünschte und kehrte wieder zu meinem Buch zurück.

Konvention! Konvention! Diese unbarmherzige Herrscherin über jede Form menschlicher Gemeinschaft, vom Vatikan bis zum Sandhaufen des Waisenhauses, bestimmte auch das Leben der »Heimwitwen«, denn die Beförderung eines Matrosen hängt auch von dem Verhalten seiner Frau ab. Wir wurden beobachtet, wir standen unter Feuer. Die Konvention verlangte, daß keiner lächelte. Vor allem durften wir nicht den Eindruck erwecken, uns zu amüsieren — denn Neid spielt keine geringe Rolle bei der moralischen Verurteilung eines Mitmenschen. Als die Gläser gebracht wurden, nickten die Mädchen leicht und setzten ihre Unterhaltung fort. Bevor ich jedoch zu meinem Buch zurückkehrte, trafen sich die Augen von Alice mit den meinen — jene wunderbar dunklen Augen in dem Körper eines früh alternden Graukehlchens. Quecksilber begann durch meine Adern zu pulsieren.

Ein paar Minuten später verschüttete ich allen sichtbar mein Bier auf dem Tisch. »Verzeihen Sie, meine Damen«, sagte ich und wollte das Bier mit meinem Taschentuch wegwischen. »Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ich sollte wirklich meine Augen untersuchen lassen. Ist etwas auf Ihre Kleider gekommen?«

»Nein, nein!«

»Das wäre mir wirklich sehr unangenehm gewesen.« Ich tat so, als ob ich den Saum meines Jacketts abtrocknete.

»Hier ist ein Tuch«, sagte Delia. »Es ist schon ziemlich alt und läßt sich leicht auswaschen.«

»Vielen Dank, vielen Dank«, sagte ich todernst. »Ich sollte eigentlich hier nicht lesen. Es ist nicht gut für die Augen.«

»Ja«, sagte Alice. »Mein Vater hat auch die ganze Zeit gelesen, sogar nachts. Es war schrecklich.«

»Ich höre jetzt auf damit. Ich muß ohnehin den ganzen Tag meine Augen anstrengen.«

Wir benahmen uns seriös genug, um selbst die strengsten Kritiker zufriedenzustellen.

Alice fragte: »Leben Sie in Newport?«

»Ja. Vor sieben Jahren war ich im Krieg auf Fort Adams stationiert. Ich mochte die Stadt und kehrte zurück, um Arbeit zu finden. Ich bin in einem Cottage als Faktotum angestellt.«

»Faktotum?«

»Ja, ich bin der Mann für alles — Heizung, Laub und Großreinemachen.«

Beim Militär bedeutet »Großreinemachen« eine Form der Bestrafung, so schlimm wie der Dienst auf einer Galeere. Aber da sie mich für einen Zivilisten hielten, waren sie nur verwirrt. Delia fragte: »Wohnen Sie auch da, wo Sie arbeiten?«

»Nein, ich habe eine kleine Wohnung für mich allein, gleich bei der Thames Street, das heißt, nicht eigentlich für mich allein, denn ich besitze einen großen Hund. Ich heiße Teddie.«

»Einen Hund? Oh, ich liebe Hunde!«

»Wir dürfen keine Hunde in der Wohnung halten.«

Den Hund hatte ich erfunden. Es gibt nämlich einen vom Film verbreiteten amerikanischen Mythos, demzufolge ein Mann mit einem großen Hund und einer Pfeife allright ist. Es ging alles wie am Schnürchen. Klarzustellen war nur noch, welche von den beiden mir besser gefiel. Alice und ich wußten es, aber Delia war nicht durch besondere Klugheit ausgezeichnet.

»Darf ich die beiden Damen zu der Neun-Uhr-Vorstellung im Opern-Kino einladen? Nach der Vorstellung kann ich Sie im Taxi hierher zurückbringen.«

»Nein … danke vielmals.«

»Es ist viel zu spät.«

»O nein.«

Ich hätte tausend Eide schwören können, daß nach einem vorher vereinbarten Kode Alice unter dem Tisch mit ihrem Schuh Delia anstieß und Delia mit ihrem Schuh Alice.

»Du gehst, Alice. Wir können hier zusammen fortgehen, und der Herr kann dich später hier in der Nähe treffen.«

Alice war entsetzt. »Was fällt dir ein, Delia.«

»Also gut«, sagte Delia und erhob sich mit einer gewissen Grandezza. »Gedanken sind zollfrei. Ich verschwinde jetzt auf ein gewisses Örtchen. Entschuldigt mich einen Augenblick. Ich bin gleich wieder da.«

Alice und ich blieben allein zurück.

»Sie stammen aus dem Süden, nicht wahr?« sagte ich mit dem ersten Lächeln an diesem Abend. Sie lächelte nicht, im Gegenteil, sie starrte mich an. Sie beugte den Kopf vor und sagte leise, aber sehr deutlich: »Lächeln Sie nicht! In einigen Minuten muß ich Sie mit ein paar Frauen hier bekannt machen. Ich werde Sie als Arzt vorstellen, bereiten Sie sich darauf vor — oder vielleicht als einen alten Freund meines Mannes. Waren Sie je in Panama?«

»Nein.«

»In Norfolk, Virginia?«

»Nein.«

»Wo haben Sie denn Ihr ganzes Leben lang gesteckt? Ich werde Norfolk sagen … Delia kann nicht in die Stadt ausgehen, weil ihr Mann nächste Woche zurückkommt, sie traut sich nirgends hin. Lächeln Sie doch nicht immer! Dies ist eine seriöse Unterhaltung! Wenn Delia und ich hier fortgehen, verabschieden Sie sich von uns. Fünf Minuten später verlassen Sie das Lokal durch die Küche und die Hintertür. Dann gehen Sie die Straße entlang — nicht in Richtung Newport —, und ich treffe Sie an der Haltestelle der Straßenbahn gegenüber von Ollies Bäckerei.«

Diese Instruktionen wurden mir sichtlich erbost erteilt. Ich begriff. Was immer geschehen mochte, es würde gefährlich sein.

»Wenn ich mich von Ihnen verabschiede — wie soll ich Sie anreden?«

»Mit Alice.«

»Wie heißt Ihr Mann mit Vornamen?«

»George, natürlich.«

»Gut. Ich heiße Dr. Cole.«

Alices Gesicht war vor Eifer über ihre Feldherrnkünste und wohl auch aus Verzweiflung über meine Dummheit rot angelaufen.

Delia setzte sich wieder zu uns. Die beiden hatten von Zeit zu Zeit diese und jene Bekannte im Lokal begrüßt. Alice rief laut: »Guten Abend, Barbara. Guten Abend, Phoebe. Darf ich dir Dr. Cole vorstellen, einen alten Freund von George!«

»Sehr angenehm.«

»Sehr angenehm.«

»Stellt euch vor, George hat ihm gesagt, er soll mich anrufen, wenn er nach Newport kommt. Da hat er mich angerufen, und Dr. Cole wollte mich hier treffen. Guten Abend, Marion. Ich möchte dir Dr. Cole vorstellen, einen alten Freund von George. Guten Abend, Annabel, dies ist Dr. Cole, ein alter Freund von George, er ist hier auf der Durchreise. Er hat Delia und mich ins Kino eingeladen, aber das geht natürlich nicht, es ist schon viel zu spät und überhaupt. Er kannte George in Norfolk noch vor meiner Zeit. George hat mir von diesem Arzt erzählt. Waren Sie denn damals schon Arzt, Teddie?«

»Ich habe mein letztes Studienjahr in Baltimore verbracht. Ich habe Verwandte in Norfolk.«

»Was Sie nicht sagen«, staunten Barbara und Marion.

»Nein, was für ein Zufall«, sagte Phoebe.

»Die Welt ist ein Dorf«, sagte Delia.

»Na, da habt ihr noch viel miteinander zu reden«, sagte Barbara. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Dr. Cole!«

Die Mädchen zogen sich zurück, um das Ereignis zu bereden.

»Das greift wie ein Steppenbrand um sich«, sagte Delia.

Alice stand auf. »Trink dein Bier aus, Delia. Ich muß mich noch ein bißchen zurechtmachen.«

Jetzt waren Delia und ich allein.

»Alice erzählte mir, daß Ihr Mann nächste Woche zurückkommt, Delia. Ich gratuliere.« Delia sah mich scharf an und machte eine abwehrende Handbewegung. »Wie lange war er fort?«

»Sieben Monate.«

»Mein Gott, wie aufregend.«

»Kann man wohl sagen.«

»Auf welchem Schiff ist er?«

»Es sind vier Zerstörer … Mehr als zweihundert von der Besatzung leben mit ihren Familien hier in dieser Stadt.«

»Haben Sie Kinder, Delia?«

»Drei.«

»Wunderbar, die Heimkehr, auch für sie.«

»Sie haben’s schon einmal mitgemacht. Ich bringe sie jetzt zu meiner Mutter. Sie lebt in Fall River. Ich habe Glück.«

»Ich verstehe das nicht.«

»Dr. Cole, wenn die Männer an Land kommen, stehen wir ja da und winken. Nicht wahr? Sie küssen uns und all das. Und dann gehen wir nach Hause und warten auf sie. Weil sie sofort in die ›Lange Werft‹ stürzen.«

»Toll.«

»Kann man wohl sagen.«

Ich lernte allerhand. Odysseus kehrte verkleidet zurück, ohne tränenfeuchte Umarmungen. Dafür betranken sich die Männer in der »Langen Werft« bis zur Besinnungslosigkeit. Kein Anblick für Kinder. Wiedervereinigung erfordert mehr Mut als Abschiednehmen. Die Institution der Ehe ist vom Himmel nicht für lange Trennungen geschaffen worden.

»Hat Alice Kinder?«

»Alice? Alice und George?«

»Ja.«

Die Mitglieder von solch geschlossenen Gemeinschaften wie die Marinestation nehmen immer an, die Erde drehe sich nur um ihre Angelegenheiten. Wer nichts davon weiß, ist einfach ein Dummkopf.

»Fünf Jahre verheiratet und kein Kind! Es macht Alice wahnsinnig.«

»Und George?«

»Er dankt Gott auf den Knien dafür und betrinkt sich.«

»Wann erwartet sie George zurück?«

»Er ist hier.« Ich starrte sie an.

»Er kam vor einer Woche hier an. Blieb drei Tage. Fuhr dann nach Maine, um seinem Vater auf der Farm zu helfen. Er hat drei Wochen Heimaturlaub. Er wird bald wieder zurück sein.«

»Ist George beliebt?«

Meine Fragen schienen sie zur Verzweiflung zu bringen. In gewissen Kreisen stellt sich nämlich die Frage nicht, ob man jemanden mag oder nicht mag — die Nachbarn, einschließlich des Ehegatten, sind einfach da, wie das Wetter. Sie sind, was man in der Mathematik die »gegebenen Größen« nennt.

»George ist o.k. Er trinkt, aber wer täte das nicht?« Sie meinte die Männer. Von Männern erwartet man, daß sie trinken; weil es männlich ist. »Wenn Alice mit Ihnen ins Kino geht, sollte sie spätestens um ein Uhr am Tor sein.«

»Was würde geschehen, wenn sie nach eins zurückkäme?« Ihr Blick sagte deutlich, daß ihre Geduld nunmehr erschöpft war. »Frauen kommen oft später zurück — wenn sie ihre Eltern besucht haben und der Zug Verspätung hatte oder dergleichen.«

»Es kostet wohl nicht gleich Kopf und Kragen, oder?«

»Nein, aber man vergißt so etwas nicht.« Dieses mächtige Wort »man«! »Ich glaube nicht, daß Alice jemals nach elf Uhr zurückgekommen ist. So bleibt es vielleicht unbemerkt. Sie fragen einem richtig ein Loch in den Bauch.«

»Ich war bei der Küstenartillerie. Ich weiß nicht, wie es bei der Marine zugeht.«

»Die Marine ist das Beste vom Besten, merken Sie sich das gefälligst.«

»Verzeihung, ich wollte Sie nicht kränken, Delia.«

»Sie haben mich nicht gekränkt«, sagte sie kurz. Dann schaute sie mir in die Augen und murmelte ein paar Worte, die ich nicht verstehen konnte.

»Ich habe nicht gehört, was Sie gesagt haben.«

»Eins wünscht sich Alice über alles in der Welt, geben Sie es ihr.«

»Was? Was?«

»Ein Kind, selbstverständlich.«

Ich war erst wie vom Donner gerührt und dann sehr aufgeregt. »Haben Sie mir das in ihrem Auftrag sagen sollen?«

»Natürlich nicht. Da kennen Sie Alice schlecht.«

»Hat Alice sich mit anderen Männern zu diesem Zweck verabredet?« Ich redete so dringlich auf sie ein, daß ich mit meinem Knie an ihr Knie stieß.

»Nehmen Sie Ihr Knie weg! — Sie hat sich erst letzte Woche dazu entschlossen. Als George nach Maine gefahren war, ging ich am folgenden Abend mit Alice ins Kino. Sie kam mit dem Mann neben ihr ins Gespräch. Sie mochten beide den Film nicht leiden und beschlossen, irgendwo noch etwas zu essen. Sie hat mir schnell zugeflüstert, ich solle nicht auf sie warten. Hinterher erzählte sie mir, daß der Mann ein Boot hatte, das im Yacht-Klub vor Anker lag. Sie begleitete ihn, wollte aber das Boot nicht betreten. Weil Jesus ihr unterwegs mitgeteilt habe, der Mann sei ein Alkoholschmuggler und verkaufe verbotenen Rum, er würde sie bloß fesseln, wegfahren und sie wochenlang auf Kuba sitzen lassen. Sie weigerte sich, über das Fallreep zu gehen, und als er sie rüberzerren wollte, rief sie um Hilfe. Da hat er sie losgelassen; sie ist fast den ganzen Weg nach Hause gerannt.«

»Schwören Sie mir, daß Sie die Wahrheit sagen!«

»Mir tut das Knie weh! Alle sehen sich schon nach uns um!«

»Schwören Sie!«

»Was schwören?«

»Daß Sie die Wahrheit sagen?«

»So wahr mir Gott helfe!«

»Und Alice hat keine Ahnung, daß ich das alles weiß?«

»So wahr mir Gott helfe!«

Ich lehnte mich erschöpft zurück, um mich gleich wieder vorzubeugen. »Würde George glauben, es sei sein Kind?«

»Er wäre der stolzeste Mann des ganzen Stützpunktes.«

Alice kam zurück. Sie hatte sich sehr gut zurechtgemacht; Funken knisterten in der Luft.

»Delia, es ist spät. Wir sollten jetzt gehen. Es war nett, Sie kennengelernt zu haben, Dr. Cole. Ich werde George davon erzählen.«

»Auf Wiedersehen. Ich schreibe ihm noch.«

»Es wird ihm leid tun, daß er Sie verpaßt hat.«

Diese Bemerkungen wurden mehrfach wiederholt. Ich merkte, daß Händeschütteln nicht zulässig war. Wieder allein, bestellte ich noch ein Bier, zündete mir erneut meine Pfeife an und las weiter. Andere setzten sich an meinen Tisch. Als es Zeit war, befolgte ich Alices Anordnungen, obwohl ich um das Restaurant herumschleichen mußte, um mein Fahrrad zu holen. Alice wartete an der Straßenbahnhaltestelle. Sie ging ein paar Schritte von mir weg und sagte, kaum den Kopf nach mir wendend: »Ich werde vorne in der Bahn sitzen. Möchten Sie nicht zum Washington Square radeln?«

»Nein. Nachts darf man das Fahrrad auf die hintere Plattform stellen.«

»Ich will nicht ins Kino. Ich kenne eine ruhige Bar, in der man gut reden kann. Sie ist neben dem Telegraphenamt. Wenn ich in der Bahn Bekannte treffe, kann ich ihnen sagen, daß ich zum Telegraphenamt muß, um eine Geldanweisung von meiner Mutter in Empfang zu nehmen. Sie folgen mir im Abstand eines Häuserblocks auf der Thames Street.«

»Meine Wohnung ist nicht weit vom Telegraphenamt entfernt. Können wir da nicht hingehen?«

»Ich habe Ihnen nicht versprochen, in Ihre Wohnung zu gehen. Wie kommen Sie darauf?«

»Sie hatten doch erzählt, daß Sie Hunde lieben.«

»Es ist die ›Anker Bar‹. Wenn ich mit dem Telegraphenmann spreche, warten Sie gleich hinter der Tür der Bar. Damen können nämlich nur in Begleitung eines Freundes das Lokal betreten.« Sie warf mir einen wilden Blick zu. »Dies alles ist sehr gefährlich — aber mir ist das egal.«

»Ach, Alice, können wir nicht gleich in meine Wohnung gehen? Ich habe etwas Whisky im Hause.«

»Ich hab’s Ihnen doch gesagt … Ich bin mir noch nicht ganz im klaren.«

___________

Die Straßenbahn fuhr ratternd und quietschend die Straße hinunter. Eine sehr distinguierte Alice stieg ein und setzte sich auf einen vorderen Platz.

An der Haltestelle »One Mile Corner« setzten sich Freunde zu ihr, ein Schiffsmaat und seine Frau.

»Alice, wie geht es dir denn?«

Alice bot eine ausführliche Schilderung von Katastrophen und Wundern. Die Zuhörer waren gebannt. Alle Fahrgäste stiegen am Washington Square aus. Alice wurde mit Sympathie überhäuft. »Hoffentlich geht alles gut aus. Gute Nacht, Alice, erzähle uns alles beim nächsten Wiedersehen.«

Wieder befolgte ich genau ihre Instruktionen. Durch das große Fenster des Telegraphenamtes konnte ich sehen, wie sie dem Mann am Nachtschalter auch eine aufregende Geschichte bot. Entschlossenen Schrittes kam sie schließlich auf mich zu, ihre Absätze klapperten auf dem Pflaster. Mitten auf der Straße wurde sie plötzlich von zwei schwankenden Matrosen angesprochen. Alice gelang es, drei Dinge auf einmal zu tun: Sie gab mir ein Zeichen, in die »Anker Bar« zurückzugehen; sie drehte sich um, als hätte sie etwas auf dem Telegraphenamt vergessen; und sie ließ ihre Handtasche fallen.

»Alice, Menschenskind, was machste denn hier in der großen Stadt?«

»Alice, wo ist George? Wo ist George, das alte Saustück?«

»Mein Gott, jetzt habe ich meine Handtasche verloren. Mr. Wilson, helfen Sie mir meine Handtasche suchen. Ich habe sie sicher im Telegraphenamt stehen lassen … Das ist aber schrecklich. Ich könnte sterben. Mr. Westerveldt, bitte … helfen Sie mir meine Handtasche finden.«

»Hier ist sie! Schau her! Krieg ich jetzt ein kleines Küßchen — nur ein klitzekleines Küßchen?«

»Mr. Wilson! Sie haben sich so etwas mir gegenüber noch nie erlaubt. Diesmal werde ich’s George nicht sagen, aber wiederholen Sie das nicht noch einmal! Ich mußte ganz eilig eine Geldanweisung abschicken, bevor geschlossen wird. Mr. Westerveldt, bitte … nehmen Sie … Ihre … Hand … fort. Ich habe eben die Militärpolizei hinter mir in der Thames Street gesehen. Gehen Sie lieber durch die Spring Street nach Hause. Es ist schon nach neun.«

Thames Street war nach neun Uhr Sperrgebiet für die Marine. Sie folgten ihrem Rat und taumelten den Hügel hinauf.

Resolut marschierte sie Arm in Arm mit mir in die »Anker Bar« und schob mich zu der letzten Nische im Hintergrund. Sie setzte sich mit dem Rücken zur Wand und schien plötzlich zu der Größe eines Kindes zusammenzuschrumpfen. Sie murmelte: »Da habe ich aber ein Riesenglück gehabt. Wenn sie mich mit Ihnen gesehen hätten, wäre es eine Katastrophe gewesen.«

Ich flüsterte: »Was darf ich bestellen?«

Wieder schaute sie mich an, als wäre ich ein vollidiotisches Kind. Sie senkte den Kopf und sagte: »Einen Rum mit Schuß, was sonst?«

»Alice, bitte begreifen Sie, ich bin nicht bei der Marine. Ich spreche nicht eure Sprache. Seien Sie nicht wie Delia! Ich bin kein Dummkopf, ich weiß nur nicht Bescheid. Ich kenne weder Norfolk noch Panama, dafür aber viel interessantere Gegenden.«

Sie sah überrascht drein, sagte aber nichts. Alices Schweigen war gewichtig. Sie sammelte ihre Gedanken. Der »Rum mit Schuß« entpuppte sich als eine Mischung von Rum und Ginger Ale, eine Zusammenstellung, die nicht nach meinem Geschmack war. Sie stürzte sich darauf wie eine Verdurstende.

»Wie war es in Panama?«

»Heiß … eben anders.«

»Was haben Sie in Norfolk gemacht?«

»Ich war Kellnerin in verschiedenen Restaurants.« Sie war mißmutig geworden. Ich wartete auf die Wirkung des Rums. Sie sah vor sich hin und sagte: »Ich hätte nicht kommen sollen … Sie haben mir den ganzen Abend etwas vorgelogen. Sie arbeiten nicht in einem Cottage, Sie leben darin. Sie sind einer von diesen Reichen. Ich weiß, was Sie von mir halten, ›Dr. Cole‹.«

»Sie haben mir gesagt, ich solle mich als Arzt ausgeben. Sie haben mir gesagt, ich solle mich als alten Freund Ihres Mannes vorstellen. Ich bin nicht reich. Ich gebe Kindern Tennistrainerstunden. Das bringt bestimmt nicht viel ein. Zanken wir uns nicht, Alice. Sie sind ein sehr gescheites Mädchen, und außerdem sehr attraktiv. Ich finde zum Beispiel Ihre Augen umwerfend. Sie haben eine Persönlichkeit, die fortwährend elektrische Schläge austeilt, wie eine Türklinke beim Herannahen eines Sturms. Alice, wir wollen uns nicht zanken. Trinken wir noch einen Rum mit Schuß, und dann werde ich Sie im Taxi nach Hause bringen. Am Washington Square gibt es einen Taxistand, und wir werden bestimmt noch eins bekommen. Vergessen Sie, daß ich Sie in meine Wohnung eingeladen habe. Sie und ich, wir sind erwachsen genug, um einfach — Freunde zu sein. Ich merke, daß Sie etwas bedrückt. Lassen Sie Ihre Sorgen zu Hause, solange Sie hier sind.«

Sie hatte mich aufmerksam betrachtet.

»Warum sehen Sie mich so an?«

»Bei jedem Mann frage ich mich, welchem Filmstar er ähnlich sieht. Ich finde es fast immer heraus. Sie gleichen keinem, den ich kenne. Eigentlich sehen Sie ja nicht besonders gut aus. Ich sage das nicht, um Sie zu kränken, sondern weil es die reine Wahrheit ist.«

»Ich weiß es, aber Sie können nicht behaupten, mein Gesicht sei abstoßend und gemein.«

»Nein.«

Ich gab dem Barkeeper ein Zeichen, indem ich zwei Finger in die Höhe hob.

»Welchem Filmstar sieht Ihr Mann ähnlich?«

Sie sagte schroff: »Das verrate ich Ihnen nicht. Er ist ein sehr gut aussehender Mann und ein sehr guter Mann.«

»Ich sage ja nicht das Gegenteil.«

»Er hat mir das Leben gerettet, und ich liebe ihn. Ich bin sehr glücklich. Es wäre ganz schrecklich gewesen, wenn die Männer mich mit Ihnen gesehen hätten, unverzeihlich. Ich wäre gestorben, das ist alles.«

»Was meinten Sie damit, daß George Ihnen das Leben gerettet hat?«

Sie brütete vor sich hin. »Norfolk ist eine schreckliche Stadt, schlimmer als Newport. Ich bin aus fünf Restaurants hinausgeschmissen worden. Es war furchtbar schwer, sich in einem Job halten zu können. Auf jeden Job warteten schon eine Million Mädchen. Da fing George an, mir den Hof zu machen. Er aß immer an dem Tisch, an dem ich bediente. Und jedesmal hat er 25 Cents für mich liegen lassen … Die Inhaber der Restaurants wollten die Mädchen immer ausnutzen; sie wurden frech mit ihnen in Gegenwart von Gästen. Ich wollte nicht, daß George das sieht … und gerade, als ich schon nicht mehr daran glaubte, machte er mir einen Heiratsantrag. Er gab mir fünfundzwanzig Dollar, damit ich mir ein paar hübsche Sachen kaufen konnte, denn er hatte einen Bruder, der auch bei der Marine war, und George wußte, daß sein Bruder über mich nach Hause schreiben würde. Ich schulde George alles!« Plötzlich legte sie ihre Hand auf die meine. »Ich wollte Sie nicht kränken. Sie haben überhaupt kein abstoßendes, gemeines Gesicht. Manchmal sage ich Sachen …«

Plötzlich verschwand Alice, sie glitt von unserer Bank hinunter und kroch unter den Tisch. Ich sah mich um und bemerkte, daß zwei Matrosen mit den Armbinden der Militärpolizei das Lokal betreten hatten. Sie begrüßten freundlich einige Gäste und unterhielten sich, an die Bar gelehnt, ausführlich über einen Zwischenfall, der sich am Abend vorher zugetragen hatte. Die Gäste beteiligten sich an der Unterhaltung — sie drohte uferlos zu werden. Ich spürte, wie kleine Fingernägel mich am Knöchel kratzten. Ich beugte mich hinunter und stieß die Hand ärgerlich fort. Es gibt gewisse Dinge, die ich nicht vertrage. Ich hörte ein Kichern. Endlich verließ die M.P.-Patrouille die »Anker Bar«, ich flüsterte: »Sie sind fort«, und Alice zog sich wieder auf die Bank hoch.

»Kannten Sie die zwei?«

»Ob ich sie kannte!«

»Alice, Sie kennen aber auch jeden. Ich glaube, Sie sollten sich jetzt überlegen, ob Sie nach Hause fahren oder meine Wohnung sehen wollen.«

Sie sah mich ausdruckslos an. »Ich mag große Hunde nicht.«

»Ich habe Sie angelogen. Ich besitze gar keinen Hund. Aber ich habe ein nettes, kleines Geschenk für Sie.« Ich hatte drei jüngere Schwestern. Frauen lieben Geschenke, vor allem unerwartete Geschenke.

»Was ist es?«

»Das verrate ich nicht.«

»Wo haben Sie es gekauft?«

»In Atlantic City.«

»Lassen Sie mich raten.«

»Es leuchtet im Dunkeln wie ein Glühwürmchen. Wenn Sie sich nachts allein fühlen, wird es Sie trösten.«

»Ist es ein Bild vom Jesuskind?«

»Nein.«

»Oh, eine Armbanduhr mit Leuchtziffern.«

»Ein solches Geschenk könnte ich mir nicht leisten. Es ist so groß wie ein Nadelkissen und freundlich.«

»Ein Briefbeschwerer?«

»Ja.«

»Sie tragen keinen Ehering.«

»In meiner Heimat tragen Männer keine Eheringe, ausgenommen die Katholiken. Im übrigen bin ich nicht verheiratet.«

»Falls ich mit in Ihre Wohnung komme, so werden Sie hoffentlich nicht frech.«

Nun schaute ich hart und undurchdringlich drein. »Nur wenn jemand mich unter dem Tisch am Knöchel kratzt.«

»Ich hatte es satt, am Boden zu sitzen.«

»Sie hätten statt dessen beten können.«

Sie schien angestrengt nachzudenken. Sie sammelte ihre Gedanken. Sie lehnte sich an meine Schulter und fragte: »Haben Sie einen Separateingang?«

»Ja. Erst muß ich noch die Rechnung bezahlen. Dann folgen Sie mir.«

Wir schlichen die Außentreppe hinauf. Ich öffnete die Tür und machte Licht. »Kommen Sie herein, Alice.«

»Was für eine große Wohnung.«

Ich legte den Briefbeschwerer auf den Tisch in der Mitte des Zimmers und setzte mich. Sie kreiste wie eine Katze im Zimmer herum und besichtigte alles mit leisen, kleinen Ausrufen der Bewunderung, wie im Selbstgespräch. Schließlich griff sie nach dem Briefbeschwerer — einer Ansicht der Strandpromenade von Atlantic City mit winzigen Glimmerstücken in einem gewölbten Glas.

»Ist das für mich?« Ich nickte. »Es … leuchtet nicht.«

»Der Glimmer kann nicht leuchten bei Sonnenschein oder einem brennenden Licht. Gehen Sie ins Badezimmer, machen Sie die Tür zu, drehen Sie das Licht aus und schließen Sie für zwei Minuten die Augen, Sie werden sehen.«

Ich wartete. Sie kam zurück, setzte sich auf meinen Schoß und legte mir die Arme um den Hals: »Jetzt werde ich nie wieder allein sein.« Sie legte die Lippen an mein Ohr und flüsterte ein paar Worte. Ich dachte, ich hätte sie verstanden, aber ich war mir nicht ganz sicher, ihre Lippen waren zu nah. Vielleicht hatte sie auch aus Verlegenheit undeutlich gesprochen. Ich glaubte, sie hatte gesagt: »Ich möchte ein Kind.« Aber ich mußte Gewißheit haben. Während ich mit einer Hand ihr Kinn festhielt, entfernte ich mein Ohr einige Zentimeter von ihren Lippen und fragte: »Was haben Sie gesagt?«

In diesem Augenblick hörte sie etwas. Wie Hunde Geräusche hören, die uns entgehen, oder Hühner (ich hatte als Junge auf einer Farm gearbeitet) den aus großer Entfernung herannahenden Habicht, genauso hörte auch Alice etwas. Sie glitt von meinem Schoß und beschäftigte sich anscheinend eifrig mit ihrer Frisur; sie nahm ihren Hut und sagte als geschickte Schauspielerin mit betörender Stimme: »Ich sollte jetzt wohl gehen. Es ist spät … Wollten Sie mir wirklich den Briefbeschwerer schenken? Im Ernst?«

Ich saß regungslos da und beobachtete die Szene.

Hatte ich irgend etwas gesagt, das sie verletzt haben konnte? Nein. Irgendeine Bewegung vielleicht? Nein.

Ein Signal vom Hafen her? Ein Krawall auf der Straße? Meine Nachbarn in Mrs. Keefes Haus?

Im Jahre 1926 hatte sich die Erfindung des Radios in meinem Stadtteil mehr und mehr verbreitet. An Sommerabenden drang aus den offenen Fenstern ein Konglomerat von Musik, Vorträgen und dramatischen und komischen Dialogen. Ich hatte mich daran gewöhnt; ich hörte es nicht mehr, wie höchstwahrscheinlich auch Alice in ihrer Siedlung.

»Sie waren ganz reizend zu mir. Ich liebe Ihre Wohnung sehr.«

Ich stand auf. »Wenn Sie gehen wollen, Alice, werde ich Ihnen bis zum Washington Square folgen und den Taxi-Chauffeur bezahlen, damit er Sie an das Tor zurückbringt. Sie wollen gewiß keinem von Ihren tausend Bekannten begegnen.«

»Rühren Sie sich nicht von der Stelle. Die Straßenbahn fährt noch. Sollte ich wirklich Bekannte treffen, so werde ich sagen, daß ich auf dem Telegraphenamt war.«

»Ich komme mit Ihnen, wir können ruhig die Spring Street hinaufgehen. Sie ist dunkler, und Militärpolizei hat dort bestimmt schon patrouilliert. Hier, ich packe Ihnen den Briefbeschwerer ein.«

Mrs. Keefe hatte die Wohnung nach ihrem Geschmack mit einer stattlichen Anzahl von Tischläufern aus Spitze sowie gehäkelten oder seidenen Deckchen für Gläser und Vasen eingerichtet. Ich nahm mir so ein Deckchen und wickelte den Briefbeschwerer darin ein. Alice ging in gedämpfter Stimmung vor mir die Treppe hinunter.

Und dann hörte ich eine Musik, die mir entgangen war, aber nicht ihr. Im Sommer war ein kleines Holzhäuschen neben Mrs. Keefe von den Erweckten, einer rigorosen religiösen Sekte, in eine »Mission des heiligen Geistes« umgewandelt worden, und dort fand gerade ein Gottesdienst statt. Auf den Farmen in Kentucky und Süd-Kalifornien hatte ich früher ähnlichen Gottesdiensten im Freien beigewohnt und jene in Stadtkirchen selten gehörten Lieder kennengelernt. Diese Hymnen mußten sich auch dem Bewußtsein der Knaben und Mädchen von West-Virginia eingeprägt haben, da in jener Gegend das religiöse und gesellige Leben eines Dorfes sich auf solche Gottesdienste im Freien zu konzentrieren pflegte. Alice hatte die Hymne gehört: »Erlieg nicht der Versuchung, Jesus ist nahe.«

Wir gingen zur Spring Street hinauf. Sie war menschenleer, und so schritt ich neben Alice her. Sie weinte. Ich umschloß ihre kleine Hand mit der meinen.

»Das Leben ist schwer, liebe Alice.«

»Teddie?«

»Ja?«

»Glaubst du, daß es die Hölle gibt?«

»Was verstehst du denn unter Hölle, Alice?«

»Daß man in die Hölle kommt, wenn man etwas Schlechtes getan hat. Als Mädchen habe ich viel Schlechtes getan. Und auch in Norfolk, es ging gar nicht anders. Ich hatte ein Baby, aber ich bin es schon lange los. Das war, bevor ich George kennenlernte. Aber ich habe ihm alles erzählt. Seit ich mit George verheiratet bin, habe ich keine Sünde auf dem Gewissen. Wirklich, Teddie. Wie ich dir schon sagte, George hat mir das Leben gerettet.«

»Hat George dich je geschlagen, Alice?«

Sie sah zu mir auf. »Muß ich die Wahrheit sagen? Also, gut. Er betrinkt sich furchtbar nach jeder langen Fahrt, und dann schlägt er mich. Aber ich hasse ihn deshalb nicht. Er hat einen Grund. Er weiß, daß er … mir kein Kind machen kann. Er schläft mit mir, aber keine Kinder werden geboren. Würde dich das nicht auch durcheinanderbringen?«

»Erzähl weiter.«

»Mitunter denke ich, ich könnte doch ein Kind von einem anderen Mann haben, ohne daß George das zu erfahren braucht. Es ist ja nicht so wichtig, wenn man gelegentlich mit einem anderen Mann ins Bett geht … Auch wenn dies eine Lüge wäre, sie würde George sehr glücklich machen. Er ist ein guter Mann. Wenn er als Vater glücklich ist, dann wäre das keine große Sünde, oder? In der Bibel heißt das Ehebruch. Ich würde auch lange in die Hölle gehen, falls es George glücklich machen sollte.«

Ich drückte unablässig ihre Hand in der meinen. Wir erreichten Washington Square, überquerten die Straße und setzten uns auf eine von der Straßenlaterne weit entfernte Bank.

»Alice, ich schäme mich für dich.«

Sie fragte schnell: »Warum?«

»Obwohl du weißt, daß Jesu Herz so groß ist wie die ganze Welt, glaubst du, Jesus würde dich in die Hölle schicken wegen einer kleinen Sünde, die George glücklich macht, oder wegen einer anderen kleinen Sünde, die du auf dich nehmen mußtest, um in dem grausamen Norfolk den Kopf über Wasser zu halten.«

Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter. »Du brauchst dich nicht für mich zu schämen, Teddie … Sprich zu mir … Als ich von zu Hause fortlief, schrieb mir mein Vater, er wolle mich nur mit einem Ehering an meinem Finger wiedersehen. Als ich ihm mitteilte, daß ich geheiratet hätte, änderte er seine Meinung. Er sagte, er wolle keine Hure in seinem Haus haben.«

Ich will hier übergehen, wie ich vor fast fünfzig Jahren Alice tröstete. Ich erinnerte sie an einige. Worte Jesu, und vielleicht erfand ich auch ein paar. Und dann schloß ich: »Und jetzt sage ich kein Wort mehr.« Ihre Hand in der meinen war ruhiger geworden. Sie sammelte ihre Gedanken.

