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Der stumme Mund und Rachel
Richard D’Ambrosio und Jane Bernstein
1970, 1988
Inhaltsverzeichnis
I Der stumme Mund — Die Erlösung eines mißhandelten Mädchens aus Sprachlosigkeit und seelischer Erstarrung
Prolog
Sprache
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
Leben
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
II Rachel — Ein blindes Kind lernt die Welt mit der Seel sehen
Danksagung
Teil I
Erwartung
Die Diagnose
Die ersten zwölf Tage
Die Krankenhausstadt
Gott
Teil II
Manchmal ist es zum Verrücktwerden
Fragen und keine Antwort
Wir heben den Kopf
Langsames Erwachen
Er glaubt daran
TEIL III
Maine-Fieber
Dem Baby die Nadel geben
Manche Babys weinen
Einer von uns versucht wegzulaufen
Wir warten
TEIL IV
Zeit der Genesung
Ihr Radar
Liebe zu Rachel
Teil I
Der stumme Mund — Die Erlösung eines mißhandelten Mädchens aus Sprachlosigkeit und seelischer Erstarrung
1
Meinerer Mutter
und meinem Vater
Für Rat und Hilfe beim Schreiben dieses Buches möchte der Autor Geoffrey Wagner noch einmal ausdrücklich danken.
Prolog
Dies ist die Geschichte eines Mädchens.
Die Geschichte eines Kindes, das im Alter von eineinhalb Jahren furchtbar mißhandelt und dann einfach im Stich gelassen wurde, als wäre es Abfall. Eines Mädchens, das gute zwölf Jahre seines Lebens kein Wort sprach.
Es ist eine wahre Geschichte — die Namen wurden natürlich geändert —, und obwohl sie in ihrer Art einmalig ist, geschieht ähnliches nur zu oft in unseren Großstädten. Die Unterlagen der Jugendämter und der Heime bestätigen das. Ich habe das Mädchen Laura genannt.
Beim Anblick des Ehrendenkmals für gefallene Soldaten, auf das ich von meinem Bürofenster aus blicke, muß ich oft daran denken, daß es keine Ehrungen und Auszeichnungen für die gibt, die täglich im Kampf gegen Geisteskrankheit und Verzweiflung unterliegen. Und auch die anderen, denen es dank ihres tiefen Mitgefühls und ihrer seelischen Stärke gelang, Laura in unsere Welt der sogenannten geistigen Gesundheit und Sprache zurückzubringen, vergißt man zu leicht. Die Geisteskrankheiten nehmen in Amerika fast mehr Krankenbetten in Anspruch als alle anderen Krankheiten zusammen, und Kindesmißhandlung hat sich zu einem solchen Problem in den amerikanischen Großstädten entwickelt, daß die Behörden eigene Arbeitsgruppen zu deren Bekämpfung eingesetzt haben. Lauras »Arbeitsgruppe« bestand aus ein paar Schwestern, für die es Mißerfolg einfach nicht gab. Von diesen Schwestern wurde das Kind gerettet, und daher befaßt sich dieses Buch auch mit ihnen. Vor allem aber ist es ein Bericht über die Menschlichkeit.
Während ich diese Worte schreibe, läutet das Telefon. Meine Gedanken werden durch die vielfältigen Probleme meiner Patienten unterbrochen. Eine Fürsorgerin berichtet mir erneut von Michael, siebzehn Jahre alt, depressiv, einsam, ohne Familie und Arbeit, am Ende angelangt…von Philip, ebenfalls siebzehn, nach einem Selbstmordversuch in eine Nervenheilanstalt aufgenommen …von der dunkelhaarigen, elfjährigen Helen, klug und feinfühlig, die sich jedoch ständig übergibt und daher keine Schule besuchen kann.
Jeder Name hat eine Geschichte, genauso wie jedes Gesicht, das morgens an einem vorbeihastet, den Stempel seiner besonderen Individualität trägt.
Warum dann also Laura? Warum bedeutete Laura so viel für mich, daß ich Jahre meines Lebens damit verbrachte, ihre Geschichte niederzuschreiben, ganz zu schweigen von der Zeit, die ich ihrer Behandlung widmete?
Obwohl so viele Jahre vergangen sind, seit ich Laura zum erstenmal begegnete, bucklig, von Narben entstellt, häßlich und darüber hinaus stumm, so erfaßt mich doch immer ein besonderes Gefühl, wenn ich an sie denke.
Es war eigentlich ganz unwahrscheinlich, daß sich unsere Wege kreuzten. Zu jener Zeit baute ich mir gerade eine Privatpraxis auf. Ich bekam Selbstvertrauen in meinem Beruf, meine Erfahrung wuchs, mein Ruf begann sich zu verbreiten. Ich hoffte, allmählich den Lohn für die langen Studienjahre ernten zu können. Meine Freizeit war begrenzt, kostbar. Wie andere Analytiker neigte ich zu der Ansicht, daß man die behandeln sollte, die am ehesten davon profitieren konnten — und das waren immer jene, die von selbst um Hilfe nachsuchten. Die Wunden oder Traumata, die von Armut und sozialen Mißständen herrühren, sind für uns beruflich zu oft eine undankbare Aufgabe.
Durch Laura wandelte sich meine Einstellung. Zu der Zeit, von der ich schreibe, bedeutete Geisteskrankheit für die Armen, die Bewohner der städtischen Gettos, Schocktherapie, Medikamente und Anstaltsaufenthalt — und nicht Psychotherapie und Psychoanalyse. Und vielleicht war ein verborgener Konflikt in mir der Grund meines Wandels, zwang mich nach einem beiläufigen Besuch in einem düsteren Heim dazu, mich mit einem verwundeten kindlichen Gemüt zu befassen. Jeder von uns findet sich ja irgendwann einmal, ob nun bewußt oder unbewußt, seiner Vergangenheit in dieser oder jener Form gegenüber.
Diese Gedanken müssen hier am Rande bleiben. Jedenfalls waren mir diese gestörten und hilflosen Kinder der ganz Armen, die sich in dem Heim befanden, über das ich berichte, nicht fremd; denn ich wußte aus eigener Erfahrung, was Armut bedeutet.
Als ich das Heim zum erstenmal besuchte, war ich nicht mehr arm. Ich gehörte zu den Glücklichen, den Gewinnern. Die im Heim waren die Verlierer. Und so fühlte ich vom ersten Augenblick an eine gewisse Loyalität für sie.
Dieses Gefühl von Verbundenheit war merkwürdig, doch ein Mensch kann sich selbst nicht entfliehen. Als Kind hatte ich oft das Gefühl gehabt, daß die übrige Welt die Armen vergaß. Wie hätte ich anderen antun können, worunter ich so gelitten hatte? Man muß die Ursache seines Zorns kennen, die Aufrichtigkeit seines Mitgefühls in Frage stellen und sich darüber klarwerden, ob man von anderen mehr verlangen kann, als man selbst geben will.
Das hieß konkret ausgedrückt, daß ich eines Tages Lauras Krankheitsgeschichte in der Hand hielt und an meine eigene Jugend dachte. Es hatte einen Augenblick gegeben, als ein junger Mathematiklehret mit Stahlbrille mein eigenes Leben buchstäblich auf die gleiche Weise in der Hand hielt.
Als ich Laura kennenlernte, konnte sie noch nicht einmal sprechen. Meine eigenen Schwierigkeiten hatten wohl in der dritten Klasse begonnen, als ich die Lehrerin zur Verzweiflung trieb, weil ich nicht lesen lernte. Sie schrieb verschiedentlich an meine Eltern, doch diese Gewissenhaftigkeit blieb wirkungslos: Meine Eltern brauchten einen Übersetzer. Sie sprachen kein Wort Englisch, waren ganz arm und hatten sieben Kinder großzuziehen, von denen die meisten schon über dreizehn waren, als sie von Italien nach Amerika kamen.
So wurde ich in die berüchtigte Klasse für geistig Zurückgebliebene versetzt, wo ich verwirrt zusah, wie andere Kinder sich in Zuckungen auf dem Boden wälzten, statt ausgeschnittene Figuren aufzukleben. Ich war geächtet und wurde lächerlich gemacht, von beiden Parteien, den »Normalen« und den »geistig Zurückgebliebenen«. Es gab viele blutige Kämpfe, und meistens rannte ich den ganzen Weg von der Schule nach Hause.
Wie deutlich ich mich daran erinnern kann, als ich meinen Eltern von dem Klassenwechsel berichtete! Wie klar steht mir die hilflose Ergebung auf ihren Gesichtern vor Augen — waren wir nicht arm, und was konnten die Armen schon dagegen tun?
Da trat Mr. Scott, jener junge Mathematiklehrer, in mein Leben. Ich war eines Nachmittags zufällig in sein Klassenzimmer getrollt, wo er gerade Nachhilfeunterricht gab, und hatte mich interessiert daran beteiligt. Als er erfuhr, in welcher Klasse ich war, versprach er mir zu helfen.
Mehr als sechs Monate gab er mir unentgeltlich Nachhilfeunterricht im Stoff der vierten und fünften Klasse und opferte viele Stunden dafür. Er war mehr als ein Lehrer für mich — er wurde zu einem, Freund, dem ich vertrauen konnte. So wie ich später Lauras Vertrauen zu gewinnen suchte.
Eines Tages wurde ich ins Büro der Direktorin gerufen, die Mr. Scott offensichtlich von meinen Fortschritten zu überzeugen versucht hatte. Als ich eintrat, gab sie mir sogleich ein Lesebuch in die Hand und bedeutete mir, ich solle vorlesen. Die Worte blieben mit buchstäblich im Halse stecken, bis sie sich triumphierend an meinen Fürsprecher wandte und sagte: »Sehen Sie, Mr. Scott, Sie verschwenden nur Ihre Zeit.«
Darauf forderte mich dieser schüchterne junge Mann zum Lesen auf, und plötzlich kamen die Worte wie von selbst. Als er mich dann in den Fächern prüfte, die ich durchgearbeitet hatte, waren meine Gedanken klar und meine Antworten richtig. So wurde ich also aus der »zurückgebliebenen« Klasse herausgenommen und »probeweise« in die fünfte versetzt. Nach dramatischen Zwischenfällen und gegen den Widerstand der Direktorin, die mich nach Jahren noch für »geistig zurückgeblieben« hielt, bekam ich schließlich die Genehmigung, die Aufnahmeprüfung für die naturwissenschaftliche Oberschule zu machen. Drei Schüler unserer Schule nahmen teil, zwei bestanden. Einer davon war ich.
Wenn Mr. Scott mir damals nicht seine kreideverstaubte Hand entgegengestreckt hätte, wäre ich vielleicht für immer als geistig zurückgeblieben verdammt worden, und das nur, weil ich die Sprache nicht beherrschte.
Der Hauptunterschied zwischen Lauras und meinem Leben bestand darin, daß ich entkommen und sie noch immer gefangen war. Unsere Ausgangssituationen waren zwar verschieden, aber ich wollte erklären, weshalb mich ein fast unwiderstehlicher Zwang trieb, für das unbekannte stumme Mädchen den Kampf gegen Vorurteil und Unwissenheit in unserer Gesellschaft aufzunehmen, wo die Armen niemals vergessen, daß sie arm sind, und oft für die »geistig Zurückgebliebenen« gehalten werden.
Lauras Geschichte beginnt eigentlich an einem kalten Oktoberabend auf der Unfallstation eines überfüllten städtischen Krankenhauses, als eine Ambulanz vorfuhr und ein Polizist mit hervortretenden Augen und hängender Unterlippe half, die Tragbahre, auf der ein sehr kleines Bündel Mensch lag, auf einen Rollwagen zu schieben.
Fünfzig Prozent des kleinen Körpers waren mit Brandwunden zweiten Grades bedeckt. Auf dem ganzen Weg bis zur Unfallstation hatte der Polizist den Geruch verbrannten Fleisches in der Nase und fürchtete, ihn nie wieder loszuwerden. Krampfhaft versuchte er, die gespannten, aufgeblähten Lippen zu übersehen.
All das setzte ich später Stück für Stück zusammen, als ich Lauras Leben rekonstruierte. Damals lautete die Frage nur: Würde sie am Leben bleiben? Ich unterhielt mich mit der Angestellten, die in jener Nacht im Krankenhaus die Daten aufnahm. Während man Laura Plasma gab, füllte der Polizist die Unterlagen aus und unterhielt sich mit ihr. Obwohl die Angestellte an nächtliches menschliches Elend gewöhnt war, blickte sie jäh auf, als der Polizist ihr sagte, das Kind sei »von den Eltern auf den heißen Herd gesetzt worden«.
Später begleitete die Angestellte den Polizisten zu seinem Wagen. Er erzählte ihr, daß die Eltern des Kindes in einer Mietskaserne wohnten und sich die Nachbarn ständig über das Kindergeschrei beschwert hätten. Der Vater hatte seine Tat mit den Worten »Sie schreit zuviel« erklärt. Er war ein Trinker, wie oftmals in solchen Fällen, und ein Mann, der Katzen tötete. Er war einmal angezeigt worden, weil er eine Katze mit Benzin übergossen und angezündet hatte.
Das Mädchen fragte nach dem Namen des Kindes. Laura. Während sie sich noch unterhielten, wurde schon die nächste Tragbahre den Eingang hinaufgerollt.
Drinnen im Krankenhaus kämpfte ein kleines Kind, das einen entsetzlich verbrannten und mißhandelten Körper hatte, um sein Leben.
Sprache
1
Wenn die Geschichte für Laura mit einem schaurigen, unvollendeten Drama begann, so fing sie für mich harmlos genug an Bord eines Flugzeuges an, mit dem ich von einer Tagung in Chicago zurückkehrte.
Ich hatte dort einen Vortrag gehalten und saß auf dem Rückflug neben Dorothy, der attraktiven jungen Dame, die Vorsitzende in meinem Seminar gewesen war. Sie war mir auf der Universität ein- oder zweimal begegnet, aber ich kannte sie nicht besonders gut. Als wir uns jedoch jetzt unterhielten, stellte ich fest,daß wir vieles gemeinsam hatten. Sie war Sozialfürsorgerin geworden.
»Wo?« fragte ich ohne Neugierde.
»In zwei Heimen«, erklärte sie. Sie warf mir einen zögernden Blick zu. »Eins davon für Mädchen.«
»Oh.« .
»Eigentlich arbeite ich nicht in den Heimen selbst. Ich habe mit ihrem; Hauptbüro zu tun. Ich erledige den ganzen Papierkram, stelle Budgets auf, Personal ein und so weiter.«
»Hört sich interessant an«, meinte ich ohne große Begeisterung.
Ehrlich gesagt, das Wort »Heim« schreckte mich ab.
Ich hatte mich für die Psychoanalyse entschieden, weil ich die menschliche Psyche verstehen, den Gefühlen und Beziehungen zwischen Individuen nachgehen wollte. Ich war außerordentlich interessiert an den Patienten, die in meine noch kleine, aber vielversprechende Praxis kamen, und lernte von ihnen genauso, wie ich hoffte, daß sie auch von mir lernten. Ein Heim erschien mir als etwas Kaltes, Distanziertes — gerade das Gegenteil zu der Beziehung zwischen Individuen, die mich beschäftigte.
»Es sind ungefähr hundertfünfzig Mädchen dort«, erklärte mir Dorothy, als wir unseren Kaffee tranken, »fast alle aus zerrütteten Familien und in allen Altersstufen, bis zu achtzehn.«
Ich nickte höflich. Die Behörden kümmerten sich im allgemeinen nicht um Mädchen über achtzehn. Und sonst war es die bekannte Geschichte: Eltern, die Alkoholiker waren, verlassene Kinder, zerbrochene Ehen, die geistig und körperlich Kranken. Als das Zeichen »Bitte anschnallen« irgendwo über New York aufleuchtete und Dorothy seltsam lächelnd sagte: »Es ist also abgemacht?« fragte ich daher überrascht: »Was ist abgemacht?«
»Sie kommen?«
Anscheinend hatte ich während unseres Geplauders eine halb unbgewußte Zusage gegeben. Sie war fest entschlossen, mir eines ihrer Heime zu zeigen, das für Mädchen, und als wir aufsetzten, hatte ich ziemlich widerwillig einen Tag mit ihr vereinbart.
Es war ein bitterkalter Dezembertag, als mich Dorothy in ihrem abgenutzten Chevy abholte und wir über die Brücke aus Manhattan hinausfuhren. Um uns herum Schneegestöber, der Fluß von unfreundlichem Grau.
Meine Laune besserte sich während der Fahrt nicht. Dorothy fuhr in eine besonders deprimierende Gegend. In den Mietskasernen tauchte nur hin und wieder flüchtig ein Gesicht am Fenster auf. Die Trostlosigkeit machte mich trübsinnig — alte Leute, die an U-Bahn-Schächten vorbeischlurften, Einheitspreisläden mit zerbrochenen Scheiben, heruntergekommene Cafeterias und Automaten, hin und wieder winzige, eingezäunte Grünanlagen, in denen sicher den ganzen Sommer ausdruckslose Gestalten saßen. Beim Fahren sprach sie.
»Ich arbeite im Sozialen Außendienst«, sagte sie. »Das Städtische Wohlfahrtsamt steuert zwar Geld bei, aber die lokalen Caritas-Verbände kommen fast ganz für das Essen der Kinder, die Unterkunft und die Leitung auf. Die Schwestern sind ›Gruppenmütter‹, so eine Art Mutterersatz. Sie tun ihr Bestes, aber sie müssen für so viele Kinder sorgen.«
»Gibt es Hilfe von psychologischer Seite?«
Der Himmel schien mit Steinen versperrt. Diese verfallenen Häuser, rostigen Feuerleitern, blinden Fenster und verstreuten Abfallhaufen auf den leeren Grundstücken gingen mir unter die Haut. Ich wußte, warum ich es sonst vermied, in diese Gegend zu kommen. Es ist etwas absolut Lebenzerstörendes um den Rand der amerikanischen Großstadt, da, wo sie sich in diese Trostlosigkeit verliert.
»Sehr wenig. In dieser Beziehung sind die Heime fast nur auf uns Fürsorgerinnen angewiesen«, erklärte mir meine Begleiterin. Sie bremste und stoppte. Und fast beiläufig fügte sie hinzu: »Und dort drüben ist das Heim.«
Der Schnee fiel in dichten, nassen Flocken und gab der Straße, in der wir hielten, irgendwie etwas Dunkles, Schattenhaftes. Gegenüber konnte ich einen massiven Steinklotz erkennen, eine farblose Anhäufung von Mörtel, die sich über einen ganzen Block erstreckte.
Diese seelenlose Kaserne schien alle meine Lebensgeister zu ersticken. Als wir darauf zugingen, sah ich plötzlich, daß das massige Gebäude noch zusätzlich durch Stacheldraht auf den äußeren Mauern geschützt war, zwischen den Glassplitter und scharfe Fischhaken eingesetzt waren.
Die Steintreppen, die wir zu diesen finsteren Mauern emporstiegen, kamen mir endlos vor. Und als ich mit aller Kraft an einem alten eisernen Glockenzug zog, durchlief mich ein Schauer. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die große Tür sich weit öffnete und eine fröhlich lächelnde Schwester uns zum Eintreten aufforderte.
Dorothy und ich folgten der schwarzgekleideten Gestalt zum Büro der Oberin. Wir gingen einen langen Korridor entlang, auf dem man schwach den Klang singender Stimmen vernahm. Hin und wieder konnte man auch Kinder lebhaft sprechen oder kichern hören. An den Wänden befanden sich Anschlagtafeln; auf einer stand der Wochenplan für die Mädchen.
Das schwarze Gewand der Schwester, die uns führte, flatterte beim Gehen von einer Seite auf die andere. Ich flüsterte Dorothy zu: »Genau wie ein Pinguin.«
Plötzlich stürmte aus einem Zimmer eine Gruppe kleiner Kinder, die sich balgten und lachten. Zwei hielten mit uns Schritt, klammerten sich an meinen Arm und langten zu mir hinauf, damit ich sie berühren konnte, bis der Pinguin sie lächelnd zurechtwies und zurückschickte. Ich spürte einen schwachen Geruch, konnte ihn aber trotz aller Anstrengung einfach nicht definieren.
Die Oberin erhob sich zu unserer Begrüßung, als wir ihr ehrfurchtgebietendes getäfeltes Büro betraten. Sie war eine große, breitschultrige Frau, noch jung und gut aussehend.
Eine Weile plauderte sie mit Dorothy, dann wandte sie sich mir zu. »Ich freue mich so sehr, daß Sie gekommen sind. So viele seelisch gestörte Kinder hier brauchen Hilfe, die über das hinausgeht, was wir und die Fürsorgerinnen ihnen geben können. Aber kommen Sie, ich führe Sie herum.«
Wir besichtigten das Heim.
Die Kinder von zwei bis fünf Jahren waren im Erdgeschoß untergebracht, in jedem Schlafsaal befanden sich zehn bis zwölf. Alle waren sauber gekleidet, die ordentlichen Zöpfe mit hübschen Bändern versehen.
Überall liefen die Kinder in fröhlicher Unbefangenheit auf mich zu, griffen nach mir, zogen mich, wollten hochgehoben werden, riefen laut. Die Pinguin-Schwester beschwichtigte Sie vergeblich und meinte leise, daß die Kleinen so sehr viel Fürsorge brauchten.
Dort bei den Kleinkindern konnte ich auch den Geruch, den ich vorher bemerkt hatte, ausmachen. Es war Milch, eine symbolische Mahnung, daß hier Kinder ohne Mütter — und auch ohne Väter und Familie — lebten, Ausgestoßene der Gesellschaft. Vor vielen Jahren war das Heim ein Waisenhaus.
Dann fuhren wir mit dem alten Lift in den zweiten Stock. Als die Türen auseinanderrasselten, begrüßte uns ein Durcheinander von Singen und Lachen: Die Kinder waren eben dabei, Weihnachtsdekorationen zu basteln. Ihre unbezähmbare Lebenslust wurde noch auf traurige Weise unterstrichen, als wir weiter in die Krankenabteilung gingen, wo ein zehnjähriges Kind mit großen Augen und mageren Gliedern im Bett lag.
»Sie wartet darauf, daß ein Arzt Zeit für sie findet«, erklärte mir Dorothy, während die beiden Gestalten in den langen Gewändern das Kind aufzuheitern versuchten. »Ich fürchte, Clare hat immer noch ziemlich hohes Fieber.«
Die großen Augen des Mädchens hingen mit quälender Intensität an mir. Ich suchte nach ein paar tröstlichen Worten, die sie aufheitern…und mein Gewissen etwas beruhigen würden.
»Bald wird es dir wieder bessergehen, Clare.«
Ich verabscheute die Worte, kaum daß ich sie ausgesprochen hatte: Die bedeutungslose Phrase mußte ja wirkungslos bleiben. Ich klopfte ihr auf die Füße. Sie sahen unter der Decke seltsam groß aus.
Ihr Blick folgte mir mit der Intelligenz eines Erwachsenen. In den Augen des Kindes konnte ich lesen, daß es besser als ich wußte, was Einsamkeit ist. Und als hätte sie meine Gedanken erraten, sagte Dorothy: »Wir haben immer wieder vergeblich versucht, Clares Familie ausfindig zu machen.«
Ich bemerkte zu der Schwester, die uns jetzt begleitete, daß doch für Kinder wie Clare das Dasein manchmal eine schwere Last sein mußte, unter der ihr Lebenswille erlahme.
»Das ist es ja gerade, Herr Doktor.« Sie rückte sofort und erklärte, daß Clare, wie die meisten Kinder im Heim, aus diesem Grunde bei Krankheit besonders anfällig sei. Ihr Lebenswille werde in solchen Zeiten, wo die Liebe einer Familie besonders nötig wäre, durch das starke Einsamkeitsgefühl, das bis zur Verzweiflung gehe, geschwächt.
Wir gingen jetzt in die Schlafsäle, wo bis zu fünfundzwanzig Mädchen untergebracht waren. Jede hatte ein Bett und einen großen Wandschrank. Alle Räume waren mit bunten Vorhängen und Bettüberwürfen ausgestattet, und auf jedem Bett saß ein Stofftier oder eine Puppe.
Man erklärte mir, daß die Mädchen hier fünf bis zwölf Jahre alt seien. Sie machten ihre Betten selbst, hatten ihren eigenen Speisesaal, wuschen und trockneten ihr Geschirr ab und wetteiferten auf eigenen Wunsch hin und wieder in der Zubereitung besonders leckerer Gerichte in der großen Gemeinschaftsküche.
Jede Abteilung unterstand einer Schwester, der eine Anzahl Laienhelferinnen zur Seite standen. Als wir zum Lift zurückgingen, erklärte mir die Oberin, daß der dritte Stock in einzelne Wohnungen für die halbwüchsigen Mädchen aufgeteilt sei, die im Augenblick in der Schule seien. Wir waren wieder im ersten Stock angelangt.
»Wir danken Ihnen, daß Sie gekommen sind, Herr Doktor«, sagte die Oberin schließlich. Ihre hellen Augen musterten mich eingehend.
»Ja, vielen Dank, Herr Doktor«, sagte auch die Schwester.
»Wir werden nämlich von der Außenwelt nicht gerade übermäßig beachtet«, fügte die Oberin hinzu.
Ließ sie diese Bemerkung immer fallen, wenn jemand von draußen kam und so tat, als wären Heime etwas, das nur die anderen anging? Zeigte sie mit dem Finger auf mich, oder beschuldigte ich mich selbst der Gleichgültigkeit gegenüber der »anderen« Seite der Menschheit? Und doch war ich nicht gleichgültig: Der Ausdruck in den Gesichtern der Kinder, in Clares großen Augen hatte mich zutiefst angerührt. Doch sie mußte Gleichgültigkeit gewöhnt sein, denn in ihrem Ton war ein gewisser Zynismus zu spüren.
Als ich an die vielen Schwierigkeiten dachte, mit denen diese Schwestern zu kämpfen hatten, wurde mir zum erstenmal bewußt, wie mutig sie waren.
»Wie viele der Kinder sind wohl seelisch gestört, Schwester?« fragte ich.
»Mindestens ein Drittel«, antwortete die Oberin. »Vielleicht die Hälfte.«
Ich merkte, daß sie mich alle drei beobachteten.
Plötzlich wirbelten Kinder von irgendwoher den Gang entlang. Sie lachten und riefen nacheinander, und wir wären beinahe unter fliegenden Armen und wehenden Zöpfen begraben worden, wäre nicht die Schwester, die sie beaufsichtigte, schnell herangekommen.
Ein dunkles Mädchen mit seidigem Haar blieb zurück und hängte sich an meinen Arm. Sie lächelte mit dem scheuen, nachdenklich wissenden Ausdruck zu mir auf, den manche Kinder haben.
Die Oberin wählte diesen Augenblick und fragte: »Und glauben Sie, daß Sie uns vielleicht wieder einmal besuchen werden, Herr Doktor?«
»Im Moment sieht es so aus, als ob man mich überhaupt nicht gehen ließe, nicht wahr?« Ich blickte auf die Kleine hinunter, die mit einem Klaps von der Schwester weitergeschickt wurde.
»Kommen Sie, wann Sie wollen: Sie brauchen nur Dorothy Bescheid zu sagen.«
Die große Frau lächelte wieder, gab mir einen Karate-Händedruck, murmelte »Gott segne Sie« und ging.
Eine Minute später schritt ich mit meiner Bekannten die kalten, nassen Stufen hinunter. Die große Tür schloß sich nachhaltig hinter uns. Das Schneetreiben hatte sich zum Sturm entwickelt, der uns mit aller Kraft überfiel.
Schneebedeckt schien die Straße jetzt breiter, als ich sie in Erinnerung hatte, oder kam es mir nur so vor? Ich kämpfte mich mühsam durch Wind und Schnee vorwärts und spürte nur Finger, die an mir zupften, Hände, die nach mir griffen. Und den Geruch von Milch.
Als ich in Dorothys alte Klapperkiste kletterte und sie den widerwilligen Motor anließ, hoffte ich nur, sie würde nicht über Pflegeeltern und…Heime sprechen. Sie mußte meine Stimmung spüren, denn sie sagte nichts. Und ich schwieg auch. In Gedanken sah ich vor dem schneebedeckten Himmel große Kinderaugen und dünne Glieder unter einer Decke.
»Jedes einzelne…« fing ich einmal an und brach wieder ab.
Ich war meiner selbst noch nicht sicher. Ich war müde und wollte nach Hause. Aber während der ganzen Fahrt kehrten meine Gedanken immer wieder zu den Kindern. und den Schwestern zurück. Das Ganze war lächerlich, dachte ich, was kann ein einzelner schon tun? Ich mußte an meine Karriere denken, mir vor Augen halten, wie wenig Zeit ich für meine eigenen Patienten übrig hatte.
Vielleicht würde ich den Schwestern einen Scheck schicken. Das würde mich beruhigen.
Um uns herum stockte der Verkehr. Vor der Brücke schienen die Lichter der Stadt wie ein Versprechen zu uns herüber, Zauberlaternen am Himmel, wie die Weihnachtsdekorationen…dann sagte Dorothy: »Glauben Sie, daß Sie wiederkommen? Ich meine …« Sie fuhr fort: »Ich muß Ihnen nicht sagen, wie sehr…«
»Ist irgendein Entgelt damit verbunden?«
»Wenig.« Sie fügte hinzu: »Die Schwestern arbeiten natürlich umsonst.«
»Also gut«, erwiderte ich ziemlich schroff, »nächste Woche um die gleiche Zeit. Und Sie brauchen mich nicht abzuholen. Ich finde den Weg allein.«
Dorothy schwieg. Erst als wir die Brücke überquert hatten, hob sie ihr Kinn ein wenig und sagte: »Ich lege Ihnen die Personalakten heraus.«
Rückblickend kann ich die widerstreitenden Gefühle verstehen, die ich damals empfand, als ich mir überlegte, ob es wohl klug sei, mich mit den hilflosen menschlichen Wracks in dem Heim einzulassen. Manchmal glaube ich, daß ich in jenem Augenblick, als ich der Entscheidung gegenüberstand, vielleicht einfach zu feige war, nein zu sagen.
2
Eine Woche später saß ich in dem kahlen Büro, das man mir im Heim zur Verfügung gestellt hatte, und las die Personalakten. Ich war zu neugierig auf die Lebensgeschichten der Kinder, als daß ich überlegen konnte, warum ich überhaupt gekommen war.
Ein Psychoanalytiker sieht schon beruflich viel Unglück und seelisches Leid. Als ich jedoch hier Akte um Akte vor mir anstarrte und mir über die Daten hinaus ein Bild zu machen versuchte, wurde mir klar, daß man selten soviel menschliches Elend auf einmal findet.
Es war eine Litanei zerstörter Träume und enttäuschter Hoffnungen. Die Tatsachen waren da, nicht aber die damit verbundenen Gefühle. Auch wenn die Tatsachen noch so korrekt sind — deren volle Tragweite für ein Kind kann man niemals in Akten verzeichnen. So überlegte ich mir zum Beispiel, was es für Nancy bedeutet haben mochte, als ihre Mutter lebensgefährlich erkrankte und sie in eine fremde, unbekannte Umgebung versetzt wurde. Wie es wohl Susan zumute war, Woche für Woche, Monat für Monat mit geballten Fäusten im Bett liegend den Wutanfällen ihres betruhkenen Vaters ausgesetzt zu sein und vor seiner Heimkehr zu zittern. Oder Anne, die versuchte, wenigstens einen vagen Sinn in den halluzinatorischen Bemerkungen ihrer Mutter zu entdecken.
Um mich herum war Stille, die nur selten unterbrochen wurde, wenn draußen ein Auto hupte oder im Gang eine Schwester vorbeiging. Beim Weiterlesen bekamen die Fälle eine bedrückende Einförmigkeit. Eine Stimme aus meiner Vergangenheit meldete sich, die Stimme eines Kollegen mit gutgehender Praxis, den ich einmal zu eiher Sozialarbeiterin sagen hörte: »Warum verschwenden Sie Ihre Zeit an diese verwahrlosten Kinder? Kinder aus der Mittelklasse können von der Psychotherapie profitieren, gewiß, aber in diesen vernachlässigten Fällen…«
Und dann konnte ich ein Blatt nicht aus der Hand legen. Es war Lauras Krankengeschichte. Nachdem der fast leblose, mit schweren Brandwunden bedeckte Körper des anderthalbjährigen Kindes auf die Unfallstation gebracht worden war, zählte es wochenlang zu den Todeskandidaten des Krankenhauses. Doch irgendwie überlebte es.
Aus den Unterlagen war ersichtlich, daß das Kind die ersten eineinhalb Jahre seines Lebens von seinen unzurechnungsfähigen Eltern, Alkoholikern, regelrecht mißhandelt werden war. Wann immer ein Nachbar es zufällig erblickte, schien sein Körper nur aus Wunden zu bestehen. An jenem Abend, als der schreckliche Vorfall passierte, waren die Schreie derart angsterfüllt, daß eine Nachbarin sie nicht mehr aushalten konnte und die Polizei rief. Sie mußten die Tür aufbrechen und entdeckten dann das Kind auf dem Herd. Aus den Akten ging weiter hervor, daß die Brandwunden nur eine Seite des Problems waren. Denn solche Wunden können heilen; der Schaden jedoch, welcher der Persönlichkeit zugefügt wird, ist viel schwerer zu beheben. Vom Augenblick der Geburt an, zwei Stunden, nachdem ihre Mutter betrunken ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte dieses Lebewesen fast alle Karten des Schicksals gegen sich. Obwohl die Unterlagen unvollständig waren, merkte ich bald, daß man schneller aufzählen konnte, was ihr nicht fehlte.
Sie hatte eine schwere Krümmung der Wirbelsäule, sie schielte und litt unter starken Krampfadern an den Beinen. Als sie fünf Jahre alt war, diagnostizierte man Schizophrenie bei ihr, vielleicht die schwerste Geisteskrankheit, und überwies sie daraufhin an eine staatliche Nervenklinik.
Meine Hände waren steif, als ich die Blätter hinlegte und mir eine Zigarette anzuzünden versuchte. Es war bei weitem der schlimmste Fall von allen. Das Mädchen war jetzt zwölf Jahre alt. Sie sprach kein Wort.
Hier kann man sehr wohl die Frage einwerfen, was mit einem Stück menschlichen Strandguts geschieht, wenn es in unseren Großstädten angespült wird. Der Laie hat keine Vorstellung vom Ausmaß des Elends, das sich hinter den Wänden der Kliniken und, ja, der Heime abspielt. Laura war ein Beispiel dafür. Körperlich anomal. Gesellschaftlich ausgestoßen. Menschlicher Abfall, wenn man so will.
Während man Laura anfangs im Krankenhaus betreute, wurden ihre Eltern auf der psychiatrischen Station untersucht. Bei beiden stellte man fest, daß der Alkoholismus schwere psychische Schäden nach sich gezogen hatte, und wies sie in eine Nervenklinik ein.
Inzwischen stand die kleine Laura ohne Familie da, denn bei Nachforschungen fand man nur eine Tante, die Schwester der Mutter, die bald ohne Angabe einer Adresse verzog. Laura wurde als vernachlässigtes, vom Jugendamt abhängiges Kind eingestuft. Diese Fachausdrücke verschleierten die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage eher, als daß sie etwas davon verrieten.
Sobald sie einmal körperlich geheilt, das heißt soweit wie möglich wiederhergestellt war, würde das Krankenhaus alles versucht haben, um sie bei Pflegeeltern unterzubringen. Aber man konnte Laura kaum entlassen, selbst wenn man eine Pflegestelle für ein so wenig anziehendes Kind, das vermutlich nur eine Last wäre, gefunden hätte. Denn in allen Berichten des Krankenhauses und später des Jugendamtes wurde sie als lethargisch bis zur Stumpfheit hingestellt. Sie aß schlecht, war für alles vollkommen unempfänglich, fühlte sich weder zu Spielzeug noch zu anderen Kindern hingezogen. Statt dessen saß sie stundenlang in tranceähnlichem Zustand auf dem Boden. Ich ließ mir nichts durch den Fachjargon vormachen. Die Feststellung »In der Beherrschung der Skelettmuskulatur scheint sie sich spät zu entwickeln« beschönigte vielleicht nur die Tatsache, daß sie sich überhaupt nicht bewegte. Am schlimmsten war es, daß Laura mit fünf Jahren noch kein Wort sprach.
Normalerweise hätte man erwarten können, daß ein Kind selbst unter diesen Umständen mit dreieinhalb Jahren anfing, irgendwie seine Bedürfnisse deutlich zu machen und auch zu sprechen. Bei Laura war das nicht der Fall. Sie war wie eingehüllt in Stillschweigen. Eine psychologische Untersuchung ergab Entwicklungsmängel, Apathie und einen Intelligenzquotienten von fünfzig.Man bezeichnete ihr Verhalten als das einer Schwachsinnigen. Manche Arzte glaubten, ihr Reaktions- und Adaptationsmangel sei das Ergebnis von Schwachsinn schlechthin, andere vertraten die Ansicht, daß sie sich emotional in der Welt nicht zurechtfand, das heißt, unter Schizophrenie litt.
Also beschloß man endgültig, sie in eine Nervenklinik einzuweisen. In diesem Moment schlug das Schicksal jedoch zum erstenmal einen anderen Kurs ein. In keiner der staatlichen Nervenkliniken war ein Platz für Laura frei. Diese Tatsache ist eine Tragödie für sich. Laura war sozusagen auf ein Abstellgleis geschoben werden, sie existierte nicht.
Die Sozialarbeiterinnen suchten verzweifelt nach einem Platz und fanden das »Heim«. Die Schwestern, die es führten, gehörten weder zur Stadt, noch unterstanden sie direkt den örtlichen Caritas-Verbänden. Sie waren in erster Linie Mitglieder eines Ordens, der sich der Kinderfürsorge widmete. Der Typ von Kindern, die sich im Heim befanden, hatte sich im Laufe der Jahre geändert: Es gab nur noch wenige Waisen unter ihnen. Statt dessen kamen die meisten jetzt aus zerrütteten Familien, waren Kinder von Alkoholikern, nicht voll Verantwortlichen, geistig oder körperlich Kranken. Viele waren, wie die Oberin angedeutet hatte, seelisch gestört, konnten sich nicht anpassen, waren bildungsmäßig benachteiligt. Es waren alle Hautfarben vertreten, und sie kamen aus protestantischen, jüdischen und katholischen Familien. Wenn sie Schutz und Hilfe brauchten, nahmen die Schwestern sie auf.
Die Berichte über Laura lauteten alle gleich. Während der sieben Jahre, die sie nun im Heim war, hatte sie sich nicht verändert. Sie blieb stumm, ohne Freundinnen, teilnahmslos gegenüber den anderen Kindern und unberührt von der verständnisvollen Fürsorge der Schwestern. In der ersten Zeit mußte sie täglich gewaschen, gefüttert und angezogen werden. Das Mädchen saß stundenlang allein herum; wohl schlenkerte es gelegentlich ein Spielzeug oder eine Puppe in der Hand, aber meistens war es nur zu deutlich, daß sie in einer eigenen Welt lebte. Trotz aller Programme und Pläne, die man für sie ausdaChte, vegetierte sie im Grunde nur dahin.
Beim Lesen mußte ich immer wieder staunen, welches Mitgefühl die Schwestern ganz selbstveriständlich für dieses menschliche »Objekt« aufbrachten. Hinter ihren unbeholfenen Worten spürte man die Hoffnung, daß Laura eines Tages so sein würde wie andere Kinder (sicherlich gab es doch Hoffnung?). An anderen Stellen klang jedoch auch fast Verzweiflung durch, weil Laura überhaupt nicht reagierte. Vor allem aber kam in den Akten der Gemeinschaftsgeist des Heims zum Ausdruck: Es war klar, daß man sie trotz ihres äußerlich unveränderten Verhaltens nicht in eine Art lebendigen Tod schicken wollte.
Aus den Unterlagen ging hervor, daß Lauras Eltern dreimal getrennt in Nervenheilanstalten eingewiesen wurden. Beide bezeichnete man als paranoide Schizophrene, die für andere unter Umständen immer noch gefährlich waren. Also blieb Laura hier, besuchte die Schule im Heim, saß allein und schweigsam, völlig unbeteiligt an der Arbeit der Klasse, zuhinterst im Schulzimmer, starrte aus dem Fenster oder legte das Gesicht mit den kurzsichtigen, schielenden Augen auf die Arme.
Ich legte die Akten nieder. Von irgendwoher ertönten Kinderstimmen. Ich versuchte, mir ein Bild der Sachlage zu machen. Statt Liebe hatte Laura Angst und Schrecken kennengelernt, statt des tröstlichen Gefühls, erwünscht zu sein, nur Zurückweisung. Ich war überzeugt, daß sie einen heftigen Schock erlitten hatte, der jeden unter ähnlichen Umständen in die schützende Welt der Phantasie getrieben hätte. Laura wollte nicht wieder verletzt werden. Sie wollte überleben. Die Blätter lagen vor mir wie eine Anklageschrift. Wieviel Elend hatten diese Eltern ihrer kleinen Tochter zugefügt —- gab es irgend etwas, das man für das Kind tun konnte?
Vom Fenster sah ich die schneebedeckte Straße, wo der Verkehr allmählich dichter wurde. Ob ich wohl noch vor der Stoßzeit zurückkam?
Ich verließ das Zimmer und ging die endlosen Korridore entlang zum Büro der Oberin. Die Tür war offen, und sie winkte mich sofort herein. Eine Sekunde lang standen wir uns gegenüber und sahen uns unsicher an.
»Danke, daß Sie uns besucht haben, Herr Doktor.« Ihre Zunge fuhr schnell über die leicht abfallende Oberlippe. »Haben Sie irgend etwas gefunden, das Sie interessiert?«
Ich antwortete: »Ich würde gern mit einem Ihrer Kinder arbeiten.«
Das blasse, starkknochige Gesicht der Oberin errötete vor Dankbarkeit — sie errötete tatsächlich wie ein Schulmädchen —, während ich bereits an der Klugheit meines Entschlusses zu zweifeln begann. Einen Augenblick fürchtete ich, sie würde mir wieder die Hand schütteln. Ich hatte ihren Karate-Handschlag noch vom letztenmal in unangenehmer Erinnerung und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Doch ihr Gesicht hatte wieder die gewohnte Strenge angenommen.
»Das heißt, Frau Oberin, wenn ich darf.«
»Wenn Sie dürfen?« sagte sie erstaunt. »Sie wissen, daß wir Ihnen wenig…«
»Natürlich«, erwiderte ich fast barsch.
Sie ließ die klaren Augen langsam in dem getäfelten Raum umherwandeln. »Und mit welchem Mädchen glauben Sie, Herr Doktor, daß Sie …«
Ich sah ihr lange und fest in die Augen.
»Laura«, sagte ich.
3
Die Woche verging merkwürdig langsam. Meine Gedanken wanderten oft zu Laura. Wenn gerade kein Patient bei mir war, mußte ich an sie und ihre Eltern denken. Im Taxi, am Steuer meines eigenen Wagens, in der überfüllten U-Bahn oder einer Telefonzelle sah ich plötzlich ihren Namen vor mir.
Würde ich das Rätsel je lösen? Konnte sie sprechen, oder war sie für immer emotional blockiert? Ich wußte es nicht, aber ich begann mir Notizen zu machen, die auf drei recht eindeutigen Aspekten ihres Falles beruhten.
Laura war das Kind von Eltern, die durch Alkoholismus, Ausschweifungen und allgemeine Adaptationsmängel nicht fähig waren, einem Kind Liebe entgegenznbfingen. Die elementarste Fürsorge, die so wesentlich für ein Neugeborenes ist, war Laura versagt worden.
Dann war sie zu einem Zeitpunkt, als sie kaum begann, zwischen sich und ihrer Umwelt zu unterscheiden, brutal mißhandelt worden. Sie wußte nicht, was die Wärme einer Mutter bedeutet, hatte das Gefühl, erwünscht und geborgen zu sein, niemals kennengelernt. Für sie war die Welt, in die sie hineingeboren wurde, feindsdig und bedrohlich.
Und schließlich kam sie in einem kritischen Stadium ihrer seelischen Entwicklung in ein Krankenhaus. Von körperlichen Qualen war sie dadurch vielleicht befreit werden, ihre Isolierung und Verlassenheit jedoch wurde so nur verstärkt. In diesem Alter von den Eltern getrennt zu werden, ist im günstigsten Falle ein traumatisches Erlebnis; für Laura aber bedeutete es einen zusätzlichen Schock. Das überarbeitete Personal eines städtischen Krankenhauses konnte niemals die Atmosphäre bieten, die sie in diesem Augenblick so dringend brauchte. Ihre einzige Zuflucht bestand darin, sich völlig von der Außenwelt abzuschließen und sich in ihre Phantasiewelt zurückzuziehen. Der Schizophrene hat große Schwierigkeiten, zwischen Vorstellung und Wirklichkeit zu unterscheiden.
Alles, was ich über sie gelesen hatte, bestätigte diesen Eindruck. Wenn aber ein Kind wirklich leben will, muß es die Wirklichkeit immer besser kennenlernen und die Unterschiede zwischen sich und der Welt im allgemeinen mehr und mehr erkennen. Die Sprache ist ein Hauptmittel für uns, die Welt vernünftig zu erfassen, und ein Kind benennt die Dinge aus Liebe.
Laura jedoch kannte keine Liebe, sondern nur Angst und Furcht vor Bestrafung. Statt daß Liebe sie verlockte, Kontakt mit der Welt aufzunehmen, stieß Haß sie zurück. Mir wurde allmählich klar, daß es am besten wäre, ganz von Lauras wirklichem Alter abzusehen und mich nur auf ihr psychisches Alter einzustellen. In diesem Sinne war sie ein Kleinkind und hatte kaum zu leben begonnen. Nur so konnte ich sie verstehen.
