WAECHTER DER NACHT
Der vorliegende Text ist der Sache des Lichts dienlich und zur Verbreitung zugelassen.
Der vorliegende Text ist der Sache des Dunkels dienlich und zur Verbreitung zugelassen.
Erste Geschichte
Das eigene Schicksal
Prolog
Langsam und ächzend kroch die Rolltreppe nach oben. Kein Wunder, so alt wie die Station war. Dafür fegte der Wind durch die ganze Betonröhre, zerzauste ihm das Haar, zerrte an der Kapuze, schlängelte sich unter den Schal und drückte Jegor nach unten.
Der Wind wollte nicht, dass er hinauf fuhr.
Der Wind bat ihn umzukehren.
Sonderbar - anscheinend spürte niemand sonst den Wind. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, gegen Mitternacht wirkte die Metro-Station immer wie ausgestorben. Ein paar Leute kamen Jegor auf der anderen Rolltreppe entgegen, auf seiner fuhr außer ihm kaum noch jemand hinauf: ein Mann vor ihm, zwei oder drei Leute hinter ihm. Das war’s auch schon.
Bis auf den Wind vielleicht.
Jegor steckte die Hände in die Taschen und blickte über die Schulter zurück. Seit er vor zwei Minuten aus dem Zug gestiegen war, hatte er das Gefühl, ein fremder Blick ruhe auf ihm. Das jagte ihm jedoch keine Angst ein, sondern hatte eher etwas Hypnotisierendes, etwas Stechendes, als pike ihn jemand mit einer Spritze.
Ganz unten auf der Rolltreppe stand ein großer Mann in Uniform. Kein Milizionär, sondern ein Soldat. Dann war da eine Frau mit einem Jungen an der Hand, dem ständig die Augen zufielen. Schließlich noch ein jüngerer Mann mit einem MD-Player, der eine grelle orangefarbene Jacke anhatte. Er schien ebenfalls im Stehen zu schlafen.
Nichts Verdächtiges. Nicht einmal für einen kleinen Jungen, der reichlich spät nach Hause ging. Jegor schaute erneut nach oben. Dort stand ein Milizionär, der sich gegen das glänzende Absperrgitter lehnte und verdrossen nach leichter Beute unter den wenigen Fahrgästen Ausschau hielt.
Nichts, wovor Jegor Angst haben müsste.
Der Wind drückte ein letztes Mal gegen ihn und legte sich dann, so als gebe er Ruhe, als habe er eingesehen, dass sein Kampf aussichtslos war. Der Junge blickte noch einmal nach hinten und hastete dann die nach oben gleitenden Stufen hoch. Er musste sich beeilen. Warum, wusste er nicht, er musste es einfach. Da war auch wieder dieses komische und beunruhigende Piken, während über seinen Rücken ein eisiger Schauder lief.
Ist doch bloß der Wind.
Jegor stürzte durch die halb offene Tür hinaus. Die durchdringende Kälte schlug mit aller Wucht über ihm zusammen. Seine Haare waren nach dem Schwimmen noch nass - der Föhn hatte mal wieder nicht funktioniert - und gefroren im Handumdrehen. Jegor zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht und lief, ohne an einer der Buden stehen zu bleiben, schnell auf die Unterführung zu. Obwohl auf der Straße viel mehr Menschen unterwegs waren, verließ ihn das mulmige Gefühl nicht. Deshalb drehte er sich im vollen Lauf sogar noch einmal um, doch niemand folgte ihm. Die Frau mit dem Kind ging zur Straßenbahnhaltestelle, der Mann mit dem MD-Player war an einer Bude stehen geblieben, um das Angebot an Flaschen zu studieren, der Soldat noch gar nicht aus dem Bahnhofsgebäude herausgekommen.
Mit immer schnelleren Schritten ging der Junge durch die Unterführung. Von irgendwoher drang Musik an sein Ohr, eine leise, kaum wahrnehmbare, aber unglaublich schöne Musik. Die zarten Klänge einer Flöte, umschmeichelt von einer Gitarre, begleitet vom Klimpern eines Xylophons. Die Musik rief ihn, trieb ihn an. Jegor wich ein paar ausgelassenen Leuten aus, die ihm entgegengerannt kamen, und überholte einen leicht torkelnden, angeheiterten Mann. Jeder klare Gedanke schien sich aus seinem Kopf verflüchtigt zu haben. Er rannte jetzt fast.
Die Musik rief ihn.
Es mischten sich nun auch Worte hinein - noch zusammenhanglose, viel zu leise, aber sehr betörende Worte. Jegor spurtete aus der Unterführung, um dann kurz hechelnd in der kalten Luft stehen zu bleiben. Gerade kam der Oberleitungsbus. Wenn er eine Station fahren würde, wäre er fast zu Hause…
Langsam, als seien ihm die Beine plötzlich eingeschlafen, ging der Junge auf den Obus zu. Der wartete ein paar Sekunden mit offenen Türen an der Haltestelle, dann schlossen sie sich, und der Bus fuhr ab. Während Jegor ihm mit leerem Blick nachsah, wurde die Musik immer lauter, bis sie den ganzen Raum zwischen dem Halbrund des vielstöckigen Hotels und der in der Nähe liegenden»Schachtel auf Beinen«, seinem Zuhause, ausfüllte. Die Musik lud ihn ein, zu Fuß zu gehen. Den hell erleuchteten Prospekt entlang, der selbst um diese Zeit noch recht belebt war. Überhaupt, bis zu seiner Haustür waren es ja nur fünf Minuten.
Bis zur Musik noch weniger…
Nach hundert Metern bot das Hotel Jegor keinen
Schutz mehr gegen den Wind. Eisige Kälte biss ihm ins Gesicht und erstickte beinah die Melodie, die ihn rief. Der Junge geriet ins Stolpern und machte Halt. Der Zauber verflog, dafür glaubte er jetzt von Neuem den fremden Blick auf sich zu spüren. Und diesmal mischte sich ganz eindeutig Angst in dieses Gefühl. Er drehte sich um - gerade kam wieder ein Oberleitungsbus. Außerdem schimmerte die grelle orangefarbene Jacke im Licht der Straßenlaterne auf. Der Mann, der mit ihm die Rolltreppe heraufgekommen war, folgte ihm. Die Augen hielt er zwar noch immer halb geschlossen, dennoch bewegte er sich erstaunlich schnell und setzte Jegor so zielsicher nach, als habe er ihn fest im Blick.
Der Junge rannte los.
Die Musik ertönte mit neuer Kraft und zerriss den Vorhang, den der Wind bildete. Er konnte bereits einzelne Worte unterscheiden - hätte es gekonnt, wenn er gewollt hätte.
Am klügsten wäre es, wenn er sich jetzt dicht an den geschlossenen, aber hell erleuchteten Geschäften hielte, wenn er in der Nähe der Fußgänger bliebe, die noch so spät unterwegs waren, in Sichtweite der vorbeirasenden Autos.
Stattdessen trat Jegor in einen Tordurchgang, der in der Häuserfront aufklaffte. Die Musik rief ihn dorthin.
Stockfinster war es hier, lediglich an der einen Wand rührten sich zwei Schatten. Jegor sah sie wie durch einen Nebel, der von einem leblosen bläulichen Licht erleuchtet schien. Ein Mann und eine Frau, beide noch sehr jung und so leicht angezogen, als herrschten keine zwanzig Grad minus.
Die Musik schwoll zu einem letzten triumphierenden Fortissimo an. Dann verstummte sie. Der Junge spürte, wie alle Kraft aus seinem Körper wich. Er war in Schweiß gebadet, die Knie wurden ihm weich, und er hatte nur noch den Wunsch, sich auf das glitschige, von überfrorenem Dreck bedeckte Pflaster zu setzen.
»Mein Kleiner…«, brachte die Frau leise hervor. Sie hatte ein mageres Gesicht, hohle Wangen und blasse Haut. Nur ihre Augen wirkten lebendig: große, schwarze, faszinierende Augen.
»Lass was übrig… wenigstens ein bisschen«, sagte der Mann. Er lächelte. Die beiden glichen einander wie Bruder und Schwester, nicht von den Gesichtszügen her, sondern aufgrund von etwas kaum Greifbarem, das sie einzuhüllen schien wie staubiger, halb durchsichtiger Tüll.
»Für dich?«Die Frau wandte den Blick kurz von Jegor ab. Die Starre wich daraufhin ein wenig von ihm, dafür packte ihn jetzt Angst. Der Junge öffnete den Mund, doch kaum fing er den Blick des Mannes auf, blieb ihm der Schrei in der Kehle stecken - als zöge sich eine kalte Gummihaut eng um ihn zusammen.
»Ja. Halt ihn fest!«
Die Frau schnaubte höhnisch. Als sie Jegor wieder anblickte, spitzte sie die Lippen, als wolle sie ihm einen Kuss zuhauchen. Leise sprach sie die bereits vertrauten Worte, die Worte, die sich unter die betörende Musik gemischt hatten.»Komm her… komm zu mir…«
Jegor blieb reglos stehen. Zum Weglaufen fehlte ihm die Kraft - trotz seines Entsetzens, trotz des Schreis, der ihm immer noch in der Kehle steckte. Das Einzige, was er zustande brachte, war, einfach stehen zu bleiben.
Am Tordurchgang kam eine Frau mit zwei großen Schäferhunden an der Leine vorbei. Langsam, irgendwie abgebremst, als bewege sie sich unter Wasser oder schleppe sich durch einen Albtraum. Als Jegor aus den Augenwinkeln heraus sah, wie die Hunde sie zerrten, sie in den Durchgang zogen, flammte irrsinnige Hoffnung in ihm auf. Die Schäferhunde knurrten zwar, aber irgendwie unsicher, voller Hass und Angst zugleich. Ihre Besitzerin blieb kurz stehen und spähte argwöhnisch den Gang entlang. Jegor fing ihren Blick auf - gleichgültig, als blicke sie ins Leere.
»Kommt weiter!«Sie zog an der Leine, und die Hunde kamen bereitwillig bei Fuß.
Der junge Mann lachte leise.
Die Hundebesitzerin beschleunigte den Schritt, bis sie nicht mehr zu sehen war.
»Der kommt nicht!«, quengelte die junge Frau.»Guck dir das an, der kommt einfach nicht!«
»Streng dich an«, sagte der Mann bloß. Er schaute finster drein.»Du musst es lernen!«
»Komm! Komm zu mir!«, verlangte die Frau energisch. Jegor stand nur zwei Meter von ihr entfernt, doch sie legte offensichtlich größten Wert darauf, dass er von sich aus weiter auf sie zuging.
Und dann merkte Jegor, dass er keine Kraft mehr hatte, sich ihr zu widersetzen. Der Blick der Frau hielt ihn gefangen, band ihn an eine unsichtbare Gummileine, die Worte riefen ihn - und er konnte nichts dagegen tun. Obwohl er wusste, dass er sich nicht bewegen durfte, machte er einen Schritt. Die Frau lächelte, und ihre ebenmäßigen weißen Zähne blitzten auf.»Bind deinen Schal ab«, sagte sie.
Er schaffte es nicht mehr, sich dagegen zu wehren. Mit zitternden Händen schob er die Kapuze nach hinten und zog den lose umgebundenen Schal weg. Er ging auf die schwarzen Augen zu, die ihn riefen.
Etwas geschah mit dem Gesicht der Frau. Der Unterkiefer hing plötzlich herunter, die Zähne erbebten, krümmten sich. Lange Eckzähne blitzten auf, die nichts Menschliches mehr an sich hatten.
Jegor machte noch einen Schritt.
Eins
Die Nacht ließ sich schlecht an.
Als ich aufwachte, dunkelte es bereits. Vom Bett aus beobachtete ich, wie sich die letzten Lichtstrahlen durch die Ritzen der Jalousien verkrochen, und dachte nach. Die fünfte Nacht auf Jagd - und null Erfolg. Kaum anzunehmen, dass ich heute mehr Glück haben würde.
Die Wohnung war kalt, die Heizung höchstens lauwarm. Am Winter mag ich überhaupt nur eins: dass es früh dunkel wird und nur wenige Leute auf den Straßen sind. Ansonsten… ansonsten hätte ich schon längst alles hingeschmissen, hätte Moskau verlassen und wäre nach Jalta oder Sotschi gefahren. Irgendwohin ans Schwarze Meer, bloß nicht auf eine dieser fernen Inseln in fremden warmen Ozeanen - ich mag es nun mal, wenn man um mich herum Russisch spricht.
Das sind dumme Träume, na klar.
Ist nämlich noch ein bisschen früh für mich, um mich irgendwo in warmen Gefilden zur Ruhe zu setzen.
Das hab ich mir noch nicht verdient.
Das Telefon schien förmlich darauf gewartet zu haben, dass ich wach werde, und läutete jetzt energisch, geradezu widerlich. Ich griff nach dem Hörer und presste ihn ans Ohr, schweigend, ohne ein Wort zu sagen.
»Anton, melde dich!«
Ich schwieg. Larissas Stimme klang sachlich, konzentriert, aber auch müde. Bestimmt hatte sie den ganzen Tag nicht geschlafen.»Anton, soll ich dir den Chef geben?«
»Nicht nötig«, brummte ich.
»He, he. Bist du überhaupt schon wach?«
»Hm.«
»Jeden Tag das Gleiche mit dir.«
»Gibt’s was Neues?«
»Nein, nichts.«
»Hast du was zum Frühstück da?«
»Werd schon was finden.«
»Gut. Viel Erfolg.«
Der Wunsch kam ohne rechte Überzeugung, ohne Anteilnahme. Larissa glaubte nicht an mich. Der Chef vermutlich auch nicht.
»Vielen Dank auch«, sagte ich zu den rasch aufeinander folgenden Pieptönen des Telefons. Ich stand auf und begab mich auf eine Exkursion in Klo und Bad. Ich wollte mir schon Zahnpasta auf die Bürste drücken, begriff dann aber, dass ich den zweiten Schritt vor dem ersten machte, und legte die Bürste auf den Rand des Waschbeckens.
Obwohl es in der Küche stockdunkel war, knipste ich das Licht natürlich nicht an. Ich öffnete den Kühlschrank, in dem das herausgeschraubte Lämpchen zwischen den Lebensmitteln vor sich hin fror. Mein Blick fiel auf eine Kasserolle, in der ein Sieb hing. Darin lag ein Stück halb aufgetautes Fleisch. Ich nahm das Sieb heraus, setzte den Topf an die Lippen und trank einen Schluck.
Falls irgendjemand glaubt, Schweineblut schmecke lecker, irrt er gewaltig.
Nachdem ich die Kasserolle mit dem restlichen, be-
reits aus dem Fleisch getropften Blut zurückgestellt hatte, ging ich wieder ins Bad. Die trübe blaue Lampe kam kaum gegen die Dunkelheit an. Ausgiebig und verbissen putzte ich mir die Zähne, hielt es aber schließlich doch nicht mehr aus und wanderte noch einmal in die Küche, um eine Flasche aus dem Froster zu nehmen und daraus einen Schluck eisgekühlten Wodkas zu trinken. Danach strömte nicht einfach Wärme durch meinen Bauch, sondern glühende Hitze. Was für ein wunderbares Bouquet aus Empfindungen: die Kälte an den Zähnen und die Glut im Bauch.
»Hol dich doch…«, setzte ich in Gedanken an meinen Chef an, konnte mich aber noch rechtzeitig bremsen. Bei ihm musste man damit rechnen, dass er sogar halb ausgesprochene Flüche spürte. Ich tigerte eine Weile durchs Zimmer und fing an, meine überall verstreuten Kleidungsstücke einzusammeln. Die Hose lag unter dem Bett, die Socken auf dem Fensterbrett, und das Hemd hing aus irgendeinem Grund über der Maske des Choyong.
Missbilligend sah der alte koreanische Herrscher mich an.
»Pass halt besser auf«, brummte ich. In dem Moment schrillte abermals das Telefon. Ich sprang im Zimmer umher, bis ich es endlich fand.
»Anton, wolltest du mir etwas sagen?«, erkundigte sich mein unsichtbarer Gesprächspartner.
»Nein. Nichts«, sagte ich verdrossen.
»Na, na. Wo bleibt das Ich schätze mich glücklich, Euch zu Diensten zu sein, Euer Wohlgeboren?«
»Ich bin nicht glücklich. Tut mir Leid… Euer Wohlgeboren.«
Der Chef schwieg einen Moment.
»Anton, ich bitte dich trotzdem, die Entwicklung der Lage mit etwas mehr Ernst zu betrachten. Abgemacht? Morgen früh erwarte ich deinen Bericht, so oder so. Und… viel Glück.«
Verlegen wurde ich deswegen nicht. Aber immerhin regte ich mich etwas ab. Nachdem ich mein Handy in die Jackentasche gesteckt hatte, öffnete ich den Schrank in der Diele. Einen Augenblick lang überlegte ich, ob ich meine Montur irgendwie aufpeppen sollte. Ich hatte ein paar neue Klamotten, die mir Freunde in der letzten Woche geschenkt hatten. Am Ende beließ ich es jedoch bei der gewöhnlichen Kluft, die recht vielseitig und ziemlich kompakt war.
Fehlte noch der MD-Player. Die Musik bräuchte ich gar nicht, aber Langeweile ist ein unerbittlicher Feind.
An der Wohnungstür spähte ich lange durch den Spion ins Treppenhaus hinaus. Niemand da.
Eine weitere Nacht begann.
Sechs Stunden lang fuhr ich mit der Metro, wechselte ohne irgendein Prinzip die Linien, döste immer mal wieder ein, damit sich mein Bewusstsein erholen und meine Sinne frei werden konnten. Alles war ruhig. Nun ja, das eine oder andere Interessante sah ich schon, aber alle diese Fälle hatten weiter nichts Besonderes an sich, sie waren etwas für Neulinge. Erst gegen elf, als die Metro sich merklich leerte, änderte sich die Situation.
Mit geschlossenen Augen saß ich da und hörte schon zum dritten Mal an diesem Abend die fünfte Symphonie von Manfredini. Die Mini-Disc im Player war absolut verrückt, meine höchstpersönliche Zusammenstellung, bei der sich das italienische Mittelalter und Bach mit den Rockgruppen Alissa und Piknik oder Ritchie Blackmore ablösten.
Es war immer spannend, welche Melodie mit welchem Ereignis zusammentraf. Heute untermalte Manfredini mein Glück.
Etwas presste mich zusammen, ein Krampf, der von den Zehen bis zu den Haarwurzeln alles erfasste. Ich zischte sogar unwillkürlich irgendwas, als ich die Augen öffnete und den Blick durch den Waggon schweifen ließ.
Sofort entdeckte ich die Frau.
Eine junge und sehr sympathische Frau. In einem eleganten Pelz, mit einer Handtasche und einem Buch in Händen.
Und mit einem derart gewaltigen schwarzen Wirbelwind über dem Kopf, wie ich ihn seit bestimmt drei Jahren nicht mehr gesehen hatte!
Vermutlich guckte ich wie ein Wahnsinniger drein. Was die Frau spürte, denn sie sah zu mir herüber, wandte den Blick aber gleich wieder ab.
Du solltest lieber nach oben schauen!
Nein, sie war natürlich nicht imstande, den Strudel zu sehen. Bestenfalls konnte sie etwas spüren, eine leichte Unruhe. Und nur ganz vage, nur aus den Augenwinkeln heraus, vermochte sie ein Flirren über ihrem Kopf wahrzunehmen - als schwirrten Fliegen über ihr, als flimmerte an einem heißen Tag die Luft über dem Asphalt…
Doch sehen konnte sie nichts. Nichts. Sie würde noch einen oder zwei Tage leben, bevor sie auf Glatteis ausrutschte, und zwar so, dass sie eine tödliche Kopfverletzung davontrug. Oder sie würde unter ein Auto geraten. Oder im Hauseingang ins Messer eines Verbrechers laufen - der nicht die geringste Ahnung hatte, warum er diese Frau umbrachte. Und alle Welt würde sagen:»Sie war so jung, das ganze Leben lag noch vor ihr, alle haben sie gern gehabt…«
Ja. Ganz bestimmt. Das glaube ich, zu gut und zu freundlich ist ihr Gesicht. Müdigkeit zeichnet sich in ihm ab, aber keine Verbitterung. Neben einer solchen Frau fühlst du dich nicht so mies, wie du eigentlich bist. Du versuchst, besser zu sein, auch wenn es dir schwer fällt. Mit solchen Frauen möchte man gern befreundet sein, ein wenig flirten, Geheimnisse teilen. In solche Frauen verliebt man sich selten, doch lieben tun alle sie.
Bis auf den einen, der den Dunklen Magier bezahlt hat.
Ein schwarzer Strudel ist im Grunde eine völlig alltägliche Erscheinung. Als ich mich umsah, konnte ich noch weitere fünf oder sechs entdecken, die über den Köpfen der Fahrgäste hingen. Doch sie alle wirkten verwischt, trübe und drehten sich kaum. Resultate eines absolut durchschnittlichen, unprofessionellen Fluchs. Jemand wirft einem anderen ein»Verrecken sollst du, Dreckskerl!«hinterher. Ein anderer drückt es schlichter, weniger hart aus:»Hol dich doch der Kuckuck!«Und von der Dunklen Seite rankt sich ein kleiner Wirbelsturm herüber, der das Glück aus einem herauspresst, der die Kräfte aussaugt.
Doch ein gewöhnlicher Fluch, ein dilettantischer und unausgegorener Fluch, hält bloß ein, zwei Stunden, maximal einen Tag an. Seine Folgen sind zwar unangenehm, aber auf gar keinen Fall tödlich. Der schwarze Strudel über der Frau war von einem anderen Kaliber, stabil, geschaffen von einem erfahrenen Magier. Ohne dass die Frau es wusste, war sie bereits tot.
Automatisch fuhr meine Hand zu meiner Tasche, dann machte ich mir jedoch klar, wo ich war, und verzog das Gesicht. Warum funktionieren Handys in der Metro bloß nicht? Fahren ihre Besitzer etwa nicht mit der Untergrundbahn?
Nun zerrten an mir sowohl meine eigentliche Aufgabe, die ich erfüllen musste, auch wenn kaum Aussicht auf Erfolg bestand, wie auch die Sorge um die mit dem Fluch belegte Frau. Mir war unklar, ob für sie nicht jede Hilfe zu spät kam, doch auf alle Fälle musste ich denjenigen finden, der hinter dem Strudel steckte.
In dem Moment traf mich ein zweiter Schlag. Diesmal anders. Ohne Krampf, ohne Schmerz, nur die Kehle trocknete mir aus, mein Zahnfleisch ertaubte, das Blut pulsierte mir in den Schläfen, die Fingerspitzen fingen zu jucken an.
Treffer!
Aber warum ausgerechnet jetzt?
Ich erhob mich. Der Zug bremste bereits vor der nächsten Station ab. Ich ging an der Frau vorbei und spürte ihren Blick. Sie sah mir nach. Ängstlich. Auch wenn sie den schwarzen Wirbel nicht wahrnahm, machte er sie anscheinend nervös, zwang sie, die Leute in ihrer Nähe im Auge zu behalten.
Vielleicht war sie überhaupt nur deshalb noch am Leben?
Möglichst ohne in ihre Richtung zu blicken, steckte ich die Hand in die Tasche. Ertastete das Amulett, einen kalten, aus Onyx geschnitzten Stab. Eine Sekunde zögerte ich und versuchte, mir etwas anderes einfallen zu lassen.
Nein, es gab keine andere Möglichkeit.
Fest packte ich den Stab. Ein stechendes Kribbeln durchschoss meine Finger, dann wurde der Stein wärmer und gab die gespeicherte Energie ab. Dieser Eindruck stimmte, obwohl diese Wärme nicht mit dem Thermometer zu messen ist. Es war, als würde ich ein kleines Kohlestück aus einem Lagerfeuer zusammenpressen - ein Stück Kohle, das mit kalter Asche überzogen war, im Innern jedoch glühte.
Nachdem ich die Kraft des Amuletts völlig in mich eingesogen hatte, warf ich einen Blick auf die Frau. Der schwarze Strudel vibrierte und neigte sich leicht in meine Richtung. So stark, wie der Wirbel war, musste er in Ansätzen sogar über eine gewisse Intelligenz verfügen.
Ich schlug zu.
Wenn im Waggon - doch was heißt im Waggon -, wenn im ganzen Zug nur ein weiterer Anderer gewesen wäre, hätte er einen grellen Blitz gesehen, der mit gleicher Leichtigkeit durch Metall wie durch Beton schlug.
Nie zuvor hatte ich auf einen schwarzen Wirbel von derart komplizierter Struktur eingeschlagen. Und nie zuvor hatte ich das Amulett eingesetzt, wenn es derart aufgeladen war.
Die Wirkung übertraf absolut alles. Die schwächeren Flüche, die über anderen Leuten hingen, lösten sich in nichts auf. Eine ältere Frau, die sich müde die Stirn rieb, blickte verwundert auf ihre Hand: Ihre schwere Migräne war mit einem Mal wie weggeblasen. Ein junger Mann, der stumpfsinnig durch die Scheibe starrte, zuckte zusammen, seine Miene entspannte sich - und die dumpfe Schwermut wich aus seinem Blick.
Der schwarze Wirbel über der Frau schrumpfte um fünf Meter und schlingerte sogar zur Hälfte aus dem Waggon. Seine Struktur verlor er jedoch nicht, und im Zickzack fand er den Weg zurück zu seinem Opfer.
Was für eine Kraft!
Was für eine Zielsicherheit!
Es heißt - wobei ich zugeben muss, dass ich so etwas noch nie gesehen habe -, ein Wirbel verliere, sobald er auch nur um zwei, drei Meter gekappt wird, die Orientierung und hänge sich an den nächstbesten Menschen an. Auch kein Zuckerschlecken, aber fremde Flüche sind viel schwächer, womit das neue Opfer alle Chancen hat zu überleben.
Dieser Wirbel jedoch kam hartnäckig zurück wie ein treuer Hund zu seinem in Not geratenen Herrn!
Die Metro hielt. Ich betrachtete ein letztes Mal den Wirbel, der jetzt wieder über der Frau hing und sich sogar noch schneller drehte. Und es gab nichts, absolut nichts, was ich hätte tun können. Irgendwo hier auf diesem Bahnsteig, in greifbarer Nähe, befand sich das Ziel, das ich eine Woche lang in ganz Moskau gesucht hatte. Es jetzt laufen lassen, um der Frau zu folgen, das konnte ich einfach nicht. Der Chef würde mich in der Luft zerreißen - möglicherweise nicht nur im übertragenen Sinne.
Als die Türen mit einem Zischen auseinander gingen, warf ich einen allerletzten Blick auf die Frau und prägte mir rasch ihre Aura ein. Die Chancen, sie in dieser
Riesenstadt wiederzufinden, standen nicht gerade günstig. Trotzdem musste ich es versuchen.
Aber nicht jetzt.
Ich sprang aus dem Waggon und schaute mich um. Im Außendienst fehlte mir in der Tat jede Erfahrung, da hatte der Chef absolut Recht. Trotzdem gefielen mir seine Ausbildungsmethoden nicht im Geringsten.
Wie um alles in der Welt sollte ich mein Ziel finden?
Wenn ich die Leute mit meinem gewöhnlichen Blick ansah, wirkte auch nicht einer von ihnen verdächtig. Selbst jetzt wimmelte es hier nur so von Menschen - immerhin war das die Kurskaja, eine Station mitten auf der Ringlinie, mit Übergang zum Kursker Bahnhof, auf dem Reisende ankamen und Händler in alle Himmelsrichtungen abfuhren, zudem eine Station, wo auch etliche Moskauer umstiegen, um zu der Linie zu hetzen, die sie in ihre Schlafbezirke brachte. Sobald ich die Augen schloss, bot sich mir freilich ein weitaus faszinierenderes Bild: die wie üblich zum Abend hin verblassten Auren. Mittendrin loderte als greller, purpurroter Fleck die Bosheit von jemandem auf, leuchtete in kräftigem Orange ein Pärchen, das es offenbar kaum erwarten konnte, miteinander ins Bett zu steigen, während die Auren der Betrunkenen in verwaschenen braungrauen Streifen zerflossen.
Und nirgends eine Spur. Bloß diese trockene Kehle, dieses Jucken im Zahnfleisch und ein wie irrsinnig hämmerndes Herz. Dieser Beigeschmack von Blut auf den Lippen. Die wachsende Anspannung.
Alles nur indirekte Hinweise - und doch zu eindeutig, als dass ich sie hätte ignorieren können.
Wer konnte es sein? Wer?
Hinter mir setzte sich der Zug in Bewegung. Das Gefühl, ganz in der Nähe meines Ziels zu sein, ließ nicht nach, es musste also hier irgendwo sein. Auf dem gegenüberliegenden Gleis fuhr ein Zug ein. Ich spürte, wie das Ziel sich regte und auf ihn zuging.
Vorwärts!
Ich überquerte den Bahnsteig, schlängelte mich zwischen den auf die Anzeigetafeln glotzenden Leuten hindurch, steuerte auf das Ende des Zugs zu - und spürte mein Ziel nicht mehr so deutlich. Sofort rannte ich zum ersten Waggon… ja… ich kam ihm wieder näher…
Heiß, kalt - wie in dem Kinderspiel.
Die Leute stiegen in die Wagen ein. Ich rannte am Zug entlang, spürte, wie sich glibberiger Speichel in meinem Mund sammelte, meine Zähne anfingen wehzutun, meine Finger sich verkrampften. In meinen Kopfhörern dröhnte die Musik.
In the shadow of the moon,
She danced in the starlight Whispering a haunting tune
To the night…
Was für ein passender Song! Erstaunlich passend sogar…
Was nichts Gutes verhieß.
Ich sprang zwischen den sich schließenden Türen hindurch, erstarrte, lauschte in mich hinein. Getroffen oder nicht? Denn visuell hatte ich mein Ziel nach wie vor nicht ausgemacht.
Doch, getroffen.
Die Metro jagte den Ring entlang, während meine alarmierten Instinkte schrien:»Hier! Ganz nah!«
Hatte ich vielleicht sogar den richtigen Waggon erwischt?
Heimlich musterte ich die anderen Fahrgäste, musste mich dann aber von dieser Hoffnung verabschieden. Hier gab es niemanden, der von besonderem Interesse gewesen wäre.
Gut, ich kann warten.
Feel no sorrow, feel no pain,
Feel no hurt, there’s nothing gained…
Only love will then remain,
She would say.
An der Station Prospekt Mira spürte ich, dass sich mein Ziel entfernte. Ich sprang aus dem Waggon und folgte denen, die hier umstiegen. Nah, ganz nah…
Auf dem Bahnsteig der Nord-Süd-Strecke nahm ich mein Ziel in fast schmerzhafter Weise wahr. Ein paar Kandidaten hatte ich bereits ins Auge gefasst: zwei junge Frauen, einen jungen Mann, einen Jungen. Sie alle kamen in Frage, doch wer von ihnen war es?
Mein Quartett stieg in denselben Waggon ein. Immerhin etwas. Ich folgte den vieren und wartete ab.
Eine der beiden Frauen stieg an der Rishskaja aus.
Ich spürte das Ziel genauso stark wie zuvor.
Der junge Mann stieg an der Alexejewskaja aus.
Sehr schön. Die andere Frau oder der Junge? Wer von den beiden?
Ich gestattete mir einen verstohlenen Blick auf sie. Die Frau war füllig, rosawangig und in die Lektüre des Moskowski Komsomolez vertieft. Sie schien in keiner Weise nervös. Der Junge, ihr genaues Gegenteil, nämlich mager und zerbrechlich, stand an der Tür und fuhr mit dem Finger über die Scheibe.
Meiner Ansicht nach war die Frau ungleich… appetitlicher. Zwei zu eins, dass sie es ist.
Doch im Allgemeinen gibt die Frage des Geschlechts den Ausschlag.
Allmählich konnte ich den Ruf hören. Noch ohne Worte, sondern nur als zarte, getragene Melodie. Die Töne aus meinen Kopfhörern drangen bereits nicht mehr zu mir durch, denn der Ruf erstickte die Musik ohne weiteres.
Weder die Frau noch der Junge wurden unruhig. Entweder konnten sie sehr viel ertragen - oder sie hatten sich sofort ergeben.
Der Zug fuhr in die Station Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft ein. Der Junge nahm die Hand von der Scheibe, stieg aus und ging schnellen Schrittes auf den alten Ausgang zu. Die Frau blieb im Waggon.
Verflucht!
Beide waren noch so nah, dass ich nicht auszumachen vermochte, wen von ihnen ich spürte.
Und plötzlich schwang sich die Melodie des Rufs jubelnd auf, und es schlich sich eine Stimme in sie ein.
Eine weibliche!
Ich sprang zwischen den sich schließenden Türen nach draußen und eilte dem Jungen nach.
Sehr schön. Die Jagd näherte sich dem Ende.
Bloß - wie sollte ich in dieser Situation mit einem entladenen Amulett zurechtkommen? Ich hatte keinen blassen Schimmer…
Es waren kaum Leute ausgestiegen, auf der Rolltreppe standen insgesamt nur vier Menschen. Zuoberst der Junge, dann eine Frau mit Kind, schließlich ich und hinter mir ein zerknitterter älterer Oberst. Die Aura des Offiziers war sehr schön, strahlte hell und setzte sich aus funkelnden stahlgrauen und hellblauen Tönen zusammen. Amüsiert und müde dachte ich bei mir, dass ich ihn ja zu Hilfe rufen könnte. Männer wie er glauben noch heute an den Begriff der Offiziersehre.
Nur, dass mir der alte Oberst weniger nutzen würde als eine Fliegenklatsche bei der Elefantenjagd.
Ohne weiter über solchen Unsinn nachzudenken, richtete ich den Blick wieder auf den Jungen. Mit geschlossenen Augen scannte ich seine Aura.
Das Ergebnis war entmutigend.
Ein schillerndes, halb durchsichtiges Leuchten hüllte ihn ein. Ab und an färbte es sich rot, dann ging es wieder in tiefes Grün über, um schließlich als dunkelblaues Licht aufzulodern.
Ein seltener Fall. Ein Schicksal, das noch nicht besiegelt war. Ein diffuses Potenzial. Der Junge konnte zu einem elenden Schuft heranwachsen, konnte sich zu einem guten und gerechten Menschen entwickeln oder sich als ein Niemand herausstellen, als leere Stelle, wie im Grunde die meisten Menschen auf dieser Welt. Alles war noch offen, wie es so schön heißt. Eine solche Aura umgibt in der Regel Kinder unter zwei, drei Jahren, während sie bei älteren kaum noch anzutreffen ist.
Womit klar war, weshalb der Ruf gerade ihm galt. Ein Leckerbissen, zweifelsohne.
Ich merkte, wie mir das Wasser im Munde zusammenlief.
Zu lange dauerte das alles schon, zu lange… Ich sah den Jungen an, blickte auf den dünnen Hals unter dem Schal und verwünschte den Chef, die Traditionen und Rituale - all das, was meine Arbeit ausmachte. Mein Zahnfleisch juckte, meine Kehle war ausgedörrt.
Blut hat einen bitteren, salzigen Geschmack, doch es allein vermag diesen Hunger zu stillen.
Verflucht!
Der Junge sprang von der Rolltreppe, rannte durch die Bahnhofshalle und verschwand durch die Glastür. Einen Augenblick lang fühlte ich mich besser. Mit etwas langsameren Schritten folgte ich ihm und beobachtete aus den Augenwinkeln heraus jede seiner Bewegungen: Der Junge tauchte in die Unterführung ab. Rannte schon, denn der Ruf zog ihn an, lockte ihn.
Schneller!
Ich sprintete zu einer Bude und knallte dem Verkäufer zwei Münzen hin.»Für sechs Rubel, mit Ringverschluss«, verlangte ich, möglichst ohne meine Zähne zu zeigen.
Der pickelige Verkäufer schlief fast ein - offenbar kippte er sich selbst den einen oder anderen während der Arbeit hinter die Binde -, als er mir mein Viertelliterchen reichte.»Hab schon besseren Wodka getrunken«, warnte er mich aufrichtig.»Ist zwar kein pures Gift, keine Dorochowskaja, aber trotzdem…«
»Die Gesundheit geht vor«, unterbrach ich ihn. Das Zeug hatte wirklich mit Wodka kaum was zu tun, tat’s im Moment aber. Mit einer Hand zog ich an dem Drahtring, sodass der Verschluss abging, mit der anderen kramte ich das Handy hervor und schaltete den Standardruf ein. Dem Verkäufer gingen die Augen über. Im Gehen nahm ich einen Schluck - der Wodka stank wie Kerosin und schmeckte noch schlimmer, die reinste Plörre, irgendwo heimlich zusammengepanscht - und rannte auf die Unterführung zu.
»Hallo?«
Larissa war schon nicht mehr da. Nachts schiebt in der Regel Pawel Dienst.
»Anton hier. Hotel Kosmos, irgendwo in der Nähe, in einem der Höfe. Ich folge ihm.«
»Eine Brigade?«In seiner Stimme schwang Interesse mit.
»Ja. Ich habe das Amulett schon entladen.«
»Was ist passiert?«
Ein Obdachloser, der in der Mitte der Unterführung vor sich hin döste, streckte die Hand aus, als hoffe er, ich würde ihm die angenuckelte Pulle überlassen. Ich raste an ihm vorbei.
»Da ist noch was anderes… Beeil dich, Pawel.«
»Die Jungs sind schon unterwegs.«
Plötzlich spürte ich im Kiefer einen Schmerz, als stieße jemand eine glühende Nadel in ihn hinein. Verdammte Scheiße aber auch…
»Pascha, ich kann nicht mehr für das garantieren, was ich tu«, sagte ich noch rasch, bevor ich die Verbindung unterbrach. Und vor zwei Milizionären auf Streife stehen blieb.
Ist doch immer dasselbe!
Warum müssen die Ordnungshüter der Menschen immer im unpassenden Moment erscheinen?
»Sergeant Kaminski«, rasselte der junge Milizionär herunter.»Ihre Papiere…«
Was sie mir wohl anhängen wollen? Trunkenheit in der Öffentlichkeit? Vermutlich.
Ich steckte die Hand in die Tasche und berührte das Amulett. Es strahlte kaum noch Wärme aus. Viel war hier jedoch auch nicht nötig.
»Mich gibt’s nicht«, sagte ich.
Zwei Augenpaare wanderten über mich, die schmackhafte Beute - bevor sie erloschen und das letzte Fünkchen Verständnis aus ihnen wich.
»Es gibt Sie in der Tat nicht«, echoten sie im Chor.
Die Zeit, sie richtig zu programmieren, fehlte mir. Deshalb platzte ich mit dem Erstbesten heraus, das mir in den Sinn kam:»Kauft euch einen Wodka und lasst es euch gut gehen. Sofort! Abmarsch!«
Offensichtlich traf der Befehl auf fruchtbaren Boden. Indem sie sich wie zwei Jungen beim Spaziergang an den Händen fassten zogen die Milizionäre durch die Unterführung in Richtung der Kioske ab. Leichte Gewissensbisse befielen mich, als ich mir die Folgen meines Befehls ausmalte, aber ich hatte einfach nicht die Zeit, noch etwas zu korrigieren.
Aus der Unterführung stürmte ich in der sicheren Überzeugung, dass bereits alles zu spät war. Doch der Junge, so seltsam das auch sein mochte, war noch nicht sehr weit gekommen. Leicht schwankend stand er da, etwa hundert Meter vor mir. Was für eine Widerstandskraft! Der Ruf hallte mit einer solchen Kraft, dass ich mich fragte, warum die wenigen Fußgänger nicht anfingen, das Tanzbein zu schwingen, warum die Oberleitungsbusse nicht vom Prospekt abbogen, nicht in diesen Tordurchgang drängten, dem süßen Schicksal entgegen…
Der Junge drehte sich um. Erblickte mich offenbar. Rasch ging er weiter.
Das war’s, er kapitulierte.
Während ich ihm folgte, überlegte ich fieberhaft, was ich tun sollte. Am klügsten wäre es, auf die Brigade zu warten - sie würde nur zehn Minuten brauchen, höchstens.
Inzwischen konnte jedoch allerlei passieren, konnte dem Jungen allerlei passieren.
Mitleid ist eine gefährliche Sache. Zum zweiten Mal fiel ich heute schon darauf rein. Erst in der Metro, als ich mein Amulett bei dem missglückten Versuch, den schwarzen Wirbel zu zerstören, entladen hatte. Und jetzt wieder, indem ich dem Jungen nachging.
Vor vielen Jahren habe ich mal einen Satz gehört, dem ich nie zustimmen wollte. Bis heute habe ich das auch nicht getan, obwohl ich mich schon oft genug davon überzeugen musste, dass er wahr ist.
Das Wohl der Allgemeinheit und das Wohl des Einzelnen gehen selten miteinander einher.
Stimmt, das sehe ich ein. Das ist die Wahrheit.
Aber gewiss gibt es eine Wahrheit, die schlimmer als die Lüge ist.
Ich rannte dem Ruf entgegen. Wahrscheinlich vernahm ich ihn nicht auf die Weise wie der Junge. Für ihn fügten sich die Töne zu einem betörenden Flehen, einer bezaubernden Melodie, die ihm seinen Willen und seine Kraft raubte. Für mich war es das genaue Gegenteil: ein das Blut aufwühlender Alarm.
Das Blut aufwühlend…
Der Körper, mit dem ich eine Woche lang Schindluder getrieben hatte, streikte jetzt. Ich wollte etwas trinken, aber kein Wasser - obwohl ich ohne irgendeinen Schaden meinen Durst mit dem dreckigen Schnee der Stadt hätte stillen können. Und auch keinen Alkohol - da hätte ich nur zu dem Fläschchen mit diesem ungenießbaren Fusel greifen müssen, der mir auch nicht geschadet hätte. Ich wollte Blut.
Und zwar weder von einem Schwein noch von einer Kuh, sondern von einem Menschen.
Verflucht sei diese Jagd…
»Du musst da durch«, hatte der Chef gesagt.»Fünf Jahre in der analytischen Abteilung sind eine lange Zeit, findest du nicht?«Ich weiß nicht, vielleicht ist das eine lange Zeit, aber mir gefällt es da. Außerdem gab sich der Chef selbst auch seit mehr als hundert Jahren nicht mehr mit operativer Arbeit ab.
Ich rannte an den erleuchteten Schaufenstern vorbei, in denen sich nachgemachte weißblaue Gsheler Keramik oder Lebensmittel aus Plastik türmten. Autos rasten vorbei, hier und da waren noch ein paar Leute unterwegs. Doch auch das war eine Fälschung, eine Illusion, war nur eine der Seiten der Welt - und die einzige, die Menschen zugänglich ist. Wie gut, dass ich kein Mensch bin.
In vollem Lauf rief ich das Zwielicht herbei.
Die Welt seufzte auf und trat zur Seite. Als würden mir die Scheinwerfer einer Startbahn in den Rücken knallen, grub sich plötzlich vor mir ein langer dünner Schatten in den Boden. Der Schatten wölkte auf und gewann Volumen, der Schatten zog sich in sich selbst zurück, in den Raum, in dem es keine Schatten mehr gibt. Riss sich vom schmutzigen Asphalt los, erhob sich, federnd, gleich einer Säule aus dichtem Rauch. Der Schatten lief vor mir her…
Während ich immer schneller rannte, zerschlug ich die graue Silhouette und trat ins Zwielicht ein. Die Farben der Welt verblassten, die Autos auf dem Prospekt schienen langsamer zu fahren, stecken zu bleiben.
Ich näherte mich dem Ort meiner Bestimmung.
Als ich in den Tordurchgang trat, war ich darauf gefasst, nur noch das Schlussbild zu sehen: den unbeweglichen, ausgelaugten, leer getrunkenen Körper des Jungen und die im Verschwinden begriffenen Vampire.
Doch ich kam rechtzeitig.
Der Junge stand vor der Vampirin, deren lange Eckzähne aufblitzten, und zog langsam den Schal weg. In diesem Moment hatte er bestimmt keine Angst - der Ruf erstickte das Bewusstsein absolut. Wahrscheinlich sehnte er sich sogar danach, dass die spitzen, funkelnden Eckzähne ihn berührten.
Neben den beiden stand ein Vampir. Intuitiv erfasste ich sofort, dass er das Sagen hatte: Er hatte die Frau initiiert, er hatte sie ans Blut gebracht. Und das Widerlichste von allem: Er hatte eine Moskauer Registriermarke. Dieses Schwein!
Immerhin erhöhte das meine Erfolgsaussichten.
Die Vampire drehten sich mir zu, waren jedoch verwirrt und begriffen nicht gleich, was hier vor sich ging. Der Junge stand in ihrem Zwielicht, sodass ich ihn nicht hätte sehen können, nicht hätte sehen dürfen. Wie sie selbst auch nicht.
Nach und nach entspannte sich das Gesicht des jungen Vampirs, er lächelte sogar, freundlich und ruhig.
»Hallo.«
Er hielt mich für einen von seinesgleichen. Was ihm nicht vorzuwerfen war: Im Moment war ich wirklich einer von ihnen. Fast. Die Woche Vorbereitung war nicht umsonst gewesen: Ich fing an, sie zu spüren - wäre dafür aber beinah selbst auf der Dunklen Seite gelandet.
»Nachtwache«, sagte ich. Ich streckte die Hand mit dem Amulett vor. Es war zwar entladen, aber das war auf die Entfernung nicht so leicht mitzukriegen.»Tretet aus dem Zwielicht heraus!«
Der Mann hätte womöglich gehorcht. In der Hoffnung, dass ich nichts von der Blutspur wusste, die er hinter sich herzog, und das Ganze als»Versuch der unerlaubten Interaktion mit einem Menschen«abgetan wurde. Doch die Frau verfügte nicht über seine Selbstbeherrschung und vermochte ihre Lage nicht einzuschätzen.
»Aaaah!!!«Heulend stürzte sie sich auf mich. Immerhin schlug sie ihre Zähne dann nicht dem Jungen ins Fleisch. Sie war jetzt absolut unzurechnungsfähig, wie eine Drogensüchtige auf Turkey, der man die Spritze, die sie sich gerade setzt, aus den Adern reißt, wie eine Nymphomanin, aus der man sich kurz vor dem Höhepunkt zurückzieht.
Für einen Menschen kam die Attacke zu schnell, niemand hätte sie parieren können.
Doch ich befand mich in derselben Realitätsschicht wie die Vampirin. Ich riss die Hand hoch und spritzte ihr etwas von dem Fusel direkt in das durch die Transformation entstellte Gesicht.
Warum vertragen Vampire Alkohol so schlecht?
Das bedrohliche Geschrei ging in ein leises Wimmern über. Die Vampirin drehte sich um sich selbst und hämmerte mit den Händen auf ihr Gesicht ein, von dem die Haut und das gräuliche Fleisch schichtweise abblätterten. Der Vampir aber wirbelte herum und wollte wegrennen.
Alles lief schon fast zu glatt. Ein registrierter Vampir ist kein zufälliger Gast, mit dem man einen fairen Kampf ausfechten müsste. Ich schleuderte den Flachmann gegen die Vampirin, streckte die Hand aus und erwischte die Schnur der Registriermarke, die sich gehorsam abrollte. Aufstöhnend fasste sich der Vampir an den Hals.
»Komm aus dem Zwielicht raus!«, schrie ich.
Anscheinend begriff er, dass er richtig in der Klemme saß. Indem er sich auf mich stürzte, versuchte er, der gespannten Schnur den Druck zu nehmen. Aus der Bewegung heraus ließ er die Eckzähne hervortreten und begann seine Transformation.
Wenn das Amulett voll geladen gewesen wäre, hätte ich ihn einfach betäubt.
So aber musste ich ihn umbringen.
Die Marke - ein leicht glänzendes, hellblaues Siegel auf der Brust des Vampirs - knirschte, als ich einen lautlosen Befehl aussandte. Die Energie, die von jemandem stammte, der weitaus fähiger war als ich, ergoss sich in den toten Körper. Der Vampir rannte noch. Er war satt, stark, und noch nährte fremdes Leben das tote Fleisch. Doch einen Schlag von dieser Kraft vermochte er nicht auszuhalten: Die Haut trocknete ein, legte sich wie Pergament über die Knochen, die Gallerte sickerte aus den Augenhöhlen. Dann brach die Wirbelsäule auseinander, und das zuckende Gerippe krachte vor meinen Füßen zusammen.
Ich drehte mich zurück - die Vampirin hatte das Bewusstsein schon zurückerlangt. Gefahr ging von ihr jedoch keine mehr aus. Mit riesigen Sprüngen hastete sie über den Hof davon. Noch immer war sie nicht aus dem Zwielicht herausgetreten, sodass dieses frappierende Schauspiel nur ich zu sehen vermochte. Und die Hunde natürlich. Von irgendwoher erklang das hysterische Gebell einer kleinen Töle, die Hass und Angst gleichermaßen gefangen hielten - und all die Gefühle, die die Hunderasse seit Urzeiten für diese lebenden Toten hegt.
Die Vampirin zu verfolgen fehlte mir die Kraft. Ich reckte mich und nahm einen Abdruck ihrer Aura, einer ausgetrockneten, grauen, muffigen Aura. Sie würde uns nicht entkommen.
Doch wo steckte der Junge?
Nachdem er aus dem von den Vampiren geschaffenen Zwielicht herausgetreten war, konnte er entweder in Ohnmacht oder in völlige Erstarrung gefallen sein. Im Tordurchgang war er jedoch nicht zu sehen. An mir vorbeigelaufen sein konnte er auch nicht… Ich stürmte aus dem Durchgang in den Hof, wo ich den Jungen tatsächlich entdeckte. Er hatte sich womöglich noch schneller davongemacht als die Vampirin. Tapferer kleiner Kerl! Ein echtes Wunder. Meine Hilfe brauchte er gewiss nicht. Bloß dumm, dass er sich an alles erinnerte - aber wer würde schon einem kleinen Jungen glauben? Bis morgen früh würde die Erinnerung verblasst sein, sich verwischt, sich in einen irrealen Albtraum verwandelt haben.
Oder sollte ich dem Jungen trotzdem nach?
»Anton!«
Vom Prospekt her kamen Igor und Garik angerannt, unser Einsatzteam im Doppelpack.
»Die Frau ist entkommen!«, rief ich.
Garik kickte im vollen Lauf gegen die vertrocknete Leiche des Vampirs, worauf eine Wolke modrigen Gestanks in die eisige Luft aufstieg.»Den Abdruck!«, schrie er.
Ich übermittelte ihm den Abdruck der geflohenen Vampirin. Garik verzog das Gesicht und legte einen Zahn zu. Die Fahnder nahmen die Verfolgung auf.»Kümmer dich um den Müll!«, brüllte Igor mir noch zu.
Mit einem Nicken - als ob sie eine Antwort erwarteten - trat ich aus meinem Zwielicht heraus. Die Welt gewann an Farbe. Die Silhouetten der beiden Jungs aus der operativen Abteilung zerschmolzen, selbst der Schnee, der in der Menschenwelt lag, wurde nicht länger von unsichtbaren Füßen platt getreten.
Aufseufzend ging ich zu dem am Straßenrand geparkten grauen Volvo. Auf der Rückbank lagen ein paar banale Dinge, die ich gut gebrauchen konnte: ein stabiler Plastiksack, eine Schaufel und ein Besen. In fünf Minuten hatte ich die Reste des Vampirs, die kaum etwas wogen, zusammengefegt und den Sack im
Kofferraum verstaut. Aus dem kümmerlichen Schneehaufen, den der schlampige Hausmeister liegen gelassen hatte, holte ich etwas schmutzigen Schnee, den ich im Durchgang verteilte und feststampfte, um die Moderreste tief unter dem Dreck zu begraben. Eine menschliche Bestattung bekommst du nicht, denn du bist kein Mensch…
Das war’s dann.
Ich ging zum Auto zurück, setzte mich hinters Steuer und machte meine Jacke auf. Es ging mir gut. Sogar sehr gut. Der Anführer der beiden Vampire war tot, seine Freundin würden unsere Leute einfangen, der Junge lebte.
Der Chef würde zufrieden sein!
Zwei
»Pfusch!«
Ich versuchte etwas einzuwenden, doch der nächste Ausruf, der knallend wie eine Ohrfeige kam, verschloss mir den Mund.
»Schlamperei!«
»Aber…«
»Ist dir wenigstens klar, was du alles falsch gemacht hast?«
Der Chef hörte sich nicht mehr ganz so aufgebracht an, sodass ich es wagte, den Blick zu heben.»Im Großen und Ganzen…«, brachte ich vorsichtig hervor.
Ich halte mich gern im Zimmer des Chefs auf. Irgendetwas Kindliches wird in mir angesprochen, wenn ich all die komischen Sachen sehe, die in Vitrinen hinter Panzerglas stehen, an den Wänden hängen, in wüstem Durcheinander auf dem Tisch herumliegen und sich mit Disketten und Geschäftsunterlagen zu einem Ganzen fügen. Angefangen bei dem alten japanischen Fächer bis hin zu jenem verbogenen Stück Metall mit dem aufgesetzten Elch, dem Emblem eines Autoherstellers, gibt es zu jedem Stück eine Geschichte. Wenn der Chef bei Laune ist, weiß er die kuriosesten Dinge zu erzählen.
Nur dass ich ihn selten in dieser Stimmung erwische.
»Gut.«Der Chef hörte auf, durchs Zimmer zu tigern, nahm in einem Ledersessel Platz und zündete sich eine Zigarette an.»Dann fang mal an.«
Seine Stimme hatte einen sachlichen Ton angenommen, passend zu seiner äußeren Erscheinung. Für ein menschliches Auge wirkte er wie ein Vierzigjähriger und gehörte jener schmalen Mittelschicht von Geschäftsleuten an, auf die die Regierung so gern ihre Hoffnungen setzt.
»Womit?«, fragte ich, wobei ich es riskierte, mir eine weitere klug abgewogene Beurteilung meiner Person einzufangen.
»Mit der Auflistung der Fehler. Deiner Fehler.«
Das heißt also… Gut.»Mein erster Fehler, Boris Ignatjewitsch«, fing ich mit Unschuldsmiene an,»bestand darin, dass ich meine Aufgabe falsch verstanden habe.«
»Ah ja?«, hakte der Chef nach.
»Nun, ich habe gedacht, dass ich den Vampir ausfindig machen sollte, der seit kurzem in Moskau auf Jagd ging. Ihn ausfindig und… äh… unschädlich machen.«
»Nur weiter…«, spornte der Chef mich an.
»Eigentlich sollte mit der Aufgabe aber meine Eignung für die operative Arbeit und den Außendienst getestet werden. Da ich von einer falschen Einschätzung meiner Aufgabe ausging, genauer gesagt, da ich nach dem Prinzip abgrenzen und schützen handelte…«
Der Chef seufzte und nickte. Jemand, der ihn nicht so gut kannte wie ich, hätte vermutlich gedacht, er sei verlegen.
»Hast du dieses Prinzip denn verletzt?«
»Nein. Und deshalb habe ich das Ganze ja vermasselt.«
»Und wie?«
»Gleich am Anfang…«Mein Blick streifte eine ausgestopfte Schnee-Eule, die in einer Vitrine stand. Hatte sie gerade den Kopf bewegt oder nicht?»Gleich am Anfang habe ich mein Amulett bei dem missglückten Versuch, einen schwarzen Strudel zu neutralisieren, entladen…«
Boris Ignatjewitsch verzog das Gesicht. Er strich sich das Haar glatt.»Gut, fangen wir damit an. Ich habe mir die Form genau angeschaut, und wenn du nicht übertrieben hast…«
Empört schüttelte ich den Kopf.
»Ich glaube dir ja. Also, gegen einen derartigen Strudel kommt man mit einem Amulett nicht an. Kannst du dich noch an die Klassifikation erinnern?«
Mist! Warum hatte ich mir bloß nicht noch einmal die alten Unterlagen vorgenommen?
»Ich bin mir sicher, dass du sie nicht im Kopf hast. Das spielt aber keine Rolle, denn dieser Strudel fällt völlig aus dem Schema heraus. So oder so wäre es dir nicht gelungen, mit ihm fertig zu werden…«Der Chef beugte sich über den Tisch zu mir herüber und sagte in verschwörerischem Flüsterton:»Und weißt du was…«
Ich horchte auf.
»Mir auch nicht, Anton.«
Dieses Geständnis kam unerwartet, und ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Zwar sprach niemand laut die Ansicht aus, der Chef bringe absolut alles fertig, dennoch hegten alle Mitarbeiter des Büros diese Überzeugung.
»Anton, einen Strudel von solcher Kraft… kann nur der Urheber vernichten.«
»Dann müssen wir ihn finden…«, bemerkte ich unsicher.»Nicht auszudenken, wenn der Frau…«
»Um sie geht es gar nicht. Zumindest nicht um sie allein.«
»Wieso denn nicht?«, platzte ich heraus und schob rasch hinterher:»Müssen wir einem Dunklen Magier das Handwerk legen?«
Der Chef seufzte.»Womöglich hat er eine Lizenz. Womöglich hat er das Recht, sie mit dem Fluch zu belegen… Doch es geht noch nicht einmal um den Magier. Ein schwarzer Strudel von derartiger Kraft… Erinnerst du dich noch an den Flugzeugabsturz im letzten Winter?«
Ich erschauerte. Nachlässigkeit brauchten wir uns nicht vorzuwerfen, das Unglück ließ sich wohl eher auf eine Gesetzeslücke zurückführen: Der Pilot, der mit dem Fluch belegt worden war, hatte die Kontrolle über das Flugzeug verloren, das dann über der Stadt abgestürzt war. Hunderte von unschuldigen Menschenleben…
»Solche Strudel können nicht gezielt eingesetzt werden. Die Frau ist dem Tode geweiht, aber ihr wird kein Dachziegel auf den Kopf fallen. Eher stürzt das ganze Haus ein, bricht eine Epidemie aus, wird zufälligerweise eine Atombombe über Moskau abgeworfen. Darin besteht das Unglück, Anton.«
Der Chef drehte sich plötzlich um und warf einen vernichtenden Blick auf die Eule. Rasch legte sie die Flügel an, während das Funkeln in den Glasaugen erlosch.
»Boris Ignatjewitsch…«, sagte ich entsetzt.»Das ist meine Schuld…«
»Sicher ist es das. Dich rettet nur noch eins, Anton.«Der Chef räusperte sich.»Indem du Mitleid gezeigt hast, hast du genau das Richtige getan. Das Amulett konnte den Wirbel nicht vollständig zerschlagen, hat aber den Ausbruch des Infernos noch einmal hinausgezögert. Damit haben wir einen Tag gewonnen… vielleicht sogar zwei. Ich war schon immer der Ansicht, dass unüberlegtes, doch gut gemeintes Handeln mehr Nutzen bringt als überlegtes, aber grausames. Hättest du das Amulett nicht eingesetzt, läge bereits halb Moskau in Schutt und Asche.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Dieses arme Mädchen suchen. Es beschützen… so weit es in unseren Kräften steht. Wir können den Wirbel noch ein-, zweimal destabilisieren. In dieser Zeit müssen wir den Magier finden, der für den Fluch verantwortlich ist, und ihn zwingen, den Wirbel aufzulösen.«
Ich nickte.
»An der Suche werden sich alle beteiligen«, sagte der Chef wie nebenbei.»Ich habe unsere Leute aus dem Urlaub zurückgerufen. Gegen Morgen treffen Ilja und Semjon aus Ceylon ein, gegen Mittag die übrigen. Das Wetter in Europa ist schlecht, ich habe die Kollegen aus dem Europabüro um Hilfe gebeten, aber noch sind sie dabei, die Wolken auseinander zu treiben…«
»Gegen Morgen?«Ich sah auf die Uhr.»Das ist noch einen Tag hin.«
»Nein, heute Morgen«, erwiderte der Chef, ohne sich um die mittägliche Sonne zu scheren, die durchs Fenster schien.»Du wirst dich auch auf die Suche machen. Vielleicht gelingt es dir noch einmal… Wollen wir jetzt deine anderen Fehler durchgehen?«
»Lohnt denn diese Zeitverschwendung?«, fragte ich schüchtern.
»Keine Angst, wir verschwenden keine Zeit.«Der Chef erhob sich, ging zu der Vitrine, entnahm ihr die ausgestopfte Eule und pflanzte sie auf den Tisch. Aus der Nähe betrachtet, konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass sie tatsächlich ausgestopft war, dass in ihr nicht mehr Leben steckte als in einem Pelzkragen…»Kommen wir zu den Vampiren und ihrem Opfer.«
»Die Vampirin ist mir entwischt. Und unsere Leute haben sie nicht mehr geschnappt«, gab ich zerknirscht zu.
»In dieser Hinsicht hast du dir nichts vorzuwerfen. Du hast dich wacker geschlagen. Das Problem ist das Opfer…«
»Stimmt, der Junge kann sich an alles erinnern. Aber er ist einfach abgehauen…«
»Anton! Ich bitte dich! Der Junge folgte einem Ruf, der aus einer Entfernung von einigen Kilometern kam! Als er in den Tordurchgang trat, hätte er hilflos wie eine Marionette sein müssen! Und als sich das Zwielicht auflöste, hätte er in Ohnmacht fallen müssen! Anton, wenn er nach alldem noch in der Lage war, sich zu bewegen, schlummert in ihm ein phänomenales magisches Potenzial.«
Der Chef schwieg.
»Ich Idiot!«
»Nicht doch. Du hockst einfach schon zu lange in deinem Labor. Anton, dieser Junge hat das Zeug, mächtiger zu werden als ich!«
»Das ist doch…«
»Sehen wir den Tatsachen ins Auge…«
Das Telefon auf dem Tisch klingelte. Offenbar musste es etwas Wichtiges sein, denn kaum jemand kannte die Durchwahl des Chefs. Ich zum Beispiel kenne sie nicht.
»Ruhe!«, befahl der Chef dem unschuldigen Apparat, der daraufhin verstummte.»Anton, wir müssen diesen Jungen finden. Die geflohene Vampirin stellt an und für sich keine Gefahr dar. Entweder erwischen Igor und Garik sie doch noch, oder sie läuft einer unserer Streifen in die Arme. Doch wenn sie den Jungen aussaugt - oder, was noch schlimmer wäre, ihn initiiert… Dir ist nicht klar, was es mit einem richtigen Vampir auf sich hat. Die von heute - das sind doch nur Mücken verglichen mit irgend so einem Nosferatu. Dabei war er noch nicht einmal einer der größten, auch wenn er sich noch so sehr aufgespielt hat… Daher muss der Junge gefunden, untersucht und, wenn möglich, in die Wache aufgenommen werden. Wir dürfen ihn nicht der Dunklen Seite überlassen, denn dann würde das Gleichgewicht in Moskau endgültig zusammenbrechen.«
»Was ist das? Ein Befehl?«
»Eine Lizenz«, sagte der Chef düster.»Ich habe das Recht, Anweisungen dieser Art zu erlassen, wie du weißt.«
»Ja«, erwiderte ich leise.»Womit soll ich anfangen? Besser gesagt, mit wem?«
»Wie du willst. Vielleicht trotz allem mit der Frau. Versuch aber auch, den Jungen zu finden.«
»Ich gehe dann jetzt?«
»Schlaf dich erst mal aus.«
»Ich hab genug geschlafen, Boris Ignatjewitsch…«
»Das glaube ich nicht. Ich würde dir raten, dich noch ein Stündchen aufs Ohr zu legen.«
Ich verstand gar nichts mehr. Um elf war ich heute aufgestanden und sofort ins Büro gerast, fühlte mich frisch und voller Kraft.
»Und das ist deine Assistentin.«Der Chef schnipste mit den Fingern gegen die ausgestopfte Eule. Der Vogel breitete die Flügel aus und schrie empört auf.
Ich schluckte.»Wer ist das?«, traute ich mich zu fragen.»Oder besser, was ist das?«
»Wozu willst du das wissen?«, entgegnete der Chef, während er der Eule fest in die Augen sah.
»Um entscheiden zu können, ob ich mit ihm zusammenarbeiten möchte!«
Die Eule sah zu mir herüber und fauchte wie eine wütende Katze.
»Du hast die Frage falsch formuliert.«Der Chef schüttelte den Kopf.»Ob sie mit dir zusammenarbeiten möchte - darum geht es.«
Die Eule schrie erneut auf.
»Ja«, sagte der Chef, bereits nicht mehr an mich gewandt, sondern an den Vogel.»Du hast in vielem Recht. Aber hatte nicht Jemand darum gebeten, erneut Berufung einzulegen?«
Der Vogel erstarrte.
»Ich verspreche dir, dass ich mich hinter die Sache klemme. Und diesmal haben wir gute Chancen.«
»Boris Ignatjewitsch, meiner Meinung nach…«, setzte ich an.
»Entschuldige, Anton, aber deine Meinung kümmert
mich nicht…«Der Chef streckte den Arm aus, und die Eule wackelte unsicher auf ihren pludrigen Beinen heran, um sich auf seiner Hand niederzulassen.»Dir ist gar nicht klar, was du für ein Glück hast.«
Ich schwieg. Der Chef ging zum Fenster, riss es auf und hielt den Arm hinaus. Die Eule schlug mit den Flügeln und sauste im Sturzflug davon. Von wegen ausgestopft!
»Wohin fliegt… es?«
»Zu dir. Ihr werdet im Team arbeiten…«Der Chef rieb sich die Nasenwurzel.»Gut! Sie heißt Olga, merk dir das.«
»Die Eule?«
»Ja. Du wirst sie füttern, dich um sie kümmern - dann wird alles klappen. Und jetzt… schläfst du noch ein bisschen, bevor du aufstehst. Ins Büro brauchst du gar nicht erst zu kommen, du wartest auf Olga, und ihr macht euch gleich an die Arbeit. Überprüfe die Ringlinie der Metro, zum Beispiel…«
»Wie, noch ein bisschen schlafen…?«, setzte ich an. Doch die Welt um mich herum verblasste, verlosch bereits, löste sich auf. Schmerzhaft bohrte sich mir ein Zipfel von einem Kissen in die Wange.
Ich lag in meinem eigenen Bett.
Mein Kopf war schwer, meine Augen verklebt. Meine Kehle war ausgetrocknet und tat weh.
»Ah…«, stöhnte ich heiser auf und drehte mich auf den Rücken. Durch die schweren Gardinen war nicht zu erkennen, ob es noch Nacht war oder schon längst heller Tag. Mit zusammengekniffenen Augen sah ich auf die Uhr: Die Leuchtziffern zeigten acht Uhr an.
Zum ersten Mal hatte mir der Chef eine Audienz im Traum gewährt.
Das ist keine angenehme Sache, vor allem für den Chef nicht, der sich in mein Bewusstsein hineinzwängen musste.
Offenbar lief uns wirklich die Zeit davon, wenn er es für notwendig hielt, mir meine Anweisungen in der Welt der Träume zu erteilen. Dabei - wie real sie gewirkt hatten! Das hätte ich nie für möglich gehalten. Die Analyse meines Auftrags, diese idiotische Eule…
Plötzlich fuhr ich zusammen - irgendetwas klopfte ans Fenster. Ein feines Geräusch, immer wieder, als trommle jemand mit Krallen gegen die Scheibe. Ein gedämpfter Vogelschrei drang zu mir ins Zimmer.
Was hatte ich denn erwartet?
Mit einem Satz war ich aus dem Bett, zog mir unbeholfen die Unterhose zurecht und rannte zum Fenster. Der ganze Mist, den ich zur Vorbereitung auf die Jagd in mich hineingekippt hatte, wirkte noch, und ich konnte jeden Gegenstand klar erkennen.
Mit einem Ruck riss ich die Gardinen zur Seite. Zog die Jalousie hoch.
Die Eule saß auf dem Fensterbrett. Sie blinzelte leicht - immerhin war es schon aufgeklart und damit für sie zu hell. Von der Straße aus dürfte natürlich nur mit Mühe zu erkennen gewesen sein, was für ein Vogel da vor dem Fenster im neunten Stock saß. Dafür wären meine Nachbarn, wenn sie denn herausgeschaut hätten, ziemlich von den Socken gewesen. Eine Schnee-Eule mitten im Zentrum von Moskau!
»Was um alles…«, sagte ich leise.
Ich hätte mich gern einer kräftigeren Ausdrucksweise bedient. Doch diese Gewohnheit hatte man mir gleich zu Beginn meiner Arbeit in der Wache abgewöhnt. Genauer gesagt, ich hatte sie mir selbst abgewöhnt. Wenn du ein-, zweimal einen dunklen Wirbelsturm über jemandem siehst, den du gerade in Grund und Boden geschimpft hast, fängst du sofort an, deine Zunge in Zaum zu halten.
Die Eule sah mich an. Sie wartete.
Überall spektakelten Vögel. Ein Schwarm Spatzen hatte sich etwas weiter weg in einem Baum niedergelassen und tschilpte in einem fort. Die Raben erfrechten sich schon stärker. Sie hatten den Balkon nebenan und die Bäume in der Nähe mit Beschlag belegt. Sie krächzten ohne Unterlass und sprangen immer mal wieder von den Zweigen und zogen ihre Kreise vorm Fenster. Ihr Instinkt sagte ihnen, dass sie fürderhin von einem derart ungewöhnlichen Nachbarn nichts Gutes zu erwarten hatten.
Die Eule zeigte jedoch keinerlei Reaktion. Sie pfiff sowohl auf die Spatzen als auch auf die Raben - genauer, sie hätte es, wenn sie gekonnt hätte.
»Was bist du denn für eine?«, murmelte ich, während ich das Fenster öffnete und dabei erbarmungslos das Papier zerriss, das im Winter gegen Zugluft über die Rahmen geklebt war. Der Chef hat seltsame Vorstellungen von meinem Partner… meiner Partnerin…
Mit einem Flügelschlag kam die Eule ins Zimmer geflogen, setzte sich auf den Kleiderschrank und schloss die Augen bis auf einen Spalt. Als ob sie schon ein Jahrhundert hier gelebt hätte. Ob sie sich unterwegs verkühlt hatte? Wohl kaum, schließlich war sie eine Schnee-Eule.
Während ich mich daran machte, das Fenster wieder zu schließen, dachte ich darüber nach, was ich als Nächstes tun sollte. Wie sollte ich mit ihr kommunizieren, wie sie füttern, und wie, bitte schön, sollte dieses gefiederte Wesen in der Lage sein, mir zu helfen?
»Du heißt also Olga?«, fragte ich, nachdem ich mit dem Fenster fertig war. Durch die Ritzen zog es zwar noch, doch das konnte warten.»He, Vogel!«
Die Eule öffnete das eine Auge ein wenig weiter. Sie scherte sich um mich fast genauso wenig wie um die wuseligen Spatzen.
Mit jedem Augenblick kam ich mir blöder vor. Erstens kriegte ich hier einen Partner präsentiert, mit dem ich nicht kommunizieren konnte. Und zweitens war es ja eine Frau!
Wenn auch eine Eule.
Ob ich mir Hosen anziehen sollte? Ich stand vor ihr, mit nichts weiter an als meinen verknautschten Unterhosen, unrasiert, verschlafen…
Ich kam mir wie der letzte Idiot vor, als ich meine Sachen zusammensuchte und aus dem Zimmer stolperte.»Entschuldigen Sie, ich bin gleich wieder da«, rief ich der Eule beim Hinausstürzen zu - der Pinselstrich, der mein Porträt vollendete.
Wenn dieser Vogel tatsächlich das war, was ich vermutete, hatte ich nicht gerade den besten Eindruck gemacht.
Eigentlich wollte ich unbedingt duschen, doch eine solche Zeitverschwendung durfte ich mir nicht leisten. Es musste reichen, wenn ich mich rasierte und mir den dröhnenden Schädel unter kaltes Wasser hielt. Auf einem Regal fand ich zwischen diversen Shampoos und
Deos etwas Eau de Cologne, das ich normalerweise nicht benutze.
»Olga?«, rief ich, während ich den Flur hinunterblickte.
Ich entdeckte die Eule in der Küche, auf dem Kühlschrank. Wie tot saß sie da, ein ausgestopfter Vogel, der hier zum Scherz aufgestellt worden war. Fast wie beim Chef in der Vitrine.
»Lebst du?«, fragte ich.
Missmutig sah mich ein bernsteingelbes Auge an.
»Schon gut.«Ich breitete die Arme aus.»Fangen wir von vorn an? Mir ist völlig klar, dass ich keine sonderlich gute Figur abgegeben habe. Und ich gestehe es ein: Das ist bei mir chronisch.«
Die Eule horchte auf.
»Ich weiß nicht, wer du bist.«Ich schnappte mir einen Hocker und setzte mich vor den Kühlschrank.»Und du kannst es mir auch nicht sagen. Immerhin kann ich mich dir vorstellen. Ich bin Anton. Vor fünf Jahren hat sich herausgestellt, dass ich ein Anderer bin.«
Der Laut, den die Eule von sich gab, erinnerte noch am ehesten an ein unterdrücktes Lachen.
»Ja«, bekräftigte ich.»Erst vor fünf Jahren. Doch so was kommt vor. Ich hatte ungeheure Schwellenangst. Wollte die Zwielicht-Welt einfach nicht sehen. Und habe sie auch nicht gesehen. Zumindest so lange nicht, bis mir der Chef über den Weg gelaufen ist.«
Offenbar interessierte die Eule das schon mehr.
»Damals führte er eine praktische Übung durch. Er hat den Außendienstarbeitern beigebracht, wie man unerkannte Andere ausfindig macht. Dabei bin ich ihm über den Weg gelaufen…«Bei der Erinnerung musste ich grinsen.»Natürlich hat er meine Abschirmung durchbrochen. Alles andere war dann das reinste Kinderspiel… Ich habe den Adaptionskurs absolviert und danach in der analytischen Abteilung angefangen. Wobei… es eigentlich keine nennenswerten Änderungen in meinem Leben gab. Ich wurde ein Anderer, ohne es selbst zu merken. Dem Chef hat das zwar nicht gepasst, aber er hat keinen Ton gesagt. Meine Arbeit mache ich gut - und alles andere geht ihn nichts an. Aber vor einer Woche ist ein verrückter Vampir in Moskau aufgetaucht. Und ausgerechnet ich erhielt den Auftrag, ihn unschädlich zu machen. Angeblich, weil alle Fahnder anderweitig beschäftigt waren. In Wahrheit aber, damit ich auch mal Pulver roch. Vielleicht ist das ja sogar der richtige Weg. Aber in dieser Woche sind drei weitere Menschen gestorben. Ein echter Profi hätte dieses Pärchen innerhalb von vierundzwanzig Stunden geschnappt…«
Ich hätte zu gern gewusst, wie Olga darüber dachte. Doch die Eule gab keinen Laut von sich.
»Was ist also wichtiger, um das Gleichgewicht zu wahren?«, fragte ich sie dennoch.»Mich in der operativen Arbeit fortzubilden oder das Leben von drei absolut unschuldigen Menschen zu retten?«
Die Eule schwieg.
»Mit meinen normalen Möglichkeiten konnte ich Vampire nicht spüren«, fuhr ich fort.»Ich musste mich erst in Resonanz versetzen. Menschenblut habe ich aber nicht getrunken. Schweineblut musste reichen. Und all diese Präparate - du weißt ja, was ich meine…«
Während ich über die Präparate sprach, stand ich auf, öffnete den Schrank über dem Herd und holte ein fest verkorktes Glas heraus. Von dem klumpigen braunen Pulver klebte nur noch ein letzter Rest am Boden, sodass es sich nicht lohnte, es in unserer Materialausgabe vorbeizubringen. Ich schüttete das Pulver ins Spülbecken und stellte das Wasser an, woraufhin ein würziger benebelnder Geruch die Küche erfüllte. Das Glas wusch ich aus und schmiss es dann in den Mülleimer.
»Ich bin schon fast nicht mehr ich selbst gewesen«, bemerkte ich.»Und zwar im buchstäblichen Sinne. Als ich gestern Morgen von der Jagd zurückkam… ist mir vor dem Haus meine Nachbarin begegnet. Ich habe mich noch nicht mal getraut, sie zu begrüßen, weil die langen Eckzähne schon anfingen hervorzukommen. Und heute Nacht, als ich den Ruf vernommen habe, der dem Jungen galt… hat nicht viel gefehlt, und ich hätte mit den Vampiren gemeinsame Sache gemacht.«
Die Eule sah mir in die Augen.
»Glaubst du, dass mich der Chef deshalb ausgesucht hat?«
Ein ausgestopfter Vogel. Ein paar Federn über einem Wattekern.
»Damit ich sie mit ihren Augen sehe?«
Im Flur ertönte die Klingel. Ich seufzte und breitete die Arme aus: Was soll ich machen, bist selber schuld, jeder x-beliebige Gesprächspartner ist besser als dieser langweilige Vogel. Auf dem Weg zur Tür schaltete ich das Licht ein, bevor ich öffnete.
Vor mir stand ein Vampir.
»Komm rein«, sagte ich.»Komm rein, Kostja.«
Verlegen trat er von einem Bein aufs andere, kam dann aber doch herein. Als er sich das Haar glatt strich, merkte ich, dass seine Hände schweißnass waren und sein Blick unruhig umherirrte.
Kostja war erst siebzehn. Er war von Geburt an Vampir, ein ganz gewöhnlicher, normaler Stadtvampir. Eine verdammt unangenehme Situation: Mit Vampiren als Eltern hat ein Kind kaum eine Chance, als Mensch aufzuwachsen.
»Ich bringe die CDs«, brummelte Kostja.»Hier.«
Ich nahm ihm den Stapel CDs ab, ohne mich darüber zu wundern, dass es so viele waren. Normalerweise muss man Kostja ewig hinterherrennen, bis er die Scheiben zurückgibt - er ist vergesslich bis zum Geht-nichtmehr.
»Hast du schon alle gehört?«, fragte ich.»Und gebrannt?«
»Hm… Dann geh ich mal wieder…«
»Warte!«Ich packte ihn bei der Schulter und manövrierte ihn ins Zimmer.»Was ist los?«
Er schwieg.
»Du hast es schon gehört?«, vermutete ich.
»Wir sind nur sehr wenige, Anton.«Kostja sah mir in die Augen.»Wenn einer von uns stirbt, spüren wir das sofort.«
»Verstehe. Zieh die Schuhe aus und lass uns in die Küche sehen. Reden wir in Ruhe über alles.«
Kostja widersprach nicht. Fieberhaft überlegte ich, was ich machen sollte. Vor fünf Jahren, als ich ein Anderer geworden war und die Welt mir ihre ZwielichtSeite offenbart hatte, sah ich mich mit etlichen verblüffenden Entdeckungen konfrontiert. Doch dass direkt über mir eine Vampirfamilie wohnte, war wohl eine der schockierendsten.
Ich erinnere mich noch daran, als sei es gestern gewesen. Ich kam vom Unterricht nach Hause, völlig gewöhnlichem Unterricht, der mich an mein Institut denken ließ, das ich vor gar nicht so langer Zeit absolviert hatte. Drei Doppelstunden, ein Dozent, die Hitze, die die weißen Kittel am Körper kleben ließ: Wir hatten einen Hörsaal im Institut für Medizin angemietet. Ich ging nach Hause und trödelte ein wenig herum, verschwand mal im Zwielicht - nur kurz, mehr brachte ich noch nicht zustande -, mal sondierte ich die anderen Fußgänger. Und dann begegnete ich vor der Haustür meinen Nachbarn.
Sehr nette Menschen. Als ich mir einmal bei ihnen einen Drillbohrer leihen wollte, kam Kostjas Vater Gennadi, von Beruf Bauarbeiter, prompt mit zu mir, um mir im Kampf gegen die Betonwände beizustehen, als sei das nichts - und gab mir anschaulich zu verstehen, dass ein Intelligenzler ohne das Proletariat erledigt ist.
Und mit einem Mal sah ich, dass sie überhaupt keine Menschen waren.
Es war schrecklich. Eine braun-graue Aura, eine erdrückende Last. Wie gebannt blieb ich stehen und schaute sie voller Entsetzen an. Polina, Kostjas Mutter, entglitten leicht die Gesichtszüge, der Junge erstarrte und drehte sich weg. Das Familienoberhaupt dagegen kam auf mich zu, mit jedem Schritt weiter ins Zwielicht eindringend, kam mit jenem graziösen Gang auf
mich zu, der nur ihnen gegeben ist, den Vampiren, die zugleich lebendig und tot sind. Für sie ist das Zwielicht die ganz natürliche Umwelt.
Die Welt um uns herum war grau und tot. Ich selbst hatte gar nicht bemerkt, wie ich in seinem Sog ins Zwielicht abgetaucht war.
»Ich wusste immer, dass du eines Tages diese Barriere überschreiten würdest«, meinte er.»Das ist völlig in Ordnung.«
Ich trat einen Schritt zurück - und Gennadis Gesicht erzitterte.
»Da ist wirklich nichts dabei«, versicherte er. Er krempelte den Ärmel seines Hemds auf, sodass ich das Registrierungssiegel sehen konnte, einen hellblauen Abdruck auf grauer Haut.»Wir sind alle registriert. Polina! Kostja!«
Seine Frau trat ebenfalls ins Zwielicht und knöpfte die Bluse auf. Der Kleine bewegte sich nicht und zeigte das Siegel erst auf einen gestrengen Blick seines Vaters hin.
»Ich muss das überprüfen«, flüsterte ich. Meine Handbewegungen wollten mir nicht gelingen, zweimal vertat ich mich und musste von vorn anfangen. Geduldig ließ Gennadi alles über sich ergehen. Endlich reagierte das Siegel. Permanente Registrierung, keine Ordnungswidrigkeiten…
»Alles einwandfrei?«, fragte Gennadi.»Können wir gehen?«
»Ich…«
»Schon gut. Wir wussten, dass du irgendwann ein Anderer wirst.«
»Geht«, sagte ich. Das entsprach zwar nicht den Vorschriften, aber nach denen stand mir jetzt nicht der Sinn.
»Ja…«Bevor Gennadi aus dem Zwielicht trat, zögerte er kurz.»Ich war in deinem Hause… Fühl dich nicht länger an deine Einladung gebunden, Anton.«
Alles war völlig korrekt.
Nachdem sie gegangen waren, setzte ich mich auf eine Bank, neben eine alte Frau, die sich im zarten Sonnenschein wärmte. Bei einer Zigarette versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Die Frau sah mich an.
»Nette Leute, nicht wahr, Arkaschenka?«, tat sie ihre Meinung kund.
Nie konnte sie sich meinen Namen merken. Sie hatte noch höchstens zwei, drei Monate zu leben, das erkannte ich jetzt ganz deutlich.
»Nicht ganz…«, sagte ich. Drei Zigaretten später trottete ich nach Hause. Vor der Tür blieb ich kurz stehen, um zu sehen, wie der graue Weg, der»Vampirpfad«, erlosch. Erst am selben Tage hatte ich gelernt, ihn zu sehen…
Bis zum Abend trödelte ich herum. Blätterte in meinen Aufzeichnungen, wofür ich ins Zwielicht eintreten musste. In der normalen Welt waren diese dicken Hefte jungfräulich weiß. Zu gern hätte ich meinen Gruppenbetreuer angerufen - oder den Chef, denn der hatte mich unter seine Fittiche genommen. Doch ich ahnte, dass ich diese Entscheidung allein treffen musste.
Am Abend hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging einen Stock höher und klingelte. Kostja öffnete. Er zuckte zusammen. In der Realität wirkt er - wie seine gesamte Familie - völlig durchschnittlich…
»Ruf deine Eltern«, bat ich.
»Wozu?«, brummte er.
»Ich möchte euch zum Tee einladen.«
Gennadi tauchte hinter seinem Sohn auf, tauchte aus dem Nichts auf, denn er war weit fähiger als ich, der frisch gebackene Adept des Lichts.
»Bist du dir sicher, Anton?«, fragte er zweifelnd.»Das ist keineswegs nötig. Alles ist völlig in Ordnung so.«
»Ich bin mir sicher.«
Er schwieg. Dann zuckte er mit den Schultern.»Wir kommen morgen. Wenn du uns denn einlädst. Überstürze nichts!«
Gegen Mitternacht war ich wahnsinnig froh, dass sie abgelehnt hatten. Gegen drei Uhr nachts versuchte ich einzuschlafen, beruhigt von dem Wissen, dass sie nicht in mein Haus kommen konnten. Niemals.
Am Morgen - ich hatte kein Auge zugetan - stand ich am Fenster und schaute auf die Stadt. Es gibt nur wenig Vampire. Sehr wenig. Im Umkreis von zwei, drei Kilometern keinen weiteren.
Was heißt das - ausgestoßen zu sein? Bestraft nicht für ein Verbrechen, sondern für die theoretische Möglichkeit, eins zu begehen? Und wie soll so einer leben - nun, nicht leben, man bräuchte hier ein anderes Wort -, Tür an Tür mit seinem Aufpasser?
Nach dem Unterricht kaufte ich auf dem Heimweg eine kleine Torte zum Tee.
Und jetzt saß Kostja, ein netter und kluger Kerl, der an der Moskauer Staatlichen Universität Physik studierte
und der das Unglück hatte, als lebender Toter geboren worden zu sein, neben mir und rührte mit dem Teelöffel in der Zuckerdose, als wüsste er nicht, ob er sich welchen nehmen sollte. Woher kam nur diese Verlegenheit?
Am Anfang hatte er fast jeden Tag auf einen Sprung hereingeschaut. Ich war sein direkter Gegenspieler, ich stand auf der Lichten Seite. Doch ich ließ ihn ins Haus, vor mir brauchte er keine Geheimnisse zu haben. Wir konnten einfach miteinander quatschen, ins Zwielicht abtauchen und mit unseren Fähigkeiten angeben.»Anton, ich habe eine Transformation geschafft.«
»Und mir wachsen gerade Eckzähne, rrr!«
Das Seltsamste war jedoch, dass das alles völlig normal war. Lachend beobachtete ich den jungen Vampir, der gerade versuchte, sich in eine Fledermaus zu verwandeln: Das ist eine Aufgabe für einen Vampir der Spitzenklasse, der Kostja nicht war und, so das Licht will, nie sein würde. Manchmal schimpfte ich dann mit ihm:»Kostja… Das darfst du niemals machen. Verstehst du?«Und auch das war völlig normal.
»Kostja, ich habe nur meine Arbeit gemacht.«
»Quatsch.«
»Sie haben gegen das Gesetz verstoßen. Verstehst du? Nicht unser Gesetz, um das klarzustellen. Nicht nur die Lichten haben das angenommen, sondern alle Anderen. Dieser junge Vampir…«
»Ich kannte ihn«, sagte Kostja überraschend.»Er war ein lustiger Kerl.«
Teufel auch…
»Hat er gelitten?«
»Nein.«Ich schüttelte den Kopf.»Das Siegel vernichtet einen auf der Stelle.«
Kostja zuckte zusammen und schielte kurz auf seine Brust. Wenn man ins Zwielicht übertritt, sieht man das Siegel auch durch die Kleidung hindurch, außerhalb aber überhaupt nicht. Anscheinend war er nicht übergewechselt. Aber woher sollte ich wissen, wie Vampire ein Siegel spüren.
»Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte ich.»Er hat gemordet. Unschuldige Menschen ermordet. Die sich absolut nicht gegen ihn verteidigen konnten. Eine junge Frau hat er initiiert - auf grobe, gewaltsame Weise, denn sie wollte kein Vampir werden. Gestern Abend hätten sie beinah einen Jungen umgebracht. Einfach so. Nicht, weil sie Hunger hatten.«
»Weißt du überhaupt, wie es ist, wenn wir Hunger haben?«, fragte Kostja und verstummte dann.
Er reifte heran. Hier, vor meinen Augen…
»Ja. Denn gestern… bin ich fast zum Vampir geworden.«
Einen Augenblick lang nichts als Schweigen.
»Ich weiß. Ich habe das gespürt… gehofft.«
Hölle und Teufel! Ich war auf der Jagd. Und wurde gejagt. Genauer gesagt, sie haben in einem Hinterhalt auf mich gelauert, in der Erwartung, dass der Jäger zur Beute wird.
»Nein«, sagte ich.»Das nun wirklich nicht.«
»Zugegeben, er war schuldig«, räumte Kostja freiheraus ein.»Aber warum musste er sterben? Er hätte vor Gericht gehört. Das Tribunal, ein Anwalt, eine Anklage - das wäre anständig gewesen.«
»Und es wäre auch anständig gewesen, die Menschen aus unseren Angelegenheiten herauszuhalten!«, brüllte ich. Und zum ersten Mal reagierte Kostja nicht auf diesen Ton.
»Du warst zu lange ein Mensch!«
»Was ich nicht im Geringsten bereue!«
»Warum hast du ihn umgebracht?«
»Sonst hätte er mich umgebracht!«
»Er hätte dich initiiert!«
»Noch schlimmer!«
Kostja verstummte. Schob die Tasse weg und stand auf. Ein völlig durchschnittlicher, kecker, dabei aber krankhaft moralischer junger Mann.
Nur eben ein Vampir.
»Ich geh jetzt…«
»Warte.«Ich ging zum Kühlschrank.»Nimm das, ich hab’s bekommen, hab’s aber nicht gebraucht.«
Zwischen den Wasserflaschen der Marke Borshomi zog ich ein paar Fläschchen mit je zweihundert Gramm Spenderblut hervor.
»Nicht nötig.«
»Kostja, mir ist doch klar, dass genau das euer ewiges Problem ist. Ich brauch es nicht. Nimm es.«
»Willst du mich kaufen?«
Langsam kochte Wut in mir hoch.»Wozu sollte ich denn?! Es wäre bescheuert, es wegzukippen, das ist alles! Das ist Blut. Menschen haben es gespendet, um jemandem zu helfen!!«
Plötzlich musste Kostja grinsen. Er streckte die Hand aus, nahm ein Fläschchen, entkorkte es und zog die
Blechkappe geschickt und ohne Schwierigkeiten ab. Dann setzte er die Flasche an die Lippen. Grinste noch einmal und nahm einen Schluck.
Noch nie hatte ich gesehen, wie sie trinken. Ehrlich gesagt, habe ich mich auch nicht darum gerissen.
»Hör auf!«, sagte ich.»Lass diesen Blödsinn!«
Kostjas Lippen waren voller Blut, ein dünnes Rinnsal lief ihm über die Wange. Das heißt, es floss nicht einfach nur, sondern wurde von der Haut aufgesogen.
»Ist es dir unangenehm zu sehen, wie wir trinken?«
»Ja.«
»Heißt das, dass auch ich dir unangenehm bin? Oder wir alle?«
Ich schüttelte den Kopf. Um diese Frage hatten wir immer einen Bogen gemacht. Das war bequemer.
»Kostja… du brauchst Blut, um zu leben. Und manchmal muss es eben Menschenblut sein.«
»Wir leben gar nicht.«
»Ich meine das in einem allgemeineren Sinne. Damit ihr euch bewegen könnt, damit ihr denken, sprechen, träumen könnt…«
»Was gehen dich die Träume von Vampiren an?«
»Hör mal, mein Junge, auf der Welt leben etliche Menschen, die ständig auf Bluttransfusionen angewiesen sind. Es sind nicht weniger als ihr. Dazu noch Notfälle. Deshalb gibt es die Blutspende, deshalb ist sie anerkannt und gefördert… Du brauchst nicht darüber zu lachen. Ich weiß, was ihr für die Entwicklung der Medizin geleistet habt, wie unermüdlich ihr zu Blutspenden aufgerufen habt. Kostja, wenn irgendjemand auf fremdes Blut angewiesen ist, um leben… um existieren zu können, dann ist das kein Unglück. Und wohin es kommt, ob in die Adern oder in den Magen, ist ebenfalls zweitrangig. Die Frage ist nur, wie du es bekommst.«
»Das sind schöne Worte«, schnaubte Kostja. Ich hatte den Eindruck, er tauchte kurz ins Zwielicht ein, um gleich darauf wieder in die Realität zurückzukehren. Er wuchs, der Junge wuchs. Und gewann an echter Kraft.»Gestern hast du dein wahres Gesicht gezeigt, was uns angeht.«
»Das stimmt nicht…«
»Hör doch auf…«Er stellte das Fläschchen wieder hin, dachte kurz nach und hielt es dann über das Spülbecken.»Wir können auf deine…«
In meinem Rücken erklang ein Schrei. Ich drehte mich um: Die Eule, die ich erfolgreich vergessen hatte, hatte Kostja den Kopf zugedreht und die Flügel ausgebreitet.
Nie zuvor hatte ich einen derartigen Ausdruck in seinem Gesicht gesehen.
»Aber…«, sagte er.»Aber…«
Die Eule legte die Flügel an und schloss bis auf einen Spalt die Augen.
»Olga, wir führen hier ein ernstes Gespräch!«, brüllte ich.»Lass uns noch eine Minute…«
Der Vogel reagierte nicht. Kostja ließ den Blick von mir zur Eule und wieder zurück wandern. Dann setzte er sich hin und faltete die Hände im Schoß.
»Was hast du?«, fragte ich.
»Darf ich gehen?«
Er war nicht einfach erstaunt oder erschrocken, er
war zutiefst schockiert.
»Geh nur. Aber nimm die…«
Hektisch raffte Kostja die Flaschen zusammen und stopfte sie sich in die Taschen.
»Nimm dir eine Tüte, du Blödmann! Nachher begegnet dir noch jemand im Aufgang!«
Gehorsam legte der Vampir die Flaschen in eine Tüte mit der Aufschrift»Für die Erneuerung der russischen Kultur!«. Mit einem Seitenblick auf die Eule ging er in die Diele, wo er sich eilig die Schuhe anzog.
»Komm mal wieder vorbei«, sagte ich.»Ich bin kein Feind. Solange du die Grenze nicht überschreitest, bin ich nicht dein Feind.«
Er nickte und stürmte aus der Wohnung hinaus. Schulterzuckend schloss ich die Tür. Dann kehrte ich in die Küche zurück. Ich sah die Eule an.
»Also? Was war das?«
Die bernsteingelben Augen verrieten nichts. Ich schlug die Hände zusammen.»Kannst du mir mal verraten, wie wir so arbeiten sollen? Zusammenarbeiten? Hast du irgendeine Möglichkeit, mit mir zu kommunizieren? Ich öffne mich! Ein direktes Gespräch!«
Ich trat nicht vollständig ins Zwielicht ein, sondern schickte nur meine Gedanken dorthin. Man sollte einem Unbekannten nicht derart vertrauen, auch wenn der Chef mir wahrscheinlich keine unzuverlässige Partnerin gegeben hätte.
Doch nichts. Falls Olga die Möglichkeit hatte, sich telepathisch mit mir zu verständigen, machte sie davon zumindest keinen Gebrauch.
»Was sollen wir jetzt tun? Wir müssen diese Frau finden. Kannst du ihr Bild aufnehmen?«
Keine Antwort. Ich seufzte auf und warf dem Vogel auf gut Glück ein Stück meiner Erinnerung zu.
Die Eule breitete die Flügel aus und kam mir auf die Schulter geflogen.
»Was heißt das? Hast du das verstanden? Und lässt dich nur nicht zu einer Antwort herab? Gut, wie du meinst. Was soll ich jetzt machen?«
Die Eule schwieg sich immer noch aus.
Was ich tun musste, wusste ich allerdings sowieso. Dass es dabei nicht die geringste Aussicht auf Erfolg gab, stand auf einem anderen Blatt.
»Und wie soll ich mit dir auf der Schulter durch die Straßen marschieren?«
Ein amüsierter, ein ganz entschieden amüsierter Blick traf mich. Und dann verschwand der Vogel auf meiner Schulter ins Zwielicht.
Auch eine Antwort. Ein unsichtbarer Beobachter. Und nicht nur ein Beobachter - Kostjas Reaktion auf die Eule sprach Bände. Offenbar hatte man mir eine Partnerin gegeben, die die Kräfte des Dunkels weitaus besser kannte als die einfachen Diener des Lichts.
»Schon überzeugt«, sagte ich aufgeräumt.»Aber erst essen wir noch was, ja?«
Ich nahm mir einen Joghurt und goss mir ein Glas Orangensaft ein. Von dem, womit ich mich in der letzten Woche ernährt hatte - halb rohe Beefsteaks und Fleischsaft, der sich kaum von Blut unterschied -, wurde mir schon übel.
»Du hättest wahrscheinlich gern ein Häppchen Fleisch?«
Die Eule drehte sich weg.
»Wie du willst«, sagte ich.»Ich wette, dass du, sobald du was zu futtern willst, eine Möglichkeit findest, dich mit mir zu verständigen.«
Drei
Ich liebe es, im Zwielicht durch die Stadt zu streunen. Dabei wirst du nicht unsichtbar, denn sonst würde man dich permanent anrempeln. Die Leute gucken einfach durch dich hindurch, ohne dich zu bemerken. Doch jetzt musste ich offen arbeiten.
Der Tag ist nicht unsere Zeit. So abstrus das auch klingt, doch die Gefolgsleute des Lichts arbeiten nachts, wenn die Dunklen aktiv werden. Tagsüber bringen die Dunklen dagegen kaum etwas zustande. Vampire, Tiermenschen, die Dunklen Magier müssen am Tage das Leben ganz normaler Menschen führen.
Die meisten zumindest.
Jetzt streifte ich in der Nähe der Metrostation Tulskaja herum. Ich hatte den Rat des Chefs befolgt und zunächst die Haltestellen der Ringlinie abgearbeitet, an denen die junge Frau mit dem schwarzen Höllenstrudel ausgestiegen sein konnte. Sie musste eine Spur hinterlassen haben, die zwar schwach, aber trotzdem noch zu erkennen sein dürfte. Nun beschloss ich, mir die Nord-Süd-Strecken vorzunehmen.
Eine idiotische Station, ein idiotisches Viertel. Zwei Ausgänge, die reichlich weit voneinander entfernt liegen. Ein Markt, der pompöse Wolkenkratzer der Steuerpolizei, ein riesiges Wohnhaus. Überall gab es derart viele Dunkle Emanationen, dass die Spur des schwarzen Strudels nicht ohne weiteres zu finden sein würde.
Vor allem, wenn sie gar nicht hier aufgetaucht war.
Ich lief alles ab, um die Aura der Frau zu erschnüffeln, spähte ab und an durchs Zwielicht auf die unsichtbare Eule, die es sich auf meiner Schulter bequem gemacht hatte. Sie döste vor sich hin. Auch sie spürte nichts, und aus irgendeinem Grund war ich überzeugt davon, dass ihre Fähigkeiten bei dieser Suche die meinen übertrafen.
Einmal kontrollierten Milizionäre meine Papiere. Zweimal belästigten mich ein paar verrückte Jugendliche, die mir völlig umsonst, für lächerliche fünfzig Bucks, einen chinesischen Föhn, Kinderspielzeug und ein billiges Handy aus Korea schenken wollten.
Irgendwann riss mir der Geduldsfaden. Ich verscheuchte den nächsten aufdringlichen Händler und nahm eine Remoralisation an ihm vor. Eine leichte, hart an der Grenze des Erlaubten. Vielleicht würde der Kerl sich danach eine andere Arbeit suchen. Vielleicht auch nicht…
Genau in dem Moment packte mich jemand an den Ellbogen. Gerade eben noch war absolut niemand in meiner Nähe gewesen - jetzt hatte sich hinter mir ein Pärchen aufgebaut. Eine sympathische junge Frau mit rotem Haar und ein kräftiger Typ mit finsterer Miene.
»Ganz ruhig«, sagte die Frau. Von den beiden hatte sie das Sagen, das erfasste ich sofort.»Tagwache.«
Beim Licht und beim Dunkel!
Schulterzuckend sah ich sie an.
»Name«, verlangte die Frau zu wissen.
Es hätte keinen Sinn gehabt zu lügen, denn meine Aura hatten die beiden schon längst aufgenommen, sodass meine Identifizierung nur eine Frage der Zeit gewesen wäre.
»Anton Gorodezki.«
Sie warteten.
»Anderer«, gab ich zu.»Mitarbeiter der Nachtwache.«
Sie gaben meine Ellbogen frei. Und traten sogar einen Schritt zurück. Betreten sahen sie jedoch nicht aus.
»Gehen wir ins Zwielicht«, befahl der Mann.
Anscheinend waren sie keine Vampire. Immerhin etwas. Das ließ auf eine gewisse Objektivität hoffen. Ich seufzte und wechselte von einer Realität in die andere.
Die erste Überraschung bestand darin, dass das Pärchen tatsächlich jung war. Die Hexe musste fünfundzwanzig Jahre alt sein, der Hexer dreißig, genau wie ich. Im Notfall würde ich mich vermutlich sogar an ihre Namen erinnern, denn Ende der Siebziger waren nur wenig Hexen und Hexer geboren worden.
Die zweite Überraschung bestand darin, dass die Eule nicht mehr auf meiner Schulter saß. Genauer gesagt, sie saß schon da. Ich spürte ihre Krallen und konnte sie sehen, allerdings nur, wenn ich mich anstrengte. Offenbar hatte der Vogel zusammen mit mir die Realität gewechselt und war in eine tiefere Schicht des Zwielichts eingedrungen.
Das wurde ja immer interessanter!
»Tagwache«, wiederholte die Frau.»Alissa Donnikowa, Andere.«
»Pjotr Nesterow, Anderer«, brummte der Mann.
»Haben Sie irgendwelche Probleme?«
Die Frau durchbohrte mich mit einem»Hexenblick«, wie er im Buche steht. Von Sekunde zu Sekunde gab sie sich freundlicher, betörender. Gegen diese direkte
Form der Beeinflussung bin ich natürlich gewappnet, mich zu bezirzen ist unmöglich, doch ihr Auftreten bestach durchaus.
»Die Probleme haben nicht wir. Anton Gorodezki, Sie haben einen nicht sanktionierten Kontakt mit einem Menschen aufgenommen.«
»Ja? Und was für einen?«
»Eine Intervention siebten Grades«, gab sie nur ungern zu.»Geringfügig, aber unbestreitbar. Noch dazu haben Sie ihn zum Licht gedrängt.«
»Wollen wir ein Protokoll aufsetzen?«Mit einem Mal erheiterte mich die Situation. Siebten Grades - das ist nicht der Rede wert. Das ist eine Handlung an der Grenze zwischen Magie und einer gewöhnlichen Unterredung.
»Ganz genau.«
»Und was sollen wir schreiben? Der Mitarbeiter der Nachtwache hat in einem Menschen in geringem Maße eine Abneigung gegen Betrug geschürt?«
»Und damit das festgelegte Gleichgewicht gestört«, präzisierte der Hexer.
»Ach ja? Und welchen Schaden nimmt das Dunkel dabei? Wenn der Händler plötzlich mit diesen kleinen Gaunereien aufhört, hat er es zwangsläufig schwerer im Leben. Er wird anständiger, aber unglücklicher. Entsprechend den Kommentaren zum Abkommen über das Gleichgewicht der Kräfte gilt das nicht als Störung des Gleichgewichts.«
»Spitzfindigkeiten«, warf die Hexe ein.»Sie sind Mitarbeiter der Wache. Was man einem gewöhnlichen Anderen nachsehen kann, ist in Ihrem Fall rechtswidrig.«
Sie hatte Recht. Ein kleiner Verstoß, aber trotzdem…
»Er hat mich gestört. Im Zuge einer Ermittlung habe ich das Recht auf magische Intervention.«
»Sind Sie denn im Dienst, Anton?«
»Ja.«
»Und warum am Tag?«
»Ich habe eine Spezialaufgabe. Sie können sich das von der Leitung bestätigen lassen. Genauer, Ihre Leitung kann sich das bestätigen lassen.«
Die Hexe und der Hexer sahen sich an. Auch wenn unsere Ziele und unsere Moral völlig entgegengesetzt waren, arbeiteten unsere Büros doch zusammen.
Und ehrlich gesagt, keiner von uns zog gern die Leitung hinzu.
»Gut«, stimmte die Hexe zögernd zu.»Anton, wir können es bei einer mündlichen Rüge belassen.«
Ich schaute mich um. Um mich herum, im grauen Dunst, bewegten sich wie in Zeitlupe Menschen.
Normale Menschen, die nicht aus ihrer kleinen Welt herauszukommen vermochten. Wir sind die Anderen, und selbst wenn ich auf der Seite des Lichts stehe und meine beiden Gesprächspartner auf der des Dunkels, verbindet mich mit ihnen weit mehr als mit jedem x-beliebigen einfachen Menschen.
»Zu welchen Bedingungen?«
Mit dem Dunkel darf man sich auf nichts einlassen. Darf keine Kompromisse mit ihm aushandeln. Noch gefährlicher ist es allerdings, Geschenke von ihm anzunehmen. Doch Regeln werden gemacht, um gebrochen zu werden.
»Keine.«
Wer’s glaubt, wird selig!
Ich sah Alissa an und versuchte herauszubekommen, was für ein Spiel sie spielte. Pjotr konnte das Verhalten seiner Partnerin ganz offensichtlich nicht fassen, er kochte vor Wut, denn er hätte den Adepten des Lichts nur zu gern eines Verbrechens überführt. Ihn brauchte ich bei meinen Überlegungen also nicht einzubeziehen.
In welche Falle sollte ich laufen?
»Das kann ich nicht annehmen«, sagte ich, froh, nicht auf ihren Trick hereingefallen zu sein.»Alissa, vielen Dank für das Angebot, die Sache friedlich beizulegen. Ich nehme es an, verspreche aber, Ihnen in einer vergleichbaren Situation eine geringfügige magische Intervention bis zur siebten Stufe inklusive nachzusehen.«
»Gut, Anderer«, stimmte Alissa bereitwillig zu. Sie streckte die Hand aus, die ich unwillkürlich ergriff.»Damit wäre unser persönliches Abkommen besiegelt.«
Die Eule auf meiner Schulter schlug mit den Flügeln. Direkt an meinem Ohr gellte ein wütendes Krächzen. Im nächsten Augenblick materialisierte sich der Vogel in der Zwielicht-Welt.
Alissa trat einen Schritt zurück, ihre Pupillen verengten sich im Nu zu vertikalen Schlitzen. Der Hexer ging sofort in Abwehrposition.
»Das Abkommen ist besiegelt!«, wiederholte die Hexe finster.
Was ging hier vor?
Zu spät begriff ich, dass ich dieses Abkommen nicht in Olgas Anwesenheit hätte schließen sollen. Andererseits - was sollte so schlimm daran sein? Als ob ich es
nicht schon selbst erlebt hätte, wie Allianzen gebildet und Kompromisse ausgehandelt wurden, ganz zu schweigen davon, dass mit den Dunklen auch andere Angehörige der Wache zusammenarbeiten, nicht zuletzt der Chef höchstselbst! Gewiss, immer ungern! Doch es muss sein!
Unser Ziel besteht nicht darin, die Dunklen zu vernichten. Unser Ziel besteht darin, das Gleichgewicht zu wahren. Die Dunklen werden erst dann verschwinden, wenn die Menschen das Böse in sich bezwungen haben. Oder wir werden verschwinden, wenn den Menschen das Dunkel mehr zusagt als das Licht.
»Das Abkommen ist angenommen«, sagte ich wütend zu der Eule.»Find dich damit ab. Es ist nur eine Kleinigkeit. Das gehört zur normalen Zusammenarbeit.«
Alissa lächelte und verabschiedete sich mit einem Winken von mir. Sie nahm den Hexer beim Ellbogen, und beide wichen zurück. Ein kurzer Augenblick, ein weiterer, und die zwei traten aus dem Zwielicht hinaus, um die Straße hinunterzuschlendern. Ein ganz gewöhnliches Pärchen.
»Was zappelst du denn so?«, fragte ich.»Was willst du? Die operative Arbeit besteht immer aus Kompromissen!«
»Du hast einen Fehler gemacht.«
Olgas Stimme klang seltsam und passte überhaupt nicht zu ihrem Äußeren. Eine weiche, samtene, singende Stimme. Katzenmenschen sprechen so, aber nicht Vögel.
»Oho, du kannst also doch sprechen?«
»Ja.«
»Und warum hast du bisher geschwiegen?«
»Bisher war ja alles in Ordnung.«
Als ich diesen alten Witz hörte, musste ich schmunzeln.
»Ich gehe jetzt aus dem Zwielicht heraus, ja? Derweil kannst du mir erklären, welchen Fehler ich gemacht habe. Kleinere Kompromisse mit den Dunklen lassen sich in unserer Arbeit nicht vermeiden.«
»Du hast nicht die Qualifikation, die es dir gestatten würde, Kompromisse einzugehen.«
Die Welt um mich herum gewann ihre Farben zurück. Der Prozess lässt sich gut mit einem Einstellungswechsel bei einer Videokamera vergleichen, wenn man von»Sepiabraun«oder»Alter Schwarzweißfilm«zur normalen Farbaufnahme umschaltet. Dieser Vergleich ist irgendwie sehr treffend: Das Zwielicht ist wirklich ein alter Film. Ein sehr alter, den die Menschheit glücklich vergessen hat. Was ihr das Leben leichter macht.
Während ich zur der Metro ging, zischte ich meine unsichtbare Gesprächspartnerin an:»Was hat meine Qualifikation damit zu tun?«
»Ein hochrangiger Wächter kann die Folgen eines Kompromisses absehen. Ist das wirklich ein kleiner Handel, der beiden Seiten nützt und wo keine Seite den Kürzeren zieht, oder ist es ein Kuhhandel, bei dem du mehr verlierst als gewinnst?«
»Ich glaube nicht, dass man mit einer Intervention siebten Grades etwas Schlimmes anrichten kann.«
Ein neben mir hergehender Mann starrte mich irritiert an. Ich wollte ihm schon sagen, dass ich»ein ruhiger und harmloser Irrer«sei. Ein äußerst probates Mittel gegen unerwünschte Neugier. Doch der Mann legte bereits einen Zahn zu - offensichtlich war er von sich aus zum gleichen Schluss gekommen.
»Anton, du kannst die Folgen nicht absehen. Du hast in einer belanglosen, unangenehmen Situation überreagiert. Dein bisschen Magie hat dazu geführt, dass sich die Dunklen eingemischt haben. Daraufhin bist du einen Kompromiss mit ihnen eingegangen. Am bedauerlichsten dabei ist, dass überhaupt keine Notwendigkeit zur magischen Intervention bestanden hat.«
»Schon gut, ich seh’s ja ein. Und was machen wir jetzt?«
Die Stimme des Vogels wurde kräftiger, gewann an Klangfarbe.
Wahrscheinlich hatte sie sehr lange kein Wort gesagt.
»Jetzt - nichts weiter. Hoffen wir das Beste.«
»Wirst du dem Chef von dem Vorfall berichten?«
»Nein. Noch nicht. Schließlich sind wir Partner.«
Mir wurde warm ums Herz. Fehler hin, Fehler her, aber die unerwartete Verbesserung der Beziehung zu meiner Partnerin war mir das wert.
»Danke. Was schlägst du vor?«
»Du machst alles richtig. Such die Spur!«
Ein etwas originellerer Rat wäre mir lieber gewesen…
»Fahren wir.«
Mittags um zwei Uhr hatte ich nach der Ringlinie auch die gesamte graue Linie abgegrast. Mag ja sein, dass ich ein hundsmiserabler Fahnder bin, aber die gestrige Spur, die ich noch dazu selbst aufgenommen hatte, wäre nicht einmal mir entgangen. Die Frau, über der dieser schwarze Höllenwirbel kreiste, war nirgends auf dieser Strecke ausgestiegen. Offensichtlich musste ich noch einmal an dem Ort anfangen, wo wir uns begegnet waren.
An der Kurskaja verließ ich die Metro und kaufte an einem Stand eine Plastikschale Salat und einen Becher Kaffee. Beim Anblick der Hamburger und Würstchen wurde mir schlecht, auch wenn der Fleischanteil in ihnen nur symbolisch war.
»Willst du auch etwas?«, fragte ich meine unsichtbare Begleiterin.
»Nein. Danke.«
Während feine Schneeflocken auf uns niedersegelten, stocherte ich mit einer winzigen Gabel im Kartoffelsalat herum und nippte am heißen Kaffee. Ein Penner, der offensichtlich darauf gehofft hatte, dass ich Bier kaufen und ihm die leere Flasche überlassen würde, schlurfte davon, um sich in der Metro aufzuwärmen. Ansonsten kümmerte sich niemand um mich. Die junge Verkäuferin bediente ein paar ausgehungerte Kunden, in gesichtsloser Masse strömten die Menschen aus dem Bahnhof heraus und in ihn hinein. Der Verkäufer an einem Bücherstand versuchte lustlos, ohne jede Begeisterung, einem Käufer irgendein Buch aufzuschwatzen. Der Kunde konnte sich nicht entscheiden.
»Wahrscheinlich hab ich einfach eine Stinklaune…«, brummte ich.
»Warum das?«
»Ich sehe alles in einem trüben Licht. Alle Leute sind Schweine und Idioten, der Salat ist gefroren, meine Schuhe völlig durchgeweicht.«
Der Vogel auf meiner Schulter stieß ein amüsiertes Krächzen aus.»Nein, Anton, das liegt nicht an deiner Laune. Du spürst, wie das Inferno näher kommt.«
»Ich war nie besonders sensibel.«
»Eben.«
Ich sah zum Bahnhof hinüber. Versuchte, in den Gesichtern zu lesen. Einige von ihnen spürten es ebenfalls. Die Leute, die an der Grenze zwischen Mensch und Anderer standen, wirkten angespannt, bedrückt. Den Grund dafür konnten sie nicht erfassen, und doch versuchten sie nach außen hin, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
»Beim Dunkel und beim Licht… Was steht uns bevor, Olga?«
»Alles Mögliche. Du hast den Ausbruch aufgeschoben, doch dafür werden die Folgen einfach katastrophal sein, wenn der Strudel zuschlägt. Der Verzögerungseffekt.«
»Davon hat mir der Chef nichts gesagt.«
»Warum auch? Du hast alles richtig gemacht. Jetzt haben wir zumindest eine Chance.«
»Olga, wie alt bist du?«, fragte ich. Würde man einem Menschen diese Frage stellen, könnte er beleidigt sein. Wir kennen jedoch keine bestimmten Altersgrenzen.
»Alt, Anton. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an den Aufstand.«
»Die Revolution?«
»Den Aufstand auf dem Senatsplatz.«Die Eule stieß ein kurzes Lachen aus. Ich schwieg. Womöglich war Olga sogar noch älter als der Chef.
»Welchen Rang hast du, Partnerin?«
»Keinen. Mir wurden alle Rechte aberkannt.«
»Tut mir Leid.«
»Schon gut. Ich habe mich seit langem damit abgefunden.«
Ihre Stimme klang heiter, ja vergnügt. Trotzdem sagte mir irgendetwas: Olga hatte sich keinesfalls damit abgefunden.
»Falls es nicht zu aufdringlich ist… Warum haben sie dich in diesen Körper gesperrt?«
»Es gab keine andere Möglichkeit. Im Körper eines Wolfes zu leben ist viel schwieriger.«
»Moment mal…«Ich warf den restlichen Salat in einen Mülleimer. Als ich auf meine Schulter blickte, konnte ich die Eule natürlich nicht sehen - dafür hätte ich ins Zwielicht eintreten müssen.»Wer bist du? Wenn du ein Tiermensch bist, warum gehörst du dann zu uns? Wenn du eine Magierin bist, warum hast du dann eine derart seltsame Strafe bekommen?«
»Das tut nichts zur Sache, Anton.«Einen Augenblick lang war ihre Stimme schneidend wie scharfer Stahl.»Aber alles hat damit angefangen, dass ich mich auf einen Kompromiss mit den Dunklen eingelassen habe. Einen klitzekleinen Kompromiss. Ich hatte geglaubt, die Folgen einschätzen zu können, doch da hatte ich mich geirrt.«
So war das also…
»Hast du deshalb angefangen zu sprechen? Wolltest du mich warnen, hast aber den Zeitpunkt verpasst?«
Schweigen.
Als ob Olga ihre Offenheit schon bereute.
»Machen wir uns wieder an die Arbeit…«, sagte ich. In dem Moment piepte das Handy in meiner Tasche.
Es war Larissa. Warum musste sie zwei Schichten hintereinander übernehmen?
»Anton, pass auf… Wir haben die Spur von dem Mädel aufgenommen. Metrostation Perowo.«
»Mist«, sagte ich bloß. In diesen Schlafbezirken zu arbeiten, ist die reinste Qual.
»Stimmt«, bekräftigte Larissa. Als Fahnderin taugt sie nichts - wahrscheinlich macht sie deshalb Telefondienst. Dennoch ist sie eine kluge Frau.»Anton, sieh zu, dass du nach Perowo kommst. Alle unsere Leute ziehen sich da zusammen, um ihre Verfolgung aufzunehmen. Und noch was… Da schwirrt auch die Tagwache rum.«
»Alles klar.«Ich steckte das Handy wieder weg.
Mir war überhaupt nichts klar. Wussten die Dunklen etwa bereits über alles Bescheid? Und waren sie darauf aus, das Inferno losbrechen zu lassen? Und hatten mich gar nicht zufällig aufgehalten…
Quatsch. Eine Katastrophe in Moskau liegt überhaupt nicht im Interesse des Dunkels. Sicher, sie würden auch nichts unternehmen, um den Strudel aufzuhalten - das widerspräche ihrer Natur.
In die Metro ging ich dann doch nicht. Ich hielt ein Auto an, damit würde ich Zeit gewinnen, zumindest ein bisschen. Ich setzte mich neben den Fahrer, einen dunkelhäutigen Intelligenzler von etwa vierzig Jahren mit Adlernase. Der Wagen war neu, und auch der Fahrer machte den Eindruck eines höchst erfolgreichen Mannes. Insofern war es schon merkwürdig, dass er sich auf diese Weise etwas zuverdiente.
Perowo. Ein riesiges Viertel. Voller Menschen. Licht und Dunkel in einem unentwirrbaren Knäuel. Außerdem gab es da noch ein paar Gebäude, die dunkle und lichte Flecken nach allen Seiten warfen. Dort zu arbeiten hieß, bei Flackerlicht ein Sandkorn auf dem Boden einer überfüllten Diskothek finden zu wollen…
Ich konnte dort nur von geringem Nutzen sein, genauer gesagt - von gar keinem. Doch man hatte mich angewiesen, dorthin zu fahren, also musste ich es tun. Vielleicht wollte man mich bitten, eine Identifizierung vorzunehmen.
»Und ich dachte, wir würden Glück haben«, flüsterte ich und schaute auf die Straße hinaus. Wir fuhren über die Lossiny-Insel, ebenfalls keine sehr angenehme Gegend, da versammeln sich die Dunklen zum Hexensabbat. Und nicht immer werden dabei die Gesetze der normalen Menschen beachtet. An fünf Nächten im Jahr müssen wir alles ertragen. Oder fast alles.
»Hab ich auch gedacht…«, flüsterte Olga.
»Wie soll ich es denn mit den Fahndern aufnehmen?!«Ich schüttelte den Kopf.
Der Fahrer schielte zu mir herüber. Seinen Preis hatte ich ohne zu feilschen akzeptiert, und die Strecke hatte ihm offenbar auch gepasst. Aber ein Mensch, der mit sich selbst redet, ist halt niemandem ganz geheuer.
»Ich hab da eine Sache vermasselt…«, teilte ich dem Fahrer mit einem Seufzer mit.»Besser gesagt, ich habe es nicht ordentlich gemacht. Hab gedacht, ich könnte heute mal so richtig auftrumpfen, aber die kommen bestens ohne mich zurecht.«
»Hast du es deshalb jetzt auch so eilig?«, wollte der
Fahrer wissen. Er sah nicht sehr gesprächig aus, doch meine Worte hatten seine Neugier geweckt.
»Sie haben mich hinbeordert«, sagte ich.
Für wen er mich wohl hielt?
»Und was machst du?«
»Ich bin Programmierer«, antwortete ich. Eine ehrliche Antwort, nebenbei gesagt.
»Klasse«, sagte der Fahrer und schnalzte anerkennend. Was sollte daran klasse sein?»Kann man davon leben?«
Die Frage hätte er sich sparen können, schon allein deshalb, weil ich ja nicht mit der Metro fuhr. Trotzdem antwortete ich:»Durchaus.«
»Ich frage nicht einfach so«, teilte mir der Fahrer unvermittelt mit.»In meiner Firma wird die Stelle des Systemadministrators frei…«
In meiner Firma - natürlich.
»Ich persönlich sehe darin einen Wink des Schicksals. Ich nehme einen Fahrgast mit, und der ist ein Programmierer. Ich glaube, Ihnen bleibt gar keine Wahl.«
Er lachte los, als wolle er seine etwas zu sicher klingenden Worte abmildern.
»Haben Sie schon mal mit Intranet gearbeitet?«
»Ja.«
»Bei mir hängen fünfzig Rechner am Netz. Das muss alles problemlos laufen. Wir zahlen gut.«
Unwillkürlich musste ich schmunzeln. Das war nicht zu verachten. Intranet. Gutes Geld. Und niemand, der von mir verlangt, nachts auf Vampirjagd zu gehen, Blut zu trinken und in vereisten Straßen Spuren zu er-
schnüffeln.
»Soll ich Ihnen meine Visitenkarte geben?«Die eine Hand des Mannes verschwand zielstrebig in der Tasche seines Jacketts.»Überlegen Sie es sich…«
»Nein, vielen Dank. Bei meiner Dienststelle kann man leider nicht kündigen.«
»KGB, oder was?«Der Fahrer runzelte die Stirn.
»Gewichtiger«, antwortete ich.»Weitaus gewichtiger. Aber vergleichbar.«
»Tja…«Der Fahrer verstummte.»Schade. Und ich hatte schon gedacht, das sei ein Zeichen von oben. Glaubst du ans Schicksal?«
Leicht und unbefangen ging er zum Du über. Mir gefiel das.
»Nein.«
»Warum nicht?«, wunderte sich der Fahrer aufrichtig, als habe er es bisher ausschließlich mit Fatalisten zu tun gehabt.
»Es gibt kein Schicksal. Das ist bewiesen.«
»Wer hat das bewiesen?«
»Die Leute bei mir auf der Arbeit.«
Er prustete los.
»Das ist gut. Dann hat das Schicksal also doch nicht gewunken! Wo soll ich dich absetzen?«
Wir hatten bereits den Seljony-Prospekt erreicht.
Angestrengt blickte ich hinaus und drang durch eine Schicht der alltäglichen Realität ins Zwielicht vor. Erkennen konnte ich nichts, dafür reichten meine Fähigkeiten nicht aus. Eher noch spürte ich etwas. In dem grauen Dunst blinkten jede Menge schwacher kleiner
Feuer. Fast das ganze Büro musste sich versammelt haben…
»Dort…«
Jetzt, wo ich mich in der normalen Realität befand, konnte ich meine Kollegen nicht sehen. Ich stapfte durch den grauen Schnee der Stadt zu einer unter hohen Schneewehen begrabenen Grünanlage, die zwischen den Wohnblocks und dem Prospekt lag. Ein paar erfrorene Bäumchen, vereinzelt einige Linien von Fußabdrücken - als ob hier Kinder herumgetobt wären oder jemand im Suff versucht hätte, geradeaus zu gehen.
»Du solltest ihnen zuwinken, sie haben dich schon gesehen«, schlug Olga vor.
Ich dachte kurz darüber nach und befolgte ihren Rat dann. Sollen sie doch ruhig denken, ich könnte ganz hervorragend von einer Realität in die andere spähen.
»Eine Besprechung«, sagte Olga amüsiert.»FünfMinuten-Lage…«
Nachdem ich mich der Ordnung halber noch einmal umgeschaut hatte, beschwor ich das Zwielicht herauf und trat in es hinein.
In der Tat hatte ich das gesamte Büro vor mir. Die ganze Moskauer Abteilung.
In der Mitte stand Boris Ignatjewitsch. Er trug nur leichte Kleidung, einen Anzug und eine kleine Pelzkappe, dazu aber - warum auch immer - einen Schal. Ich stellte mir vor, wie er aus seinem BMW ausgestiegen war, eng umgeben von Bodyguards.
Neben ihm hatten sich die Fahnder aufgebaut. Igor
und Garik, Kampfspezis, wie sie im Buche stehen. Gesichter wie gemeißelt, quadratische Schultern, undurchdringliche stumpfe Mienen. Auf den ersten Blick war klar: Beide hatten acht Schulklassen, eine Berufsschule und eine Ausbildung in einer Sondereinheit hinter sich gebracht. Bei Igor stimmte das haargenau. Garik hatte jedoch außerdem noch an zwei Unis studiert. Bei aller äußeren Ähnlichkeit und einem fast gleichen Auftreten unterschieden sie sich innerlich völlig voneinander. Im Vergleich zu diesen beiden wirkte Ilja wie ein feinsinniger Intelligenzler, doch von einer schmal gerahmten Brille, einer hohen Stirn und dem naiven Blick lassen sich die meisten nur zu leicht täuschen. Ein weiterer Typ wurde von Semjon karikiert: ein gedrungener, grobknochiger Kerl mit schlauem Blick in einer abgetragenen Nylonjacke. Der typische Provinzler, auf Besuch in der Hauptstadt Moskau. Zudem irgendwie ein Relikt aus den Sechzigern, direkt aus der Vorzeigekolchose»Iljitschs Schritte«. Absolute Gegensätze. Dafür einte Ilja und Semjon eine herrliche Bräune und ein verdrossener Gesichtsausdruck. Beide waren mitten aus dem Urlaub auf Sri Lanka abberufen worden und konnten dem Winter in Moskau nun rein gar nichts abgewinnen. Ignat, Danila und Farid waren nicht anwesend, obwohl ich ihre frische Spur spürte. Dafür standen hinter dem Chef Bär und Tigerjunges - die sich offenbar nicht maskiert hatten, aber dennoch auf den ersten Blick nicht zu entdecken waren. Als ich das Pärchen bemerkte, wurde mir ganz anders. Das sind nicht einfach Kampfspezis. Das sind verdammt gute Leute. Die werden nicht wegen jeder Kleinigkeit rangeholt.
Auch vom Innendienst waren viele da.
Alle fünf Leute der analytischen Abteilung. Die gesamte wissenschaftliche Gruppe bis auf Julja, was jedoch insofern nicht weiter erstaunlich war, als sie erst dreizehn Jahre alt ist. Möglicherweise fehlte die Archivgruppe.