Sie sagte: »Gehen wir näher an die Laterne. Ich möchte dir etwas zeigen.«

Wir setzten uns auf eine andere Bank. Sie holte etwas aus ihrer Handtasche, aber hielt es vor mir noch verborgen.

»Teddie, ich trage immer eine Kette mit einem Medaillon um den Hals, aber als ich heute abend mit Delia ausging, zog ich den Schmuck aus. Du kannst dir denken, wer ihn mir geschenkt hat.«

Ich sah mir das Bild im Medaillon an, das schon vor einigen Jahren aufgenommen worden war. Ein Matrose, etwa achtzehn Jahre alt —, er hätte ohne weiteres auf ein Werbeplakat für die Marine gepaßt — lachte in die Kamera, den Arm um Alice gelegt. Ich stellte mir vor, wie das Bild entstanden war: »Hereinspaziert, meine Damen und Herren! Zwanzig Cents das Bild und ein Dollar das Medaillon und die Kette. Ein spottbilliger Preis. Sie da, Sie beide — man ist ja nur einmal jung! Greift zu!«

Ich schaute das Medaillon an.

Sie schaute das Medaillon an.

Wieder flüsterte sie mir ins Ohr: »Ich möchte ein Kind haben, für George.«

Wir standen auf und gingen zurück in meine Wohnung. Vor der Treppe sagte ich: »Es ist sehr wichtig, daß George nichts davon erfährt. Kein Sterbenswörtchen. Sonst ist alles umsonst. Wird Delia schwatzen?«

»Nein.«

»Bist du sicher?«

»Ja. Delia weiß, wie wichtig die Sache für mich ist. Sie hat es mir immer wieder gesagt.«

»Alice, ich kenne deinen Nachnamen nicht und du nicht den meinen. Wir dürfen uns nie wiedersehen.« Sie nickte. »Zweimal heute nacht wärst du um ein Haar erwischt worden. Du kannst aber ruhig zu ›Mama Carlotta‹ gehen; ich werde nie mehr dort sein.«

Zwei Stunden später kehrten wir zum Washington Square zurück. Sie spähte um die Ecke, als wären wir Bankräuber. Sie flüsterte: »Das Kino ist aus.« Und kicherte.

Ich ließ sie in einer Einfahrt warten und ging zu einem Taxi. Ich fragte den Chauffeur, wieviel die Fahrt zum »One Mile Corner« koste.

»Fünfzig Cents«, sagte er.

Ich kehrte zurück und drückte ihr einen halben Dollar und zwanzig Cents in die Hand. »Wo bist du denn gewesen, wenn man dich danach fragt?«

»Wie heißt das Haus, wo sie Kirchenlieder sangen?«

Ich sagte es ihr. »Ich werde hier an der Ecke warten, bis du abgefahren bist.«

Sie küßte ihre Fingerspitzen und drückte sie mir auf die Wange. »Ich sollte den Briefbeschwerer von Atlantic City lieber nicht behalten.«

Sie gab ihn mir zurück. Sie machte einige Schritte in Richtung auf das Taxi, drehte sich dann nach mir um und sagte: »Von jetzt ab werde ich nachts nie mehr allein sein, nicht wahr?«

Und weg war sie.

Plötzlich ging es mir durch den Kopf: Natürlich. Zwanzig Jahre lang sah Penelope ihren Sohn Telemachos neben sich heranwachsen.

»Der Hirschpark«

Die Überschrift dieses Kapitels könnte auch heißen: »Der Schamane oder Le Médecin malgré lui.«

Eines Tages fand ich in meinem Postfach die Nachricht vor, ich möchte eine gewisse Mrs. Jens Skeel zwischen drei und vier Uhr nachmittags anrufen.

»Mrs. Skeel, hier ist Mr. North.«

»Guten Tag, Mr. North. Danke für Ihren Anruf. Freunde von uns haben sich sehr anerkennend über Ihr Vorlesen geäußert. Ich würde mich freuen, wenn Sie mit meiner Tochter Elspeth und meinem Sohn Arthur französisch lesen könnten. Elspeth ist siebzehn und ein liebes, reizendes, kluges Mädchen. Wir haben sie aus der Schule nehmen müssen, weil sie sehr stark an Migräne leidet. Ihr fehlt die Schule sehr, vor allem die Kurse über französische Literatur. Meine beiden Kinder sind in der Normandie und in Genf zur Schule gegangen. Sie lesen und sprechen fließend französisch. Beide lieben die Fabeln von La Fontaine und möchten sie mit Ihnen studieren. Ja, wir haben mehrere Exemplare hier … Am späten Vormittag würde es uns sehr passen — von elf bis zwölf Uhr dreißig, montags, mittwochs und freitags … Ja. Soll ich Sie mit dem Wagen abholen lassen? … Oh, Sie wollen lieber mit dem Fahrrad kommen … Wir wohnen im ›Hirschpark‹, wissen Sie, wo das ist? … Gut. Kann ich den Kindern sagen, daß Sie morgen anfangen werden? … Vielen Dank.«

Jeder kannte den »Hirschpark«. Der Vater von Mr. Skeel war ein dänischer Reederei-Besitzer gewesen. Er hatte seinen »Hirschpark« nicht als eine Imitation des berühmten Kopenhagener Parks angelegt, sondern unter liebevoller Bezugnahme darauf. Ich war oft vor dem hohen Eisengitter abgestiegen, um die weite Rasenfläche zu bewundern, die sich zu den nicht sehr hohen Klippen über dem Meer erstreckte. Unter den herrlichen Bäumen von Newport konnte ich Hirsche, Kaninchen, Pfauen ausmachen, leider keine La Fontaineschen Füchse und Wölfe, ja nicht einmal einen Esel.

In der Eingangshalle wurde ich von Mrs. Skeel begrüßt. Elégance ist ein zu aufwendiges Wort, um die Vollkommenheit ihrer Erscheinung zu charakterisieren. Sie war in graue Seide gekleidet und trug eine Kette aus grauen Perlen und ebensolche Ohrringe. Sie war ganz Würde und Charme — und noch etwas anderes: stoisch beherrschte Angst.

»Sie werden meine Tochter auf der Veranda finden. Sie will sich bestimmt selbst vorstellen. Mr. North, sobald Sie merken, daß meine Tochter ermüdet, so bitte ich Sie, den Unterricht unter irgendeinem Vorwand abzubrechen. Arthur wird Sie darin unterstützen.«

Wie die Mutter, so die Tochter — nur wurde die Angst zum Teil durch eine auffallende Blässe ersetzt. Ich sprach sie französisch an.

»Mr. North, darf ich Sie bitten, mit uns französisch zu lesen. Aber leider strengt mich das Sprechen zu sehr an.« Sie zeigte mit ihrer Hand auf die linke Stirnseite. »Schauen Sie! Da kommt mein Bruder!«

Ich drehte mich um und sah in einiger Entfernung einen etwa elfjährigen Knaben die Klippen heraufklettern. Obwohl er nicht zu meinen Schülern gehörte, kannte ich ihn vom Tennisplatz her. Er war der typische, vitale, sommersprossige amerikanische Junge, wie er im Buche steht. Er wurde »Galloper« genannt nach seinem zweiten Vornamen Gallup, zudem sprach er sehr schnell und galoppierte immer, statt zu gehen. Er rannte auf uns zu und blieb dann plötzlich stehen. Wir wurden einander vorgestellt und schüttelten uns feierlich die Hände.

»Guten Tag, Galloper, kennen wir uns nicht?«

»Ja, Sir.«

»Nennt man dich hier auch so?«

»Ja, Sir, aber nur Elspeth.«

»Ich mag den Namen. Darf ich dich auch so anreden?«

»Ja, Sir.«

»Hast du die Fabeln ebenso gern wie deine Schwester?«

»Wir sind beide sehr tierlieb. Galloper beobachtet oft stundenlang seinen Meerwassertümpel. Er kennt einige von den Fischen und Seeschnecken und hat ihnen sogar Namen gegeben. Wir bereden alles miteinander.«

»Ich freue mich sehr, Miß Skeel, daß wir zusammen die Fabeln lesen. Ich habe schon lange nicht mehr hineingeschaut, aber ich erinnere mich, daß ich die Fabeln sehr bewundert habe. Sie sind klein und dennoch groß, einfach und zugleich vollkommen. Wir wollen dann herausfinden, wie La Fontaine das gemacht hat. Bevor wir jedoch damit anfangen, möchte ich mich mit Ihrer Erlaubnis gern mit diesem wunderbaren Park vertraut machen — und mit den Freunden, die ich dort sehe. Würde Sie ein kleiner Spaziergang zu sehr anstrengen?«

Sie warf einen Blick auf die Krankenschwester, die eben herbeikam. »Miß Chalmers, erlauben Sie mir jetzt meinen Morgenspaziergang?«

»Ja, Miß Elspeth.«

Die Hirsche hielten sich in einem Pavillon zu unserer Rechten auf inmitten eines kleinen Wäldchens; die Kaninchen residierten in einem aus Ställen gebildeten Dorf; die Pfauen herrschten in einer Voliere mit einem Schutz gegen die Winterkälte.

»Sollten wir nicht etwas zum Füttern mitnehmen?«

»Der Verwalter füttert sie mehrmals am Tage. Sie erwarten nichts von uns. Das ist viel besser für sie.«

Die Hirsche sahen uns näherkommen und schritten langsam auf uns zu.

»Man soll nicht die Hand nach ihnen ausstrecken, sie wollen uns zuerst berühren.«

Jetzt waren Hirsche neben uns und zwischen uns und vor uns und hinter uns. Wir gingen alle zusammen spazieren. Sogar die Rehkälber, die im Schatten eines Baumes gelegen hatten, rafften sich auf und schlossen sich der Prozession an. Die älteren Hirsche schoben, ja stießen uns ganz sanft.

»Am liebsten haben sie eine kleine Ansprache. Ich glaube, sie leben mit ihren Augen, den Ohren und der Schnauze.

Dies ist dein schönstes Baby, Jacqueline. Ich weiß, du hast früher genauso ausgesehen. Paß auf, daß es nicht von den Klippen fällt wie du. Erinnerst du dich noch an die Schienen, die du tragen mußtest und die du so gar nicht leiden konntest … Oh, Monsieur Bayard, Ihr Geweih ist aber schnell gewachsen.

Sie haben es gern, wenn man ihr Geweih streichelt. Es juckt sie wahrscheinlich, wenn der Bast darauf wächst. Die Kaninchen erwarten auch unseren Besuch. Sie halten sich von den Hirschen fern wegen der Hufe. Oh, Figaro, wie hübsch du bist! Die Hirsche werden uns bald verlassen, es strengt sie sehr an, mit Menschen zusammenzusein … Sehen Sie, da ziehen die Hirsche sich schon zurück … Sie sollten sie mal am 4. Juli sehen, schrecklich. Gewiß hat noch nie jemand auf sie geschossen, aber ich glaube, die Erinnerung an den Jäger sitzt ihnen im Blut. Halten Sie das für möglich? … Schade, daß wir die Kaninchen nicht beim Spielen beobachten können; es ist noch zu früh. Wenn der Mond aufgegangen ist, rasen sie herum wie Verrückte.«

»Mademoiselle, warum stoßen uns die Hirsche?«

»Vielleicht, weil … Kann ich mich einen Augenblick hinsetzen? Bitte nehmen Sie auch Platz. Galloper wird Ihnen sagen, wie wir es uns erklärt haben.«

Es war mir aufgefallen, daß Bambusstühle mit breiten Armlehnen, wie ich sie von China her kannte, in gewissen Abständen über den Rasen verteilt waren, jeweils zwei beieinander. Wir setzten uns. Galloper nahm seiner Schwester die Antwort ab. »Wir glauben, daß sie uns als Feinde ansehen. Bei uns in der Halle hängt ein Bild …«

»Ich glaube, es ist von Landseer.«

»Hirsche und Rehe drängen sich zusammen, rundum von Wölfen bedroht. Bevor es Menschen mit Gewehren gab, waren Wölfe oder vielleicht auch Männer mit Speeren oder Knüppeln ihre Feinde. Die Hirsche müssen wohl einige verloren haben, aber zu ihrer Verteidigung bildeten sie eben eine Mauer von Geweihen. Sie möchten nicht gestreichelt und getätschelt werden, sie brauchen das Gefühl des Zusammenhalts. Die Kaninchen sind da ganz anders. Alle Hasen trommeln auf den Boden, um die anderen vor uns zu warnen. Wenn keine Deckung in der Nähe ist, ›frieren‹ sie ›ein‹ und stellen sich tot. Sie haben gewiß auch Feinde am Boden, aber sie fürchten sich am meisten vor dem Habicht in der Luft. Habichte jagen allein. Hirsche und Kaninchen verlieren also immer einige von ihrer Art.«

»Was ich ›Geiseln des Zufalls‹ nennen würde.«

»Sie tun aber, was sie können für ihre Artgenossen.«

Elspeth sah mich an.

»Glauben Sie, daß etwas Wahres an unserer Theorie ist?«

Ich lächelte sie an.

»Ich bin Ihr Schüler. Ich höre, was Sie mir zu sagen haben.«

»Ich fange ja erst zu denken an. Ich versuche zu begreifen, warum die Natur so grausam ist und zugleich so wunderbar. Galloper, erzähl Mr. North, was du in deinem Tümpel gesehen hast.«

Galloper antwortete widerstrebend.

»Es ist ein Kampf, jeden Tag. Einfach schrecklich.«

»Mr. North«, sagte Elspeth, »warum muß das so sein? Liebt denn Gott die Welt nicht?«

»Doch, er liebt sie, ganz gewiß. Aber darüber später.«

»Vergessen Sie es nicht.«

»Nein. Mademoiselle, haben Sie jemals Hirsche in ihrer natürlichen Umgebung gesehen?«

»Ja. Meine Tante Benedikta hat ein Sommerhaus in den Adirondacks. Sie lädt uns jeden Sommer ein. Da kann man Hirsche sehen und Füchse, sogar Bären. Da gibt es überhaupt keine Gitter und keine Käfige. Die Tiere sind frei und so schön!«

»Werden Sie diesen Sommer hinfahren?«

»Nein. Mein Vater ist dagegen. Und außerdem bin ich .. bin ich nicht ganz gesund.«

»Was interessiert Sie beide denn noch an den Tieren?«

»Warum die Natur es so eingerichtet hat, daß die Vögel ihre Augen auf der Seite des Kopfes haben.«

»Und warum«, fügte Galloper hinzu, »so viele Tiere ihren Kopf dicht über den Boden halten.«

»Wir lieben die Warums«, sagte seine Schwester.

»Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«

Nach einem Blick auf seine Schwester nahm Galloper ihr die Anstrengung des Antwortens ab. »Wir wissen, daß pflanzenfressende Tiere ihre Augen auf die Pflanzen richten und daß die Vögel Feinde von allen Seiten erwarten, aber wir haben uns gefragt, warum die Natur sich nichts Besseres einfallen ließ — wie zum Beispiel die Augen der Krustentiere in meinem Tümpel.«

»Die Schwierigkeit beim Denken«, murmelte seine Schwester, »besteht darin, daß man gleichzeitig an so vieles denken muß.«

Sie hatte ein Exemplar der Fabeln bei sich. Es fiel von der breiten Stuhllehne auf die Erde (hatte sie mit einem kleinen Stoß nachgeholfen?). Wir beugten uns gleichzeitig vor, um es aufzuheben. Dabei trafen sich unsere Hände. Sie holte tief Atem und schloß die Augen. Dann öffnete sie die Augen wieder und sagte mit überraschender Direktheit: »Von Galloper weiß ich, daß Ihre Schüler im Casino Ihre elektrischen Hände rühmen.«

Ich glaube, ich wurde furchtbar rot, und das erboste mich furchtbar. »Das ist selbstverständlich ganz absurd und bedeutet überhaupt nichts.«

___________

Zum Teufel noch einmal!

Hin und wieder regnete es auch in Newport. Manchmal überraschte uns ein Regenschauer, wenn ich im Casino früh am Morgen meine beiden Trainerstunden gab. Ich hatte nie mehr als vier Schüler auf einmal; die anderen spielten solange auf den benachbarten Tennisplätzen. Dann rannten wir alle schutzsuchend in einen hinter der Zuschauertribüne gelegenen Aufenthaltsraum. Meine Schüler, alle zwischen acht und vierzehn, waren ein hübscher Anblick, wie sie in makellos weißer Kleidung, strahlend jung, gepflegt und strotzend vor Gesundheit, sich um mich versammelten und schrien: »Mr. North, erzählen Sie uns von China. Erzählen Sie uns noch eine Geschichte wie ›Der Schmuck‹?« Ich hatte sie einmal mit Maupassants erschreckender Geschichte still gehalten. Der umsichtige Bill Wentworth, selber Vater und Großvater, wußte sehr wohl, daß Kinder in diesem Alter gern am Boden sitzen. Er hatte deshalb rings um den »Lehrerstuhl« den Boden mit Segeltuch ausgelegt. Galloper zählte nicht zu meinen Schützlingen, aber er schloß sich unserem Kreis an, und sogar ein paar ältere Schüler rückten, obwohl zögernd, mit ihren Stühlen näher heran. Bei einer solchen Gelegenheit erblickte ich zum ersten Mal Eloise Fenwick, und um ihrer lieben Augen und Ohren willen erzählte ich zum ersten Mal Chaucers Fabel »Der Falke«. Und es war Galloper zuliebe, daß ich über Fabres Entdeckung sprach, über die Beobachtung, daß eine Wespe zuerst einen Wurm oder eine Raupe lähmt und dann ihr Ei darauf legt, damit das zukünftige Insekt sich ernähren kann. Hat nicht Rousseau darauf hingewiesen, daß die Erziehung bei einem Kind zuerst die Fähigkeit des Sichwunderns und Fragens entwickeln sollte?

Ich verspürte kein Bedürfnis, die Kinder um mich herum mit Zärtlichkeiten zu verwöhnen. Ich selbst mag es gar nicht, wenn man mich anfaßt, aber Kinder müssen eine ältere, ihnen vertraute Person berühren, liebkosen, streicheln, ja, ihr sogar auch einen Puff versetzen. Wenn der Schauer vorbei war, gab es stets ein großes Hin und Her — die einen wollten mich zurück zu den Tennisplätzen schleppen, die anderen bettelten um noch eine Geschichte, weil »das Gras noch naß ist«. Und ein Kind nach dem anderen entdeckte plötzlich, daß ich »elektrische Hände« hätte, die Funken sprühten. Ich war sehr ungehalten darüber und verbat mir derlei Bemerkungen. »Lächerlich! Ich will das in Zukunft nicht mehr hören!« Eines Tages ging alles drunter und drüber. Als alle auf die Tennisplätze stürzten, wurde Ada Nicols, neun Jahre alt, in dem wilden Gedränge zur Seite geschleudert. Sie schlug mit dem Kopf an einen Pfosten und verlor das Bewußtsein. Ich beugte mich über sie, schob ihr Haar auseinander, um nach der Wunde zu sehen, und rief wiederholt ihren Namen. Sie öffnete die Augen und schloß sie sogleich wieder. Die ganze Gruppe sah ängstlich auf sie herab. Ada zog meine Hände an ihre Stirn und murmelte: »Mehr! Mehr!« Dabei lächelte sie leer. Schließlich sagte sie glücklich: »Ich bin hypmertisiert« und »Ich bin ein Engel«. Ich hob sie auf und trug sie in Bill Wentworths Büro, das häufig als Unfallstation benutzt wurde. Von Stund an war ich ein viel strengerer und sachlicherer Lehrer. Keine Onkel-Theophilus-Geschichten mehr. Und kein Mesmerismus mehr. Aber Adas Geschichte verbreitete sich. Im ersten Kapitel dieses Buches habe ich dem Leser bereits mitgeteilt, daß ich gewisse Fähigkeiten besaß, die ich nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Ich habe oft wütende Hunde getrennt und wild gewordene Pferde beruhigt. Im Krieg und auch später brauchte ich in Bars und Tavernen nur meine Hände auf die Schultern streitsüchtiger Männer zu legen und ein paar Worte zu murmeln — gleich war der Friede wiederhergestellt. Ich interessiere mich nicht für das Unerklärliche oder Irrationale. Ich bin kein Mystiker. Zudem wußte ich aus Erfahrung, daß diese Fähigkeit mich — ob sie nun real war oder nicht — der Gefahr der Scharlatanerie und der Quacksalberei aussetzte. Der Leser erfuhr bereits, daß mir Betrug nicht fremd ist; aber ich will meinen Mitmenschen nach Lust und Laune etwas vormachen, ohne Zwang. Ich möchte dem Leben im Geist des Spiels verpflichtet sein, ich möchte nicht andere an der Nase herumführen oder sie in meinen eigenen Augen der Lächerlichkeit preisgeben.

Und nun hatte dieses gräßliche Gerücht mit den »elektrischen Händen« im »Hirschpark« sein Haupt erhoben, vor jenem ungewöhnlichen, kranken Mädchen und dem äußerst intelligenten Knaben.

Zum Teufel noch einmal!

Zwei Nachmittage lasen wir schon die Fabeln und analysierten sie nach der französischen Methode, die sich »L’explication de texte« nennt. Ich blieb vorher die halbe Nacht auf, um mich auf die Stunden vorzubereiten. Ich brachte dann alle literarkritischen Gemeinplätze vor: über die Kunst, mit der eine schlichte Redeweise in den Rang des Poetischen erhoben wird; über den Wechsel von langen und kurzen Versen und seine belebende Wirkung (was einige von La Fontaines hervorragendsten Zeitgenossen verurteilten); über die Ironie der heroischen Alexandriner und die starke Simplizität der erbaulichen oder belehrenden Moral.

Als ich zu unserer dritten Stunde in den »Hirschpark« kam, teilte mir Galloper mit, daß seine Schwester Migräne habe und nicht herunterkommen könne.

»Nun, Galloper, wollen wir trotzdem arbeiten?«

»Sir, wenn Elspeth sich nicht wohl fühlt, kann ich mich nicht auf Bücher oder sonst etwas konzentrieren. Meine Mutter läßt Ihnen sagen, daß wir Ihnen das Übliche bezahlen.«

Ich sah ihn an. Er war wirklich sehr unglücklich.

»Galloper, würde es dich ein bißchen aufheitern, wenn du mir für eine halbe Stunde deinen Tümpel zeigst?«

»O ja, Sir. Elspeth würde das sicherlich billigen, Sir.« Er blickte zum Haus zurück und rechnete den Weg aus. »Wir müssen hinter dem Haus des Verwalters die Klippen hinuntergehen. Mein Vater ist zu Hause, und er will nicht, daß ich mich zu viel mit dem Tümpel beschäftige. Er will, daß ich Kaufmann werde und seine Reederei übernehme.«

Wir schlichen uns wie Diebe davon. Beim Hinuntersteigen fragte ich: »Galloper, gehst du auf eine Militärschule?«

»Nein, Sir.«

»Warum sagst du dann immer ›Sir‹ zu mir?«

»Mein Vater wünscht, daß ich ›Sir‹ zu ihm sage. Sein Vater ist ein Graf in Dänemark gewesen. Mein Vater ist als Amerikaner kein Graf mehr. Aber er hat es gern, wenn wichtige Leute ihn mit dem Titel anreden. Er möchte, daß Elspeth und ich wie sein Vater und seine Mutter werden.«

»Dann müßt ihr euch also ganz wie eine Lady und ein Gentleman benehmen.«

»O ja, S …«

»Hast du auch manchmal Kopfschmerzen? … Nein? … Entschuldige, daß ich dich so ausfrage. Aber du wirst mir gleich alles über deinen Tümpel erzählen. Ist deine Tante Benedikta auch so gräflich?«

»O nein. Bei ihr können wir tun und lassen, was wir wollen.«

Wir knieten über dem zum Meer hin offenen Tümpel und sahen, wie sich die Anemonen der einströmenden Flut öffneten: wir sahen Krebse in ihren Schlupfwinkeln auf ihre Beute lauern. Er führte mir das Wunder der Tarnfarbe vor — im Wasser liegende Stöcke, die keine Stöcke waren; Kieselsteine, die keine Kieselsteine waren. Er zeigte mir, mit welcher wilden Raserei winzige Fische ihre Eier gegen andere, viel, viel größere Räuber verteidigen. Auch ich wurde durch die einströmende Flut von Wundern neu belebt. Zu diesen Wundern gehörte auch der kleine Professor neben mir. Nach einer halben Stunde bat ich ihn, mich zum Haus zurückzubegleiten. Wir erhoben uns, und ich sagte: »Ich danke Ihnen vielmals, Sir. Seitdem ich Darwins ›Reise eines Naturforschers‹ gelesen habe, hat mich das Abenteuer der Wissenschaft nicht mehr so gepackt wie eben jetzt.«

»Wir halten es auch für das beste Buch.«

Als wir den Rasen überquerten, versammelten sich die Hirsche um uns, als hätten sie auf uns gewartet. Sie stießen und schoben mich von allen Seiten. Ich blieb stehen und sprach mit ihnen französisch. Galloper wartete in einiger Entfernung und beobachtete uns. Beim Weitergehen sagte er: »Sie machen das nicht bei mir und auch nicht bei ihrem Wärter — jedenfalls nicht in dem Maße. Nur bei Ihnen und Elspeth … Sie wissen, daß Sie galvanische Hände haben.«

»Galloper! Galloper! Du bist doch ein Mann der Wissenschaft und weißt, daß es so etwas nicht gibt.«

»Sir, es gibt in der Natur viele Wunder, nicht wahr?«

Ich antwortete nicht. An der Tür fragte ich, ob die Gesundheit seiner Schwester sich wohl bessere. Er sah zu mir auf und kämpfte mit den Tränen. »Sie muß bald in Boston operiert werden.«

Ich drückte ihm die Hand zum Abschied. Ich legte ihm dann meine Hand auf die Schulter: »Es gibt viele Wunder in der Natur. Ich danke dir, daß du mich daran erinnert hast.« Ich beugte mich zu ihm hinunter und sagte: »Eines erlebst du ganz bestimmt: deine Schwester wird gesund werden. Lassen Sie sich das gesagt sein, Dr. Skeel. Deine Schwester hat nichts an den Augen, und sie geht auch ohne Gleichgewichtsstörungen die Stufen der Veranda hinunter.«

___________

Bei der nächsten Stunde schien es Elspeth viel besser zu gehen. Sie erbot sich, eine neu auswendig gelernte Fabel zu rezitieren. Ich warf einen prüfenden Blick auf ihren Bruder, ob er sich der Bedeutung dieser Leistung bewußt war. Er war es.

Sie sagte: »Galloper, erzähle bitte Mr. North, was wir gestern beschlossen haben.«

»Meine Schwester und ich haben beschlossen, daß wir keine Fabeln mehr lesen wollen … Wir mögen sie schon sehr gern, aber wir wollen jetzt nicht … Wir haben nämlich das Gefühl, daß sie gar nicht von Tieren handeln, sondern von Menschen, und meine Schwester und ich waren schon immer dagegen, daß man Tiere …«

Er sah sie an. Sie sagte: » … als Menschen betrachtet. Wir haben die zehn berühmtesten Fabeln noch einmal durchgesehen und die Stellen angestrichen, wo La Fontaine wirklich von einem Fuchs, einer Taube und einer Krähe spricht … es war nicht oft. Wir bewundern den Dichter, aber Sie haben Galloper zu der Lektüre von Fabre geraten. Meine Mutter hat uns die Bücher aus New York kommen lassen, und es sind die besten Sachen, die wir je gelesen haben.«

Schweigen.

Ich sagte mit einer Geste, die leise meinen Abschied andeuten sollte: »Für Fabre brauchen Sie mich ja nicht.«

»Mr. North, wir sind vorher nicht ganz offen gewesen. Galloper hatte meine Mutter überredet, Sie um Französischstunden zu bitten, denn Galloper wollte, daß ich Sie kennenlerne; Sie sollten einfach herkommen und mit uns reden. Machen Sie das jetzt? Wir können ja sagen, daß wir noch La Fontaine lesen.«

Ich sah sie beide ernst an, immer noch in der Haltung eines Mannes, der sofort aufstehen wird.

Sie fuhr tapfer fort: »Und Galloper wollte auch, daß Sie mir Ihre Hände auf den Kopf legen. Er hat mir von Ada Nicols erzählt. Ich habe dauernd Kopfschmerzen. Wollen Sie mir nicht Ihre Hände auf die Stirn legen?«

Galloper schaute mich fast noch bittender an als seine Schwester.

»Miß Elspeth, es gehört sich nicht, daß ich meine Hände auf Ihre Stirn lege ohne die Erlaubnis Ihrer Krankenschwester.«

Sie rief die Schwester herbei. Ich hörte Miß Chalmers sagen: » … einer Lady nicht würdig … Kann die Verantwortung für Ihr unpassendes Betragen nicht übernehmen … Unglaublich … Sie sind meine Patientin, und ich will nicht, daß Sie sich aufregen … Gut, wenn Sie darauf bestehen, sprechen Sie mit Ihrer Mutter. Wenn ich gefragt werde, muß ich ihr allerdings abraten. Ich glaube, diese Lesestunden schaden sehr, Miß Elspeth.«

Miß Chalmers zog sich dampfend vor Entrüstung zurück. Galloper stand auf und ging ins Haus. Er blieb sehr lange weg. Wahrscheinlich erfuhr Mrs. Skeel zum ersten Mal die Geschichte mit Ada Nicols. Während wir warteten, fragte ich Elspeth, welche Schule sie besucht und ob es ihr gefallen habe. Sie nannte mir den Namen eines der bekanntesten Mädchen-Colleges.

»Wir durften keinen Augenblick vergessen, was die Gesellschaft von uns erwartete. Es war wie in einem Käfig; man richtete uns ab, eine Lady zu sein … Wie Pferde, die Walzer tanzen müssen … Wenn ich bei Tante Benedikta in den Adirondacks bin, kann ich richtige Hirsche in freier Natur beobachten … Ein springender Hirsch ist etwas vom Schönsten, das es gibt. Diese Hirsche hier sind nie gesprungen. Sie haben keinen Platz und auch keine Veranlassung dazu … Mr. North, haben Sie schon geträumt, Sie wären im Gefängnis?«

»Ja, es ist der schlimmste Alptraum, den es gibt.«

»Mein Vater will mich nächstes Jahr in die Gesellschaft ›einführen‹. Aber es wird kein Einführen sein, sondern ein Einsperren. Die Mädchen auf dem College haben die Winter- und Osterferien geschildert — drei Bälle jede Nacht und jeden Nachmittag Fünf-Uhr-Tee mit Tanz — immer angestarrt von einer ganzen Männerwand. Wie Tiere im Zoo, finden Sie nicht? Wenn ich nur daran denke, bekomme ich Kopfschmerzen. Und Vater will, daß ich mich Gräfin Skeel nenne.«

»Gibt es denn keine angenehmen Gedanken, die Ihre Alpträume vertreiben?«

»Früher waren es die Musik und die gemeinsame Lektüre mit Galloper, aber …« Sie hielt die Hand an die Stirn.

»Miß Elspeth, ich werde nicht erst die Antwort Ihrer Frau Mutter abwarten. Miß Chalmers lebt in einem sehr kleinen Käfig. Ich lege jetzt meine Hand auf Ihre Stirn.«

In diesem Augenblick kehrte Galloper zurück. Er überbrachte Miß Chalmers die Antwort und kam dann zu uns an den Tisch.

»Meine Mutter erlaubt, daß Sie Ihre Hand für ein paar Minuten auf Elspeths Stirn legen.«

Was sollte ich tun?

Den Scharlatan spielen!

Elspeth schloß die Augen und senkte den Kopf.

Ich stand auf und sagte in einem sachlich-kühlen Ton: »Sehen Sie bitte zum Himmel hinauf, Miß Elspeth, und halten Sie die Augen offen. Galloper, würdest du bitte deine Hände auf die rechte Stirnseite deiner Schwester legen?« Ich legte meine Hände leicht auf Elspeths linke Stirnseite, sah in ihre geöffneten Augen und lächelte. Ich konzentrierte mich darauf, meine Fingerspitzen mit einer Art Energie aufzuladen, und gleichzeitig sprach ich so ausdruckslos wie möglich: »Sehen Sie hinauf zu den Wolken … Versuchen Sie zu spüren, wie die Erde sich unter uns dreht …« Sie hob ihre Hände und umfaßte meine Handgelenke. Sie konnte ihre Augen nicht offenhalten. Lächelnd murmelte sie: »Ist das Sterben? Sterbe ich jetzt?«

»Nein, Sie spüren, wie die Erde sich dreht. So, und nun sagen Sie, was Ihnen gerade durch den Kopf geht … Geben Sie mir Ihre Rechte.« Ich umschloß sie mit meinen beiden Händen. »Sagen Sie, was Ihnen gerade einfällt.«

»O, mon professeur. Wir drei sollten zusammen fortgehen. Ich habe Geld und ein paar Schmuckstücke, die mir geschenkt wurden. Tante Benedikta besitzt ein Sommerhaus in den Adirondacks. Ich darf jederzeit zu ihr kommen. Unsere Flucht muß unbemerkt bleiben. Galloper sagt, er weiß nicht, wie man das machen soll, aber mit Ihnen zusammen gelingt es ihm vielleicht. In Boston werden sie mich umbringen. Ich fürchte mich nicht zu sterben, aber ich will nicht auf ihre Art sterben. Mr. North, ich will auf meine Art sterben. Hat nicht jeder Mensch das Recht, auf seine Art zu sterben?«

Ich verstärkte meinen Händedruck, und sie verstummte. »Sie gehen nach Boston, aber die Operation wird verschoben werden. Die Kopfschmerzen verschwinden allmählich. Sie verbringen den Rest des Sommers bei Ihrer Tante Benedikta.« Dann sagte ich auf Französisch: »Bitte wiederholen Sie sehr langsam ›Oui, monsieur le professeur‹. Vergessen Sie nicht, die Wolken, der Ozean und die Bäume hören zu.«

Langsam sprach sie: »Oui, monsieur le professeur.«

Wir verharrten eine ganze Minute ohne Bewegung. Eine unwiderstehliche Müdigkeit überwältigte mich. Ich zweifelte, ob meine Beine mich noch bis zu meinem Fahrrad tragen würden. Ich nahm meine Hände weg, gab Galloper durch eine Geste zu verstehen, daß er zurückbleiben sollte, und stolperte durch das Haus zur Türe hinaus. Ich sah gerade noch, wie Miß Chalmers ihre Patientin anstarrte. Der Butler und ein paar Dienstboten guckten durch die Fenster des Salons. Sie folgten mir mit ihren Blicken, als ich vorbeieilte. Zweimal fiel ich von meinem Fahrrad. Nur mit Schwierigkeit hielt ich mich auf der rechten Straßenseite.