Und ich wollte sie verstehen, denn ich war immer mehr dazu entschlossen, Laura zu helfen.
Mir wurde klar, daß Lauras Ängste in dem Sprichwort »Gebranntes Kind scheut das Feuer« deutlich zum Ausdruck kamen. In ihrem Falle hatte es sowohl symbolische als auch wörtliche Bedeutung, denn sie hatte eine fast panische Angst vor dem Feuer.
An dem Tag, als ich wieder ins Heim fahren sollte, war es kalt, aber klar, und da ich noch nachdenken wollte, nahm ich ein Taxi. Ich war nun endgültig auf dem Weg zu Laura, und ich hatte nicht mehr als ein paar ganz allgemeine Anhaltspunkte und viele unbeantwortete Fragen. Aus dem Autoradio ertönte heitere Musik, und als ich den Fahrer bezahlte, schaltete sich der Sprecher dazwischen: »Nur noch acht Einkaufstage bis…«
Ich merkte, daß ich mich wie zum Selbstschutz an die Öde der Gegend gewöhnte. Die gleiche volltönende Glocke erklang, und drinnen begrüßte mich die gleiche Schwester, die mich sofort in eine mir unbekannte Richtung führte. Sie war offenbar über den Zweck meines Besuches genau informiert.
Überall sah ich Weihnachtsdekorationen, und von irgendwoher ertönte ein Weihnachtslied. Am Ende des Hauptganges stand eine Nikolausfigur in voller Pracht, und ein ganz kleines Mädchen reckte sich hoch, um einen großen Brief in den Weihnachtspostkasten neben dem Nikolaus zu werfen. Die Schwester blieb stehen und half ihr.
»Glauben Sie, daß er ihn noch rechtzeitig bekommen wird?« fragte das Kind besorgt.
»Ganz bestimmt, Lynette«, antwortete die Schwester beruhigend.
Nachdem wir um ein paar Ecken gebogen waren, führte mich die Schwester in ein Zimmer, das wohl als mein Büro dienen sollte.
»Ich hoffe, daß Ihnen das so recht ist, Herr Doktor«, sagte sie schüchtern.
»Wenn Sie noch etwas brauchen…«
»Danke, Schwester, es ist sehr schön so.«
»Laura wird gleich gebracht.« Sie lächelte und ging.
Ich hängte Hut und Mantel an einen Haken hinter der Tür. Es war ein sauberer, geräumiger, aber trostloser Raum mit einem Schreibtisch, einem Telefon und Wandschränken. Er ging auf einen endlos langen Korridor hinaus. Ich zündete eine Zigarette an und wartete auf Laura.
Ich muß zugeben, daß ich mich dabei immer unbehaglicher fühlte. Hatte ich mir zuviel zugemutet? Was würde geschehen, wenn ich versagte? Warum hatte ich nicht eines der anderen Mädchen ausgewählt, die ebenfalls Hilfe brauchten, bei denen aber die Hoffnung auf Heilung größer war? Ich versuchte mich zu entspannen.
Dann hörte ich Schritte weit hinten auf dem Gang und lehnte mich in meinem Stuhl vor. Zwei Gestalten waren zu sehen. Geführt von einer Schwester, kam Laura auf mein Büro zu. jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich hatte mich festgelegt.
Als »Gehen« konnte man diesen mühsamen Vorgang kaum bezeichnen. Das Mädchen hielt den Kopf gesenkt und lehnte sich fast bei jedem Schritt zum Halt an die weihnachtlich geschmückte Wand. Hin und wieder schob die Schwester, die geduldig neben ihr herging, eine stützende Hand unter ihre Achsel oder legte den Arm um ihren gekrümmten Rücken. Mir wurde wieder einmal klar, was für ein Wunder doch der Mensch ist — die Muskelanpassung zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts beim Gehen nehmen wir als so selbstverständlich hin, sie ist, wie die Sprache, so echt menschlich, daß wir erst darauf aufmerksam werden, wenn sie versagt. So erging es mir jetzt, als die Schwester dem Mädchen auf einen Stuhl neben meinem Schreibtisch half.
»Laura, das ist der Herr Doktor, von dem ich dir erzählt habe. Er möchte sich ein bißchen mit dir unterhalten.«
»Hallo, Laura«, sagte ich.
»Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen, Herr Doktor«, sagte die Schwester und nickte mir verständnisvoll zu, ehe sie ging.
»Hallo, Laura«, versuchte ich es leise noch einmal.
Sie saß gekrümmt, mit hängendem Kopf und völlig reglos da. Ihr dunkelblondes Haar sah wirr und strähnig aus. Die Kleider waren sauber. Der dunkelblaue Rock, den ihre Altersgruppe im Heim trug, war gut gebügelt, aber die Bluse war falsch geknöpft. Sie trug eine dicke Brille, und ich bemerkte, daß sie stark schielte. Die linke Gesichtshälfte war durch die Brandmale schwer entstellt, die Haut an manchen Stellen fast dunkelrot. Die Beine steckten in ordentlichen hellbraunen Nylons, waren jedoch durch hervortretende Krampfadern verunstaltet.
Sie sagte nichts. Sie bewegte sich nicht. Sie hob nur die rechte Hand, sehr langsam und bedächtig, so daß ich mir einen Augenblick überlegte, was Sie nun tun würde. Ihre Nase lief; schwerfällig wischte sie den Tropfen mit dem Handrücken fort und legte die Hand dann zurück in den Schoß.
Bei diesem ersten Interview — oder Zusammentreffen — wurde ich geradezu hypnotisiert von dem Tropfen an Lauras Nase, der sich in regelmäßigen Abständen immer wieder bildete. Würde sie ihn wegwischen? Oder nicht? Manchmal tat sie es, manchmal nicht. Aber damals klammerte ich mich an Strohhalme und versuchte mir einzureden, daß es jedesmal ein Zeichen von Selbstachtung und menschlicher Würde sei, wenn sie ihn wegwischte. Denn es stand viel schlimmer um sie, als ich angenommen hatte. Obwohl ich die Unterlagen genau studiert hatte, wußte ich, daß ich sehr viel mehr über den Fall erfahren mußte und daß noch ein weiter Weg vor mir lag.
»Bald ist Weihnachten, Laura. Ich habe das Fest gern, du auch?«
Es ist eine niederschmetternde Erfahrung, einem anderen menschlichen Wesen gegenüberzusitzen, das zwar existiert, aber nicht wirklich lebt, das fühlen kann, aber nicht wirklich fühlt, das denken kann, aber nicht wirklich denkt. In jenen ersten Augenblicken war die Stille zwischen uns betäubend. Sie schien greifbar zu sein, das Zimmer auszufüllen, bis hinaus in die Gänge zu fließen und von dort durch das ganze Heim. Ich mußte sie bezwingen. Und so beschloß ich, daß wenigstens ich mit Laura sprechen würde, wenn sie schon nicht mit mir sprechen konnte.
So begann ich mit einem Monolog, der einer von Hunderten wurde. Da Laura nicht die geringste Reaktion zeigte, hatte ich keinerlei Anhaltspunkte. Ich sprach sozusagen blind. Ich hätte ebensogut Unsinn reden können — und ich bin nicht sicher, ob ich es nicht manchmal tat.
Ich wußte nicht einmal genau, ob sie mich hören konnte. Vor mir lag ein weiter Weg in völliger Dunkelheit. Bei meinen ersten tastenden Versuchen damals, als ich krampfhaft überlegte, was ich zu diesem dahinvegetierenden Wesen sagen sollte, hielt ich mir immer wieder vor Augen, was sie alles durchgemacht hatte. Ich machte mir mit dem Gedanken Mut, daß sie doch eigentlich erst ein Kind von sechs Monaten war, das man ständig verletzt hatte. Trotzdem drohte meine Kraft zu erlahmen. Es schien eine übermenschliche Aufgabe zu sein, diesen Geist aus seiner Isoliertheit herauszulocken.
»Hör mal, Laura«, sagte ich so sanft wie möglich, »wir werden uns zweimal in der Woche sehen. Vielleicht können wir spielen, oder wir reden, oder wir sitzen nur einfach hier.«
Ihr Kopf blieb gesenkt, der Körper unnatürlich starr. Lebenszeichen waren kaum wahrzunehmen. Nach weniger als einer Stunde rief ich die Schwester. Sie kam und geleitete Laura liebevoll den weiten Weg zurück in ihr Zimmer.
Statt mir Notizen zu machen, wie ich es sonst zu tun pflege, saß ich in der Stille, die Laura hinterlassen hatte, und versuchte nachzudenken. Ich sah mich im Zimmer um. Es war viel zu groß für ein so kleines Mädchen, es mußte sie verängstigen. Auch gab es zuwenig Anregung darin, es waren keine Gegenstände vorhanden, die ihr ins Auge fallen und für mich Anküpfungspunkte bilden konnten.
Ich rief die Oberin an. Ihre klangvolle Stimme meldete sich sofort. Ich trug ihr meine Wünsche vor.
»Ja, Herr Doktor, ich verstehe schon. Wir werden Ihnen alles besorgen.«
Ich zögerte. »Übrigens, ich muß auch mit ihrer Gruppenmutter sprechen.«
»Das ist schon veranlaßt.«
Diesmal zögerte ich noch länger.
»Sind Sie noch da, Herr Doktor?«
»Ich glaube, ich sollte auch noch einige andere Schwestern kennenlernen, die mit den Kindern zu tun haben.«
»Jederzeit«, antwortete die Stimme. Wir hängten ein.
Ich stand auf, seltsam erschöpft. Mein Monolog hatte mehr von mir verlangt, als ich mir eingestehen wollte. Gewöhnlich bin ich derjenige, der bei solchen Gelegenheiten zuhört.
Ich wollte die Schwestern die sich um Laura kümmerten, und die Kinder, unter denen sie lebte, deshalb kennenlernen, weil das Heim Lauras Familie war. Man konnte ihr Leben bisher in drei Abschnitte einteilen: die kurzen, quälenden eineinhalb Jahre bei ihren Eltern, dreieinhalb Jahre im Krankenhaus und in der Kinderkrippe und dann sieben Jahre hier im Heim. Das Heim kam dem Begriff »Familie« für Laura wohl am nächsten. Außerdem wollte ich alles über ihre Eltern erfahren. Aus den Unterlagen gingen nur wenige Einzelheiten hervor, Altersangaben, Familienanlagen und die üblichen bruchstückhaften Informationen, die jede Krankengeschichte enthält.
Warum hatten sie versucht, ihr einziges Kind zu töten? Die Antwort bestand aus Klischees, die mir auf jeder Seite entgegenstarrten: »Psychose«, »Alkoholismus«, »Perversion«, mit denen sich die Gesellschaft vor sich selbst entschuldigt und die »Guten« fein säuberlich von den »Bösen« trennt. Ich mußte mehr über diese Leute wissen. Ich rief Dorothy an.
Wenig später teilte sie mir mit, daß sich beide zur Zeit in einer hiesigen Nervenklinik befänden. Sie gab mir nähere Hinweise, wo ich sie finden könne.
Ich dankte ihr und machte mich auf den Weg nach Hause. Es war ein ereignisreicher Tag gewesen.
4
Am nächsten Morgen rief ich meine Sekretärin an und bat sie, meine Termine für diesen Tag auf den Nachmittag zu verschieben. Ich wollte Lauras Eltern besuchen.
Eine halbe Stunde später befand ich mich in einer Stadt innerhalb der Stadt. Wieder hatte ich ein gesichtsloses Gebäude vor mir, das sich über drei oder mehr Häuserblocks erstreckte, und wenn auch auf den Mauern um diesen grauen Klotz kein Stacheldraht gespannt war, so hatte doch jedes Fenster ein Eisengitter.
Drinnen wies man mich durch schmutzige, düstere Gänge. Die Beleuchtung war armselig, die Ölfarbe blätterte von den rissigen Wänden. Teilnahmslose Gruppen standen beieinander oder schlurften ziellos in Hausschuhen umher — manche weiß, manche schwarz, manche gelb, manche grau. Diese vergessenen Mumien, die durch leere Stunden starrten, murmelten gelegentlich etwas, wenn ich vorüberging, gaben aber sonst kaum Lebenszeichen von sich. Sie lehnten an den Wänden, wie einbalsamiert und noch nicht begraben.
Auf der Männerstation traf ich Dr. Crager, einen kleinen, untersetzten Mann in den Vierzigern, der meinem Wunsch mit höflichem Erstaunen begegnete. Er rieb sich die Stirn und mutmaßte unbestimmt: »Muß neu hier sein. Auf jeden Arzt fallen ungefähr zweihundert Patienten. Sie kommen und gehen, es ist schwer, sie im Auge zu behalten. Holen wir seine Unterlagen.«
Im Büro wurde uns Martin Meyers Krankengeschichte gereicht. Der Umfang der Akten zeigte deutlich, daß er keineswegs ein Neuling im Krankenhaus war.
Dr. Crager durchblätterte die Berichte kurz. »Das dritte Mal hier in zehn Jahren. Nicht schlecht. Diesmal sind es bis jetzt vier Monate. Paranoide Schizophrenie, kompliziert durch chronischen Alkoholismus.« Er leierte diese Begriffe herunter und schüttelte lächelnd den Kopf. »Interessanter Bursche. Die Frau ist auch hier, auf der Frauenstation. Merkwürdiges Paar, zusammen können sie nicht leben, und getrennt geht’s anscheinend auch nicht. Ich lasse ihn gleich holen.«
Er führte mich zurück durch die trostlosen Gänge in eine kleine Zelle, in der ein beschädigtes Bett und ein hölzerner Stuhl standen.
»Leider habe ich im Augenblick nichts Besseres, aber wenn Sie allein sein wollen …«
»Das reicht schon«, sagte ich. »Danke.«
Dr. Crager ging mit einem Kopfnicken. Ich zog den Mantel aus und suchte nach einem Kleiderhaken. Es gab keinen: keine Haken für Mäntel, an denen sich auch ein Mann aufhängen konnte. Die einzige staubige Glühbirne war in die Decke eingelassen und mit einem schweren Gitter überdeckt. Kein Patient konnte hier seinem Elend durch einen Griff in die elektrische Leitung ein Ende bereiten. Ich zog den Stuhl unter das vergitterte Fenster und begann zu lesen:
Martin Meyer, 51, Ältester von fünf Geschwistern (Evelyn, Sandra, Phyllis, Paul)…
So begannen die Aufzeichnungen. Es handelte sich anscheinend um eine Einwandererfamilie. Der Vater betrieb ein Obstgeschäft; über dem Laden lag die Dreizimmerwohnung der Familie. Man konnte sich leicht ein Bild machen: ein Ausguß, ein Wasserklosett mit Kette, abgenutztes Linoleum, baumelnde Glühbirnen und eine Wäscheleine, die am Ofenrohr befestigt war und wiederholt eine Rolle in den Berichten spielte, die später von Martins Tonbandaufnahmen gemacht wurden.
Der Junge schlief mit seiner drei Jahre jüngeren Schwester Evelyn in einem Raum und war nach Angabe der Eltern ein ruhiges, schwerfälliges Kindr ein »guter Junge«, der es eines Tages noch zu etwas bringen würde. Er mußte zu viel arbeiten, um Freundschaften mit Nachbarkinern schließen zu können. In den wenigen Augenblicken, in denen ihn der Vater im Laden nicht brauchte, spielte er lieber mit seinen Zinnsoldaten, als daß er mit den anderen herumtobte. Er war. mit einem Wort, »anders«. Das Wort kam in den Akten, die ich vor mir hatte, häufig vor. »Zieht es vor, allein zu sein …ist gerne für sich…«
Die Mutter, Frau Meyer, war wohl eine kränkliche Frau, wenn man auch nur schwer feststellen konnte, ob sie nun wirklich so krank war oder ihre Krankheit nur dazu benutzte, ihre Kinder im Zaum zu halten. (Als ich weiterlas, schien mir letzteres der Fall zu sein.) Martin liebte sie und hatte Mitleid mit ihr, was sie für sich ausnutzte: Sie ließ ihn Besorgungen machen, den Laden ausfegen und ähnliches. Bis dahin enthielten die Unterlagen nichts Ungewöhnliches über Lauras Vater. Als ich dann aber umblätterte, kam ich zu der Krise in seiner Jugend, die sich zu einem Alpdruck halbverstandener Schuld entwickelte und schließlich auf seine Tochter zurückfiel.
Evelyn, die Schönheit der Familie, ein schlankes Mädchen mit langem, schwarzem Haar, war Martin Meyers Knabenliebe. Martin hatte den Ärzten in allen Einzelheiten geschildert, wie gern er die schwarzen Haarmassen der Schwester bürstete. Sie verlangte oft, daß er so kräftig strich, daß ihr der Rücken weh tat. Nachts lag Martin oft wach neben ihr und rieb die weichen Haare zwischen den Fingern, sorgsam darauf bedacht, die Schwester nicht zu wecken. Und dann erkrankte Evelyn ein paar Tage vor ihrem fünfzehnten Geburtstag lebensgefährlich an Kinderlähmung und wurde in aller Eile ins Krankenhaus gebracht. Im Haushalt hörte man nur noch ein qualvolles Flüstern zu den Tränen der Mutter und dem Stöhnen des Vaters. Plötzlich drohte der Wunsch, den Martin aus Neid insgeheim gehegt haben mochte, Wirklichkeit zu werden — der Wunsch, die geliebte Schwester möge sterben. Die verdrängte Verachtung, die er für sich selbst empfunden hatte, als er so neben ihr lag und ihr Haar streichelte, während sie schlief, erreichte ihren Höhepunkt. Er war nahe daran, Sieger und Besiegter zugleich zu sein.
Evelyn blieb dann zwar am Leben, aber sie kam in einem quietschenden Rollstuhl nach Hause zurück, von der Taille abwärts gelähmt. Für Martin war es ein Tag, den er nie vergessen sollte, ein Tag, der ihn verfolgte. Monatelang war er »bedrückt«, wahrscheinlich wie erstarrt in einer Mischung aus Angst und Schuld beim Anblick seiner unbeweglichen Schwester. Wenn ein Mensch plötzlich zum Krüppel wird, muß er nach einem neuen Selbst suchen. Er muß es hinnehmen und ist darauf angewiesen, daß dieses Selbst von außen her, von der Umwelt bestimmt wird. Martin war nicht in der Lage, Evelyn in dieser Hinsicht zu helfen. Statt dessen schloß er sich immer mehr an die Mutter an, und je mehr er das tat, desto mehr verwickelte sie ihn in die Pflege der Schwester. Es war ein schrecklicher Teufelskreis, aus dem er nicht ausbrechen konnte. Später, bei den Gesprächen im Krankenhaus, ging ihm langsam auf, wie die beiden Frauen ihn mehr und mehr versklavten, aber damals gab es kein Entkommen. Er hatte Beine — Evelyn nicht. Er konnte gehen und laufen — sie war hilflos und schien entschlossen, ihn zu der gleichen Hilflosigkeit zu degradieren. Sie lernte befehlen. Ein grausames Rufsystem setzte sich durch. Wenn sie dreimal mit einem alten Schuh auf den Linoleumboden schlug, so bedeutete es, daß Martin aus dem Laden nach oben kommen mußte, und zwar gerannt.
Schließlich kam der Tag, an dem der Bursche, immer gereizter, zurückschlug, und als er sie verletzte, verletzte er sich selbst: »Du bist nichts als ein Krüppel. Jetzt wirst du niemals einen Mann bekommen«, schrie er sie an. Und dann: »Du kannst dein Haar jetzt ebensogut abschneiden und es kurz lassen. Für immer.«
Ich konnte mir die darauffolgende Szene vorstellen, wie die Ärzte sie nach und nach aus Martin herausholten: die kränkliche Mutter, die mit wutverzerrtem Gesicht mit dem Jungen tobte, ihn auf den Kopf schlug und ihn schließlich zwang, seine Schwester auf den Knien um Verzeihung zu bitten. Darauf hatte man bestanden. Er hatte das Gefühl, daß Evelyn ihn haßte. Seine Mutter haßte ihn. Er rieb und putzte seine Soldaten, bis sie strahlten und glänzten. Aber es gab nirgends Sicherheit…Dann kam seine Rache.
Man hatte ihm befohlen, mit Evelyn hinaus an die frische Luft zu gehen. Er rollte sie bis an den Rand der Haustreppe und ließ ihren Rollstuhl dort in der Schwebe, schob ihn immer mehr an den Rand heran, bis er ganz sicher war, daß Evelyn vor Angst zitterte. (»Ich hatte Freude an ihrer Angst«, hieß es wörtlich.) Das Mädchen begann zu schreien, und ihre Furcht jagte ihm einen Schauer der Erregung über den Rücken. Evelyn bettelte, bettelte und flehte inständig, aber Martin schob den Rollstuhl ganz langsam immer weiter an den Rand, bis sie schließlich wimmerte. Und erst dann zog er den Stuhl zurück, zurück auf sicheren Boden.
Die Jahre vergingen. Für die Ausbildung des Jungen wurde nicht viel getan. Mit siebzehn verließ er die Schule und arbeitete voll im Laden mit; gleichzeitig mußte er natürlich dem hartnäckigen Schuhklopfen oben an der Decke gehorchen (sofort!).
Es war paradox, daß Evelyn immer schöner wurde. Man überschüttete sie mit Geschenken. Besonders ihre Vorliebe für Erdnuß-Krokant wurde erwähnt. Martins eigener achtzehnter Geburtstag blieb ihm durch den verächtlich kleinen Kuchen in Erinnerung, der verbilligt gekauft wurde, da er über einen Tag alt war. Mutter und Schwester wurden immer geschickter darin, in dem großen Burschen Gefühle von Schuld und Selbstsucht zu schüren.
Und ein großer Bursche blieb er. Abgesehen von dem hoffnungslosen Zustand äußerster Sinnlosigkeit, in dem er sich befand, ging aus den Akten wenig davon hervor, was zwischen Martins achtzehntem und seinem dreißigsten Geburtstag geschah.
Doch aus dem Wenigen konnte ich mir das Wesentliche zusammenreimen. Die Geschichte war nicht so ungewöhnlich. Martin sank zum bloßen Werkzeug herab, dessen sich die kränkelnde Mutter und die verkrüppelte Schwester nach Belieben bedienten. Je älter er wurde, desto mehr provozierte ihn Evelyn mit ihren Beleidigungen. Es war nur natürlich, daß seine angsterfüllte Hilflosigkeit ihn rasend machte. Er wußte, daß er durch seine Gefühle gebunden war, und erkannte die Ironie, daß er nach der Unterjochung durch Mutter und Schwester jetzt auch noch Gefangener seiner selbst war.
Äußerlich verlief sein Leben ereignislos. Der Vater bezahlte ihm ein geringes Gehalt. Martin arbeitete täglich viele Stunden und versuchte (wie er selbst zugab), seinen Körper zu ermüden, damit sein Geist ihn in Ruhe ließ.
Dann kam der Tag, an dem sein bereits übersensibles Unbewußtes wiederum größter Qual ausgesetzt wurde — der Tag, an dem das Mädchen, seine eigene Schwester, seine Männlichkeit beleidigte.
Die Meyers hatten wenig Verkehr und gingen selten aus. Der Abend ihres einunddreißigsten Hochzeitstages schien ihnen aber doch eine besondere Gelegenheit zu sein, die Mr. Meyer mit seiner Frau in einem Restaurant in der Nähe feiern wollte. Martin würde ja wie üblich zu Hause sein und konnte sich um Evelyn kümmern. Die anderen Kinder waren alt genug, für sich selbst zu sorgen.
Als die Meyers fort wären, saß Martin da und starrte Evelyn an. Bald würde er das Abendessen kochen und hinterher die Küche aufräumen. Aber eine Weile starrte er Evelyn nur an und jagte ihr allmählich Angst damit ein. Zur Vergeltung begann sie zu sticheln. Er war aufgestanden, den Rücken zu ihr gewandt, und zerbrach Holzkisten in den riesigen Händen; die Bretter stapelte er neben dem knisternden Ofen auf. »Kannst du nichts sagen?« schrie sie ihn an. »Sprich mit mir. Sprich doch. Warum kannst du nicht sprechen?«
So muß es weitergegangen sein, während Martin das Holz zerbrach und stapelte und den gierigen Flammen zusah, wenn er den rotglühenden Deckel hob.
»Sag doch etwas. Wieso gehst du eigentlich nicht mit Mädchen, he, Martin? Es muß doch irgendwo irgendwelche Mädchen geben, die sogar dich interessant finden.« Hohn und Spott hatten allmählich zugenommen wie die Bretter der Obstkisten, die die großen Hände immer schneller zerbrachen. In der Analyse gab Martin später zu, daß er merkte, wie er die Beherrschung verlor. Eine Krise stand bevor.
»Und wie ist es mit Jungen?« fuhr die Stimme fort, und Martin versuchte, sie zu überhören. »Ja. Vielleicht magst du Jungen?« Und dann kam es klar und deutlich. »Martin, hörst du? Was ist ein Schwuler?« Seine Hände begannen sich zu bewegen, er versuchte, sich auf sie zu setzen, aber sie krochen unter ihm hervor »wie lebendige Wesen«. Er sah ohnmächtig zu, wie sie sich bewegten. Und die allwissende Stimme der Frau, die er über alles bewunderte, traf ihn wie ein Peitschenhieb: »Bist du ein Schwuler, Martin?«
Martin, der die Beherrschung völlig verloren hatte, wurde von Entsetzen gepackt. Er hörte Musik, so erzählte er einem Arzt, sah Bilder seiner Mutter aufblitzen, Erinnerungen an die Kindheit, offene Flammen, die ihm entgegenzüngelten. Bei einem anderen Arzt fiel ihm ein, daß er in diesem Augenblick sah, wie er von einem hohen Gebäude hinunterfiel, sich immer wieder überschlug und schließlich den dumpfen Aufprall seines Körpers auf dem Boden hörte. In Wirklichkeit hatte er sich auf seine Schwester gestürzt, sie gepackt, aus dem Rollstuhl gerissen und aufs Bett geworfen. Seine Hände hatten sich »wie von selbst« um ihren Hals gespannt, und er versuchte, sie zu erwürgen.
Einen Augenblick oder eine Ewigkeit später spürte Martin, daß er auf den Boden geschleudert wurde. Sein Vater beugte sich über ihn und schlug ihn ins Gesicht. Und über die gequälten Lippen seiner Mutter, die die schluchzende Schwester umschlungen hielt, kamen die Worte: »Raus mit dir, raus mit dir hier. Komm nie wieder zurück. Sofort raus.« Niemals vergaß Martin Meyer diese Worte. Er packte seine wenigen Habseligkeiten in eine alte Einkaufstasche und ging hinaus auf die Straße. In dieser Nacht schlief er im Laden, den er durch ein schlecht verriegeltes Fenster betrat. Vom nächsten Tag an streunte er durch die Straßen.
Ich lehnte mich zurück und dachte über das Gelesene nach. Ich hörte ein Füßeschlurfen vor derTür und war so gefesselt von den Aufzeichnungen, daß ich beinahe glaubte, Martin selbst stehe draußen.
Von nun an wurden die Berichte jedoch dürftig und unzusammenhängend. Alle Informationen, die Martin über den nun folgenden Abschnitt seines Lebens gab, bestanden aus einer Aufzählung von Jobs, die er für kurze Zeit ausübte. »Tellerwäscher…Putzer…Automechaniker…Hilfsarbeiter …Telegrafenbote …« Eine Zeitlang bettelte er sogar in den Untergrundbahnen. Hauptsächlich aber spezialisierte er sich darin, aus Unterkünften zu verschwinden, bevor er die Miete bezahlt hatte. Ein Mietschwindler also. Schließlich fand er einen Posten in O’Reilly’s Bar und Grill.
Hier arbeitete er als Geschirrspüler und half auch beim Bedienen. Wann immer er konnte, fand er sich an der Bar ein, denn in dem rosaroten Zwielicht bei O’Reilly gab es freie Drinks. Alkohol, Frauen und Wärme — sie alle drei machten Martin zum Mann. Er konnte schließlich doch »jemand« sein. Eines Abends erzählte ihm ein »Kunde« von einer »gewissen kleinen Orgamsation«, die dringend auf der Suche nach Talenten sei. Martin Meyer begann mit dem Geldverleih.
Jetzt ging es mit seinem Glück aufwärts. Zum erstenmal hatte er eine Machtstellung inne — und Frauen traten in sein Leben. Es gab viele, aber in den Berichten waren es hauptsächlich Namen. Er zeigte eine deutliche Vorliebe für sehr anschmiegsame, unterwürfige Frauen, die zu ihm wie zu einem Vater aufsahen. Für ihn waren alle Frauen hilflose Kinder, und wenn sie blind gehorchten, war er eitel Wohlwollen. Zeigten sie sich jedoch herrschsüchtig, beschimpfte er sie heftig. Am Inkassotag wurde er zum Leuteschinder.
Er war der Gewinner und seine nichtzahlenden Kunden die Verlierer. Er wurde zum primitiven, böswilligen Geschöpf, das kein Mitleid kannte. Auf der Höhe seines neugewonnenen Ruhms nahm er allen Mut zusammen und ging seine Familie besuchen. Auf dem Hinweg kaufte er Geschenke, Blumen für seine Mutter und Erdnuß-Krokant für seine Lieblingsschwester. Es war eine unheimliche Begegnung.
Martin betrat die knarrende Treppe, wo er einst die flehende Evelyn in ihrem Rollstuhl Zwischen Leben und Tod schweben ließ. Und dort oben stand, wie in einem schlechten Traum oder einem Schauerroman, eine abgehärmte Frau mit eingefallenen Wangen, ein schwarzes Tuch um die Schultern gelegt.
»Mutter«, rief er aus. »Wie geht es dir, Mom? Donnerwetter, du siehst…prima aus.«
Nachdem er die ersten Stufen hinaufgestolpert war, erstarrte er. Die zerbrechliche Gestalt, ganz in Schwarz, sagte kein Wort. Sie umklammerte nur das Geländer fester. Er sprach sie erneut an, ließ seine Pakete fallen, streckte ihr die Blumen entgegen. Doch das unheilvolle Schweigen hielt an.
»Was erwartest du denn? Soll ich etwa auf den Knien betteln?«
Seine Stimme hob sich, die Nasenflügel zuckten. Erst nach einer langen Pause sprach die gespenstische Erscheinung.
»Mein Sohn Martin«, sagte sie in leidenschaftslosem, leerem Ton, »ist vor einiger Zeit gestorben. Er hat unser Haus verlassen. Wir haben eine Woche um ihn getrauert.«
Aber er lebe ja, protestierte Martin, hier stehe er doch vor ihr, ihr eigener Sohn.
»Martin ist tot und begraben. Martin ist in der Hölle.«
Die Augen blickten über ihn hinweg und durch ihn hindurch, bis er voller Verzweiflung und wachsender Angst die Treppe vollends hinaufstolperte und ihr den Erdnuß-Krokant hinhielt.
»Sieh mal, Mom. Ich habe jetzt Geld. Ich bin wer. Ich habe Evelyn etwas mitgebracht, ich weiß, daß sie es mag, es war immer ihr Lieblings …«
Aber wie eine gesprungene Schallplatte fuhr die Stimme fort: »Evelyn ist tot. Martin, unser Sohn, hat Evelyn getötet.«
Da wich er mit entsetzten Augen zurück. Unter seinem dichten Haar bildeten sich Schweißtropfen.
»Sie starb an gebrochenem Herzen, drei Wochen, nachdem Martin unser Haus verließ.«
So hatte seine Mutter gesprochen, berichtete Martin Meyer, bei dieser seltsamen Begegnung nicht nur mit seiner Vergangenheit, sondern auch mit allen verborgenen Ängsten seines Unbewußten. Er protestierte erneut, aber seine Mutter wandte. sich ab. Als spräche sie ins Leere, hörte Martin sie noch sagen: »Evelyn ist tot. Du hast sie millionenmal getötet, Martin. Du bist ein Tier. Verlaß dieses Haus und komm nie wieder.«
Was dann geschah, war unklar, selbst für Martin. Aus den Berichten ließ sich schwer erkennen, was Wirklichkeit und was Phantasie war, was er getan oder was er nur geträumt hatte.
Zumindest schien er erregt und wie betäubt durch die Straßen gewandert zu sein, bis es dunkel wurde und die Lichter sich in den regennassen Straßen spiegelten. Bei einer Gelegenheit erinnerte er sich, daß es heftig regnete, aber er selbst spürte nichts. Ein stechender Schmerz hämmerte in seinem Kopf und vermischte sich mit dem Hupen der Autos, dem Rattern der Hochbahn und dem plärrenden Lärm aus den Bars. Schweiß stand ihm auf der Stirn, seine Hände kribbelten, sein Schritt wurde rascher. Hin und wieder begann er zu laufen und blickte über die Schulter zurück nach den Stimmen, die seinen Namen riefen.
»Ich hatte keine Angst«, versicherte er dem Arzt immer wieder, »es war niemand da.«
Er lief durch den Eingang einer U-Bahn-Station, sprang in den ersten Zug, lockerte den Kragen und starrte die Leute an. Aus irgendeinem Grunde ärgerten sie sich über ihn. Warum? Er mußte ruhig bleiben. »Was haben Sie gesagt?« fragte er dann und wann, wenn der Zug auf einer Station hielt. »Was ist los? Antworten Sie doch.«
Sie flüsterten. Er konnte es nicht länger aushalten, stieg aus, lief die Treppe hinauf, durch die Straßen und erklomm die vielen Stockwerke zu seinem Zimmer. Dort warf er sich aufs Bett. Er mußte sich beruhigen, sich verstecken. Er zitterte am ganzen Leibe.
Die Stunden vergingen. Er lag da und versuchte jeden einzelnen Laut im Zimmer mit fast wahnsinniger Konzentration zu bestimmen. Schließlich hörte er einen, der etwas ungewohnt klang. Eine Katze miaute draußen. Er öffnete die Tür, nahm sie herein und streichelte das weiche Fell. Er bot ihr anscheinend sogar den Erdnuß-Krokant an, den sie aber verschmähte.
Er legte sich wieder hin, die Katze in den riesigen Händen, aber die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer, und auch die Laute kamen wieder und schwollen schließlich zu einem chaotischen Getöse anklagender Stimmen an. Er wand sich auf dem Bett und schrie: »Aufhören! Bitte, bitte. Bitte aufhören, sage ich.«
Die erschreckte Katze sträubte sich in seinem Griff, und er mußte das weiche Fell am Hals sehr heftig drücken, bis der schlaffe, samtige Klumpen zu Boden fiel und Martin Meyer sich den Stimmen stellte, auf den Gang hinausraste und kreischte und schrie: »Ich habe sie getötet …ich habe meine Schwester getötet…laßt mich in Ruhe!«
Aus den Akten ging hervor, daß ein gewisser Martin Meyer, achtunddreißig Jahre alt, an diesem kalten Oktobermorgen um zwei Uhr früh in eine Nervenklinik eingewiesen wurde. Er war nur leicht bekleidet und brabbelte ständig etwas über Erdnuß-Krokant vor sich hin. Seine halluzinatorischen Zustände waren so lang und eintönig wie die Tage, die er, in Depressionen versunken, auf der Krankenhaus-Bettstelle verbrachte. Die Ärzte fragten ihn nach den Stimmen, aber er schüttelte nur den schweren Kopf. Waren sie wirklich? Eingebildet?
Dann rollten sie ihn zum erstenmal zur Schocktherapie in den Behandlungsraum. Seine Aufnahme in diese Hölle hat er in erbarmungslosen Einzelheiten beschrieben. Da waren drei Schwestern und ein stämmiger Negerwärter‘ der Martin immer wieder den Schweiß von der Stirn wischte, als die Räder des Rollwagens unter ihm auf den billigen Fliesen quietschten.
»Immer mit der Ruhe, mein Junge. Ich laß nicht zu, daß sie dir was tun. Wenn du dich jetzt nicht sträubst, wirst du überhaupt nichts merken.«
Vergitterte Lampen zogen in gleichmäßigen Abständen über ihm vorbei, und das Murmeln an seiner Seite erinnerte ihn an Leute, die beten. Dann blieb die Vierer-Prozession stehen und sah traurig auf ihn herab, so als wollten sie Lebewohl sagen. Der große Mann bäumte sich auf.
Da erstarrten die Körper um ihn herum wie Marionetten und drückten ihn plötzlich heftig auf den Wagen hinab, um ihn festzuhalten.
Fachmännisch verstopfte eine Schwester seinen Mund mit einem roten Gummischlauch; eine andere stellte die Skala auf einer glänzenden Maschine ein, von der Drähte auf ihn zuliefen. Die dritte rieb seine Schläfen für die Elektroden ein.
»Nicht sträuben jetzt, Junge, dann passiert dir nichts. Warte nur.«
Der Gummistreifen auf Martin Meyers Stirn war kalt, und als er viele Stunden später die Augen wieder öffnete, fühlte sich seine Zunge doppelt so groß an wie sonst, er hatte fürchterliches Kopfweh, und der Neger-Pfleger neben ihm lächelte.
»Na, was habe ich dir gesagt, Junge?«
Die folgenden Schockbehandlungen schienen sehr wenig Änderung zu bewirken. Beim Anblick des hereingerollten Wagens brach Martin Meyer sehr bald in wilde, hysterische Anfälle aus.
Drei Monate später wurde er schließlich entlassen, ein verwundeter, verwirrter Mann, seltsam gleichgültig. In dem schlaffen Körper steckte fast gar keine Zuversicht mehr.
Was tat Martin dann? Die Unterlagen waren nicht immer eindeutig. Hilfshausierer, Hüttenarbeiter, Kranführer, Fabrikarbeiter, Gelegenheitsarbeiter, Lastwagen-Beifahrer — die Beschäftigungen waren gewöhnlich seiner Körpergröße angepaßt. Aber bei solchen Jobs lag ihm die Welt nicht zu Füßen. Und wieder lockte ihn die Macht des Geldverleihers. Hier war er immer obenauf gewesen. Ein echter Sieger.
Was er verdiente, ging in Whisky auf. Es war nicht leicht für ihn, nach dem Aufenthalt in der Klinik wieder in das alte Leben zurückzufinden, das er nach dem Verlassen seiner Familie geführt hatte, doch mit Hilfe des Alkohols gewann er allmählich etwas Mut zurück. Whisky wurde sein Beruhigungsmittel, und mit jeder Woche, die verging, brauchte er mehr. Allmählich trank er nicht nur am Abend, sondern fing schon am Morgen damit an, und schließlich nahm er jede Stunde einen Drink. Die Wirkung des Alkohols auf ihn war erstaunlich: Er löste seine Zunge, befreite seine Gefühle und vertrieb die vielen fixen Ideen und immer wiederkehrenden Grübeleien.
Mit der Zeit konnte Martin immer mehr Alkohol vertragen, und da er auch an Gewicht zunahm, wurde seine Widerstandsfähigkeit noch größer. Er genoß es, wenn die Leute freundlich zu ihm waren und er Kontakt in den verschiedenen Bars hatte.
Durch seine berufliche Tätigkeit und die Macht des Geldes fiel es ihm nicht schwer, Frauen zu finden, die er sexuell beherrschen konnte, während er gefühlsmäßig unberührt von ihnen blieb. Die Welt war in Martins Worten eine Männer-Welt, in der die Frauen ihren beschränkten Platz hatten. Er verbrachte seine Zeit auch gern mit Männern an der Bar, beim Essen oder bei Geschäften. Allmählich nahm die Zahl seiner männlichen Freunde zu, und sie erkannten ihn an. Er äußerte sich freimütig, manchmal gewagt, und die Gewandtheit, mit der er im Mittelpunkt stehen, Witze reißen, trinken und Geschichten erzählen konnte, gab ihm ein Ansehen, das er noch nie genossen hatte. Mitten in einem ernsthaften Gespräch kam es vor, daß Martin durch einen reizvollen Frauenkörper abgelenkt wurde. Die eingehende Schilderung seiner Liebesaffären entzündete die Phantasie seiner Umgebung und fachte seine eigene Begierde noch mehr an.
In einer solchen Stimmung befand er sich, als er Adeline begegnete. Sie saß allein in einer Bar, die Martin häufig besuchte. Ihre zarte Haut und ihr langes, schwarzes Haar zogen ihn sofort an. Er starrte sie fast eine Stunde lang an, während er sich mit Whisky Mut machte. Eine sanfte Weiblichkeit umgab sie, eine Zartheit, die er bei den Frauen, mit denen er sich sonst umgab, nicht kannte. Er hielt sie für eine »Dame« in den Dreißigern, aber es beunruhigte ihn, daß sie allein in einer Bar saß; für ein anständiges Mädchen schickte sich das nicht.
Er setzte sich neben sie und machte einen Annäherungsversuch. Er sprach höflich und freundlich, aber ernsthaft mit ihr, und sie war genauso ernsthaft und freundlich wie er. Sie gefiel ihm. Alle Zweifel, die er an ihrer Ehrbarkeit gehegt hatte, schob er beiseite, als er sie zum Essen einlud. Sie unterhielten sich weiterhin gut, und Martins wachsende Zuneigung zu Adeline war dem Gefühl eines scheuen Jünglings vergleichbar, der unbeholfen versucht, zu dem Mädchen, das er achtet und gern hat, nett zu sein. Es war ein neues Gefühl für Martin, und er nannte es Liebe.
Nach diesem Abend sahen sie sich häufig, und sein Gefühl für sie verstärkte sich noch. Sie war ein empfindsames, hilfloses, schönes Geschöpf, das ebenfalls aus zerrütteten Familienverhältnissen kam. Ihre Mutter starb, als sie zwei Jahre alt war. Schon von klein auf mußte sie deshalb für die vier Geschwister und den Vater sorgen. Als sie zehn war, heiratete der Vater wieder, eine viel jüngere Frau, und Adeline und ihre Stiefmutter vertrugen sich nie. Adeline respektierte sie jedoch und blieb ihrem Vater zugetan. Der Vater starb, als Adeline sechzehn war, und das Leben zu Hause wurde unerträglich.
Diese biographischen Einzelheiten über Lauras Mutter, die fünfunddreißig Jahre alt war, als Martin sie kennenlernte, ergaben sich bruchstückhaft aus den Unterlagen, die ich las. Weitere Angaben gingen aus den Personalakten der Frau selbst hervor, die ich später durchging. Ich schreibe sie hier nieder, damit Lauras Geschichte keine Unterbrechung erfährt.
Jedenfalls hatten die beiden, wie Dr. Crager richtig andeutete, vieles gemeinsam: im gleichen Maße das Verhältnis von Abhängigkeit und Wut, die wechselseitigen Bedürfnisse von Unterwerfung und Beherrschung. Hier war ein Lamm, dachte Martin, und er war nur zu sehr bereit, seine Liebe zu ihr dadurch zu beweisen, daß er sie heiratete. So besiegelte ein Friedensrichter drei Wochen später offiziell diesen heiligen Bund. Die Feier dauerte zwei volle Tage, da Martin und seine Frau sich einen Rausch nach dem anderen antranken. Das Durcheinander von leeren Whiskyflaschen, angebissenen Broten und leeren Kaffeekannen bildete den ständigen Hintergrund ihres Ehelebens. Als Adeline ihrem Mann mitteilte, daß sie ein Kind erwarte, sagte Martin geradeheraus: »Schau, daß du’s los wirst.«
Ein andermal sagte er: »Ich kauf dir statt dessen einen Mantel. Du möchtest doch gern einen schönen, warmen Pelzmantel haben, nicht wahr, Liebling?«
Trotz des Geredes über einen Pelzmantel wurde jedoch das Leben für Martin Meyer immer schwieriger. Soweit ich zwischen den Zeilen lesen konnte, setzte er seiner Kundschaft hart zu, ihre Schulden zu bezahlen. Dadurch vertrieb er viele zukünftige Kunden, und schließlich verlor er seine »Konzession«, wie er es gern nannte.
Er hatte kein Geld, eine schwangere Frau und nur eine winzige Kammer, und so verzagte er erneut, und seine alten Ängste befielen ihn wieder.
Adeline verbrachte anscheinend die Zeit meistens mit Schlafen und Trinken, und Martins Ängste trieben sie nur noch tiefer in diesen Zustand hinein, der sich bald der völligen Stumpfheit näherte. Das Paar schrie sich an und stritt sich, und mehr als einmal erhielt Adeline Prügel »zu ihrem eigenen Besten«.
Wenn er betrunken war, rief er ihr zu: »Ich bin dein Sohn …ich lebe …nenn mich nicht ein Tier…ich bin Martin, dein Sohn.«
»Kriech nur, Martin, kriech. Da sieh einer meinen starken Mann an, heult wie ein Baby. Wer hat jetzt Angst? Komm zu Mama, komm«, sagte sie einmal zu ihm.
Da kamen ihm die Tränen. Er griff nach der nächsten Flasche, schlug sie am Bettpfosten entzwei und ging mit der scharfkantigen Hälfte, die er in der Hand hielt, auf sie los. Aber der Anblick seiner ersten Tränen machte sie sicher, sie trotzte seiner Drohung.
»Los, Martin, warum tötest du mich nicht?«
»Ich habe Evelyn nicht getötet…Wer sagt, daß ich sie getötet habe? Ich habe nur eine Katze umgebracht. Ich hab ihr den verdammten Hals umgedreht.«
Er brabbelte weiter, der Gefahrenmoment ging vorbei, und eine Trink-Orgie folgte. Schließlich ging er an einem Vormittag weg und kam nicht wieder. Adeline wurde bewußt, daß Martin sie verlassen hatte.
Das Schreckgespenst ihres Lebens stand vor ihr. Sie war allein und einsam und erwartete ein Kind. Immer öfter ging sie abends in die Bar nebenan, um ihre Einsamkeit zu vergessen. Hin und wieder gabelte sie einen Betrunkenen auf, der ihren dicken Bauch nicht gesehen hatte, den aber das blasse Gesicht und das lange schwarze Haar anzogen, und ging mit ihm heim. Als sie eines Abends allein nach Hause stolperte, brach sie auf der Straße zusammen und wurde eilends ins nächste Krankenhaus gebracht, wo sie ein kleines Mädchen mit dem ersten goldenen Haarflaum zur Welt brachte. Eine Schwester schlug vor, sie solle das Kind Laura nennen.