»Hallo«, sagte ich.
Hier nickte jemand, da lächelte einer. Trotzdem begriff ich, dass die Leute jetzt ganz andere Sorgen hatten. Boris Ignatjewitsch befahl mir mit einer Geste näher zu treten, um dann die ganz offensichtlich durch mein Auftauchen unterbrochene Rede fortzusetzen.
»… nicht in ihrem Interesse. Na immerhin. Hilfe wird uns nicht gewährt… Auch gut, ganz ausgezeichnet…«
Alles klar. Es ging um die Tagwache.
»Bei der Suche nach der Frau werden uns keine Hindernisse in den Weg gelegt, Danila und Farid haben es fast geschafft. Vermutlich haben wir noch fünf, sechs Minuten… Doch so oder so, das Ultimatum wurde uns gestellt.«
Ich fing einen Blick von Tigerjunges auf. Ihr Lächeln versprach nichts Gutes. Ja, das war sie. Tigerjunges, eine junge Frau, zu der der Spitzname Tigerin einfach nicht passen wollte.
Wenn unsere Leute im Außendienst eins nicht ausstehen können, dann ist es das Wort Ultimatum!
»Der schwarze Magier gehört uns nicht.«Der Chef ließ einen gelangweilten Blick über alle Anwesenden gleiten.»Ist das klar? Wir müssen ihn finden, um den Strudel zu bannen. Aber danach übergeben wir den Magier an die Dunklen.«
»Übergeben?«, hakte Ilja neugierig nach.
Der Chef dachte eine Sekunde nach.
»Eine berechtigte Nachfrage, in der Tat. Wir werden ihn nicht vernichten und den Kontakt zu den Dunklen nicht verhindern. Soweit ich es beurteilen kann, wissen sie ebenfalls nicht, um wen es sich handelt.«
Unwillkürlich setzten die Fahnder eine säuerliche Miene auf. Jeder neue schwarze Magier im Kontrollgebiet bereitet ihnen Kopfschmerzen. Selbst wenn er registriert ist und den Vertrag einhält. Und ein Magier von solcher Kraft…
»Ich würde mir eine andere Entwicklung wünschen«, sagte Tigerjunges sanft.»Boris Ignatjewitsch, im Zuge unserer Arbeit können unabhängig von uns Situationen eintreten…«
»Ich fürchte, solche Situationen dürfen wir nicht zulassen«, schnitt der Chef ihr das Wort ab. Leichthin, ohne Nachdruck, denn er schätzte Tigerjunges aufrichtig. Trotzdem gab die Frau sofort nach.
Mir wäre es nicht anders gegangen.
»Das wäre im Grunde alles…«Der Chef sah mich an.»Gut, dass du da bist, Anton. In deiner Anwesenheit wollte ich allen sagen, dass…«
Unwillkürlich spannte ich mich an.
»Du hast gestern gute Arbeit geleistet. Ja, wirklich, die Suche nach den Vampiren hatte ich eigentlich nur als Test für dich gedacht. Und zwar nicht nur, um zu sehen, wie es mit deinen Fähigkeiten bei der operativen Arbeit steht… Du befindest dich schon seit einiger Zeit in einer vertrackten Lage, Anton. Einen Vampir zu töten fällt dir viel schwerer als jedem anderen von uns.«
»Da irren Sie sich, Chef«, sagte ich.
»Das freut mich. Jedenfalls ist dir die gesamte Nachtwache zu Dank verpflichtet. Du hast einen Vampir ausgeschaltet und die Spur der Vampirin aufgenommen. Eine sehr klare Spur. Nach wie vor fehlt es dir für die Fahndungsarbeit an Erfahrung. Aber Informationen sichern, das kannst du. Auch bei der jungen Frau hast du einen kühlen Kopf bewahrt. Die Situation stellte einen absoluten Sonderfall dar, doch du hast eine sehr humane Entscheidung getroffen… und damit Zeit für uns herausgeschlagen. Und der Abdruck ihrer Aura ist vorzüglich. Wo ich sie suchen muss, war mir danach von Anfang an klar.«
Das haute mich um. Niemand lächelte, schmunzelte oder schaute mich grinsend an. Trotzdem fühlte ich mich verarscht. Die Schnee-Eule, die niemand sah, zuckte auf meiner Schulter zusammen. Ich saugte die Luft des Zwielichts ein, kalte, geschmacksneutrale Unluft.
»Boris Ignatjewitsch, warum wurde ich dann auf die Ringlinie geschickt?«, fragte ich.»Wenn Sie den richtigen Bezirk doch ohnehin schon kannten?«
»Ich hätte mich irren können«, erwiderte der Chef mit leichtem Erstaunen.»Lass es dir noch einmal gesagt sein: Bei einer Fahndung darf man selbst der Meinung einer noch so gewichtigten Obrigkeit nicht blind vertrauen. Selbst ist der Mann, wenn er weiß, dass er allein ist.«
»Aber ich war nicht allein«, sagte ich leise.»Und für meine Partnerin ist diese Aufgabe extrem wichtig, das wissen Sie besser als ich. Wenn Sie uns losschicken, um Viertel zu überprüfen, bei denen eh klar ist, dass da nichts zu finden ist… nehmen Sie ihr die Chance, sich zu rehabilitieren.«
Das Gesicht des Chefs kann völlig ausdruckslos sein, man liest nichts darin, wenn er es nicht will.
Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
»Eure Aufgabe ist noch nicht erledigt«, antwortete er.»Anton, Olga… es bleibt immer noch die Vampirin, die unschädlich gemacht werden muss. Niemand hat das Recht, uns daran zu hindern, denn sie hat gegen den Vertrag verstoßen. Es bleibt der Junge, der sich gegenüber der Magie ganz außergewöhnlich resistent gezeigt hat. Man muss ihn finden und auf die Seite des Lichts ziehen. An die Arbeit.«
»Und die Frau?«
»Ist bereits geortet. Jetzt versuchen unsere Spezialisten den Strudel zu neutralisieren. Wenn das nicht glückt - wovon auszugehen ist -, müssen wir herausbekommen, wer sie mit dem Fluch belegt hat. Ignat, das ist deine Aufgabe!«
Ich drehte mich um - in der Tat, Ignat stand bereits neben uns. Ein groß gewachsener, gut gebauter blonder Schönling mit der Figur Apolls und dem Gesicht eines Kinostars. Er vermochte sich völlig lautlos zu bewegen, was ihn in der normalen Realität jedoch keinesfalls vor unangebrachter Aufmerksamkeit seitens des weiblichen Geschlechts schützte.
Vor absolut unangebrachter Aufmerksamkeit.
»Das ist nicht mein Profil«, beklagte sich Ignat bitter.»Diese Orientierung ist mir nicht sonderlich sympathisch!«
»Mit wem du schläfst, kannst du dir in deiner Freizeit aussuchen«, fuhr der Chef ihn an.»Bei der Arbeit entscheide ich alles für dich. Sogar, wann du aufs Klo gehst.«
Ignat zuckte mit den Achseln. Während er mich mit einem Mitleid heischenden Blick ansah, brummelte er:»Das ist Diskriminierung…«
»Du bist hier nicht in den Staaten«, meinte der Chef, wobei seine Stimme gefährlich freundlich klang.»Ja, das ist Diskriminierung. Den geeignetsten Mitarbeiter einzusetzen, ohne seine persönlichen Neigungen zu berücksichtigen.«
»Vielleicht kann ich die Aufgabe übernehmen?«, fragte Garik kaum hörbar.
Sofort entspannte sich die Atmosphäre. Dass Garik in amourösen Angelegenheiten nie Glück hatte, war ein offenes Geheimnis. Jemand lachte.
»Igor, Garik, ihr beide sucht weiter nach der Vampirin.«Der Chef betonte die Worte so, als habe er Gariks Vorschlag ernsthaft in Erwägung gezogen.»Sie braucht Blut. Sie wurde im letzten Moment aufgehalten, jetzt wird sie vor Hunger und Anspannung verrückt. Wir müssen jeden Moment mit neuen Opfern rechnen! Anton, du machst dich zusammen mit Olga auf die Suche nach dem Jungen.«
Schon verstanden.
Ich kriegte mal wieder die dümmste und läppischste Aufgabe.
Der Stadt drohte ein Inferno, in Moskau irrte eine junge, wilde und hungrige Vampirin herum! Und ich sollte irgendeinen Bengel suchen, der möglicherweise über starke magische Fähigkeiten verfügte!
»Kann ich mit der Ausführung beginnen?«, fragte ich.
»Natürlich.«Der Chef ignorierte die mitschwingende Unbotmäßigkeit.»Ausführen.«
Ich drehte mich um und trat - meinen Protest nicht verhehlend - aus dem Zwielicht heraus. Die Welt zuckte zusammen, gewann Farben und Töne zurück. Jetzt stand ich wie der letzte Idiot mitten in der Grünanlage. Für einen Außenstehenden muss das ziemlich komisch ausgesehen haben. Vom Fehlen von Fußspuren ganz zu schweigen: Ich ragte in einer Schneewehe auf - um mich herum eine jungfräuliche Schneedecke.
So entstehen Mythen. Aufgrund unserer Unvorsichtigkeit, aufgrund unserer zerrütteten Nerven, aufgrund dummer Scherze und demonstrativer Gesten.
»Macht nichts«, sagte ich und stapfte geradenwegs auf den Prospekt zu.
»Danke…«, klang es leise und zart an mein Ohr.
»Wofür, Olga?«
»Dass du an mich gedacht hast.«
»Es ist wirklich wichtig für dich, diese Aufgabe gut zu erledigen?«
»Sehr«, bestätigte der Vogel nach kurzem Schweigen.
»Dann werden wir uns alle Mühe geben.«
Indem ich durch die Schneewehe und über einige Steine sprang - ob es hier einen Gletscher gab oder jemand einen Steingarten hatte anlegen wollen? -, gelangte ich zum Prospekt.
»Hast du Kognak im Haus?«, fragte Olga.
»Kognak, sagst du? Klar.«
»Guten?«
»Schlechten gibt es nicht. Sonst ist es kein Kognak.«
Die Eule schnaubte.»Dann lade eine Dame zu einem Kaffee mit Kognak ein.«
Als ich mir die Eule vorstellte, wie sie aus einer Untertasse Kognak trank, hätte ich beinah losgelacht.
»Mit dem größten Vergnügen. Nehmen wir ein Taxi?«
»Sie scherzen, Bürschchen!«, wartete Olga prompt mit der passenden Replik aus den Zwölf Stühlen auf.
Hört, hört. Wann war sie in den Vogelkörper eingeschlossen worden? Oder hinderte sie das nicht daran, Bücher zu lesen?
»Es gibt da eine Einrichtung, die nennt sich Fernseher«, raunte der Vogel.
Dunkel und Licht! Ich war überzeugt davon, dass meine Gedanken zuverlässig abgeschirmt waren!
»Du kannst vulgäre Telepathie hervorragend durch Lebenserfahrung ersetzen - durch sehr lange Lebenserfahrung«, fuhr Olga verschmitzt fort.»Anton, zu deinen Gedanken habe ich keinen Zugang. Außerdem bist du mein Partner.«
»Ich bin nur…«Ich fuchtelte mit der Hand. Es wäre dumm, das Offensichtliche zu leugnen.»Was ist mit dem Jungen? Oder lassen wir diesen Auftrag sausen. Der ist doch sowieso läppisch…«
»Im Gegenteil!«, erwiderte Olga aufgebracht.»Anton… der Chef hat zugegeben, dass er sich nicht ganz korrekt verhalten hat. Und er hat uns eine Chance gegeben, die wir nutzen sollten. Die Vampirin ist auf den Jungen fixiert, nicht wahr? Er ist so was wie ein unangebissenes Wurstbrot, das ihr aus dem Mund gerissen wurde. Und er hängt an ihrer Leine. Damit ist sie in der Lage, ihn aus jeder Ecke der Stadt zu ihrem Ver-
steck zu locken. Das ist unser Vorteil. Man braucht den Tiger nicht im Dschungel zu suchen, wenn man das Zicklein auf der Weide festbindet.«
»In Moskau gibt es von solchen Zicklein…«
»Der Junge zappelt an der Leine. Die Vampirin hat keine Erfahrung. Mit einem neuen Opfer Kontakt aufzunehmen wäre viel schwieriger, als das alte zu sich zu locken. Glaub mir.«
Ich erschauerte und verdrängte einen idiotischen Verdacht. Mit einem Handzeichen hielt ich ein Auto an.»Ich glaube dir«, sagte ich finster.»Unbesehen und für immer.«
Vier
Die Eule kam aus dem Zwielicht heraus, sobald ich die Wohnung betreten hatte. Sie flatterte auf - kurz spürte ich, wie die Krallen mich pikten - und flog auf den Kühlschrank zu.
»Soll ich dir vielleicht eine Hühnerstange besorgen?«, fragte ich, während ich die Tür schloss.
Zum ersten Mal sah ich, wie Olga sprach. Der Schnabel geriet ins Zucken, und sie brachte die Worte nur mit großer Mühe heraus. Ehrlich gesagt, ist mir immer noch schleierhaft, wie ein Vogel sprechen kann. Noch dazu mit einer derart menschlichen Stimme.
»Nicht nötig, sonst leg ich noch Eier.«
Offenbar sollte das ein Scherz sein.
»Sollte ich dich beleidigt haben, täte es mir Leid«, meinte ich prophylaktisch.»Ich versuche nur, die Stimmung zu lockern.«
»Ich weiß. Zerbrich dir darüber nicht den Kopf.«
Bei der Inspektion meines Kühlschranks entdeckte ich ein paar Sachen, die wir zum Kognak essen konnten: Käse, Wurst, eingelegtes Gemüse… Wie wohl vierzig Jahre alter Kognak zu einer leicht gesalzenen Gurke steht? Wahrscheinlich wären beide etwas befangen. Genau wie Olga und ich.
Ich holte den Käse und die Wurst heraus.»Zitronen habe ich nicht, tut mir Leid.«Mir war völlig klar, wie absurd meine Vorbereitungen waren, aber trotzdem…»Dafür ist der Kognak in Ordnung.«
Die Eule schwieg.
Aus der zur Bar umfunktionierten Schublade des Tischs nahm ich die Flasche Kutusow. »Hast du den schon mal probiert?«
»Unsere Antwort auf Napoléon?«Die Eule lachte.»Nein, den kenn ich nicht.«
Die Absurdität des Ganzen nahm immer mehr zu. Ich spülte zwei Kognakschwenker ab und stellte sie auf den Tisch. Zweifelnd blickte ich auf das weiße Federknäuel herab. Und den krummen kurzen Schnabel.
»Du wirst nicht aus dem Glas trinken können. Vielleicht sollte ich dir eine Untertasse hinstellen?«
»Dreh dich um.«
Ich gehorchte. Hinter meinem Rücken war Flügelschlagen zu vernehmen. Dann ein feines, unangenehmes Zischen, das an eine aufgebrachte Schlange oder an aus einem Ballon entweichendes Gas erinnerte.
»Olga, entschuldige, aber…«Ich wandte mich wieder zurück.
Die Eule war verschwunden. Doch damit hatte ich gerechnet. Ich hatte gehofft, dass es ihr zumindest ab und an gestattet sei, Menschengestalt anzunehmen. Und insgeheim hatte ich mir das Porträt Olgas ausgemalt, einer in einen Vogelkörper eingekerkerten Frau, die sich noch an den Dekabristenaufstand erinnerte. Aus irgendeinem Grund hatte ich sie mir wie die Fürstin Lopuchina vorgestellt, die von einem Ball nach Hause eilt. Nur älter, ernster, mit Augen, in denen Weisheit lag, etwas abgemagert…
Auf dem Hocker saß jedoch eine junge Frau - jung, zumindest was das Äußere anging. Vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt. Mit kurzem Männerhaarschnitt und so schmutzigen Wangen, als sei sie gerade einem Feuer entkommen. Schön und mit feinen aristokratischen Gesichtszügen. Doch dieser Brandgeruch… und der miserable, grauenvolle Haarschnitt…
Die Kleidung gab mir den Rest.
Verdreckte Armeehosen, wie man sie aus den Vierzigern kennt, eine aufgeknöpfte Wattejacke, darunter ein vor Schmutz graues Soldatenhemd. Und nackte Füße.
»Bin ich schön?«, fragte die Frau.
»Trotz allem, ja«, erwiderte ich.»Beim Licht und beim Dunkel - warum siehst du so aus?«
»Das letzte Mal, dass ich Menschengestalt angenommen habe, ist fünfundfünfzig Jahre her.«
»Verstehe«, meinte ich nickend.»Man hat dich während des Kriegs eingesetzt?«
»Man hat mich während aller Kriege eingesetzt.«Olga lächelte sanft.»Während aller großen Kriege. Zu jeder anderen Zeit ist es mir verboten, Menschengestalt anzunehmen.«
»Im Moment haben wir aber keinen Krieg.«
»Dann wird er kommen.«
Diesmal lächelte sie nicht. Ich unterdrückte einen Fluch und machte nur das Zeichen zur Abwehr eines Unglücks.
»Möchtest du duschen?«
»Gern.«
»Frauenkleider habe ich keine… Aber vielleicht tun es auch Jeans und ein Hemd?«
Sie nickte. Erhob sich ungeschickt und auf komische Weise mit den Armen fuchtelnd und schaute verwundert auf ihre nackten Füße. Dann ging sie ins Bad, als
ob sie nicht das erste Mal hier dusche.
Schleunigst schoss ich ins Schlafzimmer. Viel Zeit blieb ihr sicher nicht.
Die Jeans waren alt, dafür aber eine Nummer kleiner als meine aktuelle Größe. Trotzdem würden sie ihr zu groß sein… Ein Hemd? Nein, besser ein leichtes Sweatshirt. Unterwäsche? Hm. Hm, hm und noch mal hm.
»Anton!«
Ich raffte die Sachen zu einem Knäuel zusammen, schnappte mir ein sauberes Handtuch und stürzte wieder zum Zimmer hinaus. Die Badezimmertür war offen.
»Was ist denn das für ein komischer Hahn?«
»Importware, eine Mischbatterie… Wart mal.«
Ich ging ins Bad. Olga stand in der Wanne, mit dem Rücken zu mir, nackt, und bewegte den Hahn gedankenverloren nach links und nach rechts.
»Nach oben«, sagte ich.»Drück ihn nach oben, dann kommt das Wasser. Links das kalte, rechts das warme.«
»Alles klar. Danke.«
Sie genierte sich kein bisschen vor mir. Was nicht weiter verwunderlich war, bei ihrem Alter und ihrem Rang - selbst wenn Letzterer der Vergangenheit angehörte.
Mich dagegen irritierte die Situation. Weshalb ich zynisch wurde.
»Hier sind ein paar Klamotten. Vielleicht suchst du dir was aus. Natürlich nur bei Bedarf.«
»Danke, Anton…«Olga sah mich an.»Achte einfach
nicht auf mich. Ich habe achtzig Jahre in einem Vogelkörper verbracht. Davon die meiste Zeit im Tiefschlaf. Mir hat’s trotzdem gereicht.«
Ihre Augen schienen unergründlich, magnetisch. Es waren gefährliche Augen.
»Ich empfinde mich weder als Mensch noch als Andere oder Frau. Als Eule übrigens auch nicht. Sondern… als böse, alte, geschlechtslose Idiotin, die ab und an in der Lage ist zu sprechen.«
Aus dem Duschkopf prasselte das Wasser. Langsam hob Olga die Arme und drehte sich voller Genuss unter dem harten Strahl.»Mir den Ruß abzuwaschen ist für mich viel wichtiger… als einen sympathischen Jungen in Verlegenheit zu bringen.«
Kommentarlos schluckte ich den Jungen und ging aus dem Bad. Kopfschüttelnd griff ich nach dem Kognak und entkorkte die Flasche.
Eines zumindest war klar: Sie war keine Tierfrau. Tiermenschen hätte keine Kleidung mehr angehabt. Olga war eine Magierin. Eine Magierin, eine Frau von etwa zweihundert Jahren, vor achtzig Jahren mit dem Entzug ihres Körpers bestraft, immer noch voller Hoffnung auf Rehabilitation, Spezialistin für heftige Wechselwirkungen, die das letzte Mal vor zirka fünfundfünfzig Jahren einen Auftrag erhalten hatte…
All das sollte für eine Recherche in unserer Datenbank ausreichen. Auf die kompletten Dateien konnte ich nicht zugreifen, dafür stand ich zu weit unten. Aber zum Glück hatten die oberen Führungskräfte keine Ahnung, an welche Informationen man über eine indirekte Suche gelangen konnte.
Natürlich nur, falls ich Olgas Identität tatsächlich herauskriegen wollte.
Nachdem ich in beide Gläser Kognak eingeschenkt hatte, wartete ich. Fünf Minuten später kam Olga aus dem Bad. Im Gehen rubbelte sie sich die Haare mit dem Handtuch ab. Sie trug meine Jeans und mein Sweatshirt.
Zwar war sie nicht gerade wie umgewandelt - aber dennoch wirkte sie jetzt eine Größenordnung sympathischer.
»Danke, Anton. Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut mir das getan hat.«
»Wahrscheinlich schon.«
»Glaub ich nicht. Der Geruch, Anton - dieser Brandgeruch. In dem halben Jahrhundert habe ich mich schon fast daran gewöhnt.«Unbeholfen setzte sich Olga auf den Hocker. Sie seufzte.»Auch wenn das schlimm ist, aber ich bin froh über die aktuelle Krise. Selbst wenn ich nicht begnadigt werde, habe ich wenigstens die Möglichkeit, mich mal zu waschen…«
»Du kannst diese Gestalt behalten, Olga. Ich geh los und besorg dir vernünftige Sachen zum Anziehen.«
»Nicht nötig. Ich habe nur eine halbe Stunde pro Tag.«
Olga knüllte das Handtuch zusammen und warf es aufs Fensterbrett.
»Wer weiß, wann ich das nächste Mal die Gelegenheit habe, mich zu waschen«, meinte sie seufzend.»Oder Kognak zu trinken… Auf dein Wohl, Anton.«
»Zum Wohl.«
Der Kognak war gut. Genussvoll nippte ich daran, ohne mich um das enorme Chaos in meinem Kopf zu scheren. Olga trank ihren auf Ex, verzog das Gesicht, sagte aber freundlich:»Nicht übel.«
»Warum erlaubt dir der Chef nicht, ein normales Aussehen anzunehmen?«
»Das liegt nicht in seiner Macht.«
Alles klar. Das heißt, sie war nicht vom Regionalbüro verurteilt worden, sondern von weiter oben.
»Ich wünsche dir Glück, Olga. Was auch immer du getan hast - ich bin sicher, dass deine Schuld längst abgegolten ist.«
Die Frau zuckte mit den Schultern.»Würde ich auch gern glauben. Mir ist klar, dass man leicht Mitleid mit mir haben kann, aber im Grunde ist die Strafe gerecht… Doch jetzt mal ganz im Ernst.«
»Gut.«
Olga beugte sich über den Tisch zu mir herüber.»Ich sage dir ehrlich: Mir reicht’s«, flüsterte sie verschwörerisch.»Ich habe Nerven wie Stahl, aber so kann ich einfach nicht leben. Meine einzige Chance besteht darin, eine derart wichtige Mission zu erfüllen, dass der Leitung gar nichts anderes übrig bleibt, als mich zu begnadigen.«
»Und wo sollen wir eine derartige Mission hernehmen?«
»Die haben wir doch schon. Und sie setzt sich aus drei Teilen zusammen. Da ist der Junge, den wir beschützen und auf die Seite des Lichts ziehen müssen. Und die Vampirin, die wir ausschalten werden.«
Olga sprach mit fester Stimme - und plötzlich glaubte ich ihr. Beschützen und ausschalten. Kein Problem.
»Das alles sind jedoch Kleinigkeiten, Anton. Du wirst
durch eine solche Aktion einen höheren Grad erlangen, aber mir bringt das nicht viel. Die Hauptsache ist die Frau mit dem schwarzen Strudel.«
»Um die kümmern sich andere, Olga. Ich… Wir wurden von dieser Aufgabe abgezogen.«
»Macht nichts. Sie werden es nicht schaffen.«
»Ach nein?«, fragte ich in ironischem Ton.
»Nein. Boris Ignatjewitsch ist ein starker Magier. Allerdings auf anderen Gebieten.«Olga zwinkerte spöttisch.»Ich befasse mich aber bereits mein ganzes Leben mit allen Aspekten, die ein Durchbruch des Infernos mit sich bringt.«
»Also deshalb redest du von Krieg!«, begriff ich.
»Natürlich. Solche Auswüchse von Hass gibt es in einer Welt voller Frieden nicht. Diese Kröte Adolf… hatte viele Anhänger, doch sie hätten ihn im ersten Kriegsjahr abgefackelt. Und mit ihm ganz Deutschland. Bei Stalin war es etwas anders, der wurde auf geradezu ungeheuerliche Weise vergöttert - was ein mächtiger Schild ist. Anton, ich, eine einfache russische Frau…«Ein flüchtiges Lächeln ließ keinen Zweifel, wie Olga zu dem Wort»einfach«stand.»… ich habe mich den ganzen letzten Krieg hindurch damit beschäftigt, die Feinde meines Landes vor Flüchen zu schützen. Allein dafür hätte ich mir die Begnadigung verdient. Glaubst du’s?«
»Unbedingt.«Ich hatte den Eindruck, dass sie einen in der Krone hatte.
»Eine Scheißarbeit… Wir müssen ja alle gegen die menschliche Natur handeln, aber so weit zu gehen… Also, Anton, sie werden es nicht schaffen. Ich könnte es probieren. Aber selbst ich habe meine Zweifel.«
»Olga, wenn es so schlimm aussieht, musst du Meldung machen…«
Die Frau schüttelte den Kopf und strich sich über das feuchte Haar.»Das kann ich nicht. Es ist mir verboten, mit irgendjemandem Kontakt aufzunehmen, abgesehen von Boris Ignatjewitsch und meinem jeweiligen Partner. Ihm habe ich alles gesagt. Jetzt kann ich nur noch abwarten. Und hoffen, dass es mir gelingt… im letzten Moment noch gelingt.«
»Versteht der Chef das denn nicht?«
»Im Gegenteil, ich denke, er versteht es.«
»Aber das ist doch…«, flüsterte ich.
»Wir waren einmal ein Paar. Sehr lange. Außerdem auch noch Freunde, was selten vorkommt… Also, Anton, heute nehmen wir uns den Jungen und die bescheuerte Vampirin vor. Morgen müssen wir warten. Warten, bis das Inferno durchbricht. Einverstanden?«
»Darüber muss ich erst nachdenken, Olga.«
»Sehr schön. Denk darüber nach. Für mich ist es jetzt Zeit. Dreh dich um…«
Ich war nicht schnell genug. Olga war vermutlich selbst schuld daran. Sie hatte nicht darauf geachtet, wie viel Zeit ihr zur Verfügung stand.
Der Anblick war wirklich ekelhaft. Olga erzitterte und krümmte sich. Durch ihren Körper lief eine Welle: Die Knochen verbogen sich, als seien sie aus Gummi. Die Haut platzte ab, sodass die blutdurchströmten Muskeln freigelegt wurden. In Sekundenschnelle hatte sich die Frau in einen feuchten Klumpen Fleisch verwandelt, in eine formlose Kugel. Und diese Kugel schrumpfte und schrumpfte, ihr wuchsen weiche weiße Federn…
Die Schnee-Eule flatterte mit einem halb menschlichen, halb vogelhaften Schrei vom Hocker auf. Flog zu ihrem Lieblingsplatz auf dem Kühlschrank.
»Teufel auch!«, schrie ich unter Missachtung aller Regeln und Vorschriften.»Olga!«
»Hübsch, was?«Die Stimme der Frau klang atemlos, noch schmerzverzerrt.
»Warum? Warum gerade so?«
»Das ist ein Teil der Strafe, Anton.«
Ich streckte die Hand aus und berührte den ausgebreiteten, zitternden Flügel.»Olga, ich bin mit allem einverstanden.«
»Dann an die Arbeit, Anton.«
Ich nickte und ging in die Diele. Nachdem ich den Schrank mit meiner Ausrüstung geöffnet hatte, trat ich ins Zwielicht ein - andernfalls sieht man nämlich nichts anderes als Anziehsachen und altes Gerümpel.
Ein leichter Körper ließ sich auf meiner Schulter nieder.
»Womit kannst du aufwarten?«
»Das Onyxamulett habe ich entladen. Kannst du es aufladen?«
»Nein. Mir wurden fast alle Kräfte entzogen. Man hat mir nur die gelassen, die nötig sind, um ein Inferno zu neutralisieren. Und mein Gedächtnis, Anton - mein Gedächtnis hat man mir auch gelassen. Wie willst du die Vampirin töten?«
»Sie ist nicht registriert«, sagte ich.»Also nur mit folkloristischen Mitteln.«
Die Eule stieß ein gackerndes Krächzen aus.»Greift man noch immer zu Espenholz?«
»Ich hab zumindest keins.«
»Verstehe. Wegen deiner Freunde?«
»Ja. Ich möchte nicht, dass sie anfangen zu zittern, sobald sie die Wohnung betreten.«
»Also, was dann?«
Aus einer Aussparung in den Ziegeln holte ich eine Pistole hervor. Ich schielte zu der Eule hin - Olga musterte die Waffe aufmerksam.
»Silber? Für einen Vampir sehr schmerzhaft, aber nicht tödlich.«
»Sie ist mit Dumdumgeschossen geladen.«Ich zog das Magazin aus der Desert Eagle.»Mit silbernen Dumdumgeschossen. Kaliber null vierundvierzig. Drei Treffer, und der Vampir ist so durchsiebt, dass er nichts mehr anrichten kann.«
»Und wie dann weiter?«
»Mit folkloristischen Mitteln.«
»Ich misstraue der Technik«, erwiderte Olga mit Zweifel in der Stimme.»Ich hab mal gesehen, wie ein Tiermensch wieder auf die Beine gekommen ist, nachdem er von einer Granate zerfetzt worden war.«
»Ging das schnell?«
»Er hat drei Tage gebraucht.«
»Und? Was hab ich gerade gesagt?«
»Gut, Anton. Wenn du deinen eigenen Kräften nicht vertraust…«
Zufrieden war sie immer noch nicht, das sah ich. Doch ich bin kein Fahnder. Ich bin ein Stabsmitarbeiter, dem man befohlen hat, im Außendienst zu arbeiten.
»Wird schon alles werden«, beruhigte ich sie.»Vertrau mir. Konzentrieren wir uns auf die Suche nach dem Köder.«
»Also dann, gehen wir.«
»Hier ist das alles passiert«, teilte ich Olga mit. Wir standen in dem Tordurchgang. Im Zwielicht, natürlich.
Ab und an gingen Leute vorbei, die mir auf komische Weise auswichen, auch wenn sie mich nicht sahen.
»Hier hast du den Vampir getötet.«Olgas Stimme klang höchst sachlich.»Gut… Das ist mir klar, mein Freund. Du hast den Müll nicht gut entsorgt - aber das spielt weiter keine Rolle…«
Meiner Ansicht nach waren keine Spuren von dem dahingegangenen Vampir zurückgeblieben. Doch ich widersprach nicht.
»Hier stand die Vampirin… Hier hast du sie mit irgendwas geschlagen… nein, mit Wodka bespritzt…«Olga kicherte kaum hörbar.»Sie ist weggegangen… Unsere Jungs sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Dabei ist ihre Spur immer noch ganz klar!«
»Sie hat sich verwandelt«, brummte ich missmutig.
»In eine Fledermaus?«
»Ja. Garik hat gesagt, dass sie das im letzten Moment geschafft hat.«
»Schlecht. Die Vampirin ist stärker, als ich gedacht habe.«
»Und verrückt. Sie trinkt Blut von lebenden Menschen und tötet. Sie hat keine Erfahrung, aber platzt vor Kraft.«
»Wir werden sie vernichten«, sagte Olga hart.
Ich hüllte mich in Schweigen.
»Und hier haben wir auch die Spur des Jungen.«In Olgas Stimme schwang Respekt mit.»In der Tat… ein beachtliches Potenzial. Schaun wir mal, wo er wohnt.«
Wir gingen den Durchgang entlang und traten in den Hof hinaus. Er war groß und auf allen Seiten von Häusern begrenzt. Ich spürte die Aura des Jungen ebenfalls, wenn auch nur als schwache und verknäuelte Ausstrahlung: Er musste hier regelmäßig langkommen.
»Weiter«, kommandierte Olga.»Bieg nach links ab. Weiter. Jetzt nach rechts. Stopp…«
Ich blieb an einer Straße stehen, über die langsam die Straßenbahn zuckelte. Aus dem Zwielicht war ich immer noch nicht herausgetreten.
»In diesem Haus«, verkündete Olga.»Los. Da ist er.«
Der Bau sah scheußlich aus. Ein Hochhaus mit Flachdach, zu allem Überfluss auch noch auf irgendwelchen Beinen oder Pfeilern. Auf den ersten Blick wirkte es wie das gigantische Denkmal für eine Streichholzschachtel. Auf den zweiten wie Stein gewordener krankhafter Größenwahn.
»In so einem Haus ist gut morden«, sagte ich.»Oder verrückt werden.«
»Wir werden uns mit beidem befassen«, bestätigte Olga.»Weißt du, darin kenne ich mich aus.«
Jegor wollte nicht aus dem Haus. Nachdem seine Eltern zur Arbeit gegangen waren, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, hatte ihn sofort Angst gepackt.
Zugleich wusste er: außerhalb der leeren Wohnung würde die Angst zum Entsetzen werden.
Rettung gab es nicht. Gar keine, nirgends. Das Haus wiegte ihn wenigstens im Gefühl der Sicherheit.
Die Welt war zusammengebrochen, war gestern Abend in sich zusammengekracht. Jegor hatte immer offen zuzugeben - wenn auch nicht vor anderen, so doch vor sich selbst -, dass er kein Held war. Aber ein Feigling war er wohl auch nicht. Es gab Dinge, vor denen konnte und musste man Angst haben: Schlägertypen, Verrückte, Terroristen, Katastrophen, Feuer, Krieg und tödliche Krankheiten. Das konnte man alles in einen Topf werfen, das war alles gleichermaßen weit weg. Das alles gab es tatsächlich, aber nicht im täglichen Leben. Man brauchte nur ein paar einfache Regeln einzuhalten, nachts nicht draußen herumzustromern, sich nicht in fremden Vierteln herumzutreiben, die Hände vor dem Essen zu waschen und nicht auf die Gleise zu springen. Man konnte vor Unannehmlichkeiten Angst haben und gleichzeitig wissen, dass kaum Gefahr bestand, in diese Situationen hineinzugeraten.
Jetzt hatte sich alles geändert.
Es gab Erscheinungen, vor denen man sich nicht verstecken konnte. Erscheinungen, die es auf der Welt nicht gab und nicht geben dürfte.
Es gab Vampire.
Deutlich erinnerte er sich an alles, das Entsetzen hatte ihn nichts vergessen lassen, worauf er noch gestern vage gehofft hatte, als er nach Hause gerannt und dabei über die Straße geflitzt war, ohne vorher nach links oder rechts zu schauen. Und die schwache Hoffnung, am Morgen möge sich alles als Traum erweisen,
hatte sich nicht erfüllt.
Es war alles wahr. Wahr und unmöglich. Aber…
Es war gestern passiert. Ihm.
Er war noch spätabends unterwegs gewesen, gewiss, doch manchmal kam er sogar noch später nach Hause. Selbst seine Eltern, die nach Jegors fester Überzeugung bis heute nicht begriffen hatten, dass er mittlerweile fast dreizehn war, nahmen das gelassen hin.
Als er mit seinen Freunden aus dem Schwimmbad gekommen war - gut, da war es schon zehn. Sie waren alle zusammen bei McDonald’s reingestürmt, wo sie rund zwanzig Minuten geblieben waren. Auch das nicht ungewöhnlich, denn jeder, der es sich leisten konnte, ging nach dem Training dorthin. Danach… danach waren sie alle zusammen zur Metro gegangen. Das war nicht weit. Über eine helle Straße. Zu acht.
Bis dahin lief alles wie immer.
In der Metro war er dann irgendwie nervös geworden. Er hatte auf die Uhr gesehen und sich nach den anderen Fahrgästen umgeschaut. Doch da war nichts Verdächtiges.
Bloß, dass Jegor Musik hörte.
Und dann begann das, was nicht sein konnte.
Aus irgendeinem Grund war er in einen dunklen, stinkenden Tordurchgang getreten. War auf eine Frau und einen Mann zugegangen, die dort auf ihn warteten. Die ihn zu sich lockten. Freiwillig hatte er der Frau seinen Hals hingehalten, ihn ihren dünnen scharfen Zähnen dargeboten, die nichts Menschliches an sich hatten.
Selbst jetzt, zu Hause, allein, spürte Jegor die Kälte
– diesen süßen, betörenden Kitzel, der über seine Haut lief. Er hatte es doch gewollt! Hatte Angst gehabt, aber dennoch gewollt, dass die funkelnden Eckzähne ihn berührten, den kurzen Schmerz, dem… dem… dem etwas folgen würde… wahrscheinlich…
Und niemand auf der ganzen Welt konnte ihm helfen. Jegor erinnerte sich an den Blick der Frau, die die Hunde Gassi führte. Ein Blick, der durch ihn hindurchging, wachsam, aber keinesfalls gleichgültig. Angst empfand sie keine, denn sie sah einfach nicht, was hier geschah… Einzig und allein das Auftauchen des dritten Vampirs hatte Jegor gerettet. Dieser blasse Typ mit dem MD-Player, der sich ihm schon in der Metro an die Hacken geklebt hatte. Seinetwegen waren die beiden anderen ausgerastet wie ausgewachsene hungrige Wölfe, die sich um einen gehetzten, aber noch nicht getöteten Hirsch schlugen.
An diesem Punkt wirbelte alles durcheinander, lief viel zu schnell ab. Geschrei von irgendeinem Vertrag und von irgendeinem Zwielicht. Ein blauer Lichtblitz - und ein Vampir zerfiel vor seinen Augen zu Staub, genau wie im Kino. Das Aufheulen der Vampirin, nachdem der Mann ihr etwas ins Gesicht gespritzt hatte.
Und seine panische Flucht…
Und die schreckliche Erkenntnis, noch schrecklicher als das, was er eben erlebt hatte: Er durfte niemandem etwas davon sagen. Man würde ihm nicht glauben. Ihn nicht verstehen.
Vampire gibt es nicht!
Man kann nicht durch Menschen hindurchblicken, ohne sie zu bemerken!
Niemand verbrennt in einem Wirbel aus hellblauem
Feuer, verwandelt sich darin in eine Mumie, ein Skelett, einen Aschehaufen!
»Das stimmt nicht«, sagte Jegor sich selbst.»Es gibt sie. Es ist möglich. Es kommt vor!«
Doch sogar sich selbst konnte er kaum glauben…
Er war nicht in die Schule gegangen, räumte dafür aber jetzt die Wohnung auf. Er wollte etwas tun. Hin und wieder trat Jegor ans Fenster und spähte angespannt in den Hof.
Nichts, was verdächtig gewesen wäre.
Aber würde er sie überhaupt sehen können?
Sie würden kommen. Daran zweifelte Jegor nicht eine Sekunde. Sie wussten, dass er sich an sie erinnerte. Jetzt würden sie ihn als Zeugen umbringen.
Und nicht einfach nur umbringen! Sie würden sein Blut trinken und einen Vampir aus ihm machen.
Der Junge ging zum Bücherschrank, in dem die Hälfte der Regale mit Videokassetten voll gestellt war. Vielleicht würde er hier Rat finden. Dracula - Tot und unzufrieden. Nein, das war eine Komödie. Einmal beißen bitte. Völliger Quatsch. Die rabenschwarze Nacht - Fright Night. Jegor erschauerte. An den Film erinnerte er sich noch gut. Jetzt würde er sich erst recht nie wieder trauen, ihn anzusehen. Aber wie hieß es darin doch…»Das Kreuz hilft, wenn du daran glaubst.«
Wie konnte ein Kreuz ihm helfen? Er war ja nicht einmal getauft. Und an Gott glaubte er auch nicht. Zumindest bisher nicht.
Jetzt sollte er vielleicht besser damit anfangen?
Wenn es Vampire gibt, dann gibt es auch einen Teufel, und wenn es den Teufel gibt, dann gibt es also
auch Gott?
Wenn es Vampire gibt, dann gibt es auch Gott?
Wenn es das Böse gibt, dann gibt es auch das Gute?
»Blödsinn«, sagte Jegor. Er steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans, ging in die Diele und schaute in den Spiegel. Sein Spiegelbild sah ihn an. Vielleicht blickte er etwas zu finster drein, ansonsten war er aber ein ganz normaler Junge. Bisher war also noch alles in Ordnung. Sie hatten es nicht geschafft, ihn zu beißen.
Sicherheitshalber drehte er sich doch noch herum und versuchte, seinen Nacken zu betrachten. Nein, nichts. Keine Spuren. Einfach ein dünner, vielleicht nicht ganz sauberer Hals.
Die Idee kam ihm ganz plötzlich. Jegor stürzte in die Küche und schreckte dabei den Kater auf, der es sich auf der Waschmaschine gemütlich gemacht hatte. Er durchwühlte die Tüten mit Kartoffeln, Zwiebeln und Mohrrüben.
Da war der Knoblauch.
Hastig schälte Jegor eine Knolle und biss hinein. Der Knoblauch war scharf, versengte ihm den Mund. Jegor goss sich ein Glas Tee ein, mit dem er jede Zehe nachspülte. Viel half das nicht, seine Zunge brannte immer noch, das Zahnfleisch kribbelte. Aber es würde doch wohl helfen?
Der Kater schaute zur Küche hinein. Verständnislos starrte er den Jungen an, miaute enttäuscht und zog wieder ab. Wie man etwas derart Ekelhaftes essen konnte, wollte ihm einfach nicht in den Sinn.
Die letzten beiden Zehen kaute Jegor an, spuckte sie dann aus und rieb sich den Hals damit ein. Obwohl er selbst über sein Verhalten lachen musste, konnte er nicht damit aufhören.
Der Hals fing ebenfalls an zu jucken. Verdammt guter Knoblauch. Jeder Vampir würde allein vom Geruch verrecken.
Unzufrieden schrie der Kater in der Diele los. Jegor spitzte die Ohren und spähte aus der Küche hinaus. Nein, da war nichts. Die Tür war mit drei Schlössern und einer Kette verriegelt.
»Schrei nicht so, Greysik!«, schimpfte er streng.»Sonst kriegst du auch Knoblauch zu fressen.«
Nach Abwägung der Gefahr türmte der Kater ins elterliche Schlafzimmer. Was konnte Jegor noch tun? Silber soll ja helfen. Der Junge ging ins Schlafzimmer, wobei er abermals den Kater erschreckte, öffnete den Kleiderschrank und kramte unter Bettlaken und Handtüchern die Schatulle hervor, in der seine Mutter ihren Schmuck aufbewahrte. Er nahm sich eine silberne Kette und band sie um. Sie würde nach Knoblauch stinken, außerdem musste er sie heute Abend sowieso wieder zurücklegen. Vielleicht sollte er seine Sparbüchse plündern und sich ein Kettchen kaufen? Mit einem Kreuz. Und es immer tragen. Vielleicht sollte er verkünden, dass er an Gott glaube? So was kam ja vor, dass jemand, der noch nie, noch niemals gläubig gewesen war, plötzlich anfing, an Gott zu glauben!
Er ging durchs Wohnzimmer, setzte sich im Schneidersitz aufs Sofa und ließ nachdenklich den Blick durchs Zimmer schweifen. Hatten sie Espenholz im Haus? Vermutlich nicht. Wie sieht das überhaupt aus, Espenholz? Ob er in den Botanischen Garten gehen und sich aus einem Ast einen Dolch schnitzen sollte?
Das wäre alles sehr schön, gewiss. Nur ob das helfen würde? Wenn diese Musik abermals erklingen würde, diese leise, betörende Musik… Vielleicht würde er dann einfach die Kette abnehmen, den Dolch aus Espenholz zerbrechen und sich den Knoblauch vom Hals waschen?
Die leise, leise Musik… Unsichtbare Feinde. Vielleicht waren sie schon nah. Und er sah sie einfach nicht. Konnte nicht richtig schauen. Vielleicht saß der Vampir schon neben ihm und lachte sich ins Fäustchen, wenn er diesen dummen Bengel beobachtete, der seine Verteidigung aufbaute. Womöglich machte ihnen weder das Espenholz Angst, noch jagte ihnen der Knoblauch Schrecken ein. Wie sollte er gegen ein unsichtbares Wesen kämpfen?
»Greysik!«, rief Jegor. Auf Mietz, Mietz hörte der Kater mit seinem komplizierten Charakter nicht.»Komm her, Greysik!«
Der Kater hatte sich auf der Schwelle zum Schlafzimmer aufgebaut. Sein Fell war gesträubt, seine Augen funkelten. Er sah an Jegor vorbei, in eine Ecke, auf den Sessel, der am Couchtisch stand. Ein leerer Sessel…
Der Junge spürte, wie über seinen Rücken der nunmehr bereits vertraute eiskalte Schauder lief. Er wirbelte so abrupt herum, dass er vom Sofa flog und auf dem Boden landete. Der Sessel war leer. Die Wohnung ebenfalls. Und obendrein gut verriegelt. Finster war es jedoch geworden, als sei draußen das Sonnenlicht erloschen…
Hier war noch jemand.
»Nein«, schrie Jegor und kroch weg.»Ich weiß es!
Ich weiß es! Ihr seid hier!«
Der Kater stieß einen kollernden Laut aus und flüchtete unters Bett.
»Ich seh dich!«, brüllte der Junge.»Rühr mich nicht an!«
Der Hauseingang hätte sowieso düster und verdreckt gewirkt. Doch aus dem Zwielicht heraus betrachtet war er die reinste Katakombe. Die Betonwände, in der normalen Realität einfach nur dreckig, bewucherte im Zwielicht dunkelblaues Moos. Widerwärtig. Kein Anderer wohnte hier, der das Haus hätte davon befreien können… Ich strich mit der Hand über eine besonders dichte Stelle - das Moos fing an zu wabern, versuchte, vor der Wärme davonzukriechen.»Brenne«, befahl ich.
Parasiten mag ich nicht. Selbst wenn sie eigentlich keinen Schaden anrichten, sondern nur fremde Gefühle trinken. Die Hypothese, die riesigen Kolonien blauen Mooses könnten die menschliche Psyche durchschütteln und so Depressionen oder eine sorglose Heiterkeit hervorrufen, hat bislang noch niemand bewiesen. Doch ich habe es schon immer vorgezogen, auf Nummer sicher zu gehen.
»Brenne!«, wiederholte ich und schickte ein wenig Kraft in meine Handfläche.
Eine transparente heiße Flamme erfasste den dichten blauen Filz. Im Nu loderte der ganze Eingang. Ich ging zum Fahrstuhl, drückte den Knopf und betrat die Kabine. Die war sauberer.
»Achter Stock«, soufflierte Olga.»Warum hast du deine Kräfte dafür verschwendet?«
»War doch nicht der Rede wert…«
»Es kann sein, dass du alle Kraft brauchst, die du hast. Soll das Zeug doch wachsen.«
Ich hüllte mich in Schweigen. Der Fahrstuhl zuckelte langsam nach oben, ein Zwielicht-Lift, der Doppelgänger des normalen, der nach wie vor im Erdgeschoss wartete.
»Du musst es ja wissen«, meinte Olga.»Die Jugend… ihre Kompromisslosigkeit…«
Die Türen öffneten sich. Hier im achten Stock tobte bereits das Feuer, das blaue Moos brannte wie Zunder. Es war heiß, viel heißer als normalerweise im Zwielicht. Leichter Brandgeruch lag in der Luft.
»Die Tür da…«, sagte Olga.
»Ich seh’s.«
In der Tat spürte ich die Aura des Jungen an der Tür. Er hatte sich heute noch nicht mal getraut, das Haus zu verlassen. Gut. Das Zicklein war an einer festen Leine, jetzt mussten wir nur noch auf den Tiger warten.
»Ich werde dann mal hineingehen«, verkündete ich. Und stieß gegen die Tür.
Die ging nicht auf.
Das konnte doch nicht wahr sein!
In der Realität mögen Türen mit allen möglichen Schlössern verriegelt sein - aber das Zwielicht hat seine eigenen Gesetze. Nur Vampire brauchen eine Einladung, damit sie ein fremdes Haus betreten dürfen, das ist der Preis, den sie für ihre außergewöhnliche Kraft und die gastronomische Beziehung zu den Menschen zahlen.
Um im Zwielicht eine Tür zu versperren, muss man zumindest in selbiges eintreten können.
»Das ist die Angst«, sagte Olga.»Gestern war der Junge entsetzt. Und gerade eben aus der ZwielichtWelt zurück. Er schloss die Tür hinter sich - und ohne es merken, hat er es gleich in beiden Welten getan.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Komm tiefer. Folge mir.«
Ich schaute auf meine Schulter - da war niemand. Das Zwielicht heraufzubeschwören, wenn man bereits in ihm weilt, ist kein Kinderspiel. Mehrmals musste ich meinen Schatten vom Boden heben, bis er schließlich Volumen gewann und vor mir in der Luft waberte.
»Komm schon, du schaffst es«, flüsterte Olga.
Ich trat in den Schatten hinein, und das Zwielicht verdichtete sich. Dicker Nebel quoll im ganzen Raum. Die Farben verschwanden völlig. Es war nur noch ein Geräusch zu hören: der Schlag meines Herzens, schwer und langsam, nachhallend, als würde auf dem Grund einer Schlucht auf eine Trommel eingedroschen. Und Wind pfiff - die Luft kroch in die Lungen, dehnte langsam die Bronchien. Auf meiner Schulter tauchte die weiße Eule auf.
»Lange halt ich es hier nicht aus«, flüsterte ich, während ich die Tür öffnete. In dieser Schicht war sie natürlich nicht verschlossen.
An meinen Beinen schoss ein dunkelgrauer Kater vorbei. Für Katzen existiert weder die Menschen- noch die Zwielicht-Welt, sie leben in allen Welten zugleich. Nur gut, dass sie ziemlich dumm sind.
»Mietz, Mietz, Mietz«, flüsterte ich.»Du brauchst keine Angst haben, kleiner Kater…«
Wohl um meine Kräfte zu testen, schloss ich hinter mir die Tür. So, mein Junge, jetzt bist du etwas besser geschützt. Aber ob dir das was nützt, wenn du den Ruf hörst?
»Komm da raus«, sagte Olga.»Du verlierst sehr schnell an Kraft. Diese Schicht des Zwielichts bereitet selbst einem erfahrenen Magier Probleme. Ich werde wohl auch wieder etwas höher gehen.«
Erleichtert trat ich nach draußen. Ich war einfach kein Fahnder, der in allen drei Schichten des Zwielichts spazieren gehen kann. Im Allgemeinen brauchte ich das auch nicht.
Die Welt gewann an Farbe. Ich sah mich um - die Wohnung war gemütlich und von den Ausgeburten der Zwielicht-Welt weitgehend verschont. Ein paar Streifen blauen Mooses an der Tür, kaum der Rede wert, denn sie würden von selbst eingehen, wenn erst mal der Hauptstamm ausgerottet war. Geräusche waren auch zu hören, allem Anschein nach aus der Küche. Ich spähte hinein.
Der Junge stand am Tisch und aß Knoblauch, den er mit heißem Tee hinunterspülte.
»Beim Licht und beim Dunkel…«, flüsterte ich.
Der kleine Kerl kam mir jetzt noch winziger und schutzbedürftiger vor als gestern. Mager, schlaksig, wenn auch nicht unbedingt schwach, denn offensichtlich trieb er Sport. Er trug verwaschene hellblaue Jeans und ein blaues T-Shirt.
»Armer Kerl«, sagte ich.
»Man muss einfach Mitleid mit ihm haben«, stimmte Olga zu.»Das Gerücht zu verbreiten, Knoblauch besitze magische Eigenschaften, war ein wirklich kluger Schachzug von den Vampiren. Angeblich hat sich das Bram Stoker selbst ausgedacht…«
Der Junge spuckte sich etwas zerkauten Brei auf die Hand und fing an, sich mit diesem Knoblauchpüree den Hals einzureiben.
»Knoblauch ist gesund«, sagte ich.
»Stimmt. Und er hilft. Gegen Grippeviren«, ergänzte Olga.»Meine Güte! Wie leicht die Wahrheit stirbt, wie lang die Lüge lebt… Aber der Junge ist wirklich stark. Der Nachtwache könnte ein neuer Fahnder nicht schaden.«
»Gehört er denn uns?«
»Im Moment gehört er niemandem. Sein Schicksal ist noch nicht besiegelt, das siehst du doch selbst.«
»Und wohin tendiert er?«
»Das lässt sich nicht sagen. Noch nicht. Dazu ist er zu verängstigt. Er würde jetzt alles tun, nur um sich vor den Vampiren zu retten. Er würde ein Dunkler werden, er würde ein Lichter werden.«
»Kann ich ihm nicht verdenken.«
»Natürlich nicht. Gehen wir.«
Die Eule flatterte auf und flog durch den Korridor. Ich folgte ihr. Wir bewegten uns jetzt dreimal so schnell wie Menschen. Das ist eines der wesentlichen Merkmale des Zwielichts: dass die Zeit anders vergeht.
»Wir warten hier«, befahl Olga, sobald sie im Wohnzimmer war.»Hier ist es warm, hell und gemütlich.«
Ich nahm in einem weichen Sessel Platz, der neben einem kleinen Tisch stand. Auf ihm lag eine Zeitung, auf die ich jetzt schielte.
Es gibt nichts Amüsanteres, als durchs Zwielicht Zeitung zu lesen.
»Kreditgewinne sinken«, verkündete die Überschrift.
In der Realität lautet dieser Satz freilich ganz anders.»Im Kaukasus nehmen die Spannungen zu.«
Jetzt könnte ich mir die Zeitung schnappen und die Wahrheit lesen. Die unverfälschte Wahrheit. Das, was der Journalist gedacht hat, als er einen Artikel zu einem vorgegebenen Thema zusammenschusterte. Jene Bruchstücke an Informationen, die er aus inoffiziellen Quellen bekam. Die Wahrheit über das Leben und die Wahrheit über den Tod.
Nur wozu?
Seit Jahr und Tag schere ich mich einen Dreck um die Welt der Menschen. Sie ist unser Fundament. Unsere Wiege. Aber wir sind Andere. Wir gehen durch verschlossene Türen und erhalten das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse aufrecht. Wir sind schrecklich wenige, und wir können uns nicht vermehren: Die Tochter eines Magiers wird nicht unbedingt eine Zauberin, der Sohn eines Tiermenschen lernt nicht zwangsläufig, sich in Vollmondnächten zu verwandeln.
Wir sind nicht verpflichtet, die gewöhnliche Welt zu lieben.
Wir bewahren sie nur deshalb, weil sie der Wirt für uns Parasiten ist.
Dabei hasse ich Parasiten!
»Woran denkst du?«, fragte Olga. Im Wohnzimmer tauchte der Junge auf. Er verschwand jedoch gleich wieder im Schlafzimmer, sehr schnell sogar, wenn man bedenkt, dass er sich in der normalen Welt bewegte. Er kramte im Schrank herum.
»An nichts weiter. Trauriges Zeug.«
»So was kommt vor. In den ersten Jahren machen das alle durch.«Olgas Stimme klang jetzt genau wie die eines Menschen.»Danach gewöhnst du dich daran.«
»Das ist es ja, weshalb ich heulen könnte.«
»Du solltest dich lieber freuen, dass wir noch am Leben sind. Zu Beginn des Jahrhunderts war die Zahl der Anderen auf ein kritisches Minimum zurückgegangen. Weißt du, dass man damals ernsthaft erwogen hat, die Dunklen und die Lichten zu vereinigen? Dass man bereits eugenische Programme ausgearbeitet hat?«
»Ja, weiß ich.«
»Die Wissenschaft hätte uns beinah umgebracht. An uns hat man nicht geglaubt, wollte man nicht glauben. Damals nahm man an, die Wissenschaft könne eine bessere Welt schaffen.«
Der Junge kam ins Wohnzimmer zurück. Er setzte sich aufs Sofa und zupfte eine Silberkette zurecht, die um seinen Hals hing.
»Was heißt besser?«, fragte ich.»Wir sind aus der Menschheit hervorgegangen. Wir haben gelernt, ins Zwielicht einzutreten, haben gelernt, die Natur der Dinge und der Menschen zu verändern. Aber was hat sich dadurch geändert, Olga?«
»Vampire dürfen jetzt zumindest nicht mehr ohne Lizenz auf Jagd gehen.«
»Sag das mal dem Menschen, dessen Blut er gerade trinkt…«
In der Tür erschien der Kater. Er starrte uns an. Fauchte die Eule zornig an.
»Er reagiert auf dich«, sagte ich.»Olga, geh tiefer ins Zwielicht!«
»Zu spät«, erwiderte sie.»Entschuldige… ich habe nicht aufgepasst.«
Der Junge sprang vom Sofa auf. Viel schneller, als man es eigentlich in der Menschenwelt kann. Ungeschickt, denn er verstand selbst nicht, was mit ihm geschah, trat er in seinen Schatten hinein und fiel zu Boden. Er sah mich an - bereits aus dem Zwielicht heraus.
»Ich gehe tiefer…«, flüsterte die Eule und verschwand. Ihre Krallen bohrten sich mir schmerzhaft in die Schultern.
»Nein!«, schrie der Junge.»Ich weiß es! Ich weiß es! Ihr seid hier!«
Ich stand auf und breitete die Arme aus.
»Ich seh dich! Rühr mich nicht an!«
Er lag im Zwielicht. Mist! Es war passiert. Ohne jede Hilfe von außen, ohne Kurs und ohne Stimuli, ohne Anleitung eines Betreuers hatte der Junge die Grenze zwischen der Menschen- und der Zwielicht-Welt überschritten.
Davon, auf welche Weise man das erste Mal ins Zwielicht eintritt, was man dabei erblickt, was man fühlt, hängt im Großen und Ganzen ab, was man wird.
Ein Dunkler oder ein Lichter.
Wir dürfen ihn nicht der Dunklen Seite überlassen, denn dann würde das Gleichgewicht in Moskau endgültig zusammenbrechen.
Du stehst hart am Rande, mein Junge.
Und das ist schlimmer als die unerfahrene Vampirin.
Boris Ignatjewitsch hat das Recht, über eine Liquidierung zu entscheiden.
»Keine Angst«, sagte ich, ohne mich von der Stelle zu rühren.»Du brauchst keine Angst haben. Ich bin ein Freund und tu dir nichts.«
Der Junge kroch in eine Ecke und blieb dort wie erstarrt. Er ließ mich nicht aus den Augen und begriff offenkundig nicht, dass er ins Zwielicht eingetaucht war. Für ihn stellte sich das Ganze so dar, als sei es mit einem Mal finster im Zimmer geworden, als habe sich mit einem Mal Stille über alles herabgesenkt und als sei ich aus dem Nichts aufgetaucht…
»Keine Angst«, wiederholte ich.»Ich bin Anton. Wie heißt du?«
Er schwieg. In einem fort schluckte er. Dann presste er die Hand an den Hals, ertastete die Kette und schien sich ein wenig zu beruhigen.
»Ich bin kein Vampir«, sagte ich.
»Wer sind Sie?«Der Junge schrie. Nur gut, dass man diesen markerschütternden Schrei in der normalen Welt nicht hören konnte.
»Anton. Ich arbeite bei der Nachtwache.«
Jäh riss er die Augen auf - als schmerze ihn etwas.
»Meine Arbeit besteht darin, die Leute vor Vampiren und anderen Ungeheuern zu beschützen.«
»Das ist nicht wahr…«
»Warum?«
Er zuckte mit den Schultern. Gut.
Er versuchte, seine Möglichkeiten auszuloten, seinen Standpunkt darzulegen. Das hieß, die Angst hatte ihm nicht völlig den Verstand geraubt.
»Wie heißt du?«, fragte ich noch einmal. Vielleicht konnte ich den Jungen unter Druck setzen, ihm die Angst nehmen. Doch das würde bereits eine Intervention darstellen, noch dazu eine unerlaubte.
»Jegor…«
»Ein schöner Name. Ich bin Anton. Hast du das verstanden? Anton Sergejewitsch Gorodezki. Ich arbeite bei der Nachtwache. Gestern habe ich den Vampir getötet, der versucht hat, dich zu überfallen.«
»Nur einen?«
Sehr schön. Das Gespräch kam in Gang.
»Ja. Die Vampirin ist entkommen. Sie wird jetzt gesucht. Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin hier, um auf dich aufzupassen… und um die Vampirin zu vernichten.«
»Warum ist es überall so grau?«, fragte der Junge plötzlich.
Beachtlich! Was für ein beachtlicher kleiner Kerl!
»Ich werde es dir erklären. Aber erst musst du mir glauben, dass ich nicht dein Feind bin. Einverstanden?«
»Mal seh’n.«
Er klammerte sich an sein albernes Kettchen, als könne es ihn vor irgendetwas schützen. Ach, mein Junge, wenn doch bloß alles so einfach wäre in der Welt. Doch weder Silber noch Espenholz oder das heilige Kreuz werden dich retten. Das Leben gegen den Tod, die Liebe gegen den Hass - und Kraft gegen Kraft, denn die Kraft kennt keine moralische Kategorien. So einfach ist das alles. Das habe sogar ich innerhalb von nur zwei, drei Jahren begriffen.
»Jegor.«Langsam ging ich auf ihn zu.»Hör gut zu, was ich dir jetzt sage…«
»Stehen bleiben!«
Den Befehl erteilte er derart entschlossen, als halte er eine Waffe in Händen. Seufzend blieb ich stehen.
»Gut. Hör trotzdem zu. Abgesehen von der normalen Welt, der Menschenwelt, die du mit deinen Augen sehen kannst, gibt es noch eine Welt der Schatten, eine Zwielicht-Welt.«
Er dachte darüber nach. Trotz seiner Panik - und er hatte eine fürchterliche Angst, ich spürte Wellen erstickenden Entsetzens - versuchte der Junge, das zu begreifen. Es gibt Menschen, die paralysiert ihre Angst. Es gibt aber auch andere, denen sie Kraft verleiht.
Liebend gern hätte ich gehofft, auch zur zweiten Kategorie zu gehören.
»Eine Parallelwelt?«
Na bitte. Die Science-Fiction trat auf den Plan. Na meinetwegen, Namen waren dabei nur Schall und Rauch.
»Ja. Und in diese Welt können nur die gelangen, die übernatürliche Fähigkeiten haben.«
»Vampire?«
»Nicht nur. Auch Tiermenschen, Hexen, schwarze Magier… aber auch weiße Magier, Heiler und Seher.«
»Gibt es die denn alle wirklich?«
Er war klatschnass. Die Haare klebten ihm am Kopf, das T-Shirt am Körper, über seine Wangen sickerten Schweißperlen. Trotzdem ließ mich der Junge nicht aus den Augen und hielt sich abwehrbereit. Als übersteige das nicht seine Kräfte.
»Ja, Jegor. Manche Menschen sind in der Lage, in die Zwielicht-Welt einzutreten. Sie stellen sich auf die Seite des Guten oder des Bösen. Des Lichts oder des Dunkels. Sie sind die Anderen. So nennen wir einander: die Anderen.«
»Sind Sie ein Anderer?«
»Ja. Und du auch.«
»Warum das?«
»Du bist jetzt in der Zwielicht-Welt, mein Kleiner. Schau dich um und hör genau hin. Die Farben sind verblasst. Die Geräusche verstummt. Der Sekundenzeiger kriecht nur noch über das Zifferblatt dahin. Du bist in die Zwielicht-Welt eingetreten… Du wolltest die Gefahr erkennen und hast dabei die Grenze zwischen den beiden Welten überschritten. Hier vergeht die Zeit langsamer, hier ist alles anders. Denn das ist die Welt der Anderen.«
»Das glaube ich nicht.«Jegor drehte sich kurz um, dann sah er mich wieder an.»Und warum ist Greysik hier?«
»Der Kater?«Ich lächelte.»Tiere haben ihre eigenen Gesetze, Jegor. Katzen leben in allen Räumen zugleich, für sie besteht da kein Unterschied.«
»Glaub ich nicht.«Seine Stimme zitterte.»Das ist alles nur ein Traum, das weiß ich genau! Wenn das Licht verblasst… Ich schlafe. Das habe ich schon öfter erlebt.«
»Du träumst, dass du das Licht anknipst, aber die Lampe geht nicht an?«Die Antwort auf die Frage kannte ich bereits, außerdem stand sie mehr als deutlich in den Augen des Jungen geschrieben.»Oder leuchtet nur ganz, ganz schwach, so wie eine Kerze?
Und du läufst, während um dich herum das Dunkel wabert, streckst die Hand aus… kannst aber die einzelnen Finger nicht mehr unterscheiden?«
Er schwieg.
»Das passiert uns allen, Jegor. Jeder Andere hat solche Träume. Die Zwielicht-Welt kriecht dann in uns hinein, ruft uns, bringt sich in Erinnerung. Du bist ein Anderer. Auch wenn du noch klein bist, bist du ein Anderer. Und nur von dir hängt ab, ob…«
Ich begriff nicht auf Anhieb, dass seine Augen geschlossen waren, sein Kopf zur Seite weggesackt war.
»Du Idiot«, flüsterte Olga auf meiner Schulter.»Er ist zum ersten Mal ganz allein ins Zwielicht eingetreten! Seine Kräfte reichen dafür nicht! Zieh ihn raus, schnell, sonst bleibt er für immer hier!«
Das Zwielicht-Koma - die Krankheit aller Neulinge. Fast hätte ich sie vergessen, da ich nicht mit jungen Anderen arbeitete.
»Jegor!«Ich stürzte auf ihn zu, rüttelte ihn, fasste ihn unter den Achseln. Er war leicht, ganz leicht, denn in der Zwielicht-Welt verändert sich nicht nur der Lauf der Zeit.»Wach auf!«
Keine Reaktion. Der Junge hatte etwas geschafft, wofür andere Monate lang üben mussten - er war ohne Hilfe ins Zwielicht eingetreten. Doch die ZwielichtWelt tut nichts lieber, als Kraft auszusaugen.
»Zieh!«Olga übernahm das Kommando.»Zieh ihn raus, mach schon! Von selbst wacht er nicht auf!«
Leichter gesagt als getan. Ich hatte Erste-Hilfe-Kurse absolviert, musste aber noch nie jemanden tatsächlich aus dem Zwielicht herausziehen.
»Jegor, komm zu dir!«Ich gab ihm ein paar Ohrfeigen. Am Anfang nur leicht, dann mit aller Kraft.»Was ist denn, Junge? Du bist in der Zwielicht-Welt! Aufgewacht!«
Leichter und leichter wurde er, zerfloss mir unter den Händen. Das Zwielicht trank sein Leben, saugte die letzte Kraft aus ihm heraus. Das Zwielicht veränderte seinen Körper, nahm ihn in Besitz. Was hatte ich da bloß angerichtet!
»Schirm dich ab!«Olgas Stimme war kalt, brachte mich zur Besinnung.»Schirm dich zusammen mit ihm ab… Wächter!«
Normalerweise brauche ich mehr als eine Minute, um die Kugel entstehen zu lassen. Diesmal schaffte ich es innerhalb von fünf Sekunden. Schmerz explodierte in mir, als ob in meinem Kopf ein Minischuss losgegangen sei. Ich warf den Kopf in den Nacken, als die Negationssphäre aus meinem Körper heraustrat und mich einhüllte wie eine Seifenblase, die in allen Farben des Regenbogens schillert. Die Blase wuchs, blähte sich und nahm, wenn auch ungern, sowohl mich wie auch den Jungen in sich auf.
»Gut, jetzt halte sie. Ich kann dir nicht helfen, Anton. Halte die Sphäre aufrecht!«
Olga hatte Unrecht. Sie half mir bereits mit ihren Tipps. Vielleicht wäre ich auch selbst darauf gekommen, die Sphäre zu bilden, hätte jedoch womöglich wertvolle Sekunden verloren.
Um uns herum klarte es auf. Das Zwielicht trank noch immer unsere Kraft, meine mit etwas mehr Mühe, die des Jungen in vollen Zügen, aber jetzt standen ihm nur ein paar Kubikmeter zur Verfügung. Die üblichen physikalischen Gesetze gelten hier zwar nicht, doch es herrschen bestimmte Analogien. Im Moment bildete sich in der Sphäre das Gleichgewicht zwischen unseren lebenden Körpern und dem Zwielicht heraus.
Entweder würde sich das Zwielicht nun auflösen und von seiner Beute ablassen, oder der Junge würde sich in einen Bewohner der Zwielicht-Welt verwandeln. Für immer. Das passiert Magiern, wenn sie sich völlig verausgabt haben, aus Unachtsamkeit oder auch aus Notwendigkeit. Das passiert Neulingen, die sich nicht gegen das Zwielicht zu wehren wissen und ihm mehr geben, als sie dürften.
Ich sah Jegor an: Sein Gesicht ergraute zusehends. Er war dabei, in die endlosen Weiten der Schattenwelt einzugehen.
Während ich den Jungen in meinen rechten Arm bettete, zog ich mit der linken Hand ein Taschenmesser heraus. Mit den Zähnen klappte ich es auf.
»Das ist gefährlich«, warnte Olga.
Ich antwortete ihr nicht. Sondern schnitt mir einfach in den Unterarm.
Als das Blut herausspritzte, zischte das Zwielicht auf wie eine glühend heiße Pfanne. Mir verschwamm alles vor den Augen - was nicht am Blutverlust lag, sondern daran, dass mit dem Blut auch das Leben selbst aus mir heraustropfte. Ich hatte meine eigene Verteidigung gegen das Zwielicht eingerissen.
Dafür bekam es jetzt eine Portion Energie, die es nicht verdauen konnte.
Die Welt klarte auf, mein Schatten sprang zu Boden, und ich trat durch ihn hindurch. Die regenbogenfarbene Membran der Negationssphäre barst - wir waren wieder in der normalen Welt.
Fünf
Das Blut spritzte in einem dünnen Strahl auf den Teppich. Der Junge, der in meinen Armen hing, war immer noch bewusstlos, doch in sein Gesicht kehrte langsam die Farbe zurück. Im anderen Zimmer schrie der Kater, als würde er abgeschlachtet.
Ich bettete Jegor aufs Sofa. Setzte mich neben ihn.
»Olga, eine Binde…«, bat ich.
Die Eule flog von meiner Schulter auf und sauste wie ein weißer Schnörkel in die Küche. Unterwegs musste sie ins Zwielicht eingetaucht sein, denn schon nach ein paar Sekunden kam sie mit einer Binde im Schnabel zurück.
Jegor öffnete die Augen genau in dem Moment, als ich der Eule den Verband abnahm und mich daran machte, meine Hand zu verarzten.
»Wer ist das?«, fragte er.
»Eine Eule. Siehst du das denn nicht?«
»Was war mit mir los?«, wollte er wissen. Die Stimme zitterte fast überhaupt nicht.
»Du hast das Bewusstsein verloren.«
»Warum?«Ängstlich huschte sein Blick über die Blutspritzer am Fußboden und auf meiner Kleidung. Immerhin war es mir gelungen, nicht auch noch Jegor zu beschmieren.
»Das ist mein Blut«, erklärte ich.»Ich habe mich aus Versehen geschnitten. Man muss sehr vorsichtig sein, Jegor, wenn man ins Zwielicht eintritt. Das ist ein fremdes Milieu, selbst für uns, die Anderen. Sobald wir in der Zwielicht-Welt sind, müssen wir ständig Kraft abgeben und es mit unserer Lebensenergie füttern. Zumindest ein bisschen. Und wenn man den Prozess nicht unter Kontrolle behält, saugt das Zwielicht alles Leben aus dir heraus. Da kann man nichts gegen machen, das ist der Preis.«
»Ich habe also mehr bezahlt, als ich schuldig war?«
»Viel mehr, als du hattest. Deshalb wärst du beinah für immer in der Zwielicht-Welt geblieben. Das bedeutet nicht den Tod, ist aber womöglich noch schlimmer.«
»Warten Sie, ich helfe Ihnen…«Der Junge setzte sich auf und verzog kurz das Gesicht: Offensichtlich war ihm schwindlig. Ich streckte die Hand aus, und er fing an, mein Handgelenk zu verbinden - ungeschickt, aber eifrig. Die Aura des Jungen hatte sich nicht verändert, nach wie vor changierte sie, verhielt sich neutral. Obwohl der Junge bereits im Zwielicht gewesen war, hatte dieses ihm noch nicht seinen Stempel aufdrücken können.
»Glaubst du mir jetzt, dass ich dein Freund bin?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht. Zumindest kein Feind. Oder Sie können mir einfach nichts tun!«
Ich streckte die Hand aus und berührte den Hals des Jungen - sofort schreckte er zurück. Ich machte den Verschluss der Kette auf und nahm sie ihm ab.»Kapiert?«
»Das heißt, Sie sind kein Vampir.«Seine Stimme hatte sich ein wenig gesenkt.
»Stimmt. Aber nicht deshalb, weil ich Knoblauch und Silber anfassen kann. Damit hältst du einen Vampir nicht auf, Jegor.«
»Aber in allen Filmen…«
»Ja, und in allen Filmen gewinnen die guten Kerle gegen die schlechten. Aberglaube ist eine gefährliche Sache, mein Junge, er flößt dir falsche Hoffnungen ein.«
»Gibt es denn berechtigte Hoffnungen?«
»Nein. Das wäre ein Widerspruch in sich.«Ich erhob mich und befühlte den Verband. Alle Achtung, er war fest und ziemlich straff gewickelt. In einer halben Stunde würde ich die Wunde besprechen können, aber noch fehlte mir dazu die Kraft.
Der Junge beobachtete mich vom Sofa aus. Ja, er hatte sich ein wenig beruhigt. Glaubte mir aber immer noch nicht. Der weißen Eule, die mit Unschuldsmiene auf dem Fernseher vor sich hin döste, schenkte er komischerweise nicht die geringste Beachtung. Offenbar hatte Olga doch in sein Bewusstsein eingegriffen. Was mir nur recht sein konnte: Zu erklären, was es mit dieser sprechenden Eule auf sich hatte, wäre höchst schwierig gewesen.
»Hast du was zu essen da?«, fragte ich.
»Was wollen Sie denn?«
»Irgendwas. Tee mit Zucker. Ein Stück Brot. Ich habe nämlich auch viel Kraft verloren.«
»Wir finden schon was. Und wie haben Sie sich verletzt?«
Darauf wollte ich nicht näher eingehen, ihn aber auch nicht anlügen.
»Das hab ich absichtlich gemacht. Es musste sein, um dich aus dem Zwielicht zu holen.«
»Danke. Falls das stimmt.«
Ganz schön frech, das Bürschchen, aber mir gefiel das.
»Keine Ursache. Wenn du im Zwielicht verloren gegangen wärst, hätte mir mein Vorgesetzter den Kopf abgerissen.«
Der Junge schnaubte und stand auf. Trotz allem versuchte er, Abstand zu mir zu halten.»Wie ist Ihr Vorgesetzter?«
»Streng. Was ist, machst du mir einen Tee?«
»Für einen netten Menschen ist einem doch nichts zu schade.«Trotzdem hatte er immer noch Angst. Und die versteckte er hinter einem nassforschen Auftreten.
»Damit das gleich klar ist: Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Anderer. Und du bist auch ein Anderer.«
»Und worin besteht der Unterschied?«Jegor musterte mich demonstrativ von oben bis unten.»Im Äußeren bestimmt nicht!«
»Solange ich keinen Tee kriege, werde ich gar nichts sagen. Weißt du nicht, wie man Gäste bewirtet?«
»Ungebetene? Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?«
»Durch die Tür. Ich zeig’s dir. Später.«
»Gehen wir.«Offenbar hatte er nun doch beschlossen, mir Tee zu kochen. Ich folgte dem Jungen und rümpfte unwillkürlich die Nase.
»Nur eins, Jegor…«, bat ich, weil ich es nicht länger ertrug.»Wasch dir erst mal den Hals.«
Ohne sich umzudrehen, schüttelte der Junge den Kopf.
»Du musst immerhin zugeben, dass es dumm ist,
nur den Hals zu schützen. Der menschliche Körper hat fünf Punkte, an denen ein Vampir ihn beißen kann.«
»Ach ja?«
»Ach ja! Wobei ich natürlich nur den männlichen Körper meine.«
Selbst sein Nacken wurde knallrot.
Ich gab fünf gehäufte Löffel Zucker in den Tee.
»Bereiten Sie mir einen Tee mit zwei Löffeln Zucker…«, sagte ich mit einem Zwinkern zu Jegor.»… das möchte ich vor dem Tod noch kennen lernen.«
Offenbar kannte er diesen Witz nicht.
»Und wie viel soll ich nehmen?«
»Wie viel wiegst du?«
»Weiß nicht.«
Ich taxierte ihn.»Nimm vier. Das hilft gegen die Un-terzuckerung.«
Den Hals hatte er sich inzwischen zwar gewaschen, der Knoblauchgestank haftete ihm aber immer noch an.
»Jetzt erklären Sie mir alles!«, verlangte er, während er in gierigen Schlucken seinen Tee trank.
So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ganz gewiss nicht. Dem Jungen folgen, wenn der Ruf ihn ereilte. Die Vampirin töten oder gefangen nehmen. Und den dankbaren Jungen zum Chef bringen - der würde ihm dann alles erklären.
»Vor langer Zeit…«Ich verschluckte mich am Tee.»Hört sich wie ein Märchen an, nicht? Nur dass es keins ist.«
»Weiter.«
»Gut. Fange ich anders an. Es gibt die Welt der Menschen.«Ich machte eine Kopfbewegung zum Fenster hin, zu dem kleinen Hof und den über die Straße zuckelnden Autos.»Die da. Die um uns herum. Und die meisten können ihre Grenzen nicht überschreiten. So war das schon immer. Doch ab und an tauchen wir auf. Die Anderen.«
»Und die Vampire?«
»Vampire sind auch Andere. Klar, sie sind eine besondere Art von Anderen, ihre Fähigkeiten sind von vornherein festgelegt.«
»Das versteh ich nicht.«Jegor schüttelte den Kopf.
Stimmt schon, als Betreuer tauge ich nichts. Ich kann keine Binsenwahrheiten erklären, mag das auch nicht.
»Zwei Schamanen, die Giftpilze gegessen haben, schlagen ihr Tamburin«, sagte ich.»Vor langer, langer Zeit, noch in der Urgeschichte. Einer der beiden Schamanen führt die Jäger und den Häuptling tüchtig an der Nase herum. Der andere sieht, wie sein Schatten im Licht des Lagerfeuers auf dem Höhlenboden erzittert, wie er Volumen gewinnt und sich zu voller Größe aufrichtet. Er macht einen Schritt und tritt in den Schatten hinein. Tritt ins Zwielicht ein. Und dann kommt das Interessanteste. Verstehst du?«
Jegor schwieg.
»Das Zwielicht verändert den, der es betritt. Es ist eine andere Welt, und sie macht aus Menschen Andere. Was du wirst, hängt nur von dir ab. Das Zwielicht ist ein wilder Fluss, der dich in alle Richtungen gleichermaßen reißt. Du kannst entscheiden, was du in der Zwielicht-Welt sein möchtest. Aber du musst schnell entscheiden, denn du hast nicht viel Zeit.«
Jetzt hatte er es verstanden. Die Pupillen des Jungen verengten sich, er erblasste leicht. Eine gute Stressreaktion, er würde einen guten Fahnder abgeben…
»Was kann ich denn werden?«
»Was du willst. Du hast das noch nicht bestimmt. Und weißt du, auf welche Entscheidung es hinausläuft? Die zwischen Gut und Böse. Zwischen Licht und Dunkel.«
»Und du bist ein Guter?«
»In erster Linie bin ich ein Anderer. Der Unterschied zwischen Gut und Böse besteht in der Einstellung gegenüber den gewöhnlichen Menschen. Wenn du das Licht wählst, setzt du deine Fähigkeiten nicht zu deinem persönlichen Vorteil ein. Wenn du das Dunkel wählst, ist das für dich ganz normal. Doch auch ein schwarzer Magier ist in der Lage, Kranke zu heilen und spurlos Vermisste zu finden. Während ein weißer Magier den Menschen seine Hilfe ebenso gut verweigern kann.«
»Dann begreife ich nicht, worin der Unterschied besteht!«
»Du wirst es begreifen. Dann, wenn du dich auf die eine oder andere Seite schlägst.«
»Das werde ich niemals tun!«
»Dazu ist es bereits zu spät, Jegor. Du bist im Zwielicht gewesen, du veränderst dich bereits. Der Tag wird kommen, da wirst du deine Wahl treffen.«
»Wenn du das Licht gewählt hast…«Jegor stand auf, um sich noch Tee einzugießen. Mir fiel auf, dass er mir zum ersten Mal den Rücken zukehrte, ohne Angst zu haben.»Wer bist du dann? Ein Magier?«
»Der Schüler eines Magiers. Ich arbeite im Büro der Nachtwache. Auch diese Arbeit muss getan werden.«
»Und was kannst du? Zeig mir mal was, damit ich dir glaube!«
Das lief ja wie im Lehrbuch. Er war im Zwielicht gewesen, doch das hatte ihn noch nicht überzeugt. Etwas harmloser Hokuspokus würde ihn weitaus stärker beeindrucken.
»Schau her!«
Ich streckte ihm meine Hand entgegen. Jegor erstarrte und versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging. Dann sah er auf die Tasse.
Vom Tee stieg schon kein Dampf mehr auf. Er war gefroren, hatte sich in einen kleinen Eiszylinder von trüber brauner Farbe verwandelt, in dem Teeblätter eingeschlossen waren.
»Oi«, sagte der Junge.
Die Thermodynamik ist ein sehr einfacher Aspekt bei der Beherrschung der Materie. Sobald ich die brownsche Bewegung wieder zuließ, kochte das Eis auf. Jegor schrie auf und ließ die Tasse fallen.
»Entschuldigung.«Ich sprang auf und holte einen Lappen aus dem Spülbecken. Hockend wischte ich die Pfütze auf dem Linoleum auf.
»Die Magie bringt echte Unannehmlichkeiten mit sich«, kommentierte der Junge.»Schade um die Tasse.«
»Pass auf!«
Der Schatten sprang mir entgegen, ich trat ins Zwielicht ein und besah mir die Scherben. Sie erinnerten sich noch an das Ganze, und der Tasse war es keineswegs bestimmt gewesen, so kaputtzugehen.
Im Zwielicht fegte ich mit einer Hand ein paar Scherben zusammen. Einige der allerkleinsten, die unterm Herd gelandet waren, kamen bereitwillig herangerollt.
Dann trat ich aus dem Zwielicht heraus und stellte die weiße Tasse auf den Tisch.»Nur den Tee musst du noch mal eingießen.«
»Stark.«Dieser kleine Taschenspielertrick schien den Jungen schwer beeindruckt zu haben.»Ist das mit allen Sachen möglich?«
»Bei Sachen geht das fast immer.«
»Anton - und wenn vor einer Woche etwas kaputtgegangen ist?«
Unwillkürlich musste ich schmunzeln.
»Dann nicht. Tut mir Leid, aber dann ist es schon zu spät. Das Zwielicht gibt uns eine Chance, doch die muss man schnell nutzen, sehr schnell.«
Jegors Miene verfinsterte sich. Was er wohl vor einer Woche zerschlagen hatte?
»Glaubst du mir jetzt?«
»Ist das Magie?«
»Ja. Die allereinfachste. Für die braucht man kaum etwas zu lernen.«
Vielleicht war es unvorsichtig, das zu sagen. In den Augen des Jungen blitzte etwas auf. Er wog bereits seine Perspektiven ab. Seinen Vorteil.
Licht und Dunkel…
»Und ein erfahrener Magier - kann der auch noch
andere Sachen?«
»Sogar ich kann noch andere Sachen.«
»Auch Menschen beeinflussen?«
Licht und Dunkel…
»Ja«, sagte ich.»Ja, das können wir.«
»Und macht ihr das auch? Warum können Terroristen denn dann Geiseln nehmen? Ihr könntet euch doch einfach durchs Zwielicht anpirschen und sie erschießen. Oder sie zwingen, sich zu erschießen! Und warum sterben die Menschen dann an Krankheiten? Magier können heilen, das haben Sie doch selbst gesagt!«
»Das wäre das Gute«, erwiderte ich.
»Natürlich! Schließlich seid ihr doch Lichte Magier!«
»Wenn wir irgendeine eindeutig gute Tat ausführen, haben auch die Dunklen Magier das Recht auf eine böse Tat.«
Verwundert schaute Jegor mich an. In den letzten vierundzwanzig Stunden war eine Menge auf ihn eingestürzt. Dafür verdaute er das alles nicht schlecht.
»Leider ist das Böse von seiner Natur her stärker, Jegor. Das Böse ist destruktiv. Es fällt ihm weitaus leichter, etwas zu zerstören, als das Gute etwas zu schaffen vermag.«
»Und was macht ihr dann? Ihr habt doch diese Nachtwache… Kämpft ihr mit den Dunklen Magiern?«
Darauf durfte ich nicht antworten. Das ging mir mit der vernichtenden Klarheit auf, mit der ich begriff: Ich hätte überhaupt nicht offen mit dem Jungen reden dürfen. Hätte ihn besser benebeln sollen. Tiefer ins Zwielicht eintreten sollen. Aber auf gar keinen Fall, unter gar keinen Umständen irgendwelche Erklärungen
abgeben!
Denn die würde ich nicht beweisen können!
»Kämpft ihr mit denen?«
»Nicht unbedingt«, sagte ich. Die Wahrheit war schlimmer als die Lüge, doch ich hatte kein Recht zu lügen.»Wir observieren uns gegenseitig.«
»Rüstet ihr euch zum Kampf?«
Ich sah Jegor an und dachte darüber nach, dass er alles andere als ein dummer Junge war. Dennoch blieb er ein Junge. Und wenn ich ihm jetzt sagen würde, dass eine große Schlacht zwischen dem Guten und dem Bösen bevorstand, dass er der neue Jedi der Zwielicht-Welt werden könnte, dann hätten wir ihn in der Tasche.
Freilich nicht für lange.
»Nein, Jegor. Wir sind nur sehr wenige.«
»Lichte? Die Dunklen sind in der Überzahl?«
Jetzt ist er bereit, sein Zuhause aufzugeben, Mutter und Vater zu verlassen, eine funkelnde Rüstung anzulegen und für die Sache des Guten zu sterben.
»Nein, die Anderen insgesamt. Jegor… die Schlachten zwischen dem Guten und dem Bösen haben Tausende von Jahren mit wechselndem Erfolg getobt. Hin und wieder hat das Licht gesiegt, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Menschen, die von der Zwielicht-Welt noch nicht einmal etwas ahnen, dabei gestorben sind. Es gibt nur wenige Andere, doch jeder Andere kann ein Gefolge von mehr als tausend gewöhnlichen Menschen haben. Jegor - wenn jetzt ein Krieg zwischen dem Guten und dem Bösen ausbrechen würde, dann würde die Hälfte der Menschheit sterben.
Deshalb wurde vor fast fünfzig Jahren ein Vertrag unterschrieben. Der Große Vertrag zwischen Gut und Böse, zwischen dem Dunkel und dem Licht.«
Er riss die Augen auf.
Ich atmete tief durch und fuhr dann fort:»Der Vertrag ist nur kurz. Ich lese ihn dir jetzt vor, so, wie er offiziell ins Russische übersetzt worden ist. Denn du hast bereits das Recht, ihn zu kennen.«
Ich kniff die Augen zusammen und spähte in die Dunkelheit. Das Zwielicht erwachte zum Leben, wölkte vor mir auf. Eine graue Stoffbahn entrollte sich, auf der dicht an dicht rote Buchstaben loderten. Den Vertrag darf man nicht aus dem Gedächtnis zitieren, man darf ihn nur vorlesen:
Wir sind die Anderen,
Wir dienen unterschiedlichen Kräften,
Doch im Zwielicht besteht kein Unterschied
Zwischen dem Fehlen des Dunkels
Und dem Fehlen des Lichts.
Unser Kampf vermag die Welt zu vernichten.
Wir schließen den Großen Vertrag über die Waffenruhe.
Jede Seite wird gemäß ihren eigenen Gesetzen leben,
Jede Seite wird ihre eigenen Rechte haben.
Wir begrenzen unsere Rechte und unsere Gesetze.
Wir sind die Anderen.
Wir gründen die Nachtwache,
Damit die Kräfte des Lichts
Über die Kräfte des Dunkels wachen.
Wir sind die Anderen.
Wir gründen die Tagwache,
Damit die Kräfte des Dunkels
Über die Kräfte des Lichts wachen.
Die Zeit wird für uns entscheiden.
Jegor machte große Augen.
»Licht und Dunkel leben in Frieden miteinander?«
»Ja.«
»Und… die Vampire…«Immer und immer wieder kam er auf dieses Thema zurück.»Sind das Dunkle?«
»Ja. Es sind Menschen, die durch die Zwielicht-Welt völlig verändert werden. Sie bekommen enorme Möglichkeiten zugebilligt, verlieren aber ihr Leben. Ihre Existenz verdanken sie fremder Energie. Und Blut ist die bequemste Form, diese Energie aufzunehmen.«
»Aber sie bringen Menschen um!«
»Sie können auch von Blutspenden leben. Das ist wie mit künstlicher Nahrung, mein Junge. Ohne jeden Geschmack, aber kalorienreich. Wenn sich Vampire gestatten würden, auf Jagd zu gehen…«
»Aber sie sind über mich hergefallen!«
Er dachte jetzt nur an sich. Was nicht gut war.
»Manche Vampire brechen die Gesetze. Deshalb haben wir ja auch die Nachtwache: um zu überwachen, dass der Vertrag eingehalten wird.«
»Aber einfach so machen die Vampire keine Jagd auf Menschen?«
Über meine Wange strich ein Luftzug, den unsichtbare Flügel hervorriefen. Krallen bohrten sich mir in die Schulter.
»Was willst du ihm jetzt antworten, Wächter?«, flüsterte Olga aus den Tiefen des Zwielichts. »Traust du dich, ihm die Wahrheit zu sagen?«
»Sie machen Jagd«, antwortete ich. Und fügte das hinzu, was mir damals, vor fünf Jahren, den größten
Schrecken eingejagt hatte:»Mit Lizenzen. Denn manchmal… manchmal brauchen sie lebendes Blut.«
Er stellte die Frage nicht sofort. In den Augen des Jungen las ich jedoch alles, was er gerade dachte, alles, was er wissen wollte. Und wusste, dass ich auf alle Fragen würde antworten müssen.
»Und ihr?«
»Wir verhindern die Wilderei.«
»Dann hätte euer Vertrag es denen also erlaubt… mich zu überfallen? Falls sie eine Lizenz gehabt hätten?«
»Ja«, sagte ich.
»Und die hätten mein Blut getrunken? Und Sie wären vorbeigegangen und hätten weggeschaut?«
Licht und Dunkel…
Ich schloss die Augen. Der Vertrag loderte im grauen Nebel. Gemeißelte Zeilen, hinter denen Jahrtausende des Krieges und Millionen Leben standen.
»Ja.«
»Gehen Sie…«
Der Bengel hielt sich sprungbereit. Balancierte am Rande der Hysterie, am Abgrund des Wahnsinns entlang.
»Ich bin gekommen, um dich zu beschützen.«
»Nicht nötig!«
»Die Vampirin ist frei. Sie wird versuchen, über dich herzufallen…«
»Verschwinden Sie!«
»Hast du’s vermasselt, Wächter?«, seufzte Olga. Ich erhob mich. Jegor zuckte zusammen und rutschte mit seinem Hocker von mir weg.
»Du wirst es schon noch verstehen«, sagte ich.»Wir haben keine andere Wahl…«
Was ich da sagte, glaubte ich selbst nicht. Außerdem war es sinnlos, jetzt einen Streit anzufangen. Draußen dunkelte es bereits, bald würde die Zeit der Jagd beginnen…
Der Junge folgte mir, als wolle er sich überzeugen, dass ich die Wohnung auch wirklich verließ und mich nicht etwa im Schrank versteckte. Ich sagte kein Wort mehr. Öffnete einfach die Tür und trat ins Treppenhaus hinaus. Die Tür fiel hinter mir zu.
Ich stieg zum nächsten Treppenabsatz hinauf und hockte mich vors Fenster. Olga schwieg, ich ebenfalls.
Man darf die Wahrheit nicht so unverblümt aussprechen. Die Menschen tun sich schon schwer damit, auch nur unsere Existenz anzuerkennen. Sich dann noch mit dem Vertrag abzufinden…
»Wir konnten nichts tun«, sagte Olga.»Wir haben den Jungen falsch eingeschätzt, sowohl seine Fähigkeiten als auch seine Angst. Er hat uns entdeckt. Wir mussten auf seine Fragen antworten, und zwar wahrheitsgemäß.«
»Formulierst du schon den Bericht?«, fragte ich.
»Wenn du wüsstest, wie viele Berichte dieser Art ich schon geschrieben habe…«
Aus dem Müllschlucker schlug uns fauler Gestank entgegen. Von draußen drang der Lärm des Prospekts herein, der langsam im Halbdunkel versank. Die ersten Laternen leuchteten bereits. Ich saß da, drehte das Handy zwischen den Händen und überlegte, ob ich jetzt den Chef anrufen oder lieber auf seinen Anruf
warten sollte. Denn bestimmt beobachtete mich Boris Ignatjewitsch ohnehin.
Bestimmt.
»Du solltest die Möglichkeiten der da oben nicht überschätzen«, sagte Olga.»Der Chef steckt bis über beide Ohren in den Problemen mit dem schwarzen Strudel.«
Das Handy in meinen Händen fing an zu quäken.
»Errätst du, wer dran ist?«, fragte ich, während ich das Gerät aufklappte.
»Woody Woodpecker. Oder Whoopi Goldberg.«
Mir war nicht nach Scherzen zumute.
»Hallo?«
»Wo bist du, Anton?«
Die Stimme des Chefs klang müde, gequält. So kannte ich ihn gar nicht.
»Auf dem Treppenabsatz eines widerlichen Hochhauses. Direkt neben dem Müllschlucker. Es ist ziemlich warm hier und fast gemütlich.«
»Hast du den Jungen gefunden?«, fragte der Chef ohne jedes Interesse.
»Ja…«
»Gut. Ich schicke dir Tigerjunges und Bär. Hier können sie sowieso nichts mehr ausrichten. Du fahr nach Perowo. Sofort.«
Als ich mit einer Hand in der Tasche kramte, präzisierte der Chef unverzüglich:»Wenn du kein Geld bei dir hast - nein, selbst wenn du welches hast. Halt einen Wagen der Miliz an, sollen die dich doch rasch hinfahren.«
»Ist es so ernst?«, fragte ich nur.
»Ziemlich. Du kannst jetzt sofort losfahren.«
Ich sah durch das Fenster in die Dunkelheit hinaus.
»Boris Ignatjewitsch, wir sollten den Kleinen nicht allein lassen. Er verfügt in der Tat über ein außerordentliches Potenzial…«
»Das weiß ich… Gut. Tigerjunges und Bär sind schon unterwegs, warte, bis sie da sind. In ihrer Obhut droht dem Jungen keine Gefahr. Sobald sie eintreffen, komm aber direkt hierher.«
Aus dem Apparat piepte es. Ich klappte das Handy zusammen und schielte auf meine Schulter.
»Und was sagst du dazu, Olga?«
»Merkwürdig.«
»Warum? Du hast doch selbst gesagt, dass sie es nicht schaffen.«
»Es ist merkwürdig, dass er dich kommen lässt und nicht mich…«Olga dachte kurz nach.»Vielleicht… Ach nein. Ich weiß auch nicht.«
Ich schaute durchs Zwielicht - und bemerkte am Horizont zwei kleine Flecken. Die beiden Fahnder jagten derart schnell heran, dass sie bereits in etwa fünfzehn Minuten hier sein würden.
»Er hat noch nicht mal nach der Adresse gefragt«, bemerkte ich verdrossen.
»Er wollte keine Zeit verlieren. Hast du nicht gespürt, wie er unsere Koordinaten aufgenommen hat?«
»Nein.«
»Du musst mehr trainieren, Anton.«
»Ich arbeite nicht im Außendienst.«
»Jetzt schon. Gehen wir runter. Den Ruf würden wir auch dort hören.«
Ich erhob mich - unser Platz auf der Treppe kam mir wirklich schon vertraut und gemütlich vor - und stakste hinunter. Ein bitterer, trauriger Nachgeschmack blieb in mir zurück. Hinter mir knallte eine Tür. Ich drehte mich um.
»Ich hab Angst«, sagte der Junge ohne jedes Drumherum.
»Es ist alles in Ordnung.«Ich ging wieder zu ihm nach oben.»Wir passen auf dich auf.«
Er biss sich auf die Lippe und ließ den Blick zwischen mir und dem Halbdunkel im Treppenhaus hin und her wandern. Mich wieder in die Wohnung zu lassen passte ihm gar nicht, ihm fehlte aber auch die Kraft, länger allein zu bleiben.
»Ich glaube, jemand beobachtet mich«, sagte er nach einer Weile.»Sind Sie das?«
»Nein. Wahrscheinlich ist es die Vampirin.«
Der Junge erschauerte nicht. Ich hatte ihm nichts Neues gesagt.
»Wie wird sie mich überfallen?«
»Ohne Aufforderung kann sie nicht durch die Tür kommen. Das ist eine Besonderheit bei Vampiren, die in den Märchen ganz richtig beschrieben wird. Aber du wirst selbst zu ihr hinausgehen wollen. Du willst ja schon jetzt aus der Wohnung heraus.«
»Ich gehe nicht hinaus!«
»Wenn sie den Ruf einsetzt, gehst du. Du wirst verstehen, was geschieht, aber trotzdem gehen.«
»Können… können Sie mir nicht einen Rat geben?
Irgendeinen?«
Jegor kapitulierte. Er wollte Hilfe, jede mögliche Hilfe.
»Das kann ich. Verlass dich auf uns.«
Sein Zögern währte nur eine Sekunde.
»Kommen Sie herein.«Jegor gab die Tür frei.»Nur… meine Mutter kommt gleich von der Arbeit.«
»Ja und?«
»Werden Sie sich dann verstecken? Oder soll ich ihr was Bestimmtes sagen?«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, tat ich seine Bedenken ab.»Aber ich…«
Die Tür der Nachbarwohnung wurde geöffnet, vorsichtig, ein kleines Stück nur, bei vorgelegter Kette. Ich blickte in das kleine faltige Gesicht einer alten Frau.
Rasch streifte ich ihr Bewusstsein, ganz flüchtig nur und möglichst behutsam, um den ohnehin zerrütteten Verstand nicht weiter in Mitleidenschaft zu ziehen.
»Ach, du bist das…«Die Alte strahlte übers ganze Gesicht.»Du, du…«
»Anton«, soufflierte ich ihr hilfsbereit.
»Ich hab schon gedacht, ein Fremder würde sich hier herumtreiben«, meinte die Alte, während sie die Kette abnahm und ins Treppenhaus hinaustrat.»Zeiten haben wir, da muss man mit allem rechnen, die Leute machen, was sie wollen…«
»Keine Sorge«, beruhigte ich sie.»Alles wird gut. Sie gucken jetzt lieber Fernsehen, da läuft eine neue Serie.«
Die Alte nickte, warf mir einen letzten freundlichen
Blick zu und verschwand wieder in ihrer Wohnung.
»Was für eine Serie denn?«, fragte Jegor.
»Weiß nicht.«Ich zuckte mit den Schultern.»Irgendeine. Genug Seifenopern gibt’s doch, oder?«
»Und woher kennen Sie unsere Nachbarin?«
»Ich? Sie? Von nirgendwoher.«
Der Junge schwieg.
»Eben«, meinte ich.»Wir sind die Anderen. Ich komme jetzt nicht mehr mit rein, ich muss weg.«
»Und was dann?«
»Dich werden andere beschützen, Jegor. Du brauchst keine Angst zu haben: Die sind viel bessere Profis als ich.«
Ich spähte durchs Zwielicht: Zwei grelle orangefarbene Feuer näherten sich dem Eingang des Hauses.
»Die… die will ich nicht.«Sofort erfasste Panik den Jungen.»Sie sollen bleiben!«
»Das kann ich nicht. Ich habe eine andere Aufgabe.«
Unten im Eingang knallte die Tür, Schritte hallten. Den Aufzug ignorierten die beiden Kampfspezis.
»Die will ich nicht!«Der Junge machte sich an der Tür zu schaffen, als wolle er sie abschließen.»Denen trau ich nicht!«
»Entweder vertraust du allen von der Nachtwache oder niemandem«, fiel ich ihm hart ins Wort.»Wir sind keine einsamen Supermänner in rotblauen Umhängen. Wir werden für diese Arbeit bezahlt. Wir sind die Polizei der Zwielicht-Welt. Meine Worte sind die Worte der Nachtwache.«
»Und wer sind die?«Der Junge fügte sich in sein
Schicksal.»Magier?«
»Ja. Allerdings hochspezialisierte.«
Unten am Fuß der Treppe tauchte Tigerjunges auf.
»Hallo, Jungs«, rief die junge Frau fröhlich aus, während sie mit einem einzigen Sprung den gesamten Absatz überwand.
Dieser Sprung konnte nicht von einem Menschen sein. Jegor kauerte sich zusammen und trat zurück, wobei er Tigerjunges misstrauisch beäugte. Ich schüttelte den Kopf: Offenbar balancierte die Frau am Rande der Transformation entlang. Das gefiel ihr - und im Moment hatte sie allen Grund, sich auszutoben.
»Wie sieht’s in Perowo aus?«, fragte ich.
Tigerjunges seufzte laut auf, bevor sie lächelte.»Och… lustig. Alle sind in Panik. Geh jetzt, Antoschka, sie warten schon auf dich… Und das hier ist wohl mein kleiner Schützling, oder?«
Schweigend sah der Junge sie an. Der Chef hatte eine gute Wahl getroffen, indem er Tigerjunges zum Schutz hierher geschickt hatte, das musste man ihm lassen. Vom Kind bis zum Greis flößte sie allen Vertrauen und Sympathie ein. Angeblich fielen sogar die Dunkeln ab und zu auf sie rein. Was sie teuer zu stehen kam…
»Ich bin kein Schützling«, erwiderte der Junge schließlich.»Ich heiße Jegor.«
»Und ich bin Tigerjunges.«Die Frau war bereits in die Wohnung gegangen, jetzt legte sie dem Jungen liebevoll den Arm um die Schultern.»Dann bring mich mal zum Kriegsschauplatz! Damit wir unsere Verteidigung in Stellung bringen können!«
Kopfschüttelnd ging ich hinunter. In fünf Minuten würde Tigerjunges dem Jungen zeigen, wie sie zu ihrem Namen gekommen war.
»Hallo«, brummte Bär, als er mir entgegenkam.
»Hallo.«Wir gaben uns kurz die Hand. Von allen Mitarbeitern der Wache rief Bär in mir die seltsamsten und widersprüchlichsten Gefühle hervor.
Bär war etwas größer als der Durchschnitt, kräftig und hatte einen absolut undurchdringlichen Gesichtsausdruck. Er machte nie viel Worte. Wie er seine Freizeit verbrachte, wo er wohnte - das wusste niemand, von Tigerjunges vielleicht abgesehen. Gerüchten zufolge sollte er gar kein Magier, sondern ein Tiermensch sein. Angeblich hatte er zunächst in der Tagwache gearbeitet, bis er dann im Zuge irgendeiner Mission plötzlich auf unsere Seite überwechselte. All das war natürlich blanker Unsinn, denn die Lichten verwandeln sich ebenso wenig in Dunkle, wie die Dunklen zu Lichten mutieren. Doch irgendetwas steckte in Bär, das einen unwillkürlich irritierte.
»Das Auto wartet auf dich«, sagte der Fahnder im Laufen.»Der Fahrer ist ein Ass. Bist im Nu da.«
Bär stotterte leicht und baute deshalb nur kurze Sätze. Er beeilte sich nicht, denn Tigerjunges hielt bereits Wache. Doch ich durfte keine Zeit vergeuden.
»Sieht es da schlimm aus?«, fragte ich, während ich einen Zahn zulegte.
»Kann man wohl sagen«, scholl es von oben herab.
Mehrere Stufen auf einmal nehmend, stürzte ich aus dem Haus. Der Wagen wartete schon - und ich musste kurz innehalten, da ich mich einfach nicht satt sehen konnte an ihm. Ein eleganter BMW in dunklem Burgunderrot, das neueste Modell, mit einer lieblos auf dem Dach angeklebten Sirene. Beide Türen auf der Seite zum Haus hin standen offen, der Fahrer, unter dessen Jackett eine Pistole zu erahnen war, lehnte sich zum Wagen hinaus und rauchte hastig. Am hinteren Schlag stand ein älterer Mann von monumentaler Statur in offenem Mantel und einem sehr teuren Anzug, an dessen Revers ein Abgeordnetenzeichen funkelte.
»Ja, wer ist er denn?«, sagte der Mann in sein Handy.»Sobald ich kann, komm ich! Was? Was für Weiber, verdammich? Hast du sie noch alle? Könnt ihr nicht einen Schritt alleine machen?«
Als er mich aus den Augenwinkeln heraus erblickte, brach der Abgeordnete das Telefonat ab, ohne sich zu verabschieden, und kletterte in den Wagen. Der Chauffeur zog ein letztes Mal gierig an der Zigarette, warf sie dann weg und klemmte sich hinters Steuer. Der Motor heulte leise auf, und ich hatte kaum im Fond Platz genommen, als das Auto davonschoss. Vereiste Zweige kratzten über die Tür.
»Bist du blind, oder was?«, blaffte der Abgeordnete den Fahrer an, obwohl die Schuld daran einzig und allein bei mir lag. Doch der Besitzer des Wagens brauchte sich nur mir zuzudrehen, da änderte sich sein Ton auch schon:»Du willst nach Perowo?«
Noch nie hatte mich ein Vertreter der Macht mitnehmen dürfen. Noch dazu entweder jemand aus den höheren Rängen der Miliz oder ein Mafiapate. Vom Kopf her war mir klar, dass sie für einen Wächter mit seinen Möglichkeiten allesamt gleich waren, doch ausprobiert hatte ich dergleichen noch nie.
»Ja, dorthin, woher die anderen kamen. Und zwar
möglichst schnell…«
»Hörst du, Wolodka«, wandte sich der Abgeordnete an den Fahrer.»Also sieh zu!«
Wolodka gab Gas. Und zwar so energisch, dass mir ganz anders wurde und ich ins Zwielicht spähte: Ob wir mit heiler Haut ankommen?
Ja, das würden wir. Allerdings nicht wegen des meisterlichen Könnens des Fahrers oder des Erfolgskoeffizienten, der bei mir, wie bei jedem Wächter, künstlich heraufgesetzt worden war. Vielmehr schien sich jemand das Wahrscheinlichkeitsfeld vorgenommen und alle Unfälle, Staus und neidischen Verkehrspolizisten aus dem Weg geräumt zu haben.
In unserer Abteilung bringt dergleichen nur der Chef fertig. Aber wozu?
»Mir ist auch bange…«, flüsterte auf meiner Schulter der unsichtbare Vogel.»Als ich mit dem Grafen…«
Sie verstummte, als habe sie sich ertappt, allzu mitteilsam gewesen zu sein.
Das Auto bretterte bei Rot über eine Kreuzung und wich einigen PKW sowie einem Laster aus, wobei es sich halb auf eine Seite legte. An einer Haltestelle wies jemand mit der Hand in unsere Richtung.
»Auch ein Schlückchen?«, fragte der Abgeordnete freundlich. Er hielt mir eine kleine Flasche Remy Martin und einen Einwegbecher aus Plastik hin. Das Ganze wirkte so komisch, dass ich mir ohne zu zögern dreißig Gramm eingoss. Selbst bei der Geschwindigkeit und der miserablen Straße fuhr der Wagen ruhig, sodass der Kognak nicht überschwappte.
Ich gab die Flasche zurück, nickte, holte die Kopfhörer aus der Tasche, stöpselte sie mir in die Ohren und
schaltete die Mini-Disc ein. Ein uraltes Lied der Gruppe Woskressenje erklang, mein Lieblingsstück.
Da gab es eine Stadt wie Kinderspielzeug klein,
Sie kannte längst schon nicht mehr Krankheit, Invasion.
Die Straße lief vorbei ins weite Land hinein,
Ein rostiges Geschütz stand still auf der Bastion.
Und Jahr für Jahr kein Fest und keine Arbeit schwer -
Das ganze Städtchen schlief.
Doch Länder sah’s im Traum mit Städten, menschenleer,
Gehaun in Felsen tief.
Wir kamen auf die Hauptstraße. Der Wagen raste immer schneller dahin, noch nie hatte ich mit einer derartigen Geschwindigkeit Moskau durchquert. Und nicht nur Moskau… Wenn das Wahrscheinlichkeitsfeld nicht freigemacht worden wäre, hätte ich ihn dazu gebracht, das Gas wegzunehmen - es war einfach zu beängstigend.
Bis eines Tags Musik im kalten Stein erklang,
Das Städtchen aber schlief…
Wohin rief die Musik? Wen lockte jener Sang?
Man weiß nicht, wer da rief…
Unwillkürlich fiel mir ein, dass der Sänger Romanow selbst ein Anderer war. Nur nicht initiiert. Man war zu spät auf ihn aufmerksam geworden… Dann hatte man ihm zwar ein Angebot gemacht, doch er hatte abgelehnt.
Auch eine Möglichkeit.
Wie oft er diese Musik wohl in der Nacht hörte?
Doch wer in schwüler Nacht die Fenster offen ließ -
Die findet man nicht mehr.
Sie zogen in ein Land, wo Leben Leben hieß,
Dem Liede hinterher…
»Willst du noch was?«Der Abgeordnete war die Fürsorge in Person. Was Bär und Tigerjunges ihm wohl eingeflüstert hatten? Dass ich sein bester Freund bin? Dass er für immer in meiner Schuld steht? Dass ich der außereheliche, aber heiß geliebte Sohn des Präsidenten bin?
Wie albern das alles ist! Es gibt Hunderte von Möglichkeiten, das Vertrauen der Menschen, ihre Sympathie und Hilfsbereitschaft zu gewinnen. Das Licht hat seine eigenen Methoden, leider verfügt jedoch auch das Dunkel über eine ganze Reihe davon. Albern.
Denn die Frage ist doch: Wozu braucht der Chef mich?
Sechs
Ilja erwartete mich am Straßenrand. Er stand mit in die Taschen gestopften Händen da und schaute angewidert in den Himmel, von dem feiner Schnee herabrieselte.
»Endlich«, sagte er bloß, nachdem ich mich mit einem Handschlag von dem Abgeordneten verabschiedet hatte und aus dem Wagen gestiegen war.»Dem Chef reicht die Warterei langsam.«
»Was geht hier vor?«
Ilja grinste. Doch keine Spur normaler Lebensfreude lag in diesem Lächeln.»Wirst du gleich sehen… Gehen wir.«
Wir marschierten einen platt gestampften Weg entlang und wichen den Frauen aus, die voll gepackt mit Taschen vom Supermarkt kamen. Komisch, obwohl wir jetzt richtige Supermärkte haben, stapfen die Leute immer noch so wie früher davon - als ob sie gerade eine Stunde für blaue Hühnerleichen angestanden hätten.
»Ist es weit?«, fragte ich.
»Wenn es weit wäre, würde ich fahren.«
»Was ist mit unserm Sexgiganten? Ist er klargekommen?«
»Ignat hat sich Mühe gegeben«, erwiderte Ilja bloß. Aus irgendeinem Grund verspürte ich ein kurzes und rachsüchtiges Vergnügen, als ob das Scheitern des Schönlings Ignat mir von Nutzen sei. Wenn die Sache es erforderte, landete er normalerweise binnen ein, zwei Stunden nach Erhalt des Auftrags im entsprechenden Bett.
»Der Chef hat Bereitschaft zur Evakuierung angeordnet«, meinte Ilja plötzlich.
»Was?«
»Volle Bereitschaft. Wenn der Strudel nicht stabilisiert werden kann, verlassen die Anderen Moskau.«
Da er vor mir herging, konnte ich ihm nicht in die Augen sehen. Doch weshalb hätte Ilja mich anlügen sollen?
»Und der Strudel ist nach wie vor…«, setzte ich an. Und verstummte. Ich sah es selbst.
Vor uns drehte sich über einem trostlosen achtstöckigen Hochhaus im dunklen, schneeverhangenen Himmel langsam der schwarze Wirbelsturm.
Man konnte ihn schon nicht mehr Strudel oder Wirbelwind nennen. Nur noch Wirbelsturm. Er wand sich nicht aus diesem Haus heraus, sondern aus dem dahinter, das wir noch nicht zu erkennen vermochten. Und in Anbetracht des Winkels dieses dunklen Kegels musste der Wirbelsturm fast aus der Erde herauswachsen.
»Teufel…«, flüsterte ich.
»Beschrei hier nichts!«, fuhr mir Ilja über den Mund.»Der kommt sonst wirklich.«
»Er muss mindestens dreißig Meter…«
»Zweiunddreißig. Und er wächst weiter.«
Rasch schaute ich auf meine Schulter, wo ich Olga erblickte. Sie war aus dem Zwielicht herausgetreten.
Haben Sie jemals einen erschrockenen Vogel gesehen? Wie ein Mensch erschrocken?
Der Eule schien sich das Gefieder zu sträuben. Ob
Federn zu Berge stehen können? In ihren Augen brannte ein gelb-orangefarbenes Bernsteinfeuer. Meine arme Jacke wurde an der Schulter völlig zerfetzt, während die Krallen weiter und weiter auf sie einhackten, als wollten sie sich bis zu meinem Fleisch vorarbeiten.
»Olga!«
Ilja drehte sich um und nickte.»Ach ja… Der Chef behauptet, dass der Strudel in Hiroshima kleiner war.«
Die Eule flatterte mit den Flügeln und erhob sich lautlos und leicht in die Luft. Hinter mir kreischte eine Frau auf - ich drehte mich um und blickte in ein entsetztes Gesicht und weit aufgerissene Augen, die dem Vogel folgten.
»Da fliegt eine Krähe«, verkündete Ilja ruhig, wobei er sich halb zu der Frau herumdrehte und sie beobachtete. Seine Reaktionsfähigkeit übertraf die meine bei weitem. Im nächsten Moment hatte die zufällige Zeugin uns umrundet, wobei sie unzufrieden etwas über den viel zu schmalen Pfad und über Leute brummelte, die anderen gern den Weg versperren.
»Wächst er schnell?«, fragte ich und nickte in Richtung Wirbelsturm.
»Schubartig. Jetzt läuft gerade die Stabilisierung. Der Chef hat Ignat noch rechtzeitig abberufen. Gehen wir…«
Die Eule umkreiste den Wirbelsturm in weitem Bogen und ging dann tiefer, um über unseren Köpfen dahinzufliegen. Einen Rest Selbstbeherrschung hatte Olga sich bewahrt, doch das unvorsichtige Herauskommen aus dem Zwielicht ließ auf ihre Konfusion schließen.
»Was hat er denn angerichtet?«
»Im Grunde nichts… ist nur ein bisschen zu selbstsicher aufgetreten. Er hat sie angesprochen. Dann wollte er’s übers Knie brechen und hat damit ein Anwachsen des Strudels bewirkt… Und was für eins.«
»Das verstehe ich nicht«, meinte ich verwirrt.»Ein solches Wachstum ist nur denkbar, wenn ein Magier ihn zusätzlich mit Energie auflädt und so das Inferno heraufbeschwört…«
»Genau darum geht es. Irgendjemand ist Ignats Spur gefolgt und hat Öl ins Feuer gegossen. Hier lang…«
Wir gelangten zum Eingang des Hauses, das uns gegen den Wirbel abschirmte. Die Eule kam uns im letzten Augenblick hinterhergeflogen. Verständnislos sah ich Ilja an, fragte jedoch nichts. Es würde sich ohnehin gleich herausstellen, weshalb wir hier waren.
In einer der Wohnungen im Erdgeschoss war der Einsatzstab eingerichtet worden. Die gewaltige Stahltür, in der Welt der Menschen fest verschlossen, stand im Zwielicht sperrangelweit offen. Ohne zu zögern tauchte Ilja ins Zwielicht ein und ging weiter, während ich einige Sekunden brauchte, um meinen Schatten aufzuheben und ihm zu folgen.
Die große Wohnung hatte vier Zimmer, alle sehr gemütlich. Es war laut, warm und verraucht.
Mehr als zwanzig Andere hatten sich hier einquartiert. Sowohl Fahnder als auch wir, die Büroratten. Niemand achtete auf mein Kommen, wohingegen Olga die Aufmerksamkeit auf sich zog. Mir war klar, dass die alten Mitarbeiter der Wache sie kannten, auch wenn niemand Anstalten machte, die weiße Eule zu
begrüßen oder ihr zuzulächeln.
Was hast du nur angestellt?
»Ins Schlafzimmer, da ist der Chef«, meinte Ilja, der seinerseits auf die Küche zusteuerte. Von dort war das Klirren von Gläsern zu hören. Vielleicht tranken sie Tee, vielleicht auch etwas Stärkeres. Ich warf kurz einen Blick in die Küche und überzeugte mich, dass ich Recht hatte. Ignat sollte gerade mit Kognak aufgepäppelt werden. Unser Sexterrorist wirkte völlig geschlagen und am Boden zerstört, einen derartigen Reinfall hatte er lange nicht einstecken müssen.
Ich ging weiter, stieß die erstbeste Tür auf und spähte hinein.
Das Kinderzimmer. In einem kleinen Bett schlief ein fünfjähriges Kind, daneben auf dem Teppich seine Eltern und ein Mädchen im Teenageralter. Alles klar. Man hatte die Mieter der Wohnung in süßen und tiefen Schlaf geschickt, damit sie uns nicht in die Quere kamen.
Natürlich hätte der gesamte Stab auch im Zwielicht operieren können, doch wozu hätten wir unsere Kräfte auf diese Weise vergeuden sollen?
Jemand klopfte mir auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah Semjon vor mir.
»Der Chef ist da«, sagte er bloß.»Sieh zu…«
Offenbar wussten alle, dass ich erwartet wurde.
Ich betrat ein Zimmer und wollte im ersten Moment meinen Augen nicht trauen.
Es gibt nichts Absurderes als einen Einsatzstab der Nachtwache, der in einer normalen Mietswohnung untergebracht ist.
Über einer Frisierkommode, auf der sich diverse Kosmetika und Modeschmuck türmten, hing eine magische Kugel von mittlerer Größe. Die Kugel übertrug die Ansicht des Wirbels aus der Vogelperspektive. Daneben saß Lena, unsere beste Bildgeberin, schweigend und konzentriert auf einem kleinen gepolsterten Hocker. Sie hatte die Augen geschlossen, doch bei meinem Erscheinen hob sie leicht die Hand, um mich zu begrüßen.
Gut, so weit war alles wie immer. Der Bildgeber der Kugel sieht den Raum in seiner Gesamtheit, ihm entgeht nichts.
Auf dem unter Kissen begrabenen Bett hatte es sich der Chef in einer halb liegenden Position bequem gemacht. Er trug einen farbenfrohen Hausmantel, weiche orientalische Schuhe und ein buntes Käppchen auf dem Kopf. Der süße Rauch einer transportablen Wasserpfeife schwängerte den Raum. Die weiße Eule saß vor ihm. Allem Anschein nach verständigten sie sich auf nonverbale Weise.
Auch das war völlig normal. In Momenten besonderer Anspannung kehrte der Chef stets zu den Gewohnheiten zurück, die er sich in Zentralasien zugelegt hatte. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts hatte er dort gearbeitet und sich zunächst als Mufti, später als Anführer der Basmatschen, dann als roter Kommissar ausgegeben, um schließlich etwa zehn Jahre als Sekretär des Bezirkskomitees tätig zu sein.
Am Fenster standen Danila und Farid. Selbst meine Fähigkeiten reichten aus, um das purpurfarbene Blinken der magischen Stäbe zu bemerken, die sie in ihren Ärmeln versteckt hatten.
Absolute Standardvorkehrungen. Auf Schutz würde der Stab in solchen Momenten nicht verzichten. Danila und Farid waren zwar nicht die stärksten Kämpfer, verfügten jedoch über ungeheure Erfahrung, was mitunter weit wichtiger ist als rohe Kraft.
Doch wie passte ein weiterer Anderer ins Bild, der sich im Zimmer aufhielt?
Bescheiden hockte er in einem Eckchen, unauffällig. Der Mann war dünn wie eine Bohnenstange, hatte eingefallene Wangen, schwarzes, militärisch kurz geschnittenes Haar und große traurige Augen. Sein Alter ließ sich nicht schätzen, vielleicht war er dreißig, vielleicht aber auch dreihundert. Er trug dunkle Kleidung. Der locker sitzende Anzug und das graue Hemd passten hervorragend zu seinem Äußeren. Ein Mensch hätte den Mann womöglich für das Mitglied einer kleinen Sekte gehalten. Und irgendwie stimmte das ja auch.
Es war ein Dunkler Magier. Zudem ein hochrangiger. Als er mich kurz ansah, spürte ich, wie die Schale meiner Abschirmung - die übrigens nicht von mir stammte! - Risse bekam und langsam eingedrückt wurde.
Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. Doch der Magier hatte den Blick bereits zu Boden gesenkt, als wolle er zu verstehen geben: Die Sondierung war lediglich ein Zufall und flüchtig.
»Boris Ignatjewitsch.«Ich merkte, dass meine Stimme leicht kratzte.
Der Chef nickte kurz, dann wandte er sich an den Dunklen Magier. Der starrte sofort den Chef an.
»Gib ihm das Amulett«, befahl der Chef knapp.
»Ich tue nichts, was der Vertrag verbietet…«
Die Stimme des Dunklen nahm sich bedrückt und leise aus, wie die eines Menschen, auf dem alles Leid dieser Welt lastet.
»Ich ebenfalls nicht. Aber meine Mitarbeiter müssen immun gegen jeden Beobachter sein.«
Das war’s also! Zu unserem Stab gehörte ein Beobachter der Dunklen. Also befand sich irgendwo in der Nähe ein Stab der Tagwache, und dort saß einer von unseren Leuten.
Der Dunkle Magier versenkte die Hand in der Tasche seines Jacketts, kramte darin herum und zog ein geschnitztes beinernes Medaillon heraus, das an einer Kupferkette hing. Er streckte es mir entgegen.
»Wirf es her!«, sagte ich.
Der Magier lächelte matt, melancholisch und mitleidig, und warf mir das Medaillon aus dem Handgelenk zu. Ich fing es auf. Der Chef nickte zufrieden.
»Name?«, fragte ich.
»Sebulon.«
Diesen Namen hatte ich nie zuvor gehört. Entweder war der Mann kaum bekannt, oder er stand ganz oben an der Spitze der Tagwache.
»Sebulon…«, wiederholte ich, während ich das Amulett betrachtete.»Du hast keine Macht mehr über mich.«
Das Medaillon erwärmte sich in meiner Hand. Ich legte es über meinem Hemd an, nickte dem Dunklen Magier zu und ging zum Chef hinüber.
»So stehen die Dinge, Anton«, nuschelte der Chef, das Mundstück der Wasserpfeife zwischen den Lippen.»So stehen sie. Siehst du das da?«
Ich schaute zum Fenster hinaus und nickte.
Der schwarze Wirbelwind wuchs aus einem achtstöckigen Haus heraus, das genau dem entsprach, in dem wir uns befanden. Der schmale geschmeidige Stängel des Wirbels wurzelte irgendwo im Erdgeschoss. Indem ich mich ins Zwielicht hineinstreckte, vermochte ich die Wohnung genau auszumachen.
»Wie konnte das passieren?«, fragte ich.»Boris Ignatjewitsch, das ist kein Ziegel mehr, der einem auf den Kopf fällt… keine Gasexplosion im Hauseingang…«
»Wir tun, was wir können.«Dem Chef schien daran gelegen, sich mir gegenüber zu rechtfertigen.»Wir haben alle Raketenbasen unter unserer Kontrolle, auch die in Amerika und Frankreich, in China werden die entsprechenden Maßnahmen gerade zum Abschluss gebracht. Schwieriger ist es mit taktischen Atomwaffen. Die einsatzfähigen Laserraketen können wir auf gar keinen Fall alle identifizieren. Bakteriologisches Dreckszeug gibt es in der Stadt genug… Vor etwa einer Stunde wäre es im Institut für Virenforschung beinahe zu einer Freisetzung gekommen.«
»Das Schicksal täuscht man nicht«, bemerkte ich zögernd.
»Eben. Wir stopfen ein Leck im Boden eines Schiffes. Dabei ist das Schiff bereits in der Mitte geborsten.«
Mit einem Mal bemerkte ich, dass alle - der Dunkle Magier, Olga, Lena und die Kampfspezis - mich ansahen. Mir wurde unbehaglich zumute.
»Boris Ignatjewitsch?«
»Du bist mit ihr verbunden.«
»Was?«
Der Chef seufzte und nahm die Pfeife aus dem Mund, sodass kalter Opiumrauch zu Boden sickerte.»Du, Anton Gorodezki, Programmierer, alleinstehend und mit mittleren Fähigkeiten, bist mit der Frau verbunden, über der diese schwarze Sauerei hängt.«
Der Dunkle Magier in der Ecke seufzte kaum hörbar auf. Etwas Besseres, als»Warum?«zu fragen, fiel mir nicht ein.
»Ich weiß es nicht. Wir haben Ignat auf sie angesetzt, und der hat gute Arbeit geleistet. Du weißt, dass er jeden und jede bezirzen kann.«
»Aber mit ihr hat es nicht geklappt?«
»Doch. Nur dass der Strudel plötzlich gewachsen ist. In der halben Stunde, die sie miteinander verbracht haben, ist er von anderthalb Meter auf fünfundzwanzig Meter angewachsen. Wir mussten ihn zurückrufen… Umgehend.«
Ich schielte zu dem Dunklen Magier hinüber. Sebulon schien zu Boden zu blicken, hob dann jedoch den Kopf. Diesmal brach meine Verteidigung nicht ein: Das Amulett schützte mich zuverlässig.