___________

Ein Wochenende verstrich. Am folgenden Morgen um elf Uhr läutete ich an der Tür vom »Hirschpark«. Ich war entschlossen, meinen Job aufzugeben, wollte aber, daß man es für mich tat und mir kündigte. An der Tür teilte mir der Butler mit, Mrs. Skeel wünsche mich auf der Veranda zu sprechen. Ich verbeugte mich vor ihr. Sie streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Wollen Sie bitte Platz nehmen, Mr. North.« Ich setzte mich und schaute sie aufmerksam an.

»Mr. North, als ich Sie zum ersten Mal anrief, war ich nicht ganz offen und habe Ihnen nur die halbe Wahrheit gesagt. Meine Tochter Elspeth ist sehr krank. In den letzten Wochen wurde sie alle vierzehn Tage in Boston von Dr. Bosco untersucht und geröntgt. Er fürchtet, daß sie an einem Gehirntumor leidet, obwohl einige Besonderheiten ihn stutzig machten. Wie Sie gewiß bemerkt haben, bereitet ihr das Sprechen keine Schwierigkeiten, aber es fällt ihr schwer, laut zu sprechen. Sie hat weder Seh- noch Gleichgewichtsstörungen. Ihr Gedächtnis setzt mitunter aus, aber das kann auch auf Schlaflosigkeit und ihre Medikamente zurückgeführt werden.« Ihre Hände umklammerten die Stuhllehne, als wollte sie sich an einem Floß festhalten. »Dr. Bosco will nächste Woche eine ziemlich komplizierte Gehirnoperation an ihr vornehmen. Er möchte, daß sie schon am Donnerstag ins Krankenhaus gebracht wird … Meine Tochter findet dies alles unnötig. Sie ist davon überzeugt, daß Sie die Kraft haben, sie zu heilen … Natürlich könnte ein Assistenzarzt ihr eine Spritze geben, um sie nach Boston zu transportieren … wie … dies ihre eigenen Worte … ›eine Mumie‹. Sie sagt, sie würde mit ihm kämpfen wie mit einem Drachen. Sie können sich natürlich vorstellen, wie peinlich das für uns alle in diesem Hause wäre.«

Ich hörte ihr weiter mit ernster Miene zu.

»Mr. North, ich habe eine Bitte an Sie, nicht als Ihr Arbeitgeber, sondern als die leidende Mutter eines leidenden Kindes. Elspeth hat versprochen, ruhig nach Boston zu gehen, falls die Operation um zwei Wochen verschoben wird und ich Ihr Wort erhalte, daß Sie meine Tochter dort zweimal besuchen.«

»Ganz bestimmt, gnädige Frau. Aber mit Erlaubnis des Arztes.«

»Vielen Dank. Es läßt sich sicherlich arrangieren; ich muß es arrangieren. Ein Wagen mit Chauffeur wird Ihnen an den beiden Tagen für die Hin- und Rückfahrt zur Verfügung stehen.«

»Das ist nicht nötig. Ich kann allein den Weg nach Boston und zum Tor des Krankenhauses finden. Schreiben Sie mir bitte auf, wann und wie lange ich Ihre Tochter besuchen darf, und legen Sie ein paar Zeilen bei, die ich dem Portier des Krankenhauses vorzeigen kann. Ich werde Ihnen eine Rechnung über meine Ausgaben zuschicken, einschließlich der durch die Reise ausgefallenen Stundenhonorare. Ich möchte keinerlei Vergütung — ersetzen Sie mir nur die Spesen. Übrigens würden wir alle es als sehr angenehm empfinden, wenn Ihr Sohn Arthur bei diesen Besuchen dabei wäre.«

»Ja, Sie können mit Bestimmtheit darauf rechnen.«

»Mrs. Skeel, hat Elspeth seit meinem Besuch am letzten Freitag einen Migräneanfall gehabt?«

»Es ging ihr bedeutend besser. Sie hat gesagt, sie habe wie ein Engel geschlafen. Sie aß auch mit Appetit. Aber gestern nacht — Sonntagnacht — hatte sie wieder sehr starke Schmerzen. Schrecklich, dies mitansehen zu müssen. Ich hätte Sie für mein Leben gern angerufen. Aber Miß Chalmers und unser Newporter Arzt waren hier. Sie sind der Ansicht, daß Sie an dem Anfall schuld sind. Sie vergessen, daß so etwas wieder und wieder vorgekommen ist, lange bevor Sie hier auftauchten. Und Elspeths Vater war auch hier. Ich glaube, er leidet noch mehr als ich, denn ich bin aufgewachsen inmitten von vielen … derartigen Erkrankungen.«

»Werden wir heute französisch lesen?«

»Sie schläft. Gott sei Dank, sie schläft.«

»Wann fährt sie nach Boston?«

»Auch wenn die Operation verschoben werden sollte — worauf ich ja bestehe —, muß sie Donnerstag abreisen.«

»Sagen Sie bitte Miß Elspeth, daß ich Mittwoch kommen werde und sie auch in Boston zu der von Ihnen gewünschten Stunde besuchen will. Mrs. Skeel, bitte zögern Sie nicht, mich zu jeder Tages- oder Nachtzeit anzurufen. Es ist oft schwierig, mich tagsüber zu erreichen, aber ich überlasse Ihnen die Liste der Telefonnummern, unter denen Sie mich finden können. Sie und Miß Elspeth müssen den Mut aufbringen, sich durchzusetzen gegen die Leute, die meine Besuche nicht billigen.«

»Ich danke Ihnen.«

»Darf ich am Schluß noch etwas sagen, gnädige Frau? Arthur ist ein höchst bemerkenswerter junger Mann.«

»Nicht wahr? Nicht wahr?«

Und einen Augenblick lachten wir beide, zu unserem eigenen Erstaunen. In diesem Augenblick erschien ein Herr unter der Tür. Kein Zweifel, dies war der ehemalige Graf Jens Skeel von Skeel …

Er sagte: »Mary, möchtest du bitte in die Bibliothek gehen? Dieses dumme Zeug hat mir lange genug gedauert. Dies ist der letzte Besuch des Französisch-Lehrers in meinem Haus. Vielleicht hat der Französisch-Lehrer die Liebenswürdigkeit, mir seine Rechnung so schnell wie möglich zu schicken. Guten Tag, Sir.«

Ich lächelte strahlend wie die Sonne in sein wutverzerrtes Gesicht. »Danke vielmals«, sagte ich und nickte wie ein Büroangestellter, dem man soeben einen lang ersehnten Urlaub gewährt hat. »Auf Wiedersehen, Mrs. Skeel, bestellen Sie bitte Ihren Kindern, daß ich sie sehr herzlich grüßen lasse.« Wieder lächelte ich den Herrn des Hauses an und winkte mit der Hand, als wollte ich sagen: »Machen Sie sich nicht die Mühe, mich bis an die Tür zu bringen. Ich kenne den Weg.« Nur ein guter Schauspieler kann aus einem Haus herausgeschmissen werden oder das Zimmer verlassen, als ob man ihm eine besondere Gunst erwiesen hätte.

Ich erwartete nachts noch einen späten Anruf, deshalb blieb ich auf und las. Der Anruf kam etwa um ein Uhr dreißig.

»Mr. North, ich darf Sie doch zu jeder Tages- oder Nachtzeit anrufen?«

»Ja, gewiß, Mrs. Skeel.«

»Elspeth geht es sehr schlecht. Sie möchte Sie sehen. Der Vater ist einverstanden.«

Ich radelte zu dem Haus. Alle Fenster waren hell erleuchtet. Ich wurde zum Krankenzimmer geführt. Ich sah unglückliche Dienstboten, angezogen, als wäre es zwölf Uhr mittags, sich im Dunkeln und hinter halboffenen Türen herumdrücken. Mrs. Skeel und ein Arzt standen im Obergeschoß der Halle. Ich wurde ihm vorgestellt. Er war wütend und gab mir kühl die Hand.

»Dr. Egleston hat mir erlaubt, Sie kommen zu lassen.«

In einiger Entfernung erblickte ich Mr. Skeel, sehr gut aussehend und ebenfalls wütend. Mrs. Skeel öffnete die Tür einen Spalt und sagte: »Elspeth, mein Kind, Mr. North ist da, er will fragen, wie es dir geht.«

Elspeth saß aufrecht im Bett. Ihre Augen glänzten fiebrig, wahrscheinlich wegen der vorangegangenen schweren Auseinandersetzung mit ihrem Vater und dem Arzt. Mein Lächeln umfaßte alle. Miß Chalmers war weit und breit nicht zu sehen.

»Bonsoir, chère mademoiselle.«

»Bonsoir, monsieur le professeur.«

Ich drehte mich um und sagte in sachlichem Ton: »Galloper soll dabeisein.«

Ich wußte, daß er mich überall hören würde. Er kam auch sofort angelaufen. Über seinem Pyjama trug er einen warmen Morgenrock mit den Insignien seiner Schule. Ich zog, allen sichtbar, meine Uhr aus der Tasche und legte sie neben das Bett. Auf eine Handbewegung von mir machte Galloper die Tür zur Halle weit auf und dann noch eine zweite, die in ein Hinterzimmer mit der dampfenden Miß Chalmers führte.

»Sie haben Schmerzen gehabt, Miß Elspeth?«

»Ja, ein bißchen. Ich lasse mir von ihnen nicht diese Medizin geben.«

Ich ging zur Tür und sagte: »Jeder, der will, darf eintreten. Ich werde fünf Minuten bleiben. Ich möchte nur darum bitten, daß keiner Zorn und Furcht hier hereinbringt.«

Mrs. Skeel trat ein und setzte sich auf einen Stuhl am Fußende des Bettes. Eine ältere Frau, die stumm einen Rosenkranz gebetet hatte — wahrscheinlich Elspeths Kindermädchen —, kam ebenfalls herein mit einer Miene, als ob sie sich über eine Anordnung hinwegsetze. Sie kniete mit ihrem Rosenkranz in einer Ecke des Zimmers nieder. Ich lächelte immer in die Runde, als ob ich, ein alter Freund des Hauses, einen ganz gewöhnlichen Besuch machte. In Wirklichkeit war mein Besuch so ungewöhnlich, daß die Hausangestellten sich unbeanstandet an der Tür drängten. Einige standen sogar im Zimmer.

»Miß Elspeth, als ich vorhin die Avenue zu Ihnen entlangradelte, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Eine Mondlandschaft. Es war wunderbar. Ich freute mich auf die Begegnung mit Ihnen und war ein wenig exalté. Ich hörte mich ein altes Lied singen, das Sie wahrscheinlich kennen. ›Nicht aus Mauern ein Gefängnis, nicht aus Eisen einen Käfig‹. Diese vor fast dreihundert Jahren geschriebenen Worte müssen Tausenden von Männern und Frauen Trost gebracht haben — wie sie mir Trost brachten. Ich werde jetzt mit Ihnen Chinesisch sprechen. Sie erinnern sich, daß ich in China aufgewachsen bin. Ich werde alles für Sie übersetzen. ›Ee er san‹ — erst mit einem Glissando nach unten, dann nach oben — ›Gee- der -gaw‹ — in einem immer höheren Ton. ›Hu‹ (eine tiefe Note), ›li too bay. Nu chi fo n’yu‹, und so weiter. Mehr als die ersten sieben Worte kann ich auf Chinesisch gar nicht sagen. Sie bedeuten: ›eins, zwei, drei, vier, Huhn, Ei, Kuchen.‹ Mit anderen Worten heißt das, Mademoiselle: Alle Natur ist eins. Alles Lebendige ist aufs innigste miteinander verbunden. Und die Natur will, daß alles Lebendige ein vollkommenes Beispiel seiner Art darstellt und sich am Geschenk des Lebens erfreut. Das gilt für Gallopers Fische, für Jacqueline und Bayard und für alle Anwesenden, einschließlich Sie und Galloper und mich.« Dies war die freie Wiedergabe eines Goetheschen Gedankens.

Ich beugte mich vor und sagte leise zu Elspeth: »Fahren Sie ruhig nach Boston. Die Operation wird immer wieder aufgeschoben. Ich werde Sie in Boston besuchen, aber auch mit Dr. Bosco sprechen. Hat er den ›Hirschpark‹ kennengelernt?«

»Ja, ja.«

»Ich werde ihm sagen, daß Sie in diesem ‘Hirschpark’ ein wunderschönes Reh sind, das außerhalb des Zaunes leben will. Ihre Kopfschmerzen sind ein Protest gegen dieses Eisengitter. Ich werde Dr. Bosco sagen, daß er Sie zu Ihrer Tante Benedikta schicken soll, zu den Hirschen in freier Natur.«

»Können Sie das?«

»O ja.«

»Ich weiß, daß Sie das fertigbringen. Werden Sie mich dort auch besuchen?«

»Ich will es versuchen. Aber ein Mann von dreißig hat viele Käfige. Vergessen Sie nicht, ich besuche Sie in Boston mehr als einmal, und später werde ich Ihnen oft schreiben. Ich habe jetzt noch eine Minute Zeit. Ich lege meine Hand auf Ihre Stirn … und während meines ganzen Heimweges werden meine Gedanken wie eine Hand auf Ihnen ruhen, und Sie werden einschlafen …«

Es trat eine Stille ein. Sechzig Sekunden Schweigen auf der Bühne sind lang.

»Dormez bien, mademoiselle.«

»Dormez bien, monsieur le professeur.«

Ich habe vielleicht keine galvanischen Hände, aber ich kann Galvanismus mimen. Diesmal nahm ich mir Otis Skinner in »Die Ehre der Familie« von Balzac zum Vorbild. Während ich zur Tür ging, lächelte ich wie ein Feldherr die Zuschauer im Zimmer und auf der Schwelle an; die tränenüberströmte Mrs. Skeel; den griechischen Chorus der von Furcht und Mitleid überwältigten Dienstboten; die zornigen und zugleich ratlosen Gesichter von Mr. Skeel, Dr. Egleston und der neben ihnen stehenden Miß Chalmers. Ich war mindestens ein oder zwei Zentimeter gewachsen, auf meinem Kopf saß keck ein Zylinder. Ich hielt eine kleine Reitpeitsche in der Hand, mit der ich dem Türpfosten beim Hinausgehen einen Hieb versetzte. Ich war die Selbstsicherheit, die Unverschämtheit in Person: Colonel Philippe Brideau.

»Schönen guten Morgen, meine Damen und Herren. Schönen guten Morgen, Galloper. Charles Darwin erwartet, daß jeder seine Pflicht tut!«

»Ja, Sir.«

»Schönen guten Morgen, alle miteinander.«

Ich rief in das Krankenzimmer zurück: »Schönen guten Morgen, Miß Elspeth. ›Nicht aus Mauern ein Gefängnis, nicht aus Eisen einen Käfig‹. Bitte sagen Sie: ›Nein, gewiß nicht‹«.

Ihre Stimme klang wie eine Glocke: »Non, monsieur le professeur.«

Ich verneigte mich nach rechts und links und stürmte die Treppe hinunter, zwei Stufen auf einmal nehmend, dazu schmetterte ich den Soldatenchor aus »Margarete«.

Hoffnung ist eine Projektion der Phantasie wie Verzweiflung auch. Verzweiflung akzeptiert nur allzu bereit die erahnten Übel, Hoffnung ist eine Energie, die den Geist aufstachelt, jede Möglichkeit eines Kampfes zu entdecken. Auf der Fahrt zum »Hirschpark« durch jene geheimnisvolle Mondlandschaft war mir eine Idee gekommen.

Ich sollte am folgenden Freitag um vier Uhr im Krankenhaus sein. So bat ich Dr. Bosco in einem kurzen Schreiben, mir fünf Minuten seiner kostbaren Zeit zu widmen, um über seine Patientin Miß Elspeth Skeel zu sprechen. Ich schrieb ihm, daß ich im amerikanischen Hospital von Neuilly bei Paris viele gute Gespräche mit seinem großen Freund und Kollegen Dr. de Martel geführt hätte. Dr. de Martel gehörte auch zu den drei berühmtesten Gehirnchirurgen der Welt. Ich hatte den bedeutenden Mann persönlich nie getroffen, aber Hoffnung versetzt Berge. Zudem hatte er einen Freund von mir im Alter von sechs Tagen operiert. Außerdem war er der Sohn von »Gyp«, der Comtesse de Martel, einer lebensbejahenden Schriftstellerin mit weltoffenen Augen.

Dr. Bosco empfing mich mit einer Herzlichkeit, die sofort in unpersönliche Sachlichkeit umschlug. Während des ganzen Gespräches stand seine Sekretärin hinter ihm, einen Notizblock in der Hand.

»Was sind Sie von Beruf, Mr. North?«

»Ich unterrichte Englisch, Französisch, Deutsch und Latein; ich bin auch Tennistrainer für Kinder im Casino von Newport. Ich möchte Ihre Zeit nicht unnötig in Anspruch nehmen, Herr Doktor. Miß Skeel hat mir gestanden, daß sie sich vor dem Schlafen fürchtet, weil Angstträume von einem engen Käfig sie quälen. Sie stirbt an gesellschaftlicher Enge.«

»Verzeihen Sie, woran?«

»Sie ist ein ungewöhnliches Mädchen mit einem raschen, verwegenen Verstand. Aber bei allem, was sie unternimmt, stößt sie auf die Tabus und Vetos der sogenannten guten Gesellschaft. Ihr Vater ist ihr Gefängniswärter. Würde ich jetzt mit Ihrem Freund Dr. de Martel sprechen, würde ich es ihm so erklären: ›Dr. de Martel, Ihre kluge Mutter schrieb diese Geschichte immer wieder, denn sie hat an die Emanzipation der jungen Mädchen geglaubt.‹«

»Na und?«

»Dr. Bosco, ich habe eine Bitte an Sie.«

»Fassen Sie sich kurz.«

»Elspeth Skeels Tante — frühere dänische Gräfin Skeel — hat ein Sommerhaus in den Adirondacks, wo Hirsche und sogar Füchse und Bären in der freien Natur leben —, dort wird ein Mädchen von siebzehn Jahren nie ein brutales, lebensverneinendes Wort zu hören bekommen.« Ich verbeugte mich lächelnd. »Auf Wiedersehen, Dr. Bosco. Auf Wiedersehen, mein Fräulein.«

Ich drehte mich um und verließ das Zimmer. Als die Tür sich hinter mir schloß, sagte er: »Verflucht nochmal!«

Ein paar Minuten später wurde ich zu Elspeth geführt. Sie saß neben ihrer Mutter in einem Lehnstuhl am Fenster mit dem Blick auf den Charles River. Ihr Bruder stand am Bett. Nach der Begrüßung sagte Elspeth: »Mama, möchtest du nicht Mr. North die erfreuliche Nachricht mitteilen?«

»Mr. North, sie wird überhaupt nicht operiert werden. Dr. Bosco hat gestern die entscheidende Untersuchung vorgenommen. Er glaubt, daß ihr beunruhigender Zustand sich von selbst bessern wird.«

»Ist das nicht herrlich! Wann fahren Sie nach Hause?«

»Wir gehen nicht nach Newport zurück. Ich habe Dr. Bosco von dem Sommerhaus meiner Schwägerin in den Adirondacks erzählt, und er meint, das sei genau das Richtige.«

All meine schauspielerischen Heldentaten und all meine kleinen Lügen waren also unnötig gewesen. Aber es hatte mir Spaß gemacht. Und Elspeths Lächeln, als ihre Augen sich mit den meinen trafen, war Lohn genug als ein Zeichen dafür, daß wir ein Geheimnis miteinander teilten.

Jetzt konnten wir nur noch Konversation machen — über die Harvard-Studenten und ihre Ruder-Regatta, über die bevorstehende Abreise in die Adirondacks, über die wunderbaren Krankenschwestern (von Nova Scotia) —, leeres Geplauder. Meine Gedanken irrten ab. Für mich ist Geplauder ein trostloser Käfig.

Eine Krankenschwester erschien an der Tür. »Ist hier ein Mr. North?«

Ich meldete mich.

»Dr. Boscos Sekretärin hat angerufen. Er wird in ein paar Minuten hier sein. Sie möchten doch bitte auf ihn warten.«

»Gut.«

Herrgott noch einmal! Was jetzt?

Gleich darauf erschien er. Er ließ sich nicht anmerken, daß er mich kannte. Er sprach mit Mrs. Skeel. »Mrs. Skeel, ich habe über den Fall Ihrer Tochter nachgedacht.«

»Ja, Dr. Bosco?«

»Ich glaube, der Sommer in den Adirondacks reicht zur Erholung nicht aus; Ihre Tochter braucht einen längeren Ortswechsel und sollte acht oder zehn Monate in Europa verbringen, wenn möglich in den Bergen. Haben Sie Freunde oder Verwandte in der Schweiz oder in Tirol?«

»Sie könnte in Arosa eine ausgezeichnete Schule besuchen. Würde dir das zusagen, Elspeth?«

»Sehr.« Ihr Blick umfaßte auch mich. »Du mußt mir nur sehr oft schreiben.«

»Aber natürlich. Und ich schicke dir Arthur in den Weihnachtsferien. Dr. Bosco, darf ich Sie bitten, Mr. Skeel in einem Brief diesen Plan dringend zu empfehlen?«

»Gern. Nochmals: Auf Wiedersehen, Mr. North.«

»Auf Wiedersehen, Dr. Bosco.«

»Mrs. Skeel, Mr. North verdient einen Orden. Er hatte mich um fünf Minuten meiner Zeit gebeten. Er kam zu mir und erledigte sein Anliegen in drei Minuten. Das habe ich in meiner langen Praxis noch nie erlebt. Mr. North, ich habe meine Frau angerufen und ihr erzählt, daß Sie mit unserem Freund Dr. de Martel sehr befreundet sind. Sie liebt Thierry de Martel noch mehr als mich. Sie hat mich gebeten, Sie zum Abendessen mit nach Hause zu bringen.«

»Dr. Bosco, ich habe Sie angelogen. Ich kenne Dr. de Martel gar nicht.«

Er blickte sich im Zimmer um und schüttelte erstaunt den Kopf.

»Kommen Sie trotzdem. Es wäre nicht das erste Mal, daß wir einen Lügner bei uns zum Essen haben.«

»Aber Dr. Bosco, ich fürchte, daß ich Sie langweilen werde.«

»Auch daran bin ich gewöhnt. Wollen Sie die Freundlichkeit haben, um sechs Uhr dreißig vor dem Eingang des Krankenhauses auf mich zu warten?«

Ich sagte nichts mehr. Ich hatte viele Geschichten über Dr. Bosco gehört, und ich wußte, dies war mehr als eine Einladung — es war ein Befehl.

Als er fort war, sagte Mrs. Skeel: »Das ist eine große Ehre, Mr. North.«

Und Elspeth sagte: »Er interessiert sich sehr für Sie, monsieur le professeur. Ich habe ihm von Ihren Händen erzählt, und wie Sie meine Kopfschmerzen zum Verschwinden brachten, und wie wunderbar Sie Ada Nicols geholfen haben. Ich berichtete ihm auch, daß Sie nach Ansicht der Leute Dr. Bosworth vom Krebs geheilt haben. Er möchte wahrscheinlich wissen, wie Sie das machen?«

Mir fielen fast die Augen aus dem Kopf vor Schrecken und Scham. Zum Teufel noch einmal! Ich mußte raus aus diesem Gebäude. Ich mußte allein sein mit mir und nachdenken. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, mich im Charles River zu ertränken (aber dazu ist er zu seicht; außerdem bin ich ein hervorragender Schwimmer). Ich verabschiedete mich hastig von den Skeels, dankte ihnen, wünschte ihnen noch viele schöne Tage etcetera. Galloper flüsterte ich ins Ohr: »Du wirst ein großer Arzt werden; lerne hier, wie man Befehle gibt.«

»Ja, Sir.«

Ich wanderte zweieinhalb Stunden durch die Straßen von Boston. Um sechs Uhr dreißig wartete ich am angewiesenen Platz. Ein unauffälliger Wagen fuhr vor. Ein etwa dreißigjähriger Mann, der mehr einem Portier als einem Chauffeur ähnelte, stieg aus und fragte, ob ich Mr. North sei.

»Ja. Ich möchte gern vorne neben Ihnen sitzen, wenn es Sie nicht stört. Ich heiße Ted North.«

»Sehr angenehm. Fred Spence.«

»Wohin fahren wir, Mr. Spence?«

»Zu Dr. Boscos Haus in Brookline.«

»Ist Dr. Bosco schon nach Hause gefahren?«

»Er operiert am Freitagnachmittag nicht. Er führt dann seine Studenten durch das Krankenhaus und zeigt ihnen seine Patienten. Dann hole ich ihn um fünf Uhr ab. Am Freitagabend hat er gern ein oder zwei Gäste bei sich zum Essen. Mrs. Bosco sagt, sie weiß nie, was er mitbringen wird.« Das »was« erinnerte an Hunde und obdachlose Katzen.

»Mr. Spence, ich wurde zum Essen nicht eingeladen, sondern hinbefohlen. Dr. Bosco erteilt gerne Befehle, nicht wahr?«

»Ja, man gewöhnt sich daran. Der Doktor ist sehr launenhaft. Ich fahre ihn früh um acht Uhr dreißig ins Krankenhaus und um fünf Uhr dreißig hole ich ihn wieder ab. An manchen Tagen spricht er während der ganzen Fahrt kein Wort. Dann kann er plötzlich über Gott und die Welt und die Dummheit der Leute schimpfen. So ist er aus dem Krieg zurückgekommen. Er sieht es gern, wenn seine Gäste um zehn Uhr gehen, weil er noch Tagebuch führen muß.«

»Mr. Spence, mein Zug fährt um zehn Uhr dreißig vom Südbahnhof ab. Wie komme ich dorthin?«

»Dr. Bosco hat mir gesagt, ich soll Sie nach Newport fahren oder wohin Sie wollen.«

»Nach Newport! Ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich nach dem Essen zum Südbahnhof bringen.«

Beim Betreten des Hauses wurde ich von einer üppigen Mrs. Bosco begrüßt — freundlich, aber unpersönlich.

»Dr. Bosco bittet Sie in sein Studio. Er wird Ihnen einen von seinen berühmten Old-Fashioned mixen. Er selbst trinkt nicht, aber er macht mit Vergnügen Cocktails für andere. Hoffentlich sind Sie nicht allzu hungrig, weil mein Mann nicht gern vor dreiviertel acht ißt.«

Am Nachmittag hatte Dr. Bosco in seinem weißen Kittel einem schlanken römischen Senator geglichen; jetzt wirkte er in seinem dunklen Anzug feingliedriger und sein Gesicht asketischer — ich dachte an den Generalvikar eines religiösen Ordens. Er gab mir schweigend die Hand und widmete sich dann wieder seiner Beschäftigung: dem Mixen eines Old-Fashioned. Ich sah im Geiste Schmelztiegel, Mörser, Stößel und Phiolen — Paracelsus in der Alchimistenküche. Er war völlig absorbiert und hatte weder gefragt, ob ich einen Old-Fashioned wollte noch zum Hinsetzen aufgefordert.

»Versuchen Sie das mal«, sagte er endlich. In der Tat, ein kräftiger und seltsamer Cocktail. Dr. Bosco drehte sich um und nahm Platz, mit einem festen Plan im Kopf, als wäre Konversation ebenfalls eine strenge Disziplin.

»Mr. North, warum haben Sie sich als ein Freund von Dr. de Martel bei mir eingeführt?«

»Es lag mir außerordentlich viel daran, ein paar Minuten mit Ihnen zu sprechen. Sie sollten über eine der Ursachen für Miß Skeels Migräne in Kenntnis gesetzt werden, eine Ursache, die keinem in ihrer Familie bekannt war. Ich dachte, ein großer Arzt wird jeden Aspekt eines Krankheitsfalles berücksichtigen. Inzwischen habe ich erfahren, daß Sie selbst bereits Miß Skeel einen längeren Erholungsurlaub ohne ihre Familie empfohlen haben. Mein Besuch bei Ihnen war somit überflüssig.«

»Keineswegs. Er hat mich auf die Rolle des Vaters im Zusammenhang mit ihren Depressionen aufmerksam gemacht.« Er fuhr sich mit der Hand müde über die Augen. »Auf meinem speziellen Arbeitsgebiet neigen wir leider oft dazu, das emotionelle Moment außer acht zu lassen. Wir sind stolze Wissenschaftler und müssen doch vor Gefühlen kapitulieren. Anscheinend beschäftigen Sie sich gerne mit diesem Problem.«

Ich schien ihn zu überhören, doch dem von Dr. Bosco geplanten Verlauf des Gespräches konnte niemand entgehen.

»Heilen Sie Kranke?«

»Nein, nein, Dr. Bosco. Ich habe auch niemals behauptet, eine solche Gabe zu besitzen. Einige Kinder haben den Unsinn von meinen ›elektrischen Händen‹ verbreitet. Ich hasse ihn und will nichts damit zu tun haben.«

Er sah mich einen Augenblick forschend an. »Sie sollen Dr. Bosworth so weit gebracht haben, daß er zum ersten Mal nach zehn Jahren wieder sein Haus verlassen konnte.«

»Reden wir bitte von etwas anderem, Dr. Bosco. Ich habe ihm nur geraten, was der gesunde Menschenverstand mir eingab.«

Er wiederholte gedankenvoll: »Gesunder Menschenverstand! Gesunder Menschenverstand! Und dann diese Geschichte mit Ada soundso, die sich am Kopf verletzte?«

»Herr Doktor, ich bin ein Schwindler, ein Scharlatan. Aber wenn jemand vor Ihren Augen leidet, was tun Sie dann? Sie tun, was Sie können.«

»Und was können Sie? Haben Sie das Kind hypnotisiert?«

»Ich habe noch nie eine Hypnose mitgemacht. Ich weiß überhaupt nicht, was das ist. Ich habe beruhigend auf Ada eingesprochen und die betreffende Stelle an ihrem Kopf gestreichelt. Dann habe ich sie zum Direktor des Casinos gebracht, der sich in Unfällen auskennt. Es war keine richtige Gehirnerschütterung, und zwei Tage später war sie schon wieder in der Schule.«

»Wenn ich jetzt meine Frau bitte, sich zu uns zu setzen, würden Sie uns dann Ihre Heilung von Dr. Bosworth schildern? Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Essen.«

»Es gibt einige ziemlich vulgäre Details …«

»Meine Frau ist solche Details gewöhnt.«

»Ich bin Ihr Gast«, sagte ich entmutigt. »Ich werde versuchen, Ihren Wunsch zu erfüllen.«

Er goß mir nach und verließ das Zimmer. Ich hörte ihn »Lucinda! Lucinda!« rufen. (Wieder keine Einladung, sondern ein Befehl.) Mrs. Bosco schlüpfte ins Zimmer und setzte sich neben die Tür. Der Doktor nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.

»All right«, sagte ich zu mir, »jetzt geb’ ich’s ihm.« Ich berichtete von der »Totenwache«; von meinem ersten Gespräch mit Mrs. Bosworth; von unserer Lektüre der Werke Bischof Berkeleys; von dem »Haus der unsichtbaren Lauscher«, von den Überzeugungskünsten seiner Familie, er sei ein gezeichneter und irrer Mann; von meinem Abstecher nach Providence als Lastwagenchauffeur; schließlich von dem Anschlag auf mein Leben.

Gegen Ende der Geschichte hatte Dr. Bosco sein Gesicht in den Händen vergraben, aber nicht aus Langeweile. Er seufzte: »Mir sagt man ja nichts … Ich bin der Spezialist, der erst gegen Ende des Spiels hinzugezogen wird.«

Ein Mädchen erschien an der Tür. Mrs. Bosco sagte: »Das Essen ist angerichtet.«

Und das Essen war köstlich, der Doktor schwieg. Mrs. Bosco fragte mich: »Mr. North, haben Sie nicht Lust, uns von Ihrem Leben und Ihren Interessen zu erzählen?«

Ich ersparte ihnen nichts — Wisconsin, China, Kalifornien, dann Oberlin College in Yale, die Amerikanische Akademie in Rom, die Schule in New Jersey, zuletzt Newport. Ich erwähnte einige von meinen Interessen und Ambitionen (ohne den Schamanen!).

»Lucinda, ich werde Mr. North noch zu einem Kaffee in mein Studio bitten.«

Es war dreiviertel zehn.

»Mr. North, ich möchte, daß Sie Ende des Sommers als mein Assistent nach Boston kommen. Sie werden mich auf meinen Visiten begleiten. Alle Patienten sollen wissen, daß Sie mein volles Vertrauen haben. Sie besuchen die Kranken regelmäßig und erstatten mir dann Bericht über die Lebensgeschichte sowie die besonderen Schwierigkeiten eines jeden. Reden Sie die Kranken mit ihren Vornamen an. Ich weiß selten den Vornamen eines Patienten oder einer Patientin. Wie heißen Sie eigentlich?«

»Theophilus.«

»Ach ja, ich erinnere mich. Das ist ein schöner Name. Er ruft Assoziationen an Dinge wach, die mir einmal etwas bedeuteten. Wäre es doch heute noch so! Fahren Sie heute abend nach Newport zurück?«

»Ja, Herr Doktor.«

»Spence soll Sie zurückbringen (wieder ein Befehl). Geben Sie ihm nach der Fahrt diesen Fünf-Dollar-Schein. Sie haben dann ein besseres Gefühl. Entscheiden Sie sich jetzt noch nicht, sondern überlegen Sie sich mein Angebot und sagen mir heute in einer Woche Bescheid. Danke, daß Sie gekommen sind.«

Ich sagte Mrs. Bosco in der Halle adieu. »Danke, daß Sie gekommen sind und Ihre beruhigenden Hände mitgebracht haben. Mein Mann ist nicht immer so geduldig mit seinen Gästen wie mit Ihnen.«

Ich schlief während der ganzen Fahrt nach Hause. Vor Mrs. Keefes Haus gab ich Fred Spence das Trinkgeld und kletterte meine Treppe hinauf. Drei Tage später schrieb ich Dr. Bosco mit dem Ausdruck meines aufrichtigsten Bedauerns, daß ich sein Angebot leider nicht annehmen könne, da ich im Herbst nach Europa reise. Ich dachte, dieser ganze Schamanenklimbim finde damit sein Ende, aber zehn Tage später steckte ich in einer hoffnungslos verpfuschten Situation.

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Ich genoß meine Wohnung, war aber selten zu Hause. Meine Stunden wurden immer schwieriger, und ich verbrachte viele Abende in der Volksbibliothek, um mich gut vorzubereiten. Um Mitternacht las ich den Zettel, den mir meine gute Wirtin unter die Tür geschoben hatte: »Drei Damen und ein Herr wollten Sie sprechen. Sie haben bis um zehn Uhr in meinem Wohnzimmer auf Sie gewartet, aber um zehn Uhr mußte ich sie bitten, nach Hause zu gehen. Sie wollten ihre Namen und Adressen nicht da lassen. Mrs. Doris Keefe.«

Kurz danach, an einem Donnerstagabend machte ich es mir endlich einmal gemütlich, als der Verwalter des CVJM, Joe (der »heilige Joseph«), mich anrief. »Ted, was ist los? Zwanzig Leute — meistens alte Frauen — warten auf Sie im Besuchszimmer. Ich habe ihnen gesagt, daß Sie nicht mehr hier wohnen, aber ich konnte ihnen Ihre neue Adresse nicht geben, weil ich sie nicht kenne … Und noch mehr Leute kommen jetzt zur Tür herein. Was treiben Sie? Haben Sie ein Stellenbüro eröffnet? Bitte kommen Sie sofort her und schicken Sie die Leute weg. Sagen Sie ihnen, daß sie nie wiederkommen sollen. Jeden Abend hat man nach Ihnen gefragt, aber so schlimm wie heute war’s noch nie. Dies ist ein Verein für junge christliche Männer und kein Altersheim für Damen. Kommen Sie rüber und jagen Sie die Kuhherde fort.«

Ich eilte zu ihm. Die Menge hatte in dem überfüllten Besuchszimmer schon nicht mehr Platz. Ich erblickte bekannte Gesichter — aus den »Neun Giebeln«, dem »Hirschpark« und sogar aus Mrs. Cranstons Pension. Ich schüttelte viele Hände.