Das Kind war ein Jahr alt, als es Martin einfiel, nach Hause zurückzukommen. Jetzt waren sie drei in der Kammer, eine zynische Adeline, der mürrische Martin und das goldhaarige Baby. Die Mutter versuchte erfolglos, die beiden zusammenzubringen.
Martin konnte mit dem Kind nichts anfangen.
Er berührte es niemals. Er gestand, daß er sich zwingen mußte, an seinen ausgestreckten Armen mit abgewandtem Gesicht und zusammengepreßten Lidern vorüberzugehen. »Ich weiß nicht, was mit mir los war«, sagte er. »Aber sie hat zuviel geschrien.«
Das Kindergeschrei, so kam es ihm vor, verschlimmerte seine heftigen Kopfschmerzen noch.
»Kinder sind wie alle anderen Menschen«, beschwerte er sich einmal bei Adeline. »Wenn man nicht aufpaßt, wachsen sie einem über den Kopf.« Das Kind brüllt. Kopfschmerzen. Die Nachbarn beschweren sich. Die Meyers mußten umziehen. Durch einen Zechgenossen hörten sie von einer Wohnung über einer Bäckerei, und eines Nachmittags zogen sie dort mit ein paar Möbelstücken, einem Vorrat an Alkohol und dem kleinen Mädchen ein. Es dauerte nicht lange, ehe die Nachbarn sich auch hier beschwerten.
»Wenn dieser Satansbraten schreit«, stöhnte Martin Meyer und hielt den schweren Kopf in den schwieligen Händen, »dann ist es genauso, als wenn die verdammte Nadel durch meinen Kopf geht. Ich sage Ihnen, ich halt’s nicht aus. Diese Kopfschmerzen. Um mich scheint sich keiner zu scheren.«
Vielleicht gemahnte es ihn quälend an seinen eigenen Schrei, der angehört verhallt war, die ohrenzerreißend böse Erinnerung an seine tote Schwester. Was immer es für ihn bedeutete, er litt in seinem Innersten an Laura. Und so beschloß er eines Abends, dieser Verkörperung all dessen, was er an sich und anderen haßte, ein Ende zu bereiten. An diesem Abend legte er Laura in eine Bratpfanne und drehte die Flamme an.
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Ich erinnere mich, daß an dieser Stelle jemand irgendwo weit entfernt schrie. Ich hörte Wärter laufen. Langsam schloß ich den Aktendeckel, entspannte mich eine Minute und starrte aus dem vergitterten Fenster in einen Himmel, der wie Löschpapier aussah. Ich dachte an all die Martins und Adelines in unseren Städten und an die schmale Grenze, die ihr Elend von unserem sogenannten normalen Leben trennt. Menschen können aus verschiedenen Gründen zu Sündenböcken werden — aus rassischen, religiösen, herkunftsmäßigen.
Bei einem Blick auf die Uhr sah ich, daß ich mich beeilen mußte. Das Lesen hatte mehr Zeit als erwartet in Anspruch genommen. Ich warf noch einmal einen Blick in die Akten. Es ging daraus hervor, daß Martin Meyer noch in derselben Nacht, in der er Laura zu töten versuchte, in die Nervenklinik eingewiesen wurde. Die offizielle Diagnose lautete: Schizophrene Reaktion, paranoider Typ.
Das Handbuch der »American Psychiatric Association« definiert eine Diagnose dieser Art folgendermaßen:
»Diese Art Reaktion wird durch autistisches, unrealistisches Denken charakterisiert, das sich hauptsächlich aus Verfolgungs- und/oder Größenwahn, Beziehungswahn und häufig auch Halluzinationen zusammensetzt. Sie wird oft durch unvorhersehbares Verhalten und eine ziemlich konstant feindselige oder aggressive Haltung gekennzeichnet …Es treten dabei Wahnvorstellungen auf, in denen der Patient sich allmächtig, als Genie oder auf andere Weise besonders begabt vorkommt.«
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In Martins Fall hatten die Krankenhausärzte außerdem bemerkt: »Prognose — abwartend«. Das bezog sich auf eine mögliche Besserung, denn eine Heilung gibt es bei dieser Geistesstörung nicht. Die Vorbeugung gegen diese Krankheit und ihre Behandlung gehören zu den größten Aufgaben unserer Zeit, allein schon deshalb, weil Schizophrenie derart häufig auftritt.
Während des zweiten Aufenthaltes in der Klinik wurde Martin wiederum verschiedentlich mit Elektroschocks behandelt. Obwohl er viele Monate eindeutig unter Wahnvorstellungen litt, beruhigte er sich und wurde beinahe zum Musterpatienten. Die Krankheitserscheinungen werden geringer, wenn die Psychose abklingt.
Seine Sekundär- Symptome und der Beziehungswahn verschwanden, und er nahm erfolgreich an der Krankenhaustherapie und den Resozialisierungsprogrammen teil. Nach drei Jahren Aufenthalt in der Klinik lautete seine Diagnose: Schizophrene Residualpsychose. Im vierten Jahr wurde er aus der Anstalt entlassen, aber noch ambulant betreut. Schließlich befreite man ihn ganz von der Beaufsichtigung.
Zum drittenmal innerhalb von zehn Jahren wurde er eingewiesen, weil er in einem alkoholischen Wutanfall versuchte, seine Frau zu erwürgen. Er befand sich in dem Glauben, er käme geradewegs aus einem Sarg in seine Wohnung, wo er Adeline wiederum mit seiner Mutter verwechselte. Adeline rief die Polizei.
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Dr. Crager stand an der Tür. »Fertig?« fragte er lächelnd.
»Er wartet jetzt bei mir, und wenn Sie mein Büro benutzen wollen …«
»Vielen Dank. Das wäre nett. Diese Unterlagen haben mir sehr geholfen.«
Sie hatten mir tatsächlich geholfen, beunruhigten mich aber auch. Martin Meyer stand gesetzlich immer noch die elterliche Gewalt über Laura zu.
»Wie lange, glauben Sie, wird er noch hier in der Klinik bleiben?« fragte ich Dr. Crager, als wir durch die trostlosen Korridore gingen.
»Wir versuchen, die Leute nicht zu lange hierzubehalten. Sobald die Symptome verschwunden sind, entlassen wir ihn und behandeln ihn nur noch ambulant.«
»Kann das nicht gefährlich sein?«
»Er kann ja nicht für immer hierbleiben. Er erholt sich viel schneller, wenn er wieder draußen unterden anderen lebt und arbeitet.«
»Er hat eine Tochter, wissen Sie«, unterbrach ich ihn.
Der Mann neben mir nickte freundlich. »Er hat einmal versucht, sie zu töten, nicht wahr?« Er zuckte die Achseln. »Wer weiß, wo sie jetzt ist? Mit dem Problem können wir uns erst befassen, wenn es soweit ist. Ehrlich gesagt, wir halten nichts davon, unsere Patienten für immer hier einzusperren, nur weil sie jemanden töten könnten. Wenn wir das tun wollten«, schloß er mit einem Lachen, »müßten wir beinahe die ganze Welt einsperren, nicht wahr? Nein, der Prozentsatz der möglicherweise gefährlichen Fälle in der Gesamtzahl der Geisteskranken ist relativ klein. Im Gegensatz zu der öffentlichen Meinung werden die allermeisten Schwerverbrechen nicht von Geisteskranken begangen.«
»Sie halten also Martin Meyer nicht für gefährlich?«
Dr. Crager klopfte mir väterlich auf die Schulter, als wir um die letzte Ecke bogen. »Sagen wir, er ist unberechenbar, wie eben Paranoiker sind. Im Augenblick geht’s ihm gut. Aber hier ist mein Büro; wenn Sie warten, bringe ich ihn her.«
Wenige Augenblicke später saß mir Lauras Vater gegenüber. Mir war, als kennte ich ihn schon mein ganzes Leben lang.
Er sah so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Er war ein kräftig gebauter Mann mittlerer Größe, Anfang Fünfzig, hatte breite Schultern und welliges, ergrauendes Haar, das niedrig über einer zerfurchten Stirn ansetzte. Die farblosen Augen lagen tief und bewegten sich unruhig. Seine behaarten Nasenlöcher zuckten energisch, wenn er sprach.
»Behandeln Sie meinen Fall jetzt?« fragte er mit einem argwöhnischen Blinzeln, als Dr. Crager uns verließ.
»Nein«, antwortete ich, »ich wollte nur mit Ihnen über Ihre Familie sprechen.«
»Gern«, erwiderte er mit überraschender Bereitwilligkeit. »Dr. Crager hat gesagt, ich soll Ihnen Auskunft geben, und was er sagt, gilt bei mir. Wie war doch Ihr Name?«
Ich nannte ihn.
»Netter Name«, sagte er nachdenklich und grinste. »Was für eine Art Doktor sind Sie denn, Mac?«
»Psychoanalytiker.«
»Oh.« Eine Pause. Seine Nasenflügel zuckten kurz. »Ich bewundere gebildete Männer immer.«
»Möchten Sie eine Zigarette, Martin?«
»Ja, danke, wie gesagt, ich wäre vielleicht selbst ein guter Doktor geworden. Ich sage Ihnen, es war nicht leicht.«
»Das glaube ich Ihnen gern«, sagte ich.
»Jetzt müssen wir uns konzentrieren, wissen Sie. Auf die Zukunft. Und das bedeutet, daß ich wieder gesund werden muß. Man kann die Gesundheit erst richtig schätzen, wenn man selber einmal krank war. Man bekommt Respekt vor dem Leben.« Er warf mir einen flüchtigen Blick zu. »Das ist jetzt mal ein interessantes Wort. Respekt, meine ich. Ihr Gebildeten seid alle so voll von Respekt und…und …Bildung. Ich sage Ihnen, in meinem Beruf habe ich auch Respekt genossen, sehr viel Respekt.«
»Sie waren ein Zinswucherer, nicht wahr, Martin?« sagte ich. Ich gebrauchte das Wort absichtlich, denn ich wollte sehen, wie dünn die Fassade war. Und natürlich provozierte es die erwartete Reaktion.
»Ich habe Sie auch nicht Tiefenheini genannt, oder?« Er war böse. Dann gewann das Lächeln die Oberhand, breitete sich langsam über dem finsteren Gesicht aus. »Ich war im Geldverleih, das stimmt. Aber ich war kein Gangster.«
»Tut mir leid, Martin. Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Ja, das gefällt mir. Daß Sie sich entschuldigen.« Er blies mir eine Rauchwolke ins Gesicht. »Da kommen Sie sich groß dabei vor, hm?«
»Wenn Sie’s so ansehen wollen.«
»Viele Burschen hatten Respekt vor mir und haben’s noch. Nennen Sie nur meinen Namen in irgendeiner Bar auf der Lower East Side, Sie werden sehen, daß man Martin Meyer dort sehr wohl kennt.«
»Erzählen Sie mir von Ihrer Familie.«
»Das ist nicht schwer. Ich habe eine sehr hübsche, anhängliche Frau mit schönem…wunderschönem schwarzem Haar und eine Tochter, die gewissermaßen bei einer Tante lebt, bis meine Frau und ich wieder draußen und auf der Höhe sind.«
Ich schwieg.
»Es sind diese Kopfschmerzen«, fuhr er dann fort.
»Wie alt ist Ihre Tochter?« fragte ich.
Seine struppigen Brauen zogen sich zusammen. »Muß jetzt so um dreizehn sein. Dreizehn, vierzehn. Hübsches Mädchen mit goldenem Haar. Das schönste Haar, das Sie sich vorstellen können. Donnerwetter, ich bin ganz verrückt nach Laura.« Das Wort hing einen Augenblick in der Luft. Dann lachte er nervös. »Wenn Dr. Crager das hört, sperrt er mich ein und wirft den Schlüssel fort, he?«
»Und Ihre Frau, Adeline?«
»Na ja, sie hat’s schwer gehabt. Hat auch immer viel getrunken. Sie wissen ja, wie’s ist. Sie sagen, ich wollte sie umbringen. Muß betrunken gewesen sein, als ich das versucht hab, denn ich liebe diese Frau. Ich sage Ihnen, Doktor, sie ist so schön und fein, und ich liebe alle schönen Dinge.«
Er lehnte sich vor und starrte mir direkt in die Augen. »Ich meine — seh ich denn aus wie einer, der einen anderen umbringt? Sie haben …Sie haben doch keine Angst vor mir, Doc? Mag ja sein, daß ich zuviel trinke und hin und wieder mal die Geduld verliere. Na und? Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen umgebracht, oder?«
»Das habe ich auch nicht behauptet, Martin.«
»Nicht?« Seine Nasenflügel zuckten heftig, die Lippen bewegten sich. Dann flog ein katzenhaftes Lächeln über sein Gesicht, und er hob den Finger. »Doc, Sie sind schlau. letzt wär ich Ihnen beinahe in die Falle gegangen. Beinahe hätten Sie’s erreicht, daß ich etwas zugegeben hätte. Hat man Worte! Aber es hat nicht geklappt, nicht? Jetzt gehen Sie nur und sagen Sie ihr, daß es nicht geklappt hat.«
»Wem sagen, Martin?«
Das Lächeln wurde breiter, wirkte komplicenhaft. »Das Spiel können zwei spielen, Doc. Martin Meyer läßt sich von keinem für dumm verkaufen.«
Es folgten noch ein paar ähnliche Bemerkungen, dann steckte Dr. Crager den Kopf herein und nahm Martin, auf ein Nicken von mir, wieder mit auf seine Station. Ich bedankte mich bei ihm und machte mich auf den Weg zur Frauenstation, wo ich Adeline aufsuchen wollte.
Dort traf ich einen Dr. Austin, der, obwohl er erst ein paar Monate hier war, gut über Adeline Meyer Bescheid wußte. Dies war ihr zweiter Aufenthalt in der Klinik, und auch sie war jetzt gut drei Monate »drinnen«. Bei der Einweisung war sie betrunken, erregt, hatte Wahnvorstellungen und Halluzinationen.
Dr. Austin stellte mir sein Büro zur Verfügung und sagte, er würde Mrs. Meyer holen.
Aus ihrer Krankengeschichte ging hervor, daß die Diagnose bei der ersten Einweisung ebenfalls »Schizophrene Reaktion, paranoider Typ« lautete — genau wie bei ihrem Mann. Bei der zweiten hieß es: Schizophrene Reaktion, akut antriebsgestört.
Das war auch nicht weiter verwunderlich. Bevor Martin versuchte, sie zu töten, hatte er sie mit einem Stuhl bewußtlos geschlagen. Adeline wurde hereingeführt: letzt stand Lauras Mutter vor mir. Ihr ungekämmtes Haar war stellenweise grau. In ihren Gesichtsfalten hatte sich Puder festgesetzt, und sie sah älter aus als siebenundvierzig. Sie setzte sich und legte die Hände in den Schoß, den Kopf leicht vorgeneigt.
Sie schien sich alle Mühe zu geben, meinen Worten zu folgen. Während wir sprachen, suchte ich nach einer Ähnlichkeit zwischen ihr und Laura. Sie war gering, aber vorhanden. Ich erzählte ihr, daß ich gerade mit ihrem Mann gesprochen hätte.
»Ach, der.« Ihr Kopf hob sich. »Sie haben Martin gesehen. Geht’s ihm gut? Irgendwie vermisse ich ihn. Der arme Dummkopf, der Angst vor Geistern hatte.«
»Geistern?«
»Ja. Können Sie sich das Vorstellen, Herr Doktor? Der Geist eines kleinen Babys hat meinen Martin verrückt gemacht. Angst vor der Dunkelheit. Dieser große, starke Kerl. Kann man nur staunen. Weint nachts wie ein Kind, und tagsüber prügelt er sich mit Männern. Wissen Sie, weil ständig das Licht brennen mußte, konnte Laura — das ist meine Tochter — nicht einschlafen. Wie kommt es, daß jemand so stark und zur gleichen Zeit so schwach wie ein Baby sein kann? Erklären Sie mir das mal! Hm? Himmel, Sie haben keine Ahnung, was ich durchgemacht habe. Einmal hat er sogar versucht, mich zu töten. Können Sie sich das vorstellen? Wie ein Tier. Dann hat er mich mit andern Leuten verwechselt. Teufel, ich wünschte, ich hätte etwas zu trinken. Mein Haar muß gewaschen werden. Haben Sie nichts zu rauchen, Doc? Was für ein mieser Laden das ist.«
Sie sprudelte alles heraus.
»Behandeln einen hier wie ein Tier…ich vermisse ihn, trotz allem…will, daß die Leute ihn wie einen Fürsten behandeln, wissen Sie, und wenn sie’s dann tun, sind sie wie Dreck für ihn. Gott, was für ein Mensch.«
»Warum gehen Sie immer wieder zu ihm zurück, Adeline?« warf ich einmal ein.
Sie legte den Kopf auf die Seite und dachte einen Augenblick nach. »Wahrscheinlich, weil ich einsam bin«, sagte sie schließlich mit einem trägen, beinahe lüsternen Lächeln. »Freut mich, wenn er zu mir will …trotzdem er so grausam ist …zu töten, töten …« Sie barg den Kopf in den Händen.
»Wen töten, Adeline?«
»Meine Laura, die, die«, rief sie hysterisch. Ihre Schultern zuckten vor Schluchzen. »Sie war mein Baby, aber er hat sie ein schreiendes Balg genannt. Von der Minute an, als sie geboren wurde, konnte er sie nicht ausstehen. Sie hat immer geschrien, sie hatte Angst, und ich konnte den Lärm auch nicht ertragen …ich hab alles versucht, damit sie aufhört…und dann ging alles durcheinander, ich weiß nicht, und Martin schrie, ich soll machen, daß der Lärm aufhört, der verdammte Lärm, und immerzu hat das Kind geschrien, und mein Kopf wollte platzen. Er hat sie an Armen und Beinen hochgehoben und, und…oh, ich kann nicht mehr darüber sprechen.«
Ich ließ sie ein paar Minuten verzweifelt weinen, dann sagte ich leise: »Adeline, ich habe Ihre Tochter gesehen. Sie lebt, und es wird für sie gesorgt.«
Langsam hob sich das tränenverschmierte Gesicht. »Sie lebt?« sagte sie wie benommen. »Meine Laura lebt? Oh, Gott segne Sie, Herr Doktor, Gott segne Sie…«
Ich hielt eine Hand hoch. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wo sie ist, Adeline. Aber Sie sollen wissen, daß wir alles Menschenmögliche tun, um ihr zu helfen.«
Sie begriff nur halb, und ein argwöhnischer Ausdruck trat in ihre Augen. »Warum? Warum wollen Sie ihr helfen? Wie sieht sie aus? Ist sie hübsch? Nein, sie kann nicht hübsch sein. Sie muß ja uberall Narben haben von den Brandwunden. Dieser Schweinehund …Sie müssen mir glauben…Martin war es, der sie töten wollte, damit das Schreien aufhört, wissen Sie …Sie müssen mir glauben, Herr Doktor …ich bin doch ihre Mutter, nicht wahr? Ich liebte sie doch. Sie müssen ihr sagen, daß ich sie immer geliebt habe. Versprechen Sie mir das« — mit aller Heftigkeit, die sie aufbrachte, fuhr sie hoch — »versprechen Sie mir, daß Sie’s ihr sagen, Herr Doktor. Ich weiß, daß meine Laura mich liebhat. Sehen Sie«, fügte sie in einer Art hinzu, als würde sie einem Idioten etwas erklären, »ich — bin — ihre — Mutter.«
Im Zimmer war es still, und auch draußen auf dem Gang herrschte Ruhe. Irgendwo, weit fort in der Stadt, schrillte eine Sirene.
»Was sagt Laura über mich?« Die Frau vor mir schrie fast. »Sie müssen es mir sagen, Herr Doktor.«
»Adeline, Ihre Tochter spricht nicht«, sagte ich und sah, wie ihr Gesicht erstarrte und der Mund sich wie zu einem »O« öffnete, als sie den Sinn meiner Worte erfaßte. »Sie ist stumm, Mrs. Meyer. Sie hat noch niemals ein Wort gesprochen.«
5
Ich sollte Lauras Heim-»Familie« gleich nach meiner nächsten Stunde mit ihr kennenlernen. Sie fand nach den Ferien statt und verlief genauso ergebnislos wie die erste, ja entmutigte mich noch mehr. Danach also wartete ich auf den Anruf der Oberin.
Ich wußte, daß einige Schwestern außerhalb des Heims in Schulen unterrichteten, andere wieder im Heim selbst arbeiteten, wo sie zum Beispiel als Gruppenmütter für ungefähr fünfundzwanzig Mädchen verantwortlich waren. Jeder Gruppenmutter unterstanden zwei Hausmütter und manchmal auch eine Laienhelferin. Ich war überrascht, als ich hörte, daß fast alle diese Frauen trotz ihrer ausgefüllten Tage noch Zeit fanden, sich weiterzubilden — als Lehrerin, Kinderschwester oder Fürsorgerin.
Bisher hatte ich es hauptsächlich mit der Oberin und der Pförtnerin zu tun gehabt. Ich war nicht so sicher, wie ich reagieren würde, wenn ich der Gruppe gegenübertrat.
Mein Telefon läutete. »Würden Sie bitte in den großen Konferenzsaal kommen, Herr Doktor?« sagte eine sanft zwingende Stimme. »Wissen Sie, wo er ist?«
Ich bejahte und machte mich auf den Weg durch die langen Korridore. Dabei wurde ich mir bewußt, was für eine qualvolle Tour es jedesmal für Laura sein mußte.
Als ich den Saal betrat, stutzte ich: Ich hatte drei oder vier Schwestern erwartet, und nun saßen da sechzig um einen langen, glänzenden Tisch.
Die Oberin hatte sämtliche Schwestern zu meiner Begrüßung zusammengerufen. Und jede einzelne stand mit militärischer Exaktheit auf, als ich eintrat.
Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. An einem Ende des Tisches stand ein leerer Stuhl, und zögernd ging ich, geleitet von einer Schwester, auf den Platz zu. Sobald ich ihn erreicht hatte, begann eine andere Schwester zu beten. Das beruhigte mich ein‘wenig, denn es schien zu bedeuten, daß sie einen festen Rahmen für derartige Zusammenkünfte hatten.
Als das Gebet beendet war, blieb ich stehen — schließlich konnte ich mich nicht in Gegenwart von sechzig Frauen als erster hinsetzen! Auch die Schwestern blieben stehen. Der Augenblick, während dem wir uns gegenüberstanden, zog sich hin wie eine Ewigkeit. Endlich sagte die Oberin: »Wäre es nicht bequemer für Sie, Herr Doktor, wenn Sie sich hinsetzten?«
Dankbar stimmte ich zu. Sobald ich saß, nahmen auch die Schwestern Platz. Ich begriff allmählich, daß sie mir gegenüber genauso unsicher waren wie umgekehrt. Jede hatte einen kleinen weißen Block vor sich liegen, und auf dem Tisch war ein zusätzlicher Stapel von Notizblöcken. In einer Pappschachtel daneben befanden sich säuberlich gespitzte Bleistifte. Mechanisch zündete ich mir eine Zigarette an.
Sofort merkte ich, daß ich einen Schnitzer gemacht hatte. Ich ließ verlegen den Blick über die glänzend polierten Möbel und den spiegelblank gewachsten Boden schweifen: Bestimmt war ich der erste Mensch, der je in diesem Raum geraucht hatte. Entsetzt beobachtete ich, wie die Aschenspitze immer größer wurde.
Da stand die Schwester rechts neben mir auf, machte eine Bewegung, die aussah wie ein Flügelschlag, und zog wie ein Zauberer aus ihrem riesigen Ärmel einen glänzenden Aschenbecher hervor.
»Wir dachten, Sie würden vielleicht gern rauchen«, sagte sie lächelnd, als sie ihn triumphierend vor mich hinstellte.
Mit einem Seufzer der Erleichterung streifte ich die Asche an dem makellosen Aschenbecher ab und wartete darauf, was die Oberin nun tun würde. Sie nickte Schwester Paulette, Lauras Gruppenmutter, zu. Diese dankte mir daraufhin im Namen aller in einer sehr sanften, warmen Art dafür, daß ich ein wenig von meiner Zeit für ein Kind ihres Heimes hergeben könne.
»Wissen Sie, Herr Doktor, es ist ein so großes Unrecht, daß unsere Kinder gerade zu einer Zeit von ihren Familien getrennt werden, in der sie Liebe so sehr brauchen. Und daher«, fuhr sie in geduldigem, würdevollem Ton fort, »sind viele verbittert, enttäuscht, aus dem Gleichgewicht gebracht und verängstigt. Wir lieben sie und versuchen ihnen in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht unser Bestes zu geben. Aber es kommt immer wieder vor, daß ein Kind in einer so schwierigen Lage ist, daß es die Hand zurückstößt, die ihm Gutes tut. Es verletzt sie tief, daß sie in einem Heim leben müssen, wissen Sie. Sie kommen sich schrecklich vernachlässigt und unnormal vor im Vergleich zu den Kindern, die bei ihrer Familie sind. Ja«, sagte sie, wandte den Blick von mir ab, schlug die Augen nieder und schüttelte traurig den Kopf, »es ist eine bittere Pille für sie, wenn sie hierherkommen müssen. Einige lehnen sich auf, andere geben vielleicht den Kampf ganz auf, ziehen sich in sich selbst zurück und sind nicht mehr ansprechbar…« Ihre Stimme verklang. »Sehen Sie, und dann ist es schwer für uns, an sie heranzukommen.«
Wie gut ich sie verstand und wie treffend sie die Sorge der Schwestern um diese verlassenen Kinder ausgedrückt hatte. Laura war das beste Beispiel für das in ein Heim verpflanzte Kind.
Ich sagte: »Ich bin sicher, daß Laura ein solcher Fall ist, Schwester. Sie scheint den Kampf aufgegeben zu haben, genau wie Sie sagen.«
Eine Diskussion schloß sich an, und die Atmosphäre lockerte sich, als die Schwestern über die ihnen anvertrauten Kinder sprachen. Dabei schimmerte immer wieder die unerschöpfliche Liebe durch, die sie ihren Schutzbefohlenen entgegenbrachten, und gleichzeitig auch — eine natürliche Folge dieser Liebe — ihre tiefe Enttäuschung über Laura. Keineswegs waren diese Schwestern kühl und distanziert, wie ich mir als Kind Nonnen immer vorgestellt hatte — sie äußerten sich im Gegenteil mit Begeisterung zu dem Problem, wie man an Laura herankommen könne. Selbst jene, die als Lehrerinnen außerhalb des Heims tätig waren, kannten sie und hatten alle irgendwann versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen.
Ich nahm eine zweite Zigarette aus dem Paket, und mit einem weiteren Flügelschlag zauberte die Schwester an meiner Seite Streichhölzer aus ihrem Ärmel hervor. Sie sprachen jetzt ganz offen miteinander, und ich hörte ihnen eifrig zu, denn ich wollte keinen Hinweis, der sich auf das Mädchen bezog, überhören.
Schwester Paulette interessierte mich besonders. Sie war seit sieben Jahren Lauras Gruppenmutter und kannte sie am besten. Während sie erzählte, sah ich sie mir genau an. Sie war — wie die meisten der anwesenden Schwestern — ziemlich jung, eine Frau Anfang Vierzig, schmal und mit einem anziehenden, ernsthaften und sehr ausdrucksvollen Gesicht. Vieles von dem, was sie sagte, hatte ich schon in den Unterlagen gelesen, aber ich wollte alles über das Kind erfahren, dessen Leben wie ein böser Traum begonnen hatte.
Leise berichtete sie, wie sie Laura in den sieben Jahren beigebracht hatte, für sich selbst zu sorgen. Als das Kind ins Heim kam, mußte es wie ein Baby angezogen und versorgt werden. Sie hatte keine Ahnung von Sauberkeit und auch kein Verlangen danach. Aber nach und nach lernte sie sich anzuziehen, für ihre Kleidung zu sorgen, ihre wenigen Habseligkeiten ordentlich aufzuräumen, sich zu waschen und sich der einfachen Heimroutine ohne Schwierigkeiten anzupassen.
»Hatte sie nie Besuch?« fragte ich.
»Es gab ja nur die Tante, wissen Sie«, antwortete Schwester Paulette und lehnte sich über den Tisch, »und die verschwand bald ganz. Als ich am Anfang noch mit ihr in Verbindung war, lud ich sie ein …ich flehte sie an …Laura doch zu besuchen, aber sie hatte jedesmal eine andere Entschuldigung, warum sie nicht kommen konnte.«
»Haben die Kinder in der Gruppe gelernt, mit ihr zusammen zu leben?«
»Ja-a, ich glaube schon. Natürlich, Sie wissen ja, wie Kinder sind.« Schwester Paulette senkte den Kopf und runzelte nachdenklich die Stirn. »Im ganzen nehmen sie sie hin, und manche haben auch versucht, mit ihr zu spielen, andere wieder haben sie gefoppt …ihr Schimpfworte nachgerufen. Sie war immer so verängstigt und scheu. Ich fürchte, hauptsächlich hat sie ihre Zeit damit verbracht, aus dem Fenster zu starren…Oh, und wir haben uns solche Mühe gegeben.«
»Manchmal hat sie gern gestrickt«, warf eine andere Schwester ein.
»Ja, Schwester Jean, Sie haben recht. Ich habe sie oft stricken sehen. Das schien ihr Spaß zu machen.«
»Wissen Sie, Herr Doktor«, sagte Schwester Paulette vom anderen Ende des Tisches, »jetzt, wo Sie sich bereit erklärt haben, Laura zu helfen, muß ich Ihnen noch etwas erzählen. Es wurde bisher nicht erwähnt, um Sie nicht abzuschrecken. Wir bemühen uns darum, daß die Kinder in die Ferien gehen können, wie alle anderen Kinder auch. Es gibt ein paar Familien, die hin und wieder eines unserer Kinder mit sich in die Ferien nehmen. Am Anfang sträubte sich Laura gegen diesen Gedanken, aber dann schöpften wir Hoffnung, als sie sich mit dem Plan anzufreunden schien. Aber, nun ja …« Sie brach zaghaft ab und blickte auf ihre großen weißen Fingernägel.
»Fahren Sie fort, Schwester«, drängte ich sie.
Schwester Paulette blickte auf. Sie sah sehr unglücklich aus. »Die einzigen Familien, zu denen sie gehen wollte, berichteten, daß Laura völlig unzugänglich und apathisch blieb —« Sie brach ab und blickte krampfhaft auf den Boden. »Sie haben sie niemals wieder eingeladen.«
Eine Minute lang herrschte Schweigen. Mir kam es vor wie Lauras eigenes Schweigen, ein Eingeständnis des Versagens, das wir alle zu überwinden hatten. Als könne sie meine Gedanken lesen, fuhr Schwester Paulette fort:
»Ich muß Ihnen noch etwas sagen, Herr Doktor, wenn es auch nur eine Vermutung ist. Obwohl sie die ganze Zeit, seit sie hier ist, noch nie ein Wort gesagt hat, habe ich doch immer das Gefühl, daß sie sprechen kann. Ich bin davon überzeugt, sie hat eine Sprache.« Die Schwester nickte so heftig, daß ihre Haube flatterte. »Sie verbirgt sie nur vor uns.«
»Welchen Grund haben Sie für diese Annahme, Schwester?« fragte ich.
»Es ist einfach so, nun ja, auch wenn Laura keine Worte gebraucht, verstehe ich doch, wie sie sich fühlt. Ich weiß immer, wann sie Angst hat oder aufgeregt ist. Dann kommt sie zu mir, sitzt in ihrer krummen Haltung auf meinem Schoß, legt mir die Arme um den Hals und klammert sich weinend an mich. Ich habe sie nie gefragt, wovor sie sich so fürchtet — es schien so sinnlos, vielleicht sogar grob. Abends setzte ich mich zu ihr und las ihr aus einem ihrer Lieblingsbücher vor. Sie mag Kurzgeschichten gern, und manchmal, nur sehr selten, mußte sie über dies oder jenes ein klein wenig lächeln. Das war für mich jedesmal ein Triumph, und ich dankte Gott dafür. O ja, ja«, schloß die Schwester und sah mich mit brennenden Augen an, »ich bin sicher, daß Laura sprechen kann.«
»Wovor hat sie denn besonders Angst, Schwester?« erkundigte ich mich nach einem Augenblick.
»Oh, abgesehen von Feuer und Hitze scheint sie die Nacht am meisten zu fürchten. Das habe ich bald herausgefunden. Sie war erst kurze Zeit bei uns, als ich bei meiner Abendrunde durch die Schlafsäle entdeckte, daß sie als einziges Kind nicht schlief, sondern weinte. Sie hatte den Kopf unter das Kissen gesteckt und auch die Decke noch über den Kopf gezogen.«
Ein Kind, das in der Nacht weint. Das Bild paßte in den Rahmen. Als ich Schwester Paulettes klangvoller, gleichmäßig tönender Stimme lauschte, wußte ich, daß es in diesem Raum keinen gab, den ihre Schilderung nicht tief bewegte. Für die Schwestern bedeutete es fast eine Demütigung, ein Versagen…
»Jeden Abend fand ich sie so, sie versteckte sich und weinte vor sich hin. Und ich blieb bei ihr, wenn es dunkel war, nahm sie in die Arme und wiegte sie. Es schien sie etwas zu beruhigen, Herr Doktor, denn wenn ich es lange Zeit tat, wurde sie schläfrig, und manchmal schlief sie sogar ein.«
Wovon sie sich sicher noch einmal überzeugte, dachte ich, bevor sie um fünf Uhr früh den nächsten anstrengenden Neunzehn-Stunden-Tag begann.
»Und eines Nachts sah ich dann Licht unter ihrer Decke, und als ich sie hochhob, war Laura wie zu einem Ball zusammengerollt, in der Hand eine Taschenlampe. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Als ich ihr die Taschenlampe wegnehmen wollte, sträubte sie sich entsetzlich, und so ließ ich sie ihr, da sie ein solcher Trost für sie war. Ich habe es keinem erzählt«, sagte Schwester Paulette mit einem mutwilligen Lächeln, »aber gleich am nächsten Tag ging ich zu ihr und gab ihr eine ganze Schachtel Taschenlampenbatterien. Ich habe ihr gesagt, daß sie neue bekäme, wenn diese verbraucht wären. Das war eine der seltenen Gelegenheiten, bei der ich sicher war, daß eine Verständigung zwischen uns bestand, denn als ich ihr die Schachtel gab, hatte sie Tränen in den Augen.«
Wieder war es einen Augenblick lang still, dann sagte die Oberin würdevoll: »Also das ist des Rätsels Lösung, Schwester Paulette. Ich habe mich schon gewundert, warum Sie immer wieder Taschenlampenbatterien verlangten.«
Die Schwestern lachten und kicherten, raschelten in ihren Stühlen, die Hauben wippten auf den Köpfen. Schwester Paulettes Wangen zuckten verdächtig, und sie errötete wie ein verlegener Backfisch.
Ich sah mich im Zimmer um, gelöst und gleichzeitig erregt. Nein, diese Schwestern waren keine distanzierten Wesen, sondern wirkliche, fühlende Menschen. Für die Kinder — die auf eine solche Sprache des Herzens mit höchster Empfindsamkeit reagieren und oft viel scharfsinniger sind, als wir annehmen — waren sie genauso wirklich wie für mich. Vielleicht noch wirklicher. Ich wußte, daß ich die blasse Schwester Paulette mit ihren scheuen Augen noch sehr oft sehen würde.
Als die Besprechung beendet war, stand ich auf. Mit einer Art Seufzen der Luft, als sechzig weiße Hauben sich bewegten, erhoben sich die Schwestern sofort wie eine einzige.
Ich bat sie — ich glaube, ich flehte sie sogar an —, sich doch wieder zu setzen, während ich hinausging. Dankbar stellte ich fest, daß sie mit einem Lächeln meinem Wunsch nachkamen. Mein letzter Eindruck war ein Stapel sauberer, unbenutzter Notizblöcke.
6
Schwester Margaret begrüßte mich, als ich ein paar Tage später in die Sozialabteilung kam, deren Leiterin sie war. Diese Abteilung des Heimes beschäftigte sieben Sozialhelferinnen, die mit den Kindern und ihren Familien zu tun hatten, zwei erfahrene Fürsorgerinnen und …eben Schwester Margaret.
Sie war eine eher klein gewachsene Frau Anfang Dreißig mit rundem Gesicht und ausdrucksvollem Mund, die eine zurückhaltende Weiblichkeit ausstrahlte. Man konnte sehr leicht mit ihr reden — sie schien so schüchtern und nachgiebig. Sie beschrieb die Arbeit ihrer Fürsorgerinnen mit den Kindern und deren Familien und betonte wiederholt, daß jede einzelne Fürsorgerin viel zu viele »Fälle« übernehmen mußte.
Hier beggneten sich unsere Ansichten. Meiner Meinung nach ist das Problem der Geisteskrankheiten unter Kindern und Jugendlichen im Begriff, zu einem der größten Probleme Amerikas, vielleicht sogar unserer Zeit zu werden. Ich erzählte ihr, daß nach statistischen Untersuchungen ungefähr eine halbe Million Kinder in Amerika irgendeine Geisteskrankheit haben. Dabei sind in dieser Zahl noch nicht einmal alle die Kinder und Jugendlichen enthalten, die an allgemeinen seelischen Störungen leiden.
»Nehmen Sie den Fall Laura«, sagte ich. »Er ist ein gutes Beispiel. Bei so vielen Kindern zeigen sich schon früh Anzeichen dafür, daß seelisches Leid vorhanden ist, und nichts wird für sie getan — bis es zu spät ist. Manchmal kommt es mir wirklich so vor, als wäre es besser für ein Kind, sichtbare Symptome körperlicher Krankheiten zu haben, als innerlich still dahinzuleiden.«
Diese Angelegenheit lag mir sehr am Herzen, und ich sprach erregt darüber. Schwester Margaret stimmte mir zu.
»Sie haben recht, Herr Doktor, es sind leider nur zu viele«, sagte sie in ihrer irgendwie demütigen Art. »Wenn ein Kind Ausschlag hat oder einen gebrochenen Arm oder einen simplen Schnupfen, wird ihm niemand Hilfe versagen. Wenn es jedoch seelisch gestört ist, benimmt es sich vielleicht wie jedes andere Kind, und dann ist es schwer, die Leute zu überzeugen.«
Sie hielt kurz inne, als wäre sie nicht sicher, ob sie weitersprechen solle. Dann fuhr sie jedoch mutig fort: »Es ist für uns hier auch nicht immer so einfach, unsere Vorgesetzten zu überzeugen, wie Sie vielleicht denken. Manche älteren Schwestern wollen ihre Ansichten ganz und gar nicht ändern.« Ihre Wimpern gingen auf und nieder. »Die Rute schonen und das Kind verwöhnen, wissen Sie.«
»In solchen Fällen wie bei Laura«, fuhr ich fort, nachdem ich die leisen Andeutungen zur Kenntnis genommen hatte, »haben wir es eigentlich mit Verbrechen von Eltern an der Seele ihrer Kinder zu tun. Man müßte die Sprache ändern. Die Reaktionen der Kleinen auf überwältigende Erlebnisse sind mit denen zu vergleichen, die der Soldat im Krieg hat.«
»Ja, nennen wir es Kriegsneurose, nicht wahr?« sagte sie munter und lachte dann vergnügt. »Aber jetzt muß ich Sie zu Mrs. Clancy führen.«
Schwester Margaret war sehr daran gelegen, daß ich einige ihrer Sozialhelferinnen kennenlernte und dann mit einer der Fürsorgerinnen sprach, Mrs. Clancy, die auch Lauras Fall bearbeitete. Als ich neben der Schwester aus dem Büro ging, wurde mir bewußt, daß ich noch selten mit solchem Feuereifer über ein Problem gesprochen hatte, gegen das ich einen ganz persönlichen Feldzug führte: Es war, als hätte diese Frau es aus mir herausgeholt. Im Heim wußte man sehr wohl, welche Rolle der Zufall im Leben der anvertrauten Kinder spielte. Laura hatte deshalb Glück gehabt, weil in den staatlichen Nervenkliniken kein Platz für sie frei war. Aber es gab viele andere Lauras, die noch bei ihren Eltern lebten und für die wenig Aussicht auf Hilfe bestand. Die amerikanischen Nervenkliniken und die örtlichen Behandlungszentren waren nicht nur gezwungen, eine strenge Auswahl unter den Patienten zu treffen und sich auf die zu beschränken, für die »es sich lohnte« — sie halfen auch vor allem denen, die von selbst um Hilfe nachsuchten, die eine gewisse Intelligenz hatten und aus ungestörten Familienverhältnissen stammten. Die große Zahl der seelisch gestörten Kinder aus sehr armen oder zerrütteten Familien konnte also mit den bestehenden klinischen Einrichtungen gar nicht erreicht werden.
»Wir können heute viel mehr für die seelisch gestörten Kinder tun, als die meisten Leute denken«, versicherte ich ihr, als wir nebeneinander hergingen. »So wie Sie hier — ohne Ansehen von Rasse und Religion. Das schlimme ist, daß die Gesellschaft die Verantwortlichkeit auf die Fachleute abschiebt. Dabei ist es ein soziales Problem, und zwar ein gewaltiges, und geht deshalb alle an.«
»Das ist bestimmt richtig.« Dann wandte sie mir das runde Gesicht zu. »Wir sind so froh, daß Sie Laura helfen wollen, Herr Doktor.«
Sie lächelte erneut, und ihr Gesicht leuchtete wie von innen auf. »Sagen Sie uns bitte, was Sie für sie brauchen, und wir werden unser möglichstes tun, um es zu beschaffen.«
Ich habe diese Worte nie vergessen. Damals antwortete ich nur: »Davon bin ich überzeugt«, aber ich sagte es mehr vor mich hin, denn sie war mir bereits in das chaotischste Büro vorausgegangen, das ich je gesehen habe.
Auf dem Boden stapelten sich Schachteln mit Dokumenten, aus Aktendeckeln quollen Papiere, Schränke standen offen, und eine Wand war mit verstaubten Büchern und gebundenen Fachzeitschriften tapeziert. Hinter einem Schreibtisch, auf dem sich Akten und Korrespondenz zum Teil schulterhoch türmten, erhob sich eine hagere, sommersprossige Frau, in der einen Hand eine Kaffeetasse, in der anderen eine brennende Zigarette.
»Vom Rauchen bekommt man Krebs«, war ihre Begrüßung.
»Das scheint Ihnen gleichgültig zu sein.« Ich lachte.
»Hier«, entgegnete sie energisch, »braucht jeder irgendein Laster, und das ist nun mal meins. Bitte.« Sie hielt mir ein Päckchen Zigaretten hin, zwei weitere befanden sich unter dem Chaos auf ihrem Schreibtisch. Er sah so aus, als wäre ein Tornado darüber hinweggefegt. »Rauchen Sie?«
»Ja«, sagte ich. »Danke.«
»Mein Reservetank«, erwiderte sie und zündete sich selbst eine neue an, obwohl die letzte kaum halb aufgeraucht war.
Schwester Margaret gelang es schließlich, mich formell vorzustellen, und Mrs. Clancys aufgesprungene Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das das ganze Zimmer zu umfangen schien.
Ich wußte, daß ich mich mit ihr gut verstehen würde. Sie war eine der zähen, überarbeiteten, unterbezahlten Frauen, die für die Sozialarbeit geboren sind. Sie war Ende Vierzig und arbeitete bereits seit über zwanzig Jahren im Heim.
Beim Sprechen ging sie lebhaft umher, stieß ein paar Kästchen und Stühle um und ließ Aktendeckel herumfliegen. Sie war aufgezogen wie ein Kreisel, eine Frau von erstaunlicher Energie.
Es gibt Leute, die gern in einer Atmosphäre gedämpften Infernos arbeiten, und Mrs. Clancy gehörte zu ihnen. In all den Jahren, in denen ich mit ihr zu tun hatte, verlor sie niemals ein einziges Dokument oder eine Akte. Wohin sie auch ging, immer trug sie die Tasse schwarzen Kaffee wie ein Banner mit sich herum und schwappte ihn über, wenn sie gerade diskutierte. Wie oft sollte ich in den kommenden Jahren an diese Kaffeetasse und die nicht abgestreifte Zigarette als Symbole für Hingabefähigkeit denken. Kaffeeduft auf einem Korridor erinnert mich heute noch an Mrs. Clancy.
»Sie brauchen einen Plan«, erklärte sie mir und kam aus einem Nebenraum auf mich zugeschossen.
»Gut«, sagte ich, »wenn Sie meinen.«
Also setzten wir uns zu dritt hin und arbeiteten einen Plan aus, der festsetzte, wann ich Laura jeweils sehen würde.
»Zwölf Durchschläge«, knurrte Mrs. Clancy und setzte die Walze ihrer vorsintflutlichen Schreibmaschine in Bewegung, als wäre sie der Lauf eines Gewehrs. Später erfuhr ich, daß Mrs. Clancys Pläne im Heim zu den stehenden Scherzen gehörten. Sie gingen durch Flüsterpropaganda von einem Büro zum anderen und wurden dann nur selten befolgt. In Wirklichkeit war Mrs. Clancy nämlich ein leidenschaftlicher Gegner jeder Art von Bürokratismus und konnte stets improvisieren. Aber sie bestand auf ihren Plänen.
Ich verabschiedete mich also von unserer »Organisatorin«, die, seit ich sie kennengelernt hatte, ungefähr bei der achten Zigarette angelangt war. Dann folgte ich Schwester Margaret zu der einzigen Person im Kreise um Laura, die ich bisher nicht kannte. Das war Dr. Clemente, der Psychiater.