»Wir brauchen das nicht«, sagte er leise.»Nur ein Wilder tötet einen Elefanten, um zum Frühstück ein Stück Fleisch zu haben.«
Der Vergleich missfiel mir. Vermutlich log Sebulon aber nicht.
»Ein solches Ausmaß an Zerstörung benötigen wir nur selten«, fügte der Dunkle Magier hinzu.»Momentan laufen bei uns keine Projekte, für die eine solche Freisetzung von Energie nötig wäre.«
»Das will ich hoffen…«, ließ sich der Chef mit fremder, knarrender Stimme vernehmen.»Sebulon, du
solltest wissen, dass wir im Falle einer Katastrophe… ebenfalls den größtmöglichen Nutzen herausholen würden.«
Auf dem Gesicht des Dunklen Magiers deutete sich der Schatten eines Lächelns an.
»Die Zahl der Menschen, die dann in Panik geraten werden, die Tränen vergießen und Kummer empfinden werden, wird ungeheuer sein. Doch größer, unermesslich viel größer wird die Zahl derjenigen sein, die gierig vor dem Fernseher kleben, sich an fremdem Leid laben, sich darüber freuen, dass die Katastrophe ihre Stadt verschont hat, die über das Dritte Rom witzeln, das seine Strafe ereilt… seine Gottesstrafe. Das weißt du, mein Feind.«
Das war keine Schadenfreude - hochrangige Dunkle sind solch einer primitiven Reaktion gar nicht fähig. Sondern pure Information.
»Und dennoch sind wir darauf vorbereitet«, sagte Boris Ignatjewitsch.»Das weißt du.«
»In der Tat. Doch wir sind im Vorteil. Falls du nicht noch das eine oder andere Ass im Ärmel hast, Boris.«
»Du weißt, dass ich immer vier Asse habe.«
Der Chef wandte sich mir zu, als habe er jedes Interesse an dem Dunklen Magier verloren.»Anton, der Strudel wird nicht von der Tagwache gespeist. Er geht auf eine Einzelperson zurück. Auf einen unbekannten Dunklen Magier mit unglaublicher Kraft. Er hat Ignat gespürt und daraufhin das Wachstum forciert. Jetzt bist du unsere einzige Hoffnung.«
»Warum?«
»Ich habe es dir schon gesagt: Ihr seid miteinander verbunden. Anton, das Wahrscheinlichkeitsfeld weist drei Möglichkeiten auf.«
Der Chef machte ein Zeichen mit der Hand, und in der Luft entrollte sich die weiße Fläche einer Leinwand. Sebulon verzog das Gesicht, vermutlich hatte ihn der Energieausstoß leicht gestreift.
»Die erste Entwicklungslinie«, sagte der Chef. Über die weiße Leinwand, die freischwebend in der Mitte des Zimmers hing, lief ein schwarzer Streifen. Am Ende blähte er sich zu einem unförmigen Klecks auf, der über den Rand des Schirms hinausreichte.»Der wahrscheinlichste Weg. Der Strudel erreicht sein Maximum, und das Inferno bricht durch. Millionen von Opfern. Eine globale Katastrophe - atomarer Art, biologischer, ein Asteoridenniederschlag, ein Erdbeben der Stärke zwölf. Alles, was du dir nur vorstellen kannst.«
»Was ist mit einem direkten Ausbruch des Infernos?«, fragte ich vorsichtig. Ich linste zum Dunklen Magier hinüber: Seine Miene wirkte unbeteiligt.
»Nein. Wohl kaum. Die Schwelle ist noch lange nicht erreicht.«Der Chef nickte.»Andernfalls hätten sich Tag- und Nachtwache meiner Ansicht nach schon gegenseitig vernichtet. Der zweite Weg…«
Eine dünne Linie, die von dem schwarzen Streifen abging. Ein abgerissener Ausläufer.
»Die Vernichtung des Ziels. Der Wirbel löst sich auf, sobald sein Ziel stirbt - ganz von selbst.«
Sebulon bewegte sich.»Ich bin gern bereit, bei dieser kleinen Aktion behilflich zu sein«, bot er liebenswürdig an.»Die Nachtwache kann das allein nicht bewerkstelligen, nicht wahr? Wir stehen also zu Ihren Diensten.«
Stille senkte sich herab. Dann lachte der Chef los.
»Wie Sie wollen.«Sebulon zuckte mit den Schultern.»Ich wiederhole, dass wir unsere Dienste anbieten. Wir brauchen keine globale Katastrophe, die augenblicklich Millionen Menschen tötet. Noch nicht.«
»Der dritte Weg«, sagte der Chef mit Blick auf mich.»Schau genau hin!«
Eine weitere Linie schlängelte sich aus der gemeinsamen Wurzel heraus. Verjüngte sich und verlief im Nichts.
»Er besteht darin, dass du auf den Plan trittst, Anton.«
»Was soll ich tun?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht. Die Wahrscheinlichkeitsprognose gibt nie genaue Hinweise. Bekannt ist nur eins: Dass du den Strudel bannen kannst.«
Mir huschte der dumme Gedanke durch den Kopf, dass mein Test noch nicht abgeschlossen war. Die Erprobung im Einsatz… Den Vampir hatte ich getötet, und jetzt… Doch nein. Das konnte nicht sein. Nicht, wenn so viel auf dem Spiel stand!
»Ich habe noch nie einen schwarzen Strudel gebannt.«Meine Stimme klang irgendwie fremd, nicht unbedingt verängstigt, eher erstaunt. Der Dunkle Magier Sebulon kicherte - auf widerwärtige, weibische Weise.
»Ich weiß, Anton«, meinte der Chef nickend.
Dann erhob er sich, zog den Hausmantel fest um sich und kam auf mich zu. Er sah ziemlich komisch aus, zumindest in dieser normalen Moskauer Wohnung erinnerte er mit seinem orientalischen Auftreten an eine misslungene Karikatur.
»Noch nie zuvor hat irgendjemand einen solchen Strudel gebannt. Du bist der Erste, der das versucht.«
Ich schwieg.
»Bedenke auch Folgendes, Anton: Wenn dir irgendein Fehler unterläuft - und sei er auch noch so klein, irgendetwas -, dann bist du der Erste, der verbrennt. Dir wird nicht einmal genug Zeit bleiben, ins Zwielicht zu gelangen. Du weißt, was mit den Lichten passiert, wenn sie in einen Durchbruch des Infernos geraten?«
Meine Kehle trocknete aus. Ich nickte.
»Verzeihen Sie, mein gütigster Feind«, bemerkte Sebulon amüsiert.»Räumen Sie Ihren Mitarbeitern nicht das Recht der Wahl ein? Selbst im Krieg fordert man in solchen Situationen… Interessenten auf.«
»Wir haben Freiwillige aufgefordert«, erwiderte der Chef, ohne sich umzudrehen.»Wir alle sind Freiwillige, seit langem schon. Und eine Wahl haben wir nicht.«
»Wir schon. Immer.«Der Dunkle Magier kicherte erneut.
»Indem wir den Menschen das Recht der Wahl zubilligen, nehmen wir es uns selbst. Sebulon…«Boris Ignatjewitsch schielte zu dem Dunklen Magier hinüber.»… du plagst dich hier vor fremdem Publikum. Stör lieber nicht.«
»Ich sage kein Wort mehr.«Sebulon senkte den Kopf und kauerte sich zusammen.
»Versuch es«, sagte der Chef.»Anton, ich kann dir keinen Rat geben. Du musst es einfach versuchen. Ich bitte dich, versuche es. Und… vergiss alles, was ich dir beigebracht habe. Glaube nicht an das, was ich dir gesagt habe, glaube nicht an das, was du dir im Unterricht notiert hast, trau deinen Augen nicht, trau frem-
den Worten nicht.«
»Wem soll ich dann glauben, Boris Ignatjewitsch?«
»Wenn ich das wüsste, Anton, dann würde ich den Stab verlassen… und selbst in dieses Haus gehen.«
Gleichzeitig blickten wir zum Fenster hin. Der schwarze Wirbelwind drehte sich, taumelte von einer Seite auf die andere. Ein Mensch, der auf dem Gehweg entlangging, machte plötzlich kehrt und umrundete die Spitze des Wirbels im weiten Bogen. Mir fiel auf, dass am Rand bereits ein Pfad getrampelt worden war: Die Menschen konnten das über der Erde schwelende Böse zwar nicht sehen, fühlten aber, dass es näher kam.
»Ich werde Anton decken«, sagte Olga plötzlich.»Ihn decken und die Verbindung halten.«
»Von außen«, stimmte der Chef zu.»Nur von außen… Anton… geh jetzt. Wir werden dich so gut wie möglich gegen jede Beobachtung abschirmen.«
Die weiße Eule flog vom Bett auf und ließ sich auf meiner Schulter nieder.
Mit einem letzten Blick auf meine Freunde und auf den Dunklen Magier, der aussah, als sei er eingeschlafen, ging ich aus dem Zimmer. Sofort bemerkte ich, wie jedes Geräusch in der Wohnung verstummte.
Sie ließen mich in völliger Stille gehen, ohne jedes überflüssige Wort, ohne mir noch einmal auf die Schulter zu klopfen, ohne mir einen Rat mit auf den Weg zu geben. Denn im Grunde tat ich nichts Besonderes. Ich ging einfach sterben.
Es war still. Irgendwie beunruhigend still, selbst für einen Mos-
kauer Schlafbezirk zu so später Stunde. Als ob sich alle in den Häusern verschanzt, das Licht gelöscht, sich die Decke über den Kopf gezogen hätten und schwiegen. Schwiegen - nicht etwa schliefen. Bloß in den Fenstern flimmerten noch blaurote Flecken, denn überall liefen die Fernseher. Diese Angewohnheit, bei Angst oder Schwermut den Fernseher einzuschalten und sich alles Mögliche anzugucken, vom Teleshopping bis zu den Nachrichten. Die Menschen sehen die Zwielicht-Welt nicht. Doch sie können ihre Nähe spüren.
»Olga, was sagst du zu diesem Strudel?«, fragte ich.
»Unüberwindlich.«
Kurz und knapp.
Ich stand vor dem Hauseingang und betrachtete den geschmeidigen, an einen Elefantenrüssel erinnernden Stängel des Wirbels. Noch wollte ich nicht hineingehen.
»Wann… bei welcher Größe könntest du den Strudel zermalmen?«
Olga dachte nach.»Bei einer Höhe von fünf Metern. Da besteht noch eine Chance. Bei drei Metern klappt es bestimmt.«
»Und die Frau wird dabei gerettet?«
»Vielleicht.«
Etwas ließ mir keine Ruhe. In dieser unnormalen Stille, wo selbst die Autos den verdammten Bezirk umfuhren, waren immer noch einige Geräusche zu hören…
Dann ging es mir auf. Die Hunde winselten. In allen Wohnungen, in allen Häusern um uns herum beklagten die unglücklichen Tiere leise, erbärmlich und hilflos
ihre Herren. Sie sahen das nahende Inferno.
»Olga, die Informationen über die Frau. Sämtliche.«
»Swetlana Nasarowa. Fünfundzwanzig Jahre. Internistin, arbeitet in der Poliklinik Nr. 17. Keine Beobachtungen seitens der Nachtwache. Keine Beobachtungen seitens der Tagwache. Magische Fähigkeiten wurden nicht entdeckt. Die Eltern und der jüngere Bruder leben in Bratejewo, der Kontakt zu ihnen ist unregelmäßig, hauptsächlich telefonisch. Vier Freundinnen, die überprüft werden und bislang sauber sind. Normale Beziehungen zu ihrem Umfeld, heftige Antipathien wurden nicht festgestellt.«
»Eine Ärztin«, sagte ich nachdenklich.»Olga, das ist vielleicht ein Spur. Irgendein Alter oder eine Alte… die mit der Behandlung unzufrieden sind. In den letzten Lebensjahren brechen sich gewöhnlich latente magische Fähigkeiten Bahn…«
»Das wird überprüft«, erwiderte Olga.»Bislang hat sich da nichts ergeben.«
War ja auch zu schön gewesen. Es war dumm, sich in Mutmaßungen zu ergehen; einen halben Tag lang hatten sich Leute mit der Frau befasst, die klüger waren als ich.
»Was noch?«
»Blutgruppe A. Keine ernsthaften Erkrankungen, mitunter leichte Herzschmerzen. Erster sexueller Kontakt mit siebzehn, mit einem Altersgenossen, aus Neugier. Viermonatige Ehe, seit zwei Jahren geschieden, freundschaftliche Beziehungen zum Ex-Mann. Keine Kinder.«
»Fähigkeiten des Mannes?«
»Gar keine. Desgleichen bei seiner neuen Frau. Sie
wurden zuerst überprüft.«
»Feinde?«
»Zwei neidische Kolleginnen. Zwei abgewiesene Verehrer, ebenfalls Kollegen. Ein Schulkamerad hat vor einem halben Jahr versucht, eine gefälschte Krankschreibung zu bekommen.«
»Und?«
»Sie hat da nicht mitgemacht.«
»Alle Achtung. Wie sieht es bei denen mit der Magie aus?«
»Praktisch nicht vorhanden. Der Neid bewegt sich im üblichen Bereich. Bei allen sind die magischen Fähigkeiten nur schwach ausgeprägt. Für einen solchen Wirbel würden sie nicht reichen.«
»Sind Patienten gestorben? In letzter Zeit?«
»Nein.«
»Woher kommt dann dieser Fluch?«, stellte ich die rhetorische Frage. Jetzt wunderte mich gar nicht mehr, warum die Wache in eine Sackgasse geraten war. Swetlana musste ein Unschuldslamm sein. Fünf Feinde in fünfundzwanzig Jahren - Hut ab.
Olga hüllte sich in Schweigen.
»Wir sollten gehen«, sagte ich. Ich drehte mich zum Fenster zurück, wo ich die Silhouetten unserer Leute erkannte. Eine der Wachen winkte mir zu.»Olga, wie ist Ignat vorgegangen?«
»Nach Schema F. Er hat sie auf der Straße angesprochen, hat den schüchternen Intelligenzler gemimt. Dann einen Kaffee in der Bar. Gespräche. Das Objekt hat rasch Sympathie für ihn entwickelt. Ignat hat dann die Bekanntschaft forciert. Hat Sekt und Likör gekauft, und die beiden sind hierher gekommen.«
»Weiter.«
»Der Wirbel fing an zu wachsen.«
»Aus welchem Anlass?«
»Aus keinem. Ignat hat ihr gefallen, ja, sie hat sich sogar stark zu ihm hingezogen gefühlt. Doch in dem Moment wuchs der Strudel an, und zwar katastrophal schnell. Ignat hat drei Verhaltensmuster ausprobiert, hat ihr eine unmissverständliche Einladung abgerungen, über Nacht zu bleiben, doch danach fing der Wirbel vehement zu wachsen an. Ignat wurde abberufen. Daraufhin hat sich der Wirbel stabilisiert.«
»Wie hat man ihn abberufen?«
Ich war schon fast erfroren, meine Schuhe fürchterlich durchweicht. Und immer noch war ich nicht bereit zu handeln.
»Die Nummer mit der kranken Mutter. Ein Anruf übers Handy, ein kurzes Telefonat, Entschuldigungen und das Versprechen, morgen anzurufen. Alles sauber, das Objekt hat keinen Verdacht geschöpft.«
»Und daraufhin hat sich der Strudel stabilisiert?«
Olga schwieg, offenbar stand sie gerade mit den Analytikern in Verbindung.
»Er ist sogar ein wenig eingesackt. Drei Zentimeter. Das kann aber ebenso gut der übliche Rückgang sein, der auftritt, wenn der Strudel nicht mehr gespeist wird.«
Irgendetwas stimmte hier nicht. Auch wenn ich meinen vagen Verdacht nicht formulieren konnte.
»Für welchen Abschnitt ist sie zuständig, Olga?«
»Für den hier. Ihr Haus eingeschlossen. Zu ihr
kommen oft kranke Leute.«
»Gut. Dann geh ich als Patient zu ihr.«
»Brauchst du Hilfe, um ihr eine falsche Erinnerung einzugeben?«
»Das schaff ich.«
»Der Chef ist einverstanden«, sagte Olga nach einer kurzen Pause.»An die Arbeit. Deine Legende: Anton Gorodezki, Programmierer, unverheiratet, seit drei Jahren in Behandlung, Diagnose Magengeschwür, wohnhaft in diesem Haus, Wohnung Nr. 64. Die steht im Moment leer, gegebenenfalls halten wir dir den Rücken frei.«
»Drei Jahre kriege ich nicht hin«, gab ich zu.»Ein Jahr. Höchstens ein Jahr.«
»Gut.«
Ich schaute Olga an, die wiederum mich ansah, mit ihrem starren Vogelblick, in dem gleichwohl etwas von jener schmutzigen aristokratischen Frau lag, die in meiner Küche Kognak getrunken hatte.
»Viel Glück«, wünschte Olga mir.»Sieh zu, dass der Strudel kleiner wird. Wenigstens zehn Meter… Dann versuch ich es.«
Der Vogel flog auf und drang sofort ins Zwielicht ein, verschwand irgendwo in seinen tiefsten Schichten.
Seufzend ging ich zum Hauseingang. Der Rüssel des Wirbels schlenkerte hin und her und versuchte mich zu streifen. Ich streckte ihm die Handflächen entgegen und formte mit ihnen das Xamadi, das Zeichen der Negation.
Der Wirbel erzitterte und wich zurück. Ohne Furcht, so als habe er die Regeln des Spiels begriffen. Wenn das drohende Inferno bereits solche Ausmaße zeigt, muss es intelligent sein, keine dumpfe Zielsuchrakete, sondern eher ein unerbittlicher und erfahrener Kamikaze. Das klingt komisch: ein erfahrener Kamikaze, doch in Bezug auf das Dunkel ist dieser Ausdruck gerechtfertigt. Wenn der Höllenwirbel in die Menschenwelt einbricht, muss er sterben, doch das bedeutet nicht mehr als der Tod einer Wespe in einem riesigen Schwarm.
»Deine Stunde ist noch nicht gekommen«, sagte ich. Das Inferno antwortete natürlich nicht, trotzdem verlangte es mich danach, diese Worte auszusprechen.
Ich ging an dem Stängel vorbei. Der Wirbel schien aus rabenschwarzem Glas gemacht, das eine gummiartige Flexibilität aufwies. Die Außenseite bewegte sich kaum, doch in der Tiefe, wo das dunkle Blau in ein unergründliches Dunkel überging, ließ sich eine wütende Rotation erahnen.
Vielleicht irrte ich mich ja auch. Vielleicht war seine Stunde in ebendiesem Moment gekommen…
Die Haustür hatte noch nicht einmal ein Codeschloss, oder besser gesagt, es gab eins, doch das war aus der Wand gerissen und demoliert. Nicht weiter verwunderlich. Ein kleiner Gruß des Dunkels. Seine kleinen Flecken sah ich mittlerweile gar nicht mehr, die Graffiti und die Abdrücke von Schuhen an den Wänden, die zerschlagenen Lampen und die zugemüllten Fahrstühle. Aber jetzt war ich kurz davor auszurasten.
Nach der Wohnungsnummer brauchte ich nicht zu fragen. Ich spürte das Mädchen - trotz ihrer Ehe konnte sie wohl noch Mädchen genannt werden, das ist ja eher eine Frage des Alters -, wusste, wohin ich gehen musste, sah ihre Wohnung bereits, besser, ich sah sie nicht, sondern nahm sie in ihrer Gesamtheit war.
Das Einzige, was ich nicht wusste, war, wie ich diesen verdammten Strudel beseitigen sollte…
Vor der Wohnungstür blieb ich stehen. Es war eine gewöhnliche Tür, keine aus Stahl, was für eine Wohnung im Hochparterre sehr seltsam ist, vor allem angesichts des herausgerissenen Schlosses am Hauseingang. Ich seufzte auf und klingelte. Elf Uhr. Schon spät, sicher.
Ich hörte Schritte. Keinerlei Schallisolation…
Sieben
Ohne weiteres öffnete sie die Tür.
Keine Fragen, kein Blick durch den Spion, keine vorgelegte Kette. Und das in Moskau! Nachts! Wo sie allein zu Hause war! Der Wirbel hatte die letzten Reste ihrer Vorsicht vertilgt, ebenjener Achtsamkeit, die es der jungen Frau ermöglicht hatte, ein paar Tage durchzuhalten. So sterben sie dann in der Regel auch, die Leute, auf denen ein Fluch lastet…
Äußerlich merkte man Swetlana noch nichts an. Ein leichter Schatten unter den Augen, aber wer vermochte schon zu sagen, was für eine Nacht sie hinter sich hatte. Und wie sie angezogen war: Rock, eine hübsche Bluse, Pumps - als erwarte sie jemanden oder wolle ausgehen.
»Guten Abend, Swetlana«, sagte ich und bemerkte in ihren Augen bereits das Aufflackern des Erkennens. Sicher, vage würde sie sich von gestern her an mich erinnern. Und diesen Moment, in dem ihr schwante, dass wir uns kannten, sie aber noch nicht wusste, woher, musste ich nutzen.
Ich reckte mich im Zwielicht hinein. Vorsichtig, denn der Wirbel hing wie angeklebt über dem Kopf der Frau und konnte jede Sekunde reagieren. Vorsichtig, denn ich wollte sie nicht täuschen.
Nicht einmal zu ihrem Besten.
Das Ganze ist nur beim ersten Mal interessant und komisch. Findest du auch danach noch Gefallen daran, bist du bei der Nachtwache fehl am Platze. Es ist eine Sache, moralische Imperative zu ändern, und zwar immer zugunsten des Guten. Etwas andres ist es, ein Gedächtnis zu manipulieren. Das ist unvermeidlich, muss sein, das ist ein Teil des Vertrags, und allein schon unser Ein- und Auftauchen aus dem Zwielicht zieht bei den Umstehenden eine sekundenkurze Amnesie nach sich.
Doch wenn du erst einmal Vergnügen am Spiel mit einem fremden Gedächtnis findest, dann ist es Zeit für dich zu gehen.
»Guten Abend, Anton.«Ihre Stimme zerfloss ein wenig, als ich sie zwang, sich an etwas zu erinnern, das sie nie erlebt hatte.»Was ist denn mit Ihnen los?«
Mit schiefem Lächeln schlug ich mir gegen den Bauch. In Swetlanas Gedächtnis tobte jetzt ein Orkan. So begabt, ihr ein komplett falsches Gedächtnis einzugeben, bin ich nicht. Doch zum Glück taten es zwei, drei Anspielungen, danach täuschte sie sich selbst. Sie setzte sich mein Bild aus einem alten Bekannten zusammen, dem ich äußerlich ähnelte, einem anderen, noch älteren und flüchtigen Bekannten, der ihr aber sympathisch war, aus zwei Dutzend Patienten meines Alters sowie aus einigen Nachbarn im Haus. Ein leichter Anstoß meinerseits genügte, um diesen Prozess in Gang zu setzen, der Swetlana dann das fertige Bild lieferte. Ein guter Mensch - Neurastheniker -, ist wirklich häufig krank… Manchmal flirtet er ein wenig, aber eben nur ein wenig - er ist nicht sehr selbstsicher. Wohnt im selben Haus, einen Aufgang weiter.
»Haben Sie Schmerzen?«Selbst jetzt schaffte sie es noch, sich zu konzentrieren. Wirklich, eine gute Ärztin. Eine Ärztin aus Berufung.
»Ein bisschen. Hab gestern einen über den Durst getrunken.«Ich war die Reue selbst.
»Anton, ich hatte Sie doch gewarnt… Na, kommen Sie erst mal rein…«
Ich trat ein, schloss die Tür hinter mir - selbst darüber machte sich die Frau keine Gedanken. Während ich die Jacke auszog, sah ich mich rasch um, und zwar sowohl in der gewöhnlichen Welt wie auch im Zwielicht.
Billige Tapeten, ein fadenscheiniger Teppich, alte Stiefel, eine Deckenlampe mit schlichtem durchbrochenem Glasschirm, ein Funktelefon an der Wand, ein billiges Ding aus China. Bescheiden. Sauber. Gewöhnlich. Was bestimmt nicht daran lag, dass die Tätigkeit als Bezirksärztin nicht viel Geld brachte. Eher sehnte sie sich wohl gar nicht nach Behaglichkeit. Schlecht… sehr schlecht.
In der Zwielicht-Welt machte die Wohnung einen etwas besseren Eindruck. Keine ekelhafte Flora, keine Spuren des Dunkels. Abgesehen natürlich von dem schwarzen Strudel. Er dominierte alles… Ich sah ihn in seiner vollen Größe, vom Stängel, der sich über dem Kopf der jungen Frau drehte, bis hin zur Blüte, die in einer Höhe von dreißig Metern thronte.
Ich ging hinter Swetlana her in das einzige Zimmer. Hier war es immerhin etwas gemütlicher. Das Sofa - oder besser: das Eckchen unter einer altmodischen Stehlampe - schimmerte in warmem Orange. Über zwei Wände zogen sich, sieben Reihen hoch, Bücherregale… Klar.
Allmählich fing ich an, sie zu verstehen. Nicht nur als Objekt meiner Arbeit, nicht nur als mögliches Opfer des geheimnisvollen Dunklen Magiers, nicht nur als unfreiwillige Ursache einer Katastrophe, sondern als Menschen. Eine Leseratte, introvertiert und mit Komplexen beladen, voll komischer Ideale und einem kindlichen Glauben an den schönen Prinzen, der sie sucht und unweigerlich finden würde. Die Arbeit als Ärztin, ein paar Freundinnen, ein paar Freunde und sehr, sehr viel Einsamkeit. Gewissenhafte Arbeit wie nach dem Kodex für die Erbauer des Kommunismus, ab und an ein Besuch in einem Café, selten verliebt. Abende, einer wie der andere, verbracht auf dem Sofa, über einem Buch, das Telefon in greifbarer Nähe, in Gesellschaft des seifig-beruhigend brummenden Fernsehers.
Wie viele ihr noch immer seid, ihr Jungen und Mädchen unbestimmten Alters, erzogen von der Generation der Sechziger. Wie viele ihr seid, unglücklich und unfähig zum Glück. Bedauern möchte man euch, helfen. Euch durchs Zwielicht berühren - nur leicht, kaum spürbar. Euch ein wenig Selbstsicherheit geben, einen Funken Optimismus, ein Gramm Willen, ein Körnchen Ironie. Euch helfen, damit ihr anderen helfen könnt.
Doch das darf nicht sein.
Jede Handlung des Guten bedeutet eine Einladung an das Böse, ebenfalls zur Tat zu schreiten. Der Vertrag! Die Wachen! Das Gleichgewicht der Welt!
Leide oder werde wahnsinnig, verletz das Gesetz, misch dich unter die Menge, verteile ungefragt Geschenke, zwinge das Schicksal in eine andere Bahn und schau, hinter welcher Ecke dir einstige Freunde und verlässliche Feinde entgegenkommen, um dich ins Zwielicht zu schicken. Für immer.
»Anton, wie geht es Ihrer Mutter?«
Ach ja. Ich, der Patient Anton Gorodezki, habe eine alte Mutter. Sie leidet an Osteochondrose und einer ganzen Reihe typischer Alterskrankheiten. Und ist ebenfalls bei Swetlana in Behandlung.
»Gut, alles in Ordnung. Mir geht es irgendwie…«
»Legen Sie sich hin.«
Ich zog den Pullover und das Hemd hoch und legte mich aufs Sofa. Swetlana setzte sich neben mich. Mit warmen Fingern fuhr sie mir über den Bauch, um dann meine Leber abzutasten.
»Tut das weh?«
»Nein… jetzt nicht.«
»Wie viel haben Sie getrunken?«
Ich beantwortete die Fragen, indem ich das Gedächtnis des Mädchens nach den Antworten absuchte. Ich brauchte hier nicht den Sterbenden zu mimen. Ja… dumpfe Schmerzen - nicht sehr stark… Nach dem Essen… Jetzt ist es ein bisschen schlimmer…
»Momentan ist das noch eine Gastritis, Anton.«Swetlana nahm ihre Hand weg.»Damit ist nicht zu spaßen, das wissen Sie selbst. Ich stelle Ihnen jetzt ein Rezept aus…«
Sie stand auf, ging zur Tür und nahm an der Garderobe ihre Tasche vom Haken.
Die ganze Zeit über behielt ich den Strudel im Auge. Nichts passierte, mein Kommen hatte den Höllenwirbel zwar nicht wachsen lassen, aber schwächen konnte ich ihn auch nicht.
Anton… Die Stimme drang durchs Zwielicht zu mir, ich erkannte Olga. Anton, der Strudel ist um drei Zentimeter geschrumpft. Du hast irgendwie den richtigen Weg gefunden. Denk darüber nach, Anton.
Den richtigen Weg? Wann? Noch hatte ich doch gar nichts gemacht, lediglich den Anlass für diesen Besuch gefunden!
»Anton, haben Sie noch Omes?«Swetlana hatte sich an den Tisch gesetzt und sah mich an.
»Ja, noch ein paar Kapseln«, meinte ich nickend, während ich mein Hemd wieder zurechtzog.
»Gehen Sie jetzt nach Hause und nehmen Sie eine. Morgen kaufen Sie sich neue. Sie müssen sie zwei Wochen lang vor dem Schlafengehen einnehmen.«
Swetlana gehörte offensichtlich zu den Ärzten, die an Tabletten glauben. Mich störte das nicht, da ich diesen Glauben teilte. Wir, die Anderen, stehen der Wissenschaft mit einem irrationalen Respekt gegenüber, sodass wir selbst in den Fällen, in denen elementare magische Handlungen ausreichen würden, zu Analgin und Antibiotika greifen.
»Swetlana… verzeihen Sie meine Frage.«Verlegen wandte ich den Blick ab.»Haben Sie irgendwelche Probleme?«
»Wie kommen Sie darauf, Anton?«Weder hielt sie im Schreiben inne noch sah sie mich an. Aber sie verkrampfte sich.
»Ich hab so den Eindruck. Ist Ihnen irgendjemand zu nahe getreten?«
Die junge Frau legte den Füller weg und schaute mich neugierig und mit einem Anflug von Sympathie an.
»Nein, Anton. Wie kommen Sie denn darauf? Das muss am Winter liegen. Der dauert schon viel zu lange.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln, und der Höllenstrudel über ihr schlingerte, schwang gierig seinen Rüssel…
»Der Himmel ist grau, die Welt ist grau. Man hat zu nichts Lust… Alles hat seinen Sinn verloren. Ich bin müde, Anton. Doch wenn erst einmal der Frühling kommt, ist das alles vorbei.«
»Sie leiden an Depressionen, Swetlana«, platzte ich heraus, noch ehe mir klar wurde, dass ich diese Diagnose ihrem Gedächtnis entnommen hatte. Doch das bemerkte die Frau nicht.
»Vermutlich. Doch das ist nichts, was bei Sonnenschein nicht wegginge… Vielen Dank für Ihre Anteilnahme, Anton.«
Diesmal kam das Lächeln schon eher von Herzen, auch wenn es immer noch gequält wirkte.
Anton, minus zehn Zentimeter!, drang Olgas Flüstern durchs Zwielicht zu mir. Der Strudel setzt sich! Anton, die Analytiker arbeiten auf Hochtouren, weiter so!
Was hatte ich richtig gemacht?
Diese Frage ist viel schrecklicher als die Frage:»Was habe ich falsch gemacht?«Wenn du einen Fehler machst, musst du dein Verhalten nur von Grund auf ändern. Wenn du dagegen ins Ziel getroffen hast, ohne zu wissen, warum - dann gute Nacht. Für einen schlechten Schützen, der zufällig ins Schwarze getroffen hat, ist es nicht leicht, sich daran zu erinnern, wie er die Arme gehalten und die Augen zusammengekniffen hat, wie er den Finger angespannt und den Schuss abgefeuert hat - ohne dabei zuzugeben, dass die Kugel von einer Bö des liederlichen Windes ins Ziel getragen wurde.
Ich erwischte mich dabei, wie ich dasaß und Swetlana ansah. Schweigend und ernst erwiderte sie meinen Blick.
»Verzeihen Sie«, sagte ich.»Um Gottes willen, Swetlana, verzeihen Sie. Ich überfalle Sie hier spätabends, mische mich in Sachen ein, die mich nichts angehen…«
»Schon gut. Ich bin sogar ganz froh darüber, Anton. Möchten Sie vielleicht einen Tee?«
Minus zwanzig Zentimeter, Anton! Sag ja!
Selbst diese Zentimeter, um die der irrsinnige Höllenwirbel schrumpfte, bedeuteten ein Geschenk des Schicksals. Das waren Menschenleben. Dutzende, womöglich sogar Hunderte von Leben, der drohenden Katastrophe entrissen. Mir war nicht klar, wie ich das machte, doch ich erhöhte Swetlanas Widerstandskraft gegen das Inferno. Und der Strudel schmolz langsam dahin.
»Danke, Swetlana. Gern.«
Die Frau stand auf und ging in die Küche. Ich folgte ihr. Was ging hier vor?
Anton, wir haben eine vorläufige Analyse…
Im Fenster - die Vorhänge waren bereits zugezogen - meinte ich eine weiße Vogelsilhouette schimmern zu sehen, die über die Wand huschte und Swetlana beobachtete.
Ignat hat sich an das allgemeine Schema gehalten. Komplimente, Interesse, Verehrung, Flirten. Das hat ihr gefallen, aber zu einem Anwachsen des Strudels geführt. Du dagegen, Anton, hast einen anderen Weg gewählt: das Mitgefühl. Noch dazu ein passives Mitgefühl.
Empfehlungen blieben aus, was bedeutete, dass die Analytiker noch keine Schlussfolgerungen gezogen hatten. Immerhin wusste ich jetzt aber, wie ich weiter vorgehen musste. Mit traurigem Blick und mitleidigem Lächeln würde ich meinen Tee trinken und sagen:»Du hast ganz müde Augen, Sweta.«
Wir würden doch zum Du übergehen, oder? Bestimmt. Ohne Zweifel.
»Anton?«
Mein Blick hatte etwas zu lange auf ihr geruht. Swet-lana erstarrte am Herd, auf dem der schwere, im Küchendunst matt gewordene Kessel stand. Nicht, weil sie Angst empfand, denn dieses Gefühl war ihr bereits fremd, da der schwarze Strudel es schon bis zur Neige ausgetrunken hatte. Eher wirkte sie verlegen.
»Stimmt etwas nicht?«
»Ja. Mir ist das peinlich, Swetlana. Ich tauche mitten in der Nacht auf, Jammer Ihnen die Ohren voll und bleibe auch noch zum Tee…«
»Aber ich habe Sie doch gebeten zu bleiben, Anton. Wissen Sie, ich hatte heute einen seltsamen Tag, da will ich nicht allein… Sagen wir, Sie bezahlen mich so für die Untersuchung, ja? Indem Sie hier bei mir sitzen und sich mit mir unterhalten«, präzisierte Swetlana rasch.
Ich nickte. Jedes Wort hätte ein Fehler sein können.
Der Strudel ist um weitere fünfzehn Zentimeter kleiner geworden, Anton, du hast die richtige Taktik gewählt!
Überhaupt nichts hatte ich gewählt, das sollten diese dämlichen Analytiker endlich begreifen! Ich hatte die Fähigkeiten eines Anderen genutzt, um in ein fremdes Haus einzudringen, in ein fremdes Bewusstsein zu kriechen und so meinen Besuch auszudehnen - und jetzt ließ ich mich einfach im Strom treiben.
In der Hoffnung, dass mich der Fluss dahin brachte, wohin ich musste.
»Wollen Sie Marmelade, Anton?«
»Ja…«
Was für eine aberwitzige Teegesellschaft. Carroll war nichts dagegen! Die aberwitzigsten Teegesellschaften werden nicht in einer Kaninchenhöhle gegeben, an einem Tisch mit einem verrückten Hutmacher, einer Haselmaus und einem Schnapphasen. Eine kleine Küche in einer kleinen Wohnung, Teesud vom Morgen, mit heißem Wasser aufgegossen, Himbeermarmelade aus einem Dreiliterglas - das ist die Bühne, auf der verkannte Schauspieler eine wahrhaft verrückte Teegesellschaft zum Besten geben. Hier - und nur hier - werden Worte gesprochen, die sonst niemals gesagt werden könnten. Hier werden mit der Geste eines Zauberkünstlers kleine gemeine Geheimnisse ans Licht gebracht, werden die Familienskeletts aus dem Büffet geholt, findet sich in der Zuckerdose eine Hand voll Zyankali. Und niemals ergibt sich die Gelegenheit aufzustehen und zu gehen, denn immer wieder wird dir rechtzeitig Tee eingegossen, Marmelade dazu angeboten und die offene Zuckerdose vor dich geschoben.
»Anton, ich kenne Sie jetzt schon seit einem Jahr…«
Ein Schatten, ein flüchtiger Schatten der Verwirrung in den Augen der Frau. Das Gehirn füllt gehorsam die
Lücken, hält eine Erklärung parat, warum ich, ein sympathischer und netter Mann, nur ihr Patient geblieben bin.
»Bisher zwar nur durch meine Arbeit, aber jetzt… Aus irgendeinem Grund habe ich das Bedürfnis, mit Ihnen zu reden… wie mit einem Nachbarn. Wie mit einem Freund. Ist das in Ordnung?«
»Natürlich, Sweta.«
Ein dankbares Lächeln. Die Koseform für meinen Namen kommt einem nicht so schnell über die Lippen -»Antoschka«wäre schon das nächste Stadium, ein zu großer Schritt.
»Danke, Anton. Weißt du - irgendwie bin ich wirklich nicht mehr ich selbst. Das geht jetzt schon drei Tage so.«
Natürlich. Wie soll man noch man selbst sein, wenn über einem das Schwert der Nemesis hängt. Der blinden, wütenden, der Macht der toten Götter entglittenen Nemesis.
»Heute zum Beispiel… Aber lassen wir das…«
Sie wollte mir von Ignat erzählen. Denn sie verstand nicht, was mit ihr geschah, warum sie beinah mit einer Zufallsbekanntschaft ins Bett gegangen wäre. Sie glaubte, den Verstand zu verlieren. Das geht allen Menschen so, die es mit Anderen zu tun bekommen.
»Swetlana, haben Sie… hast du dich vielleicht mit jemandem gestritten?«
Ein grobes Vorgehen. Aber ich musste mich beeilen, musste mich einfach beeilen, auch wenn ich selbst nicht wusste, warum. Der Wirbel hatte sich stabilisiert und zeigte sogar eine Tendenz zur Abnahme. Trotzdem musste ich mich beeilen.
»Wie kommst du darauf?«
Swetlana wunderte sich nicht und hielt die Frage nicht für zu persönlich. Ich zuckte mit den Schultern und suchte nach einer Erklärung.
»So was habe ich öfter.«
»Nein, Anton. Ich habe mich mit niemandem gestritten. Ich wüsste gar nicht, mit wem und worüber. Es ist etwas in mir selbst…«
Da irrst du dich, Mädel. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie sehr du dich da irrst. Über dir hängt ein schwarzer Strudel von solchen Ausmaßen, wie er alle hundert Jahre nur einmal vorkommt. Und das heißt, dass jemand dich mit einer Kraft hasst, wie sie nur selten bei einem Menschen auftritt. Oder bei einem Anderen.
»Vielleicht solltest du einmal ausspannen«, brachte ich vor.»Irgendwohin fahren… in irgendein Nest…«
Noch während ich sprach, ging mir plötzlich auf, dass es eine Lösung für das Problem gab. Zwar eine unzureichende, eine, die für Swetlana selbst immer noch den Tod bedeuten würde. Irgendein Nest. Die Taiga, Tundra, der Nordpol. Dann würde der Vulkan dort ausbrechen, der Asteroid dort niedergehen, der Marschflugkörper mit dem Nuklearsprengkopf dort einschlagen. Das Inferno würde sich nicht verhindern lassen, aber nur Swetlana würde darunter leiden.
Bloß gut, dass eine solche Lösung für uns ebenso wenig in Frage kommt wie der vom Dunklen Magier vorgeschlagene Mord.
»Woran denkst du, Anton?«
»Sweta, etwas bedrückt dich doch?«
Anton, das ist zu heftig. Such ein anderes Thema, Anton!
»Merkt man das etwa?«
»Ja.«
Swetlana senkte den Blick. Ich machte mich schon auf Olgas Geschrei gefasst, dass der schwarze Wirbel zu seinem letzten, katastrophalen Wachstumsschub ansetze, dass ich alles verdorben, alles kaputtgemacht hätte und von nun an das Leben von Tausenden von Menschen auf meinem Gewissen laste. Doch Olga schwieg.
»Ich bin eine Verräterin.«
»Was?«
»Ich habe meine Mutter verraten.«
Sie sah ernst aus, ohne jenen widerlichen Anstrich eines Menschen, der eine Schweinerei begangen hat und sich auch noch damit brüstet.
»Das verstehe ich nicht, Sweta…«
»Meine Mutter ist krank, Anton. Die Nieren. Sie muss regelmäßig zur Dialyse… aber das ist nichts Halbes, nichts Ganzes. Deshalb… hat man mir vorgeschlagen… eine Transplantation zu machen.«
»Warum dir?«Ich verstand sie immer noch nicht.
»Man hat mir vorgeschlagen, eine Niere zu spenden. Meiner Mutter. Vermutlich würde die Niere angenommen, ich habe mich sogar schon untersuchen lassen… Doch ich habe mich geweigert. Ich… Ich habe Angst.«
Ich schwieg. Jetzt lagen die Karten auf dem Tisch. Irgendetwas hatte funktioniert, irgendwie gab es in mir etwas, das Swetlana veranlasste, mir gegenüber völlig offen zu sein. Ihre Mutter.
Eine Mutter!
Anton, du bist fabelhaft. Unsere Leute sind schon unterwegs. Olgas Stimme jubilierte. Wie auch nicht - wir hatten die Dunkle Magierin gefunden! Komisch… Beim ersten Kontakt hat niemand etwas gespürt, alle hielten sie für eine taube Nuss… Fabelhaft. Beruhige sie, Anton, rede mit ihr, tröste sie…
Im Zwielicht kann man die Ohren nicht verschließen. Du hörst alles, was man dir sagt.
»Swetlana, niemand hat das Recht, so etwas von dir zu verlangen…«
»Nein. Natürlich nicht. Ich habe meiner Mutter davon erzählt… und sie hat mir befohlen, das Ganze zu vergessen. Sie hat gesagt, dass sie sich etwas antun würde, wenn ich mich dazu entschlösse. Dass sie… sowieso sterben würde. Da brauchte ich mich nicht verstümmeln lassen. Gar nichts hätte ich sagen sollen. Sondern ihr einfach meine Niere spenden. Später, nach der Operation, hätte sie ja alles erfahren können.
Mit einer Niere hätte ich sogar noch Kinder kriegen können…
Solche Fälle gab es bereits.«
Die Nieren. Wie lächerlich! Was für eine Kleinigkeit! Eine Stunde Arbeit für einen echten weißen Magier. Doch wir dürfen nicht behandeln, für jede echte Heilung wird einem Dunklen Magier ein Fluch, ein böser Blick vergeben. Und dann die Mutter, die eigene Mutter, die unwissend, den Bruchteil einer Sekunde von ihren Gefühlen mitgerissen, laut das eine sagt, die ihrer Tochter sogar verbietet, an eine Operation auch nur zu denken - und sie innerlich verflucht.
Und der monströse schwarze Wirbel schwillt an.
»Ich weiß schon nicht mehr, was ich mache, Anton. Ich stelle lauter Unsinn an. Heute wäre ich beinah mit einem Unbekannten ins Bett gesprungen.«Swetlana hatte sich also dazu durchgerungen, auch das zu erwähnen, obwohl es sie vermutlich genauso viel Überwindung kostete, wie von ihrer Mutter zu erzählen.
»Sweta, uns wird schon etwas einfallen«, begann ich.»Das Wichtigste ist jetzt, nicht die Segel zu streichen und sich unnütz selbst zu bestrafen…«
»Aber ich habe ihr mit Absicht davon erzählt, Anton! Ich wusste, wie sie reagieren würde! Ich wollte, dass sie es mir verbietet! Sie müsste mich verfluchen, mich verdammte Idiotin!«
Swetlana, du hast ja keine Ahnung, wie sehr du Recht hast… Niemand weiß, welche Mechanismen hier wirken, was im Zwielicht passiert und welchen Unterschied es zwischen dem Fluch eines unbekannten Menschen und dem Fluch eines geliebten Menschen, eines Sohns, einer Mutter gibt. Doch schlimmer als der Flucht einer Mutter ist nichts.
Ganz ruhig, Anton.
Olgas Stimme brachte mich unverzüglich zur Besinnung.
Das ist zu einfach, Anton. Hast du es schon einmal mit dem Fluch einer Mutter zu tun gehabt?
»Nein«, sagte ich. Indem ich es laut aussprach, antwortete ich sowohl Sweta wie auch Olga.
»Ich bin selber schuld.«Swetlana schüttelte den Kopf.»Vielen Dank, Anton, aber daran bin ich wirklich selber schuld.«
Ich hatte schon damit zu tun, klang es aus dem Zwielicht. Anton, mein Lieber, so was sieht anders aus! Der Zorn einer Mutter - das ist ein greller schwarzer Blitz und ein großer Strudel. Doch er löst sich im Handumdrehen auf. Fast immer.
Vielleicht. Ich würde keinen Streit anfangen. Olga ist die Expertin für Flüche und hat schon einiges gesehen. Sicher, dem eigenen Kind wünscht man nichts Böses - zumindest nicht auf lange Sicht. Doch es gibt auch Ausnahmen.
Ausnahmen kommen vor, pflichtete Olga mir bei. Ihre Mutter wird jetzt gründlich überprüft. Aber… ich würde nicht auf einen raschen Erfolg hoffen.
»Swetlana«, sagte ich.»Gibt es nicht noch andere Möglichkeiten? Gibt es keine andere Behandlung für deine Mutter? Etwas anderes als eine Transplantation?«
»Nein. Ich bin Ärztin, ich weiß das. Die Medizin ist nicht allmächtig.«
»Muss es denn unbedingt die Medizin sein?«
Sie stutzte.»Was meinst du damit, Anton?«
»Die nicht-klassische Medizin«, sagte ich.»Volksmedizin.«
»Anton…«
»Ich weiß schon, Swetlana, es ist schwer, daran zu glauben«, unterbrach ich sie rasch.»Es gibt jede Menge Scharlatane, Hochstapler und psychisch kranke Menschen. Aber es ist doch nicht alles Lüge, oder?«
»Anton, zeig mir einen Menschen, der jemanden von einer wirklich schweren Krankheit geheilt hat.«Swetlana bedachte mich mit einem ironischen Blick.»Aber nicht von ihm erzählen, sondern ihn mir zeigen! Diesen Menschen und seine Patienten, am besten vor und
nach der Behandlung. Dann glaube ich dir, dann glaube ich an alles. An übersinnliche Fähigkeiten, Heiler und Meister der weißen und schwarzen Magie…«
Unwillkürlich erschauerte ich. Über der Frau hing der prachtvollste Beweis für die Existenz der»schwarzen«Magie, ein Beweis, geradezu lehrbuchreif.
»Ich kann dir einen zeigen«, sagte ich. Mir fiel ein, wie man Danila einmal ins Büro geschleppt hatte. Nach einem gewöhnlichen Zusammenstoß, wie er zwar nicht jeden Tag vorkommt, der aber auch nicht besonders schlimm war. Er hatte einfach Pech gehabt. Sie wollten eine Familie von Tiermenschen festnehmen, wegen irgendeiner geringfügigen Verletzung des Vertrags. Die Tiermenschen hätten sich nur zu ergeben brauchen, und das Ganze hätte mit einer kleinen Untersuchung der Wachen sein Bewenden gehabt.
Die Tiermenschen wollten lieber Widerstand leisten. Gewiss zogen sie eine Spur nach sich - eine Blutspur, von der die Nachtwache bislang nichts wusste und nun auch nie erfahren würde. Danila ging als Erster - und ihn zerfetzten sie nach allen Regeln der Kunst. Die linke Lunge, das Herz, eine tiefe Wunde in der Leber, eine Niere rissen sie ihm ganz heraus.
Zusammengeflickt wurde Danila vom Chef, wobei fast die gesamte Wache assistierte, alle, die in dem Moment noch dazu in der Lage waren. Ich stand im dritten Kreis, unsere Aufgabe war weniger die, den Chef mit Energie zu versorgen, als vielmehr, Einflüsse von außen abzuwehren. Trotzdem linste ich ab und an zu Danila hinüber. Immer wieder tauchte er ins Zwielicht ab, mal allein, mal zusammen mit dem Chef. Bei jedem Auftauchen in der Realität sahen die Wunden besser aus. Das Ganze erwies sich als nicht sehr kompliziert, dafür aber höchst effektiv, denn die Verletzungen waren noch frisch und nicht vom Schicksal vorbestimmt. Dass der Chef Swetlanas Mutter heilen könnte, bezweifelte ich nicht im Geringsten. Selbst wenn ihr Schicksal in naher Zukunft abreißen, wenn sie bald sterben sollte. Heilen konnte er sie. Der Tod würde dann aus anderen Gründen eintreten…
»Anton, hast du keine Angst, so was zu sagen?«
Ich zuckte mit den Schultern. Swetlana seufzte.
»Jemandem Hoffnung zu schenken ist eine Frage der Verantwortung. Ich glaube nicht an Wunder, Anton. Doch jetzt bin ich bereit, an eins zu glauben. Hast du davor keine Angst?«
Ich sah ihr in die Augen.»Nein, Swetlana. Ich habe vor vielen Dingen Angst. Aber vor anderen.«
Anton, ein Rückgang des Strudels um zwanzig Zentimeter. Anton, der Chef lässt dir ausrichten, dass du einfach fabelhaft bist.
Etwas in ihrem Ton gefiel mir nicht. Ein Gespräch durchs Zwielicht hindurch lässt sich zwar nicht mit einer normalen Unterhaltung vergleichen, trotzdem bekommt man Gefühle mit.
Was ist passiert?, fragte ich durch den toten grauen Schleier.
Arbeite weiter, Anton.
Was ist passiert?
»Wenn ich mir nur meiner Sache so sicher wäre«, meinte Swetlana. Sie sah zum Fenster.»Hast du das gehört? So ein Rascheln…«
»Der Wind«, vermutete ich.»Oder jemand ist vorbeigegangen.«
Antworte, Olga!
Mit dem Strudel ist alles in Ordnung, Anton. Nimmt langsam ab. Irgendwie stärkst du ihren inneren Widerstand. Nach unseren Berechnungen müsste der Strudel gegen Morgen so weit geschrumpft sein, dass er keine Gefahr mehr darstellt. Dann kann ich ans Werk gehen.
Wo liegt dann das Problem? Ich spüre doch, Olga, dass da eins ist!
Sie schwieg.
Olga, sind wir Partner?
Das half. Im Moment sah ich die weiße Eule zwar nicht, wusste aber, dass ihre Augen blitzten und sie kurz auf das Fenster der Kommandozentrale blickte. Ins Gesicht des Chefs und des Beobachters der Dunklen.
Es gibt ein Problem mit dem Jungen, Anton.
Mit Jegor?
»Anton, woran denkst du?«, fragte Swetlana. Es ist schwierig, gleichzeitig mit der realen und der Zwielicht-Welt Kontakt zu halten.
»Daran, dass es sehr schön wäre, sich teilen zu können.«
Anton, du hast eine weitaus wichtigere Mission.
Sprich, Olga.
»Das verstehe ich nicht, Anton.«Das war wieder Swetlana.
»Weißt du, mir ist klar geworden, dass ein Bekannter von mir Schwierigkeiten hat. Große Schwierigkeiten.«Ich sah ihr in die Augen.
Die Vampirin. Sie hat den Jungen in ihrer Gewalt.
Ich empfand nichts. Keine Gefühle, kein Bedauern, keinen Zorn, keine Trauer. Bloß, dass sich in meinem Innern Kälte und Leere ausbreiteten.
Vermutlich hatte ich das erwartet. Warum, wusste ich nicht, aber ich hatte es erwartet.
Aber Bär und Tigerjunges sind bei ihm!
Es hat sich so ergeben.
Was ist mit ihm?
Wenn er bloß nicht initiiert ist! Tot, ja, besser er ist bloß tot. Denn der ewige Tod ist schlimmer.
Er lebt. Sie hat ihn als Geisel genommen.
Was?
Das hatte es noch nicht gegeben. Das war einfach noch nie vorgekommen. Geiseln - solche Spielchen spielen Menschen.
Die Vampirin fordert Verhandlungen. Sie will einen Prozess… Sie hofft darauf ungeschoren davonzukommen.
In Gedanken gab ich der Vampirin eine Eins plus für ihre rasche Auffassungsgabe. Sie hatte keine Chancen zu entkommen, hatte sie nie gehabt. Aber alle Schuld auf den bereits getöteten Freund abzuschieben, der sie initiiert hatte…»Ich hab ja von nichts gewusst, hatte keinen blassen Schimmer. Jemand hat mich gebissen. So bin ich die geworden, die ich jetzt bin. Ohne die Regeln zu kennen. Ohne den Vertrag gelesen zu haben. Ich werde eine normale, gesetzestreue Vampirin sein…«
Und ausgeschlossen war diese Entwicklung in der Tat nicht! Vor allem, wenn die Nachtwache sich auf irgendeinen Kompromiss einließe. Und das tun wir immer - wir haben gar keine andere Wahl, denn jedes Menschenleben muss geschützt werden.
Erleichtert sackte ich förmlich in mich zusammen. Aber was bedeutete mir dieser Bursche eigentlich? Wenn das Los auf ihn fiel, würde er zur gesetzmäßigen Beute von Vampiren und Tiermenschen werden. So ist das Leben. Und ich würde an ihm vorbeigehen. Selbst wenn das Los nicht auf ihn fiel - wie oft gelang es der Nachtwache nicht einzugreifen, wie viele Menschen starben durch die Dunklen… Doch seltsam: Ich hatte mich schon in den Kampf um ihn eingemischt, für ihn Partei ergriffen, war ins Zwielicht getreten und hatte Blut vergossen. Und jetzt war er mir nicht mehr egal. Überhaupt nicht…
Ein Gespräch im Zwielicht läuft viel schneller ab als eine Unterhaltung in der Menschenwelt. Dennoch musste ich mich zwischen Olga und Swetlana zerreißen.
»Anton, zerbrich dir nicht den Kopf über meine Probleme.«
Trotz allem hätte ich am liebsten laut losgelacht. Über ihre Probleme zerbrachen sich gerade Hunderte von Leuten den Kopf, auch wenn Swetlana sich das nie im Leben hätte vorstellen können. Doch man brauchte bloß die Probleme anderer zu erwähnen - die sich vor dem schwarzen Höllenstrudel natürlich geradezu winzig ausnahmen -, und schon lud die junge Frau sie sich auf.
»Weißt du, es gibt ein Gesetz«, setzte ich an.»Das Gesetz der Zufallspaare. Du hast Schwierigkeiten, doch von denen spreche ich nicht. Ein anderer Mensch hat auch gewaltige Probleme. Persönliche Probleme,
aber das macht es nicht leichter.«
Sie verstand. Und verlor nicht die Fassung - was mir gefiel.
»Meine Probleme sind auch persönlich«, präzisierte sie lediglich.
»Nicht ganz«, sagte ich.»Scheint mir.«
»Und dieser Mensch - kannst du ihm helfen?«
»Ihm helfen andere«, sagte ich.
»Bist du sicher? Danke, dass du mir zugehört hast, aber mir kann sowieso niemand helfen. Das Schicksal ist so idiotisch.«
Schmeißt sie mich raus?, fragte ich durchs Zwielicht. Ich wollte jetzt ihr Bewusstsein nicht berühren.
Nein, erwiderte Olga. Nein… Sie spürt es, Anton.
Sollte sie etwa die Fähigkeiten einer Anderen haben? Oder blitzte da, ausgelöst von dem drohenden Inferno, nur zufällig etwas auf?
Was spürt sie?
Dass du woanders gebraucht wirst.
Warum gerade ich?
Diese wahnsinnige, Blut saugende Bestie… sie will nur mit dir verhandeln. Mit demjenigen, der ihren Partner ermordet hat.
Jetzt wurde mir richtig schlecht. Bei uns bot man einen fakultativen Kurs zu Antiterrormaßnahmen an, vor allem deshalb, damit wir nicht auf unsere Fähigkeiten als Andere zurückgriffen, wenn wir in menschliche Auseinandersetzungen hineingerieten; für unsere Arbeit wäre das eigentlich nicht nötig. Wir hatten die Psychologie von Terroristen durchgenommen, und in diesem Rahmen handelte die Vampirin völlig logisch.
Ich war der erste Mitarbeiter der Wache gewesen, dem sie begegnet war. Ich hatte ihren Mentor getötet und sie selbst verwundet. Für sie verkörperte sich in meiner Person das Feindbild schlechthin.
Fordert sie das schon lange?
Seit etwa zehn Minuten.
Ich sah Swetlana in die Augen. Trockene Augen, ruhig, ohne Tränen. Nie ist es so schwer wie dann, wenn sich der Schmerz hinter einer ruhigen Miene verbirgt.
»Sweta, und wenn ich jetzt gehe?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Alles ist so dumm…«, sagte ich.»Ich glaube, du brauchst jetzt Hilfe. Zumindest jemanden, der dir zuhört. Oder hier mit dir zusammensitzt und kalt gewordenen Tee trinkt.«
Ein schwaches Lächeln und ein kaum wahrnehmbares Nicken.
»Aber du hast Recht… Noch ein Mensch braucht Hilfe.«
»Du bist seltsam, Anton.«
Ich schüttelte den Kopf.»Nicht seltsam. Sehr seltsam.«
»Ich habe den Eindruck… als ob ich dich schon seit langem kenne, dich aber zum ersten Mal sehe. Und als ob du zugleich mit mir und mit noch jemand anderem sprichst.«
»Ja«, sagte sich.»So ist es.«
»Werde ich vielleicht wahnsinnig?«
»Nein.«
»Anton… Du bist doch nicht zufällig zu mir gekom-
men.«
Ich antwortete nicht. Olga flüsterte etwas und verstummte. Langsam drehte sich über Swetlanas Kopf der riesige Wirbel.
»Nein«, sagte ich.»Sondern um zu helfen.«
Wenn der Dunkle Magier, der sie mit dem Fluch belegt hat, uns beobachtet… Wenn das alles doch kein Zufall ist, kein»Fluch einer Mutter«, sondern ein zielgerichteter professioneller Schlag…
Diese Wolke des Dunkels über Swetlanas Kopf bedurfte nur eines weiteren Tropfens Hass. Es würde genügen, ihren Lebenswillen um ein Geringes zu vermindern. Dann käme es zum Durchbruch. Im Zentrum von Moskau würde ein Vulkan ausbrechen, bei einem Kampfsatelliten die Elektronik durchdrehen, ein Grippevirus mutieren…
Schweigend sahen wir einander an.
Ich hatte den Eindruck, dass ich kurz davor war zu durchschauen, was hier in Wahrheit vor sich ging. Des Rätsels Lösung war zum Greifen nah, und alle unsere Versionen waren dumm und banal, all die alten Regeln und Muster, von denen wir uns leiten ließen, auch wenn der Chef gebeten hatte, sie über Bord zu schmeißen. Doch dann musste man nachdenken, musste sich, wenn auch nur für eine Sekunde, von den Geschehnissen losreißen, die nackte Wand anstarren oder den idiotischen Fernseher, sich nicht von dem Wunsch zerreißen lassen, einem einzelnen kleinen Menschen zu helfen und Zehntausenden, Hunderttausenden von Menschen dafür nicht. Dann durfte man sich nicht in jenem Morast bewegen, den diese perfide Wahl darstellt - die bei jeder Entscheidung perfide bliebe, mit dem einzigen Unterschied, dass ich in einem Fall schnell sterben, mit dem Höllenschlag in die grauen Weiten der Zwielicht-Welt übergehen würde, im andern langsam und qualvoll, während in meinem Herzen das matte Feuer der Selbstverachtung auflodert.
»Sweta, ich muss gehen«, sagte ich.
Anton! Das war nicht Olga, sondern der Chef. Anton…
Er stockte. Befehle konnte er mir nicht erteilen, denn die Situation war in eine ethische Sackgasse geraten. Offenbar bestand die Vampirin auf ihrer Forderung und wollte mit niemandem sonst verhandeln. Wenn der Chef mir befahl zu bleiben, brachte er den Jungen um - das konnte er mir nicht befehlen. Selbst darum bitten konnte er nicht.
Wir organisieren deinen Abgang…
Teilt der Blutsaugerin lieber mit, dass ich komme.
Swetlana streckte den Arm aus und berührte zart meine Hand.»Kommst du wieder?«
»Morgen«, sagte ich.
»Das will ich nicht«, sagte die Frau schlicht.
»Ich weiß.«
»Wer bist du?«
Eine Schnelleinführung in die Geheimnisse des Universums? Klappe, die nächste?
»Ich sag’s dir morgen. Abgemacht?«
Du hast den Verstand verloren, ließ sich die Stimme des Chefs vernehmen.
»Musst du wirklich gehen?«
Sag das bloß nicht!, schrie Olga. Sie konnte meine Gedanken spüren.
»Sweta«, fing ich dennoch an,»als man dir vorgeschlagen hat, dich zu verstümmeln, um das Leben deiner Mutter zu retten, und du abgelehnt hast… Das war doch richtig und vernünftig, oder? Doch jetzt geht es dir schlecht. So schlecht, dass du dir wünschst, lieber unvernünftig gehandelt zu haben.«
»Wenn du jetzt nicht gehst, fühlst du dich dann schlecht?«
»Ja.«
»Dann geh. Aber komm wieder, Anton.«
Ich erhob mich vom Tisch und ließ den kalt gewordenen Tee stehen. Der Höllenwirbel schlingerte über uns.
»Ganz bestimmt«, sagte ich.»Und… glaub mir, noch ist nicht alles verloren.«
Danach wechselten wir kein Wort mehr miteinander. Ich ging hinaus, die paar Stufen hinunter. Swetlana schloss die Tür hinter mir. Diese Stille - eine tödliche Stille, selbst die Hunde waren in dieser Nacht zum Winseln zu müde.
Unvernünftig. Ich handle völlig unvernünftig. Wenn es ethisch keinen überzeugenden Ausweg gibt, dann muss man unvernünftig handeln. Hatte mir das jemand gesagt? Oder erinnerte ich mich an eine Zeile aus meinen alten Unterrichtsaufzeichnungen, einen Satz aus einer Vorlesung? Oder suchte ich nach einer Rechtfertigung?
Der Strudel… flüsterte Olga. Die Stimme war kaum wiederzuerkennen, tonlos. Ich hätte gern den Kopf eingezogen.
Ich stieß die Haustür auf und stürzte auf den über-frorenen Gehweg hinaus. Die weiße Eule kreiste wie ein Federknäuel über meinem Kopf.
Der Höllenwirbel hatte sich verkleinert, war geschrumpft. In Anbetracht seiner Gesamtgröße zwar nur ein bisschen, doch immerhin genug, um es mit bloßem Auge zu erkennen, anderthalb, zwei Meter.
Wusstest du, dass es so kommen würde?, fragte der Chef.
Kopfschüttelnd blickte ich auf den Wirbel. Was ging hier vor? Warum war der Strudel angewachsen, als Ignat auftauchte, ein Spezialist, wenn es darum ging, Menschen in eine milde Gemütsverfassung zu versetzen? Und warum ließ mein verworrenes Gerede und mein überstürzter Abgang den Wirbel schrumpfen?
Die Gruppe der Analytiker soll einen Zahn zulegen, sagte der Chef. Mir war klar, dass sich das an alle richtete, nicht mehr nur an mich. Wann können wir mit einer Arbeitsversion zu den Ereignissen rechnen?
Das Auto tauchte vom Seljony-Prospekt auf, hüllte mich in das Licht der Scheinwerfer, quietschte mit den Reifen, polterte über die Löcher des aufgerissenen Asphalts hinweg und hielt vorm Haus. Das flach liegende, dunkel orangefarbene Sportcabriolet wirkte absurd zwischen all den trostlosen hohen Plattenbauten Moskaus, wo das beste Verkehrsmittel nach wie vor der Jeep ist.
Semjon lehnte sich vom Fahrersitz aus hinaus.»Steig ein«, forderte er mich auf.»Wir sollen dich schnellstmöglich abliefern.«
Ich sah in Olgas Richtung, die den Blick spürte.
Meine Aufgabe ist hier. Fahr los.
Ich ging um den Wagen herum und stieg vorn ein. Hinten lümmelte sich Ilja, offenbar glaubte der Chef, Bär und Tigerjunges Verstärkung schicken zu müssen.
Anton, erreichte mich durchs Zwielicht Olgas Stimme. Vergiss nicht… dass du heute Schulden gemacht hast. Behalt das im Hinterkopf, jede Sekunde…
Ich verstand nicht sofort, wovon sie sprach. Etwa von der kleinen Hexe aus der Tagwache? Was hatte die denn damit zu tun?
Das Auto schoss los und knallte mit dem Boden an die überfrorenen Betonhöcker der Straße. Semjon fluchte, was das Zeug hielt, und riss das Lenkrand herum, worauf der Wagen unter empörtem Aufheulen des Motors Richtung Prospekt fuhr.
»Welchem Halbidioten habt ihr denn die Karre abgenommen?«, fragte ich.»Bei diesem Wetter…«
»Ts, ts«, kicherte Ilja.»Boris Ignatjewitsch hat dir sein Automobil geliehen.«
»Echt?«, fragte ich und drehte mich um. Zur Arbeit kam der Chef im Dienst-BMW. Diesen Hang zu unpraktischem Luxus hatte ich bislang bei ihm nicht bemerkt.
»Echt. Wie hast du das geschafft, Antoschka?«Ilja machte eine Kopfbewegung zu dem über dem Haus aufragenden Wirbel hin.»Solche Fähigkeiten sind mir bei dir noch gar nicht aufgefallen!«
»Ich habe ihn nicht berührt. Bloß mit der Frau gesprochen.«
»Gesprochen? Oder gevögelt?«
Typisch Ilja, dieses Verhalten legte er immer an den Tag, wenn er nervös war. Und Grund zur Beunruhigung hatten wir im Übermaß. Trotzdem verzog ich das
Gesicht. Vielleicht weil ich irgendeine Impertinenz aus seinen Worten heraushörte, vielleicht weil es mich einfach verletzte.
»Nein. Ilja, bitte nicht in diesem Ton.«
»Entschuldige«, pflichtete er mir ohne weiteres bei.»Was hast du also gemacht?«
»Einfach mit ihr gesprochen.«
Endlich bog der Wagen auf den Prospekt ein.
»Festhalten«, befahl Semjon kurz. Es presste mich in den Sitz. Hinten hantierte Ilja herum, kramte eine Zigarette heraus und zündete sie an.
Binnen zwanzig Sekunden begriff ich, dass die bisherige Fahrt ein gemütlicher Spaziergang gewesen war.
»Semjon, ist die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls ausgeschaltet worden?«, schrie ich. Das Auto schoss durch die Nacht, als versuche es, das Licht seiner Scheinwerfer zu überholen.
»Seit siebzig Jahren sitz ich hinterm Steuer«, blaffte Semjon mich verächtlich an.»Während der Blockade habe ich Laster über die Straße des Lebens nach Leningrad gefahren!«
Obwohl ich an seinen Worten nicht im Geringsten zweifelte, überlegte ich, ob die Fahrten damals nicht weniger gefährlich gewesen waren. Diese Geschwindigkeit gab es längst nicht - und einen Bombeneinschlag vorauszuberechnen, ist für einen Anderen kein Problem. Jetzt begegneten uns zwar nur noch wenige Autos, aber ein paar waren immerhin unterwegs. Die Straße war gelinde gesagt erbärmlich, unser Sportwagen für diese Verhältnisse in keiner Weise gedacht…
»Ilja, was ist überhaupt passiert?«, fragte ich und
versuchte, nicht auf den Laster zu starren, der uns gerade auswich.»Bist du auf dem Laufenden?«
»Mit der Vampirin und diesem Bengel, meinst du?«
»Ja.«
»Wir haben mal wieder unsere Dummheit unter Beweis gestellt, das ist passiert.«Ilja fluchte.»Obwohl auch Dummheit relativ ist… Zunächst lief alles völlig normal. Tigerjunges und Bär haben sich den Eltern des Jungen als weit entfernte, aber geliebte Verwandte vorgestellt.«
»Wir kommen aus dem Ural?«, fragte ich in Erinnerung an den Kurs zum Umgang mit Menschen und zu den Varianten der Kontaktaufnahme.
»Ja. Alles lief gut. Eine große Tafel, genug zu trinken, Spezialitäten aus dem Ural… die aus dem Supermarkt um die Ecke stammten…«
Mir fiel Bärs prall gefüllte Tasche ein.
»Kurzum, sie ließen es sich richtig gut gehen.«In Iljas Stimme schwang weniger Neid mit als vielmehr die uneingeschränkte Billigung des Vorgehens seiner Kollegen.»Es war hell, warm, es war alles in Butter. Der Bengel saß mal mit ihnen zusammen, mal verschwand er in seinem Zimmer… Woher hätten sie wissen sollen, dass er allein ins Zwielicht eintreten konnte?«
Mich überlief es kalt.
In der Tat, woher?
Kein Wort hatte ich gesagt. Weder ihnen noch dem Chef. Niemandem. Hatte den Jungen aus dem Zwielicht gezogen und ihm etwas von meinem Blut geopfert - und es damit genug sein lassen. Ein echter Held. Ein Einzelkämpfer.
Ohne Verdacht zu schöpfen, fuhr Ilja fort:»Die Vampirin hat ihn mit dem Ruf gelockt. Der saß so genau, dass Tigerjunges und Bär nichts mitbekommen haben. Und er war stark - keinen Mucks hat der Junge von sich gegeben. Ist einfach ins Zwielicht eingetreten und aufs Dach geklettert.«
»Wie das?«
»Über die Balkons. Zum Dach sind es bloß drei Stockwerke. Die Vampirin hat da auf ihn gewartet. Da sie mitbekommen hatte, dass der Junge bewacht wird, hat sie ihn sich geschnappt und sich auf der Stelle zu erkennen gegeben. Seine Eltern schlafen momentan tief und fest, während die Vampirin wartet und den Jungen umklammert hält. Tigerjunges und Bär werden fast verrückt.«
Ich schwieg. Es gab nichts zu sagen.
»Unsere eigene Dummheit«, schloss Ilja.»Und ein verhängnisvolles Zusammentreffen bestimmter Umstände. Den Jungen hat schließlich noch niemand initiiert… Wer hätte wissen können, dass er ins Zwielicht eintreten kann?«
»Ich wusste es.«
Vielleicht trieben mich Erinnerungen. Vielleicht meine Angst, hier in diesem Auto, das wie der Blitz über die Straße jagte. Ich spähte ins Zwielicht hinein.
Wie gut es die Menschen haben, dass sie das nicht sehen - niemals! Wie schlecht sie es haben - denn sie vermögen das nicht zu sehen!
Den tiefen grauen Himmel, an dem es keinen Stern gab und niemals einen geben wird, ein Himmel, zäh wie Brei, der in einem dumpfen, fahlen Licht schimmert. Alle Silhouetten verschwimmen, es zerschmelzen die Häuser, an deren Wänden der blaue Moosteppich wächst, die Bäume, deren Zweige im Zwielicht wogten, ohne sich einen Deut um den Wind zu scheren, und die Straßenlaternen, über denen die Zwielicht-Vögel kreisen, fast ohne mit ihren kurzen Flügeln zu schlagen. Autos kommen uns entgegen - langsamer geht es kaum, die Menschen setzen kaum einen Fuß vor den anderen. Alles wie durch einen grauen Lichtfilter gesehen, wie durch Wattepfropfen in den Ohren gehört. Ein stummer Schwarzweißfilm, das Kleinod eines dekadenten Regisseurs. Die Welt, aus der wir unsere Kräfte schöpfen. Die Welt, die unser Leben trinkt. Das Zwielicht. Wie du hineingehst, so kommst du auch wieder heraus. Der graue Dunst knackt die Schale, die dein Leben lang mit dir wächst, zieht jenen Kern aus ihr heraus, den die Menschen die Seele nennen. Prüft ihn. Und wenn du spürst, wie du zwischen den Kiefern des Zwielichts knirschst, wenn du den durchdringenden kalten Wind wahrnimmst, der ätzend ist wie der Geifer einer Schlange… dann wirst du ein Anderer.
Und entscheidest dich, auf wessen Seite du dich stellst.
»Ist der Junge noch im Zwielicht?«, fragte ich.
»Sie sind alle im Zwielicht…«Ilja war mir nachgetaucht.»Anton, warum hast du das bloß nicht gesagt?«
»Ich habe nicht dran gedacht. Habe dem keine Bedeutung zugemessen. Ich bin kein Fahnder, Ilja.«
Er schüttelte den Kopf.
Wir können einander nicht tadeln, zumindest kaum. Vor allem dann nicht, wenn jemand wirklich schuldig
ist. Das ist nicht nötig, denn unsere Strafe lauert um uns herum. Das Zwielicht verleiht uns Kräfte, über die kein Mensch verfügt, gibt uns ein Leben, das nach menschlichem Verständnis nahezu ewig währt. Und nimmt uns alles, wenn die Stunde gekommen ist.
In diesem Sinne führen wir alle ein Leben auf Pump. Nicht nur die Vampire und Tiermenschen, die töten müssen, um ihre seltsame Existenz zu verlängern. Die Dunklen können sich das Gute nicht leisten. Für uns gilt das Gegenteil.
»Wenn ich das nicht schaffe…«Ich ließ den Satz unbeendet. Auch so war alles klar.
Acht
Durchs Zwielicht wirkte das Ganze sogar schön. Auf dem Dach, dem flachen Dach jenes klotzigen»Hauses auf Beinen«, brannten Lichtpunkte in verschiedenen Farben. Das Einzige, was hier Farbe hat, sind unsere Gefühle. Und die gab es reichlich.
Am grellsten strahlte eine sich in den Himmel bohrende Säule aus glutroten Flammen - die Angst und der Zorn der Vampirin.
»Stark ist sie«, sagte Semjon bloß, während er auf das Dach schaute und die Autotür mit dem Fuß zuknallte. Aufseufzend fing er an, sich auszuziehen.
»Was hast du denn vor?«, fragte ich.
»Ich geh über die Wand rauf… über die Balkons. Das rat ich dir auch, Ilja. Nur kletter du im Zwielicht rauf, das ist leichter.«
»Und wie willst du rauf?«
»Ich mach’s auf die althergebrachte Weise. Dann ist die Chance größer, dass sie mich nicht entdeckt. Keine Sorge… Seit sechzig Jahren kraxle ich in den Bergen rum. Ich habe die Fahne der Faschisten vom Elbrus runtergeholt.«
Semjon zog sich bis aufs Hemd aus und warf die Sachen auf die Motorhaube. Unverzüglich wirkte er einen kurzen Schutzzauber, der sich sowohl über sein Zeug wie auch den Angeberschlitten legte.
»Du weißt, was du tust?«, hakte ich nach.
Semjon grinste, erzitterte vor Kälte, machte ein paar Kniebeugen und kreiste mit den Armen wie ein Sportler beim Aufwärmtraining. In lockerem Trab lief er auf das Haus zu. Leichter Schnee fiel ihm auf die Schultern.
»Packt er das?«, fragte ich Ilja. Wie er im Zwielicht die Hauswand hochkam, wusste ich. Theoretisch. Aber ein Aufstieg in der gewöhnlichen Welt, noch dazu ohne jede Ausrüstung…
»Muss er ja wohl«, meinte Ilja ohne rechte Überzeugung.»Als er zehn Minuten lang in der Jausa unter Wasser blieb… dachte ich auch, er taucht nie wieder auf.«
»Dreißig Jahre Unterwassersport«, murmelte ich missmutig.
»Vierzig… Ich geh jetzt, Anton. Wie kommst du rauf? Mit dem Fahrstuhl?«
»Ja.«
»Also dann… trödel nicht.«
Er wechselte ins Zwielicht über und rannte Semjon hinterher. Vermutlich würden sie unterschiedliche Wände erklimmen, aber ich hatte nicht die Absicht herauszubekommen, wer über welche Fassade nach oben gelangte. Auf mich wartete mein eigener Weg, der auch nicht leichter sein dürfte.
»Warum musstest du mich bloß treffen, Chef…«, flüsterte ich, während ich zum Hauseingang sprintete. Der Schnee knirschte unter den Füßen, in den Ohren pulsierte das Blut. Im Laufen zog ich die Pistole aus der Tasche und entsicherte sie. Acht silberne Dumdumgeschosse. Das sollte reichen. Wenn ich nur treffe. Wenn ich nur den Moment abpasse, in dem ich eine Chance habe zu treffen, um der Vampirin zuvorzukommen, ohne den Jungen dabei zu verletzen.
Früher oder später wären wir dir sowieso begegnet,
Anton. Wenn nicht wir, dann die Tagwache. Sie hatten ebenfalls alle Chancen, dich zu bekommen.
Mich wunderte gar nicht, dass er mich beobachtete. Erstens ging es um eine ernste Angelegenheit. Zweitens ist und bleibt er mein Hauptmentor.
Boris Ignatjewitsch, wenn… Ich machte die Jacke auf und steckte die Pistole im Rücken hinter den Gürtel. Was Swetlana angeht…
Wir haben ihre Mutter gründlich überprüft, Anton. Nichts. Sie ist nicht imstande, einen Fluch zu verhängen. Sie hat überhaupt keine Fähigkeiten.
Nein, ich wollte auf etwas anderes hinaus. Boris Ignatjewitsch… Ich habe nachgedacht. Ich habe sie nicht bedauert.
Und was heißt das?
Ich weiß es nicht. Aber ich habe sie nicht bedauert. Und auch keine Komplimente gemacht. Mich nicht gerechtfertigt.
Verstehe.
Und jetzt… verschwinden Sie bitte. Das hier ist meine Sache.
Gut. Entschuldige, dass ich dich ins Feld geschickt habe. Viel Glück, Anton.
Ich konnte mich nicht entsinnen, dass sich der Chef jemals bei irgendwem entschuldigt hätte. Doch mir blieb keine Zeit mehr, darüber zu staunen, da der Aufzug endlich kam.
Ich drückte den Knopf für den obersten Stock und griff automatisch nach den an einer Schnur hängenden Knöpfen der Kopfhörer.
Seltsam, die Musik lief schon. Wann hatte ich denn
den MD-Player eingestellt? Und was spuckt der Zufall für mich aus?
Alles findet sich hernach.
Für die einen ist er nichts,
Doch für mich ist er der Zar.
Und ich steh in Dunkelheit,
Für die einen wie ein Schatten,
Für die andern unsichtbar.
Ich vergöttere Piknik. Ob man Schkljarski mal daraufhin überprüft hat, ob er zu den Anderen gehört? Es könnte sich lohnen… Oder lieber doch nicht. Besser, er singt einfach.
Ja, ich tanze nicht im Takt,
Hab’s nicht richtig angepackt,
Hab mich auch nicht drum bemüht.
Und ich gleich dem Regen jetzt,
Der den Boden noch nicht netzt,
Einer Blume, die nicht blüht.
Ich, ich, ich bin unsichtbar.
Ich, ich, ich bin unsichtbar.
Die Gesichter sind wie Rauch,
Die Gesichter sind wie Rauch,
Wie wir siegen, das wird nie all den andern klar.
Ob man die letzte Zeile als gutes Vorzeichen verstehen konnte?
Der Fahrstuhl hielt an.
Nachdem ich auf den Treppenabsatz des letzten Stocks hinausgehuscht war, entdeckte ich eine Luke in
der Decke. Das Schloss war abgerissen, und zwar tatsächlich abgerissen - der Bügel baumelte eingedrückt und auseinander gebogen in der Luft. Die Vampirin dürfte damit wohl nichts zu tun haben, sie war vermutlich aufs Dach geflogen. Der Junge hatte den Weg über die Balkons gewählt.
Blieben Tigerjunges oder Bär. Höchstwahrscheinlich Bär; Tigerjunges hätte die Luke herausgerissen.
Ich zog die Jacke aus und ließ sie zusammen mit dem säuselnden MD-Player auf den Boden fallen. Ich berührte die Pistole im Rücken - sie steckte fest. Technik sollte Blödsinn sein? Warten wir’s ab, Olga, warten wir’s ab.
Ich warf meinen Schatten nach oben, projizierte ihn in die Luft. Ich streckte mich und schlüpfte mit einem Ruck in ihn hinein. Im Zwielicht stieg ich die Leiter zum Dach hinauf. Das blaue Moos, das dicht auf den Eisenstangen wucherte, federte unter meine Fingern und versuchte wegzukriechen.
»Anton!«
Ich stürzte aufs Dach und krümmte mich sofort: Was hier für ein Wind wehte. Ein lautloser, böiger, eisiger Wind. Ebenso Nachhall aus der Menschenwelt wie Marotte des Zwielichts. Noch schützte mich der auf dem Dach aufragende Betonkasten des Fahrstuhlschachts gegen ihn. Doch ein weiterer Schritt - und der Wind würde bis auf die Knochen durchdringen.
»Anton, wir sind hier!«
Zehn Meter vor mir stand Tigerjunges. Ich sah sie an und beneidete sie einen kurzen Moment lang: Sie jedenfalls spürte die Kälte ganz gewiss nicht.
Woher Tiermenschen und Magier die Masse zur Transformation des Körpers nahmen, wusste ich nicht. Aus dem Zwielicht wohl nicht, aber sicherlich auch nicht aus der Menschenwelt. In Menschengestalt wog die Frau fünfzig Kilo, vielleicht ein bisschen mehr. Als junge Tigerin, die in Kampfhaltung auf dem überfrorenen Dach stand, brachte sie drei Zentner auf die Waage. Ihre Aura loderte orange auf, über das Fell flossen langsame, träge kleine Funken dahin. Der Schwanz schlug in gleichmäßigem Rhythmus nach links und nach rechts, die rechte Vorderpfote kratzte in einem fort die Dachpappe. An dieser Stelle war das Dach bereits bis zum Beton durchgefetzt - irgendjemand würde im Frühling unter Wasser stehen…
»Komm her, Anton«, brüllte die Tigerin, ohne sich umzudrehen.»Sie ist hier!«
Bär war dichter an die Vampirin herangekommen als Tigerjunges. Er sah jetzt noch schrecklicher aus. Diesmal hatte er für die Transformation den Körper eines Eisbären gewählt, der im Unterschied zu den realen Bewohnern der Arktis jedoch schneeweiß war, ganz wie in den Bildern von Kinderbüchern. Ja, er war wohl doch ein Magier, kein Tiermensch, den man umerzogen hatte. Tiermenschen sind an ein, maximal zwei Varianten gebunden, während ich Bär bereits als tollpatschigen Braunbären gesehen hatte - das war, als wir einen Karneval für die amerikanische Delegation der Wache veranstalteten - und als Grizzly beim Anschauungsunterricht für Umwandlungen.
Die Vampirin stand direkt am Rand des Dachs.
Sie hatte abgebaut, spürbar abgebaut seit unserer ersten Begegnung. Ihr Gesicht lief noch spitzer zu, die Wangen waren eingefallen. Wie alle Vampire brauchte sie in der ersten Umbauphase des Organismus ständig
frisches Blut. Doch sollte man sich durch ihre Erscheinung nicht täuschen lassen: Die Auszehrung ist rein äußerlich, quält sie, entzieht ihr aber keine Kraft. Die Verbrennung im Gesicht war fast abgeklungen, die Spuren kaum noch zu erahnen.
»Du!«In der Stimme der Vampirin tönte Triumph. Ein erstaunlicher Triumph - als wolle sie nicht mit mir verhandeln, sondern mich opfern.
»Ich.«
Jegor stand vor der Vampirin, sie nutzte ihn als Deckung gegen die Fahnder. Der Junge befand sich im Zwielicht, das von der Blutsaugerin erzeugt worden war, und hatte deshalb das Bewusstsein nicht verloren. Er stand schweigend da, bewegte sich nicht, starrte mal mich an, mal Tigerjunges. Auf uns zählte er offenbar am meisten. Die Vampirin hatte dem Jungen eine Hand quer über die Brust gelegt, um ihn an sich zu pressen, die andere hielt sie ihm an den Hals - mit ausgefahrenen Krallen. Die Situation war nicht schwer abzuschätzen. Ein Patt. Für beide Seiten.
Sollten Tigerjunges oder Bär die Blutsaugerin angreifen, würde sie dem Jungen mit einer einzigen Bewegung den Kopf abreißen. Das würde sich nicht heilen lassen - selbst mit unseren Möglichkeiten nicht. Auf der anderen Seite: Wenn sie den Jungen umbrachte, würde uns nichts mehr aufhalten.
Man darf den Feind nicht in die Ecke treiben. Vor allem dann nicht, wenn man ihn töten will.
»Du hast verlangt, dass ich komme. Hier bin ich.«Ich hob die Hände, um zu zeigen, dass ich keine Waffen bei mir trug. Ich ging vorwärts.
Als ich zwischen Tigerjunges und Bär trat, bleckte
die Vampirin die langen Eckzähne.»Stehen bleiben!«
»Ich habe weder Espenholz noch Kampfamulette. Ich bin kein Magier. Ich kann dir nichts anhaben.«
»Das Amulett! Um deinen Hals hängt ein Amulett!«
Das war’s also.
»Das hat mit dir nichts zu tun. Es schützt mich gegen jemanden, der weit, weit über dir steht.«
»Nimm’s ab!«
Oh, oh, das ließ sich nicht gut an… Das ließ sich sogar ganz schlecht an… Ich packte die Kette, riss das Amulett ab und ließ es fallen. Wenn Sebulon wollte, konnte er jetzt versuchen, mich zu beeinflussen.
»Ich hab’s abgenommen. Jetzt sprich. Was willst du?«
Die Vampirin verdrehte den Kopf - ihr Hals vollbrachte ohne weiteres eine Drehung um 360 Grad. Oho! So was war mir bisher nicht mal zu Ohren gekommen - und unsern Kampfspezis offenbar auch nicht: Tigerjunges knurrte auf.
»Da schleicht noch jemand rum!«Die Vampirin sprach mit der Stimme eines Menschen, der kreischenden, hysterischen Stimme eines dummen jungen Mädchens, das zufällig zu Kraft und Macht gekommen war.»Wer? Wer?«
Ihre linke Hand, an der sie hatte Krallen wachsen lassen, presste sich in den Hals des Jungen. Ich zuckte zusammen, als ich mir vorstellte, was passieren würde, wenn nur ein einziger Tropfen Blut flösse. Die Blutsaugerin würde die Kontrolle über sich verlieren! Die andere Hand zeigte mit einer albernen anklagenden Geste, die an Lenin auf dem Panzerwagen erinnerte,
zum Rand des Dachs.
»Der soll rauskommen!«
Ich seufzte.»Ilja, komm raus…«, rief ich.
Über die Dachkante schoben sich Finger. Im nächsten Moment überwand Ilja das kleine Gitter und stellte sich neben Tigerjunges. Wo hatte er sich da bloß versteckt? Auf der Markise eines Balkons? Oder hatte er in der Luft gehangen, sich im Geflecht des blauen Mooses festkrallend?
»Ich wusste es!«, meinte die Vampirin triumphierend.»Betrug!«
Semjon schien sie jedoch nicht zu spüren. Ob unser phlegmatischer Freund schon hundert Jahre Ninjutsu trieb?
»Ausgerechnet du redest von Betrug.«
»Genau, ich!«Einen Moment lang funkelte in den Augen der Vampirin etwas Menschliches auf.»Denn ich kann betrügen! Ihr nicht!«
Gut. Gut, dass du das kannst und wir nicht. Glaube und hoffe. Wenn du meinst, dass der Begriff»Notlüge«nur für Predigten taugt - dann glaube. Wenn du denkst, das Gute werde nur in den alten Gedichten eines verlachten Dichters mit den Fäusten durchgesetzt - dann hoffe.
»Was willst du?«, fragte ich.
Sie schwieg kurz, als habe sie sich das noch nicht überlegt.»Leben!«
»Dazu ist es zu spät! Du bist schon tot.«
Die Vampirin fletschte abermals die Zähne.
»Ach ja? Aber Tote können jemandem den Kopf abreißen, oder?«
»Ja. Weiter können sie nichts.«
Wir starrten einander an, was seltsam war, theatralisch und affektiert, denn das ganze Gespräch war für die Katz, da wir einander sowieso nie verstehen würden. Sie ist tot. Ihr Leben ist der Tod eines anderen. Ich lebe. Doch aus ihrer Sicht verhält es sich genau umgekehrt.
»Das ist nicht meine Schuld.«Ihre Stimme klang auf einmal viel ruhiger, weicher. Und auch die Hand an Jegors Hals entspannte sich ein wenig.»Ihr, ihr, die ihr euch Nachtwache nennt - diejenigen, die nachts nicht schlafen, die meinen, sie hätten das Recht, die Welt vorm Dunkel zu schützen… Wo wart ihr denn, als man mein Blut getrunken hat?«
Bär trat einen kleinen Schritt vor. Einen winzigen Schritt nur, bei dem er die gewaltigen Tatzen kaum vorzusetzen schien, sondern nur unter dem Druck des Windes nach vorn schlitterte. Ich fragte mich, ob er noch weitere zehn Minuten so vorwärts kriechen würde - wie er schon die ganze letzte Stunde dahingekrochen war, denn so lange dauerte diese Auseinandersetzung bereits. Bis er dann endlich seine Chancen für ausreichend hielt. Dann würde er springen, und wenn er Glück hatte, würde der Junge den Händen der Vampirin entrissen werden und mit ein paar gebrochenen Rippen davonkommen.
»Wir können nicht alle im Auge behalten«, sagte ich.»Das können wir einfach nicht.«
Und was am schlimmsten war: Ich fing an, sie zu bedauern. Weder den Jungen, der in das Spiel zwischen Licht und Dunkel geraten war, hatte ich bedauert noch die junge Swetlana, über der ein Fluch hing, oder die unschuldige Stadt, die unter diesem Fluch leiden würde… Die Vampirin bedauerte ich. Denn in der Tat - wo waren wir gewesen? Wir, die wir uns Nachtwache nennen…
»So oder so hattest du eine Wahl«, sagte ich.»Und behaupte nicht, das stimmt nicht. Die Initiation erfolgt nur bei beiderseitigem Einverständnis. Du hättest sterben können. Anständig sterben können. Wie ein Mensch.«
»Anständig?«Die Vampirin schüttelte den Kopf, wobei ihr die Haare um die Schultern flogen. Wo war Semjon bloß? So schwer konnte es doch wohl nicht sein, das Dach eines neunzehnstöckigen Hauses zu erklimmen?»Genau das hätte ich gewollt… anständig. Doch derjenige… der die Unterschrift unter die Lizenz gesetzt hat… der mich zum Futter gemacht hat? Hat der sich anständig verhalten?«
Beim Licht und beim Dunkel…
Sie war nicht nur schlicht das Opfer eines durchgeknallten Vampirs. Sie war die vorbestimmte Beute, ausgewählt durch das blinde Los. Und ihr Schicksal sollte es sein, ihr Leben zu geben, um einen fremden Tod zu verlängern. Nur dass sich dieser Kerl, der vor meinen Augen zu einer Hand voll Asche zerfallen, der durch das Siegel verbrannt ist, dass dieser Kerl sich verliebt hat. Sich richtig verliebt, das fremde Leben nicht aufgesaugt, sondern das Mädchen zu seinesgleichen gemacht hat.
Die Toten können nicht nur Köpfe abreißen, sondern auch lieben. Das Unglück besteht nur darin, dass selbst ihre Liebe nach Blut verlangt.
Er war gezwungen, sie zu verstecken, denn er hatte
die junge Frau illegal zu einem Vampir gemacht. Er musste sie ernähren, und da musste lebendes Blut her, keins aus der Konserve, das naive Menschen gespendet hatten.
Damit begann die Wilderei in den Straßen Moskaus, und da sind dann endlich auch wir aufgewacht, wir, die Hüter des Lichts, die ruhmreichen Wächter der Nacht, die dem Dunkel die Menschenopfer liefern.
Im Krieg kann dir nichts Schlimmeres passieren, als den Feind zu verstehen. Denn verstehen bedeutet verzeihen. Aber dazu haben wir kein Recht, seit der Erschaffung der Welt haben wir dazu kein Recht.
»Trotzdem hattest du eine Wahl«, sagte ich.»Du hattest sie. Der Verrat eines anderen kann nicht als Rechtfertigung für den eigenen herhalten.«
Sie lachte leise auf.
»Ja, ja… guter Diener des Lichts… Natürlich. Du hast Recht. Und du kannst noch tausendmal wiederholen, dass ich tot bin. Dass meine Seele verbrannt ist, sich im Zwielicht aufgelöst hat. Nur erklär mir doch mal bitte, worin dann der Unterschied zwischen mir, einer hinterhältigen und bösen Kreatur, und dir besteht. Erklär es mir so… dass ich es glaube.«
Die Vampirin legte den Kopf schräg und sah Jegor ins Gesicht.
»Und du… Junge - verstehst du mich?«, fragte sie vertrauensvoll, fast freundschaftlich.»Antworte. Antworte ganz ehrlich, ohne… auf die Krallen zu achten. Ich nehm’s nicht übel.«
Bär glitt vorwärts. Wieder nur ein bisschen. Ich spürte, wie sich seine Muskeln anspannten, wie er sich auf den Sprung vorbereitete.
Lautlos, mit geschmeidigen und zugleich raschen Bewegungen - wie schaffte er es nur, sich in der Menschenwelt so schnell vorwärts zu bewegen? - tauchte Semjon endlich hinter der Vampirin auf.
»Sag’s schon, Kleiner!«, verlangte die Blutsaugerin aufgeräumt.»Antworte! Aber ehrlich! Und wenn du glaubst, dass er Recht hat und ich nicht… wenn du das wirklich glaubst… dann lasse ich dich gehen.«
Ich fing Jegors Blick auf.
Und wusste, was er antworten würde.
»Du hast auch… Recht.«
Leere. Kälte. Keine Kraft für Gefühle. Sollen sie doch zum Vorschein kommen, als Feuer lodern, das Menschen nicht sehen können.
»Was willst du?«, fragte ich.»Existieren? Gut - dann ergib dich. Du kommst vor Gericht, ein gemeinsames Gericht der Wachen…«
Die Vampirin sah mich an. Sie schüttelte den Kopf.»Nein… Ich traue eurem Gericht nicht. Weder der Nachtwache… noch der Tagwache.«
»Warum hast du mich dann kommen lassen?«, fragte ich. Semjon pirschte sich an die Vampirin heran, kam näher und näher…
»Um mich zu rächen«, sagte die Vampirin bloß.»Du hast meinen Freund ermordet. Jetzt bringe ich deinen um - vor deinen Augen. Danach… werde ich versuchen… dich umzubringen. Aber sogar wenn mir das nicht gelingt…«Sie lächelte.»Dir genügt das Wissen, dass du den Jungen nicht retten konntest. Nicht wahr, Wächter? Ihr unterschreibt Lizenzen, ohne den Menschen dabei ins Gesicht zu sehen. Das solltet ihr aber… Dann kommt die Moral hervorgekrochen… eure ganze falsche, billige, gemeine Moral…«
Semjon sprang.
Gleichzeitig mit ihm sprang Bär.
Das war schön, das ging schneller, als jede Kugel fliegt, als jeder Zauber wirkt, weil es am Ende immer der Körper ist, der den Schlag ausführt, unterstützt von der Geschicklichkeit, die in zwanzig, vierzig, hundert Jahren herangereift ist.
Und dennoch zog ich die Pistole hinter dem Rücken hervor und feuerte einen Schuss ab, auch wenn ich wusste, dass die Kugel langsam und träge dahinfliegen würde - wie bei einer Zeitlupenaufnahme in einem billigen Actionfilm - und der Vampirin noch die Gelegenheit lassen würde, auszuweichen, und Gelegenheit zum Töten.
Semjon hing ausgestreckt in der Luft, als sei er gegen eine Glaswand geprallt und krieche eine unsichtbare Grenze entlang, die auch ins Zwielicht führte. Bär warf es um - er war weitaus massiver. Die Kugel, die anmutig wie eine Libelle auf die Vampirin zuflog, loderte mit flammenden Zungen auf und verschwand.
Wenn nicht die Augen der Vampirin gewesen wären, die sich langsam weiteten, der verständnislose Blick, hätte ich geglaubt, dass sie selbst die Schutzkuppel aufgebaut hätte - auch wenn dieses Privileg den hochrangigen Magiern vorbehalten ist.
»Die beiden stehen unter meinem Schutz«, erklang es hinter meinem Rücken.
Ich drehte mich - und sah Sebulon in die Augen. Erstaunlich war, dass die Vampirin nicht in Panik geriet. Erstaunlich war auch, dass sie Jegor nicht tötete. Der missglückte Angriff und das Auftauchen des Dunklen Magiers kamen für sie weitaus überraschender als für uns, denn ich hatte es erwartet, hatte mit dergleichen gerechnet, kaum dass ich das Amulett abgenommen hatte.
Mich wunderte nicht, dass er so schnell gekommen war. Die Dunklen haben ihre eigenen Wege. Aber weshalb zog Sebulon, der Beobachter der Dunklen, diese kleine Auseinandersetzung seiner Anwesenheit in unserer Kommandozentrale vor? Hatte er das Interesse an Swetlana und dem über ihr hängenden Wirbel verloren? Hatte er etwas begriffen, das uns nicht aufgegangen war?
Die verfluchte Angewohnheit, erst alles zu analysieren! Den Fahndern geht sie aufgrund des ureigenen Wesens ihrer Arbeit ab. Von Natur aus reagieren sie unverzüglich auf Gefahr, stürzen sich in den Kampf, erleiden Sieg oder Niederlage.
Ilja hatte seinen magischen Stab bereits gezogen. Das fliederfarben-weiße Leuchten strahlte zu grell für einen Magier dritten Grades und zu gleichmäßig, um an ein plötzliches Aufflackern von Iljas Kraft glauben zu lassen. Höchstwahrscheinlich hatte der Chef selbst den Stab aufgeladen.
Hatte er etwas geahnt?
Hatte er mit dem Auftauchen von irgendjemandem gerechnet, dessen Kräfte den seinen ebenbürtig waren?
Weder Tigerjunges noch Bär hatten ihr Äußeres verändert. Ihre Magie musste sich nicht anpassen - schon gar nicht, indem sie menschliche Körper annahmen. Bär blickte nach wie vor die Vampirin an und ignorierte Sebulon völlig. Tigerjunges stellte sich neben mich. Semjon rieb sich die Hüfte und ging langsam um die Vampirin herum, wobei er demonstrativ vor ihr herschlenderte. Den Dunklen Magier überließ er uns.
»Die beiden?«, brüllte Tigerjunges.
Im ersten Moment begriff ich überhaupt nicht, was ihr gegen den Strich ging.
»Die beiden stehen unter meinem Schutz«, wiederholte Sebulon. Er mummte sich in einen formlosen schwarzen Mantel ein, auf dem Kopf saß ihm eine zerknautschte Kappe aus dunklem Pelz. Die Hände versteckte der Magier zwar in den Taschen, doch aus irgendeinem Grund war ich mir sicher, dass er nichts dabei hatte, kein Amulett, keine Pistole.
»Wer bist du?«, schrie die Vampirin.»Wer bist du?«
»Dein Hüter und Beschützer.«Sebulon sah mich an, nein, er sah mich nicht an, sondern streifte mich mit dem Blick, schaute an mir vorbei.»Dein Herr.«
Was hatte er, war er verrückt geworden? Die Vampirin hatte nicht die geringste Ahnung von der Verteilung der Kräfte. Sie war völlig aufgedreht. Hatte eben noch mit dem Tod gerechnet - dem Ende ihrer Existenz. Nun tauchte da die Möglichkeit auf, mit heiler Haut davonzukommen, aber dieser Ton…
»Ich habe keinen Herrn!«Die Frau, die Leben aus dem Tod anderer zog, lachte.»Wer auch immer du bist, einer vom Licht, einer vom Dunkel - merk dir das. Ich habe keinen Herrn!«
Sie bewegte sich weiter auf den Rand des Dachs zu, schleifte Jegor mit sich. Immer noch hielt sie ihn mit einer Hand gepackt, während die andere an seinem Hals lag. Eine Geisel - ein geschickter Zug gegen die Kräfte des Lichts.
Und womöglich auch gegen die Kräfte des Dunkels?
»Sebulon, wir sind einverstanden«, sagte ich. Ich legte die Hand auf den durchgedrückten Rücken von Tigerjunges.»Sie gehört dir. Nimm sie mit - bis zum Prozess. Wir halten uns an den Vertrag.«
»Ich nehme mir beide…«Blind schaute Sebulon nach vorn. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht, doch die Augen des Magiers, die nie blinzelten, waren weit aufgerissen, als seien sie aus Glas gegossen.»Die Frau und der Junge gehören uns.«
»Nein. Nur die Vampirin.«
Schließlich würdigte er mich doch noch eines Blickes.
»Adept des Lichts, ich hole mir nur, was mir zusteht. Ich achte den Großen Vertrag. Die Frau und der Junge gehören uns.«
»Du bist stärker als jeder von uns«, sagte ich.»Aber du bist allein, Sebulon.«
Traurig und mitleidig lächelnd schüttelte der Dunkle Magier den Kopf.
»Nein, Anton Gorodezki.«
Sie traten hinter dem Fahrstuhlschacht hervor, ein Mann und eine Frau, beide jung. Die mir bekannt vorkamen. Nur allzu bekannt.
Alissa und Pjotr. Die Hexe und der Hexer von der Tagwache.
»Jegor!«, sprach Sebulon ihn leise an.»Hast du den Unterschied zwischen uns verstanden? Welcher Seite gibst du den Vorzug?«
Der Junge schwieg. Aber vielleicht nur deshalb, weil
die Krallen der Vampirin seine Kehle berührten.
»Haben wir hier irgendein Problem?«, fragte Tigerjunges mit schnurrender Stimme.
»Hm«, bestätigte ich.
»Eure Entscheidung?«, fragte Sebulon nur. Seine Wächter schwiegen, mischten sich nicht in das Geschehen ein.
»Mir gefällt das nicht«, sagte Tigerjunges. Sie bewegte sich kaum auf Sebulon zu, und ihr Schwanz schlug mir unerbittlich gegen das Knie.»Mir gefällt absolut nicht, welchen Standpunkt die Wächter des Tages einnehmen… in dieser Frage.«
Ganz offensichtlich teilte Bär diese Meinung: Wenn die beiden zusammenarbeiteten, sprach immer nur einer. Ich sah Ilja an: Der drehte den Stab in den Fingern und lächelte, ein unfrohes, grüblerisches Lächeln. Wie ein Kind, das anstatt einer Spielzeugpistole ein geladenes Uzi-Gewehr mit zu seinen Freunden geschleppt hatte. Semjon ließ das alles anscheinend völlig kalt. Auf Kleinigkeiten pfiff er. Siebzig Jahre lang übte er sich jetzt schon in Dachrennen.
»Sebulon, sprichst du für die Tagwache?«, fragte ich.
Ein sekundenkurzer Schatten des Zögerns funkelte in den Augen des Dunklen Magiers auf.
Was geht hier vor? Warum hatte Sebulon unseren Stab verlassen, warum hatte er auf die Möglichkeit verzichtet, einen unbekannten Magier von ungeheurer Kraft aufzuspüren und auf die Seite der Tagwache zu ziehen? Auf eine solche Möglichkeit verzichtet man nicht, selbst dann nicht, wenn es um eine Vampirin und einen kleinen Jungen mit einem ungeheuren Po-
tenzial ging. Warum suchte Sebulon den Konflikt?
Und warum, warum um alles zögert er - das sehe ich doch, kein Zweifel! -, im Namen der gesamten Tagwache aufzutreten?
»Ich spreche als Privatperson«, sagte Sebulon.
»Dann haben wir also nur ein paar kleine persönliche Unstimmigkeiten«, stellte ich fest.
»Ja.«
Er wollte die Wachen nicht mit hineinziehen. Jetzt waren wir nur noch Andere, wenn auch im Dienst, wenn auch mit unseren Aufgaben beschäftigt. Doch Sebulon zog es vor, den Konflikt nicht zu einer offiziellen Konfrontation eskalieren zu lassen. Warum? Glaubte er dermaßen an die eigenen Kräfte, oder fürchtete er das Auftauchen des Chefs?
Ich verstand überhaupt nichts mehr.
Aber die Hauptsache: Warum hatte er den Stab verlassen, die Jagd nach dem Hexenmeister aufgegeben, der Swetlana mit dem Fluch belegt hatte? Die Dunklen hatten durchgesetzt, diesen Magier zu bekommen. Und jetzt wollten sie kurzerhand auf ihn verzichten?
Was wusste Sebulon? Was wussten wir nicht?
»Eure armseligen…«, begann der Dunkle Magier. Beenden konnte er den Satz nicht - den nächsten Zug machte das Opfer.
Ich hörte, wie Bär brüllte, verständnislos, verzweifelt brüllte, und drehte mich um.
Jegor, die ganze Zeit in der Rolle der Geisel und gegen die Vampirin gepresst, hatte sich aufgelöst, war verschwunden.
Der Junge war tiefer ins Zwielicht hineingegangen.
Die Vampirin schlug die Hände zusammen, als wollte sie ihn festhalten, womöglich auch umbringen. Ein energisches Klatschen der bekrallten Klauen, das aber bereits keinen lebenden Körper mehr traf. Die Vampirin schlug sich selbst - unter die linke Brust, aufs Herz.
Wie schade, dass sie eine Untote war!
Bär sprang. Einer lebenden Schneewehe gleich stürzte er auf die Stelle, wo eben noch Jegor gestanden hatte, und riss die Vampirin nieder. Unter seiner Masse begrub er den zitternden Körper vollständig - nur die bekrallte Hand lugte noch heraus, die ihm krampfhaft gegen die bepelzte Seite schlug.
Genau in diesem Augenblick riss Ilja den Stab hoch. Das fliederfarbene Licht verblasste ganz leicht, bevor der Stab explodierte und sich in eine weiße Flammensäule verwandelte. Man hatte den Eindruck, aus den Händen des Fahnders schösse ein von einem Leuchtturm abgerissener Scheinwerferstrahl, ein Strahl, blendend und fast mit Händen greifbar. Mit größter Mühe schwang Ilja die Hände, um mit einem Strahl, den man in Moskau seit dem Krieg nicht mehr gesehen hatte, über den grauen Himmel zu kratzen und den gigantischen Knüppel auf Sebulon herabstürzen zu lassen.
Der Dunkle Magier schrie auf.
Es riss ihn nieder und presste ihn aufs Dach, während sich die Lichtsäule Iljas Händen entriss, immer beweglicher und selbstständiger agierte. Das war kein Lichtstrahl mehr, keine Flammensäule, sondern eine weiße Schlange, die sich ringelte und der silberne Schuppen wuchsen. Das eine Ende des riesigen Körpers wurde platter und platter, verwandelte sich in eine Haube, unter der eine stumpfe Visage mit starren Augen hervorkam, groß wie LKW-Räder. Die Zunge blitzte auf, eine dünne, gespaltene, wie ein Gasbrenner lodernde Zunge.
Ich sprang zur Seite, denn beinah hätte mich der Schwanz erwischt. Die Feuerkobra ringelte sich auf, warf sich auf Sebulon und stieß ruckweise den Kopf in die Schlingen ihres Körpers. Hinter den lodernden Ringen droschen drei Schatten aufeinander ein, die durch die Bewegung zu trüben Streifen zerflossen. Die Sprünge von Tigerjunges, die sich auf die Hexe gestürzt hatte, und den Hexer von der Tagwache konnte ich einfach nicht ausmachen.
Ilja lachte leise auf und zog aus dem Gürtel einen weiteren Stab. Diesmal einen matteren, den er offenbar selbst aufgeladen hatte.
Hatte er also eine Waffe besessen, die speziell für Sebulon ausgelegt war? Hatte der Chef gewusst, mit wem wir zusammenstoßen würden?
Ich spähte übers Dach. Auf den ersten Blick schienen wir alles unter Kontrolle zu haben. Bär hatte die Vampirin in der Zange und schlug wie wild auf sie ein. Ab und an drangen unter ihm erstickte Laute hervor. Tigerjunges hielt die Wächter in Schach und brauchte offenbar keine Hilfe. Die weiße Kobra würgte Sebulon.
Für uns Übrige blieb nichts zu tun. Ilja, der den Stab bereithielt, beobachtete den Tumult, wobei er ganz offenbar überlegte, in welchen Haufen er sich stürzen sollte. Semjon, der das Interesse an der Vampirin verloren und für Sebulon mit seinen Wächtern erst gar keins an den Tag gelegt hatte, schlenderte zum Dach-
rand und sah nach unten. Ob er mit weiterer Verstärkung seitens der Dunklen rechnete?
Und ich stand wie ein Idiot mit der nutzlosen Pistole in Händen da.
Der Schatten legte sich gleich beim ersten Versuch auf den Boden. Als ich hineintrat, spürte ich, wie die Kälte brannte. Nicht die Kälte, die die Menschen kennen, nicht die, die jeder Andere schon erlebt hat, sondern die Kälte des tiefen Zwielichts. Hier wehte kein Wind mehr, hier verschwanden Schnee und Eis unter den Füßen. Hier wucherte kein blaues Moos. Nur Nebel wallte, dicker, zäher, klumpiger Nebel. Wollte man den Nebel mit Milch vergleichen, müsste man von geronnener Milch sprechen. Feinde wie Freunde - sie alle verwandelten sich in trübe Schatten, die sich kaum bewegten. Nur die mit Sebulon ringende Feuerkobra war nach wie vor schnell und grell - dieser Kampf verlief in allen Schichten des Zwielichts. Als ich mir klar machte, mit wie viel Energie der magische Stab aufgeladen sein musste, wurde mir übel.
Wozu, beim Dunkel und beim Licht? Wozu? Weder die junge Vampirin noch der Junge, dieser Andere, waren solche Anstrengungen wert!
»Jegor!«, schrie ich.
Die Kälte drang mir durch Mark und Bein. In die zweite Schicht des Zwielichts war ich erst zweimal vorgedrungen, einmal im Unterricht, zusammen mit meinem Ausbilder, und einmal gestern, um durch die verschlossene Tür zu gehen. Hier hatte ich keinen Schutz, und mit jeder Sekunde schwanden meine Kräfte.
»Jegor!«Ich ging durch den Nebel. Hinter mir erklangen dumpfe Schläge - die Schlange hämmerte jemanden aufs Dach, den Körper in ihr Maul gezwängt. Ich wusste sogar, wessen Körper…
Da die Zeit hier noch langsamer vergeht, gab es den Hauch einer Chance, dass der Junge das Bewusstsein noch nicht verloren hatte. Ich ging zu der Stelle, an der er in die zweite Schicht des Zwielichts abgetaucht war, und versuchte, etwas zu erkennen, bemerkte aber den Körper am Boden nicht. Ich stolperte, fiel, stützte mich auf, hockte mich hin - und saß Jegor gegenüber.
»Bist du in Ordnung?«, fragte ich überflüssigerweise. Überflüssigerweise, denn er hatte die Augen offen und sah mich an.
»Ja.«
Unsere Stimmen klangen dumpf und grollend. Ganz in der Nähe wogten zwei Schatten: Bär zerfetzte immer noch die Vampirin. Wie lange sie wohl noch durchhielt?
Und wie lange der Junge wohl noch durchhielt.
»Gehen wir«, sagte ich, indem ich die Hand ausstreckte und seine Schulter berührte.»Das hier… ist zu heftig. Wir riskieren es, für immer hier zu bleiben.«
»Na und.«
»Das begreifst du nicht, Jegor! Dieses Leiden! Sich im Zwielicht aufzulösen bedeutet ewiges Leiden. Das kannst du dir einfach nicht vorstellen, Jegor! Komm!«
»Wozu?«
»Um zu leben.«
»Wozu?«
Meine Finger wollten sich nicht mehr krümmen. Die
Pistole wurde schwer, schien aus Eis gegossen. Mit etwas Glück würde ich noch ein oder zwei Minuten überstehen…
Ich schaute Jegor in die Augen.
»Jeder trifft seine eigenen Entscheidungen. Ich gehe jetzt. Ich habe etwas, wofür es sich zu leben lohnt.«
»Warum willst du mich retten?«, wollte er neugierig wissen.»Braucht eure Wache mich?«
»Ich glaube nicht, dass du zu unserer Wache kommst…«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung.
Er lächelte. Zwischen uns glitt langsam ein Schatten hindurch. Semjon. Hatte er etwas bemerkt? War jemandem etwas passiert?
Und ich saß da, verlor meine letzten Kräfte und versuchte, den ausgeklügelten Selbstmord eines kleinen Anderen zu verhindern - der so oder so verloren war.
»Ich gehe«, sagte ich.»Verzeih.«
Der Schatten klammerte sich an mich, fror an den Fingern an und wuchs mir zum Gesicht hinauf. Als ich mich ruckartig von ihm losriss, fauchte das Zwielicht verdrossen, enttäuscht von solch einem Verhalten.
»Hilf mir«, bat Jegor. Ich konnte seine Stimme kaum noch hören, da ich schon fast herausgegangen war. Er hatte sich in allerletzter Sekunde entschlossen.
Ich streckte den Arm aus und griff nach seiner Hand. Überall an mir zerrte es, das Zwielicht schubste mich hinaus, während der Nebel um mich herum schmolz. All meine Hilfe war rein symbolisch, das Wesentliche musste der Junge selbst tun.
Was er auch tat.
Wir fielen in die obere Schicht des Zwielichts. Der kalte Wind schlug uns ins Gesicht, was jetzt allerdings angenehm war. Die laschen Bewegungen um uns herum verwandelten sich in ein schnelles Handgemenge. Die grauen verwischten Farben kamen uns leuchtend vor.
Irgendetwas hatte sich in den Sekunden verändert, als wir miteinander gesprochen hatten. Die Vampirin zappelte immer noch unter Bär - das war’s nicht. Der junge Hexer lag auf dem Dach, tot oder bewusstlos, daneben wälzten sich Tigerjunges und die Hexe - das war’s auch nicht.
Die Schlange!
Die weiße Kobra war derart angeschwollen, hatte sich derart aufgebläht, dass sie bereits ein Viertel des Dachs einnahm. Es war, als hätte sie jemand mit Luft voll gepumpt und in die Höhe gehoben, vielleicht war sie auch von allein in den tief hängenden Himmel aufgeflogen. Semjon stand in irgendeiner alten Kampfposition neben den ineinander verflochtenen Windungen des Flammenkörpers und ließ von seinen Händen kleine orangefarbene Kugeln gegen die Spule aus weißen Flammen prasseln. Er zielte nicht auf die Kobra, sondern auf jemanden, der unter ihr klemmte, der schon lange hätte tot sein müssen, aber immer noch weiter kämpfte.
Eine Explosion!
Ein Wirbel von Licht, Fetzen von Dunkel. Ich wurde rücklings zu Boden geschleudert, im Fallen stürzte ich auf Jegor, riss ihn mit, schaffte es aber, seine Hand zu packen. Tigerjunges und die Hexe enthakten sich und flogen an den Dachrand, wo sie am Gitter wie erstarrtliegen blieben. Bär war von der Vampirin heruntergerissen worden, sie war verletzt und verstümmelt, aber noch am Leben. Semjon schwankte zwar, stand aber noch aufrecht da, abgeschirmt von einer matt leuchtenden Schutzlinse. Der Einzige, der abstürzte, war der bewusstlose Hexer: Er brach durch das verrostete Gitter der Absperrung und fiel wie ein nasser Sack nach unten.
Nur Ilja stand da wie angewurzelt. Einen Schutz um ihn herum sah ich nicht, doch nach wie vor verfolgte er voller Neugier das Geschehen und presste die Hände fest um den Stab.
Die Reste der Flammenkobra stoben auf, wirbelten wie leuchtende Wölkchen, die funkenstiebend schmolzen und in Lichtstrahlen zerflossen. Unter diesem Feuerwerk erhob sich Sebulon langsam und breitete die Arme in einer komplizierten magischen Geste aus. Beim Kampf hatte er seine Kleidung eingebüßt, sodass er jetzt völlig nackt dastand. Sein Körper hatte sich verändert, wies nun die klassischen Merkmale eines Dämons auf: statt Haut matte Schuppen, eine falsche Schädelform, anstelle von Haaren ein verfilztes Fell, schmale Augen mit vertikalen Pupillen. Zwischen den Beinen baumelte ein übergroßes Glied, der Steiß mündete in einen kurzen gespaltenen Schwanz.
»Fort!«, schrie Sebulon.»Fort!«
Was jetzt wohl in der Menschenwelt los war? Ausbrüche von tödlicher Sehnsucht und grundloser, blinder Freude, Herzattacken, unüberlegte Handlungen, Streitigkeiten zwischen den besten Freunden, Betrug der treuen Geliebten… Die Menschen sehen nicht, was hier geschieht, doch ihre Seelen werden davon berührt.
Wozu?
Wozu macht die Tagwache das alles?
In diesem Moment wehte mich unvermittelt Ruhe an. Eine kalte, nüchterne, fast vergessene Ruhe.
Eine mehrzügige Kombination. Mal angenommen, alles läuft nach einem Plan der Tagwache ab. Setzen wir das als Prämisse. Und dann verbinden wir alle Zufälle, angefangen von meiner Jagd in der Metro, nein, angefangen mit dem Augenblick, als der junge Vampir von uns das Mädchen als Futter zugewiesen bekam, in das er sich unweigerlich verliebte.
Die Gedanken strömten jetzt so entschlossen, als hätte ich ein Brainstorming ausgelöst, mich in das Bewusstsein anderer Menschen eingeklinkt, wie das unsere Analytiker ab und zu machen. Nein, das war natürlich nicht der Fall - aber einige Teilchen dieses Puzzles regten sich mit einem Mal, ordneten sich neu auf dem Tisch an, wurden lebendig und fügten sich vor meinen Augen zusammen.
Der Tagwache war die Vampirin schnuppe.
Die Tagwache würde es wegen eines Jungen mit potenziell sehr großen Fähigkeiten nicht auf einen Konflikt ankommen lassen.
Für die Tagwache gab es nur einen Grund, warum sie so etwas einfädelte.
Den Dunklen Magier mit sagenhaftem Potenzial.
Den Dunklen Magier, der ihre Position stärken würde - nicht nur in Moskau, sondern auf dem ganzen Kontinent.
Aber sie hätten ihn doch auch so bekommen, wir haben doch versprochen, ihnen den Dunklen Magier zu
überlassen…
Dieser unsichtbare Magier war das X. Die einzige unbekannte Größe in der Gleichung. Als Y konnte man Jegor betrachten: Seine Widerstandskraft gegenüber der Magie war bereits zu ausgeprägt für einen Neuling unter den Anderen. Trotzdem stellte der Junge eine bekannte Größe dar, wenn auch mit unbekanntem Faktor.
Der bewusst in die Gleichung aufgenommen wurde. Um sie komplizierter zu machen.
»Sebulon!«, schrie ich. Hinter mir wälzte sich Jegor, der aufstehen wollte und dabei auf dem Eis ausrutschte. Semjon, der immer noch seinen Schutz aufrechterhielt, ging von dem Magier weg. Völlig leidenschaftslos beobachtete Ilja das Geschehen. Bär näherte sich der zuckenden Vampirin, die auf die Beine zu kommen versuchte. Tigerjunges und die Hexe Alissa gingen schon wieder aufeinander zu.»Sebulon!«
Der Dämon sah mich an.
»Ich weiß, um wen ihr kämpft!«
Nein, noch wusste ich es nicht. Aber langsam schwante mir etwas, denn das Puzzle fügte sich zu einem Ganzen und zeigte ein mir bekanntes Gesicht…
Der Dämon öffnete das Maul - die Kiefer klappten nach links und nach rechts wie bei einem Käfer. Immer stärker erinnerte er an ein gigantisches Insekt, die Schuppen waren zum Panzer zusammengewachsen und die Genitalien sowie der Schwanz eingeschrumpft, während an den Seiten neue Extremitäten herauswuchsen.
»Dann bist du… tot.«
Seine Stimme klang wie eh und je, hatte eher noch an Nachdenklichkeit und Intellektualität gewonnen. Sebulon streckte mir den Arm entgegen - der sich ruckartig verlängerte, immer neue und neue Gelenke hinzugewann.
»Komm her…«, flüsterte Sebulon.
Alle erstarrten. Bis auf mich - ich ging auf den Dunklen Magier zu. Von dem mentalen Schutz, den ich mir in langen Jahren zugelegt hatte, blieb nicht die Spur übrig. Es überstieg meine Kräfte, überstieg sie bei weitem, mich Sebulon zu widersetzen.
»Bleib stehen!«, brüllte Tigerjunges und drehte sich von der ramponierten, aber grinsenden Hexe weg.»Bleib stehen!«
Nur zu gern hätte ich ihr die Bitte erfüllt. Aber ich konnte nicht.
»Anton…«, erklang es hinter mir.»Dreh dich um…«
Das konnte ich. Indem ich den Kopf zurückdrehte, entriss ich mich dem Blick aus den bernsteinfarbenen Augen mit den vertikalen Pupillen.
Jegor hockte da, zum Aufstehen fehlte ihm die Kraft. Erstaunlich, dass er überhaupt bei Bewusstsein war - denn von außen floss ihm keine Energie mehr zu. Der Zufluss war versiegt, der das Interesse des Chefs geweckt hatte, von Anfang an dagewesen war. Der Faktor Y. Ins Spiel gebracht, um die Situation komplizierter zu machen.
An Jegors Hand baumelte die Kupferkette mit dem kleinen beinernen Amulett.
»Fang!«, schrie der Junge.
»Nimm es nicht!«, befahl Sebulon. Doch zu spät, ich hatte mich schon vorgebeugt und mir das Amulett gegriffen, das vor meinen Füßen gelandet war. Die Berührung mit dem beschnitzten Medaillon versengte mich, fast als hätte ich glühende Kohle angefasst.
Ich sah den Dämon an und schüttelte den Kopf.»Sebulon… du hast keine Macht mehr über mich.«
Der Dämon brüllte auf und kam auf mich zu. Macht hatte er keine mehr - aber Kraft im Übermaß.
»Aber, aber…«, sagte Ilja im Ton eines Oberlehrers.
Eine lodernde weiße Wand zerschnitt die Fläche zwischen uns. Sebulon heulte auf, denn er rannte gegen die magische Barriere, ein Gewebe aus reinstem weißen Licht, das ihn zurückwarf. Mit einer komischen Geste schüttelte er die verbrannten Pfoten und sah dabei eher albern als furchteinflößend aus.
»Ein Mehrzüger?«, sagte ich.»Ganz einfach, ja?«
Alles auf dem Dach verstummte. Tigerjunges und die Hexe Alissa standen nebeneinander und versuchten nicht mehr, übereinander herzufallen. Semjon schaute abwechselnd Ilja und mich an, und es ließ sich nicht sagen, wer von uns beiden ihn mehr zum Staunen brachte. Die Blutsaugerin weinte leise vor sich hin und versuchte aufzustehen. Ihr ging es schlechter als den anderen, sie hatte ihre ganze Kraft geopfert, um den Kampf mit Bär zu überleben, und setzte nun alles daran, sich zu regenerieren. Mit unsagbarer Mühe tauchte sie aus dem Zwielicht auf und verwandelte sich in eine verschwommene Silhouette.
Sogar der Wind schien sich plötzlich zu legen…
»Wie macht man einen Menschen zum Dunklen Magier, der von Grund auf rein ist?«, fragte ich.»Wie zieht man einen Menschen auf die Seite des Dunkels, der nicht hassen kann? Man kann überall Schwierigkeiten vor ihm aufbauen - nach und nach, immer wieder, in der Hoffnung, dass er böse wird… Aber das bringt nichts. Als zu rein erweist sich dieser Mensch… diese Frau.«
Ilja lachte leise zustimmend auf.
»Das Einzige, was sie hassen kann…«Ich sah Sebulon in die Augen, in denen nur noch eine machtlose Bosheit zu lesen war.»… ist sie selbst. Und da nun dieser überraschende Zug. Ein ungewöhnlicher. Man lässt ihre Mutter krank werden. Soll sich das Mädchen doch die Seele zermartern, sich für ihre Schwäche und Hilflosigkeit verachten. Hauptsache, wir treiben sie so in die Ecke, dass sie nur noch hassen kann, wenn auch nur sich selbst, aber immerhin: hassen. Freilich gibt es da eine Wahrscheinlichkeitsverzweigung. Die kleine Chance, dass ein einziger Mitarbeiter der Nachtwache, der mit der operativen Arbeit nicht richtig vertraut ist…«
Die Beine knickten mir weg - ich bin wirklich nicht daran gewöhnt, so lange im Zwielicht zu bleiben. Ich wär vor Sebulon auf die Knie gefallen, was ich um keinen Preis wollte. Doch Semjon schlitterte durchs Zwielicht zu mir und packte mich bei den Schultern. Vermutlich macht er so was schon seit hundertfünfzig Jahren.
»Der mit dem Außendienst nicht vertraut ist…«, wiederholte ich.»Der weicht einfach so vom üblichen Schema ab. Weder bedauert noch tröstet er die Frau, für die Mitleid tödlich wäre. Also muss man ihn von dem Objekt abziehen. Eine Situation schaffen, die ihm keine ruhige Minute lässt. Damit er für eine zweitrangige Sache eingesetzt wird, und ihn noch dazu durch persönliche Verantwortung oder Sympathie an diese
Aufgabe binden - mit allem, was sich irgend anbietet. Dafür kann man auch schon mal einen einfachen Vampir opfern. Nicht wahr?«
Sebulon begann sich zurückzuverwandeln. Rasch nahm er sein früheres Aussehen eines bescheidenen Intelligenzlers an.