»Mr. North, heilen Sie mich von meinem Rheumatismus.«

»Mr. North, mein Rücken tut mir so weh, ich kann nachts nicht mehr schlafen, jedenfalls läßt sich das nicht mehr schlafen nennen.«

»Mr. North, sehen Sie sich meine Hand an. Ich brauche jeden Morgen eine Stunde, bis ich sie aufmachen kann.«

»Meine Damen und Herren, ich bin kein Arzt. Ich habe keine Ahnung von Medizin. Ich muß Sie bitten, einen richtigen Arzt zu konsultieren.«

Die Klagen nahmen zu.

»Die nehmen ja nur unser Geld, ohne etwas für uns zu tun.«

»Mr North, legen Sie Ihre Hand auf mein Knie. Gott wird es Ihnen lohnen.«

»Mein Fuß! Jeder Schritt ist eine Qual!«

Ich hatte einen Teil meiner Jugend in China verlebt, und das Unglück dieser Welt war mir nicht fremd. Was sollte ich tun? Zunächst mußte ich die Leute irgendwie hinausbefördern. Ich legte meine Hand auf diese oder jene Stelle, auf Fußgelenke oder ein Rückgrat. Meine besondere Aufmerksamkeit galt der Nackengegend. Ich tat meinen Patienten mit Absicht weh, sie schrien auf, aber sie wußten, daß es »das Richtige« war. Während ich alle sanft zur Tür hinausschob, drückte ich meine Handballen auf einige Stirnen und murmelte die Anfangszeilen der »Äneis« vor mich hin. Dann sagte ich: »Ich kann nichts mehr für Sie tun. Bitte kommen Sie nicht wieder. Sie müssen Ihren Hausarzt aufsuchen. Gute Nacht, Gott segne Sie alle.«

Ich kehrte zu meiner Wohnung zurück und schickte auch dort ein Häuflein Leute fort.

Ich fürchtete mich nicht ohne Grund vor dem nächsten Abend, einem Sonntag. Auf dem Weg zum CVJM konnte ich schon von weitem sehen, daß alle wiedergekommen waren und sogar neue Kranke mitgebracht hatten; eine Schlange wand sich von dem Empfang hinaus auf den Bürgersteig. Ich rief die Leute zu mir und hielt mitten auf der Straße eine Versammlung ab. »Meine Damen und Herren, ich kann leider nichts mehr für Sie tun. Ich bin genauso krank wie Sie. Jeder Knochen in meinem Körper tut mir weh. Geben wir uns die Hand und sagen einander gute Nacht.« Ich rannte zurück zu Mrs. Keefe, wo mich auch eine Menschenmenge erwartete. Ich entließ sie mit denselben Worten. Mrs. Keefe beobachtete uns von einem Fenster aus. Als die Leute gegangen waren, schloß sie mir die Haustür auf. »Mr. North, ich halte das nicht mehr aus. Wenn ich die Tür verriegle, gehen alle um das Haus herum und klopfen an die Fensterläden, wie Bettler in einem Schneesturm. Hier ist ein Brief für Sie, der persönlich abgegeben wurde.«

»Lieber Mr. North, Sie bereiten mir ein großes Vergnügen, wenn Sie mich heute abend um zehn Uhr dreißig besuchen. Ihre alte Freundin Amelia Cranston.«

Um zehn Uhr dreißig eilte ich in die Spring Street. Die Zimmer leerten sich bereits. Endlich waren nur noch Mrs. Cranston, Mr. Griffin und Mrs. Grant, ihre Wirtschafterin, da. Ich setzte mich zu Mrs. Cranston, die ungewöhnlich munter, aufgeräumt und in bester Verfassung zu sein schien.

»Vielen Dank, daß Sie gekommen sind, Mr. North.«

»Verzeihen Sie, daß ich mich so lange nicht bei Ihnen blicken ließ. Ich hatte entsetzlich viel Arbeit.«

»Das habe ich gehört. Um zwei Uhr morgens die Avenue hinauf- und hinunterradeln und die wilden Tiere füttern — das meinen Sie doch, oder?« Mrs. Cranston erbrachte mit Genuß den Beweis, daß sie auf dem laufenden war. »Mrs. Grant, Jimmy soll uns die Erfrischungen bringen, die ich im Eisschrank kalt gestellt habe.« Man brachte uns Gin Fizz, der, wie ich wußte, nur bei seltenen Gelegenheiten serviert wurde. Sie sagte leise zu mir: »Sie haben Sorgen, Mr. North?«

»Ja, gnädige Frau, ich danke Ihnen für Ihren Brief.«

»Sie sind sehr berühmt geworden in gewissen Kreisen. Meine Gäste haben am Donnerstag und auch heute von nichts anderem gesprochen. Auf diese oder jene Weise haben Sie Dr. Bosworth zu neuem Leben erweckt: er springt umher wie ein Fünfzigjähriger. Auf diese oder jene Weise haben Sie Miß Skeel von ihren Kopfschmerzen befreit. Hausangestellte beobachten ihre Herrschaften sehr genau. Mr. North, wie viele Patienten haben heute abend auf Sie gewartet?«

»Mehr als fünfundzwanzig bei meiner alten Adresse und etwa ein Dutzend bei der neuen.«

»Nächste Woche wird die Menschenschlange um den ganzen Häuserblock herumstehen.«

»Helfen Sie mir, Mrs. Cranston. Ich liebe Newport. Ich möchte nicht vor Ende des Sommers fortgehen. Ich habe keine elektrischen Hände. Ich bin ein Schwindler und Betrüger. In der ersten Nacht konnte ich die Leute mit Gewalt aus dem Haus treiben. Sie hätten ihre Augen sehen sollen: lieber ein Schwindler und Betrüger … als ein Rohling. Habe ich ihnen denn irgend etwas getan?«

»Legen Sie Ihre Hände auf den Tisch. Die Handflächen nach oben.«

Sie strich leicht mit fünf Fingerspitzen darüber, nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Glase und sagte: »Ich habe es schon immer gewußt — Sie haben doch irgend etwas.«

Ich versteckte meine Hände so schnell wie möglich unter dem Tisch. Sie sprach wieder mit demselben ruhigen, gleichmäßigen Lächeln. »Mr. North, selbst die glücklichsten und gesündesten Frauen — und es gibt davon sehr wenige — haben irgendwo, in einem Winkel ihres Bewußtseins, eine ständige Angst vor dem Krankwerden. Auch wenn sie nicht daran denken, denken sie daran. Auf die meisten Männer trifft das nicht zu, die glauben, sie leben ewig. Glauben Sie das auch, Mr. North?«

»Nein, gnädige Frau«, sagte ich lächelnd. »Ich würde mit Walter Savage Landor sagen: ›Ich wärmte meine Hände am Feuer des Lebens; es fällt zusammen, und ich bin bereit zu gehen.‹ Aber ich würde ganz gern Edweena kennenlernen, bevor ich sterben muß.«

Sie sah mich überrascht an. »Es ist komisch, daß Sie das sagen. Edweena ist von ihrer Reise zurückgekehrt. Sie hat noch eine Woche in New York verbracht, um ihre Herbstverpflichtungen auszumachen. Henry Simmons holt sie in New York ab. Ich erwarte beide heute abend zurück. Edweena weiß alles über Sie.«

»Über mich?«

»Ja. Vor einer Woche habe ich ihr ausführlich über Ihr Problem geschrieben. Sie hat mir sofort geantwortet. Sie hat sich überlegt, wie man Ihnen helfen kann. Henry Simmons und ich haben hier mitgemischt, und dies ist nun das Resultat.« Sie nahm einen Briefumschlag vom Tisch und wedelte ihn mir vor der Nase herum wie einen Knochen vor einem Hund.

»Mrs. Cranston?«

»Sprechen wir erst noch über Ihre augenblickliche Situation in Newport. Frauen können Ärzten nie voll vertrauen. Frauen sind religiös und abergläubisch zugleich und verlangen ein Wunder. Sie sind der neue Wunderdoktor. Es gibt viele Masseure und Quacksalber und Gesundbeter in dieser Stadt. Sie besitzen eine Lizenz und verlangen auch ein Honorar. Ihr Ruhm beruht auf dem Umstand, daß Sie kein Geld nehmen. Das flößt Vertrauen ein, das kein Arzt genießt. Wenn man einen Arzt bezahlt, so erkauft man sich damit das Recht zu Kritik wie bei jedem Krämer. Aber Wunder kann man nicht kaufen, und darum sind Sie für die Leute ein Wunderdoktor. Nichts deutet darauf hin, daß Dr. Bosworth oder die Skeels Ihnen ein Automobil oder eine goldene Uhr schenkten — für all das, was Sie für diese reichen Leute getan haben! Sie radeln noch immer auf Ihrem Fahrrad herum!«

Mir gefiel dieses Gespräch nicht. Meine Augen hafteten an dem Briefumschlag. Die Zunge hing mir zum Halse heraus beim Anblick dieses Knochens. Ich dachte, Mrs. Cranston wolle mich ein bißchen an der Nase herumführen oder auch bestrafen, weil ich sie nicht schon früher um Hilfe gebeten hatte oder so lange weggeblieben war.

Ich ließ mich vor ihr auf ein Knie nieder. »Verzeihen Sie, Mrs. Cranston, daß ich so lange nichts von mir hören ließ. Ich verdanke Ihnen so viel.«

Sie lachte und legte einen Augenblick ihre Hand auf die meine. Gutartige Frauen verzeihen gerne, wenn man sie darum bittet. »In diesem Umschlag befindet sich ein Dokument. Es ist nicht amtlich, aber es sieht amtlich aus mit Stempel und etwas Siegellack. Der Text steht auf dem Briefpapier einer Gesundheitsbehörde, die längst von einer anderen aufgeschluckt wurde.« Sie nahm den Bogen aus dem Umschlag und legte ihn vor mich hin:

»Bestätigung: Mr. T. Theophilus North, wohnhaft in Newport, Rhode Island, ist nicht ermächtigt, irgendeine ärztliche Tätigkeit auszuüben, es sei denn, daß der Patient ihm die schriftliche Genehmigung eines in dieser Stadt amtlich zugelassenen Arztes vorweisen kann. Gesundheitsamt. Die Direktion. Newport, den — August 1926.«

»Mrs. Cranston.«

»Warten Sie, in dem Umschlag steckt noch ein zweites Dokument.«

»Mr. T. Theophilus North, wohnhaft in Newport, Rhode Island, wird hiermit die Genehmigung erteilt, Fräulein Liselotte Müller, wohnhaft Spring Street, Newport, eine ärztliche Visite von nicht mehr als dreißig Minuten Dauer abzustatten, um ihr den Rat und Beistand, den er für angemessen hält, angedeihen zu lassen.«

Dieses Dokument war von einem angesehenen Arzt in Newport unterzeichnet und trug das Datum des vorangegangenen Tages.

Ich starrte Mrs. Cranston an.

»Fräulein Müller lebt hier bei Ihnen?«

»Könnten Sie nicht gleich zu ihr gehen? Dieses Haus besteht ja aus drei Häusern. Im dritten und vierten Stock auf dieser Seite befindet sich eine Pflegestation für sehr alte Frauen. Sie haben ihr ganzes Leben als Hausangestellte zugebracht und viele von ihnen sind von ihren Herrschaften reichlich dafür entschädigt worden. Die meisten sind nicht einmal mehr imstande, die Treppe zu benutzen, aber sie haben eine Terrasse, wo sie sich bei gutem Wetter sonnen können, und mehrere Aufenthaltsräume. Sie werden Dinge sehen und Gerüche riechen, die Ihnen nicht angenehm sein werden, aber durch Ihre Erfahrungen in China sind Sie darauf vorbereitet.« Hier lachte sie wieder ihr kurzes, schnarchendes Lachen. »Sie wissen, das Leben kann oft sehr schwer sein, besonders im Alter. Sie sind kein grüner Junge mehr, Mr. North. Wenige Männer betreten die Pflegestation — nur gelegentlich ein Arzt, ein Priester oder ein Verwandter. Laut Vorschrift des Hauses bleibt während eines solchen Besuches die Tür zum Krankenzimmer offen. Ich werde Sie jetzt mit meiner Wirtschafterin und Freundin Mrs. Grant nach oben schicken.«

»Könnten Sie mir etwas über Fräulein Müller erzählen?«

»Tante Liselotte wurde in Deutschland geboren als das elfte Kind eines Pastors. Mit siebzehn kam sie durch ein Stellenvermittlungsbüro nach Amerika und war drei Generationen lang Kindermädchen in einer der angesehensten Familien in Newport und New York. Sie hat alle diese Kinder gebadet und angezogen und den ganzen Tag beaufsichtigt, sie hat die kleinen Popos gewaschen und gepudert und abgewischt. Ich wählte Tante Liselotte für Ihren Besuch, weil sie gut zu mir war und mir als einem einsamen und ängstlichen Mädchen geholfen hat. Sie hat sämtliche Mitglieder ihrer deutschen Familie überlebt, die sich ihrer noch angenommen hätten. Als Kinderfräulein ist sie sehr geliebt worden, aber da sie eine strenge, etwas starrsinnige Frau ist, hat sie sich außer mir nur wenige Freunde gemacht. Sie ist bei klarem Verstand, kann sehen und hören, leidet aber unter schweren rheumatischen Schmerzen. Sie müssen in der Tat kaum zu ertragen sein, denn Liselotte gehört nicht zu den wehleidigen Frauen.«

»Und wenn ich versage, Mrs. Cranston?«

Sie ignorierte meine Frage und fuhr fort: »Ihr Ruhm ist bestimmt Ihnen voraus nach oben gedrungen. Die Gäste in diesem Haus haben viele Freundinnen in der Pflegestation, und die Nachricht von Wundern verbreitet sich schnell … Mrs. Grant, darf ich Sie mit Mr. North bekannt machen?«

»Sehr angenehm, Mr. North.«

»Heute abend werden wir uns wohl Deutsch unterhalten, Mrs. Grant. Verstehen Sie Deutsch?«

»Nein, kein Wort.«

»Mrs. Cranston, manchmal fühle ich mich nach solchen Sitzungen sehr schwach. Sollte Henry Simmons zurückkommen, bevor ich wieder hier unten bin, würden Sie ihm ausrichten, er möchte auf mich warten und mich nach Hause bringen?«

»Ich glaube, Edweena und Henry Simmons werden in der Zwischenzeit eintreffen. Übrigens findet Ihr Besuch bei Tante Liselotte auf ausdrücklichen Wunsch von Edweena statt.«

Ich war verblüfft. Wieder sollte ich erfahren: glücklich der Mann, dem, wie es im Volksmund heißt, von einer »weisen Frau« geholfen wird.

___________

Ich folgte Mrs. Grant die Treppe hinauf. Die Frauen auf den Treppenabsätzen und auf den Gängen senkten bei meinem Kommen die Augen und drängten sich eng an die Wand. Im dritten und vierten Stock trugen sie alle dieselben grau-weiß gestreiften Morgenröcke. Mrs. Grant klopfte an eine halboffene Tür und sagte: »Tante Liselotte, Mr. North möchte Sie besuchen.« Dann setzte sie sich in eine Ecke, faltete die Hände und senkte die Augen.

»Guten Abend, Fräulein Müller.«

»Guten Abend, Herr Doktor.«

Tante Liselotte war offenbar nur noch ein Skelett, aber ihre großen braunen Augen leuchteten. Sie konnte kaum den Kopf mit dem gestrickten Häubchen bewegen. Um ihre Schultern hatte sie einen wollenen Schal gelegt. Bettwäsche und Zimmer waren makellos sauber. Ich fuhr auf Deutsch fort: »Ich bin weder ein Arzt noch ein Pastor, nur ein Freund von Mrs. Cranston und Edweena.« Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Ich löschte alle meine Gedanken aus. »Darf ich fragen, wo Sie geboren sind, Tante Liselotte?«

»In der Nähe von Stuttgart.«

»Ah!« sagte ich freudig überrascht, »aus Schwaben!« Ich wußte nichts von jener Gegend, außer daß Schiller dort geboren war. »Ich werde mir gleich Ihre Photographien an den Wänden ansehen. Erlauben Sie, daß ich erst meine Hände auf Ihre Hand lege?« Ich nahm ihre unendlich feine Rechte zwischen meine Hände und legte alle drei auf die Steppdecke. Ich versuchte meine ganze Energie darauf zu konzentrieren.

»Ich spreche sehr schlecht Deutsch, doch es ist eine wunderbare Sprache. Sind nicht ›Leiden‹ und ›Liebe‹ und ›Sehnsucht‹ schönere Wörter als ›suffering‹ und ›love‹ und ›longing‹?« Ich wiederholte langsam die deutschen Wörter. Ich fühlte, wie ihre Hand zitterte. »Und Ihr Name, Liselotte, aus Elisabeth-Charlotte zusammengezogen, oder die Diminutive: Mütterchen, Kindlein, Engelein.« Einer Eingebung folgend schob ich unsere drei Hände fast unmerklich zu ihrem Knie. Ihre Augen waren weit offen auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Sie atmete tief. Ihr Kinn zuckte. »Ich denk an die deutschen Kirchenlieder, die Bachs Musik mir nahebrachte: ›Ach, Gott, wie manches Herzeleid‹ und ›Halt im Gedächtnis Jesum Christ‹, ›Gleich wie der Regen und Schnee vom Himmel fällt …‹ Man kann wohl die Worte übersetzen, aber nicht, was wir in der geliebten Sprache mithören.« Andere Choräle fielen mir ein, die ich jetzt zitierte. Ich zitterte, von Bachs Musik bewegt mit ihren mächtigen aufeinanderfolgenden Wogen. Ich merkte, wie viele Leute auf Zehenspitzen durch den Korridor gingen, hörte aber zunächst noch kein Geflüster. Draußen vor der Tür hatte sich eine Gruppe gebildet. Wahrscheinlich war mit Rücksicht auf meinen Besuch die Beleuchtung nicht abgeschaltet worden. Ich zog behutsam meine Hände zurück, stand auf und begann meinen Rundgang durch das Zimmer, ein Bild nach dem anderen betrachtend. Ich blieb vor zwei Scherenschnitten stehen, wahrscheinlich an die hundert Jahre alt: ihre Eltern. Ich warf ihr einen Blick zu und nickte. Ihre Augen folgten mir durch das Zimmer. Eine verblichene blaue Momentaufnahme: Tante Liselotte saß zwischen zwei Kinderwagen im Central Park. Auf jeder Photographie — erst als glückliches junges Mädchen mit einem offenen, derben Gesicht und dann als Frau in mittleren Jahren mit einem leichten Ansatz zur Fülle — trug sie eine diakonissenartige Tracht mit einer Haube, die mit einem breiten Musselinband unter dem Kinn gebunden wurde. Ihre Füße steckten in Gesundheitsschuhen von beträchtlichem Umfang, die zweifellos ihr ganzes Leben hindurch diskretes Gelächter hervorgerufen hatten.

Tante Liselotte in einem Strandkorb, Kinder zu ihren Füßen, darunter in verblichener Tinte: »Ostende 1880.«

Eine große Gesellschaft an Bord einer Yacht, in der Mitte der deutsche Kaiser und die Kaiserin, am Rand des Bildes Tante Liselotte mit einem Baby auf dem Arm und den anderen Schützlingen neben sich. Wie in einem Selbstgespräch murmelte ich: »Ihre Kaiserliche Hoheit haben gnädigst darum ersucht, daß ich Fräulein Liselotte Müller vorstelle, ein höchst wertvolles Mitglied unseres Haushaltes: Kiel 1890.«

Tante Liselotte auf dem Klippenweg in Newport, immer mit Kindern.

Ein Hochzeitsbild, Braut und Bräutigam und Liselotte: »Unserem lieben Kinderfräulein, von Bertie und Marianne — Juni 1909.« Ich sagte laut auf Englisch vor mich hin: »Sie müssen auch bei der Hochzeit meines Vaters dabeigewesen sein, nicht wahr, Tante Liselotte?«

Photographien aus der Kinderstube. »Fräulein, dürfen wir heute Muscheln suchen?« — »Fräulein, es tut mir leid, daß ich heute morgen mit den Überschuhen so unartig war.« — »Fräulein, wenn wir jetzt zu Bett gehen, lesen Sie uns dann die Geschichte von dem fliegenden Teppich vor?«

Ich bewegte mich ganz langsam. Bei jeder Improvisation kehrten meine Augen zu den ihren zurück. Ich ging wieder zu meinem Stuhl und legte unsere drei Hände auf ihr Knie. Sie schloß die Augen, öffnete sie aber plötzlich wieder vor Schrecken oder Verwunderung.

Die Menge auf dem Korridor drängte sich jetzt bis unter die Tür. Ich glaubte, Seufzen zu hören und Stöhnen und ein Piepsen wie von Fledermäusen. Eine alte Frau auf Krücken verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber zu Boden. Ich beachtete sie nicht. Mrs. Grant trat hinzu, hob die Alte vom Boden auf und führte sie mit Hilfe der anderen aus dem Zimmer. Während des Zwischenfalls hatte eine Frau, allerdings keine Patientin, den Raum betreten und sich auf Mrs. Grants Stuhl gesetzt. Tante Liselotte zog ihre Hand fort und winkte mich näher zu sich. Sie sagte: »Ich möchte sterben … Warum läßt Gott mich nicht sterben?«

»Tante Liselotte, Sie kennen den Choral mit der Musik von Bach: ›Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit.‹«

Sie wiederholte die Worte. »Ja … Ja … Ich bin müde. Danke, junger Mann.«

Ich erhob mich mit großer Anstrengung. Benommen vor Müdigkeit sah ich mich nach Mrs. Grant um. Da fielen meine Blicke auf die Frau, die ihren Platz eingenommen hatte — auf eines der neun mir teuersten Gesichter, obwohl ich jener Frau nur kurz begegnet war.

Sie erhob sich lächelnd.

Ich sagte: »Edweena«, und die Tränen rollten mir über das Gesicht.

»Theophilus«, sagte sie. »Gehen Sie hinunter, ich werde noch hierbleiben. Henry wartet auf Sie. Können Sie den Weg allein finden?«

Als ich mich gegen die Tür lehnte, hörte ich Edweena fragen: »Was machen die Schmerzen, Tante?«

»Sie sind fort … fort.«

Ich wollte zur Treppe gehen, aber der Korridor war versperrt. Kaum konnte ich die Augen aufhalten. Wie gern hätte ich mich auf den Boden gelegt! Ich schritt langsam dahin wie durch ein Weizenfeld. Ich mußte Hände von meinen Ärmeln lösen, vom Saum meines Jacketts, sogar von meinen Knöcheln. Zwischen dem zweiten und dritten Stock setzte ich mich auf eine Stufe, lehnte den Kopf an die Mauer und schlief ein. Ich weiß nicht, wie lange ich schlief, aber ich erwachte erfrischt und sah Edweena neben mir sitzen. Sie hatte meine Hand ergriffen.

»Fühlen Sie sich jetzt besser?«

»Ja.«

»Es ist beinahe Mitternacht. Sie werden uns suchen. Wir wollen lieber nach unten gehen. Können Sie allein gehen? Sind Sie nicht zu schwach?«

»Ja, ich habe wohl lange geschlafen. Ich fühle mich sehr ausgeruht.«

Auf dem Treppenabsatz des zweiten Stocks, wo wir unter einer Deckenbeleuchtung unsere Gesichter sehen konnten, sagte Edweena: »Können Sie eine gute Nachricht ertragen?«

»Ja, Edweena.«

»Ungefähr fünf Minuten nach Ihrem Weggang ist Tante Liselotte gestorben.«

Ich lächelte, ich wollte sagen: »Ich habe sie getötet«, aber Edweena legte mir die Hand auf den Mund. »Ich verstehe ein bißchen Deutsch«, sagte sie. »Ich bin müde. Danke, junger Mann.«

Zusammen betraten wir den vorderen Salon im Erdgeschoß. »Sie waren ziemlich lange fort«, sagte Mrs. Cranston. »Mrs. Grant hat mir von Tante Liselottes Ende erzählt. Sie haben Ihr letztes Wunder vollbracht, Dr. North.«

»Ich bringe dich nach Haus, alter Junge«, sagte Henry.

Ich verabschiedete mich von den Damen. Als ich eben zur Tür hinausging, rief mich Mrs. Cranston zurück. »Mr. North, Sie haben Ihren Briefumschlag vergessen.«

Ich holte ihn, verbeugte mich und sagte: »Ich danke Ihnen, meine Damen.«

Auf dem Nachhauseweg, aufgemuntert durch den guten alten Henry und durch das Bewußtsein, in Edweena eine neue Freundin gefunden zu haben, fiel mir meine Theorie wieder ein, die ich seit langem ernsthaft und spielerisch ausprobierte — die Theorie der Konstellationen: ein Mann sollte drei ältere Freunde haben, drei ungefähr gleichaltrige und drei jüngere. Dazu sollte er mit drei älteren Frauen, drei Frauen seines Alters und drei jüngeren Frauen befreundet sein. Diese Zweimal-Neun-Freunde nenne ich seine Konstellation.

Dementsprechend sollte eine Frau ebenfalls ihre Konstellation haben. Diese Freundschaften haben nichts mit Leidenschaft zu tun. Liebe als Passion ist etwas Wunderbares, aber sie besitzt ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Entwicklung. Diese Freundschaften haben auch nichts mit der Familie zu tun, die ebenfalls ihre eigenen Gesetze besitzt und ihre eigene Entwicklung.

Selten — vielleicht nie — sind alle achtzehn Konstellationspunkte gleichzeitig besetzt. Lücken entstehen und werden nicht aufgefüllt; viele Leute verbringen Jahre — vielleicht sogar ein ganzes Leben — mit nur einem älteren oder einem jüngeren Freund, oder mit gar keinem Freund.

Was für eine tiefe Befriedigung empfinden wir, wenn eine Lücke ausgefüllt wird. So nahm Edweena in jener Nacht ihren Platz in meiner Konstellation ein. (»Da fühlt ich mich wie einer, der den Himmel absucht / und dem ein neuer Stern in den Gesichtskreis schwimmt.«)

Während meines Aufenthalts in Newport fand ich einen beträchtlich älteren Freund, nämlich Bill Wentworth; dann zwei gleichaltrige Freunde, Henry und Bodo; zwei jüngere Freunde, Mino und Galloper; dazu zwei ältere Frauen, Mrs. Cranston und (obwohl ich ihr nur selten begegnete) Signora Matera; zwei Frauen ungefähr meines Alters, Edweena und Persis; zwei jüngere Freundinnen, Eloise und Elspeth.

Natürlich erscheinen wir auch in den Konstellationen der anderen, wodurch sich gewisse Überschneidungen ergeben. Dr. Bosworth brauchte mich gewiß als jüngeren Freund, aber ein so ichbezogener Mann wie er konnte in meiner Konstellation nicht die Rolle eines älteren Freundes übernehmen. »Rip« Vanwinkle und auch George Granberry waren nur noch Schatten ihres eigenen Ichs (Humor gibt den Ausschlag; der Humor der beiden war entweder erschöpft oder ausgelöscht). Ich hoffe, in Charles Fenwicks Konstellation als älterer Freund zu figurieren, aber der junge Mann erkämpfte sich so schwer das Älterwerden, daß er im freien Austausch der Freundschaft nicht genug geben konnte.

Meine eigenwillige Theorie sollte keiner zu wörtlich nehmen — oder zu rasch beiseite schieben.

___________

Gegen Ende des Sommers traf ich Galloper im Casino. Wir schüttelten uns wie gewohnt feierlich die Hand. »Setzen wir uns doch ein bißchen auf die Zuschauertribüne. Hast du ein paar Minuten Zeit?«

»Ja, Mr. North.«

»Was macht die Familie?«

»Es geht allen sehr gut.«

»Wann wird deine Mutter deine Schwester nach Europa bringen?«

»Übermorgen.«

»Ich wünsche ihnen eine recht glückliche Reise. Wirst du das bestellen?«

»Gern.«

Angenehmes Schweigen.

»Wie kommt es, daß du nicht mehr jeden Satz mit ›Sir‹ beendest?«

Er sah mich mit seinem mir bekannten inneren Lächeln an. »Ich habe meinem Vater erklärt, daß amerikanische Söhne ihren Vater Daddy nennen oder Papa.«

»Wirklich? War er sehr böse?«

»Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen und behauptete, er begreife die Welt nicht mehr … Ich begrüße ihn vor dem Frühstück noch mit ›Sir‹, sonst sage ich Dad.«

»Er wird sich damit aussöhnen.«

Angenehmes Schweigen.

»Hast du dir schon Gedanken über deine Zukunft gemacht?«

»Ich möchte Arzt werden … Mr. North, glauben Sie, daß ich noch bei Dr. Bosco studieren kann?«

»Warum nicht? Er ist gar nicht so alt. Und du bist ein guter Schüler, der bestimmt ein oder zwei Klassen überspringt. Du willst also Gehirnspezialist werden, ja? Das ist einer der schwersten Berufe, die es gibt, körperlich, geistig, seelisch … Man kommt müde heim nach mehreren vier- oder fünfstündigen Operationen, die über Leben und Tod entscheiden. Heirate ein ruhiges stilles Mädchen. Sieh zu, daß sie nicht äußerlich lacht, sondern innen, wie du … Viele große Gehirnchirurgen haben ein Hobby, eine Zuflucht, wenn die Last zu schwer wird — sie interessieren sich zum Beispiel für Musik oder sammeln Bücher über die Geschichte der Medizin … Viele große Chirurgen müssen eine Art Mauer zwischen sich und ihren Patienten errichten, um ihr Herz abzuschirmen. Sieh zu, daß du das änderst. Bring dein Gesicht nahe an den Patienten heran, wenn du mit ihm sprichst. Klopf ihm leicht auf die Schulter oder auf den Arm und lächle. Ihr steigt zusammen in das Tal des Todes. Verstehst du, was ich meine? Viele Knochenschlosser … Hast du etwas gegen das Wort?«

»Nein.«

»Viele Knochenschlosser ziehen sich gerne in sich selbst zurück. Um Kraft zu sparen. Sie werden despotisch oder exzentrisch — immer ein Zeichen von innerer Einsamkeit. Such dir ein paar Freunde — Männer und Frauen jeden Alters. Du wirst ihnen nicht viel von deiner Zeit geben können, aber das macht nichts. Dr. Boscos bester Freund lebt in Frankreich. Er sieht ihn nur alle drei oder vier Jahre auf einem Kongreß. Sie stehlen sich fort in ein erlesenes und teures Restaurant. Große Chirurgen sind meist auch große Gourmets. Nach einer halben Stunde entdecken sie, daß sie sogar zusammen lachen. — Aber ich muß jetzt gehen.«

Wir schüttelten einander feierlich die Hand.

»Mach’s gut, Galloper.«

»Sie auch, Mr. North.«

Bodo und Persis

Die Überschrift dieses Kapitels könnte auch heißen: »Die neun Giebel — zweiter Teil.« Dennoch schien es mir ratsam, »Bodo und Persis« hier, zwischen den letzten Kapiteln unterzubringen, entgegen der chronologischen Reihenfolge. Die Ereignisse, über die ich im Folgenden berichte, haben sich nach meiner Fahrt mit Dr. Bosworth und Persis zu Bischof Berkeleys »Whitehall« zugetragen (also nach meiner Bemerkung, Bodo sei kein »Goldfischjäger«, sondern selber ein Goldfisch) sowie vor meinem letzten Besuch in den »Neun Giebeln« (und dem vernichtenden Ultimatum von Mrs. Bosworth: »Vater, entweder verläßt dieses Ungeheuer das Haus oder ich!«).

Ich lebte noch nicht in meiner eigenen Wohnung, sondern im alten CVJM.

Am Montagabend gab ich keine Stunden. Nachdem ich in der Stadt gegessen hatte, kehrte ich gegen acht Uhr in den CVJM zurück. Der Portier händigte mir einen Brief aus, den ich in meinem Fach hatte liegen sehen. Ich öffnete ihn neben der Theke und las. »Lieber Mr. North, ich habe die Gewohnheit, nächtliche Ausfahrten zu unternehmen. Hoffentlich sind Sie morgen abend nach Ihrer Lektüre mit meinem Großvater nicht zu abgespannt und kommen mit. Sie können Ihr Fahrrad auf dem Rücksitz verstauen, und ich werde Sie später vor Ihrer Tür absetzen. Ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen, ich werde Sie beim Verlassen der ›Neun Giebel‹ treffen. Ihre Persis Tennyson.«

Ich steckte den Brief in die Tasche und wollte schon nach oben gehen, als der Portier sagte: »Mr. North, dort drüben wartet ein Herr auf Sie.«

Ich drehte mich um und sah Bodo auf mich zukommen mit einem ernsten, angespannten Ausdruck, den ich gar nicht an ihm kannte. Wir gaben uns die Hand.

»Grüß Gott, Herr Baron.«

»Lobet den Herrn in alle Ewigkeit«, sagte er ohne jedes Lächeln. »Theophilus, ich möchte mich von Ihnen verabschieden. Haben Sie Zeit für mich? Ich will mich ein bißchen betrinken.«

»Ich habe nichts vor.«

»Mein Wagen steht an der Ecke. Ich habe zwei Flaschen Schnaps mitgebracht.«

Ich folgte ihm. »Wohin fahren wir?«

»Zu Doheney, unten am Strandbad. Wir brauchen noch Eis. Der Schnaps schmeckt sehr kalt am besten.«

Wir fuhren los. Er sagte: »Ich werde nie mehr freiwillig nach Newport zurückkommen.«

»Wann fahren Sie ab?«

»Die Venables geben mir morgen abend ein kleines Abschiedsessen. Danach besteige ich meinen Wagen und fahre die Nacht durch nach Washington.«

Sein Unglück wirkte wie ein drückendes Gewicht in dem Wagen. Wir sprachen kein Wort. Doheney gehörte zu den Lokalen, in denen kein — verbotener — Alkohol ausgeschenkt wurde und die Fenstervorhänge waren nicht zugezogen. Die Gäste konnten selber Alkohol mitbringen. Die Bar, so freundlich wie ihr Besitzer, Mr. Doheney, war fast leer. Wir setzten uns an einen Tisch neben dem offenen Fenster und bestellten zwei Teetassen und einen kleinen Kübel Eis. Wir stellten die Teetassen und die beiden Flaschen Schnaps in das Eis.

Bodo sagte: »Wollen wir nicht an den Strand gehen, bis das Zeug kalt geworden ist?«

»Jawohl, Mr. Stams.«

Wir überquerten die Straße und schlenderten auf die Badeanstalt zu, die schon für die Nacht geschlossen war; unsere Füße versanken im Sand. Ich folgte getreulich wie ein Hund. Bodo stieg die Stufen hinunter und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Pfosten der Veranda. »Setzen Sie sich, Theophilus. Ich möchte ein paar Minuten laut denken.«

Ich gehorchte und wartete. Etwas Schreckliches mußte in Bodo vorgehen.