Er wollte gerade nach Hause gehen, als Schwester Margaret mich in sein Büro führte und mich dann mit ihm allein ließ.
Dr. Clementes Büro war ein Muster an Ordnung. Hier konnte nicht die geringste Spur davon entdeckt werden, daß irgendwelche Schreibarbeit erledigt wurde. Abgesehen von zwei Telefonen und einer Schachtel Tabletten schien der Stahlschreibtisch unberührt.
Dr. Clemente hatte dichtes, noch dunkles Haar. Ich schätzte ihn auf fünfzig. Schwester Margaret hatte mir erzählt, daß er als fachärztlicher Berater angestellt war und aus dem »Fonds« des Heims bezahlt wurde. Er kam ungefähr zweimal wöchentlich.
Wir unterhielten uns eine Weile. Er war sehr umgänglich, wenn auch offensichtlich in Eile. Während ich sprach, flitzten seine Augen wie die einer Eidechse immer wieder zur Uhr. Schließlich senkte er mit einem lächelnden Kopfschütteln etwas verschwörerisch die Stimme und sagte »Hören Sie, lassen Sie sich’s gesagt sein: Für die meisten Kinder hier können Sie nicht sehr viel tun.«
»Nein?«
»Nein. Es ist traurig, aber man muß der Wahrheit ins Auge sehen.« Er streckte die rundlichen Hände aus, die Handflächen eindrucksvoll nach oben gekehrt.
Vielleicht war es diese Haltung, die mich reizte. Ich sagte: »Also, ich habe trotzdem beschlossen, es bei einem Mädchen mit Psychotherapie zu versuchen.«
»Bei wem?« fragte er, und seine Augen verengten sich.
»Laura«, sagte ich.
Sein Gesicht verzog sich, als fühlte er sich angewidert.
»Ist das Ihr Ernst?«
»Und wie.«
Er zuckte gewaltig mit den Achseln, breitete die Arme aus und spreizte die Hände. »Warum Zeit verschwenden …?« Er brach ab und wandte sich mir mit ernster Stimme zu, in die er das ganze Gewicht seiner Jahre legte. »Junger Mann, ich kenne dieses Heim schon lange, lange Zeit. Nehmen Sie mein Wort, es gibt Kinder hier, denen die Therapie helfen würde, o ja, sicher, das streite ich gar nicht ab. Aber Laura?«
»Ich behandle sie jetzt«, sagte ich. Da ich nicht die Beherrschung verlieren und mich auch nicht auf Diskussionen einlassen wollte, stand ich auf und ging zur Tür. Er warf wieder einen Blick auf die Uhr.
Um gerecht zu sein, muß ich sagen, daß Dr. Clemente mir jede Hilfe anbot, die ich brauchte. Aber es war nur zu deutlich, daß er den Standpunkt vertrat, gegen den ich ankämpfte — die zu retten, bei denen die größte Wahrscheinlichkeit auf Erfolg bestand. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es bei Laura keinerlei Anzeichen auch nur der geringsten Anpassung gegeben.
»Es ist Ihre Sache«, sagte er lächelnd und zuckte erneut die Achseln, als er mir die Hand schüttelte.
Ich eilte hinaus und sah auf die Uhr. Ich hatte an diesem Abend Patiente in meiner eigenen Praxis, aber ich wollte mich vorher noch überzeugen, daß alles für Lauras nächste Stunde in dem neuen Büro, das man mir zugeteilt hatte, bereit war.
Auch dieses Zimmer ging auf einen langen, hohen Gang hinaus, aber es war kleiner und freundlicher eingerichtet. Auf Regalen und Tischen verteilt fand ich alle Gegenstände, um die ich die Oberin gebeten hatte. Die Gräue des Gebäudes schien aus diesem fast gemütlichen Raum verbannt.
7
Ein paar Tage später saß ich in dem neuen Zimmer und wartete auf Laura. Das ganze Heim machte jetzt auf mich einen so freundlichen Eindruck, wie ich es an jenem ersten Tag nie für möglich gehalten hätte. Die Schwester am Eingang kam mir nun besonders wohlwollend entgegen, und alle, denen ich auf dem Weg zu meinem Büro begegnete, lächelten mir liebenswürdig zu. Sie gewöhnten sich an mich, wie ich mich an sie gewöhnte.
Die blasse, ernste Schwester Paulette, die impulsive Schwester Margaret, Mrs. Clancy, die Kettenraucherin — es gab so viele warme Herzen in diesen grauen Mauern, daß es mir jetzt allmählich vorkam, als wehre der widerwärtige Stacheldraht die Menschen von draußen ab, als schütze er die Schwestern in ihrer liebevollen Hingabefähigkeit vor der selbstsüchtigen Welt.
Während ich auf Laura wartete, mußte ich immer wieder an ihre Lebensgeschichte denken. Das einzige Bild von ihr, das ich klar vor Augen hatte, so schien mir, war das eines Kindes, das Nacht für Nacht von einer Schwester in den Armen gehalten wurde. Warum sollte Laura mir vertrauen? Warum die sichere Isoliertheit um einer neuen Beziehung willen aufgeben, die alle möglichen unbekannten Gefahren in sich barg? Was konnte ich ihr bieten? Was zu ihr sagen? Vor allem, wie konnte ich ihrem Schweigen begegnen — und sie schließlich aus diesem Schweigen herauslocken? Ich zweifelte immer mehr an mir. Vielleicht hatte ich mir mehr vorgenommen, als ich ahnte. Ich mußte an meine Erfahrungen denken, die ich selbst als Kind und später als Psychoanalytiker gemacht hatte. Aus diesen Erfahrungen wußte ich, daß Einsamkeit sich nicht unbedingt selbst heilt — im Gegenteil: Oft ist die Angst, von anderen verletzt zu werden, größer als das Bedürfnis, sich den anderen anzuschließen. Und in Lauras Fall traf das in extremem Maß zu. Ich mußte mich also schon sehr bemühen, um an dieses Kind heranzukommen.
Als Psychoanalytiker muß man Geduld haben können. Es kommt vor, daß man jahrelang auf ein Anzeichen von Erfolg warten muß. Manchmal wissen wir nicht einmal, ob sich das Leben unserer Patienten nach der Behandlung entscheidend geändert hat. Ein Techniker, Arzt oder Lehrer sieht zumeist irgendwelche unmittelbaren Ergebnisse seiner Arbeit. Ich wußte, daß es bei Laura einen langen Kampf geben würde, aber ich war bereit, Zeit und Energie ohne jegliche Erwartung einzusetzen. Nach dem, was sie durchgemacht hatte, war für Laura alles, was sie von sich aus gab, auch das Kleinste, von Bedeutung. Ich lehnte mich in meinem Stuhl vor und starrte auf den Gang hinaus, der im Augenblick leer war. Die Minuten vergingen.
Ich sah auf die Uhr. Die Schwestern, so hatte ich festgestellt, waren stets überpünktlich, und Laura erschien auch auf die Sekunde genau nach Mrs. Clancys Plan am Ende des langen Korridors. Die gleiche Schwester begleitete sie.
Wieder ging sie mit gesenktem Kopf, lehnte sich schwerfällig an die Wand und hielt die linke Hand vors Gesicht. So wie sie da ankam, mit dem unordentlichen Haar, in der gebückten Haltung und ohne jede Vitalität, hätte sie eher eine sehr alte Frau sein können als ein Kind, das sich seiner Jugend freut. Die Schwester brachte sie in mein Büro, nickte mir zu und verließ uns.
Laura saß wie leblos zusammengesunken da. Wieder lief ihre Nase, ohne daß sie es beachtet hätte. Sie erschien so reglos, daß ich fast das Gefühl hatte, ich könnte ihr Herz schlagen hören. Da der Schnee draußen die Geräusche bereits dämpfte, schien die Stille im Raum noch zu wachsen, wurde ungeheuerlich.
Und dann sah ich, daß sie weinte.
Große Tränen stiegen in ihren Augen auf und rollten die mit Narben bedeckten Wangen hinunter. Es kam mir vor, als sprächen diese stummen Zeugen von wer-weiß-welcher inneren Qual eine lautere Sprache, als es Worte vermochte hätten. Ich beobachtete, wie sie an ihrer Haut hinunterliefen und in ihren Schoß fielen.
»Hallo, Laura«, sagte ich. »Erinnerst du dich noch an mich?«
Sie bewegte sich nicht, aber ich sagte mir, daß die Tränen ihre Seele symbolisierten, die sich unter der starren Oberfläche teilnahmsloser Unbeweglichkeit verbarg. Ihre Verzweiflung war ein Lebenszeichen, eine aktive Negation.
»Hast du schöne Weihnachten gehabt, Laura?« fragte ich.
So begannen Hunderte ähnlicher Stunden. Sie fanden Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr statt. Und zu Beginn verliefen alle anderen genauso wie die erste. Ich sprach auf eine leere Wand ein.
Jedesmal, wenn ich sie sah, begrüßte ich sie mit aller Herzlichkeit, die ich für sie empfand. Aufrichtigkeit war vor allem wichtig, wenn sie mir vertrauen sollte. Aber ihr Verhalten, ihre Stimmung, ihre Eigenheiten im Benehmen änderten sich nicht. Manchmal wischte sie sich die Nase ab, genauso oft aber auch nicht. Nur die Tränen sagten mir, daß hier Leben war, jemand, den ich erreichen mußte.
Ich entschied mich für ein System der Dreiteilung in den Stunden. Zuerst sprach ich über Dinge, die außerhalb des Heims geschahen. Ich ging durchs Zimmer, sah aus dem Fenster und beschrieb, was ich draußen sah. Dann machte ich sie allmählich mit den Gegenständen im Zimmer vertraut, dem Spielzeug und den Spielen. Und zuletzt schwieg ich manchmal selbst, saß abwartend da. Und dann war es mein eigenes Herz, das ich schlagen hören konnte.
Fachmännisches kam bei den Stunden mit Laura kaum ins Spiel. Ich sprach mit ihr, wie jeder mit einem Kind spricht. Ich wählte einfache Worte, beschrieb so lebendig wie möglich und in vielen Bildern.
»Oh, da drüben steht ein Feuerwehrwagen. Der ist aber rot, nicht wahr? Gehört der Stadt. Sieht aus, als wäre er erst gestern gestrichen werden…«
Ich war kein Neuling in der Anwendung der Spieltherapie, und es gab auch nichts besonders Neues in der Art, wie ich sie Laura gegenüber anwandte — mit der einzigen Ausnahme vielleicht, daß sie mir in den unzähligen Stunden, die ich mit gestörten Kindern verbrachte, die wenigsten Anhaltspunkte lieferte, wie ich weiter vorgehen sollte.
Ein typisches Spieltherapie-Zimmer enthält Dinge wie ein Puppenhaus und eine Puppenfamilie, Puppenmöbel, Spielsoldaten, Tiere, kleine Stühle und einen Tisch, ein Puppenbett, Kochgeräte, auch Stoffpuppen, Marionetten, ein Marionettentheater, Buntstifte, Ton, Fingerfarben, Sand, Spieltelefone — kurz, beinahe alle Gegenstände, die sich zu einem Ausdrucksspiel eignen, das heißt, mit denen das Kind Gefühle ausdrücken kann. Wenn ich Laura nur dazu gebracht hätte, die weiche, bunte Farbe zu benutzen, die ich vor sie hinstellte, so hätte ich einen Zugang zu ihren Gefühlen gehabt. Da ihre Motorik ebenfalls gleich Null war, hatte ich auch hier keine möglichen Anhaltspunkte, zum Beispiel für Infantilismus und ähnliches. Wenn ein Analytiker mit einem solchen Kind arbeitet, beachtet er alle Arten der Reaktionen auf äußere Situationen und alle zweckbetonten Bewegungen.
Ich hatte einmal einen siebenjährigen gestörten Jungen als Patienten, der viele Beratungsstunden lang nur ein Seil von seiner Hand hinunterbaumeln ließ und es gelegentlich, ohne sichtbare Bedeutung, herumwirbelte. Einmal bemerkte er eine Pferdefigur in meinem Büro und fragte, ob er damit spielen dürfe. Das Pferd trug eine kleine Kette um den Hals, und diese hatte es dem Jungen mehr angetan als das Pferd selbst. Er saß auf dem Boden und ließ die Kette rotieren. Als ich ihm das Seil zurückgab, setzte er das ritualistische Verhalten damit fort. Er hatte noch andere Gewohnheiten: So hielt er zum Beispiel die Hände auf eine verkrampfte Art vor das Gesicht und blies dann darauf; es waren regelmäßig wiederkehrende Angewohnheiten, die noch ausgeprägter wurden, als ich einen Rorschach-Test auszuführen versuchte. Danach besserte sich der Kontakt zwischen ihm ünd mir.
Der Analytiker muß also, wenn er es mit stark seelisch gestörten Kindern zu tun hat, oft von den allerkleinsten Andeutungen ausgehen. Er muß die Anhaltspunkte beim Patienten suchen. Aber sogar das geringste Zeichen fehlte mir in den langen, langen Stunden mit Laura. Ein Rorschach-Test kam gar nicht in Frage. Sie hätte die Tafeln nicht einmal angesehen, ganz zu schweigen von mündlichen Äußerungen.
Kurz und gut, ich mußte einen Monolog zu einem Dialog machen, ich mußte sie auf irgendeine Art mit einbeziehen. Gewöhnlich wird fast jedes Kind, das in ein Spielzimmer kommt, die Gegenstände neugierig untersuchen. Auch wenn es nicht spricht, so äußert es sich doch fast immer in irgendeiner Tätigkeit, die dem Arzt, wenn sie wiederholt wird, etwas verrät. Oder es mag, wie augenblicklich bei einem meiner kleinen Patienten, eine Zwangsvorstellung über die Sauberkeit der Gegenstände vorhanden sein, mit denen sich das Kind beschäftigt. Auch das Gehen an sich — die Art, wie das Kind die Schritte setzt — kann dem in dieser Therapie ausgebildeten Fachmann Anhaltspunkte liefern. Laura aber ging nur mit Unterstützung.
Jedesmal, wenn sie mein Büro betrat, beobachtete ich ihre Augen in der Hoffnung, daß sie vielleicht auf einem leeren Glas verweilten, das bei ihrem letzten Besuch nicht dagewesen war, oder auf Keksen, die mir die Heimküche hinaufgeschickt hatte. Ich beobachtete auch, ob sich eine geringfügige Veränderung in ihrer Reaktion zeigte, wenn ich zum Beispiel die Zigarette auf eine neue Art anzündete — oder so tat, als könne ich meine Zündhölzer nicht finden, wenn sie doch direkt vor mir lagen. Ein andermal ließ ich die Schachtel neben ihr fallen und hoffte, daß sie sie vielleicht aufheben würde, was sie natürlich nicht tat. Der größte Nachteil war jedoch das Fehlen jeder sprachlichen Äußerung, denn gerade durch sie kann ein Kind, indem es zum Beispiel einen Dialog zwischen Puppen erfindet, seinen Gefühlen und Problemen Ausdruck verleihen. Ich wählte Spielzeug und Puppen als Symbole für Lauras Leben aus, und manchmal besorgte ich auch eine kleine Schürze oder einen Kittel für sie, damit sie die Farben benutzen könnte, ohne Angst haben zu müssen, ihre Kleider zu beschmutzen.
Manchmal versuchte ich ihr Interesse durch Straßengeräusche zu wecken: das Klappern der Mülltonnen, das Heulen einer Sirene. »Das bedeutet, daß die Feuerwehr jetzt heimfährt«, sagte ich vielleicht. »Sie hat ihre Arbeit getan und bahnt sich jetzt einen Weg durch den Verkehr, damit sie schnell wieder zurück ist.«
Und so weiter, und so weiter. Ich durchstöberte nicht nur mein Gehirn und meinen sich immer mehr verringernden Wortschatz, um die Straße für sie zu beschreiben, ich versuchte nach und nach auch, Begriffe zu erklären — wie zum Beispiel das Abstraktum Winter. So schilderte ich etwa; wie der Schnee an den Asten der Bäume gefror, was ähnlich aussehe wie die Weihnachtsdekorationen in den Korridoren. Oder ich wies auf einen Schornstein, aus dem Rauch aufstieg, und erzählte ihr, daß die Leute im Haus nun nicht frieren müßten, weil im Kessel Öl verbrannt wurde. Oder ich entwarf für sie das Bild einer Gruppe von Kindern, eingemummt wie Eskimos, die von einer Schwester, die sehr unsicher auf den Füßen war, über die Straße geführt wurden. Die Schwester klammerte sich an ihren Schirm, und auf ihrer Haube hatte sich eine kleine Schneewehe gebildet.
Als aus dem Winter Frühling wurde und sich bei dem Kind vor mir keine Veränderung zeigte, dachte ich an die Analogie ihres eigenen Lebens zu dieser Jahreszeit. Ich versuchte Mut daraus zu schöpfen, denn wartete nicht auch sie darauf, geboren zu werden, endlich zu leben?
Schließlich hatte sie jetzt zwölf jahre lang nicht richtig gelebt. Ich benutzte ihren Namen immer mehr und bemühte mich, alles so interessant wie möglich zu gestalten. Allrnählich schob ich auch immer öfter Fragen ein und hoffte, daß sie sich eines Tages doch irgendwie zu einer Antwort verleiten ließ, und wenn sie nur zu sich selbst spräche.
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Zu der Neugier, die ein Kind in Lauras Alter normalerweise dazu bewegt hätte, ein Zimmer voll Spielzeug näher zu untersuchen, war Laura anscheinend noch nicht fähig. Also brachte ich in jeder Stunde ein paar Gegenstände wie zufällig zum Schreibtisch und direkt in ihr Gesichtsfeld.
Darunter war auch eine Spieldose, und als ich sie einmal laufen ließ, die Karussellmusik aus der Dose ertönte und die kleinen Pferdchen sich beim Drehen auf und ab bewegten, schien ein erstaunter Blick in Lauras Augen zu treten. Von da an ließ ich die Spieldose in jeder Stunde ablaufen. Die paar Akkorde verfolgten mich in meine Träume — und auch in meine Alpträume! Aber die Musik war ein wichtiges drittes Geräusch für uns beide, eine Erholung nach meinem Reden. Worte sind der Versuch des Geistes, die Dinge zu ordnen und Laura war noch nicht zu dem Wagnis bereit, sich in dieser verlorenen Fähigkeit zu versuchen.
Alles in allem war ich froh, als der lange, kalte Winter endete. Die Tage wurden länger, und die Straßen belebten sich. Als es noch wärmer wurde, schlenderten die ersten alten Leute hinaus zu den Bänken und lasen unter den noch kahlen Bäumen ihre Zeitungen. Ich beschloß, mit meiner Patientin einen Spaziergang zu machen. Ich wußte allmählich nicht mehr, was ich Laura erzählen sollte.
Das Heim besaß hübsche Anlagen, die rundherum von den Gebäuden geschützt waren. Dort gab es Spielplätze mit Schaukeln, Rutschbahnen und Wippen, Sandkästen für die Kleinkinder, die übliche Einrichtung. Hier gingen auch die Schwestern im Sommer abends spazieren, wenn sie ein paar Minuten Zeit hatten. Ich fand, daß diese Anlagen der Welt eines Kindes näherkamen als ein Büro, und wenn Laura schon nicht mit mir sprach, so konnte sie genausogut auch draußen in der ersten Frühlingssonne schweigen.
Ich ging ganz langsam mit ihr. Es freute mich, daß sie sich vorwärtsbewegen konnte, ohne sich an eine Mauer zu lehnen oder meinen Arm zu nehmen, den ich ihr zuerst anbot. Dieser kleine Schritt zur Unabhängigkeit ermutigte mich. Ich sprach ständig mit ihr, wies einmal auf diesen Baum, dann auf jene erste Blume hin. Und während wir so gingen, kamen die anderen Kinder auf uns zugelaufen und sprachen mich an. Sie schienen alle vor Lebenskraft überzuschäumen und waren sehr gesprächig. Ich beobachtete Laura, wenn sie kamen, aber sie zeigte keine Reaktion.
Sie fragten sie, ob sie nicht mit ihnen Seil springen oder Ball spielen wolle. Sie konnten nicht wissen, daß diese Tätigkeiten, die ihnen soviel Spaß machten, für Laura voller Schrecken steckten. Sie gehörten der realen Welt an, gründeten auf Wettbewerb, auf sozialer Kommunikation schlechthin, vor der Laura ja gerade zurückscheute. Wenn sie auch noch so gern mitgemacht hätte, sie war dazu verdammt, Zuschauer zu bleiben. Sie hatte zu große Angst, daß sie verlieren könnte; denn wenn sie verlor, so verlor sie nicht nur ein Spiel, sondern den inneren Schutz gegen ihre Verwundbarkeit.
Laura hätte ihr Schneckenhaus auch nicht immer ungestraft verlassen können. Eines Tages, als ich sie auf dem Spielplatz treffen sollte, fand ich sie umringt von einer Gruppe Mädchen, die sie verhöhnten, verspotteten und Gesichter schnitten.
»Bucklige…Bucklige«, hörte ich sie laut rufen. Ich schickte sie schnell fort.
Während der ersten Monate, die ich mit Laura im Freien verbrachte, munterten mich nur zwei Vorfälle auf.
Einmal entdeckte ich, daß Laura die Schaukel Spaß zu machen schien, und so schaukelte ich sie sanft, während sie sich an den Ketten neben dem Sitz festklammerte. Im Gegensatz zu anderen Kindern bemühte sie sich nicht, durch Bewegung von Körper und Beinen von selbst in Schwung zu kommen. Ich hoffte, sie würde es tun, aber sie saß nur einfach da. Und ich stieß sie an.
Das zweite Ereignis war noch etwas erfreulicher. Ich stellte fest, daß Laura die Vorliebe für Süßigkeiten mit allen anderen Kindern teilte. Also deckte ich mich nun jedesmal, bevor ich zu ihr kam, mit Schokolade und Bonbons ein, und bald kannte ich das ganze Angebot, das den Zahnärzten ihr Geschäft erhält.
»Donnerwetter, Sie haben’s aber mit dem Süßen, Doc«, murmelte der Besitzer des kleinen Geschäftes, das am Weg zum Heim lag und in das ich jetzt stets ging, wenn ich dorthin fuhr.
Diese Süßigkeiten bildeten die erste wirkliche Kommunikation zwischen Laura und mir. Ich bot ihr eine Tafel Schokolade an, und sie nahm sie. Es war, wenn man es recht überlegte, das einzige, was sie bisher von mir angenommen hatte. Und dann mußte sie die Kommunikation fortsetzen und die Schokolade auswickeln, das Papier zusammenknüllen und wegwerfen, bevor sie das süße Zeug schließlich in den Mund steckte.
Es war natürlich die primitivste Form einer Beziehung, die denkbar ist. Aber die vielen Stunden des Schweigens hatten mich für alles empfänglich gemacht, und ich spürte, daß wir eine Schranke durchbrochen hatten. Die nachsichtige Annahme meines Geschenkes und der schweigende Tränenstrom deuteten für mich darauf hin, daß irgendwo in Laura ein lebendiger Mensch existierte.
8
Die Sonne war heiß in jenem Jahr. Sie brannte mir nun nachmittags auf den Rücken, wenn ich auf dem Weg zum Heim war. Sie schien auf Obststände, Beerdigungs-Institute und Fleischerläden in der Gegend, die ich jetzt gut kannte. Und an manchen Tagen strahlte sie die riesige Reklametafel an der Ecke besonders an, auf der ein Mädchen in knappem Mieder unter der Überschrift VERDREH IHNEN DIE KÖPFE fast kreischend lachte.
Als ich mich eines Tages wieder in dem kleinen Geschäft mit Süßigkeiten eindeckte, schob der Besitzer den nassen Zigarrenstummel im Mund auf die andere Seite, kratzte sich in der Achselhöhle und sagte: »Glauben Sie, daß Sie das so weitermachen können, Doc?«
»Was?«
Ich war immer befangen, wenn ich das Zeug kaufte, und bin sicher, daß es mir anzusehen war. Der Mann deutete nur auf die grell verpackten Dinger in meiner Hand.
»Sie müssen’s am besten wissen, Doc. Man lebt nur einmal.«
Man lebt nur einmal.
Ich ging auf das Eisengitter am U-Bahn-Eingang zu. Beim Hinabgehen stopfte ich die Süßigkeiten für Laura in die Tasche und hoffte nur, daß sie nicht zu sehr schmolzen. Um sie nicht zu zerdrücken, blieb ich in der U-Bahn stehen und lauschte den Gesprächen um mich herum. Als ich die Treppe heraufkam, war der Himmel über Staten Island und der Bay grau; noch vor Einbruch der Nacht waren Gewitter angesagt, und ich war froh darüber. Es würde die Luft reinigen. An diesem Abend sollte ich einen Vortrag im anderen Teil der Stadt halten, und da sich das Thema um zurückgebliebené Kinder drehte, hatte ich die Schwestern durch die Oberin offiziell eingeladen.
Auf meinem Weg zum Heim fiel mir auf, wie sehr es sich in meinen Augen seit dem Schneetag verändert hatte, an dem Dorothy mich zum erstenmal hinführte. Jetzt machte es einen fast freundlichen Eindruck, so sehr war es für mich mit menschlicher Güte verbunden. Ein paar Kinder spielten an einem Hydranten, den ein Polizist gerade für sie aufgedreht hatte. Ein großer, braungebrannter Junge stülpte eine alte, durchlöcherte Bierdose über die Öffnung, und die Kinder hüpften wie Äffchen in dem künstlichen Regen herum. Ich würde sogar die Gegend vermissen.
Denn in diesem Sommer sollte ich meine Stunden mit Laura unterbrechen. Mitte Juni zog das Heim jedes Jahr mit Personal und Kindern an die See; man wollte auch diesen einsamen Kleinen den Eindruck verschaffen, wie andere Kinder in ein Sommerlager zu gehen. Bisher war Laura fast jeden Sommer mit im Lager gewesen, und jetzt war kaum der Augenblick, diesen Ablauf zu durchbrechen. Nur drei oder vier Schwestern blieben im Heim zurück und sahen dort nach dem Rechten.
Ich traf Laura draußen auf dem Spielplatz und ging ein wenig mit ihr in der dampfenden Hitze spazieren. Wir sahen zu, wie ein paar Kinder durch bunte Tunnels sausten und andere unter der Aufsicht einer Schwester im Sandkasten spielten. Ich schaukelte Laura ein bißchen.
»Ich habe dir Schokolade mitgebracht«, sagte ich schließlich. »Sie wird wohl jetzt etwas weich sein.«
Sie war weich. Laura nahm die Gabe jedoch an, entfernte das Papier und beförderte die Schokolade in den Mund. Las ich für den Bruchteil einer Sekunde ein Lächeln auf ihrem Gesicht? Jedenfalls war es der Lohn, den ich mir selbst für die Arbeit dieses Jahres zuerteilte, als ich sah, wie ihre Kiefer langsam, aber sehr entschieden kauten und ihr Rhythmus sich mit Genuß, so nahm ich an, beschleunigte. Mein Blut pulsierte. Ja, ich war sicher, daß ich zu ihr durchdrang. Ich nahm ihr das klebtige Papier aus der rechten Hand und warf es in einen Papierkorb.
»Bis September sehen wir uns jetzt nicht, Laura«, sagte ich.
Schweigen.
»Aber dann sehen wir uns wieder.«
Wir schlenderten unter den fast kühlen Schatten eines Baumes dahin.
»Ich möchte, daß du das weißt. Du fährst jetzt ins Lager…sicher wird es dir großartig gefallen. Es liegt am Meer. Erinnerst du dich daran, Laura? Du bist gern dort, nicht wahr? Und wenn du im September zurückkommst, sehen wir uns wieder, ja?«
Die Schwester, die sie zu mir auf den Spielplatz gebracht hatte, wartete auf einer Steinbank. Lächelnd nahm sie Laura wieder unter die Fittiche. Ich sah ihnen nach. War da nicht ein wenig, nur ein ganz klein wenig mehr eigene Kraft in Lauras Gang?
»Auf Wiedersehen, Laura«, rief ich ihr nach.
Ich brauchte nicht hinzuzufügen: »Paß auf dich auf.« Das würde schon jemand anders tun.
Ich drehte mich um und ging schnell in mein Büro. Ich hatte mich mit den Schwestern Paulette und Margaret dort verabredet. Sie gingen beide mit in das Lager auf Long Island, und ich wollte mich von ihnen verabschieden. Ich hatte sie persönlich zu dem Vortrag eingeladen, den ich am Abend um sechs halten sollte.
Während ich auf den Abschiedsbesuch von Lauras Gruppenmutter wartete, überlegte ich, ob wohl der unerschütterliche Glaube dieser Frauen auf mich abgefärbt hatte und ich eine Besserung bei meiner Patientin sah, die gar nicht vorhanden war.
Die Schwester erschien genau dann, als die Heimuhr die dritte Stunde schlug. Ich wußte schon, daß man seine Uhr nach den Schwestern stellen konnte, aber dieses Maß an Pünktlichkeit erschien mir fast übermenschlich. Ich erhob mich und bot ihr den Stuhl neben meinem Schreibtisch an. Dann schloß ich die Tür hinter ihr.
Schwester Paulette sah blaß und ein wenig abgespannt aus, fand ich, sie brauchte Erholung. Ihre Augen lagen sehr tief und beobachteten meine Bewegungen. Alles, was ich über diese zurückhaltende Frau wußte, war, daß sie Laura sehr liebte. Es war wichtig für mich, sie besser kennenzulernen, etwas über die Atmosphäre zu erfahren, die sie in ihrer Gruppe schuf. Denn ebenso wie eine Mutter prägt auch eine Schwester, die für Kinder verantwortlich ist, das emotionale Klima, in dem diese Kinder leben, ganz entscheidend mit. An diesem Nachmittag erfuhr ich etwas über die Atmosphäre, die Schwester Paulette um sich verbreitete — auf eine Lektion über die Grundbegriffe der religiösen Etikette war ich allerdings nicht gefaßt.
Als ich mich setzte, stand Schwester Paulette auf. Mit einer anmutigen, halb entschuldigenden Bewegung ging sie zurück zur, Tür und öffnete sie halb.
Es gab keine Klimaanlage im Heim, und mein Zimmer schien unerträglich stickig. Für eine Schwester in Tracht mußte es doppelt beschwerlich sein. Es ist jedoch meine berufliche Gewohnheit, bei Unterredungen für Ungestörtheit zu sorgen. Daher stand ich wieder auf, öffnete das Fenster und murmelte: »Wenn ich hier drinnen rauche, ist es wahrscheinlich für Sie besser so, Schwester.« Und so unauffällig wie möglich schloß ich hinter ihrem Rücken die Tür, bevor ich mich wieder an den Schreibtisch setzte.
Ich saß kaum und blickte auf — da öffnete Schwester Paulette die Tür erneut. Sie setzte sich wieder und sagte mit einem Lachen, das man fast als Kichern bezeichnen konnte: »Sehen Sie, Herr Doktor, wir haben eine Vorschrift, nach der wir die Tür immer offenlassen müssen, wenn wir einen Raum betreten, in dem sich ein Mann befindet. Ich hoffe, ich falle Ihnen nicht lästig, aber wir müssen uns nach diesen Vorschriften richten.«
Ich lächelte verständnisvoll, sagte dann aber, daß solche Vorschriften von meinem Standpunkt aus falsch seien.
»Glauben Sie, daß sie wirklich helfen?« fragte ich sie.
Sie beugte sich vor, die Stirn leicht gerunzelt: »Wie bitte?«
»Sie müssen doch eher Mißtrauen bei Ihnen hervorrufen, oder nicht?«
»Mißtrauen?«
Sie war ehrlich verwirrt, sogar beunruhigt, daß sie mir auf meine Fragen nicht vernünftig antworten konnte, also ging ich sofort zu einem anderen Thema über.
Schwester Paulette gehörte einer anderen Welt an. Sie war ein zurückhaltender Mensch, der sein bescheidenes Leben ohne Fragen und Zweifel lebte. Sie gehorchte Gott.
Wir begannen uns ernsthaft über Laura zu unterhalten, und sofort wurde die Schwester gesprächiger.
Meine Ahnung bestätigte sich nur zu sehr. Laura war so ziemlich die gleiche geblieben, die sie immer gewesen war. Wenn ich an Fortschritte glaubte, machte ich mir nur etwas vor. Dr. Clementes spöttisches Lachen schien bei diesem Gespräch über uns zu schweben.
Dann mußte ich mich wieder gegen die Überzeugung der Schwester wehren, daß Laura im tiefsten Innern lebendig sei und nur nicht zu uns durchdringen könne. Ich hatte zwar insgeheim denselben Eindruck, doch ich provozierte sie: Ich wollte etwas Ermutigendes hören, etwas, an das ich mich in den kommenden Monaten klammern konnte. Aber es war nur zu klar, daß Schwester Paulette rein intuitiv an das Problem heranging.
»Ich weiß nicht, wie es kommt, Herr Doktor«, sagte sie und bemühte sich, sich verständlich zu machen, »es ist einfach so, daß ich es immer weiß, wenn Laura an bestimmten Tagen sehr traurig ist.«
»Durch ihren Gesichtsausdruck?«
»Nicht nur das. Ach, es ist so schwer auszudrücken. Wir sind jetzt schon so viele Jahre zusammen. Daß sie nicht spricht, ist nur für die eine Behinderung, die sie nicht kennen. Für mich«, schloß sie stolz, »macht es nichts. Ich kenne ihr Herz.«
Ich schlug die Augen nieder. Das war eine unlogische Auskunft und rein fachlich überhaupt keine Hilfe. Und doch glaubte ich ihr; so, wie sie es sagte, klang es plausibel. Als sie fortfuhr, ihr streng geschnittenes Gesicht auf mich gerichtet, erkannte ich wieder ihre grenzenlose Liebe für dieses verlorene Mädchen. Es war die vollkommene Hingabe jeder Mutter, die ein benachteiligtes Kind hat.
Die Geduld der Schwester war unermeßlich, ein Tribut an den Gehorsam, den ich an ihr kritisiert hatte. Niemals zwang sie Laura zu etwas, was sie nicht tun wollte; sie wies sie nie zurecht — wie es verständlich gewesen wäre —, weil sie sich nicht zu den anderen gesellte. Das Kind und die Schwester waren eins, erkannte ich — Außenseiter, Sonderlinge, Einzelgänger, wenn man so will. Trotz der vielen Kinder im Heim, um die sie sich kümmern mußte, trotz der vielen Arbeit hatte diese Frau es irgendwie ferfiggebracht, einem behinderten, leidenden Mädchen so viel von sich selbst zu geben! In ihrer Intuition war sie über alle Schwierigkeiten hinweg zu einer Gemeinschaft des Geistes mit Laura gekommen. Als ich aufsah, um weiterzusprechen, erschrak ich zutiefst: Schwester Paulette weinte.
Sie konnte meine Gedanken lesen! Das Gesicht in Falten gelegt, den Mund zusammengepreßt, sah sie in diesem Augenblick fast alt aus. Große Tränen rollten über ihre Wangen.
»Ich versichere Ihnen …ich verspreche Ihnen, Herr Doktor, daß es Laura eines Tages besser gehen wird. Geben Sie nicht auf. Bitte. Ich bin so sicher, wie man es nur sein kann — Laura wird eines Tages sprechen und spielen wie andere Kinder.«
»Aber wir stimmen beide überein, daß in ihrem Verhalten keine Besserung eingetreten ist.«
»Es wird sehr lange dauern, Herr Doktor, sie wurde doch in einem so zarten Alter verletzt.«
Ich lächelte. »Ich gebe nicht auf, Schwester.«
Sie trocknete sich eilig die Augen, und ich ergriff meine Chance: Der Augenblick war gekommen, ein Thema anzuschneiden, das mir schon seit Monaten am Herzen lag. Ich sprach so schlicht und aufrichtig, wie ich nur konnte.
»Sie braucht ärztliche Hilfe«, sagte ich. »Ich bin überzeugt, daß Lauras äußere Erscheinung einen wesentlichen Einfluß auf ihr Verhalten hat.«
»Eine Operation?« sagte sie zweifelnd.
Ich nickte, und zu meiner Überraschung erwiderte sie sofort: »Sie haben recht.«
Ermutigt fuhr ich fort: »Da sind einmal ihre Augen.«
»Und dann auch ihr Rücken, Herr Doktor.«
Ich hielt inne. »Die Sache ist nur…«
»Was?«
»Es wird sehr teuer sein.«
»Das werden wir schon irgendwie arrangieren.«
»Wie?«
Die Schwester senkte die Lider. »Wenn es soweit ist«, war jedoch alles, was sie sagte.
Ich sah Schwester Paulette scharf an. Ich war überzeugt, sie hatte keine Ahnung, wie sie das Geld für die Operation an Laura beschaffen würde, aber irgendwie würde es ihr gelingen. Es ist eine Tragödie, daß medizinische Spezialbehandlungen für Anstaltskinder im Falle körperlicher Krankheit ohne weiteres bewilligt werden, während man solche Behandlungen, bei denen es vor allem um das geistige Wohl geht, nicht für notwendig hält — man betrachtet sie als kosmetische Eingriffe. Die Behebung von Lauras Sehfehler würde man kaum als wesentlich für ihre Gesundheit ansehen, davon war ich ziemlich überzeugt. Ich war etwas gereizt.
»Man wird Spezialisten brauchen, Schwester.«
»Ja, zweifellos.«
»Haben Sie eine Ahnung«, bedrängte ich sie, »was heutzutage eine große Operation in einem städtischen Krankenhaus kostet?«
»Ich veranstalte eine Sammlung, Herr Doktor.«
»Bei wem?«
»Bei meinen Freunden.«
Ich sah sie eine Sekunde lang sprachlos an.
»Oder wir leihen uns das Geld von einer Bank, wissen Sie, und zahlen es in Raten zurück. Das kann man«, sprach sie mir gut zu, da sie wohl meine Stimmung spürte. Draußen ertönte eine Glocke, und sie stand rasch auf. Dabei klopfte sie mir auf die Hand. »Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Doktor, wir finden schon einen Weg. Wenn es soweit ist. Warten Sie nur ab.« Dann lehnte sie sich über den Schreibtisch. »Ich bete jeden Tag, daß Laura gesund wird, und meine Gebete haben bewirkt, daß Sie jetzt hier sind. Ich muß also noch etwas mehr für das Geld beten, das wir brauchen, nicht wahr? …Und jetzt wünsche ich Ihnen einen schönen Sommer.«
Ihre Röcke wirbelten hoch, als sie hinausfegte
9
Ich sah auf die Uhr und räumte meine Unterlagen für die Ferien fort. Ich mußte meine Zeit zusammennehmen, wenn ich heute abend nicht abgehetzt zu meinem Vortrag kommen wollte.
Schwester Margaret würde bestimmt gleich da sein. Wie gesagt, lief das Leben im Heim nach der Uhr ab, was bei den Anforderungen, die hundertfünfzig Mädchen täglich stellten, auch so sein mußte, denn sonst wäre es zum Chaos gekommen. Für die meisten Schwestern war das Leben eine ständige Hetze. Sie erledigten eine endlose Reihe von Aufgaben, die »einfach nicht warten können«. Und waren die Probleme von heute gelöst, so brachte der nächste Tag eine neue Ladung.
Doch Schwester Margaret kam heute eine ungewöhnliche halbe Stunde zu spät. Sie erklärte, sie hätte gerade einer Vierjährigen in der Krankenabteilung eine Geschichte vorgelesen, und sie hätten doch beide noch sehen müssen, wie sie ausgeht. Noch ein einziges anderes Mal verspätete sich Schwester Margaret. Sie sagte: »Wissen Sie, Herr Doktor, ich war bei den ganz Kleinen, und eins hat mir die Haube heruntergerissen. Dann hat es eine Weile gedauert, bis ich den Haferflockenbrei aus meinem Haar bekam.« Sie sah mich sanft an. »Lassen Sie sich nicht entmutigen, Herr Doktor«, fügte sie hinzu. Ich glaube, ich starrte sie fassungslos an.
Diesmal sagte ich fast nichts, sondern ließ sie mit leiser Stimme schildern, wie wenige Schwestern in Psychologie und Sozialarbeit ausgebildet seien, besonders im Hinblick auf die schwierigen Probleme, die sich für Kinder in einem Heim ergäben. Es war das erste Mal, daß eine Schwester Unzulänglichkeiten in den eigenen Reihen offen zugab. Eine psychologisch ausgebildete Sozialarbeiterin, die große Erfahrung im Umgang mit seelisch gestörten Kindern hatte, begegnete mir hier sozusagen auf gleicher Ebene. Diese zimperlich sittsame Frau zeigte einen ungewöhnlichen Einblick in individuelle Motivationen und die Gründe für seelisch gestörtes Verhalten und sprach mit größter Selbstverständlichkeit darüber.
Ihre Einstellung war in gewissem Sinn das genaue Gegenteil von Schwester Paulettes Haltung. Schwester Margaret war keineswegs sicher, daß sie in den Himmel kam. Sie war ganz und gar eine Frau. Ihre Kraft war eher von dieser Welt als von der nächsten. Für sie konnte nicht jeder zum Wundertäter werden, der die Tracht anlegte, und auch die Fehler verwandelten sich dadurch nicht zu Vorzügen.
Sie war, genauso wie Schwester Paulette, nur in entgegengesetzter Weise, eine echte Außenseiterin, hielt an ihrem unabhängigen Denken innerhalb des strengen Ordens fest und hatte sich als Mensch voll verwirklicht. Man wird selten jemanden finden, der die Weltklugheit und Intelligenz der modernen Frau mit der strengen Lebensführung einer jahrhundertealten Tradition so verbinden kann, wie sie es verstand.
Für Schwester Margaret schien es sich dabei nicht um Gegensätze zu handeln. Sie lebte in dem Glauben, daß ihre religiöse Aufgabe darin bestand, anderen Menschen zu helfen. Sie hielt die konventionellen Regeln und Vorschriften für förderlich und für den einzelnen hilfreich, und wenn sie nicht dieser Ansicht gewesen wäre, hätte sie den Orden wahrscheinlich verlassen. Für diese Frau, die sich fast unauffällig zwischen zwei Welten bewegte, gab es keinen blinden Gehorsam. Wenn sie eine rebellische Halbwüchsige besänftigte, ein weinendes Kind tröstete oder eine aufgebrachte Mitarbeiterin beruhigte, spiegelte sich in ihr das Beste aus beiden Welten wider. Sie blieb eine Einzelgängerin mit der Empfindsamkeit des Künstlers, der Klugheit eines weiblichen Machiavelli und der Demut, ja, einer Heiligen.
Nachdem wir unser Gespräch über Laura beendet hatten, unterhielten wir uns über gemeinsame Freunde — über Dorothy, die immer noch eifrig im Sozialen Außendienst tätig war, über Dr. Clemente und andere, bis ihr Besuch zu Ende war. Ich bedauerte, daß ich Schwester Margaret nun eine Zeitlang nicht mehr sehen würde.
»Leider kann ich heute abend nicht zu Ihrem Vortrag kommen, Herr Doktor«, sagte Sie, »aber ich schaffe es einfach nicht.«
»Das verstehe ich schon«, erwiderte ich. »Ein andermal.«
»Ja, ich hoffe, Sie laden mich wieder einmal ein. Es freut mich so, daß Sie im Herbst weiter mit Laura arbeiten werden. Aber Sie sehen aus, als ob Sie Urlaub brauchen könnten. Erholen Sie sich gut, Herr Doktor.«
»Danke, Sie auch«, erwiderte ich mechanisch, und dann wurde mir klar, daß die Schwestern selbst niemals Urlaub nahmen. Schwester Margaret würde mit den anderen das Sommerlager für die Kinder führen. Zehn Tage im Jahr gingen die Schwestern zu Exerzitien, und diese Zeitspanne der Einkehr und geistigen Erneuerung für die kommenden Kämpfe war alles, was sie an Ferien kannten.
Schwester Margaret lächelte, als sie meine Gedanken erriet. Halb entschuldigend sagte sie: »Die Probleme der Kinder machen nie Urlaub, nicht wahr, Herr Doktor?« Sie stand auf. »Ich hoffe, Ihr Vortrag verläuft gut. Ich bin sicher, daß ein paar von uns da sein werden«, fügte sie hinzu, als wolle sie mich trösten.
Zwölf kamen. Die Veranstaltung wurde im Auftrag einer Fachvereinigung abgehalten und fand in einem Hotel in Manhattan statt. Als der erste Referent mit seiner Ansprache begann und ich die zwölf Schwestern in einer Reihe sah, klopfte ich mir im Geiste auf den Rücken. Ich hatte dazu beigetragen, daß sie einmal aus dem Heim herauskamen und auch andere Hilfsmöglichkeiten kennenlernten. Weder Schwester Margaret noch SchWester Paulette waren anwesend. Die einzige, die ich kannte, war die kleine, energische Schwester Philomene, die den Ruf besaß, eine glänzende Biologielehrerin zu sein.
10
Den ganzen Sommer über dachte ich viel über Laura nach, und als ich dann zum erstenmal wieder auf dem Weg zum Heim in der U-Bahn saß, wußte ich, daß ich den Fall nicht aufgeben konnte, obwohl meine eigene Zeit und die Praxis sehr dadurch beansprucht wurden.
Auf dem Korridor begrüßte mich Kaffeeduft. Einen Augenblick später kam Mrs. Clancy, Lauras Fürsorgerin, um die Ecke, in der einen Hand die Kaffeetasse, in der anderen die Zigarette.
»Krebs tötet«, sagte sie und verstreute Asche. »Wie geht’s Ihnen, Herr Doktor? Haben Sie den Sommer gut verbracht?«
»Ja, danke, Mrs. Clancy. Und Sie?«
Eine unnütze Frage — Mrs. Clancy hatte sich wirklich erholt. Die vierschrötige Frau war braungebrannt, munter und energisch. In einem Monat würde sie anders aussehen, besessen von den Problemen ihrer Kinder und darauf bedacht, ihnen so gut wie möglich zu helfen.