Komisch. Wozu das? Ich habe gesehen, wozu er im Zwielicht geworden ist, ein für alle Mal geworden ist.
»Eine mehrzügige Kombination«, wiederholte ich.»Ich könnte schwören, dass Swetlanas Mutter durchaus nicht an einer tödlichen Krankheit sterben muss. Da habt ihr ein bisschen nachgeholfen, im Rahmen des Erlaubten natürlich… Aber dann haben auch wir unsere Rechte.«
»Sie gehört uns!«, sagte Sebulon.
»Nein.«Ich schüttelte den Kopf.»Es wird keinen Durchbruch des Infernos geben. Ihre Mutter wird wieder gesund werden. Ich fahre jetzt zu Swetlana… und erzähle ihr alles. Die Frau kommt zur Nachtwache. Ihr habt verloren, Sebulon. So oder so verloren.«
Die über dem Dach verteilten Kleiderfetzen krochen auf den Dunklen Magier zu, wuchsen zusammen, sprangen hoch und hüllten ihn ein, den traurigen, charmanten Mann, der voller Kummer war über die Welt.
»Niemand von euch wird von hier weggehen«, sagte Sebulon. Hinter ihm wölkte das Dunkel auf, als spanne es zwei riesige schwarze Flügel.
Ilja lachte erneut.
»Ich bin stärker als ihr alle.«Sebulon schielte zu Ilja hinüber.»Deine geborgten Kräfte sind nicht unerschöpflich. Ihr werdet für immer hier bleiben, im Zwielicht, in einer Tiefe, in die ihr nie hineinzusehen gewagt hättet…«
Semjon seufzte auf und sagte:»Anton, er hat es immer noch nicht verstanden.«
Ich drehte mich um und fragte:»Boris Ignatje-witsch, diese Maskerade ist doch nicht länger nötig, oder?«
Der junge nassforsche Fahnder zuckte mit den Achseln.
»Natürlich nicht, Antoschka. Aber ich habe so selten das Vergnügen, den Chef der Tagwache bei der Arbeit zu beobachten… Verzeih einem alten Mann. Ich hoffe, es war für Ilja in meinem Körper genauso interessant…«
Boris Ignatjewitsch nahm seine alte Gestalt wieder an. In einem Rutsch, ganz ohne theatralische Zwischenstufen der Metamorphose und Lichteffekte. Wie immer trug er den Hausmantel und die Kappe, zudem aber noch Tatarenstiefel aus weichem Leder, über die er Galoschen gezogen hatte.
Es war die reinste Wonne, Sebulons Gesicht zu sehen.
Die dunklen Flügel verschwanden nicht, wuchsen jedoch nicht weiter und schlugen nur unsicher, als wolle der Magier wegfliegen, könne sich aber nicht entscheiden.
»Brich die Operation ab, Sebulon«, sagte der Chef.»Wenn ihr euch unverzüglich von hier und aus Swetlanas Haus zurückzieht, werden wir darauf verzichten, offiziell Beschwerde einzureichen.«
Der Dunkle Magier zögerte keine Sekunde.
»Wir gehen.«
Der Chef nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Fast hätte man denken können… Doch er hatte den Stab gesenkt, die Barriere zwischen Sebulon und mir war verschwunden.
»Ich werde nicht vergessen, welche Rolle du hier gespielt hast…«, flüsterte der Dunkle Magier hastig.»Niemals.«
»Merk es dir nur«, pflichtete ich ihm bei.»Das kann nicht schaden.«
Sebulon legte die Hände aneinander - die mächtigen Flügel schlugen im Takt, und er verschwand. Zuvor hatte der Magier jedoch noch die Hexe angesehen, die daraufhin genickt hatte.
Oh, oh, das gefiel mir ganz und gar nicht. Nach dem Kampf angespuckt zu werden ist nicht tödlich, aber immer unangenehm.
Mit leichten, tänzelnden Schritten, die so gar nicht zu dem blutüberströmten Gesicht und dem ausgekugelten, kraftlos herabhängenden linken Arm passten, kam Alissa auf mich zu.
»Du musst auch gehen«, sagte der Chef.
»Natürlich, mit dem allergrößten Vergnügen!«, erwiderte die Hexe.»Aber vorher habe ich noch ein kleines, ein ganz kleines Recht. Nicht wahr, Anton?«
»Ja«, flüsterte ich.»Eine Einwirkung siebten Grades.«
Gegen wen würde sich der Schlag richten? Gegen den Chef? Lächerlich! Gegen Tigerjunges, Bär, Semjon…? Quatsch! Jegor? Aber was sollte sie ihm mit der geringsten Form der Intervention eingeben können?
»Öffne dich«, verlangte die Hexe.»Öffne dich, Anton. Das ist eine Intervention siebten Grades. Der Chef der Nachtwache ist mein Zeuge: Ich gehe nicht zu weit.«
Semjon stöhnte auf und presste meine Schulter so stark, dass es wehtat.
»Sie hat das Recht dazu«, sagte ich.»Boris Ignatjewitsch…«
»Tu es«, entgegnete der Chef leise.»Ich schau zu.«
Ich seufzte auf und öffnete mich der Hexe. Was konnte sie mir schon anhaben! Nichts! Eine Intervention siebten Grades - damit würde sie mich nicht auf die Seite des Dunkels ziehen! Das war doch einfach lächerlich!
»Anton«, sagte die Hexe sanft.»Sag dem Chef das, was dir auf dem Herzen liegt. Sag ihm die Wahrheit. Antworte ehrlich und aufrichtig. So, wie du antworten musst.«
»Eine minimale Einwirkung…«, wiederholte der Chef. Sollte in seiner Stimme Schmerz mitschwingen, dann war er so tief verborgen, dass ich ihn nicht hören konnte.
»Ein Mehrzüger«, sagte ich, wobei ich Boris Ignatjewitsch ansah.»Auf beiden Seiten. Die Tagwache opfert ihre Bauern. Dito die Nachtwache. Um das große Ziel zu erreichen. Um eine Zauberin von großer, beispielloser Kraft auf die eigene Seite zu ziehen. Ein junger Vampir, der so gern lieben wollte, kann da ruhig sterben. Ein kleiner Junge mit den schwachen Fähigkeiten eines Anderen kann ruhig sterben, im Zwielicht umkommen. Die eigenen Mitarbeiter können ruhig leiden. Denn es gibt ein Ziel, das alle Mittel rechtfertigt. Zwei
große Magier, die einander seit Jahrhunderten bekämpfen, zetteln wieder einmal einen kleinen Krieg an. Und dem Lichten Magier macht das mehr zu schaffen - er setzt alles auf eine Karte. Wenn er verliert, ist das nicht nur unangenehm - es ist ein Schritt ins Zwielicht, ins ewige Zwielicht. Trotzdem setzt er alles auf eine Karte. Setzt die eigenen Leute genauso wie die anderen. Ist es nicht so, Boris Ignatjewitsch?«
»Ja«, antwortete der Chef.
Alissa lachte leise auf und ging zur Luke. Sie konnte jetzt nicht fliegen. Tigerjunges hatte sie tüchtig in die Mangel genommen. Und trotzdem hatte die Hexe gute Laune.
Ich sah Semjon an, der meinem Blick auswich. Tigerjunges verwandelte sich langsam in eine Frau zurück - und versuchte ebenfalls, mich nicht anzusehen. Bär brüllte einmal kurz und stapfte ohne sein Äußeres zu ändern zur Luke. Er nahm es schwerer als die anderen. Er ist zu gradlinig. Bär, dieser hervorragende Kämpfer und Gegner von Kompromissen…
»Ihr seid Schufte, alle miteinander«, sagte Jegor. Er rappelte sich ungelenk hoch, was nicht nur an seiner Erschöpfung lag - der Chef versorgte ihn jetzt, ich sah den feinen Faden der Kraft, der sich in der Luft spannte -, sondern weil es anfangs immer schwer ist, sich vom eigenen Schatten loszureißen.
Ich folgte ihm. Das war nicht weiter problematisch, denn in der letzten Viertelstunde war derart viel Energie ins Zwielicht geflossen, dass es seine übliche aggressive Zähigkeit eingebüßt hatte.
Noch im selben Moment, als ich aus dem Zwielicht heraustrat, hörte ich ein widerwärtiges dumpfes Klatschen: Der vom Dach gestürzte Hexer war eben auf dem Asphalt aufgeschlagen.
Nach und nach tauchten die anderen auf. Eine sympathische schwarzhaarige Frau, die unter dem linken Auge blutete und deren Wangenknochen gebrochen war, ein unerschütterliches, stämmiges Kerlchen, ein imposanter Geschäftsmann im orientalischen Gewand… Bär war bereits weg. Ich wusste, was er in seiner Wohnung, in seiner Höhle, machen würde: reinen Sprit trinken und Gedichte lesen. Höchstwahrscheinlich laut. Und dabei in den fröhlich brabbelnden Fernseher glotzen.
Die Vampirin war auch da. Ihr ging es miserabel, sie grummelte irgendetwas, schüttelte den Kopf und versuchte den zerbissenen Arm zu belecken. Erschöpft mühte sich dieser, wieder zusammenzuwachsen. Rundherum war alles mit Blut bespritzt - nicht mit ihrem natürlich, sondern mit dem des letzten Opfers…
»Hau ab«, sagte ich und hob die schwere Pistole. Meine Hand zitterte verdächtig.
Die Kugel schlug klatschend ein, drang durch den toten Körper, an der Seite der Frau klaffte eine hässliche Wunde auf. Die Vampirin stöhnte und presste die gesunde Hand auf die Stelle. Der andere Arm baumelte an ein paar dünnen Sehnen herab.
»Das ist nicht nötig«, sagte Semjon sanft.»Das ist nicht nötig, Anton…«
Trotzdem zielte ich auf ihren Kopf. Doch in diesem Augenblick schoss ein riesiger schwarzer Schatten vom Himmel herab, eine Fledermaus, groß wie ein Kondor. Sie breitete die Flügel aus, schirmte die Vampirin ab und krümmte sich unter den Krämpfen der Transfor-
mation zusammen.
»Sie hat das Recht auf einen Prozess!«
Auf Kostja konnte ich nicht schießen. Ich stand einfach da und schaute auf den jungen Vampir, der im selben Haus wohnte wie ich. Er wich meinem Blick nicht aus, sondern sah mich direkt und unerbittlich an. Wie lange schleichst du schon hinter mir her, mein Freund und Widersacher? Und wozu? Um eine Artgenossin zu retten oder um den Schritt zu verhindern, der mich zu deinem Todfeind machen würde?
Ich zuckte die Schultern und steckte die Pistole in den Hosenbund. Du hast Recht, Olga. Diese ganze Technik ist Quatsch.
»Das hat sie«, bestätigte der Chef.»Semjon, Tigerjunges, ihr beide eskortiert sie.«
»Gut«, sagte Tigerjunges. Sie sah mich an - nicht mitleidig, sondern verständnisvoll. Mit federndem Schritt ging sie auf die Vampirin zu.
»Ihr blüht sowieso die Höchststrafe«, flüsterte Semjon, bevor er ihnen nachstapfte.
So verließen auch sie das Dach: Kostja, der die stöhnende, nichts begreifende Vampirin in den Armen trug, dann Semjon und Tigerjunges, die ihnen schweigend folgten.
Wir blieben zu dritt übrig.
»Du hast wirklich Fähigkeiten, mein Junge«, sagte der Chef sanft.»Nicht sehr große, doch die meisten haben nicht einmal die. Ich würde mich freuen, wenn du mein Schüler würdest…«
»Scheren Sie sich doch…«, setzte Jegor an. Höflichkeit verbot es ihm, den Satz zu beenden. Lautlos weinte der Junge vor sich hin, verzog das Gesicht und versuchte, die Tränen zurückzuhalten - was ihm jedoch nicht gelingen wollte.
Eine kleine Einwirkung siebten Grades, und ihm wäre leichter zumute. Er würde verstehen, dass das Licht nicht gegen das Dunkel kämpfen kann, ohne dabei zu allen Waffen zu greifen, die ihm zur Verfügung stehen.
Ich hob den Kopf zum Zwielicht-Himmel, öffnete den Mund und fing die kalten Schneeflocken auf. Man müsste kalt werden. Für immer. Aber nicht so wie im Zwielicht. Man müsste zu Eis werden, nicht zu Nebel, zu Schnee, nicht zu Matsch; müsste versteinern, nicht zerlaufen…
»Jegor, gehen wir, ich bring dich nach Hause«, schlug ich vor.
»Ich… habe es… ja nicht weit…«, sagte der Junge.
Noch lange stand ich da, schluckte abwechselnd Schnee und Wind - und merkte nicht, wie er ging. Ich hörte die Frage des Chefs:»Jegor, kannst du deine Eltern allein wecken?«, aber die Antwort vernahm ich nicht.
»Anton, wenn es dich tröstet - die Aura des Jungen ist nach wie vor die alte«, sagte Boris Ignatjewitsch.»Nämlich unbestimmt…«Er packte mich bei den Schultern, ein kleiner und beklagenswerter Mann, der in nichts an den Unternehmer mit dem gepflegten Äußeren oder den Magier ersten Grades erinnerte. Nur ein jung gebliebener Alter, der mal wieder eine kleine Schlacht in einem endlosen Krieg gewonnen hatte.
»Wenigstens das.«
Das hätte ich auch gewollt. Keine bestimmte Aura. Das eigene Schicksal.
»Anton, uns erwartet noch Arbeit.«
»Ich weiß, Boris Ignatjewitsch…«
»Kannst du Swetlana alles erklären?«
»Ja, vermutlich schon… Jetzt kann ich es.«
»Du musst mir verzeihen. Aber ich nutze das, was ich habe… benutze diejenigen, über die ich verfüge. Ihr beide seid miteinander verbunden. Eine ganz gewöhnliche mystische Verbindung, die durch nichts zu erklären ist. Niemand hätte dich ersetzen können.«
»Ist mir klar.«
Der Schnee legte sich mir aufs Gesicht, gefror an den Wimpern, lief in Rinnsalen über die Wangen. Ich hatte den Eindruck, dass es mir fast gelungen war zu erfrieren - doch dazu hatte ich kein Recht.
»Weißt du noch, was ich dir gesagt habe? Dass es viel schwerer ist, ein Lichter zu sein als ein Dunkler…«
»Ja…«
»Für dich wird es noch schwerer werden, Anton. Du wirst dich in sie verlieben. Mit ihr zusammenleben… für eine gewisse Zeit. Dann wird Swetlana weiterziehen. Und du wirst erleben, wie sie sich von dir entfernt, wie sie in Kreisen verkehrt, die weit über dem stehen… was dir zugänglich ist. Du wirst leiden. Dagegen kann man gar nichts machen, du hast nur am Anfang eine Rolle gespielt. So ist es mit jedem Großen Magier, mit jeder Großen Zauberin. Sie gehen über Leichen, über die Leichen von Freunden und Geliebten. Ihnen bleibt nichts anderes übrig.«
»Das verstehe ich doch… alles verstehe ich…«
»Gehen wir, Anton?«
Ich schwieg.
»Gehen wir?«
»Kommen wir nicht zu spät?«
»Noch nicht. Das Licht hat seine eigenen Wege. Ich führe dich einen kurzen Weg, danach… danach musst du deinen Weg allein gehen.«
»Dann bleibe ich hier noch ein Weilchen stehen«, sagte ich. Ich schloss die Augen, um zu spüren, wie die Schneeflocken sich flimmernd und zart auf meine Wangen legten.
»Wenn du wüsstest, wie oft ich schon so dagestanden habe«, sagte der Chef.»Genau so, um in den Himmel zu sehen und etwas zu erflehen… Mal einen Segen, mal einen Fluch.«
Ich antwortete nichts, denn ich wusste, dass ich vergebens warten würde.
»Anton, ich bin schon durchgefroren«, sagte der Chef.»Mir ist kalt. Wie einem Menschen kalt. Ich will einen Wodka trinken und mich unter der Decke verkriechen. Mich hinlegen und warten, bis du Swetlana geholfen hast… bis Olga mit dem Wirbel fertig geworden ist. Und dann Urlaub machen. Iljucha könnte meinen Platz einnehmen, schließlich ist der schon mal in meine Haut geschlüpft, und ich würde nach Samar-kand fahren. Warst du schon mal in Samarkand?«
»Nein.«
»Nicht sehr schön, wenn ich ehrlich sein soll. Vor allem jetzt. Es gibt dort nichts Schönes… bis auf die Erinnerungen. Doch die gehören nur mir. Also, was ist mit dir?«
»Gehen wir, Boris Ignatjewitsch.«
Ich wischte mir den Schnee vom Gesicht.
Jemand wartete auf mich.
Und das ist das Einzige, was uns daran hindert zu erfrieren.
Zweite Geschichte Der eigene Kreis
Prolog
Er hieß Maxim.
Kein ausgesprochen seltener Name, aber auch kein Allerweltsname wie Sergej, Andrej oder Dima. Wohlklingend. Ein gut russischer Name, auch wenn seine Wurzeln bis zu den Griechen, Warägern und Skythen zurückreichten.
Sein Äußeres stellte ihn ebenfalls zufrieden. Nicht die geleckte Schönheit der Schauspieler aus irgendeiner Serie, aber auch kein Durchschnitt, kein Niemandsgesicht. Ein schöner Mann, den man in der Menge ausmachte. Und auch hier: athletisch, aber kein Muskelprotz, keine hervortretenden Adern, kein Fanatismus, der ihn jeden Tag ins Sportstudio trieb.
Von Beruf Wirtschaftsprüfer in einer großen ausländischen Firma, mit einem Einkommen, das für alle Extravaganzen reichte, ohne dass er sich um Schutzgelderpresser Sorgen machen musste.
Als ob sein Schutzengel ein für alle Mal beschlossen hätte. -»Dir soll es ein bisschen besser als den anderen gehen.«Ein bisschen nur, doch besser.
Das Wichtigste aber war, dass sich Maxim damit völlig zufrieden gab. Karriere machen, einem Luxusschlitten hinterherjagen, nach Einladungen für die Empfänge der High Society fiebern oder unbedingt eine riesige Wohnung in Beschlag nehmen - wozu? Das Leben an sich war schön - ganz ohne diese Güter, die man irgendwann mal erlangt. In diesem Sinne bedeutete das Leben das genaue Gegenteil vom Geld, das an sich nichts war.
Natürlich dachte Maxim nie so direkt über diese Dinge nach. Eine der Besonderheiten von Menschen, denen es gelungen ist, ihren Platz im Leben zu finden, besteht darin, dass sie das für völlig normal halten. Alles kommt so, wie es kommen muss. Und wenn jemand nicht das bekommt, was er möchte, ist es einzig und allein seine Schuld. Dann ist er faul und dumm gewesen. Oder hatte überzogene Ansprüche.
Maxim gefiel der Ausdruck»überzogene Ansprüche«ungemein. Er rückte alles an den rechten Ort. Erklärte beispielsweise, warum seine kluge und schöne Schwester mit einem Trinker als Mann in Tambow dahinvegetierte. Musste sie sich unbedingt etwas Besseres und Aussichtsreicheres suchen? Na, das hatte sie ja gefunden. Oder sein alter Schulfreund, der bereits den zweiten Monat mit gebrochenen Knochen im Krankenhaus lag. Hatte der nicht sein Geschäft ausbauen wollen? Eben. Er konnte von Glück sagen, dass er mit dem Leben davongekommen war. Dass sich die Konkurrenten auf dem seit langem aufgeteilten Markt für Edelmetalle als Menschen mit guten Manieren herausgestellt hatten…
Und nur in einem Fall wandte Maxim den Ausdruck der»überzogenen Ansprüche«auf sich selbst an. Doch das war ein derart seltsamer und komplizierter Aspekt - über den er nicht einmal nachdenken wollte. Es war leichter, nicht darüber nachzudenken, leichter, sich mit diesem merkwürdigen Drang abzufinden, der ihn ab und zu im Frühling befiel, manchmal auch im Herbst und in seltenen Ausnahmen auch im Hochsommer, wenn eine unerträgliche Hitze herabschlug, die jede Vernunft, jede Wachsamkeit, jeden leichten Zweifel an der eigenen psychischen Gesundheit im Kopf wegätzte. Dabei hielt Maxim sich keineswegs für schizophren. Er hatte etliche Bücher gelesen und erfahrene Ärzte aufgesucht - denen gegenüber er natürlich nicht ins Detail gegangen war.
Nein, er war normal. Offensichtlich gab es in der Tat etwas, wovor der gesunde Menschenverstand passen musste, was sich mit den üblichen menschlichen Normen nicht fassen lässt. Überzogene Ansprüche - wie unschön. Doch waren sie das wirklich: überzogen?
Der Motor lief nicht, während Maxim im Auto saß, in seinem sauberen, gepflegten Toyota, nicht das teuerste und schickste Modell, aber weit besser als die meisten Wagen auf Moskaus Straßen. Im morgendlichen Halbdunkel konnte man ihn selbst aus einer Entfernung von nur wenigen Schritten nicht hinterm Steuer ausmachen. Die ganze Nacht hatte er so zugebracht, dem leisen Knacken des kalt gewordenen Motors lauschend, war halb erfroren, hatte sich aber dennoch nicht erlaubt, die Standheizung einzuschalten. Wie in solchen Fällen üblich, wollte er nicht schlafen. Rauchen auch nicht. Nichts wollte er, er genoss es einfach, so dazusitzen, bewegungslos, ein Schatten in einem am Straßenrand geparkten Auto, und zu warten. Das Einzige, was ihn ärgerte, war, dass seine Frau schon wieder dachte, er verbringe die Nacht bei einer Geliebten. Doch wie sollte er ihr beweisen, dass er keine Geliebte hatte, keine Dauerfreundin, und dass sämtliche Seitensprünge sich auf die üblichen Affären im Urlaub, Flirts auf der Arbeit und ein paar Nutten während einer Geschäftsreise beschränkten - Letztere noch nicht mal vom Familienbudget bezahlt, sondern von Kunden offeriert. Da konnte man ja nicht ablehnen, wollte man niemanden beleidigen. Oder für einen Schwulen gehalten werden, sodass man beim nächsten Mal Knaben vorgesetzt bekam…
Die grün leuchtenden Ziffern der Uhr sprangen um: fünf Uhr morgens. Bald würden die Hausmeister hervorgekrochen kommen, um sich an die Arbeit zu machen. Der Bezirk war alt, renommiert, hier achtete man auf Sauberkeit. Wie schön, dass es weder regnete noch schneite, der Winter hatte ein Ende, verreckt war das Scheusal und hatte dem Frühling Platz gemacht mit all seinen Problemen und überzogenen Ansprüchen…
Eine Haustür knallte. Eine junge Frau trat auf die Straße, blieb kurz stehen, rückte den Riemen der Tasche auf der Schulter zurecht, alles etwa zehn Meter vom Auto entfernt. Diese blöden Häuser ohne Höfe, hier arbeitete man nicht gern, hier lebte man bestimmt auch nicht gern: Was hatte man denn von all dem Renommée, wenn die Rohre verfaulten, die meterhohen Wände vor Schimmel starrten und vermutlich Gespenster umgingen.
Maxim lächelte leicht und stieg aus dem Auto. Sein Körper gehorchte ihm einwandfrei, die Muskeln waren über Nacht nicht eingeschlafen, sondern schienen sogar noch Kraft gesammelt zu haben. Ein gutes Zeichen.
Dennoch, interessieren würde es ihn schon einmal: Ob es eigentlich Gespenster gibt?
»Galina!«, rief er.
Die Frau drehte sich zu ihm um. Auch das war ein sicheres Anzeichen, sonst wäre sie losgerannt, denn ein Mann, der dich in aller Herrgottsfrühe vor deinem Haus abpasst, ist doch verdächtig und gefährlich.
»Ich kenne Sie nicht«, sagte sie. Ruhig, neugierig.
»Stimmt«, bestätigte Maxim.»Dafür kenne ich Sie.«
»Wer sind Sie?«
»Der Richtherr!«
Diese Form gefiel ihm, diese archaische, gespreizte, feierliche Form. Richtherr! Derjenige, der das Recht hatte zu richten.
»Und über wen wollen Sie richten?«
»Über Sie, Galina.«Maxim war konzentriert und sachlich. Langsam wurde ihm dunkel vor Augen - auch das ein sicheres Anzeichen.
»Ach ja?«Als sie ihn mit einem raschen Blick musterte, bemerkte Maxim in den Pupillen ein gelbliches Feuer.»Aber ob Sie es schaffen werden?«
»Werd ich«, erwiderte Maxim und riss den Arm hoch. Der Dolch lag bereits in der Hand, eine schmale dünne Waffe aus Holz, das einst hell gewesen, doch in den letzten drei Jahren nachgedunkelt war, durchtränkt…
Die Frau gab keinen Laut von sich, als die Holzschneide unter ihrem Herz eindrang.
Wie stets verspürte Maxim einen Moment der Furcht, eine kurze und sengende Welle des Schreckens - ob er nicht doch einen Fehler begangen hatte? Trotz allem?
Mit der linken Hand berührte er das Kreuz, das schlichte Holzkreuz, das immer auf seiner Brust ruhte. So stand er da, in der einen Hand den Holzdolch, die andere fest um das Kreuz geballt, stand da, bis die Frau sich zu verändern begann…
Es ging schnell. Immer ging es schnell: die Verwandlung in ein Tier und zurück in einen Menschen. Für ein paar Sekunden lag ein Tier auf dem Pflaster, ein
schwarzer Panther mit erstarrtem Blick und gebleckten Reißzähnen, ein Opfer der Jagd, gewandet in ein Kostüm von strengem Schnitt, mit einer Strumpfhose, die kleinen Füße beschuht. Dann lief der Prozess rückwärts, als schlage das Pendel zum letzten Mal.
Maxim wunderte sich weniger über diese rasche und in der Regel verspätet einsetzende Transformation als vielmehr darüber, dass die tote Frau keine Wunde zeigte. Der kurze Moment der Verwandlung hatte sie gereinigt, geheilt. Nur ein Schnitt in der Bluse und im Jackett war geblieben.
»Gelobt seist du, Herr«, flüsterte Maxim, während er auf die tote Tierfrau sah.»Gelobt seist du, Herr.«
Er hatte nichts gegen die Rolle einzuwenden, die ihm in diesem Leben zugedacht war.
Dennoch lastete sie schwer auf ihm, der er keine überzogenen Ansprüche hatte.
Eins
An diesem Morgen merkte ich, dass der Frühling wirklich eingezogen war.
Noch am Abend hatte ein ganz anderer Himmel über der Stadt gehangen, waren Wolken über Moskau hinweggezogen, hatte es nach feuchtem modrigen Wind und ungefallenem Schnee gerochen. Man wollte sich tiefer in den Sessel hineinkuscheln, eine Videokassette mit irgendeinem grellen und stumpfsinnigen - also amerikanischen - Film einlegen, Kognak trinken und dabei einschlafen.
Am Morgen hatte sich alles geändert.
Mit der Geste eines erfahrenen Zauberkünstlers war ein hellblaues Tuch über die Stadt geworfen, durch Straßen und Plätze gezogen worden, als habe man damit die letzten Spuren des Winters weggewischt. Und selbst die Klumpen braunen Schnees, die sich noch in den Ecken und Rinnsteinen fanden, wirkten nicht, als habe der einziehende Frühling etwas übersehen, sondern wie ein unverzichtbares Element des Interieurs. Wie eine Erinnerung…
Lächelnd ging ich zur Metro.
Manchmal ist es sehr schön, ein Mensch zu sein. Bereits seit einer Woche führte ich jetzt dieses Leben: ging zur Arbeit, blieb aber immer im ersten Stock, kämpfte mit dem Server, der urplötzlich eine Reihe merkwürdiger Angewohnheiten an den Tag legte, installierte für die Mädchen aus der Buchhaltung neue Programme, von deren Notwendigkeit weder sie noch ich überzeugt waren. Abends ging ich ins Theater, zum Fußball, in kleine Bars oder Restaurants. Egal wohin, Hauptsache, es war laut und voller Menschen. Ein Mensch in der Menge zu sein ist noch viel interessanter, als einfach ein Mensch zu sein.
Im Büro der Nachtwache - untergebracht in einem alten dreistöckigen Gebäude, das wir bei unserer eigenen Tochterfirma angemietet hatten - fand man natürlich weit und breit keinen Menschen. Sogar die drei alten Putzfrauen waren Andere. Selbst die dreisten jungen Wachleute am Eingang, die kleine Banditen und Handelsreisende abschrecken sollten, verfügten über ein gewisses magisches Potenzial. Sogar der Klempner - ein Säufer, wie jeder anständige Klempner in Moskau - war ein Magier… und wäre gar kein schlechter Magier gewesen, wenn er nicht dem Alkohol verfallen wäre.
Wie allenthalben wirkten die beiden untersten Stockwerke absolut unauffällig. Bis hierhin durfte sich die Steuerpolizei vorwagen, aber auch unsere Geschäftspartner aus der Menschenwelt oder unsere Paten. Die Paten ihrerseits steuerte zwar der Chef persönlich - doch das ging das gemeine Fußvolk ja wohl kaum etwas an, oder?
Auch die Gespräche, die hier geführt wurden, waren ganz alltäglich. Politik, Steuern, Einkäufe, das Wetter, Liebesaffären von anderen und die eigenen amourösen Abenteuer. Die Frauen hechelten die Männer durch, wir blieben ihnen nichts schuldig. Man fing ein Techtelmechtel an, spann Intrigen, um am Stuhl der direkten Vorgesetzten zu sägen, und erörterte die Aussichten auf eine Prämie.
Bis nach Sokol brauchte ich eine halbe Stunde. Ich verließ die Metro. Hier draußen war es laut, die Luft vom Gestank der Autoabgase geschwängert. Und
trotzdem - es war Frühling.
Unser Büro liegt nicht im miesesten Bezirk Moskaus. Überhaupt nicht - wenn man ihn nicht gerade mit dem Sitz der Tagwache vergleicht. Doch wie man es auch dreht und wendet, der Kreml ist nichts für uns: Allzu deutlich sind die Spuren, die die Vergangenheit dem Roten Platz und den alten Ziegelmauern aufgedrückt hat. Vielleicht verschwinden sie irgendwann einmal. Doch bislang sieht es nicht danach aus… leider.
Von der Metro ging ich zu Fuß, denn ich hatte es nicht weit. Um mich herum nur fröhliche Gesichter, von Sonne und Frühling erwärmt. Dafür liebe ich diese Jahreszeit: Sie mindert das Gefühl der schwermütigen Ohnmacht. Und man wird weniger in Versuchung geführt…
Einer der Wachleute rauchte vorm Eingang. Er nickte mir freundlich zu, eine genaue Kontrolle gehörte nicht zu seinen Aufgaben. Von mir hingegen hing ab, ob der Computer in ihrer Kammer einen Zugang zum Internet kriegte und ein paar aktuelle Spiele installiert wurden oder ob man über ihn nur an interne Information und die Dossiers über die Mitarbeiter kam.
»Du bist spät dran, Anton«, bemerkte er leichthin.
Mit zweifelndem Blick sah ich auf die Uhr.
»Der Chef hat alle in den Konferenzraum beordert, sie suchen dich schon.«
Das war merkwürdig, da ich normalerweise nicht zu der morgendlichen Besprechung hinzugebeten wurde. Ob etwas mit dem Betriebssystem passiert war? Wohl kaum, denn dann hätte man mich aus dem Bett geklingelt und all das, es wäre nicht das erste Mal gewesen.
Ich nickte und legte einen Zahn zu.
Im Haus gibt es zwar einen Fahrstuhl, doch der ist uralt, sodass ich es vorzog, in den dritten Stock zu sprinten. Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock gab es einen weiteren Posten, der schon wichtiger war. Garik hatte Dienst. Als ich mich näherte, kniff er die Augen zusammen und sah durchs Zwielicht, um meine Aura zu scannen und alle die Zeichen zu überprüfen, die wir Wächter am Körper tragen. Erst danach sagte er freundlich:»Beeil dich.«
Die Tür zum Konferenzraum stand einen Spalt auf. Ich spähte hinein: Dreißig Mitarbeiter hatten sich versammelt, vor allem aus der operativen und der analytischen Abteilung. Der Chef ging vor einer Karte von Moskau auf und ab und nickte, während Witali Markowitsch, sein Stellvertreter für den kommerziellen Bereich, ein sehr schwacher Magier, dafür aber der geborene Geschäftsmann, sagte:»Auf diese Weise decken wir die laufenden Kosten in vollem Umfang ab, sodass keinerlei Notwendigkeit besteht, auf… äh… besondere Formen finanzieller Transaktionen zurückzugreifen. Wenn die Versammlung meine Vorschläge unterstützt, können wir die Besoldung unserer Mitarbeiter, in erster Linie selbstverständlich von denen aus der operativen Abteilung, geringfügig anheben. Auch die Zahlungen bei zeitweiliger Arbeitsunfähigkeit sowie die Renten für die Angehörigen Verstorbener sollten… äh… leicht erhöht werden. Wir könnten uns das leisten…«
Schon komisch, dass Magier, die in der Lage sind, Blei in Gold, Kohle in Diamanten und geschreddertes Papier in funkelnagelneue Kreditkarten zu verwandeln, wirtschaftlich aktiv werden. Doch im Grunde schlägt man damit zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen gibt man den Anderen eine Beschäftigung, deren Fähigkeiten so gering sind, dass sie nicht von ihnen leben könnten. Zum anderen verringert sich auf diese Weise das Risiko, das Gleichgewicht der Kräfte zu stören.
Bei meinem Erscheinen nickte Boris Ignatjewitsch mir zu.
»Witali, vielen Dank«, sagte er.»Ich glaube, die Situation ist klar und an eurer Tätigkeit nichts auszusetzen. Wollen wir abstimmen? Danke. Jetzt, wo alle da sind…«
Unter dem aufmerksamen Blick des Chefs schlich ich mich zu einem freien Sessel und nahm Platz.
»… können wir zur Hauptfrage kommen.«
Neben mir saß Semjon, der sich jetzt zu mir hinüberbeugte.»Die Hauptfrage ist die der Bezahlung der Parteibeiträge für März…«, flüsterte er mir zu.
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ab und zu lugte aus Boris Ignatjewitsch in der Tat der alte Parteifunktionär heraus. Mich störte das weit weniger, als wenn er sich als mittelalterlicher Inquisitor oder General a. D. gebarte, aber möglicherweise beging ich da einen Fehler.
»Die Hauptfrage ist ein Protest der Tagwache, den ich vor zwei Stunden erhalten habe«, sagte der Chef.
Ich begriff ihn nicht sofort. Die Tag- und die Nachtwache kamen einander permanent in die Quere. Jede Woche einmal reichte man Protest ein, manches wurde auf regionaler Ebene geregelt, manches vors Tribunal in Bern gebracht.
Dann ging mir auf, dass ein Protest, der eine erweiterte Versammlung der Wache nach sich zog, kein gewöhnlicher sein konnte.
»Der Kern des Protests…«Der Chef knetete sich die Nasenwurzel.»Der Kern des Protests ist folgender: Heute Morgen wurde in der Gegend der Stoleschnikow-Gasse eine Dunkle ermordet. Hier eine kurze Beschreibung des Vorfalls.«
Auf meine Knie klatschten zwei Blatt Papier, Computerausdrucke. Alle anderen wurden ebenfalls mit diesem Geschenk bedacht. Ich überflog den Text:
Galina Rogowa, vierundzwanzig Jahre… Initiierung mit sieben Jahren, die Familie gehört nicht zu den Anderen. Erzogen unter dem Patronat der Dunklen… Mentorin Anna Tschernogorowa, Magierin vierten Grades… Mit acht Jahren wird Galina Rogowa als Pantherfrau bestimmt. Mittlere Fähigkeiten…
Mit gerunzelter Stirn blätterte ich das Dossier durch. Obwohl es im Prinzip keinen Grund gab, die Stirn zu runzeln. Rogowa war eine Dunkle, arbeitete aber nicht in der Tagwache. Die Bestimmungen des Vertrags hielt sie ein. Auf Menschen machte sie keine Jagd. Niemals. Selbst von den beiden Lizenzen, die ihr zur Volljährigkeit und zur Hochzeit ausgestellt worden waren, hatte sie keinen Gebrauch gemacht. Mit Magie hatte sie sich in der Baufirma Warmes Haus hochgearbeitet und den stellvertretenden Direktor geheiratet. Sie hatte ein Kind, einen Jungen, bei dem keine Fähigkeiten eines Anderen festgestellt worden waren. Ein paarmal hatte sie ihre Fähigkeiten als Andere zur Selbstverteidigung eingesetzt, einmal einen Angreifer getötet. Doch selbst dabei war sie nicht zur Menschenfresserin geworden.
»Von solchen Tiermenschen müsste es mehr geben, nicht wahr?«, fragte Semjon. Er blätterte die Seiten durch und schnalzte mit der Zunge. Neugierig geworden, nahm ich mir das Ende des Dokuments vor.
Aha. Das Protokoll der Autopsie. Ein Schnitt in der Bluse und im Jackett, vermutlich von einem dünnen Dolch. Einem manipulierten, denn mit gewöhnlichem Eisen brachte man einen Tiermenschen nicht um… Worüber wunderte sich Semjon also?
Ha, das war’s!
Am Körper waren keine sichtbaren Verletzungen festgestellt worden. Keine. Als Todesursache wurde der vollständige Verlust der Lebensenergie genannt.
»Alle Achtung«, sagte Semjon.»Ich kann mich noch erinnern, wie man mich während des Bürgerkriegs losgeschickt hat, um einen Tigermenschen aus dem Verkehr zu ziehen. Und dieser Dreckskerl war bei der Tscheka, und durchaus kein kleines Licht…«
»Haben sich alle mit dem Fall vertraut gemacht?«, wollte der Chef wissen.
»Darf ich was fragen?«Am anderen Ende des Raums erhob sich ein dünner Arm. Fast alle mussten lächeln.
Der Chef nickte.»Nur zu, Julja.«
Die jüngste Mitarbeiterin der Wache erhob sich und strich sich unsicher die Haare zurück. Ein liebes Mädchen, wenn auch noch ein wenig kindlich. Doch in die analytische Abteilung hatte man sie nicht ohne Grund aufgenommen.
»Boris Ignatjewitsch, meiner Ansicht nach haben wir es mit einer magischen Einwirkung zweiten Grades zu tun. Oder ersten?«
»Möglicherweise zweiten Grades«, bestätigte der Chef.
»Das heißt, das können nur Sie gemacht haben…«Julja schwieg einen Moment lang verlegen.»Oder Semjon… Ilja… oder Garik. Stimmt’s?«
»Garik hätte es nicht gekonnt«, erwiderte der Chef.»Ilja und Semjon vermutlich schon.«
Semjon grummelte etwas in der Art, auf das Kompliment könne er gern verzichten.
»Außerdem könnte den Mord noch ein Lichter verübt haben, der auf der Durchreise in Moskau ist«, dachte Julja laut.»Andererseits wäre ein Magier von solcher Kraft kaum unbemerkt in die Stadt gelangt, sie müssen ja alle zur Registrierung in die Tagwache. Das heißt also, dass wir drei Personen überprüfen müssen. Sollten alle ein Alibi haben, kann man uns doch wohl nichts vorwerfen?«
»Julenka«, meinte der Chef nickend,»uns wirft niemand dergleichen vor. Die Sache ist die, dass in Moskau ein Lichter Magier agiert, der nicht registriert ist und der den Vertrag nicht kennt.«
Was man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte…
»Oh, also dann…«, sagte Julja.»Verzeihen Sie bitte, Boris Ignatjewitsch.«
»Du hast alles richtig dargelegt.«Der Chef nickte.»Damit sind wir gleich beim Kern der Frage. Uns ist irgendjemand entgangen, Kinder. Wir haben ihn verpennt, uns durch die Finger gleiten lassen. Durch Moskau irrt ein Lichter Magier von großer Kraft. Der keine Ahnung hat - und Dunkle ermordet.«
»Ermordet?«, fragte jemand im Raum.
»Ja. Ich habe die Archive durchgestöbert. Vergleichbare Fälle hat es vor drei Jahren schon gegeben, im Herbst und im Frühjahr, und vor zwei Jahren im Herbst. Jedes Mal ließen sich am Körper keine Verletzungen entdecken, während in der Kleidung Schnitte festgestellt wurden. Die Tagwache hat in der Sache ermittelt, konnte aber nichts herausfinden. Offenbar hielten sie den Tod ihrer Leute für einen Zufall… wofür jetzt jemand von den Dunklen büßen wird.«
»Und von den Lichten?«
»Ebenfalls.«
Semjon räusperte sich.»Das ist eine seltsame Periodizität, Boris…«, sagte er leise.
»Vermutlich kennen wir nicht alle Fälle, Kinder. Wer auch immer dieser Magier sein mag, er hat stets Andere mit nicht sehr ausgeprägten Fähigkeiten getötet, die in ihrer Maskierung offenbar nachlässig gewesen sind. Es ist durchaus möglich, dass ihm weitere, nicht initiierte oder den Dunklen unbekannte Andere zum Opfer fielen. Deshalb schlage ich vor…«Der Chef ließ den Blick durch den Raum schweifen.»Die analytische Abteilung sammelt kriminalistische Informationen und sucht nach vergleichbaren Fällen. Denkt daran, dass sie womöglich nicht als Mord geführt werden, sondern als Tod unter ungeklärten Umständen. Geht die Obduktionsergebnisse durch, befragt die Mitarbeiter in den Leichenschauhäusern… Überlegt selbst, wie ihr an weitere Informationen kommt. Die wissenschaftliche Gruppe… schickt zwei oder drei Leute in die Tagwache, um die Leiche zu untersuchen. Ihr müsst herausfinden, wie er die Dunklen umbringt. Lasst ihn uns der Einfachheit halber den Wilden nennen. Die operative Gruppe… verstärkt die Streifen in den Straßen. Sucht ihn, Kinder.«
»Wir machen die ganze Zeit nichts anderes, als irgendjemanden zu suchen«, murrte Igor unzufrieden.»Ein starker Magier wär uns aufgefallen, Boris Ignatjewitsch! Mit Sicherheit!«
»Eventuell ist er nicht initiiert«, entgegnete der Chef.»Seine Fähigkeiten treten nur periodisch auf…«
»Im Frühling und im Herbst, wie bei jedem Irren…«
»Ja, Igor, völlig richtig. Im Frühling und im Herbst. Und jetzt, unmittelbar nach dem Mord, müsste die Magie irgendeinen Abdruck an ihm hinterlassen haben. Das ist eine Chance, eine kleine nur, aber immerhin. An die Arbeit.«
»Mit welchem Ziel, Boris?«, fragte Semjon neugierig.
Ein paar waren schon aufgestanden, blieben daraufhin aber noch.
»Das Ziel ist es, den Wilden vor den Dunklen zu finden. Ihn zu verteidigen, auszubilden und auf unsere Seite zu ziehen. Wie immer.«
»Alles klar.«Semjon erhob sich.
»Anton und Olga, ihr beide bleibt bitte noch«, meinte der Chef knapp und trat ans Fenster.
Alle anderen guckten mich beim Herausgehen neugierig an. Und auch ein bisschen neidisch. Eine Spezialaufgabe ist immer interessant. Ich schaute durch den Raum, erblickte Olga und lächelte ihr zu, aber nur mit den Lippen. Sie lächelte zurück.
Nichts an ihr erinnerte mehr an die barfüßige, verdreckte Frau, die im tiefsten Winter bei mir in der Küche Kognak getrunken hatte. Eine schicke Frisur, eine gesunde Hautfarbe, in den Augen - nein, die Selbstsicherheit hatte auch schon früher in ihnen gelegen, nicht aber die Koketterie und der Stolz, die jetzt in ihnen funkelten.
Ihre Strafe hatte man aufgehoben. Wenn auch nur teilweise.
»Mir gefällt nicht, was hier passiert, Anton«, sagte der Chef, ohne sich umzudrehen.
Olga zuckte mit den Schultern und nickte - antworte du.
»Wie meinen Sie das, Boris Ignatjewitsch?«
»Mir gefällt der Protest nicht, den die Tagwache eingereicht hat.«
»Mir auch nicht.«
»Du verstehst das nicht. So wenig wie alle anderen, fürchte ich… Olga, ahnst wenigstens du, worum es geht?«
»Es ist höchst merkwürdig, dass die Tagwache im Laufe von ein paar Jahren nicht in der Lage ist, den Mörder zu finden.«
»Nicht wahr? Erinnerst du dich an Krakau?«
»Leider. Glaubst du, sie stellen uns eine Falle?«
»Ausgeschlossen ist es nicht…«Boris Ignatjewitsch trat vom Fenster weg.»Anton, hältst du diese Entwicklung für möglich?«
»Ich verstehe das noch nicht ganz«, murmelte ich.
»Anton, nehmen wir einmal an, in der Stadt lebt tatsächlich ein mordender Einzelgänger, unser Wilder. Er ist nicht initiiert. Ab und an brechen sich seine Fähigkeiten Bahn - dann macht er einen Dunklen aus und vernichtet ihn. Kann die Tagwache ihn finden? O ja, das könnte sie, davon kannst du ausgehen. Damit stellt sich die Frage, warum sie ihn noch nicht entdeckt
und aus dem Verkehr gezogen hat? Schließlich sterben hier Dunkle!«
»Es stirbt nur Fußvolk«, gab ich zu bedenken.
»Richtig. Die Bauern zu opfern gehört zur Tradition…«Der Chef hielt inne, als er meinen Blick auffing.»Zur Tradition der Wache.«
»Der Wachen«, sagte ich rachsüchtig.
»Der Wachen«, wiederholte der Chef müde.»Ich habe es nicht vergessen… Machen wir uns doch mal klar, was sich aus unseren bisherigen Überlegungen ergibt. Soll die gesamte Nachtwache der Fahrlässigkeit angeklagt werden? Das wäre lächerlich. Wir haben das Verhalten der Dunklen zu kontrollieren und darauf zu achten, dass die uns bekannten Lichten den Vertrag einhalten, müssen aber nicht irgendwelche geheimnisvollen Verrückten aufspüren. Hier trägt allein die Tagwache die Schuld…«
»Die Provokation zielt also auf jemanden Konkretes?«
»Sehr schön, Anton. Weißt du noch, was Julja gesagt hat? Diejenigen von uns, die so etwas hätten machen können, kannst du an einer Hand abzählen. Das ist bewiesen. Nehmen wir einmal an, die Tagwache möchte jemanden der Verletzung des Vertrags anklagen. Behauptet, dass ein fester Mitarbeiter, der den Vertrag genau kennt, Gericht spielt und auf eigene Faust mit den Dunklen abrechnet.«
»Aber das lässt sich doch leicht von der Hand weisen. Man braucht nur den Wilden zu finden…«
»Und wenn die Dunklen ihn vor uns finden? Darüber aber kein Wörtchen verlauten lassen?«
»Was ist mit einem Alibi?«
»Und wenn die Morde immer in Zeiten stattfanden, für die es kein Alibi gibt?«
»Dann kommt es zum Tribunal mit uneingeschränktem Verhör«, sagte ich finster. Sicher, es ist keine schöne Sache, wenn im Bewusstsein das Unterste zuoberst gekehrt wird.
»Ein starker Magier, und die Morde wurden von einem starken Magier begangen, kann sich selbst dem Tribunal verschließen. Er kann es nicht täuschen, aber sich verschließen. Mehr noch, Anton, bei einem Tribunal, an dem auch Dunkle teilnehmen, muss er das sogar. Der Feind gelangt sonst an zu viel Informationen. Aber ein Magier, der sich bei den Ermittlungen verschließt, gilt automatisch als schuldig. Mit allen daraus resultierenden Folgen… für ihn und für die Wache.«
»Ein düsteres Bild, Boris Ignatjewitsch«, räumte ich ein.»Ein sehr düsteres. Fast wie jenes, das Sie im Winter für mich entworfen haben, damals im Traum. Der kleine Andere mit den unglaublichen Kräften, ein Durchbruch des Infernos, der ganz Moskau in Schutt und Asche legt…«
»Schon gut. Aber ich lüge dich nicht an, Anton.«
»Was verlangen Sie von mir?«, wollte ich ohne Umschweife wissen.»Das ist doch überhaupt nicht mein Profil. Soll ich den Analytikern helfen? Wir werten auch so alles aus, was man uns vorsetzt.«
»Ich möchte, dass du herausbekommst, wer von uns in Gefahr schwebt, Anton. Wer hat ein Alibi für alle bekannten Fälle und wer nicht.«
Der Chef steckte die Hand in die Tasche seines Jacketts und holte eine DVD heraus.»Nimm das… Es sind die vollständigen Dossiers für die letzten drei Jah-
re. Von vier Personen, mich eingeschlossen.«
Ich schluckte und nahm die Scheibe.
»Die Passwörter sind gelöscht. Dir ist natürlich klar, dass diese Daten niemand sonst sehen darf. Du hast kein Recht, die Informationen zu kopieren. Verschlüssel deine Berichte und Graphiken… und geize nicht bei der Länge des Schlüssels.«
»Ich brauche einen Assistenten«, sagte ich unsicher. Ich sah Olga an. Doch was konnte sie mir schon für eine Hilfe sein: Ihre Computerkenntnisse beschränkten sich auf Spiele wie Heretic oder Hexen.
»Meine Daten überprüf selbst«, sagte der Chef zögernd.»Für die anderen kannst du Anatoli hinzuziehen. Abgemacht?«
»Aber welche Aufgabe habe ich dann?«, wollte Olga wissen.
»Du wirst das Gleiche tun, allerdings indem du die Leute persönlich befragst. Sie verhörst, um die Dinge beim Namen zu nennen. Mit mir fängst du an. Dann nimmst du dir die anderen drei vor.«
»Gut, Boris.«
»Mach dich an die Arbeit, Anton.«Der Chef nickte.»Fang gleich an. An die sonstigen Sachen setz deine Mädchen, die werden schon damit fertig.«
»Soll ich an den Daten auch herumbasteln?«, fragte ich.»Wenn jemand kein Alibi hat - ihm eins besorgen?«
Der Chef schüttelte den Kopf.»Nein. Darum geht es nicht. Ich will nicht, dass irgendwas gefälscht wird. Ich will mich davon überzeugen, dass niemand von uns etwas mit diesen Morden zu tun hat.«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Ja. Denn es gibt nichts, was in dieser Welt unmöglich wäre. Was unsere Arbeit auszeichnet, Anton, ist, dass ich dich mit dieser Aufgabe betrauen kann. Und du sie ordentlich machst. Egal, um wen es sich dabei handelt.«
Obwohl mich etwas beunruhigte, nickte ich und ging zur Tür, die wertvolle Scheibe fest im Griff. Erst in letzter Sekunde vermochte ich meine Frage zu formulieren, sodass ich mich noch einmal umwandte.»Boris Ignatjewitsch…«
Der Chef und Olga wichen sofort auseinander.
»Boris Ignatjewitsch, Sie haben mir die Daten von vier Leuten gegeben.«
»Ja.«
»Von Ihnen, Ilja, Semjon…«
»Und von dir, Anton.«
»Warum?«, fragte ich begriffsstutzig.
»Während der Konfrontation auf dem Dach bist du für drei Minuten in die zweite Schicht des Zwielichts vorgedrungen. Anton… das ist die dritte Kraftstufe.«
»Das kann nicht sein«, entgegnete ich nur.
»Doch.«
»Boris Ignatjewitsch, Sie sagen selbst immer, dass ich nur ein durchschnittlicher Magier bin!«
»Vielleicht, weil ich einen hervorragenden Programmierer viel dringender brauche als einen weiteren guten Mann für den Außendienst.«
Unter anderen Umständen wäre ich stolz gewesen. Auch beleidigt, aber trotzdem stolz. Ich hatte immer vermutet, dass der vierte Grad für mich den Gipfel
dessen darstellt, was ich in der Magie erreichen kann - und selbst den würde ich nicht so bald erlangen. Aber jetzt überdeckte die Angst alles, diese unangenehme, klebrige, widerwärtige Angst. In fünf Jahren Arbeit in der Wache auf einem ruhigen Posten im Stab hatte ich es mir abgewöhnt, noch irgendwas zu fürchten: weder Behörden noch Banditen oder Krankheiten…
»Das war eine Intervention zweiten Grades…«
»Die Trennlinie ist hier sehr schmal, Anton. Möglicherweise bist du noch zu mehr fähig.«
»Aber wir haben mehr als ein Dutzend Magier dritten Grades. Warum gerate ich da in Verdacht?«
»Weil du Sebulon persönlich herausgefordert hast. Dem Leiter der Tagwache Moskaus ans Leder gegangen bist. Und er wäre durchaus imstande, eine Falle aufzustellen, die auf Anton Gorodezki persönlich zugeschnitten ist. Genauer gesagt, eine alte Falle, die er noch in petto hatte, entsprechend umzubauen.«
Ich schluckte und verließ den Raum, ohne eine weitere Frage zu stellen.
Unser Labor befindet sich ebenfalls im dritten Stock, jedoch in einem anderen Flügel. Schnellen Schrittes lief ich den Korridor hinunter, nickte allen, die mir entgegenkamen, zu, blieb aber bei niemandem stehen. Die Scheibe hielt ich fester als ein entflammter Teenager die Hand seiner Angebeteten.
Der Chef hatte mich doch nicht belogen?
Konnte dieser Schlag auf mich zielen?
Bestimmt hatte er nicht gelogen. Ich hatte ihm eine klare Frage gestellt und eine klare Antwort bekommen. Gewiss, im Laufe der Jahre legen sich auch die Lichtesten Magier einen gewissen Zynismus zu und lernen
es, mit Worten zu jonglieren. Doch die Folgen einer offenen Lüge wären selbst für Boris Ignatjewitsch zu heftig.
Der Vorraum war mit einem elektronischen Überwachungssystem ausgestattet. Ich weiß, dass sich alle Magier über Technik lustig machen, und Semjon hatte mir sogar mal gezeigt, wie leicht sich ein Stimmenana-lysator und ein Netzhautscanner täuschen lassen. Trotzdem hatte ich auf dem Kauf dieses teuren Spielzeugs bestanden. Selbst wenn es uns nicht gegen einen Anderen schützte. Doch ich hielt es keineswegs für ausgeschlossen, dass uns die Jungs vom Föderativen Sicherheitsdienst oder von der Mafia irgendwann mal auf den Zahn fühlen wollten.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf…«, murmelte ich ins Mikrofon, während ich ins Objektiv der Kamera schaute. Die Elektronik brauchte ein paar Sekunden, dann leuchtete über der Tür das grüne Zutrittslämpchen auf.
Im ersten Zimmer herrschte gähnende Leere. Die Ventilatoren des Servers brummten, die in die Wände eingelassenen Klimaanlagen schnauften. Trotzdem war es heiß. Dabei hatte der Frühling gerade erst angefangen.
Ohne ins Labor der Sysops hineinzuschauen, ging ich gleich in mein eigenes Büro. Nun, nicht ganz mein eigenes - mein Stellvertreter Tolik hauste dort ebenfalls. Bisweilen sogar im wörtlichen Sinne, denn oft genug übernachtete er auf dem alten Ledersofa.
Jetzt saß er am Schreibtisch und betrachtete nachdenklich ein altes Motherboard.
»Hallo«, sagte ich und ließ mich aufs Sofa plumpsen.
Die Scheibe brannte mir in den Fingern.
»Die ist hinüber«, grummelte Tolik.
»Dann schmeiß sie weg.«
»Gleich, ich nehm nur die Prozessoren heraus…«In den langen Jahren, die Tolik an durch mickrige Staatsgelder finanzierten Forschungsinstituten verbracht hatte, war er zu einem eifrigen Anhänger der Vorratshaltung geworden. Und obwohl uns keine Finanzprobleme plagten, sammelte er sorgsam alle alten Computerelemente, auch wenn diese niemandem mehr nützten.»Stell dir vor, eine halbe Stunde schlag ich mich mit dem Ding schon rum, aber gebracht hat es nichts…«
»Es ist uralt, was willst du? Selbst in der Buchhaltung sind die Geräte neuer.«
»Man könnten es jemandem geben… Vielleicht könnte man den Cache ausbauen…«
»Tolik, wir haben einen Eilauftrag«, sagte ich.
»Ach?«
»Hm. Also…«Ich hielt die Scheibe hoch.»Hier sind die Dossiers… die vollständigen Dossiers von vier Mitarbeitern der Wache. Einschließlich des Chefs.«
Tolik zog die Schublade seines Schreibtischs auf, verstaute das Motherboard und richtete den Blick auf die DVD.
»Ganz genau. Ich werde drei überprüfen. Du den vierten - mich.«
»Und was soll ich überprüfen?«
»Folgendes.«Ich zeigte ihm den Ausdruck.»Es ist nicht auszuschließen, dass einer der Verdächtigen immer wieder Morde an Dunklen verübt hat. Nicht sanktionierte Morde. Hier sind alle uns bekannten Fälle aufgeführt. Wir sollen diese Möglichkeit ausschließen oder…«
»Und hast du sie denn ermordet?«, wollte Tolik wissen.»Entschuldige die Bosheit…«
»Nein. Aber du sollst mir nicht glauben. Also an die Arbeit.«
Die Informationen über mich schaute ich mir gar nicht erst an. Ich kopierte alle achthundert Megabyte auf Toliks Computer und nahm die Scheibe wieder an mich.
»Wenn ich auf was Interessantes stoße, soll ich’s dir dann sagen?«, fragte Tolik. Ich schielte zu ihm hinüber, während er sich die Textdateien ansah, an seinem linken Ohr fummelte und die Maus gleichmäßig hin und her bewegte.»Wie du willst.«
»Gut.«
Ich fing mit dem Dossier an, in dem das Material über den Chef gesammelt war. Zunächst kam der Formularkopf mit allgemeinen Angaben zur Person. Mit jeder gelesenen Zeile strömte mir der Schweiß stärker aus den Poren.
Natürlich wurde selbst in diesem Dossier der richtige Name und die Herkunft des Chefs nicht preisgegeben, für Andere seines Rangs werden derlei Fakten grundsätzlich nicht dokumentiert. Trotzdem entdeckte ich alle Augenblicke etwas Neues. Angefangen damit, dass der Chef viel älter war, als ich vermutet hatte. Mindestens anderthalb Jahrhunderte älter. Das hieß, er war dabei, als der Vertrag zwischen Lichten und Dunklen abgeschlossen wurde. Merkwürdig, alle Magier von damals, die noch am Leben sind, haben heute Posten in der Hauptverwaltung, statt auf der öden und eintönigen Stelle als Regionaldirektor zu hocken.
Darüber hinaus erfuhr ich einige Namen, unter denen der Chef bereits in die Geschichte der Wache eingegangen war, sowie seinen Geburtsort. Darüber spekulierten wir immer wieder, schlossen Wetten ab, brachten»unwiderlegliche«Beweise bei. Niemand hatte jedoch vermutet, dass Boris Ignatjewitsch aus Tibet stammte.
Und bei wem er schon alles Mentor gewesen ist, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt!
In Europa arbeitete der Chef seit dem 15. Jahrhundert. Aufgrund indirekter Hinweise schlussfolgerte ich, dass der Grund für diesen radikalen Wechsel des Wohnsitzes eine Frau gewesen war. Und ahnte sogar, welche.
Nachdem ich das Fenster mit den allgemeinen Angaben geschlossen hatte, schaute ich zu Tolik hinüber. Der sah sich gerade einen Videoausschnitt an - natürlich war meine Biografie bei weitem nicht so spannend wie die Vita des Chefs. Ich betrachtete das kleine bewegte Bild genauer - und wurde knallrot.
»Für den ersten Fall hast du ein einwandfreies Alibi«, sagte Tolik, ohne sich umzudrehen.
»Hör mal…«, setzte ich hilflos an.
»Schon gut. Geht mich ja nichts an. Ich spule vor, um die ganze Nacht zu checken…«
Ich stellte mir vor, wie der Film wohl im Schnelldurchlauf aussehen würde, und drehte mich wieder um. Ich hatte ja immer geahnt, dass die Leitung ihre Mitarbeiter kontrolliert, vor allem die jungen. Aber nicht auf eine derart zynische Weise!
»Das Alibi ist nicht wasserdicht«, sagte ich.»Gleich zieh ich mich an und geh.«
»Ich seh’s schon«, bestätigte Tolik.
»Anderthalb Stunden bin ich nicht zu sehen. Ich habe versucht, irgendwo Sekt aufzutreiben… und als ich welchen hatte, mich noch ein bisschen an der frischen Luft ausgenüchtert. Und überlegt, ob es sich überhaupt lohnt zurückzugehen.«
»Zerbrich dir nicht den Kopf«, sagte Tolik.»Guck dir lieber das Intimleben des Chefs an.«
Nach einer halben Stunde wurde mir klar, dass Tolik Recht hatte. Möglicherweise durfte ich die gnadenlose Beobachtung ja krumm nehmen. Doch dann hatte Boris Ignatjewitsch nicht weniger Grund zur Klage.
»Der Chef hat ein Alibi«, sagte ich.»Ein unerschütterliches. In zwei Fällen können es vier Leute bezeugen. In einem anderen fast die ganze Wache.«
»Ist das bei dieser Jagd nach dem durchgedrehten Dunklen?«
»Ja.«
»Du hast noch nicht mal in dem Fall ein Alibi. Du wurdest erst am Morgen hinzugezogen, die Zeitangabe ist da sehr unpräzise. Es gibt ein Foto, wie du aus dem Büro kommst, das ist aber auch schon alles.«
»Das heißt…«
»Theoretisch hättest du die Dunklen ermorden können. Ohne weiteres. Und außerdem, entschuldige Anton, geschah jeder Mord in einer Zeit, da deine Gefühle in Aufruhr waren. Wo du dich anscheinend nicht mehr unter Kontrolle gehabt hast.«
»Ich war das nicht.«
»Glaub ich dir ja. Was soll ich mit der Datei machen?«
»Lösch sie.«
Tolik überlegte kurz.»Auf der Festplatte liegt nichts Wichtiges. Ich mache eine Low-Level-Formatierung. Hätte die Platte schon längst mal bereinigen sollen.«
»Danke.«Ich schloss das Dossier über den Chef.»Gut, mit den anderen komme ich allein weiter.«
»Schon verstanden.«Tolik überwand den berechtigten Unmut seines Computers, und der begann, sich selbst zu verdauen.
»Geh zu den Mädels«, schlug ich ihm vor.»Mach ein finsteres Gesicht. Die legen doch nur wieder Patiencen, da bin ich überzeugt.«
»Klar doch«, stimmte mir Tolik leichthin zu.»Wann bist du fertig?«
»So in zwei Stunden.«
»Dann schau ich wieder rein.«
Er ging zu unseren»Mädels«, zwei jungen Programmiererinnen, die größtenteils mit der im Wesentlichen offiziellen Tätigkeit der Wache befasst waren. Ich machte mich wieder an die Arbeit. Als Nächster kam Semjon an die Reihe.
Nach zweieinhalb Stunden riss ich mich vom Rechner los, massierte mir den Nacken - immer schläft der ein, wenn du dahockst, auf den Monitor starrst - und stellte die Kaffeemaschine an.
Weder der Chef noch Ilja oder Semjon kamen für die Rolle des irrsinnigen Mörders der Dunklen in Frage. Alle hatten ein Alibi, in einigen Fällen sogar ein hieb- und stichfestes. Semjon zum Beispiel hatte in einer Mordnacht ausgerechnet mit der Leitung der Tagwache bei Verhandlungen zusammengesessen. Ilja war auf Geschäftsreise in Sachalin, wo sich die Kollegen ein Süppchen eingebrockt hatten, das sich nur mit Hilfe aus dem Zentrum auslöffeln ließ.
Nur ich stand nach wie vor unter Verdacht.
Nicht, dass ich Tolik nicht vertraute. Trotzdem schaute ich mir meine eigenen Daten noch einmal selbst an. Alles passte, für keinen Fall hatte ich ein Alibi.
Der Kaffee schmeckte nicht, war bitter, anscheinend hatten sie den Filter schon seit längerem nicht ausgetauscht. Ich schluckte das heiße Gebräu hinunter, starrte auf den Bildschirm, zog mein Handy heraus und gab die Nummer des Chefs ein.
»Sprich, Anton.«
Er wusste immer, wer ihn anrief.
»Es bleibt nur ein Verdächtiger übrig, Boris Ignatjewitsch.«
»Und wer, bitte schön?«
Seine Stimme klang hart und förmlich. Trotzdem hatte ich den Eindruck, der Chef säße gerade halb nackt auf seinem Ledersofa, in der einen Hand ein Glas Sekt, die andere mit Olgas Hand verschränkt, während er den Hörer mit der Schulter ans Ohr presste oder ihn levitieren ließ.
»Aber, aber…«, wies mich der Chef in die Schranken.»Als Hellseher taugst du nichts. Wer ist verdächtig?«
»Ich.«
»Verstehe.«
»Sie haben das gewusst«, sagte ich.
»Wie das?«
»Es bestand keine Notwendigkeit, gerade mich die Dossiers bearbeiten zu lassen. Sie hätten das auch selbst machen können. Also wollten Sie, dass ich mich selbst von der Gefahr überzeuge.«
»Möglich.«Der Chef seufzte.»Was wirst du jetzt tun, Anton?«
»Mich auf Wasser und Brot einstellen.«
»Komm in mein Arbeitszimmer. In… äh… in zehn Minuten.«
»Gut.«Ich beendete das Gespräch.
Zunächst schaute ich bei den Mädchen vorbei. Tolik war noch immer bei ihnen, und sie arbeiteten eifrig.
Im Grunde brauchte die Wache diese beiden hundsmiserablen Programmiererinnen nicht. Sie hatten nur zu wenig Geheimnissen Zugang, den Großteil der Arbeit mussten wir machen. Doch wo sollte man sonst zwei sehr, sehr schwache Zauberinnen unterbringen? Wenn sie damit einverstanden gewesen wären, ein normales Leben zu führen - aber nein, sie verlangten nach Romantik, wollten unbedingt in der Wache arbeiten… Also hatte man sich eine Aufgabe für sie ausgedacht.
Im Wesentlichen schlugen sie die Zeit tot, surften im Internet oder spielten etwas, wobei ihr absoluter Favorit Patiencen jeder Art waren.
An einem der freien Rechner - mit der Ausstattung gab es bei uns keine Probleme - saß Tolik. Auf seinem Schoß hockte Julja, die verbissen mit der Maus über das Pad fuhrwerkte.
»Nennt sich das Ausbildung am Computer?«, fragte ich, während ich die über den Bildschirm flimmernden Monster beobachtete.
»Nichts schult die Handhabung der Maus besser als Computerspiele«, beteuerte Tolik mit Unschuldsmiene.
»Nun…«Eine passende Antwort wollte mir nicht einfallen.
Ich selbst spielte solche Spiele schon lange nicht mehr. Wie die meisten Mitarbeiter der Wache nicht. Ein Monster auf dem Bildschirm zu töten ist nur so lange interessant, bis man mal mit eigenen Augen eins sieht. Oder bereits ein-, zweihundert Jahre auf dem Buckel und sich dabei eine gehörige Portion Zynismus zugelegt hat, so wie Olga
»Tolik, ich komme heute wahrscheinlich nicht noch mal rein«, sagte ich.
»Okay.«Er nickte, als habe er nichts anderes erwartet. Die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, ist zwar bei uns allen nicht sehr hoch, doch derartige Kleinigkeiten spüren wir sofort.
»Galja, Lena, tschüss dann«, meinte ich mit einem Nicken zu den beiden Mädchen. Galja zwitscherte etwas Freundliches und brachte unmissverständlich zum Ausdruck, wie sehr ihre Arbeit sie in Anspruch nahm.
»Kann ich heute etwas früher gehen?«, fragte Lena.
»Natürlich.«
Wir lügen einander nicht an. Wenn Lena darum bittet, früher zu gehen, heißt das, dass sie es wirklich musste. Wir lügen nicht. Wir sagen nur manchmal Spitzfindigkeiten und Halbwahrheiten…
Auf dem Tisch des Chefs herrschte fürchterliche Unordnung. Füller, Bleistifte, einzelne Seiten Papier, Berichtsmappen mit erbrochenem Siegel und trübe, verbrauchte magische Kristalle lagen wüst durcheinander.
Doch die Krönung des Chaos bildete ein Spirituskocher, über dem in einem Tiegel ein weißes Pulver vor sich hin brutzelte.
Gedankenversunken rührte der Chef es mit der Spitze seines teuren Parkers um und wartete offensichtlich auf einen bestimmten Effekt. Das Pulver ignorierte sowohl die Hitze als auch das Rühren.
»Bitte.«Ich legte die DVD vor den Chef.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Boris Ignatjewitsch, ohne den Blick zu heben. Er hatte das Jackett ausgezogen, das Hemd war zerknittert, die Krawatte zur Seite gerutscht.
Heimlich schielte ich zum Sofa hinüber. Olga war zwar nicht mehr im Arbeitszimmer, doch auf dem Boden standen eine leere Sektflasche und zwei Gläser.
»Weiß ich auch nicht. Ich habe keine Dunklen getötet - jedenfalls nicht diese. Das wissen Sie doch.«
»Ja.«
»Aber beweisen kann ich es nicht.«
»Nach meinen Berechnungen bleiben uns zwei, drei Tage«, sagte der Chef.»Dann wird die Tagwache dir die Anklage präsentieren.«
»Es wäre nicht schwer, mir ein falsches Alibi zu besorgen.«
»Wärest du denn damit einverstanden?«, wollte Boris Ignatjewitsch wissen.
»Natürlich nicht. Darf ich etwas fragen?«
»Bitte.«
»Woher stammen alle diese Informationen? Woher kommen die Bilder und die Videoaufnahmen?«
Der Chef schwieg einen Augenblick.
»Das dachte ich mir. Du hast dir doch auch mein Dossier angesehen, Anton. Ist das vielleicht diskreter?«
»Nein, vermutlich nicht. Deshalb frage ich ja auch. Warum erlauben Sie es, dass solche Informationen zusammengetragen werden?«
»Ich kann es nicht verbieten. Die Kontrolle obliegt der Inquisition.«
Die idiotische Frage»Gibt es die denn wirklich?«konnte ich mir im letzten Moment verbeißen. Vermutlich sprach meine Miene aber Bände.
Der Chef sah mich unverwandt an, als erwarte er weitere Fragen, dann fuhr er fort:»Pass auf, Anton. Von jetzt an darfst du nicht mehr allein bleiben. Vielleicht gerade mal noch ohne Begleitung zur Toilette gehen, aber ansonsten hast du mit zwei oder drei Zeugen zusammen zu sein. Es besteht die Hoffnung, dass ein weiterer Mord geschieht.«
»Wenn sie es wirklich auf mich abgesehen haben, wird kein weiterer Mord geschehen, solange ich ein Alibi habe.«
»Und genau das wirst du nicht haben.«Der Chef schmunzelte.»Du solltest mich nicht für einen alten Idioten halten.«
Ich nickte, unsicher, denn noch hatte ich nicht begriffen, worauf er hinauswollte.
»Olga…«
In der Wand öffnete sich eine Tür, die ich bislang für eine Schranktür gehalten hatte. Olga trat ins Zimmer, strich sich übers Haar und lächelte. So eng wie die Jeans und die Bluse an ihrem Körper hafteten, musste sie gerade heiß geduscht haben. Hinter ihr machte ich einen riesigen Jacuzzi-Whirlpool aus sowie ein Panoramafenster, das die ganze Wand einnahm - und vermutlich nach außen verspiegelt war.
»Schaffst du das, Olga?«, erkundigte sich der Chef. Offenbar spielte er auf etwas an, worüber sie schon gesprochen hatten.
»Allein? Nein.«
»Ich meine das andere.«
»Das ja, natürlich.«
»Stellt euch Rücken an Rücken«, befahl der Chef.
Streiten wollte ich mich nicht. Obwohl mich ein mulmiges Gefühl beschlich. Doch ich ahnte, dass etwas sehr Ernstes bevorstand.
»Und öffnet euch«, verlangte Boris Ignatjewitsch.
Ich schloss die Augen bis auf einen Spalt und entspannte mich. Olgas Rücken war heiß und feucht, selbst durch die Bluse hindurch. Was für ein seltsames Gefühl: dazustehen und eine Frau zu berühren, die gerade erst Liebe gemacht hat - aber nicht mit dir.
Nein, ich war nicht die Spur von verliebt in sie. Vielleicht, weil ich mich daran erinnerte, wie sie in ihrem Vogelkörper aussah, vielleicht, weil wir sehr schnell Freunde und Partner geworden waren. Vielleicht wegen der Jahrhunderte, die uns voneinander trennten: Was heißt schon ein junger Körper, wenn du den Staub der Jahrhunderte auf den Augen anderer siehst. Wir blieben Freunde, mehr nicht.
Doch neben einer Frau zu stehen, deren Körper sich noch der Liebkosungen eines anderen erinnert, und sich an sie zu schmiegen ist ein seltsames Gefühl…
»Fangen wir an…«, sagte der Chef, vielleicht mit überflüssiger Schärfe in der Stimme. Dann sprach er einige Worte aus, deren Sinn ich nicht verstand, Wörter in einer alten Sprache, die vor Jahrtausenden auf der Welt erklungen ist.
Ein Flug.
Und zwar ein richtiger - als ob die Erde unter den Füßen wegkippte, als ob der Körper sein Gewicht verlöre. Ein Orgasmus in der Schwerelosigkeit, eine Dosis LSD direkt ins Blut, Elektroden an den Lustzentren unter der Großhirnrinde…
Mich überflutete eine Welle von solch irrsinniger und reiner, durch nichts gerechtfertigter Freude, dass die Welt ihre Bedeutung für mich verlor. Ich wäre gefallen, doch die Kraft, die aus den erhobenen Armen des Chefs strömte, hielt Olga und mich an unsichtbaren Fäden, nötigte uns Verrenkungen ab, presste uns aneinander.
Und dann verhedderten sich die Fäden.
»Du wirst entschuldigen, Anton«, sagte Boris Ignatje-witsch.»Aber uns blieb keine Zeit zum Zögern oder für Erklärungen.«
Ich schwieg. Schwieg dumm und betäubt vor mich hin, während ich auf dem Boden saß und meine Hände betrachtete, die schlanken Finger mit den beiden Silberringen, meine Beine, diese langen wohlgeformten Beine, die noch feucht waren nach dem Bad und an denen die zu engen Jeans klebten, und meine kleinen Füße, die in leuchtenden weiß-hellblauen Turnschuhen steckten.
»Das ist nicht für lange«, versicherte der Chef.
»Was ist das für…«Ich wollte schimpfen - und zuckte zusammen, schnellte hoch und verstummte bei den ersten Tönen meiner Stimme. Einer tiefen, weichen Frauenstimme.
»Anton, ganz ruhig.«Der junge Mann, der neben mir stand, streckte die Hand aus und half mir beim Aufstehen.
Ohne diesen Halt wäre ich vermutlich gefallen. Das Zentrum meines Gewichts hatte sich verschoben. Ich war jetzt kleiner, sah die Welt aus einem völligen anderen Blickwinkel…
»Olga?«, fragte ich, während ich in mein ehemaliges Gesicht schaute. Meine Partnerin und jetzt auch Bewohnerin meines Körpers nickte. Verzweifelt schaute ich ihr - mein - Gesicht an und bemerkte, dass ich mich heute Morgen schlecht rasiert hatte. Außerdem reifte auf meiner Stirn ein kleiner roter Pickel heran, der einem Jungen in der Pubertät alle Ehre gemacht hätte.
»Anton, ganz ruhig. Ich wechsle auch zum ersten Mal das Geschlecht.«
Aus irgendeinem Grund glaubte ich ihr. Ungeachtet ihres Alters brauchte Olga noch nie in eine derart delikate Situation gekommen sein.
»Hast du dich eingelebt?«, fragte der Chef.
Immer noch blickte ich an mir herab, hob mal die Hand zum Gesicht, erhaschte mal mein Spiegelbild in
den Glastüren der Vitrinen.
»Komm mit!«Olga packte mich beim Arm.»Boris, wir sind gleich wieder da…«Ihre Bewegungen waren genauso unsicher wie meine. Wenn nicht noch mehr.»Beim Licht und beim Dunklen, wie um alles geht ihr Männer bloß?«, rief sie unvermittelt aus.
Daraufhin platzte ich los; erkannte die Ironie des Ganzen. Mich, den die Dunklen provozieren wollten, verbarg man, indem man mich in einen Frauenkörper steckte! In den Körper der Geliebten des Chefs, die so alt war wie Notre-Dame von Paris!
Olga schubste mich förmlich ins Bad - unwillkürlich freute ich mich über meine eigene Kraft - und drückte mich über die Wanne. Dann spritzte sie mir einen Strahl kalten Wassers aus der Brause ins Gesicht, die sie zuvor in weiser Voraussicht auf die zart rosafarbenen Kacheln gelegt hatte.
Schnaubend befreite ich mich aus ihren Händen. Ich vermochte den Wunsch, sie - oder doch mich? - zu ohrfeigen, kaum zu unterdrücken. Allem Anschein nach wachten die motorischen Routinen des fremden Körpers langsam auf.
»Ich habe keinen hysterischen Anfall«, sagte ich verärgert.»Das ist wirklich komisch.«
»Bestimmt nicht?«Olga kniff die Augen zusammen und sah mich an. Ist das etwa mein Blick, wenn ich versuche, Wohlwollen auszudrücken, in das sich Zweifel mischt?
»Ganz bestimmt nicht.«
»Dann schau dich an.«
Ich ging zum Spiegel, der genauso groß und prachtvoll war, wie alles in diesem geheimen Badezimmer,
und sah mich an.
Das Ergebnis war seltsam. Während ich mein neues Aussehen betrachtete, beruhigte ich mich. Wahrscheinlich hätte es mich mehr schockiert, wenn ich in einem anderen männlichen Körper gelandet wäre. Aber so blieb nur das Gefühl einer gerade begonnenen Maskerade.
»Du manipulierst mich doch nicht?«, fragte ich.»Du oder der Chef?«
»Nein.«
»Dann hab ich starke Nerven.«
»Dein Lippenstift ist verwischt«, stellte Olga fest. Und kicherte.»Kannst du dir die Lippen nachziehen?«
»Spinnst du? Natürlich nicht.«
»Ich bring’s dir bei. Nicht schwer zu lernen. Du hast echt Glück gehabt, Anton.«
»Wieso das?«
»Eine Woche später - und du hättest lernen müssen, wie man Binden benutzt.«
»Wie jeder normale Mann, der regelmäßig Fernsehen guckt, habe ich es darin bereits zur Vollkommenheit gebracht. Man tränkt die Binde mit einer giftblauen Flüssigkeit und drückt sie dann kräftig mit der Faust aus.«
Zwei
Ich verließ das Arbeitszimmer und blieb kurz stehen, gegen die Versuchung umzukehren ankämpfend.
Jederzeit hätte ich aus dem Plan aussteigen können, den der Chef entwickelt hatte. Hätte nur kehrtmachen, ein paar Worte zu ihm sagen müssen - und Olga und ich wären in unsere eigentlichen Körper zurückgelangt. Nur dass ich in der letzten halben Stunde genug gute Gründe zu hören bekommen hatte, um einzusehen, dass der Körpertausch die einzige praktikable Antwort auf die Provokation seitens der Dunklen darstellte.
Schließlich wäre es dumm, auf die rettende Behandlung zu verzichten, nur weil Spritzen wehtun.
Die Schlüssel zu Olgas Wohnung lagen in meiner Handtasche. Neben Geld und einer Kreditkarte in einem winzigen Portemonnaie, einem Kosmetiktäschchen, einem Taschentuch, Binden - wozu das denn, die würde ich ja doch nicht brauchen -, einer angebrochenen Packung Tic Tac, einem Kamm, allerlei Kleingeld in den Tiefen der Tasche, einem Spiegel, einem fitzeligen Mobiltelefon…
Die leeren Taschen der Jeans erweckten dagegen unwillkürlich das Gefühl, etwas verloren zu haben. Kurz kramte ich in ihnen herum, in der Hoffnung, wenigstens eine schäbige Münze zu finden, fand jedoch nur meine Überzeugung bestätigt, dass Olga wie die meisten Frauen alles in der Handtasche trug.
Die leeren Hosentaschen waren gewiss nicht der schlimmste Verlust an dem Tag. Trotzdem ärgerte mich dieses Detail. Ich stopfte einige Geldscheine aus der Handtasche in die Hosentasche und fühlte mich gleich sicherer.
Nur schade, dass Olga keinen MD-Player hatte…
»Hallo.«Garik kam auf mich zu.»Ist der Chef allein?«
»Er hat… hat Besuch… Anton«, antwortete ich.
»Ist was passiert, Olga?«Garik schaute mich aufmerksam an. Ich weiß nicht, ob er etwas spürte: die fremde Intonation vielleicht, die unsicheren Bewegungen oder die neue Aura. Doch wenn schon ein Fahnder, mit dem weder Olga noch ich sonderlich viel zu tun hatten, den Tausch merkte, dann konnte ich mich gleich vergessen.
Aber jetzt lächelte Garik unsicher und schüchtern. Das kam völlig unerwartet: Mir war noch nie aufgefallen, dass Garik mit den Mitarbeiterinnen der Wache zu flirten versuchte. Selbst Menschenfrauen lernte er nur schwer kennen, in Liebesdingen war er ein erstaunlicher Pechvogel.
»Nein. Wir haben uns etwas gestritten.«Ich drehte mich um und ging zur Treppe, ohne mich von ihm zu verabschieden.
Das war die Version für die Nachtwache - für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich bei uns ein Agent eingeschlichen hatte. Soweit ich wusste, war das erst ein- oder zweimal in der Geschichte der Wache vorgekommen, aber wer weiß… Sollten ruhig alle denken, Boris Ignatjewitsch habe sich mit seiner langjährigen Freundin verzankt.
Grund genug dafür gab es. Hundert Jahre lang war sie in seinem Arbeitszimmer eingesperrt gewesen, ohne Menschengestalt annehmen zu können, war jetzt zwar teilweise rehabilitiert, hatte aber den Großteil ih-
rer magischen Fähigkeiten eingebüßt. Das sollte ja wohl ausreichen, um sauer auf ihn zu sein… Zumindest ersparte es mir diese Version, die Freundin des Chefs zu mimen - was des Guten nun doch zu viel gewesen wäre.
In solche Gedanken versunken, ging ich in den zweiten Stock hinunter. Ich musste zugeben, dass Olga alles getan hatte, um mir das Leben leichter zu machen. Heute hatte sie sich Jeans angezogen, nicht wie sonst ein Kostüm oder ein Kleid, dazu Turnschuhe statt hochhackiger Pumps. Noch nicht einmal der leichte Parfümgeruch wirkte zu benebelnd.
Es lebe die Unisexmode, auch wenn sie von Homosexuellen erfunden wurde…
Ich wusste, was ich jetzt tun musste, wusste, wie ich mich verhalten musste. Trotzdem fiel es mir nicht leicht. Nicht zum Ausgang zu gehen, sondern in einen abgelegenen ruhigen Korridor abzubiegen.
Und in die Vergangenheit einzutauchen.
Krankenhäuser sollen ja ihren eigenen unverwechselbaren Geruch haben. Natürlich. Das verwundert nicht weiter, es wäre sogar seltsam, wenn den Chlorlösungen und Schmerzen, Sterilisatoren und Wunden, der Krankenhausbettwäsche und dem nach nichts schmeckenden Essen nicht ein eigener Geruch anhaftete.
Doch woher haben bitte schön Schulen und andere Lehreinrichtungen ihren eigenen Geruch?
Im Gebäude der Wache wird nur ein Teil der Fächer unterrichtet. Andere Kurse lassen sich besser nachts im Leichenschauhaus absolvieren, wo wir unsere Leute haben. Manches wird uns vor Ort beigebracht. Wieder
anderes im Ausland, bei Urlaubsreisen, die die Wache finanziert. Im Zuge meiner Ausbildung war ich auf Haiti, in Angola, in den Staaten und in Spanien gewesen.
Trotzdem gibt es einige Veranstaltungen, die nur auf dem Gelände der Wache abgehalten werden können, in dem Gebäude, das vom Fundament bis zum Dach durch Magie und Schutzzauber versiegelt ist. Als die Wache vor dreißig Jahren in dieses Haus gezogen ist, wurden drei Hörsäle eingerichtet, jeder für fünfzehn Personen. Bis heute ist mir unklar, was damals eigentlich überwog: der Optimismus der Mitarbeiter oder das Überangebot an Raum. Selbst während meines Studiums - und das war ein sehr erfolgreiches Jahr für die Wache - reichte uns ein Hörsaal, und sogar der blieb noch zur Hälfte leer.
Im Moment wurden in der Wache vier Andere ausgebildet. Und nur bei Swetlana ging man davon aus, dass sie bei uns bleiben, dass sie es nicht vorziehen würde, ein normales menschliches Leben zu führen.
Leer war es hier, leer und still. Langsam ging ich den Korridor entlang, schaute in die verlassenen Hörsäle hinein, um die uns selbst eine hervorragend ausgestattete und erfolgreiche Universität hätte beneiden können. Zu jedem Tisch gehörte ein Notebook, in jedem Raum gab es einen Fernseher mit riesigem Bildschirm, die Schränke bogen sich unter den Büchern. Hätte diese Bücher je ein Historiker gesehen, ein ganz normaler Historiker, kein Geschichtsverdreher…
Doch sie würden sie niemals zu Gesicht bekommen.
In einigen dieser Bücher standen zu viele Wahrheiten geschrieben. In anderen zu wenige Lügen. Menschen sollten dergleichen nicht lesen, um ihres Frie-
dens willen sollten sie das nicht. Mögen sie ruhig mit der Geschichte leben, an die sie gewöhnt sind.
Am Ende des Korridors hing ein überdimensionaler Spiegel, der die ganze Stirnseite einnahm. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich hinein: Durch den Flur lief hüftschwenkend eine junge attraktive Frau.
Ich geriet ins Stolpern und wäre beinah hingefallen. Obwohl Olga alles getan hatte, um mir das Leben zu erleichtern, hatte sie den Schwerpunkt des Körpers nicht verschieben können. Sobald es mir gelang, mein Äußeres zu vergessen, klappte alles mehr oder weniger einwandfrei, funktionierten die motorischen Fähigkeiten. Kaum fing ich jedoch an, mich zu beobachten, lief alles aus dem Ruder. Ich atmete sogar anders, irgendwie gelangte die Luft nicht wie sonst in die Lungen.
Ich trat an die letzte Tür heran, die verglast war. Vorsichtig schaute ich in den Raum.
Der Unterricht ging gerade zu Ende.
Heute hatten sie Alltagsmagie - erkannte ich in dem Moment, als ich neben der Schautafel Polina Wassil-jewna erblickte. Was ihr Äußeres angeht, ist sie eine der ältesten Mitarbeiterinnen der Wache, von ihrem eigentlichen Alter her jedoch keineswegs. Aber man hatte sie erst im Alter von dreiundsechzig Jahren entdeckt und initiiert. Wer hätte denn ahnen können, dass die Alte, die sich in den schlimmen Nachkriegsjahren etwas Geld mit Kartenlegen zuverdiente, tatsächlich über gewisse Fähigkeiten verfügt? Zudem ganz beachtliche, nur eben sehr spezielle.
»Und jetzt, wenn ihr mal in aller Schnelle eure Kleidung in Ordnung bringen müsst«, dozierte Polina Wassiljewna,»könnt ihr das in wenigen Minuten erledigen. Vergesst nur nicht, euch vorab zu vergewissern, wofür eure Kräfte reichen. Sonst blamiert ihr euch womöglich.«
»Und sobald es Mitternacht schlägt, verwandelt sich deine Kutsche in einen Kürbis«, sagte ein junger Mann laut, der neben Swetlana saß. Ich kannte ihn nicht, er studierte erst den zweiten oder dritten Tag hier, doch er war mir von vornherein unsympathisch.
»Ganz genau!«, erklärte Polina begeistert, die in jeder neuen Klasse mit derlei Geistesblitzen konfrontiert wurde.»Die Märchen lügen nicht weniger als die Statistiken! Trotzdem enthalten sie manchmal einen Funken Wahrheit.«
Sie nahm einen sorgfältig gebügelten, eleganten, wiewohl ein wenig altmodischen Smoking vom Tisch. In so einem hat sich wohl James Bond unter die Leute begeben.
»Wann verwandelt er sich wieder in Lumpen?«, fragte Swetlana sachlich.
»In zwei Stunden«, gab Polina ebenso knapp Auskunft. Sie hängte den Smoking auf einen Bügel und wandte sich wieder der Schautafel zu.»Ich habe mir keine große Mühe gegeben.«
»Und wie lange können Sie ihn in dieser präsentablen Form belassen? Maximal?«
»Etwa vierundzwanzig Stunden.«
Swetlana nickte und sah plötzlich in meine Richtung. Sie hatte etwas gespürt. Lächelnd winkte sie mir zu. Nun bemerkten mich alle.
»Nur herein, meine Dame.«Polina neigte den Kopf.»Das ist eine große Ehre für uns.«
Sie musste etwas über Olga wissen, das mir unbekannt war. Wir alle wussten nur einen Teil der Wahrheit über sie, nur der Chef wusste vermutlich alles.
Ich betrat den Raum und versuchte verzweifelt, nicht zu anmutig einherzuschreiten. Was rein gar nichts brachte. Swetlanas Nachbar, ein fünfzehnjähriger Bengel, der seit einem halben Jahr im Anfängerkurs für Magie auf der Stelle trat, und der hoch gewachsene dürre Koreaner, der vielleicht dreißig oder vierzig Jahre alt war - sie alle starrten mich an.
Eindeutig interessiert. Die ganze geheimnisvolle Atmosphäre, die Olga umgab, die Gerüchte und Mutmaßungen, nicht zu vergessen der Umstand, dass sie seit Jahr und Tag die Geliebte des Chefs war - all das löste beim männlichen Teil der Wache eine ganz bestimmte Reaktion aus.
»Guten Tag«, sagte ich.»Auch wenn ich nicht als Lehrerin komme, störe ich doch hoffentlich nicht?«
Da ich mich ausschließlich auf die richtige Verwendung der geschlechtsspezifischen Form konzentrierte, achtete ich nicht auf die Intonation. Die Folge davon war, dass die banalen Worte einen dunkelgeheimnisvollen Unterton gewannen und sich an jeden Einzelnen persönlich zu richten schienen. Das picklige Bübchen verschlang mich mit seinem Blick, der Typ neben Swetlana schluckte, und nur der Koreaner bewahrte so etwas wie Gelassenheit.
»Olga, möchten Sie unseren Studenten etwas mitteilen?«, wollte Polina wissen.
»Ich muss mit Sweta sprechen.«
»Der Unterricht ist für heute beendet«, erklärte die Alte.»Olga, wollen Sie nicht einmal in meinem Kurs
vorbeischauen? Meine Vorlesungen können Ihre Erfahrung nicht aufwiegen.«
»Gern«, versprach ich großzügig.»In drei Tagen etwa.«
Sollte sich doch Olga mit meinem Versprechen rumschlagen. Schließlich musste ich mich auch mit dem Sexappeal rumplagen, den sie sich zugelegt hatte.
Gemeinsam gingen Sweta und ich zum Ausgang. Drei gierige Augenpaare bohrten sich in meinen Rücken, genauer: nicht genau in den Rücken.
Ich wusste, dass sich zwischen Olga und Swetlana eine herzliche Freundschaft entwickelt hatte. Und zwar nach jener Nacht, als wir zwei ihr die Wahrheit über die Welt, die Anderen, die Lichten und die Dunklen, die Wachen und das Zwielicht eröffnet hatten, seit jener Morgenstunde, als sie an unserer Hand durch eine geschlossene Tür den Raum des Einsatzstabs der Nachtwache betreten hatte. Sicher, Swetlana und mich verband ein mystischer Faden, unsere Schicksale waren miteinander verflochten. Aber ich wusste - wusste es nur zu gut -, dass das nicht von Dauer sein würde. Swetlana würde mich weit hinter sich lassen, würde dorthin gehen, wohin ich nie gelangen konnte, selbst wenn ich ein Magier ersten Grades werden sollte. Uns hielt das Schicksal zusammen, fest zusammen, aber nur vorübergehend. Mit Olga hingegen hatte sich Swetlana einfach angefreundet, so skeptisch ich der Freundschaft zwischen zwei Frauen auch gegenüberstehen mochte. Keine Bestimmung hatte sie zusammengeführt. Sie waren frei.
»Olga, ich muss noch auf Anton warten.«Swetlana ergriff meine Hand. Das war nicht die Geste der kleinen Schwester, die bei der großen Unterstützung und Selbstbestätigung suchte. Sondern die Geste einer gleichberechtigten Frau. Und wenn Olga Swetlana eine gleichberechtigte Position einräumte, musste der jungen Frau in der Tat eine große Zukunft bevorstehen.
»Das brauchst du nicht«, sagte ich.»Wirklich nicht, Sweta.«
Schon wieder stimmte etwas mit meinem Satzbau oder meiner Intonation nicht. Diesmal war es Swetla-na, die mich irritiert anschaute - aber mit demselben Blick wie Garik.
»Ich werde dir alles erklären«, versicherte ich.»Aber nicht hier und jetzt. Sondern bei dir zu Hause.«
Der Schutz ihrer Wohnung ließ nichts zu wünschen übrig, zu viel Kraft hatte die Wache schon in ihre neue Mitarbeiterin investiert. Der Chef hatte noch nicht einmal mit mir darüber gestritten, ob ich mich Swetla-na anvertrauen dürfe, sondern lediglich eins verlangt: Es muss bei ihr zu Hause passieren.
»Gut.«Obwohl die Verwunderung nicht aus Swetlanas Augen wich, nickte sie zustimmend.»Bist du sicher, dass ich nicht auf Anton zu warten brauche?«
»Absolut«, erwiderte ich im Brustton der Überzeugung.»Nehmen wir das Auto?«
»Bist du heute zu Fuß gekommen?«
Blödmann!
Ich hatte völlig vergessen, dass Olga allen anderen Transportmitteln jenen Sportwagen vorzog, den ihr der Chef geschenkt hatte.
»Deshalb frag ich ja: Wollen wir fahren?«, erklärte ich, wobei mir klar war, dass ich wie ein Idiot dastand. Nein, schlimmer noch: wie eine Idiotin.
Sweta nickte. Die Irritation in ihrem Blick wuchs und wuchs.
Nur gut, dass ich fahren konnte. Nie hatte mich das zweifelhafte Verlangen gepackt, in dieser Riesenstadt mit ihren beschissenen Straßen ein Auto zu besitzen, doch unser Lehrplan sah vieles vor. Manches kriegen wir auf normale Weise beigebracht, manches wird durch Magie in unser Bewusstsein eingeprägt. Auto fahren hatte ich wie jeder gewöhnliche Mann gelernt, aber wenn mich der Zufall in das Cockpit eines Hubschraubers oder eines Flugzeugs verschlagen sollte, dann würden sich Fähigkeiten melden, von denen ich im Normalzustand nicht mal etwas ahnte. Müssten sich melden - theoretisch zumindest.
Die Autoschlüssel fand ich in der Handtasche. Der orangefarbene Wagen wartete auf dem Parkplatz vor dem Haus auf uns, unter den Argusaugen der Wachleute. Die Türen waren verschlossen, was angesichts des zurückgeklappten Dachs des Sportwagens einfach absurd wirkte.
»Fährst du?«, fragte Swetlana.
Schweigend nickte ich. Ich setzte mich hinters Steuer und ließ den Motor an. Mir fiel ein, dass Olga immer wie aus der Pistole geschossen davonjagte, aber das brachte ich nicht fertig.
»Olga, irgendwas stimmt mit dir nicht«, sprach Swetlana ihre Gedanken schließlich laut aus. Während wir auf den Leningrader Prospekt fuhren, nickte ich.
»Sweta, wir besprechen alles, wenn wir bei dir sind.«
Sie sagte nichts mehr.
Als Autofahrer kann man mich vergessen. Wir brauchten lange, viel länger als nötig. Dennoch stellte Swetlana keine weiteren Fragen, sondern saß nur mit zurückgelehntem Kopf da und starrte stur geradeaus. Als ob sie meditierte oder versuchte, durchs Zwielicht zu sehen. Wenn wir im Stau standen, versuchten mehrmals Männer aus anderen Autos, mich anzusprechen - und zwar immer Männer in den teuersten Wagen. Offenbar schufen sowohl unser Äußeres wie auch unser Auto eine unsichtbare Hürde, die sich nicht jeder zu überschreiten traute. Sie ließen die Scheiben herunter, kurzhaarige Köpfe beugten sich heraus, manchmal erschien als obligatorisches Attribut noch ein Arm mit einem Mobiltelefon. Anfangs war mir das einfach unangenehm. Nach einer Weile fand ich es komisch. Am Ende hörte ich auf, überhaupt noch darauf zu reagieren - genauso wie Swetlana nicht darauf reagierte.
Ob sich Olga wohl über diese Versuche, sie kennen zu lernen, amüsierte?
Vermutlich schon. Nach Jahrzehnten in einem nichtmenschlichen Körper, nach der Gefangenschaft in einer Glasvitrine.
»Olga, warum hast du mich abgeholt? Warum sollte ich nicht auf Anton warten?«
Ich zuckte mit den Schultern. Die Versuchung zu antworten:»Weil er hier ist, neben dir«, war groß. Die Gefahr, dass man uns observierte, dürfte gering sein. Auch das Auto schirmten Sicherheitszauber ab, die ich zum Teil wahrnehmen konnte, die zum Teil aber jenseits meiner Fähigkeiten lagen.
Doch ich beherrschte mich.
Swetlana hatte den Kurs zur Informationssicherheit noch nicht besucht, er begann erst, wenn man drei Monate der Ausbildung hinter sich hatte. Meiner Ansicht nach sollte er ruhig früher angeboten werden, doch für jeden Anderen muss ein eigenes Programm ausgearbeitet werden, und das braucht Zeit.
Nach dieser schmerzhaften Erfahrung würde Swetla-na gelernt haben, wann sie schweigen musste und wann sie reden durfte. Das ist gleichzeitig der leichteste und der anspruchsvollste Kurs in der gesamten Ausbildung. Dir werden einfach streng dosierte Informationen gegeben, in einer ganz bestimmten Reihenfolge. Ein Teil des Gehörten ist wahr, ein Teil gelogen. Einiges wird dir frei und offen gesagt, anderes als schreckliches Geheimnis anvertraut, und wieder anderes erfährst du»zufällig«, belauschst du, beobachtest du heimlich.
Und alles, alles, was du erfährst, wird in dir gären, dir Schmerzen und Schrecken bereiten, aus dir hervorbrechen, dir das Herz zerreißen, nach spontanen unüberlegten Reaktionen verlangen. In den Vorlesungen werden sie dir allerlei Blödsinn erzählen, der im Allgemeinem für das Leben eines Anderen völlig belanglos ist. Denn die wichtigste Erprobung und Lehre vollzieht sich in deiner Seele.
Dass jemand wirklich daran zerbricht, kommt kaum vor. Es ist eben doch ein Teil der Ausbildung, keine Prüfung. Und jeder bekommt die Latte nur in der Höhe aufgelegt, die er auch nehmen kann - bei Aufbietung aller Kräfte, sodass Hautfetzen und Blutspritzer an dieser Hürde kleben bleiben, die aus Stacheldraht geflochten ist.
Doch wenn den Kurs jemand besucht, an dem dir gelegen ist oder der dir einfach nur sympathisch ist, dann zerfleischt es dich, reißt dich in Stücke. Du fängst einen seltsamen Blick auf und grübelst, was dein Freund im Rahmen des Kurses erfahren hat. Welche Wahrheit? Welche Lüge?
Und was der Auszubildende wohl über sich selbst erfahren hat, über die Welt um ihn herum, seine Eltern und Freunde.
Dann kommt ein Wunsch auf, ein schrecklicher, unerträglicher Wunsch. Der Wunsch zu helfen. Zu erklären, anzudeuten, vorzusagen.
Bloß dass niemand, der diesen Kurs hinter sich hat, diesem Wunsch freien Lauf lässt. Denn genau das kriegst du unter Schmerzen beigebracht - was man wann sagen kann und muss.
Im Grunde kann und muss man alles sagen. Nur zur richtigen Zeit, denn sonst ist die Wahrheit schlimmer als die Lüge.
»Olga?«
»Du wirst es verstehen«, sagte ich.»Gedulde dich noch ein wenig.«
Nachdem ich durchs Zwielicht gespäht hatte, raste ich weiter, quetschte mich zwischen einem kastigen Jeep und einem sperrigen Militärtransporter hindurch. Dabei knickte der Spiegel ein, der den Transporter seitlich streifte - mir war das alles egal. Ich schoss als Erster über die Kreuzung, fuhr mit quietschenden Reifen um die Kurve und raste die Chaussee der Enthusiasten hinunter.
»Liebt er mich?«, fragte Swetlana plötzlich.»Sag schon, ja oder nein? Du weißt es doch, oder?«
Ich zuckte zusammen, das Auto schlingerte, doch Swetlana achtete nicht darauf. Sie stellte diese Frage nicht zum ersten Mal, das spürte ich. Olga und sie hatten bereits darüber gesprochen, das heikle Thema war aber noch nicht abgeschlossen.
»Oder liebt er dich?«
Das war’s. Jetzt musste ich etwas sagen.
»Anton hat eine gute Beziehung zu Olga.«Ich redete sowohl über mich wie auch über die Besitzerin meines Körpers in der dritten Person. Das ist demonstrativ, wirkt aber einfach wie kalte, distanzierte Freundlichkeit.»Eine Freundschaft unter Kameraden. Mehr nicht.«
Wenn sie Olga die Frage stellen würde, wie diese zu mir stehe, würde es schwieriger werden, nicht zu lügen.
Doch Swetlana schwieg. Nach einer Minute berührte sie kurz meine Hand, als wolle sie sich entschuldigen.
Jetzt war ich es, der seine Neugier nicht zu zügeln vermochte.»Warum willst du das denn wissen?«
»Ich verstehe ihn nicht«, antwortete sie leichthin, ohne lange zu überlegen.»Anton benimmt sich sehr seltsam. Manchmal habe ich den Eindruck, er sei verrückt nach mir. Und manchmal, dass ich für ihn nur eine von hundert Bekannten bin, die er bei den Anderen hat. Eine Kameradin.«
»Der Knoten des Schicksals«, antwortete ich knapp.
»Was?«
»Das habt ihr noch nicht durchgenommen, Sweta.«
»Dann erklär es mir!«
»Du weißt«, ich trat das Gaspedal weiter und weiter durch, vermutlich meldeten sich allmählich die motorischen Reflexe des fremden Körpers zu Wort,»du weißt, als er das erste Mal bei dir vorbeigekommen ist…«
»Ich weiß, dass er mir da etwas eingeflüstert hat. Das hat er mir erzählt«, fiel Swetlana mir ins Wort.
»Das meine ich nicht. Die Suggestion wurde aufgehoben, als du die Wahrheit erfahren hast. Aber wenn du lernst, das Schicksal zu sehen - und das wirst du bald lernen und viel besser können als ich -, dann wirst du es verstehen.«
»Man hat uns gesagt, dass das Schicksal veränderlich ist.«
»Das Schicksal ist polyvariabel. Als Anton zu dir gekommen ist, wusste er, dass er sich in dich verlieben würde, wenn alles gut ging.«
Swetlana schwieg. Ich glaubte zu sehen, dass ihre Wangen eine leichte Röte überzog, aber möglicherweise lag das am Fahrtwind in dem offenen Cabriolet.
»Und weiter?«
»Weißt du, was das bedeutet? Zur Liebe verurteilt zu sein?«
»Aber ist man das nicht immer?«Swetlana fuhr vor Empörung sogar hoch.»Wenn zwei Menschen einander lieben, wenn sie sich unter Tausenden, unter Millionen finden - das ist immer Schicksal!«
Und wieder spürte ich in ihr jene unendlich naive Frau, die eigentlich schon im Verschwinden war - und die einzig Hass auf sich selbst zu empfinden vermochte.
»Nein. Sweta, hast du schon mal folgende Analogie
gehört: Die Liebe ist eine Blume?«
»Ja.«
»Blumen kann man züchten, Sweta. Man kann sie kaufen. Oder verschenken.«
»Anton hat mich gekauft?«
»Nein«, sagte ich - und sagte es womöglich zu scharf.»Er hat ein Geschenk bekommen. Vom Schicksal.«
»Und was folgt daraus? Wenn das Liebe ist?«
»Sweta, Schnittblumen sind schön. Aber sie halten sich nicht lange. Sie verwelken, selbst wenn du sie noch so beflissen in eine Kristallvase mit frischem Wasser stellst.«
»Er hat Angst, mich zu lieben«, sinnierte Swetlana.»Nicht wahr? Ich hatte keine Angst, weil ich das nicht wusste.«
Ich fuhr am Haus vor und zwängte mich zwischen den geparkten Autos hindurch. Vor allem Shigulis und Moskwitschs. Kein sehr vornehmer Bezirk.
»Warum erzähle ich dir das alles?«, fragte Swetlana.»Wozu verlange ich nach einer Antwort? Und woher weißt du die Antworten, Olga? Liegt es nur daran, dass du vierhundertdreiundvierzig Jahre alt bist?«
Als ich die Zahl hörte, zuckte ich zusammen. In der Tat, eine reiche Lebenserfahrung. Eine ungeheuer reiche.
Im nächsten Jahr würde Olga einen besonderen Geburtstag feiern.
Zu gern hätte ich geglaubt, dass mein Körper in einer derart hervorragenden physischen Verfassung sein würde, wenn ich auch nur ein Viertel dieses Alters er-
reicht hätte.
»Gehen wir.«
Das Auto ließ ich unbeaufsichtigt stehen. Einem menschlichen Wesen würde es ohnehin nicht in den Sinn kommen, es zu stehlen; die Schutzzauber sind zuverlässiger als jede Alarmanlage. Schweigend, sachlich gingen Swetlana und ich die halbe Treppe hoch und betraten ihre Wohnung.
Hier hatte sich natürlich einiges verändert. Swetlana hatte ihre Arbeit aufgegeben, doch das Stipendium und das»Handgeld«, das jedem Anderen bei der Initiierung gezahlt wurde, stellten die bescheidenen Einkünfte einer Ärztin weit in den Schatten. Den Fernseher hatte sie ausgetauscht, auch wenn nicht klar war, wann sie Zeit zum Gucken fand. Der neue Apparat war luxuriös, mit breitem Bildschirm, schon zu groß für ihre Wohnung. Es war komisch, diese sich unvermutet Bahn brechende Sehnsucht nach einem schönen Leben zu beobachten. Am Anfang tritt sie bei allen auf - möglicherweise als Abwehrreaktion. Wenn die Welt um dich herum zusammenbricht, wenn die alten Ängste und Sorgen verschwinden, an ihre Stelle aber neue treten, noch unverständliche und nebelhafte, fängt jeder an, sich ein paar Träume aus seinem alten Leben zu erfüllen, die ihm noch vor kurzem unrealistisch vorkamen. Der eine prasst im Restaurant, ein anderer kauft sich einen teuren Wagen, ein Dritter kleidet sich mit Haute Couture ein. Diese Phase dauert nicht lange, und zwar nicht deshalb, weil man in der Wache kein Millionär wird. Die Bedürfnisse, die noch gestern so drängten, lassen nach, rücken allmählich in die Vergangenheit. Für immer.
»Olga?«
Swetlana sah mir in die Augen.
Ich seufzte und nahm alle Kraft zusammen.»Ich bin nicht Olga.«
Schweigen.
»Wenn ich es dir früher gesagt hätte, hätte ich Idiot wer weiß was angerichtet. Ich musste warten, bis wir hier sind. Deine Wohnung ist gegen jede Beobachtung seitens der Dunklen geschützt.«
»Ich Idiot?«
Das Wesentliche hatte sie gleich erfasst.
»Ich Idiot«, wiederholte ich.»Das ist nur der Körper von Olga.«
»Anton?«
Ich nickte.
Wie absurd das war!
Nur gut, dass sich Swetlana bereits an Absurditäten gewöhnt hatte.
Sie glaubte mir sofort.»Schuft!«
Sie sprach das Wort auf eine Art aus, die eher der Aristokratin Olga alle Ehre gemacht hätte. Genau wie die Ohrfeige, die ich erhielt.
Die nicht wehtat, mich aber demütigte.
»Wofür?«, fragte ich.
»Dafür, dass du ein fremdes Gespräch belauscht hast!«, platzte Swetlana heraus.
Keine sehr durchdachte Formulierung, aber ich verstand sie. Inzwischen hatte Swetlana die andere Hand erhoben, doch in Missachtung des christlichen Gebots wich ich der zweiten Schelle aus.
»Sweta, ich habe versprochen, auf diesen Körper aufzupassen!«
»Ich nicht!«
Swetlana atmete tief durch und biss sich auf die Lippen. Ihre Augen brannten. Derart wütend hatte ich sie nie zuvor erlebt und noch nicht einmal geahnt, dass sie dazu überhaupt imstande war. Was hatte sie nur so aufgebracht?
»Du hast also Angst, Schnittblumen zu lieben?«Swetlana kam langsam auf mich zu.»Das ist es, ja?«
Dann begriff ich es. Wenn auch nicht auf Anhieb.
»Mach, dass du wegkommst! Mach, dass du von hier wegkommst!«
Ich wich zurück, berührte die Tür schon mit dem Rücken. Was mich zwang innezuhalten - so wie auch Swetlana innehielt. Sie wiegte den Kopf, fauchte:»Du solltest in diesem Körper bleiben! Der passt besser zu dir, denn du bist kein Mann, du Schlappschwanz!«
Ich schwieg. Schwieg, weil ich bereits sah, wie es weitergehen würde. Sah, wie vor uns die Wahrscheinlichkeitslinien schlingerten, wie ein spottlustiges Schicksal unsere Wege verflocht.
Und als Swetlana anfing zu weinen und damit auf einmal allen Kampfeseifer verlor, ihr Gesicht mit den Händen bedeckte, als ich sie in die Arme schloss und sie sich bereitwillig an meiner Schulter ausweinte, erfüllten mich Leere und Kälte. Eine schneidende Kälte, als stünde ich wieder im peitschenden Wind des Winters auf dem verschneiten Dach.
Swetlana war noch ein Mensch. In ihr gab es noch zu wenig von einem Anderen, sie verstand nicht, erkannte nicht, wie der Weg weiterging, der uns zu gehen bestimmt war. Und noch weniger bemerkte sie, wie dieser Weg sich gabelte.
Liebe ist Glück, aber nur dann, wenn man glaubt, dass sie ewig währt. Und selbst wenn sich das jedes Mal als Lüge erweist, verleiht doch allein dieser Glaube der Liebe ihre Kraft und ihre Freuden.
Aber Swetlana schluchzte an meiner Schulter.
Viel Wissen bedeutet viel Kummer. Wie sehr wünschte ich, nichts von der unausweichlichen Zukunft zu wissen! Nichts zu wissen - und zu lieben, ohne Rücksicht, wie ein einfacher sterblicher Mensch.
Und trotzdem - wie schade, jetzt nicht im eigenen Körper zu stecken.
Von außen hätte es so aussehen können, als hätten zwei gute Freundinnen beschlossen, einen ruhigen Abend vorm Fernseher zu verbringen, mit Tee und Marmelade, einem Fläschchen trockenen Weins und Gesprächen über die drei ewigen Themen: Alle Männer sind Schweine, ich habe nichts zum Anziehen und - das wichtigste überhaupt - wie nehme ich ab.
»Du magst Brötchen also wirklich?«, fragte Swetlana verwundert.
»Ja. Mit Butter und Marmelade«, grummelte ich.
»Wenn ich mich nicht irre, hat irgendjemand versprochen, gut auf diesen Körper aufzupassen.«
»Und was tu ich ihm Schlechtes an? Du kannst mir glauben, der Organismus ist absolut begeistert.«
»Nun ja«, erwiderte Swetlana unbestimmt.»Du solltest Olga fragen, wie sie auf ihre Figur achtet.«
Ich schwankte kurz, schnitt mir dann aber doch ein weiteres Brötchen auf und bestrich es üppig mit Marmelade.
»Und wer ist auf diese geniale Idee gekommen, dich in einem Frauenkörper zu verstecken?«
»Vermutlich der Chef.«
»Daran hab ich nicht gezweifelt.«
»Olga findet es auch gut.«
»Wie sollte es anders sein: Boris Ignatjewitsch ist ihr Zar und Gott.«
Diesbezüglich hegte ich zwar meine Zweifel, schwieg mich jedoch aus. Swetlana stand auf und ging zum Kleiderschrank. Öffnete ihn, um nachdenklich die Bügel zu betrachten.
»Willst du einen Morgenmantel?«
»Was?«Ich verschluckte mich am Brötchen.
»Willst du hier etwa so rumlaufen? Du sprengst diese Jeans noch. Das ist doch unbequem.«
»Hast du vielleicht einen Trainingsanzug?«, fragte ich jammernd.
Swetlana schaute mich amüsiert an, lenkte dann aber ein.
»Wir werden was finden.«
Ehrlich gesagt, hätte ich es vorgezogen, jemand anderen in einem solchen Aufzug zu sehen. Swetlana zum Beispiel. Kurze weiße Shorts und eine Bluse. Perfekt fürs Tennis oder zum Joggen.
»Zieh dich um.«
»Sweta, ich glaube nicht, dass wir den ganzen Abend hier bleiben.«
»Trotzdem. Schaden kann das nicht, dann sehen wir gleich, ob die Größe stimmt. Zieh dich um, ich mach derweil Tee.«
Nachdem Swetlana hinausgegangen war, schlüpfte ich rasch aus den Jeans. Als ich die Bluse aufknöpfte, kam ich mit den unvertrauten, viel zu straff sitzenden Knöpfen durcheinander. Voller Hass betrachtete ich danach mein Spiegelbild.
Eine attraktive Frau, zweifelsohne. Wie geschaffen, um für ein Erotikmagazin fotografiert zu werden.
Hastig zog ich mir die anderen Sachen an und setzte mich aufs Sofa. Im Fernsehen lief eine Seifenoper - wer hätte gedacht, dass Sweta ausgerechnet dieses Programm sah. Freilich, die anderen Kanäle dürften kaum besser sein.
»Du siehst gut aus.«
»Sweta, muss das sein?«, fragte ich.»Mir ist auch so schon schlecht.«
»Gut, entschuldige«, stimmte sie ohne weiteres zu und setzte sich neben mich.»Was sollen wir tun?«
»Wir?«, hakte ich mit leichtem Nachdruck nach.
»Ja, Anton. Du bist doch nicht umsonst zu mir gekommen.«
»Ich musste dir einfach erzählen, in was für eine Sache ich da reingeraten bin.«
»Kann ja sein. Aber da der Chef…«Das Wort»Chef«ließ sie sich förmlich auf der Zunge zergehen, legte sowohl Respekt wie auch Ironie in es hinein.»… dir gestattet hat, dich mir zu erkennen zu geben, soll ich dir offensichtlich helfen. Und wenn es nur auf Geheiß des Schicksals ist«, konnte sie sich nicht verkneifen hinzuzufügen.
Ich kapitulierte.
»Ich darf nicht allein sein. Nicht eine Minute. Der ganze Plan basiert darauf, dass die Dunklen ihre Bauern bewusst opfern, indem sie sie entweder umbringen oder sterben lassen.«
»Wie damals?«
»Ja, genau. Und wenn sie es damit auf mich abgesehen haben, wird es einen weiteren Mord geben. Und zwar in dem Moment, wenn ich - ihrer Ansicht nach natürlich - kein Alibi habe.«
Swetlana sah mich an und stützte das Kinn in die Hände. Langsam schüttelte sie den Kopf.»Und dann, Anton, springst du aus diesem Körper heraus wie der Teufel aus der Schachtel. Also kannst du diese Serienmorde unmöglich begangen haben. Und der Feind ist blamiert.«
»Hm.«
»Du musst mich schon entschuldigen. Ich bin noch nicht lange bei der Wache, vielleicht verstehe ich da etwas nicht.«
Ich horchte auf. Ganz kurz zauderte Swetlana.
»Als das alles mit mir passiert ist…«, fuhr sie dann fort.»Wie war das denn damals? Die Dunklen versuchten, mich zu initiieren. Sie wussten, dass die Nachtwache das bemerken würde, und hatten sogar rausbekommen, dass du dich einmischen und mir helfen konntest.«
»Ja.«
»Deshalb wurde eine Kombination gespielt, bei der mehrere Figuren geopfert und einige falsche Kraftzentren geschaffen wurden. Zunächst ist die Nachtwache den Dunklen auch auf den Leim gegangen. Wenn der Chef nicht seinerseits sein Spiel durchgezogen hätte, wenn du nicht losgeprescht wärst, ohne dabei nach links und nach rechts zu schauen…«
»Dann wärst du jetzt meine Feindin«, sagte ich.»Und würdest von der Tagwache ausgebildet.«
»Das meine ich nicht, Anton. Ich bin dir dankbar, bin der ganzen Nachtwache dankbar, vor allem aber dir. Aber darum geht es nicht. Du musst doch einsehen, dass das, was du mir eben erzählt hast, genauso glaubhaft ist wie meine Geschichte. Hat da nicht auch eins zum andern gepasst? Das wildernde Vampirpärchen. Der Junge mit den ausgeprägten Fähigkeiten eines Anderen. Die Frau mit dem starken Fluch. Die globale Gefahr für die Stadt.«
Ich wusste nicht, was ich ihr antworten sollte. Während ich sie ansah, spürte ich, wie ich errötete. Eine junge Frau, die noch nicht einmal ein Drittel aller Kurse besucht hatte, eine Anfängerin in unserem Geschäft, legt mir die Situation so dar, wie ich sie ihr hätte darlegen sollen.
»Was passiert jetzt?«Swetlana bemerkte nicht, dass ich vor Scham am liebsten im Boden versunken wäre.»Ein Serienmörder, der Dunkle vernichtet. Du stehst auf der Liste der Verdächtigen. Der Chef hat prompt einen raffinierten Schachzug auf Lager: Du tauschst mit Olga den Körper. Doch wie raffiniert ist dieser Zug tatsächlich? Soviel ich weiß, ist die Praxis des Körper-tauschs weit verbreitet. Boris Ignatjewitsch selbst hat erst vor kurzem auf sie zurückgegriffen, oder etwa nicht? Hat er früher schon mal versucht, den gleichen Trick zweimal hintereinander anzuwenden? Gegen ein und denselben Gegner?«
»Ich weiß es nicht, Sweta, in die Details der Operation bin ich nicht eingeweiht.«
»Dann benutz deinen eigenen Kopf! Und noch was: Ist Sebulon wirklich so ein kleinkrämerischer, rachsüchtiger Hysteriker? Er ist doch bereits Hunderte von Jahren alt, oder? Die Tagwache leitet er nicht erst seit gestern. Wenn dieser Verrückte…«
»Der Wilde.«
»Wenn dieser Wilde sich ungehindert in den Straßen Moskaus austoben durfte, um eine Intrige vorzubereiten, warum sollte der Leiter der Tagwache ihn dann für eine derartige Belanglosigkeit verschwenden? Entschuldige, Anton, aber du bist nun wirklich kein besonders großes Ziel.«
»Ist mir ja klar. Offiziell bin ich ein Magier fünften Grades. Aber der Chef hat gesagt, dass ich eigentlich auf den dritten Grad Anspruch erheben könnte.«
»Selbst dann nicht.«
Wir sahen einander an, und ich breitete die Arme aus.»Ich geb auf. Wahrscheinlich hast du Recht, Swetlana. Aber ich habe dir nur erzählt, was ich weiß. Und andere Varianten sehe ich nicht.«
»Das heißt, du wirst die Anordnungen befolgen? In einem Rock herumlaufen, keine Minute allein sein?«
»Als ich in die Wache eingetreten bin, wusste ich, dass ich einen Teil meiner Freiheit verliere.«
»Einen Teil.«Swetlana schnaubte.»Gut gesagt. Aber lassen wir das, du kannst das besser beurteilen. Wir bleiben die Nacht über also zusammen?«
»Ja«, nickte ich.»Aber nicht hier. Es wäre besser, wenn ich die ganze Zeit unter Leuten wären.«
»Und wann willst du schlafen?«
»Es ist nicht schwer, ein paar Tage nicht zu schlafen.«Ich zuckte mit den Schultern.»Ich glaube, Olgas Körper ist genauso gut in Form wie meiner. In den letzten Monaten hat sie sich permanent ins Nachtleben gestürzt.«
»Aber ich bin mit diesen Kunststückchen noch nicht vertraut, Anton. Wann soll ich schlafen?«
»Tagsüber. Im Unterricht.«
Sie verzog das Gesicht. Ich wusste, dass Swetlana zustimmen würde, sie konnte gar nicht anders. Ihr Charakter hätte es ihr nicht einmal gestattet, einer Zufallsbekanntschaft Hilfe zu verweigern - und eine Zufallsbekanntschaft war ich nun doch nicht.
»Gehen wir in den Maharadscha?«, schlug ich vor.
»Was ist das?«
»Ein indisches Restaurant, sehr anständig.«
»Hat es die ganze Nacht über auf?«
»Nein, leider nicht. Uns wird schon noch einfallen, wohin wir danach gehen können.«
Swetlana blickte mich so lange an, dass selbst das mir eigene dicke Fell nicht ausreichte. Was hatte ich jetzt schon wieder falsch gemacht?
»Ich danke dir, Anton«, sagte Swetlana voller Gefühl.»Aufrichtig. Du lädst mich in ein Restaurant ein. Darauf warte ich schon seit zwei Monaten.«
Sie stand auf, ging zum Schrank, öffnete ihn und blickte gedankenverloren auf die darin hängenden Kleidungsstücke.»In deiner Größe finde ich nichts Ordentliches«, meinte sie.»Du musst wieder die Jeans anziehen. Ob sie dich so ins Restaurant lassen?«
»Bestimmt«, sagte ich nicht sehr überzeugt. Schlimmstenfalls könnte ich ja immer noch eine leichte Manipulation des Personals vornehmen.
»Wenn es Probleme geben sollte, übe ich die Suggestion«, sagte Swetlana, als hätte sie meine Gedanken gelesen.»Ich werde sie zwingen, uns einzulassen. Das ist doch für eine gute Sache, oder?«
»Natürlich.«
»Weißt du was, Anton?«Swetlana nahm ein Kleid vom Bügel, hielt es sich an und schüttelte den Kopf. Daraufhin nahm sie ein beigefarbenes Kostüm heraus.»Mich erstaunt die Geschicklichkeit, mit der die Wächter der Nacht jede Manipulation der Wirklichkeit mit den Interessen des Guten und des Lichts erklären können.«
»Nicht jede!«, empörte ich mich.
»Jede, ganz bestimmt. Im Notfall ist selbst Raub eine gute Sache. Und Mord.«
»Nein.«
»Bist du da so sicher? Wie oft musstest du schon in das Bewusstsein anderer Menschen eindringen? Selbst unser Treffen: Du hast mich gezwungen zu glauben, dass wir alte Bekannte sind. Nutzt du deine Fähigkeiten als Anderer oft im Leben?«
»Ja. Aber…«
»Stell dir vor, du gehst eine Straße entlang. Vor deinen Augen schlägt ein Erwachsener ein Kind. Was machst du?«
»Wenn mein Limit für Interventionen noch nicht ausgeschöpft ist«- ich zuckte mit den Schultern -,»nehm ich eine Remoralisierung vor. Was sonst?«
»Und du wärst dir sicher, dass du das Richtige tust?
Du würdest nicht lange nachdenken, dich nicht näher damit befassen? Was ist, wenn das Kind für etwas bestraft wird? Wenn diese Strafe es in Zukunft vor größeren Unannehmlichkeiten bewahrt und es jetzt zum Mörder und Banditen heranwächst? Aber du nimmst erst mal eine Remoralisierung vor!«
»Sweta, du irrst dich.«
»Wieso denn?«
»Selbst wenn ich kein Limit für parapsychologische Manipulationen hätte, würde ich nicht einfach vorbeigehen.«
Swetlana schnaubte.»Aber du wärest überzeugt, das Richtige zu tun? Wo ist da die Grenze?«
»Die Grenze bestimmt jeder selbst. So ist das nun mal.«
Nachdenklich schaute sie mich an.»Anton, diese Fragen stellt doch jeder Neuling, oder?«
»Ja«, lächelte ich.