Es ist heutzutage eine weitverbreitete Ansicht, daß erwachsene Männer keine Tränen vergießen. Ich selbst weine gern; aber ich schluchze nie. Mich rühren bestimmte Bücher und auch Filme zu stillen Tränen. Im siebenten Kapitel habe ich erzählt, wie mich Elbert Hughes aufbrachte, der — allerdings noch nicht ganz erwachsen — wie ein Baby heulte. Auf der Universität hatte ich einen Freund, der relegiert werden sollte, weil er in der von mir herausgegebenen Studentenzeitung ein Plagiat veröffentlicht hatte. Sein Vater war Geistlicher. Der Skandal und die Schande hätten das Leben meines Freundes ruiniert. Vielleicht werde ich die Geschichte eines Tages aufschreiben. Das Theater, das darum gemacht wurde, war um so peinlicher, als die Absicht einer bewußten Täuschung oder Fälschung nicht vorgelegen hatte. Auf Fort Adams kannte ich einen Rekruten, den sie frisch von seiner Farm in Kentucky eingezogen hatten. Von seiner Hütte mit dem gestampften Lehmboden, von seinen Eltern und seinen acht Geschwistern hatte er sich nie weiter entfernt als bis zur nächsten Kreisstadt. (»Bevor ich eingezogen wurde, habe ich nur sonntags Schuhe getragen; mein Bruder und ich benutzten abwechselnd ein Paar für den Kirchgang.«) Schluchzen aus Heimweh. In der Amerikanischen Akademie in Rom schnitt ich einen Freund vom Seil ab, der sich im Duschraum erhängen wollte, weil er eine Geschlechtskrankheit erwischt hatte — Schluchzen aus Wut.

Es gibt viel Leiden in der Welt — ein kleiner, aber wichtiger Prozentsatz ist unnötig.

Doch Bodo war anders — lautlos, bewegungslos, tränenlos. In dem fahlen Sternenlicht konnte ich sein weißes, verkrampftes Gesicht sehen; sein Blick galt weder mir noch der Wand hinter mir. Er war nach innen gerichtet. Mein bester Freund — gut, neben Henry Simmons mein bester Freund — war in Not. Das kann einen Mann nachdenklich machen.

Endlich fing er zu sprechen an. »Ich war heute nachmittag in den ›Neun Giebeln‹, um mich zu verabschieden. Ich hatte die blödsinnige Idee, ich könnte vielleicht — wirklich nur vielleicht — Persis um ihre Hand bitten. Sie war ein wenig lebhafter als sonst — aber wir alle atmen auf, wenn einer, der uns zu Tode langweilt, sich verabschieden kommt. Ihr Großvater scheint plötzlich an mir interessiert zu sein — wollte sich mit mir über Philosophie und Philosophen unterhalten, wollte mich gar nicht gehen lassen. Ich verstehe Persis nicht … Ja, ich verstehe, daß eine Frau mich nicht mag, aber ich verstehe nicht das Fehlen jeder Reaktion — nur diese betonte Höflichkeit, diese zu nichts verpflichtenden guten Manieren … Wir haben doch so viele Stunden miteinander verbracht. Man hat uns richtig verkuppelt … Mrs. Venable und Mrs. Bosworth und ein halbes Dutzend andere. Wir mußten uns ganz einfach miteinander unterhalten. Natürlich habe ich sie zum Essen eingeladen, aber es gibt ja auf dieser Insel kein anständiges Lokal, außer diesem verdammten Muenchinger-King, und sie sagt, sie mag öffentliche Lokale nicht. Also machen wir eben auf Gesellschaften Konversation. Und jedesmal stelle ich von neuem fest — und es wirft mich beinahe um —, daß sie nicht nur eine schöne, sondern auch eine höchst ungewöhnliche Frau ist. Sie weiß alles über Musik und Kunst und sogar über Österreich. Sie spricht drei Sprachen. Sie liest viel. Sie tanzt wie Adeline Genée — und soll auch wunderschön singen. Überdies sagt mir mein Instinkt, daß sie eine große Fähigkeit besitzt zu lieben — und zu leben, zu leben! Ich liebe sie. Ich liebe sie. Aber sie läßt mich durch nichts, aber auch gar nichts merken, daß sie mich als ein lebendes, atmendes, möglicherweise liebendes menschliches Wesen zur Kenntnis nimmt. Alle diese vielen Gespräche — und kein Funke sprang über. Sie wissen, wie sehr ich Kinder liebe und wie Kinder mich lieben. Ich bringe das Gespräch auf ihren dreijährigen Sohn, und sogar da springt kein Funke über … Manchmal wünschte ich, sie zeigte mir klar und deutlich Ärger, Abneigung — wenn sie mich nur wegschickte. Ich beobachte sie bei Tisch; aber sie behandelt andere Männer genauso. Vielleicht trauert sie noch um ihren Mann, obwohl sie nicht mehr Schwarz trägt; vielleicht liebt sie einen anderen, vielleicht gar Sie. Unterbrechen Sie mich jetzt nicht! Ich werde also morgen Newport für immer verlassen, Persis aus meinem Bewußtsein und aus meinem Herzen ausradieren. Ich werde auf etwas verzichten, das mir nie angeboten wurde. Kommen Sie, wir wollen sehen, ob der Schnaps jetzt kalt ist.«

Wir kehrten an unseren Tisch zurück. Er holte eine Flasche und die Tassen aus dem Kübel und goß ein. Wir stießen mit einem kräftigen »Zum Wohle« an und tranken.

»Theophilus, ich wollte schon seit langem zwischen uns etwas klarstellen. Als ich Ihnen bei Flora Deland sagte, ich sei ein ›Mitgiftjäger‹, hielten Sie mich doch für ein abscheuliches ›Stinktier‹, um einen amerikanischen Ausdruck zu gebrauchen. Antworten Sie nicht, bevor Sie nicht meine Geschichte angehört haben. Wahrscheinlich werden Sie mir sogar noch gehörig die Leviten lesen. Dies ist meine Situation: Ich bin das Oberhaupt der Familie. Durch den Krieg ist mein Vater sehr gealtert und um sein ganzes Vermögen gebracht worden. Mein Bruder ging nach Argentinien und verkauft heute Automobile. Er hat auf seinen Adelstitel verzichtet und ist, aus Geschäftsgründen, argentinischer Bürger geworden. Er hat selbst eine Familie zu ernähren und kann nicht viel Geld für das ›Schloß‹ erübrigen, was meine Eltern auch gar nicht erwarten. Meine Mutter ist enorm tüchtig. Im Sommer und vor allem im Winter nimmt sie Pensionsgäste auf. Der Wintersport erfreut sich in jener Gegend zunehmender Beliebtheit. Aber sie muß für einen kleinen Gewinn schwer arbeiten. Das Schloß braucht dringend Reparaturen: Dach, Kanalisation und Heizung. Dazu habe ich drei engelhafte Schwestern, die ich gerne in einer standesgemäßen Ehe glücklich sehen möchte. Juristisch muß ich für das Schloß sorgen, moralisch für die Familie. — Zum Wohl, Bruder.«

»Zum Wohl, Bodo.«

»Ich will im Laufe dieses Jahres heiraten. In Washington werden mir die Mädchen haufenweise zugeschoben — attraktive, entzückende Mädchen, unverkennbar mit pecunia. Unter ihnen kommen zwei für mich in Frage, von denen ich auch die eine oder die andere unter Umständen lieben und glücklich machen könnte. Ich bin nicht mehr der Jüngste. Ich möchte Kinder haben, die ihre Großeltern noch erleben, und ich will, daß meine Eltern meine Kinder noch kennenlernen. Ich will ein Heim … Seit zwei Jahren habe ich eine Affaire mit einer verheirateten Frau, die sich scheiden lassen und mich heiraten möchte, aber ich kann sie nicht meinen Eltern vorstellen — sie ist schon zweimal verheiratet gewesen. Sie ist wohlerzogen und gebildet, und ein Jahr lang war sie reizend, aber jetzt weint sie nur noch. Außerdem habe ich die kleinen Hotels auf dem Lande satt und die idiotischen Namen, unter denen ich mich eintrage. Und noch etwas anderes: Ich bin Katholik … ich … ich … darf es mir da nicht so leicht machen, ein guter Katholik zu werden …«

Hier sah ich zum erstenmal Tränen in den Augen meines Freundes.

»Zum Wohle, Alter.«

»Zum Wohle, Bursche.«

»Im Laufe dieses Jahres heirate ich also ein Mädchen mit einem Vermögen. Ist dies die Pflichthandlung eines Sohnes oder bin ich immer noch ein Stinktier?«

»Ich bin Protestant, Bodo. Mein Vater und meine Vorfahren belehrten großartig die anderen über ihre Pflichten. Hoffentlich wird man das nie von mir sagen.«

Er warf lachend den Kopf zurück. »Gott im Himmel, wieviel Spaß macht das Reden doch — oder vielleicht lieber: das Auspacken.«

»Sind Sie betrunken oder können wir jetzt auf Persis zurückkommen? Ich habe zwar nicht das Recht, sie so zu nennen, aber ich werde es mir während unseres Gespräches erlauben.«

»Ja. O ja. Was gibt es da noch zu besprechen?«

Ich legte meine Ellbogen auf den Tisch, faltete die Hände und sah ihm in die Augen.

»Bodo, lachen Sie nicht über eine äußerst wichtige Hypothese, die ich Ihnen jetzt erzählen werde.«

Er setzte sich auf und sah mich verstört an. »Was wollen Sie mir sagen?«

»Angenommen — wirklich nur angenommen —, vor zweieinhalb Jahren hätte es in Ihrem Auswärtigen Amt einen Skandal gegeben, den man vertuschen wollte. Gewisse Geheimdokumente verschwanden, und man vermutete, daß ein Angehöriger des Auswärtigen Amtes sie dem Feind verkauft hatte. Angenommen, der Schatten eines Verdachts wäre auf Sie gefallen, nur ein Schatten. Natürlich fand eine sehr gründliche Untersuchung statt, und Sie wurden vollständig rehabilitiert. Leiter der verschiedenen Regierungsstellen bemühten sich, Ihnen die wichtigsten Funktionen zu übertragen. Der Außenminister selber ließ Sie bei ein oder zwei hochpolitischen Beratungen neben sich sitzen. Sie wurden also in aller Form für unschuldig erklärt. Es gab keine Gerichtsverhandlung, weil es keine Anklage gab — aber es wurde geredet. Ein Diplomat im Ruhestand sagte mir einmal, daß in bezug auf Klatsch und üble Nachrede Dublin und Wien die schlimmsten Städte waren, die er erlebt hatte. Alles Nachteilige — ob wahr oder erfunden — hält sich jahrzehntelang am Leben. Sie wären, was man im Englischen ›a man under a cloud‹ nennt, ein Mann unter dem Schatten eines Verdachts.«

»Warum sagen Sie mir all das?«

»Was würden Sie tun?«

»Es ignorieren.«

»Sind Sie sicher? Sie haben ein ausgeprägtes Ehrgefühl. Ihre Frau und Ihre Kinder würden erfahren, daß ein leiser schlechter Geruch an der Familie hängt. Sie wissen, was die Leute alles reden: ›Irgendwas muß doch dran sein‹, oder ›Die Stams haben so gute Beziehungen, daß sie alles vertuschen können‹.«

»Theophilus, worauf wollen Sie hinaus?«

»Vielleicht ist Persis eine ›Frau unter einer Wolke‹. Sie wissen es, ich weiß es, Gott weiß es, daß sie nichts Unehrenhaftes tun könnte. Denken Sie an Shakespeare: ›Wärst du auch … weiß wie der Schnee, du würdest der Verleumdung nicht entgehen.‹«

Bodo erhob sich und sah mich mit einem Blick an, in dem sich Wut und Verzweiflung mischten. Er ging im Lokal auf und ab, machte die Tür zur Straße auf, als wollte er seine Lungen mit frischer Luft aufpumpen, dann kam er zurück und warf sich in den Stuhl. Er schaute mich jetzt mit den Augen eines gefangenen Tieres an.

»Ich möchte Sie nicht quälen, Bodo. Ich möchte nur darüber nachdenken, wie Sie und ich dieser großartigen, unglücklichen Frau helfen können, die eingesperrt ist in den ›Neun Giebeln‹, diesem bösen, lieblosen Haus … Verhält sie sich nicht genau so wie eine feinfühlige Frau zu einem von ihr respektierten — vielleicht sogar geliebten — Mann, der um sie wirbt? Sie würde es ihm nicht antun wollen, auch nur den Schatten eines Verdachts in seine Familie zu tragen. Denken Sie an Ihre Mutter.«

Er sah mich eindringlich an.

Brutal fuhr ich fort: »Sie wissen, daß ihr Mann sich das Leben genommen hat?«

»Ich weiß nur, daß er ein besessener Spieler war. Er hat sich wegen irgendwelcher Schulden erschossen.«

»Wir müssen mehr erfahren. Aber den scheußlichen Klatsch von Newport kennen wir jetzt schon. ›Irgendwas muß doch dran sein‹; ›Die Bosworths haben genug Geld, um alles zu vertuschen!‹«

»Theophilus, was sollen wir unternehmen?«

Ich zog den Brief aus der Tasche und legte ihn vor ihm hin.

»Ich weiß, was sie mir sagen will. Sie will mich warnen vor den Anschlägen einiger Bosworths. Aber ich bin im Bilde. Vielleicht möchte sie mir aber auch die Geschichte vom Tod ihres Mannes erzählen — wie es sich wirklich zugetragen hat —, damit ich es weitererzähle. Fasse Mut; hoffe, alter Bodo. Es steht fest, daß Mrs. Venable Persis liebt und verehrt. Und Mrs. Venable betrachtet sich selbst als die Hüterin von Anstand und Sitte auf der Insel Aquidneck. Mrs. Venable, die gewiß alle Einzelheiten kennt, tut alles, um Persis zu schützen und zu stützen. Vielleicht hat sie nicht genügend Phantasie, um sich vorzustellen, daß es nicht damit getan ist, Persis unter ihre Fittiche zu nehmen. Vielleicht gibt es ein paar dunkle Punkte im Fall Archer Tennyson. Sie hält Schweigen für die beste Verteidigung — und das stimmt nicht … Bodo, ich habe morgen einen schweren Tag und muß Sie bitten, mich jetzt nach Hause zu fahren. Darf ich Ihnen etwas vorschlagen?«

»Ja, natürlich.«

»Um welche Zeit wollen Sie morgen nach Ihrem Abschiedsessen aufbrechen?«

»Etwa gegen elf Uhr dreißig.«

»Können Sie Ihre Abreise um zwei Stunden verschieben? Persis wird mich um ein Uhr dreißig vor meiner Tür absetzen; könnten Sie in Ihrem Wagen an der Ecke warten? Vielleicht habe ich schon ein paar Fakten für Sie, Anhaltspunkte, um die Sache weiterzuverfolgen. Finden Sie nicht, daß es für einen Jüngling nichts Nobleres gibt, als eine Jungfrau der Ungerechtigkeit zu entreißen?«

»Ja. Ja.«

»Hoffentlich werde ich Ihnen Neuigkeiten bringen, über die Sie nachdenken können, wenn Sie morgen durch die Nacht fahren.«

Vor meiner Tür sagte ich: »Wir sind beide überzeugt, daß nicht das Verhalten seiner Frau Archer Tennyson in den Tod trieb, nicht wahr?«

»Bestimmt.«

»Gut. Fassen Sie Mut. Hoffen Sie. Was waren Goethes letzte Worte?«

»Mehr Licht! Mehr Licht!«

»Auch wir suchen mehr Licht. Danke für den Schnaps. Wir sehen uns morgen.«

___________

Am nächsten Tag war ich sehr fleißig. Obwohl ich nicht nach Newport gekommen war, um so viel zu arbeiten, hatte ich noch vor dem Abendessen vierzehn Dollar verdient. Ich schlief ein wenig und radelte dann zu den »Neun Giebeln«, zu der Lektürestunde um zehn Uhr dreißig.

Seit der alarmierenden Besserung in seinem Befinden hatte Dr. Bosworth das Bedürfnis, im Laufe des Abends noch eine kleine Erfrischung zu sich zu nehmen in Form einer französischen Tisane und einiger Kekse (von mir dankend abgelehnt), die Mrs. Turner um elf Uhr dreißig servierte. Es war mir nicht entgangen, daß diese absichtliche Unterbrechung unserer Arbeit für ihn ein willkommener Anlaß war, sich mit mir zu unterhalten. Mein Arbeitgeber sehnte sich danach, endlich sprechen zu dürfen. Wir lasen gerade (aus Gründen, die nur wir allein kannten) Henri Bergsons »Deux sources de la morale et de la religion«, als Mrs. Turner mit dem Tablett hereinkam.

Dann folgte mehr als eine Konversation; nämlich eine militärische Operation, ein diplomatisches Manöver, teilweise auch ein Schachspiel. Ich hatte bereits vorher bemerkt, daß er unauffällig ein »aide-mémoire«, eine Agenda vor mir versteckt hatte, wie er sie auch während seiner diplomatischen Tätigkeit so häufig zu benutzen pflegte. Ich war also auf der Hut.

»Mr. North, September ist der schönste Monat hier in Newport. Sie haben doch nicht etwa die Absicht, die Insel gerade dann zu verlassen, wie so viele andere.« Schweigen. »Es täte mir leid und ich würde Sie sehr vermissen.«

»Danke vielmals, Dr. Bosworth«, et cetera, et cetera.

»Überdies habe ich Sie für ein paar Projekte in Aussicht genommen, die Sie hier aufs angenehmste beschäftigen würden. Ich möchte Sie im konstituierenden Ausschuß unserer Akademie als Berater haben. Mit Ihrer raschen Auffassungsgabe und Ihrem Verständnis könnten Sie für uns von unschätzbarem Wert sein.« Ich verbeugte mich ein wenig und schwieg. »Im Winter besuchen mich naturgemäß weniger Freunde. Da ich jetzt wieder herumfahren kann, gäbe es in dieser Gegend von Neu-England vieles, was ich, was wir uns ansehen könnten. Es ist eine große Freude für mich, daß meiner Enkeltochter diese Ausfahrten ebenfalls großes Vergnügen machen. Ich habe mit ihr zusammen einiges von dem, was ich mein ›Newport-Athen‹ nenne, besichtigt.« Schweigen. »Mrs. Tennyson erscheint manchen Leuten reserviert, das stimmt, aber ich versichere Ihnen, daß sie eine bemerkenswerte Intelligenz und viel Kultur besitzt. Sie ist auch eine ausgezeichnete Musikerin, wußten Sie das?«

»Nein, Dr. Bosworth.«

»An Winterabenden werde ich hier schöne Musik hören. Mögen Sie Musik, Mr. North?«

»Ja, Sir.«

»Bis zu dem tragischen Tod ihres Mannes hatte sie bei den besten Lehrern in New York und Europa Unterricht. Doch seit jenem bedauerlichen Ereignis weigert sie sich, meinen Gästen oder auch Mrs. Venables Gästen vorzusingen. Kennen Sie die unglücklichen Umstände von Mr. Tennysons Tod?«

»Ich weiß nur, daß er sich das Leben genommen hat, Dr. Bosworth.«

»Archer Tennyson war sehr beliebt und genoß das Leben in vollen Zügen. Aber irgendwie hatte er auch einen Hang zum Exzentrischen. Man sollte diese ganze unglückselige Geschichte so schnell wie möglich vergessen.« Bedeutungsvoll fügte er mit leiser Stimme hinzu: »An Winterabenden könnten wir drei die Pläne für die Akademie weiter entwickeln.«

Das Schachspiel wurde schnell und rücksichtslos gespielt. Ich brauchte da nicht subtil zu sein und rückte mit meinem schwarzen Springer zum Angriff vor. »Sir, glauben Sie, daß sich Mrs. Tennyson alle Heiratspläne aus dem Kopf geschlagen hat?«

»Mr. North, sie ist eine höchst außergewöhnliche Frau. Was für junge Leute gibt es hier schon oder in New York, die für Persis in Betracht kommen? Wir haben ein paar passionierte Segler zur Wahl, wir haben ein paar Salonlöwen mit immer demselben Klatsch und den ewig gleichen Witzen. Sie lehnt jetzt sogar die Einladungen ihrer Tante Helen ab, ein paar Wochen die Wintersaison mitzumachen und verzichtet auf Konzert- oder Theaterbesuche. Sie hat sich von allem zurückgezogen und lebt nur noch ihrem kleinen Sohn, den Büchern und ihrer Musik und — ich freue mich, es sagen zu können — ihrer treuen Liebe zu mir …« Wieder sprach er leiser. »Persis und die Akademie — sie sind alles, was ich habe. Tante Sarah behandelt sie schlecht und ich weiß mir keinen Rat. Ich wäre froh, wenn sie heiratete, gleichviel, woher der Mann kommt.«

»Sie muß viele Verehrer haben, Dr. Bosworth. Sie ist eine auffallend schöne und charmante Frau.«

»Nicht wahr?« Er schob seine weiße Dame über das ganze Schachbrett nach vorn und sagte leise: »Dazu auch sehr wohlhabend.«

»Wirklich?« fragte ich überrascht.

»Ihr Vater hat ihr ein großes Vermögen hinterlassen, und ihr Mann ebenfalls.«

Ich seufzte. »Aber was kann ein Gentleman tun, wenn eine Lady kein Zeichen der Ermunterung gibt? Ich habe den Eindruck, daß Baron Stams ihr ein echtes, aufrichtiges Interesse entgegenbringt.«

»Darüber habe ich ganz besonders nachgedacht, seit Sie mich auf seine ungewöhnlichen Qualitäten aufmerksam gemacht haben. Er war gestern bei uns, um sich zu verabschieden. Ich habe mich noch nie im Leben in einem Menschen so geirrt — und was für hochinteressante Konnexionen! Wußten Sie etwa, daß die Schwester seiner Mutter als Marquise in England lebt?« Ich wußte es nicht und schüttelte den Kopf. »Sie hat ihn auch nach Eton geschickt. Und diese umfassende philosophische Bildung! Wenn er etwas älter wäre, könnte ich ihn als Direktor für unsere Akademie in Betracht ziehen. Aber nun muß ich Ihnen etwas verraten: Persis wurde sehr böse — sehr scharf sogar, als ich gestern abend in den höchsten Tönen von ihm sprach. Ich begriff es zuerst gar nicht. Dann fiel mir ein, daß einige unserer Freunde schlechte Erfahrungen mit Ehen zwischen verschiedenen Nationalitäten gemacht haben — speziell mit europäischen Aristokraten. Meine Tochter Sarah war sehr unglücklich verheiratet. Ausgesprochen netter Bursche, aber er konnte die Augen nicht offen halten. Ich fürchte, ein Ausländer kommt Persis nicht sehr erwünscht, Mr. North.«

Dieser Unsinn dauerte nun schon reichlich lange. Ich brachte meine Türme und Läufer ins Spiel und sagte: »Ich verstehe nichts von solchen Einwänden, Dr. Bosworth. Ich bin ein schlichter Bauer aus Wisconsin.« Und nun senkte ich die Stimme. »Ich habe mich vor einiger Zeit verlobt, aber ich sage Ihnen im Vertrauen, daß ich jetzt die Verlobung langsam und nicht ohne ein schmerzliches Gefühl auflöse. Ein junger Mann kann sich gar nicht genug vorsehen. Sogar in meinen Kreisen wird er es sich zweimal überlegen, eine Frau zu heiraten, deren Mann sich in ihrer Gegenwart das Leben genommen hat.«

Dr. Bosworth sperrte den Mund auf wie ein harpunierter Walfisch.

»Es geschah nicht in ihrer Gegenwart, sondern auf einem Schiff. Er schoß sich in den Kopf, auf dem Oberdeck eines Schiffes. Ich sagte Ihnen doch, daß er ein exzentrischer Mensch war. Sehr exzentrisch. Er spielte gerne mit Schußwaffen herum. Persis konnte man keinen Vorwurf machen.«

Tränen flossen ihm über das Gesicht. »Fragen Sie, wen Sie wollen. Fragen Sie Mrs. Venable … irgendein Verrückter hat an alle möglichen Leute anonyme Briefe geschickt — infame Briefe. Sie haben meinem armen Kind das Herz gebrochen.«

»Das ist sehr tragisch, Sir.«

»Mr. North, so ist das Leben — tragisch. Ich bin jetzt beinahe achtzig. Ich sehe mich um. Dreißig Jahre lang habe ich meinem Lande gedient, nicht ohne die gebührende Anerkennung zu finden. Mein Familienleben war so, wie es sich ein Mann nur wünschen kann. Und dann folgte ein Mißgeschick dem andern. Ich möchte nicht in Details gehen. Was ist das Leben?« Er hielt mich am Rockaufschlag fest. »Was ist das Leben? Begreifen Sie jetzt, warum ich eine Akademie der Philosophen gründen will? Warum sind wir auf diese Erde gesetzt worden?« Er wischte sich Augen und Wangen mit einem riesigen Taschentuch. »Wie gehaltvoll ist dieses Buch von Bergson! Ach, die Zeit vergeht … und ich habe noch so viel zu lesen …«

Es klopfte.

Persis kam herein, mit Handschuhen und Schleier für die Autofahrt gerüstet. »Großvater, es ist eine Viertelstunde nach Mitternacht. Du solltest längst im Bett sein!«

»Wir zwei haben ein sehr gutes Gespräch miteinander gehabt, Persis. Ich werde nicht so leicht einschlafen.«

»Mr. North, hätten Sie Lust, mit mir noch ein bißchen auszufahren? Ich kann Sie später vor Ihrer Tür absetzen. Die Nachtluft wirkt so wunderbar beruhigend nach einem anstrengenden Tag.«

»Das ist sehr nett von Ihnen, Mrs. Tennyson. Mit dem größten Vergnügen.«

Ich sagte Dr. Bosworth gute Nacht, und Persis und ich gingen durch die große Halle zur Eingangstür. Ich habe »Neun Giebel« bereits als das »Haus der Lauscher« vorgestellt. Aus einem Salon kam Mrs. Bosworth zum Vorschein. »Persis, es schickt sich nicht, um diese Zeit noch auszufahren. Verabschiede dich von Mr. North, er muß sehr müde sein. Gute Nacht, Mr. North.«

Persis antwortete: »Schlaf gut, Tante Sally. Steigen Sie ein, Mr. North.«

»Persis, hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«

»Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, Tante Sally. Mr. North hat mit meinem Großvater vierzig Stunden gelehrte Diskurse geführt und darf damit wohl als ein guter Freund des Hauses gelten. Schlaf schön, Tante Sally.«

»Achtundzwanzig Jahre, und so wenig Gefühl für Schicklichkeit.«

Persis startete den Motor und winkte ihr zu. Wir fuhren los. Aus dem ersten Kapitel dieses Buches weiß der Leser vielleicht noch, daß ich den »Charles-Marlow-Komplex« hatte, glücklicherweise nicht in demselben Maße wie Oliver Goldsmiths Held. Ich fing nicht zu stottern an, ich wurde nicht rot, ich sah auch nicht verschämt zu Boden, wenn ich mit netten, wohlerzogenen jungen Mädchen zusammen war, aber Persis Tennyson war zweifellos der Inbegriff all dessen (Lilie, Schwan), was mich einschüchterte. Ich litt (wie ich später durch meine Lektüre erfuhr), an jenem Widerspruch, der jedem Komplex zugrunde liegt. Ich bewunderte Persis ungeheuer und wünschte mich zugleich meilenweit entfernt. Ich zappelte befangen und sprach zu viel und zu wenig.

Sie fuhr langsam. »Ich dachte mir, wir könnten uns beim Budlong-Haus auf die Seemauer setzen«, sagte sie.

»Am Ende eines Tages bin ich meist zu müde, um noch viel herumzufahren. Aber ich brauche nicht viel Schlaf, stehe früh auf und radle an das Meer, um den Sonnenaufgang anzusehen. Da ist es natürlich noch ganz dunkel. Die Polizei hat mich zuerst für einen Kriminellen gehalten und verfolgte mich. Später hat sie eingesehen, daß ich nur exzentrisch bin; und jetzt grüßen wir uns.«

»Ich fahre oft nachts aus, und auch bei mir denkt die Polizei, daß sie mich im Auge behalten muß. Ich war noch nie bei Sonnenaufgang am Meer. Wie ist es?«

»Überwältigend!«

Sie wiederholte das Wort leise, nachdenklich.

»Mr. North, durch welche magischen Kräfte haben Sie die erstaunliche Besserung von Großvaters Gesundheit erreicht?«

»Ich habe gar keine magischen Kräfte. Ich sah ganz einfach, Dr. Bosworth war bedrückt. Mich hat auch manches bedrückt. Nach und nach entdeckten wir, daß wir uns für dieselben Dinge begeisterten, und Begeisterung kann einen Menschen außer sich bringen. Wir wurden beide jünger. Das ist alles.«

Sie murmelte: »Ich glaube, es steckt mehr dahinter … Wir sind Ihnen sehr verpflichtet. Mein Großvater und ich möchten Sie gern mit einem Geschenk erfreuen. Wir haben uns gefragt, was es wohl sein könnte. Würden Sie gern ein Auto haben?«

Ich schwieg.

»Oder das Exemplar von ›Alciphron‹, das Bischof Berkeley Jonathan Swift widmete? Das Werk ist in ›Whitehall‹ entstanden.«

Welch bittere Enttäuschung! Ich verbarg sie jedoch hinter einem Schwall von Dankesbezeugungen und freundlichem Gelächter. »Vielen Dank für Ihre gute Absicht«, et cetera, et cetera. »Ich habe mir nun einmal vorgenommen, mit so wenig Besitztümern wie möglich zu leben. Wie die Chinesen: eine Schüssel Reis. Wie die Griechen der Antike: ein paar Feigen und Oliven.« Ich lachte über die Absurdität meiner Worte, aber ich hatte damit meine Ablehnung deutlich gemacht.

»Irgendein Zeichen unserer Dankbarkeit? Nein?«

Die Privilegierten dieser Welt sind nicht gewohnt, ein Nein für eine Antwort zu halten.

»Mrs. Tennyson, Sie haben mich zu dieser Fahrt nicht eingeladen, um über Geschenke zu sprechen, sondern um mir eine wichtige Mitteilung zu machen. Ich glaube, sie schon zu kennen. Einige Personen in den ›Neun Giebeln‹ oder im Umkreis davon wünschen mich zum Teufel.«

»Ja, und ich muß leider sagen: sie planen sogar einen Anschlag auf Sie. Ein paar seltene Erstausgaben stehen in den Bücherregalen hinter dem Stuhl meines Großvaters. Ich habe durch Zufall gehört, daß man sie nach und nach entfernen und durch spätere, weniger wertvolle Ausgaben ersetzen will. Sie sind seit Jahren der einzige Mensch, der in das Haus kommt und weiß, wieviel diese Bücher wert sind. Man rechnet damit, daß der Verdacht dann auf Sie fällt.«

Ich lachte. »Großartig! Großartig!« sagte ich.

»Ich habe diesen Plan durchkreuzt und selber die Originale ausgetauscht, die ich in meinem Juwelen-Safe aufbewahre. Sobald man versucht, Sie anzuschwärzen, werde ich die Bücher vorzeigen. — Warum haben Sie ›großartig‹ gesagt?«

»Weil man jetzt das wahre Gesicht zeigt. Man fängt an, Fehler zu machen. Ich danke Ihnen, daß Sie die Originale an sich nahmen, aber auch ohne das hätte ich mich auf die Gegenüberstellung gefreut. Ich kämpfe nicht gerne, Mrs. Tennyson, aber ich hasse Verleumdungen und Intrigen — Sie doch auch, nicht wahr?«

»Und wie! Die Leute reden so häßliche Dinge … Lieber Mr. North, sagen Sie mir: wie kann man sich dagegen wehren?«

»Hier ist das Budlong-Haus. Steigen wir aus und setzen wir uns auf die Seemauer.«

»Vergessen Sie nicht, was Sie mir sagen wollten.«

»Nein.«

»Auf dem Rücksitz ist eine Decke, die wir über die Steinbrüstung breiten können.«

Hinter uns lag ein Feld mit wilden, schon fast verblühten Rosen. Der Geruch war berauschend. Unsere Gesichter streifte das Licht der Scheinwerfer von den Leuchttürmen, in unseren Ohren dröhnte das Brummen und Heulen und Läuten der Bojen. Der Himmel über uns war eine mit Juwelen besetzte Navigationskarte. Noch vor wenigen Tagen hatte Bodo Agnese, Mino und mich zu unserem Picknick hierhergefahren.

Wie gewöhnlich standen ein paar Autos da mit Pärchen, die jünger waren als wir.

»Raten Sie mir, die Lektüre mit Ihrem Großvater einzustellen?«

»Sie haben uns so viel Gutes gebracht. Dafür ernten Sie den Haß gewisser Leute.«

»Und Sie erben ihn.«

»Es geht nicht um mich. Ich kann es ertragen.«

»Diese Niedertracht? Denken Sie an Ihren kleinen Sohn. Verzeihen Sie die Frage: warum bleiben Sie in diesem Hause?«

Wie ruhig sie war. »Zwei Gründe: ich liebe meinen Großvater, und er liebt mich — falls er überhaupt jemanden lieben kann. Und: wohin sollte ich gehen? Ich hasse New York. Europa? Ich habe vorläufig keine Lust dazu. Meine Mutter hat meinen Vater vor vielen Jahren verlassen und lebt heute in Paris und auf Capri mit einem Mann zusammen, mit dem sie nicht verheiratet ist. Sie schreibt uns selten. Mr. North, ich denke oft, mein Leben ist zu einem großen Teil schon vorbei. Ich bin eine alte, verwitwete Lady, die nur noch für ihren Sohn da ist und für ihren Großvater.

Die Demütigungen, denen ich hin und wieder ausgesetzt bin, und die langweiligen, gesellschaftlichen Verpflichtungen berühren mich kaum noch. Sie machen mich nur älter … Sie wollten mir doch sagen, wie man böse Zungen zum Schweigen bringen kann. War das Ihr Ernst?«

»Ja … Da wir über Ihre sehr privaten Angelegenheiten sprechen, darf ich Sie — nur in dieser Stunde — Persis nennen?«

»Ja.«

Ich holte tief Atem. »Haben Sie Grund zu der Annahme, daß man Sie in gewissen Kreisen verleumdet hat?«

Sie senkte den Kopf, hob ihn dann jäh und sagte: »Ja.«

»Ich habe keine Ahnung, was die Leute klatschen … Ich habe bisher nur respektvolle und bewundernde Äußerungen gehört. Man hat mir erzählt, daß Ihr Mann sich das Leben genommen habe, allein, auf dem Oberdeck eines Schiffes, mitten auf dem Meer. Wahrscheinlich wurden dann böswillige Deutungen dieses tragischen Vorfalls in Umlauf gesetzt. Ich bin überzeugt, daß sich Ihnen nichts Abträgliches nachsagen ließ. Sie haben mich gefragt, wie man sich gegen Verleumdungen zur Wehr setzt. Ich würde als erstes alle Fakten berichten — die reine Wahrheit. Sollte jemand daran beteiligt sein, den Sie schützen wollen, dann muß man sich einen anderen Weg ausdenken. Ist in diesen Fall noch eine andere Person verwickelt?«

»Nein. Nein.«

»Persis, sollen wir das Thema wechseln und von etwas anderem sprechen?«

»Nein, Theophilus, ich habe ja niemanden, mit dem ich reden kann. Bitte, lassen Sie mich jetzt meine Geschichte erzählen.«

Ich sah einen Augenblick zu den Sternen hinauf. »Ich mag keine Geheimnisse, unglückliche Familiengeheimnisse schon gar nicht. Wenn ich schwören soll, kein Wort weiterzuerzählen, so muß ich Sie bitten, zu schweigen.«

Sie sagte leise: »Aber Theophilus, ich will, daß alle diese Schwätzer und Briefeschreiber und … die Wahrheit erfahren. Ich habe meinen Mann geliebt, aber in einem Augenblick unverzeihlicher Gedankenlosigkeit — in Wirklichkeit war es Wahnsinn —, ließ er mich im Schatten des Verdachts zurück. Sie können die Geschichte überall erzählen, wenn Sie sich etwas davon versprechen.«

Ich faltete die Hände. Im Sternenlicht konnte sie das ermunternde Lächeln auf meinem Gesicht sehen. »Fangen Sie an«, sagte ich.