Sie erzählte mir, daß bei Laura keine Veränderung eingetreten sei. Im Lager war sie so wie immer — apathisch, nicht ansprechbar…schweigsam. Die Kinder waren Vor ein paar Tagen zurückgekommen, und Laura würde zur üblichen Stunde zu mir gebracht werden. Die altgewohnte Routine hatte mich wieder erfaßt, und im Augenblick war nicht abzusehen, wann ich wieder davon befreit wäre.
In meinem Büro war großreinegemacht worden, typisch für die Gründlichkeit, die im Heim herrschte.
Auf meinem Schreibtisch lag eine Notiz der Oberin, in der sie mich nach den Sommerferien formell, aber freundlich begrüßte.
Ich sah rasch die Post durch, die in einem Mäppchen auf meinem Schreibtisch lag. Darin prüfte ich nach, ob die Farben, das Papier und die Buntstifte, um die ich schon vor den Ferien gebeten hatte, da waren. Nichts fehlte, was ich bei meiner Arbeit mit Laura brauchen würde — nicht einmal die Putzlappen, die man stets zur Hand haben mußte, wenn ein Kind mit Fingerfarben spielt. Sonst kann es vorkommen, daß das ganze Büro beschmiert wird und man selbst dazu.
Auf die Minute pünktlich sah ich Laura, von einer Schwester begleitet, den Gang entlang auf mein Büro zukommen.
Das Kind hielt sich an der Wand und tappte langsam vorwärts. Hin und wieder wurde es von der Schwester gestützt.
Laura war die gleiche geblieben. Und wenig später saß sie in der üblichen Art neben mir — nach vorn gekrümmt, die Augen auf den Boden gerichtet, eine Hand ins Gesicht gedrückt. Die einzige sichtbare Veränderung war, daß ihre Nase nicht mehr tropfte.
Obwohl ich sie herzlich begrüßte, versuchte ich diesmal alle Fragen zu vermeiden, um sie nicht zu Antworten zu drängen. Da es ein warmer Tag war, entschloß ich mich nach einer Weile, mit ihr spazierenzugehen; es lagen noch genug Monate vor uns, in denen wir drinnen bleiben mußten.
Es war der langsamste Spaziergang, den ich je gemacht habe. Aber auch einer der aufregendsten, wie sich herausstellte.
Wir kamen nur mühsam vorwärts. Ich spürte die verstohlenen Blicke der vorübergehenden Erwachsenen, das offene Starren der Kinder. Ich versuchte, unsere Schritte möglichst an Läden vorbeizulenken, damit ich Bemerkungen über die Schaufenster machen konnte.
»Sieh dir all die Schuhe an, Laura, sie sind gerade repariert werden. Und diese da kommen noch an die Reihe.«
KURZPARKZONE. Ein Altwarenhändler. Eine Zweigstelle des Gesundheitsamtes, die offensichtlich nicht mehr in Betrieb war. Prospekte baumelten nutzlos von Haken.
Jemand ging vorbei und sagte: »Diese Strolche werden …«
Eine Aufschrift quer über einen Bretterschlag. Dann eine Frau mit einem Kind an der Hand. »Paß auf den Randstein auf«, sagte sie.
Ich wischte mir das Gesicht mit dem Taschentuch. Was würde geschehen, wenn das so weiterginge — immer weiter? Wenn es mir niemals gelänge, zu Laura durchzudringen, niemals?
An der Ecke, an der wir die Straße überquerten, roch es nach Würstchen und Sauerkraut. Kinder standen nach Hot Dogs und Limonade an. Der Verkäufer hatte einen bunten Schirm über seinem Karren und ein gefurchtes Gesicht. Aus irgendeinem Grunde wußte ich, daß es nur das Gesicht eines Italieners sein konnte.
»Va ben’?«
»Non c’é male!«
Ich unterhielt mich ein bißchen mit ihm, und als die Jungen alle abgefertigt waren, bezahlt hatten und auf quietschenden Rollschuhen davonstürmten, bestellte ich auch einen Hot Dog.
»Und für die piccola… für die Kleine auch?« fragte er mit gütiger Stimme.
Ich glaube, in diesem Augenblick sah ich Laura fast beschwörend an. Würde sie sich niemals ändern?
»Möchtest du einen, Laura? Sie sind gut.«
»Natürlich möchte sie einen«, sagte der Verkäufer, schichtete seinen buttrigen Senf zwischen die heißen Würstchen und das aufgeschnittene Brötchen und reichte es ihr. Sie nahm es sofort.
Ich versuchte möglichst zu verbergen, daß ich sie beobachtete, während ich bezahlte. Hand in Hand wanderten wir weiter und kauten dabei die köstlichen Würstchen.
Es war eine geschäftige Gegend, in der wir uns jetzt befanden. In kleinen Läden war ein lebhaftes Hin und Her; Lastwagen entluden ihre Ladungen; Kinder, die aus der Schule kamen, hüpften vor ihren Eltern einher; Zeitungshändler und Süßwarenkioske waren von Jugendlichen umlagert.
Eine besonders lebhafte Gruppe spielte auf dem Gehsteig; die Mädchen hüpften der Reihe nach über ein Seil, und die Jungen spielten Schlagball. Weiter hinten auf der Straße bemerkte ich die Bande auf den Rollschuhen. Langsam gingen wir weiter.
Wir kamen an noch mehr Läden vorbei, und hin und wieder machte ich lakonische Bemerkungen zu meiner Schutzbefohlenen. Zu diesem Zeitpunkt wurde mir bewußt, daß eine Art Angriffsstimmung in der Luft lag, wie man sie in jeder Großstadtstraße spüren kann. Die vier oder fünf jungen Burschen auf den Rollschuhen waren jetzt hinter uns auf einer kleinen Anhöhe und lachten und johlten miteinander. Diese ziemlich harmlosen, sich zur Schau stellenden Bengels betrieben einen Sport meiner eigenen Jugend: Sie rasten auf ihren Rollschuhen hinter irgendeinem Opfer, möglichst einem Mädchen, her und ließen im letzten Moment eine Art Indianergeheul ertönen, das ihre Beute in Schrecken versetzen sollte. Vorsichtshalber führte ich Laura aus der Gefahrenzone hinaus in eine Seitenstraße.
Plötzlich stürmte die Bande um die Ecke. Berauscht von ihrer Jugend, schwangen sich die Burschen über den unebenen Gehsteig, wobei sie mühsam das Gleichgewicht hielten. Ich begann, fieberhaft zu überlegen.
Sie würden an uns vorbeikommen, auf uns treffen. Das war unvermeidbar. Aber sie konnten ihre überschüssige Kraft kaum an einem Krüppel wie Laura auslassen. Es konnte jedoch auch sein, daß sie ihr einen Schock versetzen wollten. Und in diesen Bruchteilen einer Sekunde war ich nicht so sicher, ob dies nicht das beste für meine Patientin sein würde.
Ich habe schon erwähnt, daß es dem Schizophrenen schwerfällt, zwischen Phantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden. Aber ich wollte, daß sich Laura etwas vorstellte. Als die lärmenden Rollschuhläufer näher kamen, war ich daher glücklich, als sie sich an mich klammerte.
Vorstellungskraft, verbunden mit Wahrnehmung, ist wesentlich für eine gesunde Anpassung an die reale Welt, doch bedingt die Vorstellungskraft auch, daß der Mensch sich in gewisser Weise in sich zurückzieht. Sie kann daher ironischerweise die Ursache einer Geisteskrankheit sein. Laura preßte sich an mich. Schreiend und kreischend kamen die vier oder fünf Rollschuhläufer jetzt auf uns zu. Ein ohrenzerreißender Lärm herrschte. Da packte Laura meinen Arm!
»Paß auf!« schrie einer der Jungen.
»Wir kommen dich holen«, ein anderer.
Laura umklammerte meinen Arm fester. Ich sah ihr angespanntes, hochrotes Gesicht. Ihre erschreckten Augen bewegten sich, lebten. Beinahe behende sprang sie aus dem Weg. Dann legte sie einen Arm um mich. Sehr verängstigt und hilflos weinend hielt sie sich zum Schutz an mir fest. Ich hatte sie noch nie vorher so maßlos weinen sehen, und als sie in diesem Augenblick mit tränenüberströmtem Gesicht zu mir aufsah und nach Luft rang, muß sie sich gewundert haben, warum ich lächelte.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Laura, keiner tut dir etwas. Die Jungen haben nur gespielt. Sie sind jetzt fort, siehst du?«
Eben hatte ich Laura zum ersten Male gesehen — den hinter der Maske verborgenen Menschen, das verschreckte Kind, dessen Verschanzung für eine Sekunde durchbrochen worden war. Sie hatte in einem Angstmoment ganz normal reagiert. Wie jeder andere hatte sie nach Schutz gesucht. Laura war nicht geisteskrank.
Als wir am Heim angelangt waren, hatte sie ihr übliches, isoliertes Verhalten wieder angenommen, aber mir war zumute, als müßte ich singen.
»War der Spaziergang schön, Herr Doktor?« fragte die Schwester an der Tür meines Büros.
»Ja, Schwester, sehr schön, danke.«
»Komm, Laura, wir gehen zurück in den Schlafsaal, nicht wahr?«
Die Schwester führte sie hinaus. Ich starrte aus dem Fenster auf die Straße, ohne etwas wahrzunehmen. Im Geiste sah ich ein einsames Mädchen, vom Leben bitterlich mißhandelt, daß sich zum Schutze an ein anderes menschliches Wesen wandte. Ich konnte ihre Arme beinahe immer noch um mich spüren. Meine Aufgabe war es jetzt, Laura dazu zu bringen, dieses Vertrauen zu entwickeln und zu verstärken.
Als die Bedrohung von außen immer heftiger wurde, wie es bei den Rollschuhläufern der Fall gewesen war, hatte sie die Sicherheit ihrer inneren Welt verlassen und Hilfe gesucht. Laura brauchte sowohl einen Grund, um aus sich herauszugehen, als auch einen Menschen, zu dem sie sich flüchten konnte. In ihrem tiefsten Innern wollte sie zugänglicher sein. Begann sie endlich, zu ihrer Umwelt Beziehungen aufzunehmen?
Nur die kommenden Monate würden es zeigen. Ich mußte warten — warten, bis Laura mich wieder brauchte.
11
Ich hatte also in bezug auf Laura nicht unrecht gehabt. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, daß Schwester Paulette schon immer recht hatte.
Obwohl in den folgenden Monaten, soweit es meine Stunden mit Laura betraf, nur die Jahreszeiten zu wechseln schienen, spürte ich doch gewisse Anzeichen einer Veränderung, die ich bisweilen auch dringend brauchte, um nicht mutlos zu werden.
Das Mädchen verhielt sich nach dem Vorfall mit den Rollschuhläufern sofort wieder wie üblich. Ja ihre Teilnahmslosigkeit konnte kaum übertroffen werden. Trotz allem spürte ich ihre Gegenwart, ich fühlte, daß sie reagierte und wachsam war. Während der langen Monologe gab es Augenblicke, in denen sie den Kopf hob, ich ihr ins Gesicht sehen und einen Kontakt von Auge zu Auge herstellen konnte. Zur Beruhigung sagte ich mir, daß Laura immer zu den Kindern gehört hätte, in denen innerlich mehr vor sich geht, als an der Oberfläche sichtbar ist.
Das zeigte sich auf verschiedene Weise. So brachte die Musik der Spieldose auf meinem Tisch fast unmerklich Reaktionen auf Lauras Gesicht hervor, und wenn sie auch nicht sprechen konnte, so war es doch, als würde sie mir antworten. Die Folge war, daß auch mir die Worte irgendwie leichter zuflossen. Ich lernte eine Art neuer Sprache. Ein Rhythmus, eine subtile Form der Verständigung entwickelte sich zwischen uns.
Auf unseren gemeinsamen Spamergängen führte ich Laura auf den Spielplatz des Heims, wo wir die Zeit auf der Schaukel und neuerdings auch auf der Wippe verbrachten. Besonders letztere stellte ebenfalls eine Beziehung zwischen uns her, denn Laura mußte auf mein Balancieren eingehen. Sie fürchtete sich jetzt vor beiden Geräten nicht mehr, und beide erregten sie offensichtlich auf irgendeine Art.
Als es zu kalt wurde, um hinauszugehen, verbrachten wir unsere Zeit in meinem Büro, das jetzt mehr einem Spielzimmer glich. Behutsam nahm ich ein Spielzeug nach dem anderen aus den Regalen und stellte sie auf meinen Schreibtisch, so daß sie in ihr Gesichtsfeld kamen, ohne ihr aufgezwungen zu werden. Und ich redete und redete.
In dieser Zeit wurde ich beinahe zum Fachmann auf dem Spielzeugsektor. Zuvor hatte ich keine Ahnung gehabt, welche Wirklichkeitstreue hier herrscht. Wenn ich in diesem Winter an Schaufenstern vorbeikam, fielen mir, dank der Bedürfnisse meiner Patientin, Puppen auf, die essen konnten, urinieren, sabbern, aufstoßen, die Zähne bekamen, »Mama« schrien und sangen (auf einem Transistor innen lief eine Platte ab). Manchen konnte man die Fußnägel abnehmen, um Nagellack aufzutragen; andere stellten sich als echte Babypuppen mit allen anatomischen Einzelheiten heraus, wenn man sie auszog. Kein Püppchen, das nicht mit einem Fläschchen, mit Seife, Zellstoff, Schnuller, Tupfer zur Reinigung der Ohren oder, wie ich in einem Fall feststellte, einer Klistierspritze ausgerüstet war. Es soll keiner behaupten, daß die Amerikanerin nicht darauf vorbereitet wird, ihre Kinder aufzuziehen.
Trotzdem ging mir allmählich bei Laura der Stoff aus, und ich wußte auch nicht mehr, was ich ihr erzählen sollte. Da entdeckte ich eines Tages ein großes Puzzlespiel und kaufte es. Es bestand aus zweihundertfünfzig Einzelteilen und beschäftigte uns fast einen Monat lang.
Es stellte eine hübsche Szene dar, einen Bauernhof mit einem anheimelnden Haus unter Bäumen, um das herum verschiedene Tiere grasten. Es war bunt und reizvoll, und als ich es allmählich vor Laura zusammensetzte, konnte ich nach Herzenslust über die noch fehlenden Teile sprechen. Und während ich diese in der Schachtel suchte, beobachtete ich Laura aus einem Augenwinkel. Manchmal hob sie den Kopf hoch, und ihre Augen bewegten sich, als wolle sie mir bei der Suche nach dem Stück helfen. Ich erreichte also meinen Zweck: ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, ohne daß sie sich dessen bewußt wurde; ihre Anteilnahme an Dingen der Außenwelt zu wecken, ohne daß dabei direkte Forderungen an sie gestellt wurden.
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Schon wieder stand ein Weihnachtsfest vor der Tür. Gänge und Hallen im Heim erstrahlten im Schmuck, und jedesmal, wenn ich jetzt kam, hörte ich, wie eine Gruppe Mädchen Weihnachtslieder übte. Ich behandelte Laura nun seit einem Jahr, und ich war nicht sehr weit gekommen.
Ich habe mich daran gewöhnt, meine Zeit in dem Heim nach den Weihnachtsfesten zu berechnen, zu denen ich stets eingeladen wurde. Sie werden mir immer in Erinnerung bleiben. In der Vorweihnachtszeit waren die Schwestern stets hektisch betriebsam und so aufgeregt wie Teenager. Ich sah sie unsicher auf Leitern stehen und Rauschgoldgirlanden in den Zimmern der Mädchen aufhängen. Oder ich beobachtete, wie sie den Baum vor der Kapelle mit Glühbirnen besteckten und dabei jede Vorschrift der Feuerschutzpolizei brachen, denn ihre Verlegung der elektrischen Leitungen war verheerend. Oder ich begegnete ihnen in der Vorhalle, wo die Pakete mit Spielzeug, Süßigkeiten und Puppen eintrafen und wo jede Schwester aussortierte, was ihren bestimmten Kindern gehörte.
Die Schwestern achteten darauf, daß jedes ihrer Kinder wenigstens einen Gegenstand erhielt, der auf seinem Wunschzettel stand. Das bedeutete ein ständiges Einkaufen und Organisieren. Jedes Geschenk wurde einzeln verpackt, mit dem Namen des Empfängers und einer persönlichen Botschaft versehen. Diese Arbeiten wurden meist zusätzlich sehr spät in der Nacht oder am ganz frühen Morgen durchgeführt. Es war erstaunlich, daß die Schwestern nicht vor Erschöpfung zusammenbrachen.
Als ich in jenem Jahr am Heiligen Abend mit Schwester Margaret durch die Korridore ging, lachten und spielten die Kinder und waren sehr vergnügt. Die reine Freude, die hier überall herrschte, sprach für sich selbst. Jedes Kind, das ich hier sah, hatte Unglück kennengelernt. Es war ein Wunder, daß sie überhaupt noch lachen und spielen konnten — der schönste Lohn für die Schwestern.
Wir gingen nacheinander in die Wohnräume. Die Mädchen eilten auf uns zu, zerrten an uns und umfaßten uns. Wir mußten bleiben, Eis und Kuchen essen und ihre kleinen Darbietungen anhören. Manche Gruppen sangen ein Weihnachtslied, andere tanzten, und die ehrgeizigeren spielten ein Weihnachtsstück, vielleicht ein Krippenspiel mit einer naturgetreuen Krippe.
Als ich zu der dritten Gruppe kam, hatte ich bereits genug Eis und Kuchen für die nächsten fünf Jahre gegessen. Aber es war unmöglich, die Kinder zurückzuweisen.
»Lucy ist zur Zeit verrückt nach Tomaten-Ketchup«, erklärte Schwester Margaret, als wir wieder nebeneinander über den Korridor gingen. »Ich konnte ihr welches für ihr Eis verschaffen.« Ich erinnerte mich an das blasse Gesicht mit dem Ketchup-Klecks in einem Mundwinkel; ich hatte es für Erdbeermarmelade gehalten. »Und dann Betty, die praktisch nur von Crackers und Erdnußbutter lebt. Wir wollen den Kindern ihre Vorliebe für bestimmte Lebensmittel wenn möglich nicht nehmen. Aber bei den ganz Kleinen«, schloß sie in ihrer zerstreuten Art, »ziehe ich die Grenze bei drei Kaugummikugeln pro Tag.«
»Ich würde Laura gern einen wirklich großen Baum zeigen und beobachten, wie ihre Augen aufleuchten«, sagte ich. »Im Rockefeller Center steht ein riesiger dieses Jahr.«
»Eine fast siebzehn Meter hohe Tanne«, sagte Schwester Margaret leise, und ich war versucht zu sagen: »Haben Sie sie etwa selbst bestellt?« Doch als ich sie ansah, hatte sie die Stirn gerunzelt. »Sind Sie entmutigt, Herr Doktor, wegen Laura?« fragte sie.
»Nun ja, ich kann vielleicht eine ganz leichte Reaktion bei ihr feststellen. Bei der Arbeit mit dem Puzzlespiel, von dem ich Ihnen erzählt habe. Im neuen Jahr möchte ich gern ein Modellhaus kaufen und es mit ihr zusammensetzen.«
Die Frau lächelte mich offen und vertrauensvoll an. Sie berührte meinen Arm. »Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Doktor. Ich weiß ganz sicher, daß Laura bald mit uns sprechen wird.«
Wir standen jetzt vor einer offenen Tür, aus der Licht strömte und Gesang ertönte. Wir betraten den Raum. Ich war in Lauras Abteilung angelangt. Schwester Paulette kam sofort auf mich zu und zog mich mit sich.
»Möchten Sie nicht etwas Eis und Kuchen haben, Herr Doktor?« fragte sie.
»O bitte, O bitte«, ertönten hohe Kinderstimmen um mich herum.
Automatisch nahm ich die riesige Portion Schokoladeneis und das große Stück Kuchen in Empfang. Ein Kind zupfte an meiner Hose, weil es mir den neuen Puppenwagen zeigen wollte. Ein anderes pries die Schönheit seiner Stoffpuppe. Aber ich hörte nur halb zu. Meine Augen suchten jemanden.
Es war nicht schwer, Laura zu finden, denn sie war die einzige, die nicht lachte, spielte, rannte oder sang. Sie saß allein in einer entfernten Ecke und aß langsam ihr Eis.
Ich entschuldigte mich bei Schwester Paulette, durchquerte, immer noch den Teller in der Hand, den Raum und ging auf sie zu. Sie machte keine Bewegung. Neben ihr stand ein leerer Stuhl, und ich setzte mich darauf.
»Gut, nicht wahr?« sagte ich und bewegte meinen Löffel im Takt mit dem ihren. »Ich glaube, das ist mein Lieblingseis.« Sie sagte nichts. Ich beugte mich zu ihr hinab. »Frohe Weihnachten, Laura«, sagte ich.
Sie sah zu mir auf. Dann wandte sie sich wieder ihrem Eis zu. Ich bemerkte, daß die Karte, die ich ihr geschickt hatte, über ihrem Bett hing.
Ich blieb eine Zeitlang bei ihr, dann ging ich.
»Frohe Weihnachten«, sagte ich noch einmal, bevor ich aufbrach. Und wieder blickte mich ihr seltsames, vernarbtes Gesicht stumm an.
Ich bedankte mich bei der Schwester für die Einladung und fragte leise, ob Laura, so wie viele anderer Mädchen, den Weihnachtsfeiertag bei einer Familie verbringen werde. Ihr mitleidiges Lächeln sprach Bände. Laura würde im Heim bleiben.
»Sie scheint es so zu wollen, Herr Doktor.«
12
Als mein zweites Jahr mit Laura begann, war mir klar, daß ich wenig Grund zu Optimismus hatte. Gleichzeitig hatte ich jedoch das Gefühl, daß irgend etwas erreicht war; einen Augenblick lang wenigstens hatte ich das verängstigte Kind hinter der Maske des Schweigens erblickt. Außerdem hütete ich mich davor, zuviel von ihr zu erwarten; ein hypersensibler Mensch wie Laura könnte meine Enttäuschung sehr wohl spüren und sich dann nur um so mehr in die Welt der Phantasie zurückziehen. Die Fähigkeit von Patienten, die Gefühle ihrer Therapeuten intuitiv zu erfassen, ist bekannt; oft ist sie geradezu unheimlich. Diese Risiken mußte ich in Kauf nehmen. Und das Jahr begann gut — dank dem Spiel aus Plastikbausteinen, das ich Schwester Margaret gegenüber erwähnt hatte.
In jeder Stunde mit Laura beschäftigte ich mich nun damit, aus einer komplexen Auswahl von ineinanderpassenden Einzelteilen ein Haus zu bauen. Was meine Patientin dachte, weiß ich nicht; ich selbst aber staunte immer wieder über die sinnreiche Konstruktion dieses Spielzeugs, als nach und nach, vom Fundament bis zum Dach, ein höchst wirklichkeitsgetreues Haus auf meinem Tisch entstand. Im ganzen brauchten »wir« drei Monate dazu. Und ständig beobachtete ich Laura dabei.
Ich las zuerst die Gebrauchsanweisung laut vor und steckte dann die Teile langsam zusammen. Ich wußte, daß mein Werk sie immer mehr fesselte. Ich tat mein möglichstes’, um eine Gemeinschaftsarbeit daraus zu machen, und gelegentlich beugte sie den Kopf vor, wenn sie auch das Gesicht immer noch mit der Hand bedeckte. Sie saß auf ihrem Stuhl und beobachtete gespannt, wie ich jeden Baustein an die passende Stelle schob. Ihre Augen folgten wie hypnotisiert den Bewegungen meiner Hand, und hin und wieder wandte ich einen Trick an, um sie aus sich herauszulocken: So steckte ich absichtlich zwei falsche Bausteine zusammen oder ließ ein Stück fallen und beobachtete dann, wie ihre Augen es bis zum Boden verfolgten. An manchen Nachmittagen schien ihr Blick von meiner Hand zu der Gebrauchsanweisung zu wandern, so als wolle sie den nächsten Zug bereits voraussehen.
In solchen Augenblicken drängte es mich, sie zur Mithilfe aufzufordern. Ich hatte jedoch Angst, zu weit zu gehen, sie so zu erschrecken, daß sie sich noch mehr in sich zurückzog. Trotzdem war es erfreulich zu wissen, daß ich wenigstens ihre Aufmerksamkeit erregt und sie beinahe zum ersten Male mit der Außenwelt in nähere Berührung gebracht hatte. Überdies war die Brücke, die ich zwischen uns schlug, symbolisch: Ich baute etwas, das sie noch nie gehabt hatte — ein Haus, ein Heim. Ich hatte das Gefühl, daß dieses Spiel die Basis für die zuverlässigste und sicherste Beziehung bildete, die ich zu diesem Zeitpunkt zu ihr herstellen konnte. Es mußte eine absolut verläßliche Beziehung sein.
Ich bin jedoch kein Techniker, und mir wurde, als ich mich mit der höchst komplizierten Gebrauchsanweisung herumschlug, bald klar, daß die heutigen Spielzeugfabrikanten bei den Kleinen eine ganze Menge Vorkenntnisse voraussetzen. Manchmal mußte ich die schwierige Anweisung mit nach Hause nehmen und dort studieren, bevor ich Laura wieder sah, damit ich sicher sein konnte, daß unsere Stunde glatt und produktiv verlief.
Es war eine sehr realistische Behausung. Wenige Menschen konnten es besser haben. Die Türen waren eingehängt, die Fenster ließen sich beinahe besser öffnen und schließen als meine eigenen, und das Ganze war so eingeteilt, wie es ein typisches Haus mit drei Schlafzimmern ist. Das Dach konnte man zurückklappen und dann das Innere betrachten.
Als »wir« mit unserem Bau fertig waren, stand er mit einer stolzen Länge von fünfundsiebzig und einer Höhe von dreißig Zentimetern vor uns.
Der Nachmittag, an dem ich das Haus möblieren wollte, war ein regnerischer Märztag. Bevor Laura, halb gestützt von einer Schwester, ihren langen Weg den Gang entlang machte, brütete ich über den einzelnen Möbelstücken. Und die beiden überraschten mich dabei. Die Schwester lächelte und setzte Laura neben mich. Ich begann mit ihr über unser Problem‘zu sprechen. Meine Unsicherheit mußte sich sehr stark bemerkbar gemacht haben, so daß ihre Scheu gelöst wurde; denn etwas Ungewöhnliches geschah.
Es war noch nie meine Stärke, auszutüfteln, wohin man die Möbel stellen soll, und ich habe immer gestaunt, mit welcher Leichtigkeit Frauen genau die richtige Stelle für irgendein Sofa oder einen Stuhl finden. Nun, hier sah ich mich der gleichen Schwierigkeit gegenüber — wohin mit den Miniaturstücken? Ich fing mit einem »alten« Lehnstuhl an und stellte ihn neben den Kamin, in dem künstliche Holzscheite anheimelnd »glimmten«. Und plötzlich merkte ich, daß ich Lauras Aufmerksamkeit gefesselt hatte. Es war fast körperlich zu spüren. Sie war restlos in Bann gezogen. Ich setzte meine Tätigkeit langsam und unschlüssig fort, gab dazu Kommentare ab und äußerte meine Zweifel.
Im Gegensatz zum Zusammenfügen des Puzzlespiels und der Errichtung des Hauses mußte man beim Möblieren eine Wahl treffen. Persönlicher Geschmack spielte eine Rolle. Ich gruppierte gerade ein paar Stühle um einen Tisch, als Lauras Hand mein Handgelenk streifte. Sie griff über mich in das Haus hinein und stellte die Möbel um.
Ich werde diesen Augenblick niemals vergessen. Mein Herz schlug vor Freude, als Laura mit sicheren Händen, festem Griff und fast glänzenden Augen die Stücke umsetzte. Ihre Befriedigung war deutlich zu spüren. Sie war vollkommen vertieft. Innerhalb von Sekunden hatte sie alles verändert. Es war, als hätte sie es schon seit Wochen im Geiste geplant.
»Aha«, sagte ich, »dahin gehören sie also.«
Sie wußte genau Bescheid. Sie war mir zu Hilfe gekommen.
Ich reichte ihr weitere Einrichtungsgegenstände. Auch diese fanden sofort ihren Platz.
»Du hast recht«, sagte ich, »das paßt dort gut hin.«
Es fiel mir schwer, gleichmäßig zu sprechen. Wieder hatte sie sich aus ihrem Schneckenhaus herausgewagt. Und als ich zusah, wie sie so sicher das Puppenhaus einrichtete, kam es mir vor, als beobachtete ich die Bewegungen ihrer Augen, Arme und Hände zum allerersten Mal — als hätte keiner zuvor diese Bewegungen gesehen. Mir war zumute wie jemandem, der ein gelähmtes Kind die ersten Schritte tun sieht oder ein Kleinkind zum erstenmal sprechen hört. Man sagt, es gäbe einen Engel, der über den Dächern schwebt, in die Häuser hineinschaut und denen, die in Not sind, hilft. Als ich Laura jetzt mit verhaltenem Atem zusah, war sie eine Zeitlang dieser Engel für mich. Und ich war glücklich und wollte ihr zeigen, daß ich sie gern hatte.
Eine Schwester stand in der Tür.
»Sehen Sie«, sagte ich stolz, »was wir gemacht haben. Wir haben ein Haus eingerichtet.«
»Wie hübsch!«
»Laura hat die Möbel hineingestellt.«
Die Schwester bewunderte unser Werk höflich, und als sie das Mädchen hinausführte, schloß ich behutsam das Dach. Ich war sicher, daß Laura einen letzten sehnsüchtigen Blick darauf warf. Mein häßliches Entlein war jetzt eine Prinzessin.
Obwohl es zu früh für übertriebenen Optimismus war, hielt ich in meinen Aufzeichnungen fest, daß dieser denkwürdige Nachmittag nicht nur das Ausmaß ihres Vertrauens, sondern vielleicht auch den Beginn ihrer Rückkehr zur realen Welt kennzeichnete.
Ihre offensichtlich durchdachte Anordnung der Möbel zeigte mir, daß sie an dem Haus und daher auch an seiner symbolischen Bedeutung stark interessiert war. Und an diesem Interesse erkannte ich ihr Verlangen, ein wirkliches Heim zu haben, Mitglied einer Familie zu sein. Ich zog meine Schublade auf. Dort lag die Familie versteckt — ein Puppenvater, eine Puppenmutter und drei Puppenkinder.
An diesem Abend verließ ich den Raum mit federndem Schritt. In der Vorhalle spielten Mädchen, die gerade aus der Schule gekommen waren. Sie wirbelten einander herum, daß die Röcke unter den kurzen Mänteln flogen. Während ich meinen Schal umband und den Mantel zuknöpfte, beobachtete ich diese wilden Spiele und die Gesichter, die vor Aufregung fast wie im Fieber glühten.
Eines Tages, so schwor ich mir im stillen, würde auch Laura unter ihnen sein. Draußen war es stockfinster. Ein Lichtergewirr stand über Manhattan. Die Sterne kamen hinter Wolkenmassen hervor und flimmerten auf einmal sehr hell, bevor die ziehenden Wolken sie wieder verdeckten. War der lange Winter endlich vorbei?
13
Im wörtlichen Sinne traf es zu, im übertragenen jedoch brachten die ersten Blumen keine neue Hoffnung für, mich.
In der Woche nach »Lauras Hilfe im Haus«, wie ich es jetzt nannte, nahm sie die kleinen Puppen, die ich hervorholte — Mutter, Vater und alle drei Kinder —, und setzte sie sorgfältig in die passenden Räume: die Frau in die Küche, den Mann bequem ins Wohnzimmer und die Kinder in die kleinen Betten. Durch das Spiel rekonstruierte sie einen wesentlichen Teil des Lebens, der ihr selbst auf so tragische Weise vorenthalten worden war.
Doch nach dieser Bemühung zeigte sich bei ihr auch nicht das geringste Anzeichen einer Veränderung. Meine eigenen Gedanken und Gefühle mußte ich, das war mir klar, vorsichtig zurückhalten. Was dieser junge Mensch jetzt am dringendsten von mir brauchte, war die Bereitschaft zu Geduld, und nichts durfte sich störend dazwischendrängen. Denn wenn Laura sich entwickeln und innerlich reifen sollte, so mußte es zu ihren eigenen Bedingungen geschehen. Sie mußte das Tempo angeben, sich bei jedem Schritt sicher fühlen; ich konnte ihr nur folgen, immer bereit, ihr zu helfen, wenn sie Hilfe brauchte. Das Beispiel der Schwestern, die so mutig Geduld übten, konnte mir Kraft geben.
Abgesehen von dem Vorfall beim Bau des Hauses verlief das ganze zweite Jahr von Lauras Behandlung ereignislos. Sie blieb, wie sie immer gewesen war — schweigsam. Der Himmel wurde blauer, die Sonne stieg jeden Tag höher. Ich ging mit ihr wieder hinaus in den Garten, schaukelte sie durch die Luft und beobachtete ihr grüblerisches Gesicht und das strähnige Haar, das unter der Mütze, die ihr eine der Schwestern dieses Jahr geschenkt hatte, hervorflog. Die Blätter flimmerten in der Hitze, die Blumen, die die Kinder angepflanzt hatten, standen in voller Farbenpracht, Grillen hüpften über die Wege, aber Laura war die gleiche: immer starr Vor Spannung und mißtrauisch bei jeder Anstrengung, die ihr die Besuche bei mir abverlangten. Haltung und Bewegungen waren so gleichförmig, daß man sie mit ein paar stereotypen Sätzen beschreiben konnte, und so geschah es auch in meinen immer umfangreicher werdenden Notizen über den Fall.
Ich versuchte es mit Puzzlespielen und einer unvorstellbaren Zahl anderer sinnreicher Erfindungen, ohne das geringste Interesse in ihr wachzurufen: »Echte« Kindertelefone…»Wunder«-Seifenblasen …Modellierspiele …Autorennen …ich kannte das Angebot bald auswendig. Doch sie blieb passiv und, abgesehen von geringfügigem visuellem Interesse, teilnahmslos, außer daß sie gelegentlich die Schokolade nahm, die ich ihr anbot. Auch unsere Spaziergänge durch die Gärten und die Nachbarschaft wurden zur Routine. Jede einzelne Stunde schien sich nun quälend in die Länge zu ziehen. Ich begann die Hoffnung zu verlieren, daß ich etwas für sie tun konnte.
Ich durchforschte ihr trauriges, blasses Gesicht, das so oft Tränenspuren zeigte, und überlegte, welche Kämpfe sich wohl in ihr abspielten. Ich versuchte, meine Spannung zu verbergen.
Als sie im Herbst unverändert aus dern Sommerlager zurückkehrte und ich unsere Stunden wieder aufnahm, sanken meine Hoffnungen noch tiefer. Jetzt sah sie die Spielsachen und mich selbst nicht einmal mehr an, sondern starrte auf die Wand oder ihre Hände. Ich sagte mir immer wieder, daß diese Abkapselung die einzige Möglichkeit für sie bildete, ihre übergroße Angst zu bewältigen. Denn Absonderung von der Welt bedeutete Sicherheit, bedeutete Schutz davor, wieder verletzt zu werden. Ich hielt mir auch vor Augen, daß durch unsere enge Beziehung und meine ständige kritische Beobachtung alles, was sie tat, eine übertriebene Bedeutung annahm. Bei Kindern ist der Behandlungsprozeß in einem gewissen Ausmaß eine künstlich geschaffene Situation, denn der Erwachsene wird seine Aufmerksamkeit eher dem Kind in einer Gruppe zuwenden, das Schwierigkeiten verursacht, als dem schweigsamen Einzelgänger.
Die Wochen vergingen. Zum dritten Male näherte sich für mich ein Weihnachtsfest im Heim. Ich behandelte Laura jetzt bereits zwei volle Jahre. Und doch war der Ablauf der Zeit wichtig. Wenn es Lauras geheime Absicht war, meine Ausdauer auf die Probe zu stellen, so mußte ich wie die Schwestern durchhalten und die Prüfung mit ihnen bestehen. Es war eine Herausforderung. In diesem Stadium kann man den Psychoanalytiker mit einem Blinden vergleichen, der zwar spürt, daß sich ein Fremder im Zimmer befindet, aber nicht genau weiß, wo er ist. Auch ich mußte Laura finden. Dabei half mir meine Erfahrung mit den vielen vernachlässigten Kindern, die niemals Wärme und Liebe kennengelernt hatten. Außerdem trieb mich die Beharrlichkeit an, die ich in meiner eigenen Kindheit entwickelt hatte, um die starken kulturellen Schranken zu überwinden, die mich als Kind armer Einwanderer von den anderen trennten.
Im Verlauf der Wintermonate erkannte ich langsam, daß das zweite Behandlungsjahr eine Reaktion darstellte. Für Laura war es ein Augenblick unaussprechlichen Wagemuts gewesen, als sie sich aus ihrer Isoliertheit löste und meinen Schutz suchte. Vielleicht war die Tatsache, daß ich den ganzen Sommer hindurch keinen Kontakt zu ihr hatte, schon beinahe mehr, als sie ertragen konnte, und erhöhte die Qual ihres Verlangens nach einer menschlichen Beziehung. Vielleicht empfand sie diese Trennung gar als eine weitere Zurückweisung. Dann war es allerdings besser für sie, sich in die Einsamkeit der inneren Welt zurückzuziehen. Solche Auslegungen sind keine Hirngespinste. Immer wieder sind mir Kinder begegnet, die sich buchstäblich dazu zwangen, gar nicht mehr nach Trost und Anteilnahme zu verlangen, die ihnen die Eltern versagten.
Die kalten Tage dauerten an. Auf Gängen und in Zimmern hörte man Weihnachtslieder. Wieder traf ich auf Gruppen von Schwestern, die über eine Puppe oder ein anderes Spielzeug in Entzücken gerieten.
Und wieder wurden die Dekorationen aufgehängt, und ich erkannte, wie sehr doch das Weihnachtsfest den Kindern ein Gefühl der Sicherheit und Freude gab. Wie geschickt sie beim Schmücken halfen, Girlanden aufhängten, Nüsse vergoldeten, kleine Popcorn-Bälle oder Ketten aus Beeren anfertigten!
In diesem Jahr schenkte ich Laura einen Hampelmann, denn ich hoffte, er würde ihre Phantasie anregen. Er hatte bauschige Hosen und Stelzen, die sich lustig in viele Richtungen bewegen ließen. Ich sah sie niemals damit spielen.
Das war das Weihnachten der Seifenplätzchen. Das Heim wurde von einer riesigen, altmodischen Küche aus versorgt. Ich hatte mir angewöhnt, dort ab und zu eine Tasse Kaffee zu trinken und mit der Küchenschwester ein Schwätzchen zu halten. Schwester Martha war eine korpulente, fröhliche Frau, deren buddha-ähnlicher Körper die Tracht zu sprengen drohte. Ein mindestens dreifaches Kinn quoll aus ihrer Halskrause, das fast immer bebte, weil sie ständig lachte oder Geschichten erzählte. Sie war ein echtes Plappermaul.
Schwester Martha war sehr’ stolz auf ihre Küche und führte sie reibungslos. Dieses Jahr kamen jedoch zu Weihnachten von allen Seiten Klagen über die hausgemachten Plätzchen.
Wie es sich herausstellte, hatte der Hilfskoch in der dunklen Vorratskammer ein Faß Seifenpulver mit Mehl verwechselt!
Während der Feiertage verfolgte mich Lauras Bild. Wo ich auch war — in einem Warenhaus, in der Untergrundbahn oder zu Hause —, immer sah ich ihr vernarbtes Gesicht vor mir, über das große Tränen rollten, oder die bestimmte Bewegung, mit der sie manchmal ihr biegsames Handgelenk erst hierhin und dann dorthin drehte. In jenen Tagen bildeten ihre Augen für mich den einzigen Zugang zu ihrem Wesen. Wenn sie auch schielte, so hatte sie doch im ganzen letzten Jahr angefangen zu beobachten und dadurch die Bedürfnisse ihrer verwundeten Seele offenbart.
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Das neue Jahr begann. Hinter den massiven Mauern gingen Kinder und Schwestern ihren täglichen Geschäften nach. Nach meinen Besuchen im Heim hing ich an einem Griff in der Untergrundbahn und betrachtete trübsinnig das heiter lächelnde Mädchen auf dem Werbeplakat, das aller Welt versicherte: DIE PERFEKTE BLONDINE HAT ALLES!
Zu dieser Zeit wurde mir klar, auf wie überraschende Weise Heimkinder sich Ersatzfamilien schaffen, die aus Gruppen Gleichgesinnter bestehen. Diese Gruppen spielen im Leben der Kinder eine noch fast wichtigere Rolle als die Gruppenmutter — die Schwester, die als Mutter-Ersatz fungiert.
Die Kinder suchten gegenseitig nach Anerkennung, wetteiferten um Rang und waren einander gleichzeitig durch eine Loyalität verbunden, die ich in gewöhnlichen Familien nicht häufig gefunden habe. Sie hatten ein scharfes Auge für Fehler und Mängel, sowohl körperlicher als auch geistiger Art. Die älteren Mädchen liehen sich gegenseitig Kleider, halfen sich bei den Hausaufgaben, verliehen großzügig das wenige Geld, das sie hatten, und — überaus wichtig — legten einander abends die Haare ein. Ich bin überzeugt, daß es beim Legen und Auskämmen viele traumatische Augenblicke gab.
In einer Familie kann ein Kind Anerkennung durch Erwachsene erlangen, indem es geistige Leistungen erbringt, sich nützlich macht und anderes; die Persönlichkeit des Heimkindes hängt jedoch eng von der Mitgliedschaft in der Gruppe ab. Kontaktmangel bringt daher für ein Heimkind außerordentliche Schwierigkeiten mit sich — Schwierigkeiten, die noch dadurch verdöppelt werden, daß übertriebene Eigenart von den anderen mißbilligend betrachtet wird. Das Kind, das anders ist — Einzelgänger oder Sonderling —, ist benachteiligt. Es besteht Gefahr, daß Abweichung von der Norm einfach als Fehler an sich angesehen wird, eine Fehleinschätzung, die in unserer Gesellschaft nicht unbekannt ist.
Laura litt in dieser Beziehung intensiv, denn sie war deutlich anders als die anderen. Ihre Verzagtheit und Isolierung beraubten sie jeglicher Persönlichkeit; denn diese beruht hauptsächlich auf einem Gefühl der eigenen Wichtigkeit, das entsteht, wenn wir geliebt und gebraucht werden, Sie hatte keine Familie, keine Verwandtschaft.
Am schlimmsten war es, daß die Grundvoraussetzung für menschliche Verständigung fehlte und ihr Anderssein noch betonte. Da Laura nicht sprach wurde sie auf die primitivste Stufe der Existenz hinäbgedrückt, auf der nur körperliche Bedürfnisse gefühlt und erfüllt werden. Auch das gedruckte Wort in den Geschichten, die man ihr vorlas, brachte sie nicht zum Sprechen; oft wird uns aber erst beim Aussprechen eines Wortes dessen Bedeutung wirklich bewußt.
Bevor ich mit Laura zu arbeiten begann, hatte ich keine Ahnung, wie behindert ein Stummer sein kann.
Erst später, glaube ich, konnte ich das allgemeine Erstaunen des Heimpersonals richtig würdigen, daß ich gerade Laura als Patientin ausgewählt hatte. Die Schwestern hatten mehr als genug mit aggressiven, Aufmerksamkeit heischenden Kindern zu tun, die sie täglich beinahe bis an den Rand der Erschöpfung brachten. Ein Kind lernt nur zu bald, daß der die meiste Beachtung findet, der am lautesten und rücksichtslosesten ist, genau wie im Leben.
Wenn ich daher jetzt durch die Korridore ging, fielen mir die Mädchen auf, die abseits standen und den anderen beim Spielen zusahen. Sie lutschten in dunklen Ecken am Daumen oder standen am Rande einer Gruppe um eine Schwester herum. Und ich blieb stehen und unterhielt mich mit ihnen und versuchte, Interesse an irgendeiner Einzelheit in ihrem Leben zu zeigen, wobei ich wußte, daß ich leider nur Augenblicke geben konnte. Man weiß nie, welche Möglichkeiten in einsamen Kindern schlummern und geweckt werden können.
Gegen Ende des Winters kam ich mit den Schwestern in Arbeitsgruppen zusammen und drückte dabei diese Gedanken aus. Sie waren erstaunt, daß ich Dinge betonte, die ihnen so selbstverständlich vorkamen. Von mir hatten sie fachmännische Ratschläge erwartet, nehme ich an, irgendeine hypermoderne »Methode«, mit der man das schwierige Kind ansprechen konnte. Dabei wußten sie doch genausogut wie ich, daß weiter nichts erforderlich war als menschliches Verständnis. Als Folge davon tauten sie auf. Unsere Gespräche wurden außerordentlich fruchtbar. Ich versuchte, den Geisteskrankheiten das Geheimnisvolle zu nehmen, und sie verloren die Scheu, über die täglichen Bedürfnisse ihrer Kinder zu sprechen.
In den ersten Tagen jenes Jahres hatte ich jedoch kaum eine Vorahnung, daß es zu irgendeinem Durchbruch bei Laura kommen könnte, ganz zu schweigen davon, daß wir am Rande eines heftigen Gefühlsausbruches standen.
14
Die Spieluhr, das Puppenhaus und die Puppen, die darin wohnten, beschäftigten Laura und mich nun hauptsächlich. Durch sie entstand eine gewisse Beständigkeit, und da Laura innere Sicherheit gewinnen mußte, wollte ich, daß sie in jeder Stunde das beruhigende Gefühl haben konnte, diese Dinge ganz gewiß vorzufinden.