»Und du hast dich daran gewöhnt, sie zu beantworten, hast eine paar Antworten, Sophismen, Beispiele aus der Geschichte und Analogien in petto.«
»Nein, Sweta. So ist das nicht. Die Dunklen stellen diese Fragen überhaupt nicht.«
»Woher weißt du das?«
»Ein Dunkler Magier kann heilen, ein Lichter Magier kann töten«, sagte ich.»Das stimmt. Weißt du, worin der Unterschied zwischen dem Licht und dem Dunkel besteht?«
»Nein. Aus irgendeinem Grund erklärt man uns das nicht. Wahrscheinlich lässt sich das nur schwer in Worte fassen?«
»Überhaupt nicht. Wenn du in erster Linie an dich denkst, an deine Interessen, dann führt dein Weg zum Dunkel. Wenn du an andere denkst, zum Licht.«
»Und braucht man lange, um dorthin zu kommen? Zum Licht?«
»Ewig.«
»Das sind doch nur Worte, Anton. Nur ein Spiel mit Worten. Was sagt ein erfahrener Dunkler einem Neuling? Vielleicht auch so schöne und zutreffende Worte?«
»Ja. Über die Freiheit. Darüber, dass jeder im Leben den Platz einnimmt, den er verdient. Darüber, dass jede Form von Mitleid erniedrigend ist, dass echte Liebe blind, echte Güte hilflos macht, darüber, dass wirkliche Freiheit bedeutet, frei von allen anderen zu sein.«
»Und stimmt das nicht?«
»Doch.«Ich nickte.»Das ist auch ein Teil der Wahrheit. Sweta, wir können nicht die absolute Wahrheit wählen. Denn sie hat immer zwei Seiten. Alles, was wir haben, ist das Recht, uns derjenigen Lüge zu verweigern, die unangenehmer ist. Weißt du, was ich den Anfängern beim ersten Mal über das Zwielicht sage? Wir treten in es hinein, um Kraft zu bekommen. Und der Preis dafür ist der Verzicht auf den Teil der Wahrheit, den wir nicht akzeptieren wollen. Die Menschen haben es leichter. Millionenmal leichter, mit all ihren Nöten, Problemen und Sorgen, die für uns Andere überhaupt nicht existieren. Die Menschen stehen nicht vor der Wahl: Sie können gut und böse sein, alles hängt vom Augenblick ab, von der Umgebung, von einem am Abend zuvor gelesenen Buch oder vom Beefsteak, das sie zu Mittag gegessen haben. Darum sind
sie so leicht zu lenken, kann selbst der schlimmste Schuft leicht zum Licht gebracht und der gütigste und dankbarste Mensch zum Dunkel gedrängt werden. Wir sind es, die wählen müssen.«
»Das habe ich doch bereits getan, Anton. Schließlich bin ich schon ins Zwielicht eingetreten.«
»Stimmt.«
»Warum verstehe ich dann nicht, wo die Grenze ist, worin der Unterschied zwischen mir und irgendeiner Hexe besteht, die an schwarzen Messen teilnimmt? Warum stelle ich diese Fragen?«
»Du wirst sie immer stellen. Am Anfang laut. Später dir selbst. Das geht nicht vorbei, niemals. Wenn du diesen quälenden Fragen entkommen wolltest, hättest du die andere Seite wählen müssen.«
»Ich habe die gewählt, die ich wollte.«
»Ich weiß. Deshalb musst du das ertragen.«
»Das ganze Leben lang?«
»Ja. Und obwohl das lang sein wird, wirst du dich nie daran gewöhnen. Niemals wirst du der Frage entkommen, wie gerechtfertigt jeder einzelne Schritt ist, den du getan hast.«
Drei
Maxim mochte keine Restaurants. Aufgrund seiner Natur nicht. Bei weitem ungezwungener und entspannter fühlte er sich in Bars und Clubs, mitunter sogar in den teureren, wo man auf übertrieben gepflegtes Auftreten jedoch keinen Wert legte. Manche Gäste verhielten sich natürlich selbst in noblen Restaurants wie rote Kommissare während einer Verhandlung mit einem Bourgeois: ohne Manieren, ohne den geringsten Wunsch, sie sich anzueignen. Doch warum sollte er den neureichen Russen aus den Witzen nacheifern?
Die letzte Nacht musste jedoch wieder gutgemacht werden. Seine Frau glaubte entweder tatsächlich an das»wichtige Geschäftstreffen«oder tat zumindest so, als ob. Dennoch plagten ihn leichte Gewissensbisse. Wenn sie doch die Wahrheit wüsste! Wenn sie bloß ahnen würde, wer er eigentlich war und womit er sich befasste!
Maxim konnte ihr nichts sagen. Und musste die seltsame nächtliche Abwesenheit mit denselben Methoden wettmachen, zu denen jeder anständige Ehemann nach einer Nacht bei seiner Geliebten greift. Geschenke, Aufmerksamkeit, Ausgehen. Zum Beispiel in ein gutes, angesehenes Restaurant mit ausgesuchter exotischer Küche, ausländischem Personal, edler Innenausstattung und einer umfangreichen Weinkarte.
Ob Jelena ihn wirklich verdächtigte, sie letzte Nacht betrogen zu haben? Die Frage beschäftigte Maxim zwar, aber nicht in dem Maße, dass er sie laut gestellt hätte. Etwas muss man immer unausgesprochen lassen. Vielleicht würde sie eines Tages die Wahrheit erfahren. Und stolz auf ihn sein.
Vermutlich hegte er jedoch falsche Hoffnungen. Da machte er sich nichts vor. In einer Welt, in der die Ausgeburten des Bösen und des Dunkels hausten, war er der einzige Lichte Ritter, unendlich einsam, bar jeder Möglichkeit, mit jemandem die Wahrheit zu teilen, die sich ihm ab und zu offenbarte. Anfangs hatte Maxim noch darauf gehofft, jemandem zu begegnen, der war wie er: einem Sehenden im Land der Blinden, einem Wachhund, fähig, in der arglosen Herde den Wolf im Schafspelz zu wittern.
Nein. So jemanden gab es nicht, niemanden gab es, der sich ihm hätte anschließen können.
Und trotzdem legte er die Hände nicht in den Schoß.
»Was meinst du, soll ich das nehmen?«
Maxim schielte auf die Speisekarte. Worum es sich bei einer Malai Kofta handelte, wusste er auch nicht. Doch dergleichen hinderte ihn nie, etwas auszusuchen. Schließlich waren die Zutaten aufgelistet.
»Nimm es. Fleisch mit Sahnesoße.«
»Rindfleisch?«
Im ersten Moment begriff er nicht, dass Jelena nur scherzte. Dann reagierte er auf ihr Schmunzeln.»Bestimmt.«
»Und wenn ich ein Gericht mit Rindfleisch bestelle?«
»Werden sie dich freundlich darauf hinweisen, dass sie es nicht haben«, vermutete Maxim. Die Pflicht, seine Frau zu unterhalten, verlangte ihm nicht viel Mühe ab. Gestaltete sich eher angenehm. Und trotzdem hätte er jetzt mit großem Vergnügen bloß das Lokal im Auge behalten. Irgendwas stimmte hier nicht. Irgendwas schimmerte im Halbdunkel auf, jagte ihm einen kalten Schauder über den Rücken, zwang ihn, zu blinzeln und zu beobachten, ohne Ende zu beobachten…
Konnte das sein?
Normalerweise lagen zwischen seinen Missionen ein paar Monate, ein halbes Jahr. Aber noch am selben Tag…
Doch diese Symptome kannte er nur zu gut.
Maxim steckte die Hand in die Innentasche seines Jacketts, als tastete er nach seiner Brieftasche. Eigentlich trieb ihn jedoch etwas anderes um - ein kleiner Holzdolch, einst voller Eifer, aber ohne jedes Geschick geschnitzt. Eigenhändig hatte er die Waffe glatt gehobelt, noch in seiner Kindheit, ohne zu verstehen, wozu, aber ahnend: Das ist nicht nur ein Spielzeug.
Der Dolch wartete.
Wer war es?
»Max?«In Jelenas Stimme schwang ein Vorwurf mit.»Träumst du?«
Sie stießen an. Ein schlechtes Vorzeichen - wenn Frau und Mann anstoßen, geht der Familie das Geld aus. Aber Maxim litt nicht unter Aberglauben.
Wer also?
Anfänglich hatte er zwei Frauen in Verdacht. Beide sehr sympathisch, sogar schön, aber jede auf ihre Weise. Die etwas kleinere hatte schwarzes Haar, war kräftig gebaut und bewegte sich auf eine eckige, fast männliche Art - als platze sie förmlich vor Energie. Von ihr ging auch das sexuelle Fluidum aus. Die größere war hellblond, ruhiger, zurückhaltender. Und von ganz anderer, eher beruhigender Schönheit.
Maxim fing den aufmerksamen Blick seiner Frau auf und sah woanders hin.
»Lesben«, sagte seine Frau voller Verachtung.
»Was?«
»Guck sie dir doch an! Die Dunkelhaarige, die in den Jeans, ist doch ein halber Kerl.«
In der Tat. Maxim nickte und setzte eine entsprechende Miene auf.
Nicht die. Also doch nicht die. Wer dann, wer?
In einer Ecke des Saals piepte ein Mobiltelefon los, worauf sofort ein Dutzend Leute automatisch nach ihren Handys langten. Maxim folgte dem Klingeln - und der Atem stockte ihm.
Der Mann, der da einsilbig mit leiser Stimme antwortete, war nicht einfach ein Böser. Ihn hüllte von Kopf bis Fuß ein schwarzer Schleier ein, den andere Menschen nicht sehen, den Maxim aber wahrnehmen konnte.
Er verströmte Gefahr, eine dräuende, fürchterliche Gefahr.
Schmerz durchzuckte Maxims Brust.
»Weißt du, Lena, ich würde gern auf einer einsamen Insel leben«, meinte er plötzlich zu seiner eigenen Überraschung.
»Allein?«
»Mit dir, mit den Kindern. Aber sonst niemand. Kein anderer.«
In einem Zug trank er seinen Wein aus, worauf der Kellner ihm sofort nachschenkte.
»Ich würde das nicht wollen«, sagte seine Frau.
»Ich weiß.«
Der Dolch in seiner Tasche lastete jetzt schwer und brannte heiß. Erregung überrollte ihn, heftige, fast sexuelle Erregung. Die nach Entladung verlangte.
»Kennst du Edgar Allan Poe?«, fragte Swetlana.
Man hatte uns ohne weiteres eingelassen, damit hatte ich im Grunde nicht gerechnet. Vielleicht handhabte man die Regeln in diesem Restaurant mittlerweile demokratischer, als ich es in Erinnerung hatte, vielleicht mangelte es auch an Gästen.
»Nein. Er ist schon zu lange tot. Aber Semjon hat mal gesagt…«
»Doch nicht Poe als Person. Seine Erzählungen.«
»Der Mann in der Menge«, ahnte ich.
Swetlana lachte leise.»Ja. Du bist jetzt in seiner Lage. Denn du bist gezwungen, an Orten mit vielen Menschen herumzuirren.«
»Noch hängen mir diese Orte nicht zum Halse raus.«
Wir bestellten einen Bailey’s und etwas zu essen. Vermutlich brachte das die Kellner auf einen bestimmten Gedanken für den Grund unseres Besuchs: zwei unerfahrene Prostituierte auf Arbeitssuche - aber das ließ mich im Grunde kalt.
»War er ein Anderer?«
»Poe? Möglicherweise einer, der nicht initiiert war.«
»Es wohnt in manchen körperlosen Dingen
Ein doppelt Leben: zwiefach und doch eins -
Ein Abbild jener Wesenheit, darinnen
Materie und Licht der Kern des Seins«,
trug Sweta leise vor.
Erstaunt sah ich sie an.
»Kennst du es?«
»Was soll ich dir darauf antworten?«Ich hob den Blick und rezitierte feierlich:
»Er ist das verkörperte Schweigen - doch er droht
Mit keiner Macht dir, die man böse heißt;
Nur wenn des Schicksals Zwang (unzeit’ge Not!)
Sein Schatten dir erwächst (gewalt’ger Geist,
Der in Regionen haust, darin ein Spott
Des Menschen Macht) - ah, dann empfiehl dich Gott!«
Eine Sekunde lang sahen wir einander an, dann lachten wir gleichzeitig los.
»Ein kleines literarisches Duell«, bemerkte Swetlana bissig.»Es steht eins zu eins. Schade, dass wir keine Zuschauer haben. Und warum ist Poe nicht initiiert worden?«
»Unter Dichtern gibt es ohnehin viele potenzielle Andere. Aber manche Kandidaten lässt man lieber als Menschen leben. Poe hatte eine zu labile Psyche. Hätte man ihm unsere Möglichkeiten an die Hand gegeben, hätte man auch gleich einem Pyromanen einen Kanister mit Napalm schenken können. Ich würde noch nicht einmal wagen zu sagen, auf welche Seite er sich gestellt hätte. Am ehesten wäre er wohl für immer ins Zwielicht eingegangen, und zwar sehr schnell.«
»Und wie leben sie dort? Diejenigen, die dorthin gegangen sind?«
»Ich weiß es nicht, Swetlana. Wahrscheinlich weiß das niemand. Manchmal trifft man sie in der ZwielichtWelt, aber zu einer Kommunikation im üblichen Sinne kommt es nicht.«
»Ich würde das gern herausfinden.«Gedankenverloren ließ Swetlana den Blick durchs Lokal schweifen.»Ist dir hier ein Anderer aufgefallen?«
»Der Alte hinter mir, mit dem Handy.«
»Der ist doch nicht alt.«
»Er ist sehr alt. Ich habe ihn nicht mit den Augen angeschaut.«
Swetlana biss sich auf die Lippe und kniff die Augen zusammen. Allmählich erwachte der Ehrgeiz in ihr.
»Das schaff ich noch nicht«, gab sie zu.»Ich krieg noch nicht mal mit, ob er ein Lichter oder ein Dunkler ist.«
»Ein Dunkler. Nicht aus der Tagwache, aber ein Dunkler. Ein Magier von durchschnittlicher Kraft. Er hat uns übrigens auch bemerkt.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Wir? Nichts.«
»Aber er ist doch ein Dunkler!«
»Ja, und wir sind Lichte. Na und? Als Mitarbeiter der Wache haben wir das Recht, seine Papiere zu überprüfen. Die dürften in Ordnung sein.«
»Und wann hätten wir das Recht, etwas zu unternehmen?«
»Nun, wenn er jetzt aufsteht, die Arme schwenkt, sich in einen Dämon verwandelt und anfängt, allen den Kopf abzubeißen…«
»Anton!«
»Das ist mein völliger Ernst. Wir haben kein Recht, einen ehrlichen Dunklen Magier daran zu hindern, sich ein wenig zu amüsieren.«
Der Kellner brachte unser Essen, wir schwiegen. Swetlana aß ohne jeden Appetit.
»Und wie lange will die Wache so vor ihnen kriechen?«, fragte sie nach einer Weile patzig wie ein verwöhntes Kind.
»Vor den Dunklen?«
»Ja.«
»So lange, bis wir einen entscheidenden Vorteil errungen haben. So lange, wie die Menschen, die zu Anderen werden, auch nur den Bruchteil einer Sekunde zögern, was sie wählen sollen: das Licht oder das Dunkel. Solange die Dunklen nicht altersbedingt einer nach dem anderen wegsterben. So lange, bis sie die Menschen nicht mehr so leicht auf die Seite des Bösen treiben können wie jetzt.«
»Aber das kommt einer Kapitulation gleich, Anton!«
»Das bedeutet Neutralität. Status quo. Beide Seiten stehen unter Zeitdruck, da brauchen wir uns nichts vorzumachen.«
»Weißt du, der Wilde, der ganz allein diese Panik unter den Dunklen auslöst, ist mir weitaus sympathischer. Soll er doch gegen den Vertrag verstoßen, soll er uns doch unfreiwillig kompromittieren! Aber immerhin kämpft er gegen das Dunkel, verstehst du, er kämpft dagegen! Einer gegen alle!«
»Hast du dir nicht mal überlegt, warum er Dunkle umbringt, aber keinen Kontakt zu uns aufnimmt?«
»Nein.«
»Er sieht uns nicht, Swetlana. Für ihn sind wir Luft.«
»Er ist halt ein Autodidakt.«
»Stimmt. Ein begabter Autodidakt. Ein Anderer mit chaotisch hervorbrechenden Fähigkeiten. In der Lage, das Böse zu sehen. Aber nicht in der Lage, das Gute zu erkennen. Kommt dir das nicht komisch vor?«
»Nein«, sagte Swetlana verdrossen.»Tut mir Leid, aber ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, Olga, entschuldige, Anton. Du sprichst schon genau wie sie.«
»Macht nichts.«
»Der Dunkle ist irgendwohin verschwunden«, bemerkte Swetlana, während sie über meine Schulter linste.»Um fremde Kräfte aufzusaugen, um böse Zauber zu wirken. Und wir unternehmen nichts.«
Ich drehte den Kopf ein wenig nach hinten. Erblickte den Dunklen - der äußerlich tatsächlich kaum wie dreißig wirkte. Er war geschmackvoll gekleidet, einnehmend. An seinem Tisch saßen noch eine junge Frau und zwei Kinder, ein Junge von ungefähr sieben Jahren und ein etwas jüngeres Mädchen.
»Austreten ist er gegangen, Sweta. Pinkeln. Seine Familie ist übrigens völlig normal. Hat keine Fähigkeiten. Willst du die etwa auch liquidieren?«
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm…«
»Sag das mal Garik. Sein Vater ist ein Dunkler Magier. Und lebt noch immer.«
»Es gibt Ausnahmen.«
»Das ganze Leben besteht aus Ausnahmen.«
Swetlana verstummte.
»Ich kenne diesen Drang, Sweta. Gutes zu tun, das Böse zu vertreiben. Ein für alle Mal. Ich bin genauso. Aber wenn du nicht einsiehst, dass das eine Sackgasse ist, endest du im Zwielicht. Und irgendjemand von uns wird gezwungen sein, deine irdische Existenz zu beenden.«
»Dafür werde ich aber etwas ausrichten.«
»Weißt du, wie deine Taten von außen aussehen würden? Eine Psychopathin, die blindwütig anständige Leute umbringt. In allen Zeitungen Artikel, die dir das Blut in den Adern gefrieren lassen. Klangvolle Beinamen wie die Borgia von Moskau. Du würdest in den Herzen der Menschen so viel Böses wecken, wie es eine Brigade Dunkler Magier in einem Jahr nicht schafft.«
»Warum habt ihr immer auf alles eine Antwort parat?«, fragte Swetlana bitter.
»Weil wir unsere Lehrjahre hinter uns haben. Und überlebt haben. Die meisten zumindest!«
Ich rief den Kellner herbei und bat um die Speisekarte.
»Willst du einen Cocktail?«, fragte ich.»Und dann verschwinden wir von hier? Such dir was aus.«
Swetlana nickte und studierte die Getränkekarte. Der Kellner, ein dunkelhäutiger, groß gewachsener Ausländer, wartete. Er hatte schon viel gesehen, und zwei Frauen, von denen sich eine wie ein Mann benahm, brachten ihn wahrlich nicht in Verlegenheit.
»Alter ego«, sagte Swetlana.
Zweifelnd schüttelte ich den Kopf - das war einer der stärksten Cocktails. Doch ich wollte keinen Streit anfangen.»Zwei Cocktails und die Rechnung.«
Während der Barkeeper unsere Cocktails mixte und der Kellner sich mit der Rechnung abplagte, saßen wir da und schwiegen bedrückt.
»Gut, das mit den Dichtern hätten wir geklärt«, sagte Swetlana schließlich.»Sie sind potenzielle Andere. Aber was ist mit den Verbrechern? Mit Caligula, Hitler und irrsinnigen Mördern?«
»Das sind Menschen.«
»Alle?«
»In der Regel, ja. Wir haben unsere eigenen Übeltäter. Ihre Namen sagen den Menschen nichts, aber für euch fängt bald der Geschichtskurs an.«
Der Alter ego verdiente seinen Namen. Zwei schwere, unvermischte Schichten wogten in einem Glas, eine schwarze und eine weiße, süßer Sahnelikör und bitteres dunkles Bier.
Ich zahlte bar - elektronische Spuren hinterlasse ich möglichst selten - und hob das Glas.»Auf die Wache.«
»Auf die Wache«, schloss sich Swetlana an.»Und auf dein Glück, damit du aus dieser Geschichte mit heiler Haut davonkommst.«
Liebend gern hätte ich sie gebeten, auf Holz zu klopfen. Doch ich schwieg. Trank den Cocktail in zwei Schlucken, zunächst die zarte Süße, dann ein leicht bitterer Geschmack.
»Nicht übel«, sagte Swetlana.»Weißt du, mir gefällt es hier. Wollen wir nicht noch ein wenig bleiben?«
»In Moskau gibt es viele angenehme Bars. Lass uns irgendwo hingehen, wo kein schwarzer Magier verkehrt.«
Sweta nickte.»Er ist übrigens noch nicht wieder aufgetaucht«, meinte sie.
Ich schaute auf die Uhr. Hm, in dieser Zeit hätte er ein paar Eimer voll pinkeln können.
Am befremdlichsten war jedoch, dass die Familie des Magiers immer noch am Tisch saß. Und die Frau langsam echt nervös wurde.
»Sweta, ich geh mal wohin.«
»Vergiss nicht, wer du bist!«, flüsterte sie mir hinterher.
Völlig richtig. Dem Dunklen Magier in die Toilette nachzugehen würde in der Tat seltsam anmuten.
Trotzdem ging ich durchs Restaurant, wobei ich im Gehen durchs Zwielicht spähte. Jetzt hätte ich eigentlich die Aura des Magiers sehen müssen, doch um mich herum breitete sich nur graue Leere aus, gesprenkelt mit den Farbtupfern gewöhnlicher Auren, von zufriedenen, besorgten, sinnlichen, betrunkenen, fröhlichen Auren.
Er würde doch nicht durch die Kanalisation gesickert sein!
Einzig jenseits der Mauern des Gebäudes, in der Nähe der weißrussischen Botschaft, leuchtete ein schwaches kleines Feuer, die Aura eines Anderen. Jedoch nicht die des Dunklen Magiers, sondern eine viel schwächere mit anderer Einfärbung.
Wohin war er verschwunden?
In dem schmalen Gang, der zu zwei Türen führte, war niemand. Einen Augenblick zögerte ich - ach, was soll schon sein, vielleicht haben wir ihn einfach nicht bemerkt, vielleicht ist der Magier durchs Zwielicht verschwunden, vielleicht verfügt er über eine derartige Kraft, dass er zur Teleportation in der Lage ist. Dann öffnete ich die Tür zur Herrentoilette.
Hier war es sehr sauber, sehr hell, etwas eng und roch stark nach einem blumigen Frischluftspray.
Der Dunkle Magier lag mit ausgestreckten Armen direkt hinter der Tür, die sich deshalb noch nicht einmal richtig öffnen ließ. Auf seinem Gesicht spiegelte sich ein verstörter, verständnisloser Ausdruck wider. In der gespreizten Hand erblickte ich das Glitzern eines dünnen Kristallröhrchens. Er hatte nach seiner Waffe gegriffen, aber zu spät.
Blut war nirgends zu sehen. Nichts war zu sehen, selbst als ich noch einmal durchs Zwielicht spähte, vermochte ich nicht die geringste Spur von Magie festzustellen.
Als ob der Dunkle Magier an einem banalen Herzinfarkt oder Schlaganfall gestorben wäre, als ob er so hätte sterben können.
Doch es gab ein Detail, das dieser Version aufs Entschiedenste widersprach.
Ein kleiner Schnitt im Hemdkragen. Ein ganz feiner, wie von einer Rasierklinge. Als ob man ihm ein Messer in die Kehle gestoßen hätte und dabei am Stoff hängen geblieben wäre. Nur dass an der Haut keinerlei Spuren eines solchen Angriffs zu sehen waren.
»Dreckskerle!«, flüsterte ich, ohne zu wissen, gegen wen sich dieser Fluch richtete.»Dreckskerle!«
Man hätte sich kaum eine blödere Situation vorstellen können als die, in die ich geraten war. Den Körper zu tauschen, mit einer»Zeugin«in ein gut besuchtes Restaurant zu gehen - um dann völlig allein über der Leiche eines Dunklen Magiers zu stehen, der vom Wilden ermordet worden war.
»Gehen wir, Pawlik«, hörte ich es hinter mir sagen.
Ich drehte mich um: Die Frau vom Tisch des Dunklen Magiers kam in den Gang, ihren Sohn an der Hand.
»Ich will nicht, Mama!«, quengelte der Junge bockig.
»Du gehst da rein und sagst Papa, dass wir auf ihn warten«, verlangte die Frau geduldig. Im nächsten Moment hob sie den Kopf und erblickte mich.
»Holen Sie Hilfe!«, schrie ich verzweifelt.»Machen Sie schon! Dem Mann geht es nicht gut! Bringen Sie das Kind weg und holen Sie Hilfe!«
Offenbar hörten mich alle, denn Olga hatte eine kräftige Stimme. Sofort senkte sich Stille herab, die monotone traditionelle Musik dudelte zwar weiter, doch das Stimmengewirr verebbte.
Natürlich machte die Frau nicht, was ich verlangte. Sie schoss auf mich zu, stieß mich von der Tür weg, brach über dem Körper ihres Mannes zusammen und wehklagte - ja, wehklagte - mit einer Stimme, die bereits wusste, was geschehen war, während ihre Hände keine Ruhe gaben, den eingerissenen Hemdkragen aufknöpften und den reglosen Körper rüttelten. Schließlich ohrfeigte die Frau den Magier, als hoffe sie, er spiele ihr nur etwas vor oder sei lediglich ohnmächtig geworden.
»Mama, warum haust du Papa?«, rief der Junge mit dünner Stimme. Nicht erschrocken, sondern erstaunt, offensichtlich hatte er dergleichen noch nie erlebt. Eine liebevolle Familie.
Ich packte den Jungen bei der Schulter und führte ihn behutsam weg. Im Gang drängten sich bereits Menschen zusammen. Ich erblickte Sweta. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie hatte sofort alles begriffen.
»Bringen Sie das Kind weg«, bat ich den Kellner.»Offenbar ist hier jemand gestorben.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte der Kellner völlig ruhig. Ohne jenen Akzent, dessen er sich befleißigte, wenn er Gäste bediente.
»Ich.«
Der Kellner nickte, übergab den Jungen - der jetzt weinte, hatte er doch begriffen, dass in seiner kleinen heilen Welt etwas Schlimmes geschehen war - rasch einer der weiblichen Angestellten.
»Und was hatten Sie in der Herrentoilette zu suchen?«
»Die Tür stand offen, da habe ich ihn liegen sehen«, log ich, ohne darüber nachzudenken.
Der Kellner nickte und räumte damit die Möglichkeit eines solchen Hergangs ein. Gleichzeitig packte er mich jedoch fest am Ellbogen.
»Sie müssen auf die Miliz warten, meine Dame.«
Inzwischen hatte sich Swetlana zu uns durchgedrängelt und kniff die Augen zusammen, kaum hatte sie die letzten Worte aufgeschnappt. Das hatte noch gefehlt: dass sie den Umstehenden das Gedächtnis löschte!
»Natürlich, selbstverständlich.«Ich machte einen Schritt, worauf der Kellner unwillkürlich meine Hand freigab und hinter mir herkam.»Sweta, da ist etwas Fürchterliches geschehen. Eine Leiche.«
»Olga.«Swetlana reagierte richtig. Umarmte mich, bedachte den Kellner mit einem ungehaltenen Blick und wollte mich zu den Tischen zurückziehen.
In diesem Moment stürmte der Junge an uns vorbei, nachdem er sich seinen Weg durch die sensationslüsterne, neugierige Menge hindurch gebahnt hatte. Heulend stürzte er sich auf seine Mutter, die man gerade von der Leiche wegzog. Die Frau hatte die allgemeine Aufregung genutzt, um sich noch einmal neben ihren toten Mann fallen zu lassen und ihn zu rütteln.
»Steh auf! Gena, steh auf! Steh sofort auf!«
Ich spürte, wie Swetlana zusammenzuckte, als sie diese Szene beobachtete.
»Nun?«, flüsterte ich.»Sollen wir die Dunklen mit Feuer und Schwert ausrotten?«
»Warum hast du das getan? Ich hätte es auch so verstanden!«, zischte Swetlana böse zurück.
»Was?!«
Wir sahen einander an.
»Das warst nicht du?«, fragte Sweta unsicher.»Entschuldige, aber das hatte ich geglaubt.«
In dieser Sekunde begriff ich, dass ich wirklich in der Klemme saß.
Der Ermittler interessierte sich nicht sonderlich für mich. In seinen Augen las ich die bereits gefasste Meinung: natürlicher Tod. Ein schwaches Herz, Missbrauch von Drogen, das Übliche halt. Mit einem Mann, der in teuren Restaurants verkehrte, hatte er kein Mitleid - und brauchte es nicht zu haben.
»Die Leiche hat so gelegen?«
»Ja, so«, bestätigte ich müde.»Fürchterlich!«
Der Ermittler zuckte die Achseln. Etwas Fürchterliches konnte er an dieser Leiche nicht entdecken, sie schwamm ja noch nicht mal in Blut.
»Ja, ein schrecklicher Anblick«, entgegnete er trotz allem voller Großmut.»War jemand in der Nähe?«
»Nein. Später ist eine Frau aufgetaucht, die Ehefrau der Leiche, mit ihrem Sohn.«
Ein schiefes Lächeln belohnte mich für diese absichtlich wirre Rede.
»Vielen Dank, Olga. Möglicherweise werden wir uns noch einmal mit Ihnen in Verbindung setzen. Sie haben doch nicht vor, die Stadt zu verlassen?«
Eifrig bewegte ich den Kopf hin und her. Die Miliz beunruhigte mich nicht im Mindesten.
Der Chef, der bescheiden an einem Ecktisch saß, dagegen umso mehr.
Der Ermittler ließ mich in Ruhe und wandte sich der»Ehefrau der Leiche«zu. Boris Ignatjewitsch kam langsam auf unseren Tisch zu. Offensichtlich schirmte ihn ein leichter Ablenkungszauber ab, denn niemand achtete auf ihn.
»Reingefallen?«, fragte er bloß.
»Wir?«, präzisierte ich vorsichtshalber.
»Ja. Ihr. Genauer gesagt, du.«
»Ich habe mich genau an die Anweisungen gehalten, die mir gegeben wurden«, flüsterte ich hitzig.»Und diesen Magier nicht mit dem Finger angerührt!«
Der Chef seufzte.»Das bezweifle ich gar nicht. Aber wie konntest du, ein erfahrener Mitarbeiter der Wache, nur so dumm sein und dem Dunklen ganz allein an einen abgeschiedenen Ort nachstürzen, obwohl du über alles im Bilde bist?«
»Wer hätte denn so was voraussehen können?«, empörte ich mich.»Wer?«
»Du. Warum greifen wir denn zu solchen Maßnahmen, maskieren dich in einer Weise, die ohne Beispiel ist? Wie lauteten deine Anweisungen? Keine Minute solltest du allein bleiben! Keine Minute! Essen, schlafen - alles solltest du zusammen mit Swetlana machen. Ihr solltet zu zweit duschen! Gemeinsam zur Toilette gehen! Damit du für jeden, absolut jeden Moment ein…«Der Chef seufzte und verstummte.
»Boris Ignatjewitsch«, mischte sich Swetlana überraschend ins Gespräch ein.»Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Lassen Sie uns lieber überlegen, was wir nun machen können.«
Leicht verwundert blickte der Chef sie an. Dann nickte er.»Das Mädchen hat Recht. Lasst uns überlegen. Fangen wir damit an, dass die Situation sich katastrophal verschlechtert hat. Wenn Anton bislang nur indirekt verdächtig gewesen ist, dann ist er jetzt förmlich auf frischer Tat ertappt worden. Schüttel nicht den Kopf! Man hat dich gesehen, wie du über einer Leiche gestanden hast, die noch nicht kalt war. Der Leiche eines Dunklen Magiers, der auf die gleiche Weise ermordet wurde wie die bisherigen Opfer. Dich gegen die Anklage zu schützten steht nicht in unseren Kräften. Die Tagwache wird vors Tribunal gehen und verlangen, dass dein Gedächtnis gelesen wird.«
»Das ist doch ungeheuer gefährlich?«, fragte Swetlana.
»Oder? Dafür finden sie dann aber heraus, dass Anton unschuldig ist.«
»Stimmt. Und nebenbei bekommen die Dunklen alle Informationen, zu denen er Zugang hatte. Swetlana, kannst du dir vorstellen, wie viel ein leitender Programmierer der Wache weiß? Mancher Sachen ist er sich gar nicht bewusst, weil er nur kurz auf die Daten geschaut hat, sie bearbeitet und dann vergessen hat. Doch die Dunklen haben ihre Spezialisten. Und wenn Anton den Gerichtssaal voll rehabilitiert verlässt - vorausgesetzt, er übersteht die Inversion seines Bewusstseins -, hat die Tagwache Kenntnis von all unseren Operationen. Ist dir klar, was dann passiert? Die Methoden in der Suche und Ausbildung neuer Anderer, die Analyse von Kampfeinsätzen, die Netze menschlicher Informanten, die Verluststatistiken, die Personalien der Mitarbeiter, die Finanzpläne…«
Während die beiden über mich redeten, saß ich da, als ginge mich das alles nichts an. Was nicht an der zynischen Offenheit lag, sondern an der Tatsache an sich: Der Chef beratschlagte sich mit Swetlana, einer Magierin im Anfangsstadium, nicht mit mir, einem Magier potenziell dritten Grades.
Wenn man das Geschehen mit einer Schachpartie vergleichen wollte, sah das Ganze beleidigend schlicht aus. Ich war ein Offizier, ein gewöhnlicher guter Offizier der Wache. Und Swetlana ein Bauer. Aber ein Bauer, der kurz davor war, sich in eine Dame zu verwandeln.
Und was auch immer mir drohen mochte, trat für den Chef in den Hintergrund angesichts der Möglichkeit, Swetlana eine kleine praktische Lektion zu erteilen.
»Boris Ignatjewitsch, Sie wissen doch, dass ich eine Durchsicht meines Gedächtnisses nicht zulassen werde«, sagte ich.
»Dann wirst du verurteilt.«
»Ich weiß. Aber ich kann schwören, dass ich mit dem
Tod dieser Dunklen nichts zu tun habe. Auch wenn ich keine Beweise dafür habe.«
»Boris Ignatjewitsch, und wenn wir vorschlagen, dass Antons Gedächtnis nur für den heutigen Tag überprüft wird!«, rief Swetlana begeistert aus.»Das wär’s doch, sie würden sich überzeugen…«
»Das Gedächtnis lässt sich nicht portionieren, Sweta. Sie werden es völlig umstülpen. Mit dem ersten Moment seines Lebens anfangen. Mit dem Geruch der Muttermilch, dem Geschmack des Fruchtwassers.«Der Chef sprach jetzt in betont strengem Ton.»Darin besteht ja das Unglück. Selbst wenn Anton keine Geheimnisse kennen würde, musst du dir klar machen, was das bedeutet, sich an alles noch einmal zu erinnern, es von Neuem zu durchleben! Dieses Geschaukel in der dunklen zähen Flüssigkeit, die Wände, die sich zusammenziehen, das Licht, das vor dir aufschimmert, der Schmerz, die Atemnot, die Notwendigkeit, seine eigene Geburt zu überleben. Und dann weiter, Augenblick für Augenblick - hast du schon einmal gehört, dass vor dem Tod das ganze Leben noch einmal rasend schnell vor deinen Augen abläuft? So ist es auch bei einer Gedächtnisinversion. Und irgendwo tief in dir weißt du, dass du das alles schon einmal erlebt hast. Verstehst du das? Dabei nicht den Verstand zu verlieren ist schwer.«
»Sie sagen das so«, brachte Swetlana unsicher hervor,»als ob…«
»Ich habe das durchgemacht. Nicht bei einem Verhör. Vor mehr als einem Jahrhundert, als die Wache erste Untersuchungen zur Gedächtnisinversion durchführte, brauchte man einen Freiwilligen. Danach dauerte es etwa ein Jahr, mich wieder in meinen Normalzustand zu bringen.«
»Und wie haben sie das geschafft?«, fragte Swetlana neugierig.
»Durch neue Eindrücke. Mit Sachen, die ich davor nicht erlebt hatte. Fremde Länder, ungewohntes Essen, unerwartete Begegnungen, neue Probleme. Und trotzdem…«Der Chef setzte ein schiefes Lächeln auf.»Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich mich frage: Was ist das um mich herum? Realität oder Erinnerung? Lebe ich oder liege ich auf der Kristallplatte im Büro der Tagwache, wo man gerade mein Gedächtnis abspult wie eine Garnrolle?«
Er verstummte.
Um uns herum saßen Menschen an den Tischen, flitzten Kellner hin und her. Das Ermittlungsteam war abgezogen, die Leiche des Dunklen Magiers weggeschafft, ein Mann, offenbar ein Verwandter, hatte die Witwe und die beiden Kinder abgeholt. Niemand scherte sich noch um den Vorfall. Im Gegenteil - der Appetit der Gäste hatte zugenommen, genau wie ihr Lebenshunger. Und auch auf uns achtete niemand: Der kurzerhand vom Chef gewirkte Zauber zwang alle, den Blick von uns zu wenden.
Und wenn das alles schon viel früher geschehen war?
Wenn ich, Anton Gorodezki, Systemadministrator der Handelsfirma Niks, nebenberuflich Magier der Nachtwache, bloß auf einer Kristallplatte lag, die dicht mit alten Runen übersät war? Und mein Gedächtnis abgespult wurde, inspiziert und präpariert wurde? Ganz egal, von wem? Von Dunklen Magiern oder einem Tribunal aus beiden Wachen?
Nein!
Das konnte nicht sein. Ich spürte nicht das, wovon der Chef sprach. Durchlebte kein Dejà-vu. Nie zuvor hatte ich in einem weiblichen Körper gesteckt, nie zuvor Leichen in öffentlichen Toiletten gefunden.
»Doch ich ermüde euch«, sagte der Chef. Aus der Tasche zog er ein langes Zigarillo.»Ist die Situation so weit klar? Was machen wir jetzt?«
»Ich bin bereit, meine Pflicht zu erfüllen«, meinte ich.
»Immer mit der Ruhe, Anton. Du musst nicht den Helden spielen.«
»Das tu ich nicht. Ich bin noch nicht mal bereit, die Geheimnisse der Wache zu verteidigen. Ich würde ein solches Verhör einfach nicht durchstehen. Dann schon lieber sterben.«
»Wir sterben aber nicht wie Menschen.«
»Ja, für uns ist das schwieriger. Aber ich bin bereit dazu.«
Der Chef seufzte.»Entschuldigt, Mädels. Anton, lass uns jetzt nicht über die Folgen, sondern über die Voraussetzungen für diese Ereignisse nachdenken. Manchmal hilft es, in die Vergangenheit zurückzublicken.«
»Gut«, erklärte ich mich ohne große Hoffnung bereit.
»Der Wilde treibt bereits seit einiger Zeit in Moskau sein Unwesen. Den jüngsten Daten der analytischen Abteilung zufolge haben diese seltsamen Morde vor dreieinhalb Jahren begonnen. Bei einem Teil der Opfer handelt es sich eindeutig um Dunkle. Bei einem anderen Teil vermutlich um potenzielle. Alle Ermordeten
hatten höchstens den vierten Grad erlangt. Niemand arbeitete in der Tagwache. Äußerst komisch ist, dass sie - soweit man das in diesem Zusammenhang überhaupt sagen kann - alle recht zurückhaltende Dunkle waren. Sie töteten und manipulierten Menschen, doch in einem weitaus geringeren Maße, als es ihnen möglich gewesen wäre.«
»Sie wurden geopfert«, sagte Swetlana.»Oder?«
»Vermutlich. Die Tagwache hat diesen Psychopathen nicht angerührt und ihm sogar die eigenen Leute zugeschoben, solche, um die es nicht schade ist. Wozu? Das ist die entscheidende Frage: Wozu?«
»Um uns der Fahrlässigkeit anzuklagen«, mutmaßte ich.
»Der Zweck würde die Mittel nicht rechtfertigen.«
»Um jemandem von uns etwas anzuhängen.«
»Von allen Mitarbeitern der Wache hast nur du kein Alibi für die jeweilige Tatzeit, Anton. Wozu sollte die Tagwache Jagd auf dich machen?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Die Rache Sebulons?«Zweifelnd schüttelte der Chef den Kopf.»Nein. Du bist erst vor kurzem mit ihm zusammengestoßen. Dieser Schlag ist aber seit dreieinhalb Jahren geplant. Die Frage bleibt: Wozu?«
»Vielleicht ist Anton potenziell ein sehr mächtiger Magier?«, fragte Swetlana leise.»Und die Dunklen haben das erkannt. Da sie ihn nicht mehr auf ihre Seite herüberziehen konnten, haben sie beschlossen, ihn zu vernichten.«
»Anton ist stärker, als er glaubt«, antwortete der Chef in scharfem Ton.»Aber über den zweiten Grad
wird er nie hinauskommen.«
»Und wenn unsere Feinde die verschiedenen Realitätsvarianten weiter absehen können als wir?«Ich sah dem Chef in die Augen.
»Ja, und?«
»Ich kann ein schwacher Magier sein, ein mittlerer oder ein starker. Aber wenn ich bloß etwas zu tun bräuchte, um das Gleichgewicht der Kräfte zu stören? Irgendwas Einfaches, das nicht mit Magie verbunden ist? Boris Ignatjewitsch, die Dunklen haben doch versucht, mich von Swetlana fern zu halten, haben also einen Realitätsstrang gesehen, der mir die Möglichkeit bot, ihr zu helfen! Und wenn sie noch etwas sehen? In der Zukunft? Wenn sie weit vorausschauen können und sich seit langem darauf vorbereiten, mich zu neutralisieren? Was selbst den Kampf um Sweta nichtig erscheinen ließe?«
Am Anfang hörte der Chef noch aufmerksam zu. Dann runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Du bist größenwahnsinnig, Anton. Entschuldige«, sagte er.»Ich habe mir die Linien aller Mitarbeiter der Wache angeschaut, angefangen bei denen in Schlüsselpositionen bis hin zu unserm klempnernden Onkel Schura. Nein, du musst verzeihen, solch große Taten hält die Zukunft nicht für dich bereit. In keiner einzigen Realitätslinie.«
»Sind Sie absolut sicher, dass Sie sich da nicht irren, Boris Ignatjewitsch?«
Trotz allem nahm ich ihm das übel.
»Nein, natürlich nicht. Ich bin niemals von etwas absolut überzeugt. Selbst von mir nicht. Aber die Chancen, dass du Recht hast, sind sehr, sehr gering. Glaub
mir das.«
Was ich tat.
Im Vergleich zum Chef tendieren meine Fähigkeiten gegen Null.
»Wir wissen also die Hauptsache nicht: den Grund?«
»Richtig. Der Schlag zielt auf dich, daran besteht kein Zweifel. Der Wilde wird auf sehr feine und geschickte Weise gelenkt. Er glaubt, dass er gegen das Böse kämpft, hängt aber seit langem schon wie eine Marionette an ihren Fäden. Heute haben die Dunklen ihn in das Restaurant geführt, das auch du besucht hast. Haben ihm ein Opfer präsentiert. Und du bist darauf hereingefallen.«
»Also, was machen wir jetzt?«
»Den Wilden suchen. Das ist unsere letzte Chance, Anton.«
»Was heißt, wir müssen ihn umbringen.«
»Nicht wir. Wir müssen ihn nur finden.«
»Egal. Wie schlecht er auch sein mag, wie sehr er auch irregeleitet worden ist, er ist einer von uns! Er kämpft so gut er kann gegen das Böse. Man muss ihm bloß alles erklären.«
»Dazu ist es zu spät, Anton. Viel zu spät. Wir haben sein Auftauchen nicht bemerkt. Jetzt zieht er eine derartige Spur hinter sich her… Erinnerst du dich noch, welches Ende die Vampirin genommen hat?«
Ich nickte.»Auslöschung.«
»Dabei hat sie viel weniger verbrochen, zumindest aus Sicht der Dunklen. Und ebenfalls nicht verstanden, was vor sich ging. Dennoch hat die Tagwache sie für schuldig befunden.«
»Ob das ein Zufall war?«, fragte Swetlana.»Oder sollte ein Präzedenzfall geschaffen werden?«
»Wer weiß? Anton, du musst den Wilden finden.«
Mein Blick traf auf seine Augen.
»Ihn finden und den Dunklen übergeben«, sagte der Chef in strengem Ton.
»Warum ich?«
»Weil nur du moralisch dazu in der Lage bist. Du bist in Gefahr. Also verteidigst du dich nur. Für jeden anderen von uns wäre es ein zu großer Schock, einen Lichten auszuliefern, selbst wenn er ein spontaner, irregeleiteter Autodidakt ist. Du dagegen wirst das aushalten.«
»Da bin ich mir nicht sicher.«
»Doch. Und bedenke eins, Anton. Du hast nur diese Nacht. Die Tagwache wird nicht länger fackeln, morgen wirst du offiziell angeklagt.«
»Boris Ignatjewitsch!«
»Erinner dich an alles! Erinnerst du dich, wer im Restaurant war? Wer dem Dunklen Magier zu den Toiletten gefolgt ist?«
»Niemand. Da bin ich mir sicher, ich habe die ganze Zeit darauf geachtet, ob er nicht herauskommt«, mischte sich Swetlana ein.
»Dann hat der Wilde dem Magier also in der Toilette aufgelauert. Aber herausgekommen sein muss er. Erinnert ihr euch daran? Sweta, Anton?«
Wir schwiegen. Ich erinnerte mich an nichts. Denn ich hatte versucht, den Dunklen Magier möglichst nicht anzusehen.
»Da kam ein Mann heraus«, sagte Swetlana.»So ein, nun…«Sie dachte nach.»Ein Niemand, ein absoluter Niemand. Ein Allerweltsmensch, als ob eine Million Gesichter zusammengemischt und zu einem einzigen geknetet worden seien. Ich habe ihn nur flüchtig angeguckt und sofort wieder vergessen.«
»Erinner dich daran«, verlangte der Chef.
»Das kann ich nicht, Boris Ignatjewitsch. Es war irgendein Mensch. Ein Mann. Mittleren Alters. Ich habe überhaupt nicht bemerkt, dass er ein Anderer ist.«
»Er ist ein spontaner Anderer. Er tritt noch nicht mal ins Zwielicht ein, sondern balanciert an seinem Rand entlang. Erinner dich, Sweta! An das Gesicht oder irgendwelche besonderen Merkmale.«
Swetlana fuhr sich mit dem Finger über die Stirn.»Als er wieder herauskam, nahm er an einem Tisch Platz, an dem eine Frau saß. Eine schöne Frau mit hellbraunem Haar. Sie war geschminkt, mir fiel sogar auf, dass sie Produkte der Firma Lumenet benutzte, die ich auch ab und an verwende. Sie sind nicht sehr teuer, aber gut.«
Trotz allem musste ich lächeln.
»Und sie war unzufrieden«, fügte Sweta noch hinzu.»Sie lächelte, aber schief. Als ob sie noch ein wenig länger hier sitzen bleiben wollte, aber aufbrechen sollte.«
Sie dachte weiter nach.
»Die Aura der Frau!«, verlangte der Chef scharf.»Du erinnerst dich daran! Wirf mir den Abdruck zu!«
Er erhob die Stimme und änderte den Ton. Natürlich hörte niemand im Restaurant ihn. Doch die Mienen der Gäste verkrampften sich zu einer Grimasse, ein Kellner mit einem Tablett in der Hand stolperte, eine Weinflasche und zwei Kristallgläser fielen zu Boden.
Swetlanas Kopf schwankte hin und her - der Chef versetzte sie derart problemlos in Trance, als sei sie ein einfacher Mensch. Ich sah, wie sich ihre Pupillen erweiterten und sich ein zartes regenbogenfarbenes Band zwischen ihrem Gesicht und dem des Chefs spannte.
»Vielen Dank, Sweta«, sagte Boris Ignatjewitsch.
»Hat es geklappt?«, fragte sie verwundert.
»Ja. Du kannst dich als Magierin siebten Grades betrachten. Ich werde Mitteilung machen, dass ich die Prüfung selbst abgenommen habe. Anton!«
Jetzt sah ich in die Augen des Chefs.
Ein Impuls.
Dahinfließende Ströme einer Energie, die die Menschen nicht kannten.
Ein Bild.
Nein, das Gesicht der Freundin unseres Wilden sah ich nicht. Sondern ihre Aura, was weitaus bedeutender ist. Ineinander laufende bläuliche und grüne Schichten, wie bei einem Eisbecher, ein kleiner brauner Fleck, ein weißer Streifen. Eine recht komplizierte Aura, die man sich leicht merkte und die insgesamt Sympathie erweckte. Ich konnte es nicht fassen.
Sie liebte ihn.
Liebte ihn und grollte ihm aus irgendeinem Grund, glaubte, dass er sie nicht mehr liebe, ertrug das aber, war sogar bereit, es auch in Zukunft zu ertragen.
Wenn ich der Spur dieser Frau folgte, würde ich den Wilden finden. Und ihn dem Tribunal übergeben - und damit dem sicheren Tod.
»N-nein«, sagte ich.
Der Chef sah mich voller Mitgefühl an.
»Die Frau trifft doch keine Schuld! Sie liebt ihn, das sehen Sie doch!«
In meinen Ohren heulte eine schwermütige Musik. Kein Mensch reagierte auf meinen Schrei. Ich könnte mich über den Boden wälzen, unter fremde Tische abtauchen - sie würden die Beine zurückziehen und weiter ihr indisches Essen verputzen.
Swetlana betrachtete uns. Sie hatte sich an die Aura erinnert, konnte sie aber nicht entziffern: Das erfordert bereits den sechsten Grad.
»Dann stirbst du«, sagte der Chef.
»Ich weiß, wofür.«
»Aber denkst du nicht an die, die dich lieben, Anton?«
»Dieses Recht habe ich nicht.«
Boris Ignatjewitsch setzte ein schiefes Grinsen auf.
»Ein Held! Ach, was sind wir doch alle für Helden! Unsere Hände sind sauber, die Herzen aus Gold, die Füße noch nie durch Scheiße gewatet. Hast du die Frau schon vergessen, die von ihrem Verwandten abgeholt worden ist? Oder die heulenden Kinder? Die sind doch keine Dunklen. Sondern einfache Menschen, die wir zu verteidigen versprochen haben. Wie sehr wägen wir jede geplante Operation ab? Warum kriegen die Analytiker, die ich zwar alle naselang verfluche, durch die Bank bereits mit fünfzig graue Haare?«
So wie ich vor kurzem noch Swetlana ins Gebet genommen hatte, ihr sicher und machtvoll die Leviten gelesen hatte, so knöpfte sich der Chef jetzt mich vor.
»Die Wache braucht dich, Anton! Braucht Sweta! Aber einen Psychopathen, auch wenn er ein guter ist, braucht niemand! Mit einem kleinen Dolch in der Hand in einem Tordurchgang oder auf der Toilette Dunklen aufzulauern ist einfach. An die Folgen denkt er nicht, seine Schuld sieht er nicht. Wo verläuft unsere Front, Anton?«
»Mitten durch die Menschen hindurch.«Ich senkte den Blick.
»Wen verteidigen wir?«
»Die Menschen.«
»Das Böse an sich gibt es nicht, das solltest du doch inzwischen begriffen haben! Unsere Wurzeln liegen hier, um uns herum, in dieser Herde, die sich eine Stunde nach einem Mord voll frisst und amüsiert! Für sie musst du kämpfen. Für die Menschen. Das Dunkel ist eine Hydra, und je mehr Köpfe du ihr abschneidest, desto mehr wachsen ihr! Eine Hydra muss man aushungern, nicht wahr? Bring hundert Dunkle um - und an ihrer Stelle erheben sich tausend. Darin besteht die Schuld des Wilden! Darum musst du, du und niemand sonst, ihn finden, Anton. Und ihn zwingen, vor Gericht zu erscheinen. Freiwillig oder unter Zwang.«
Plötzlich verstummte der Chef. Stand abrupt auf.»Gehen wir, Mädels.«
Ich bemerkte schon gar nicht mehr, wenn er mich als Frau ansprach. Aufstehen und meine Tasche zu schnappen - das war eine unwillkürliche, reflexartige Bewegung.
Der Chef würde nicht ohne Grund drängeln.
»Rasch!«
Mit einem Mal begriff ich, dass ich den Ort aufsuchen
musste, an dem der Tod den unglückseligen Dunklen Magier ereilt hatte. Aber ich traute mich noch nicht einmal, das auch nur anzudeuten. Wir eilten derart überstürzt zum Ausgang, dass uns die Wachleute garantiert aufgehalten hätten, wenn sie in der Lage gewesen wären, uns zu sehen.
»Zu spät«, sagte der Chef leise kurz vor der Tür.»Wir haben uns verquatscht.«
Drei Personen betraten das Restaurant, sickerten förmlich herein. Zwei kräftige Kerle und eine junge Frau.
Die Frau kannte ich. Alissa Donnikowa. Die kleine Hexe von der Tagwache. Sie riss die Augen auf, als sie den Chef erblickte.
Hinter ihr glitten zwei diffuse, unsichtbare Silhouetten durchs Zwielicht.
»Wenn Sie bitte noch bleiben wollen«, sagte Alissa heiser, als habe sie mit einem Mal eine ganz ausgedörrte Kehle.
»Aus dem Weg!«Der Chef fuchtelte leicht mit der Hand, worauf die Dunklen auseinander wichen, sich an die Wände drängten. Alissa krängte, als wolle sie sich gegen eine elastische Wand stemmen, doch die Kräfte waren nicht gleich verteilt.
»Sebulon, ich rufe dich!«, wimmerte sie.
Oho. Die kleine Hexe erwies sich als Liebling des Oberhaupts der Tagwache, wenn sie das Recht hatte, ihn herbeizurufen!
Aus dem Zwielicht tauchten zwei weitere Dunkle auf. Äußerlich wirkten sie wie Kampfmagier dritten oder vierten Grades. Sicher, mit dem Chef konnten sie sich nicht messen, außerdem konnte ich ihm noch helfen - aber wertvolle Zeit würden sie uns stehlen.
Der Chef sah das genauso.»Was wollt ihr?«, fragte er in herrischem Ton.»Das ist die Zeit der Nachtwache.«
»Ein Verbrechen wurde begangen.«Alissas Augen glühten.»Hier, erst vor kurzem. Einer von uns ist ermordet worden, ermordet worden von einem…«Ihr Blick bohrte sich abwechselnd in den Chef und mich.
»Von wem?«, fragte der Chef hoffnungsvoll. Die Hexe ließ sich nicht provozieren. Bei ihrem Status und zu dieser Zeit, die nicht die ihre war, hätte sie es nur wagen sollen, Boris Ignatjewitsch eine solche Anklage an den Kopf zu werfen - er hätte sie an der Wand zerquetscht.
Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, ob dieser Schritt gerechtfertigt war.
»Von einem Lichten!«
»Die Nachtwache kennt den Verbrecher nicht.«
»Wir bitten offiziell um Unterstützung.«
So. Nun gab es kein Entkommen mehr. Der anderen Wache die Unterstützung zu verweigern käme einer Kriegserklärung gleich.
»Sebulon, ich rufe dich!«, schrie die Hexe noch einmal. In mir keimte die zarte Hoffnung auf, das Haupt der Dunklen höre sie nicht oder sei anderweitig beschäftigt.
»Wir erklären unsere Kooperationsbereitschaft«, sagte der Chef. Mit einer Stimme wie Eis.
Ich ließ den Blick durch den Raum wandern, über die breiten Schultern der Magier hinweg - die Dunklen hatten uns inzwischen umzingelt und wollten uns offensichtlich an der Tür festhalten. Ja, im Restaurant geschahen unerhörte Dinge.
Das Volk fraß weiter.
Ein Schmatzen, so laut, als ob an den Tischen Schweine säßen. Stumpfe, gläserne Blicke, die Finger ums Besteck gepresst, schaufelte die Masse das Essen jedoch mit den Händen in sich hinein, würgte, schnaubte, spuckte. Ein distinguierter älterer Herr, der friedlich im Kreise von drei Bodyguards und einer jungen Schönheit speiste, schlürfte den Wein direkt aus der Flasche. Ein sympathischer junger Kerl, ohne Zweifel ein Yuppie, und seine liebreizende Freundin keilten sich um einen Teller und beschmadderten sich mit fetter orangefarbener Sauce. Die Kellner rasten von Tisch zu Tisch und knallten den Leuten Essensteller vor, Tassen, Flaschen, Warmhalteplatten, Schüsseln…
Die Dunklen haben ihre eigenen Methoden, um Außenstehende abzulenken.
»Wer von Ihnen war zur Zeit des Verbrechens im Restaurant?«, fragte die Hexe feierlich. Der Chef schwieg.
»Hm.«
»Wer?«
»Meine beiden Begleiterinnen.«
»Olga und Swetlana.«Die Hexe vernichtete uns förmlich mit ihrem Blick.»Und der Andere, der Mitarbeiter der Nachtwache, dessen menschlicher Name Anton Gorodezki ist, war nicht anwesend?«
»Außer uns waren keine anderen Mitarbeiter der Wache hier«, sagte Swetlana schnell. Gut, aber vielleicht ein bisschen zu schnell. Alissa runzelte die Stirn, merkte, dass sie ihre Frage etwas zu vage formuliert hatte.
»Eine ruhige Nacht, nicht wahr?«, klang es von der Tür zu uns herüber.
Sebulon war erschienen.
Ich sah ihn an und begriff mit hoffnungsloser Gewissheit, dass meine Maskierung einen Höheren Magier nicht täuschen würde. Möglicherweise hatte er damals in Ilja nicht den Chef erkannt, aber zweimal hintereinander würde der alte Fuchs nicht auf den gleichen Trick hereinfallen.
»Aber nicht zu ruhig, Sebulon«, sagte der Chef bloß.»Treib dein Vieh hier weg, sonst mach ich das für dich.«
Der Dunkle Magier sah aus, als sei die Zeit stehen geblieben, als sei der eisige Winter nicht dem warmen, wenn auch verspäteten Frühling gewichen. Anzug, Krawatte, graues Hemd, altmodische schmale Schuhe. Eingefallene Wangen, ein trüber Blick, kurz geschnittenes Haar.
»Ich wusste, dass wir uns begegnen würden«, sagte Sebulon.
Er sah mich an. Nur mich.
»So was Dummes.«Sebulon schüttelte den Kopf.»Wozu hast du das nötig, hm?«
Er trat einen Schritt nach vorn, während Alissa ihm aus dem Weg huschte.
»Eine gute Arbeit, Wohlstand, befriedigter Ehrgeiz, alle Freuden der Welt stehen dir zu Gebot, du brauchst dir nur früh genug zu überlegen, was diesmal das Gute ist. Und trotzdem kannst du nicht genug kriegen. Ich
verstehe dich nicht, Anton.«
»Und ich verstehe dich nicht, Sebulon.«Der Chef stellte sich ihm in den Weg.
Widerwillig blickte der Dunkle Magier ihn an.»Du wirst alt. Im Körper deiner Geliebten«, Sebulon kicherte,»Anton Gorodezki. Der Mann, den wir im Verdacht haben, für diese Serienmorde verantwortlich zu sein. Versteckt er sich schon lange da drin, Boris? Hast du den Tausch womöglich gar nicht bemerkt?«
Erneut kicherte er.
Ich ließ den Blick über die Dunklen schweifen. Sie hatten die Situation noch nicht erfasst. Brauchten noch eine Sekunde, eine halbe.
Dann sah ich, wie Swetlana die Arme hob und auf ihren Handtellern das magische gelbe Feuer pulsierte.
Die Prüfung für die fünfte Kraftstufe hatte sie abgelegt, doch in diesem Kampf würden wir verlieren. Wir waren zu dritt. Sie zu sechst. Wenn Swetlana zuschlug, um nicht sich zu retten, sondern mich, der ich schon bis zum Hals in der Scheiße steckte, würde die Schlacht beginnen.
Ich sprang nach vorn.
Nur gut, dass Olga einen durchtrainierten kräftigen Körper hatte. Nur gut, dass wir alle, Lichte wie Dunkle, nicht mehr daran gewöhnt sind, auf die Kraft unserer Arme und Beine zu setzen, auf eine einfache schlichte Prügelei. Wie vernünftig, dass Olga, ihrer magischen Fähigkeiten weitgehend beraubt, diese Kunst nicht verschmäht.
Sebulon krümmte sich und stieß ein Krächzen aus, als meine - oder Olgas - Faust in seinem Bauch landete. Mit einem Fußtritt schlug ich ihm das Knie weg und
stürzte aus dem Restaurant hinaus.
»Halt!«, heulte Alissa auf. Voller Begeisterung, Hass und Liebe zugleich.
Fass ihn, fass!
Als ich die Pokrowka Richtung Semljanoi Wal hinunterrannte, klatschte mir die Handtasche in den Rücken. Wenigstens trug ich keine hochhackigen Schuhe. Mich losreißen, entkommen - der Kurs zum Überleben in der Stadt hatte mir damals gut gefallen, nur war er zu kurz gewesen, viel zu kurz. Aber wer hätte gedacht, dass ein Mitarbeiter der Wache fliehen und untertauchen musste, statt Flüchtige und Untergetauchte ein-zufangen.
Hinter mir erdröhnte pfeifendes Geheul.
Abzuhauen war reiner Reflex gewesen, noch durchschaute ich die Situation nämlich nicht. Ein glutroter Feuerstrahl schlängelte sich die Straße entlang, versuchte zu stoppen und zurückzurollen, doch die Masseträgheit erwies sich als zu groß: Die Ladung schlug in einer Hauswand ein und glühte den Stein im Handumdrehen durch.
Die kleckerten nicht!
Ich stolperte, fiel hin und schaute mich um. Sebulon legte schon wieder seinen Kampfstab an, hantierte aber so langsam, als sei er gefesselt, werde gebremst.
Der war ja aufs Töten aus!
Nicht eine Hand voll Asche würde von mir übrig bleiben, wenn er mich mit der Geißel des Schaab erwischte.
Der Chef hatte sich also doch geirrt. Die Tagwache war nicht auf das aus, was sich in meinem Kopf befand. Sie wollte mich vernichten.
Die Dunklen rannten mir hinterher. Sebulon richtete die Waffe auf mich, der Chef hielt Swetlana umklammert, die sich loszureißen versuchte. Ich sprang auf und raste weiter, obwohl mir bereits schwante, dass mir die Flucht nicht gelingen würde. Zum Glück war wenigstens die Straße leer, eine instinktive, unbewusste Angst hatte die Passanten davongetrieben, kaum dass diese Auseinandersetzung angefangen hatte. Niemand würde zu Schaden kommen.
Bremsen quietschten. Ich drehte mich um und sah, wie die Wächter in alle Richtungen auseinander wichen und einem mit rasendem Tempo auf uns zukommenden Auto Platz machten. Der Fahrer, dem offenbar klar geworden war, dass er mitten in einen Krieg zwischen zwei Banden geraten war, hielt kurz inne, um dann Gas zu geben.
Sollte ich ihn anhalten? Nein, unmöglich.
Ich sprang auf den Gehweg und versteckte mich vor Sebulon, indem ich mich hinter einen alten geparkten Wolga kauerte, und ließ den zufälligen Zeugen weiterfahren. Der silberfarbene Toyota raste vorbei und hielt dann mit einem markerschütternden Geheul der durchbrennenden Bremsklötze an.
Die Tür auf der Fahrerseite ging auf, und eine Hand winkte mir zu.
Das kann doch nicht wahr sein!
Nur in billigen Actionfilmen liest den fliehenden Helden ein gerade vorbeikommendes Auto auf.
Noch während mir das durch den Kopf ging, riss ich den hinteren Wagenschlag auf und stürzte ins Auto.
»Rasch, Beeilung!«, schrie die Frau, neben der ich gelandet war. Doch man musste den Fahrer nicht zur Eile drängen, denn schon schossen wir wieder los. Hinter uns loderte etwas auf, und eine weitere Ladung der Geißel wurde auf uns abgefeuert. Der Fahrer riss das Steuer herum, um dem Feuerstrahl auszuweichen. Die Frau winselte auf.
Wie nahmen sie das alles wahr? Als Maschinengewehrfeuer? Raketeneinschläge? Beschuss mit einem Flammenwerfer?
»Warum, warum musstest du zurückfahren?!«Die Frau versuchte sich vorzubeugen, ohne Zweifel, um auf den Rücken des Fahrers einzuschlagen. Ich hielt mich bereit, um ihre Hand abzufangen, doch ein Ruck des Wagens schleuderte die Frau vorher zurück.
»Nicht doch«, sagte ich sanft und handelte mir damit einen empörten Blick ein.
Logisch. Welche Frau würde sich schon darüber freuen, dass im Auto eine sympathische, aber völlig derangierte Unbekannte auftaucht, hinter der eine Meute bewaffneter Banditen her ist und deretwegen der eigene Mann sich plötzlich unter Beschuss begibt.
Dabei drohte bereits keine unmittelbare Gefahr mehr. Wir hatten den Semljanoi Wal erreicht und uns in den dichten Strom von Autos eingereiht. Freunde wie Feinde hatten wir abgehängt.
»Danke«, sagte ich zu dem kurzhaarigen Hinterkopf des Fahrers.
»Wurden Sie getroffen?«Er drehte sich noch nicht mal um.
»Nein. Vielen Dank. Warum haben Sie angehalten?«
»Weil er ein Idiot ist!«, wimmerte die Frau. Sie war ganz ans andere Ende gerutscht, ging auf Abstand zu
mir, als sei ich verseucht.
»Weil ich kein Arschloch bin«, erwiderte der Mann gelassen.»Warum sind die hinter Ihnen her? Na gut, das geht mich nichts an.«
»Die wollten mich vergewaltigen«, grummelte ich prompt los. Was für eine schöne Version: Mitten in einem Restaurant, an einem Tisch, als seien wir nicht in Moskau, mit all seinen Freuden für Banditen, sondern in einem Saloon im wildesten Wilden Westen.
»Wo kann ich Sie absetzen?«
»Hier.«Ich sah das leuchtende M über dem Eingang zur Metro.»Das schaff ich dann schon.«
»Wir können Sie auch nach Hause fahren.«
»Das ist nicht nötig. Vielen Dank, Sie haben so schon mehr als genug für mich getan.«
»Wie Sie wollen.«
Weder fing er einen Streit an, noch versuchte er, mich zu überreden. Der Wagen hielt an, ich stieg aus.
»Vielen, vielen Dank«, sagte ich mit einem Blick auf die Frau.
Sie schnaubte, schnellte vor und knallte die Tür zu.
Auch gut.
Trotzdem zeigen solche Fälle, dass unsere Arbeit irgendeinen Sinn hat.
Unwillkürlich strich ich mir das Haar zurecht, klopfte den Staub von der Jeans. Die Passanten blickten mich argwöhnisch an, schreckten jedoch nicht zurück: So fürchterlich konnte ich also nicht aussehen.
Wie viel Zeit blieb mir, bis meine Verfolger die Spur aufnahmen? Fünf Minuten? Zehn? Oder würde es dem Chef gelingen, sie aufzuhalten?
Was zu wünschen wäre. Denn allmählich schwante mir, was hier vorging.
Und ich hatte eine Chance, eine winzig kleine nur, aber eine Chance.
Während ich zur Metro ging, kramte ich Olgas Mobiltelefon aus der Handtasche. Ich wollte schon ihre Nummer wählen, blaffte mich dann innerlich an und wählte meine.
Fünf Klingeltöne, sechs, sieben.
Ich gab’s auf und versuchte es unter meiner Handynummer. Diesmal ging Olga sofort ran.
»Hallo?«, meldete sich in scharfem Ton eine unbekannte, leicht heisere Stimme. Meine Stimme.
»Ich bin’s, Anton«, schrie ich. Ein junger Mann, der gerade an mir vorbeiging, blickte mich erstaunt an.
»Blödmann!«
Was anderes hatte ich von Olga nicht erwartet.
»Wo bist du, Anton?«
»Ich will gerade abtauchen.«
»Das schaffst du schon noch. Wie kann ich dir helfen?«
»Weißt du Bescheid?«
»Ja. Ich stehe parallel zu dir noch mit Boris in Kontakt.«
»Ich muss wieder in meinen Körper.«
»Wo wollen wir uns treffen?«
Ich überlegte kurz.»Als ich versucht habe, den schwarzen Wirbel von Swetlana zu bannen, bin ich an einer Station ausgestiegen.«
»Alles klar. Das hat Boris mir erzählt. Folgendes
Szenario: drei Stationen weiter nach oben und links, auf der Ringlinie.«
Gut, sie hatte die Strecken im Kopf.
»Kapiert.«
»In der Mitte des Saals. Ich bin in zwanzig Minuten da.«
»In Ordnung.«
»Soll ich dir was mitbringen?«
»Ja. Mich. Alles andere überlass ich dir.«
Ich beendete das Gespräch, schaute mich noch einmal um und ging rasch weiter zur Metrostation.
Vier
Ich stand in der Mitte der Station Nowoslobodskaja. Das übliche Bild zu dieser noch nicht allzu späten Stunde. Eine junge Frau wartet, vielleicht auf ihren Freund, vielleicht auf eine Freundin.
In diesem Fall sowohl als auch.
Unterirdisch war ich schwerer aufzuspüren als auf offener Straße. Selbst die besten Magier der Dunklen können meine Aura nicht orten, nicht durch die Bodenschichten, nicht durch die alten Gräber hindurch, auf denen Moskau erbaut ist, inmitten der Menge, im dichten Strom der Menschen. Natürlich konnten sie ohne weiteres jede Station durchkämen, sie brauchten bloß auf jedem Bahnhof einen Anderen mit meinem Bild zu schicken, und fertig.
Doch ich hoffte, dass mir bis zu diesem Schritt der Tagwache noch eine halbe oder ganze Stunde blieb.
Wie einfach das alles doch war. Wie elegant sich das Puzzle fügte. Ich schüttelte den Kopf, lächelte und fing den fragenden Blick eines jungen Punkers auf. O nein, Freundchen, da bist du auf dem Holzweg. Dieser erotische Körper schmunzelt lediglich über die eigenen Gedanken.
Im Grunde hätte ich sofort darauf kommen müssen, in dem Moment, als alle Fäden dieser Intrige zu mir führten. Wie immer hatte der Chef Recht gehabt. Ich bin von zu geringem Wert, als dass man meinetwegen einen über mehrere Jahre angelegten, gefährlichen und verheerenden Plan schmieden würde. Das Ganze lag anders, völlig anders.
Sie versuchen, uns bei unseren Schwächen zu packen. Bei Güte und Liebe.
Und das gelingt ihnen. Oder zumindest fast.
Mit einem Mal wollte ich eine rauchen, unbedingt, in meinem Mund hatte sich bereits Speichel gesammelt. Was komisch war, denn normalerweise verlangte es mich nicht oft nach Nikotin. Wahrscheinlich eine Reaktion von Olgas Organismus. Ich stellte mir vor, wie sie, eine elegante Dame, vor hundert Jahren mit einer schmalen Papirossa in einer Zigarettenspitze in irgendeinem literarischen Salon verkehrte, in der Gesellschaft Bloks und Gumiljows. Mit einem Lächeln auf den Lippen über Freimaurer diskutierte, die Volksherrschaft und das Streben hin zu geistiger Vollkommenheit. Was soll’s!
»Hätten Sie nicht zufällig eine Zigarette?«, fragte ich einen jungen Mann, der über den Bahnhof kam und gepflegt genug gekleidet schien, um nicht Solotaja Ja-wa zu rauchen.
Mit erstauntem Blick hielt er mir ein Päckchen»Parlament«hin.
Ich nahm mir eine Zigarette, lächelte ihm zum Dank zu und hüllte mich in einen leichten Zauber. Die Blicke der Menschen glitten von mir ab.
Gut so.
Indem ich mich konzentrierte, ließ ich die Temperatur der Zigarettenspitze auf zweihundert Grad hochschnellen und machte den ersten Zug. Jetzt hieß es warten. Ein paar kleine eherne Regeln brechen.
Die Menschen strömten vorbei, wobei sie einen Meter Abstand zu mir hielten. Erstaunt schnüffelten sie in der Luft, da sie nicht begriffen, woher der Tabakgeruch
kam. Ich rauchte, ließ die Asche auf den Boden fallen, musterte einen Milizionär, der fünf Schritt von mir entfernt stand, und berechnete meine Chancen.
Die gar nicht schlecht standen. Im Gegenteil. Und das irritierte mich.
Wenn diese Kombination schon seit drei Jahren vorbereitet wurde, mussten sie die Variante, dass ich das Spiel durchschaute, berücksichtigt haben. Und einen Antwortzug in petto haben. Aber welchen?
Den verwunderten Blick bemerkte ich nicht sofort. Als mir jedoch klar wurde, wer mich da beobachtete, erschauerte ich.
Jegor.
Der kleine Junge, der schwache Andere, der vor drei Monaten in eine schwere Auseinandersetzung der Wachen geraten war. Von beiden Seiten als Spielball benutzt. Eine offene Karte, die bisher keiner der Spieler bekommen hatte. Wobei man sich um solche Karten auch nicht gerade prügelt.
Seine Fähigkeiten reichten, um meine nachlässige Maskierung zu durchdringen. Dass wir uns trafen, verwunderte mich nicht einmal. Die Welt ist voller Zufälle, und hinzu kommt noch die Vorbestimmung.
»Hallo, Jegor«, sagte ich, ohne darüber nachzudenken. Ich weitete den Zauber aus, um den Jungen mit in den Kreis zu nehmen, wo er nicht beachtet wurde.
Er zuckte zusammen, sah sich um. Starrte mich an. Olga hatte er ja noch nie in Menschengestalt gesehen. Nur als weiße Eule.
»Wer sind Sie und woher kennen Sie mich?«
O ja, er war gereift. Nicht äußerlich, sondern innerlich. Mir war nicht klar, wie er es fertig gebracht hatte, sich immer noch nicht endgültig entschieden, sich weder auf die Seite des Lichts noch die des Dunkels gestellt zu haben. Schließlich war er schon im Zwielicht gewesen, zudem unter Umständen, in denen er wer weiß was hätte werden können. Doch seine Aura schimmerte wie gehabt rein und neutral.
Das eigene Schicksal. Wie schön wäre es, ein eigenes Schicksal zu haben.
»Ich bin’s, Anton Gorodezki von der Nachtwache«, sagte ich einfach.»Erinnerst du dich noch an mich?«
Was für eine Frage.
»Aber…«
»Lass dich dadurch nicht täuschen. Das ist eine Maskierung. Wir können unsere Körper wechseln.«
Ich überlegte kurz, ob ich nicht mein Wissen aus dem Illusionskurs hervorkramen und kurz in mein altes Äußeres zurückkehren sollte. Doch das war gar nicht nötig - der Junge glaubte mir. Vielleicht, weil er sich an die Transformationen des Chefs erinnerte.
»Was wollen Sie von mir?«
»Nichts. Ich warte hier auf eine Kollegin, der dieser Körper gehört. Wir beide haben uns nur zufällig getroffen.«
»Ich hasse eure Wachen!«, schrie Jegor.
»Das kannst du halten, wie du willst. Ich habe dich wirklich nicht verfolgt. Wenn du willst, geh.«
Das zu glauben fiel ihm bedeutend schwerer, als den Körpertausch hinzunehmen. Misstrauisch schaute der Junge sich um und zog die Augenbrauen zusammen.
Natürlich brachte er es nicht ohne weiteres fertig zu
gehen. Er hatte ein Geheimnis gelüftet, Kräfte gespürt, die jenseits der Menschenwelt lagen. Und auf diese Kräfte verzichtet, wenn auch nur vorläufig.
Doch ich ahnte, wie gern er das alles gelernt hätte - wenigstens ein paar Kleinigkeiten, Taschenspielertricks mit Pyrokinese und Telekinese, Suggestion, Heilen, Flüchen - keine Ahnung, was genau, aber wahrscheinlich wollte er genau das. Es nicht nur kennen, sondern beherrschen.
»Haben Sie mich wirklich nicht verfolgt?«, fragte er schließlich.
»Wirklich nicht. Wir können nicht lügen - nicht geradezu.«
»Und woher soll ich wissen, ob das nicht auch eine Lüge ist?«, brummte der Junge mit abgewandtem Blick. Was logisch war.
»Nirgendwoher«, räumte ich ein.»Wenn du willst, glaub es.«
»Das würde ich gern«, sagte der Junge, den Blick immer noch zu Boden gesenkt.»Aber ich erinnere mich daran, was geschehen ist, da auf dem Dach. Ich träume davon.«
»Du brauchst vor dieser Vampirin keine Angst mehr zu haben«, beruhigte ich ihn.»Sie ist ausgelöscht worden. Auf ein Urteil des Gerichts hin.«
»Ich weiß.«
»Woher?«, wunderte ich mich.
»Ihr Vorgesetzter hat mich angerufen. Der, der auch den Körper getauscht hatte.«
»Das wusste ich nicht.«
»Er hat einmal angerufen, als ich allein zu Hause war. Er hat gesagt, dass die Vampirin ihre Strafe bekommen hat. Und dann hat er noch gesagt, dass ich aus der Liste der Menschen gestrichen worden bin, weil ich ein potenzieller Anderer bin, auch wenn noch nicht klar ist, was für einer. Und das Los würde nie wieder auf mich fallen, ich brauchte also keine Angst mehr zu haben.«
»Natürlich nicht«, bestätigte ich.
»Ich habe ihn gefragt, ob meine Eltern weiter auf der Liste stehen.«
Darauf wusste ich nichts zu sagen. Mir war klar, wie die Antwort des Chefs gelautet hatte.
»Gut, ich geh jetzt.«Jegor trat einen Schritt zur Seite.»Ihre Zigarette ist ausgegangen.«
Ich schmiss die Kippe weg.»Woher kommst du jetzt?«, fragte ich.»Es ist schon spät.«
»Vom Training, ich schwimme. Aber sagen Sie, sind Sie das wirklich?«
»Erinnerst du dich noch an den Trick mit der zerbrochenen Tasse?«
Jegor rang sich ein Lächeln ab. Die billigsten Tricks beeindrucken die Menschen immer am meisten.
»Ja. Aber…«Er verstummte und starrte an mir vorbei.
Ich drehte mich um.
Es ist merkwürdig, sich von außen zu sehen. Ein Typ mit meinem Gesicht, meinem Gang, in meinen Jeans und meinem Sweatshirt kam auf uns zu, am Gürtel den MD-Player, in der Hand eine kleine Tasche. Ein angedeutetes, kaum zu erkennendes Lächeln, das ebenfalls mir gehörte. Selbst die Augen, dieser falsche
Spiegel, waren meine.
»Hallo Anton«, begrüßte mich Olga.»Guten Abend, Jegor.«
Dass der Junge hier war, wunderte sie nicht im Geringsten. Sie wirkte überhaupt sehr ruhig.
»Guten Abend.«Jegors Blick wanderte zwischen ihr und mir hin und her.»Ist Anton jetzt in Ihrem Körper?«
»Ganz genau.«
»Sie sind nett. Woher kennen Sie mich denn?«
»Ich habe dich gesehen, als ich in einem weniger netten Körper steckte. Aber jetzt musst du uns entschuldigen. Anton steckt in großen Schwierigkeiten, um die wir uns kümmern müssen.«
»Soll ich gehen?«Jegor hatte völlig vergessen, dass er das gerade eben noch aus freien Stücken tun wollte.
»Ja. Sei uns nicht böse, aber hier wird es gleich heiß werden, sehr heiß.«
Der Kleine sah mich an.
»Die Tagwache ist hinter mir her«, erklärte ich ihm.»Alle Dunklen Moskaus.«
»Warum?«
»Das ist eine lange Geschichte. Fahr jetzt lieber nach Hause.«
Das klang grob. Jegor nickte mit zusammengezogenen Augenbrauen. Er schielte zum anderen Gleis hinüber - gerade kam ein Zug.
»Aber Ihre Leute verteidigen Sie doch?«Trotz allem bereitete es ihm Schwierigkeiten zu begreifen, wer von uns in welchem Körper steckte.»Die von Ihrer Wache?«
»Sie versuchen es«, antwortete Olga sanft.»Aber jetzt geh bitte. Das bisschen Zeit, das wir haben, läuft uns davon.«
»Auf Wiedersehen.«Jegor drehte sich um und rannte zum Zug. Mit dem dritten Schritt verließ er den Kreis, der ihn der Aufmerksamkeit seiner Umwelt entzog. Beinah hätte man ihn umgerannt.
»Wenn der Junge geblieben wäre, hätte ich geglaubt, dass er sich für unsere Seite entscheidet«, sagte Olga, während sie ihm nachblickte.»Zu gern würde ich wissen, welche Wahrscheinlichkeit es gab, dass ihr euch in der Metro begegnet.«
»Das war ein Zufall.«
»Es gibt keine Zufälle. Ach, Anton, vor langer Zeit habe ich die Realitätslinien so problemlos gelesen wie ein offenes Buch.«
»Ich hätte nichts gegen eine gute Prophezeiung einzuwenden.«
»Eine echte Prophezeiung kriegst du nicht auf Bestellung. Gut, kommen wir zur Sache. Du willst in deinen Körper zurück?«
»Ja. Gleich hier.«
»Wie du meinst.«Olga streckte die Arme - meine Arme - aus und packte mich bei der Schulter. Was ein idiotisches, ambivalentes Gefühl in mir hervorrief. Offenbar erging es ihr genauso.»Was musstest du auch so schnell in die Bredouille geraten, Anton?«, amüsierte sie sich.»Ich hatte für heute Abend so extravagante Dinge geplant.«
»Sollte ich dem Wilden vielleicht dankbar sein, dass er deine Pläne durchkreuzt hat?«
Olga konzentrierte sich, ihr Lächeln verschwand.»Gut. Also los.«
Wir stellten uns Rücken an Rücken und streckten die Arme seitlich aus, um ein Kreuz zu bilden. Ich berührte die Finger Olgas, die meine Finger waren.
»Gib mir meins«, sagte Olga.
»Gib mir meins«, wiederholte ich.
»Geser, wir geben dir deine Gabe zurück.«
Ich erschauerte, als mir klar wurde, dass sie den richtigen Namen des Chefs genannt hatte! Den aus den tibetanischen Sagen!
»Geser, wir geben dir deine Gabe zurück!«, wiederholte Olga in scharfem Ton.
»Geser, wir geben dir deine Gabe zurück!«
Olga wechselte in eine alte Sprache über, einen weichen Singsang, den sie vortrug, als sei er ihre Muttersprache. Doch voller Schmerzen spürte ich, wie viel Mühe sie diese magische Handlung kostete, die noch nicht einmal sehr bedeutend war, sondern nur die zweite Kraftstufe verlangte.
Beim Gestaltwechsel schnellt man hoch wie eine Sprungfeder. Unser jeweiliges Bewusstsein hielt sich nur dank der Energie, die Boris Ignatjewitsch Geser uns gegeben hatte, in dem fremden Körper. Wir brauchten nur auf seine Kraft zu verzichten, und schon nahmen wir wieder unsere eigene Gestalt an. Wenn einer von uns beiden ein Magier ersten Grades gewesen wäre, hätten wir noch nicht einmal Körperkontakt herstellen müssen, dann hätte sich der Tausch auch auf Distanz durchführen lassen.
Olgas Stimme schwang sich hoch: Sie sprach die Schlussformel des Verzichts.
Einen Moment lang passierte gar nichts. Dann krümmte ich mich in einem Krampf, wand mich, vor meinen Augen verschwamm alles, wurde grau, als sei ich ins Zwielicht eingetaucht. Kurz sah ich die Metrostation - die gesamte, die mit Staub überzogenen bunten Mosaiken, den dreckigen Fußboden, die langsamen Bewegungen der Menschen, die Regenbögen der Auren und zwei Körper, die miteinander rangen, als wollten sie sich gegenseitig ans Kreuz schlagen.
Dann drückte mich etwas, presste mich, zwängte mich in die Körperhülle.
»Ah, ah, ah«, zischte ich, während ich zu Boden fiel, mich aber in letzter Sekunde mit den Händen abfangen konnte. Meine Muskeln krampften sich zusammen, in den Ohren klirrte es. Der Rücktausch gestaltete sich weitaus unbequemer, vielleicht weil ihn nicht der Chef durchgeführt hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Olga träge.»Verdammt, du bist doch ein altes Schwein.«
»Was?«Ich sah die junge Frau an.
Stirnrunzelnd stand Olga auf.»Pardon, aber hättest du nicht mal zur Toilette gehen können?«
»Nur mit Erlaubnis Sebulons.«
»Schon gut, schon vergessen. Wir haben noch eine Viertelstunde, Anton. Erzähl.«
»Was genau?«
»Das, was dir klar geworden ist. Mach schon. Du wolltest nicht einfach nur in deinen Körper zurück, du hast irgendeinen Plan.«
Ich nickte, streckte mich und rieb die dreckigen Hände gegeneinander. Klatschte mir auf die Schenkel, klopfte die Jeans ab. Unter meiner Achsel drückte das zu fest gezogene Halfter, das ich würde lockern müssen. In der Metro gab es jetzt nur noch wenige Menschen, die großen Ströme waren verebbt. Dafür hatten die Leute nun, da sie sich nicht mehr durch die Masse schlängeln mussten, Zeit zum Nachdenken. Die Regenbögen ihrer Auren flammten auf, der Nachhall fremder Emotionen wehte uns an.
Wie sehr musste man Olgas Fähigkeiten gestutzt haben! In ihrem Körper hatte ich mich anstrengen müssen, um die geheime Welt der menschlichen Gefühle zu sehen. Dabei ist das so leicht, leichter geht’s gar nicht. Noch nicht mal ein Grund, stolz zu sein.
»Die Tagwache braucht mich nicht, Olga. Absolut nicht. Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Magier mit mittleren Fähigkeiten.«
Sie nickte.
»Aber sie machen Jagd auf mich. Daran gibt es keinen Zweifel. Folglich bin ich nicht die Beute, sondern der Köder. So wie Jegor den Köder spielte, als Sweta die Beute war.«
»Begreifst du das erst jetzt?«Olga schüttelte den Kopf.»Natürlich bist du der Köder.«
»Für Swetlana?«
Die Zauberin nickte.
»Das ist mir erst heute klar geworden«, gab ich zu.»Vor einer Stunde. Sweta wollte sich der Tagwache entgegenstellen und hat die fünfte Kraftstufe erklommen. Auf Anhieb. Wäre es zu einem Kampf gekommen, hätte man sie umgebracht. Wir sind doch auch ganz einfach zu lenken, Olga. Die Menschen kann man in unterschiedliche Richtungen treiben, zum Guten oder zum Bösen, die Dunklen bei ihrer Niedertracht packen, ihrer Selbstliebe und ihrer Gier nach Macht und Ruhm. Und uns bei unserer Liebe. Die lässt uns schutzlos wie Kinder dastehen.«
»Stimmt.«
»Weiß der Chef das alles?«, fragte ich.»Olga?«
»Ja.«
Sie presste das Wort heraus, als schnüre ihr jemand die Kehle zusammen. Nicht zu fassen! Lichten Magiern, die mehr als tausend Jahre gelebt haben, ist nichts peinlich. Sie haben die Welt so oft gerettet, dass sie alle ethischen Ausreden in- und auswendig kennen. Scham kennt eine Große Zauberin nicht - auch keine ehemalige. Zu oft wurde sie selbst verraten.
Ich lachte auf.»Habt ihr das sofort durchschaut, Olga? Gleich, als der Protest von den Dunklen kam? Dass man mich jagt - mit dem Ziel, Swetlana dazu zu bringen, sich in den Kampf zu stürzen?«
»Ja.«
»Ja, ja, ja! Und dann habt ihr weder sie noch mich gewarnt?«
»Swetlana muss erwachsen werden. Muss ein paar Stufen überspringen.«In Olgas Augen loderte ein Flämmchen auf.»Anton, du bist mein Freund. Ich rede ganz offen mit dir. Du musst verstehen, dass wir nicht die Zeit haben, eine Große angemessen aufzuziehen. Wir brauchen sie, dringender, als du dir das vorstellen kannst. Sie hat genug Kraft. Sie wird sich stählen, wird lernen, ihre Kraft zu sammeln und anzuwenden, und vor allem wird sie lernen, ihre Kraft zu mäßigen.«
»Und wenn ich sterbe… würde das nur ihren Willen stärken, ihren Hass auf die Dunklen schüren?«
»Ja. Aber du wirst nicht sterben, da bin ich sicher. Die Wache sucht den Wilden, es sind bereits alle mobilisiert. Wir präsentieren ihn den Dunklen, die Klage gegen dich wird zurückgezogen.«
»Dafür stirbt ein Lichter Magier, der nicht rechtzeitig initiiert worden ist. Ein unglücklicher, einsamer, zu Tode gehetzter Lichter, der davon überzeugt ist, allein auf weiter Flur gegen das Dunkel zu kämpfen.«
»Ja.«
»Du widersprichst mir ja heute gar nicht.«In meiner Stimme schwang keine Boshaftigkeit mit.»Olga, ist das, was ihr vorhabt, nicht gemein?«
»Nein.«In ihrer Stimme klang kein Zweifel. Es stand also viel auf dem Spiel.
»Wie lange muss ich durchhalten, Lichte?«
Sie zuckte zusammen.
Vor langer, vor sehr langer Zeit war dies einmal die übliche Form der Anrede bei der Wache gewesen. Lichter, Lichte. Warum nur hatten diese Worte ihre frühere Bedeutung verloren, warum wirkten sie heute so fehl am Platze, als redeten sich dreckige Penner vor einer Bierbude mit»Gentlemen«an?
»Wenigstens bis morgen früh.«
»Die Nacht - das ist nicht mehr unsere Zeit. Heute sind alle Dunklen auf den Straßen Moskaus. Und im Recht.«
»Nur so lange, bis wir den Wilden gefunden haben. Halte durch.«
»Olga.«Ich trat an sie heran, berührte mit der Hand
ihre Wangen und vergaß einen Moment lang völlig den ungeheuren Altersunterschied - was sind schon tausend Jahre im Vergleich zu einer endlosen Nacht -, vergaß das Ungleichgewicht unserer Kräfte, den Unterschied unserer Ränge.»Olga, glaubst du denn, dass ich morgen noch lebe?«
Die Zauberin schwieg.
Ich nickte. Es gab nichts mehr zu sagen.
Also ja, das hat doch was.
Sich im Morgengraun verlieren, Klopfen an die gläsernen
Immerzu verschlossnen Türen.
Ich drückte die Taste, um auf Zufallswahl umzuschalten. Nicht, weil das Lied nicht zu meiner Stimmung passte. Im Gegenteil.
Ich liebe die Metro bei Nacht. Warum, weiß ich selbst nicht. Es gibt nichts zu sehen außer der ekelhaften Reklame und den erschöpften, gleichförmigen Auren der Menschen. Es bleibt nur das Heulen des Motors, die Luft, die durch die nicht ganz geschlossenen Fenster hereinschwallt, das Gerumpel über die Schienen. Das stumpfsinnige Warten auf deine Station.
Trotzdem liebe ich sie.
Wir sind so leicht bei unserer Liebe zu fassen!
Ich erschauerte, erhob mich und ging zur Tür. Eigentlich hatte ich bis zum Ende der Linie fahren wollen.
»Rishskaja, nächste Station Alexejewskaja.«
Alle schweigen von demselben Angestrengt und überall,
Und der Klub für Pest und Aussatz
Hat Saisoneröffnungsball.
Das passt.
Schon als ich die Rolltreppe betrat, spürte ich von vorn einen leichten Hauch von Kraft. Ich schickte meinen Blick die mir entgegenkommende Rolltreppe hoch - und machte fast sofort den Dunklen aus.
Immerhin kein hoher Wächter des Tages, die haben andere Allüren. Ein kleiner Magier, vierter oder fünfter Grad, vermutlich eher fünfter: Er musste sich gewaltig anstrengen, um seine Umgebung zu scannen. Noch ganz jung, Anfang zwanzig, mit langen blonden Haaren, einer zerknautschten offenen Jacke, einem freundlichen, wenn auch angespannten Gesicht.
Wie bist du bloß ins Dunkel geraten? Was ist passiert, bevor du zum ersten Mal ins Zwielicht eingetreten bist? Hast du dich mit deiner Freundin verkracht? Mit deinen Eltern gestritten? Die Prüfungen an der Uni vergeigt oder in der Schule eine Fünf bekommen? Waren sie dir im Oberleitungsbus auf dem Fuß herumgetrampelt?
Am schrecklichsten ist allerdings, dass du dich nach außen nicht verändert hast. Oder höchstens zum Vorteil. Deine Freunde werden voller Verwunderung bemerkt haben, was sie jetzt mit dir für Spaß haben, dass ihnen alles gelingt, was sie zusammen mit dir machen. Deine Freundin wird in dir eine Unmenge bisher verborgener Qualitäten entdeckt haben. Deine Eltern können sich nicht genug über ihren Sohn freuen,
der so reif und klug geworden ist. Die Dozenten sind begeistert von dem talentierten Studenten.
Und niemand weiß, welchen Preis du von deiner Umwelt eintreibst. Womit sie deine Güte, deine Späße und dein Mitleid bezahlen.
Ich kniff die Augen etwas zusammen und stützte mich mit dem Ellbogen aufs Geländer. Ein müder, leicht betrunkener Mann, der auf nichts achtete und Musik hörte. Der Blick des Dunklen glitt über mich hinweg, wanderte weiter nach unten, erzitterte, hielt inne.
Zeit mich vorzubereiten, mein Äußeres zu ändern, meine Aura zu tarnen blieb mir nicht. Trotz allem hatte ich nicht erwartet, dass die Dunklen die Metro bereits absuchten.
Eine kalte Berührung, durchdringend wie eine Windböe. Der Junge verglich mich mit dem Bild, das vermutlich unter allen Dunklen in Moskau verteilt worden war. Ungeschickt machte er das, vergaß dabei seine Abschirmung und bemerkte nicht, wie mein Bewusstsein einen durchs Zwielicht geschlagenen Weg entlanghuschte und seine Gedanken berührte.
Freude. Begeisterung. Jubel. Gefunden. Die Beute. Sie überlassen mir einen Teil der Kraft der Beute. Werden mich loben. Befördern. Ruhm. Werden es anerkennen. Das haben sie mir nicht zugetraut! Jetzt sehen sie, was ich kann. Werden es honorieren.
Dennoch erwartete ich, dass wenigstens in einem Winkel seines Bewusstseins noch andere Gedanken auftauchten würden. Dass ich ein Feind bin, der sich den Dunklen entgegenstellt. Dass ich seinesgleichen getötet hatte.
Doch nein. Nichts. Er dachte nur an sich.
Bevor der junge Magier seine plumpen Fühler ausstreckte, fuhr ich meine aus. So. Über große Fähigkeiten verfügte er nicht, mit der Tagwache konnte er sich in der Metro nicht in Verbindung setzen. Was er aber auch gar nicht wollte. Für ihn war ich ein gehetztes Tier, noch dazu ein ungefährliches, ein Kaninchen, kein Wolf.
Also dann, Freundchen.
Ich verließ die Station, glitt von der Tür weg und suchte meinen Schatten. Die trübe Silhouette wölkte auf. Ich trat hinein.
Das Zwielicht.
Die Fußgänger wurden zu gespenstischem Dunst, die Autos krochen wie Schildkröten dahin, das Licht der Straßenlaternen verdunkelte sich, zerquetschte alles, lastete schwer. Stille, die Geräusche wichen einem dumpfen, kaum wahrnehmbaren Brummen.
Ich beeilte mich, denn noch hatte der Magier meine Spur nicht aufgenommen. In mir spürte ich eine Kraft, mit der ich bis zum Scheitel voll gepumpt war. Vermutlich Olgas Werk. In meiner Gestalt hatte sie die alten Fähigkeiten zurückerlangt und den Körper mit Energie aufgeladen, von der sie nicht einen Funken verbraucht hatte. Der Gedanke war ihr nicht einmal gekommen, so verlockend er auch sein mochte.
»Wo die Grenze ist, wirst du irgendwann selbst verstehen«, hatte ich Swetlana gesagt. Olga kannte diese Grenze seit langem. Und um einiges besser als ich.
Ich lief an der Wand entlang, spähte durch den Beton hindurch in den in die Tiefe gehenden Schacht, auf die Rolltreppen. Der dunkle Fleck kam nach oben.
Ziemlich schnell sogar: Der Magier rannte, flitzte über die Stufen, hatte die Menschenwelt aber trotzdem noch nicht verlassen. Haushaltete mit seinen Kräften. Nun komm schon, sieh zu.
Ich erstarrte.
Über den Boden glitt mir eine Wolke entgegen, die sich zusammenballte, ein Nebelklumpen, der die Züge einer menschlichen Gestalt annahm.
Ein Anderer. Ein ehemaliger Anderer.
Vielleicht gehörte er einst zu uns. Vielleicht aber auch nicht. Die Dunklen gehen ebenfalls nach dem Tod irgendwo ein. Bis jetzt war es einfach eine neblige, diffuse Wolke. Ein ewiger Pilger des Zwielichts.
»Friede sei mit dir, Gefallener«, sprach ich ihn an.»Wer auch immer du gewesen bist.«
Die aufwölkende Silhouette blieb vor mir stehen. Eine Nebelzunge schlängelte sich aus dem Körper heraus und streckte sich mir entgegen.
Was wollte er? Die Fälle, in denen die Bewohner des Zwielichts mit lebenden Anderen in Kontakt zu treten versuchen, kann man an fünf Fingern abzählen.
Die Hand - wenn man das denn Hand nennen kann - zitterte. Fahle Nebelfäden rissen sich los, lösten sich im Zwielicht auf und rieselten auf die Erde.
»Ich habe nur wenig Zeit«, sagte ich.»Gefallener, wer auch immer du im Leben gewesen bist, ein Dunkler oder ein Lichter, Friede sei mit dir. Was willst du von mir?«
Ein Windstoß schien die Wolken weißen Dunstes zu zerreißen. Der Geist drehte sich um und wies mit ausgestreckter Hand - jetzt zweifelte ich nicht mehr daran, dass er mir die Hand entgegenstreckte - durchs Zwielicht nach Nordosten. Mein Blick folgte der Richtung: Der Gefallene zeigte auf eine dünne, nadelartige Silhouette, die am Himmel glomm.
»Der Turm, ja, das habe ich verstanden! Was soll das heißen?«
Der Nebel zerfloss langsam. Noch einen Moment - und das Zwielicht war wieder genauso leer wie immer.
Ein Zittern packte mich. Der Tote wollte mit mir kommunizieren. War er ein Freund oder ein Feind? Gab er mir einen Rat oder warnte er mich vor etwas?
Es war nicht zu verstehen.
Ich sah durch die Mauern des Metrogebäudes, durch die Erde - der Dunkle war fast oben angelangt, stand aber immer noch auf der Rolltreppe. Gut, versuche ich zu verstehen, was der Geist mir sagen wollte. Zum Turm wollte ich nicht gehen, ich hatte mir eine andere, riskante, aber überraschende Route überlegt. Es bestand also keine Notwendigkeit, mich vor dem Fernsehturm in Ostankino zu warnen.
War es also ein Hinweis? Aber von wem? Von einem Freund oder einem Feind, das war die entscheidende Frage. Man braucht nicht darauf zu hoffen, dass hinter der Grenze des Lebens die Unterschiede verwischt wären. Unsere Toten lassen uns in diesem Kampf nicht im Stich.
Ich musste eine Entscheidung treffen. Aber nicht jetzt.
Ich rannte zum Metroausgang und zog im Lauf die Pistole aus dem Achselhalfter.
Gerade noch rechtzeitig: Der Dunkle Magier kam aus der Tür heraus und kroch unverzüglich ins Zwielicht. Es würde recht einfach werden, jetzt, wo sich mir diese Möglichkeit bot. Fremde Auren loderten auf, dunkle Funken, die in alle Richtungen flogen.
Befände ich mich in der Menschenwelt, könnte ich beobachten, wie sich die Gesichter der Menschen verzerrten: wegen eines plötzlichen Schmerzes im Herzen oder wegen Herzschmerz, was ungleich schlimmer ist.
Der Dunkle Magier blickte sich um, suchte meine Spur. Aus seiner Umgebung vermochte er Kräfte zu ziehen, technisch war er jedoch nicht auf der Höhe.
»Ganz ruhig«, sagte ich und drückte dem Magier den Pistolenlauf in den Rücken.»Ganz ruhig. Du hast mich schon gefunden. Aber ob du dich darüber freuen solltest?«
Mit der anderen Hand packte ich sein Handgelenk und verhinderte somit, dass er seine Passes machen konnte. All diese dreisten jungen Magier greifen auf die Standardzauber zurück, die am einfachsten und effektivsten sind. Allerdings nach der makellosen Arbeit von zwei Händen verlangen.
Die Hand des Magiers wurde feucht.
»Gehen wir«, sagte ich.»Wir wollen ein bisschen miteinander plaudern.«
»Du, du…«Er vermochte immer noch nicht zu glauben, was ihm gerade passierte.»Du! Anton! Bist ein Gesetzloser!«
»Schon möglich. Bringt dich das jetzt weiter?«
Er drehte den Kopf herum - im Zwielicht hatte sich sein Gesicht verändert, hatte seine Attraktivität und Gutmütigkeit verloren. Nein, noch hatte er seine endgültige Zwielicht-Gestalt nicht angenommen, wie das bei Sebulon der Fall war. Trotzdem war das Gesicht schon nicht mehr menschlich. Ein Kiefer, der viel zu weit herunterhing, ein breites Froschmaul, schmale trübe Äuglein.
»Was du für ein Monster bist, mein Freund.«Ich stieß ihm noch einmal die Pistole in den Rücken.»Das ist eine Pistole. Geladen mit Silberkugeln, auch wenn das nicht nötig wäre. In der Zwielicht-Welt funktioniert sie nicht schlechter als in der Menschenwelt, etwas langsamer zwar, aber das wird dich nicht retten. Im Gegenteil, du spürst genau, wie die Kugel deine Haut zerreißt, sich langsam durch die Muskelfasern frisst, die Knochen zermalmt, die Nerven zerfetzt.«
»Das wagst du nicht!«
»Warum nicht?«
»Damit verbaust du dir jeden Ausweg!«
»Ach ja? Noch habe ich also Chancen? Weißt du was? Ich kriege immer mehr Lust abzudrücken. Gehen wir, du Mistkerl!«
Mit einem Fußtritt half ich ein wenig nach, trieb den Magier in einen engen Durchgang zwischen zwei Buden. Blaues Moos bewucherte im Übermaß die Wände und fing jetzt an zu zucken. Liebend gern würde die Zwielicht-Flora unsere Gefühle kosten: meinen Zorn, seine Angst. Gleichzeitig haben selbst diese hirnlosen Pflanzen genug Selbsterhaltungsinstinkt.
Und der Dunkle Magier nicht minder.
»Was willst du eigentlich von mir?«, schrie er.»Wir haben eine Aufgabe zugeteilt bekommen, sollten dich suchen! Ich habe nur meinen Befehl ausgeführt! Ich achte den Vertrag, Wächter!«
»Ich bin kein Wächter mehr.«Mit einem Stoß knallte ich ihn an die Wand, in die zärtliche Umarmung des Mooses. Sollte es doch ruhig ein wenig von seiner Furcht aus ihm heraussaugen, sonst macht er den Mund nie auf.»Wer hat die Jagd befohlen?«
»Die Tagwache.«
»Wer konkret?«
»Der Vorgesetzte, seinen Namen kenne ich nicht.«
Das dürfte der Wahrheit ziemlich nahe kommen. Ich kannte ihn übrigens.
»Hat man dich konkret zu dieser Station geschickt?«
Er zögerte.
»Sprich.«Ich richtete die Pistole auf den Bauch des Magiers.
»Ja.«
»Allein?«
»Ja.«
»Du lügst. Aber das macht nichts. Welchen Befehl hast du für den Fall, dass du mich entdeckst?«
»Dich zu observieren.«
»Du lügst. Und diesmal macht es was. Denk nach und beantworte die Frage noch einmal.«
Der Magier schwieg, offenbar hatte es das blaue Moos etwas übertrieben.
Ich feuerte einen Schuss ab, und die Kugel überwand mit fröhlichem Gesang den Meter, der uns beide voneinander trennte. Der Magier sah sie sogar - seine Augen weiteten sich, nahmen eine menschlichere Form an, er zuckte zusammen, doch es war schon zu spät.
»Im Moment ist das nur eine Wunde«, erklärte ich.»Die noch nicht mal tödlich ist.«
Unter Schmerzen wand er sich am Boden, presste die Hände auf die Schusswunde im Bauch. Im Zwielicht wirkte das Blut fast durchsichtig. Vielleicht war das eine Illusion, vielleicht aber auch eine Besonderheit dieses Magiers.
»Beantworte meine Frage!«
Indem ich den Arm schwang, steckte ich das blaue Moos um ihn herum in Brand. Mir reichte es, jetzt würden wir mit der Angst, dem Schmerz, der Verzweiflung spielen. Schluss mit Barmherzigkeit, mit Nachsicht, mit Reden.
Das ist das Dunkel.
»Wir haben den Befehl, Mitteilung zu machen und dich nach Möglichkeit zu liquidieren.«
»Nicht festzunehmen? Sondern zu liquidieren?«
»Ja.«
»Die Antwort ist akzeptiert. Das Kommunikationsmittel?«
»Per Handy, einfach per Handy.«
»Gib’s mir.«
»Es ist in der Tasche.«
»Wirf’s her.«
Unbeholfen kramte er in der Tasche herum - die Wunde war nicht tödlich, die Widerstandskraft des Magiers noch hoch, aber er litt höllische Schmerzen.
Wie er es verdient hatte.
»Die Nummer?«, fragte ich, während ich das Mobiltelefon auffing.
»Die Notfalltaste.«Ich schaute aufs Display.
Den ersten Ziffern nach zu urteilen, konnte das Telefon an jedem x-beliebigen Ort stehen. Ebenfalls ein Handy sein.
»Ist das der Einsatzstab? Wo sitzt er?«
»Ich weiß nicht…«Er verstummte, starrte auf die Pistole.
»Streng dein Gedächtnis ein bisschen an«, verlangte ich.
»Man hat mir gesagt, sie könnten in fünf Minuten bereits hier sein.«
Das war’s also!
Ich blickte mich nach hinten um, betrachtete die am Himmel brennende Nadel. Das passte, das passte nur zu gut.
Der Magier rührte sich.
Nein, ich hatte ihn nicht provozieren wollen, indem ich den Blick abgewandt hatte. Aber als er aus der Tasche den Stab zog - den groben, kurzen Stab, ganz offenkundig keine Handarbeit von ihm, sondern billig eingekauft -, durchströmte mich Erleichterung.
»Also?«, fragte ich, als er innehielt, sich nicht entscheiden konnte, die Waffe zu erheben.»Los!«
Der Kerl schwieg, rührte sich nicht.
Wenn er doch bloß versuchen würde, mich anzugreifen - ich würde mein Magazin in ihn hineinpfeffern. Das wäre dann schon fatal. Doch vermutlich bringt man denen bei, wie sie sich bei einem Konflikt mit den Lichten verhalten sollen. Ihm war völlig klar, dass ich ihn kaum umbringen würde, solange er unbewaffnet und völlig schutzlos dalag.
»Wehr dich«, sagte ich.»Kämpf! Du Hundesohn, du scherst dich doch sonst nicht darum, wenn du andere Schicksale zerstörst, wenn du hilflose Wesen überfällst. Also, was ist? Los!«
Der Magier leckte sich die Lippen - seine Zunge war lang und leicht gespalten. Mit einem Mal ging mir auf, welche Zwielicht-Gestalt er über kurz oder lang annehmen würde, und mir wurde übel.
»Ich liefere mich deiner Gnade aus, Wächter. Ich verlange Nachsicht und einen Prozess.«
»Ich brauchte nur weggehen, und du würdest dich mit deinen Leuten in Verbindung setzen«, sagte ich.»Oder aus den Menschen um uns herum genug Kraft ziehen, um zu erstarken und dich zu einem Telefon zu schleppen. Oder? Darüber sind wir uns doch wohl beide einig.«
Der Dunkle lächelte.»Ich verlange Nachsicht und einen Prozess, Wächter«, wiederholte er.
Ich fuchtelte mit der Pistole in den Händen herum, blickte in das grinsende Gesicht. Verlangen können sie immer. Geben nie.
»Ich hatte immer Schwierigkeiten damit, unsere eigene Doppelmoral zu begreifen«, sagte ich.»Das ist schwer und unangenehm. Kommt erst mit der Zeit, und die habe ich nicht mehr. Wenn man sich eine Rechtfertigung ausdenken muss. Wenn man nicht alle verteidigen kann. Wenn du weißt, dass in der Sonderabteilung jeden Tag Lizenzen unterschrieben werden, mit denen Menschen dem Dunkel ausgeliefert werden. Das ist unschön, oder?«
Das Lächeln stahl sich aus seinem Gesicht.»Ich verlange Nachsicht und einen Prozess, Wächter«, wiederholte er die Worte wie eine Beschwörungsformel.
»Ich bin jetzt kein Wächter«, antwortete ich.
Die Pistole zuckte, knallte, die Ladung rollte träge heran, die Hülsen flogen heraus. Die Kugeln schwirrten durch die Luft wie ein kleiner bissiger Hornissenschwarm.
Er schrie nur einmal, dann zerfetzten ihm zwei Kugeln den Schädel. Als die Pistole klickte und verstummte, wechselte ich automatisch mit bedächtigen Bewegungen das Magazin.
Der zerstückelte, verdrehte Körper lag vor mir. Er fing bereits an, aus dem Zwielicht auszutreten, und die Schminke des Dunkels zerlief auf dem jungen Gesicht.
Ich fuhr mit der Hand durch die Luft, zog ein diffuses Etwas herunter, presste dieses Ding zusammen, das durch den Raum waberte. Die oberste Schicht. Die Pause von der Gestalt des Dunklen Magiers.
Morgen würde man ihn finden. Einen guten, prachtvollen Jungen, den alle gemocht hatten. Auf viehische Weise ermordet. Wie viel Böses hatte ich in die Welt gesetzt? Wie viel Tränen, Verbitterung, blinden Hass? Welche Kette würde sich von hier in die Zukunft ziehen?
Und wie viel Böses hatte ich umgebracht? Wie viel Menschen würden länger und besser leben? Wie viel Tränen würden nicht fließen, wie viel Niedertracht nicht aufkommen, wie viel Hass nicht entstehen?
Vielleicht hatte ich jetzt die Barriere überschritten, die ich nie hätte nehmen dürfen.
Vielleicht hatte ich die nächste Grenze erkannt, die ich überwinden musste.
Ich steckte die Pistole ins Halfter und trat aus dem Zwielicht.
Der Fernsehturm in Ostankino bohrte sich wie eine Nadel in den Himmel.
»Spielen wir das Spiel also ohne Regeln«, sagte ich.»Ohne jede Regel.«
Es gelang mir sofort, ein Auto anzuhalten, sogar ohne beim Fahrer einen Anfall von Menschenfreundlichkeit heraufbeschwören zu müssen. Ob das daran lag, dass ich die Maske des toten Dunklen Magiers trug - diese sehr einnehmende Maske?
»Zum Fernsehturm«, bat ich, während ich in den ramponierten»Sechser«stieg.»Und zwar möglichst schnell, damit ich noch reinkomme.«
»Willst wohl noch ein bisschen Spaß haben?«, erkundigte sich der Mann hinterm Steuer lächelnd, ein etwas spröder Brillenträger, der irgendwie an den alt gewordenen Schurik aus den Komödien von einst erinnerte.
»Und wie«, erwiderte ich.»Und wie.«
Fünf
Der Fernsehturm war noch nicht geschlossen. Ich kaufte eine Eintrittskarte, zahlte einen Zuschlag, um ins Restaurant gehen zu dürfen, und überquerte die Grünfläche, die den Turm umgab. Die letzten fünfzig Meter des Wegs führten unter einem schlaffen Stoffdach entlang. Wozu das wohl diente? Ob von dem alten Bauwerk ab und an Beton herunterbröckelte?
Das Stoffdach endete an einer kleinen Bude, an der man kontrolliert wurde. Ich zeigte meinen Ausweis vor, trat durch den Rahmen mit dem Metalldetektor, der übrigens nicht funktionierte. Das waren alle Formalitäten, das also waren die Sicherheitsvorkehrungen dieses strategischen Objekts.
Jetzt packten mich Zweifel. Wie man es auch drehte und wendete, die Idee, hier herzukommen, blieb seltsam. Ich konnte nicht spüren, dass sich in der Nähe Dunkle zusammengezogen hatten. Falls doch, waren sie gut maskiert - was bedeutete, dass mir eine Auseinandersetzung mit Magiern zweiten oder dritten Grades bevorstand. Eine absolute Selbstmordaktion.
Der Stab. Der Einsatzstab der Tagwache, eingerichtet zur Koordination der Jagd, der Jagd auf mich. Wohin hätte sich ein unerfahrener Dunkler Magier sonst wenden können, um mitzuteilen, er habe die Beute gestellt?
Sollte ich mich zum Stab vorwagen, zu dem mindestens ein Dutzend Dunkler gehörten, darunter auch erfahrene Wachleute? Den Kopf freiwillig in die Schlinge zu stecken ist dumm, nicht heldenhaft, solange noch Chancen bestehen, mit heiler Haut davonzukommen. Und ich hoffte sehr, dass es diese Chancen noch gab.
Von unten, von den Betonblüten der Stützpfeiler aus, machte der Fernsehturm einen ungleich stärkeren Eindruck als aus der Ferne. Etliche Moskauer dürften die Aussichtsplattform allerdings noch nie im Leben erklommen haben, nahmen sie den Turm doch nur als obligatorische Silhouette am Himmel wahr, durchaus nützlich und symbolisch, aber gewiss kein Ort, an dem man seine Freizeit verbrachte. Wie in einer aerodynamischen Röhre von ausgeklügelter Konstruktion wehte hier ein Wind, gerade noch hörbar plagte sich ein kaum fassbarer lang gezogener Laut ab - die Stimme des Turms.
Ich blieb kurz stehen und sah nach oben, betrachtete die Gitter und Öffnungen im Mauerwerk, den von Lunkern zerfressenen Beton, sah auf die erstaunlich grazile, elastische Silhouette. Und elastisch war sie in der Tat, mit den Betonringen an gespannten Seilen. Denn in der Elastizität liegt die Kraft. Nur in ihr.
Dann trat ich durch die Glastür.
Komisch, ich hatte geglaubt, weit mehr Menschen würden den Wunsch verspüren, das nächtliche Moskau aus einer Höhe von dreihundertsiebenunddreißig Metern zu betrachten. Doch nein. Im Fahrstuhl fuhr ich allein nach oben, genauer gesagt zusammen mit einer Frau vom Service.
»Ich hatte mehr Leute erwartet«, sagte ich mit einem freundlichen Lächeln.»Ist es abends immer so leer?«
»Nein, normalerweise geht es hoch her.«Die Frau gab mir zwar Auskunft, ohne sich irgendwie über meine Frage zu wundern, doch einen Hauch von Irritation nahm ich in ihrer Stimme wahr. Sie drückte den Knopf, die Doppeltüren schlossen sich. Schon im nächsten Moment spürte ich einen Schmerz in den Ohren und wurde zu Boden gepresst, während der Fahrstuhl mit rasender Geschwindigkeit und dennoch verblüffend sanft nach oben schoss.»Vor zwei Stunden hat sich hier alles geleert.«
Vor zwei Stunden.
Kurz nach meiner Flucht aus dem Restaurant.
Wenn um diese Zeit der Einsatzstab im Turm eingerichtet worden war, wunderte es mich nicht mehr, dass Hunderte von Moskauern, die an einem klaren, warmen Frühlingsabend in dem Restaurant in den Wolken essen wollten, ihre Pläne von einer Minute auf die andere umgeworfen hatten. Selbst wenn uns die Menschen nicht sehen, spüren sie uns.
Und obwohl sie mit alledem nicht das Geringste zu tun hatten, waren sie klug genug, den Dunklen nicht in die Quere zu kommen.
Ich sah jetzt natürlich wie der Dunkle Magier aus. Blieb die Frage, ob diese Maskierung ausreichte. Der Wachmann würde mein Äußeres mit der Liste vergleichen, die seinem Gedächtnis übermittelt worden war, und alles würde passen. Außerdem würde er die Kraft spüren.
Würde er dann noch tiefer graben? Würde er das Kraftprofil überprüfen, klären, ob es sich bei mir um einen Dunklen oder einen Lichten handelte und welchen Rang ich innehatte?
Fünfzig zu fünfzig. Einerseits muss er das tun. Andererseits vernachlässigen Wachleute diese Pflicht immer und überall. Vielleicht langweilt er sich zu Tode, vielleicht ist er gerade zur Arbeit gekommen und platzt vor Eifer.
Aber am Ende nahmen sich fünfzig von hundert sehr gut aus im Vergleich zu den Chancen, mich auf Moskaus Straßen sicher vor der Tagwache zu verstecken.
Der Fahrstuhl hielt an. Noch nicht mal einen Plan hatte ich mir zurechtgelegt, das Ganze hatte nämlich nur zwanzig Sekunden gedauert. Wenn doch die Fahrstühle in normalen Hochhäusern genauso schnell wären.
»Wir sind da«, meinte die Frau fast heiter. Anscheinend war ich einer der letzten Besucher des Fernsehturms in Ostankino.
Ich betrat die Aussichtsplattform.
Normalerweise wimmelte es hier von Menschen. Neuankömmlinge lassen sich auf den ersten Blick von denjenigen unterscheiden, die schon ein Weilchen hier sind: durch ihre unsicheren Bewegungen, die komische Vorsicht, mit der sie an das runde Fenster herantreten, die Scheu, mit der sie um die in den Boden eingelassenen Scheiben aus Panzerglas schleichen und mit der Zehenspitze ängstlich ihre Stabilität prüfen.
Meiner Schätzung nach belief sich die Zahl der Besucher auf etwa zwei Dutzend. Kinder waren nirgends zu sehen, und aus irgendeinem Grund malte ich mir in aller Deutlichkeit aus, wie sie plötzlich einen hysterischen Anfall bekamen, sobald sie sich dem Turm näherten, wie perplex und wütend ihre Eltern darauf reagierten. Kinder spüren Dunkle weitaus besser.
Auch die Besucher der Plattform wirkten verstört, niedergeschlagen. Sie fesselte nicht das Moskau, das sich unter ihnen erstreckte, in bunte Lichter getaucht, diese grelle, normalerweise so festliche Stadt, sei es auch ein Gelage in Zeiten der Pest, so doch ein schönes Gelage. Jetzt genoss niemand diesen Anblick. Der Atem des Dunkels herrschte über allem, unsichtbar selbst für mich, aber zu spüren, erstickend wie Grubengas, das keinen Geschmack hat, keine Farbe, keinen Geruch.
Ich schaute auf den Boden, fand meinen Schatten und trat in ihn hinein. Ein Wachmann stand in meiner Nähe, nur zwei Schritt von mir entfernt, neben einer in den Boden eingelassenen Scheibe. Mit freundlichem, jedoch leicht irritiertem Blick musterte er mich. Im Zwielicht bewegte er sich nicht sehr sicher, woraus ich schlussfolgerte, dass für die Sicherheit des Einsatzstabs längst nicht die besten Kräfte abgestellt worden waren. Ein kräftiger junger Mann in streng geschnittenem grauen Anzug und weißem Hemd, mit einer Krawatte in gedecktem Ton - ein Bankangestellter, aber kein Diener des Dunkels.
»Hallo, Anton«, sprach mich der Magier an.
Eine Moment lang stockte mir der Atem.
So dumm konnte ich doch nicht sein, oder? So grauenvoll, so fürchterlich naiv?
Man hatte mir aufgelauert, mich getäuscht, einen weiteren Bauern geopfert und sogar - wie auch immer - jemanden hinzugezogen, der schon vor Urzeiten ins Zwielicht eingegangen war.
»Was machst du denn hier?«
Mein Herzschlag setzte wieder ein und fand seinen Rhythmus. Alles war so einfach, so unendlich einfach.
Der ermordete Dunkle Magier war mein Namensvetter.
»Mir ist da was aufgefallen. Jetzt brauch ich neue Anweisungen.«
Der Wachmann runzelte die Stirn. Vermutlich stimmte meine Art zu sprechen nicht ganz. Trotzdem durchschaute er mich immer noch nicht.
»Deinen Ausweis, Anton. Sonst kann ich dich nicht durchlassen, das weißt du selbst.«
»Du bist verpflichtet, mich durchzulassen«, platzte ich auf gut Glück heraus. Bei uns in der Wache gelangt jeder zum Einsatzstab, der seinen Sitz kennt.
»Weshalb das?«Er lächelte, doch seine rechte Hand wanderte langsam nach unten.
Der Stab an seinem Gürtel war bis zum Anschlag aufgeladen. Ein beinerner Stab, kunstvoll aus einem Unterschenkelknochen geschnitzt, mit einem kleinen rubinroten Kristall an der Spitze. Ich brauchte nur herumzudrucksen, mich zu verschließen - und ein gewaltiger Kraftausstoß würde Panik unter allen Anderen um uns herum auslösen.
Ich nahm meinen Schatten vom Boden auf und trat in die zweite Schicht des Zwielichts.
Kälte.
Nebel wallte auf, genauer, nicht Nebel, sondern Wolken. Über der Erde hängende feuchte schwere Wolken. Den Fernsehturm von Ostankino gab es hier nicht mehr, diese Welt hatte die letzte Ähnlichkeit mit der menschlichen eingebüßt. Auf wattigen Wolken, über aufgequollene Tropfen ging ich weiter, einen unsichtbaren Weg entlang. Die Zeit dehnte sich dahin - eigentlich fiel ich nämlich nach unten, doch so langsam, dass es nicht zu merken war. Hoch im Himmel leuchteten drei Monde, die als trübe Flecken den Wolkenschleier durchbrachen, ein weißer, ein gelber und ein blutroter. Vor mir entstand ein Blitz, der anschwoll, spitze Geschosse spie, sich durch die Wolken bohrte, eine verzweigte Furche in sie einbrannte.
Ich trat an einen diffusen Schatten heran, der in quälendem Zeitlupentempo an seinen Gürtel griff, nach seinem Stab langte. Fing seine Hand ab, eine schwere, unnachgiebige Hand, kalt wie Eis. Die sich nicht aufhalten ließ. Ich musste mich losreißen, wieder rauf in die erste Schicht des Zwielichts und ein Handgemenge anfangen. Mit einigen Aussichten auf den Sieg.
Licht und Dunkel, ich bin doch bloß Programmierer! Ich habe mich nie darum gerissen, an vorderster Front zu kämpfen! Lasst mich meine Arbeit machen, die ich beherrsche und liebe!
Doch sowohl das Licht wie auch das Dunkel schwiegen, wie sie immer schweigen, wenn man sie anruft. Und nur eine amüsierte Stimme, die ab und an in jeder Seele erklingt, flüsterte:»Niemand hat dir eine saubere Arbeit versprochen.«
Ich sah auf den Boden. Mein Füße standen zehn Zentimeter unter denen des Dunklen Magiers. Ich fiel, hatte jeden Halt in dieser Realität verloren, hier gab es keinen Fernsehturm und keine Analogien für ihn - es gibt keine derart dünnen Felsen, noch derart hohe Bäume.
Wie gern hätte ich saubere Hände behalten, ein heißes Herz und einen kühlen Kopf. Doch aus irgendeinem Grund vertrugen sich diese drei Faktoren nicht. Unter keinen Umständen. Der Wolf, die Ziege und der
Kohlkopf - wo ist der wahnsinnige Fährmann, der sie zusammen ins Boot nimmt?
Und wo ist der Wolf, der, nachdem er die Ziege verschlungen hat, darauf verzichten würde, den Bootsmann zu kosten?
»Gott weiß es«, sagte ich. Meine Stimme verlor sich in den Wolken. Ich ließ die Hand los, griff nach dem Schatten des Dunklen Magiers, diesem feuchten Fetzen, der sich im Raum auflöste. Zog ihn hoch, warf ihn auf den Körper und stieß den Dunklen in die zweite Schicht des Zwielichts.
Er schrie auf, als die Welt ringsum den Anschein von Sicherheit verlor. Vermutlich hatte er noch nie die Gelegenheit gehabt, weiter als bis zur ersten Schicht ins Zwielicht einzutauchen. Die Energie für diesen Ausflug lieferte zwar ich, doch die Empfindungen waren ihm völlig neu.
Indem ich mich auf die Schultern des Dunklen stemmte, drückte ich ihn nach unten. Und hastete selbst hoch, indem ich erbarmungslos auf den gekrümmten Rücken trat.
Der Weg der Großen Magier nach oben führt immer über den Rücken anderer.
»Du Schweeeiiin! Anton, du Schwein!«
Selbst jetzt begriff der Dunkle nicht, wer ich war. Das würde er erst, wenn er den Kopf drehte - er, der er bereits ausgestreckt dalag und als Halt für meine Füße diente -, wenn er den Kopf drehte und mir ins Gesicht sah. Denn hier, in der zweiten Schicht des Zwielichts, brachte mir die grobe Maskierung natürlich gar nichts. Er riss die Augen auf, röchelte kurz, heulte auf und klammerte sich an meine Beine.
Aber noch immer verstand er nicht, was ich tat und wozu.
Ich schlug ihn mehrmals hintereinander, trat ihm mit den Absätzen auf die Finger und ins Gesicht. Für einen Anderen ist das nicht so schlimm, aber es ging mir ja nicht darum, ihm körperlichen Schaden zuzufügen. Runter, runter mit dir, fall, knalle durch alle Realitätsschichten hindurch, durch die Menschenwelt und das Zwielicht, durch das nachgiebige Gewebe des Raums. Ich habe weder die Zeit noch die Fähigkeiten, um mich mit dir auf ein richtiges Duell nach allen Gesetzen der Wachen einzulassen - nach jenen Regeln, die für junge Lichte und ihren Glauben an das Gute und das Böse, an die Unzerstörbarkeit der Dogmen, an die Notwendigkeit der Abrechnung erarbeitet worden sind…
Sobald ich der Ansicht war, der Dunkle sei weit genug nach unten gestampft worden, stieß ich mich von dem breitgetretenen Körper ab, sprang in den kalten schlierigen Nebel und zog mich aus dem Zwielicht.
Direkt in die Menschenwelt hinein. Direkt auf die Aussichtsplattform.
Ich fand mich auf einer Glasplatte wieder, in der Hocke, schwer atmend, mit einem plötzlichen Hustenanfall kämpfend, klatschnass vom Kopf bis zu den Zehen. Der Regen der anderen Welt roch nach Salmiak und Asche.
Ein leichter Seufzer erklang ringsum - die Menschen machten einen Bogen um mich, wichen vor mir zurück.
»Alles in Ordnung!«, krächzte ich.»Hören Sie?«
Ihre Augen konnten dem partout nicht zustimmen. An der Wand stand ein uniformierter Wachmann, ein
rechtschaffener Angestellter vom Fernsehturm, der jetzt mit versteinerter Miene die Pistole aus der Tasche zog.
»Das ist nur zu Ihrem Besten«, sagte ich, während mich ein weiterer Hustenanfall packte.»Haben Sie mich verstanden?«
Ich gestattete der Kraft, sich loszureißen und den Verstand der Anwesenden zu streifen. Die Gesichter entspannten sich nach und nach, nahmen einen gelösten Ausdruck an. Langsam wandten sich die Menschen ab, drückten sich die Nase wieder an den Fenstern platt. Der Wachmann hielt mitten in der Bewegung inne, die Hand an der geöffneten Pistolentasche.