»Als ich von der Schule abging, wurde ich in die Gesellschaft eingeführt. Tanzabende, Bälle, Debütanten-Parties. Ich verliebte mich ehrlich und aufrichtig in einen jungen Mann, Archer Tennyson. Er war nicht im Krieg gewesen, weil er als Junge Tuberkulose gehabt hatte und die Ärzte ihn dienstuntauglich schrieben. Ich glaube, das war der tiefere Grund für sein Verhalten. Wir heirateten. Wir waren glücklich. Nur etwas störte mich: er war tollkühn. Zu Anfang bewunderte ich das noch an ihm. Er raste mit seinem Wagen. Auf einem Schiff wartete er einmal bis Mitternacht, um auf den Mast zu klettern. Der Kapitän hat ihm deshalb in der Bordzeitung einen Verweis erteilt. Allmählich erkannte ich, daß er eine Spielernatur war — er spielte nicht nur um Geld, das ihm im übrigen gleichgültig war, sondern um das Leben. Er setzte sein Leben ein — beim Skilaufen, bei Motorbootrennen, beim Bergsteigen. In den Schweizer Alpen suchte er sich immer die gefährlichsten Pisten aus. Er ist Bob gefahren — damals noch ein neuer Sport — zwischen Mauern von hartem Eis. Als ich einmal nicht aufpaßte, setzte er unser einjähriges Büblein zwischen seine Knie und fuhr los. Ich erkannte zum erstenmal, worum es ihm ging: er wollte das, was ihm am liebsten und teuersten war, mit in die Waagschale werfen. Zuerst sollte immer ich im Auto oder im Motorboot neben ihm sitzen; jetzt riskierte er noch den Kleinen. Ich begann, mich vor dem Sommer zu fürchten, weil er zwischen New York und Newport seinen Schnelligkeitsrekord vom vergangenen Jahr überbieten wollte. Auf der Strecke nach Palm Beach war er nicht zu schlagen, aber ich setzte mich nicht mehr neben ihn. Und dann diese ewigen Wetten, überall, wo es etwas zu wetten gab — Fußball, Pferderennen, Präsidentenwahlen. Er saß am Fenster seines Clubs in der Fifth Avenue und wettete, welche Automarke zuerst vorbeifahren werde. Seine Freunde beschworen ihn, in dem Maklergeschäft seines Vaters zu arbeiten, aber er konnte nicht so lange stillsitzen. Dann ließ er sich zum Piloten ausbilden. Ich weiß nicht, ob eine Frau noch vor ihrem Mann kniet, aber ich tat es. Ich tat sogar mehr als das — ich sagte ihm, er werde kein zweites Kind von mir bekommen, wenn er allein aufsteige. Er war so überrascht, daß er tatsächlich das Fliegen aufgab.«

Sie machte eine Pause. Sie schien sehr unsicher. »Bitte erzählen Sie weiter«, sagte ich.

»Er war kein ausgesprochener Alkoholiker, aber er saß gern in Bars, wo er sich in der Rolle eines Draufgängers und — ich muß es leider sagen — eines Angebers gefiel. Ich bin nun fast zu Ende.«

»Darf ich Sie einen Augenblick unterbrechen? Erzählen Sie die Geschichte doch ausführlich. Ich möchte wissen, was in all den Jahren in Ihnen vorging.«

»In mir? Ich wußte, daß er in gewisser Hinsicht ein kranker Mann war. Ich liebte ihn noch immer, aber ich bemitleidete ihn auch. Dazu hatte ich Angst. Er brauchte ein Publikum für sein gewagtes und riskantes Spiel. Ich saß in der ersten Reihe; ein großer Teil der Vorstellung — nicht die ganze — sollte mich beeindrucken. Eine Frau kann nicht immerzu Vorwürfe machen. Ich wollte nicht eine Mauer zwischen ihm und mir errichten … Er wertete seine Taten als Mutproben, ich fand sie närrisch — und grausam mir gegenüber. Eines Tages standen wir an Deck eines Schiffes, das nach Europa fuhr, als uns ein anderes Schiff entgegenkam. Man hatte uns gesagt, wir würden ganz nahe an unserem Schwesterschiff vorbeifahren. Er meinte: ›Wäre ich nicht ein Held, wenn ich jetzt ins Wasser springen und hinüberschwimmen würde?‹ Er schüttelte die Lackschuhe von den Füßen und zog sich aus. Ich schlug ihn ins Gesicht — zuerst auf die eine, dann auf die andere Backe. Er war so erschrocken, daß er wie erstarrt dastand. Ich sagte: ›Archer, nicht ich habe dich geschlagen, sondern dein Sohn. Lerne, ein Vater zu sein.‹ Er zog langsam die Hose hoch, und hob die Jacke von Deck auf. Diese Worte waren mir nicht erst in diesem Augenblick eingefallen, in schlaflosen Nächten hatte ich sie mir immer und immer wieder vorgesagt. Ich wußte noch andere: ›Ich habe dich mehr geliebt, als du mich geliebt hast!‹ ›Du liebst die Herausforderungen mehr als mich.‹ ›Du tötest meine Liebe für dich.‹ Ich hätte nicht weinen sollen, aber ich heulte schrecklich. Er nahm mich in seine Arme und sagte: ›Persis, es ist doch alles nur Spiel und Spaß. Ich werde sofort damit aufhören, wenn du etwas nicht magst …‹ Ich will jetzt meine Geschichte zu Ende führen. Es war vorauszusehen, daß er eines Tages auf einen treffen würde, der genau so verrückt war wie er, sogar noch verrückter. Das geschah zwei Tage später, natürlich in der Bar. Der andere war ein ehemaliger Kriegsteilnehmer, mit einem wilden Blick in den Augen. Ich saß ein oder zwei Stunden mit ihnen zusammen, während er meinen Mann völlig erdrückte mit seinen Geschichten, wie oft er bei diesem oder jenem Gefecht mit knapper Not dem Tod entronnen sei und welchen Spaß das doch gemacht habe. Ein Unwetter war im Anzug. Der Barkeeper kündigte an, er müsse die Bar schließen, aber sie gaben ihm Geld, und die Bar blieb offen. Ich versuchte dauernd, Archer zu überreden, jetzt schlafen zu gehen, aber er mußte mit diesem Mann um die Wette trinken, ein Glas nach dem anderen. Die Frau dieses Mannes war bereits zu Bett gegangen, und ich zog mich aus Verzweiflung schließlich auch zurück. Archer wurde mit einem Revolver in der Hand und einer Kugel im Kopf auf dem Oberdeck gefunden. Es gab eine gerichtliche Untersuchung und eine Autopsie … Ich bezeugte, daß mein Mann und Major Michaelis sich an mehreren Abenden über russisches Roulette als einen amüsanten Witz unterhalten hatten. Nichts davon erschien in den seriösen Zeitungen und nur sehr wenig, soviel ich weiß, in der Boulevardpresse. Mein Großvater wurde allgemein geachtet und kannte die Verleger der besseren Zeitungen persönlich. So wurde der Vorfall nur kurz auf der Innenseite erwähnt. Schon damals beschwor ich meinen Großvater, auf die Veröffentlichung meiner Aussage zu dringen, aber die Michaelis gehören ebenfalls zu jenen alten Familien, die Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit ihr Name nicht in die Zeitungen kommt. Und dieses Schweigen hat mir so geschadet. Der Fall wurde für abgeschlossen erklärt mit dem Bescheid, mein Mann hätte in einem Zustand schwerer Depression sich das Leben genommen. Niemand stand mir mit Rat und Hilfe bei, die Bosworths schon gar nicht. Mrs. Venable ist mir seit meiner Kindheit eine nahe und vertraute Freundin gewesen. Sie folgte dem Beispiel meiner Familie und beschwichtigte mich: ›Wenn wir den Mund halten, wird das Ganze bald vergessen.‹ Sie kennt die Michaelis-Familie und besucht oft Verwandte von ihnen in Maryland. Sie weiß, was dort vorgeht — wie die Nachbarn sich beschweren, weil er früh um drei sich im Revolverschießen übt, und wie er den Männern im Golf-Club mit seinem russischen Roulette zusetzt …«

»Mrs. Venable weiß das? Tatsächlich?«

»Sie hat es meinem Großvater und meiner Tante Sally anvertraut — wahrscheinlich, um sie zu trösten.«

Ich ging vor Persis auf und ab. »Warum hat sie es nicht allen Leuten anvertraut an einem ihrer berühmten Dienstagabende? Wie ich doch diese Cliquenwirtschaft und die Feigheit der sogenannten privilegierten Klasse hasse. Sie will alles Unangenehme von sich fernhalten. Nichts Unangenehmes darf mit ihr in Verbindung gebracht werden, nicht wahr?«

»Theophilus, es tut mir leid, daß ich Ihnen meine Geschichte erzählt habe. Vergessen Sie das Ganze. Ich bin eben ›unter einer Wolke‹, da kann man nichts dagegen tun. Es ist zu spät.«

»O nein, es ist nicht zu spät. Wo sind die Michaelis jetzt?«

»Der Major ist in einem Sanatorium in Chevy Chase. Ich nehme an, Mrs. Michaelis ist in ihrem Haus in Maryland.«

»Persis, Mrs. Venable ist im Grunde eine herzensgute Person, nicht wahr?«

»Sehr sogar.«

»Sie ist, weiß Gott, einflußreich, und sie liebt es, von ihrem Einfluß Gebrauch zu machen. Warum hat sie niemals ihre Güte, ihre Kenntnis der Ereignisse und ihr Gerechtigkeitsgefühl eingesetzt, um Sie in den Augen der Leute zu rehabilitieren?«

Persis antwortete nicht sofort. »Sie kennen Newport nicht, Theophilus, und Sie kennen nicht die alte Garde. In diesen Häusern darf nichts Beunruhigendes, nichts Unangenehmes auch nur erwähnt werden. Selbst die schwere Krankheit oder der Tod eines alten Freundes wird nur flüsternd oder in Form eines Händedrucks beim Abschied erwähnt.«

»Watte. Watte. Jemand hat mir gesagt, daß Mrs. Venable die Stützen der alten Garde jeden Donnerstag zum Mittagessen einlädt. Einige nennen diesen Kreis das ›Synedrium‹ oder den ›Druden-Rat‹. Stimmt das? Gehören Sie dazu?«

»Ich bin noch zu jung dafür.«

Ich schleuderte eine leere Bierflasche in das Meer. »Persis?«

»Ja?«

»Wir brauchen einen Gesandten, um Mrs. Venable und das Synedrium davon zu überzeugen, es sei ihre Aufgabe und christliche Pflicht, allen die unbezweifelbaren Vorgänge auf jenem Schiff zu erzählen … um Ihres Sohnes willen.« Persis schien auch daran gedacht zu haben, denn sie preßte die Hände zusammen, um ihr Zittern zu verbergen. »Ich glaube, dieser Gesandte sollte ein Mann sein, ein Mann, den Mrs. Venable besonders schätzt und der auf Grund seiner gesellschaftlichen Stellung allgemeines Ansehen genießt. Ich kenne den Baron Stams sehr gut, er ist viel seriöser, als Sie und Ihr Großvater zuerst annahmen, und ich kann Ihnen versichern, daß er Ungerechtigkeiten haßt wie den Teufel. Er war in zwei Sommern ein Hausgast der Venables. Haben Sie nicht auch bemerkt, daß Mrs. Venable ihn in ihr Herz geschlossen hat?«

Sie murmelte: »Ja.«

»Hinzu kommt noch seine tiefe Verehrung für Sie. Erlauben Sie mir, ihm Ihre ganze Geschichte zu erzählen mit der Bitte, als unser Gesandter aufzutreten? Aber Sie mögen ihn ja nicht.«

»Nein, sagen Sie das nicht! Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich mich ihm gegenüber so kalt und unpersönlich verhalten mußte. Reden Sie nicht mehr davon — tun Sie, was Sie für richtig halten.«

»Er wollte Newport heute verlassen. Aber er bleibt länger. Morgen früh spricht er eine halbe Stunde mit Mrs. Venable. Sie sollten ihn hören, wenn er sich für ein Thema entflammt. Es ist spät, wir müssen uns auf den Heimweg machen. Ich werde mich jetzt ans Steuer setzen und bis vor meine Tür fahren.«

Ich nahm die Decke und öffnete ihr die rechte Vordertür des Wagens. Sternenlicht fiel auf ihr Gesicht, das sie mir mit einem Lächeln zuwandte. Sie murmelte: »Ich bin den Aufregungen der Hoffnung entwöhnt.« Ich fuhr langsam, wobei ich weder den längsten noch den kürzesten Weg nach Hause wählte. Ein Polizeiauto folgte der großen Erbin diskret in die Stadt und drehte dann um.

Ihre Schulter ruhte an der meinen. Sie sagte: »Theophilus, Sie haben sich geärgert, weil ich Ihnen ein Geschenk anbot als ein Zeichen des Dankes, den mein Großvater und ich Ihnen schulden. Können Sie mir das erklären?«

»Wollen Sie es wirklich wissen?«

»Ja.«

»Da ich Ihnen zur Beruhigung eine kleine Vorlesung halten werde, möchte ich Sie mit Mrs. Tennyson anreden. Mrs. Tennyson, jeder von uns ist durch seine Herkunft und Erziehung bestimmt. Ich gehöre zur Mittelklasse — eigentlich zur mittleren Mittelklasse aus dem mittleren Teil des Landes. Wir sind Ärzte, Pfarrer, Lehrer, Redakteure von Provinzzeitungen, Rechtsanwälte mit einer Zwei-Zimmer-Praxis. In meiner Jugend hatte jede Familie ein Pferd und einen Einspänner, und unsere Mütter führten die Wirtschaft mit Hilfe einer Hausangestellten. Alle Söhne und viele Töchter besuchten ein College. In jener Welt gab es keine großen Geschenke. Sie wurden als demütigend, ja sogar lächerlich empfunden. Wenn ein Junge ein Fahrrad oder eine Schreibmaschine haben wollte, verdiente er sich das Geld mit dem Austragen der ›Saturday Evening Post‹ oder mit Rasenmähen beim Nachbarn. Unsere Väter haben unsere Ausbildung bezahlt, aber für gewisse Ausgaben, die doch in jenem Alter so wichtig sind — für einen Smoking oder den Besuch einer Tanzveranstaltung in einem Mädchen-College —, mußten wir während der Sommermonate auf einer Farm arbeiten oder in einem Restaurant bedienen.«

»Hat sich in Ihrer Mittelklasse nie etwas Unangenehmes ereignet?«

»O doch. Die Menschen sind überall dieselben. Aber ein Milieu ist stabiler als andere.«

»Erklären Sie damit, warum Sie unser Geschenk nicht annehmen wollten?«

»Nein.« Ich drehte mich lächelnd zu ihr. »Nein. Ich denke an Ihren Sohn Frederick.«

»Frederick?«

»Im Jahre 1918 sagte mir eine Frau, die in der Bellevue Avenue arbeitete — Sie kennen sie, glaube ich, ganz gut: ›Reiche Jungen werden nie wirklich erwachsen — oder nur selten.‹«

»Wie oberflächlich. Das ist nicht wahr.«

»Haben Sie einmal Bodo über seine Familie sprechen hören, über seinen Vater und seine Mutter und seine Schwestern? Provinzadel. Das Schloß ist teilweise ein Bauernhof, die Dienstboten bleiben von einer Generation zur anderen. Jetzt nehmen sie zahlende Gäste auf. Jeder arbeitet tagsüber. Den Abend füllen österreichische Musik und Lachen. Mrs. Tennyson, ein Milieu für einen Sohn ohne Vater!«

»Hat er Sie zu mir geschickt, damit Sie das alles erzählen?«

»Nein, im Gegenteil. Er wollte aus Verzweiflung Newport verlassen und wenn möglich nie wieder zurückkehren.«

Wir waren vor meiner Tür angelangt.

Ich hob mein Fahrrad vom Rücksitz. Sie ging um den Wagen herum, um sich wieder ans Steuer zu setzen. Sie reichte mir die Hand und sagte: »Bevor nicht die Wolke über mir sich verzogen hat, kann ich mich nicht äußern. Ich danke Ihnen, daß Sie mitgekommen sind. Ich danke Ihnen, daß Sie mir zugehört haben. Ist in Ihrer Mittelklasse ein freundschaftlicher Kuß gestattet?«

»Wenn niemand hinsieht«, sagte ich und küßte sie langsam auf die Wange. Sie gab mir den Kuß zurück.

Dann ging ich zu Bodo. Er war gar nicht eingeschlafen, sondern sprang aus dem Wagen.

»Bodo, könnten Sie noch bis morgen mittag in Newport bleiben?«

»Ich habe bereits die Erlaubnis bekommen.«

»Könnten Sie morgen vormittag mit Mrs. Venable unter vier Augen sprechen!«

»Um halb elf trinken wir gewöhnlich eine Tasse Wiener Schokolade zusammen.«

Ich erzählte ihm die ganze Geschichte und endete mit dem Auftrag, zu dem wir ihn ausersehen hatten. »Werden Sie das schaffen?«

»Ich muß, und, bei Gott, ich werde es schaffen … Theophilus, wir wissen aber immer noch nicht, ob Persis mich lieben kann.«

»Dafür verbürge ich mich.«

»Wieso? Wieso?«

»Fragen Sie nicht! Ich weiß es. Und noch eins: Am 29. August werden Sie in Newport sein.«

»Ich kann nicht. Warum? Woher wissen Sie das?«

»Der Chef schickt Sie her. Bringen Sie einen Verlobungsring mit. Sie haben Ihre Frau Baronin gefunden.«

»Sie machen mich wahnsinnig.«

»Ich werde Ihnen schreiben. Schlafen Sie gut. Vergessen Sie Ihr Gebet nicht. Ich bin hundemüde.«

Ich ging zu meiner Haustür, als ich eine Eingebung hatte: Edweena könnte mir helfen.

Edweena

Als in Tante Liselottes Zimmer mein Blick auf Edweena fiel und mir die Tränen über das Gesicht liefen, fühlte ich mich nicht nur über meine Ablösung erleichtert, sondern auch über das Wiedersehen mit einer lieben, alten Freundin. Ich kannte nämlich Edweena — ich hatte sie 1918 als Toinette und auch als Mrs. Wills kennengelernt. In all den Wochen, da man bei Mrs. Cranston so oft von ihr gesprochen hatte — als der Verlobten von Henry Simmons oder als Mrs. Cranstons »Star-Mieterin« —, war sie immer nur Edweena genannt worden. Ich wußte jedoch sofort, daß meine alte Freundin die so sehnsüchtig erwartete Edweena sein mußte.

Auf folgende Weise hatte ich sie kennengelernt:

Im Herbst 1918 war ich einundzwanzig Jahre alt und als Soldat auf Fort Adams stationiert. Anläßlich meiner Beförderung zum Corporal hatte ich einen siebentägigen Urlaub bekommen, um zu Hause meinen Eltern, meinen Schwestern und der gesamten Öffentlichkeit meine neu erworbenen Abzeichen vorzuführen. (Mein Bruder diente damals in Europa.) Ich kehrte über New York zu meinem Regiment zurück und bestieg dort ein Schiff der Fall-River-Linie nach Newport. Leute aus der guten, alten Zeit werden sich nicht ohne einen tiefen Seufzer an jene Dampfer erinnern, die alles boten, was man sich unter Luxus und Romantik vorstellt. Die Türen der meisten Kabinen besaßen verstellbare Luftklappen und öffneten sich zum Deck. Wir kannten solche Annehmlichkeiten bisher nur im Film. Wir malten uns aus, daß es jeden Augenblick an der Tür klopfen könnte, wir würden aufmachen und uns einer tief verschleierten wunderschönen Frau gegenübersehen, die uns im Flüsterton anflehte: »Bitte, lassen Sie mich herein und verstecken Sie mich. Ich werde verfolgt.« Ah!

Wir fuhren verdunkelt, nur Zugänge zum Schiffsinneren waren durch eine blaue Notbeleuchtung gekennzeichnet. Ich blieb eine Stunde an Deck. Kaum konnte ich die Freiheitsstatue erkennen, die Umrisse der Küste von Long Island und die Achter-Bahnen von Coney Island. Ein prickelndes Gefühl in der Wirbelsäule deutete mir an, daß wir auf unserer Fahrt von den Periskopen feindlicher Unterseeboote beobachtet wurden — tückische Krokodile unter der Meeresoberfläche —, denen wir aber als Kriegsbeute viel zu unwichtig waren, als daß sie sich uns bemerkbar gemacht hätten. Schließlich begab ich mich in das Innere des Schiffes, das aus einem großen, hell erleuchteten Speisesaal bestand, einer Bar und ein paar Aufenthaltsräumen, alle holzgetäfelt, mit Samtvorhängen und viel blank geputztem Messing — »Tausendundeine Nacht«. In der Bar bestellte ich mir ein Bevo. Andere Passagiere stärkten sich aus kleinen Feldflaschen, die sie in ihrer Gesäßtasche trugen. (Ich trank damals nur bei besonderen Anlässen Alkohol, da ich als Achtjähriger unter den Augen meines tief bewegten Vaters und eines Vertreters der »Liga für Enthaltsamkeit« in Madison, Wisconsin, mich feierlich zu lebenslänglicher Abstinenz verpflichtet hatte.) Ich setzte mich zum Essen, um mich herum schwebten prächtig angezogene Kellner in weißen Jacketts und Handschuhen. Ich gönnte mir nicht die »Schildkrötensuppe à la Baltimore«, sondern wandte mich weniger kostspieligen Genüssen auf der Speisekarte zu. Das Diner kostete etwa die Hälfte meines Wochensolds, aber es lohnte sich. Der Sold war sowieso bedeutungslos. Die Regierung lieferte einem Soldaten alles, was er brauchte; ein erheblicher Teil wurde automatisch abgezogen und den lieben Angehörigen zugeschickt; das Ende des Krieges war für einen Soldaten ebenso unvorstellbar fern wie der Scheitelpunkt des Lebens. Man hatte mir gesagt, das voll besetzte Boot würde um neun Uhr Fall River erreichen, wo die Passagiere für Boston und den Norden an Land gehen mußten. Die Passagiere für Newport sollten um sechs Uhr früh aussteigen. Ich hatte keine Eile, zu Bett zu gehen, und nachdem ich meine Blaubeertorte mit Eiscreme verzehrt hatte, setzte ich mich an einen Tisch in der Bar und bestellte mir noch ein Glas Ersatzbier.

Am Nebentisch zankte sich ein elegant angezogenes Paar, ich saß mit der Frau Rücken an Rücken. Um diese Zeit führte ich — als Gegengewicht zu der einförmigen Arbeit auf Fort Adams — bereits emsig Tagebuch, und so skizzierte ich in Gedanken gerade einen Reisebericht. Ich habe keinerlei Bedenken, Unterhaltungen in der Öffentlichkeit zu belauschen, und dieser hier hätte ich nur durch einen Platzwechsel entgehen können.

Der Mann hatte wahrscheinlich getrunken, aber er sprach noch deutlich. Ich gewann den Eindruck, daß er »außer sich« war, mit einem Wort: verrückt. Seine Frau saß sehr gerade da, sie bemühte sich, ihn gleichzeitig zu beschwichtigen und zu ermahnen. Sie schien am Ende ihrer Kraft zu sein.

»Du hast seit Jahren dahintergesteckt. Du hast sie die ganze Zeit gegen mich aufgehetzt.«

»Edgar!«

»All dies Gerede, daß ich an Magengeschwüren leide. Ich habe keine Magengeschwüre. Du hast mich vergiften wollen. Du steckst mit meiner Familie unter einer Decke.«

»Edgar! Ich habe in den letzten drei Jahren deine Mutter und deine Brüder nur selten gesehen, und nur in deiner Gegenwart.«

»Du telefonierst mit ihnen. Sobald ich das Haus verlasse, rufst du sie jede Stunde am Tag einmal an … Du hast mich aus diesem verdammten Club rausschmeißen lassen.«

»Ich weiß nicht, wie eine Frau das fertigbringen sollte.«

»Du bist gerissen. Du bringst alles fertig.«

»Du hast Mr. Cleveland persönlich beschimpft, den Vizepräsidenten des Clubs, vor allen Leuten. Bitte geh zu Bett und schlaf dich aus. Wir müssen in sieben Stunden das Schiff verlassen. Ich werde hier noch etwas sitzen bleiben und dann leise in die Kabine kommen, wenn du eingeschlafen bist.« Eine Frau hatte sich ihnen genähert. »Sie können schlafen gehen, Toinette. Ich brauche Sie erst wieder, wenn das Schiff für die Landung tutet.«

Anscheinend zögerte Toinette, mit leisem Nachdruck sagte sie:

»Ich muß noch etwas nähen, Madame. Das Licht ist hier besser. Ich setze mich noch für ein Stündchen bei der Schiffskapelle hin. Übrigens habe ich gehört, daß für heute nacht schlechtes Wetter angesagt ist. Ich bin in Kabine 77, falls Sie mich brauchen sollten.«

Der Mann sagte: »So ist’s richtig, Toinette. Teil dem ganzen Schiff deine Kabinennummer mit.«

»Edgar, morgen früh wirst du dich bei Toinette entschuldigen. Du vergißt immer wieder, daß du ein Gentleman bist — der Sohn von Senator Montgomery.«

»Weiber! Weiber! Anschuldigungen! Verdächtigungen! Nörgeleien! Ich halte es nicht mehr aus! Du kannst hier ruhig sitzen bleiben, bis das Schiff absinkt. Ich gehe zu Bett und verriegele die Tür. Ich werde dir dein Reisenecessaire auf den Korridor legen. Du kannst bei Toinette schlafen.«

»Toinette, hier ist mein Kabinenschlüssel. Würden Sie bitte meine Toilettensachen einpacken? Edgar, bitte bleib hier, bis Toinette meine Sachen geholt hat. Ich werde auch kein Wort mehr sagen.«

»Wo ist dieser Kellner? Ich will zahlen! Kellner! Kellner! — Was machst du mit meinem Portemonnaie?«

»Wenn ich mir eine andere Kabine nehmen soll, brauche ich etwas Geld. Ich bin deine Frau. Ich werde auch die Rechnung hier bezahlen.«

»Halt! Wieviel holst du dir raus?«

»Ich werde vielleicht den Zahlmeister bestechen müssen.«

Edgar Montgomery stand auf und spazierte schlecht gelaunt durch den Speisesaal. Ich konnte flüchtig sein dunkles, zerquältes Gesicht sehen. Er hatte einen sogenannten »Trauerweiden«-Schnurrbart. Er warf einen Blick in das Spielzimmer und die Aufenthaltsräume (scharlachroter Damast und vergoldete Spiegel!).

Toinette kehrte mit dem Reisenecessaire zurück. Ich drehte mich um und sah sie die große Treppe herunterkommen. Sie trug, so schien es mir, die Winterkleidung der französischen Hausmädchen: ein enganliegendes Jäckchen mit Rock aus marineblauem Wollstoff, wozu wahrscheinlich ein weites, wallendes Cape gehörte; die Ränder waren mit schwarzer Borte »eingelegt« (ist das der richtige Ausdruck?). Wer Schlichtheit zu schätzen wußte, fand Toinette äußerst elegant. Aber noch mehr begeisterte mich ihr Gang. Mit einundzwanzig besaß ich noch keine großen Erfahrungen auf diesem Gebiet. Ich hatte als Sechzehnjähriger »La Argentina« mit ihrer Truppe in San Francisco tanzen sehen, und in meiner New-Haven-Zeit Geld gespart, um den spanischen Tanz kennenzulernen — die spanischen Frauen mit ihrem »Rückgrat aus Stahl«, wie ich es nannte, mit dem »Gang einer Tigerin« und der »Rühr-mich-nicht-an«-Arroganz gegenüber dem Partner. Toinette kam jene Treppe herunter, ohne auf ihre Füße zu schauen, ohne ihren waagrechten Blick zu senken. Olé! Was für eine Haltung!

»Madame«, sagte sie mit leiser Stimme, »ich lasse Ihnen gern meine Kabine. Es ist ja nicht für lange, und ich bin schon oft die ganze Nacht aufgeblieben.«

»Das kommt nicht in Frage, Toinette. Wollen Sie hier bei meinen Sachen bleiben, solange ich mit dem Zahlmeister verhandle? Die Reise war ein Fehler. Der Arzt und ich glaubten an seine Besserung. Toinette, kümmern Sie sich nicht um mich. Sie gehen zu Bett, wenn Sie müde sind.«

Einen Augenblick schien Mr. Montgomery sich den beiden Frauen nähern zu wollen, dann überlegte er es sich anders und stieg die große Treppe hinauf. Einige Kabinentüren führten offenbar sowohl auf das Deck als auch auf den Gang. Er verschwand in seiner Kabine und machte energisch die Tür hinter sich zu.

Toinette flüsterte Mrs. Montgomery etwas ins Ohr.

»Das ist erledigt, Toinette. Ich tat, was der Arzt mir geraten hat, ich nahm die Dinger heraus und lud statt dessen Platzpatronen in die Kammer.«

Mrs. Montgomery saß schweigend da, dann drehte sie sich um, unsere Blicke trafen sich kurz. Eine sehr hübsche Frau. Nach einer Pause drehte sie sich wieder um und sagte zu mir: »Sergeant, haben Sie eine Einzelkabine?«

»Ja, gnädige Frau«, sagte ich und erhob mich zackig und militärisch.

»Ich zahle Ihnen dreißig Dollar dafür.«

»Ich werde die Kabine sofort räumen und Ihnen den Schlüssel geben, aber ich verzichte auf das Geld. Ich hole nur mein Gepäck und bin sofort wieder da.«

»Halt! Das kann ich nicht annehmen!«

Sie stieg die Treppe zum Büro des Zahlmeisters hinunter. Ich drehte mich um und sah zum erstenmal Toinettes Gesicht aus nächster Nähe — ein faszinierendes, dreieckiges Gesicht, zweifellos am Mittelmeer beheimatet; dunkle Augen, dunkle Wimpern und dazu ein Ausdruck ironischer Verzweiflung über die unglücklichen Umstände, die uns hier zusammengeführt hatten.

»Gnädigste«, sagte ich, »wenn ich Ihnen den Schlüssel zu meiner Kabine gebe, wird Madame wahrscheinlich den Ihren annehmen. Ich habe ein paar Freunde auf dem Schiff. Sie bleiben die ganze Nacht auf und fragten mich, ob ich mit ihnen Karten spiele. Ich habe das schon oft gemacht.«

»Corporal, wir müssen jene Leute sich auf ihre Art debrouillieren lassen.«

»Mr. Montgomery macht mir nicht den Eindruck eines erwachsenen Mannes.«

»Reiche Jungen werden nie wirklich erwachsen — oder nur selten.« Ich zuckte zusammen. Man hatte mich seit Jahren vor Verallgemeinerungen gewarnt. Ich war aber bereit, sie in Toinettes Fall zu überdenken.

»Sagen Sie, war nicht eben von Revolvern die Rede?«

»Darf ich fragen, wie Sie heißen, Sir?«

»North, Theodore North.«

»Ich bin Mrs. Wills. Kann ich Sie ins Vertrauen ziehen, Mr. North?«

»Ja, Gnädigste.«

»Mr. Montgomery hat immer mit Revolvern herumgespielt. Meines Wissens hat er zwar nur auf Pappschießscheiben geschossen. Er glaubt, daß er Feinde hat. Darum liegt ein Revolver in seiner Nachttischschublade, wie bei allen reichen Jungen. Mr. Montgomery hat von Zeit zu Zeit einen kleinen Nervenzusammenbruch. Vorige Woche riet der Arzt Mrs. Montgomery, die Kugeln durch Platzpatronen zu ersetzen. Sie sind fast geräuschlos — Korken mit Federn, glaube ich. Er ist heute abend etwas gestört, so läßt es sich wohl am besten ausdrücken. Wenn Mrs. Montgomery durchaus aufbleiben will, werde ich auch aufbleiben.«

»Und ich auch«, sagte ich kurz entschlossen. »Entschuldigen Sie, Mrs. Wills, wie geht es Ihrer Ansicht nach jetzt weiter?«

»Er wird wohl nicht schlafen, vielleicht kommt er nach einer halben Stunde wieder zur Vernunft, und dann schämt er sich, weil er seine Frau aus der Kabine geworfen hat. Auf jeden Fall wird er sich noch einmal ansehen, was er mit seinem Gebrüll angerichtet hat. Früher oder später bekommt er einen Nervenzusammenbruch — Tränen, Zerknirschung. Männer wie er sind abhängig. Er wird sich eine piqûre geben lassen. Wissen Sie, was eine piqûre ist?«

»Eine Injektion.«

»Für all dies gibt es bei uns einen beschwichtigenden Namen. Wir nennen eine Injektion Schlummerhilfe.«

»Wer gibt sie ihm?«

»Fast immer Mrs. Montgomery.«

»Sie müssen ein aufregendes Leben führen, Gnädigste.«

»Nicht mehr lange. Ich habe Mrs. Montgomery meine vierzehntägige Kündigung eingereicht. Während unseres Aufenthalts in New York habe ich mich nach neuen Möglichkeiten umgeschaut.«

»Ich setze mich so, daß ich sehe, wenn er aus der Tür tritt. Ist er wirklich derart gestört? Dann können wir uns auf etwas gefaßt machen. Bitte wählen Sie Ihren Platz so, daß Sie ihn auch gleich sehen — und zugleich mich.«

»Gut. Sie sind ein Organisator, Corporal.«

»Das habe ich noch gar nicht gemerkt. Aber vielleicht stimmt es. Zumindest jetzt, da Sie in eine solche Angelegenheit verwickelt sind. Auch Platzpatronen können Unheil anrichten.«

Ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. Unsere Augen trafen sich immer wieder und tauschten kleine, funkelnde Grüße aus. Ich ließ einen Versuchsballon aufsteigen. »Ihr Mann freut sich gewiß, daß Sie diese für Sie so unangenehme Stellung aufgeben.«

»Mein Mann? Das gehört ebenfalls zu den Angelegenheiten, die ich letzte Woche in New York geregelt habe. Ich setzte ihn auf ein Schiff nach England, er hatte Heimweh nach London. Da er Amerika nicht liebte, begann er zu trinken. Die Fehler, die wir machen, können uns nichts anhaben, Corporal, wenn wir ihre Ursachen bis ins letzte verstanden haben.«

Ich verlor mein Mißtrauen gegenüber Verallgemeinerungen.

Mrs. Montgomery tauchte wieder auf. Offensichtlich hatte sie mit ihren Bemühungen keinen Erfolg gehabt. Ich bot ihr noch einmal meinen Kabinenschlüssel an. »Auf Fort Adams wird jeden Sonnabend die ganze Nacht hindurch gespielt, ich habe mich schon oft daran beteiligt.«

Sie sah mich fest an. »Möchten Sie Karten spielen?«

»Sehr gern. Einige Freunde von mir sitzen nebenan. Wenn Mrs. Wills mitmacht, brauchen wir nur einen von ihnen zu fragen.«

»Ich spiele nicht, Corporal North«, sagte Toinette.