Meistens hörte sie zu, wenn ich erzählte; und wenn ich Geschichten um die Hausbewohner erfand, wurde sie jedesmal etwas aufmerksamer. Manchmal, wenn ich im Leben dieser kleinen Leute einen Konflikt auftauchen ließ, biß sie sich auf die trockene Unterlippe oder feuchtete sie mit der Zunge an. Bei der Darstellung dieser Konflikte, die ganz normale familiäre Situationen behandelten, spiegelte sich Spannung oder Angst auf ihrem Gesicht wider. Ich wußte, daß sie Mitgefühl mit den Menschen im Haus hatte. Sie sollte ihre gelegentlichen Reibereien beobachten, sich selbst dabei aber sicher fühlen.
Auf diese Art konnte ich ihr vielleicht helfen, ihre Gefühle besser zu bewältigen. Unsere Puppen lebten ein Leben, wie Laura es nur für ganz kurze Zeit als kleines Kind kennengelernt hatte. Im allgemeinen herrschten Harmonie und Glück in der Puppenfamilie vor. Die Eltern waren in ihrer Grundhaltung liebevoll und positiv zu ihren Kindern eingestellt, und die innere Sicherheit jeder einzelnen Person kam deutlich zum Ausdruck.
So entstand im Laufe der Wochen das Bild einer normalen, gesunden Familie, deren Verantwortungsbewußtsein voll entwickelt war. Laura sollte von dieser Ebene aus einen Vergleich mit ihren eigenen Erfahrungen ziehen und die Reaktionen der anderen verstehen lernen. Aber es ging wieder sehr langsam vorwärts.
»Machen Sie Fortschritte, Herr Doktor?« fragte mich Schwester Margaret eines Abends, als sich unsere Wege kreuzten.
Ich fürchte, ich war recht kurz angebunden. »Es geht, aber Wunder kann ich auch nicht vollbringen, wissen Sie.«
Manchmal schien das Mädchen völlig gefangen zu sein, wenn sie, das Kinn in der Hand, den Mund leicht geöffnet, meinen Geschichten lauschte und zusah, wie ich die kleinen Figuren durchs Haus bewegte und sie ihren verschiedenen Tätigkeiten nachgehen ließ. Und wenn ich die Puppen laut sprechen ließ, vergaß sie meine Gegenwart, als ob ich ein Puppenspieler wäre. Die Figuren lebten. Lauras Augen weiteten sich, und sie kam näher an das Haus heran, damit sie eine bessere Sicht hatte. Denn wie alle Schielenden sah sie die Dinge hinter dem Schnittpunkt ihrer Sehlinien doppelt. Ihre Muskeln spannten sich, und mit einiger Nervosität spürte ich, daß die Zeit gekommen war, das Spiel noch einen Schritt weiter zu führen: Ich würde die Tragödie ihres eigenen Lebens spielen.
An diesem Abend machte ich mich auf den Weg zu meinem bevorzugten Spielzeugladen, um ein paar ganz bestimmte Einkäufe zu erledigen.
Ich wollte Laura mit der gleichen Situation provozieren, die für ihre Ängste und Verwirrungen verantwortlich war. Zusammen wollten wir uns ihrem Alptraum nähern.
Das große Puppenhaus in meinem Büro eignete sich ausgezeichnet als Krankenhaus oder später als Heim, aber für ihr eigenes Zuhause, in dem der Angriff auf sie stattgefunden hatte, mußte ich noch eine Nachbildung finden. Dafür waren meine früheren Gespräche mit den Meyers sehr nützlich, und ich konnte ein glaubhaftes Modell der Meyerschen Wohnung zusammenstellen, in der sich auch ein Gitterbettchen mit einer Babypuppe darin befand. Erwachsene Puppen, die ich selbst ziemlich ungeschickt als Arzte, Krankenschwestern und Helfer anzog, rundeten den Hintergrund ihres Lebens vor dem Eintritt ins Heim ab. Das Bühnenbild war fertig, das Drehbuch längst geschrieben. Ich gestehe, daß ich an dem Nachmittag, an dem Laura langsam den Korridor entlang kam, um die quälende Neuaufführung ihres Lebens zu sehen, unruhig auf der Kante meines Stuhls herumrutschte.
Mit dem üblichen Lächeln und verständnisvollem Kopfnicken überließ die Schwester sie mir. Diesmal lauschte und beobachtete Laura von Anfang an sehr aufmerksam. Ihr Gesichtsausdruck wurde lebhafter, die Lippen bewegten sich ruhelos, die umherschweifenden Augen zeigten, wie sehr sie von dem Geschehen gefesselt war.
Ich ging langsam vor, denn jetzt galt es, äußerst behutsam zu sein. Man kann nur sehr schwer feststellen, was uns aus unserer Kindheit in Erinnerung ist. Außerdem ist heute ziemlich sicher bewiesen, daß unser Gedächtnis unerfreuliche Erlebnisse zum Schutz verdrängt — wenigstens viele. Doch gerade die Tatsache, daß diese Geschehnisse innerhalb unseres Bewußtseins nicht mehr greifbar sind, führt zu unkontrollierbaren Ängsten. Diese Ängste können sich zu einem bedenklichen Gefühl der Hilflosigkeit steigern — es ist, als ob man mit Phantomen kämpfte.
Was Laura betraf, so waren ihre Ängste inzwischen so grundlegend geworden, richteten sich ganz allgemein auf alles, daß fast jeder spezifische Vorfall schon als Bedrohung angesehen wurde und eine Selbstschutz-Reaktion auslöste. Sie war wahrlich ein Mensch, der die Welt fürchtete, und ich hielt den Atem an, als ich ihr Vorstellungsvermögen in diesem letzten Experiment auf die Probe stellte.
Wesentlich war die Tiefe ihrer Ängste. Da sie nicht ausgedrückt werden konnten (sie sprach ja nicht), verstärkten sie sich wie in einem Teufelskreis und lösten sich gegenseitig aus. Die Schwierigkeit lag in ihr selbst — sie war ihr eigener Feind —, und als meine Hände über ihrem Miniaturheim verweilten, rechnete ich damit, daß sie die Puppen in ihre eigene Welt aufgenommen und sich mit ihnen identifiziert hatte.
»Schau, Laura«, sagte. ich. »Hier ist der Vater. Er sieht zum Fenster hinaus. Unten ist die Bäckerei, also ruft er vielleicht seiner Frau zu, daß sie ihm ein paar Brötchen mitbringen soll. Oder vielleicht möchte er, daß sie einen Kuchen kauft. Sie machen so gute Apfelkuchen …«
Einen Monat lang lebten wir in Lauras nachgebildetem Zuhause. Ich setzte das Spiel so lange fort, bis ich den richtigen Augenblick für gekommen hielt, um den entscheidenden Schritt zu wagen. Dabei sah ich mehr und mehr, welche ausgezeichneten Gefährten die Puppen für sie waren. Mit den fleischfarbenen, fast engelhaften Gesichtern und der wirklichkeitsgetreuen Kleidung waren sie ihr zwar vertraut, doch viel zu klein, um eine Bedrohung zu bedeuten. Sie konnte am Leben der Puppen unbemerkt und ohne Frage teilhaben und wieder daraus verschwinden. Es mußten keine Erwartungen erfüllt werden, und ich sorgte dafür, daß sie ausreichend Gelegenheit hatte, in der Vorstellung mit verschiedenen »sicheren« Situationen zu experimentieren. Ihr Einfühlungsvermögen wurde niemals verletzt.
Unser Spiel war wie ein dramatischer Filmstreifen, den man nach Belieben abstellen oder noch einmal laufen lassen, das Gemetzel beenden oder die Umarmung verlängern kann. Ich rechnete damit, daß sie sich wirklich engagierte, denn in jeder Stunde spielten wir jetzt den Beginn ihres eigenen Lebens. Und nach einigen Wochen, als sie sich zu Beginn einer Stunde neben meinen Schreibtisch setzte, begann ich: »Und das, Laura, ist jetzt die Geschichte eines kleinen Mädchens, das ich kenne. Wir wollen doch mal sehen, was geschieht, ja?«
Die Babypuppe lag im Bettchen, und ich ließ die Mutter das Kind füttern. Man konnte das Gitterbett sogar etwas schaukeln. Hunger, Liebe, das Umsorgen der Mutterhände — sie zeigten die Grundbedürfnisse des Kindes ganz klar. Es weinte, schlief, krabbelte und schrie.
Dann ging etwas schief. Die Puppeneltern dachten gar nicht daran, ihr Kind zu trösten, sondern sie wurden gereizt und ungeduldig. Sie bestraften das Kind. Ihr Verhalten dabei war widersprüchlich: Es reichte von Fürsorglichkeit bis zu Augenblicken flammender Wut.
Lauras Augen funkelten. Ihr ganzer Körper war angespannt. Bei jeder Szene, die ich spielte, wechselte sie die Stellung. Ängste flackerten über ihr vernarbtes Gesicht wie Schatten über die Wasseroberfläche. Ich merkte an ihrem immer schneller gehenden Atem, daß ihre Gefühle einem Höhepunkt zustrebten. Ich steigerte die Frustration des kleinen Kindes, als es sich vergeblich vor seinen Eltern das Herz aus dem Leibe schrie.
Für mich war es der Augenblick höchster Spannung, den wir miteinander verlebten: Ich spielte auf ihren Gefühlen wie ein Geiger auf einer Stradivari. Jetzt, wo sie derart gefesselt war, wollte ich nicht, daß sie am Ende der Stunde wieder in ihre schützende Gleichgültigkeit zurückfiel und von der Schwester in ihre »Festung« gebracht wurde. Laura mußte den Weg zu Ende gehen. Ich mußte sie mit in die Handlung verwickeln.
»Jetzt hör auf!« ließ ich die Mutter ausrufen.
»Sie schreit zuviel!« Das war der Vater, heftig und grob.
Die Handlung verlegte sich jetzt auf den Streit zwischen den Eltern. Der Vater quälte seine Frau und tobte. Die Mutter reagierte auf gleiche Weise. Ihre gegenseitigen Beschuldigungen steigerten sich langsam zur Wut. Lauras Augen gingen in einer Art hingerissener Leidenschaft von einem zum anderen; trotz ihrer Wirbelsäulenkrümmung richtete sie sich fast in ihrem Stuhl auf.
Das Kind schrie. Der Mann wandte sein kleines rotes Puppengesicht mit einem Ruck seiner Frau zu.
»Sorg dafür, daß das Gör aufhört!«
»Sorg doch selbst dafür!«
Sie stieß nach ihm, und sie schlugen sich. Ich brachte ein ziemlich überzeugendes Gepolter der Möbel zustande, winziges Geschirr klapperte. Dann taumelten sie beide unsicher ins Schlafzimmer, wo sie finster auf das Kinderbett starrten.
Laura stand auf.
Die Eltern begannen das Kind zu schlagen, und plötzlich ertönte ein schrilles Wehklagen durch mein Büro, ging mir durch Mark und Bein und schien das Heim bis in die Grundmauern zu erschüttern: »NEIN! NEIN! NEIN!«
Schwankend, mit aufgerissenen Augen und verzerrtem Gesicht zerquetscht Laura die Mutter-Puppe mit der rechten Hand, dann entriß sie sie mir mit der Kraft der Verzweiflung und hieb mit der Faust auf sie ein, wobei sie fortwährend »NEIN! NEIN! NEIN!« kreischte.
Sie stand keuchend, atemlos da —- und plötzlich fegte sie mit der gleichen fiebernden Kraft beide Puppenhäuser und ihren gesamten Inhalt mit einer einzigen Bewegung krachend zu Boden. Puppen und Puppenmöbel flogen im ganzen Zimmer umher. Sie weinte jetzt hysterisch, wiegte, halb betäubt, den Kopf, um das Gleichgewicht zu halten, und schrie immer noch gellend: »Nein …nein!« Ich nahm sie in die Arme und zog sie eng an mich, beruhigte sie und drückte ihren Kopf an mich. Sie umklammerte mich ebenfalls fest; ihr gebrechlicher Körper wurde von krampfhaften Schluchzern erschüttert.
»Alles ist gut, Laura, alles ist gut. Weine jetzt nicht mehr.«
Lauras Schreie, die sich anhörten, als wäre ein Kind in Gefahr oder hätte Schmerzen, hatten das ganze Stockwerk in Aufruhr gebracht. Mindestens drei besorgte Schwestern erschienen Sekunden später in meiner Tür. Zufällig kannte ich keine von ihnen und merkte, während ich Laura in den Armen hielt, daß sie befürchteten, ich hätte sie geschlagen. Der Anblick des chaotischen Zimmers kann auch nicht viel dazu beigetragen haben, ihre Befürchtungen zu zerstreuen. Es dauerte mehrere Minuten, bis sie davon überzeugen konnte, daß alles in Ordnung sei.
Und alles war mehr als in Ordnung. Als ich Laura beschwichtigt und wieder in ihren Stuhl gesetzt hatte und die Schwestern uns zögernd verließen, müssen meine Hände gezittert haben.
Laura konnte sprechen!
Diesmal sprach ich gleich ganz anders mit ihr, als ich es gewohnt war. Ich sprach wie jemand, der eine Antwort erwartet. Komm aus deinem Schneckenhaus heraus, versuchte ich ihr anzudeuten, ich weiß, daß du es kannst.
Sie zitterte immer noch am ganzen Leibe. Das Gesicht war tränenüberströmt, ihr Blick schmerzgequält. Angestrengt runzelte sie die Stirn, bemühte sich, Worte zu artikulieren. »Alles wird gut werden, Laura«, sagte ich, »du wirst schon sehen.«
»Ich hasse sie«, stieß sie aus, und in dem gleichen zitternden, leidenschaftlichen Ton sagte sie immer wieder: »Ich hasse sie, ich hasse sie.«
Sie war nicht mehr stumm. Mir kam es so vor, als würden diese kärglichen Worte über mich hinweghallen und durch Korridore, Gänge und Mauern bis zum Himmel schallen. Sie hatte eine Stimme, mit der sie Gedanken und Gefühle ausdrücken konnte, und in diesen Augenblicken war es für mich das großartigste Geräusch, das ich je gehört hatte. Gemeinsam hatten wir das Schweigen bezwungen.
Leben
15
Es dauerte fast eine Stunde, bis ich die abwechselnd schluchzende und wimmernde Laura wieder beruhigt hatte.
Als es mir schließlich gelungen war, führte ich sie, dicht neben ihr gehend, in ihren Schlafsaal zurück. Ich hatte es noch nie getan, aber sie klammerte sich vertrauensvoll an mich. Ihr Schweigen wurde nur durch ein paar letzte heftige Schluchzer unterbrochen.
Schwester Paulette war da, und ein Mädchen, das gerade ausgezogen wurde, spähte von einem schützenden Stuhl aus nach uns.
»Wüden Sie bei ihr bleiben, Schwester?« fragte ich. Sie nahm mir Laura besorgt ab. Ich kehrte zu den Trümmern meines Büros zurück.
Als ich die Puppen anstarrte, die zum Teil bis zur Unkenntlichkeit zerstört, zum Teil verstümmelt waren, merkte ich, wie erschöpft ich war — auch erregt, aber vor allem erschöpft. Der Vorfall hatte mich viel gekostet.
Daß mich Lauras erste Sprechversuche nicht sofort in gehobene Stimmung versetzten oder gar überraschten, beruhte hauptsächlich auf meinen Erfahrungen als Arzt. Nicht nur war ich mir der vielen Wenn bewußt, die in Lauras Zukunft vor uns lagen — meine früheren Erfahrungen mit autistischen Kindern hatten mich mit den Symptomen dieser Krankheit vertraut gemacht. Es kommt durchaus häufig vor, daß solche Kinder stumm bleiben, bis ihr Gefühlszustand einen Punkt erreicht hat, an dem sie, wie die Spezialisten es nennen, »bereit« zum Sprechen sind. Überdies wird das Wort »nein« häufig provoziert, denn man behält es als Mittel bei, die Welt in Schach zu halten.
Auf jeden Fall waren die Puppen nun tot und ihr Haus zerstört. Laura hatte es verlassen und war in die Welt der Worte eingetreten.
Das Telefon läutete, ich meldete mich. Es war Schwester Paulette.
»Ich mache mir solche Sorgen um Laura, Herr Doktor«, sagte sie. »Ich habe sie noch nie so gesehen. Ich wollte vor ihr nichts sagen, als Sie sie brachten, sie ist ein so empfindliches Kind, aber jetzt schläft sie, und ich habe mir gerade überlegt …«
Ich begann zu erklären, was geschen war, hielt aber nach einem Augenblick inne. Die Schwester war sofort überoptimistisch.
»Hören Sie, Schwester«, sagte ich, »ich möchte keine falschen Hoffnungen erwecken. Ich bin keineswegs sicher, daß Laura wieder sprechen wird …«
»Ich bin überzeugt, daß Sie es tun wird«, erwiderte die Schwester fest »Ich gehe jetzt in die Kapelle und danke Gott für das, was geschehen ist.«
Ich starrte den Hörer trübsinnig an, als sie einhängte. Es gab eine ganze Menge nüchterner Tatsachen, die zu beträchtlicher Vorsicht mahnten. Lauras psychisches Leben war ja noch voll von Unbekannten. Keiner konnte sagen, was sie über die Vergangenheit oder Gegenwart dachte. Ich hatte doch nur einen ganz flüchtigen Blick in ihr Inneres geworfen. Auf jeden Fall aber würden die nächsten vierundzwanzig Stunden in Lauras kurzem, bewegtem Leben eine entscheidende Rolle spielen.
Ich sammelte meine Notizen ein und räumte so gut wie möglich auf, Dann schlüpfte ich in meinen Mantel, nahm den Hut vom Haken und verließ das Zimmer. Auf dem Weg zum Ausgang begegnete ich drei Schwestern. Zwei von ihnen kannte ich nicht, aber die dritte warf mir ein freundliches Lächeln zu.
»Hallo, Herr Doktor. Wir kommen gerade aus der Kapelle«, erklärte sie. Sie schienen alle aufgeregt.
»Wir haben Gott gedankt«, sagte eine andere mit einem wissenden Nicken.
»Ja?« entgegnete ich unverbindlich.
»Für Laura«, sagte die erste Schwester in dem gleichen überzeugten Ton.
»Wir sind noch keineswegs über den Berg mit ihr«, entgegnete ich, doch die drei waren schon weitergegangen. Buschtelegraf! Die Schwestern schienen immer alles zu wissen, beinahe noch bevor es passiert war, und ich machte mir Sorgen über die Ausschmückung, wie sie jede Geschichte erfährt, wenn sie vom einen zum anderen weitergetragen wird — selbst von Schwester zu Schwester.
Und schon stand wieder eine vor mir. Lächelnd,den Kopf aufrecht, vor Leben sprühend: Schwester Margaret.
»Guten Abend, Herr Doktor«, sagte sie.
Es war eine seltsame Begegnung dort auf dem kahlen Korridor, sozusagen eine Begegnung zwischen religiöser und wissenschaftlicher Überzeugung.
»Hören Sie —« begann ich.
»Ich habe Gott gerade für das Wunder gedankt«, sagte sie und zwinkerte mir vertraulich zu. Die nüchterne Welt des Gegenständlichen schien für diese Zauberinhen nicht zu existieren. Wie Alice stolperte ich aus dem Wunderland in einen kalten, graupeligen Winterabend. Das graue Gebäude verschwand hinter mir.
Zu Hause konnte ich mich nicht entspannen. Es war durchaus möglich, daß Lauras Zustand sich verschlimmerte, statt sich zu verbessern. Der Stoß, den ich ihr versetzt hatte, war so stark gewesen, daß sie sich sehr wohl in ihre Isoliertheit verkriechen konnte, um niemals mehr daraus hervorzukommen.
Ich rief das Heim an …Besetzt.
Die monotone Gleichmäßigkeit des Signals hypnotisierte mich geradezu. Endlich meldete sich die Vermittlungsstelle. Ich wurde sofort mit Lauras Schlafsaal verbunden.
Nach einem Augenblick meldete sich ein schüchternes Kind und erklärte mir nach endlosem Nachdenken, daß Schwester Paulette nicht da sei. Ich holte tief Atem. So sanft wie möglich bat ich das kleine Mädchen, doch bitte nicht aufzulegen, sondern auf den Knopf zu drücken und mir wieder die Vermittlungsstelle zu geben.
»Bemittlungsstelle? Was is’n das?«
»Das Telefonfräulein, mein Liebes.«
»Oh, das Telefonfräulein«, sagte die Stimme leutselig, und ich konnte fast hören, wie das Kind dachte: »Na, warum hast du das denn nicht gleich gesagt?«
Nach langem Suchen wurde mir mitgeteilt, daß Schwester Paulette in der Kapelle sei und nicht erreicht werden könne. Ich bedankte mich, hängte ein und begann zu überlegen.
Es hatte keinen Sinn, die Dinge zu überstürzen. Laura brauchte Zeit, um sich zu erholen, bevor sie mich wieder sah. Wieder einmal mußte ich mir vor Augen halten, daß ich mich nach ihrem Tempo zu richten hatte, und nicht umgekehrt. Kurz vor Mitternacht, ehe die Schwestern zu Bett gingen, erreichte ich Schwester Paulette.
»Sie schläft noch, Herr Doktor«, sagte sie. Ich dankte ihr und legte auf. Ich beschloß, mich an den normalen »Clancy-Plan« zu halten; es würde beruhigender für Laura sein. Auf diese Art würde sie nicht denken, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sei.
Eine spannungsgeladene Woche folgte. Ich mußte mich mit Gewalt vom Telefon zurückhalten. Würde Laura wieder sprechen, oder würde sie sich erneut hinter den Schleier des Schweigens zurückziehen?
Es war ein klarer, windiger Tag, als ich das nächste Mal ins Heim fuhr. Bleiche Wolken trieben schnell über die blaue Bucht und die Brücke, über die ich, Manhattan hinter mir lassend, fuhr. Unter mir Kräne und Leitungen, an denen gelegentlich eine Möwe mit elegantem Bogen vorbeischoß. Als ich bei einer Verkehrsampel warten mußte, war es mir, als spürte ich wieder den angstvollen Druck von Lauras Händen. Würde es ein Mensch unter all den Millionen in dieser Stadt erleben dürfen, daß zu ihm allein eine Welt kam? Oder würde Laura wieder zurückgestoßen werden und sich in sich selbst verkriechen, diesmal vielleicht für immer?
Als ich durch die große Tür trat, spürte ich, daß im Heim eine andere Atmosphäre herrschte. Man merkte es an dem raschen Blick einer Schwester, den lächelnden Augen oder der ungewöhnlich herzlichen Begrüßung einer anderen. In diesem Augenblick brachte es mich beinahe auf, zu sehen, wie wenig sie am Ausgang der Sache zweifelten! Ich eilte in mein Büro, das ich wieder genauso herrichten wollte, wie Laura es zu Beginn ihres letzten Besuches vorgefunden hatte. Ich setzte das Puppenhaus zusammen und stellte die übriggebliebenen Möbel und Puppen hinein. Als in der Stille des Raumes plötzlich das Telefon ertönte, zuckte ich zusammen …Es war Schwester Paulette.
»Oh, ich habe so auf Sie gewartet, Herr Doktor. Ich mache mir schreckliche Sorgen üm Laura. Sie hat nicht ein Wort gesagt…«
»Gar nicht gesprochen?«
»Kein Wort.«
»Sind Sie sicher?«
»Absolut, Herr Doktor. Und sie weint die ganze Nacht…es ist schlimmer als je zuvor.«
Nach diesem Gespräch setzte ich mich hin, stützte den Kopf in die Hände und dachte nach. Mein Experiment war also nicht gelungen. Laura war die gleiche wie immer, ja ihr Zustand war »schlimmer als je zuvor«. Es war nur zu deutlich, welchen Weg sie eingeschlagen hatte.
Ich sehe mich noch dort sitzen, vornübergebeugt, so wie Laura dazusitzen pflegte, als ich undeutlich zwei Gestalten am Ende des Korridors wahrnahm. Eine Schwester — und ein Kind. Einen Augenblick achtete ich nicht weiter auf die beiden, dann sah ich gespannt auf.
Laura kam ohne Hilfe auf mich zu. Der Schritt war rascher, sie hielt sich sicher im Gleichgewicht, die Füße standen fest auf dem Boden. Sie lehnte sich nicht zum Halt an die Wand, und auch die Schwester (es war nicht Schwester Paulette) mußte sie nicht stützen. Ich beobachtete sie gebannt. Hinter der Gestalt glaubte ich eine andere zu sehen, ein behindertes Kind, das kaum sein eigenes Gewicht tragen konnte.
»Hallo, Laura«, sagte ich, als sie schweigend in der Tür stand.
Meine Augen hingen an ihren Lippen, ungeduldig wartete ich auf ein Wort. Aber es kam keins. Statt dessen sah sie sich mit dem gleichen unbeteiligten Schweigen wie früher im Zimmer um. Es schien Stunden zu dauern, bis sie schließlich hereinkam und ruhig durch den Raum ging, indem sie ihre Augen auf einzelnen Gegenständen verweilen ließ. Mit einem besorgten Blick auf mich entfernte sich die Schwester.
Ich beobachtete und wartete. Und wartete und beobachtete. Jetzt war der Augenblick gekommen, der die weitere Richtung von Lauras Leben enthüllen würde. Ich saß wie auf Nadeln, als ich zusah, wie sie jeden Gegenstand auf den Regalen berührte und befühlte, jede zerbrochene Puppe in die Hand nahm und sie nachdenklich anstarrte. Langsam drehte sie sich zu mir um, versuchte sich offensichtlich zu konzentrieren, und sagte »War ich schon…in diesem …hier…diese Tür…dieses Zimmer?«
Ich bemühte mich, meine freudige Erregung zu verbergen, als ich diese Worte hörte, und nickte. »Ja.«
»Tür?« Sie berührte sie. »Weiß ich noch. War schon hier. Aber nicht sicher. Muß, muß…mehr wissen. Ich bin nicht sicher.« Ein Ausdruck von Ungewißheit, von Verwirrung lag auf ihrem Gesicht, als sie fortfuhr: »Weiß schon. Ich kenne die Sachen immer mehr. Andere Sachen …ich bin nicht sicher. Wo bin ich?«
Ihre Stimme hatte einen vollen Klang. Ich erklärte ihr, daß sie seit über zwei Jahren hierher zu mir gekommen sei. Sie setzte sich und hörte mir aufmerksam zu, äußerte sich aber eine Weile nicht. Ich stellte eine starke Trübung ihres Bewüßtseins fest — vergleichbar etwa dem nebelhaften Gefühl eines Trinkers, der sich am Morgen nach einem Gelage fragt, wo er sich befindet und was er am Abend zuvor getan hat.
Wie brachte Laura es fertig, nach so vielen Jahren des Schweigens relativ gut zu sprechen? Hier kann ich nur auf klinische Erfahrung verweisen. Ein emotional gestörtes Kind kann ohne weiteres stumm bleiben, wenn es stumm zu bleiben wünscht. (Wir nennen das auch »selektiven Mutismus«.) Aber wer weiß denn, wie oft ein solches Kind mit sich selbst spricht, wenn es allein ist — vielleicht nachts mit dem Kopf unter der Bettdecke? Es konnte ja sein, daß Laura teilweise gerade das bezweckte, wenn sie mit der Taschenlampe unter die Bettdecke verschwand. Ein solches Verhalten konnte Symptom eines versteckten Bedürfnisses sein. In seinem Buch Nature of Childhood Autism (Das Wesen des Autismus bei Kindern) sagt Herald O’Gorman, ein bekannter Fachmann auf diesem Gebiet: »Viele davon betroffene Kinder verstehen eindeutig alles, was man zu ihnen sagt, und man weiß, daß sie ausgezeichnet sprechen könnten, wenn sie es wollten. Wirklich bringen sie auch von Zeit zu Zeit, wenn keine interessierten Erwachsenen anwesend sind oder kein Druck auf sie ausgeübt wird, vollkommen treffende Sätze zustande, und dann fallen sie wieder für Monate oder sogar Jahre in Schweigen.«
Auch Laura hatte, obwohl man keine Reaktion bei ihr wahrnahm, viele Jahre zugehört und verstanden. Sie war, wenn auch noch so passiv, in die Schule gegangen und hatte im Schlafsaal gehört, was sich die anderen Mädchen erzählten. Das Verständnis der Sprache berührt die gleichen Probleme wie das Sprechen selbst. Das heißt, daß beim Sprechen kein geistiger Vorgang betroffen ist, der nicht auch zum Zuhören nötig wäre. (Zum Beispiel werden an das Gedächtnis die gleichen Anforderungen gestellt.)
Laura stand jetzt wieder spontan auf, um die Dinge in Augenschein zu nehmen und zu prüfen. Sie spazierte im Zimmer umher, berührte und befühlte Spielzeug, Bücher, Aschenbecher, alles, was in Sicht war. Sie war wie ein Blinder, der zum erstenmal sieht. Die einzelnen Gegenstände begannen sich aus dem trüben Nebel, der bis dahin für sie die Wirklichkeit verdeckt hatte, hervorzuheben. Natürlich war diese Erfahrung mit etwas Angst gemischt. Immer wieder ging sie zum Puppenhaus und berührte vorsichtig die eine oder die andere der kleinen Figuren.
»Angst…habe ich Angst? Habe ich Angst…diese Puppen?«
So ungezwungen wie möglich erklärte ich ihr, daß sie nicht vor den Puppen Angst habe. Es könne aber sein, daß diese wie ein Spiegel Ereignisse zurückwarfen, bei denen sie verletzt worden war.
Sie starrte weiter auf die Puppen und fuhr dann fort:
»Warum weine ich? Ich weiß nicht, warum ich weine. Warum weine ich? Weinen …warum? Es ist dumm. Ich bin verwirrt. Ich weine heimlich. Warum? Dunkel …warum? Ich bin hier gewesen …weinen …erkenne es nicht wieder…niemals …ich bin sicher.«
Fast flehend wandte sie sich an mich. »Ich bin sicher, daß ich schon früher hier war…ich war hier, nicht wahr?«
»Ja, Laura.«
Ganz plötzlich strömten ihr wieder Tränen über die Wangen. Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und versuchte sie wegzuwischen.
»Da haben Sie’s …weinen …ich weiß nicht mehr, was wirklich ist.«
»Komm und setz dich«, schlug ich vor, »unterhalten wir uns ein wenig.«
Ich bemerkte, daß gerade die Bewußtheit Angste und Unsicherheiten bei ihr verursachte. Dieses Wiedererwachen würde sehr hart für Laura werden, dieses allmähliche Bemühen, sich zurechtzufinden und etwas Ordnung in das Chaos ihrer vergangenen Erlebnisse zu bringen, das so gut durch das zerstörte Puppenhaus und das zugrunde gerichtete Leben darin symbolisiert war.
»Ich erinnere mich…an Leute«, sagte sie nach einer Weile mit einem verwunderten Stirnrunzeln. »Schläge, Schläge …ein Kind. Immer, immer wieder. Schläge, Prügel. Prügel. Prügel. Ich weiß nicht mehr, was dann geschah.«
Ich wartete etwas. »Du warst böse auf sie, Laura, weil sie das Kind schlugen. Schließlich war es hilflos. Und du hast das Kind verteidigt, indem du sie wegen ihrer Grausamkeit angegriffen hast. Du hast mit der Faust auf sie eingeschlagen. Du hast sie auf den Boden geschmettert.«
Sie lauschte aufmerksam und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann wandte sie sich zum verwüsteten Puppenhaus um und betrachtete es fast mit Scheu.
»Habe ich das getan?« fragte sie.
»Ja«, sagte ich, »das hast du mit dem Puppenhaus und den Puppen getan.«
Über ihr tränenverschmiertes Gesicht zog ein schwaches Lächeln, als sie wieder aufstand und zu den Puppen ging, um sie sich noch einmal anzusehen.
»Warum weine ich? Warum? Weinen. Es sind nur Puppen. Sie sind gar nicht wirklich.«
Jetzt bestand eine Verständigung zwischen uns. Laura war in dieser Stunde vor allem damit beschäftigt, festzustellen, was wirklich war. Außerdem wurde sie von gleichklingenden Worten fasziniert, was wir manchmal auch mit Klangassoziation bezeichnen. Jede Frage, die sie stellte, war grundsätzlich darauf gerichtet, Wirklichkeit und Phantasie voneinander zu unterscheiden.
Sie sprach zögernd, oft in gereimter Wiederholung, nach Art der Klangassoziation. Ihr Spiel mit Worten und Sätzen erinnerte beinahe an Joyce. Ihre Sprechweise verbesserte sich zusehends.
Lauras Sprechvermögen ging tatsächlich weit über einen bloßen Wortschatz hinaus. Sprechen ist ja nicht so sehr eine Frage der Vokabeln, sondern des Sprachbesitzes, des Vermögens, auf schöpferische Art zu assoziieren und umzuändern. Das Formulieren von Sätzen, die auf jeweils unterschiedlichen Erfahrungselementen beruhen und deshalb jedesmal neue sprachliche Strukturen erfordern, ist eng mit dem gereiften Verstand verbunden.
Ich mußte an Schwester Paulettes innere Gewißheiten denken, als ich Laura in diesem frühen Stadium bei ihrer Entdeckung der Wirklichkeit zuhörte. Sie sprach einfach, aber klar, angetrieben von dem Wunsch, die Gegenwart zu erfassen und sie mit der Vergangenheit zu verbinden.
Meine Antworten halfen ihr etwas bei der Klärung, aber zu jenem Zeitpunkt konnten sie nur undeutliche Hinweise in dem dunklen Labyrinth ihrer Gefühle sein. Manchmal schienen sie auch Zweifel zu überkommen, wenn sie sich besonders planlos abquälte. Dann mußte ich ihr verbale Unterstützung geben, so wie die Schwestern sie körperlich mit dem Arm gestützt hatten. Ich erzählte ihr von unseren Tätigkeiten im Spielzimmer. Verschwommen erinnerte sie sich daran, daß ich ein Doktor war, aber meinen Namen wußte sie nicht. Zum Glück nehmen Kinder medizinische Fakten oft ganz einfach hin. So akzeptierte Laura die Tatsache, daß es einige Zeit dauern würde, bevor sie ihr Leben wieder aufbauen und alle Teile richtig zusammensetzen konnte, mit Gelassenheit.
»Ich werde hier sein und dir helfen«, versicherte ich ihr, und wieder zeigte sich das schwache Lächeln.
Gerade, daß sie sich frei in diesem Raum bewegte, war eine neue Erfahrung. Es war Neugierde, die sie zu diesen Bewegungen vorantrieb, der Wunsch zu lernen. Sie stellte sich sozusagen sich selbst vor. Bald würde sie mehr lernen wollen.
Freude überkam mich, als ich zusah, wie sie herumging, untersuchte und dazu ihre Bemerkungen machte.
War dieser lebendige, aufnahmefähige Mensch, der immer fester mit den Dingen um sich herum verwuchs, das gleiche Kind, das Woche für Woche, Monat für Monat in dem Stuhl neben mir gesessen hatte? Und bei dieser Überlegung mußte ich daran denken, wie viele Tausende von Kindern es wohl in aller Welt gab, die niemals die Chance hatten, dem Zugriff ihrer inneren Ängste zu entkommen?
Es war uns gelungen, für eine dieser Verbannten eine Tür zu öffnen. Aus dem Dunkel ihrer Phantasiewelt war sie in das Tageslicht der Wirklichkeit getreten. Es lag noch ein langer Weg vor ihr, den Zweifel und Ungewißheiten über ihr neugewonnenes Reich begleiteten.
16
Eine Woche später erfuhr ich, daß Laura begonnen hatte, mit den anderen Kindern zu sprechen.
Diese Neuigkeit hatte sich natürlich wie ein Lauffeuer im Heim verbreitet. Durch die bloße Tatsache, ihre Stimme zum erstenmal zu hören, wurden die Kinder zu ihr hingezogen. Die Intuition eines Anstaltskindes kann fast unheimlich sein. Schließlich haftet der Art, wie sie dort alle zusammen leben, etwas grundlegend Künstliches an.
In diesem Falle sorgten sich die Mädchen um so viele Unbekannte in ihrem eigenen Leben, daß sie Lauras Zurückhaltung nachfühlen konnten und dadurch halfen, sie daraus hervorzulocken. Jetzt konnte keiner mehr zu Laura sagen: Hat die Katze deine Zunge geholt?
Trotz ihrer Schüchternheit wurden ihr nun rasch Freundschaften, Süßigkeiten und sogar Geld angeboten (jedes Mädchen erhielt ein kleines wöchentliches Taschengeld, das aus wohltätigen Spenden zusammengekratzt wurde). Man lieh ihr Kleider und — last, but not least — Haarfestiger und Sprays. All das wurde mir von Schwester Paulette berichtet.
Sie saß an jenem Februar-Nachmittag in meinem Büro und schüttete mir ihr Herz aus. Würde Lauras Zustand sich bessern? Würde sie mehr sprechen? Und so weiter. Ich begann zu ahnen, daß die fromme Schwester auch noch eine andere Seite hatte.
Ich weiß noch, daß sie an einer Stelle unserer Unterhaltung sagte: »Sie braucht so sehr die Liebe einer Mutter.«
Sie selbst war diese Mutter gewesen, der einzige Mensch, auf den Laura sich immer verlassen konnte. Und das bei einem Kind, das häßlich war, es ihr offensichtlich nicht vergalt, sondern teilnahmslos blieb. Es ist viel einfacher, die Liebenswerten zu lieben. Laura lachte oder spielte nie, und doch sprach Schwester Paulette in all den Jahren, die ich sie kannte, kein einziges Mal von ihren Unzulänglichkeiten, sondern sah nur die Möglichkeiten ihrer Entwicklung.
Das also war eine Art zu leben. Die Weltklugen werden sie vielleicht als »naiv« bezeichnen, doch im Falle von Schwester Paulette drückte sich darin eine große Ehrfurcht vor der menschlichen Würde aus. Durch ihr fast grenzmloses Mitgefühl hatte diese Schwester, die in einer anderen Welt zu Hause war, allmählich eine weise Einsicht in die Wesensart eines Kindes gewonnen, ja fast eine Vorausahnung von dessen Möglichkeiten.
Schwester Paulettes großes Mitgefühl konnte sich aber auch als Nachgiebigkeit äußern. Was Vorschriften und Regeln betraf, war sie lasch, und sie wurde von vielen ihrer Kolleginnen als schlechte Erzieherin angesehen. Jeden Morgen mußte sie dafür sorgen, daß fünfundzwanzig Kinder ordentlich angezogen in die Schule oder zu anderen Beschäftigungen kamen.
»Manchmal«, erklärte sie mir mit einem matten Lächeln, »habe ich das Gefühl, die Oberin erwartet von mir, daß ich mich wie ein Feldwebel verhalte. Meine Einheit hat makellos sauber zu sein, die Zimmer ordentlich und so weiter. Ich möchte gute Arbeit leisten, Herr Doktor, aber es verwirrt mich, wenn ich das einzelne Kind in der Gruppe nicht mehr sehe. Ich denke dabei nicht nur an Laura, sondern an jedes einzelne, das sich über irgend etwas beunruhigt, über ein Zeugnis etwa oder ähnliches. Ich bin leider keine sehr gute Leiterin, bin es auch niemals gewesen.« Niedergeschlagen runzelte sie einen Augenblick die Stirn. »Für mich wird das genaue Einhalten des Stundenplans immer erst an zweiter Stelle kommen, wenn eins der Mädchen mich unmittelbar braucht. Sie sind alle so verschieden, wissen Sie.«
Ich beteuerte ihr, so gut ich konnte, daß wir einen vielversprechenden Beginn bei Laura gemacht hatten, besonders, was die Sprache anlangte. Denn es schien, daß sie im Sprechen ihrer inneren Entwicklung ein gutes Stück voraus war. Das bedeutete, daß sie in den Jahren des Schweigens beim Schulunterricht oder beim Zusammensein mit den anderen Kindern eifrig zugehört hatte. Gleichzeitig betonte ich nachdrücklich, daß noch manches Hindernis vor uns lag. Wir würden eines nach dem anderen nehmen, wozu auch, wie ich erneut erwähnte, eine Operation der Wirbelsäule gehörte.
Was Schwester Paulettes Konflikt zwischen den Anforderungen des Heims und ihrem eigenen Herzen betraf, so hatte ich den Eindruck, daß sie darin keine Hilfe von meiner Seite brauchte. Wenn ihre Gefühle als Mensch den Anordnungen ihres Vorgesetzten widersprachen, so würde sie in ihrer inneren Weisheit sich selbst treu bleiben und ihren Pflichten eine ganz persönliche Auslegung geben. Ich ließ mich nicht mehr durch ihre entwaffnend sanfte Art täuschen, denn ich wußte jetzt, daß sich hinter dieser Maske sehr wohl ein Rebell oder Kämpfer verbergen konnte.
Als sie an diesem Nachmittag ging, verstand ich noch besser als zuvor, was für eine außerordentliche Charakterstärke und psychologische Anpassungsfähigkeit diese Schwestern entwickeln mußten, um ihrer besonderen Situation gewachsen zu sein. In einem streng geregelten Alltag, dem sie sich niemals entziehen konnten, mußten sie ständig widersprüchliche Aufgaben lösen: Wenn es ihnen nicht gelang, die Oberin zufriedenzustellen, waren sie unzufrieden mit sich selbst; ebensowenig aber konnten sie sich den Forderungen eines leidenden Kindes entziehen, das ihrer Obhut anvertraut war. Dieser Konflikt hatte, wenigstens in Schwester Paulette, eine große geistige Spannkraft hervorgebracht und eine Geduld, um die sie jeder Psychoanalytiker beneiden konnte.
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Laura war an diesem Tag mir gegenüber viel weniger gefügig, und in der folgenden Woche beinahe gereizt. Aber sie sprach ein wenig, behielt ihr Interesse für das Spielzimmer (wie ich das Zimmer nun nannte) bei und zeigte in jeder Weise, wie wesentlich es für sie war, ihre Umwelt durch Sinneswahrnehmungen zu erfassen. Beeindruckend war vor allem ihr Bedürfnis, die Dinge zu berühren.
So verliefen auch die folgenden Stunden. Darauf bedacht, die Dinge nicht nur für sich selbst, sondern auch für mich zu klären, wurde sie ungeduldig und ärgerte sich über ihre eigenen Unzulänglichkeiten. Sie hämmerte sogar an die Wand, schlug mit dem Kopf auf den Schreibtisch, schleuderte Gegenstände durch das Zimmer, kreischte mich an, weinte — lauter gesunde Symptome.
»Warum lächeln Sie?« fragte sie einmal wütend in einem solchen Moment.
Ich erklärte ihr, daß die Gedanken so schnell in sie hineinströmten wie Ponies ins Gehege, so daß der Hüter, der auf dem Zaun sitzt, sie nicht mehr erkennen und zählen kann.
»Laß dir Zeit, Laura«, riet ich ihr immer wieder.
Das schien ihr einzuleuchten, denn allmählich sprach sie langsamer, wenn sie sich bemühte, ihre neue Welt der Worte zu beherrschen. Sie wurde aufs Geratewohl von Ideen und Wahrnehmungen bestürmt, die emotional belastend, oft widersprüchlich und unlogisch waren. Diese neue geistige Tätigkeit war mit der Arbeit eines Menschen vergleichbar, der mit all seiner Kraft und Energie einen Damm gegen plötzlich wütend anschwellende Wasserfluten baut. Andererseits wollte ich jedoch nicht, daß sie diese wichtigen neuen Gedanken unterdrückte, im Gegenteil — sie sollte jeden einzelnen äußern, damit ich ihr helfen konnte.
Ihr Vertrauen zu mir wuchs, und das war auch ganz natürlich, da sie selbst innerlich so wenig hatte, an das sie sich halten konnte. Sie war in einer ähnlichen Verfassung wie damals, als sie aus Furcht vor den Burschen auf den Rollschuhen entsetzt meine’n Arm umklammert hatte. Oder um den Vergleich etwas abzuwandeln: Sie ähnelte einem Kind, das zum erstenmal auf einem Fahrrad sitzt und schreckliche Angst hat. Nun aber, da ich Hilfsräder an dem Fahrrad angebracht hatte, fühlte sie sich sicher, der Lage immer mehr gewachsen. Die Fahrt machte ihr nun sogar Spaß.
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In den folgenden Wochen suchte Laura die Bruchstücke der Erfahrungen und Gefühle zusammen, die ihr Leben so tief geprägt hatten. Wieder wandte sie sich dem Puppenhaus zu, und dann kam der Nachmittag, an dem sie stimrunzelnd, in gespannter Aufmerksamkeit, davorstand.
»Ich denke immer an ein Gitterbett…und Weinen…ich bin ein Kind, das im Bett schläft …andere Kinder weinen …viele andere Kinder.« Sie drehte sich zu mir um. »Ich weine den ganzen Tag. Keiner hört mich …und es ist ein schrecklicher Lärm, und so etwas wie ein Erdbeben muß sein, alles um mich herum fällt herunter, und ich kann nicht aus dem Gitterbett heraus. Das ist schon lange her. Ich weine immer.«
»Bett, Laura«, sagte ich und bot ihr eine andere Assoziation, aber zuerst schüttelte sie den Kopf.
Dann sagte sie langsam: »Ich zittere…ein großer Raum mit vielen Betten. Ich kann sehen, weil auf Straßen draußen Licht brennt. Ich sehe Leute im Zimmer…Männer kommen auf mich zu …sie wollen mich töten …ich verstecke mich unter der Decke.«
Einen Augenblick stand sie keuchend und schweigend neben mir. Dann fuhr sie fort: »Als ich meine Taschenlampe anmache, sind sie weggegangen…Sie haben Angst vor dem Licht, wissen Sie. Manchmal habe ich gehört, wie sie mit mir sprachen. Sie wollten mich töten.«
»Warum?«
»Weil ich böse war.«
»Was hast du getan?«
»Ich habe andere Kinder geschlagen …sie angespuckt…eine Frau kreischt mich an…ich habe ihr Kind angespuckt, und sie nahm ihre Schere und sagte, sie wird meine Zunge abschneiden.«
»Was hast du ihr geantwortet, Laura?«
»Ich habe geweint und bin weggelaufen. Habe versucht, mich unter meinem Bett zu verstecken. Ich hielt meinen Mund mit der Hand zu und die Lippen fest zusammengepreßt. Ich konnte sehen, wie sie ihre lange, glänzende Schere auf- und zuklappte, als sie auf mich zukam.« Sie fürchtete sich immer mehr, Tränen strömten ihr aus den Augen, dann bedeckte sie den Mund mit beiden Händen und brach erschöpft auf dem Stuhl neben mir zusammen.