Erst in diesem Moment erlaubte ich mir einen Blick auf den Boden. Und erstarrte.
Der Dunkle war noch da. Schrie. Wie schwarze Fünfkopekenstücke wirkten seine Augen, die Schmerz und Entsetzen aufrissen. Er hing unter der Scheibe, hing an den Fingerspitzen, die im Glas steckten, sein Körper schwankte wie ein Pendel unter den Windstößen hin und her, die Ärmel des weißen Hemdes waren von Blut getränkt. Der Stab befand sich noch immer an seinem Gürtel: Der Magier hatte ihn völlig vergessen. Jetzt war nur ich ihm geblieben, auf der anderen Seite des dreifachen Panzerglases, in dem trockenen, warmen und hellen Gehäuse der Aussichtsplattform, auf der anderen Seite von Gut und Böse. Ich, ein Lichter Magier, der über ihm saß und seinen durch Schmerz und Angst irre gewordenen Blick einfing.
»Hast du gedacht, wir würden immer ehrlich kämpfen?«, fragte ich. Irgendwie hatte ich den Eindruck, er würde mich hören, selbst durch das Glas und das Heulen des Windes hindurch. Ich erhob mich und schlug mit dem Absatz auf die Scheibe ein. Einmal, zweimal, dreimal - auch wenn die Tritte nicht bis zu den im Glas gefangenen Fingern gelangten.
Der Dunkle Magier zuckte krampfhaft zusammen, riss die Hand weg, brachte sie vor dem näher kommenden Absatz in Sicherheit, reflexartig, auf seine Instinkte vertrauend, nicht auf seinen Verstand.
Was das Fleisch nicht aushielt.
Das Glas färbte sich kurz rot ein, doch schon in der nächsten Sekunde fegte der Wind das Blut weg. Übrig blieb nur die Silhouette des Dunklen Magiers, die kleiner und kleiner wurde, sich in der Luft überschlug. Es zog sie hinunter zu den Drei kleinen Schweinchen, einer beliebten Bar am Fuße des Turms.
Eine unsichtbare Uhr, die in meinem Bewusstsein tickte, ließ die Zeiger wandern und verkürzte die verbleibende Zeit mit einem Schlag auf die Hälfte.
Ich trat von der Glasscheibe weg, drehte eine Runde über die Plattform, achtete dabei aber nicht auf die Menschen, die mir von selbst auswichen, sondern spähte ins Zwielicht. Keine weitere Wache. Wo also hockte der Stab? Oben, in den Räumen, zu denen Besucher keinen Zutritt hatten? Zwischen den Apparaturen? Das glaubte ich nicht. Die dürften sich etwas Komfortableres gesucht haben.
Ein weiterer Wachmann stand an der Treppe, die nach unten ins Restaurant führte. Ein Blick genügte, um zu begreifen: Ihn hatte schon jemand beeinflusst, und zwar erst vor kurzem. Zum Glück nur sehr oberflächlich.
Und was für ein irrsinniges Glück, dass sie diese Manipulation überhaupt für nötig hielten. Das hieß, die Würfel waren noch nicht gefallen.
Der Wachmann öffnete den Mund und wollte losschreien.
»Schweig! Gehen wir!«, befahl ich ihm bloß.
Ohne ein Wort zu sagen, kam er mir nach.
Wir gingen zur Toilette - einer kleinen kostenlosen Attraktion des Turms, das höchste Pissoir und die höchsten Kloschüsseln in Moskau, wenn jemand seine Spur in den Wolken hinterlassen wollte. Ich fuchtelte mit der Hand, worauf ein pickliger Teenager, sich die Hosen zuknöpfend, aus einer der Kabinen stürzte und ein Mann am Pissoir grunzte, dann aber doch mit dem Pinkeln aufhörte und sich mit glasigem Blick davonmachte.
»Zieh dich aus«, befahl ich dem Wachmann, während ich das feuchte Sweatshirt über den Kopf zog.
Die Pistolentasche ließ sich nicht schließen, meine Desert Eagle war um einiges wuchtiger als seine gute alte Makarow. Mich beunruhigte das nicht weiter. Hauptsache, die Uniform passte einigermaßen.
»Wenn du Schüsse hörst«, sagte ich dem Wachmann,»gehst du runter und erfüllst deine Pflicht. Verstanden?«
Er nickte.
»Ich bekehre dich zum Licht«, sprach ich die Formel der Anwerbung.»Verleugne das Dunkel, verteidige das Licht. Ich verleihe dir den Blick, um das Gute vom Bösen zu unterscheiden. Ich verleihe dir den Glauben, dem Licht zu folgen. Ich verleihe dir die Kühnheit, gegen das Dunkel zu kämpfen.«
Früher hatte ich gedacht, ich könnte niemals von dem Recht, Freiwillige abzuwerben, Gebrauch machen. Wie unbeeinflusst wäre ihre Entscheidung, wenn sie im tiefsten Dunkel steckten? Wie durfte man einen Menschen für unser Spiel gewinnen, wenn die Wachen selbst als Gegengewicht zu dieser Praxis gegründet worden waren?
Jetzt handelte ich, ohne zu zögern. Nutzte das Schlupfloch, das die Dunklen gelassen hatten, als sie den Wachmann mit dem Schutz ihres Stabes betraut hatten, für den Fall der Fälle, wie man sich in der Wohnung einen kleinen Hund hält, der zwar nicht beißen, aber kläffen kann. Damit hatte ich das Recht, den Mann auf die andere Seite zu zerren, ihn hinter mir herzuziehen. Denn er war weder gut noch böse, sondern ein ganz normaler Mensch, mit einer maßvoll geliebten Frau, alten Eltern, um die er sich regelmäßig kümmerte, einer kleinen Tochter und einem fast erwachsenen Sohn aus erster Ehe, einem schwach ausgeprägten Glauben an Gott, wirren moralischen Prinzipien und ein paar Standardträumen - ein ganz normaler Mensch eben.
Kanonenfutter für die Armeen des Lichts und des Dunkels.
»Das Licht ist mit dir«, sagte ich. Und der kleine, bemitleidenswerte Mensch nickte und strahlte übers ganze Gesicht. In seinen Augen loderte Anbetung auf. Genauso hatte er vor ein paar Stunden den Dunklen Magier angeschaut, der ihm einen ungenauen Befehl gegeben und ihm mein Foto gezeigt hatte.
In einer Minute würde der Wachmann in meiner
feuchten und stinkenden Kleidung an der Treppe stehen. Ich würde hinuntergehen und mir klar zu machen versuchen, wie ich reagieren sollte, wenn Sebulon zum Stab gehörte. Oder ein anderer Magier seines Ranges.
Mit meinen Fähigkeiten würde ich diese Maskierung auch nicht eine Sekunde lang aufrechterhalten können.
Der Bronzene Saal. Ich trat zur Tür hinaus, schaute auf den absurden ringförmigen Speisewagen. Der Ring mit den darauf angebrachten Tischchen drehte sich langsam.
Aus irgendeinem Grund hatte ich angenommen, die Dunklen hätten ihren Stab im Goldenen oder Silbernen Saal untergebracht. Ich war sogar leicht verwundert von dem Bild, das sich mir darbot.
Die Kellner schwammen wie Fische im Winter, brachten alkoholische Getränke an die Tische, die hier eigentlich verboten waren. Auf zwei Tischen direkt vor mir standen Computer, beide an ein Handy angeschlossen. Man hatte gar nicht erst Kabel zu den zahllosen Verbindungen des Turms gelegt, der Stab wollte also nicht lange bleiben. Drei junge Kerle mit langen Haaren arbeiteten konzentriert - die Finger hüpften über die Tastatur, auf den Bildschirmen krochen die Zeilen dahin, in den Aschern qualmten die Zigaretten. Obwohl ich die Programmierer der Dunklen noch nie gesehen hatte, wusste ich, dass es sich bei ihnen um einfache Operator handelte, nicht um Systemadministratoren. Sie unterschieden sich in nichts von einem unserer Magier, der im Stab an einem ans Internet angeschlossenen Laptop arbeitet. Vielleicht sahen sie sogar anständiger aus als einige von unseren Leuten.
»Sokolniki ist vollständig abgedeckt«, sagte einer der drei. Nicht sehr laut, doch die Stimme dröhnte durchs ganze Panorama-Restaurant, ließ die Kellner zusammenzucken und stolpern.
»Die Linie Taganskaja-Krasnopresnenskaja haben wir unter Kontrolle«, erwiderte ein anderer. Die Jungs sahen sich an und lachten. Wahrscheinlich wetteiferten sie, wer seine Abschnitte zuerst abgearbeitet hatte.
Fangt mich doch, fangt mich!
Ich ging durchs Restaurant auf die Bar zu. Achtet nicht auf mich! Bin nur ein hilfloser Mann, einer von denen, die kurzfristig zum Wachhund abkommandiert wurden. Ein Wachmann, der ein Bier trinken wollte - ja, war ihm denn jedes Verantwortungsgefühl abhanden gekommen? Oder wollte er sich von der Sicherheit der neuen Herren überzeugen? Im Dienste seiner Majestät die Wache nachts auf Streife geht. Taram, pam, pam, tara-ra-ra…
Eine ältere Frau an der Biertheke polierte mit mechanischen Bewegungen Gläser. Als ich mich vor sie stellte, schenkte sie mir schweigend ein Bier ein. In ihren Augen war es leer und dunkel, sie hatte sich in eine Marionette verwandelt. Einen kurzen heftigen Wutanfall konnte ich mit Mühe unterdrücken. Das durfte nicht sein. Gefühle waren nicht erlaubt. Ich bin auch ein Automat. Puppen haben keine Emotionen.
Dann sah ich die junge Frau, die auf einem hohen Drehhocker an der Bar saß, und abermals sank mir das Herz.
Wie hatte ich das vergessen können?
Jeder Einsatzstab muss seinen Gegner informieren. In jedem Einsatzstab gibt es einen Beobachter. Das ist
ein Teil des Vertrages, eine der Spielregeln, die beiden Seiten nützt - oder zu nützen scheint. Bei jedem Einsatz unseres Stabs ist ebenfalls ein Dunkler dabei.
Hier saß Tigerjunges.
Zunächst streifte mich der Blick der Frau ohne besonderes Interesse, und ich hoffte schon, alles würde glatt gehen.
Dann wanderten ihre Augen zu mir zurück.
Sie sah schon den Wachmann, dessen Gestalt ich angenommen hatte. Und irgendetwas stimmte nicht mit den in ihren Gedächtnis abgespeicherten Zügen überein. Beunruhigte sie. Ein Moment, und sie schaute mich durchs Zwielicht an.
Reglos stand ich da, versuchte nicht, mich zu verbergen.
Die Frau wandte den Blick ab, fixierte den ihr gegenübersitzenden Magier. Kein schwacher Magier, sein Alter schätzte ich auf etwa hundert Jahre, seine Kraft mindestens auf die dritte Stufe. Kein schwacher Magier, aber ein selbstzufriedener.
»So oder so handelt es sich bei eurem Vorgehen um eine Provokation«, sagte sie in ruhigem Ton.»Die Tagwache weiß doch, dass Anton nicht der Wilde ist.«
»Sondern?«
»Ein uns unbekannter, nicht initiierter Lichter Magier. Ein Lichter, der von den Dunklen kontrolliert wird.«
»Wozu das denn, Mädel?«, wunderte sich der Magier aufrichtig.»Erklär mir das mal bitte. Wozu sollten wir unsere Leute umbringen, selbst wenn es nicht die wertvollsten sind?«
»›Nicht die wertvollsten‹ ist der Schlüssel zu allem«, meinte Tigerjunges melancholisch.
»Ja, wenn wir die Möglichkeit hätten, das Oberhaupt der Moskauer Lichten zu vernichten. Doch an den kommen wir wie üblich nicht ran. Aber zwei Dutzend Leute opfern für einen einzigen durchschnittlichen Lichten? Das ist nicht dein Ernst. Oder hältst du uns alle für Idioten?«
»Nein, ich halte euch für Schlauköpfe. Wahrscheinlich sogar für größere Schlauköpfe als mich.«Tigerjunges setzte ein unschönes Lächeln auf.»Aber ich bin nur eine Fahnderin. Die Schlussfolgerungen ziehen andere. Und dass sie das tun, steht außer Frage.«
»Wir fordern ja nicht, dass er auf der Stelle bestraft wird!«Der Dunkle lächelte.»Selbst jetzt schließen wir die Möglichkeit eines Fehlers nicht aus. Das Tribunal, eine qualifizierte und unvoreingenommene Untersuchung, Gerechtigkeit - das ist alles, was wir wollen!«
»Aber es ist schon reichlich merkwürdig, dass euer Oberhaupt Anton mit der Geißel Schaabs nicht erwischen konnte.«Die Frau schnippte mit dem Finger gegen das halb leere Bierseidel.»Wirklich bemerkenswert. Seine liebste Waffe, die er seit Hunderten von Jahren in vollendeter Form beherrscht. Als ob die Tagwache gar kein Interesse daran hätte, Anton zu fassen.«
»Mein liebes Mädchen«, der Dunkle beugte sich über den Tisch,»das ist doch inkonsequent! Ihr solltet uns nicht vorwerfen, einerseits einen Unschuldigen, einen gesetzestreuen Lichten, zu verfolgen, es aber andererseits gar nicht auf seine Festnahme anzulegen.«
»Warum nicht?«
»Das ist so ein kleinlicher Sadismus.«Der Magier kicherte.»Das Gespräch bereitet mir ein außerordentliches Vergnügen. Ihr haltet uns doch nicht etwa für eine Bande durchgedrehter blutrünstiger Psychopathen?«
»Nein, wir halten euch für eine Bande durchtriebener Halunken.«
»Dann lass uns doch mal unsere Methoden vergleichen.«Offenbar sattelte der Dunkle sein Steckenpferd.»Lass uns den Schaden vergleichen, den die Wachen unter einfachen Menschen, unter unserer Futterbasis, anrichten.«
»Das trifft nur für euch zu, dass Menschen Futter sind.«
»Und für euch nicht? Kommen denn die Lichten jetzt von den Lichten und nicht mehr aus der Menge?«
»Für uns sind die Menschen die Wurzeln. Unsere Wurzeln.«
»Von mir aus auch Wurzeln. Wozu um Worte streiten? Doch dann sind es auch unsere Wurzeln, Mädel. Und sie versorgen uns mit immer mehr Saft, das verhehle ich gar nicht, das ist kein Geheimnis.«
»Wir werden aber auch nicht weniger. Auch das ist kein Geheimnis.«
»Sicher. Wir leben in stürmischen Zeiten, voller Stress und Anspannung, die Menschen gehen ständig bis an ihre Grenze - und von da bis zu uns Andern ist es nur ein kleiner Schritt. Wenigstens darin könnten wir uns doch mal einig sein!«Der Magier gickste.
»Gut«, stimmte Tigerjunges zu. In meine Richtung blickte sie nicht mehr, das Gespräch kreiste um das ewige, unerschöpfliche Thema, über das man hitzig
stritt, über das sich die Philosophen beider Seiten die Köpfe einschlugen, nicht nur zwei Magier, ein Dunkler und ein Lichter, die sich langweilten. Mir war klar, dass Tigerjunges bereits alles gesagt hatte, was ich wissen musste.
Oder alles, was sie zu sagen für möglich hielt.
Ich nahm das Bierglas, das vor mir stand. Trank einige gleichmäßige, tiefe Schlucke. Ich hatte wirklich Durst.
War die Jagd nur vorgetäuscht?
Ja. Das hatte ich selbst auch schon begriffen. Das Wichtigste, was ich jetzt hatte in Erfahrung bringen müssen, war, ob unsere Leute das auch so sahen.
Den Wilden hatten sie also noch nicht gefasst?
Natürlich nicht. Andernfalls hätten sie sich schon mit mir in Verbindung gesetzt. Telefonisch oder mental, für den Chef ist das ein Kinderspiel. Der Mörder wäre dem Tribunal übergeben worden, Swetlana würde nicht länger zwischen dem Wunsch zerrissen, mir zu helfen, und der Notwendigkeit, sich aus einem Kampf herauszuhalten, und ich würde Sebulon ins Gesicht lachen.
Aber wie, wie sollte man in einer Riesenstadt einen Menschen finden, dessen Fähigkeiten sich nur spontan Bahn brechen? Auflodern und verlöschen. Von Mord zu Mord, von einem nutzlosen Sieg über das Böse zum nächsten? Wenn er den Dunklen wirklich bekannt wäre, würde nur die Führungsspitze dieses Geheimnis kennen.
Aber ganz gewiss nicht diese Dunklen, die hier ihre Zeit verplemperten.
Angewidert sah ich mich um.
Das stank doch zum Himmel!
Der Wachmann, den ich so leicht umgebracht hatte. Ein Magier dritten Grades, der sich voller Eifer mit unserer Beobachterin in Spitzfindigkeiten erging und alles um sich herum vergaß. Diese jungen Kerle an den Terminals, die lauthals schrien:»Zvetnoj Boulevard überprüft!«
»Poleshajewskaja unter Kontrolle!«
Das also ist der Einsatzstab. Genauso absurd und unqualifiziert wie die unerfahrenen Dunklen, die mich in der ganzen Stadt jagen. Gewiss, das Netz ist ausgeworfen, aber niemand schert sich darum, wie viele Löcher es hat. Je wildere Finten ich schlage, je stärker ich zapple, desto besser für das Dunkel. Im Großen und Ganzen natürlich. Swetlana wird es nicht aushalten. Sie wird sich in den Kampf stürzen. Wird zu helfen versuchen, wird spüren, wie in ihr echte Kraft aufkeimt. Niemand von uns wird sie aufhalten können. Und dann ist es aus mit ihr.
»Wolgograder Prospekt.«
Ich könnte sie ja jetzt allesamt abschlachten und abschießen! Alle bis auf den Letzten! Diesen Abfall des Dunkels, diese Wichte, diese Dumpfbacken, die entweder keine Perspektive oder zu viele Fehler haben. Nicht allein, dass es für die Dunklen nicht schade um die ist - sie stören nur, laufen ihnen zwischen den Beinen herum. Die Tagwache ist kein Armenhaus wie wir manchmal. Die Tagwache entledigt sich der überflüssigen Mitarbeiter, wobei sie uns gern die Arbeit überlässt. Und damit Trümpfe einstreicht, das Recht auf Gegenzüge, auf eine Veränderung des Gleichgewichts.
Und jene Zwielicht-Gestalt, die mir den Fernsehturm in Ostankino gezeigt hatte, war eine Ausgeburt des Dunkels. Eine Rückversicherung, falls ich nicht erriet, wohin ich in den Kampf ziehen sollte.
Während die eigentlichen Ereignisse ein einziger Anderer koordinierte.
Sebulon.
Gegen mich persönlich hatte er natürlich nicht das Geringste. Warum dann also diese komplizierten und schädlichen Gefühle in einem so ernsten Spiel? Solche wie mich verspeist er haufenweise zum Frühstück, nimmt sie vom Spielbrett und tauscht sie gegen seine Bauern aus.
Wann glaubte er, dass die Partie verloren sei, dass er das Finale inszenieren müsse?
»Haben Sie Feuer?«, fragte ich, während ich das Glas abstellte und mir die auf dem Tresen liegende Schachtel Zigaretten schnappte. Irgendjemand hatte sie vergessen, vielleicht ein Gast des Restaurants, der wie von Sinnen davongestürzt war, vielleicht ein Dunkler.
In den Augen von Tigerjunges loderte es böse auf, sie spannte sich an. Noch einen Augenblick, das sah ich, und die Zauberin würde ihre Kampfgestalt annehmen. Vermutlich hatte sie die Kräfte des Gegners ebenfalls abgewogen und rechnete sich ernsthaft Chancen auf einen Sieg aus.
Doch das war nicht nötig.
Der Dunkle Magier, der alte Magier dritten Grades, hielt mir unachtsam das Feuerzeug hin. Das Ronson zischte melodisch und spuckte eine kleine Flammenzunge aus.
»Ständig beschuldigt ihr das Dunkel«, fuhr der Magier fort,»ein doppeltes Spiel zu spielen, heimtückisch zu sein, zu provozieren. All das hat nur einen Zweck: eure eigene Lebensunfähigkeit zu kaschieren. Das eigene Unvermögen, die Welt und ihre Gesetze zu verstehen. Und damit letztendlich auch die Menschen. Ihr solltet zugeben, dass die Prognosen der Dunklen weitaus zutreffender sind. Indem wir den natürlichen Bedürfnissen der menschlichen Seele Tribut zollen, ziehen wir sie auf unsere Seite. Und was bringt euch eure Moral? Eure Lebensphilosophie? Hm?«
Ich machte den ersten Zug, nickte freundlich und ging zur Treppe. Tigerjunges schaute mir irritiert nach. Versteh, errat doch selbst, warum ich jetzt gehe.
Alles, was ich hier erfahren konnte, hatte ich erfahren.
Genauer gesagt, fast alles.
Ich beugte mich über einen Brillenträger mit kurzem Haarschnitt, der in seinen Laptop kroch.
»Welche Bezirke schließen wir als letzte?«, fragte ich sachlich.
»Botanischer Garten und die Errungenschaften«, antwortete er, ohne mich anzusehen. Der Cursor huschte über den Bildschirm. Der Dunkle gab Befehle, kostete seine Macht aus, bewegte auf der Karte Moskaus purpurrote Punkte. Ihn von seiner Aufgabe loszureißen würde schwieriger sein, als ihn von seiner Freundin loszueisen.
Sie können nämlich auch lieben.
»Danke«, sagte ich und versenkte die brennende Zigarette in dem vollen Ascher.»Du hast mir sehr geholfen.«
»Null Problemo«, winkte der Operator ab, den Blick fest auf den Bildschirm geheftet. Seine Zunge arbeitete mit, als er einen weiteren Punkt auf der Karte anklickte: ein ganz gewöhnlicher Dunkler auf Treibjagd. Was freust du dich bloß so, Freundchen? Diejenigen, die die Fäden ziehen, tauchen auf deiner Karte nie auf. Du solltest lieber mit Zinnsoldaten spielen, das würde dir den gleichen Machtrausch bescheren.
Ich raste die Wendeltreppe hinunter. Die Wut, mit der ich hierher gekommen war - um zu töten, eher aber noch um getötet zu werden -, war verpufft. Wahrscheinlich überkommt jeden Soldaten in der Schlacht irgendwann eiskalte Ruhe. Wie auch einem Chirurgen die Hände nicht mehr zittern, sobald ihm ein Kranker auf dem OP-Tisch wegzusterben beginnt.
Welche Varianten hast du vorhergesehen, Sebulon?
Dass ich in den Netzen der Treibjagd zu zappeln beginne und damit Lichte wie Dunkle anziehe, einfach alle, vor allem aber Swetlana?
Vorbei.
Dass ich mich ergebe oder gefangen werde und ein zäher, langwieriger, aufreibender Prozess beginnt, der mit einem wahnsinnigen Ausbruch Swetlanas vor dem Tribunal endet?
Vorbei.
Dass ich den Kampf mit dem ganzen operativen Stab aus angeschmierten Magiern aufnehme, alle erschlage, dabei aber in einer Falle sitze, drei Kilometer über dem Erdboden, und Swetlana zum Turm eilt?
Vorbei.
Dass ich mich in den Stab einschleiche, die Ohren aufhalte, mitkriege, dass keiner der Anwesenden etwas über den Wilden weiß, und versuche, Zeit zu
schinden?
Schon eher.
Der Ring zieht sich zusammen, das ist mir klar. Er ist am Stadtrand geschlossen worden, am Autobahnring, dann wurde die Stadt in Bezirke unterteilt und von den Hauptverkehrsstraßen abgeschnitten. Noch reicht die Zeit, um ins nahe gelegene, nicht durchkämmte Umland zu fliehen, einen Unterschlupf zu suchen und unterzutauchen. Einen einzigen Rat hatte der Chef mir gegeben: durchhalten und auf Zeit spielen, während die Nachtwache alles daran setzt, den Wilden zu finden.
Du lockst mich doch nicht zufällig in den Bezirk, in dem es im Winter zu unserm kleinen Handgemenge gekommen ist, oder? Ich kann es nicht vergessen, werde also auf die eine oder andere Weise unter dem Einfluss meiner Erinnerungen handeln.
Die Plattform war inzwischen leer. Völlig. Die letzten Besucher waren davongeeilt, Personal gab es auch nicht - nur der von mir rekrutierte Mann stand an der Treppe, hielt die Pistole fest in der Hand und schaute mit glühendem Blick nach unten.
»Ziehen wir uns wieder um«, befahl ich.»Nimm die Dankbarkeit des Lichts entgegen. Danach wirst du alles vergessen, worüber wir gesprochen haben. Du gehst nach Hause. Erinnerst dich nur noch daran, dass dies ein völlig normaler Tag war, genau wie gestern. Ohne besondere Vorkommnisse.«
»Ohne besondere Vorkommnisse«, echote der Wachmann sofort, während er aus meinen Sachen schlüpfte. Die Menschen sind leicht zum Licht oder zum Dunkel zu bringen, aber am glücklichsten sind
sie, wenn man sie einfach sie selbst sein lässt.
Sechs
Sobald ich aus dem Turm herauskam, hielt ich inne und steckte die Hände in die Taschen. Im Stehen schaute ich mir die gen Himmel gerichteten Scheinwerferstrahlen an, die beleuchtete Bude an der Eingangskontrolle.
Nur zwei Punkte verstand ich nicht in diesem Spiel, das die Wachen trieben, genauer gesagt, die Leitungen der Wachen.
Der ins Zwielicht Entschwundene - wer war er, auf wessen Seite stand er? Wollte er mich warnen oder täuschen?
Und Jegor? Hatten wir uns zufällig getroffen oder nicht? Falls nicht, was war es dann, ein Knoten des Schicksals oder nur ein Zug Sebulons?
Über die Bewohner des Zwielichts wusste ich so gut wie nichts. Vielleicht wusste noch nicht einmal Geser etwas über sie.
Über Jegor dagegen konnte ich nachdenken.
Bei ihm handelte es sich um eine Karte, die noch nicht ausgeteilt worden war. Obwohl von niedrigem Wert, blieb er ein Trumpf, so wie wir alle. Und auch auf die kleinen Trümpfe kann man nicht ohne weiteres verzichten. Jegor war bereits ins Zwielicht eingetreten, das erste Mal, als er versucht hatte, mich zu sehen, das zweite Mal, um sich vor der Vampirin zu retten. Keine gute Ausgangsposition, ehrlich gesagt. Beide Male hatte ihn Angst geleitet, was bedeutete, dass seine Zukunft schon fast entschieden war.
Ein paar Jahre konnte er sich noch auf der Grenze zwischen einem Menschen und einem Anderen halten, aber sein Weg würde zu den Dunklen führen.
Der Wahrheit sieht man besser ins Auge.
Wahrscheinlich würde er ein Dunkler. Und es spielt keine Rolle, dass Jegor bisher ein ganz normaler lieber Junge gewesen ist. Wenn ich das hier überlebe, muss ich irgendwann seine Papiere verlangen oder meine vorlegen, wenn wir uns begegnen.
Vermutlich kann Sebulon ihn manipulieren. Ihn an einen Ort treiben, an dem ich mich befinde. Was den Gedanken nahe legt, dass er meinen Standort aufs Beste spüren kann. Doch damit rechne ich ohnehin.
Doch hatte unsere»zufällige«Begegnung einen Sinn?
Ja, wenn ich mir die Aussage des Operators vor Augen halte: Der Bezirk um die Metrostation»Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft«war noch nicht durchkämmt. Könnte mich da nicht der irrsinnige Gedanke packen, den Jungen zu benutzen, mich bei ihm zu Hause zu verstecken oder ihn um Hilfe zu rufen? Könnte ich da nicht zu ihm gehen?
Nein, zu kompliziert. Viel zu kompliziert. Man hätte mich sowieso leicht fassen können. Irgendwas hatte ich übersehen, irgendwas überaus Wichtiges.
Ich ging Richtung Straße, ohne noch einmal auf den Fernsehturm zu schauen, der heute den getürkten Stab der Dunklen beherbergte, vergaß fast den verkrüppelten Körper des wachhabenden Magiers, der jetzt irgendwo am Fuße des Turms lag. Was wollten die von mir? Was? Fangen wir mal damit an.
Ich sollte den Köder abgeben. Der Tagwache in die Hände fallen. Und zwar auf eine Weise, die keine Zwei-
fel an meiner Schuld ließ; was faktisch bereits geschehen war.
Das würde Swetlana nicht ertragen. Wir können sie und ihre Angehörigen verteidigen. Wir sind aber nicht imstande, ihre eigenen Entscheidungen zu beeinflussen. Und wenn sie mich retten, mich aus den Verliesen der Tagwache befreien, mich beim Tribunal herausboxen wollte, würden die sie ohne mit der Wimper zu zucken vernichten. Das ganze Spiel zielt darauf ab, dass sie einen falschen Zug macht. Ist vor langer Zeit eingefädelt worden, damals, als der Dunkle Magier Sebu-lon das Auftauchen einer Großen Zauberin voraussah und erkannte, welche Rolle ich dabei spielen sollte. Danach wurden die Fallen aufgestellt. Die erste hat versagt. Die zweite hat ihr gieriges Maul schon geöffnet. Möglicherweise wartet noch eine dritte auf mich.
Aber was hat der Junge damit zu tun, dessen magische Fähigkeiten noch nicht zu Tage treten konnten?
Ich blieb stehen.
Er war doch ein Dunkler, oder?
Wer von uns bringt denn die Dunklen um? Die schwachen, unerfahrenen Dunklen, die sich nicht weiterentwickeln wollen?
Eine weitere Leiche, die mir angehängt werden soll? Aber wozu?
Ich wusste es nicht. Aber dass der Junge zum Tode verdammt und unser Treffen in der Metro kein Zufall war, stand für mich mit unumstößlicher Sicherheit fest. Vielleicht, weil mir noch einmal ein Blick in die Zukunft gestattet wurde, vielleicht, weil ein weiteres Puzzleteil an seinen Platz gerückt war.
Jegor würde sterben.
Mir fiel wieder ein, wie er mich auf dem Bahnsteig angesehen hatte, mit zusammengekniffenen Augenbrauen, aber auch von dem Wunsch erfüllt, mich einerseits etwas zu fragen, mich andererseits zu beschimpfen, mir die Wahrheit über die Wachen an den Kopf zu werfen, hinter die er viel zu früh gekommen war. Wie er sich umgedreht hatte und zur Metro gerannt war.
»Aber Ihre Leute verteidigen Sie doch? Die von Ihrer Wache?«
»Sie versuchen es.«
Natürlich versuchen sie es. Bis ganz zum Schluss werden alle den Wilden suchen.
Und der ist der Schlüssel zu allem!
Ich blieb stehen und presste mir die Hände an den Kopf. Beim Licht und beim Dunkel, wie blöd ich bin! Wie unsagbar naiv!
Solange der Wilde noch am Leben ist, würde die Falle nicht zuschnappen. Es reicht nicht, mich als psychopathischen Jäger auszugeben, als einen Wilderer der Lichten. Sie müssen unbedingt auch den echten Wilden töten.
Die Dunklen - oder zumindest Sebulon - wissen, wer er ist. Mehr noch, sie können ihn lenken. Werfen ihm Beute vor, Leute, mit denen sie nicht viel anfangen können. Jetzt zieht der Wilde nicht bloß in eine weitere heldenhafte Schlacht - nein, er verschreibt sich dem Kampf gegen das Dunkel mit Leib und Seele. Überall begegnen ihm Dunkle: zuerst die Tierfrau, dann der Dunkle Magier im Restaurant, jetzt der Junge. Wahrscheinlich glaubt er, die Welt sei verrückt geworden, die Apokalypse nahe, die Kräfte des Dunkels rissen die Welt an sich. Ich wollte nicht in seiner Haut stecken.
Die Tierfrau war notwendig, um Protest zu erheben und uns klar zu machen, wer in Gefahr schwebt.
Der Dunkle Magier, um mich auf frischer Tat zu ertappen und damit das Recht zu haben, mich offiziell anzuklagen und zu verhaften.
Der Junge, um den Wilden zu vernichten, der seine Schuldigkeit getan hat. Im letzten Moment einzugreifen, ihn zu fassen, wie er über die Leiche gebeugt dasteht, ihn zu töten, um seine Flucht und seinen Widerstand zu unterbinden. Denn er wird nicht verstehen, dass wir nach Regeln kämpfen, wird sich nie ergeben, nicht auf den Befehl irgendwelcher»Wächter des Tages«reagieren, von denen er noch nie gehört hatte.
Nach dem Tod des Wilden bleibt mir kein Ausweg mehr. Entweder stimme ich einer Gedächtnisinversion zu oder gehe ins Zwielicht ein. In beiden Fällen wird Swetlana ausrasten.
Mich fröstelte.
Es war kalt. Trotz allem. Ich hatte schon gedacht, der Winter sei endgültig vorbei, aber da hatte ich mich geirrt.
Ich streckte die Hand aus und hielt das erste Auto an. Sah dem Fahrer in die Augen und befahl:»Fahren wir.«
Der Impuls war ziemlich stark, er fragte noch nicht einmal, wohin.
Die Welt steuerte auf ihr Ende zu.
Irgendwas bewegte sich, rückte zur Seite, die alten Schatten rührten sich, die dumpfen Wörter längst vergessener Sprachen erklangen, ein Zittern ging durch die Erde.
Über der Welt zog das Dunkel herauf.
Maxim stand rauchend auf dem Balkon und hörte mit halbem Ohr auf Lenas Gemaule. Seit ein paar Stunden ging das nun schon so, seit dem Moment, da die junge Frau, die sie gerettet hatten, an der Metrostation aus dem Auto gesprungen war. Maxim hörte all die Dinge über sich, mit denen er gerechnet hatte, und auch ein paar Dinge, mit denen er nie im Leben gerechnet hätte.
Dass er ein Idiot und Schürzenjäger sei, der sich um eines hübschen Gesichts und ein paar langer Beine wegen in einen Kugelhagel stürze, nahm Maxim gelassen hin. Dass er ein Schuft und Schwein sei, der in Anwesenheit seiner Frau mit einer abgehalfterten hässlichen Prostituierten flirte, bestach kaum durch Originalität. Vor allem, da er mit der Unbekannten nur ein paar Worte gewechselt hatte.
Was jetzt kam, war der reinste Schwachsinn. Die unerwarteten Geschäftsreisen wurden wieder aufs Tapet gebracht, die beiden Male, in denen er betrunken nach Hause gekommen war - und zwar richtig betrunken. Mutmaßungen über die Zahl seiner Geliebten, seine unsägliche Dummheit und seinen schwachen Charakter, der einem beruflichen Aufstieg und einem auch nur ansatzweise schönen Leben im Wege standen.
Maxim schielte über die Schulter zu ihr hinüber.
Seltsam, Lena brauste nicht einmal auf. Saß einfach nur auf dem Ledersofa vor dem riesigen Fernseher, einem Panasonic, und redete - beinah selbst von ihren
Worten überzeugt.
Glaubte sie das wirklich?
Dass er eine Unmenge von Geliebten hatte? Dass er eine unbekannte junge Frau wegen ihrer attraktiven Figur rettete, aber nicht, weil Kugeln durch die Luft pfiffen? Dass es ihnen schlecht ging, sie ein erbärmliches Leben führten? Sie, die sich vor drei Jahren eine schöne Wohnung gekauft, sie wie ein Puppenhaus eingerichtet und Weihnachten in Frankreich verbracht hatten?
Die Stimme seiner Frau war fest. Anklagend. Leidend.
Maxim schnippte die Zigarette über den Balkon. Sah in die Nacht.
Das Dunkel, das Dunkel zog herauf.
Er hatte getötet, dort, in der Toilette, den Dunklen Magier. Eine der widerwärtigsten Ausgeburten im Universum des Bösen. Ein Mensch, der das Böse und die Angst mit sich bringt. Aus seiner Umwelt Energie herauspumpt, Weiß in Schwarz verwandelt, Liebe in Hass. Und wie immer hatte er, Maxim, der ganzen Welt allein gegenübergestanden.
Aber nie zuvor war ihm so etwas passiert. Dass er an einem einzigen Tag mehrmals hintereinander auf diese Teufelsbrut gestoßen war: Entweder kamen die jetzt alle aus ihren stinkenden Höhlen gekrochen oder sein Blick wurde besser.
Wie jetzt.
Maxim blickte vom neunten Stock aus herunter, sah aber nicht die nächtliche Stadt mit ihrem Lichtermeer. Die interessierte ihn nicht. War für die blinden und hilflosen Menschen. Er sah nur den Klumpen des Dunkels,
der über der Erde baumelte. Nicht sehr hoch, vielleicht zwischen dem neunten und dem elften Stock.
Maxim sah eine weitere Ausgeburt des Dunkels.
Wie immer. Wie üblich. Aber warum so häufig, warum hintereinander? Schon zum dritten Mal! Zum dritten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden!
Das Dunkel flimmerte, wogte, bewegte sich. Das Dunkel lebte.
Hinter ihm zählte Lena mit müder, unglücklicher und gekränkter Stimme seine Sünden auf. Sie erhob sich, kam zur Balkontür, als sei sie sich nicht ganz sicher, ob Maxim sie höre. Gut, vielleicht war das sogar besser. Dann weckte sie die Kinder nicht, falls die überhaupt schliefen. Was Maxim aus irgendeinem Grund bezweifelte.
Wenn er doch nur an Gott glauben könnte. Aufrichtig. Doch von jenem schwachen Glauben, der Maxim nach jeder Reinigungsaktion wärmte, war schon fast nichts mehr übrig. Es konnte keinen Gott in einer Welt geben, in der das Böse wuchs und gedieh.
Wenn es ihn doch gäbe oder wenn Maxims Seele wenigstens aufrichtiger Glaube erfüllte. Dann würde er jetzt hier auf diesem schmutzigen, winzigen Balkon auf die Knie fallen, die Hände gegen den bedeckten nächtlichen Himmel recken, gegen diesen Himmel recken, an dem sogar die Sterne ruhig und traurig leuchteten. Und schreien:»Weshalb? Weshalb, Herr? Das geht über meine Kräfte, ist zu viel für mich! Nimm diese Last von mir, ich bitte dich, nimm sie von mir! Ich bin nicht der, den du brauchst! Ich bin schwach.«
Doch da könnte er lange schreien! Nicht er hatte sich diese Bürde auferlegt. Nicht er würde sich von ihr be-
freien können. Vor ihm loderte, fackelte ein schwarzes Feuer auf. Ein weiterer Fühler des Dunkels.
»Verzeih mir, Lena.«Er schob seine Frau zur Seite und ging ins Zimmer.»Ich muss noch mal weg.«
Sie verstummte mitten im Satz, und in ihren Augen, die eben noch verärgert und beleidigt gefunkelt hatten, blitzte nun Schrecken auf.
»Ich komme doch wieder.«Um Fragen auszuweichen, ging er eilig zur Tür.
»Maxim! Maxim, warte!«
Nahtlos ging Lena von ihrer Standpauke zu eindringlichem Bitten über. Sie stürzte hinter ihm her, fasste nach seiner Hand, sah ihm in die Augen, eine bedauernswerte, unterwürfige Frau.
»Verzeih mir, verzeih mir doch, das alles hat mir einen tüchtigen Schrecken eingejagt! Verzeih mir, Maxim, ich habe nur Dummheiten von mir gegeben!«
Er betrachtete seine Frau, die plötzlich jede Aggressivität verloren hatte, kapitulierte, zu allem bereit war, wenn nur er, dieser dumme elende Schürzenjäger, nicht die Wohnung verließ. Ob in seiner Miene etwas lag, das Lena weit stärker erschreckte als der Bandenkrieg, in den sie hineingeraten waren?
»Ich lass dich nicht gehen! Nirgendwohin! Nicht so spät abends…«
»Mir wird nichts passieren«, sagte Maxim sanft.»Schrei nicht so, du weckst sonst die Kinder. Ich bin ja bald wieder da.«
»Wenn du schon nicht an dich denkst, dann denk wenigstens an die Kinder! An mich!«Im Nu änderte Lena die Taktik.»Und wenn sie sich das Kennzeichen
gemerkt haben? Wenn sie hier auftauchen, um diese Nutte zu suchen? Was soll ich dann machen?«
»Niemand wird hier auftauchen.«Aus irgendeinem Grund wusste Maxim, dass das stimmte.»Und wenn doch - die Tür ist sicher. Wen du anrufen musst, weißt du. Lena, lass mich durch.«
Seine Frau baute sich quer vor der Tür auf, breitete die Arme aus, legte den Kopf zurück und kniff die Augen zu, als erwarte sie, dass er sie gleich schlagen werde.
Maxim gab ihr behutsam einen Kuss auf die Wange und zog sie zur Seite. Unter ihrem völlig verstörten Blick ging er in die Diele hinaus. Aus dem Zimmer seiner Tochter erklang unangenehme, dröhnende Musik - sie schlief nicht, hatte den Kassettenrecorder eingestellt, einfach nur, um ihre bösen Stimmen zu übertönen. Lenas Stimme.
»Geh nicht!«, flüsterte seine Frau ihm bittend hinterher.
Er warf sich die Jacke über, überprüfte kurz, ob alles Nötige in seiner Innentasche steckte.
»An uns denkst du überhaupt nicht!«, brachte Lena mit gepresster Stimme hervor, träge, im Grunde ohne jede Hoffnung. Die Musik im Zimmer seiner Tochter wurde lauter.
»Das stimmt nicht«, entgegnete Maxim ruhig.»Ich denke nur an euch. Passe auf euch auf.«
Er war bereits einen Stock hinuntergestürzt - auf den Fahrstuhl hatte er nicht warten wollen -, als er den Schrei seiner Frau hörte. Der ihn überraschte. Sie trug einen Streit nicht gern außerhalb der eigenen vier Wände aus und hatte ihm noch nie eine Szene im
Hauseingang gemacht.
»Du solltest uns besser lieben, statt auf uns aufzupassen!«
Maxim zuckte mit den Schultern und lief noch schneller.
Hier hatte ich gestanden, im Winter.
Alles war genau wie damals, der dunkle Tordurchgang, das schwache Licht der Straßenlaternen. Nur viel kälter war es gewesen. Und alles hatte so einfach und klar ausgesehen wie für einen jungen amerikanischen Polizisten, der seine erste Streife läuft.
Das Gesetz verteidigen. Das Böse verfolgen. Die Unschuldigen beschützen.
Wie schön es wäre, wenn immer alles so klar und einfach wäre wie mit zwölf oder mit zwanzig Jahren. Wenn es in der Welt wirklich nur zwei Farben gäbe: Schwarz und Weiß. Doch selbst der anständigste und treuherzigste Polizist, erzogen nach den vollmundigen Idealen des Stars-and-Stripes-Banners, kam früher oder später dahinter: In den Straßen gibt es nicht nur das Dunkel und das Licht. Es gibt Vereinbarungen, Kompromisse, Abkommen. Informanten, Fallen, Provokationen. Früher oder später muss man seine eigenen Leute ausliefern, Heroinpäckchen in fremde Taschen schmuggeln, jemanden in die Nieren schlagen, aber sorgfältig, damit keine Spuren zurückbleiben.
Und all das um jener ganz einfachen Regeln willen.
Um das Gesetz zu verteidigen. Das Böse zu verfolgen. Die Unschuldigen zu beschützen.
Diese Lektion habe auch ich lernen müssen.
Ich lief den engen Mauerschlauch entlang, spießte mit dem Bein einen Zeitungsfetzen auf, der an der Wand lag. Hier war der unglückselige Vampir zu Staub zerfallen. Er war wirklich unglückselig, denn seine einzige Schuld bestand darin, sich zu verlieben. Nicht in eine Vampirin, nicht in eine Frau, sondern in sein Opfer, seine Beute.
Hier hatte ich den Wodka verspritzt, der das Gesicht der Frau verbrannt hatte, die wir, die Wächter der Nacht, den Vampiren als Nahrung geliefert hatten.
Wie gern führen sie, die Dunklen, das Wort»Freiheit«im Mund! Wie oft versichern wir uns selbst, dass die Freiheit ihre Grenzen hat.
All das ist vermutlich völlig richtig. Für die Dunklen wie für die Lichten, die einfach inmitten der Menschen leben, zwar größere Möglichkeiten als diese haben, sich in ihren Wünschen aber nicht von ihnen unterscheiden. Für diejenigen, die ein Leben nach den Spielregeln führen, nicht die Konfrontation suchen.
Doch man braucht nur an die Grenze zu kommen, die unsichtbare Grenze, an der wir, die Wächter, stehen und Dunkel und Licht trennen…
Dort herrscht Krieg. Und Krieg ist immer ein Verbrechen. Immer, zu allen Zeiten, gibt es im Krieg nicht nur Heroismus und Selbstaufopferung, sondern auch Verrat, Gemeinheit, Schläge in den Rücken. Anders kann man nicht kämpfen. Anders hätte man das Spiel von vornherein verloren.
Aber was für ein abgekartetes Spiel! Wofür lohnt es sich zu kämpfen, wofür kann ich kämpfen, wenn ich an der Grenze stehe, genau in der Mitte zwischen dem Licht und dem Dunkel? Meine Nachbarn sind Vampire!
Niemals - zumindest für Kostja gilt das -, niemals haben sie gemordet. Aus Sicht der Menschen sind sie anständige Leute. Wenn man sie nach ihren Taten beurteilt, sind sie weitaus ehrlicher als der Chef oder Olga.
Wo ist die Trennlinie? Wo die Rechtfertigung? Die Vergebung? Ich habe darauf keine Antwort. Kann sie nicht geben, nicht einmal mir selbst. Ich lasse mich nur noch träge dahintreiben im Strom der alten Überzeugungen und Dogmen. Wie schaffen sie das, meine Kameraden, die Fahnder der Wache, sich permanent zu schlagen? Wie begründen sie ihr Verhalten? Auch das weiß ich nicht. Aber ihre Entscheidungen helfen mir nicht. Hier ist jeder auf sich selbst gestellt - ganz wie in den tönenden Losungen der Dunklen.
Am meisten macht mir jedoch etwas anderes zu schaffen: Ich habe gespürt, dass ich, wenn ich dieses Spiel nicht durchschaue, diese Grenze nicht erfühle, verloren bin. Und nicht nur ich. Auch Swetlana würde sterben. Der Chef würde sich in dem sinnlosen Versuch verzetteln, sie zu retten. Die ganze Struktur der Moskauer Wache würde zusammenbrechen.
For the want of a nail, a shoe was lost…
Eine Weile stand ich noch da, mich mit der Hand an der schmutzigen Ziegelwand abstützend. Erinnerte mich, kaute auf den Lippen, suchte nach einer Antwort. Es gab sie nicht. Also war es Schicksal.
Nachdem ich den einladenden stillen Hof durchquert hatte, kam ich zum»Haus auf Beinen«. Der sowjetische Wolkenkratzer beschwor längst vergessene Wehmut in mir herauf, eine völlig unangemessene, heftige Wehmut. Vergleichbar dem Gefühl, das ich bisweilen verspürte, wenn ich im Zug an einem verlas-
senen Dorf oder einem halb zerstörten Getreidespeicher vorbeifuhr. Völlig unangemessen, viel zu stark ausgeholt für einen Schlag, der in die Luft geht.
»Sebulon«, sagte ich,»wenn du mich hörst…«
Stille, die gewöhnliche Stille spätabends in Moskau - das Heulen der Autos, aus irgendeinem Fenster erklang Musik, Menschenleere.
»Du kannst ja doch nicht alles vorherberechnet haben«, brachte ich in der Öde hervor.»Niemals. Es gibt immer noch eine Realitätsverzweigung. Die Zukunft ist nicht vorbestimmt. Das weißt du. Und ich auch.«
Ich überquerte die Straße, ohne nach links oder rechts zu gucken, ohne auf die Autos zu achten. Ich hatte doch einen Auftrag, oder?
Die Abschirmungssphäre!
Polternd erstarrte die Straßenbahn auf den Schienen. Die Autos bremsten, umfuhren eine Leere, in deren Mitte ich mich befand. Alles hörte auf zu existieren - außer dem Gebäude, auf dessen Dach vor drei Monaten der Kampf stattgefunden hatte, außer der Dunkelheit, dem Aufleuchten einer Energie, die das menschliche Auge nicht sehen konnte.
Und diese Urkraft, die nur wenige sehen können, schwoll an.
Hier lag das Zentrum des Taifuns, da irrte ich mich nicht. Hatte man mich hierher befohlen? Hervorragend. Da bin ich. Denn du erinnerst dich noch an die kleine peinliche Niederlage, Sebulon. Kannst nicht vergessen, wie du im Beisein deiner eigenen Sklaven geohrfeigt worden bist.
Unabhängig von allen hohen Zielen - und ich bestreite nicht, dass es für ihn hohe Ziele sind - brodelt
in ihm noch ein Wunsch, der einst eine schlichte menschliche Schwäche darstellte, heute aber vom Zwielicht unermesslich verstärkt worden ist.
Sich zu rächen. Es heimzuzahlen.
Den Kampf erneut aufnehmen. Nach der Schlacht noch ein wenig mit den Fäusten zu fuchteln.
Ihr alle, ihr großen Magier - Lichte wie Dunkle - lehnt einen schlichten Kampf ab, wollt auf elegante Weise siegen. Den Gegner erniedrigen. Einfache Siege öden euch an, sind überholt. Die große Konfrontation ist zu einer endlosen Schachpartie verkommen. Auch für Geser, den großen Lichten Magier, der Sebulon mit ungemeinem Vergnügen verhöhnt, nachdem er ein anderes Äußeres angenommen hat.
Für mich ist die Konfrontation noch nicht zu einem Spiel geworden.
Vielleicht liegt darin meine Chance.
Ich zog die Pistole aus der Tasche, entsicherte sie. Ich atmete ein, tief, sehr tief, als wollte ich etwas erschnüffeln. Es war an der Zeit.
Maxim spürte, dass diesmal alles sehr schnell gehen würde.
Ohne lange nächtliche Lauer. Auch ohne lange Verfolgung. Zu deutlich war die Erleuchtung diesmal gewesen, und er hatte nicht nur die fremde, feindliche Anwesenheit wahrgenommen, sondern auch einen klaren Hinweis auf das Ziel.
Er war zur Kreuzung Galuschkinstraße und Jaros-lawskaja gefahren und hatte im Hof eines Hochhauses geparkt. Das schwelende schwarze Feuerchen beo-
bachtet, das sich langsam im Gebäude hin und her bewegte.
Dort hockte der Dunkle Magier. Maxim nahm ihn jetzt bereits in der Realität wahr, konnte ihn fast erkennen. Ein Mann. Mit schwachen Fähigkeiten. Kein Tiermensch, kein Vampir, kein Inkubus. Sondern ein Dunkler Magier. In Anbetracht der geringen Kräfte dürfte es keine Probleme geben. Die lagen woanders.
Maxim konnte nur hoffen und beten, dass ihm das nicht zu oft passieren würde. Tag für Tag die Ausgeburten des Dunkels zu vernichten laugte ihn nicht nur körperlich aus. Da war auch noch dieser absolut schreckliche Moment, wenn der Dolch das Herz des Feindes durchbohrte. Der Augenblick, in dem alles um ihn herum erbebte, um Gleichgewicht kämpfte, während die Farben stumpf wurden, die Geräusche verebbten, die Bewegungen sich verlangsamten. Was sollte er tun, wenn er sich einmal irrte? Wenn er nicht einen Feind der Menschheit, sondern einen gewöhnlichen Menschen liquidierte? Er wusste es nicht.
Aber einen Ausweg gab es nicht, denn er allein war auf dieser Welt in der Lage, die Dunklen von den einfachen Menschen zu unterscheiden. Nur ihm war - von Gott, dem Schicksal oder dem Zufall - die Waffe in die Hand gelegt worden.
Maxim langte nach dem Holzdolch. Betrachtete das Spielzeug mit einem Anflug von Sehnsucht und Panik. Nicht er hatte damals diesen Dolch gehobelt, nicht er hatte ihm den hochtrabenden Namen Misericorde gegeben.
Zwölf waren sie damals gewesen, er und Petka, sein bester und möglicherweise einziger Freund in der Kindheit oder - wozu das verhehlen - in seinem ganzen Leben. Hatten Ritter gespielt, nicht sehr lange, denn in ihrer Kindheit gab es genug, was ihnen Vergnügen bereitete, auch ohne Computer und Diskotheken. Alle Jungen aus dem Haus hatten zusammen gespielt, einen einzigen kurzen Sommer lang, hatten Schwerter und Dolche gehobelt, sich anscheinend mit aller Kraft duelliert, aber dennoch immer aufgepasst. Denn sie hatten gewusst, dass man sich auch mit einem Stück Holz ein Auge ausstechen oder sich bis aufs Blut aufritzen konnte. Komischerweise waren Petka und er immer in unterschiedlichen Pionierlagern gelandet. Vielleicht weil Petka etwas jünger war und Maxim sich deshalb ein wenig dieses Freundes schämte, der ihn mit begeisterten Augen ansah und ihm als schweigendes Schwänzchen verliebt hinterherlief. Wie oft hatte Maxim damals Petka bei einem ihrer Kämpfe das Holzschwert aus den Händen geschlagen - der konnte sich ja kaum gegen den größeren Freund wehren - und geschrien:»Du bist mein Gefangener!«
Bis einmal etwas Seltsames geschah. Petka streckte ihm schweigend den Dolch hin und sagte, der edle Ritter müsse sein Leben mit diesem Misericorde beenden, ihn aber nicht als Gefangenen demütigen. Es war ein Spiel, natürlich, nur ein Spiel, doch irgendetwas krampfte sich in Maxim zusammen, als er zuschlug, den Schlag mit dem Holzdolch vortäuschte. Und dann durchlebte er jenen unerträglich kurzen Moment, als Petka abwechselnd ihm, Maxim, auf die Hand, die den Spielzeugdolch an das verdreckte weiße T-Shirt presste, und in die Augen schaute. Und dann plötzlich wie nebenher sagte:»Behalt es, das soll deine Trophäe sein.«
Maxim behielt den hölzernen Dolch gern, ohne zu zögern. Sowohl als Trophäe wie auch als Geschenk. Nur dass er ihn niemals mit zum Spielen nahm. Ihn zu Hause aufbewahrte, ihn zu vergessen versuchte, als geniere er sich des überraschenden Geschenks und der eigenen Schwäche. Aber er erinnerte sich daran. Immer. Selbst als er heranwuchs, heiratete, als er sein eigenes Kind aufwachsen sah, vergaß er ihn nicht. Der Spielzeugdolch lag zwischen den Alben mit den Fotos seiner Kinder, den Briefumschlägen mit Locken und anderem sentimentalen Plunder. Bis zu jenem Tag, da Maxim zum ersten Mal die Anwesenheit des Dunkels auf der Welt spürte.
Damals schien ihn der Holzdolch zu rufen. Und sich in eine echte Waffe zu verwandeln, eine rücksichtslose, unbarmherzige, unbezwingbare Waffe.
Da lebte Petka schon nicht mehr. Erst hatte die Jugendzeit sie getrennt. Für ein Kind ist ein Altersunterschied von einem Jahr viel, für einen Jugendlichen ist es eine unüberwindbare Kluft. Dann trennte sie das Leben. Wenn sie sich trafen, lächelten sie sich zu, tauschten einen Händedruck und gossen sich ein paarmal aufs schönste einen hinter die Binde, während sie in Kindheitserinnerungen schwelgten. Maxim heiratete, zog um, und ihr Kontakt schlief fast völlig ein. Diesen Winter war ihm jedoch rein zufällig etwas zu Ohren gekommen. Seine Mutter hatte es ihm erzählt, die er - ganz wie es sich für einen anständigen Sohn gehörte - regelmäßig jeden Abend anrief.»Erinnerst du dich noch an Petka? Ihr wart als Kinder dicke Freunde, man hat den einen nie ohne den andern erwischt.«
Er erinnerte sich. Und wusste sofort, was diese Ein-
leitung sollte.
Petka war tödlich verunglückt. Vom Dach eines Hochhauses gefallen. Was hatte ihn bloß mitten in der Nacht dorthin getrieben? Vielleicht wollte er sich umbringen, vielleicht hatte er sich betrunken, auch wenn die Ärzte sagen, er sei nüchtern gewesen. Vielleicht wurde er auch umgebracht. Er hatte in irgendeiner kommerziellen Organisation gearbeitet, nicht schlecht verdient, seine Eltern unterstützt, ein gutes Auto gefahren.
»Er hat Drogen genommen«, hatte Maxim damals in scharfem Ton gesagt. So scharf, dass seine Mutter ihm noch nicht einmal widersprach.»Gehascht, aber er war ja schon immer seltsam.«
Und sein Herz raste nicht, krampfte sich nicht zusammen. Doch am Abend betrank er sich aus irgendeinem Grund. Dann ging er und tötete eine Frau, deren Dunkle Kraft ihre Umwelt zwang, ihre Geliebten zu verlassen und zu den gesetzlich angetrauten Ehefrauen zurückzukehren, tötete eine junge Hexe - eine Kupplerin, die gleichzeitig Zwietracht zwischen Paaren säte -, der er schon zwei Wochen lang vergeblich nachgestellt hatte.
Petka gab es nicht mehr, seit vielen Jahren gab es den Jungen nicht mehr, mit dem er einst befreundet gewesen war, und seit drei Monaten gab es Pjotr Nesterow nicht mehr, den er einmal im Jahr gesehen hatte, manchmal noch seltener. Doch der Dolch, den er ihm geschenkt hatte, blieb ihm.
Sie war wohl nicht vergebens gewesen, ihre unbeholfene Freundschaft in Kindertagen.
Maxim spielte mit dem hölzernen Dolch in der Hand.
Aber warum, warum war er allein? Warum hatte er keinen Freund an seiner Seite, der ihm zumindest einen Teil jener Last, die auf seinen Schultern ruhte, abnehmen konnte? So viel Dunkel gab es um ihn herum und so wenig Licht.
Warum erinnerte er sich jetzt an den letzten Satz Lenas, den sie ihm nachgerufen hatte:»Du solltest uns besser lieben, statt auf uns aufzupassen!«
Ist denn das nicht dasselbe, antwortete Maxim ihr in Gedanken.
Doch nein, wahrscheinlich nicht. Aber was sollte ein Mann tun, für den die Liebe ein Kampf ist, ein Mann, der gegen etwas zu Felde zieht, nicht für etwas?
Gegen das Dunkel, nicht für das Licht.
Nicht für das Licht, sondern gegen das Dunkel.
»Ich bin ein Hüter«, sagte Maxim. Zu sich selbst, mit gepresster Stimme, als schäme er sich, diesen Gedanken laut auszusprechen. Schizos reden mit sich selbst. Und das war er nicht, er war normal, mehr als normal, er sah das uralte Dunkel, das in die Welt kroch.
In sie kroch oder seit langem in ihr hauste?
Das war doch Wahnsinn. Man durfte nicht zweifeln, niemals. Wenn er auch nur einen Teil seines Glaubens verlor, sich entspannte oder auf die Suche nach nicht existierenden Gefährten ging, wäre das sein Ende. Der Holzdolch würde sich nicht in eine lichtbringende Klinge verwandeln, mit der das Dunkel vertrieben werden konnte. Ein gewöhnlicher Magier würde ihn mit einem Zauberfeuer verbrennen, eine Hexe würde ihn beschwören, ein Tiermensch ihn in Stücke reißen.
Ein Hüter und Richtherr!
Er durfte nicht zaudern.
Der Klumpen des Dunkels, der im achten Stock baumelte, sackte plötzlich nach unten. Maxims Herz fing an zu rasen: Der Dunkle Magier kam seinem Schicksal entgegen. Maxim sprang aus dem Auto und schaute sich rasch um. Niemand. Wie immer vertrieb etwas, das in ihm steckte, jeden zufälligen Zeugen, räumte ihm das Schlachtfeld frei.
Das Schlachtfeld? Oder das Schafott?
Hüter und Richtherr?
Oder Henker?
Als ob es da einen Unterschied gab! Er diente dem Licht!
Die bekannte Kraft strömte durch seinen Körper, wühlte ihn auf. Die Hand am Revers seines Jacketts, ging Maxim auf den Hauseingang zu, dem Dunklen Magier entgegen, der im Fahrstuhl nach unten kam.
Nur rasch, alles musste rasch gehen. Schließlich hatte sich die Nacht noch nicht ganz herabgesenkt. Jemand könnte ihn sehen. Und niemand würde jemals seiner Geschichte glauben. Bestenfalls würde man ihn ins Irrenhaus einweisen.
Ansprechen. Den Namen nennen. Die Waffe ziehen.
Den Misericorde. Barmherzigkeit. Er war ein Hüter und Richtherr. Ein Ritter des Lichts. Kein Henker!
Dieser Hof war ein Schlachtfeld, kein Schafott.
Maxim blieb vor der Haustür stehen. Hörte die Schritte. Im Schloss bewegte sich etwas.
Und er wollte wimmern, vor Schmach und Entsetzen wimmern, schreien, den Himmel, sein Schicksal und seine einmalige Gabe verfluchen.
Der Dunkle Magier war ein Kind.
Ein dünner dunkelhaariger Junge. Äußerlich völlig normal - nur Maxim konnte die um ihn herum erzitternde Aureole des Dunkels sehen.
Warum das? Noch nie war ihm so etwas passiert. Er hatte Frauen und Männer getötet, junge wie alte, aber niemals hatte er es mit einem Kind zu tun gehabt, das seine Seele dem Dunkel verkauft hatte. Maxim war noch nicht einmal auf einen solchen Gedanken gekommen, vielleicht, weil er derlei nicht für möglich halten wollte, vielleicht, weil er sich weigerte, vorab eine diesbezügliche Entscheidung zu treffen. Vielleicht wäre er zu Hause geblieben, wenn er gewusst hätte, dass sein zukünftiges Opfer erst zwölf Jahre zählte.
Der Junge stand in der Haustür und schaute Maxim verständnislos an. Einen Augenblick lang hatte Maxim den Eindruck, der Kleine werde sich umdrehen und weglaufen, die schwere Tür mit dem Codeschloss hinter sich verriegeln. Renn doch, renn doch weg!
Der Junge machte einen Schritt auf ihn zu, wobei er die Tür festhielt, damit sie nicht krachend ins Schloss fiel. Er sah Maxim in die Augen, mit leicht gerunzelter Stirn, aber ohne Angst. Was nicht zu verstehen war. Er sah in Maxim keinen zufälligen Passanten, sondern verstand, dass der Mann auf ihn gewartet hatte. Kam ihm sogar entgegen. Fürchtet er sich denn nicht? War er sich seiner Dunklen Kraft so sicher?
»Sie sind ein Lichter, das seh ich«, sagte der Junge. Nicht sehr laut, aber mit fester Stimme.
»Ja.«Das Wort brachte er nur mit Mühe heraus, entließ es ungern aus seiner Kehle, stockte und senkte den Blick. Sich für seine Schwäche verfluchend,
streckte Maxim die Hand aus und packte den Jungen bei der Schulter.»Ich bin dein Richtherr!«
Noch immer erschrak der Kleine nicht.
»Ich habe heute Anton gesehen.«
Welchen Anton? Maxim schwieg, Unverständnis spiegelte sich in seinen Augen wider.
»Sind Sie seinetwegen zu mir gekommen?«
»Nein. Deinetwegen.«
»Wozu?«
Der Junge hatte irgendetwas Herausforderndes an sich, als habe er irgendwann einen langen Streit mit Maxim gehabt, als habe sich Maxim etwas zuschulden kommen lassen, was er jetzt eingestehen sollte.
»Ich bin dein Richtherr«, wiederholte Maxim. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre fortgerannt. Nichts fügte sich so, wie es sein sollte! Ein Dunkler Magier durfte sich nicht als Kind herausstellen, als Altersgenosse seiner eigenen Tochter. Ein Dunkler Magier musste sich verteidigen, ihn angreifen, fliehen, aber nicht mit beleidigter Miene dastehen, als habe er ein Recht dazu.
Als könne ihn irgendwas retten.
»Wie heißt du?«, fragte Maxim.
»Jegor.«
»Es ist mir äußerst unangenehm, dass alles so gekommen ist.«Maxim sagte die Wahrheit. Nicht sadistisches Vergnügen ließ ihn den Mord herauszögern.»Teufel auch. Ich habe eine Tochter, die so alt ist wie du!«Irgendwie kränkte ihn das am meisten.»Aber wenn nicht ich, wer dann?«
»Wovon reden Sie?«Der Junge versuchte seine
Hand abzuschütteln. Das stärkte Maxims Entschlossenheit.
Ein Junge, ein Mädchen, ein Erwachsener, ein Kind. Welchen Unterschied macht das schon! Dunkel und Licht - das ist der einzige Unterschied.
»Ich muss dich retten«, sagte Maxim. Mit der freien Hand zog er den Dolch aus der Tasche.»Ich muss es, und ich werde dich retten.«
Sieben
Als Erstes erkannte ich das Auto.
Dann den Wilden, der ihm entstieg.
Melancholie schlug über mir zusammen, schwere, düstere Melancholie. Da stand der Mann, der mich gerettet hatte, nachdem ich in Olgas Körpers aus dem Maharadscha geflohen war.
Hätte ich es wissen müssen? Vielleicht, wenn ich mehr Erfahrung und Zeit gehabt hätte, wenn ich gelassener gewesen wäre. Die Frau, die mit ihm im Auto saß - ich hätte mir zumindest ihre Aura ansehen sollen. Swetlana hatte schließlich eine genaue Beschreibung geliefert. Ich hätte die Frau erkennen können - und damit auch den Wilden. Schon im Auto hätte ich die Angelegenheit zu Ende bringen können.
Nur zu welchem?
Ich tauchte ins Zwielicht ein, als der Wilde in meine Richtung blickte. Offensichtlich klappte das, denn er ging weiter, auf den Hauseingang zu, in dem ich irgendwann einmal neben dem Müllschlucker gesessen und ein düsteres Gespräch mit einer weißen Eule geführt hatte.
Der Wilde ging Jegor töten. Genau, wie ich vermutet hatte. Genau, wie Sebulon es geplant hatte. Die Falle stand vor mir, die straff gespannte Feder zog sich langsam zusammen. Noch ein Schritt, und die Tagwache könnte sich über eine erfolgreich abgeschlossene Operation freuen.
Wo steckst du, Sebulon?
Das Zwielicht gab mir Zeit. Der Wilde ging weiter und weiter auf das Haus zu, setzte bedächtig einen Fuß vor den anderen, während ich Ausschau hielt, die Umgebung nach dem Dunkel absuchte. Wenigstens eine Spur davon, wenigstens den Atem, einen Schatten…
Die Konzentration von Magie um mich herum war beachtlich. Hier liefen die Realitätsfäden zusammen, die in die Zukunft führten. Eine Kreuzung von hundert Wegen, ein Punkt, an dem die Welt entscheidet, welche Richtung sie einschlagen würde. Unabhängig von mir, dem Wilden oder dem Jungen. Wir alle sind bloß ein Teil der Falle. Statisten. Einer musste sagen:»Es ist angerichtet!«, ein anderer den Sturz vorspielen, ein dritter mit stolz erhobenem Kopf das Schafott besteigen. Zum zweiten Mal wurde dieser Punkt Moskaus zur Arena einer unsichtbaren Schlacht. Doch ich sah keine Anderen, weder Lichte noch Dunkle. Nur den Wilden, der aber selbst jetzt nicht als Anderer zu erkennen war, funkelte doch lediglich auf seiner Brust ein Klumpen Kraft. Zuerst hielt ich es für sein Herz. Dann begriff ich, dass es sich um die Waffe handelte, jene Waffe, mit der er die Dunklen ermordete.
Was soll das, Sebulon? Empörung packte mich, blödsinnige Empörung. Ich bin gekommen! Bin in deine Falle getappt, schau doch, der Fuß schwebt schon darüber. Jetzt nimmt alles seinen Lauf. Wo bist du?
Entweder vermochte sich der Dunkle Magier so geschickt zu verstecken, dass es über meine Kräfte ging, ihn zu entdecken, oder hier war überhaupt niemand!
Ich hatte verloren. Verloren noch vor dem Abpfiff, weil ich den Plan des Gegners nicht durchschauen konnte. Das Ganze war doch ein Hinterhalt, die Dunklen mussten den Wilden doch umbringen, sobald er
Jegor ermordet hatte.
Wie würde er das tun?
Immerhin war ich auch noch da. Würde ihm alles erklären, ihm von den Wachen berichten, die einander beobachten, von dem Vertrag, der uns zwingt, Neutralität zu wahren, von den Menschen und den Anderen, von der Welt und dem Zwielicht. Würde ihm alles erzählen, was ich Swetlana gesagt hatte, und er würde es verstehen.
Oder?
Wenn er doch das Licht nicht sieht!
Die Welt ist für ihn eine graue hirnlose Schafsherde. Die Dunklen sind die Wölfe, die um sie herumstreichen und sich die fettesten Lämmer schnappen. Und er selbst ist der Wachhund. Nicht in der Lage, die Schäfer zu sehen, blind vor Angst und Wut, stürzt er sich bald hierhin, bald dorthin, kämpft allein gegen alle.
Er wird mir nicht glauben, sich nicht erlauben, mir zu glauben.
Ich raste auf den Wilden zu. Die Haustür stand offen, der Wilde sprach bereits mit Jegor. Warum geht dieser dumme Bengel so spät abends noch weg, mitten in der Nacht, wo er doch nur zu gut weiß, welche Kräfte unsere Welt beherrschen? Ob der Wilde seine Opfer anlocken kann?
Reden würde nichts bringen. Ich musste aus dem Zwielicht angreifen. Ihn überwältigen. Und ihm erst dann alles erklären!
Das Zwielicht winselte mit tausend verletzten Stimmen auf, als ich im Lauf gegen die unsichtbare Barriere prallte. Drei Schritte von dem Wilden entfernt, der die Hand bereits zum Schlag erhoben hatte, prallte ich
gegen eine durchsichtige Wand, glitt an ihr herunter, rutschte langsam zu Boden. Schüttelte den dröhnenden Kopf.
Schlecht. Verdammt schlecht sogar! Er versteht das Wesen der Kraft nicht. Ist ein Autodidakt, ein Psychopath im Dienste des Guten. Doch wenn er zur Sache geht, schützt er sich mit einer magischen Barriere. Unbewusst, aber das macht es mir nicht leichter.
Der Wilde sagte etwas zu Jegor. Und zog seine Hand aus dem Jackett hervor.
Ein Holzdolch. Irgendwas hatte ich über diese Form der Magie gehört, die gleichzeitig naiv und mächtig ist, doch jetzt blieb mir nicht die Zeit, darüber nachzugrübeln.
Ich schlich aus meinem Schatten heraus, trat in die Menschenwelt und sprang den Wilden von hinten an.
Maxim ging in dem Augenblick zu Boden, als er den Dolch hob. Die Welt um ihn herum hatte sich bereits grau eingefärbt, die Bewegungen des Jungen sich verlangsamt, Maxim hatte gesehen, wie der Dunkle die Wimpern ein letztes Mal niederschlug, bevor er die Augen im Schmerz weit aufreißen würde. Die Nacht war der Zwielicht-Bühne gewichen, auf der er gewöhnlich zu Gericht saß und das Urteil sprach, dessen Vollstreckung nichts verhindern konnte.
Jetzt hatte man ihn aufgehalten. Ihn niedergeschlagen und auf den Asphalt geschleudert. Im letzten Moment hatte Maxim sich mit der Hand abfangen, abrollen und aufspringen können.
Auf der Bühne war ein dritter Akteur erschienen. Wie hatte Maxim ihn nicht bemerken können? Wie hatte der sich anschleichen können, während Maxim bei seiner wichtigen Arbeit gegen Zeugen und Einmischungen immer durch die Lichteste Kraft der Welt abgeschottet war, die Kraft, die ihn in den Kampf führte?
Der Mann war jung, vielleicht etwas jünger als Maxim. Trug Jeans, ein Sweatshirt und eine Tasche über der Schulter, die er jetzt achtlos zu Boden fallen ließ, indem er die Schulter rollte. Und hielt eine Pistole in der Hand!
Wie unschön.
»Halt«, sagte der Mann, als wolle Maxim fliehen.»Hör mir zu.«
War das ein zufälliger Passant, der ihn für einen dummen Verrückten hielt? Doch wozu die Pistole? Woher die Geschicklichkeit, mit der er sich unbemerkt herangeschlichen hatte? Ob der bei irgendeiner Spezialeinheit arbeitete und nur gerade keine Uniform trug? Doch so einer hätte sofort geschossen oder zugeschlagen, ihm aber nicht die Möglichkeit gegeben aufzustehen.
Maxim sah den Unbekannten an. Ein fürchterlicher Verdacht ließ ihn erstarren. Was, wenn das ein weiterer Dunkler war? Noch nie hatte er mit zweien gleichzeitig fertig werden müssen.
Bloß, dass an ihm nichts Dunkles war. Nichts, überhaupt nichts, nicht die geringste Spur!
»Wer bist du?«, fragte Maxim, wobei er den Jungen fast vergaß. Der trat langsam an seinen unverhofft aufgetauchten Retter heran.
»Ein Wächter. Anton Gorodezki, Nachtwache. Hör mir zu.«
Mit der freien Hand packte Anton den Jungen und schob ihn hinter seinen Rücken. Ein deutlicher Hinweis.
»Nachtwache?«Maxim versuchte immer noch, in dem Unbekannten den Atem des Dunkels auszumachen. Doch er entdeckte nichts - was ihn noch stärker erschreckte.»Bist du vom Dunkel?«
Er verstand nichts. Versuchte mich zu sondieren: Ich spürte, wie er mich absuchte, auf grausame, kompromisslose und zugleich ungeschickte Weise absuchte. Mir war unklar, ob ich mich überhaupt hätte verschließen können.
In diesem Menschen oder Anderen - hier waren beide Begriffe angemessen - manifestierte sich irgendeine urwüchsige Kraft, ein wahnsinniger fanatischer Drang. Ich machte nicht einmal den Versuch, mich abzuschirmen.
»Nachtwache? Bist du vom Dunkel?«
»Nein. Wie heißt du?«
»Maxim.«Der Wilde kam langsam näher. Schaute mich an, als spüre er, dass wir uns schon einmal begegnet waren, nur dass ich damals anders aussah.»Wer bist du?«
»Ein Mitarbeiter der Nachtwache. Ich werde dir alles erklären, hör mir zu. Du bist ein Lichter Magier.«
Maxims Gesicht krampfte sich zusammen, versteinerte.
»Du bringst Dunkle um. Das weiß ich. Heute Morgen hast du eine Tierfrau ermordet. Abends einen Dunklen Magier im Restaurant.«
»Du auch?«
Vielleicht kam es mir nur so vor. Vielleicht schwang in seiner Stimme aber tatsächlich Hoffnung mit. Demonstrativ steckte ich die Pistole weg.
»Ich bin ein Lichter Magier. Wenn auch kein sehr starker. Einer von Hunderten, die es in Moskau gibt. Wir sind viele, Maxim.«
Als sich daraufhin seine Augen weiteten, wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg war. Er war kein Verrückter, der sich für Superman hält und auf seine Taten auch noch stolz ist. Wahrscheinlich hatte er sich in seinem Leben nichts so sehnlich gewünscht, wie einen Waffenbruder zu treffen.
»Maxim, wir haben dich nicht rechtzeitig bemerkt«, fuhr ich fort. Ob sich doch noch alles friedlich regeln ließ, ohne Blutvergießen, ohne einen sinnlosen Kampf von zwei weißen Magiern?»Das ist unsere Schuld. Du hast angefangen, allein zu kämpfen, hast einfach drauflosgedroschen. Doch noch lässt sich alles wieder gutmachen, Maxim. Schließlich hast du nichts vom Großen Vertrag gewusst, oder?«
Er hörte mir nicht zu, ein unbekannter Vertrag interessierte ihn nicht im Geringsten. Nur dass er nicht mehr allein dastand, zählte für ihn.
»Kämpft ihr gegen das Dunkel?«
»Ja.«
»Seid ihr viele?«
»Ja.«
Abermals sah Maxim mich an und erneut blitzte in seinen Augen der durchdringende Atem des Zwielichts auf. Er versuchte, die Lüge zu erkennen, das Dunkel auszumachen, das Böse und den Hass zu orten - all das, was er zu sehen vermochte.
»Du bist kein Dunkler«, sagte er fast mitfühlend.»Das sehe ich. Ich irre mich nicht, niemals!«
»Ich bin ein Wächter«, wiederholte ich. Ich sah mich um - niemand. Irgendetwas hatte die Menschen verschreckt. Vermutlich gehörte auch das zu den Fähigkeiten des Wilden.
»Dieser Junge…«
»Ist auch ein Anderer«, warf ich schnell ein.»Er hat sich noch nicht entschieden, ob er ein Lichter oder…«
Maxim schüttelte den Kopf.»Er ist ein Dunkler.«
Ich sah Jegor an. Langsam hob der Junge den Blick.
»Nein«, sagte ich.
Die Aura war klar zu erkennen, ein leuchtender reiner Regenbogen, schillernd, eine Aura, wie sie normalerweise nur kleine Kinder haben, nicht aber Jugendliche. Das eigene Schicksal, eine unbesiegelte Zukunft.
»Ein Dunkler.«Maxim schüttelte den Kopf.»Siehst du das denn nicht? Ich irre mich nie, niemals. Du hast mich daran gehindert, diesen Sendboten des Dunkels zu vernichten.«
Vermutlich log er nicht. Er konnte nur wenig, das aber gut. Maxim konnte das Dunkel sehen, noch die kleinsten Flecken in anderen Seelen ausmachen. Mehr noch, gerade dieses entstehende Dunkel sah er besonders gut.
»Wir bringen nicht einfach alle Dunklen um.«
»Warum nicht?«
»Wir haben Waffenruhe geschlossen, Maxim.«
»Wie kann man mit dem Dunkel Waffenruhe schließen?«
Ein Frösteln durchfuhr mich: In seiner Stimme lag nicht der geringste Zweifel.
»Jeder Krieg ist schlechter als der Friede.«
»Dieser nicht.«Maxim hob die Hand mit dem Dolch.»Siehst du den? Das ist ein Geschenk meines Freundes. Er ist gestorben, und daran sind vielleicht solche wie dieser Junge schuld. Das Dunkel ist heimtückisch!«
»Sagst du das mir?«
»Natürlich. Vielleicht bist du ja auch ein Lichter.«Sein Gesicht verzog sich zu einem bitteren Grinsen.»Nur ist euer Licht dann schon seit langem trübe geworden. Man darf dem Bösen nicht vergeben. Mit dem Dunkel keine Waffenruhe schließen.«
»Man darf dem Bösen nicht vergeben?«Jetzt war auch ich erbost. Und wie.»Als du den Dunklen Magier auf der Toilette erschlagen hast, warum bist du da nicht noch zehn Minuten geblieben? Warum hast du dir nicht angesehen, wie die Kinder schreien, wie seine Frau weint? Sie sind keine Dunklen, Maxim! Sondern ganz gewöhnliche Menschen, die nicht unsere Kräfte haben! Du hast die junge Frau vor den Kugeln gerettet…«
Er erschauerte, doch sein Gesicht wirkte nach wie vor wie gemeißelt.
»Das war großartig! Aber dass sie deinetwegen, wegen deiner Verbrechen umgebracht werden sollte - das wusstest du nicht!«
»Das ist der Krieg!«
»Den du angefangen hast«, zischte ich.»Du bist ja selbst noch ein Kind, mit deinem Spielzeugdolch. Wo gehobelt wird, da fallen Späne, ja? Im großen Kampf für das Licht ist alles erlaubt?«
»Ich kämpfe nicht für das Licht.«Er hatte ebenfalls die Stimme gesenkt.»Nicht für das Licht, sondern gegen das Dunkel. Das ist alles, was ich kann. Verstehst du? Glaub ja nicht, mich würden die Späne nicht interessieren. Ich habe nicht um diese Kraft gebeten, nicht davon geträumt. Doch da ich sie nun einmal habe, muss ich sie auch nutzen.«
Wer hatte ihn bloß übersehen?
Warum hatten wir Maxim nicht in dem Moment aufgespürt, als er zum Anderen wurde?
Er hätte einen vorzüglichen Fahnder abgegeben. Nach langen Streitigkeiten und Erklärungen. Nach Monaten der Ausbildung, Jahren der Praxis, nach Misserfolgen, Fehlern, Besäufnissen und Selbstmordversuchen. Am Ende, wenn er die Regeln der Konfrontation nicht mit dem Herzen - denn das ist ihm nicht gegeben -, sondern mit seinem kalten, kompromisslosen Verstand akzeptiert hätte. Die Gesetze, nach denen das Licht und das Dunkel ihren Krieg austragen, die Gesetze, nach denen wir uns von einem Tiermenschen abwenden müssen, der ein Opfer verfolgt, und die eigenen Leute töten müssen, wenn sie sich nicht abwenden.
Jetzt stand er vor mir. Der Lichte Magier, der innerhalb einiger Jahre mehr Dunkle zur Strecke gebracht hatte als ein Fahnder in hundert Dienstjahren. Ein einsames, zu Tode gehetztes Tier. Das zu hassen vermag, aber nicht zu lieben.
Ich drehte mich um und packte Jegor bei den Schultern, der nach wie vor bloß dastand, ruhig, ohne sich zu rühren, und angespannt unserm Streit zuhörte. Zog ihn vor mich.
»Er ist also ein Dunkler Magier?«, fragte ich.»Vermutlich. Ich fürchte, du hast Recht. Noch ein paar Jahre, und dieser Junge realisiert seine Möglichkeiten. Wird durchs Leben gehen, während sich das Dunkel um ihn herum in Bewegung setzt. Mit jedem Schritt wird sein Leben leichter und leichter. Für jeden Schritt zahlt ein anderer mit seinen Schmerzen. Erinnerst du dich noch an das Märchen von der Meerjungfrau? Die Meerhexe hat ihr Beine gegeben, sodass sie gehen konnte, aber in ihre Füße schienen sich glühende Messer zu bohren. So ist es auch mit uns, Maxim! Wir gehen ständig über Messer, ohne uns daran zu gewöhnen. Nur dass Andersen nicht alles erzählt hat. Die Meerhexe hätte nämlich auch eine andere Möglichkeit gehabt. Die Meerjungfrau hätte laufen können, während die Messer jemand anderen gequält hätten. Das ist der Weg des Dunkels.«
»Meinen Schmerz ertrage ich selbst«, sagte Maxim. Und erneut keimte eine wahnsinnige Hoffnung in mir auf, er könne das alles doch verstehen.»Aber das darf nichts ändern.«
»Bist du bereit, ihn zu töten?«Ich nickte mit dem Kopf in Jegors Richtung.»Maxim, bist du das? Ich bin ein Mitarbeiter der Wache, ich kenne die Grenze zwischen Gut und Böse. Selbst wenn du Dunkle umbringst, kannst du etwas Böses anrichten. Also, bist du bereit, ihn umzubringen?«
Er zögerte nicht. Nickte. Sah mir voller Sanftmut und Freude in die Augen.»Ja. Ich bin bereit, denn ich weiche nie vor den Ausgeburten des Dunkels zurück. Auch diesmal nicht.«
Die unsichtbare Falle war zugeschnappt.
Ich hätte mich nicht gewundert, wenn Sebulon plötzlich neben uns gestanden hätte. Aus dem Zwielicht aufgetaucht und Maxim lobend auf die Schultern geschlagen hätte. Oder mir amüsiert zugelächelt.
Doch im nächsten Moment begriff ich, dass Sebulon nicht kommen würde. Niemals.
Die aufgestellte Falle musste nicht beobachtet werden. Die funktionierte auch so. Ich war hineingetappt, und jeder Mitarbeiter der Tagwache hatte für diesen Moment ein wasserdichtes Alibi.
Entweder erlaubte ich Maxim, den Jungen umzubringen, der ein Dunkler Magier werden würde. Dann würde ich zu seinem Komplizen - mit allen daraus resultierenden Folgen.
Oder ich ließ mich auf einen Kampf ein. Vernichtete den Wilden, letzten Endes ließen sich unsere Kräfte doch nicht vergleichen. Liquidierte eigenhändig meinen einzigen Zeugen und - als sei das nicht genug - brächte einen Lichten Magier um.
Denn Maxim würde nicht nachgeben. Das war sein Krieg, sein kleines Golgatha, seit ein paar Jahren schon schleppte er sich diesen Hügel hinauf. Für ihn gab es nur Sieg oder Tod.
Und warum sollte Sebulon selbst in den Kampf eingreifen?
Er hatte alles richtig gemacht. Die Reihen der Dunklen vom Ballast befreit, mich kompromittiert, mir Angst eingejagt, sogar etwas Dramatik ins Spiel gebracht, als er an mir vorbeischoss. Hatte mich dem Wilden in die Arme getrieben. Jetzt war Sebulon weit weg. Vielleicht noch nicht einmal in Moskau. Möglicherweise beobachtete er die Ereignisse: Es gibt genug
technische und magische Mittel, die das ermöglichen. Beobachtete und feixte sich eins.
Ich war reingefallen.
Was auch immer ich jetzt tat, ich würde im Zwielicht enden.
Das Böse ist nicht darauf angewiesen, das Gute eigenhändig zu vernichten. Wie viel leichter ist es, wenn man den Guten erlaubt, aufeinander loszugehen.
Die einzige Chance, die mir noch blieb, war verschwindend klein und ungeheuerlich gemein.
Würde nicht klappen.
Ich musste Maxim gestatten, den Jungen umzubringen, nun ja, nicht gestatten, sondern einfach nicht eingreifen. Danach würde er sich beruhigen. Würde mit mir zum Stab der Nachtwache gehen, sich alles anhören, streiten und verstummen, bezwungen von den knallharten Argumenten und der erbarmungslosen Logik des Chefs, würde verstehen, was er angerichtet, wie sehr er das brüchige Gleichgewicht verletzt hatte. Würde sich selbst dem Tribunal stellen, wo für ihn eine winzige, aber unbestreitbare Chance bestand, rehabilitiert zu werden.
Schließlich bin ich kein Fahnder. Ich habe getan, was in meiner Macht stand. Sogar das Spiel des Dunkels durchschaut, die Kombination, die sich jemand ausgedacht hatte, der bedeutend klüger ist als ich. Es mangelte mir einfach an Kraft, Zeit und Reaktionsvermögen.
Maxim schwang die Hand mit dem Dolch.
Die Zeit dehnte sich plötzlich, zog sich so in die Länge, als sei ich ins Zwielicht eingetreten. Nur dass die Farben nicht verblassten, sondern sogar aufleuchteten, und auch ich mich in diesem trägen breiigen Strom bewegte. Der Holzdolch sauste auf Jegors Brust zu, veränderte sich, glitzerte bald metallisch auf, hüllte sich bald in eine graue Flamme ein; in Maxims Gesicht spiegelte sich Konzentration, nur die in die Lippe gerammten Zähne zeugten von seiner Anspannung, während der Junge nichts begriff und noch nicht einmal versuchte fortzulaufen.
Als ich Jegor zur Seite schubste, wollten meine Muskeln mir nicht gehorchen, wollten keine so törichte und selbstmörderische Bewegung machen. Für ihn, den kleinen Dunklen Magier, bedeutete der Stoß des Dolchs den Tod. Für mich Leben. So war es immer, so würde es immer sein.
Was für einen Dunklen Leben bedeutet, ist für einen Lichten der Tod und umgekehrt. Das würde ich nicht ändern.
Geschafft!
Jegor fiel, stieß mit dem Kopf an die Haustür, sackte langsam zu Boden - ich hatte ihn zu stark gestoßen, hatte nur an seine Rettung gedacht, mich nicht um Verletzungen geschert.
In Maxims Augen funkelte der Ausdruck eines beleidigten Kindes auf.»Er ist ein Feind!«, brachte er dennoch hervor.
»Er hat nichts verbrochen!«
»Du verteidigst das Dunkel!«
Maxim stritt nicht darüber, ob ich ein Dunkler oder ein Lichter war. Das konnte er immerhin sehen.
Nur dass er weißer als weiß war. Er hatte nie die Alternative gesehen - ob ein Dunkler leben oder sterben sollte.
Der Dolch zielte jetzt nicht mehr auf den Jungen, sondern auf mich. Ich duckte mich, erblickte meinen Schatten und streckte mich, worauf dieser gehorsam auf mich zusprang.
Die Welt färbte sich grau ein, die Geräusche verstummten, die Bewegungen verlangsamten sich. Jegor, der sich eben noch gewälzt hatte, lag nun völlig reglos da, die Autos krochen unsicher über die Straße, die Räder drehten sich stoßweise, die Äste der Bäume hatten den Wind vergessen. Nur Maxim verlangsamte sich nicht.
Er kam mir nach, ohne es selbst zu wissen. Glitt mit derselben Unbedarftheit ins Zwielicht, mit der ein Mensch vom Gehsteig auf die Straße tritt. Ihm war jetzt alles egal: Er schöpfte Kraft aus seiner Überzeugung, seinem Hass, diesem lichten, ja helllichten Hass, aus der Wut des weißen Lichts. Er war nicht einmal ein Henker der Dunklen. Sondern ein Inquisitor. Weitaus schrecklicher als unsere gesamte Inquisition.
Ich riss die Hände hoch, spreizte die Finger im Zeichen der Kraft, dem einfachen und doch so effektiven - von den jungen Anderen beim ersten Mal stets verlachten -»Fingerfächer«. Maxim hielt nicht inne - schwankte nur ganz leicht, senkte dann aber stur den Kopf und kam weiter auf mich zu. Während ich zu begreifen begann, trat ich zurück und versuchte fieberhaft, mich an das magische Repertoire zu erinnern.
Agape - das Zeichen der Liebe; doch an die Liebe glaubt er nicht.
Der Dreifachschlüssel - bringt Glaube und Verständnis hervor; aber er glaubt mir nicht.
Opium - das fliederfarbene Symbol, der Traumpfad; schon spürte ich, wie meine eigenen Lider schwer wurden.
So also besiegt er die Dunklen. Sein rasender Glaube, verwoben in seinen verborgenen Fähigkeiten als Anderer, dient gleichsam als Spiegel. Wirft den erlittenen Schlag zurück. Bringt ihn auf das Niveau des Gegners. Zusammen mit der Fähigkeit, das Dunkel zu sehen, und dem idiotischen magischen Dolch macht ihn das beinah unverletzlich.
Nein, alles vermag er freilich nicht widerzuspiegeln. Die Schläge werden nicht sofort zurückgeworfen. Das Zeichen des Thanatos oder das weiße Schwert dürften funktionieren.
Nur dass ich mich auch umbringen würde, wenn ich ihn tötete. Den einzigen Weg einschlüge, der uns allen bevorsteht: ins Zwielicht. In die trüben Träume, das farblose Blendwerk, die ewige dunstige Kälte. Meine Kräfte reichten nicht aus, um in ihm einen Feind zu sehen - zu dem er mich ja ohne zu zögern erklärt hatte.
Wir umkreisten einander, mitunter machte Maxim einen Ausfall, jedoch ungeschickt, denn er hatte nie richtig gekämpft, war es gewohnt, seine Opfer schnell und einfach umzubringen. Und irgendwo aus weiter Ferne hörte ich Sebulons höhnisches Lachen.
»Du wolltest ein Spiel gegen das Dunkel wagen?«, sagte er mit weicher, einschmeichelnder Stimme.»Nur zu. Du hast alles, was du brauchst. Feinde, Freunde, Liebe und Hass. Wähl deine Waffe. Welche du willst. Den Ausgang kennst du ohnehin schon. Jetzt kennst du ihn.«
Vielleicht hatte ich mir diese Stimme nur eingebildet.
Vielleicht erklang sie aber auch wirklich.
»Du bringst dich um!«, schrie ich. Das Halfter schlug gegen meinen Körper, als verlange es, dass ich die Pistole herausnahm und einen Schwarm kleiner silberner Wespen auf Maxim losließ. Genauso leicht, wie ich es vorhin bei meinem Namensvetter getan hatte.
Er hörte mich nicht - das war ihm nicht gegeben.
Sweta, du wolltest unbedingt wissen, wo die Hürden für uns aufgestellt sind, wo die Grenze ist, an der wir in unserem Kampf gegen das Dunkel innehalten müssen. Warum bist du jetzt nicht hier? Dann würdest du es sehen und verstehen.
Es war überhaupt niemand hier, weder Dunkle, um sich aus vollem Herzen an diesem Duell zu ergötzen, noch Lichte, um zu helfen, sich auf Maxim zu stürzen, ihn zu fesseln, unseren tödlichen Zwielicht-Tanz zu beenden. Nur der ungelenk aufstehende Junge, der zukünftige Dunkle Magier, und der unerbittliche Henker mit den gemeißelten Gesichtszügen, jener ungeru-fene Paladin des Lichts. Der nicht weniger Böses angerichtet hatte als ein Dutzend Tiermenschen oder Vampire.
Ich raffte den kalten Nebel zusammen, der mir durch die Finger strömte. Erlaubte ihm, an meinen Fingern zu saugen. Und schickte ein wenig mehr Kraft in die rechte Hand.
Ein weißer Feuerkeil erwuchs aus meinem Handteller. Das Zwielicht fauchte, flammte auf. Ich zog das weiße Schwert, eine einfache und effektive Waffe. Maxim erstarrte.
»Das Gute, das Böse.«Ein neues, schiefes Grinsen zeichnete sich auf meinem Gesicht ab.»Komm zu mir. Komm her, und ich töte dich. Selbst wenn du hundertmal ein Lichter bist, darum geht es gar nicht.«
Bei jedem anderen hätte das gewirkt. Bestimmt. Man muss sich das vorstellen: zum ersten Mal zu sehen, wie aus dem Nichts eine Feuerklinge auftaucht. Aber Maxim kam weiter auf mich zu.
Überwand die fünf Schritte, die uns trennten. Gelassen, mit glatter Stirn, ohne auf das weiße Schwert zu achten. Während ich dastand und immer wieder in Gedanken wiederholte, was sich so leicht und überzeugend laut sagte.
Dann drang der Holzdolch zwischen meine Rippen ein.
In weiter Ferne brach Sebulon, das Oberhaupt der Tagwache, in seiner Höhle in schallendes Gelächter aus.
Ich fiel erst auf die Knie, dann auf den Rücken. Presste die Hand auf die Brust. Es schmerzte, bislang schmerzte es nur. Das Zwielicht winselte empört auf, als es das lebende Blut spürte, und wich auseinander.
Wie beschämend!
Oder war das mein einziger Ausweg? Zu sterben?
Swetlana würde niemanden retten müssen. Sie könnte ihren Weg gehen, eine langen und ruhmreichen Weg, selbst wenn auch sie eines Tages für immer ins Zwielicht eingehen muss.
Ob du das wusstest, Geser? Vielleicht sogar auf diesen Ausgang gehofft hast?
Die Welt gewann ihre Farben zurück. Die dunklen Farben der Nacht. Das Zwielicht spuckte mich widerwillig aus, verschmähte mich. Halb liegend, halb sit-
zend hielt ich meine blutende Wunde.
»Warum bist du noch am Leben?«, fragte Maxim.
Erneut lag in seiner Stimme ein beleidigter Unterton, es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte einen Schmollmund gemacht. Am liebsten hätte ich gelacht, doch meine Schmerzen ließen das nicht zu. Er sah auf den Dolch und hob ihn voller Unsicherheit erneut. Im nächsten Moment stand Jegor neben mir. Schirmte mich vor Maxim ab. Diesmal hinderte mich der Schmerz nicht daran zu lachen.
Der zukünftige Dunkle Magier rettete den einen Lichten vor dem anderen!
»Ich lebe, weil deine Waffe nur für Dunkle gedacht ist«, erklärte ich. In meiner Brust gluckerte es verdächtig. Der Dolch war nicht bis zum Herz gedrungen, hatte aber die Lunge aufgerissen.»Ich weiß nicht, wer ihn dir gegeben hat. Doch das ist eine Waffe gegen das Dunkel. Gegen mich ist es nicht mehr als ein Span, der aber auch wehtut.«
»Du bist ein Lichter«, sagte Maxim.
»Ja.«
»Er ist ein Dunkler.«Der Dolch richtete sich langsam auf Jegor.
Ich nickte. Versuchte, den Jungen wegzuziehen; der schüttelte hartnäckig den Kopf und blieb stehen.
»Warum?«, fragte Maxim.»Warum nur? Du bist ein Lichter, er ist ein Dunkler…«
Zum ersten Mal in der ganzen Zeit lächelte er, wenn auch nicht fröhlich.
»Und wer bin dann ich? Kannst du mir das sagen?«
»Ich vermute, ein zukünftiger Inquisitor«, erklang es hinter mir.»Ich bin mir dessen fast sicher. Ein begabter, unbarmherziger, unbestechlicher Inquisitor.«
Ich schielte zu der Stimme hin.»Guten Abend, Ge-ser«, sagte ich.
Der Chef nickte mir mitfühlend zu. Swetlana stand hinter ihm, ihr Gesicht war kreideweiß.
»Hältst du noch fünf Minuten durch?«, fragte der Chef.»Dann schau ich mir deinen Kratzer mal an.«
»Natürlich halt ich noch durch«, versicherte ich.
Maxim sah den Chef mit starrem, halb wahnsinnigem Blick an.
»Ich glaube, du brauchst keine Angst zu haben«, wandte sich der Chef an ihn.»Sicher, ein gewöhnlicher Wilderer würde vom Tribunal hingerichtet. An deinen Händen klebt zu viel Dunkles Blut, und das Tribunal ist verpflichtet, das Gleichgewicht zu wahren. Doch du bist herausragend, Maxim. Auf jemanden wie dich verzichtet man nicht einfach. Du wirst dich über uns erheben, über Licht und Dunkel, und es spielt nicht einmal eine Rolle, von welcher Seite du kommst. Du darfst dir nur nichts vormachen - das ist keine Macht. Das ist Zwangsarbeit. Wirf den Dolch weg!«
Maxim schleuderte den Dolch zu Boden, als habe er sich die Finger daran verbrannt. Das vollbringt ein echter Magier. Für mich ist das eine Nummer zu groß.
»Swetlana, du hast es überstanden.«Der Chef sah die junge Frau an.»Was gibt das? Dritte Stufe in Selbstkontrolle und Beherrschung. Ohne jeden Zweifel.«
Ich stützte mich auf Jegor und versuchte aufzustehen. Wollte dem Chef unbedingt die Hand schütteln. Erneut hatte er sein eigenes Spiel gespielt. Hatte alle
benutzt, die ihm zur Verfügung standen. Hatte Sebu-lon geschlagen. Nur schade, dass der nicht hier war! Wie gern hätte ich sein Gesicht gesehen, das Gesicht jenes Dämons, der meinen ersten Frühlingstag in einen endlosen Albtraum verwandelt hatte.
»Aber…«Maxim wollte etwas sagen, verstummte jedoch. Auch auf ihn war zu viel eingestürzt. Seine Gefühle konnte ich nur zu gut verstehen.
»Ich war mir sicher, Anton, absolut sicher, dass ihr beide, du und Swetlana, mit dieser Sache fertig werden würdet«, meinte der Chef sanft.»Das Schrecklichste für eine Zauberin mit ihrer Kraft ist es, die Selbstkontrolle zu verlieren. Die Kriterien im Kampf gegen das Dunkel zu verlieren, überstürzt zu handeln oder - im Gegenteil - zu zaudern. Diese Phase in der Ausbildung sollte man auf gar keinen Fall auf die lange Bank schieben.«
Swetlana machte endlich einen Schritt auf mich zu. Behutsam hakte sie sich bei mir unter. Sah Geser an - und für einen Augenblick verzerrte Zorn ihre Miene.
»Nicht doch«, sagte ich.»Nicht doch, Sweta. Er hat ja Recht. Mir ist es erst heute klar geworden, zum ersten Mal. Wo die Grenze in unserem Kampf verläuft. Sei nicht wütend. Und das…«Ich nahm die Hand von der Brust.»… ist nur ein Kratzer. Wir sind keine Menschen, wir sind weitaus robuster.«
»Danke, Anton«, sagte der Chef. Dann richtete er den Blick auf Jegor.»Und auch dir, mein Junge. Vielen Dank. Wirklich schade, dass du auf der anderen Seite der Barrikade stehen wirst. Dennoch war ich mir sicher, dass du trotzdem für Anton eintrittst.«
Der Junge wollte einen Schritt auf den Chef zumachen, doch ich packte ihn bei der Schulter. Das fehlte noch, dass er jetzt etwas Unüberlegtes sagte. Noch verstand er nicht, wie kompliziert dieses Spiel war! Verstand nicht, dass alles, was Geser getan hatte, lediglich der Gegenzug war.
»Eins bedaure ich, Geser«, bemerkte ich.»Nur eine Sache. Dass Sebulon nicht hier ist. Dass ich sein Gesicht nicht gesehen habe, als sein ganzes Spiel zusammengebrochen ist.«
Der Chef antwortete nicht gleich.
Vielleicht, weil ihm die Worte schwer über die Lippen kamen. So, wie ich sie ja auch nicht gern hören wollte.
»Sebulon hat damit nichts zu tun, Anton. Du musst schon entschuldigen. Aber er hat damit wirklich nichts zu tun. Die ganze Operation geht auf das Konto der Nachtwache.«
Dritte Geschichte Im eigenen Saft
Prolog
Der Mann war klein, dunkelhäutig und hatte Schlitzaugen. Eine begehrte Beute für jeden Milizionär in Moskau. Ein schuldbewusstes, verwirrtes Lächeln. Ein naiver, ausweichender Blick. Trotz der sengenden Hitze trug er einen altmodischen dunklen Anzug, der jedoch fast neu wirkte. Die Krönung bildete eine Krawatte noch aus Sowjetzeiten. In der einen Hand hielt er eine riesige, abgeschabte Aktentasche, mit der in alten Filmen Agronomen und Vorsitzende von Vorzeigekolchosen ausgestattet werden, in der anderen ein Netz mit einer länglichen Zuckermelone.
Der kleine Mann stieg aus dem Schlafwagen, auf seinen Lippen das unweigerliche Lächeln. Das der Zugbegleiterin galt, den Reisegefährten, einem Kofferträger, der ihn anrempelte, einem jungen Burschen, der an einem Stand Limonade und Zigaretten verkaufte. Der kleine Mann hob den Blick und sah voller Begeisterung auf das Dach des Kasaner Bahnhofs. Trottete den Bahnsteig entlang und blieb immer wieder stehen, um das Netz mit der Melone bequemer zu packen. Er konnte dreißig Jahre alt sein, aber auch fünfzig. Für einen Europäer ist das schwer auszumachen.
Der junge Mann, der kurz darauf dem Waggon zweiter Klasse desselben Zugs Taschkent-Moskau entstieg - womöglich einer der dreckigsten und ramponiertesten Züge der Welt -, verkörperte das genaue Gegenteil. Auch er ein orientalischer Typ, am ehesten ein Usbeke. Allerdings eher nach Moskauer Art gekleidet: Shorts und ein T-Shirt, eine Sonnenbrille, am Gürtel eine lederne Tasche und ein Handy. Kein Gepäck.
Nicht die Spur von Provinzialität. Er blickte sich nicht um, suchte nicht das verheißungsvolle M. Ein kurzes Nicken zum Zugbegleiter, ein leichtes Kopfschütteln, um die Taxifahrer abzuwimmeln. Ein Schritt, noch einer - und schon war er in der Masse verschwunden, von wuselnden Ankömmlingen verschluckt, das Gesicht leicht in Widerwillen und Abneigung verzogen. Im Handumdrehen ging er als organischer Teil in die Menge ein, der sich nicht mehr ausmachen ließ. Wuchs ihr als neue, gesunde und lebensfähige Zelle zu, die weder bei den als Freßzellen wirkenden Milizionären noch bei den Nachbarzellen Irritation auslöste.
Der kleine Mann mit der Melone und der Aktentasche bahnte sich seinen Weg durch die Masse, unzählige Entschuldigungen in nicht sehr sauberem Russisch murmelnd, zog den Kopf ein und sah sich um. An einer Straßenunterführung lief er vorbei, zuckte mit dem Kopf mal in die eine, mal in die andere Richtung, steuerte dann auf eine andere Unterführung zu, blieb an einer Reklametafel stehen, an der es weniger Gedrängel gab, und zog, seine Sachen umständlich an die Brust pressend, einen zerknitterten Zettel heraus, den er sorgsam studierte. Auf dem Gesicht des Asiaten spiegelte sich nicht der Schatten eines Verdachts wider, dass man ihn verfolgen könnte.
Was den dreien, die an der Mauer des Bahnhofsgebäudes lehnten, nur zupass kam. Eine attraktive, auffällige Frau mit roten Haaren in einem eng anliegenden Seidenkleid, ein angepunkter Typ mit verblüffend gelangweilten und alten Augen, ein älterer Mann mit langem gegelten Haar und dem Gebaren eines Schwulen.
»Eher nicht«, sagte der Punk mit den alten Augen zweifelnd.»Glaub nicht, dass der das ist. Ist zwar schon lange her, dass ich ihn gesehen habe, und das auch nur kurz, aber…«
»Sollen wir etwa bei Dshoru nachfragen?«, fragte die Frau lachend.»Ich seh doch, dass er es ist.«
»Übernimmst du die Verantwortung?«Den Punk irritierte weder ihr Einwand, noch wollte er sich streiten. Sondern nur diese Frage klären.
»Ja.«Die Frau wandte den Blick nicht von dem Asiaten.»Gehen wir. Wir schnappen ihn uns in der Unterführung.«
Mit langsamen synchronen Schritten lösten sie sich von der Mauer. Dann trennten sie sich, die Frau ging weiter geradeaus, die beiden Männer nach links und rechts.
Der kleine Mann faltete den Zettel zusammen und lief unsicher auf die Unterführung zu.
Ein Moskauer oder ein häufiger Gast der Hauptstadt hätte sich über die plötzliche Menschenleere gewundert. Immerhin ist das hier der kürzeste und bequemste Weg von der Metro zum Bahnhof. Aber der kleine Mann achtete nicht darauf. Dass die Menschen hinter ihm stehen blieben, als seien sie gegen ein unsichtbares Hindernis gestoßen, und zu anderen Unterführungen gingen, bemerkte er nicht. Dass auf der anderen Seite der Unterführung im Bahnhof das Gleiche passierte, konnte er nicht sehen.
Ihm kam ein lächelnder Schnösel entgegen. Von hinten holten ihn eine sympathisch wirkende junge Frau und ein schlampig gekleideter Typ mit einem Ohrring und zerschlissenen Jeans ein.
Der Asiat ging weiter.
»Bleib doch stehen, Väterchen«, sagte der Schnösel friedfertig. Seine Stimme passte zu seinem Äußeren, klang zart und manieriert.»Renn doch nicht so.«
Der Asiat deutete lächelnd ein Nicken an, blieb aber nicht stehen.
Der Schnösel fuchtelte mit dem Arm, als zöge er einen Strich zwischen sich und dem kleinen Mann. Die Luft erbebte, der Atem des kalten Winds fegte durch die Unterführung. Irgendwo auf dem Bahnhof weinten Kinder, winselte ein Hund.
Der kleine Mann blieb stehen und blickte nachdenklich nach vorn. Er spitzte die Lippen, pustete und schenkte dem vor ihm stehenden Mann ein schlaues Lächeln. Es klirrte leise, als ginge unsichtbares Glas zu Bruch. Das Gesicht des Schnösels verzerrte sich unter Schmerzen, er wich einen Schritt zurück.
»Bravo, Devona«, sagte die Frau, die hinter dem Asiaten stehen geblieben war.»Aber jetzt solltest du wirklich nichts überstürzen.«
»Ich hab’s eilig, und wie«, haspelte der kleine Mann hervor. Er schielte über die Schulter.»Möchtest du eine Melone, meine Schöne?«
Die Frau lächelte und sah den Asiaten an.»Kommst du mit uns mit, Verehrtester?«, fragte sie.»Wir setzen uns irgendwo gemütlich hin. Essen deine Melone, trinken Tee. Wir haben so lange auf dich gewartet, da ist es nicht lieb, gleich wieder wegzurennen.«
Die Miene des kleinen Mannes spiegelte angespannte Gedankenarbeit wider.»Gehen wir, gehen wir«, nickte er schließlich.
Sein erster Schritt haute den Lackaffen um. Als ob der Asiat einen unsichtbaren Schild vor sich hertrüge, eine Mauer, keine materielle, sondern eher aus tosendem Wind. Der Schnösel wurde über den Boden geschleift, die langen Haare breiteten sich aus, die Augen verengten sich, seiner Kehle entrang sich ein lautloser Schrei.
Der Punk wedelte mit der Hand - und purpurrote Lichtreflexe schlugen auf den kleinen Mann ein. Blendend helle, die sich nur schwer vom Handteller lösten, auf halber Strecke verblassten und den Rücken des Asiaten als kaum noch zu erkennendes Leuchten erreichten.
»Ai-ai-ai«, sagte der kleine Mann, ohne stehen zu bleiben. Er zuckte ein paarmal mit den Schulterblättern, als habe sich eine lästige Fliege auf seinem Rücken niedergelassen.
»Alissa!«, schrie der Punk auf, ohne sein nutzloses Tun aufzugeben. Seine Finger bewegten sich, knüllten die Luft zusammen, entrissen ihr Klumpen des purpurroten Lichts und schleuderten sie gegen den Asiaten.»Alissa!«
Die Frau neigte den Kopf, sah dem fortgehenden Asiaten hinterher. Leise flüsterte sie etwas, während sie mit der Hand über das Kleid fuhr - und in ihrer Hand tauchte wer weiß woher ein dünnes durchscheinendes Prisma auf.
Der kleine Mann beschleunigte den Schritt, hastete von links nach rechts, bog auf komische Weise den Kopf. Der Schnösel vor ihm wälzte sich immer noch, unterließ mittlerweile aber jeden Versuch zu schreien. Sein Gesicht schwamm in Blut, Arme und Beine waren gebrochen und gehorchten nicht, als ob er nicht drei Meter über den glatten Boden gerollt wäre, sondern von einem wahnsinnigen Sturm oder einem galoppierenden Pferd drei Kilometer durch steinige Steppe geschleift worden sei.
Die Frau betrachtete den kleinen Mann durch das Prisma.
Erst verlangsamte der Asiat nur den Schritt. Dann ächzte er auf und spreizte die Hände - die Melone zerbarst auf dem Marmorfußboden, seine Aktentasche schlug dumpf und schwer auf.
»Och«, sagte der Asiat, den die Frau einen Devona genannt hatte.»Och, och.«
Der kleine Mann sank in sich zusammen, begann sich bereits im Moment des Sturzes zu krümmen. Die Wangen fielen ihm ein, die Wangenbeine spitzten sich, die nunmehr greisenhaft dünnen Hände umspannte ein Netz von Adern. Das schwarze Haar bleichte zwar nicht aus, überzog sich aber mit grauem Staub und lichtete sich. Die Luft um ihm herum erbebte - unsichtbare heiße Ströme flossen auf Alissa zu.
»Was ich nicht gegeben habe, wird fortan mein sein«, flüsterte die Frau.»Alles, was dein ist, ist mein.«
Die Röte floss ihr so schnell ins Gesicht, wie der kleine Mann austrocknete. Mit schmatzenden Lippen flüsterte sie tonlose, seltsam klingende Worte. Der Punk verzog das Gesicht, ließ die Hand sinken - der letzte purpurrote Strahl schlug in den Boden ein, brachte den Stein zum Glühen.
»Ziemlich einfach«, sagte er.»Echt.«
»Der Chef war gar nicht zufrieden«, sagte die Frau, während sie das Prisma in den Falten ihres Kleides versteckte. Lächelte. Ihr Gesicht verströmte die Kraft und Energie, die einige Frauen nach stürmischem Geschlechtsverkehr zeigen.»Leicht, aber unser Kolja hat Pech gehabt.«
Der Punk nickte und betrachtete den reglosen Körper des langhaarigen Mannes. Besonderes Mitleid lag nicht in seinem stumpfen Blick, übrigens auch keine besondere Feindseligkeit.
»Kannst du laut sagen«, kommentierte er. Sicheren Schrittes trat er an die vertrocknete Leiche heran. Machte mit der Hand eine Bewegung darüber, worauf der Körper zu Staub zerfiel. Mit der nächsten Geste verwandelte der Punk die zerplatzte Melone in klebrigen Brei.
»Die Aktentasche«, befahl die Frau.»Überprüf die Tasche.«
Der Punk wedelte mit der Hand - das abgegriffene Kunstleder barst, die Aktentasche sprang auf wie eine Muschel unter dem Messer eines kundigen Tauchers. Der Blick des Punks ließ jedoch darauf schließen, dass sie nicht die erhoffte Perle enthielt. Zwei Paar Garnituren verwaschener Unterwäsche, eine billige Trainingshose aus Baumwolle, ein weißes Hemd, eine Polyethy-lentüte mit Gummilatschen, ein Plastikbecher mit koreanischer Fertig-Nudelsuppe und ein Brillenetui.
Der Punk vollführte noch ein paar Passes, ließ den Plastikbecher aufplatzen, die Kleidung an den Nähten zerreißen, das Etui sich öffnen. Fluchte.
»Er ist leer, Alissa! Völlig leer.«
In die Züge der Hexe schlich sich nach und nach Erstaunen.»Aber das ist doch der Devona, Stassik. Der Kurier hätte die Fracht niemandem anvertrauen können.«
»Hat er anscheinend aber doch«, entgegnete der
Punk, während er mit dem Fuß durch die Asche des Asiaten fuhr.»Hab ich dich nicht gewarnt, Alissa? Bei den Lichten muss man mit allem rechnen. Du hast die Verantwortung übernommen. Vielleicht bin ich ja nur ein schwacher Magier. Aber ich habe ein halbes Jahrhundert mehr Erfahrung als du.«
Alissa nickte. Die Verwirrung war bereits aus ihren Augen verschwunden. Ihre Hand huschte abermals über ihr Kleid, suchte das Prisma.»Ja«, stimmte sie sanft zu.»Du hast Recht, Stassik. Aber in fünfzig Jahren habe ich genauso viel Erfahrung wie du.«
Der Punk lachte auf, hockte sich neben die Leiche des langhaarigen Mannes und durchstöberte rasch die Taschen.»Glaubst du?«
»Ich bin mir sicher. Du hättest nicht auf deinem Standpunkt bestehen sollen, Stassik. Schließlich hatte ich vorgeschlagen, auch die anderen Mitreisenden zu kontrollieren.«
Der junge Mann drehte sich zu spät um, als in einem Dutzend unsichtbarer heißer Fäden das Leben aus seinem Körper zu weichen begann.
Eins
Das Oldsmobil war alt, gefiel mir aber gerade deshalb. Nur gegen die Hitze, diese Wahnsinnshitze der Straße, die sich seit Tagen aufgeheizt hatte, halfen selbst die offenen Fenster nichts. Hier brauchte man eine Klimaanlage.
Ilja teilte diese Ansicht offenbar. Er saß am Steuer, lenkte mit einer Hand, sah sich alle naslang um und unterhielt sich mal mit diesem, mal mit jenem. Ein Magier seines Ranges sah natürlich alle Wahrscheinlichkeiten etwa zehn Minuten voraus, weshalb es zu keinem Unfall kommen würde. Dennoch war mir ziemlich mulmig zumute.
»Ich wollte eine Klimaanlage einbauen«, sagte er in schuldbewusstem Ton zu Julja. Das Mädchen litt mehr als alle andern unter der Hitze, auf ihrem Gesicht leuchteten hässliche rote Flecken, ihre Augen blickten trübe. Als müsse sie sich übergeben.»Aber das würde den Wagen total verunstalten. Der ist dafür einfach nicht gemacht! Keine Klimaanlage, keine Handys, keine Bordcomputer!«
»Hmmh«, sagte Julja. Sie rang sich ein Lächeln ab. Gestern hatten wir Überstunden geschoben, niemand war vor fünf Uhr morgens ins Bett gekommen, und geschlafen hatten wir gleich im Büro. Natürlich war es eine Schweinerei, ein dreizehnjähriges Mädchen wie eine Erwachsene zu behandeln. Allerdings wollte sie selbst es so, gezwungen hatte sie niemand.
Swetlana, die vorn saß, blickte Julja besorgt an. Dann schnellte ihr Blick voller Missbilligung zu Semjon hinüber. Fast hätte sich der unerschütterliche Magier daraufhin an seiner Jawa verschluckt. Er inhalierte, und der durch das Auto wallende Zigarettenqualm verschwand in seinen Lungen. Dann schnippte er die Kippe aus dem Fenster. Mit der Jawa zollte er der allgemeinen Meinung im Grunde bereits Tribut, denn seit kurzem bevorzugte er Poljot und andere grauenvolle Tabaksorten.
»Schließt die Fenster«, bat Semjon.
Kurz darauf fiel die Temperatur im Auto deutlich. Ein leichter Geruch nach salzigem Meer hing in der Luft. Ich merkte sogar, dass es ein Meer bei Nacht war und in nicht allzu weiter Ferne lag, ein Ufer irgendwo auf der Krim. Jod, Algen, ein Hauch von Beifuß. Das Schwarze Meer. Koktebel.
»Koktebel?«, fragte ich.
»Jalta«, erwiderte Semjon lakonisch.»10. September 1972, etwa drei Uhr nachts. Nach einem leichten Sturm.«
Ilja schnalzte neidisch mit der Zunge.
»Alle Achtung!«, sagte er.»Und dieses Bouquet hast du bis heute nicht verbraucht?«
Julja blickte Semjon mit schuldbewusster Miene an. Die Klimakonservierung bereitete allen Magiern Schwierigkeiten, und das jetzt von Semjon offerierte Bouquet an Empfindungen hätte jedes gesellige Beisammensein bereichert.
»Vielen Dank, Semjon Pawlowitsch.«Aus irgendeinem Grund schüchterte er das Mädchen genauso ein wie der Chef, weshalb sie ihn immer mit Vor- und Vatersnamen ansprach.
»Nicht der Rede wert«, erwiderte Semjon gelassen.»Ich habe noch einen Taigaregen von 1913 in meiner Sammlung oder einen Taifun von ‘40, einen Frühlingsmorgen in Jurmala von ‘56 und vermutlich auch noch einen Winterabend in Gagry.«
Ilja lachte.»Einen Winterabend in Gagry - vergiss es. Aber der Taigaregen…«
»Den tausch ich nicht«, erteilte Semjon ihm sofort einen Dämpfer.»Ich kenne deine Sammlung, du hast nichts, was sich mit ihm messen könnte.«
»Aber wenn ich dir dafür zwei, nein, drei…«
»Ich schenk ihn dir«, schlug Semjon vor.
»Kommt gar nicht in Frage«, gab sich Ilja gekränkt und zerrte am Lenkrad.»Was sollte ich dir denn dafür zurückschenken?«
»Dann entkonserviere ich ihn.«
»Na, vielen Dank auch.«
Natürlich, er schmollte. Meiner Ansicht nach ließen sich die Fähigkeiten der beiden gut vergleichen, vielleicht war Ilja sogar ein wenig stärker. Dafür besaß Semjon ein Gespür für den Moment, der es wert war, magisch bewahrt zu werden. Außerdem vergeudete er seine Sammlung nicht in banalen Situationen.
Gewiss, unter bestimmten Gesichtspunkten wirkte die gerade von ihm vollbrachte Tat verschwenderisch: die letzte halbe Stunde Fahrt in der Hitze mit einem derart wertvollen Gebinde an Gefühlen erträglicher zu machen.
»Ja, ein Abend, wo man Schaschlik grillt, diesen Nektar müsste man atmen«, sagte Ilja. Mitunter kann er seltsam dickfällig sein. Julja spannte ihre Kräfte an.
»Ich erinner mich noch, wie ich einmal im Orient war«, sagte Semjon plötzlich.»Unser Hubschrauber… Kurz gesagt, wir gingen zu Fuß. Die technischen Kommunikationsmittel hatten den Geist aufgegeben, magische anzuwenden, wäre in etwa so gewesen, als laufe jemand in Harlem mit dem Transparent Schlagt die Nigger! herum. Wir also zu Fuß durch die Wüste von Hadramaut. Bis zu unserm Mann vor Ort war es nicht mehr weit, hundert Kilometer, vielleicht hundertzwanzig. Aber wir waren am Ende unserer Kräfte. Hatten kein Wasser mehr. Plötzlich sagt Aljoschka, ein guter Junge, der jetzt im Baltikum arbeitet: Ich kann einfach nicht mehr, Semjon Pawlowitsch, ich habe eine Frau und zwei Kinder zu Hause, ich will zurück. Dann legt er sich in den Sand und entkonserviert seine geheimen Vorräte. Er hatte einen Platzregen. Etwa zwanzig Minuten kübelt es. Wir haben uns satt getrunken, die Flaschen gefüllt, uns wieder aufgerappelt. Am liebsten hätte ich ihm die Fresse poliert, dass er früher nichts davon gesagt hatte, aber er tat mir Leid.«
Nach dieser langen Rede breitete sich im Wagen minutenlanges Schweigen aus. Selten gab Semjon die Ereignisse seines stürmischen Lebens so beredt wider.
Als Erster sagte Ilja etwas.»Und warum hast du deinen Taigaregen nicht spendiert?«
»Vergleich die beiden doch mal«, schnaubte Semjon.»Mein Regen aus der Kollektion stammt von 1913, der Frühlingsschauer kommt aus Moskau, hat nichts Besonderes an sich und stinkt obendrein nach Benzin. Und?«
»Alles klar.«
»Eben. Alles hat seine Zeit und seinen Ort. Der Abend, an den ich mich erinnert habe, war angenehm. Aber nicht herausragend. Passt zu deinem Klapperkasten.«
Swetlana lachte leise. Die leichte Anspannung, die im Auto gehangen hatte, verflüchtigte sich.
Die ganze Woche war die Nachtwache wie elektrisiert gewesen. Irgendwie passierte in Moskau nichts Besonderes, nur ganz normale Routinearbeit. Über der Stadt lastete eine Hitze, wie es sie noch nie im Juni gegeben hatte, und irgendwelche Zwischenfälle wurden kaum gemeldet. Das schmeckte weder den Lichten noch den Dunklen.
Rund vierundzwanzig Stunden lang hatten unsere Analytiker an einer Version gebastelt, wonach die überraschende Hitze auf die Vorbereitungen einer Aktion zurückgehe, die die Dunklen planten. Vermutlich untersuchte man parallel dazu in der Tagwache, ob die Lichten Magier nicht auf das Wetter eingewirkt hätten. Nachdem jedoch beide Seiten die natürlichen Gründe der klimatischen Eskapaden eingestehen mussten, blieb ihnen überhaupt nichts mehr zu tun.
Die Dunklen verhielten sich so still wie vom Regen geplagte Fliegen. Entgegen allen Vorhersagen der Ärzte sank die Zahl der Unfälle und natürlichen Todesfälle in der Stadt. Den Lichten stand der Sinn ebenfalls nicht nach Arbeit, die Magier stritten sich wegen Kleinigkeiten, auf die simpelsten Dokumente aus den Archiven musste man einen halben Tag warten, und sobald man die Analytiker um eine Wettervorhersage bat, polterten sie böse los:»Reichen euch vierzig Tage?«Boris Ignatjewitsch stromerte wie von Sinnen durchs Büro. Ungeachtet seiner orientalischen Vergangenheit und seiner Herkunft machte selbst ihm die Moskauer Variante der Hitze zu schaffen. Gestern Morgen, am Donnerstag, hatte er dann alle Mitarbeiter zusammengerufen, gemäß einer Anordnung der Wache zwei Freiwillige zu seiner Unterstützung benannt und den anderen befohlen, die Hauptstadt zu verlassen. Sollten sie irgendwohin fahren, auf die Malediven, nach Griechenland, dem Teufel in der Hölle einen Besuch abstatten - selbst da dürfte es angenehmer sein - oder auf eine Datscha außerhalb der Stadt fliehen. Vor Montagmittag wollte er niemanden im Büro sehen.
Der Chef hielt genau eine Minute inne, bis auf allen Gesichtern ein glückliches Lächeln lag, um dann hinzuzufügen, dieses unerwartete Glück müsse gut verdient sein. Durch eine Sonderschicht. Damit wir uns hinterher nicht der müßig verbrachten Tage zu schämen brauchten. Damit es bei den Strugazkis nicht umsonst hieße: Der Montag fängt am Samstag an, sollten wir, um die drei Tage Urlaub zu bekommen, alle noch anstehende Routinearbeit in der verbleibenden Zeit erledigen.
Was wir auch taten. Einige arbeiteten fast die ganze Nacht durch. Wir überprüften die Dunklen, die in der Stadt geblieben waren und unter besonderer Kontrolle standen: Vampire, Tiermenschen, Inkubi und Sukkubi, aktive Hexen sowie andere ruhelose Zeitgenossen aus den niederen Rängen. Alles war in Ordnung. Die Vampire gierten momentan nicht nach heißem Blut, sondern kaltem Bier. Die Hexen plagten sich nicht damit, ihren Nachbarn Schaden zuzufügen, sondern einen leichten Regenschauer über Moskau herbeizuzaubern.
Dafür kamen wir jetzt aus Moskau raus. Natürlich nicht auf die Malediven, da hatte der Chef die Großzügigkeit unserer Buchhaltung etwas überschätzt. Aber auch zwei, drei Tage auf dem Lande haben ihren Reiz. Die armen Freiwilligen, die beim Chef in der Hauptstadt geblieben waren, um ihn zu hüten und zu bewachen.
»Ich muss zu Hause anrufen«, sagte Julja. Sie war sehr viel munterer geworden, seit Semjon die im Auto herrschende Hitze durch Meeresfrische ersetzt hatte.»Gib mir mal das Handy, Sweta.«
Ich genoss die Kühle ebenfalls. Schaute auf die Autos, die wir überholten: In der Regel waren die Fenster heruntergelassen, und man blickte voller Neid auf uns, in dem irrigen Glauben, das alte Automobil sei mit einer tüchtigen Klimaanlage ausgestattet.