»Für zwei von meinen Freunden wäre es aber ein großes Vergnügen, mit einer Lady zu spielen.«

»Corporal, ich bin Mrs. Montgomery. Mein Mann hatte in letzter Zeit einige Sorgen. Wenn ich sehe, daß er verstimmt ist, lasse ich ihn allein, damit er sich ausruht.«

»Ich hole die Karten und die Mitspieler, Mrs. Montgomery. Ich schlage eine Partie Bridge mit niedrigen Einsätzen vor. Wenn Soldaten aus dem Urlaub zurückkommen, haben sie gewöhnlich nicht viel Geld in der Tasche.«

Ich wollte verhindern, daß Mrs. Montgomery übers Ohr gehauen würde.

»Sie sind sehr liebenswürdig, Corporal.«

Ich brauchte Männer, für die es ein Genuß war, mit einer Lady zu spielen. Aus meiner Uniformtasche grub ich zwei Zehn-Dollar-Scheine. »Keine hohen Einsätze, Kameraden, es ist der reine Zeitvertreib. Der Gatte dieser Dame ist nicht ganz richtig im Kopf, aber ungefährlich. — Mrs. Montgomery, darf ich vorstellen: dies ist Sergeant Norman Sykes. Er kehrte verwundet aus Europa zurück und stellt jetzt hier neue Kader zusammen. Dies ist Corporal Wilkins, Bibliothekar in Terre Haute, Indiana.«

Unauffällig setzte ich mich so, daß ich die Montgomery-Kabine im Auge behalten konnte, und plazierte Mrs. Montgomery zu meiner Linken. Mit einer leichten Drehung des Kopfes konnte sie ihre Kabinentür sehen — sie hat, soweit ich feststellen konnte, nicht einmal dort hingeschaut. Sie war charmant, der Sergeant war auch charmant. Wilkins holte saubere Karten.

»Aus welchem Staat kommen Sie, Sergeant Sykes?«

»Ich bin eine Wildkatze aus Tennessee. Die Schule hat mich nicht weiter interessiert, aber mit sechs las ich die Bibel. Ich bin Berufssoldat. In der Schulter sitzt mir ein Stück Stahl, doch die Armee hat Arbeit für mich. Zu Hause habe ich drei kleine Wildkatzen. Kinder müssen gefüttert werden, wie Sie wahrscheinlich wissen … Ich habe das Glück gehabt, die klügste und hübscheste Lehrerin von Tennessee zu heiraten.«

»Ich glaube, das Glück war auf beiden Seiten, Sergeant.«

»Das haben Sie schön gesagt, gnädige Frau. Wir haben etliche Montgomerys in Tennessee, die alle so schön reden können.«

»Das trifft auf die Montgomerys von Newport leider kaum zu.«

»Manche lernen es nie«, sagte der Sergeant.

»Wie wahr!«

Wilkins kam mit sauberen Karten zurück, und wir vertieften uns in unser Spiel. Toinette und ich tauschten von Zeit zu Zeit Blicke. Sie war damit beschäftigt — vielleicht auch nur zum Schein —, einen Rock auszubessern oder zu ändern.

Keiner von uns beiden verpaßte den Augenblick, da Mr. Montgomery in einem samtenen burgunderroten Smokingjackett aus der Tür trat. Er sah einen Augenblick hinunter auf unsere fröhliche Viererrunde. Nichts reizt einen Grobian mehr als der Anblick von Menschen, die ohne ihn glücklich sind. Dies ist eine Verallgemeinerung für Sie, mein Leser. Ich hätte schwören können, daß Mrs. Montgomery ihren Mann ebenfalls bemerkt hatte. Sie sagte laut: »Drei ohne Trümpfe! Sergeant, wir müssen uns zusammennehmen!«

»Gnädige Frau«, sagte der Sergeant, »ich muß mich erst anwärmen. Aber dann werden wir ihnen die Hemden ausziehen. Entschuldigen Sie bitte diese Redewendung.«

Mr. Montgomery ging oben langsam die Galerie entlang und stieg ebenso langsam die große Treppe herunter. An der Bar bestellte er ein Glas, langte in die eine Tasche, dann in die andere und zog ein Fläschchen hervor. Er goß sich etwas in das Glas und setzte sich damit an einen Tisch, das Gesicht mit einem düsteren Ausdruck uns zugewandt. Ich sagte mir: »Gleich macht er eine Dummheit.«

Die meisten Passagiere waren in ihren Kabinen verschwunden; nur an der Bar lärmte noch eine Gruppe von Nachtschwärmern. Die Schläge der Schiffsglocke waren deutlich zu vernehmen.

»Mitternacht«, sagte der Sergeant.

»Mitternacht«, sagte ich.

Ich warf Toinette einen Blick zu. Noch immer lächelnd, spielte sie mir eine sonderbare Pantomime vor. Sie beugte sich nach rechts, als ob sie gleich vom Stuhl fällen würde, und ließ dann ihr Nähzeug aus der Hand sinken. Ich begriff sofort, was sie meinte.

»Sie sind dran, Corporal North«, sagte Mrs. Montgomery.

Wir spielten weiter, kurz danach griff Mr. Montgomery langsam in die rechte Tasche. Seine Frau erhob sich. »Entschuldigen Sie mich, meine Herren. Ich muß mit meinem Mann sprechen.«

In diesem Augenblick schoß er. Ein Korken schlug an meine rechte Schulter und fiel vor mir auf den Tisch.

Ich sank vom Stuhl und lag tot am Boden.

»Edgar!« schrie Mrs. Montgomery.

»Corporal!« schrie Toinette und stürzte zu mir. »Er ist verwundet! Corporal! Corporal! Können Sie mich hören?«

Mr. Montgomery krümmte sich schwer atmend und erbrach sich. Der Sergeant ging mit langen Schritten zu ihm hinüber, entriß ihm den Revolver, öffnete das Magazin und ließ die Korken auf den Tisch fallen.

»Blindgänger«, sagte er, »gottverdammte Blindgänger.«

Toinette schlug mir auf die Wangen. »Corporal, können Sie mich hören?«

Ich setzte mich auf. »Ich glaube, es war nur der Schock, gnädige Frau«, sagte ich strahlend.

Der Barkeeper ließ das Kinn hängen, es pendelte wie ein Schnapssack hin und her. Die Nachtschwärmer an der Bar hatten nichts bemerkt.

Mrs. Montgomery beugte sich über ihren Mann. »Edgar, du bist müde. Wir sind beide müde. Es war ja eine angenehme Reise — nur ein bißchen anstrengend. Du bist einfach fabelhaft gewesen. Und jetzt solltest du eine kleine Schlummerhilfe haben. Morgen früh ist alles längst vergessen. Sag unseren Freunden hier gute Nacht. Barkeeper, reichen fünf Dollar, um die Rechnung meines Mannes zu bezahlen? Hier Sergeant, nehmen Sie dies als meinen Anteil an unseren Verlusten. Wenn es zu viel ist, spenden Sie den Rest im nächsten Gottesdienst.«

Mr. Montgomery hob den Kopf und schaute blinzelnd umher. »Was ist passiert, Martha? Ist jemand verletzt worden?«

»Corporal North, wollen Sie bitte den anderen Arm von Mr. Montgomery nehmen? Ich kann das Necessaire schon tragen, Toinette, ich brauche Sie nicht mehr. Edgar, laß die Flasche hier. Laß sie den Herren, die so liebenswürdig waren, mit mir Bridge zu spielen.«

Mr. Montgomery stieß meinen Arm weg. »Lassen Sie mich bitte in Ruhe, Sir … Martha, was ist passiert?«

»Du und deine Schuljungenwitze. Wir haben uns totgelacht … Geh nach rechts, Edgar … Nein, die andere Tür … Gute Nacht, meine Herren. Vielen Dank!«

»Ich will seinen Revolver nicht«, sagte der Sergeant, »und auch seinen Alkohol nicht. Ich bin Temperenzler.«

»Ich auch«, sagte Corporal Wilkins.

»Ich gebe ihm die Sachen morgen früh zurück«, sagte Toinette und warf beides in ihren Nähbeutel.

Der Corporal fegte die Platzpatronen zusammen und sagte zum Sergeanten: »Wir sollten von hier abhauen, bevor sie uns ausfragen.«

Der Barkeeper mußte wohl auf den Alarmknopf für den Nachtwächter gedrückt haben. Die beiden Männer näherten sich dem Tisch, an dem Toinette und ich Platz genommen hatten.

»Was war das für ein Krawall?«

»Ach, das meinen Sie«, sagte ich lächelnd, »ein Passagier hat sich einen dummen Witz erlaubt. Mit einer schwarzen Gummi-Fledermaus. Wollte die Damen damit erschrecken. Barkeeper, bitte noch zwei Sodawasser.«

»Jede Nacht eine andere Verrücktheit«, brummte der Nachtwächter und verschwand.

Da saßen wir nun einander gegenüber und sahen uns über den Tisch hinweg in die Augen. Schöne Augen können mich um den Verstand bringen, aber die von Mrs. Wills waren in mehrfacher Hinsicht auch ungewöhnlich. Erstens hatte ihr rechtes Auge einen leichten Silberblick — den manche Leute fälschlich als »Fehler« bezeichnen; zweitens konnte niemand die Farbe genau bestimmen, drittens war der Blick tief und ruhig und amüsiert. Wenn ich in einem Augenpaar versinke, bin ich nicht mehr Herr meiner Worte.

»Bitte, welche Farbe haben Ihre Augen?«

»Einige nennen sie blau am Morgen und nußbraun am Abend.«

Hände können mich fast ebenso stark faszinieren. Später sollte ich erfahren, daß Toinette fünf Jahre älter war als ich. Ihre Hände deuteten auf harte Arbeit in früher Jugend hin — Fußboden scheuern, Teller abwaschen —, bei Unterernährung und schlechter Behandlung. Sie hatte diese Prüfungen an Leib und Seele bestanden; sie war durch das Leiden hindurchgekommen. In den Augen der Freundschaft und der Liebe wirkten ihre rauhen Hände vergeistigt. Toinette versuchte nicht, sie zu verbergen.

»Verzeihen Sie meine Fragerei — sind Sie Engländerin?«

»Ich glaube. Man hat mich gefunden.«

»Gefunden?«

»Ja, in einem Korb.«

Ich war so entzückt darüber, daß ich auflachte. »Haben Sie irgendeine Idee?«

»Theodore, denken Sie doch einmal nach. Ich war kaum eine Woche alt. Kennen Sie Soho?«

»Das Künstlerviertel von London, mit den vielen ausländischen Restaurants? Ich war nie dort.« Bestürzt sah ich ein Waisenhaus vor mir, eine Spülküche. Wie Henry war sie von den untersten Schichten Londons aufgestiegen, aber ihren Akzent hatte sie, im Gegensatz zu Henry abgelegt. Sie sprach das Englisch einer »Lady« mit der leisen Andeutung, sich einer Fremdsprache zu bedienen. (Ich vermutete, daß sie in einem Friseursalon, vielleicht auch beim Theater gearbeitet hatte und wußte, was es heißt, von diesem oder jenem protegiert zu werden — bis ihr ausgeprägter Drang nach Unabhängigkeit die Oberhand gewann; und sie lernte schnell.)

Ein feiner Golddraht verband ihre Augen mit den meinen; Impulse wurden hin- und zurückgeleitet. Wir hatten die gefalteten Hände vor uns auf den Tisch gelegt wie brave Kinder in der Schule. Meine Hände näherten sich den ihren, ohne sie zu berühren.

»Ich glaube, ich bin halb jüdischer und halb irischer Abstammung.«

Wieder platzte ich vor Lachen. »Eine großartige Mischung für ein Waisenkind. Sie erben von beiden Seiten das Beste, ohne sich gute Ratschläge anhören zu müssen.« Der Golddraht summte. »Die guten Ratschläge sind der Fluch des Familienlebens.« Wer machte jetzt Verallgemeinerungen? »Darf ich fragen, was Sie Neues anfangen?«

»Ich will ein Geschäft in New York aufmachen — und später vielleicht auch in Newport. Kleinigkeiten für Frauen, keine Kleider, keine Hüte, sondern einfach hübsche Kleinigkeiten. Das wird ein großer Erfolg.« Sie betonte nicht das Wort »groß«; es würde ganz selbstverständlich ein großer Erfolg, und damit basta. Ich lernte von ihr sofort dieses Kennzeichen der Reife.

»Wie werden Sie Ihr Geschäft nennen?«

Meine Fingerspitzen erreichten den Knöchel ihrer Hand.

»Ich weiß nicht. Ich will meinen Namen ändern, vielleicht in einen so einfachen wie Jenny. Alles in meinem Laden soll einfach und doch vollkommen sein. Es kann sein, daß in den ersten Wochen kein Mensch etwas kauft, aber die Leute werden wiederkommen und es sich noch einmal ansehen.«

Sie hob das Glas an die Lippen. Dann legte sie ihre Hand wieder auf den Tisch, wo sie die meine berührt hatte.

»Und was machen Sie, Mr. North?«

»Ich studiere. Nach dem Krieg gehe ich auf die Universität zurück.«

»Was studieren Sie hauptsächlich?«

»Sprachen.«

»Sie haben nette Freunde. Sind viele auf Fort Adams wie sie?«

»Ja. Aus irgendeinem Grund wurden wir nicht nach Europa geschickt. Meine Augen sind in Ordnung, aber nicht gut genug für den Krieg.«

Die Finger meiner rechten Hand waren jetzt mit denen ihrer linken verflochten.

Sie fragte: »Was fangen Sie mit ihrem Sprachstudium an?«

Sie ergriff meine unruhige Hand, legte sie flach auf den Tisch und ihre darüber, um mich still zu halten.

»Vorgestern in New York hätte es mich beinah erwischt. Ein Cousin meiner Mutter importiert Seide aus China. Großes Büro. Tippmädchen rennen auf Zehenspitzen umher wie geprügelte Mäuschen. Er hat mir einen Job angeboten, den ich nach meinem Studium antreten soll. Er sagt, der Krieg ist in einem Monat zu Ende. Ich kann also 1920 promovieren. Er ist Schotte und meint jedes Wort, das er sagt. Er hat mir versprochen, daß ich in fünf Jahren fünftausend Dollar pro Jahr verdienen würde. Ich habe genau drei Minuten mit der Versuchung gekämpft. Dann dankte ich ihm, wie es sich gehört. Auf der Straße jagte ich den New Yorkern einen Schreck ein, indem ich brüllte: ›Ein Büro! Ein Büro!‹ — Nein, ich kann auch Geld verdienen, ohne vierzig Jahre auf einem Stuhl zu hocken …«

»Theodore, nicht so laut!«

»Ich will Schauspieler werden oder Arzt oder Forscher oder Löwenbändiger! Ich kann immer Geld verdienen. Ich will Millionen Gesichter sehen — Millionen Gesichter lesen.«

»Pst! Pst!«

Ich sagte leiser: »Ich habe wohl bereits eine Million gelesen, wie Sie auch.«

Sie lachte innerlich.

»Aber Sie sind ein neues Gesicht, Miß Jenny. Wenn ein Mann lange reist, entdeckt er zufällig die Bucht von Neapel oder den Chimborasso oder etwas anderes. Er wird auf eine Überraschung stoßen wie Mr. Montgomery … oder auf eine ganz große Überraschung wie Miß Jenny«, und ich beugte mich herunter und küßte ihre Hand. Ich küßte sie wieder und immer wieder.

Der Barkeeper verkündete laut: »Meine Damen und Herren, die Bar wird in fünf Minuten geschlossen. Wir dulden dieses Benehmen hier nicht, Corporal. Ich habe doch deutlich ›Damen und Herren‹ gesagt.«

Ich erhob mich vornehm und sagte »Mir gefällt der Ton nicht, in dem Sie mit mir reden, Barkeeper. Ich bin mit dieser Dame seit fünf Jahren verheiratet. Ich verlange, daß Sie sich auf der Stelle bei meiner Frau entschuldigen, oder ich werde mich über Sie bei meinem Cousin Mr. Pendleton beschweren, dem Reiseagenten dieser Linie.«

Sogar die Nachtschwärmer hörten zu.

Der Barkeeper sagte: »Ich habe Sie nicht beleidigen wollen, meine Dame, aber ich bin bereit jedem, auch Mr. Pendleton, mitzuteilen, daß um Ihren Mann herum immer etwas schief geht. Noch vor zwanzig Minuten hat er hier tot am Boden gelegen.«

Mrs. Wills sagte: »Ich danke Ihnen, Barkeeper. Ich finde, man sollte unseren Soldaten Verständnis entgegenbringen in der kurzen Zeit ihres Urlaubs, nachdem sie jenseits des Meeres ihr Leben für uns aufs Spiel setzen.«

Die Nachtschwärmer applaudierten.

Sie erhob sich, das Glas in der Hand, und sagte strahlend: »Mein Mann ist ein Genie. Er spricht zwölf Sprachen besser als Englisch.«

Mehr Applaus. Ich legte den Arm um mein teures Weib und brüllte: »Irokesisch! Chocto!«

»Eskimo«, schrie sie.

»Jabberwockisch!«

»Mulligatonisch!«

Rufe wurden laut. »Gebt ihnen einen Drink!« … »Sprecken Sie Doytsch?« … »Ich lieben chinesisch Mädchen, sie mich lieben.«

Mit Erfolg überschüttet, setzten wir uns wieder, ein Bild rührender Gattenliebe und ehelichen Stolzes.

Plötzlich griffen jedoch Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung ein. Mit einem Südwester auf dem Kopf erschien oben auf der Treppe der Nachtwächter und schwang eine Hurrikanlampe in der Hand. Er hatte wohl als Junge die öffentlichen Ausrufer erlebt und legte nun seine ganze Seele in die Worte: »Meine Damen und Herren, bitte einen Augenblick Ruhe! Soeben wurde per Funk verkündet, daß der Krieg zu Ende ist. Der Waffen … Waffenstillstand ist schon unterzeichnet. Der Kapitän hat mich ersucht, es allen im Salon zu melden, aber keinen zu wecken, der schon zu Bett gegangen ist. Das Meer ist stürmisch und das Schiff wird in Newport und Fall River vielleicht Verspätung haben. Tommy, der Kapitän sagt, die Schifffahrtsgesellschaft spendiert hier unten jedem einen Drink. Ich muß jetzt in den Maschinenraum.«

Nun brach die Hölle aus. Die Nachtschwärmer warfen mit Porzellan und Gläsern um sich. Spucknäpfe, zu schwer, um als Wurfgeschosse zu dienen, wurden wie Räder durch den Saal gerollt. Die Kartenspieler drängten in die Bar.

»Jenny«, sagte ich.

»Was?«

»Jenny, wir müssen zusammenbleiben.«

»Ich habe dich nicht verstanden. Was hast du gesagt?«

»Doch, du hast mich verstanden! Du hast mich verstanden!«

»Wie kannst du nur auf so etwas kommen?«

»Jenny!«

»Man erlebt nicht jeden Tag das Ende eines Krieges. Ich bin in Kabine 77. Komm in zehn Minuten. Ich habe den Wecker auf fünf Uhr dreißig gestellt.«

Ich wirbelte sie durch die Luft. Als sie mit den Füßen wieder auf dem Boden stand, ging sie hinunter zu den für das Dienstpersonal reservierten Kabinen. Ich stieg die Treppe hinauf und packte meine Sachen.

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»Charmes d’amour, qui saurait vous peindre?« begann Benjamin Constant, als er eine ähnliche Begegnung beschrieb. »Zauber der Liebe, wer könnte ihn malen?« Die Generosität der Frau, die kühne Zärtlichkeit des Mannes — unendlicher Dank an die Natur, daß sie sich uns offenbart, nicht ohne an den Tod, den akzeptierten Tod, zu erinnern, der allem ein Ende setzt und doch mit dem Leben verbunden ist in der Kette des Seins, vom Meer unseres Ursprungs bis zu der letzten, endgültigen Kälte. »Charmes d’amour, qui saurait vous peindre?«

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Sie mußte den Wecker sofort abgestellt haben, denn ich hatte nichts gehört. Als das Tuten des Schiffes mich endlich weckte, war sie mit ihren Sachen bereits verschwunden. Auf dem Spiegel stand mit Seife geschrieben: »Bleib, wie du bist.« Ich zog mich an und wollte schon aus der Tür gehen, da warf ich mich noch einmal auf das Bett und vergrub meinen Kopf in die Kissen, allein und nicht allein.

Ich verließ beinahe als letzter das Schiff. Vom Landungssteg aus bot sich mir ein seltsames Bild. Auf dem Washington Square brannte ein großes Freudenfeuer. Darum herum tanzten Hunderte von Männern und Frauen und Kindern, die sich hastig angekleidet hatten, nebst einer Meute aufgeregter Hunde. »Der Krieg ist aus! Der Krieg ist aus!« Jeder in der Neunten Stadt küßte und umarmte jeden, bevorzugt wurden die wenigen Soldaten, die vom Schiff an Land gingen oder aus dem Ausbildungslager in die Stadt gekommen waren. Möglicherweise umarmten und küßten mich damals schon die Materas und die Avonzinos, Mrs. Keefe und die Wentworths und Dr. Addison, aber es war November 1918, ich kannte also nicht mehr als sieben Zivilisten in allen Neun Städten. Alle Fahrzeuge der Newporter Feuerwehr rasten in einem Zustand ekstatischer Nutzlosigkeit in der Stadt hin und her. In dem Park, in dem ich später Alice zum letztenmal sehen sollte, mischten sich sporadische Gottesdienste mit skandalösen Orgien. Eine empörte Menge stürmte »Nicolaidas Nachtcafé«, nachdem sich herausgestellt hatte, daß Kaffee und Würstchen ausverkauft waren. Leser, es war ein herrlicher Morgen.

Nein, ich war doch nicht der letzte, der das Schiff verließ. Ich beobachtete, wie Mr. Montgomery, in wenigen Stunden um dreißig Jahre gealtert, sehr unsicheren Schrittes auf seinen Arzt, seinen Diener und zwei Chauffeure zuging. Seine Frau setzte sich neben ihn. Sie nahm sich, ganz in Schwarz, in der Tat recht hübsch aus. In den zweiten Wagen wurde so viel Gepäck eingeladen, daß Toinette auf dem Schoß des Dieners sitzen mußte.

Ich löste mich aus den Armen einer dankerfüllten Bevölkerung und machte mich im Licht des anbrechenden Tages auf den Weg nach Fort Adams; die zwei Meilen kamen mir als der längste Marsch meines Lebens vor. Beim Appell stellte sich heraus, daß neunzig Prozent der Soldaten ohne Urlaub fehlten.

Dies war der berühmte »Falsche Waffenstillstand«.

An Disziplin war nicht mehr zu denken. In den noch verbleibenden Tagen bis zum offiziellen Kriegsende gab das Hauptquartier provisorische Entlassungsscheine aus. Ich hatte Zeit, mich um meine Abreise zu kümmern und mich zu rüsten für einen Frieden ohne Ende und den Ernst des Lebens. Ich machte keinen Versuch, die Verbindung mit dem Montgomery-Haus aufzunehmen, da dort vermutlich dasselbe Chaos herrschte wie um mich herum.

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So folgte mir also beinahe acht Jahre später nicht Toinette, nicht Jenny, sondern Edweena Wills aus Tante Liselottes Zimmer und fand mich eingeschlafen auf der Treppe, zwischen dem zweiten und dritten Stockwerk.

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Der Sommer ging zu Ende. Viele »Schüler« von mir machten Pläne für den Herbst und gaben ihren Unterricht auf. Ich begrüßte es, daß ich mehr Zeit für mich hatte und verbrachte in meiner Wohnung lange, fruchtbare Stunden über meinem Tagebuch. Ich vollendete die »Portraits«, jene Seiten, die mein Gedächtnis auffrischten, als ich jetzt, viele Jahre später, bei der Abfassung dieses Buches darauf zurückgriff. Ich hatte viel gearbeitet, und es fiel dem »Professor« nicht schwer, sich den Einladungen seiner »Schüler«, so nett sie auch gemeint waren, zu entziehen.

Ich traf Edweena und Henry beinahe täglich. Sie wollten heiraten, sobald Mr. Wills sich in London mit dem Geld, das seine Frau ihm noch immer schickte, zu Tode getrunken hatte. Ich liebte Edweena, ich liebte Henry, und ich bin stolz, daß auch sie mich liebten. Weder Edweena noch ich spielten je auf unsere frühere Beziehung an, nicht einmal, wenn wir allein waren. Sogar Mrs. Cranston, der sonst wenig entging, ahnte nichts. Edweena war inzwischen zu Wohlstand gelangt. Ihre beiden Geschäfte in New York und Newport waren ein großer Erfolg. Ihren tüchtigen und von ihr angelernten Verkäuferinnen hatte sie soeben die Geschäftsführung anvertraut, da sich ihr eine befriedigendere und auch einträglichere Karriere eröffnete, für die sie allerdings keinen Namen wußte. Natürlich war Edweena glücklich, als ich ihr (aus meinem Fundus von »zwölf Sprachen«) den Ausdruck »arbitrix elegantiarum« zur Verfügung stellte; ich erklärte ihr, es sei »die Frau, die über die Gesetze des guten Geschmacks wacht«, wie Petronius Arbiter am Hofe Kaiser Neros. Sie nannte sich zwar noch immer »Zofe«, lehnte aber jedes Angebot ab und diente keiner Lady; diese Bezeichnung war auch viel zu bescheiden für die Rolle, die sie nunmehr in New York und Newport spielte. Kein Ball, kein Festessen ließ sich ohne Edweena im Boudoir der Damen denken. Viele Gäste brachten ihre eigenen Zofen mit, aber keine Dame war sich ihrer äußeren Erscheinung sicher, bevor Edweena ihr Placet gegeben hatte. Ihr hartnäckig durchgehaltenes Prinzip des »Nichts zuviel« hatte einen Wandel in der Kleidermode herbeigeführt. Sie gab guten Rat nur, wenn man sie darum bat; manche vornehme Dame, die in Chicago, Cleveland oder gar New York sehr selbstsicher war, segelte die große Treppe wie eine Galeone herunter, nur um zu entdecken, daß ihr Selbstvertrauen mit jeder Stufe tiefer sank, so daß sie alle Stufen wieder hinaufstieg. Wer sich seiner äußeren Erscheinung nicht sicher ist, kann Folterqualen leiden, besonders in Zeiten des Übergangs; der Barock ging jetzt in die Klassik über. Edweena hatte das Neue nicht geschaffen, aber sie spürte es »in ihren Knochen« und schwamm mit der Zeitströmung.

Indessen wachte Edweena nicht nur über den guten Geschmack. Sie war auch Zuflucht und aufmunternder Trost für jung und alt; sie wußte oder erriet alles: beginnende Hysterien, Wutausbrüche, häusliche Kräche, Zusammenstöße zwischen der Frau des Mannes und seiner Geliebten, die Todesangst von Bräuten, die zum ersten Mal die Szene hier betraten (»Kommen Sie ruhig, wenn Sie müde sind, zu mir herauf und setzen Sie sich zu mir«). Nicht lange, und Edweena erstieg die nächste Sprosse ihrer Karriere: sie wurde in den Häusern als Beraterin für Hochzeits- und Trauerkleider zugezogen, oder auch mit der Verantwortung für die gesamte Garderobe betraut. Die Arbeit machte ihr Spaß; der Lohn war beträchtlich, aber ihre Zufriedenheit beruhte auf ihrer Liebe zu Henry und der Freundschaft mit Mrs. Cranston.

Dies also war die Edweena, die ich Mitte August getroffen hatte. Ich konnte jetzt Mrs. Cranston am späten Abend häufiger besuchen. Wenn ich bei Edweenas Teestunde um vier Uhr dreißig in ihrer »Gartenwohnung« ausblieb, wurde ich gebührend getadelt. Edweena liebte Konversation, und Mrs. Cranston erschien oft bei uns, sofern es ihre Zeit erlaubte. Nachdem Edweena den Tee serviert hatte, pflegte sie sich auf dem langen Sofa auszustrecken, ihre Schulter gegen die von Henry gelehnt, der stolz und in gemessener Haltung dasaß.

Ich schwieg weiterhin über meine Erlebnisse in der Avenue. Zweifellos wußte Mrs. Cranston zum Teil Bescheid über meine Rolle bei den Bosworths, den Granberrys, den Vanwinkles — und wahrscheinlich auch bei den Skeels. Aber sie respektierte mein Schweigen. Als ich eben spürte, daß mit dem Sommer auch meine Pflichten in Newport zu Ende gingen, wurde ich mit der letzten und dringendsten Aufgabe konfrontiert: die Angelegenheit zwischen Persis und Bodo ins reine zu bringen.

Was ich wohl gemeint hatte, als ich zu Bodo sagte: »Am 29 August werden Sie in Newport sein«? Ich war einem von meinen irrationalen Impulsen gefolgt und wußte nur, daß sofort etwas getan werden mußte, und wenn es getan werden mußte, dann konnte es getan werden.

Kaum hatte Bodo Newport verlassen, begann meine Phantasie nach einer Lösung zu suchen, sogar noch im Schlaf beschäftigte sie sich damit. Hoffnung und Verzweiflung setzen ja die Phantasie in Bewegung. Von Hoffnung angeregt, geht die Phantasie jeder Möglichkeit einer Lösung nach und versucht, aus den heterogensten Teilen des Puzzle-Spiels ein Bild zusammenzusetzen. Wenn die Lösung gefunden ist, fällt es schwer, sich der einzelnen Schritte zu erinnern — so viele von ihnen entziehen sich der Kontrolle durch das Bewußtsein. Ich hatte das Gefühl, daß die Leidenschaft von Major Michaelis für russisches Roulette irgendwo dokumentiert sein müßte. Ich sah vor mir, wie Bodo nach Newport zurückkehrte, um in Mrs. Venables Haus ein »Divertissement« für den Dienstbotenball zu arrangieren. Irgendwie, so dachte ich, könnte mir Edweena bestimmt helfen.

An dem Tag nach Bodos Abreise erschien ich pünktlich zur Teestunde in der »Gartenwohnung«.

»Wir bekommen heute Besuch, Teddie … hohen Besuch sogar, Mr. Diefendorf, den Chef der Newporter Polizei. Mrs. Cranston und ich möchten etwas mit ihm besprechen. Sogar wir armen, hilflosen Frauen konnten ihm bei verschiedenen Gelegenheiten sehr behilflich sein, und er hat sich natürlich mehrfach revanchiert.«

»Liebste Edweena, bevor du von deinen Wracks und Haifischen zurückkehrtest, habe ich mir erlaubt, meinem Freund und Kumpan dich als wunderbaren Detektiv zu schildern.«

In der Tat. Es war eine haarsträubende Geschichte. Dienstboten leben immer in Todesangst, zu Unrecht ohne Zeugnis entlassen zu werden. Meist wird es ihnen mit der Begründung verweigert, sie hätten Wertgegenstände gestohlen. Wie der Leser weiß, schrecke ich vor Verallgemeinerungen zurück, aber wenn ich eine mache, dann muß sie kühn sein: Reiche Erben sind selten ausgeglichen. Sie oder ich wären auch so. Diese Menschen sehen sich als Randerscheinung der Gesellschaft, als einen kleinen Teil dieser fleißigen oder faulen, meistens hungernden, leidenden und rebellischen Welt. Die Erben werden von der Furcht heimgesucht, daß das, was sie vom Schicksal, vom Zufall oder von Gott geschenkt bekamen, ihnen auch vom Schicksal, vom Zufall oder von Gott genommen werden könnte. Sie zweifeln an ihrem Wert und neigen deshalb (mit oder ohne Grund) zu der Annahme, daß sie dem Neid (einer der häßlicheren Sünden), dem Haß oder der Lächerlichkeit ausgesetzt sind. Sie wissen, etwas ist falsch, aber wo liegt der Fehler? Wie wird es enden? So lauert unter der Oberfläche Hysterie.

Herrschaft und Dienstboten leben unter demselben Dach in enger Symbiose und erzwungener Intimität. Die kostbaren Juwelen einer Frau sind das Symbol, daß sie geliebt wird, vielleicht nur von Gott allein. Viele Damen auf der Bellevue Avenue mißtrauen dem Safe in ihrem Schlafzimmer, sie leiden unter dem »Eichhörnchenkomplex«, wie Edweena sagt. Nach einem Ball verstecken sie zu Hause ihre Smaragde und Diamanten in alten Strümpfen, hinter Bilderrahmen oder in Kandelabern und vergessen dann das Versteck (in einem Werk von Professor Freud ist mehr darüber zu lesen). Am nächsten Morgen sind die Damen außer sich. Sämtliche Dienstboten müssen sich um zehn Uhr im Speisesaal versammeln. »Ein Andenken, an dem ich sehr hänge, ist abhanden gekommen! Niemand verläßt diesen Raum, während der Butler und ich Ihre Zimmer durchsuchen. Wenn wir den Schmuck nicht finden oder wenn er bis um zwölf Uhr mittags nicht zurückerstattet wird, ist jeder von euch ohne Zeugnis fristlos entlassen, mit Ausnahme von Watson, Wilson, Bates und Miles.« In einigen Fällen haben die Damen die Polizei gerufen, die aber mit ihren »aufgeblasenen Bauernlümmeln« nicht hoch im Kurs steht. Einer der vermeintlichen Verbrecher schleicht sich manchmal aus dem Speisesaal und benachrichtigt die Polizei. Aber was kann die Polizei schon tun? Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als vor der Haustür um die Erlaubnis zu bitten, eintreten zu dürfen. Chef Diefendorf pflegt dann »Miß Edweena« zu holen, der die Damen gestatten, hereinzukommen und sich diskret an der Suche zu beteiligen. In fünf Fällen hat sie viermal den fehlenden Schmuck sehr schnell gefunden, aber eine geschlagene halbe Stunde gab sie sich »hoffnungslos« — um die arme Frau nicht zu blamieren.

Der Chef war also Edweena in mehr als einer Hinsicht verpflichtet und behandelte sie — und auch Mrs. Cranston — mit einer fast unterwürfigen Zuvorkommenheit.