Ein Gitterbett, ein Bett, eine Schere — was für eine Welt voller Schrecken diese alltäglichen Dinge in einem einsamen, unbeschützten Kind hervorgebracht hatten. Wie sie selbst es einmal so einfach und doch beredt ausdrückte: »Wenn ich schrie, hörte mich keiner.«
Aber schon dadurch, daß sie laut von diesen Schreckensbildern sprach, wurde ihr eine Last von der Seele genommen. Und ich tröstete sie und erklärte ihr, daß sie nicht mehr allein sei. Das Licht meiner Schreibtischlampe warf die Schatten meiner Hände an die Wand, und ich versuchte, die Hände so zu bewegen, daß die Form verschiedener Tiere auf der Wand erschien. Ungeschickt stellte ich ein Häschen dar und eine Spinne, und ein Lächeln stahl sich über ihr Gesicht. Nach einer Weile versuchte sie meine Possen nachzuahmen und mich dabei zu übertreffen. Die Worte, die wir in solchen Augenblicken sprachen, waren Lauras Verbindung zur Außenwelt; sie zeigten die Bedeutung, die das Leben nun für sie hatte. Auf solche Momente folgten immer wieder Zeiten, wo sie enttäuscht war über sich selbst, weil die Bemühung, schmerzliche Erinnerungen ins Bewußtsein zu rufen, sie erschöpfte. Jahrelange chronische Depressionen hatten ihr den Humor genommen, der ihr vielleicht geholfen hätte, sich von diesen Erinnerungen etwas zu distanzieren und sie im Griff zu halten. Das Glück war nur selten im Leben zu Laura gekommen, und selbst die erfreulichen Augenblicke wurden immer von irgendwelchen Ängsten überschattet.
Ich erinnere mich zum Beispiel, daß sie von einem Teddybär erzählte, den ihr der Weihnachtsmann brachte, als sie neu im Heim war. Der kleine Bär konnte die Arme bewegen und die Augen rollen, und sie mußte über ihn lachen. Als aber die Hand des Weihnachtsmannes sich ihrem Gesicht näherte, glaubte sie, er wolle sie erwürgen.
»Warum?«
Laura wußte es nicht. »Ich hatte einfach Angst«, sagte sie unbewegt.
In den Krankenhaustagen hörte sie ein Kind schreien, das ein paar Schwestern festhielten, während der Arzt ihm »weh tat«. Laura blieb vor Furcht und Schrecken die ganze Nacht wach, weil sie sich einbildete, sie wäre die nächste, der man weh tun würde.
Als sie einmal ihre Hosen beschmutzte, zwang sie die gleiche Person, die gedroht hatte, sie würde ihr die Zunge abschneiden, ihre eigenen Exkremente zu essen. Das Ergebnis war, daß das Kind in tödlicher Furcht lebte, sich zu beschmutzen. Das ging so weit, daß sie fallengelassene Exkremente aus den Hosen entfernte und sie unter dem Kopfkissen verbarg. Ihre Furcht kannte keine Grenzen.
Es war schwierig, solche Geschehnisse zu datieren, da ihr Gedächtnis verschwommen war. Soweit ich sie aber einstufen konnte, schienen sie vor ihrem sechsten Altersjahr passiert zu sein. Das Aufblitzen jeder neuen Erinnerung bedeutete eine tiefere Narbe in ihrer Empfindsamkeit, da sich.ihre Verletzlichkeit steigerte, als sie vom Kleinkind zum Kind heranwuchs und fähig war, ihre Einsamkeit und Isoliertheit zu erkennen und sie mit sich selbst in Zusammenhang zu bringen.
Da war die Frau mit der Schere, die sie zwischen den Bettenreihen glänzen sah. Da war der Mann mit der Zigarette, dessen »böses« Gesicht sie in der aufflackernden Flamme seines Streichholzes erkannte. Da war die »Mutter«, die ihr neue Schuhe brachte.
Als ich dieses Kaleidoskop betrachtete, erkannte ich, daß Laura emotional nicht viel anders reagierte als zu der Zeit, als sie zwei oder drei Jahre alt war. Alles, was sie nach diesem Zeitpunkt erlebte, war undifferenziert, hatte die gleiche einförmige Farbe und Bedeutung: Es stellte eine mögliche Bedrohung für sie dar, die immer neue Furcht und Ängste verursachte. Was sie entwickelt hatte, war die Fähigkeit, sich bei solchen Gefahrensignalen zu verschließen, und zwar so weit, daß sie das Sprechen aufgab. letzt mußte sie die komplizierten Fluchtwege, die sie sich ausgeklügelt hatte, wieder aus dem Gedächtnis austilgen — keine leichte Aufgabe. Es würde Zeit brauchen, bis sich aus dieser Mischung von Kleinkind, Kind und Halbwüchsiger heraus ein Selbstgefühl entwickelte. Doch ich war, genauso wie die Schwestern, davon überzeugt, daß sie ihren eigenen, einmaligen Charakter hatte. Es gab Augenblicke, in denen sie mich überraschte, indem sie eine seltsame Einsicht äußerte oder eine treffende Feststellung machte, wie man sie kaum von einer noch so intelligenten Fünfzehnjährigen erwartet.
Laura war dabei, zu lernen, wie sie sich ausdrücken und ihre Gefühle handhaben sollte, und als wisse sie nur zu gut, was ihr durch die lange Zeit der Abgeschlossenheit fehlte, schien sie jeden neuen Eindruck eifersüchtig zu bewahren.
Am wenigsten ausgeglichen und beherrscht war sie wohl, wenn wir über ihre Mutter sprachen. Bei einer solchen Gelegenheit zeigte mir Laura zum erstenmal seit der Zerstörung des Puppenhauses in heftigen Aufwallungen von Haß und Selbstverachtung, zu welchen Gefühlsausbrüchen sie fähig war.
17
»Ich weiß nicht, was eine Mutter ist«, meinte das Mädchen mit dem vernarbten Gesicht vor mir. »Sollte ich es wissen? Ich weiß, daß jedes Kind eine hat, aber ich bin anders. Ich glaube sogar, ich habe das Wort noch nie in meinem Leben ausgesprochen, obwohl ich es schon sehr oft gehört habe.« Dann fuhr sie fort, als grüble sie ernsthaft nach: »Ich weiß bestimmt, daß mich eine Mutter geboren hat. Sind sie nicht alt und sanft und manchmal vielleicht dick?« Laura lächelte vor sich hin. »Sie fassen einen oft an. Man küßt sie. Sie geben dem Kind die Flasche, sie helfen ihm beim Anziehen. Das sagen wenigstens die Madchen. Haben Sie eine Mutter?«
»Ja.«
»Ich habe keine«, kam die fast giftige Antwort. »Was bin ich denn dann, irgendein Ungeheuer? Sagen Sie es mir. Ich bin ein Ungeheuer, nicht wahr? Wenn ich es nicht wäre, hätte ich Vater und Mutter. Haben Sie einen Vater? Natürlich haben Sie einen. Sie sehen ja auch nicht wie ein Ungeheuer aus. Aber ich. Ich bin häßlich, ich bin entsetzlich. Wenn ich hübsch wäre, hätte ich Vater und Mutter, nicht wahr?«
Sie hielt inne, als suche sie nach Worten, um alle ihre Sorgen und ihre Verwirrung auszudrücken. Dann fuhr sie fort: »Keiner möchte ein häßliches Kind haben, nicht wahr? Sehen Sie sich mein verpfuschtes Gesicht an. Und ich schiele. Und dann meine Beine! Ja, ich kann wirklich sagen, ich habe noch nie jemanden gesehen, der so häßlich ist wie ich. Sie, Herr Doktor? Ich bin das — häßlichste — Kind — das — hier — ist«, sagte sie, indem sie jedes Wort langsam und mit Nachdruck aussprach. »Und darum habe ich keine Mutter. Ich hab immer von einer Mutter geträumt, wissen Sie. Sie war sehr schön, mit langem, dunklem Haar. Sie brachte mir Geschenke, wunderschöne, glänzende Schuhe. Mein Vater …nun, er sah so gut aus wie Sie. Und ich war hübsch und wohnte in einem Haus mit einem Hund, einer Katze, fünf Fischen, einem Vogel und vielen anderen Tieren.«
Zu den vielen Dingen, die Laura nie gekannt hatte, gehörten auch Haustiere.
»Wissen Sie«, fuhr sie fort, »ich habe mir das Gesicht jeder Frau, die hierherkam, angeschaut und mir überlegt, wie meine Mutter wohl aussieht. Schließlich habe ich mir dann ein Bild von ihr gemacht. Sie hatte ein wunderschönes Gesicht. Ich konnte sie immer vor mir sehen, wenn ich es wollte. Ich sah ihr sogar zu, wenn sie kochte, lächelte, sang und tanzte. Sie war eine sehr gute Tänzerin. Wir gingen zusammen einkaufen. Sie war so freigebig und kaufte mir neue Kleider und die hübschesten : neuen Schuhe, die Sie sich vorstellen können. Ich liebe Schuhe, und sie hat mir immer die gekauft, die ich mir am meisten wünschte. Als ich ganz klein war, waren es Lackschuhe mit einer Schnalle vom, und als ich älter wurde, kaufte sie mir ein Paar mit hohen Absätzen. Ich sah so hübsch aus. Und dann passierte etwas.«
Laura runzelte die Stirn. Sie legte das Gesicht auf ihre Hand, als bemühe sie sich, in die Ferne und in die Dunkelheit zu sehen.
»Was ist denn geschehen?« fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht erklären…Es ging mir nicht so gut, und so …ich mußte einfach aufhören, sie mir vorzustellen. Es war schwer, sie aufzugeben. Wir waren uns so nahe. Ich wollte meine Mutter behalten aber irgendwie wurde das Bild, das ich mir von ihr gemacht hatte immer schwächer, und es wurde schwieriger und schwieriger, sich daran zu erinnern. Ich weinte stundenlang, weil ich mir nicht mehr vorstellen konnte, wie ihre Haare gekämmt waren oder wie sie dasaß oder welche Farbe ihr Kleid hatte. Ich konnte sie« — zögernd suchte Laura nach dem Wort — »nicht mehr bekommen. Verstehen Sie?«
»Ja. Erzähl weiter.«
Laura dachte einen Augenblick nach, dann sprach sie weiter: »Ich beschloß, daß sie sterben mußte. Dann hätte ich wenigstens die Erinnerung. Also wurde sie krank und starb, und wir hatten eine wunderschöne Beerdigung, wirklich, und ich weinte so, als ich sie im Sarg liegen sah. Danach wurde es einfacher, sich daran zu erinnern, wie es war, als wir zusammen waren. Ein schönes Gefühl. Die Toten schlafen so friedlich. Ich habe immer gedacht, daß ich warten müßte, bis ich sterbe, bevor ich mich ausruhen kann. Ja. Das ist es. Ich wußte, daß ich eines Tages sterben würde, und dann wäre alles gut.« Sie unterbrach sich erneut. »Ich freue mich auf diesen Tag.«
Es war alles spontan aus ihr herausgesprudelt. Und dann fand ich, daß ich Laura ebensogut heute wie ein andermal das Wenige erzählen konnte, das mir über ihre wirklichen Eltern bekannt war. Sie sollte wissen, daß sie in einer Nervenklinik waren, weil sie mit dem Leben nicht fertig wurden und deshalb Laura auch die Liebe und Fürsorge nicht geben konnten, auf die sie ein Anrecht hatte. Vor allem mußte ich zum Ausdruck bringen, daß diese Menschen nicht lieben konnten; ich mußte ihr sagen, es verhielte sich nicht etwa so, daß Laura selbst nicht liebenswert wäre — und das war nicht leicht. Wie kann man einem Kind seelische Krankheit erklären, die selbst Erwachsenen nicht verständlich ist? Ich begann damit, daß ich körperliche Krankheit zum Vergleich heranzog.
Erst schien ihr die Erklärung einzuleuchten, aber dann sagte sie: »Es hätte nichts gemacht. Ich hätte sie auch geliebt, wenn sie krank gewesen wären. Warum haben sie mich nicht geliebt?«
»Sie waren nicht fähig…sie konnten für niemanden Verantwortung übernehmen, nicht einmal für sich selbst.«
»Aber man kann doch einen Menschen lieben, auch wenn einem das Bein weh tut oder man schlimme Kopfschmerzen hat. Jedenfalls hindert es einen doch nicht am Lieben, nicht wahr? Nein. Sie waren krank, und ich war etwas, über das sie sich schämten.«
Dieser Gedanke verfolgte sie und verwirrte sie immer mehr. Sie sprach fast wie in Raserei, und diese Wut hatte ich nicht ganz vorausgesehen. Aber ich hatte Grund, mich darüber zu freuen: Es ist ein grundsätzlicher menschlicher Wunsch, irgendeine Beziehung zu anderen herzustellen, und ihr Energieaufwand in diesem Zusammenhang bedeutete, daß Menschen wieder einen Reiz für Laura besaßen.
Um diese Entwicklung zu fördern und zu beschleunigen, mußte ich ihre Beweggründe dafür anzweifeln, daß sie sich jetzt, wo so viele mit ihr in Verbindung treten wollten, immer noch abkapselte. Mochte ihre Absonderung als Kind ihren schrecklichen Erlebnissen angemessen gewesen sein, so mußte sie diese Verhaltensweise doch eines Tages ablegen, wenn sie je mit der realen Welt ins reine kommen wollte.
Aber sie konnte die Hände, die ihr so viele im Heim jetzt entgegenstreckten, immer noch nicht ergreifen. Und diese Unfähigkeit, Liebe zu geben und zu empfangen, war der Hauptgrund dafür, daß sie sich nicht weiterentwickeln konnte. Immerhin waren die ersten Anzeichen dafür sichtbar, daß sie sich anderen zuwenden wollte. Um sie anzuspornen spielte ich manchmal in unseren Stunden den Advokaten des Teufels und provozierte sie sogar hin und wieder.
Die idealisierenden Vorstellungen von ihren Eltern wurden ihr zum Hemmschuh, indem sie sich in masochistischer Weise selbst für die Gleichgültigkeit anderer verantwortlich machte. Ihre Häßlichkeit wurde zur Grundursache ihres Elends. Bestrafung war die gerechte Folge für ihr Verbrechen, häßlich zu sein.
Im Rahmen des Krankenbildes des »häßlichen Entleins« hatte Laura die Logik eines Staatsanwaltes. Von keinem, so argumentierte sie, konnte man erwarten, daß er jemanden liebt, der häßlich ist. Je länger sie diesen Gedanken verfolgte, desto stärker wurde ihr Selbsthaß. Solche Grübeleien gipfelten in häufigen Tränenausbrüchen, und eines Nachmittags, als sie sich in meinem Büro einen Spiegel vors Gesicht hielt, schrie sie (vielleicht hatte sie es oft geübt): »Spieglein, Spieglein an der Wand, ich bin die Häßlichste im Land!«
Als ich ihre Beweggründe anzweifelte, wurde sie böse. Die Überzeugung, daß ihre Eltern nur taten, was alle anderen Eltern tun würden, wenn sie ein so häßliches Kind hätten, setzte sich immer mehr in ihr fest. Einmal meinte sie entschieden: »Was hatten sie für eine Wahl? Ich hätte das gleiche getan, wenn mein Kind so häßlich wäre.«
Diese Tendenz zur Selbstbestrafung lähmte ihre innere Energie; ihre Kraft schwand unter der Last äußerer Enttäuschung und innerer Furcht. Der emotionale Kompromiß, den Laura schloß, war wie das Grau, das sich aus dem Vermischen von Schwarz und Weiß ergibt. Hat man sie einmal vermischt, ist es außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich, sie wieder zu trennen.
Lauras Gleichgültigkeit sich selbst, ihren Kleidern, ihrer allgemeinen Erscheinung und ihrer Isoliertheit, ja selbst dem symbolischen Tod gegenüber, der durch ihre Stummheit ausgedrückt wurde, war zu diesem Zeitpunkt etwas, an das sie sich klammem mußte. Einer ähnlichen Einstellung war ich bei einem Patienten begegnet, der unter Fettleibigkeit litt. In beiden Fällen war die Enttäuschung über sich selbst der Grund für Antriebsmangel, für eine verminderte Bindung an das Leben und seine Probleme. Laura hatte einen Fall gegen sich selbst aufgebaut; so konnte sie sich jede Enttäuschung leicht als etwas erklären, das sie verdiente. In diesem Sinne gab es in der Außenwelt nichts mehr, vor dem sie sich fürchten mußte, da sie ja die Kräfte in ihrer Umgebung akzeptierte, die sie bestraften, indem sie ihr etwas vorenthielten. Beim Verbrechen der Häßlichkeit war sie Richter, Geschworener und Henker zugleich. Und Opfer.
Lauras Persönlichkeit war nur lose zusammengefügt. Es gab bei ihr lediglich verschwommene Grenzen zwischen dem Selbst und der Wirklichkeit, zwischen Bewußtem und Unbewußtem, während die einzelnen Bruchstücke dieses lockeren Gefüges für sich und oft sogar in Widerspruch miteinander standen.
Die positiven Gefühle des Mädchens für mich waren mit kindlichem Negativismus und Opposition durchsetzt. Symbolisch vertrat ich natürlich alle Eltern, die sie je gekannt hatte, und einige davon hatten Scheren gehabt und wollten ihr damit die Zunge abschneiden.
Während dieser ganzen Periode war sie jedoch eine gute Patientin und versäumte keine Stunde. Oft kam sie sogar eine Viertelstunde zu früh. Sie sah mit der Zeit auch viel ordentlicher aus. Ihr Haar war gekämmt, die Kleider gebügelt und farblich aufeinander abgestimmt. Der gesenkte Kopf und die hängenden Arme waren Erinnerungen an die Vergangenheit. Obwohl sie sich in der Gruppe noch unsicher fühlte, brachte sie es doch fertig, ein anderes Kind anzulächeln oder sich kurz mit ihm zu unterhalten.
Hauptsächlich ihr gekrümmter Rücken mahnte noch daran, wie sehr sie ihre Mißbildung empfand. Zumindest die körperliche Mißbildung. Ihre geistige Unzulänglichkeit stand auf einem anderen Blatt.
Gemeinsam mit anderen Mädchen hatte Laura die Schule im Heim besucht. Niemand erwartete, daß sie hier wirklich etwas leistete, aber sie brauchte während der Stunden wenigstens nicht beaufsichtigt zu werden. Im Verlauf der Jahre war sie lediglich aufgrund ihres Alters von einer Klasse in die andere versetzt worden. Soweit es die Ausbildung betraf, machte es auch nicht viel aus, ob sie nun in der vierten oder der sechsten Klasse saß, denn sie zeigte für kein Fach Interesse.
Ich war daher nicht überrascht, als ich in den Unterlagen von Schwester Margaret feststellte, daß die Psychologen bei psychometrischen Tests zum Ergebnis gekommen waren, daß vermutlich Schwachsinn vorlag. Die Beurteilung geistiger Fähigkeiten durch Tests ist umstritten, und ich war völlig davon überzeugt, daß Laura nicht schwachsinnig war. Ihr Wortschatz und der eindrucksvolle Gebrauch der Sprache bezeugten eine Aufgewecktheit, die durch ihre traumatischen Erlebnisse nicht gelitten hatte. Die Resultate von Tests mit Laura hingen nicht von ihrer Intelligenz, sondern viel eher von ihrem emotionalen Zustand ab. Ich kannte Sie jetzt schon gut genug, um zu wissen, daß eine Test-Situation für sie unterbewußt weiter nichts als eine Übung in Selbstzerstörung bedeutete. Ich begrüßte es daher sehr, als sie mir eines Tages ihren Wunsch mitteilte, Kinderschwester zu werden.
Der Gedanke, einmal Schwester zu werden, war Laura wohl gekommen, als sie zusah, wie die Schwestern die Zwei- und Dreijährigen betreuten. Sie hatte das Gefühl, daß auch sie ihnen helfen könnte, und ahnte, daß die Kleinen sie mögen würden.
Das Interesse gerade an dieser Beschäftigung hatte persönliche Bedeutung. Hier gab es etwas Nützliches, das sie für andere Menschen tun konnte, und zwar für solche Menschen, die ihr kritiklos, ohne Fragen vertrauten. Es muß ein entscheidender Augenblick für sie gewesen sein, als sie zum erstenmal einen geschützten Platz in der Welt für sich entdeckte, der ihr ein schwaches Gefühl von Bedeutung und Anerkennung vermitteln könnte, ohne daß Unzulänglichkeit und Wettbewerb sie bedrohten. Die Liebe hilfloser Kinder ist blind und aufrichtig. Diese Liebe, so mußte ihr Unterbewußtsein ihr gesagt haben, würde sie empfangen, und durch die Sicherheit dieser Rolle könnte auch sie ihrerseits geben, was sie hatte.
Die widerstreitenden Gefühle, die eine solche Hoffnung in ihr weckten, kamen jedoch bald zutage, und kaum hatte sie mir den Wunsch mitgeteilt, als sie auch schon an sich zu zweifeln begann.
»Und was geschieht, wenn ich alles verpfusche? Nein, ich könnte niemals …«
Ihr Selbstvertrauen verließ sie so schnell wie Luft einen durchlöcherten Ballon, und hinterher war sie mutloser als zuvor. Die Kinder würden sich nie an sie gewöhnen, sie war zu häßlich und so weiter.
Inzwischen hatte ich mich an das Auf und Ab ihrer Gefühle gewöhnt. Die Reaktion war vorauszusehen, denn ihre Häßlichkeit war in jenen Tagen zu einer regelrechten Besessenheit geworden, der Brennpunkt all ihrer Unsicherheiten. Jede frühere Zurückweisung, ihre Isoliertheit, den Selbsthaß — alles bezog sie darauf.
Es war eine psychische Entschuldigung. Wie im Falle der Fettleibigkeit meines anderen Patienten stellte Lauras Häßlichkeit etwas dar, auf das sie sich zurückziehen konnte, wenn es im Leben zu stürmisch herging. So war auch ihre Stummheit unterbewußt eine Entschuldigung, hinter der sie sich verstecken konnte — eine greifbare, offenkundige Art, der Welt zu zeigen, daß sie Mitleid brauchte und sozusagen von der Teilnahme am Leben entschuldigt war.
Welche tieferen Ängste machten erst in Laura aufsteigen, wenn sie diese schützende Nische nicht mehr hätte? War sie überhaupt schon so weit, daß sie dem Leben offen gegenübertreten konnte? War das ihre letzte Verteidigungsreserve gegen vollkommene Selbstzerstörung? Auf jeden Fall war ich überzeugt, daß sie irgendeinen Schutz für ihr so verwundbares Ich brauchte, für das brüchige Bild, das sie sich von sich selbst machte. Würde ihr dieser Schutz genommen, so stand bei ihr nicht weniger als die geistige Gesundheit auf dem Spiel. Es war also tatsächlich möglich, daß die Verschönerung ihres Außeren, die Entfernung der Krücke, auf die sie sich so schwer stützte, sie in den Abgrund der Bewußtseinsstörung zurückwerfen konnte, aus dem sie sich so mühsam herausquälte.
Andererseits mußte man ihren Fortschritt beachten und ihre offensichtliche Bereitschaft zu kämpfen, wenn es schlecht stand. Das Interesse, Schwester zu werden, war ein Interesse an der Zukunft. In dieser Hinsicht schlug sie sich tapfer. Ich trat mit dem Plan an Schwester Margaret heran, Lauras Augen, ihren Rücken, die Beine und schließlich die Narben auf ihrem Gesicht operieren zu lassen. Wir kamen überein, daß man ihr diese Vorhaben nur allmählich beibringen konnte, der Reihe nach, und in unserer nächsten Stunde versuchte ich sie dazu zu bewegen, einer Korrektur ihres Sehfehlers beizustimmen.
Diese Aufgabe war, gelinde gesagt, außerordentlich heikel. Lauras Selbstbewußtsein hing sehr eng mit ihrer äußeren Erscheinung zusammen. Natürlich trifft das bis zu einem gewissen Grade für uns alle zu, aber Laura überlegte sofort, was sie wohl fühlen würde, wenn ihr Körper sich änderte.
»Würde ich wissen, wer ich bin?« fragte sie. »Ich meine, würde ich mich im Spiegel erkennen? Es wäre so, als würde man noch einmal geboren, nicht wahr?« Ich forschte in ihrem Gesicht, um zu sehen, wie tief ihre Ängste waren. Nach einer Weile stellte ich jedoch erfreut fest, daß ich nur meine eigenen Befürchtungen in sie hineinprojiziert hatte. Schließlich sagte sie: »Ich glaube, mir gefällt die Idee …«
Das war wieder ein wichtiger Abschnitt in ihrer Entwicklung. Wir brauchten natürlich nicht nur ihr volles Einverständnis für eine solche Operation, sondern auch ihre Bereitschaft, sich zu ändern, ein Risiko einzugehen. In jenen Tagen, als wir alle in Lauras Umgebung uns noch an Strohhalme klammerten, war das ein wichtiges Zeichen des Vertrauens.
Ich begab mich sofort zu Schwester Margaret. Ich hatte keine Ahnung, welche Lektion in geschickter Menschenbehandlung ich bald erhalten sollte.
18
Vier Operationen. Für die meisten Menschen ist es schon mehr als genug, sich einmal dem Messer des Chirurgen auszuliefern.
Eigentlich hätte ich auch an dem ersten Tag, als ich Schwester Margaret meinen Plan vorlegte, wenig Hoffnung, daß er je ausgeführt würde. Einmal waren die Kosten beträchtlich, und das Heim hatte keinen Fonds für solche Operationen; zum anderen brauchte Laura einen verständnisvollen Arzt, der die Tragweite erkannte, die ihre Mißbildung für sie hatte. Ich merkte jedoch sehr bald, daß ich die Entschlossenheit und Unbeirrbarkeit der sanftblickenden Schwester Margaret gewaltig unterschätzt hatte.
In den modernen Großstädten regiert der Bürokratismus, und das Heim war ihm ebenso ausgeliefert wie wir alle. Mrs. Clancys chaotisches Büro, in dem ich über die Operation sprach, war der beste Beweis dafür.
Nun hätte zwar jedes städtische Krankenhaus diese Operation von Lauras Augen ausführen können; denn sie betraf nicht den Augapfel, sondern die Muskeln auf beiden Seiten der Augen. Aber ein x-beliebiges Krankenhaus war in diesem Fall eben nicht gut genug. Die unpersönliche Atmosphäre, das Warten, die kalte Routine hätten Laura den ersten Schritt zu einem neuen Selbstbild emotional erschwert.
Schwester Margaret begriff dies sofort und stürzte sich auf die Aufgabe wie ein Stürmer, der versucht, die gegnerische Mannschaft abzuschütteln und im Alleingang ein Tor zu erzielen. Ich gab ihr bei dieser Gelegenheit den Spitznamen »Linksaußen«.
Sie rief sogleich Schwester Paulette an, die jedoch nicht aufzufinden war. Schließlich fanden wir heraus, daß die Oberin sie hatte rufen lassen, da ein Besuch der Generaloberin bevorstand. Ich konnte mir denken, daß die Oberin der »nachsichtigen« Schwester Paulette strengere Manieren anempfohlen hatte, denn als sie zu uns kam, sah sie bekümmert aus. Ihre Miene wandelte sich jedoch, sobald Schwester Margaret Laura erwähnte, und alle drei nahmen das Problem unverzüglich resolut in Angriff.
Die beiden Schwestern redeten, Mrs. Clancy steckte Zigarette um Zigarette an, und ich wurde immer verwirrter. Es wurde nämlich »beschlossen«, daß die Operation privat durchgeführt werden sollte.
»Wer soll das alles bezahlen?« warf ich einmal ein.
»Ich bin sicher, daß ich irgendeinen netten Arzt überreden kann, kostenlos zu operieren«, erwiderte Schwester Margaret.
Ich lachte. »Und was geschieht, wenn Ihnen das nicht gelingt?«
Die beiden Schwestern wechselten erstaunte Blicke. Irgendwie würden sie das Geld schon auftreiben — ich sollte mir nur keine Sorgen machen. Anscheinend wollten sie eine andere Schwester anrufen, Verwalterin in einem Krankenhaus, und sie fragen, ob sie ihnen einen Operationssaal und ein Zimmer zur Verfügung stellen würde, wo Laura sich dann erholen konnte.
Sie unterhielten sich gelassen über die verschredenen Schwestern, die sie kannten, und überlegten, auf welche Weise sie wohl die eine oder die andere am besten in ihr kleines Komplott verwickeln könnten. Ich lauschte. Ein Kampfplan schälte sich heraus, der eine verwirrende Anzahl von Telefongesprächen und persönlichen Besuchen und nicht zuletzt die Anwendung hypnotischer Kräfte zu beinhalten schien. Kopfschüttelnd ging ich an diesem Tag nach Hause.
Das Resultat ihres Feldzugs erwartete mich in der folgenden Woche.
»Ach ja, Herr Doktor«, erklärte mir Schwester Margaret mit zuckersüßer Stimme über das Telefon, »es ist alles arrangiert.«
Und es war tatsächlich so: Sie hatte einen Spezialisten, ein Krankenhaus und ein Privatzimmer aufgetrieben und auch schon den Termin festgesetzt, zu dem Laura vor der Operation untersucht werden sollte. Keine erfahrene Sekretärin, die sonst nichts weiter zu tun hat, hätte es besser machen können. Wahrscheinlich nicht so gut.
Bevor sie einhängte, erkundigte ich mich unschuldig: »Wie in aller Welt haben Sie das eigentlich fertiggebracht, Schwester?«
Sie lächelte leise. »Oh, Gott stand uns bei.«
Das war meine erste Lektion in Beharrlichkeit. Aber es war mehr. Es war die unglaubliche Fähigkeit, etwas so Abwegiges wie eine Weigerung einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen; der unerschütterliche Glaube, durch langsames Kratzen an der gleichgültigen Fassade eines Arztes zu dessen mitfühlendem Herz durchzudringen — und dann hatte man ihn gewonnen. Der Augenspezialist war ihr erstes, aber keineswegs ihr letztes Opfer.
Außerdem hatte Schwester Margaret das Protokoll umgangen, das heißt, sie hatte ihre Vorgesetzte, die Oberin, nicht informiert. Ich konnte das sehr gut verstehen, denn das ganze Manöver war höchst ungewöhnlich und entsprach nicht den Vorschriften. Sie konnte ja schwerlich in das Büro der Oberin stürzen und ankündigen, sie hätte gerade ein halbes Dutzend Spezialisten und ein Krankenhaus oder so auf nicht ganz einwandfreie Weise »überredet«, Laura zu helfen.
Ganz genau wußte keiner, was Schwester Margaret dem Arzt erzählt oder welchen Druck sie auf ihn ausgeübt hatte. Mir tat der arme Kerl eigentlich leid. Welche Chance hatte er schon gegen diese Frau mit der sanften Stimme, den gefalteten Händen, der untadeligen Tracht, dem engelhaften Lächeln und der biblischen Sprache? Er wußte wahrscheinlich gar nicht, was ihn getroffen hatte.
Denn unter ihrem ruhigen, gewinnenden Äußeren schlug das Herz eines schlauen, kühnen und begabten Menschen, der die Leute nach einer Unterhaltung von fünf Minuten einschätzen konnte. Daß sie neben dieser überdurchschnittlichen Intelligenz auch noch in Psychologie ausgebildet war, machte ihre Überredungskunst zu einer gefährlichen Waffe.
Schwester Margarets Motive waren auffallend einfach. Ihr Lebensinhalt waren die Kinder. Wie wir alle, die dort arbeiteten, haßte sie jede Diskriminierung von einzelnen, besonders der Armen und Hilflosen. Laura konnte sich nicht selbst verteidigen, und so hatte mein Plan alle ihre Kräfte mobilisiert.
Seit damals habe ich viele Angestellte in Anstalten gesehen, die hart und taub gegen die Bedürfnisse der Kinder wurden. Für diese Menschen war ihre Tätigkeit nur ein Job wie jeder andere. Die Vorschriften und Regeln, die unpersönliche Bürokratie dieser Anstalten wurden als Entschuldigung benutzt, um den Schwierigkeiten mit einem besonders geplagten Kind aus dem Wege zu gehen.
Zum Glück für Laura war Mrs. Clancy aus dem gleichen Holz gesehnitzt wie die Schwestern. Sie war vielleicht nicht ganz so klug und hatte auch nicht den Vorteil der entwaffnenden Tracht, doch sie war aufrichtig und nahm kein Blatt vor den Mund, und jedes Kind kannte und liebte sie. Ich habe die Wutanfälle erlebt, in die sie ausbrechen konnte, wenn sie mit irgendeinem hohen Beamten am Telefon über die besondere Notlage eines Kindes sprach. Sie haßte die Rolle des Inquisitors, die die Bürokratie ihr auferlegen wollte, und strahlte statt dessen Würde, Wärme und echte Achtung für die Kinder aus. Wer ihr jedoch in die Quere kam, mußte sich in acht nehmen.
Und so geschah es tatsächlich, daß Laura vor meinen halb ungläubigen Augen an dem verabredeten Tag mit einer kleinen Tasche, zusammen mit Mrs. Clancy, das Heim verließ. Ich begleitete sie hinaus auf die windige Straße, wie ich es ihr versprochen hatte. Am Tag zuvor war sie ängstlich gewesen, wie jedes Kind in einer solchen Situation es wäre; trotzdem aber war sie zu der Sache entschlossen. Meine eigene Sorge drehte sich hauptsächlich um ihre Erinnerung an einen Arzt, der einem Kind Schmerzen bereitet, und ich hoffte, daß sie durch die Operation nicht wieder neu angefacht wurde. Aber Laura schien ruhig, als sie in das Taxi stieg, vielleicht zu ruhig. Sie winkte mir einmal zum Abschied zu, dann blickte sie vorwärts.
Die ungewissen Stunden unseres gewagten Unternehmens waren für uns alle, die wir eng mit Laura verbunden waren, eine bange Zeit. Ich wußte, wir wünschten alle, die Stunden möchten schneller vergehen, und ich rief das Krankenhaus wiederholt an.
Endlich konnte ich dann Schwester Margaret und Mrs. Clancy die gute Nachricht überbringen, daß die Operation vollen Erfolg gehabt hätte. Laura würde in Kürze zu uns zurückkehren. Mrs Clancy brach sogar in einen heiseren ]ubelruf aus.
Laura kehrte mit einem Verband um die Augen, aber in gehobener Stimmung zurück. Ich ging sofort zu ihr. Sie saß neben ihrem Bett und wartete ungeduldig auf den Augenblick, in dem man den Verband abnehmen würde und sie ihre »neuen« Augen sehen konnte. Ich sah kein Anzeichen ungewöhnlicher Reaktion. Sie war ganz erfüllt von Geschichten über die verschiedenen Besuche, die sie gehabt hatte, über die Karten von Schwestern und Kindern, die man ihr vorgelesen hatte, und die Blumen, die ihr von ihrer Gruppe geschickt worden waren. Jedes Kind hatte etwas von seinem Taschengeld zu den Blumen beigesteuert, und sie bedeuteten viel für Laura. Sie schwatzte und schwatzte, beschrieb auch das schöne Zimmer im Krankenhaus, das sie mit einem anderen Kind geteilt hatte, und ich konnte kaum ein Wort einwerfen.
Wie immer sie nun aussehen mochte, Laura wußte, daß sie getan hatte, was sie konnte. Sie war meinen Anweisungen gefolgt, hatte ihren Mut zusammengenommen und sich aus ihrem Schneckenhaus hervorgewagt. Sie war das Risiko eingegangen. Nun war es an mir, ihr das zu geben, was ich ihr, wenigstens andeutungsweise, versprochen hatte.
19
Als Lauras Verband entfernt wurde, eilte sie von einem Spiegel zum anderen und betrachtete ihre Augen. Sie war glücklich über ihr neues Aussehen: Es war etwas Greifbares, das ihre Selbstachtung erhöhte und ihr erlaubte, sich dem Leben mit mehr Energie zuzuwenden. Die Begeisterung, mit der Lauras Kameradinnen die Veränderung begrüßten, hatte ich jedoch nicht vorausgesehen. Die Mädchen umringten sie und überschütteten sie mit Komplimenten. Es machte ihnen anscheinend besonderen Spaß, ihr die Haare zu legen, sie zu kämmen und alle denkbaren und undenkbaren Frisuren bei ihr auszuprobieren.
Laura saß da wie ein junger Hund und ließ sich von ihnen bewundern. Wenn aber ein Erwachsener ihr Komplimente machte, wandte sie sich errötend ab. Es war immer noch schwierig für sie, mit den Schmeicheleien und der Zuneigung älterer Menschen fertig zu werden — zuviel davon verwirrte sie, und gewöhnlich zog sie sich dann zurück.
Natürlich hatte die konvergierende Sicht sie in der Vergangenheit mit doppelten Bildern und anderen Verzerrungen gequält. Auch ohne diese unglückselige Verwirrung war es für sie schwierig genug gewesen, zwischen Wirklichkeit und Phantasie zu unterscheiden. Jetzt aber war alles, was über einen kurzen Abstand hinausging, klar, scharf und deutlich. Wiederholt erklärte sie mir, wie »anders« die Gegenstände jetzt für sie aussähen. Die Bilder, die ihre Augen ihr nun vermittelten, waren eine genaue Wiedergabe der Außenwelt, sie konnte ihnen vertrauen und erhielt dadurch ein neues inneres Gleichgewicht. Es war jedoch immer noch ein mühsamer, unsicherer und zweifellos schmerzhafter Prozeß für sie, ihren Erfahrungen einen Sinn zu verleihen.
Unsere Gespräche erhielten jedoch jetzt einen anderen Charakter. Das verängstigte Wesen, das sich bei jedem Gefahrensignal sofort in sich selbst zurückzog, hatte sich hinausgewagt. So weit, so gut. Die Tür zur Vergangenheit schloß sich sanft. Ich unterstützte sie in ihrem Ehrgeiz, Kinderschwester werden zu wollen. Sofort erklärte sie mir, daß sie zu wenig gelernt habe, die Prüfungen niemals bestehen könne und dergleichen mehr.
»Du mußt Geduld haben, Laura«, empfahl ich ihr.
Die Entrüstung, mit der sie diesen Ratschlag aufnahm, zeigte mit, daß sie gefährlich dazu neigte, mich für eine Art Zauberer zu halten. Die Erwartung, daß der Therapeut, ähnlich einem Vater, allmächtig und beschützend ist, ist in Beziehungen dieser Art nur zu natürlich. Was Laura betraf, so hatte sie das Gefühl, sie hätte nun ihr Teil getan — jetzt sei ich an der Reihe! Darüber hinaus hatte sie viele neidische Vergleiche zwischen sich und den anderen Mädchen angestellt, wenn sie zuhörte, wie diese ihre Kenntnisse und Fähigkeiten hervorhoben. Laura mußte so bald wie möglich merken, daß sie von mir nicht alles, was sie im Leben brauchte, erwarten konnte.
Im Heim wurde dafür gesorgt, daß fast jedes Mädchen die Chance erhielt, irgendein besonderes Talent oder eine Fähigkeit zu entwickeln, die ihm die Anerkennung seiner Gruppe sicherte. Es konnte Kochen sein, Schneidern oder eine bestimmte Begabung in der Schule, vielleicht für Mathematik oder eine Fremdsprache. Die beleibte Schwester Martha in der Küche ermunterte sie stets zur Hauswirtschaft.
Aber Laura wollte nicht kochen oder Kleider nähen, und in der Schule gäbe es zu viele andere Mädchen, die gescheiter waren, die viel besser lesen und schreiben konnten, als sie es im Augenblick vermochte. Also unterstützte ich sie in dem Gedanken, daß sie bei der Arbeit mit ganz kleinen Kindern ohne quälende Konkurrenz bliebe. An einem sonnigen Nachmittag besprach ich das Problem mit Schwester Margaret. Eine dampfende Tasse Kaffee auf einem voll beladenen Klapptisch verriet mir, daß Mrs. Clancy nicht weit sein konnte.
»Laura muß sich irgendwie nützlich machen können«, erklärte ich. »Sie muß sich erfüllt fühlen. Das ist äußerst wichtig für sie. Wenn sie einer Schwester helfen könnte, die die ganz kleinen Kinder unter sich hat …«
»Die Zwei- und Dreijährigen, Herr Doktor?« fragte Schwester Margaret.
»Es ist wahr, Schwester Jean ist sehr überlastet.«
»Ich bin sicher, daß Laura sich die größte Mühe geben wird« , sagte ich.
»Und was ist, wenn sie versagt?« ertönte eine heisere Stimme. Mrs. Clancy schritt durch die Tür, mehrere berstende Aktendeckel in der Hand.
»Sie wird nicht versagen«, erwiderte Schwester Margaret nach einem Augenblick. Dann sah sie zu mir auf. »Nicht wahr, Herr Doktor?«
Ich hätte gern geantwortet: »Nicht, wenn Sie es sagen.«
»Ich glaube nicht«, sagte ich laut.
Ich erklärte den beiden Frauen, daß Laura jetzt eine Chance brauche, sich im Leben zu bewähren, selbst eine wirkliche Arbeit zu leisten und sich damit etwas zu beweisen, wovon sie noch soviel Zuspruch nicht überzeugen könne. Hier liege die ideale Lösung, da die Möglichkeit, daß sie enttäuscht würde, gering sei.
»Es ist ein Risiko, der Meinung bin ich auch«, schloß ich, »aber das wird bei Laura in jedem Fall so sein.«
Ich beobachtete sie scharf, denn ich hatte noch einen Wunsch.
Wieder einmal wirkte die Herausforderung — Schwester Margaret schritt zur Tat. Innerhalb einer Stunde war alles geregelt. Laura würde drei Stunden täglich Schwester Jean helfen, die Kinder anziehen, mit ihnen spielen, sie beaufsichtigen und ihr Abendessen überwachen. Die Altersgruppe umfaßte die Zwei- bis Fünfjährigen, und es waren zwölf Kinder in der Gruppe. Schwester Jean würde jederzeit gern mit mir darüber sprechen. Ich beschloß, meinen letzten Vorstoß zu wagen.
»Ich möchte, daß Laura wenn immer möglich für die Arbeit bezahlt wird«, sagte ich.
Das versetzte ihnen einen Schlag. Schwester Margaret erklärte mir höflich, welche Schwierigkeiten damit verbunden wären, angefangen bei der Erlaubnis der Oberin, über die verschiedenen Dokumente, die unterzeichnet werden mußten, bis zur Genehmigung aller möglichen Stellen.
Wenn Laura auch nur ganz wenig verdiene, warf Mrs. Clancy ein, könne nicht ein Cent mehr von dem Geld des Wohlfahrtsamtes für sie verwendet werden.
»Zufällig erwarten Wir auch noch in Kürze einen Besuch der Generaloberin«, erinnerte mich Schwester Margaret freundlich. »Falls Sie es nicht wissen sollten, Herr Doktor, alle Schwestern unseres Ordens an der Ostküste unterstehen ihr.«
»Warum wollen Sie, daß Laura bezahlt wird?« fragte Mrs. Clancy.
Ich versuchte möglichst logisch zu antworten. Ich selbst sah nicht recht ein, warum sie eine Arbeit tun sollte, nur damit ihre Finger beschäftigt waren, genauso wie ich es nicht verstehen kann, warum man die Patienten in Nervenkliniken Körbe flechten läßt. Laura hatte den ganz normalen Wunsch zu arbeiten wie jeder andere. Die Frauen, die wir Hausmütter nannten — Laienhelferinnen, die beim Putzen halfen —, wurden ja auch bezahlt. Wenn Laura jemals außerhalb des Heims wohnen würde, so mußte sie sich ihren Unterhalt verdienen. Deshalb wollte ich, daß sie das Berufsleben in seiner ganzen Realitat sah, sowohl dessen Anforderungen als auch dessen Entgelt, und daß Sie den Wert des Geldes kennenlernte. Laura wußte so gut wie nichts über Geld. Ihr wöchentliches Taschengeld von einem Dollar war auf ein Sparbuch eingezahlt worden und das Heim sorgte für ihre geringen Bedürfnisse.
Schwester Margaret hörte geduldig zu. »Hmm«, sagte sie schließlich. »Es ist nur gut, daß Gott uns beisteht, Herr Doktor. Sie geben uns so schwierige Probleme auf.«
»Glauben Sie also, daß Sie eine Bezahlung für sie durchsetzen können?« fragte ich.
»Ich weiß es nicht«, kam die bestimmte Antwort. »Aber ich werde beten und sehen, was dann geschieht.«
Irgendwie hatte ich das Gefühl, daß sie schon längst eine Möglichkeit entdeckt hatte, wie sie dem Bürokratismus ein Schnippchen schlagen könnte. Es war genau die Aufgabe, die sie liebte.
Eine Woche später rief sie mich an und erklärte mir, daß Laura bezahlt werden würde.