»Wir müssen bald abbiegen«, sagte ich zu Ilja.
»Ich weiß. Ich kenn die Strecke.«
»Pst!«, flüsterte Julja mit furchteinflößender Stimme. Und dann flötete sie ins Telefon:»Mamotschka, ich bin’s! Ja, wir sind schon da. Natürlich ist es schön! Es gibt einen See, nein, einen flachen. Mamotschka, ich kann nur kurz sprechen, Swetas Vater hat mir sein Handy geliehen. Nein, sonst niemand. Sweta? Hier.«
Sweta seufzte und nahm dem Mädchen das Handy ab. Finster blickte sie mich an, während ich versuchte, ernst dreinzublicken.
»Guten Tag, Tante Natascha«, sagte Sweta mit zarter Kinderstimme.»Ja, wir freuen uns sehr. Ja. Nein, mit den Erwachsenen. Mama ist gerade nicht da, soll ich sie holen? Ja, das sag ich ihr. Ganz bestimmt. Auf Wiedersehen.«
Sie beendete das Gespräch.
»Und was, mein Mädchen, passiert, wenn deine Mutter die richtige Sweta fragt, wie euer Wochenende war?«, wollte Sweta wissen.
»Dann wird Sweta sagen, dass es schön war.«
Swetlana stieß scharf die Luft aus und sah Semjon an, als erhoffe sie sich von ihm Unterstützung.
»Der Einsatz magischer Fähigkeiten für persönliche Ziele kann unvorhersehbare Folgen haben«, dozierte Semjon in amtlichem Ton.»Ich kann mich noch erinnern, wie…«
»Was denn für magische Fähigkeiten?«, wunderte sich Julja aufrichtig.»Ich habe ihr gesagt, dass ich mit Freunden einen draufmachen möchte, und sie gebeten mitzuspielen. Erst hat Sweta zwar gestöhnt, dann aber natürlich zugestimmt.«
Hinterm Steuer kicherte Ilja.
»Das musste ich sagen«, empörte sich Julja, die nicht verstand, was daran so komisch sein sollte.»So machen die Menschenkinder das schließlich. Warum lacht ihr denn bloß alle so? Na?«
Bei jedem von uns Wächtern nimmt die Arbeit viel Platz im Leben ein. Nicht, weil wir begeisterte Arbeitstiere wären - welcher klar denkende Mensch zieht schon die Arbeit der Freizeit vor? Auch nicht, weil unsere Arbeit so außerordentlich interessant ist, größtenteils langweilen wir uns auf Streife oder sitzen uns im Büro den Hosenboden durch. Nein, es fehlt uns einfach an Leuten. Die Tagwache schließt die Lücken weitaus schneller, jeder Dunkle drängt sich nach der Möglichkeit, Macht auszuüben. Bei uns dagegen sieht die Situation ganz anders aus.
Trotzdem pflegt jeder von uns neben der Arbeit sein eigenes kleines Leben, das wir mit niemandem teilen: nicht mit dem Licht, nicht mit dem Dunkel. Das gehört nur uns. Dieses kleine bisschen Leben, das wir zwar nicht verstecken, aber auch nicht zur Schau stellen und das wir aus unserem früheren Menschendasein mitgebracht haben.
Der eine geht auf Reisen, sobald sich ihm nur die kleinste Gelegenheit dazu bietet. Ilja zum Beispiel bevorzugt normale Touren, während Semjon trampt. Er hat schon mal die ganze Strecke von Moskau nach Wladiwostok ohne eine Kopeke in Rekordzeit hinter sich gebracht, ließ sich danach aber dennoch nicht bei der Liga der Autostopper registrieren, weil er unterwegs zweimal auf seine magischen Fähigkeiten zurückgegriffen hatte.
Ignat - und nicht nur er allein - versteht unter Erholung nichts anderes als sexuelle Abenteuer. Diese Phase machen fast alle durch, denn das Leben bietet einem Anderen weit mehr als den Menschen. Dass die Menschen sich, wenn auch unbewusst, stark zu den Anderen hingezogen fühlen - selbst wenn diese darauf keinen Wert legen -, ist eine bekannte Tatsache.
Viele von uns sammeln etwas. Angefangen von harmlosen Sachen wie Taschenmessern, Schlüsselanhängern, Briefmarken und Feuerzeugen bis hin zu Wettern, Gerüchen, Auren und Zaubersprüchen ist bei uns alles vertreten. Ich selbst habe mal Modellautos gesammelt, ein Heidengeld für seltene Exemplare ausgegeben, die nur für ein paar Tausend Idioten überhaupt einen Wert darstellten. Jetzt fristet die ganze Kollektion ihr Dasein in zwei Pappkartons. Ich sollte mal mit ihnen zu einem Spielplatz gehen und sie dort im Sandkasten ausschütten, zur Freude der Kleinen.
Die Zahl von Jägern und Anglern ist ebenfalls hoch. Igor und Garik betreiben extremes Fallschirmspringen. Galja, ein sehr liebes Mädchen und unsere überflüssige Programmiererin, züchtet Bonsais. Kurzum, wir greifen auf das ganze reiche Angebot an Vergnügungen zurück, das die Menschheit entwickelt hat.
Nicht den blassesten Schimmer hatte ich jedoch, welchem Hobby Tigerjunges, zu der wir jetzt fuhren, nachging. Das interessierte mich fast genauso stark wie die Möglichkeit, aus dem Backofen der Stadt herauszukommen. Normalerweise kriegst du sofort mit, welchen kleinen Tick jemand hat, wenn du einmal bei ihm zu Hause gewesen bist.
»Dauert es noch lange?«, fragte Julja mit nörgelndem Unterton. Wir hatten die Hauptstraße bereits verlassen und zuckelten seit fünf Kilometern einen Feldweg entlang, vorbei an einer kleinen Datschensiedlung und einem Flüsschen.
»Wir sind fast da«, antwortete ich, nachdem ich einen Blick auf die Wegbeschreibung geworfen hatte, die uns Tigerjunges gegeben hatte.
»Genauer gesagt, wir sind da«, meinte Ilja, riss das Auto herum und fuhr direkt auf ein paar Bäume zu. Julja schrie auf und schlug die Hände vors Gesicht. Swetlana reagierte gelassener, streckte aber trotzdem die Hände nach vorn, weil sie einen Aufprall erwartete.
Das Auto donnerte durch dichtes Gesträuch und undurchdringlichen Windbruch direkt auf die als dichte Mauer stehenden Bäume zu. Zu einem Zusammenstoß kam es natürlich nicht. Wir sprangen durch das Trugbild und fanden uns auf einer vorzüglichen asphaltierten Straße wieder. Vor uns funkelte die Spiegelfläche eines kleinen Sees, an dessen Ufer ein einstöckiges Ziegelhaus stand, von einem hohen Zaun umgeben.
»Was mich an Tiermenschen wundert«, sagte Swetlana,»ist ihr Bedürfnis, sich abzuschotten. Nicht nur, dass sie sich mit einem Trugbild tarnt, sie umgibt sich auch noch mit einem Zaun.«
»Tigerjunges ist keine Tierfrau!«, widersprach Julja.»Sie ist eine Verwandlungsmagierin!«
»Das ist dasselbe«, sagte Sweta sanft.
Julja sah Semjon an, von dem sie sich offenbar Hilfe erhoffte.
»Im Grunde hat Sweta Recht«, seufzte der Magier.»Die hochspezialisierten Kampfmagier sind eigentlich Tiermenschen. Nur mit einem anderen Vorzeichen. Wenn Tigerjunges in anderer Verfassung gewesen wäre, als sie zum ersten Mal ins Zwielicht eingetreten ist, wäre sie zu einer Dunklen, einer Tierfrau geworden. Es gibt nur sehr wenig Menschen, bei denen all das vorab festgelegt ist. In der Regel findet ein Kampf statt. Die Vorbereitung auf die Initiierung.«
»Und wie war es bei mir?«, fragte Julja.
»Das hab ich dir doch schon erzählt«, brummte Semjon.»Ziemlich einfach.«
»Eine leichte Remoralisation der Lehrkräfte und Eltern«, sagte Ilja aufgeräumt und parkte das Auto am Eingang.»Und schon begegnete das kleine Mädchen seiner Umgebung mit Liebe und Güte.«
»Ilja!«, wies Semjon ihn zurecht. Er war Juljas Mentor, der sich als solcher ziemlich träge im Hintergrund hielt und kaum in die Entwicklung der jungen Zauberin einmischte. Doch dieser überflüssige Kommentar Iljas missfiel ihm nun doch.
Julja war ein talentiertes Mädchen. Die Wache setzte ernstlich Hoffnung in sie. Das hieß aber längst nicht, dass man sie in dem Tempo durch das Labyrinth moralischer Kniffligkeiten jagte, wie das bei Swetlana geschah, der zukünftigen Großen Zauberin.
Vermutlich hatten Sweta und ich diesen Gedanken gleichzeitig gehabt - wir schauten einander an. Schauten uns an und wandten gleichzeitig den Blick ab.
Auf uns drückte eine unsichtbare Mauer, drängte uns in unterschiedliche Richtungen. Ich würde für alle Zeiten ein Magier dritten Grades sein. Swetlana würde über mich hinauswachsen, schon in kurzer - und nach den Plänen der Wache sehr kurzer - Zeit zu einer Zauberin außerhalb jeder Kategorie werden.
Dann blieben uns nur noch ein freundschaftlicher Händedruck, wenn wir uns begegneten, und Postkarten zum Geburtstag und zu Weihnachten.
»Schlafen die da alle, oder was?«, zeterte Ilja, der sich mit solchen Problemen nie lange aufhielt. Er lehnte sich aus dem Fenster - sofort wehte ins Auto heiße, wenn auch saubere Luft. Fuchtelte mit der Hand, blickte ins Objektiv der Kamera, die über dem Tor angebracht war. Hupte.
Langsam ging das Tor auf.
»Schon besser«, schnaubte der Magier, während er das Auto auf den Hof fuhr.
Das Grundstück war groß und dicht mit Bäumen bepflanzt. Erstaunlich, wie die Villa errichtet werden konnte, ohne die gewaltigen Kiefern und Fichten zu beschädigen. Abgesehen von ein paar Blumen um einen abgestellten Springbrunnen herum gab es hier natürlich keine Pflanzenbeete. Auf einem betonierten Parkplatz vor dem Haus standen fünf Autos. Ich erkannte den alten Niwa, den Danila aus Patriotismus fuhr, und Olgas Sportwagen - wo war sie mit dem langgekommen, über freies Feld? Zwischen den beiden stand ein schäbiger Lieferwagen, den Tolik benutzte, sowie zwei weitere Autos, die ich schon vor dem Büro gesehen hatte, von denen ich aber nicht wusste, wem sie gehörten.
»Die haben nicht auf uns gewartet«, empörte sich Ilja.»Hier geht’s schon heiß her, und alles amüsiert sich, während die besten Leute der Wache sich über die Dorfstraßen quälen.«
Er stellte den Motor ab, und im selben Augenblick rief Julja begeistert aus:»Tigerjunges!«
Indem sie ohne weiteres über mich hinübersprang, öffnete sie die Tür und hüpfte aus dem Auto.
Semjon fluchte kurz und folgte ihr mit einer unmerklichen Bewegung. Gerade noch rechtzeitig.
Wo sich die Hunde versteckt hatten, war mir ein Rätsel. Auf alle Fälle hatten sie sich nicht demaskiert, bis Julja das Auto verließ. Sobald ihre Beine den Boden berührten, stürmten jedoch von allen Seiten lautlos strohgelbe Schatten auf sie ein.
Das Mädchen heulte auf. Ihre Fähigkeiten hätten gereicht, um mit einem Wolfsrudel fertig zu werden, von fünf oder sechs Hunden ganz zu schweigen. Bisher hatte sie sich allerdings noch nie in einer richtigen Auseinandersetzung bewähren müssen, sodass sie jetzt völlig den Kopf verlor. Ehrlich gesagt, hatte auch ich diesen Überfall nicht erwartet. Nicht hier. Und schon gar nicht dieser Art. Hunde greifen normalerweise keine Anderen an. Vor den Dunklen haben sie Angst. Die Lichten lieben sie. Man muss Tiere wirklich gut dressieren, um in ihnen die angeborene Furcht vor den zweibeinigen Quellen von Magie zu ersticken.
Swetlana, Ilja und ich stürzten hinaus. Aber Semjon kam uns zuvor. Mit einer Hand packte er das Mädchen, mit der anderen zog er in der Luft einen Strich. Ich glaubte, er würde Abschreckungsmagie einsetzen, ins Zwielicht eintreten oder die Hunde zu Asche verbrennen. In der Regel verfällt man im Reflex auf die aller-einfachsten Zauber.
Doch Semjon wandte den»Freeze«an, das Einfrieren in der Zeit. Zwei Hunde traf es mitten in der Luft: Die in ein blaues Leuchten gehüllten Körper blieben über dem Boden hängen, die schmalen Schnauzen mit den gefletschten Zähnen vorgestreckt. Geifertropfen fielen als schimmernder hellblauer Eishagel von ihren Fangzähnen.
Die drei Hunde, die am Boden eingefroren waren, sahen nicht weniger beeindruckend aus.
Tigerjunges kam bereits auf uns zugerannt. Mit bleichem Gesicht und weit aufgerissenen Augen. Eine Sekunde lang sah sie Julja an: Das Mädchen kreischte immer noch, wenn auch schon etwas leiser, nur noch aus Beharrungsvermögen.
»Ist jemand verletzt?«, brachte sie schließlich hervor.
»Was hast du dir bloß dabei gedacht«, grummelte Ilja und senkte den magischen Stab.»Warum züchtest du diese Biester?«
»Sie hätten niemandem etwas getan!«, sagte Tigerjunges schuldbewusst.
»Nicht?«Semjon setzte Julja, die er nach wie vor unterm Arm hielt, auf dem Boden ab. Nachdenklich fuhr er mit dem Finger über die gebleckten Zähne des
in der Luft hängenden Hundes. Das elastische Band des Gefrierzaubers federte unter seine Hand.
»Ich schwöre es!«Tigerjunges presste die Hand auf die Brust.»Jungs, Sweta, Julenka, es tut mir Leid. Ich konnte sie nicht mehr aufhalten. Die Hunde sind darauf abgerichtet, Unbekannte zu packen und festzuhalten.«
»Sogar Andere?«
»Ja.«
»Sogar Lichte?«In Semjons Stimme schwang ungekünstelter Respekt mit.
Tigerjunges schlug die Augen nieder und nickte.
Julja ging auf sie zu, um sie zu umarmen.»Ich hatte keine Angst«, sagte sie relativ ruhig.»Sie haben mich nur verwirrt.«
»Nur gut, dass es mir genauso ergangen ist«, bemerkte Ilja düster, während er die Waffe wegsteckte.»Gegrilltes Hundefleisch ist etwas zu exotisch. Tigger, deine Köter sollten mich doch kennen!«
»Dich hätten sie auch nicht angerührt.«
Langsam löste sich die Anspannung auf. Etwas Schlimmes wäre ohnehin nicht passiert, wir können einander schließlich heilen. Bloß das Picknick wäre dann im Eimer gewesen.
»Verzeiht mir«, sagte Tigerjunges noch einmal. Und bedachte uns alle mit einem bittenden Blick.
»Sag mal, wozu brauchst du die denn?«Sweta blickte auf die Hunde.»Erklär mir doch mal, wozu? Schließlich reichen deine Fähigkeiten, um mit einem Trupp Green Barets fertig zu werden. Wozu da diese Rottweiler?«
»Das sind keine Rottweiler, sondern Staffordshire-Terrier.«
»Was für ein Unterschied!«
»Sie haben schon mal Räuber gefasst. Ich bin ja nur zwei Tage pro Woche hier, bleibe häufig in der Stadt.«
Die Erklärung vermochte nicht recht zu überzeugen. Ein einfacher Abschreckungszauber - und kein Mensch käme dem Grundstück zu nahe. Aber noch bevor jemand das sagen konnte, entwaffnete Tigerjunges uns.»Das entspricht meiner Natur.«
»Bleiben die Hunde lange so hängen?«, fragte Julja, die sich noch immer an die junge Frau schmiegte.»Ich möchte mich mit ihnen anfreunden. Ansonsten behalte ich einen latenten psychischen Komplex zurück, der sich unweigerlich auf meine Persönlichkeit und meine sexuellen Vorlieben auswirken wird.«
Semjon schnaubte. Mit ihrer Äußerung - wobei interessant gewesen wäre, wie viel Aufrichtigkeit und wie viel Berechnung sie enthielt - hatte Julja den Konflikt beigelegt.
»Am Abend sind sie wieder munter. Bittest du uns herein, Hausherrin?«
Wir ließen die Hunde um das Auto herum stehen und hängen und gingen zum Haus.
»Du hast es aber schön, Tigerjunges!«, sagte Julja. Mittlerweile ignorierte sie uns schlichtweg und klebte nur noch an der jungen Frau. Die Zauberin schien ihr großes Idol zu sein, der sie alles nachsah, selbst die allzu eifrigen Hunde.
Warum idealisiert man immer die unerreichbaren Fähigkeiten?
Julja ist eine vorzügliche Analytikerin, die in der Lage ist, die Realitätsfäden zu entwirren, die verborgenen magischen Gründe von anscheinend ganz alltäglichen Ereignissen aufzudecken. Sie ist klug, ihre Abteilung vergöttert sie, liebt in ihr nicht nur das kleine Mädchen, sondern schätzt sie auch als Kampfgefährtin, als wertvolle und zuweilen unersetzliche Mitarbeiterin. Aber ihr Idol ist Tigerjunges, die Tierfrau, die Kampfmagierin. Weder eifert sie der guten alten Polina Wassiljewna nach, die in der analytischen Abteilung noch eine halbe Stelle hat, noch verliebt sie sich in den Abteilungsleiter Edik, einen imposanten älteren Schwerenöter.
Nein, sie wählt sich Tigerjunges zum Idol.
Ich pfiff irgendwas vor mich hin, während ich den Schluss der Prozession bildete. Fing Swetlanas Blick auf und schüttelte leicht den Kopf. Alles war in Ordnung. Vor uns lag ein Wochenende voller Müßiggang. Ohne Dunkle und Lichte, ohne Intrigen, ohne Konfrontationen. Nur im See baden, in der Sonne liegen, Schaschlik essen, Rotwein trinken. Und abends ins Dampfbad. So eine Villa dürfte ein schönes Dampfbad haben. Danach würden Semjon und ich uns das eine oder andere Fläschchen Wodka schnappen, ein Glas mit eingelegten Pilzen, uns ein wenig von den anderen absondern und uns bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, dabei die Sterne angucken und philosophische Gespräche über erhabene Themen führen.
Wunderbar.
Ich möchte ein Mensch sein. Wenigstens einen Tag.
Semjon blieb stehen und nickte mir zu.»Wir brauchen zwei Flaschen«, sagte er.»Oder drei. Falls noch jemand dazukommt.«
Nicht, dass mich das wunderte. Geschweige denn ärgerte. Er hatte nicht meine Gedanken gelesen, sondern besaß einfach eine weitaus größere Lebenserfahrung.
»Abgemacht«, stimmte ich zu. Swetlana schielte abermals misstrauisch zu mir herüber, schwieg aber.
»Für dich ist es einfacher«, fügte Semjon hinzu.»Mir gelingt es nur sehr selten, ein Mensch zu sein.«
»Ist das denn nötig?«, fragte Tigerjunges, die bereits an der Haustür stand.
Semjon zuckte mit den Achseln.»Nein, natürlich nicht. Aber ich würd’s gern.«
Wir betraten die Villa.
Zwanzig Gäste verkraftete selbst dieses Haus nicht. Wenn wir Menschen wären, sähe es anders aus. Aber so machten wir zu viel Lärm. Man nehme einmal zwei Dutzend Kinder, die zuvor ein paar Monate lang die reinsten Musterschüler abgegeben haben, stelle ihnen ein umfangreiches Arsenal an Spielsachen zur Verfügung und lasse sie alles tun, was sie wollen - dann betrachte man sich das Ergebnis. Wahrscheinlich hielten nur Sweta und ich uns etwas abseits der lärmenden Heiterkeit. Wir hatten uns von einem kleinen Buffet je ein Glas Wein genommen und uns dann auf das kleine Ledersofa in einer Ecke des Wohnzimmers gesetzt.
Semjon und Ilja beharkten sich bereits wieder in einem magischen Duell. Das sie sehr gepflegt, friedlich und für das Publikum in anfänglich sehr angenehmer Weise austrugen. Wahrscheinlich hatte Semjon seinen Freund im Auto bei der Ehre gepackt: Jetzt veränderten sie abwechselnd im Wohnzimmer das Wetter. Wir hatten bereits den Winter in einem Wald bei Moskau, einen Herbstnebel und den Sommer in Spanien hinter uns. Regen und Schauer hatte Tigerjunges strikt verboten, aber auch so hegten die beiden Magier nicht die Absicht, die Naturgewalten zu entfesseln. Offensichtlich hatten sie sich bei der Klimaveränderung gewisse Schranken auferlegt, eiferten nicht nur darum, wer die seltensten Naturmomente aufbewahrt hatte, sondern auch darum, wie angemessen sie der Situation waren.
Garik, Farid und Danila spielten Karten. Mit ganz normalen unmanipulierten Karten, nur die Luft über dem Tisch funkelte infolge der Magie auf. Sie nutzten alle zur Verfügung stehenden Formen der magischen Falschspielerei und des Schutzes gegen selbige. Insofern war gar nicht wichtig, welche Karten man bekam und welche man später dazunehmen durfte.
An der offenen Tür stand Ignat, umgeben von den Mädchen aus der wissenschaftlichen Abteilung, denen sich auch unsere erbärmlichen Programmiererinnen angeschlossen hatten. Anscheinend hatte unser Erotomane eine Niederlage an der Liebesfront hinnehmen müssen und leckte sich jetzt in kleinem Kreis die Wunden.
»Anton«, fragte Sweta halblaut,»was glaubst du, ist das alles echt?«
»Was genau?«
»Die Ausgelassenheit. Du weißt doch noch, was Semjon gesagt hat?«
Ich zuckte mit den Schultern.»Dass wir noch einmal über diese Fragen sprechen, wenn wir hundert Jahre alt sind? Mir geht es gut. Einfach gut. Weil ich nirgends hinlaufen, mir über nichts den Kopf zerbrechen muss, weil die Wachen die Zungen rausstrecken und sich in den Schatten gelegt haben.«
»Mir geht es auch gut«, stimmte Swetlana zu.»Aber wir sind nur zu viert, nur vier junge oder fast junge. Julja, Tigerjunges, du und ich. Was wird mit uns in hundert Jahren sein? In dreihundert?«
»Das sehen wir dann.«
»Anton, du musst das verstehen.«Sweta berührte sanft meine Hand.»Ich bin sehr stolz darauf, dass ich in die Wache eingetreten bin. Bin glücklich, dass meine Mutter wieder gesund ist. Mein Leben ist jetzt besser, es wäre idiotisch, das abzustreiten. Ich verstehe ja sogar, warum dich der Chef hat diese Erfahrung machen lassen…«
»Bitte nicht, Sweta.«Ich ergriff ihre Hand.»Sogar ich habe das begriffen, auch wenn es mir schwerer fiel. Wir müssen nicht mehr darüber reden.«
»Das will ich auch gar nicht.«Sweta trank ihren Wein und stellte das leere Glas ab.»Anton, was ich meine, ist, dass ich keine Freude sehe.«
»Wo?«Mitunter habe ich eine ziemlich lange Leitung.
»Hier. Bei der Nachtwache. In unserem Freundeskreis. Jeden Tag fechten wir irgendeine Schlacht aus. Mal eine große, mal eine kleine. Mit durchgedrehten Tiermenschen, mit Dunklen Magiern, mit allen Kräften des Dunkels zugleich. Wir spannen unsere Kräfte an, recken das Kinn vor, reißen die Augen auf, sind bereit, uns kopfüber in ein Feuergefecht zu stürzen oder uns mit dem nackten Hintern auf einen Igel zu setzen.«
Ich schnaubte vergnügt.»Was soll denn daran schlecht sein, Sweta? Ja, wir sind Soldaten. Alle bis auf den Letzten, von Julja bis zu Geser. Krieg ist keine lustige Sache, sicher. Aber wenn wir zurückweichen…«
»Was dann?«, antwortete Sweta mit einer Frage.»Kommt dann die Apokalypse? Seit Jahrtausenden kämpfen die Kräfte des Dunkels und des Lichts gegeneinander. Gehen sich an die Gurgel, hetzen ihre Menschenarmeen aufeinander, alles um der großen Ziele wegen. Sind die Menschen seitdem denn wirklich nicht besser geworden, Anton?«
»Doch, das sind sie.«
»Seit der Zeit, da die Wachen ihre Arbeit aufgenommen haben? Anton, mein Lieber, du hast mir vieles erzählt, und du bist nicht der Einzige gewesen. Dass der entscheidende Kampf um die Seelen der Menschen geführt wird, dass wir Gemetzel en masse verhindern. Vielleicht tun wir das ja. Die Menschen bringen sich selbst gegenseitig um. Viel stärker als vor zweihundert Jahren.«
»Willst du damit sagen, dass unsere Arbeit schadet?«
»Nein.«Müde schüttelte Sweta den Kopf.»Das will ich nicht. So arrogant bin ich nicht. Ich will nur sagen, dass wir vielleicht in der Tat… das Licht sind. Nur… In der Stadt gibt es jetzt nachgemachte Weihnachtsspielsachen. Sie sehen aus wie die echten, aber man hat keine Freude an ihnen.«
Sie brachte den kurzen Witz mit völlig ernster Stimme vor, ohne den Ton zu ändern. Sie sah mir in die Augen.»Verstehst du?«
»Ich verstehe.«
»Sicherlich. Die Dunklen richten jetzt weniger Böses an«, fuhr Swetlana fort.»Das sind unsere Kompromisse, eine gute Handlung für eine böse Handlung, die Lizenzen zum Mord und zur Heilung lassen sich rechtfertigen, das glaube ich gern. Die Dunklen richten weniger Böses an als früher, und wir richten von unserer Bestimmung her nichts Böses an. Und die Menschen?«
»Was haben die Menschen damit zu tun?«
»Aber um sie geht es doch! Wir verteidigen sie. Uneigennützig und unermüdlich. Aber warum geht es ihnen dann nicht besser? Sie übernehmen von sich aus die Arbeit des Dunkels. Warum? Haben wir womöglich irgendwas verloren, Anton? Jenen Glauben, mit dem Lichte Magier Armeen in den Tod schickten, aber auch selbst in den vordersten Reihen kämpften? Die Fähigkeit, nicht nur zu verteidigen, sondern auch Freude zu spenden? Was nützen starke Mauern, wenn es die Mauern eines Gefängnisses sind? Die Menschen haben die richtige Magie vergessen, die Menschen glauben nicht an das Dunkel, aber auch nicht an das Licht! Anton, wir sind Soldaten. Richtig! Aber eine Armee liebt man nur, wenn Krieg herrscht.«
»Es herrscht Krieg.«
»Wer weiß denn das?«
»Wir sind vermutlich nicht ganz Soldaten«, räumte ich ein. Von der eigenen, lang gehegten Position abzulassen ist immer unangenehm, aber ein anderer Ausweg blieb mir nicht.»Sondern eher Husaren. Tram, pam, pam…«
»Die Husaren konnten lachen. Wir haben das schon fast verlernt.«
»Dann sag mir, was wir machen sollen.«Plötzlich begriff ich, dass der Tag, der so schön zu werden versprochen hatte, den Bach hinunterging, in eine dunkle, stinkende Schlucht fiel, in der sich alter Müll türmte.»Sag’s mir! Du bist eine Große Zauberin, wirst es zumindest bald sein. Der General in unserem Krieg. Während ich nur ein einfacher Leutnant bin. Gib mir einen Befehl, und zwar den richtigen. Sag, was soll ich tun?«
Erst in dem Moment fiel mir auf, dass sich im Wohnzimmer Stille herabgesenkt hatte, dass alle uns zuhörten. Aber das war mir schon völlig egal.
»Sagst du, ich soll hinausgehen und Dunkle umbringen? Dann geh ich. Das ist nicht meine Stärke, aber ich werde mir alle Mühe geben! Sagst du, ich soll lachen und den Menschen Gutes bringen? Dann tu ich das. Nur wer wird dann für das Böse einstehen, dem ich die Bahn breche? Gut und böse, Licht und Dunkel, ja, wir wiederholen diese Worte immer wieder, verwischen ihren Sinn, tragen sie wie Banner vor uns her und lassen sie dann in Wind und Regen verfaulen. Dann gib mir ein neues Wort! Gib mir ein neues Banner! Sag mir, wohin ich gehen und was ich tun soll!«
Ihre Lippen zitterten. Ich stockte, aber es war schon zu spät.
Swetlana weinte, die Hände vors Gesicht geschlagen.
Warum hatte ich das getan?
Oder hatten wir tatsächlich verlernt, einander anzulächeln?
Selbst wenn ich hundertmal Recht hatte, aber…
Was ist meine Wahrheit wert, wenn ich bereit bin,
die ganze Welt zu verteidigen, aber nicht diejenigen, die mir nahe stehen? Wenn ich den Hass bezwinge, aber die Liebe nicht mehr zulassen kann?
Ich sprang auf, umarmte Swetlana, zog sie aus dem Wohnzimmer. Die Magier blieben stehen, wandten den Blick ab. Vielleicht hatten sie eine solche Szene schon oft gesehen. Vielleicht verstanden sie auch alles.
»Anton.«Völlig lautlos war Tigerjunges aufgetaucht, stieß gegen irgendeine Tür, öffnete sie. Sah mich mit einer Mischung aus Vorwurf und unvermutetem Verständnis an. Und ließ uns beide allein.
Eine Weile standen wir reglos da. Swetlana weinte leise, vergrub den Kopf an meiner Schulter, während ich abwartete. Zu sagen gab es nichts mehr. Ich war schon mit allem herausgeplatzt, was mir in den Sinn gekommen war.
»Ich werde es versuchen.«
Das hatte ich nicht erwartet. Alles andere: Beleidigungen, einen Gegenausfall, Vorwürfe - aber nicht das.
Swetlana nahm die Hände vom tränenfeuchten Gesicht. Schüttelte lächelnd den Kopf.»Du hast Recht, Antoschka. Völlig Recht. Ich beklage und beschwere mich bisher nur. Jammere wie ein Kind, verstehe nichts. Dabei stupst man mich mit der Nase in den Grießbrei, erlaubt mir, mit Feuer zu spielen, und wartet ab, wartet, bis ich reifer bin. Dann muss das alles wohl so sein. Ich werde es versuchen. Ich gebe dir ein neues Banner.«
»Sweta…«
»Du hast Recht«, unterbrach sie mich.»Aber ein bisschen habe ich auch Recht. Nur nicht darin, dass ich
mich vor den anderen so habe gehen lassen. Sie amüsieren sich so gut sie können. Genauso wie sie sich so gut sie können schlagen. Wir haben jetzt ein paar freie Tage, die sollten wir den anderen nicht verderben. Abgemacht?«
Erneut spürte ich die Mauer. Die unsichtbare Mauer, die immer zwischen mir und Geser stehen wird, zwischen mir und den Leuten von der höchsten Führungsebene.
Jene Mauer, die die Zeit zwischen uns errichtet. Heute habe ich sie eigenhändig um ein paar Reihen kalter Kristallsteine weiter hochgezogen.
»Verzeih mir, Sweta«, flüsterte ich.»Verzeih mir.«
»Vergessen wir das«, sagte sie fest entschlossen.»Lass uns nicht mehr daran denken. Noch können wir es vergessen.«
Schließlich sahen wir uns um.
»Das Arbeitszimmer?«, vermutete Sweta.
Die Bücherschränke aus dunkler Eiche, die Bände hinter dunklem Glas. Ein beeindruckender Schreibtisch, auf dem ein Computer stand.
»Ja.«
»Aber Tigerjunges lebt doch allein, oder?«
»Ich weiß nicht.«Ich schüttelte den Kopf.»Wir fragen einander nicht aus.«
»Ich glaub schon, dass sie allein lebt. Zumindest jetzt.«Swetlana holte ein Taschentuch heraus und tupfte sich vorsichtig die Tränen weg.»Sie hat ein schönes Haus. Gehen wir, sonst machen sich die anderen noch Sorgen.«
Ich schüttelte den Kopf.»Sie werden sicherlich spü-
ren, dass wir uns nicht streiten.«
»Nein, das können sie nicht. Hier sind alle Zimmer abgeschirmt, sie werden nichts mitbekommen.«
Indem ich durchs Zwielicht spähte, bemerkte auch ich das in den Wänden verborgene Flimmern.»Jetzt sehe ich es. Du wirst mit jedem Tag stärker.«
Swetlana lächelte, ein wenig angespannt noch, aber stolz.»Komisch«, sagte sie.»Warum baut man Barrieren ein, wenn man allein lebt?«
»Aber warum sollte man sie aufstellen, wenn man nicht allein lebt?«, fragte ich. Halblaut, um keine Antwort herauszufordern. Und Swetlana gab auch keine.
Wir gingen aus dem Arbeitszimmer zurück ins Wohnzimmer.
Es herrschte zwar nicht gerade Friedhofsstimmung, aber viel fehlte nicht.
Wessen Werk das wohl war? Semjons oder Iljas? Im Zimmer hing eine nach Moor riechende Feuchtigkeit. Ignat hatte Lena im Arm und schaute sehnsüchtig auf die anderen. Er liebte Heiterkeit, in allen ihren Formen, jeder Streit und jede Anspannung trieben ihm ein Messer ins Herz. Die Kartenspieler starrten auf eine einzige Karte, die auf dem Tisch lag und unter ihren Blicken erbebte, sich krümmte, die Farbe und den Wert änderte. Die leicht eingeschnappte Julja stellte Olga leise eine Frage.
»Gießt ihr uns was ein?«, fragte Sweta, die meine Hand hielt.»Weiß denn niemand, was für hysterische Weiber die beste Medizin ist? Fünfzig Gramm Kognak.«
Tigerjunges, die mit unglücklicher Miene am Fenster stand, ging rasch zur Bar. Ob sie sich unseren Streit zuschrieb?
Sweta und ich nahmen beide ein Glas Kognak, stießen demonstrativ an und küssten uns. Ich fing Olgas Blick auf: Er war nicht erfreut, nicht betrübt, aber neugierig. Und ein wenig eifersüchtig. Wobei die Eifersucht nicht von dem Kuss herrührte.
Mit einem Mal fühlte ich mich unbehaglich.
Als ob ich aus einem Labyrinth herausgekommen sei, durch das ich lange Tage und Monate geirrt war. Herausgekommen - um den Eingang zu den nächsten Katakomben zu erblicken.
Zwei
Erst zwei Stunden später konnte ich mit Olga unter vier Augen sprechen. Die Gesellschaft, deren Heiterkeit Swetlana so gewollt vorkam, hatte sich inzwischen nach draußen verlagert. Semjon schaltete und waltete am Grill seines Amtes und teilte an alle Hungrigen Schaschlik aus, das er mit einer Geschwindigkeit zubereitete, welche eindeutig auf die Zuhilfenahme von Magie hinwies. Neben ihm standen noch zwei Kästen mit trockenem Wein im Schatten.
Olga plauderte angeregt mit Ilja. Beide hielten einen Schaschlikspieß und ein Glas Wein in Händen. Es war schade, diese Idylle zu stören, aber…
»Olga, ich muss mit dir reden«, sagte ich, als ich an die beiden herantrat. Swetlana war völlig in ein Gespräch mit Tigerjunges vertieft - die beiden Frauen diskutierten voller Eifer den traditionellen Neujahrskarneval der Wache, wobei sie mit der verzwackten Logik von Frauen von der aktuellen Hitze zu diesem Thema sprangen. Ein günstiger Moment.
»Entschuldige, Ilja.«Die Zauberin breitete die Arme aus.»Wir kommen noch darauf zurück, ja? Mich interessiert sehr, welche Gründe du für den Zusammenbruch der Sowjetunion siehst. Auch wenn du Unrecht hast.«
Der Magier lächelte triumphierend und ging davon.
»Frag schon, Anton«, fuhr Olga im selben Ton fort.
»Du weißt, was ich will?«
»Ich vermute es.«
Ich blickte mich um. Niemand stand in unserer Nähe. Noch dauerte die kurze Phase eines Datschenpicknicks an, in der du nur essen und trinken willst, weder der Magen zu voll noch der Kopf zu schwer ist.
»Was kommt auf Swetlana zu?«
»Es ist schwer, die Zukunft vorherzusagen. Und erst recht, was die Zukunft von Großen Magiern und Zauberinnen…«
»Keine Ausflüchte, Partnerin.«Ich blickte ihr die Augen.»Das ist nicht nötig. Haben wir zusammen nicht schon einiges durchgestanden? Als Team gearbeitet? Vor gar nicht allzu langer Zeit standest du noch unter Strafe, und dir war alles entzogen, sogar dein Körper. Und deine Strafe war angemessen.«
Das Blut wich aus Olgas Gesicht.»Was weißt du von meiner Schuld?«
»Alles.«
»Woher?«
»Schließlich bearbeite ich Daten.«
»Zu meinen hast du keinen Zugang. Mein Fall ist nie in die digitalisierten Archive gelangt.«
»Es gibt indirekte Daten, Olga. Hast du schon mal die Kreise auf dem Wasser gesehen? Der Stein kann seit langem am Boden liegen, von Schlamm bedeckt sein, aber die Kreise breiten sich immer noch aus. Unterspülen die Böschung, tragen Müll und Gischt ans Ufer, lassen Boote kentern, wenn der Stein groß genug war. Und dieser war sehr groß. Geh davon aus, dass ich lange am Ufer gestanden habe, Olga. Dort gestanden und die Wellen betrachtet habe, die ans Ufer schlagen.«
»Du bluffst.«
»Nein. Olga, was steht Sweta bevor? Welche Phase der Ausbildung?«
Die Zauberin sah mich an, vergaß das kalt gewordene Schaschlik und das halb leere Glas. Ich schlug noch einmal zu.»Du hast diese Phase doch auch durchlaufen?«
»Ja.«Offensichtlich wollte sie nicht länger die Schweigende spielen.»Das habe ich. Aber für meine Vorbereitung stand mehr Zeit zur Verfügung.«
»Warum überstürzt man bei Sweta alles so?«
»Niemand hat damit gerechnet, dass in diesem Jahrhundert noch eine Große Zauberin geboren wird. Geser musste improvisieren, mitten im Spiel alles umorganisieren.«
»Hast du deshalb deine frühere Gestalt zurückbekommen? Nicht nur wegen deiner guten Arbeit?«
»Du weißt doch schon alles!«Olgas Augen funkelten hässlich.»Was quälst du mich da?«
»Beaufsichtigst du ihre Vorbereitung? Ausgehend von deinen Erfahrungen?«
»Ja. Bist du jetzt zufrieden?«
»Olga, wir stehen auf derselben Seite der Barrikade«, flüsterte ich.
»Dann setz gegen deine Gefährten nicht die Ellenbogen ein.«
»Welches Ziel hat das Ganze, Olga? Was hast du nicht fertig gebracht? Was muss Sweta tun?«
»Du…«Sie wirkte völlig aufgelöst.»Hast du also doch geblufft, Anton!«
Ich schwieg.
»Du weißt überhaupt nichts! Die Kreise im Wasser sagen dir nichts, du weißt gar nicht, wohin du schauen musst, um sie zu sehen!«
»Möglich. Aber im Großen und Ganzen liege ich richtig?«
Olga sah mich an, biss sich auf die Lippen.
»Ja«, meinte sie kopfschüttelnd.»Eine klare Frage, eine klare Antwort. Aber ich werde dir nichts erklären. Du darfst das nicht wissen. Das geht dich nichts an.«
»Da irrst du dich.«
»Niemand von uns will Sweta etwas Böses«, entgegnete Olga scharf.»Ist das klar?«
»Wir können sowieso niemandem etwas Böses wünschen. Nur unterscheidet sich unser Gutes manchmal in keiner Weise vom Bösen.«
»Beenden wir dieses Gespräch, Anton. Ich habe nicht das Recht, dir auf deine Fragen zu antworten. Und wir wollen den andern doch nicht diese unerwarteten freien Tage verderben.«
»Wie unerwartet sind die denn wirklich?«, fragte ich einschmeichelnd.»Olga?«
Sie hatte sich bereits wieder gefasst, ihre Miene war undurchdringlich. Zu undurchdringlich für solch eine Frage.
»Du hast auch so schon genug erfahren.«Ihre Stimme hob sich, gewann die frühere Entschlossenheit zurück.
»Man hat uns noch nie alle zusammen in Urlaub geschickt, Olga. Nicht mal auf einen Tagesausflug. Warum wollte Geser die Lichten aus der Stadt raushaben?«
»Nicht alle.«
»Polina Wassiljewna und Andrej zählen nicht. Du weißt ganz genau, dass sie das Büro nie verlassen. In Moskau ist kein einziger Wächter zurückgeblieben!«
»Die Dunklen verhalten sich doch auch ruhig.«
»Ja und?«
»Es reicht, Anton.«
Mir war klar, dass ich kein weiteres Wort aus ihr herausbekommen würde.»Gut, Olga«, lenkte ich ein.»Vor einem halben Jahr waren wir gleichberechtigt, wenn auch vielleicht nur zufällig. Das hat sich jetzt offenbar geändert. Entschuldige. Das sind nicht meine Probleme, fällt nicht in meine Zuständigkeit.«
Olga nickte. Das kam so überraschend, dass ich meinen Augen nicht traute.
»Endlich hast du’s kapiert.«
Machte sie sich über mich lustig? Oder glaubte sie wirklich, dass ich mich nicht weiter einmischen würde?
»Schließlich bin ich nicht auf den Kopf gefallen«, meinte ich. Ich sah zu Swetlana hinüber, die mit Tolik scherzte.
»Du nimmst mir das nicht übel?«, fragte Olga.
Ich berührte ihre Hand, lächelte und ging ins Haus zurück. Ich wollte etwas tun. Unbedingt. Als sei ich ein Dschinn, der nach tausendjähriger Gefangenschaft seiner Flasche entströmt. Irgendetwas: Paläste bauen, Städte zerstören, ein Programm in Basic schreiben oder eine Kreuzsticharbeit anfertigen.
Ich öffnete die Tür, ohne sie anzufassen, stieß sie durchs Zwielicht auf. Warum, weiß ich nicht. So was passiert mir selten, manchmal, wenn ich besoffen, manchmal, wenn ich stinkwütend bin. Der erste Grund
kam nicht in Frage.
Im Wohnzimmer war niemand. Warum sollte man auch drinnen sitzen, wenn draußen Schaschlik gegrillt wurde, es kalten Wein und genügend Liegestühle unter den Bäumen gab?
Ich ließ mich in einen Sessel fallen. Schnappte mir mein - oder Swetas - Glas vom Tisch und goss mir Kognak ein. Trank auf Ex, als sei das kein fünfzehn Jahre alter Prasdnitschny, sondern billiger Wodka. Schenkte mir nach.
In diesem Moment kam Tigerjunges herein.
»Du hast doch nichts dagegen?«, fragte ich.
»Nein, natürlich nicht.«
Die Zauberin setzte sich neben mich.»Was ist los mit dir, Anton?«
»Kümmer dich nicht um mich.«
»Hattet ihr Streit, Sweta und du?«
Ich schüttelte den Kopf.»Das ist es nicht.«
»Hab ich irgendwas falsch gemacht, Anton? Gefällt es euch nicht?«
Ich starrte sie mit echter Verblüffung an.»Wieso denn, Tigerjunges! Alles ist wunderbar. Allen gefällt es.«
»Und dir?«
Nie zuvor hatte ich die Tierfrau so verzagt erlebt. Was sollte das, ob es mir gefiel? Allen konnte sie es sowieso nicht recht machen.
»Swetlana wird weiter vorbereitet«, sagte ich.»Worauf?«
Die Frau runzelte leicht die Stirn.»Ich weiß es nicht. Auf etwas, das Olga nicht zustande brachte. Etwas, das gleichzeitig sehr gefährlich und ungeheuer wichtig ist.«
»Gut.«Sie langte nach einem Glas. Schenkte sich ein, nippte am Kognak.
»Gut?«
»Ja. Dass man sie vorbereitet, anleitet.«Tigerjunges sah sich suchend um, dann blickte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die Stereoanlage an der einen Wand.»Ständig verlege ich die Fernbedienung.«
Die Anlage schaltete sich ein, die Lämpchen leuchteten auf. Queen erklang, Kind of Magic. Mir gefiel die beiläufige Geste. Die Elektronik über eine Entfernung hinweg zu steuern - das ist etwas anderes, als mit dem Blick Löcher in die Wand zu bohren oder Mücken mit Feuerkugeln zu vertreiben.
»Wie lange hast du dich auf die Arbeit in der Wache vorbereitet?«, fragte ich.
»Seit ich sieben war. Mit sechzehn habe ich dann an den ersten Einsätzen teilgenommen.«
»Neun Jahre! Dabei hast du es leichter gehabt, deine Magie ist natürlich. Aber aus Swetlana will man in ein paar Monaten, in einem Jahr eine Große Zauberin zusammenschustern!«
»Das wird schwierig«, stimmte die Frau zu.»Glaubst du, der Chef macht einen Fehler?«
Ich zuckte mit den Achseln. Zu sagen, der Chef begehe einen Fehler, wäre genauso dumm wie zu behaupten, die Sonne gehe nicht im Osten auf. Hunderte - was heißt Hunderte: Tausende von Jahren hatte er gelernt, keine Fehler zu begehen. Geser konnte streng oder überstreng auftreten. Konnte die Dunklen provozieren und die Lichten opfern. Er konnte alles. Nur nicht sich irren.
»Ich glaube, er überschätzt Sweta.«
»Quatsch! Der Chef kalkuliert gut.«
»Und alles. Ich weiß. Er beherrscht dieses alte Spiel aus dem Effeff.«
»Und Sweta will er nur Gutes«, fügte die Zauberin stur hinzu.»Verstehst du? Vielleicht auf seine Art. Du würdest es anders machen, ich und Semjon ebenfalls. Oder Olga. Jeder von uns würde es anders machen. Aber die Wache leitet er. Und völlig zu Recht.«
»Weil er den besseren Überblick hat?«, fragte ich bissig.
»Ja.«
»Und was ist mit der Freiheit?«Ich goss mein Glas erneut voll. Was vielleicht nicht nötig war, denn in meinem Kopf tobte es bereits los.»Der Freiheit?«
»Du redest wie die Dunklen«, schnaubte die Frau.
»Ich ziehe es vor zu glauben, dass sie wie ich reden.«
»Das ist doch alles ganz einfach, Anton.«Tigerjunges beugte sich zu mir hinüber, sah mir in die Augen. Sie verströmte einen Geruch nach Kognak und einen leichten, blumigen Duft, der aber kaum von einem Parfüm stammen dürfte. So etwas mögen Tiermenschen nicht.»Du liebst sie.«
»Stimmt. Gibt es jemanden, der das noch nicht weiß?«
»Dir ist klar, dass ihre Kräfte die deinen bald übersteigen werden.«
»Wenn sie das nicht schon haben.«Ich wollte nicht weiter darauf eingehen, erinnerte mich aber, wie leicht Swetlana die magischen Schirme in den Wänden gespürt hatte.
»Sie werden sie richtig übersteigen. Eure Kräfte werden sich nicht mehr miteinander vergleichen lassen. Du wirst ihre Probleme nicht verstehen können, sie werden dir fremd sein. Wenn du an ihrer Seite bleibst, wirst du dich wie ein überflüssiges Anhängsel fühlen, wie ein Gigolo, und dich an die Vergangenheit klammern.«
»Ja.«Ich nickte und bemerkte voller Verwunderung, dass das Glas schon wieder leer war. Unter dem aufmerksamen Blick der Hausherrin goss ich mir erneut ein.»Dann sollte ich wohl nicht an ihrer Seite bleiben. Darauf kann ich verzichten.«
»Anders geht es nicht.«
Nie hätte ich vermutet, dass sie so hart sein kann. Oder dass sie sich nervös fragte, ob es auch allen schmecke und gefalle. Aber auch diese böse Wahrheit hätte ich nicht erwartet.
»Ich weiß.«
»Dann regst du dich nur aus einem einzigen Grund darüber auf, Anton, dass der Chef Sweta so entschlossen nach oben zieht.«
»Weil meine Zeit abläuft«, sagte ich.»Mir wie Sand durch die Finger rinnt, wie Regen vom Himmel strömt.«
»Deine Zeit? Eure, Anton.«
»Sie war nicht unsere, niemals.«
»Warum nicht?«
Tatsächlich, warum eigentlich nicht? Ich zuckte mit den Schultern.»Manche Tiere vermehren sich in der Gefangenschaft nicht.«
»Schon wieder!«, empörte sich die junge Frau.»Was für eine Gefangenschaft? Du solltest dich für sie freuen. Swetlana wird der Stolz der Lichten werden. Du hast sie entdeckt, nur du konntest sie retten.«
»Wozu? Für die nächste Schlacht mit den Dunklen? Eine überflüssige Schlacht?«
»Anton, du redest jetzt wirklich wie ein Dunkler. Du liebst sie doch! Dann fordere nichts, verlange keine Gegenleistung! Das ist der Weg des Lichts!«
»Da, wo die Liebe anfängt, enden Licht und Dunkel.«
Empört verstummte die Frau. Traurig schüttelte sie den Kopf. Widerwillig sagte sie:»Du könntest zumindest eins versprechen…«
»Kommt drauf an, was.«
»Dass du vernünftig bist. Den alten Gefährten vertraust.«
»Ich verspreche es zur Hälfte.«
Tigerjunges seufzte.»Hör mir mal zu, Anton«, presste sie widerstrebend hervor.»Wahrscheinlich glaubst du, ich würde dich überhaupt nicht verstehen. Das stimmt nicht. Ich wollte nämlich gar keine Tierfrau werden. Ich hatte Fähigkeiten als Heilerin, die nicht von der Hand zu weisen waren.«
»Wirklich?«Erstaunt sah ich sie an. Das hätte ich nie gedacht.
»Ja, tatsächlich«, bestätigte sie leichthin.»Doch als ich vor der Wahl stand, welche Seite der Kraft ich entwickeln sollte, hat der Chef mich zu sich gerufen. Wir haben zusammengesessen, Tee getrunken und Gebäck gegessen. Und uns sehr ernst unterhalten, wie Erwachsene, obwohl ich noch ein kleines Mädchen war, jünger als Julja jetzt. Darüber, was das Licht braucht, was für die Wache notwendig ist, was ich erreichen kann. Und wir beschlossen, dass ich die Fähigkeiten zur Kampftransformation entwickeln solle, auf Kosten aller anderen Anlagen. Anfangs hat mir das nicht so richtig gefallen. Hast du eine Ahnung, wie schmerzhaft es ist, sich zu verwandeln?«
»In einen Tiger?«
»Nein - in einen Tiger, das ist nichts. Zurück ist es schwer. Aber ich habe es ausgehalten. Weil ich dem Chef geglaubt habe, weil ich verstanden habe, dass es richtig ist.«
»Und jetzt?«
»Jetzt bin ich glücklich«, sagte die Frau eifrig.»Wenn ich mir vorstelle, was ich verlieren würde, womit ich mich befassen müsste. Die Kräuter, Zauber, die Scherereien mit einem verzerrten Psychofeld, der Kampf gegen schwarze Strudel und schwarze Magie…«
»Blut, Schmerzen, Angst, Tod«, brachte ich vielsagend hervor.»Ein Kampf, der gleichzeitig in zwei oder drei Schichten der Realität stattfindet. Das Feuer meiden, Blut trinken, alles durchmachen.«
»Das ist der Krieg.«
»Ja, vermutlich. Aber musst ausgerechnet du an vorderster Front kämpfen?«
»Aber irgendjemand muss es doch tun, oder? Und letzten Endes hätte ich sonst nicht dieses Haus.«Tiger machte eine Handbewegung, die das ganze Wohnzimmer einbezog.»Du weißt selbst, dass man als Heilerin nicht viel verdienen kann. Du kannst mit aller Kraft
heilen, aber dann mordet jemand ohne Ende.«
»Du hast ein schönes Haus«, versicherte ich.»Aber bist du denn oft hier?«
»Wie es sich ergibt.«
»Ich nehme an, nicht sehr oft. Du übernimmst eine Schicht nach der nächsten, drückst dich nie.«
»So bin ich halt.«
Ich nickte. Im Grunde war ich nicht anders.»Ja, du hast Recht. Ich bin vermutlich müde. Deshalb brabbel ich diesen Unsinn.«
Tigerjunges sah mich argwöhnisch an, offenbar verblüfft von dieser raschen Kapitulation.
»Ich will hier noch ein bisschen mit meinem Glas in der Hand sitzen«, fügte ich hinzu.»Mich allein so richtig schön betrinken, am Tisch einschlafen und mit Kopfschmerzen aufwachen. Dann geht es mir gleich besser.«
»Nur zu«, sagte die Zauberin mit einer Spur von Misstrauen.»Wozu sind wir denn hierher gekommen? Die Bar ist offen, nimm dir, wonach dir der Sinn steht. Wollen wir zu den andern? Oder soll ich bei dir bleiben?«
»Nein, lieber bin ich allein«, sagte ich, indem ich mit der Hand die bauchige Flasche tätschelte.»So richtig beschissen, ohne einen Happen dazu, ohne Freunde. Wenn ihr schwimmen geht, schau doch mal rein. Vielleicht kann ich mich dann noch rühren.«
»Abgemacht.«
Lächelnd ging sie aus dem Zimmer. Ich blieb einsam zurück, abgesehen natürlich von der Gesellschaft meiner Flasche armenischen Kognaks, an die man mitun-
ter glauben möchte.
Eine wirklich prachtvolle Frau. Sie sind alle prachtvoll und gut, meine Freunde und Kameraden von der Wache. Durch die Musik von Queen hindurch hörte ich ihre Stimmen, was angenehm war. Mit einigen hatte ich engere Beziehungen, mit anderen weniger. Aber Feinde gab es unter ihnen nicht. Würde es nie geben. Gemeinsam hatten wir bereits ein Stück Weges hinter uns gebracht und würden ihn auch in Zukunft gemeinsam beschreiten, und wir würden uns nur aus einem einzigen Grund verlieren.
Warum war ich dann unzufrieden mit der Entwicklung? Nur ich - sowohl Olga wie auch Tigerjunges billigten das Vorgehen des Chefs, die anderen würden sich ihnen, fragte man sie direkt, anschließen.
Konnte ich die Lage nicht mehr objektiv beurteilen?
Vermutlich.
Ich trank einen Schluck Kognak und schaute durchs Zwielicht, suchte nach den trüben Feuern eines fremden Lebens ohne Intelligenz.
Im Wohnzimmer entdeckte ich drei Mücken, zwei Fliegen und ganz hinten in der Ecke unter der Decke eine kleine Spinne.
Ich bewegte meine Finger und formte ein winziges Feuerkügelchen mit einem Durchmesser von nur zwei Millimetern. Zielte auf die Spinne - zum Aufwärmen taugt eine unbewegliche Zielscheibe eigentlich besser - und schickte die Feuerkugel auf den Weg.
Meinem Verhalten haftete nichts Verwerfliches an. Wir sind keine Buddhisten, zumindest die meisten der Anderen Russlands nicht. Wir essen Fleisch, schlagen Fliegen und Mücken, vergiften Kakerlaken; wenn wir mal zu faul sind, jeden Monat neue Abschreckungszauber zu erlernen, werden die Insekten rasch immun gegen die Magie.
Nichts Verwerfliches. Es ist einfach komisch, geradezu sprichwörtlich -»mit Feuerkugeln auf Mücken zu schießen«. Der liebste Spaß von Kindern jeden Alters, die in den Kursen der Wache sitzen. Ich glaube, auch die Dunklen vergnügen sich auf diese Weise, nur dass sie nicht zwischen einer Fliege und einem Spatz, einer Mücke und einem Hund unterscheiden.
Die Spinne verbrannte ich sofort. Auch die halb schlafenden Mücken stellten kein Problem dar.
Jeden Sieg begoss ich mit einem Glas Kognak, wobei ich vorab mit der dienstbaren Flasche anstieß. Dann zog ich gegen die Fliegen in den Kampf, doch entweder hatte ich mittlerweile zu viel Alkohol im Blut oder die Viecher spürten weitaus besser, wenn sich die flammenden Punkte näherten. Für die erste brauchte ich vier Ladungen, schaffte es aber wenigstens, die falsch gezielten rechtzeitig zu zerstreuen. Die zweite schoss ich mit der sechsten Feuerkugel ab, wobei ich zwei Minikugelblitze in die Glastür einer Vitrine an der Wand feuerte.
»Wie unschön«, sagte ich reuevoll und trank den Kognak aus. Ich stand auf - das Zimmer schwankte. Ich ging zu der Vitrine, in der auf schwarzem Samt Schwerter prangten. Auf den ersten Blick 15. - 16. Jahrhundert, Deutschland. Der Strahler war nicht angeschlossen, sodass ich das genaue Alter nicht zu schätzen vermochte. Im Glas entdeckte ich kleine Einbuchtungen, aber die Schwerter selbst hatte ich nicht erwischt.
Ein Weilchen dachte ich darüber nach, wie ich mein Verhalten wieder gutmachen könnte, mir fiel aber nichts Besseres ein, als das verdampfte und im Zimmer verwehte Glas wieder an Ort und Stelle zu bringen. Dafür musste ich weitaus mehr Kraft aufwenden, als wenn ich die ganze Scheibe zertrümmert und eine neue erschaffen hätte.
Dann schaute ich in die Hausbar. Aus irgendeinem Grund wollte ich keinen Kognak mehr. Die Flasche mit mexikanischem Kaffeelikör schien mir dagegen ein guter Kompromiss zwischen den Wünschen, mich zu betrinken und wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Kaffee und Alkohol - beides in einer Flasche.
Ich drehte mich um und bemerkte in meinem Sessel Semjon.
»Die andern sind zum See gegangen«, teilte der Magier mit.
»Gleich«, versprach ich, als ich an ihn herantrat.»Ganz gleich.«
»Die Flasche stell lieber hin«, riet Semjon.
»Wozu?«, wollte ich wissen. Trotzdem stellte ich die Flasche hin.
Semjon sah mir unverwandt in die Augen. Die Barrieren funktionierten nicht, und die Falle erkannte ich zu spät. Ich versuchte, den Blick abzuwenden, konnte es aber nicht.
»Du Mistkerl«, presste ich hervor, während ich mich krümmte.
»Über den Korridor und rechts«, schrie Semjon mir hinterher. Sein Blick bohrte sich noch immer in meinen Rücken, schlängelte sich wie ein unsichtbarer Faden hinter mir her.
Zur Toilette schaffte ich es gerade noch. Fünf Minuten später kam auch mein Peiniger.
»Besser?«
»Ja«, entgegnete ich schwer atmend. Ich kam von den Knien hoch und hielt den Kopf ins Waschbecken. Schweigend drehte Semjon am Hahn und klopfte mir auf den Rücken.
»Entspann dich«, riet er.»Bisher waren das bloß Hausmittel, aber…«
Über meinen Körper lief eine heiße Welle. Ich stöhnte auf, wehrte mich aber nicht länger. Das dumpfe Gefühl war bereits von mir gewichen, jetzt verflüchtigte sich die letzte Trunkenheit aus meinem Körper.
»Was machst du?«, fragte ich bloß.
»Ich helfe deiner Leber. Ein paar Schluck Wasser, und dir geht’s besser.«
Was stimmte.
Nach fünf Minuten verließ ich aufrecht gehend die Toilette, in Schweiß gebadet, klatschnass, mit rotem Kopf, aber absolut nüchtern. Und versuchte sogar schon wieder, mich obenauf zu zeigen.»Warum hast du dich da eingemischt? Ich wollte mich betrinken - und ich habe mich betrunken.«
»Diese Jugend.«Semjon schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.»Betrinken wollte er sich! Wer betrinkt sich denn mit Kognak? Noch dazu auf Wein und in dem Tempo, einen halben Liter in einer halben Stunde. Als Saschka Kuprin und ich uns mal betrinken wollten…«
»Welcher Saschka?«
»Na, du weißt schon, der Schriftsteller. Nur dass er da noch nicht geschrieben hat. Wir haben uns tüchtig betrunken, wie Menschen, die etwas auf sich halten, es eben tun, bis zum Umfallen nämlich, während auf den Tischen getanzt und in die Decke geschossen wurde und allgemeine Ausschweifung herrschte.«
»Und er? War er ein Anderer?«
»Saschka? Nein, aber ein prima Kerl. Wir haben ein Viertel ausgetrunken und die Gymnasiastinnen mit Sekt abgefüllt.«
Schwer ließ ich mich auf das Sofa plumpsen. Ich schluckte, schaute auf die leere Flasche, und erneut kam es mir hoch.
»Und mit einem Viertel habt ihr euch betrunken?«
»Ein Vierteleimer, wie soll man da nicht betrunken sein?«, wunderte sich Semjon.»Betrinken kann man sich, Anton. Wenn’s sein muss. Aber dann mit Wodka. Kognak, Wein - das ist was fürs Herz.«
»Und wofür ist Wodka?«
»Für die Seele. Wenn sie richtig schmerzt.«
Mit leichtem Vorwurf im Blick sah er mich an, ein komischer kleiner Magier mit listigem Gesicht, mit seinen komischen kleinen Erinnerungen an große Menschen und große Schlachten.
»Ich habe einen Fehler gemacht«, gab ich zu.»Danke, dass du mir geholfen hast.«
»Quatsch, mein Alter. Zu meiner Zeit habe ich einen Namensvetter von dir dreimal pro Abend nüchtern gemacht. Damals war es nötig zu trinken, aber nicht betrunken zu werden, für die Sache.«
»Meinen Namensvetter? Tschechow?«, mutmaßte ich.
»Nein, wie kommst du denn darauf. Einen anderen Anton, einen von uns. Er ist gestorben, im Fernen Osten, als die Samurai…«Semjon winkte ab und verstummte. Nach einer Weile fuhr er fast zärtlich fort:»Du solltest nichts überstürzen. Heute Abend machen wir alles so, wie es sich gehört. Jetzt sollten wir zu den andern. Gehen wir, Anton.«
Gehorsam folgte ich Semjon aus dem Haus. Und sah Sweta. Sie saß in einem Liegestuhl, hatte sich bereits umgezogen und trug jetzt einen Badeanzug und einen bunten Rock - oder ein Stück Stoff um die Hüften.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie mich leicht verblüfft.
»Absolut. Hab das Schaschlik nicht ganz vertragen.«
Swetlana sah mich eindringlich an. Aber abgesehen von meinem geröteten Gesicht und den nassen Haaren ließ offenbar nichts mehr auf meine plötzliche Trunkenheit schließen.
»Du solltest dir mal die Bauchspeicheldrüse untersuchen lassen.«
»Ist schon wieder alles in Ordnung«, warf Semjon rasch ein.»Glaub mir, ich habe mich auch mit Heilung beschäftigt. Die Hitze, der saure Wein, das fettige Schaschlik - daran hat’s gelegen. Jetzt geht er baden, und heute Abend trinken wir eine Flasche im Schatten. Das reicht an Behandlung.«
Sweta stand auf, kam auf uns zu und sah mir mitleidsvoll in die Augen.
»Vielleicht setzen wir uns hier ein bisschen hin? Ich mache einen starken Tee.«
Ja, gewiss. Das wäre schön. Einfach dasitzen. Zu zweit. Tee trinken. Reden oder schweigen. Das spielt keine Rolle. Sie ab und an ansehen oder auch nicht. Ihren Atem hören - oder die Ohren verschließen. Hauptsache, dass wir zusammen sind. Wir zwei, und nicht das einträchtige Kollektiv der Nachwache. Und dass wir deshalb zusammen sind, weil wir es wollen, nicht weil es auf dem Programm steht, das Geser erarbeitet hat.
Ob ich wirklich verlernt hatte zu lächeln?
Ich schüttelte den Kopf. Und zerrte ein feiges, trotziges Lächeln auf mein Gesicht.»Gehen wir. Ich bin noch kein verdienter Klappergreis der magischen Kriege. Gehen wir, Sweta.«
Semjon war schon vorausgegangen, aber aus irgendeinem Grund wusste ich, dass er mir zuzwinkerte. Billigend.
Der Abend brachte keine richtige Abkühlung, vertrieb aber die Schwüle. Bereits um sechs oder sieben hatten sich alle zu kleinen Grüppchen zusammengefunden. Am See blieben der unermüdliche Ignat, Lena und - seltsamerweise - auch Olga. Tigerjunges und Julja stromerten durch den Wald. Die übrigen hielten sich im Haus oder in seiner Nähe auf.
Semjon und ich hatten den großen Balkon im ersten Stock okkupiert. Hier war es gemütlich, kam das kleine Lüftchen besser zur Geltung und standen Korbmöbel, in dieser Hitze einfach unschätzbar.
»Nummer eins«, sagte Semjon und holte aus einer Plastiktüte mit einem Reklameaufdruck für Danone kids eine Flasche Wodka. »Smirnowka.«
»Hältst du was von dem?«, fragte ich zweifelnd. Ich hielt mich nicht für einen großen Wodkaexperten.
»Ich trink ihn seit über hundert Jahren. Und früher war er viel schlechter, das kannst du mir glauben.«
Nach der Flasche holte er zwei einfache Wassergläser aus der Tüte, ein Zweiliter-Einmachglas, unter dessen Blechdeckel kleine Gurken ihrer Bestimmung harrten, und eine große Tüte mit saurem Kohl.
»Und womit spülen wir nach?«
»Bei Wodka braucht man nicht nachzuspülen, mein Junge«, meinte Semjon kopfschüttelnd.»Das ist nur bei Surrogaten nötig.«
»Wirst alt wie ‘ne Kuh…«
»Das hättest du schon früher wissen müssen. Und was den Wodka angeht, brauchst du dir keine Gedanken zu machen, die Siedlung Tschernogolowka gehört zu meinem Kontrollgebiet. In der Fabrik arbeitet ein kleiner Hexenmeister, der nicht allzu garstig ist. Er liefert mir gute Ware.«
»Du verzettelst dich mit Kleinkram«, wagte ich zu bemerken.
»Tu ich nicht. Ich bezahle ihn mit Geld. Das läuft alles ganz ehrlich ab, ist unsere Privatsache, die Wachen haben damit nichts zu tun.«
Mit einer geschickten Bewegung drehte Semjon den Verschluss der Flasche ab und goss jedem ein halbes Glas voll. Obwohl die Tasche den ganzen Tag auf der Veranda gestanden hatte, war der Wodka kalt.
»Auf die Gesundheit?«, vermutete ich.
»Zu früh. Auf uns.«
Vorhin hatte er mich wirklich ausgenüchtert, und zwar richtig, mein Blut womöglich nicht vom Alkohol gereinigt, sondern auch von allen Stoffwechselprodukten. Ich trank das halbe Glas aus, ohne mich zu schütteln, und stellte verwundert fest, dass Wodka nicht nur im Winter bei Kälte wohl tut, sondern auch im Sommer nach einem heißen Tag.
»Also dann.«Semjon grunzte zufrieden und lümmelte sich bequem hin.»Man sollte Tigerjunges dezent darum bitten, hier Schaukelstühle aufzustellen.«
Er zog seine gräßlichen Jawas hervor und steckte sich eine an.
»Ich rauch sie sowieso«, meinte er, als er meinen missbilligenden Blick auffing.»Aus Liebe zu meinem Land.«
»Und ich liebe meine Gesundheit«, grummelte ich.
Semjon schnaubte.»Hat mich doch einmal ein befreundeter Ausländer zu sich zu Besuch eingeladen«, setzte er an.
»‘ne alte Sache?«, fragte ich, mich unwillkürlich seinem Stil anpassend.
»Nein, voriges Jahr. Er hat mich eingeladen, um zu lernen, wie man sich in Russland betrinkt. Er hat im Penta ein Zimmer gehabt. Ich habe eine Zufallsbekanntschaft mitgenommen und ihren Bruder - der gerade aus dem Lager entlassen worden war und nicht wusste, wohin. So sind wir dann losgezogen.«
Als ich mir die Gesellschaft vorstellte, schüttelte ich den Kopf.»Hat man euch denn reingelassen?«
»Ja.«
»Weil du Magie eingesetzt hast?«
»Nein, weil mein ausländischer Freund Geld eingesetzt hat. Für Wodka und die Zuspeisen hatte er reichlich gesorgt, wir haben am 30. April angefangen zu trinken und am 2. Mai aufgehört. Die Zimmermädchen haben wir nicht reingelassen, den Fernseher nicht ausgeschaltet.«
Ich sah Semjon an, der in einem zerknautschten karierten Hemd aus russischer Produktion, verwaschenen türkischen Jeans und ausgelatschten tschechischen Sandalen vor mir saß, und konnte mir ohne Probleme vorstellen, wie er frisch gezapftes Bier aus einem Dreiliterglas trank. Aber ins Penta passte er nur schwer.
»Ihr Monster«, sagte ich voller Mitleid.
»Nein, warum denn das? Meinem Freund hat es sehr gefallen. Er hat gesagt, dass er danach verstanden hat, was ein richtiges russisches Besäufnis ausmacht.«
»Und was ist das?«
»Das ist, wenn du morgens aufwachst und alles um dich herum grau ist. Der Himmel ist grau, die Sonne ist grau, die Stadt ist grau, die Menschen sind grau, deine Gedanken sind grau. Und der einzige Ausweg ist, weiterzutrinken. Dann geht es dir besser. Dann kommen die Farben zurück.«
»Muss ein interessanter Ausländer gewesen sein!«
»Kannst du sagen!«
Semjon schenkte erneut ein, diesmal aber weniger. Dann dachte er kurz nach und füllte die Gläser bis zum Rand.
»Trinken wir, mein Alter. Trinken wir darauf, dass wir nicht unbedingt trinken müssen, um einen blauen Himmel, eine gelbe Sonne und eine bunte Stadt zu sehen. Lass uns darauf trinken. Wir beide treten ins Zwielicht ein und sehen, dass die Welt von ihrer Kehrseite aus betrachtet nicht die ist, die jeder sonst dafür hält. Aber vermutlich gibt es nicht nur diese eine Kehrseite. Auf die leuchtenden Farben!«
Völlig verwirrt trank ich ein halbes Glas.
»Keine halben Sachen, Junge«, sagte Semjon im selben Ton wie zuvor.
Ich trank aus. Aß eine Hand voll von dem knackigen süßsauren Kohl.
»Warum führst du dich so auf, Semjon?«, fragte ich.»Wozu dieser übertriebene Aplomb, dieses Image?«
»Mächtig schlaue Wörter, so was verstehe ich nicht.«
»Komm schon!«
»Das macht es leichter, Antoschka. Jeder passt so auf sich auf, wie er kann. Ich halt auf diese Weise.«
»Was soll ich tun, Semjon?«, fragte ich. Ohne jede Erklärung.
»Das, was nötig ist.«
»Und wenn ich nicht das tun will, was nötig ist? Wenn unsere ach so lichte Wahrheit, unser Wächterehrenwort und unsere fabelhaft guten Absichten mir zum Hals raushängen?«
»Du musst eins verstehen, Anton.«Der Magier biss krachend in eine Gurke.»Du hättest es längst verstehen sollen, aber du hast ja ständig bloß deine Blechkisten im Kopf. Unsere Wahrheit, so groß und licht sie auch sein mag, besteht aus einer Unmenge kleiner Wahrheiten. Und Geser kann noch so klug sein und an Erfahrung haben, wovon wir bei Gott nur träumen können. Obendrein hat er aber auch magisch geheilte Hämorrhoiden, einen Ödipuskomplex und die Angewohnheit, immer wieder alte bewährte Muster auf neue Weise anzuwenden. Das nur als Beispiel, ich will bei ihm keine Erbsen zählen, schließlich ist er der Chef.«
Er angelte sich eine neue Zigarette, und diesmal wagte ich keinen Einspruch.
»Aber darum geht es gar nicht, Anton. Du bist noch jung, bist in die Wache eingetreten und hast dich gefreut. Hat sich am Ende doch die ganze Welt in Schwarz und Weiß geteilt! Ein Menschheitstraum war in Erfüllung gegangen, endlich war klar, wer gut und wer schlecht ist. Nur eins musst du begreifen. So ist es nicht. Nicht so. Irgendwann waren wir alle mal eins. Die Dunklen wie die Lichten. Haben in unserer Höhle am Lagerfeuer gesessen, durchs Zwielicht gespäht, auf welcher Weide das Mammut grast, haben beim Singen und beim Tanzen Funken aus den Fingern geschlagen und mit Feuerkugeln andere Stämme geröstet. Und lass uns, damit unser Beispiel möglichst anschaulich ist, zwei Brüder nehmen, zwei Andere. Der, der als Erster ins Zwielicht getreten ist, war in dem Moment vielleicht satt, vielleicht zum ersten Mal verliebt. Bei dem andern war das Gegenteil der Fall. Er hatte sich den Magen mit unreifem Bambus verdorben, die Frau hatte ihn zurückgewiesen, weil sie angeblich Kopfschmerzen hatte und vom Abschaben der Felle müde war. So ging es weiter. Der eine führt die anderen zum Mammut und ist zufrieden. Der andere verlangt ein Stück vom Rüssel und als Dreingabe noch die Häuptlingstochter. So teilten wir uns in Dunkle und Lichte, in Gute und Böse. Einfach, nicht wahr? So bringen wir es auch den kleinen Anderen bei. Und wer hat dir, mein Alter, denn gesagt, dass sich daran etwas geändert hat?«
Semjon beugte sich so heftig zu mir hinüber, dass der Sessel knirschte.»So war es, so ist es, so wird es sein. Für immer, Antoschka. Ein Ende gibt es nicht. Jetzt sind wir diejenigen, die den, der sich abseilt und in den Kampf zieht und ungefragt Gutes schafft, entkörpern. Und ab ins Zwielicht mit ihm, wenn er das Gleichgewicht stört, ab ins Zwielicht mit dem Psychopathen und Hysteriker. Und was wird morgen sein? In hundert Jahren? In tausend? Wer kann das voraussehen? Du? Ich? Geser?«
»Also was dann?«
»Gibt es deine Wahrheit, Anton? Sag’s mir, gibt es sie? Bist du von ihr überzeugt? Dann glaube auch an sie, und nicht an meine Wahrheit oder die von Geser. Glaube und kämpfe. Wenn du den Mut dazu hast. Wenn das Herz nicht stottert. Die Freiheit der Dunklen - die ist ja nicht schlecht, weil sie Freiheit von anderen bedeutet. Das ist auch nur die Erklärung für die Kinder. Die Freiheit der Dunklen ist in erster Linie Freiheit von dir selbst, von deinem Gewissen und deiner Seele. Wenn du spürst, dass in deiner Brust nichts mehr schmerzt, dann schlag Alarm. Obwohl es dann eigentlich schon zu spät ist.«
Er verstummte, seine Hand verschwand in der Tüte und brachte eine weitere Flasche Wodka hervor.
»Die zweite«, seufzte er.»Wir sind nämlich immer noch nicht betrunken, das spüre ich. Es wird uns nicht gelingen. Und was Olga und ihre Worte angeht…«
Wie schaffte er es, seine Ohren immer und überall zu haben?
»Sie ist nicht neidisch darauf, dass Swetlana vollenden kann, was sie nicht fertig gebracht hat. Nicht darauf, dass für Sweta noch alles offen ist, während der Zug für Olga, ehrlich gesagt, abgefahren ist. Sie ist neidisch, weil Sweta dich hat und du deine Liebste behalten möchtest. Auch wenn du nichts dafür tun kannst. Geser konnte, aber er wollte nicht. Du kannst es nicht, aber willst. Am Ende läuft das vielleicht aufs Gleiche hinaus. Aber irgendwas bleibt doch hängen. Es zerreißt einem die Seele, wie viel Jahre sie auch zählen mag.«
»Weißt du, worauf Sweta vorbereitet wird?«
»Ja.«Semjon goss die Gläser randvoll mit Wodka.
»Worauf?«
»Darf ich nicht sagen. Ich hab das unterschrieben. Was ich sagen konnte, hab ich gesagt.«
»Semjon…«
»Ich hab dir doch gesagt, ich hab’s unterschrieben. Soll ich mein Hemd ausziehen, damit du das Zeichen des Straffeuers auf meinem Rücken siehst? Ein Wort - und ich würde mit diesem Sessel hier verbrennen und du könntest meine Asche in die Zigarettenschachtel packen. Tut mir Leid, Anton. Versuch es nicht.«
»Danke«, sagte ich.»Lass uns trinken. Vielleicht schaffen wir es doch noch, uns zu besaufen? Ich brauch es.«
»Das seh ich«, pflichtete Semjon mir bei.»Also ran.«
Drei
Ich wachte sehr früh auf. Stille herrschte im Haus, die lebhafte Stille einer Datsche, mit dem Rauschen des Windes, der gegen Morgen endlich kühler ging. Nur, dass ich mich nicht darüber freute. Mein Bett war feucht von Schweiß, mein Kopf glühte. Im Nachbarbett - wir schliefen zu dritt in einem Zimmer - schnarchte Semjon monoton vor sich hin. Auf dem Fußboden schlief Tolik, eingehüllt in eine Decke. Die angebotene Hängematte hatte er mit den Worten abgelehnt, seit er ‘76 an irgendeiner Aktion teilgenommen habe, mache ihm sein Rücken zu schaffen, weshalb er am liebsten hart schlafe.
Die Hände im Nacken, damit ich bei einer zu raschen Bewegung nicht auseinander brach, setzte ich mich im Bett auf. Als mein Blick auf den Nachttisch fiel, entdeckte ich voller Verwunderung zwei Aspirin und eine Flasche Borshomi-Wasser. Welche gute Seele hatte das getan?
Gestern hatten wir zu zweit drei Flaschen Wodka getrunken. Dann war Tolik zu uns gekommen. Danach noch irgendwer, mit Wein. Den ich allerdings nicht trank. So weit reichte mein Verstand noch.
Nachdem ich die Aspirin mit einer halben Flasche Wasser heruntergespült hatte, blieb ich benebelt eine Weile sitzen, um auf die Wirkung der Tabletten zu warten. Der Schmerz ging nicht weg. Das würde ich nicht aushalten.
»Semjon«, rief ich heiser.»Semjon!«
Der Magier öffnete ein Auge. Er schien in prächtigem Zustand. Als ob er nicht weitaus mehr getrunken hätte als ich. Was hundert Jahre mehr Erfahrung doch ausmachen.
»Mein Kopf, befrei mich…«
»Hab kein Beil da«, grummelte der Magier.
»Dann hol eins«, stöhnte ich.»Kannst du mich von dem Schmerz befreien?«
»Haben wir uns freiwillig besoffen, Anton? Oder hat uns jemand gezwungen? Hat es uns Spaß gemacht?«
Er drehte sich auf die andere Seite um.
Ich begriff, dass ich von Semjon keine Hilfe erwarten durfte. Im Grunde hatte er ja Recht, trotzdem ertrug ich das Ganze nicht länger. Mit den Füßen tastete ich nach den Turnschuhen, stieg über den schlafenden Tolik hinweg und ging aus dem Zimmer.
Es gab zwei Gästezimmer, doch die Tür zum andern war verschlossen. Dafür stand am Ende des Korridors die Tür zum Schlafzimmer der Hausherrin offen. Tigerjunges’ Worte über ihre Fähigkeiten als Heilerin fielen mir ein, und ohne zu zögern stürmte ich los.
Anscheinend hatte sich heute alles gegen mich verschworen. Sie war nicht da. Ignat und Lena entgegen meiner Vermutung auch nicht. Bei Tigerjunges hatte Julenka übernachtet. Das Mädchen schlief noch, ein Arm und ein Bein hingen wie bei einem Kind aus dem Bett.
Mittlerweile war mir völlig egal, wen ich um Hilfe bat. Vorsichtig trat ich an das Riesenbett heran und hockte mich daneben hin.»Julja, Julenka…«, flüsterte ich.
Blinzelnd öffnete das Mädchen die Augen.
»Verkatert?«, fragte sie voller Mitleid.
»Ja.«Das Nicken sparte ich mir, denn in meinem Kopf hatte man eben eine kleine Granate gezündet.
»Schlimm?«
Sie schloss die Augen und döste meiner Meinung nach sogar wieder ein, die Arme um meinen Hals gelegt. Ein paar Sekunden lang geschah gar nichts, dann ließ der Schmerz rasch nach. Als ob in meinem Nacken ein geheimer Hahn aufgedreht worden sei und das aufgestaute brodelnde Gift abflösse.
»Danke«, flüsterte ich nur.»Danke, Julenka.«
»Trink nicht so viel, du kannst das nicht«, brummelte das Mädchen und fing an zu schnaufen - so gleichmäßig, als ob sie von einem Augenblick auf den anderen von Arbeit auf Schlaf umgeschaltet hätte. Das können nur Kinder und Computer.
Ich stand auf und registrierte voller Begeisterung, dass die Welt ihre Farben zurückgewonnen hatte. Natürlich hatte Semjon Recht. Man muss die Verantwortung übernehmen. Nur manchmal reichen die Kräfte dafür nicht. Ganz und gar nicht. Ich schaute mich im Zimmer um. Das Schlafzimmer war in Beigetönen gehalten, selbst das schräge Fenster leicht getönt, die Stereoanlage golden, der flauschige Teppich hellbraun.
Nicht sehr nett von mir. Hier ungefragt einzudringen.
Leise ging ich zur Tür und hörte, als ich gerade hinausgehen wollte, Juljas Stimme.
»Du kaufst mir ein Snickers, ja?«
»Zwei«, versprach ich.
Ich hätte jetzt noch eine Runde schlafen können, aber mit dem Bett verbanden sich zu viele unangenehme Erinnerungen. Als ob ich mich nur hinzulegen bräuchte, und der im Kopfkissen versteckte Schmerz würde erneut über mich herfallen. Daher schlüpfte ich bloß ins Zimmer rein, um mir meine Jeans und mein Hemd zu schnappen, und zog mich an der Tür an.
Es schliefen doch nicht wirklich noch alle? Tigerjunges stromerte immerhin schon irgendwo draußen herum, irgendjemand würde sicher ins Gespräch vertieft bei einer Flasche bis zum Morgen dagesessen haben.
Im ersten Stock gab es noch einen kleinen Flur, in dem ich Danila und Nastja aus der wissenschaftlichen Abteilung vorfand, die friedlich auf einem kleinen Sofa schliefen. Rasch zog ich mich zurück. Schüttelte den Kopf. Danila hatte eine sehr liebe, sehr sympathische Frau, Nastja einen älteren Mann, der sie wahnsinnig liebte.
Sicher, das waren nur Menschen.
Wir dagegen sind die Anderen, die Kämpen des Lichts. Was will man machen, wir haben eine andere Moral. Wie an der Front mit den Kriegsromanzen und den kleinen Krankenschwestern, die Offiziere wie einfache Soldaten nicht nur am Krankenlager trösten. Zu scharf spürst du im Krieg den Geschmack des Lebens.
Dann gab es hier oben noch eine Bibliothek. Dort entdeckte ich Garik und Farid. Da waren sie, diejenigen, die die ganze Nacht durchgequatscht hatten, bei einem Fläschchen - wobei es bei einem nicht geblieben war. Sie waren in den Sesseln eingeschlafen, offenbar erst vor kurzem: Vor Farid rauchte auf dem Tisch noch ganz leicht die Pfeife. Am Boden lagen Stapel von Büchern, die sie aus den Regalen genommen hatten. Worüber sie wohl gestritten hatten, dabei Schriftsteller und Dichter, Philosophen und Historiker als Bundesgenossen zitierend?
Über eine hölzerne Wendeltreppe ging ich nach unten. Ob sich jemand finden würde, der diesen ruhigen friedlichen Morgen mit mir teilte?
Im Wohnzimmer schliefen ebenfalls noch alle. Als ich in die Küche schaute, entdeckte ich niemanden, sah man einmal von einem Hund ab, der sich in eine Ecke drückte.
»Wieder aufgetaut?«, fragte ich.
Der Terrier bleckte die Zähne und winselte kläglich.
»Wer hat dich denn gestern auch gebeten zu kämpfen?«Ich kniete mich vor den Hund. Nahm ein Stück Wurst vom Tisch, was das gut erzogene Tier sich selbst nicht traute.»Nimm.«
Die Schnauze schnappte über meiner Hand zusammen und verschlang das Stück Wurst.
»Wenn du gut bist, ist man auch gut zu dir!«, erklärte ich ihm.»Und drück dich nicht in den Ecken herum.«
Aber irgendjemand musste doch schon wach sein!
Ich nahm mir selbst ein Stück Wurst. Kauend ging ich durchs Wohnzimmer und schaute ins Arbeitszimmer.
Auch hier schliefen welche.
Das Ecksofa war sogar ausgeklappt schmal. Deshalb lagen sie eng beieinander. Ignat in der Mitte, die muskulösen Arme ausgebreitet und süß lächelnd. Lena schmiegte sich links an ihn an, eine Hand in seine
dichte blonde Mähne verflochten, die andere über seine Brust gestreckt, sodass sie die zweite Partnerin unseres Don Juans berührte. Swetlana hatte den Kopf irgendwo unter Ignats rasierter Achselhöhle vergraben, ihre Hände hielten die halb herabgerutschte Decke gepackt.
Leise und sehr sorgsam schloss ich die Tür.
Das kleine Restaurant wirkte gemütlich. Der Seewolf war, wie schon der Name sagte, für seine Fischgerichte und das freundliche»Schiffsinterieur«berühmt. Außerdem lag es in unmittelbarer Nähe der Metro. Für einen kleinen Mann aus dem Mittelstand, der hin und wieder im Restaurant schlemmen, dabei aber nicht auch noch Geld für ein Taxi ausgeben wollte, stellte das einen nicht unwesentlichen Faktor dar.
Dieser Gast kam mit dem Auto, einem alten, aber völlig intakten»Sechser«. Der geschulte Blick der Kellner buchte ihn übrigens als weitaus zahlungskräftiger ab, als sein Wagen vermuten ließ. Die Ruhe, mit der der Mann den teuren dänischen Wodka trank, sich weder um den Preis noch um eventuelle Probleme mit der Verkehrspolizei scherte, bekräftigte diesen Eindruck nur.
Als der Kellner den bestellten Stör brachte, hob der Mann kurz den Blick. Bisher hatte er nur dagesessen, war mit dem Zahnstocher über die Serviette gefahren und immer mal wieder erstarrt, den Blick auf die Flammen der gläsernen Petroleumlampen gerichtet. Jetzt sah er plötzlich den Kellner an.
Dieser würde niemandem sagen, was er in diesem kurzen Moment zu sehen glaubte. Ihm schien, als blicke er in zwei gleißende Brunnen. Blendend in einem Maße, da das Licht verbrennt und nicht mehr vom Dunkel zu unterscheiden ist.
»Danke«, sagte der Gast.
Der Kellner ging weg, kämpfte gegen den Wunsch an, den Schritt zu beschleunigen. Sagte sich immer wieder: Das war nur das Funkeln der Lampe im gemütlichen Halbdunkel des Restaurants. Nur das Funkeln des Lichts im Dunkel war ihm auf die Augen geschlagen.
Boris Ignatjewitsch saß noch ein Weilchen da und zerbrach Zahnstocher. Der Stör wurde kalt, der Wodka in der Kristallkaraffe warm. Hinter einer Absperrung aus dicken Seilen, nachgebildeten Steuerrädern und einem imitierten Segel feierte eine große Gesellschaft den Geburtstag von jemandem, warf mit Glückwünschen um sich, schimpfte über die Hitze, die Steuern und irgendwelche»falschen«Banditen.
Geser, der Chef der Moskauer Abteilung der Nachtwache, wartete.
Die Hunde, die draußen lagen, scheuten zurück, sobald ich auftauchte. Der»Freeze«hatte sie schwer mitgenommen. Der Körper gehorcht nicht, man kann nicht knurren und nicht bellen, der Geifer gefriert ihnen in der Schnauze, die Luft lastet wie die schwere Hand eines Fieberkranken.
Aber die Seele lebt.
Die Hunde hatte es schwer mitgenommen.
Das Tor stand halb offen, ich ging hinaus, blieb kurz stehen, wusste nicht genau, wohin ich gehen und was ich tun sollte.
Spielte das überhaupt noch eine Rolle?
Gekränkt war ich nicht. Es tat nicht einmal weh. Wir waren nie intim gewesen. Mehr noch, ich selbst hatte alles darangesetzt, diese Barriere zwischen uns aufzubauen. Schließlich lebe ich nicht für den Augenblick, sondern will alles, sofort und für immer.
Ich tastete nach dem MD-Player, schaltete die Zufallsauswahl ein. Damit habe ich stets Glück. Ob ich wohl wie Tigerjunges seit langer Zeit das simple elektronische System steuere, ohne es selbst zu bemerken?
Wen trifft die Schuld, dass deine Kraft,
Die dich gen Himmel trug, erschlafft,
Dass du nicht findest, was du suchst,
Und das Gefundene verfluchst?
Und wer ist schuld, dass Tag für Tag
Gelenkt von fremdem Stundenschlag
Das Leben fließt aus dir heraus
Und öd und einsam wird dein Haus?
Der Ton verstummt, das Licht wird fahl,
Und jedes Mal kommt neue Qual,
Und wenn dein Schmerz allmählich nachlässt -
Ist das nächste Unglück nicht mehr weit.
Ich hatte es selbst gewollt. Selbst darum gekämpft. Und durfte jetzt niemandem die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Statt gestern den ganzen Abend mit Semjon über die Schwierigkeiten der weltweiten Konfrontation zwischen Gut und Böse zu philosophieren, hätte ich bei Sweta bleiben sollen. Statt wie ein Wolf Geser und Olga samt ihrer hämischen Wahrheit im Auge zu behalten, hätte ich auf meiner bestehen sollen.
Und nie, niemals daran denken dürfen, dass ich nicht siegen kann.
Du brauchst diesen Gedanken nur aufkommen zu lassen - und schon hast du verloren.
Wen trifft die Schuld und woran liegt,
Dass der betrügt und der nichts kriegt?
Der ist verliebt und der betrübt,
Der ist ein Narr, der bringt Gefahr.
Und wer ist schuld, dass jedes Jahr
Dein Leben nichts als Warten war?
Der Tag ist schwer, die Nacht ist leer,
Und warme Plätzchen gibt’s nicht mehr…
Der Ton verstummt, das Licht wird fahl,
Und jedes Mal kommt neue Qual,
Und wenn dein Schmerz allmählich nachlässt -
Ist das nächste Unglück nicht mehr weit.
Wen trifft die Schuld, dass weit und breit
Kein Glück gedeiht und auch kein Leid,
Kein Sieg und keine Niederlage,
Erfolg und Scheitern sind in Waage,
Und wem ist wohl die Schuld zu geben,
Dass du allein bist und dein Leben
So trostlos ist und nur besteht
Aus Zeit - bis es zu Ende geht…
»Das nun nicht gerade«, flüsterte ich und zog die Kopfhörer heraus.»Darauf braucht ihr nicht zu warten.«
Man hatte uns so lange gelehrt zu geben, ohne im Gegenzug etwas zu nehmen. Sich um anderer willen zu opfern. Jeder Schritt wie ins Maschinengewehrfeuer, jeder Blick gütig und weise, kein einziger sinnloser Gedanke, keine einzige sündige Überlegung. Denn wir sind die Anderen. Wir haben uns über die Masse erhoben, haben unsere tadellos reinen Fahnen entfaltet, unsere Lackschuhe auf Hochglanz gewienert, weiße Handschuhe übergezogen. O ja, in unserer eigenen kleinen Welt erlauben wir uns alles Mögliche. Jede Tat findet ihre Rechtfertigung, ehrliche und erhabene. Eine einmalige Nummer: Zum ersten Mal stehen wir strahlend weiß da, während alles um uns herum in der Scheiße sitzt.
Genug!
Ein heißes Herz, saubere Hände, ein kühler Kopf… Es war doch wohl kein Zufall, dass sich die meisten Lichten während der Revolution und im Bürgerkrieg der Tscheka angedient hatten? Während diejenigen, die sich nicht andienten, zum größten Teil umkamen. Von den Dunklen, häufiger aber noch von den Händen derjenigen, die sie verteidigten. Von Menschenhänden. Von der Dummheit, Gemeinheit, Feigheit, Bigotterie und dem Neid der Menschen. Ein heißes Herz, saubere Hände. Der Kopf kann ruhig kühl bleiben. Anders geht es nicht. Mit den beiden anderen Sachen bin ich aber nicht einverstanden. Soll das Herz sauber sein und die Hände heiß. Das würde mir besser gefallen!
»Ich will euch nicht verteidigen!«, sagte ich in die Stille des Sommermorgens hinein.»Ich will es nicht! Weder Frauen noch Kinder, noch Alte und Bettler! Niemanden! Lebt, wie es euch gefällt. Bekommt das, was ihr wert seid! Rennt vor Vampiren davon, betet Dunkle Magier an, küsst den Bock unterm Schwanz! Was ihr verdient, bekommt ihr! Wenn meine Liebe weniger zählt als euer glückliches Leben, dann wünsche ich euch kein Glück!«
Sie können und sollen besser werden, sie sind unsere Wurzeln, unsere Zukunft, unsere Schutzbefohlenen. Die kleinen und die großen Menschen, die Hausmeister und Präsidenten, die Verbrecher und Polizisten. In ihnen glimmt das Licht, das sich zu lebensspendender Wärme entflammen oder zu todbringendem Feuer entfesseln kann.
Ich glaube das nicht!
Ich habe euch alle gesehen. Euch Hausmeister und Präsidenten, Banditen und Bullen. Habe gesehen, wie Mütter ihre Söhne verprügeln, Väter ihre Töchter missbrauchen. Habe gesehen, wie Söhne ihre Mütter aus dem Haus jagen, Töchter ihre Väter mit Arsen vergiften. Habe gesehen, wie ein Mann, kaum hatte er hinter seinen Gästen die Tür geschlossen, noch immer lächelnd seiner schwangeren Frau ins Gesicht schlägt. Habe gesehen, wie eine Frau, die die Tür hinter ihrem betrunkenen, sich Nachschub besorgenden Mann zuschlägt, ihn betrügt und leidenschaftlich seinen besten Freund küsst. Das ist sehr einfach - zu sehen. Man muss nur hinschauen können. Denn man lehrt uns etwas, noch bevor man uns beibringt, durchs Zwielicht zu spähen - man lehrt uns, nicht hinzuschauen.
Aber wir tun es trotzdem.
Sie sind schwach, haben ein kurzes Leben, haben vor allem Angst. Man darf sie nicht verachten, und es ist ein Verbrechen, sie zu hassen. Man kann sie nur lieben, bedauern und beschützen. Das ist unsere Arbeit und unsere Pflicht. Wir sind die Wache.
Ich glaube das nicht!
Du kannst niemanden zwingen, gemein zu sein. Brauchst niemanden in den Dreck zu stoßen, denn in den tritt jeder nur von allein. Wie auch immer das Leben ist, dafür gibt es keine Rechtfertigung, ist auch keine in Sicht. Trotzdem sucht und findet man sie, die Rechtfertigungen. Alle Menschen kriegen das beigebracht, und sie alle haben sich als gelehrige Schüler erwiesen.
Und wir sind gewiss nur die Besten der Besten.
Ja, gewiss, ja, natürlich, es gab, gibt und wird immer jemanden geben, der kein Anderer geworden ist, sondern es geschafft hat, ein Mensch zu bleiben. Nur sind es wenige, so wenig. Aber vielleicht haben wir nur Angst, sie genau anzusehen. Angst, das zu sehen, was wir dann entdecken könnten.
»Für euch leben?«, fragte ich. Der Wald schwieg, gab sich vorab mit allen meinen Worten einverstanden.
Warum müssen wir alles opfern? Uns selbst und alle, die wir lieben?
Für diejenigen, die das niemals erfahren und niemals schätzen werden?
Selbst wenn sie es erführen, brächte es uns nichts anderes ein als ein ungläubiges Kopfschütteln und den Ausruf:»Blödmänner! «
Vielleicht sollte man der Menschheit irgendwann mal klar machen, was es heißt, ein Anderer zu sein? Was ein einziger Anderer anrichten kann, wenn er nicht durch den Großen Vertrag gebunden ist, wenn er sich der Kontrolle durch die Wachen entzieht?
Ich musste sogar lächeln, als ich mir dieses Bild vorstellte. Das Bild allgemein, nicht mich darin: Mich würde man schnell stoppen. Wie auch jeden Großen Magier oder jede Große Zauberin, die den Vertrag bricht und beschließt, der Welt die Welt der Anderen zu offenbaren.
Was das für ein Spektakel gäbe!
Keine Außerirdischen, die gleichzeitig im Kreml und im Weißen Haus landeten, würden dergleichen fertig bringen.
Doch nein.
Das ist nicht mein Weg.
Und zwar in erster Linie deshalb nicht, weil mir nicht an der Weltherrschaft oder an allgemeinem Chaos gelegen ist.
Ich will nur eins: dass sich die Frau, die ich liebe, nicht opfern muss. Denn der Weg der Großen bedeutet immer ein Opfer. Die sagenhaften Kräfte, die sie erlangen, verändern sie radikal, bis nichts mehr von ihnen übrig ist.
Wir alle sind keine hundertprozentigen Menschen. Aber zumindest erinnern wir uns noch daran, dass wir einmal Menschen waren. Und können uns noch freuen, können traurig sein, lieben und hassen. Die Großen Magier und Zauberinnen überschreiten die Grenze menschlicher Gefühle. Vermutlich empfinden sie ihre eigenen, die wir aber nicht nachvollziehen können. Selbst Geser, ein Magier außerhalb jeder Kategorie, ist kein Großer. Olga hat es nicht geschafft, eine Große zu werden.
Irgendwas haben sie in den Sand gesetzt. Haben eine grandiose Operation im Kampf gegen das Dunkel nicht fertig gebracht.
Und jetzt sind sie bereit, eine neue Kandidatin an die
Front zu werfen.
Um der Menschen willen, die auf Licht und Dunkel pfeifen.
Sie hetzen sie durch alle Kreise, die ein Anderer durchwandern muss. Haben sie bereits auf die dritte Kraftstufe hochgebracht, jetzt muss ihr Bewusstsein nachziehen. In absolut rasantem Tempo.
Wahrscheinlich habe auch ich meinen Platz in diesem Wahnsinnsrennen auf ein unbekanntes Ziel zu. Geser benutzt alles, was ihm gerade unterkommt, mich eingeschlossen. Was auch immer ich getan habe: Vampire gejagt, den Wilden verfolgt, in Olgas Körper mit Sweta gesprochen - ich habe nur nach der Pfeife des Chefs getanzt.
Was ich jetzt auch tue - es ist alles einkalkuliert.
Meine einzige Hoffnung ist, dass selbst Geser nicht alles voraussehen kann.
Dass ich die einzige Tat finde, die seinen Plan zerschlägt. Den großen Plan der Kräfte des Lichts.
Ohne dabei Böses anzurichten. Denn sonst würde mich das Zwielicht erwarten.
Und Swetlana müsste trotzdem den großen Dienst tun.
Ich ertappte mich dabei, dass ich dastand, mein Gesicht gegen den Stamm einer dürren Kiefer gepresst. Dastand und mit der Faust auf den Baum einhämmerte. Aus Wut oder aus Schmerz. Bis ich die Hand senkte, die schon blutete. Worauf der Laut jedoch nicht verstummte. Er kam aus dem Wald, fast von der Stelle her, wo die magische Barriere errichtet war. Ebenso rhythmische Schläge, ein nervöses Klopfen.
Gebückt wie ein Paintballer, der Krieg spielt, rannte ich zwischen den Bäumen hindurch. Ich hatte eine vage Ahnung, was ich sehen würde.
Auf einer kleinen Lichtung sprang ein Tiger. Genauer, eine Tigerin. Ein schwarz-orange gestreiftes Fell glänzte in den Strahlen der aufgehenden Sonne. Die Tigerin sah mich nicht, sie bemerkte jetzt nichts und niemanden. Tollte zwischen den Bäumen herum, und die scharfen Dolche ihrer Krallen rissen die Rinde auf. Weiße Kratzer durchfurchten die Kiefern. Mitunter beruhigte sich die Tigerin etwas, stellte sich auf die Hinterpfoten und bearbeitete gezielt die Stämme mit ihren Krallen.
Ich zog mich langsam zurück.
Jeder von uns entspannt sich auf seine Weise. Jeder von uns trägt seinen Kampf nicht nur mit dem Dunkel aus, sondern auch mit dem Licht. Denn das blendet mitunter.
Man darf uns nur nicht bedauern: Wir sind sehr, sehr stolz. Soldaten im Weltkrieg zwischen Gut und Böse, ewige Freiwillige.
Vier
Der junge Mann betrat das Restaurant mit einer Sicherheit, als käme er jeden Tag zum Frühstück hierher. Aber das war nicht der Fall.
Auch auf den Tisch, an dem ein kleiner dunkelhäutiger Mann saß, steuerte er sofort zu, als würden die beiden sich seit langem kennen. Übrigens traf auch das nicht zu. Beim letzten Schritt ließ er sich langsam auf die Knie sinken. Brach nicht zusammen, warf sich nicht zu Boden, sondern ließ sich ruhig nieder, voller Würde und mit geradem Rücken.
Ein vorbeilaufender Kellner schluckte und machte kehrt. Er hatte schon viel erlebt, weit mehr als solche Banalitäten wie einen popeligen Mafioso, der vor seinem Boss katzbuckelt. Freilich, der jüngere Mann wirkte nicht wie ein kleiner Ganove, der ältere nicht wie ein Boss.
Und die Unannehmlichkeiten, deren Geruch er wahrnahm, drohten weitaus ernster zu werden als ein Bandenkrieg. Er wusste nicht, was genau hier vor sich ging, spürte aber etwas, denn er war ein Anderer, wenn auch kein initiierter.
Übrigens hatte er diese Szene schon im nächsten Moment völlig vergessen. Etwas hatte ihm auf seltsame Weise das Herz zusammengepresst, was genau, vermochte er jedoch nicht zu sagen.
»Steh auf, Alischer«, sagte Geser leise.»Steh auf. Bei uns ist das nicht üblich.«
Der Mann erhob sich und setzte sich dem Oberhaupt der Nachtwache gegenüber. Er nickte.»Bei uns auch nicht. Nicht mehr. Aber mein Vater hat mich darum gebeten, vor dir auf die Knie zu fallen, Geser. Er war noch von der alten Schule. Er hätte vor dir gekniet. Aber er kann es nicht mehr.«
»Du weißt, wie er gestorben ist?«
»Ja. Ich habe es mit seinen Augen gesehen, mit seinen Ohren gehört, habe seinen Schmerz gelitten.«
»Gib auch mir seinen Schmerz, Alischer, Sohn des Devona und einer Menschenfrau.«
»Nimm das, worum du bittest, Geser, Vernichter des Bösen, der du den Göttern gleichst, die es nicht gibt.«
Sie sahen einander in die Augen. Nach einer Weile nickte Geser.»Ich kenne die Mörder. Dein Vater wird gerächt werden.«
»Das muss ich tun.«
»Nein. Du kannst es nicht, und du hast nicht das Recht dazu. Ihr seid illegal nach Moskau gekommen.«
»Nimm mich in deine Wache auf, Geser.«
Der Chef der Nachtwache schüttelte den Kopf.
»Ich war der Beste in Samarkand, Geser.«Der junge Mann sah ihn eindringlich an.»Lach nicht, ich weiß, dass ich hier der Letzte sein werde. Nimm mich in die Wache auf. Als Geringsten unter den Schülern. Als Kettenhund. Beim Gedenken an meinen Vater bitte ich dich - nimm mich in die Wache auf.«
»Du bittest um zu viel, Alischer. Du bittest darum, dass ich dir deinen Tod schenke.«
»Ich bin bereits gestorben, Geser. Als man die Seele meines Vaters trank, bin ich mit ihm gestorben. Lächelnd bin ich fortgegangen, während er die Dunklen abgelenkt hat. Bin in die Metro eingestiegen, während man seine Asche mit Füßen getreten hat. Geser, ich habe das Recht, dich darum zu bitten.«
Geser nickte.»Dann soll es so sein. Du bist in meiner Wache, Alischer.«
Kein Gefühl spiegelte sich auf dem Gesicht des jungen Mannes wider. Er nickte und presste einen kurzen Moment lang die Hand auf die Brust.
»Wo ist das, was ihr mitgebracht habt, Alischer?«
»Ich habe es bei mir, Herr.«
Schweigend streckte Geser die Hand über den Tisch hinweg aus.
Alischer öffnete die Gürteltasche. Und holte sehr behutsam ein kleines rechteckiges Päckchen aus grobem Stoff heraus.»Nimm es, Geser, erlöse mich von dieser Pflicht.«
Gesers Hand bedeckte die seines Gegenübers, die Finger schlossen sich. Schon in der nächsten Sekunde, als Geser die Hand zurückzog, lag nichts mehr auf der des jungen Mannes.»Damit bist du deines Dienstes entbunden, Alischer. Jetzt können wir uns einfach entspannen. Essen, trinken und uns an deinen Vater erinnern. Ich werde dir alles erzählen, woran ich mich erinnern kann.«
Alischer nickte. Doch nichts ließ erkennen, ob ihn die Worte Gesers freuten oder ob er ihm einfach jeden Wunsch erfüllt hätte.
»Wir haben eine halbe Stunde«, meinte Geser beiläufig.»Dann tauchen die Dunklen hier auf. Sie haben deine Spur doch noch aufgenommen. Zu spät zwar, aber immerhin.«
»Wird es einen Kampf geben, Herr?«
»Ich weiß es nicht.«Geser zuckte mit den Achseln.»Was spielt das schon für eine Rolle? Sebulon ist weit weg. Vor den andern habe ich keine Angst.«
»Es wird einen Kampf geben«, meinte Alischer gedankenverloren. Und ließ den Blick durchs Restaurant wandern.
»Vertreibe die Gäste«, riet Geser.»Sanft, unaufdringlich. Ich will mir deine Technik anschauen. Dann werden wir uns entspannen und auf unsern Besuch warten.«
Gegen elf wachten die andern allmählich auf.
Ich wartete auf der Terrasse, in einem Liegestuhl, die Beine ausgestreckt und von Zeit zu Zeit an meinem Strohhalm nuckelnd, der in einem hohen Glas mit Gin Tonic steckte. Es ging mir gut, wie ein Masochist genoss ich den süßen Schmerz. Sobald jemand in der Tür erschien, winkte ich ihm einen freundlichen Gruß zu und schenkte ihm einen kleinen Regenbogen, der aus meinen gespreizten Fingern in den Himmel hinaufschoss. Ein Kinderspaß, über den alle lachen mussten. Als die gähnende Julja diesen Gruß sah, kreischte sie und schickte mir einen Regenbogen zurück. Zwei Minuten lang wetteiferten wir, dann bauten wir aus den beiden Bögen einen neuen, relativ großen, der bis in den Wald reichte. Julja teilte uns mit, sie werde jetzt den Topf mit dem Gold suchen, und schritt stolz unter dem bunten Gewölbe einher. Einer der Terrier rannte gehorsam neben ihr her.
Ich wartete.
Als Erste von denen, auf die ich wartete, tauchte Lena auf. Eine lustige, muntere Frau im Badeanzug. Als sie mich sah, schien sie einen Moment lang peinlich berührt, nickte dann aber und lief zum Tor. Was für eine Freude, zu sehen, wie sie sich bewegte, diese schlanke, wohlgeformte Frau voller Leben. Jetzt würde sie ins kalte Wasser springen, sich allein austoben und mit frischem Appetit zum Frühstück kommen.
Als Nächstes erschien Ignat auf der Bildfläche. In Badehosen und Gummilatschen.»Hallo, Anton!«, rief er fröhlich. Er kam auf mich zu, zog einen Liegestuhl heran und ließ sich auf ihn plumpsen.»Wie ist die Stimmung?«
»Kämpferisch!«, teilte ich mit und hob das Glas an.
»Tüchtig.«Ignat blickte sich suchend nach der Flasche um, fand sie aber nicht, steckte sich den Strohhalm zwischen die Lippen und trank völlig unbekümmert aus meinem Glas.»Zu schlaff, du verdünnst ja.«
»Ich hab gestern Abend mehr als genug gehabt.«
»Stimmt, du solltest dich schonen«, riet Ignat.»Wir haben gestern den ganzen Abend bloß Sekt getrunken. In der Nacht haben wir dann mit Kognak angefangen. Ich hatte schon Angst, der Kopf würde mir heute platzen, ist aber nicht der Fall. Glück gehabt.«
Man konnte ihm nicht einmal böse sein.
»Was wolltest du als kleiner Junge werden, Ignat?«, fragte ich.
»Krankenpfleger.«
»Was?«
»Na ja, es hieß, dass Jungs nicht Krankenschwester werden können, und ich wollte Menschen gesund machen. Deshalb beschloss ich, Krankenpfleger zu werden, wenn ich groß bin.«
»Klasse«, begeisterte ich mich.»Und warum nicht Arzt?«
»Die Verantwortung war mir zu groß«, gestand Ignat selbstkritisch ein.»Außerdem hätte ich zu lange studieren müssen.«
»Und? Bist du Krankenpfleger geworden?«
»Ja. Ich bin im Notarztwagen mitgefahren, für die Psychiatrie. Alle Ärzte haben gern mit mir zusammengearbeitet.«
»Warum?«
»Erstens weil ich sehr charmant bin«, lobte sich Ignat treuherzig selbst.»Ich konnte sowohl mit Frauen wie auch mit Männern auf eine Weise reden, dass sie sich beruhigten und einer Einlieferung ins Krankenhaus zustimmten. Zweitens sah ich, wann ein Mensch wirklich krank war und wann er das Unsichtbare sah. Manchmal konnte ich jemanden beiseite ziehen, ihm klar machen, dass alles in Ordnung sei und wir auf eine Spritze verzichten könnten.«
»Der Medizin ist einiges entgangen.«
»Ja.«Ignat seufzte.»Aber der Chef hat mich überzeugt, dass ich der Wache von größerem Nutzen sein würde. Und das stimmt doch auch, oder?«
»Sicherlich.«
»Ich langweile mich hier schon«, meinte Ignat nachdenklich.»Du nicht? Ich sehne mich bereits nach der Arbeit.«
»Ich wahrscheinlich auch. Hast du ein Hobby, Ignat? Neben der Arbeit?«
»Was fragst du mich denn so aus?«, wunderte sich der Magier.
»Ich bin einfach neugierig. Oder ist das ein Geheimnis?«
»Was haben wir schon für Geheimnisse?«Ignat zuckte mit den Schultern.»Ich sammel Schmetterlinge. Habe eine der besten Kollektionen weltweit. Die nimmt zwei Zimmer ein.«
»Alle Achtung«, meinte ich.
»Besuch mich doch mal und schau sie dir an«, schlug Ignat vor.»Mit Sweta, sie sagt, Schmetterlinge würden ihr auch gefallen.«
Ich lachte so lange, dass sogar Ignat es kapierte. Er stand auf und lächelte unsicher.
»Ich helf den andern mal beim Frühstück«, murmelte er.
»Viel Erfolg«, entgegnete ich bloß. Konnte mir dann aber nicht verkneifen, unserm lichtbringenden Casanova, sobald er die Tür erreicht hatte, hinterherzurufen:»Hör mal, der Chef macht sich doch umsonst Sorgen um Sweta, oder?«
Ignat fasste sich mit beredter Geste ans Kinn.»Du weißt doch, dass er sich nicht umsonst Sorgen macht«, sagte er.»Sie ist wirklich nervös, kann sich einfach nicht entspannen. Dabei warten große Aufgaben auf sie, was man von uns ja nicht gerade behaupten kann.«
»Aber du hast dir alle Mühe gegeben?«
»Was für eine Frage!«Ignat war gekränkt.»Kommt mich mal besuchen, ehrlich, ich würd mich freuen!«
Inzwischen war der Gin warm, schmolz das Eis im Glas. Am Strohhalm prangte ein leichter Abdruck von Lippenstift. Ich schüttelte den Kopf und stellte das
Glas hin.
Geser, du kannst nicht alles voraussehen.
Aber um mich mit dir nicht auf ein magisches Duell einzulassen - allein der Gedanke daran ist absurd -, sondern um auf dem einzigen Gebiet zu kämpfen, das mir zugänglich ist, auf dem Feld aus Wörtern und Taten, muss ich wissen, was du vorhast. Muss wissen, wie die Karten im Stapel liegen und welche du in der Hand hältst.
Wer spielt alles mit?
Geser - der Organisator und Inspirator. Olga - seine Geliebte, die bestrafte Zauberin und Ratgeberin. Swetlana - die eifrig gehegte Vollstreckerin. Ich - eines der Werkzeuge zu ihrer Erziehung. Ignat, Tigerjunges, Semjon und alle anderen Lichten können vernachlässigt werden. Sie sind ebenfalls Werkzeuge, wenn auch von geringerer Bedeutung. Auf sie kann ich nicht zählen.
Die Dunklen?
Natürlich spielen sie eine Rolle, aber keine offensichtliche. Sowohl Sebulon wie auch all seine Handlanger sind durch das Auftauchen von Swetlana in unserem Lager beunruhigt. Können aber nichts direkt dagegen tun. Entweder müssen sie klammheimlich eine Intrige spinnen oder einen derart vernichtenden Schlag vorbereiten, dass er die Wachen an den Rand des Krieges bringt.
Was noch?
Die Inquisition?
Ich trommelte mit den Fingern auf die Armlehne des Liegestuhls.
Die Inquisition. Die Struktur über den Wachen. Sie betrachtet alle Streitfälle, bestraft Gestrauchelte - auf beiden Seiten. Sie wacht. Sammelt Informationen über jeden von uns. Interveniert aber nur in seltenen Fällen, ihre Kraft liegt wohl eher in der Geheimhaltung als in der Kampfstärke. Wenn die Inquisition den Fall eines ziemlich mächtigen Magiers betrachtet, zieht sie Kämpfer von den Wachen hinzu.
Trotzdem - die Inquisition ist involviert. Ich kenne den Chef. Er schlägt aus allem mindestens zwei, drei Vorteile für sich heraus. Vor kurzem diese Geschichte mit Maxim, dem wilden Anderen, dem Lichten, der nun für die Inquisition arbeitet, ist nur ein Beispiel. Der Chef hat Swetlana in diese Sache verwickelt, um ihr eine Lektion in Selbstkontrolle und Intrigenspiel zu erteilen, nebenbei aber auch einen neuen Inquisitor entdeckt.
Wenn ich nur wüsste, worauf Swetlana vorbereitet wird!
Noch versinkt alles um mich herum in Dunkelheit. Und was das Schlimmste ist - ich entferne mich vom Licht. Ich stöpselte die Kopfhörer ein, schloss die Augen.
Heute Nacht, wenn so wunderbunt der Farn sich entrollt,
Heute Nacht, wenn der Hausgeist nach Hause sich trollt,
Nördlich Sturm geballt, Wind von Westen kalt,
Also winkt mit der Hand mir die Zauberin bald.
Wie die Mauser in der Tasche wart ich auf ein Wunder,
Wie im Netz die Spinne lauert,
Wie ein Baum in Ödnis kauert,
Wie der schwarze Fuchs im Bau darunter.
Das ist riskant. Sehr riskant. Die Großen Zauberinnen gehen über die eigenen Leute hinweg, aber selbst sie würden es nicht wagen, gegen die eigenen Leute anzugehen. Einzelgänger überleben nicht.
Durchs Fernrohr bin ich geflohen vor ängstlichen Kinderaugen,
Mit der Nixe wollte ich schlafen - nun ja, das konnte nichts taugen.
Ich wollt in dein Fenster fahren verwandelt als Straßenbahn.
Vom Stadtrand her weht der Wind - egal, was liegt daran?
Vom Stadtrand her weht der Wind - egal, was liegt daran?
Sei mir Schattenkontur, knarr wie Dielen im Flur,
Bunter Sonntag, mein sprühender Regen.
Sei mein Gottesbild, Birkensaft, der quillt,
Klingel, die da schrillt, mein verbogener Degen.
Ich lache und weiß ja, du bist der Wind,
Der mir entgegenweht;
Ich kämpfe um dich, solang ich es noch bin,
Der durch die Träume dir geht.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter.
»Guten Morgen, Sweta«, sagte ich und öffnete die Augen.
Sie trug Shorts und einen Badeanzug. Das Haar war feucht und ordentlich gekämmt. Vermutlich hatte sie geduscht. Woran ich Schwein nicht mal gedacht hatte.
»Hast du den gestrigen Abend gut überstanden?«, wollte sie wissen.
»Ja. Und du?«
»Ich auch.«Sie wandte sich ab.
Ich wartete. Aus meinen Kopfhörern erklang Splin.
»Was hast du von mir erwartet?«, fragte Sweta
scharf.»Ich bin eine normale, gesunde junge Frau. Seit dem Winter habe ich mit keinem Mann mehr geschlafen. Ich verstehe ja, dass du dir einbildest, Geser habe mich zu dir gebracht wie ein Pferd zum Beschälen, und dich deshalb so komisch aufführst.«
»Ich habe gar nichts erwartet.«
»Dann entschuldige die böse Überraschung!«
»Hast du meine Spur im Zimmer gespürt? Beim Aufwachen?«
»Ja.«Umständlich zog Swetlana aus der schmalen Hosentasche ein Päckchen Zigaretten hervor und zündete sich eine an.»Ich bin müde. Selbst wenn ich jetzt nur lerne und nicht arbeite, bin ich müde. Und bin hierher gekommen, um mich zu erholen.«
»Du hast doch selbst gesagt, dass dir die Fröhlichkeit hier aufgesetzt vorkommt…«
»Und du hast dich dem nur zu begeistert angeschlossen!«
»Stimmt«, gab ich zu.
»Und dann bist du weggegangen, um Wodka zu saufen und Verschwörungen aufzuziehen.«
»Verschwörungen gegen wen?«
»Gegen Geser. Und gegen mich, nebenbei bemerkt. Wirklich komisch! Selbst ich habe das gespürt! Du solltest dich nicht für einen so großen Magier halten, der…«
Sie stockte. Aber zu spät.
»Ich bin kein großer Magier«, sagte ich.»Dritter Grad. Vielleicht auch zweiter. Mehr nicht. Jeder hat eben seine Grenzen, die er nicht überschreiten kann, selbst wenn er tausend Jahre lebt.«
»Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen«, meinte Sweta verstört. Sie ließ die Hand mit der Zigarette sinken.
»Vergiss es. Ich nehme so was nicht krumm. Weißt du eigentlich, warum die Dunklen so oft untereinander Familien gründen, während wir uns lieber eine Frau oder einen Mann unter den Menschen suchen? Die Dunklen ertragen Ungleichheit und permanente Konkurrenz besser.«
»Ein Mensch und ein Anderer - das ist noch größere Ungleichheit.«
»Das zählt nicht. Wir gehören zwei unterschiedlichen Arten an. Das kannst du nicht vergleichen.«
»Ich möchte, dass du eins weißt.«Swetlana nahm einen tiefen Zug.»Ich wollte es nicht so weit kommen lassen. Ich habe darauf gewartet, dass du herunterkommst, alles siehst und eifersüchtig wirst.«
»Tut mir Leid, aber ich habe nicht gewusst, dass ich eifersüchtig werden soll«, gab ich ehrlich zu.
»Aber dann ist alles irgendwie aus dem Ruder gelaufen. Ich konnte nichts mehr dagegen tun.«
»Das verstehe ich doch, Sweta. Das ist in Ordnung.«
Verwirrt sah sie mich an.»In Ordnung?«
»Natürlich. Wem würde das nicht mal passieren. Die Wache ist eine große und starke Familie. Mit allen daraus resultierenden Folgen.«
»Was du für ein Vieh bist«, presste sie hervor.»Du solltest dich jetzt mal sehen, Anton! Wie kannst du es wagen, dich noch als einer von uns zu bezeichnen!«
»Sweta, bist du nicht gekommen, um dich zu vertragen?«, fragte ich verwundert.»Also, ich vertrage
mich. Alles ist in Ordnung. Was passiert ist, zählt nicht. Das ist das Leben, da muss man mit allem Möglichen rechnen.«
Sie fuhr hoch und durchbohrte mich kurz mit eisigem Blick. Ich blinzelte rasch und verwirrt.
»Idiot«, knallte sie mir an den Kopf und ging ins Haus.
Was hatte sie denn erwartet? Dass ich beleidigt bin, ihr Vorwürfe mache, traure?
Aber das spielte keine Rolle. Was hatte Geser erwartet? Was würde sich ändern, wenn ich die Rolle des unglücklich in Sweta Verliebten aufgeben würde? Würde diesen Platz jemand anders einnehmen? Oder war es für sie schon an der Zeit, allein zu bleiben - allein mit ihrem großen Schicksal?
Das Ziel. Ich musste Gesers Ziel in Erfahrung bringen.
Mit einem Ruck erhob ich mich vom Liegestuhl und ging ins Haus. Wo ich sofort auf Olga stieß. Sie war allein im Wohnzimmer. Stand vor der offenen Vitrine mit den Schwertern, hielt eine lange schmale Klinge in den ausgestreckten Händen. Sah sie an - nein, so betrachtet man kein antiquarisches Spielzeug. Tigerjunges sah vermutlich mit einem ähnlichen Blick auf ihre Schwerter. Bloß dass für sie die Liebe zu alten Waffen etwas Abstraktes war. Für Olga nicht.
Als Geser nach Russland gekommen war, um hier zu leben und zu arbeiten - übrigens ihretwegen -, mochten solche Schwerter noch in Gebrauch gewesen sein.
Vor achtzig Jahren, als Olga alle Rechte entzogen wurden, kämpfte man schon anders.
Die ehemalige Große Zauberin. Das einstige Große Ziel. Vor achtzig Jahren.
»Was für ein schöner Plan«, sagte ich.
Olga erzitterte und drehte sich um.
»Allein besiegst du das Dunkel nicht. Man muss warten, bis die Menschen aufgeklärter sind. Besser und zärtlicher sind, arbeitsamer und weiser sind. Man muss warten, bis jeder Andere nichts mehr sieht außer dem Licht. Was für ein Ziel! Wie lange die Kreise auseinander laufen mussten, während es im Blut versank.«
»Hast du es also doch herausbekommen?«, sagte Olga.»Oder erraten?«
»Erraten.«
»Gut. Und weiter?«
»Was hast du falsch gemacht, Olga?«
»Ich habe mich auf einen Kompromiss eingelassen. Einen kleinen Kompromiss mit dem Dunkel. Mit dem Ergebnis, dass wir verloren haben.«
»Wir? Wir werden immer mit heiler Haut davonkommen. Uns anpassen, einordnen, einleben. Und den alten Kampf wieder aufnehmen. Verloren haben nur die Menschen.«
»Ab und zu muss man zurückweichen.«Locker umfasste Olga das zweihändige Schwert mit einer Hand und schwang es über dem Kopf.»Seh ich aus wie ein Hubschrauber im Leerlauf?«
»Du siehst aus wie eine Frau, die mit einem Schwert fuchtelt. Haben wir denn wirklich nichts gelernt, Olga?«
»Doch, und wie. Diesmal wird alles anders, Anton.«
»Eine neue Revolution?«
»Wir wollten schon die erste nicht. Alles muss ohne Blutvergießen geschehen. Du verstehst doch: Wir siegen nur durch die Menschen. Indem wir sie aufklären, ihren Geist emporheben. Der Kommunismus war ein hervorragend ausgetüfteltes System, und es ist nur meine Schuld, dass er nicht verwirklicht wurde.«
»Oho! Warum bist du dann noch nicht im Zwielicht, wenn es deine Schuld war?«
»Weil alles abgestimmt war. Jeder Schritt zuvor abgesegnet worden ist. Selbst dieser unglückselige Kompromiss, selbst der schien möglich.«
»Und jetzt startet ein neuer Versuch, die Menschen zu ändern?«
»Der nächste.«
»Warum hier?«, fragte ich.»Warum schon wieder bei uns?«
»Was heißt, bei uns?«
»In Russland. Wie viel soll dieses Land denn noch ertragen?«
»So viel, wie nötig ist.«
»Also warum wieder bei uns?«
Sie seufzte und steckte das Schwert mit leichter Geste in die Scheide. Legte es in die Vitrine zurück.»Weil, mein lieber Junge, es auf diesem Feld noch möglich ist, etwas zu erreichen. Europa, Nordamerika - diese Länder sind bereits abgearbeitet. Was möglich war, wurde ausprobiert. Sicher, einiges versucht man auch heute noch. Aber sie dösen schon vor sich hin, schlafen. Der kräftige Rentner in Shorts mit seiner Videokamera - das sind die wohlhabenden westlichen Länder. Aber experimentieren muss man mit den Jungen. Russland, Asien, die arabische Welt - da muss man heute ansetzen. Und mach nicht so ein empörtes Gesicht, ich liebe meine Heimat nicht weniger als du! Ich habe für sie schon mehr Blut vergossen, als in deinen Adern fließt. Eins musst du verstehen, Antoschka - das Schlachtfeld ist die ganze Welt. Das weißt du schließlich genauso gut wie ich.«
»Wir kämpfen gegen das Dunkel, nicht gegen die Menschen!«
»Ja, gegen das Dunkel. Aber siegen können wir nur, wenn wir eine ideale Gesellschaft aufbauen. Eine Welt, in der Liebe, Güte und Gerechtigkeit herrschen. Die Arbeit der Wachen besteht schließlich nicht darin, psychopathische Magier auf den Straßen einzufangen und Lizenzen an Vampire auszugeben! All diese Kleinigkeiten kosten uns Zeit und Kraft, sind aber zweitrangig, wie die Wärme bei Glühbirnen. Lampen sollen für Helligkeit sorgen, nicht für Wärme. Wir müssen die Menschenwelt ändern, nicht die kleineren Ausgeburten des Dunkels liquidieren. Das ist das Ziel. Das ist der Weg zum Sieg!«
»Das verstehe ich doch, Olga.«
»Gut. Dann solltest du auch begreifen, worüber man nicht offen spricht. Wir kämpfen seit Jahrtausenden. Und die ganze Zeit über versuchen wir, den Lauf der Geschichte in eine völlig neue Bahn zu lenken. Eine neue Welt zu erschaffen.«
»Eine schöne neue Welt.«
»Du brauchst dich nicht darüber lustig zu machen. Einiges haben wir immerhin erreicht. Durch Blut und durch Leid ist die Welt doch humaner geworden. Notwendig ist aber ein richtiger, ein echter Umsturz.«
»Der Kommunismus war unsere Idee?«
»Nicht unsere, aber wir haben sie unterstützt. Sie schien uns einigermaßen attraktiv.«
»Und jetzt?«
»Das wirst du sehen.«Olga lächelte. Freundlich, aufrichtig.»Alles wird gut, Anton. Vertraue mir.«
»Ich muss es wissen.«
»Nein. Genau das ist nicht nötig. Du brauchst dich nicht aufzuregen, eine Revolution ist nicht geplant. Keine Lager, Erschießungen, Schauprozesse. Wir wiederholen die alten Fehler nicht.«
»Dafür werden wir neue machen.«
»Anton!«Sie hob die Stimme.»Was erlaubst du dir eigentlich? Wir haben hervorragende Chancen zu siegen. Für unser Land Frieden, Ruhe, Aufklärung zu erlangen! Uns an die Spitze der Menschheit zu stellen. Das Dunkel zu überwinden. Zwölf Jahre Vorbereitung, Anton. Und nicht nur Geser hat daran gearbeitet, die gesamte obere Führung.«
»Wie bitte?«
»Ja. Hast du denn geglaubt, wir würden einfach drauflos handeln?«
Ich konnte es nicht fassen.»Ihr seid Swetlana seit zwölf Jahren auf der Spur?«
»Natürlich nicht! Wir haben ein neues Gesellschaftsmodell ausgearbeitet. Bestimmte Elemente des Plans erprobt. Selbst ich kenne nicht alle Details. Seit dieser Zeit wartet Geser, dass die Teilnehmer des Plans in Raum und Zeit zusammenkommen.«
»Wer genau? Swetlana und der Inquisitor?«
Kurz verengten sich ihre Pupillen, und ich wusste, dass ich richtig geraten hatte. Teilweise.