Edweena sagte leise, der Besuch des Chefs habe diesmal nichts mit einem Diebstahl zu tun, sondern mit einem anderen, in der Siebenten Stadt recht häufige Vorkommnis. »Es handelt sich um Bridget Trehan, ein Hausmädchen, das von dem Herrn des Hauses belästigt wurde. Sie hat die Stelle aufgegeben, aber wir sehen eine Möglichkeit, ihrer früheren Arbeitgeberin — die vor Wut auf sie kocht — ein erstklassiges Zeugnis herauszulocken.«

»Bravo!« sagte ich bewundernd. »Edweena, wie wollen Sie übrigens den Dienstbotenball in diesem Jahr aufziehen?«

»Sie wissen doch, wie er sich abspielt.«

»Ich weiß nur, daß Mrs. Venable ihren Ballsaal zur Verfügung stellt und Sie und Henry dem Festkomitee vorstehen. Und Sie beide haben ja auch vor zwei Jahren eingeführt, daß die Sommergäste nicht mehr wie früher vom Balkon aus zusehen.«

»Teddie, ich habe keine Pläne und keine Ideen. Wir alle haben die üblichen Maskenbälle satt, die Piraten und die Zigeunerinnen mit Blumen im Haar und die Bonvivants der Jahrhundertwende. Es gibt nur noch wenige junge Dienstboten. Wir amüsieren uns alle großartig, aber wir brauchen neue Ideen. Können Sie sich nicht für uns etwas ausdenken, Teddie?«

Der Himmel schenkte mir einen Einfall. Ich schien heftig nachzudenken. »Nein, ich habe keine Idee … aber einen Traum. Euer Ball und all die anderen Bälle, von denen ich hörte, haben einen Fehler: dieselben Leute treffen sich immer wieder mit denselben Leuten am selben Ort. In Wien heißt der netteste Ball ›Fiakerball‹, da mischt sich die High Society unter die Kutscher der Stadt. Ich träume nun, daß ihr für den Anfang nur zwei Gäste von der Bellevue Avenue einladet, einen jungen Mann und eine junge Frau, die sehr gut aussehen, sehr charmant sind und sehr beliebt, weil sie Dienstboten anständig und freundlich behandeln. Ehret die beiden, und sie werden sich geehrt fühlen. Macht ihnen taktvoll klar, daß sie sich so elegant wie möglich anziehen sollen.«

»Teddie, Sie sind wahnsinnig. Die werden nicht kommen. Warum sollten sie?«

»Weil sie schon lange auf eine Gelegenheit gewartet haben, um das Personal näher kennenzulernen. Ein solcher Gentleman kommt oft zum Diner in ein Haus, in dem ich unterrichte. Ich und mein Schüler sind nicht im Speisesaal, aber ich höre, wie der Gentleman sich mit dem Diener, der ihm den Mantel abnimmt, unterhält. Und ich höre auch, wie er all die anderen Hausangestellten begrüßt. Er hat niemals die Kluft zwischen Herrschaft und Dienstboten akzeptiert.«

»Wer ist es, Teddie?«

»Eine gewisse junge Dame speist zweimal in der Woche in dem Haus, in dem euer Ball stattfinden soll, zu Abend. Das Personal kannte sie schon als Kind. Die junge Dame weiß alle Namen und erkundigt sich auch nach dem Befinden der Familienangehörigen. Sie kennt und liebt Sie sehr, Edweena, und nennt Sie nicht ›Miß Edweena‹ — jedenfalls nicht mir gegenüber —, sondern voll Zuneigung Edweena. Wer — außer Ihnen — ist die attraktivste Frau auf der Insel Aquidneck?«

»Wer ist es, Teddie? Teddie, Sie sind wie ein Junge, der Seifenblasen aufsteigen läßt. Die beiden werden nie unsere Einladung annehmen. Henry, bitte frag Teddie, wen er meint.«

»Teddie, heraus mit der Sprache. Wen meinen Sie?«

»Baron Stams und Persis Tennyson.«

Henry sah mich einen Augenblick an und schlug dann mit der Hand auf den Tisch. »Bei Gott, er hat recht. Ich dachte, er hätte Colonel Vanwinkle im Kopf, aber seine Frau würde es ihm bestimmt nicht erlauben; dazu die junge Mrs. Granberry, aber die erwartet ja ein Baby. Ich glaube zwar nicht, daß der Herr Baron und Mrs. Tennyson uns die Ehre geben, aber jedenfalls ist das der hübscheste Narrentraum, den ich je gehört habe.«

»Geben Sie mir die Erlaubnis, bei ihm vorzufühlen, oder müssen Sie erst Ihr Komitee befragen?«

»Oh, wir sind das Komitee«, sagte Edweena, »vergessen Sie nicht: Dienstboten — sowohl als Individuen wie als Klasse — sind nicht gewohnt Initiative zu ergreifen. Sie sind froh, wenn sie alles uns überlassen können. Teddie, auch ich liebe Persis sehr und habe sie ja sozusagen in die Gesellschaft eingeführt, aber ist sie nach dem tragischen Tod ihres Mannes noch dieselbe? Ich finde, Persis ist ein Schatten ihrer selbst geworden.«

Mrs. Cranston hatte schon lange das Zimmer betreten, sie hatte auf den angebotenen Tee verzichtet und uns still zugehört.

»Mrs. Cranston, darf ich gegen die Regeln des Hauses diesmal in meiner Geschichte Namen nennen? Die betreffende Dame hat mich ausdrücklich gebeten, über gewisse bisher vertuschte Umstände die Wahrheit zu verbreiten.«

»Mr. North, Sie besitzen mein Vertrauen.«

Ich erzählte von Archer Tennysons Zwangshandlungen, seiner Tollkühnheit und ihren verhängnisvollen Folgen. Als ich geendet hatte, schwiegen meine Zuhörer einen Augenblick.

»So ist das also passiert«, sagte Mrs. Cranston.

»Ach, das arme Kind!« sagte Edweena und stand auf. »Jetzt werden ihr noch die falschen Männer einen Heiratsantrag machen. Mrs. Cranston, ich muß unbedingt mit Mr. Diefendorf sprechen. Da läßt sich bestimmt etwas regeln.«

»Edweena, er muß jeden Augenblick hier sein, wenn er nicht im Büro aufgehalten wurde.«

Da klopfte er auch schon an die Tür. Feierliche Begrüßung allerseits. Er lehnte den Tee dankend ab und erhielt die Erlaubnis zu rauchen. Er konferierte mit den beiden über Bridget Trehan und kam zu einem befriedigenden Ergebnis.

»Haben Sie es eilig, oder können wir Sie noch in einer anderen Angelegenheit um Rat bitten?«

»Ich stehe Ihnen vollkommen zur Verfügung.«

»Mr. North hat durch Zufall einige interessante Details über den tragischen Tod von Archer Tennyson erfahren. Er möchte, daß Sie im Bild sind, zumal Ihnen immer etwas höchst Hilfreiches einfällt — wie schon früher einmal.«

Ich erzählte ihm also die ganze Geschichte. Ich sprach mit Absicht ziemlich schnell, aber deutlich.

Darauf dachte er einen Augenblick nach und sagte: »Soll ich so handeln, wie ich mich für meine eigene Tochter einsetzen würde?«

»Wir bitten darum.«

»Kann ich Ihr Telefon benutzen? … Ich möchte ein Ferngespräch unter der für die Polizei reservierten Code-Nummer führen. Sie können weiterreden oder auch nicht, wie Sie wollen.«

Erst rief er sein Büro an. »Leutnant, hören Sie, Chevy Chase, Maryland, liegt an der Grenze des Distrikts Columbia. Könnten Sie feststellen, welches Polizeirevier für Chevy Chase zuständig ist und mir Telefonnummer und Name des dortigen Polizeichefs geben?« Er zog ein Notizbuch hervor und notierte sich die Informationen. Dann rief er die Nummer in Maryland an und nannte seinen Namen, sein Büro und seine Code-Nummer. »Chef, entschuldigen Sie, daß ich Sie noch so spät am Nachmittag störe. Hoffentlich mache ich Ihnen keine Unannehmlichkeiten … Ich brauche eine Auskunft über einen gewissen Major James Michaelis.« Die Unterhaltung dauerte etwa zehn Minuten. Chef Diefendorf schrieb wieder in sein Notizbuch. »Nochmals vielen Dank, Kollege Ericson. Ich wäre Ihnen zu großem Dank verpflichtet, wenn Sie mir alles Material zuschicken, das für die Öffentlichkeit freigegeben ist. Guten Abend.«

Chef Diefendorf war mit sich selbst sehr zufrieden — und dies nicht ohne Grund.

»Meine Damen und Herren, vor zwei Jahren legte man Major Michaelis nahe, aus dem ›Chevy Chase Club‹ auszutreten, der im Volksmund ›Golf Club der Präsidenten‹ heißt. Major Michaelis hatte im Billardzimmer mit einem Revolver herumgefuchtelt, um mehrere Clubmitglieder zu einem russischen Roulette zu zwingen. Sein Austritt wurde ebenfalls von dem ›Armee- und Marine-Club‹ in Washington gefordert. Offensichtlich hatte sich sein Zustand sehr verschlimmert. Er stammt aus einer einflußreichen Familie, weshalb die Washingtoner Zeitungen darüber geschwiegen haben. Als voriges Jahr seine Frau die Scheidungsklage einreichte, wurde sie von dem Reporter einer Zeitung interviewt. Unter anderem nannte sie als Scheidungsgrund ausdrücklich die Präokkupation ihres Mannes mit dem gefährlichen Spiel. Die Kopien des ganzen Materials sind in wenigen Tagen hier. Ich hoffe, diese Nachricht befreit Mrs. Tennyson von einer großen Last.«

»Ja, und von ihrem Bannfluch«, sagte Edweena.

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Drei Tage später rief ich in den »Neun Giebeln« an und fragte Willis, ob Mrs. Tennyson zu sprechen sei.

»Mrs. Tennyson kommt selten am Morgen herüber. Sie ist in ihrem eigenen Cottage hinter den Treibhäusern.« Er gab mir die Telefonnummer.

»Vielen Dank, Willis.«

So viele Wochen hatte ich die »Neun Giebel« besucht, ohne je von Mrs. Tennysons eigenem Cottage zu hören! Persis hatte ihre Wohnung im Hause ihres Großvaters beibehalten und verbrachte auch viel Zeit dort, aber noch mehr in ihrem eigenen Haus, »Die Lärchen«, mit ihrem Sohn und dessen Gouvernante, ihren Büchern und ihrem Flügel. Dies war ein weiteres Beispiel für das beklemmende Schweigen, mit dem Mrs. Bosworth dieses Haus gestraft hatte. Kein Wort wurde verschwendet, um ein Familienleben anzudeuten.

»Guten Morgen, Mrs. Tennyson.«

»Guten Morgen, Mr. North.«

»Ich werde gleich einige Dokumente bei Ihnen abgeben. Kann ich Sie heute nachmittag um fünf Uhr besuchen, um mit Ihnen darüber zu sprechen?«

»Ja, natürlich, können Sie mir nicht andeuten, worum es sich handelt?«

»Wie geht es Frederick?«

»Danke, sehr gut.«

»Eines Tages wird er froh sein über die offiziellen Beweise, daß sein Vater sich nicht in einem Anfall von Depression das Leben genommen hat, sondern in übermütiger, wenn auch närrischer Ausgelassenheit.«

»Ah!«

Um fünf Uhr hielt ich mit meinem Fahrrad vor ihrer Tür. »Die Lärchen«, im Stil der »Neun Giebel« gebaut, wurden oft als das »kleine Cottage« bezeichnet — einer der vielen falschen Diminutive von Newport. Die Tür war offen, und Persis kam mir zur Begrüßung entgegen. Wieder trug sie ein Leinenkleid, diesmal in Gelb, und um den Hals eine Bernsteinkette. Ungewollt drückte mein Gesicht Bewunderung aus — sie war daran gewöhnt und antwortete mit einem entschuldigenden Lächeln, als wollte sie sagen: »Ich kann nichts dafür …« Ihr kleiner Sohn äugte hinter ihrem Rücken nach mir und floh — ein strammer kleiner Bürger mit riesengroßen Augen.

»Frederick ist scheu. Er hält sich jetzt in der Nähe und wird langsam mit Ihnen Freundschaft schließen … Trinken wir erst eine Tasse Tee zusammen. Dann reden wir über das in der Tat erstaunliche Material, das Sie mir gebracht haben.«

Ich wurde in einen großen Salon mit hohen Fenstern geführt, die Meeresluft hereinließen. Ich hatte die Fenster oft vom Klippenweg aus gesehen. Zwei ältere Hausmädchen waren mit Teemaschine, Sandwiches und Kuchen beschäftigt.

»Mr. North, dies sind Miß Karen und Miß Zabeth Jensen.«

Ich verbeugte mich. »Guten Tag. Guten Tag.«

»Guten Tag, Sir.«

»Ihr Name wird in diesem Hause oft genannt, Mr. North.«

»Ich glaube, ich hatte das Vergnügen, Sie beide bei Mrs. Cranston kennenzulernen.«

»Ja, Sir.«

Wie Mrs. Cranston gesagt hatte — in »gewissen Kreisen« war ich sehr berühmt.

Nachdem das Teegeschirr abgeräumt war, fragte Persis: »Bitte, was soll ich von diesen Dokumenten halten?«

»Mrs. Tennyson, Sie werden bald feststellen, wie das Klima um Sie herum sich ändert. Jene, die mit Vergnügen — einem echten Vergnügen — Ihre Ehe in Zusammenhang mit dem tragischen Tod Ihres Mannes so bösartig deuteten, müssen sich jetzt ein anderes Opfer suchen. Sie sind nicht mehr die Frau, die ihren Mann in den Tod trieb. Sie sind die Frau, deren Mann unvorsichtig war in der Wahl seiner Freunde. Mrs. Venable hat auch Kopien von diesem Material bekommen; und Miß Edweena, die in allen Cottages immer für sie eingetreten ist, tut jetzt auf ihren vielen Besuchen alles, was in ihrer Macht steht, um die Atmosphäre zu klären. In Ihrer Situation befand sich vor anderthalb Jahrhunderten eine Frau, deren Mann in einem Duell wegen dummer Streitereien über Kartenspiel und Pferdewetten getötet wurde. Fühlen Sie nicht, daß sich in Ihnen das Klima auch ändert?«

»Ja, Theophilus, aber ich kann noch nicht daran glauben. Ich brauche Zeit dazu.«

»Sprechen wir nicht mehr davon«, sagte ich lachend. »Mit Grund können wir annehmen, daß genügend andere Leute in diesem Augenblick davon sprechen. Es gibt noch etwas anderes, worüber ich mit Ihnen sprechen möchte. Aber erst …« Ich stand auf. Ich kann keine Noten auf einem Notenpult stehen sehen, ohne neugierig zu werden, was eben gespielt wurde.

Ich ging zum Flügel und sah Busonis Bearbeitungen von sechs Bachschen Orgelpräludien aufgeschlagen. Ich warf ihr einen Blick zu. Mit demselben entschuldigenden Lächeln sagte sie: »Mein Großvater liebt Bach. Ich übe die Stücke für die Winterabende mit ihm.«

»Ich bin ausgehungert nach guter Musik. Es gibt hier auf der Insel Aquidneck so wenig Gelegenheit, sie zu hören. Könnten Sie mir nicht vorspielen?«

»Wenn Sie wollen …«

Sie war in der Tat eine hervorragende Pianistin — sie paßte auf Schloß Stams. Die Musik blies hinweg Haß und herablassende Selbstgefälligkeit und den trügerischen Schutz weltlicher Güter … Persis ließ das Glockenspiel von »In dir ist Freude« erklingen; sie lieh der Demut von »Wenn wir in höchsten Nöten sein« eine Stimme. Frederick schlich in den Salon zurück und setzte sich unter den Flügel.

Dann stand Persis auf und sagte: »Frederick, ich gehe jetzt in den Garten und schneide ein paar Blumen für Großvater. Laß Mr. North unterdessen nicht fort.«

Ich erhob mich zögernd von meinem Stuhl: »Möchte deine Mutter, daß ich gehe, Frederick?«

»Nein!« sagte er laut und kroch unter dem Flügel hervor. »Nein … Sie bleiben.«

»Dann müssen wir zusammen Klavier spielen«, antwortete ich mit Verschwörermiene. »Du setzt dich hier auf die Bank, und wir läuten die Kirchenglocken. Du spielst diesen Ton hier« — ich setzte seinen Finger auf das C der Kleinen Oktave und zeigte ihm, wie er es langsam, leise und im Takt, wiederholen konnte. Ich drückte mit dem Fuß auf das Pianissimo-Pedal und spielte die Obertöne der Note, einschließlich der Dissonanzen in den höheren Registern; dann griff ich über Frederick hinweg auf das C der Großen Oktave. Dies ist ein altes musikalisches Gesellschaftsspiel. Der Neuling hat das aufregende Gefühl, viele Noten zu spielen und die Luft mit dem Kirchengeläut vom Sonntagmorgen zu erfüllen. »Jetzt ein bißchen lauter, Frederick.« Er sah zu mir auf, ehrfürchtig und voller Staunen. Was hatte jener Franzose gesagt? »Die Fähigkeit, sich zu wundern, ist eines der ersten Dinge, die ein Kind zu lernen hat.« Ehrfurcht enthält auch ein Element von Furcht. Frederick entdeckte seine Mutter reglos an der Tür und lief weinend zu ihr hin. »Mama, ich mache Klavier!« Er hatte genug von dem unheimlichen Mr. North und floh in den ersten Stock zu seinem Fräulein.

Persis kam lächelnd auf mich zu. »Der Rattenfänger von Hameln!« sagte sie. »Ich war gar nicht im Garten. Frederick hat so wenig Gelegenheit, einen Gentleman hier zu Besuch zu sehen. Was wollten Sie noch mit mir besprechen?«

»Eine Idee von mir. — Ich habe mich sehr mit Edweena Wills und Henry Simmons angefreundet. Nach Edweenas verspäteter Rückkehr von jener katastrophenreichen Schiffsreise zu den karibischen Inseln bereiten beide jetzt eifrig den Dienstbotenball vor. Sie haben auch in diesem Jahr die Cranston-Schüler-Kapelle engagiert. Der Kartenverkauf ist nicht schlecht, aber die beiden suchen nach einer Anregung, um den Ball lebendiger zu gestalten. Ich habe vorgeschlagen, ein paar Ehrengäste einzuladen, zum Beispiel den Chef der Polizei mit sechs seiner stattlichsten Polizisten sowie den Chef der Feuerwehr Dallas mit sechs seiner stattlichsten Feuerwehrleute, da sie im wahrsten Sinne des Wortes im ›öffentlichen Dienst‹ stehen.«

»Ein glänzender Einfall!«

»Dann habe ich von dem berühmten ›Fiakerball‹ in Wien erzählt, wo alle Schichten der Bevölkerung sich so glücklich mischen. Daraus hat sich allmählich folgende Idee entwickelt: von den Sommergästen einen jungen Mann und eine junge Dame einzuladen, die besonders gut aussehen, besonders charmant sind und besonders nett mit den Dienstboten umgehen. Man zweifelte zuerst an meinem Plan, aber dann hat das Komitee doch abgestimmt, und die Wahl fiel einstimmig auf Baron Stams. Haben Sie nicht auch bemerkt, daß ihm niemand zu gering ist für seine hervorragenden Manieren?«

»Ganz gewiß.«

»Nun, ich habe bereits bei ihm sondiert, ob er eine solche Einladung unter seiner Würde finde oder ob sie ihn langweilen würde. Ganz im Gegenteil. Er hat mir versichert, es sei schon lange sein Wunsch gewesen, mit dem ihm bekannten Personal von Mrs. Venable oder Mrs. Bosworth oder Mrs. Amis-Jones und von all den anderen Häusern gesellig zusammenzukommen. Aber er glaubt nicht, daß sein Chef ihn auf der Gesandtschaft entbehren kann. Edweena hat das nicht ernst genommen, und Edweena und Mrs. Venable sind alte Freundinnen. Mrs. Venable braucht bestimmt nur den Gesandten anzurufen: ›Könnten Sie uns Baron Stams leihweise überlassen für ein Fest mit dem Motto: Wien in Newport.‹«

»Eine reizende Idee.«

»Dann hat das Komitee über den weiblichen Ehrengast abgestimmt. Die Wahl fiel auf Sie.«

»Auf mich? Mich? Das ist unmöglich. Ich werde ja kaum noch eingeladen! Die Leute haben vergessen, daß ich überhaupt existiere!«

»Persis, Sie wissen besser als ich, daß die Hausangestellten in Newport selten von einem Jahr zum anderen wechseln. Sie stellen ein schweigendes Publikum dar, das gebannt die glänzende Welt, der es dient, beobachten. So oft sind die ›großen Leute‹ darüber erstaunt, wieviel ihre Angestellten von ihnen wissen. Die Dienstboten haben ein bemerkenswertes Gedächtnis, sie haben ihre Sympathien und ihre Ressentiments. Man kannte Sie in Ihren glücklichsten Jahren — und das ist noch nicht lange her. Ihr Unglück teilte man mit Ihnen. Und man erinnert sich auch noch wie Sie und Mr. Tennyson als das beste Tanzpaar auf dem Wohltätigkeitsball für das Newporter Krankenhaus den Pokal gewannen. Aber vor allem erinnert man sich Ihrer Anmut und Grazie — bei Tische mögen Sie auf einige Gäste unzugänglich und unpersönlich gewirkt haben, aber in den Augen des Personals sind Sie nie unpersönlich gewesen.«

Sie schlug die Hände vor das Gesicht. »Aber ich werde alle furchtbar enttäuschen. Ich kann verstehen, daß man Bodo verehrt. Doch ich bin nur eine trübsinnige, alte Lady-Witwe, die ›unter einer Wolke‹ lebt.«

»Schade«, sagte ich traurig, »ich habe meine Freunde bereits gewarnt, daß Sie die Einladung kaum annehmen würden. Ihre Tante Sarah würde das Gefühl haben, daß Sie sich ›erniedrigen‹ und daß …«

»Nein! Nein! Nein!«

»Soll ich Ihnen die Pläne des Komitees einmal erzählen? Die große Polonaise soll um Mitternacht stattfinden. Henry und Edweena werden unter den Klängen eines Marsches von Sousa die große Halle entlangschreiten, gefolgt von den Mitgliedern des Komitees. Dann kommt Chef Diefendorf mit seinen sechs Polizisten und Chef Dallas mit seinen sechs Feuerwehrleuten in ihren feschen Gala-Uniformen. Dahinter Sie und Bodo, sehr elegant, nach allen Seiten lächelnd. Wenn Sie die Halle durchquert haben, hebt Henry als Maître de plaisir seinen bebänderten Stab, worauf die Kapelle leise ›An der schönen blauen Donau‹ intoniert. Sie beide tanzen eine Runde, dann bricht die Kapelle ab; Miß Watrous setzt sich an das Klavier, und Sie werden wie zwei Engel erst eine Polka und dann einen Tango tanzen. Dann setzt die Kapelle wieder mit ›An der schönen blauen Donau‹ ein, und jeder von Ihnen fordert links und rechts eine Reihe von Partnern auf. Am Schluß verneigen Sie sich vor den versammelten Gästen, schütteln Henry und Edweena die Hand, und dann können Sie nach Hause gehen. Niemand würde dieses Erlebnis je vergessen.«

Ich hatte Tränen in den Augen. Nichts macht mich glücklicher, als etwas zu erfinden. Bodo wußte bisher noch kein Wort davon, und dem Gesandten war das Gesuch auch noch nicht übermittelt worden.

Lauter Seifenblasen.

Lauter Versuchsballons.

Aber genau das traf ein.

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Edweena, Henry, Frederick und ich wurden eines Morgens zur Generalprobe in die »Lärchen« eingeladen. Persis trug ein blaßgrünes Tüllkleid, das beim Walzer (»wie er in Wien getanzt wird«) sanft um sie wogte, obwohl ein solches Kleid im Jahre 1926 nicht Mode war. Als nach der Probe Edweena und Henry das Paar gebührend gelobt hatten, herrschte einen Augenblick lang Stille.

Henry sagte: »Liebste Edweena, es war so schön wie beim goldenen Regierungsjubiläum der Königin Viktoria, das schwöre ich dir.«

Frederick übte sich auf dem Parkett im Polkaschritt. Er fiel hin und tat sich weh. Bodo hob ihn auf und trug ihn in seinen Armen die Treppe hinauf zu seinem Fräulein — als wäre er es gewöhnt.

Am Schluß sagte Henry: »Teddie, alter Knabe, könntest du nicht zur Abwechslung einmal lügen? Sag doch, daß du auch einmal ein Dienstbote gewesen bist. Wir geben dir eine Karte, und du kannst dir morgen nacht die Show ansehen.«

»O nein, Henry, du weißt: die einen gehen durch den Vordereingang, und die anderen nicht. Ich kann mir alles gut vorstellen, jetzt und später.«

Wir standen auf dem Kiesweg zum Cottage.

Edweena sagte: »Ich glaube, Sie wollten noch etwas sagen, Teddie.«

Ich schaute in Edweenas Augen (es stimmte: sie waren am Morgen weniger nußbraun als blau).

Ich sagte stockend: »Es fällt mir immer schwer, Abschied zu nehmen.«

»Mir auch«, sagte Edweena und küßte mich.

Henry und ich schüttelten uns schweigend die Hand.

Der Dienstbotenball

Seit Wochen hatte ich bereits die Vorahnung des Herbstes in der Luft gespürt. Einige Blätter an Newports herrlichen Bäumen wechselten die Farbe und fielen herab. Ich sprach leise die Worte des Glaukos in der »Ilias« vor mich hin: »Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen, / Einige streut der Wind auf die Erd’ hin, andere wieder / Treibt der knospende Wald, erzeugt in des Frühlinges Wärme; / So der Menschen Geschlecht: dies wächst und jenes verschwindet.«

Der Sommer 1926 ging zu Ende. In Mr. Dexters Garage hatte ich die beiden letzten Mietraten für das Fahrrad bezahlt bis zu dem Datum meiner Abreise. Außerdem hatte ich von Mr. Dexter einen alten Wagen erstanden, der nicht viel teurer war als seinerzeit die »Hartherzige Hannah«. »Hannah« war inzwischen repariert worden und beobachtete unsere Transaktion.

»Sie wird nur von mir gefahren«, sagte Mr. Dexter. »Ich weiß mit ihr umzugehen. Möchten Sie ihr noch ein paar Worte sagen?«

»Nein, Mr. Dexter, ich bin nicht mehr so ausgelassen.«

»Ich habe gehört, daß Sie Unannehmlichkeiten hatten. Hier in Newport spricht sich alles herum.«

»Ja. Richtiges und Falsches, es spricht sich herum.«

»Ich habe auch von Ihrer Theorie gehört, Newport bestehe wie Troja aus neun Städten. Als ich noch ein Junge war, hieß unser Baseball-Team ›Die Trojanen‹.«

»Haben Sie mehr gewonnen oder verloren, Mr. Dexter?«

»Meistens haben wir gewonnen. In den Knabenschulen wollten alle immer Trojaner werden, weil die in der Sage nicht gewonnen haben. Jungen sind so.«

»Wann war das?«

»Sechsundneunzig. Siebenundneunzig. Wir alle wählten Latein und einige von uns noch Griechisch … Wann wollen Sie Ihren Wagen abholen?«

»Nächsten Donnerstag, nach dem Abendbrot. Wenn Sie mir jetzt schon den Schlüssel geben, könnte ich wegfahren, ohne Sie zu stören.«

»Hören Sie, Professor, dies ist kein neuer und auch kein teurer Wagen, aber Sie können bei richtiger Behandlung viele Meilen aus ihm herausholen. Ich würde gern ein bißchen mit Ihnen herumfahren und dies oder jenes erklären.«

»Das wäre sehr nett von Ihnen. Ich bin um acht hier, um mein Fahrrad zu übergeben. Dann können wir bei Mrs. Keefe mein Gepäck abholen und zusammen etwas herumkutschieren. Würden Sie bitte für einen großen Kanister Benzin sorgen, denn ich werde die ganze Nacht nach Connecticut durchfahren.«

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Am Abend des Dienstbotenballs lud ich Mrs. Keefe und ihre Schwiegertochter zu einem Hühnchenessen der Unitarier-Kirche ein. Ich sah viele neue Gesichter und lernte deren Besitzer kennen. Unitarier-Gesichter stellen eine angenehme Lektüre dar. Mrs. Keefe und ich waren gute Freunde im Neu-England-Stil geworden, und so wechselten wir keine bewegten Worte bei unserem Abschied. Ich packte noch fertig, deponierte meine Sachen vor dem Eingang und radelte zu Mr. Dexters Garage.

Der Unterricht begann unverzüglich. Er zeigte mir, wie ich starten und wie ich bremsen sollte; er führte mir vor, wie man so einfach rückwärts einparkt, als nickte man seinem Nachbarn zu; er lehrte mich, Benzin zu sparen und die Bremsen sowie die Batterie zu schonen. Wie beim Violinespielen gibt es hier Geheimnisse, in die man nur von einem Meister eingeweiht werden kann. Nach unserer Rückkehr in die Garage bezahlte ich die Kanne Benzin und stellte sie in den Wagen.

»Sie haben es aber eilig mit dem Abfahren, Professor.«

»Nein, gar nicht. Ich möchte nur kurz vor Mitternacht an Mrs. Venables Haus vorbeifahren, um beim Dienstbotenball den Sousa-Marsch zu hören.«

»Seit dem Tod meiner Frau habe ich eine neue Wohnung über der Garage. Wollen wir da nicht noch ein bißchen zusammensitzen und meinen alten Jamaica-Rum probieren, bis Sie gehen?«

Bei Gelegenheit trinke ich auch mal ein Schlückchen. Wir stiegen also unter das Dach hinauf. Der Speicher war voll von abmontierten Automobilteilen, aber er hatte sich eine saubere, kleine Drei-Zimmer-Wohnung abgeteilt mit einem großen Schreibtisch, einem Herd, einigen bequemen Stühlen und mehreren Bücherregalen. Er kochte in einem Topf Wasser, fügte Rum hinzu sowie ein paar Zimtstengel und eine Orange. Dann füllte er unsere Becher, und ich setzte mich in Erwartung einer Stunde neu-englischer Schweigsamkeit. Ich nahm mir vor, den Mund zu halten. Ich wollte mehr von ihm erfahren. Darauf mußte ich warten.

»Hat man nach Schliemann noch mehr Städte in Troja entdeckt?«

»Anscheinend nicht. Ein kümmerliches Dorf namens Hissarlik ist noch dort, mehr nicht. Es hat nicht floriert, obwohl es nur vier Meilen von dem Ufer der Dardanellen entfernt liegt. Wahrscheinlich nicht genug Grundwasser.«

Schweigen. Wunderbarer Punsch.

»Hab mir so Gedanken gemacht, wie sich das alles hier ändern wird … sagen wir in hundert oder tausend Jahren … Höchstwahrscheinlich wird sich die englische Sprache bis zur Unkenntlichkeit verändern … Das Pferd ist jetzt schon fast ausgestorben; und die Bahngeleise nach Providence will man auch schon herausreißen …« Er bewegte die Arme wie Flügel. »Die Menschen werden kommen und gehen mit Flügeln wie Regenschirmen.« Er fuhr mit der Hand über die Brauen. »Tausend Jahre sind eine lange Zeit … Höchstwahrscheinlich werden wir eine andere Hautfarbe haben … Wir können mit Erdbeben rechnen, mit Eiszeiten, Kriegen, Invasionen, Seuchen … Beunruhigen Sie solche Gedanken nicht?«

»Mr. Dexter, nachdem ich promoviert hatte, studierte ich in Rom ein Jahr Archäologie. Unser Professor fuhr mit uns ein paar Tage aufs Land, um uns das Ausgraben beizubringen. Wir gruben und gruben. Schließlich stießen wir auf eine vor mehr als zweitausend Jahren vielbegangene Straße — Wagenspuren, Meilensteine, Altäre. Eine Million Menschen muß diese Straße benutzt haben … lachend … mit Sorgen … mit Plänen … trauernd. Es hat mich von Grund auf verändert und von dem Druck der riesigen Zahlen, der riesigen Entfernungen, der großen, mir zu kniffligen philosophischen Fragen befreit. Ich bin es zufrieden, meinen halben Morgen Land zu bebauen.«

Er stand auf, ging einmal im Zimmer auf und ab, nahm den Topf vom Herd und füllte unsere Becher wieder auf. Er sagte: »Ich studierte zwei Jahre an der Brown-Universität und kehrte hierher zurück, um einen Stall für Mietpferde — heute eine Garage aufzumachen.« Er zeigte auf seine Bücherregale. »Ich habe Homer, Herodot, Sueton gelesen — und lese sie noch immer. Geschrieben zwischen zweitausendachthundert und eintausendachthundert Jahren vor unserer Zeit. Mr. North, geändert hat sich viel, aber nicht geändert haben sich die Leute!« Er nahm ein Buch vom Tisch und legte es wieder hin. »Cervantes, 1605. Die Menschen gehen die Thames Street rauf und runter — wie Sie sagen — ›lachend und mit Sorgen‹. Es wird noch mehr Newports geben, bevor wir wie Hissarlik verkommen. — Könnten wir vielleicht von etwas anderem sprechen, Mr. North? Ich habe mich noch nicht von dem Druck der Zeit frei gemacht. Wer die vierzig überschritten hat, steht unter Zeitdruck.«

»Sir, vor etwa vier Monaten waren Sie der erste Mensch, den ich auf dieser Insel traf. Sie werden sich erinnern, wie unternehmungslustig ich wirkte, aber in Wirklichkeit war ich erschöpft, zynisch, ziellos. Der Sommer 1926 hat mir gut getan. Ich gehe jetzt an einen anderen Ort, der vielleicht in dreihundert Jahren nicht mehr wiederzuerkennen ist. Dort werden Leute wohnen, von denen ich im Augenblick keine Seele kenne. Ich danke Ihnen; Sie haben mich daran erinnert, daß wir zu allen Zeiten und an allen Orten so ziemlich dieselben Menschen vorfinden. Mr. Dexter, wollen Sie mir einen Gefallen erweisen? Kennen Sie die Materas? Und die Wentworths? Ich bin ein Feigling, wenn es ans Abschiednehmen geht. Richten Sie ihnen doch bitte aus, daß ich vor meiner Abreise aus Newport noch den Wunsch hatte, sie meine Dankbarkeit und Zuneigung wissen zu lassen.«

»Ich denke daran.«

»Fünf mir liebe Menschen sind heute nacht auf dem Dienstbotenball. Sie kennen meine Botschaft bereits. Diese Nacht, Sir, wird zu meinen glücklichen Erinnerungen gehören.« Ich stand auf und streckte meine Hand aus.

»Mr. North, bevor ich Ihnen die Hand gebe, muß ich noch etwas beichten. Ich kaufe doch alte Wagen, und mein jüngerer Bruder macht sie sauber, manchmal vier oder fünf in der Woche. Er ist ein achtloser Mensch und wirft die alten Sachen, die er unter den Sitzen, zwischen den Polstern oder unter dem Teppich findet, in eine Tonne, damit ich später aussortieren kann. Oft habe ich wochenlang keine Zeit dazu. Vor sechs Wochen fand ich nun eine Art Story. Kein Name drauf; keine Ortsangabe außer Trenton, New Jersey. Das Nummernschild Ihres Autos war aus New Hampshire. Nach unserem Gespräch heute abend glaube ich, daß die Geschichte von Ihnen ist.«

Ich war feuerrot geworden. Er griff in das untere Schubfach seines Schreibtisches und holte einen Teil meines Tagebuches hervor: den Bericht über ein Abenteuer mit einer Schusterstochter in Trenton. Ich nickte, und er händigte ihn mir aus.

»Ich bitte Sie vielmals um Entschuldigung, Mr. North.«

»Es ist nicht weiter wichtig. Das habe ich nur zum Zeitvertreib hingekritzelt.«

Wir sahen uns schweigend an.

»Was da passiert, ist ziemlich lebendig dargestellt, Mr. North. Sie haben den Kniff raus, wie man so was macht. Fiel Ihnen auch schon ein, vielleicht ein Schriftsteller zu werden?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich bringe Sie noch zu Ihrem Wagen.«

»Gute Nacht, Josiah, und vielen Dank.«

»Fahren Sie vorsichtig, Theophilus.«

Ich habe nicht unter den Bäumen vor Mrs. Venables Haus auf den Marsch von Sousa und den Strauß-Walzer gewartet.

Die Phantasie schöpft aus der Erinnerung. Erinnerung und Phantasie können gemeinsam einen Dienstbotenball inszenieren — oder ein Buch schreiben, falls dies ihr Wunsch ist.

1Ins Deutsche übertragen von Hans Sahl (1974)