»Wer noch? Welche Rolle spiele ich dabei? Und was wirst du tun?«
»Du wirst es zu gegebener Zeit erfahren.«
»Olga, es hat noch nie zu etwas Gutem geführt, wenn man das Leben der Menschen mit Magie verändern wollte.«
»Spar dir deine Axiome aus der Schule.«Sie war wirklich aufgebracht.»Glaub nicht, dass du klüger bist als andere. Wir haben nicht vor, Magie anzuwenden. Du kannst dich also beruhigen und entspannen.«
Ich nickte.»Gut. Du hast mir deine Position dargelegt, ich kann mich ihr nicht anschließen.«
»Offiziell?«
»Nein. Im privaten Rahmen. Und als Privatperson habe ich das Recht, Widerstand zu leisten.«
»Gegen wen? Gegen Geser?«Olga riss die Augen auf, verzog die Mundwinkel zu einem angedeuteten Lächeln.»Anton!«
Ich drehte mich um und ging.
Ja, es war komisch.
Ja, es war absurd.
Nicht nur einfach eine konfuse Aktion, die Geser und Olga da durchführten. Nicht nur der Versuch, das gescheiterte Gesellschaftsexperiment zu wiederholen. Diese seit langem geplante, gut vorbereitete Operation, in die ich unglücklicherweise hineingeraten war.
Gebilligt von der obersten Führung.
Gebilligt vom Licht.
Warum regte ich mich da auf? Dazu hatte ich einfach kein Recht. Nicht das geringste. Und keine Aussichten. Absolut keine. Man könnte sich mit der Weisheit vom
Sandkorn in einem Uhrwerk trösten, aber im Moment war ich eher ein Sandkorn zwischen zwei Mühlsteinen.
Und, was das Traurigste ist, zwischen freundlichen und sorgsamen Mühlsteinen. Niemand wird mich verfolgen. Niemand wird gegen mich kämpfen. Sondern mich bloß daran hindern, Dummheiten zu machen, aus denen ohnehin nichts Gescheites erwachsen würde. Niemals.
Warum tut es dann so weh, warum sitzt in meiner Brust dieser unerträgliche Schmerz?
Ich stand auf der Terrasse, presste in hilflosem Zorn die Fäuste zusammen, als sich mir eine Hand auf die Schulter legte.
»Offenbar hast du etwas herausgekriegt, Anton?«
Ich sah Semjon an und nickte.
»Schlimm?«
»Ja«, gestand ich.
»Bitte verstehe eins. Du bist kein Sandkorn. Kein Mensch ist ein Sandkorn. Und erst recht kein Anderer.«
»Wie lange muss man leben, um die Gedanken so genau erraten zu können?«
»An die hundert Jahre, Anton.«
»Dann kann Geser die Gedanken von jedem von uns lesen wie ein offenes Buch.«
»Natürlich.«
»Dann muss ich wohl das Denken verlernen«, sagte ich.
»Zunächst mal muss man es lernen. Du weißt, dass es in der Stadt einen Zwischenfall gegeben hat?«
»Wann?«
»Vor einer Viertelstunde. Es ist schon alles wieder vorbei.«
»Was ist passiert?«
»Der Chef hat einen Kurier empfangen, einen aus dem Orient. Die Dunklen haben versucht, ihn aufzuspüren und zu vernichten. Unter den Augen des Chefs.«Semjon grinste.
»Das bedeutet Krieg!«
»Nein, sie hatten das Recht dazu. Der Kurier ist illegal eingereist.«
Ich schaute mich um. Niemand rannte herum. Niemand ließ ein Auto an, niemand raffte seine Sachen zusammen. Ignat und Ilja heizten den Grill schon wieder an.
»Müssen wir denn nicht zurück?«
»Nein. Der Chef ist allein damit fertig geworden. Es gab einen kleinen Kampf, jedoch ohne Opfer. Der Kurier wurde in die Wache aufgenommen, und die Dunklen waren gezwungen, wieder abzuziehen. Nur das Restaurant hat ein wenig gelitten.«
»Was für ein Restaurant?«
»In dem sich der Chef mit dem Kurier getroffen hat«, erklärte Semjon geduldig.»Wir brauchen unsern Urlaub nicht abzubrechen.«
Ich sah in den Himmel - er war blendend blau, von Hitze satt.
»Eigentlich will ich nicht länger ausspannen. Ich fahre nach Moskau zurück. Ich glaube nicht, dass mir das jemand übel nimmt.«
»Natürlich nicht.«
Semjon holte seine Zigaretten heraus und zündete sich eine an.»An deiner Stelle würde ich versuchen herauszufinden«, bemerkte er beiläufig,»was genau der Kurier aus dem Orient mitgebracht hat. Vielleicht ist das deine Chance.«
Ich lachte bitter auf.»Die Dunklen konnten das nicht in Erfahrung bringen, und du schlägst mir vor, den Safe vom Chef zu knacken?«
»Die Dunklen konnten es nicht an sich bringen. Was auch immer es ist. Du hast natürlich kein Recht, die Ware an dich zu nehmen oder auch nur anzufassen. Aber herauszubekommen…«
»Danke. Ganz ehrlich, danke.«
Semjon nickte, nahm ohne falsche Bescheidenheit meinen Dank an.»Im Zwielicht werden wir quitt. Ja, weißt du, mir reicht es auch. Nach dem Essen leihe ich mir das Motorrad von Tigerjunges und fahre in die Stadt. Kommst du mit?«
»Hm.«
Es war mir peinlich. Wahrscheinlich kann diese Art von Scham nur ein Anderer in vollem Ausmaß empfinden. Wir begreifen stets, wenn man uns entgegenkommt, wenn man uns unverdiente Geschenke macht, die zurückzuweisen es uns an Kraft mangelt.
Ich konnte nicht länger hier bleiben. Auf gar keinen Fall. Sweta sehen, Olga, Ignat. Ihre Wahrheit hören.
Meine Wahrheit würde ich niemals aufgeben.
»Kannst du Motorrad fahren?«, fragte ich, das Gespräch ungeschickt in eine andere Richtung lenkend.
»Ich habe an der ersten Rallye Paris-Dakar teilgenommen. Jetzt lass uns den Jungs helfen.«
Finster sah ich Ignat an, der Brennholz schlug. Das Beil handhabte er virtuos. Nach jedem Schlag verharrte er einen Moment, bedachte die Umstehenden mit einem flüchtigen Blick und ließ die Muskeln spielen.
Er liebte sich sehr. Die ganze übrige Welt übrigens nicht weniger. Aber sich selbst in erster Linie.
»Helfen wir ihnen«, stimmte ich zu. Ich holte weit aus und warf durch das Zwielicht das Zeichen der Dreifachschneide. Einige Kloben zerfielen zu akkuraten Scheiten. Ignat, der das Beil gerade zum nächsten Schlag hob, verlor das Gleichgewicht und wäre beinah gefallen. Er riss den Kopf herum.
Natürlich hatte mein Schlag eine Spur im Raum hinterlassen. Das Zwielicht klirrte, sog die Energie gierig auf.
»Was soll denn das, Antoscha?«, fragte Ignat leicht gekränkt.»Warum hast du das gemacht? Das ist nicht sportlich!«
»Dafür aber effektiv«, entgegnete ich und verließ die Terrasse.»Gibt es noch mehr zu hacken?«
»Du hast Ideen.«Ignat bückte sich und sammelte die Scheite auf.»Es kommt noch so weit, dass wir das Schaschlik mit Feuerkugeln grillen.«
Ich fühlte mich nicht schuldig, half ihm aber trotzdem. Das Brennholz war sauber gehackt, die Stücke blitzten saftig bernsteingelb. Schade eigentlich - solche Schönheit zu verfeuern.
Nach einer Weile sah ich zum Haus hinüber und bemerkte in einem Fenster im ersten Stock Olga.
Mit sehr ernster Miene beobachtete sie meine Eskapaden. Mit allzu ernster Miene.
Ich winkte ihr zu.
Fünf
Tigerjunges besaß ein prima Motorrad, falls man dieses Allerweltswort überhaupt auf eine Harley anwenden kann. Selbst wenn es das einfachste Modell ist - es gibt eben Harley Davidsons, und es gibt andere Motorräder.
Wozu Tigerjunges das Ding brauchte, wusste ich nicht, konnte sie doch höchstens ein- oder zweimal pro Jahr damit fahren. Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund wie die riesige Villa, wo die Zauberin bloß die Wochenenden verbrachte. Immerhin erreichten wir die Stadt dadurch noch vor zwei Uhr mittags.
Semjon ging virtuos mit dem schweren Zweirad um. Ich hätte das niemals gekonnt, selbst wenn ich die in meinem Gedächtnis gespeicherten»extremen Fähigkeiten«aktiviert und die Realitätslinien überprüft hätte. Zwar könnte ich fast genauso schnell fahren, indem ich eine ordentliche Portion meines Kraftvorrats verbrauchte. Aber Semjon fuhr einfach - menschlichen Fahrern gegenüber allein aufgrund seiner weit größeren Erfahrung im Vorteil.
Selbst bei einer Geschwindigkeit von hundert Stundenkilometern blieb die Luft heiß. Der Wind peitschte uns wie ein raues sengendes Handtuch gegen die Wangen. Als ob wir durch ein Ofenrohr rasten - einen endlosen Asphaltschlauch voller sich ächzend dahin-schleppender, bereits in der Sonne gegrillter Autos entlang.
Dreimal hatte ich den Eindruck, dass wir in irgendeinen Wagen knallten oder in einen plötzlich voller Diensteifer auftauchenden Kilometerstein. Natürlich würden wir kaum tödlich verunglücken, die andern würden etwas spüren, kommen, unsere Einzelteile einsammeln - aber angenehm wäre das nicht.
Wir gelangten ohne Zwischenfälle an unser Ziel. Nach der Ringautobahn setzte Semjon fünfmal Magie ein, allerdings nur, um den Blick der Verkehrspolizisten in eine andere Richtung zu lenken.
Nach meiner Adresse fragte Semjon nicht, obwohl er noch nie bei mir gewesen war. Er hielt am Hauseingang an und stellte den Motor aus. Die Jugendlichen, die auf dem Kinderspielplatz billiges Bier in sich hineinkippten, verstummten augenblicklich und starrten auf das Motorrad. Wie schön, wenn man im Leben noch solch einfache und klare Träume hat: Bier, Ecstasy in der Disco, eine tolle Freundin und eine Harley unterm Hintern.
»Hast du es schon lange vorausgesehen?«, fragte Semjon.
Ich erschauerte. Eigentlich hatte ich mich nicht darüber ausgelassen, dass ich das überhaupt konnte.»Seit einiger Zeit.«
Semjon nickte. Sah nach oben, zu meinen Fenstern hin. Was ihn auf diese Frage gebracht hatte, sagte er nicht.»Soll ich mit raufkommen?«
»Hör mal, ich bin kein Mädchen, dass du mich bis vor die Tür bringen musst.«
»Verwechsel mich nicht mit Ignat«, lachte der Magier.»Gut, Spaß beiseite. Sei vorsichtig.«
»Wobei?«
»Bei allem, nehme ich an.«
Der Motor der Harley heulte auf. Der Magier schüt-
telte den Kopf.»Irgendwas ist im Gange, Anton. Zieht herauf. Sei vorsichtig.«
Er schoss los, unter Beifallsrufen der Jugend, fädelte sich geschickt in den schmalen Spalt zwischen einem geparkten Wolga und einem gemächlich dahintuckernden Shiguli ein. Kopfschüttelnd schaute ich ihm nach. Auch ohne jede Sehergabe wusste ich, dass Semjon den ganzen Tag durch Moskau brettern und sich dann irgendwelchen Rockern anschließen würde, die ihn binnen einer Viertelstunde als einen der ihren akzeptieren würden, und dabei entstünden allerlei Legenden über den verrückten alten Motorradfahrer.
Sei vorsichtig…
Wobei?
Und vor allem, wozu?
Ich ging zur Haustür, hämmerte automatisch den Code ins Schloss ein und rief den Fahrstuhl. Am Morgen hatte ich noch die Datsche genossen, meine Freunde, alles war in Butter gewesen.
Nichts hatte sich geändert, nur dass ich nicht mehr dort war.
Es heißt, wenn ein Lichter Magier durchdreht, gehen dem immer»Blitze«voraus, wie bei einem Kranken vor einem epileptischen Anfall. Eine sinnlose Anwendung der Kraft, zum Beispiel Fliegen mit Feuerkugeln zu beschießen oder Feuerholz mit Kampfzaubern zu zerhacken. Ein Streit mit der Liebsten. Unerwartete Entfremdung von den einen Freunden und eine ebenso überraschende Annäherung an die anderen. All das ist bekannt, und wir alle wissen, womit ein solcher Ausbruch der Lichten endet.
Sei vorsichtig…
Ich ging zur Wohnungstür und langte nach den Schlüsseln.
Nur dass die Tür offen stand.
Meine Eltern hatten Schlüssel. Aber sie wären nie aus Saratow angereist, ohne mir vorher Bescheid zu geben. Außerdem hätte ich ihre Nähe gespürt.
Ein einfacher menschlicher Bandit könnte nie in meine Wohnung einbrechen, ihn würde das simple Zeichen an der Schwelle aufhalten. Für Andere gibt es ebenfalls einige Hindernisse. Deren Überwindung natürlich nur eine Frage der Kraft ist. Trotzdem hätten die Alarmanlagen funktionieren müssen!
Ich blieb an der Tür stehen, linste durch den schmalen Spalt zwischen der Tür und dem Pfosten, durch jenen Spalt, der nicht hätte da sein dürfen. Spähte durchs Zwielicht - sah aber nichts.
Waffen hatte ich keine bei mir. Meine Pistole lag in der Wohnung. Ein Dutzend Kampfamulette ebenfalls.
Ich könnte jetzt ganz nach Anweisung vorgehen. Ein Wächter der Nacht, der das Eindringen eines Fremden in einer magisch geschützten Wohnung feststellt, ist verpflichtet, den Dienst habenden Fahnder und seinen Betreuer zu informieren, worauf…
Allein bei der Vorstellung, jetzt Geser anzurufen, zwei Stunden nachdem er mal eben die gesamte Tagwache aufgemischt hatte, verflüchtigte sich jeder Wunsch, die Anweisungen zu befolgen. Ich krümmte die Finger, um den schnellen Gefrierzauber einzuleiten. Vielleicht erinnerte ich mich noch an die wirkungsvolle Geste von Semjon.
Sei vorsichtig?
Ich stieß die Tür auf und trat in meine Wohnung, die
augenblicklich zu einer fremden geworden war.
Noch beim Hineingehen wurde mir klar, wessen Kräfte ausreichen, wer die Macht sowie schlicht und ergreifend die Chuzpe haben würde, uneingeladen bei mir einzudringen.
»Guten Tag, Chef!«, sagte ich und schaute ins Arbeitszimmer.
In einem Punkte immerhin lag ich richtig.
Sebulon saß in einem Sessel am Fenster und zog verwundert die Augenbrauen hoch. Er legte die Zeitung Argumente und Fakten beiseite, die er gerade gelesen hatte. Nahm mit einer akkuraten Geste die Brille mit dem schmalen Goldrahmen ab. Und erst dann bequemte er sich zu einer Antwort.
»Guten Tag, Anton. Weißt du, ich wäre froh, wenn ich dein Chef wäre.«
Er lächelte, der Dunkle Magier außerhalb jeder Kategorie, das Oberhaupt der Tagwache Moskaus. Wie immer trug er einen tadellos sitzenden schwarzen Anzug und ein hellgraues Hemd. Dieser magere, kurzhaarige Andere unbestimmbaren Alters.
»Ich habe mich halt geirrt«, sagte ich.»Was machst du hier?«
Sebulon zuckte mit den Schultern.»Nimm das Amulett. Es liegt irgendwo im Schreibtisch, das spüre ich.«
Ich ging zum Schreibtisch, zog die Schublade auf und holte das beinerne Amulett an der Kupferkette heraus. Sobald ich meine Faust darum ballte, spürte ich, wie das Amulett sich erwärmte.
»Sebulon, du hast keine Macht über mich.«
»Gut«, meinte der Dunkle Magier nickend.»Ich will
nicht, dass du Zweifel an deiner eigenen Sicherheit hegst.«
»Was machst du im Haus eines Lichten, Sebulon? Das gibt mir das Recht, dich vor das Tribunal zu bringen.«
»Ich weiß.«Sebulon breitete die Arme aus.»Ich weiß das alles. Ich bin nicht im Recht. Bin dumm. Reite mich und die Tagwache in sonst was rein. Aber ich bin nicht als Feind zu dir gekommen.«
Ich hüllte mich in Schweigen.
»Ja, wegen der Überwachungsanlagen brauchst du dir keine Gedanken machen«, meinte Sebulon lässig.»Weder um eure noch um die der Inquisition. Ich habe mir erlaubt, sie, sagen wir, ruhig zu stellen. Alles, was wir miteinander besprechen, bleibt für immer unter uns.«
»Trau einem Menschen zur Hälfte, einem Lichten zu einem Viertel und einem Dunklen überhaupt nicht«, knurrte ich.
»Natürlich. Du hast Recht, mir nicht zu trauen. Musst das sogar! Aber ich bitte dich, mich anzuhören.«Unversehens lächelte Sebulon, und zwar erstaunlich offen und friedfertig.»Du bist doch ein Lichter. Du bist verpflichtet zu helfen. Allen, die dich darum bitten, selbst mir. Und ich bitte dich darum.«
Zögernd ging ich zu dem kleinen Sofa und setzte mich. Ohne mir die Schuhe auszuziehen, ohne den in der Schwebe befindlichen»Freeze«auszuheben - als sei die Vorstellung, mit Sebulon zu kämpfen, nicht absolut lächerlich.
Ein Fremder in der eigenen Wohnung. My home is my castle - in den Jahren meiner Arbeit für die Wache hatte ich fast begonnen, an diese Worte zu glauben.
»Als Erstes - wie bist du hier hereingekommen?«, fragte ich.
»Als Erstes habe ich einen ganz gewöhnlichen Dietrich genommen, aber…«
»Sebulon, du weißt ganz genau, was ich meine. Die Signalbarriere kann man zerstören, aber nicht täuschen. Sie hätte losgehen müssen, sobald jemand Fremdes eindringt.«
Der Dunkle Magier seufzte.»Kostja hat mir geholfen, hier reinzukommen. Du hast ihm doch die Erlaubnis erteilt, deine Wohnung zu betreten.«
»Ich hatte gedacht, er sei mein Freund. Auch wenn er ein Vampir ist.«
»Aber er ist dein Freund.«Sebulon lächelte.»Und will dir helfen.«
»Auf seine Art.«
»Auf unsere Art. Anton, ich bin in deine Wohnung gekommen, aber ich will dir keinen Schaden zufügen. Ich habe mir keine Arbeitsunterlagen angeschaut, die du hier aufbewahrst. Habe keine Zeichen hinterlassen, um hier etwas zu observieren. Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.«
»Dann sprich.«
»Wir beide haben ein Problem, Anton. Dasselbe Problem. Und heute hat es kritische Ausmaße angenommen.«
Schon als ich Sebulon erblickt hatte, war mir klar gewesen, worauf unser Gespräch hinauslaufen würde. Darum nickte ich nur.
»Gut, du verstehst das.«Der Dunkle Magier rückte ein wenig vor, seufzte.»Ich mache mir keine falschen Hoffnungen, Anton. Wir sehen die Welt auf unterschiedliche Weise. Und verstehen unter der eigenen Pflicht nicht dasselbe. Doch selbst in einer solchen Situation kann es Schnittpunkte geben. Uns, den Dunklen, kann man aus eurer Sicht einiges vorwerfen. Wir verhalten uns nicht immer ganz eindeutig. Den Menschen begegnen wir, wenn auch gezwungenermaßen, aufgrund unserer Natur, weniger aufmerksam. Ja, all das stimmt. Aber niemand, merk dir das, niemand hat uns jemals vorgeworfen, wir würden versuchen, das Schicksal der Menschheit durch eine globale Intervention zu verändern! Nach Abschluss des Großen Vertrages haben wir unser Leben gelebt und wollten, dass ihr es genauso handhabt.«
»Niemand wirft euch das vor«, gab ich zu.»Denn die Zeit, so merkwürdig das auch anmutet, arbeitet für euch.«
Sebulon nickte.»Und was heißt das? Vielleicht, dass wir den Menschen näher sind? Vielleicht, dass wir Recht haben? Doch lassen wir diesen Streit, der nimmt nie ein Ende. Ich wiederhole, was ich schon einmal gesagt habe: Wir achten den Vertrag. Und halten uns teilweise weit genauer an ihn als die Kräfte des Lichts.«
Die übliche Taktik bei einem Streit. Zunächst erkennt man irgendeine allgemeine Schuld an. Dann wirft man dem Gegenüber andeutungsweise eine ähnlich allgemeine Sünde vor. Liest ihm die Leviten und winkt gleich ab - vergessen wir das.
Und erst danach wechselt man zum eigentlichen Anliegen über.
»Lass uns jetzt aber zum Wesentlichen kommen.«Sebulon wurde ernst.»Was sollen wir lange drum herumreden. Im letzten Jahrhundert haben die Kräfte des Lichts drei globale Experimente durchgeführt. Die Revolution in Russland. Den Zweiten Weltkrieg. Und jetzt wieder. Immer nach dem gleichen Szenario.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich. In der Brust meldete sich ein wehmütiger Schmerz.
»Wirklich nicht? Ich werde es dir erklären. Es sind Modelle ausgearbeitet worden, die - wenn auch nur durch außergewöhnliche Erschütterungen und enormes Blutvergießen - die Menschheit oder einen beachtlichen Teil von ihr zu einer idealen Gesellschaft führen sollten. Ideal aus eurer Sicht, aber dagegen sage ich ja gar nichts! Bestimmt nicht. Jeder hat sein Recht auf seinen Traum. Aber euer Weg ist sehr grausam…«Erneut dieses traurige Lächeln.»Ihr werft uns Grausamkeit vor, und zu Recht. Aber was ist ein bei einer schwarzen Messe geopfertes Kind im Vergleich zu einem ganz gewöhnlichen faschistischen Konzentrationslager für Kinder? Und der Faschismus ist schließlich ebenfalls euer Werk. Das euch außer Kontrolle geraten ist. Erst der Internationalismus und der Kommunismus - die nicht funktioniert haben. Dann der Nationalsozialismus. Auch ein Fehler? Ihr habt das alles zusammengemixt und dann geschaut, was dabei herauskommt. Habt geseufzt, alles weggewischt und euch jetzt an ein neues Experiment gewagt.«
»Die Fehler gehen auf eure Anstrengungen zurück.«
»Natürlich! Schließlich funktioniert unser Selbsterhaltungsinstinkt! Wir entwickeln keine Gesellschaftsmodelle auf der Grundlage unserer Ethik. Warum sollten wir da also eure Projekte zulassen?«
Ich hüllte mich in Schweigen.
Sebulon nickte, offenkundig zufrieden.»So sieht’s aus, Anton. Wir könnten Feinde sein. Wir sind es sogar. Im Winter bist du uns in die Quere gekommen, und zwar gewaltig. Im Frühling hast du dich mir abermals entgegengestellt. Zwei Mitarbeiter der Tagwache vernichtet. Gewiss, die Inquisition hat anerkannt, dass du aus Notwehr gehandelt hast, dass du das tun musstest, aber glaube mir - mich hat das nicht gut aussehen lassen. Was ist das für ein Oberhaupt, wenn er die eigenen Mitarbeiter nicht schützen kann? Daher sind wir Feinde. Doch jetzt stehen wir vor einer einmaligen Situation. Ein neues Experiment. Und du bist darin indirekt involviert.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
Sebulon lachte auf. Hob die Hand.»Anton, ich will dich nicht austricksen. Stelle dir keine Fragen. Werde dich auch um nichts bitten. Hör dir einfach meine Geschichte an. Dann gehe ich.«
Und plötzlich fiel mir ein, wie Alissa im Winter auf dem Dach des Hochhauses ihr Recht auf eine Intervention genutzt hatte. Eine kleine nur, mit der sie mir nur erlaubt hatte, die Wahrheit zu sagen. Und diese Wahrheit hat den Jungen Jegor auf die Seite des Dunkels getrieben.
Warum funktioniert das?
Warum handelt das Licht durch die Lüge und das Dunkel durch die Wahrheit? Warum ist unsere Wahrheit hilflos, während die Lüge sich als effektiv erweist? Und warum kann das Dunkel sich die Wahrheit so hervorragend zunutze machen, um Böses zu schaffen? An wessen Natur liegt das, an der menschlichen oder an
unserer?
»Swetlana ist eine vorzügliche Zauberin«, sagte Se-bulon.»Aber ihre Zukunft liegt nicht in der Leitung der Nachtwache. Sie brauchen sie nur für ein einziges Ziel. Für die Mission, die Olga nicht erfolgreich abgeschlossen hat. Du weißt, dass heute Morgen ein Kurier aus Samarkand in Moskau aufgetaucht ist?«
»Ich weiß«, gab ich aus irgendeinem Grund zu.
»Ich kann dir sagen, was er gebracht hat. Das möchtest du doch wissen?«
Ich presste die Zähne aufeinander.
»Das willst du.«Sebulon nickte.»Der Kurier hat ein Stück Kreide gebracht.«
Einem Dunklen darf man niemals glauben. Dennoch hatte ich nicht den Eindruck, dass er log.
»Ein kleines Stück Kreide.«Der Dunkle Magier lächelte.»Mit dem man etwas auf eine Tafel in der Schule schreiben kann. Oder Himmel-und-Hölle auf den Asphalt malen. Oder die Queues beim Billard einreiben. Das alles geht so leicht, wie mit dem großen königlichen Siegel Nüsse zu knacken. Wenn jedoch eine Große Zauberin dieses Stück Kreide in die Hand nimmt… Und zwar unbedingt eine Große, bei einer einfachen reichen die Kräfte nicht. Und unbedingt eine Zauberin, in männlichen Händen bleibt die Kreide bloß ein einfaches Stück Kreide. Außerdem muss diese Zauberin eine Lichte sein. Für das Dunkel ist dieses Artefakt nutzlos.«
Täuschte ich mich oder seufzte er? Ich schwieg weiter.
»Ein kleines Stück Kreide.«Sebulon lehnte sich im Sessel nach hinten, wiegte sich vor und zurück.»Es ist schon abgenutzt, denn es lag mehr als einmal in den zarten Fingern von schönen Frauen, in deren Augen ein lichtes Feuer brannte. Sie haben es benutzt, und die Erde erbebte, Staatsgrenzen verschwanden, Imperien stiegen auf, Hirten wurden zu Propheten, Zimmerleute zu Göttern, Findelkinder als Könige anerkannt, Sergeanten schwangen sich zu Imperatoren auf, gescheiterte Seminaristen und talentlose Künstler zu Tyrannen. Ein kleiner Stummel Kreide. Mehr nicht.«
Sebulon erhob sich. Breitete die Arme aus.»Das ist alles, mein teurer Feind, was ich sagen wollte. Den Rest kannst du dir selbst denken, natürlich nur, sofern du willst.«
»Sebulon.«Ich öffnete die Faust und schaute auf das Amulett.»Du bist eine Ausgeburt des Dunkels.«
»Gewiss. Aber immerhin von jenem Dunkel, das in mir war. Von jenem, das ich selbst gewählt habe.«
»Selbst deine Wahrheit bringt das Böse mit sich.«
»Für wen? Für die Nachtwache? Mit Sicherheit. Für die Menschen? Da gestatte mir, Widerspruch anzumelden.«
Er ging zur Tür.
»Sebulon«, sprach ich ihn noch einmal an.»Ich habe deine wahre Gestalt gesehen. Ich weiß, wer und was du bist.«
Der Dunkle Magier blieb wie angewurzelt stehen. Dann drehte er sich langsam um, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht - einen Moment lang verzerrte es sich, schimmerten anstelle der Haut trübe Schuppen, verengten sich die Augen zu schmalen Schlitzen.
Der Dunst verzog sich.
»Ja, natürlich. Du hast es gesehen.«Sebulon hatte sein menschliches Äußeres zurückerlangt.»Und ich habe dich gesehen. Und auch du, wenn ich das bemerken darf, warst kein weißer Engel mit funkelndem Schwert. Alles hängt davon ab, von wo aus man blickt. Lebe wohl, Anton. Glaube mir, irgendwann wird es mir ein Vergnügen sein, dich zu vernichten. Aber jetzt wünsche ich dir Glück. Von ganzer Seele, die ich selbstverständlich nicht habe.«
Die Tür fiel hinter ihm zu.
Genau in diesem Moment, gleichsam als erwachte es plötzlich, heulte aus dem Zwielicht das Alarmzeichen auf. Die Maske des Choyong an der Wand verzog den Mund, in den Holzritzen der Augen blitzte Zorn auf, er bleckte die Zähne.
Diese kleinen Wachposten…
Mit zwei Handbewegungen brachte ich das Zeichen zum Schweigen, während ich auf die Maske den aufgesparten»Freeze«abfeuerte. Konnte ich den Zauber also doch noch gebrauchen.
»Ein Stück Kreide«, sagte ich.
Irgendetwas hatte ich darüber gehört. Allerdings vor langer Zeit, nur mit halbem Ohr. Vielleicht ein paar Sätze, von einem Lehrer im Unterricht fallen gelassen, irgendein Gequatsche von Freunden oder ein Märchen, aufgeschnappt in einem der Kurse. Eben über ein Stück Kreide…
Ich stand vom Sofa auf und hob die Hand. Warf das Amulett auf den Boden.
»Geser!«, schrie ich durchs Zwielicht. »Geser, antworte mir!«
Der Schatten hechtete vom Boden auf mich zu,
klammerte sich an meinen Körper, saugte ihn auf. Das Licht trübte sich, das Zimmer verschwamm, die Konturen der Möbel zerflossen. Es wurde unerträglich leise. Die Hitze wich. Ich stand da, breitete die Arme aus, und das gierige Zwielicht trank meine Kräfte.
»Geser, ich rufe dich bei deinem Namen!«
Graue Nebelfäden waberten durch den Raum. Ich scherte mich einen Dreck darum, wer meinen Schrei womöglich noch hörte.
»Geser, mein Mentor, ich rufe dich - antworte!«
In weiter Ferne seufzte ein unsichtbarer Schatten.»Ich höre dich, Anton.«
»Antworte!«
»Worauf möchtest du eine Antwort?«
»Sebulon hat nicht gelogen, oder?«
»Nein.«
»Geser, halte ein!«
»Es ist zu spät, Anton. Alles läuft bereits so, wie es laufen muss. Vertrau mir.«
»Geser, halte ein!«
»Du hast kein Recht, irgendetwas zu fordern.«
»Doch! Wenn wir ein Teil des Lichts sind, wenn wir Gutes bringen, dann habe ich das Recht.«
Er verstummte. Ich überlegte schon, ob der Chef überhaupt noch einmal mit mir sprechen würde.
»Gut. Ich erwarte dich in einer Stunde in der Springerbar.«
»Wo? Wo bitte?«
»In der Bar der Fallschirmspringer. Metro Turgenjewskaja. Hinter der ehemaligen Hauptpost.«
Stille senkte sich herab.
Ich trat einen Schritt zurück, tauchte dann aus dem Zwielicht auf. Ein origineller Ort für ein Treffen. Hatte Geser dort die Tagwache fertig gemacht? Nein, das war ja irgendein Restaurant.
Egal, die Springerbar, die Rose oder das Chance. Was spielte das für eine Rolle? Ob nun Fallschirmspringer, Yuppies oder Schwule.
Eine andere Sache musste ich vor dem Treffen mit Geser aber unbedingt noch herausbekommen.
Ich langte nach meinem Handy und wählte Swetla-nas Nummer. Sie ging sofort ran.
»Hallo«, sagte ich bloß.»Bist du immer noch auf der Datsche?«
»Nein.«Anscheinend irritierte sie der geschäftliche Ton.»Ich fahre in die Stadt zurück.«
»Mit wem?«
Sie zögerte.»Mit Ignat.«
»Gut«, sagte ich aufrichtig.»Hör mal, weißt du irgendwas über Kreide?«
»Worüber?«Jetzt war ihre Verwirrung offenkundig.
»Über die magischen Eigenschaften von Kreide. Hat dir niemand beigebracht, wie man sie in der Magie anwendet?«
»Nein. Ist mit dir alles in Ordnung, Anton?«
»Mehr als das.«
»Dir ist nichts passiert?«
Typisch Frau: Jede Frage stellen sie in zwei, drei Varianten.
»Nichts Besonderes.«
»Willst du…«Sie stockte.»Willst du, dass ich Olga danach frage?«
»Ist sie auch bei euch?«
»Ja, wir fahren zu dritt in die Stadt.«
»Das ist wohl nicht nötig. Danke.«
»Anton…«
»Was ist, Sweta?«
Ich ging zum Schreibtisch, zog die Schublade mit allerlei magischem Plunder heraus. Betrachtete trübe Kristalle, einen ungeschickt geschnitzten Zauberstab - damals wollte ich noch Kampfmagier werden. Dann schob ich die Lade wieder zu.
»Verzeih mir.«
»Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müsste.«
»Kann ich vielleicht zu dir kommen?«
»Seit ihr noch weit weg?«
»Auf halber Strecke.«
Ich schüttelte den Kopf.»Das klappt nicht«, meinte ich.»Ich habe einen wichtigen Termin. Ich ruf dich später noch mal an.«
Ich beendete das Gespräch und lächelte. Die Wahrheit kann in vielen Fällen böse und verlogen sein. Zum Beispiel, wenn man nur die halbe Wahrheit sagt. Sagt, dass man nicht reden möchte, und nicht erklärt, warum.
Möge es mir gelingen, Gutes durch das Böse zu schaffen. Denn etwas anderes steht mir momentan nicht zu Gebote.
Vorsichtshalber inspizierte ich noch die Wohnung, sah ins Schlafzimmer, in die Toilette, ins Bad und in
die Küche hinein. Soweit ich spüren konnte, hatte mir Sebulon in der Tat keine»Geschenke«dagelassen.
Wieder im Arbeitszimmer, schloss ich den Laptop an und legte eine Diskette mit einer Datenbank zur Magie ein. Ich gab das Passwort ein. Und klickte das Wort»Kreide«an.
Ich rechnete eigentlich nicht damit, dass das etwas brachte. Das, was ich wissen wollte, dürfte so schwer zugänglich sein, dass es niemals in einer einfachen Datei auftauchte.
Es gab drei Einträge zu»Kreide«.
Im ersten Fall ging es um eine Kreidegrube, in der im 15. Jahrhundert ein Duell zwischen einem Lichten und einem Dunklen Magier ersten Grades stattfand. Beide kamen um, starben schlicht an Kräfteverschleiß, da sie es am Ende des Kampfes nicht mehr aus dem Zwielicht herausschafften. In den nächsten fünfhundert Jahren starben in diesem Gebiet an die dreitausend Menschen.
Der zweite Fall betraf die Verwendung von Kreide beim Erstellen von magischen Zeichen und Verteidigungskreisen. Hier fanden sich ausführlichere Informationen, die ich rasch überflog. Nichts Besonderes. Die Verwendung von Kreide bietet keine nennenswerten Vorteile gegenüber Kohle, Bleistift, Blut oder Ölfarbe. Höchstens, dass sie sich am leichtesten wegwischen lässt.
Die dritte Erwähnung fand sich im Abschnitt über»Mythen und unbestätigte Fakten«. Hier gab es natürlich allerlei Unsinn, wie beispielsweise die Anwendung von Silber und Knoblauch im Kampf gegen Vampire oder die Beschreibung nicht existierender Bräuche und Rituale.
Aber ich hatte es schon erlebt, dass ich unter»Mythen«auf authentische, aber längst vergessene Ereignisse stieß.
Die Kreide wurde im Artikel über die»Schicksalsbücher«erwähnt.
Nachdem ich die Hälfte gelesen hatte, begriff ich, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Die Informationen wurden ganz offen gegeben, klar präsentiert, waren jedem beginnenden Magier zugänglich und fanden sich möglicherweise sogar in Quellen, die Menschen konsultieren konnten.
Die Schicksalsbücher. Kreide.
Alles passte.
Ich schloss die Datei, schaltete das Notebook aus. Blieb sitzen und biss mir auf die Lippen. Schaute auf die Uhr.
Allmählich musste ich mich für mein seltsames Rendezvous fertig machen.
Ich duschte und zog mir frische Sachen an. Von den Amuletten nahm ich nur das Medaillon Sebulons mit, das Zeichen der Nachtwache und eine Kampfscheibe, die mir Ilja irgendwann mal geschenkt hatte - ein altes Bronzeplättchen, nicht viel größer als eine Fünfrubelmünze. Die Scheibe hatte ich noch nie verwendet. Wie der Magier gesagt hatte, war im Amulett noch eine Ladung, wenn es hochkam, zwei.
Aus dem Versteck holte ich die Pistole. Überprüfte das Magazin. Dumdumgeschosse aus Silber. Gut gegen Tiermenschen, zweifelhaft gegen Vampire, durchaus wirksam gegen Dunkle Magier.
Als ob ich in den Kampf ziehen würde, nicht aber zu einem Gespräch mit dem Vorgesetzten.
Ich stand schon an der Tür, als das Handy in meiner Tasche klingelte.
»Anton?«
»Sweta?«
»Olga möchte mit dir reden, ich gebe sie dir.«
»Ja«, sagte ich und schloss auf.
»Anton, ich liebe dich sehr. Mach bitte keine Dummheiten.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Olga nahm das Handy.
»Anton. Ich möchte, dass du eins weißt: Alles ist bereits entschieden. Und alles wird sehr bald passieren.«
»Heute Nacht«, vermutete ich.
»Woher weißt du das?«
»Ich spüre es. Ich spüre es einfach. Deshalb ist die Wache auch aus der Stadt geschickt worden, nicht wahr? Und bei Swetlana habt ihr für die nötige Gemütsverfassung gesorgt.«
»Was du alles weißt.«
»Das Schicksalsbuch. Die Kreide. Ich habe alles durchschaut.«
»Zu spät«, antwortete Olga knapp.»Anton, du musst…«
»Ich muss überhaupt nichts. Ich schulde niemandem etwas. Außer dem Licht in mir.«
Ich beendete das Gespräch, schaltete das Mobiltelefon aus. Es reichte. Geser konnte sich auch so mit mir in Verbindung setzen, ohne jedes technische Mittel. Olga würde weiter versuchen, mich zu überreden. Swetlana verstand sowieso nicht, was ich warum tat.
Wenn du beschlossen hast, den Weg bis zu Ende zu gehen, dann geh allein. Und verlange von niemandem, dich zu begleiten.
»Setz dich, Anton«, sagte Geser.
Die Bar hatte sich als winzig erwiesen. Sechs, sieben Tische, voneinander abgetrennt. Ein Bartresen. Alles voller Rauch. Der Fernseher lief ohne Ton, zeigte in einem fort Sprünge. Bei den Fotos an den Wänden das Gleiche - im Flug ausgestreckte Körper in grellen Overalls. Wenig Besucher, was möglicherweise an der Zeit lag: zu spät fürs Mittagessen, viel zu früh für den Abendbetrieb. Ich hatte meinen Blick über die Tische wandern lassen und in einer Ecke Boris Ignatjewitsch entdeckt.
Der Chef war nicht allein. Er saß vor einer Schale mit Obst und riss träge von einer Traube Beeren ab. Etwas abseits von ihm saß ein groß gewachsener dunkelhäutiger Mann mit verschränkten Armen. Unsere Blicke begegneten sich, und ich spürte einen sanften, aber deutlichen Druck.
Ebenfalls ein Anderer.
Etwa fünf Sekunden lang sahen wir einander an, wobei wir den Druck nach und nach verstärkten. Fähigkeiten hatte er, ordentliche Fähigkeiten, aber zu wenig Erfahrung. Irgendwann nahm ich den Widerstand etwas zurück und entzog mich seiner Sondierung, um - noch bevor der junge Mann seine Verteidigung aufbauen konnte - ihn zu scannen.
Ein Anderer. Ein Lichter. Vierter Grad.
Das Gesicht des Mannes verzerrte sich, als durchschössen ihn Schmerzen. Sah Geser mit dem Blick eines geschlagenen Hundes an.
»Wenn ich euch vorstellen darf«, meinte Geser.»Anton Gorodezki, Anderer, von der Nachtwache Moskaus. Alischer Ganijew, Anderer, seit kurzem bei der Nachtwache Moskaus.«
Der Kurier.
Ich streckte ihm die Hand entgegen und ließ meine Verteidigung fallen.
»Ein Lichter, zweiter Grad«, konstatierte Alischer, während er mir in die Augen sah. Sich verbeugte.
Ich schüttelte den Kopf.»Dritter«, korrigierte ich.
Der Mann blickte abermals zu Geser. Diesmal nicht schuldbewusst, sondern verwundert.
»Zweiter«, bekräftigte der Chef.»Du bist in Hochform, Anton. Das freut mich sehr für dich. Setz dich, reden wir. Alischer, pass auf.«
Ich setzte mich dem Chef gegenüber.
»Weißt du, warum ich mich unbedingt hier mit dir treffen wollte?«, fragte der Chef.»Nimm dir von den Weintrauben, sie sind lecker.«
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht weil es hier die leckersten Weintrauben in Moskau gibt.«
Geser lachte.»Bravo. Wenn es auch nicht das Wichtigste ist. Die Trauben haben wir auf dem Markt gekauft.«
»Dann wohl, weil es hier nett ist.«
Der Chef zuckte mit den Schultern.»Es ist nichts Besonderes. Ein kleiner Raum, wenn du durch die Tür gehst, kommst du zu einem Billardpool und zu noch
ein paar anderen Tischen.«
»Sie sind ein heimlicher Fallschirmspringer, Chef.«
»Ich bin seit zwanzig Jahren nicht gesprungen«, gab Geser gelassen zurück.»Anton, mein Lieber, ich bin hierher gekommen, habe Kartoffeln mit Bœuf Stroganoff gegessen und zum Nachtisch Weintrauben verputzt, nur damit ich dir ein Mikromilieu zeigen kann. Eine kleine, eine winzige Gesellschaft. Jetzt entspann dich, setz dich! Alischer, ein Bier für Anton! Schau dich um, Soldat. Sieh dir die Gesichter an. Hör dir das Palaver an. Atme ihre Luft ein.«
Ich wandte mich vom Chef ab. Rückte an den Rand der Holzbank, um wenigstens ein bisschen was von meiner Umgebung mitzubekommen. Alischer stand bereits an der Bar und wartete auf mein Bier.
Sie hatten seltsame Gesichter, die Stammkunden der Springerbar. Etwas Unbestimmtes schienen sie alle gemeinsam zu haben. Besondere Augen oder besondere Gesten. Nein, nichts Besonderes, nur schien jeder einen unsichtbaren Stempel zu tragen.
»Ein Kollektiv«, sagte der Chef.»Ein Mikromilieu. Ich hätte dieses Gespräch auch im Schwulenclub Chance, im Restaurant im Zentralen Haus der Literaturschaffenden oder in irgendeinem Imbiss mit Weinverkauf direkt neben einem Betrieb ansetzen können. Das spielt keine Rolle. Wichtig ist nur, dass sich dort ein kleines, nach außen abgeschottetes Kollektiv trifft. Das sich mehr oder weniger stark von der Gesellschaft isoliert. Kein McDonald’s, kein elegantes Restaurant, sondern ein offener oder intimer Club. Weißt du, warum? Das sind wir. Es ist ein Modell unserer Wache.«
Ich schwieg. Beobachtete, wie ein junger Mann auf Krücken an den Nachbartisch ging, auf den angebotenen Platz verzichtete und, gegen die Zwischenwand gelehnt, anfing, etwas zu erzählen. Die Musik übertönte seine Worte, aber den groben Sinn konnte ich durchs Zwielicht herausfiltern. Der Fallschirm, der sich nicht öffnete und den er abwerfen musste. Die Landung mit dem Reserveschirm. Ein Bruch. Und, was für ein Mist, ein halbes Jahr keine Sprünge!
»Die Gesellschaft hier ist sehr charakteristisch«, fuhr der Chef ruhig fort.»Das Risiko. Die starken Eindrücke. Die Umwelt, die mit Unverständnis reagiert. Der Slang. Probleme, die normale Menschen absolut nicht verstehen. Und, nebenbei bemerkt, regelmäßige Verletzungen und Todesfälle. Gefällt es dir hier?«
Ich dachte kurz nach, dann antwortete ich:»Nein. Hier muss man dazugehören. Oder wegbleiben.«
»Natürlich. Bei jedem Mikromilieu ist es nur beim ersten Mal spannend hineinzugucken. Danach musst du entweder seine Gesetze übernehmen und in die kleine Gemeinschaft eingehen oder dich von ihr distanzieren. In diesem Punkt unterscheiden wir uns absolut nicht von ihnen. Was an unserm Wesen liegt. Jeder Andere, den wir finden und der seine Anlagen erkennt, steht vor der Wahl. Entweder tritt er in die Wache seiner Seite ein, wird ein Soldat, ein Kämpfer, und wird unweigerlich ein Todeskandidat. Oder er führt sein nahezu menschliches Leben weitgehend fort, entwickelt seine magischen Fähigkeiten nicht wirklich, nutzt ab und an den Vorteil eines Anderen, bekommt aber auch die Nachteile eines solchen Lebens in vollem Maße zu spüren. Das Unangenehmste ist, wenn er bei der ursprünglichen Wahl eine falsche Entscheidung getroffen hat. Ein Anderer will aus diesem oder jenem Grund die Gesetze der Wache nicht annehmen. Aber es ist fast unmöglich, aus unseren Strukturen auszusteigen. Sag mir mal, Anton, könntest du außerhalb der Wache existieren?«
Selbstverständlich stellt der Chef nie theoretische Fragen.
»Vermutlich nicht«, räumte ich ein.»Es würde mir schwer fallen, wäre praktisch unmöglich, mich innerhalb der Grenzen zu bewegen, die einem einfachen Lichten Magier gesetzt sind.«
»Denn wenn du nicht in die Wache kommst, kannst du deine magischen Manipulationen nicht mit dem Kampf gegen das Dunkel rechtfertigen. So ist es doch?«
»Ja.«
»Das macht die Sache derart kompliziert, Anton, darin liegt das ganze Unglück.«Der Chef seufzte.»Alischer, steh nicht wie angewurzelt da.«
Er behandelte den Burschen wirklich mies. Doch die Gründe dafür schienen mir auf der Hand zu liegen: Der Kurier hatte auf Biegen und Brechen einen Platz in der Moskauer Wache haben wollen und erlebte nun die unvermeidlichen Folgen.
»Ihr Bier, Lichter Anton.«Mit einem angedeuteten Nicken stellte der Mann das Glas vor mich hin.
Schweigend langte ich danach. Ihn traf keine Schuld, diesen jungen und talentierten Magier. Sicherlich könnten wir Freunde werden. Aber momentan grollte ich selbst ihm: Alischer hatte nach Moskau gebracht, was Swetlana und mich für immer trennen würde.
»Was sollen wir machen, Anton?«, fragte der Chef.
»Worin besteht denn eigentlich das Problem?«, fragte ich und sah ihn mit dem ergebenen Blick eines alten Bernhardiners an.
»Swetlana. Du bist gegen ihre Mission.«
»Natürlich.«
»Das sind doch Schulweisheiten, Anton. Axiome. Du hast nicht das Recht, gegen die Politik der Wache Einwände zu erheben, wenn diese einzig auf deinen persönlichen Interessen basieren.«
»Was haben meine persönlichen Interessen damit zu tun?«, wunderte ich mich aufrichtig.»Ich glaube, dass die ganze Operation, die hier vorbereitet wird, amoralisch ist. Sie wird den Menschen keinen Nutzen bringen. So oder so sind alle Versuche, die Gesellschaft der Menschen grundlegend zu verändern, fulminant gescheitert.«
»Früher oder später werden wir es schaffen. Dabei behaupte ich ja gar nicht, dass es dieses Mal sein wird. Aber unsere Chancen stehen so gut wie nie.«
»Das glaube ich nicht.«
»Du kannst eine Beschwerde bei der obersten Leitung einreichen.«
»Schaffen sie es denn, die bis zu dem Tag zu bearbeiten, an dem Swetlana die Kreide in die Hand nimmt und das Schicksalsbuch öffnet?«
Der Chef schloss die Augen bis auf einen Spalt. Seufzte.»Nein. Das schaffen sie nicht. Alles wird heute Nacht passieren, sobald unsere Zeit heran ist. Zufrieden? Dass du jetzt auch die Zeit unserer Aktion kennst?«
»Boris Ignatjewitsch.«Ich sprach ihn absichtlich mit dem Namen an, unter dem ich ihn kennen gelernt hatte.»Hören Sie mir zu. Ich bitte Sie. Irgendwann einmal haben Sie Ihre Heimat verlassen und sind nach Russland gekommen. Nicht, weil es im Interesse des Lichts war, nicht, weil es Ihrer Karriere diente. Sondern wegen Olga. Ich weiß ein wenig, was Sie hinter sich haben. Wie viel Hass und Liebe, Verrat und Großmut Sie schon erfahren haben. Aber Sie müssen auch mich verstehen. Sie können das.«
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Welche Antwort. Ob einen abgewandten Blick oder ein zwischen den Zähnen hervorgepresstes Versprechen, die Aktion abzublasen.
»Ich verstehe dich gut, Anton.«Der Chef nickte.»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut. Gerade deshalb wird die Aktion weitergehen.«
»Aber warum?«
»Ja weil es so etwas wie das Schicksal gibt, mein Junge. Und nichts stärker ist als das Schicksal. Dem einen ist es vorherbestimmt, die Welt zu verändern. Dem andern ist das nicht gegeben. Dem einen ist es vorherbestimmt, einen Staat ins Wanken zu bringen, dem andern, hinter den Kulissen zu stehen, die Fäden der Marionetten in den von Kreide weißen Händen. Anton, glaube mir, ich weiß, was ich tue. Glaube mir.«
»Nein.«
Ich stand auf, ließ das unberührte Bier mit der bereits eingesunkenen Schaumkrone stehen. Alischer sah den Chef fragend an, als sei er bereit, mich aufzuhalten.
»Du hast das Recht, alles zu tun, was du möchtest«, sagte der Chef.»Das Licht ist in dir, aber hinter dir lauert das Zwielicht. Du weißt, was ein unsicherer Schritt bedeutet. Und du weißt, dass ich bereit bin und die Pflicht habe, dir zu Hilfe zu kommen.«
»Geser, mein Mentor, vielen Dank für alles, was du mir beigebracht hast.«Ich verneigte mich, zog die neugierigen Blicke der Fallschirmspringer auf mich.»Ich glaube nicht, dass ich das Recht habe, weiter auf deine Hilfe zu rechnen. Nimm meine Dankbarkeit entgegen.«
»Du bist von allen Verpflichtungen mir gegenüber entbunden«, entgegnete Geser gelassen.»Tu, was dein Schicksal dir gebietet.«
Aus. Wie leicht er auf seinen einstigen Schüler verzichtet! Wie viele Schüler er wohl schon hatte, die die höchsten Ziele und heiligen Ideale nicht anerkannten?
Hunderte, Tausende.
»Lebe wohl, Geser«, sagte ich. Dann blickte ich Alischer an.»Viel Glück, neuer Wächter der Nacht.«
Der Kurier sah mich tadelnd an.»Wenn mir die Bemerkung erlaubt ist…«
»Sprich«, forderte ich ihn auf.
»An deiner Stelle würde ich nichts überstürzen, Lichter Anton.«
»Ich habe bereits zu lange gezögert, Lichter Alischer.«Ich lächelte. In der Wache hatte ich mich daran gewöhnt, mich als einen der kleinsten Magier zu sehen, aber das war vorbei. Für diesen Neuling stellte ich bereits eine Autorität dar. Noch.»Irgendwann einmal wirst du hören, wie die Zeit rauscht, der Sand durch die Finger rinnt. Dann erinner dich an mich. Viel Glück.«
Sechs
Diese Hitze.
Ich ging den Alten Arbat hinunter. Die Maler, die ihre banalen Porträts zeichneten, die Musiker, die ihre stereotype Musik spielten, die Händler, die ihre ewig gleichen Souvenirs verkauften, die Ausländer mit dem Standardinteresse in den Augen, die Moskauer, die mit der üblichen Verärgerung an den Matrjoschka-Imitaten vorbeiliefen…
Euch sollte man aufrütteln?
Eine kleine Vorstellung bieten?
Mit Blitzen jonglieren? Richtiges Feuer schlucken? Das Pflaster zum Bersten bringen und dem Springbrunnen Mineralwasser entlocken? Ein Dutzend arme Krüppel heilen? Durch die Gegend wuselnde Straßenkinder mit dem aus der Luft gezauberten Kuchen füttern?
Wozu?
Eine Hand voll Kleingeld würden sie mir für Feuerkugeln zuwerfen, mit denen man einen Teufel schlagen könnte. Der Mineralwasserbrunnen stellte sich als geplatzte Wasserleitung heraus. Die armen Krüppel sind sowieso gesünder und reicher als die meisten anderen, die hier vorbeilaufen. Die Straßenkinder rennen weg, weil sie schon seit langem wissen: Kuchen gibt’s nicht umsonst.
Ja, ich verstehe Geser, verstehe alle hohen Magier, die seit tausend Jahren gegen das Dunkel kämpfen. Man kann nicht ewig mit dem Gefühl der Machtlosigkeit leben. Man kann nicht ewig im Schützengraben sitzen: Damit tötet man eine Armee eher als mit den Kugeln der Feinde.
Aber was habe ich mit alldem zu tun?
Muss das Banner des Sieges unbedingt aus meiner Liebe genäht werden?
Und was haben die Menschen damit zu tun?
Die Welt lässt sich leicht umwerfen und wieder auf die Beine stellen, doch wer hilft den Menschen, nicht hinzufallen?
Sollten wir wirklich nicht in der Lage sein, etwas zu lernen?
Ich wusste, was Geser vorhatte, genauer, was Swetlana auf seinen Befehl hin tun würde. Verstand, wohin das führen könnte, konnte mir sogar vorstellen, welche Schlupflöcher im Großen Vertrag zur Rechtfertigung dieser Manipulation des Schicksalsbuches herhalten mussten. Verfügte über die Information, wann die Aktion stattfinden sollte. Zum Gesamtbild fehlten mir bloß noch der Ort und das Objekt der Operation.
Und eben das war fatal.
Es war Zeit, vor Sebulon zu Kreuze zu kriechen.
Und danach gleich ab ins Zwielicht.
Ich hatte die Mitte des Arbats erreicht, als ich eine leichte, kaum wahrnehmbare Bewegung der Kraft spürte. Ganz in meiner Nähe kam es gerade zu einer magischen Manipulation, keiner starken, aber…
Beim Dunkel!
Was auch immer ich über Geser gedacht haben, wie sehr ich auch mit ihm gestritten haben mochte - ich blieb ein Soldat der Nachtwache.
Mit einer Hand griff ich nach dem Amulett in meiner Tasche, rief meinen Schatten und trat ins Zwielicht ein.
Wie verdammt heruntergekommen alles aussah!
Schon seit langem war ich nicht mehr im Zwielicht durch Moskaus Zentrum geschlendert.
Das blaue Moos legte sich wie ein dicker Teppich über alles. Träge waberten die Fäden und schufen die Illusion wogenden Wassers. Von mir strömten Kreise aus - das Moos trank meine Emotionen und versuchte gleichzeitig, von mir wegzukriechen. Doch die kleinen Scherze des Zwielichts interessierten mich im Moment nicht.
Im grauen Raum unter dem sonnenlosen Himmel war ich nicht allein.
Eine Sekunde lang sah ich die junge Frau an, die mit dem Rücken zu mir stand. Sah sie an und spürte, wie sich ein böses Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Ein Lächeln, das eines Lichten Magiers nicht würdig ist. Von wegen»keine starke Manipulation«!
Eine magische Intervention dritten Grades?
Oi-oi-oj!
Das ist sehr ernst, mein Mädchen. Das ist so ernst, dass du vermutlich verrückt geworden bist. Dritter Grad - das geht doch eigentlich über deine Kräfte, du benutzt ein fremdes Amulett.
Aber ich werde versuchen, es mit meinen Kräften gegen dich aufzunehmen.
Als ich an sie herantrat, hörte sie meine Schritte auf dem weichen blauen Teppich nicht einmal. Die diffusen Schatten der Menschen huschten hin und her, und sie war einfach zu abgelenkt.
»Anton Gorodezki, Nachtwache«, sagte ich.»Alissa Donnikowa, Sie sind verhaftet.«
Das Hexlein kreischte auf, wirbelte herum. In der Hand hielt Alissa ein Amulett, ein Kristallprisma, durch das sie gerade die Passanten betrachtet hatte. Im ersten Moment versuchte sie es mit einer instinktiven Geste vor mir zu verstecken, im nächsten, mich durch das Prisma anzusehen.
Ich packte ihre Hand und zwang sie, damit aufzuhören. Eine Sekunde lang standen wir nebeneinander, und ich verstärkte allmählich den Druck, drehte der Hexe die Hand um. Zwischen einem Mann und einer Frau hätte eine solche Szene recht peinlich gewirkt. Bei uns Anderen liegt die Quelle der Körperkraft jedoch nicht in der Geschlechtszugehörigkeit und noch nicht mal in der aufgebauten Muskulatur. Die Kraft kommt von der Umgebung, vom Zwielicht, von den Menschen um uns herum. Ich wusste nicht, wie viel Alissa aus der sie umgebenden Welt ziehen konnte, vielleicht sogar mehr als ich.
Doch ich hatte sie auf frischer Tat ertappt. Weitere Wächter konnten in der Nähe sein. Und Widerstand gegen einen Mitarbeiter der anderen Wache, der eine offizielle Verhaftung vornimmt, ist ein Grund für eine Vernichtung an Ort und Stelle.
»Ich leiste keinen Widerstand«, sagte Alissa und öffnete ihre Hand. Das Prisma fiel sanft ins Moos - das aufköchelte, brodelte, das Kristallamulett einhüllte.
»Ein Kraftprisma?«, stellte ich eine rhetorische Frage.»Alissa Donnikowa, Sie haben eine magische Intervention dritten Grades vorgenommen.«
»Vierten«, entgegnete sie rasch.
Ich gestattete mir ein Schulterzucken.»Dritten Grades, vierten - das ist prinzipiell das Gleiche. Das bedeutet das Tribunal, Alissa. Du sitzt ziemlich in der Klemme.«
»Ich habe nichts getan.«Die Hexe versuchte vergeblich, gelassen zu wirken.»Ich habe eine persönliche Erlaubnis, das Prisma zu tragen. Ich habe es nicht angewendet.«
»Alissa, jeder hohe Magier kann diesem Stück sämtliche Informationen entnehmen.«
Ich senkte die Hand, zwang das blaue Moos zur Seite, während das Prisma mir gehorsam in die Hand sprang. Es war kalt, sehr kalt.
»Selbst ich kann seine Geschichte lesen«, sagte ich.»Alissa Donnikowa, Andere, Dunkle, Hexe der Tagwache, vierte Kraftstufe, ich klage Sie offiziell der Verletzung des Großen Vertrages an. Sollten Sie Widerstand leisten, wäre ich gezwungen, Sie zu töten. Hände auf den Rücken.«
Sie gehorchte. Dann fing sie an, schnell und überzeugend zu sprechen, legte alles in ihre Stimme, was ihr zu Gebote stand.»Anton, warte doch, ich bitte dich, hör mich an. Ja, ich habe das Prisma ausprobiert, aber versteh doch, mir wurde zum ersten Mal ein Amulett von solcher Kraft anvertraut! Anton, ich bin doch keine Idiotin, dass ich mitten in Moskau Leute überfalle. Was sollte mir das denn bringen? Anton, wir sind doch beide Andere! Lass uns das alles friedlich regeln, ja? Anton!«
»Was heißt hier friedlich?«, fragte ich, während ich das Prisma in die Tasche steckte.»Gehen wir.«
»Du kriegst eine Intervention vierten oder dritten Grades, Anton! Eine x-beliebige Intervention dritten Grades zugunsten des Lichts! Nicht so was wie mein dummes Spiel mit dem Prisma, sondern eine richtige Intervention!«
Den Grund für ihre Panik konnte ich verstehen. Die Sache sah miserabel für sie aus. Eine Mitarbeiterin der Tagwache saugt zu persönlichen Zwecken Leben aus den Menschen - das gäbe einen gewaltigen Skandal! Alissa würde ohne zu zögern ausgeliefert werden.
»Du bist nicht befugt, solche Kompromisse auszuhandeln. Die Leitung der Tagwache würde dein Versprechen nicht billigen.«
»Sebulon wird es bekräftigen!«
»Ja?«Der überzeugte Ton irritierte mich. War sie also tatsächlich die Geliebte Sebulons? Selbst dann blieb es merkwürdig.»Alissa, ich habe schon einmal ein Friedensabkommen mit dir geschlossen…«
»Sicher, und damals habe ich sogar vorgeschlagen, dir deine Intervention nachzusehen.«
»Und wozu hat das geführt?«Ich lächelte.»Erinnerst du dich noch daran?«
»Jetzt haben wir eine andere Situation, denn ich habe das Gesetz übertreten.«Alissa senkte den Blick.»Du hast jetzt das Recht zum Gegenschlag. Brauchst du wirklich keine Erlaubnis, Lichte Magie dritten Grades anzuwenden? Jede denkbare Lichte Magie? Du könntest zwei Dutzend Schufte remoralisieren und wieder zu rechtschaffenen Menschen machen! Auf der Stelle ein Dutzend Mörder zu Asche verbrennen! Eine Katastrophe verhindern, lokal eine Veränderung der Zeit vornehmen! Wiegt das meinen dummen Fehler nicht auf, Anton? Sieh dich doch um, niemand ist zu
Schaden gekommen! Ich habe nichts anrichten können, habe gerade erst angefangen…«
»Alles, was du sagst, kann gegen dich verwandt werden.«
»Das weiß ich doch!«
In ihren Augen schimmerten Tränen. Und die dürften sogar echt gewesen sein. Unter der Oberfläche der Hexe verbarg sich immer noch das ganz normale Mädchen. Das sympathische erschrockene Mädchen, das eine Dummheit begangen hatte. War es denn ihre Schuld, dass sie den Weg des Dunkels eingeschlagen hatte?
Ich spürte, wie mein emotionaler Schild sich durchbog, und schüttelte den Kopf.»Es bringt nichts, mich unter Druck zu setzen.«
»Anton, ich bitte dich, lass uns das friedlich regeln!«
Brauchte ich das Recht auf eine Intervention dritten Grades?
Na und wie. Jeder Lichte Magier träumt von einer solchen Carte blanche! Sich wenigstens einen Augenblick lang wie ein tapferer Soldat zu fühlen und nicht wie ein lausiger Grabenkämpfer, der verzagt auf die weiße Friedensflagge blickt.
»Du hast nicht das Recht, mir solche Vorschläge zu machen«, meinte ich mit fester Stimme.
»Ich bekomme es!«Alissa schüttelte den Kopf und atmete tief ein.»Sebulon!«
Ich presste die Hand um die kleine Scheibe des Kampfamuletts und wartete.
»Sebulon, ich rufe dich!«Ihre Stimme ging in ein Jammern über. Mir fiel auf, dass sich die Schatten der Menschen um uns herum etwas schneller bewegten: Die Menschen spürten eine unverständliche Unruhe und beschleunigten den Schritt.
Konnte sie erneut den Chef der Dunklen anrufen?
Wie damals, im Restaurant Maharadscha, als Sebulon mich fast mit der»Schaab-Geißel«getötet hätte?
Aber er hatte es nicht geschafft. Hatte mich nicht erwischt.
Obwohl diese Intrige damals auf Gesers Konto ging, konnte Sebulon mir ohne weiteres den Tod der Dunklen zur Last legen.
Plante er mich also noch ein in seinem Spiel?
Oder hatte sich insgeheim, unbemerkt Geser eingemischt, der den Schlag von mir ablenkte?
Ich wusste es nicht. Wie immer reichten die Fakten nicht für eine Analyse. Man könnte sich dreiunddreißig Versionen ausdenken, und alle würden sich untereinander widersprechen.
Mir wäre es lieber gewesen, wenn Sebulon nicht antwortete. Dann würde ich Alissa aus dem Zwielicht ziehen, den Chef oder irgendeinen Fahnder rufen, das dumme Ding übergeben und am Ende des Monats eine Prämie bekommen. Aber was sollte ich mich jetzt um Prämien kümmern?
»Sebulon!«In ihrer Stimme lag ein echtes Flehen.»Sebulon!«
Sie weinte bereits, ohne es zu merken. Die Schminke unter ihren Augen verlief.
»Zwecklos«, sagte ich.»Gehen wir.«
In dem Moment öffnete sich zwei Meter vor uns das Dunkle Portal.
Zunächst packte uns Kälte, bis auf die Knochen durchdringende Kälte. Sodass wir schon die in der Menschenwelt herrschende Hitze herbeisehnten. Das Moos loderte auf, die ganze Straße stand in Flammen. Natürlich hatte Sebulon es nicht absichtlich verbrannt, aber als er das Portal geöffnet hatte, verströmte es einfach so viel Kraft, dass das Moos sie nicht mehr verarbeiten konnte.
»Sebulon«, flüsterte Alissa.
Fünf Meter von uns entfernt schoss aus dem Pflaster ein violetter Strahl hoch in den Himmel. Der Blitz blendete so, dass ich unwillkürlich die Augen zusammenkniff. Als ich wieder in die Richtung sah, hing im grauen Nebel eine rabenschwarze Blase. Ihr entstieg langsam ein borstiges, beschupptes Etwas, das vage an einen Menschen erinnerte. Sebulon kam durch die zweite oder dritte Schicht des Zwielichts auf den Ruf herbei, wobei im Vergleich zu diesen Schichten die Zeit hier genauso langsam verging wie für uns die Zeit in der Menschwelt.
Mit einem Mal empfand ich eine Hilflosigkeit, mit der ich mich eigentlich seit langem abgefunden hatte. Die Möglichkeiten, die Sebulon oder Geser so leicht nutzten, waren mir nicht nur verschlossen, sondern gingen weit über meinen Horizont.
»Sebulon!«Alissa hielt die Hände nach wie vor auf dem Rücken, stürzte dem grauenvollen Monster jetzt aber entgegen. Schmiegte sich an ihn, vergrub das Gesicht in die stacheligen Schuppen.»Hilf mir, hilf mir bitte!«
Selbstverständlich war Sebulon nicht in Dämonengestalt aufgetaucht, um mich zu beeindrucken. In Menschengestalt hätte er jedoch nicht eine Minute in den tiefen Schichten des Zwielichts überstanden. Und er dürfte mehrere Stunden oder gar Tage dort durchgewandert sein.
Das Monster bedachte mich mit einem Blick aus seinen schmalen Augen. Aus dem Maul glitt eine lange gespaltene Zunge, die Alissa über den Kopf fuhr und in ihrem Haar Tropfen weißen Geifers hinterließ. Die bekrallte Pfote fasste Alissa unters Kinn und drückte ihren Kopf behutsam nach oben - ihre Blicke trafen sich. Im Nu hatten sie die Informationen ausgetauscht.
»Idiotin!«, erboste sich der Dämon. Die Zunge schlüpfte zwischen den zuklappenden Fangzähnen hindurch ins Maul zurück, dass er beinahe darauf gebissen hätte.»Du gierige Idiotin!«
Aha. So viel zu meiner Intervention dritten Grades.
Der kurze Schwanz des Dämons peitschte gegen A-lissas Beine, zerriss ihr das Seidenkleid, warf sie zu Boden. Die Augen des Monsters loderten, ein hellblaues Leuchten hüllte die Hexe ein, und sie versteinerte.
Und so viel zur Hilfe für Alissa.
»Kann ich die Verhaftete abführen, Sebulon?«, fragte ich.
Das Monster stand da und wippte ganz leicht auf den krummen Pfoten. Die Krallen an den Fingern waren bald eingezogen, bald ausgefahren. Dann machte er einen Schritt und stellte sich zwischen mich und die unbewegliche Frau.
»Ich bitte darum, die Rechtmäßigkeit der Verhaftung zu bestätigen«, sagte ich.»Ansonsten müsste ich Hilfe hinzuziehen.«
Der Dämon fing an, sich zu transformieren. Die Pro-
portionen seines Körpers veränderten sich, die Schuppen wuchsen zurück, der Schwanz schrumpfte, der Penis erinnerte nicht länger an einen mit Nägeln besetzten Knüppel. Danach bildete sich die Kleidung Sebulons heraus.
»Warte, Anton.«
»Worauf?«
Das Gesicht des Dunklen Magiers blieb undurchdringlich. Wahrscheinlich hatte er in der Gestalt des Dämons weit mehr Emotionen gehabt. Oder es zumindest für nicht erforderlich gehalten, sie zu verbergen.
»Ich bekräftige das Versprechen, das Alissa dir gegeben hat.«
»Was?!«
»Wenn die Sache nicht offiziell wird. Die Tagwache nimmt irgendeine Intervention bis zum dritten Grad einschließlich von dir in Kauf.«
Er wirkte absolut ernst.
Ich schluckte. Ein solches Versprechen vom Oberhaupt der Tagwache zu bekommen…
»Glaube niemals einem Dunklen!«
»Jede Intervention bis zum zweiten Grad inklusive.«
»Hast du solche Angst vor einem Skandal?«, fragte ich.»Oder brauchst du sie für irgendwas?«
Sebulons Gesicht verkrampfte sich kurz.
»Ich brauche sie. Ich liebe sie.«
»Das glaube ich nicht.«
»Als Oberhaupt der Tagwache Moskaus bitte ich Sie, Wächter Anton, die Angelegenheit friedlich beizulegen. Das ist möglich, denn meine Schutzbefohlene Alissa Donnikowa hat den Menschen keinen nennenswerten Schaden zugefügt. Zum Ausgleich für ihren Versuch«- Sebulon hob das letzte Wort besonders hervor -,»eine Dunkle magische Manipulation dritten Grades vorzunehmen, wird die Tagwache jede Lichte Manipulation bis zum zweiten Grad einschließlich hinnehmen, die du vollziehst. Ich bitte nicht um Geheimhaltung dieses Abkommens. Ich schränke deine Handlungen in keiner Weise ein. Ich unterstreiche, dass die von der Wächterin Alissa begangene Tat streng bestraft werden wird. Möge das Dunkel Zeuge meiner Worte sein.«
Ein feines, zartes Zittern. Ein unterirdisches Tosen, das Heulen eines heraufziehenden Hurrikans. In der Hand Sebulons erschien eine winzige schwarze Kugel, die sich drehte.
»Du hast das Wort«, sagte Sebulon.
Ich leckte mir über die Lippen, sah auf die durch einen Zauber gebannte Alissa. Ein Luder, ganz bestimmt. Mit der ich noch eine Rechnung offen hatte.
Ob ich deshalb die Angelegenheit nicht mit einem Kompromiss regeln wollte? Und keinesfalls deshalb, weil es gefährlich war, sich mit dem Dunkel auf ein Abkommen einzulassen? Alissa hatte versucht, das Kraftprisma zu benutzen, um etwas von der Lebensenergie der Menschen zu trinken. Das ist Magie dritten oder vierten Grades. Ich dürfte eine Manipulation zweiten Grades vornehmen. Was viel ist, sehr viel. Faktisch heißt das eine globale Manipulation! Eine Stadt, in der 24 Stunden lang kein einziges Verbrechen begangen wird. Eine geniale und eindeutig gute Idee. Wie oft in der Geschichte der Nachtwache hätten wir das Recht auf eine Intervention dritten oder vierten Grades gebraucht, es aber nicht gehabt, sodass
wir unüberlegt handeln mussten und voller Panik auf den Gegenzug warteten!
Und nun bot sich die Möglichkeit einer Intervention zweiten Grades, praktisch umsonst.
»Möge das Licht Zeuge deiner Worte sein«, sagte ich. Und streckte Sebulon die Hand entgegen.
Noch nie musste ich die Urkräfte als Zeugen anrufen. Ich wusste nur, dass dies keiner besonderen Zauberformeln bedarf. Doch eine Garantie, dass sich das Licht zu uns herabbequemt, gab es kaum.
In meiner Hand loderte ein Blütenblatt aus weißem Feuer auf.
Sebulon runzelte die Stirn, zog den Arm jedoch nicht weg. Als wir den Vertrag mit einem Handschlag besiegelten, trafen sich Dunkel und Licht zwischen unseren Handtellern. Ich spürte einen stechenden Schmerz, als ob jemand eine stumpfe Nadel durch mein Fleisch triebe.
»Der Vertrag ist geschlossen«, sagte der Dunkle Magier.
Er verzog ebenfalls das Gesicht. Der Schmerz traf auch ihn.
»Versprichst du dir selbst hiervon einen Vorteil?«, fragte ich.
»Natürlich. Ich hoffe stets, aus allem einen Vorteil zu ziehen. Meistens gelingt mir das auch.«
Doch zumindest empfand Sebulon keine pure Freude über das zustande gekommene Abkommen. Was auch immer er sich von unserem Handel versprach, von seinem Erfolg war er nicht vollends überzeugt.
»Ich habe erfahren, was der Kurier aus dem Orient
nach Moskau gebracht hat und wozu.«
Sebulon deutete ein Lächeln an.»Hervorragend. Die Situation macht mich nervös, und es ist ausgesprochen angenehm zu wissen, dass ich diese Unruhe jetzt mit anderen teile.«
»Sebulon! Haben die Nacht- und die Tagwache schon jemals zusammengearbeitet? Richtig kooperiert, nicht nur gemeinsam Verbrecher und Psychopathen gefasst?«
»Nein. Jede Zusammenarbeit bedeutet eine Niederlage für eine der beiden Seiten.«
»Das werde ich berücksichtigen.«
»Tu das.«
Wir verbeugten uns sogar höflich voreinander. Als ob sich hier nicht zwei Magier von gegeneinander kämpfenden Kräften gegenüberstünden, ein Adept des Lichts und ein Diener des Dunkels, sondern zwei Bekannte, die einander durchaus friedlich gesonnen sind.
Dann trat Sebulon an den unbeweglichen Körper A-lissas heran, hob ihn leicht hoch und warf ihn sich über die Schulter. Ich erwartete, dass sie das Zwielicht verlassen würden, doch stattdessen trat das Oberhaupt der Dunklen, mir ein herablassendes Lächeln schenkend, ins Portal.
Einen Moment lang zitterte es noch, dann verschwand es. Ich ging in die andere Richtung.
Erst jetzt wurde mir klar, wie müde ich war. Das Zwielicht liebt es, wenn man in es hineinkommt, aber noch mehr, wenn man dabei die Nerven verliert. Das Zwielicht ist eine unersättliche Schlampe, die sich über jeden freut.
Ich wählte einen Ort, an dem weniger Menschen waren, und sprang mit einem Ruck aus meinem Schatten.
Die Augen der vorübergehenden Menschen wandten sich wie üblich zur Seite. Wie oft pro Tag begegnet ihr uns, ihr Menschen… Den Lichten und Dunklen, den Magiern und Tiermenschen, den Hexen und Heilerinnen. Ihr schaut uns an - habt aber kein Recht uns zu sehen. Möge es auch fortan so sein.
Wir können hundert und tausend Jahre leben. Es ist sehr schwer, uns zu töten. Und die Probleme, die das menschliche Leben bestimmen, sind für uns wie der Missmut, den ein Erstklässler über einen schief in sein Heft gemalten Strich empfindet.
Alles hat jedoch seine Kehrseite. Ich würde mit euch tauschen, ihr Menschen. Nehmt das Können, Schatten zu sehen und ins Zwielicht einzutreten. Nehmt die Verteidigung der Wache und die Fähigkeit, das Bewusstsein anderer zu verändern.
Gebt mir die Ruhe, die ich für immer verloren habe!
Jemand rempelte mich an, schob mich beiseite. Ein kräftiger junger Mann mit Glatze, einem Handy am Gürtel und einer Goldkette um den Hals maß mich mit einem durchdringenden Blick, presste etwas zwischen den Zähnen hervor und trottete die Straße hinunter. Seine Freundin, die an seiner Hand klebte, imitierte nicht sonderlich erfolgreich jenen Blick von ihm, den kleine Banditen für»süße Blödmänner«reserviert haben.
Ich prustete aus vollem Halse los.
Ja, vermutlich gab ich wirklich ein tolles Bild ab!
Wie ich da mitten auf der Straße erstarrt war, wobei
es auf den ersten Blick noch so wirkte, als gingen mir an einem Stand mit billigen, bronzefarbenen Figuren, Matrjoschkas mit den Gesichtern von Politikern und nachgemachten Holzgegenständen à la Chochloma die Augen über.
Wenn ich wollte, dürfte ich die ganze Straße aufrütteln. Eine globale Remoralisation durchführen - und der Glatzkopf würde als Pfleger in einem Krankenhaus für geistig Behinderte arbeiten gehen, seine Freundin zum Bahnhof stürzen und zu ihrer längst vergessenen alten Mutter fahren, die irgendwo in der Provinz dahinvegetierte.
Man möchte Gutes tun, es juckt einem nur so in den Fingern!
Gerade weil es verboten ist.
Selbst wenn das Herz rein ist und die Hände heiß, der Kopf muss trotzdem kühl sein.
Ich bin ein einfacher, gewöhnlicher Anderer. Ich habe nicht die Kraft, die Geser oder Sebulon gegeben ist, werde sie nie haben. Vielleicht, weil ich meinen eigenen Blick auf die Ereignisse habe. Und selbst ein unerwartetes Geschenk - das Recht auf Lichte Magie - kann ich nicht nutzen. Das würde zu dem Spiel gehören, das über meinen Kopf hinweg gespielt wird.
Und meine Chance liegt darin, aus diesem Spiel auszusteigen.
Und Swetlana herauszuholen.
Ja, und damit die lange vorbereitete Operation der Nachtwache platzen lassen! Ja, kein Fahnder mehr sein! Mich in einen einfachen Lichten Magier verwandeln, der nur Krümel seiner Kraft nutzt. Und auch das nur im Glücksfall, im schlimmsten Fall wartet das ewige Zwielicht auf mich.
Heute, heute um Mitternacht.
Wo? Und wer? Wessen Schicksalsbuch wird die Zauberin aufschlagen? Was hatte Olga gesagt? Seit zwölf Jahren bereiten sie diese Operation vor. Zwölf Jahre suchen sie schon eine Große Zauberin, die in der Lage ist, die bis heute aufgesparte Kreide in die Hand zu nehmen. Stopp!
Fast hätte ich auf den ganzen Arbat hinausgeschrien, was für ein Idiot ich war. Doch mein Gesicht dürfte auch so beredt genug gewesen sein.
Wozu auch noch in Worte fassen, was mir ohnehin ins Gesicht geschrieben steht.
Die hohen Magier planen viele Züge voraus. In ihrem Spiel gibt es keinen Zufall. Es gibt Damen und es gibt Bauern. Aber keine überflüssigen Figuren!
Jegor!
Der Junge, der beinah das Opfer einer nicht lizenzierten Jagd geworden wäre. Der deshalb ins Zwielicht eingetreten ist, in einer Gemütsverfassung, die ihn auf die Seite der Dunklen getrieben hat. Der Junge, dessen Schicksal nicht bestimmt ist, dessen Aura noch jetzt die Buntheit des Kleinkinds aufweist. Ja, ein einmaliger Fall, darüber habe ich schon gestaunt, als ich es das erste Mal gesehen habe.
Gestaunt - und es vergessen. Kaum hatte ich erfahren, dass seine potenziellen Fähigkeiten vom Chef künstlich heraufgesetzt worden waren, sowohl um die Dunklen abzulenken als auch um Jegor die Chance zu geben, den Vampiren wenigstens etwas Widerstand zu leisten.
Das war er für mich geblieben: sowohl eine persönliche Niederlage, denn ich hatte als Erster den Anderen in ihm erkannt, als auch - zumindest noch - ein guter Mensch, als auch in Zukunft ein Gegner in der ewigen Schlacht zwischen Gut und Böse. Nur im hintersten Winkel hatte sich die Erinnerung an sein unbesiegeltes Schicksal gehalten.
Er kann noch alles Mögliche werden. Ein unbestimmtes Zukunftspotenzial. Ein offenes Buch. Das Buch des Schicksals.
Er wird vor Swetlana stehen, wenn sie die Kreide in die Hand nimmt. Gern wird er da stehen - wenn Geser ihm erst einmal alles vernünftig und ernsthaft erklärt hat. Und erklären kann er, der Chef der Nachtwache, das Oberhaupt der Lichten Moskaus, der große uralte Magier. Geser wird über die Korrektur von Fehlern sprechen. Wahrheitsgemäß. Geser wird Jegor die große Zukunft ausmalen, die vor ihm liegt. Und das, denn eben darum geht es, wird auch der Wahrheit entsprechen! Die Dunklen können tausendmal Protest einreichen - die Inquisition wird ohne Zweifel den Umstand berücksichtigen, dass der Junge anfangs unter ihren Taten zu leiden hatte.
Und Swetlana wird man vermutlich sagen, dass der Misserfolg mit Jegor mich bedrückt. Dass der Junge viel leiden musste, weil die Wache damit beschäftigt war, sie, Swetlana, zu retten.
Sie wird nicht einmal zögern.
Wird alles tun, was man von ihr verlangt.
Die Kreide in die Hand nehmen, ganz gewöhnliche Kreide, mit der man Himmel-und-Hölle auf den Asphalt malt oder»2 + 2 = 4«an die Tafel schreibt.
Und sie wird das Schicksal zuschneiden, das noch
nicht besiegelt ist.
Was wollen sie aus dem Jungen machen?
Wen?
Einen Initiator, Führer, Befehlshaber neuer Parteien und Revolutionen?
Den Propheten einer Religion, die noch nicht erdacht ist?
Einen Denker, der eine neue Gesellschaftslehre begründet? Einen Musiker, Dichter oder Schriftsteller, dessen Werk das Bewusstsein von Millionen verändert?
Wie viele Jahre reicht der bedächtige Plan der Kräfte des Lichts in die Zukunft hinein?
Gewiss, das Wesen, das einem Anderen von Natur aus gegeben ist, ändert man nicht von Grund auf. Je-gor wird ein äußerst schwacher Magier sein. Dank der Intervention der Wache aber immerhin ein Lichter Magier.
Doch um das Schicksal der Menschenwelt zu verändern, muss man nicht unbedingt ein Anderer sein. Es ist sogar hinderlich. Weit vorteilhafter ist es, auf die Unterstützung der Wache zurückzugreifen und die Menschenmassen hinter sich herzuziehen, die das von uns erfundene Glück so nötig haben.
Und er wird sie führen. Ich weiß nicht, wie, weiß nicht, wohin, aber er wird es. Nur, dass dann die Dunklen ihrerseits einen Zug machen. Für jeden Präsidenten findet sich ein Killer. Auf jeden Propheten kommen tausend Exegeten, die das Wesen der Religion verdrehen, das lichte Feuer durch die Hitze der Scheiterhaufen der Inquisition ersetzen. Jedes Buch wird irgendwann in die Flammen geworfen, aus Symphonien werden Schlager, die in Kneipen dudeln. Jede
Gemeinheit lässt sich auf eine solide philosophische Grundlage stellen.
Ja, wir haben nichts gelernt. Wahrscheinlich wollten wir das gar nicht.
Aber wenigstens bleibt mir noch etwas Zeit. Und das Recht auf meinen Zug. Einen einzigen.
Wenn ich nur wüsste, welchen.
Swetlana auffordern, Geser zu widersprechen, sich nicht der höchsten Magie zu verschreiben, ein fremdes Schicksal nicht zu korrigieren?
Warum eigentlich nicht? Im Grunde ist es doch richtig. Die gemachten Fehler korrigieren, einem einzelnen Menschen und der Menschheit insgesamt eine glückliche Zukunft ermöglichen. Von mir würde die Last der begangenen Fehler genommen. Von Swetlana das Bewusstsein, dass ihr Erfolg mit fremdem Leid bezahlt ist. Sie reiht sich unter die Großen Zauberinnen ein. Welchen Preis bin ich bereit, für meine diffusen Zweifel zu zahlen? Und was an ihnen ist echte Sorge, was mein kleiner persönlicher Egoismus? Was ist das Licht, was das Dunkel?
»He, Freund!«
Der Händler, neben dessen Tisch ich stand, sah mich an. Nicht sehr böse, aber verärgert.»Willst du was kaufen?«
»Seh ich wie ein Idiot aus?«, erkundigte ich mich.
»Total. Entweder kaufst du was, oder du gehst weiter.«
Irgendwie hatte er Recht. Aber ich hatte Lust, ihm Kontra zu geben.»Du verstehst ja nicht, was du für Glück hast. Ich bilde für dich die Masse, locke Käufer an.«
Der Händler war ein Original. Dick, mit einem roten Gesicht, gewaltigen Armen, in denen Fett und Muskeln den gleichen Anteil hatten. Er taxierte mich mit festem Blick, fand offenkundig nichts Bedrohliches und wollte schon lospoltern.
Und lächelte plötzlich.
»Na, dann bilde mal. Aber ein bisschen aktiver. Tu so, als ob du was kaufen willst. Du kannst mir sogar zum Spaß Geld geben.«
Das war so seltsam, so unerwartet.
Ich lächelte zurück.»Möchtest du, dass ich wirklich was kaufe?«
»Wozu brauchst du das denn, ist doch Touri-quatsch.«Der Verkäufer hörte auf zu lächeln, die bisherige angespannte Aggressivität war jedoch ebenfalls aus seinem Gesicht verschwunden.»Eine Teufelshitze, die macht uns alle noch verrückt. Wenn es endlich regnen würde.«
Ich schaute zum Himmel rauf und zuckte mit den Achseln. Offenbar hatte sich etwas verändert. Etwas hatte sich in dem durchscheinenden Blau des himmlischen Backofens bewegt.
»Ich glaube, das wird es«, erklärte ich.
»Wär schön.«
Wir nickten einander zu, und ich ging weiter, tauchte in den Strom der Menschen ein.
Auch wenn ich noch nicht wusste, was ich tun sollte, wusste ich doch, wohin ich gehen musste. Und das war immerhin etwas.
Sieben
Unsere Kräfte sind zum größten Teil geliehen. Die Dunklen schöpfen sie aus fremdem Leid. Sie haben es entschieden einfacher. Müssen den Menschen noch nicht mal unbedingt ein Leid zufügen. Brauchen nur lange genug zu warten. Brauchen sich nur aufmerksam umzuschauen und dann zu saugen, an dem fremden Leid zu saugen, als saugten sie einen Cocktail durch einen Strohhalm.
Uns steht dieser Weg auch offen. Nur sieht er ein wenig anders aus. Wir müssen die Kraft nehmen, wenn es den Menschen gut geht, wenn sie glücklich sind.
Allerdings gibt es ein Detail, das den Prozess für die Dunklen möglich macht, während es ihn für uns praktisch verbietet. Glück und Leid - das sind keinesfalls zwei Extreme auf der Skala menschlicher Gefühle. Sonst gäbe es weder lichte Traurigkeit noch bitterböse Freude. Es sind zwei parallele Prozesse, zwei gleichberechtigte Ströme der Kraft, die die Anderen spüren und nutzen können.
Wenn ein Dunkler Magier fremden Schmerz trinkt, wächst dieser noch an.
Wenn sich ein Lichter Magier fremde Freude einverleibt, schmilzt sie.
Wir können die Kraft in jedem Moment aufnehmen. Doch nur sehr selten erlauben wir uns das.
Heute beschloss ich, es zu tun.
Ich nahm ein wenig von einem Pärchen, das sich gerade umarmte und am Eingang zur Metro festgewachsen schien. Sie waren glücklich, im Moment sogar sehr glücklich. Und trotzdem spürte ich, dass ihnen eine Trennung bevorstand, zudem auf lange Zeit, und Traurigkeit unweigerlich die Verliebten streifen würde. Ich beschloss, dass mein Tun berechtigt war. Ihre Freude leuchtete grell und prunkvoll, wie ein Bouquet purpurroter Rosen, zarter und arroganter Rosen.
Ich berührte einen vorbeilaufenden Jungen - ihm ging es gut, er spürte die drückende, schwere Hitze nicht, sondern rannte, um sich ein Eis zu kaufen. Er würde sich schnell regenerieren. Seine Kraft war einfach und rein wie eine Wiesenblume. Ein Strauß Kamillen, gepflückt von meiner Hand, die nicht zitterte.
Ich sah eine alte Frau im Fenster. Der Schatten des Todes lauerte bereits so nahe, dass sie es vermutlich selbst spürte. Dennoch lächelte die Alte. Heute war ihr Enkel zu ihr gekommen. Wahrscheinlich, um zu sehen, ob das alte Weib immer noch lebte oder ob die teure Wohnung im Moskauer Zentrum nicht inzwischen frei geworden war. Sie wusste das. Und trotzdem war sie glücklich. Mir war es peinlich, unerträglich peinlich, doch ich berührte sie und nahm ihr ein wenig von ihrer Kraft. Ein verwelkendes gelb-orangefarbenes Gebinde aus Astern und Herbstblättern…
Ich ging weiter, wie ich mitunter nachts in einem Albtraum herumstreife, Glück nach links und rechts verteile. An alle, dass keiner gekränkt von hier gehe. Jetzt aber zog ich eine ganz andere Spur. Hier und da ein leicht ersterbendes Lächeln, Falten auf der Stirn, eine Lippe, die kurz gebissen wurde.
Überhaupt sah man, wo ich langgekommen war.
Eine Streife der Tagwache würde mich nicht anhalten, selbst wenn sie meinen Weg kreuzte.
Und auch die Lichten, sollten sie mich beobachten, würden schweigen.
Ich tat, was ich für notwendig hielt. Etwas, wozu ich mich berechtigt sah. Borgte. Stahl. Und wie ich mit der erhaltenen Kraft umging, würde mein Schicksal bestimmen.
Entweder würde ich alles in voller Höhe zurückzahlen.
Oder das Zwielicht würde sich vor mir auftun.
Ein Lichter Magier, der aus Menschen Kraft schöpft, setzt alles auf eine Karte. Das rechnen die Wachen nicht so auf wie sonst unsere Handlungen. Das Ausmaß des bewirkten Guten muss nämlich nicht nur einfach das von mir geschaffene Böse übersteigen.
Ich darf noch nicht einmal einen Anflug von Zweifel haben, dass ich alles in voller Höhe zurückgezahlt hatte.
Verliebte, Kinder, Alte. Eine Gruppe, die an einem Denkmal Bier trank. Ich befürchtete zwar, ihre Freude sei nur gespielt, doch sie stellte sich als echt heraus, und ich nahm ihre Kraft.
Verzeiht mir.
Ich könnte mich x-mal bei jedem Einzelnen entschuldigen. Ich kann für alles bezahlen, was ich mir genommen habe. Nur wäre das verlogen.
Ich kämpfe nämlich bloß für meine Liebe. In erster Linie. Erst dann für euch, für die ein neues, unerhörtes Glück vorbereitet wird.
Aber vielleicht kann auch das gelten?
Dass ich, sobald ich für meine Liebe kämpfe, auch für die ganze Welt kämpfe?
Für die ganze Welt - und nicht mit aller Welt.
Kraft!
Kraft.
Kraft?
Ich klaubte mir ihre Körnchen zusammen, manchmal sorgsam und vorsichtig, manchmal grob und heftig, damit meine Hand nicht zitterte, damit ich nicht die Augen vor Scham abwandte, während ich fast das Letzte sammelte.
Vielleicht war für diesen Jungen Glück ohnehin ein seltener Gast?
Ich wusste es nicht.
Kraft!
Vielleicht würde die Frau, nachdem sie dieses Lächeln eingebüßt hatte, auch die Liebe von jemandem verlieren?
Kraft.
Vielleicht würde dieser kräftige, ironisch lächelnde Mann morgen sterben?
Kraft.
Die Amulette in den Taschen würden mir nicht helfen. Es würde keinen Kampf geben. Mir würde meine»Hochform«nicht helfen, die der Chef erwähnt hatte. Sie war sowieso nicht der Rede wert. Und das Recht auf eine ungehinderte Intervention zweiten Grades, das mir Sebulon so großzügig eingeräumt hatte, war eine Falle. Daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Er hatte seine Freundin als Köder gebraucht, die Wahrscheinlichkeitslinien so zusammengeführt, dass wir uns treffen mussten, und mir mit gramverzerrtem Gesicht das tödliche Geschenk ausgehändigt. Ich kann nicht so weit in die Zukunft sehen, als dass sich mein Gutes niemals in Böses verkehren würde.
Aber wenn du keine Waffen hast - nimm sie aus den Händen des Feindes.
Kraft!
Kraft.
Kraft!
Wenn es den dünnen Verbindungsfaden zu Geser noch gäbe, der sich zwischen einem jungen Magier und seinem Mentor spannt, müsste er längst gespürt haben, was hier vor sich ging. Müsste bemerkt haben, wie ich mich mit Energie voll pumpe, mit ungeheuerlicher Energie, die unüberlegt abgezogen wurde und für ein bislang noch unbekanntes Ziel eingesetzt werden sollte.
Was würde er tun?
Einen Magier aufhalten zu wollen, der diesen Weg eingeschlagen hat, ist sinnlos.
Ich ging zu Fuß zur Ausstellung der Errungenschaften. Ich wusste, wo alles passieren würde. Es gibt keinen Zufall, wenn hohe Magier ihn lenken. Das plumpe»Haus auf Beinen«, diese aufrecht hingestellte Streichholzschachtel - dort hatte Sebulon seinen Kampf um Swetlana ausgetragen, dort hatte Geser seinen Schützling entdeckt, der Inquisition zugeführt und nebenbei Swetlana geschult.
Das Zentrum der Kraft für die ganze Kombination.
Zum dritten Mal.
Ich wollte weder essen noch trinken. Trotzdem hielt ich einmal an, kaufte mir einen Becher Kaffee, trank ihn. Er schmeckte nach nichts, als sei kein Koffein darin. Die Menschen wichen mir aus, obwohl ich mich in der normalen Welt bewegte. Die Konzentration der Magie um mich herum wuchs.
Ich konnte meine Ankunft nicht verbergen.
Aber ich wollte mich auch gar nicht aus dem Hinterhalt anschleichen.
Eine junge schwangere Frau setzte vorsichtig, voller Bedacht einen Fuß vor den anderen. Ich erschauerte, als ich sah, dass sie lächelte. Und hätte mich beinah abgewandt, als mir aufging, dass auch das ungeborene Kind in seiner winzigen und sicheren Welt lächelte.
Ihre Kraft glich einer hellen rosafarbenen Pfingstrose - eine große Blume, deren kugelige Knospe sich noch nicht geöffnet hatte.
Ich musste alles nehmen, was mir über den Weg lief.
Ohne Zögern, ohne Mitleid.
Irgendetwas passierte in der mich umgebenden Welt.
Die Hitze schien noch stärker zu werden. Und zwar mit einem verzweifelten, krampfhaften Ruck.
Gewiss nicht zufällig. Die Dunklen und die Lichten Magier hatten in den letzten Tagen immer wieder versucht, die Schwüle zu vertreiben. Irgendwas tat sich. Ich blieb stehen, hob den Kopf und sah durchs Zwielicht zum Himmel.
Ein kaum merkliches Kreisen.
Funken am Horizont.
Dunst im Südosten.
Aureolen um die Spitze des Fernsehturms in Ostan-kino.
Es würde eine seltsame Nacht werden.
Ich berührte ein vorbeilaufendes Mädchen und nahm mir ihre naive Freude: Ihr Vater war nüchtern nach Hause gekommen.
Wie der abgebrochene Zweig einer Heckenrose, stachelig und porös.
Verzeiht mir.
Als ich zu dem»Haus auf Beinen«kam, war es fast elf Uhr abends.
Als Letzten berührte ich einen betrunkenen Schwerarbeiter, der an der Wand eines Tordurchgangs lehnte - jenes Durchgangs, in dem ich zum ersten Mal einen Dunklen getötet hatte. Er war fast unzurechnungsfähig. Und glücklich.
Ich nahm mir auch noch seine Kraft. Die lodernde, bespuckte Blüte eines Wegerich, ein hässliches, schmutzig braunes Stummelchen.
Auch das ist Kraft.
Als ich die Straße überquerte, gewahrte ich, dass ich nicht allein hier war. Ich rief meinen Schatten herbei und trat in die Zwielicht-Welt ein.
Um das Gebäude herum hatten sie eine Kette gebildet.
Die merkwürdigste Kette, die ich je gesehen hatte. Dunkle und Lichte abwechselnd. Ich entdeckte Semjon, nickte ihm zu und erntete als Antwort einen ruhigen, leicht vorwurfsvollen Blick. Tigerjunges, Bär, Ilja, Ignat…
Wann waren sie alle herbeigerufen worden? Während ich durch die Stadt gestrichen war und Kraft gesammelt hatte? War wohl nichts mit Urlaub, was, Jungs?
Und die Dunklen. Selbst Alissa fehlte nicht. Es war schrecklich sie anzusehen: Das Gesicht der Hexe ähnelte einer zerknitterten und wieder geglätteten Papiermaske. Offenbar hatte Sebulon nicht gelogen, als er ihre Bestrafung angekündigt hatte. Neben Alissa stand Alischer, und als ich seinen Blick auffing, begriff ich, dass die beiden einen tödliche Kampf austragen würden. Vielleicht nicht jetzt. Aber irgendwann auf alle Fälle.
Ich ging durch den Ring.
»Sperrgebiet«, sagte Alischer.
»Sperrgebiet«, echote Alissa.
»Ich bin berechtigt.«
In mir trug ich genug Kraft, um auch ohne Erlaubnis durchzugehen. Nur Große Magier könnten mich jetzt aufhalten, doch die waren nicht hier.
Aber niemand hielt mich auf. Also hatte jemand, Geser oder Sebulon, möglicherweise aber auch beide Chefs der Wachen, den Befehl gegeben, mich nur zu warnen.
»Viel Glück«, hörte ich es hinter mir flüstern. Ich drehte mich um und fing den Blick von Tigerjunges auf. Nickte.
Der Hauseingang war leer. Auch im Haus war alles ruhig, wie damals, als über Swetlana der Höllenwirbel von beispiellosen Ausmaßen kreiste. Das Böse, das sie selbst über sich heraufbeschworen hatte.
Ich ging durch grauen Dunst. Unter meinen Füßen erbebte es dumpf: Hier, in der Zwielicht-Welt, reagierte selbst der Boden auf Magie, selbst die Schatten menschlicher Häuser.
Die Luke in der Decke stand offen. Niemand legte mir auch nur das geringste Hindernis in den Weg. Das Traurigste war, dass ich nicht wusste, ob ich mich darüber freuen oder betrübt sein sollte.
Ich trat aus dem Zwielicht. Es nützte wohl nichts, dort zu bleiben. Jetzt nicht.
Ich stieg die Leiter zum Dach hoch.
Als Ersten sah ich Maxim.
Nichts an ihm erinnerte noch an den Mann von einst, diesen spontanen Lichten Magier, den Wilden, der ein paar Jahre lang die Adepten des Dunkels ermordet hatte. Vielleicht hatte man irgendwas mit ihm gemacht. Vielleicht hatte er sich auch von sich aus geändert. Manche Menschen geben ideale Henker ab.
Maxim hatte es geschafft. Er war ein Henker geworden. Ein Inquisitor. Einer, der über dem Licht und dem Dunkel steht, allen dient - und niemandem. Die Hände hatte er vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht gesenkt. Etwas an ihm gemahnte an Sebulon, wie ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Und etwas an Geser.
Bei meinem Auftauchen hob Maxim ein wenig den Kopf. Sein klarer Blick huschte über mich hinweg. Dann schaute er zu Boden.
Also durfte ich in der Tat an dem, was hier geschah, teilhaben.
An einer Seite stand Sebulon stocksteif da. Er hatte sich in einen leichten Umhang gehüllt und schenkte mir nicht die geringste Aufmerksamkeit. Dass ich kommen würde, hatte er ohnehin gewusst.
Geser, Swetlana und Jegor standen beisammen. Sie reagierten weitaus lebhafter auf mein Erscheinen.
»Bist du also doch gekommen?«, fragte der Chef.
Ich nickte. Sah Swetlana an. Sie trug ein langes weißes Gewand, das Haar fiel ihr offen über die Schultern. In ihrer Hand flimmerte mit gespenstischem Licht ein Futteral - ein kleines Futteral aus weißem Saffianleder für eine Brosche oder ein Medaillon.
»Anton, du weißt es, ja?«, schrie Jegor.
Wenn jemand der Anwesenden glücklich war, dann er. Völlig.
»Ich weiß es«, antwortete ich. Und ging auf ihn zu. Zerstrubbelte ihm mit der Hand die Haare.
Seine Kraft glich der sattgelben Blüte des Löwenzahns.
Jetzt hatte ich eingesammelt, was ich kriegen konnte.
»Restlos alles?«, fragte Geser.»Anton, was hast du vor?«
Ich antwortete ihm nicht. Etwas warnte mich. Etwas stimmte hier nicht.
Aber ja! Olga fehlte, warum auch immer.
Hatte sie die Anweisungen schon gegeben? Wusste Swetlana, was ihr bevorstand?
»Die Kreide«, sagte ich.»Das kleine Kreidestück, das von beiden Seiten abgenutzt ist. Mit ihm kann man überall etwas schreiben. Zum Beispiel auch im Schicksalsbuch. Die alten Zeilen durchstreichen und neue einfügen.«
»Anton, du sagst niemandem der hier Anwesenden etwas Neues«, bemerkte der Chef gelassen.
»Ist die Erlaubnis bereits erteilt?«
Geser sah Maxim an. Als spüre er den Blick, hob der Inquisitor den Kopf.
»Die Erlaubnis liegt vor«, bestätigte er mit dumpfer Stimme.
»Einspruch von Seiten der Tagwache«, brachte Sebulon gelangweilt hervor.
»Abgelehnt«, erwiderte Maxim gleichmütig. Abermals ließ er den Kopf auf die Brust sinken.
»Die Große Zauberin kann die Kreide jetzt in die Hand nehmen«, meinte ich.»Jede Zeile im Schicksalsbuch wird einen Teil ihrer Seele löschen. Löschen - und durch einen geänderten ersetzen. Das Schicksal eines Menschen kann man nur ändern, wenn man die eigene Seele drangibt.«
»Ich weiß«, sagte Swetlana. Sie lächelte.»Anton, du musst entschuldigen. Ich halte das für richtig. Es wird von Nutzen sein - für alle.«
In Jegors Augen blitzte Beunruhigung auf. Er spürte, dass etwas nicht stimmte.
»Anton, du bist ein Kämpfer der Wache«, meinte Geser.»Wenn du Einwände hast, kannst du sie jetzt vortragen.«
Einwände? Wogegen denn? Dass Jegor nicht ein Dunkler, sondern ein Lichter Magier wird? Dass er versucht, selbst wenn es noch so oft nicht geklappt hat, den Menschen Gutes zu bringen? Dass Swetlana eine Große Zauberin wird?
Wenn sie dabei auch alles Menschliche opfert, das noch in ihr ist.
»Ich habe nichts zu sagen«, erklärte ich.
Kam es mir nur so vor, oder funkelte in Gesers Augen Erstaunen auf?
Es war schwer zu ergründen, woran der Große Magier jetzt eigentlich dachte.
»Fangen wir an«, sagte er.»Swetlana, du weißt, was du zu tun hast.«
»Ja.«Sie sah mich an. Ich trat ein paar Schritte zurück. Geser ebenfalls. Jetzt standen sie zu zweit da, Swetlana und Jegor. Beide gleichermaßen verwirrt. Gleichermaßen angespannt. Ich beugte mich zu Sebulon hinüber. Der wartete. Swetlana öffnete das Futteral - das Knirschen der Schließen klang wie ein Schuss - und nahm langsam, als müsse sie einen Widerstand überwinden, die Kreide heraus. Ein winziges Stück. Ob es sich wirklich über die Jahrtausende, in denen das Licht versuchte, das Schicksal der Welt zu ändern, so abgenutzt hatte?
Geser seufzte.
Swetlana ging in die Hocke und begann einen Kreis zu zeichnen, der sie und den Jungen umschloss.
Mir blieb nichts zu sagen. Nichts zu tun.
Ich hatte so viel Kraft gesammelt, dass sie am Rand überschwappte.
Ich habe das Recht, Gutes zu tun.
Doch eine Kleinigkeit fehlte mir: das Verständnis.
Wind wehte. Ein zarter, vorsichtiger Wind. Legte sich.
Ich sah hoch und erschauerte. Etwas tat sich. Hier, in der Menschenwelt, hatte sich der Himmel mit Wolken bedeckt. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie sie
aufgezogen waren.
Swetlana hatte den Kreis fertig gezeichnet. Erhob sich.
Ich versuchte, sie durchs Zwielicht anzusehen, und wandte mich sofort ab. In ihrer Hand loderte ein Stück glühende Kohle. Fühlte sie den Schmerz?
»Ein Unwetter zieht auf«, sagte Sebulon aus der Ferne.»Ein richtiger Sturm, wie wir ihn lange nicht hatten.«Er lachte höhnisch auf.
Niemand schenkte seinen Worten Beachtung. Höchstens der Wind - er begann stetiger zu wehen, immer stärker. Ich sah nach unten - dort war alles ruhig. Swetlana fuhr mit der Kreide durch die Luft, als zeichne sie etwas, das nur sie sehen konnte. Eine rechteckige Kontur. Ein Muster darin. Jegor stöhnte leise. Warf den Kopf in den Nacken. Ich wollte schon einen Schritt nach vorn machen, hielt aber inne. Durch die Barriere kam ich nicht. Und wozu auch?
Darum ging es nicht.
Wenn du nicht weißt, was du machen sollst, darfst du auf nichts vertrauen. Weder auf den kühlen Kopf, noch auf das reine Herz, noch auf die heißen Hände.
»Anton!«
Ich sah Geser an. Der Chef wirkte irgendwie besorgt.
»Das ist nicht nur ein Sturm, Anton. Das ist ein Orkan. Es wird Opfer geben.«
»Die Dunklen?«, fragte ich bloß.
»Nein. Die Naturgewalten.«
»Haben wir es mit der Konzentration der Kraft etwas übertrieben?«, fragte ich. Der Chef ging nicht auf meinen spöttischen Ton ein.
»Anton, bis zu welchem Grad darfst du Magie einsetzen?«
Natürlich wusste er von dem Handel mit Sebulon.
»Bis zum zweiten.«
»Du kannst den Orkan aufhalten«, sagte Geser. Konstatierte einfach den Fakt.»Es wird bei einem Wolkenbruch bleiben. Du hast genug Kraft gesammelt.«
Der Wind fegte erneut los. Er hatte nicht mehr vor abzuflauen. Der Wind riss und drückte, als sei er entschlossen, uns vom Dach zu wischen. Regen peitschte.
»Das ist vermutlich die letzte Chance«, fuhr der Chef fort.»Aber es ist deine Entscheidung.«
Mit gläsernem Klirren entstand um Geser herum ein Kraftschild, gleichsam als habe er sich eine Tüte aus zerknittertem Zellophan übergestülpt. Noch nie hatte ich gesehen, dass ein Magier sich mit solchen Maßnahmen gegen das gewöhnliche Tosen der Naturgewalten schützte.
Swetlana fuhr in flatterndem Kleid fort, das Schicksalsbuch zu zeichnen. Jegor rührte sich nicht, sondern stand da, als sei er an ein unsichtbares Kreuz geschlagen. Vielleicht nahm er bereits nichts mehr wahr. Was passiert mit einem Menschen, wenn er sein altes Schicksal verliert und das neue noch nicht erlangt hat?
»Geser, du bereitest einen Taifun vor - im Vergleich dazu ist dieser Sturm überhaupt nichts!«, schrie ich.
Der Wind erstickte bereits unsere Worte.
»Das ist unvermeidlich«, erwiderte Geser. Er schien zu flüstern, doch jedes Wort klang völlig klar.»Das vollzieht sich bereits.«
Das Schicksalsbuch wurde sogar in der Menschenwelt sichtbar. Natürlich hatte Swetlana es nicht im eigentlichen Sinne gezeichnet, sondern es aus den tiefsten Schichten des Zwielichts herausgezogen. Eine Kopie angefertigt, und jede Veränderung der Kopie würde sich im Original wiederfinden. Das Schicksalsbuch erschien als Modell, eine Nachbildung aus lodernden Feuerfäden, die unbeweglich in der Luft hingen. Regentropfen flammten auf, sobald sie auf das Buch fielen.
Jetzt würde Swetlana anfangen, Jegors Schicksal zu ändern.
Und später, Jahrzehnte später würde Jegor das Schicksal der Welt ändern.
Wie immer zum Guten.
Wie üblich erfolglos.
Ich geriet ins Taumeln. Von einer Sekunde zur andern hatte sich der starke Wind völlig überraschend zu einem Orkan ausgewachsen. Um uns herum geschah etwas Unvorstellbares. Ich sah, wie die Autos auf der Straße anhielten, an den Straßenrand drängten - möglichst weit weg von den Bäumen. Völlig lautlos - das Heulen des Windes erstickte jeden Lärm - krachte eine riesige Reklamewand auf die Kreuzung. Spätheimkehrer rannten auf die Häuser zu, als hofften sie, die Mauern böten ihnen Schutz.
Swetlana hielt inne. Der glühende Punkt leuchtete in ihrer Hand.»Anton!«
Ich konnte ihre Stimme kaum hören.
»Anton, was soll ich tun? Sag’s mir! Soll ich das tun, Anton?«
Der Kreidekreis schützte sie, jedoch nicht vollständig: Beinahe hätte der Orkan ihr die Kleidung vom Leib gerissen; trotzdem erlaubte er ihr, das Gleichgewicht zu bewahren.
Alles schien zu verschwinden. Ich sah sie an, sah die lodernde Kreide, die bereit war, ein fremdes Schicksal zu ändern. Swetlana wartete auf eine Antwort - nur hatte ich nichts zu sagen. Nichts, weil ich die Antwort selbst nicht kannte.
Ich hob die Hand zum tosenden Himmel. Und sah die durchsichtigen Blumen der Kraft in meinen Händen.
»Schaffst du es?«, fragte Sebulon mitleidig.»Der Sturm legt richtig los.«
Seine Stimme war durch das Gedonner des Orkans ebenso klar zu hören wie die Stimme des Chefs.
Geser seufzte.
Ich öffnete die Hände, drehte sie zum Himmel - an dem keine Sterne mehr standen, wo nur das Geflacker von Wolken, Regengüssen und Blitzen geblieben war.
Es war einer der einfachsten Zauber. Man kriegt ihn fast als Erstes beigebracht.
Eine Remoralisation.
Ohne jede Präzisierung.
»Tu das nicht!«, schrie Geser.»Wag es ja nicht!«
Mit einer einzigen Bewegung wechselte er den Standort, schirmte Swetlana und Jegor von mir ab. Als ob das den Zauber beeinträchtigen würde. Nein, nichts würde ihn jetzt noch aufhalten.
Ein Lichtstrahl, unsichtbar für Menschen, schoss aus meinen Handtellern. Alle Körnchen, die ich unter ihnen gesammelt hatte, erbarmungslos und unerbittlich. Die purpurrote Flamme der Rosen, die hellen rosafarbenen
Pfingstrosen, das Gelb der Astern, die weißen Kamillen, die nahezu schwarzen Orchideen.
Sebulon lachte leise hinter mir.
Swetlana stand mit der Kreide in der Hand über dem Schicksalsbuch.
Jegor war vor ihr mit ausgebreiteten Armen erstarrt.
Die Figuren auf dem Spielbrett. Die Kraft in meinen Händen. Noch nie hatte ich über so viel Kraft geboten, so unkontrollierte, am Rande überströmende Kraft, die sich über wen auch immer ergießen würde.
Ich lächelte Swetlana an. Und hob ganz langsam die Hände mit dem aus ihnen herausschießenden Springbrunnen aus regenbogenfarbenem Licht an mein Gesicht.
»Nein!«
Der Schrei Sebulons durchdrang nicht nur den Orkan - er erstickte ihn. Ein Blitz zerschnitt den Himmel. Das Oberhaupt der Dunklen wollte sich auf mich werfen, doch Geser trat ihm entgegen, sodass der Dunkle Magier stehen blieb. Ich sah das nicht - spürte es nur. Ein farbiges Leuchten überflutete mein Gesicht. Mir schwindelte. Den Wind nahm ich nicht mehr wahr.
Es blieb nur der Regenbogen, dieser endlose Regenbogen, in dem ich ertrank.
Der Wind tobte um mich herum, berührte mich aber nicht. Ich sah Swetlana an und hörte, wie die unsichtbare Mauer aufbrach, die immer zwischen uns gestanden hatte. Aufbrach - und uns beide in die Barriere einschloss. Die wehenden Haare wogten in einer sanften Welle um Swetas Gesicht.
»Du hast alles für dich ausgegeben?«
»Ja«, sagte ich.
»Alles, was du gesammelt hast?«
Sie glaubte es nicht. Konnte es immer noch nicht glauben. Swetlana wusste, welchen Preis geborgte Kraft hat.
»Bis auf den letzten Tropfen!«, erwiderte ich. Mir war leicht zumute, erstaunlich leicht.
»Warum?«Die Zauberin streckte die Hand aus.»Warum, Anton? Du hättest diesen Sturm aufhalten können. Hättest tausend Menschen glücklich machen können. Wie konntest du alles für dich ausgeben?«
»Um keinen Fehler zu machen«, erklärte ich. Irgendwie war es peinlich, dass sie, eine zukünftige Große, diese Kleinigkeit nicht begriff.
Einen Moment lang schwieg Swetlana. Dann sah sie auf die flammende Kreide in ihrer Hand.
»Was soll ich tun, Anton?«
»Du hast das Schicksalsbuch bereits geöffnet.«
»Anton! Wer hat Recht? Geser oder du?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das musst du selbst entscheiden.«
Swetlana zog die Augenbrauen zusammen.
»Und das ist alles, Anton? Dafür hast du so viel fremdes Licht vergeudet? Dafür hast du Magie zweiten Grades eingesetzt?«
»Du wirst es verstehen.«Ich wusste nicht, wie viel Glaube in meiner Stimme lag. Selbst jetzt reichte er mir selbst nicht.»Manchmal ist das Wichtigste nicht die Tat. Manchmal ist das Wichtigste, nichts zu tun. Es gibt etwas, das du allein entscheiden musst. Ohne Ratschläge. Weder von mir noch von Geser, Sebulon, dem Licht oder dem Dunkel. Nur du allein.«
Sie schüttelte den Kopf.»Nein!«
»Doch. Du selbst triffst die Entscheidung. Diese Verantwortung nimmt dir niemand ab. Doch was auch immer du tust - du wirst auf jeden Fall bedauern, das andere nicht getan zu haben.«
»Anton, ich liebe dich!«
»Ich weiß. Und ich liebe dich. Darum sage ich auch nichts.«
»Ist das deine Liebe?«
»Nur das ist überhaupt Liebe.«
»Ich brauche einen Rat!«, schrie sie.»Anton, ich brauche deinen Rat!«
»Jeder schafft sein eigenes Schicksal«, sagte ich. Das war sogar etwas mehr, als ich sagen durfte.»Entscheide.«
Die Kreide in ihrer Hand glühte wie eine dünne flammende Nadel, als sie sich zum Schicksalsbuch umdrehte. Ein Strich - ich hörte, wie die Seiten unter dem blendenden Radiergummi knisterten.
Licht und Dunkel sind nur Flecken auf den Seiten des Schicksals. Ein Strich. Ein Schnörkel.
Ein rascher Lauf der Feuerzeilen.
Swetlana öffnete die Finger, die Schicksalskreide fiel zu Boden. Schwer wie eine Bleikugel. Sie wäre trotzdem vom Hurrikan fortgerissen worden, doch ich schaffte es, mich zu bücken und die Kreide in der Hand zu verstecken.
Das Schicksalsbuch begann zu schmelzen.
Jegor wankte, krümmte sich, fiel auf die Seite und presste die Knie an die Brust. Rollte sich zu einem kleinen bedauernswerten Bündel ein.
Der weiße Kreis um die beiden war bereits vom Regen verwischt, und ich konnte zu ihnen gehen. Hockte mich hin und hielt den Jungen bei den Schultern.
»Du hast nichts hineingeschrieben!«, schrie Geser.»Swetlana, du hast nur etwas gelöscht!«
Die Zauberin zuckte mit den Achseln. Sie sah mich von oben bis unten an. Der Regen, der nun durch die sich auflösende Barriere brach, hatte ihr weißes Kleid schon durchtränkt und in feinen Mull verwandelt, der ihren Körper nicht mehr verbergen konnte.
Eben noch war Swetlana eine Opferpriesterin im schneeweißen Gewand, jetzt stand eine klatschnasse junge Frau vor mir, mit hängenden Armen, inmitten eines Sturms.
»Das war dein Examen«, sagte Geser halblaut.»Du hast deine Chance verpasst.«
»Lichter Geser, ich will nicht in der Wache dienen«, erwiderte die junge Frau.»Verzeihen Sie mir, Lichter Geser. Aber das ist nicht mein Weg. Nicht mein Schicksal.«
Geser schüttelte traurig den Kopf. Er sah nicht mehr zu Sebulon hinüber, der ein paar Schritt entfernt neben uns stand.
»Und das war alles?«, fragte der Dunkle Magier. Sah mich an, Sweta, Jegor.»Ihr habt nichts fertig gebracht?«
Er ließ den Blick zum Inquisitor wandern - der den Kopf hob und nickte.
Sonst ging niemand auf ihn ein.
Ein schiefes Lächeln breitete sich auf Sebulons Gesicht aus.
»Was für Kräfte, und dann endet alles mit einer Farce. Nur weil eine hysterische junge Frau ihren unentschlossenen Verehrer nicht aufgeben möchte. Anton, du hast mich enttäuscht. Swetlana, du hast mir eine Freude bereitet. Geser…«Der Dunkle sah den Chef an.»… meinen Glückwunsch zu solchen Mitarbeitern.«
Hinter Sebulon öffnete sich das Portal. Leise lachend trat er in die schwarze Wolke ein.
Von der Straße drang ein schwerer Seufzer zu mir herauf. Ich sah nichts, wusste aber, was dort geschah. Einer nach dem andern traten die Dunklen Wächter aus dem Zwielicht. Stürzten zu den in der Nähe des Hauses geparkten Autos, um sie so schnell wie möglich von den Bäumen wegzufahren. Liefen gekrümmt zu den Nachbarhäusern.
Dann verließen die Lichten Magier die Kette. Einige, um denselben einfachen und verständlichen menschlichen Handlungen nachzugehen. Doch die meisten, das wusste ich, würden bleiben und aufmerksam nach oben sehen, hinauf zum Dach des Hauses. Tigerjunges für alle Fälle mit schuldbewusster Miene. Semjon mit dem finsteren Lächeln eines Anderen, der schon ganz andere Stürme erlebt hatte, Ignat mit dem unweigerlichen aufrichtigen Mitgefühl.
»Ich konnte das nicht tun«, sagte Swetlana.»Es tut mir Leid, Geser. Ich konnte es nicht.«
»Du konntest es nicht«, bemerkte ich.»Und brauchtest es auch gar nicht…«
Ich öffnete die Hand. Sah auf das kleine Kreidestück, das in meinen Händen einfach nur ein feuchtes und klebriges Stück Kreide war. An einer Seite zugespitzt. An der anderen ungleichmäßig abgebrochen.
»Hast du es schon lange begriffen?«, fragte Geser. Er trat an mich heran, setzte sich zu mir. Sein Schild spannte sich über uns, das Heulen des Orkans verstummte.
»Nein. Eben erst.«
»Was geht hier vor?«, schrie Swetlana.»Anton, was passiert hier?«
»Jeder hat sein Schicksal, mein Mädchen«, antwortete Geser ihr.»Der eine muss fremde Leben lenken oder Imperien zerschlagen. Der andere einfach leben.«
»Während die Tagwache darauf gewartet hat, dass du den Eintrag vornimmst«, erklärte ich,»hat Olga sich die andere Hälfte der Kreide genommen und das Schicksal von jemandem umgeschrieben. So, wie das Licht es wollte.«
Geser seufzte. Streckte die Hand aus, berührte Jegor. Der Junge bewegte sich, versuchte aufzustehen.
»Gleich, gleich«, sagte der Chef zärtlich.»Alles ist vorbei, gleich ist alles aus.«
Ich nahm den Jungen in den Arm, bettete seinen Kopf auf meine Knie. Er beruhigte sich wieder.
»Sag, wozu?«, fragte ich.»Wenn du sowieso gewusst hast, was kommt?«
»Selbst ich kann nicht alles wissen.«
»Wozu?«
»Weil alles natürlich wirken musste«, erwiderte Geser leicht gereizt.»Nur so hat Sebulon an den Vorgang geglaubt. Sowohl an unsere Pläne wie auch an unsere Niederlage.«
»Das ist nicht die ganze Antwort, Geser.«Ich sah ihm in die Augen.»Bei weitem nicht!«
Der Chef seufzte.»Gut. Ja, ich hätte es auch anders machen können. Swetlana hätte eine Große Zauberin werden können. Entgegen ihrem eigenen Wunsch. Jegor wäre, obwohl die Wache auch so schon in seiner Schuld steht, zu unserem Instrument geworden.«
Ich wartete. Wollte unbedingt wissen, ob Geser die ganze Wahrheit sagen würde. Wenigstens einmal.
»Ja, ich hätte es auch so machen können.«Geser seufzte.»Nur, mein Junge… Alles, was ich neben dem großen Kampf zwischen dem Licht und dem Dunkel getan habe, alles, was ich im zwanzigsten Jahrhundert getan habe, war einem einzigen Ziel untergeordnet, selbstverständlich ohne dabei der Sache zu schaden…«
Mit einem Mal tat er mir Leid. Unerträglich Leid. Vielleicht, weil der Große Magier, der Helllichte Geser, der Vernichter der Ungeheuer und Hüter der Staaten, zum ersten Mal seit tausend Jahren gezwungen war, die volle Wahrheit auszusprechen. Die nicht so beredt und erhaben klang wie die, die er gewöhnlich vertrat.
»Schon gut, ich weiß es!«, schrie ich.
Doch der Große Magier schüttelte den Kopf.»Alles, was ich getan habe«, betonte Geser Silbe um Silbe,»war noch einem anderen Ziel untergeordnet. Nämlich die Leitung zu zwingen, Olgas Strafe vollständig aufzuheben. Ihr alle Kräfte zurückzugeben und ihr zu erlauben, die Schicksalskreide erneut in die Hände zu nehmen. Sie muss mir ebenbürtig sein. Sonst ist unsere Liebe zum Tode verdammt. Und ich liebe sie, Anton.«
Swetlana lachte los. Leise, sehr leise. Ich dachte, sie
würde dem Chef eine Ohrfeige verpassen, aber ich begriff sie wohl noch immer nicht vollends. Swetlana sank vor Geser auf die Knie und küsste ihm die rechte Hand.
Der Magier erschauerte. Als habe er seine grenzenlosen Kräfte verloren: Die Schutzkuppel erzitterte und schmolz. Wieder erstickte das Heulen des Orkans unsere Stimmen.
»Und das Schicksal der Welt werden wir abermals ändern?«, fragte ich.»Neben unseren kleinen persönlichen Angelegenheiten?«
Er nickte. Und fragte:»Freust du dich nicht darüber?«
»Nein.«
»Nun ja, Anton, man kann schließlich nicht immer gewinnen. Auch mir ist das nicht geglückt. Und dir wird es ebenso wenig gelingen.«
»Ich weiß«, erwiderte ich.»Natürlich weiß ich das, Geser. Aber trotzdem wäre es einfach zu schön.«