»Sie haben es schon geregelt? Wunderbar.« Und dann witzelte ich: »Sie müssen einen heißen Draht zum lieben Gott haben.«
»Nein«, kam die gelassene Antwort, »aber ich bin mit seiner Telefonistin befreundet.«
Ich brachte nicht viel über ihre diesbezüglichen komplizierten Machenschaften aus ihr heraus. Sie erklärte nur, daß Lauras Lohn unter den Posten »Verschiedenes« fallen würde. Die Schwester, die die Buchhaltung machte oder die Bücher prüfte, war irgendwie dazu »überredet« worden, die Zahlungen an Laura auf diese Art zu verbuchen; einen anderen Weg schien es nicht zu geben. Als ich Schwester Margaret warnte, sie solle sich nicht meinetwegen erwischen lassen, erwiderte sie vergnügt: »Oh, sie können uns nicht hinauswerfen. Wo bekämen sie sonst so billige Arbeitskräfte her?«
Ich dankte der Schwester und erzählte Laura sofort von der Stellung. Ihr rasches Lächeln sagte mir, was sie davon hielt. Man hatte sie akzeptiert. Als ich ihr die Verantwortung der Arbeit auseinandersetzte und dabei darauf achtete, daß ich sie nicht einschüchterte, erkannte ich wieder einmal, daß Laura für mich Kleinkind, Kind und Halbwüchsige zugleich war. Ich war niemals ganz sicher, mit wem ich gerade sprach.
In der nächsten Woche arbeitete sie schon bei den Kindern unter Schwester Jean. Das Jahr ging gut.
Zuerst wurde sie etwas von den Einzelheiten verwirrt, die Schwester Jean ihr erklärte, aber dann bekam sie die Sache rasch in den Griff. Die Kinder machten sie bald immer lieber.
Als ich sie zwei Wochen später besuchte, hingen sie an ihr, suchten ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, riefen ihren Namen und bettelten darum, von ihr auf den Schoß genommen zu werden. Laura hatte viel zu tun und schien jeden Augenblick zu genießen. Ihr Gesicht hatte Farbe, die Bewegungen waren rasch, die Sprache ungezwungen. Sie schien völlig von ihrer Arbeit in Anspruch genommen.
Einmal, erinnerte ich mich, sah sie auf und bemerkte zu mir: »Ach, ich kann mich im Moment leider nicht mit Ihnen unterhalten, ich habe viel zuviel zu tun.«
Es war natürlich eine Freude, sie mit anderen Dingen als sich selbst beschäftigt zu sehen, und die Freude wurde noch größer, als Schwester Jean herbeieilte und mir das Versprechen abnehmen wollte, daß sie Laura behalten könne.
»Sie hat solche Geduld mit den Kleinen«, sagte die überarbeitete Gruppenmutter, »und auch soviel Energie. Alle Kinder haben sie gern.«
Laura spürte, daß ihre Leistung gut war, und die Schwestern natürlich auch. Es war »Lauras Art mit den Kindern«. Drei Wochen, und sie war fast eine Fachkraft.
Zum erstenmal hatte sie sich der realen Welt gestellt und hatte dabei mehr als nur eben überlebt. Das Leben außerhalb ihres Schneckenhauses wurde bedeutungsvoll und lohnend.
Sie gewöhnte sich daran, mir ihre Gedanken über die Kinder und ihre neue Arbeit mitzuteilen. jetzt freute sie sich schon jeden Tag auf den nächsten, als würde jede Stunde, ja sogar jede Minute etwas Besseres bringen. Je mehr sie bei ihrer Arbeit engagiert war, desto stärker wurde die Schranke zwischen ihrem vergangenen Leben und der Gegenwart. Sie bewegte sich mit mehr Selbstvertrauen, es war neue Kraft in ihren Gliedem, sie wurde eine lebendige Persönlichkeit, die wir alle bemerkten und anerkannten.
Das nächste Stadium auf ihrem beruflichen Weg — und sie wußte es nur zu gut — war ihr Eintritt in die Oberschule. Inzwischen hatte sie sich mit vielen Mädchen unterhalten, welche die Schule besuchten.
Die Leitung der Oberschule, an die wir uns wandten, verlangte ein psychologisches Gutachten, nachdem sie sich über Lauras Grundschulbesuch im Heim informiert hatte. Man war nicht sicher, ob sie den Lehrplan schaffen konnte.
Aus den Gruppentests, die in regelmäßigen Zeitabständen in den Grundschulen durchgeführt werden, ging hervor, daß Laura geistig zurückgeblieben war. Der Bericht der Lehrerin der fünften Klasse stellte klipp und klar fest: »Dieses Kind gehört in eine Klinik, nicht in ein Schulzimmer. Es ist nicht erziehbar.« Es war mir ganz klar, daß die Oberschule Laura nicht aufnehmen würde, wenn sie in der Angelegenheit ein Wort mitzusprechen hätte.
Außerdem machte ich mir Sorgen um Lauras weitere Zukunft. Es ist in unserer Gesellschaft schon ein sehr schwieriges Problem, wieder auf Füße zu kommen, wenn. man nur einen Nervenzusammenbruch gehabt hat. Solche Begebenheiten scheinen einen Menschen zu brandmarken (Wir alle haben schon ‘die Redensart gehört — oder sogar selbst gebraucht: »Ach, Soundso geht von einer Nervenklinik in die andere«.) Die Arbeitgeber haben Bedenken, einen solchen Menschen anzustellen, bei den Behörden kommt er unmöglich unter, — ja die Gesellschaft als Ganzes scheint sich so zu verhalten, als hätte der Betreffende eine ansteckende Krankheit.
Der amtliche Psychologe, der Laura untersuchte, stellte fest, daß ihr intellektuelles Niveau weit über ihrem früheren liege und klare Anzeichen vorhanden seien, daß sie mindestens durchschnittliche Fähigkeiten besitze. Es wurde deutlich, daß sie sich zu diesem Zeitpunkt ihrer grundsätzlich vorhandenen Intelligenz besser bedienen konnte als je zuvor, um sich anzupassen. Also drückten wir alle die Daumen, und Laura wurde zum Schulbeginn im Herbst auf, der Oberschule angemeldet.
Dies war natürlich ein bedeutendes Ereignis für Laura, ja viel mehr als das: Es verlangte von ihr allen Mut, den sie nur aufbringen konnte; denn die Situation brachte alle jene Ängste hervor, die sie in jeder neuen Lage überfielen. Laura war sich des Problems sehr wohl bewußt. Einmal fragte sie mich, ob sie wohl jemals etwas würde erleben können, ohne gleichzeitig unter Furcht und Ungewißheit leiden zu müssen. Ich versuchte ihr klarzumachen, daß wir alle auf irgendeine Weise unter solchen Gefühlen litten, und es beruhigte sie, daß sie in dieser Hinsicht nicht so sehr viel anders war als die anderen.
Aber die meisten anderen haben es nicht mit einer durchbohrend blickenden Generaloberin zu tun, und der Besuch dieser guten Frau war für eine Stunde vorgesehen, zu der Laura gerade Schwester Jeans ausgelassene Kinderschar beaufsichtigte. Würde sie sich durchsetzen? Natürlich tat ich mein Bestes, um sie zu ermutigen. Alle unsere Verbündeten im Büro der Oberin hatten sich verschworen, das Interesse der heiligen Mutter unter allen Umständen von den turbulenten Zwei- und Dreijährigen abzulenken.
Die Generaloberin, für die Schwestern eine Art inspizierender General, entpuppte sich als eindrucksvoll gewandte, strengblickende Frau in den Sechzigern, ein Meter achtzig groß und entsprechend breit. Ich schloß mich, neben Schwester Margaret hergehend, ihrem Gefolge an, und wir hatten uns fest vorgenommen, sie an Schwester Jeans Reich vorbeizusteuern. An der kritischen Stelle machten wir alle, wie gedrillte Soldaten, die gleiche exakte Wendung und marschierten in die entgegengesetzte Richtung. Bei diesem Manöver flüsterte Schwester Margaret heftig auf die Oberin ein. Wir hörten, wie sie sagte: »Vielleicht würden Sie gern einer unserer Unterrichtsstunden beiwohnen, Mutter. Wir haben eine gute junge Biologielehrerin, die meines Wissens nach dem neuen Lehrplan unterrichtet.«
Damit war Schwester Philomene gemeint, die ich das letzte Mal bei meinem Vortrag in Manhattan gesehen hatte. Als wir uns dem Zimmer näherten, wo sie angeblich »lebendigen« Biologieunterricht hielt, hörten wir Schreien, Kreischen und Stühlerücken.
Ich war als erster an der Tür des Klassenzimmers. Schwester Philomene stand unbewegt vor ihrer lärmenden Klasse, und als wir eintraten, rief sie laut: »Erste Reihe! Zur dritten Reihe, marsch!«
Es war der seltsamste Befehl, den ich je in einem Schulzimmer gehört habe. Aber wie eine Schwadron Soldaten bewegte sich die erste Reihe Mädchen gehorsam nach hinten zur dritten Reihe, in der es drunter und drüber ging.
Ein Mädchen mit dunklem Haar und sehr bleichem Gesicht lag quer über das Pult ausgestreckt, zitterte vor Angst und zupfte hysterisch an seiner Schleife herum. Der Rest der Klasse griff ebenfalls wie toll danach, bis ich zu Hilfe kam. Ein junger Alligator hatte sich an der Schleife festgesetzt. Ich gab dem Reptil ein paar scharfe Schläge auf den Kopf, konnte es loslösen und trug es, mich durch umgestürzte Pulte und Stühle hindurch-schlängelnd, am Schwanz nach vorn. Schwester Philomene nahm das Tier mit einem ruhigen und dankbaren Lächeln in Empfang und ließ es in die kleine schwarze Tasche fallen, die die Schwestern immer mit sich trugen. Sie hatte anscheinend keine Ahnung, daß die Generaloberin ihrem Unterricht beiwohnte. Und diese gute Frau sah jetzt außerordentlich verängstigt aus.
Doch die Stunde ging weiter und endete, abgesehen von einem entsprungenen Frosch, ohne weitere Zwischenfälle. Am Schluß der Stunde verließ die Generaloberin allen voran das Klassenzimmer. Es stellte sich heraus, daß sie an diesem Tag nichts weiter sehen wollte.
Ich ging mit Schwester Margaret zurück.
»Diese Klassendemonstration war noch gar nichts gegen Schwester Philomenes Zimmer«, versicherte sie mir lebhaft. »Sie hat Aquarien dort, Terrarien mit Eidechsen, mindestens ein halbes Dutzend Alligatoren und wer weiß wie viele weiße Mäuse, Frösche, Hamster und dergleichen. Keine Putzfrau will in das Zimmer. Wissen Sie, daß sie den Kindern ihre Tiere ausgeliehen hat, so wie eine Bücherei Bücher ausleiht? Wir drohten ihr, daß wir sie hängen würden, falls sie nicht damit aufhört.«
Dann wandte sich unser Gespräch Laura zu. Einen Tag lang wenigstens war die »schwere Prüfung« der Inspektion an ihr vorübergegangen. Was für einen langen Weg im Kampf um das Leben hatte sie hinter sich! Keiner von uns wollte dem anderen zeigen, welche Sorgen wir uns über ihren bevorstehenden Eintritt in die Oberschule machten. Wie sehr sich Laura auch bemühen mochte, stets würden ihr grundlegende Fähigkeiten fehlen, die sie nie hatte entwickeln können. Wenn sie hier versagte, würde eine neue Wunde ihr Selbstgefühl beeinträchtigen und den endgültigen Erfolg noch weiter hinausschieben. Wir bangten beide sehr vor dem Herbst.
20
Er kam nur zu bald, und Trauben von Kindern hingen vor Süßwarengeschäften und Schreibwarenläden und den Büchereien. Und unter den Millionen Kindern war in diesem Jahr eines, das fremdes Land betrat. Der Wind schlug gegen Lauras blauen Rock und die ordentliche weiße Bluse mit der Schleife, als sie, einen Packen Bücher fest unter den dünnen Arm geklemmt, das erstemal zur Schule ging. Es war ein großer Schritt für ein Mädchen, das so von Ängsten bedroht war, ein Mädchen, das sich nur wenige Jahre zuvor Nacht für Nacht in den Armen einer Schwester das Herz aus dem Leibe geweint hatte.
Jetzt fuhr Laura jeden Morgen mit der Untergrundbahn in die Schule und kam am Nachmittag zurück. Die bloße Tatsache, daß sie sich außerhalb des Heims bewegen konnte, gab ihr schon Selbstvertrauen. Die Schulaufgaben nahmen ihre Zeit ganz in Anspruch, aber sie beaufsichtigte weiter Schwester Jeans Kinder und wurde immer geschickter darin. Ihre Erfolge in der Schule waren jedoch minimal. In vielen Fächern versagte sie, in anderen kam sie gerade mit. Es war schwierig für mich, ihr klarzumachen daß sie in Anbetracht ihres früheren Zustandes viel mehr leistete, als irgend jemand erwarten konnte.
Nein, sie sah nur, daß sie versagte. Glücklicherweise hatte sie die Arbeit bei den Kindern, durch die ihre angeborene Schwarzseherei etwas ausgeglichen wurde. Es ist ein schmerzlicher Anblick, ein Kind, das durchkommen muß, verzweifelt über einem Buch hocken zu sehen, das es nicht versteht. Wenn ich Laura beim Lernen betrachtete, war es manchmal, als hingen schwere Gewichte an ihren Schultern und dem gekrümmten Rücken. Doch gab es bereits Lehrerinnen, die sie liebgewonnen hatten und keine Mühe scheuten, ihr zu helfen.
Selbstverständlich taten auch alle im Heim ihr Bestes, um sie zu ermutigen, wenn die Furcht vor dem Versagen sie an manchen Tagen bis zur Verzweiflung trieb. Dann klagte sie über Kopfschmerzen und Erkältungen und erklärte, sie wäre »zu krank«, um zur Schule zu gehen. Die Tränen und die Lustlosigkeit, die auf die Enttäuschungen in der Schule folgten, wurden von den Schwestern mitfühlend verstanden. Wir gewöhnten uns alle an Lauras Stimmungsschwankungen.
Abstrahierendes Denken bereitete ihr die größten SchWierigkeiten. Ging es um das Auswendiglernen, so bestand sie ganz gut. In den Naturwissenschaften jedoch, wo sie bestimmte Grundsätze verstehen mußte, die ihr nicht greifbar waren, versagte sie.
Einmal erklärte sie mir in einem solchen Anfall der Verzweiflung: »Ich weiß daß ein Gegenstand fällt, wenn man ihn losläßt. Aber wie kann ich verstehen, daß es eine Kraft gibt, die man Schwerkraft nennt und die den Gegenstand hinunterzieht? Ich kann sie doch nicht sehen, nicht wahr? Ich kann sie nicht fühlen oder irgend etwas …«
Ich muß gestehen, daß ich mich selbst nie besonders für Physik interessiert habe, aber ich versuchte, Laura den Begriff Schwerkraft zu erklären. Doch meine Erläuterungen verwirrten sie nur noch mehr.
Schließlich sagte sie: »Ich bin einfach dumm, das ist alles.«
Diese an sich bedenkliche Reaktion hatte auch ihre positiven Seiten. wenn sie früher versagte, so hatte sie es resigniert hingenommen; nun aber verwarf sie es als untragbar. Sie wurde wütend, wenn sie Anzeichen von Schwäche und Unzulänglichkeit bei sich entdeckte, und war fast zu sehr bereit, sich neuen Anforderungen zu stellen. Ich versuchte ihr zu erklären, daß es für jeden Menschen Dinge gebe, die ihm unverständlich blieben, daß jeder von uns seine Grenzen erkennen müsse. Sie war jedoch nicht in der Stimmung, sich damit trösten zu lassen oder es auch nur zu glauben. In vielen Beziehungen war sie trotz allem wie ein ganz kleines Kind; sie verlor in schwierigen Situationen leicht den Mut und war schnell bereit aufzugeben, wenn sie versagte.
Nachdem ein paar Wochen auf diese Weise verstrichen waren, fand ich, es wäre ein strategisch guter Zeitpunkt, mit Laura über eine zweite Operation zu sprechen. Diesmal sollte ihr Rücken in Ordnung gebracht werden. Eine solche Operation wäre eine Herausforderung für sie, der sie schon einmal erfolgreich begegnet war. Nachdem ich mich zuvor lange mit Schwester Margaret unterhalten hatte, machte ich Laura die Notwendigkeit des Eingriffs mit den gleichen Argumenten klar, die ich schon bei der ersten Operation gebraucht hatte.
Ich arbeitete auch gegen die Zeit. Während einer Operation dieses Ausmaßes einerseits versäumte Schulstunden und eine Unterbrechung des erst kürzlich neu geregelten Alltags bedeutete, so mußte sie andererseits durchgeführt werden, solange Laura noch im Heim lebte. Sie war jetzt sechzehn und würde das Heim in zwei Jahren verlassen, wahrscheinlich für sich selbst sorgen müssen und ganz bestimmt nicht in der Lage sein, die Kosten für die Operation zu tragen. Schwester Margaret begann also einen Orthopäden zu hypnotisieren. Zuerst schien sie Schwierigkeiten zu haben, diesen unseligen Mann dazu zu überreden, seine Dienste umsonst zur Verfügung zu stellen. Meinen Nachfragen über den Stand der Angelegenheit begegnete sie mit geheimnisvollen Andeutungen, hinter denen sich nur zu eindeutig Komplikationen verbargen.
»Vor zwei Tagen hatte ich ihn schon fast, Herr Doktor, aber die Glocke hat ihn gerettet. Ich kriege ihn in der nächsten Runde. Haben Sie nur Geduld, bitte.«
Ich hatte jetzt kaum noch Zweifel daran, daß die kleine Schwester mit dem glückstrahlenden Lächeln erfolgreich sein würde. Schwester Paulette nannte ihre jüngere Kollegin die perfekte Optimistin.
»Als die Oberin ihr einmal eine Bitte abschlug«, erzählte sie mir, »war ich so überrascht, daß ich sie fragte, was denn los gewesen sei. ›Oh‹, erwiderte sie, ›es war Regenwetter, wissen Sie, und das hat immer Einfluß auf ihre Arthritis. Macht sie gereizt. Am nächsten warmen Tag frage ich sie noch einmal, und sie wird mir meine Bitte gewähren.‹ Und genauso ist es auch geschehen.«
Zwei Wochen später rief mich Schwester Margaret an und erklärte, der Arzt hätte nun endlich zugestimmt, Lauras Operation kostenlos durchzuführen.
Kinder finden sich, wie gesagt, mit medizinischen Tatsachen ab, und Laura stellte sich ihrer zweiten Operation tapfer wie ein Soldat. Sie wußte nun schon, was eine Narkose bedeutete (»Man sieht, wie sich viele Leute überschlagen, und dann schläft man ein«) und wie gut das Fernsehen in einem Krankenhaus-Doppelzimmer war.
Die Operation selbst, bei der winzige, würfelförmige Knochenspäne aus der Hüfte entnommen und zwischen die Wirbel eingesetzt wurden, dauerte drei Stunden. Schwester Margaret und Mrs. Clancy waren bei ihr, als sie aus der Narkose erwachte. Sie erzählten mir, Laura hätte vergnügt in ihrem unbequemen Gipskorsett gelegen, das vom Kinn bis zur Hüfte reichte, und als sie gingen, wäre sie auf der orthopädischen Matratze eingeschlafen.
Laura kam bald zurück ins Heim und mußte drei Monate im Bett bleiben. Es wurden laufend Röntgenaufnahmen gemacht, die sich noch über Jahre hinziehen sollten. Ich besuchte sie in ihrem Schlafsaal. Sie schien die Feuerprobe gut bestanden zu haben.
Sie freute sich schon darauf, wieder die kleinen Kinder hüten und zur Schule gehen zu können. Während dieser Monate erhielt Laura täglich Nachhilfestunden von einer Schwester, die als Lehrerin tätig war. Inzwischen ging wieder ein Weihnachtsfest vorbei, das sie diesmal im Bett verbrachte.
Das neue Jahr kam und damit auch der Moment, wo Laura wieder aufstehen konnte. Anstelle des Gipsverbandes erhielt sie ein Stützband, das fest um ihren Körper gewickelt wurde. Als ich sie zum erstenmal damit umhergehen sah, war ihr Rücken, bisher gebeugt wie der einer alten Frau, kerzengerade. Ihr Selbstvertrauen wuchs, aber sie ermüdete leicht und brauchte viel Ruhe. Es war unmöglich, sie in dieser Zeit zu drängen.
Nach weiteren drei Monaten konnte sie dann auch das Stützband abmehmen. Das bedeutete jedoch, daß sie zurück zur Schule gehen und den Kontakt mit ihren Lieblingslehrerinnen wieder aufnehmen konnte; ein paar von ihnen luden sie nun auch zu sich ein und behandelten sie wie ein Familienmitglied. Laura freute sich immer auf diese Besuche.
An einem Vorfrühlingstag wollte ich gerade das Heim verlassen, als mein Telefon läutete. Es war Schwester Margaret, und am Klang ihrer Stimme erkannte ich sofort, daß etwas nicht stimmte. Sie wollte mich sofort in einer »vertraulichen« Angelegenheit sehen.
»Ich würde lieber persönlich mit Ihnen darüber sprechen, Herr Doktor.«
Ich betrat eine Minute später ihr Büro. Sie war allein, sah sehr beunruhigt aus und kam sofort zur Sache.
»Lauras Vater hat angerufen«, sagte sie. »Er will sie sehen.«
Ich wußte, was das bedeutete, brachte es aber nicht über die Lippen. Und dann sagte Schwester Margaret es für mich.
»Sie sind sich doch klar darüber, Herr Doktor, daß er gesetzlich durchaus das Recht hat, sein Kind zu sehen, denn es wurde von den Eltern nicht freigegeben.«
»Er kann sie nicht nur besuchen«, stimmte ich mit einem Seufzer zu, »er kann sie auch mitnehmen.«
Darauf also liefen alle unsere Bemühungen hinaus. Dr. Crager hatte Martin Meyer entlassen, wie er es damals andeutete. Nichts in der Welt konnte den Mann, der seine Tochter bei lebendigem Leibe verbrennen wollte, nun daran hindern, sie als sein Kind zurückzufordern.
Wie hatte er herausgefunden, wo sie war? Diese Frage war leicht zu beantworten. Lauras Fall wurde in den Akten des Wohlfahrtsamtes geführt. Diese schwer überlastete Behörde würde jedem Vater nur allzu bereitwillig Auskunft geben, der anrief und sagte, daß er aus dem Krankenhaus entlassen sei und mit seiner Tochter Verbindung aufnehmen wolle.
»Soll ich Laura fragen, ob sie ihn sehen will, Herr Doktor?«
»Lassen Sie mich zuerst mit ihm sprechen«, sagte ich, aber ich hatte nur wenig Hoffnung, daß etwas dabei herauskäme.
Meine größten Befürchtungen begannen sich zu verwirklichen, und ich konnte weiter nichts tun als zusehen.
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Martin Meyer suchte mich in meinem Büro auf. Es war einige Zeit her, seit wir uns in der Nervenklinik gesehen hatten, aber abgesehen von ein paar zusätzlichen grauen Haaren und einer leichten Krümmung des Rückens hatte er sich nicht sehr verändert. Er trug einen Anzug und eine schneidige Krawatte und machte mich auch gleich auf beides aufmerksam.
»Freut mich, Sie zu sehen, Doc. Wie gefällt Ihnen mein neuer Anzug?«
Seine Nasenflügel zuckten. Ich beschloß, sofort zur Sache zu kommen.
Ich war nicht sicher, wie lange meine Geduld ausreichen würde.
»Was wollen Sie, Martin?« fragte ich.
»Also, Doc, so sollten Sie nicht mit mir sprechen. Sie sollen den Leuten doch helfen und Verständnis für sie haben. Ich wundere mich über Sie«, sagte er mit einem mutwilligen Grinsen. »Wirklich. Wie soll ich denn Respekt vor Ihnen haben, wenn Sie sich so verhalten?«
»Wie verhalten?«
»Wenn Sie sich nicht über meinen Besuch freuen, meine ich.«
»Ich freue mich nicht über Ihren Besuch«, erwiderte ich und atmete schwer. »Kommen Sie zur Sache.«
Seine fahlen Augen verschwanden fast unter der gefurchten Stirn. Er hob die Hände und betrachtete sie — es waren die Hände eines Hüttenarbeiters, Kranführers, Lastwagenfahrers …
»Ich möchte Laura sehen, meine Tochter«, sagte er gefährlich ruhig. »Schließlich soll sich doch ein guter Vater immer für sein Kind interessieren. Das müssen Sie doch wissen, Doc.«
»Wie haben Sie herausgefunden, daß Ihre Tochter hier ist, Martin?«
»Ich habe Freunde.« Er spreizte die großen Hände, weit, kraftvoll. »Waren mir einen Gefallen schuldig. Sie wissen schon, wie’s ist, Doc.«
Seine vorgetäuschte Ruhe war, wie immer, nur eine dünne Schale. Während er weitschweifig weiterredete, betrachtete ich seine Hände und dachte dabei an Laura, dachte an all das Leid, das diese schwieligen Hände ihr zugefügt hatten, an jede Minute der Qual und des unsagbaren Elends, das ein mißhandeltes Kind…
»Okay, Martin«, unterbrach ich ihn und sah ihm in die Augen. »Kommen wir zum wirklichen Grund Ihres Besuches.«
Meine Feindseligkeit bremste ihn. Er sagte immer wieder, ich sei nicht mehr der freundliche, gute Doktor, den er einmal in der Klinik gesehen hätte. Ich bedrängte ihn noch mehr.
»Was wollen Sie wirklich hier?«
»Okay. Okay. Sie freuen sich also nicht, mich zu sehen«, erwiderte er leicht keuchend. Die haarigen Nasenlöcher zuckten wieder. »Vielleicht sollte ich mit jemand anders hier sprechen.«
»Nein, nein, das geht nicht«, erklärte ich ihm. »Sehen Sie, ich kenne zufällig Ihre Lebensgeschichte, Martin, Ihre und die von Adeline und von Laura. Ich weiß am besten über alles Bescheid.«
Plötzlich sprach er in einem unterwürfigen, winselnden Ton. »Hören Sie, Doc, Sie machen mich nervös. Ich bin ein kranker Mann. Sie wissen nicht, was das bedeutet. Diese Kopfschmerzen. Ich meine, ich nehme Tabletten für meine Nerven, jeden Tag. Und Sie setzen mir hier zu. Aber Martin Meyer läßt sich das von keinem gefallen.« Plötzlich streckte er das breite Gesicht vor und schrie: »Keiner in der ganzen weiten Welt hat Martin Meyer zu sagen, was er zu tun hat.«
»Was wollen Sie also tun, Martin?« fragte ich. »Mir einen Boxhieb versetzen?«
Er beruhigte sich sofort. »Hören Sie, Doc…Ich will nicht meinen klaren…verlieren…Ich meine, ich will mich nicht mit Ihnen streiten. Will doch nur meine Tochter sehen…und ihr ein Vater sein. Das ist alles. Bleiben Sie ruhig, Doc …Ja. Ich kann sehen, wann Sie böse werden. Ein Kerl wie Sie meint es ernst. Also, verstehen wir uns?«
»Genau«, sagte ich. »Und ich werde es nicht zulassen, daß Sie Laura irgend etwas antun, Martin. Sie war sehr krank, sie ist immer noch sehr schwach und erholt sich nur ganz allmählich.«
Er fuhr zurück auf seinem Stuhl. »Sind Sie verrückt, Doc? Ich meiner eigenen Tochter etwas antun? Was glauben Sie denn, wer ich bin?«
Eine Sekunde lang war es still zwischen uns. Nach der hitzigen Diskussion wirkte das Schweigen doppelt inhaltsvoll.
»Wollen Sie wirklich, daß ich Ihnen das sage, Martin?«
»Okay, okay. Sie sind ein ganz Gescheiter«, brummte er, im Augenblick jedoch ganz friedlich.
»Also, wir werden sehen«, sagte ich schließlich. »Ich werde Laura entscheiden lassen, ob sie Sie sehen will.«
»Sie werden sie also fragen, Doc?«
»Schwester Margaret wird Ihnen unsere Entscheidung in ein paar Tagen mitteilen. Auf Wiedersehen, Martin.«
Mir argwöhnischem, forschend umherschweifendem Blick verließ er mich. Er trottete den langen Gang hinunter, den seine Tochter so oft und so quälend langsam entlanggegangen war, und seine riesigen, an der Seite herabhängenden Hände zitterten.
Ich überlegte rasch. Ich mußte Laura von ihrem Vater erzählen. Aber wieviel konnte man ihr zumuten? Einmal mehr bedrohten wir sie. Die Tatsache, daß der Mann ihr Vater war, würde sie natürlich zu ihm hinziehen. Aber welche Gefahr für ihre Persönlichkeit war damit verbunden?
Wir waren so verblieben: Wenn Laura ihn sehen wollte, würde er die »Erlaubnis« erhalten, sie im Heim zu besuchen. Ich setzte das Wort »Erlaubnis« im Geist in Anführungszeichen, denn wenn sie sich weigerte, konnte er sich an das Vormundschaftsgericht wenden, wo er, wie ich wußte, sein Recht erhalten würde.
Ich dachte lange nach, als Martin Meyer gegangen war. Ich hatte vielleicht einen momentanen Aufschub für Laura erreicht. Nach einem langen, ermüdenden Kampf war sie eben wieder zu Kräften gekommen, und jetzt mußte sie es mit dieser Erfahrung aufnehmen — einer Erfahrung, die vielleicht die folgenschwerste Krise in ihrem Leben auslösen würde, gegen die alle anderen Schwierigkeiten nur wie ein Kinderspiel wären. Im Grunde hätte für sie die Entdeckung, einen Vater zu haben — einen Menschen, an den sie ein starkes Band knüpfen könnte —, ein positives Erlebnis sein können. Aber Martin Meyers Verhalten war unberechenbar.
Ich mußte überlegen, wie ich Laura am besten davon erzählte. Wie sagt man einem Menschen, daß sein Vater ihn sehen möchte, wenn er es bisher das ganze Leben nicht getan hat? Was antwortet man auf unvermeidliche Fragen wie »Wo ist er gewesen?« und »Warum hat er mich nicht früher besucht?« Selbst wenn ich sie noch so sehr warnte, konnte ich nicht erwarten, daß sie ihm den Rücken kehrte; denn bei ihrer langwährenden Suche nach einem Selbst hatte sie sich mit so vielen fehlenden Verbindungsgliedern abfinden müssen — und Martin Meyer war eines davon.
Bisher hatte es Laura in unseren Unterhaltungen stets mit einer Art feinfühligem Takt vermieden, allzuviel nach ihren Eltern zu forschen, als ob sie froh wäre, sie einfach als Teil der Vergangenheit betrachten zu können, zumindest für den Augenblick. Ihr hauptsächliches Bestreben war darauf gerichtet, erst einmal ihre Hilflosigkeit und Abhängigkeit abzuschütteln.
Die Anwesenheit ihres Vaters jedoch, so wie sie jetzt damit konfrontiert wurde, konnte versteckte Hoffnungen und Erwartungen in ihr wecken, denen eine überwältigende Enttäuschung folgen mochte. Laura war immer noch ein sehr empfindliches Pflänzchen.
Der Zeitpunkt konnte nicht ungünstiger sein, aber irgendwann mußte sich Laura mit Martin Meyer auseinandersetzen. Diese Erfahrung blieb ihr nicht erspart. Ich wollte sie bitten, sofort zu mir herunterzukommen. Ich griff‘nach dem Telefon und wählte Schwester Jeans Nummer.
Als Laura kam, war ihr Gesicht gerötet und ihre Gedanken noch völlig bei ihrer Arbeit mit den Kindern. Als sie mir gegenüber Platz nahm, mußte sie etwas in meinem Gesicht entdeckt haben, das sie warnte. Schließlich kannte sie mich jetzt beinahe so gut wie ich sie.
»Laura«, begann ich, »ich muß dir etwas sehr Wichtiges sagen. Dein Vater war hier.«
»Mein Vater!« Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, als sie sich in ihrem Stuhl zurücksetzte. Im Moment schien sie der Mut zu verlassen.
»Er war hier«, fuhr ich fort, »und er möchte dich sehen.«
Ich ließ den Schock langsam einsinken. Sie starrte die Wand an. Ihre trockenen Lippen bewegten sich, aber sie sagte keinen Ton. Nach und nach erzählte ich ihr dann, was ich über ihn wußte, daß er geisteskrank gewesen sei und nun wieder draußen lebte.
Schließlich, nach längerem Stillschweigen, sagte Laura: »Warum will er mich sehen?«
Ich wiederholte die Gründe, die Martin Meyer angeführt hatte, doch sie stellte noch einmal die gleiche Frage, als hätte sie kein Wort gehört.
Warum in der Tat? Ich machte ihr klar, daß die Entscheidung bei ihr läge, und warnte sie auch davor, zuviel von ihm zu erwarten.
Plötzlich wandte sie sich mir zu, die Augen fest auf mich gerichtet, das Gesicht immer noch weiß und starr. »Ich weiß nicht warum, aber ich muß ihn sehen. Ich muß mit ihm sprechen.«
Das Gefühl war zwingend, sie mußte mit Martin Meyer ins reine kommen. Es gab keine Beziehung, kein persönliches Band zwischen ihnen; er war für sie ein Mensch von einem anderen Stern. Aber ich achtete die Stärke ihres inneren Verlangens, auch diese Hürde zu nehmen.
Später ging ich allein durch die dunkler werdenden Straßen zur U-Bahn-Station. Die Gehsteige waren naß vom Regen. Die Vorübergehenden fröstelten in der Kühle, die mit der Dämmerung kam. Sterne waren zu sehen. Ich erinnerte mich, wie ich Laura einmal in einem der endlosen ersten Monologe erzählt hatte, daß die Sterne Mädchen seien, die mit ihren Kerzen zu Bett gingen. Blies der Wind nun eine aus?
Wir hatten nicht viel für Laura gefordert — wir hatten nur gewollt, daß ihr Leben nicht aus Widerwärtigkeiten allein bestehen sollte. Es wäre wirklich grausam gewesen, wenn wir sie bis an diesen Punkt ihrer Entwicklung gebracht hätten, nur damit sie uns wieder entrissen und in den Sumpf von Brutalität und sinnloser Leidenschaft zurückgestoßen würde, aus dem sie gekommen war. Wie tragisch wäre es gewesen, wenn der ganze Mut, den sie aufgebracht hatte, alle Wagnisse, die sie eingegangen war, zu nichts führen würden. Als ich daran dachte, wie Martin Meyer auf mich reagiert hatte, beschloß ich, der Unterredung zwischen Laura und ihrem Vater nicht beizuwohnen.
Statt dessen war Schwester Margaret bei diesem Zusammentreffen anwesend. Sie erzählte mir, daß Laura lächelte, als sie ins Zimmer kam, und sich dann scheu dem Mann gegenüber hinsetzte, der sie beinahe getötet hatte. Die Unterhaltung war gezwungen und sprunghaft. Das war nur zu verständlich. Anscheinend stellte er eine Frage nach der anderen über ihr Leben im Heim, und sie antwortete gedrückt und gehetzt. Sie waren fast eine Stunde zusammen. Ehe Martin Meyer ging, erklärte er seiner Tochter, er würde sie jeden Abend anrufen und in der nächsten Woche wiederkommen.
Hier muß erwähnt werden, daß es einem Mädchen innerhalb der Gruppe hohes Ansehen verlieh, wenn sie Eltern hatte — was für Eltern auch immer. Solche Mädchen waren normal, geliebt und, wie sich daraus ganz selbstverständlich ergab, auch hübsch. Jedenfalls mochte sie jemand gern, weil sie irgend etwas zu bieten hatten — wenn schon nicht Schönheit, dann Intelligenz, Ehrgeiz oder sonst irgend etwas Liebenswertes.
In der darauffolgenden Woche zog Laura jeden Vorteil aus ihrem neugewonnenen Prestige. Jedem, der es hören wollte, erzählte sie von ihrem Vater, wie gut er aussehe, was er mache, daß er sie von jetzt ab jede Woche besuche und daß sie schließlich bei ihm wohnen würde.
Alle Mädchen in der Gruppe freuten sich für Laura. Jetzt würde Sie Kleider bekommen, Geld, würde jeden Sonntag in einem Restaurant essen oder in ein Kino gehen. Vielleicht nicht jeden Sonntag ins Kino. Es gab so viele andere Orte in der Stadt, wo man hingehen konnte. Lauras Schilderungen wurden immer ausführlicher und phantasievoller, besonders, was die angebliche Zukunft mit ihrem Vater betraf.
Schwester Margaret und ich hörten diese Geschichten bedrückt an. Sollte Laura wirklich die schreckliche Qual kennenlernen, ganz im Stich gelassen zu werden? Kein Sockel schien hoch genug, den neugefundenen Vater hinaufzustellen, und ihr Gefühl der Bedeutung wuchs immer mehr. Es war ein »Alles oder nichts«—Verlangen, dem nur — soweit ich es beurteilen konnte — ein donnernder, unaufhaltsamer Fall in die tiefsten Tiefen folgen konnte.
Jeden Abend wartete sie nun geduldig neben dem Telefon auf dem Korridor vor ihrem Zimmer. Aber es kam kein Anruf. In der nächsten Woche legten ihr die Mädchen die Haare ein, lichen ihr den gehüteten Schmuck und eine sogar ihr bestes Kleid — nach einstimmiger Meinung das schönste im Schlafsaal. Alle Mädchen waren von der angstvollen Aufregung Lauras angesteckt, als die Besuchsstunde näherrückte. Halb mit freudiger Erwartung, halb mit Bangen hörten sie die Stunden schlagen. In der allgemeinen Spannung schienen die Schläge, die die nächste und übernächste Viertelstunde anzeigten, rasch zu folgen. Die Stunde verging, und auch die folgende, und der kleinen Gruppe von Mädchen, die mit weitgeöffneten Augen und geballten Fäusten warteten, dämmerte die Wahrheit. Ihr Vater kam nicht. Der verhängnisvolle Klang der Glockenschläge endete für Laura in einem Tränenausbruch, nach dem sie sich erschöpft und voller Schmerzen in all ihrer Pracht auf das Bett warf. Schwester Paulette tröstete sie die ganze Nacht.
Martin Meyer kam auch in der folgenden Woche nicht. Auch nicht in der übernächsten. Die Kinder waren die ersten, die Entschuldigungen für ihn fanden. »Wahrscheinlich hat er zu viel zu tun«, sagten sie, oder: »Vielleicht ist er krank geworden und konnte nicht kommen.« Sie taten ihr Bestes, um den Schlag zu mildem, aber Laura wandte Sich auf unerwartete Weise von ihnen ab.
Ich hatte befürchtet, sie würde wieder in ihr Schneckenhaus zurückkriechen und apathisch auf ihrem Bett sitzen, wie sie es in der Vergangenheit getan hatte. Weit davon entfernt. Sie wurde wütend, äußerte sich unverblümt und kritisierte alles und jeden. Sie begann sich sogar bitter über das Heim zu beschweren. Und dann fing Laura zum größten Erstaunen der Schwestern und der Lehrer auf einmal an, die Schule zu Schwänzen.
Zuerst glaubte Schwester Margaret es einfach nicht. Sie erklärte es sich damit, daß sich die Lehrer geirrt und Laura hinten in der Klasse übersehen hatten Leider jedoch hielt diese Erklärung nicht stand: Man überwachte Laura sorgfältig und stellte fest, daß sie niemals in der Schule ankam.
Bei Mädchen ist das Schwänzen besorgniserweckender als bei Jungen, wohl weil man ein solches Verhalten bei Jungen eher erwartet. Der Gedanke, daß ein hilfloses Mädchen allein in der Stadt umherwandert, worauf das Schwänzen ja meist hinausläuft, ist beunruhigend. Wenn es dabei aber um ein Mädchen wie Laura geht, so ist die Sachlage sehr ernst.
Es war Vorschrift im Heim, daß solche Fälle der Oberin gemeldet wurden. Wie Schwester Margaret mir erzählte, fragte auch die Oberin gleich, ob die Lehrer sich nicht geirrt hätten. Aber nein. Laura schwänzte acht Tage hintereinander. Wo sie gewesen war, welche U-Bahn-Linien sie mit ihren paar Pennies benutzte, durch welche Parks sie wanderte, das wußte keiner. Wir erfuhren jedoch bald, daß sie sich jedesmal bei ihrer Rückkehr sofort mit einem anderen Mädchen, einer früheren Freundin, zu schlagen begann, nachdem sie sich zuerst eine Menge Schimpfwörter und Beleidigungen an den Kopf geworfen hatten.
Laura hatte sich völlig verändert. Sie schien haßerfüllt und griff jeden an, auch die Schwestern.
Ich selbst betrachtete Lauras Zorn als einen unglückseligen, aber notwendigen Schutz gegen die Zurückweisung und den Haß der Menschen, denen sie zu vertrauen gewagt hatte. Sie zog Kraft aus ihrem Zorn, denn er minderte ihre Empfindsamkeit und half ihr, sich in einer Welt aufrechtzuerhalten, die sie unaufhörlich daran erinnerte, daß sie ungewollt war. Der Verrat ihres Vaters hatte ihre Eitelkeit getroffen, und so rächte sie sich an der Welt im allgemeinen. Die Schwestern waren jedoch verständlicherweise unsicher, wie sie diese »neue« Laura behandeln sollten, und drückten wiederholt ihr Erstaunen über diesen oder jenen Vorfall aus. Diese Periode erreichte ihren Höhepunkt, als Laura erklärte, ihr stünde alles bis obenhin, einschließlich der Oberin. »Ich wollte ihr schon lange mal meine Meinung sagen«, erklärte sie Schwester Paulette kühl an einem Nachmittag, als sie aus der Schule kam, »und ich glaube, ich werde es jetzt tun.«
Schwester Paulette war gehörig entsetzt. Sie sah jedoch ein, daß es wenig nützen würde, Laura eine Strafpredigt zu halten und ihr zu erklären, daß niemand — absolut niemand — der Oberin die Meinung sagt, außer vielleicht die Generaloberin. Sie versuchte eine Weile, Laura von der Idee abzubringen, aber vergeblich. Das Mädchen, das vor kurzer Zeit noch kaum einen Gang entlanghumpeln ‘konnte, verließ kurz entschlossen das Zimmer und wurde zuletzt gesehen, als sie auf dem direkten Weg zur Oberin war.
Völlig außer sich rief Schwester Paulette einige andere Schwestern, die sich in der Nähe befanden, zusammen. Alle stimmten überein, daß es zu einer Katastrophe käme, wenn Laura ihre Drohung je wahrmachte. Und so startete das Unternehmen »Kidnap«.
Es war ein kompliziertes und außergewöhnlich fein aufeinander abgestimmtes Manöver, das vielleicht nur an einem Ort wie dem Heim durchgeführt werden konnte. Der Zweck der Übung war einfach: Bis sich Laura wieder beruhigt hatte, sollte sie stets beschäftigt und so weit wie möglich von der Oberin entfernt gehalten werden. Das Verständigungssystem funktionierte glänzend. Ich konnte den Erfolg des Unternehmens »Kidnap« selbst bezeugen.
Die erste Expedition zur Ablenkung Lauras wurde von Schwester Jean geleitet, die sich kühn, mit voller Geschwindigkeit, auf den Weg zum Büro der Oberin machte. Sie näherte sich diesem mit unbekümmerter Miene, obwohl ihr nichts Gutes schwante, als sie Laura auf der langen Bank davor sitzen sah. Die Schwester, die ihre Vorgesetzte unter irgendeinem nebensächlichen Vorwand aufsuchen sollte, blieb beim Anblick ihrer Helferin mit bewundernswert vorgetäuschter Überraschung stehen.
»Laura! Du kommst mir gerade recht! Ich brauche dringend Hilfe bei zwei Kindern.«
So wurde Laura, die darauf wartete, daß die Oberin ein Telefongespräch beendete, gerade noch im letzten Moment geschnappt und für den Rest des Tages beschäftigt.
Eine weitere Strategie mußte jedoch in aller Eile am kommenden Vormittag entwickelt werden, als Laura erneut ihre Absicht ankündigte, der Oberin »ihren Standpunkt klarzumachen«. Das Problem wurde noch dadurch kompliziert, daß Laura immer noch gelegentlich schwänzte und daher jederzeit erscheinen konnte, um ihre Drohung wahrzumachen. Keine der Schwestern hatte Zeit, sich hinzusetzen und darauf zu achten, daß sie kam, und es war ihnen auch nicht möglich, sie jede Minute des Tages zu beschäftigen.
Die Situation schien hoffnungslos, bis Schwester Margaret (natürlich) einen genialen Einfall hatte. Warum sollte man die Sekretärin der Oberin nicht ins Vertrauen ziehen? Dann konnte sie jedesmal, wenn Laura vor dem Büro auftauchte, die eine oder andere Schwester dringend anrufen. Sollten alle Beteiligten nicht erreichbar sein, so konnte Schwester Martha in der Küche ganz bestimmt mit einem »äußerst dringenden Auftrag« einspringen. Nachdem man überprüft hatte, daß man der Sekretärin trauen konnte, wurde sie also zur Mitarbeit herangezogen.
Über eine Woche lang wurde die, Operation »Kidnap« Tag für Tag erfolgreich fortgesetzt. Jeder Stabsoffizier — oder Geheimdienstchef — wäre stolz auf seine Männer, wenn sie so gut arbeiteten, wie diese Schwestern es taten. Jede Schwester, die an dem Unternehmen beteiligt war, nahm sich die Mühe, den Umweg an der langen Bank vor dem Büro der Oberin vorbei zu machen, während sie ihrem Dienst nachging.
Ein halbes dutzendmal schlug die Sekretärin Alarm und hielt dann Laura hin, bis pflichtschuldigst eine Schwester erschien. Diese versuchte dann möglichst zu verbergen, daß sie nach Atem rang, und stellte sich so überrascht wie nur möglich, Laura dort vorzufinden, die sie »gerade gesucht« habe. Unter dem Vorwand, daß sofortige Hilfe dringend notwendig sei, wurde Laura vom einen Ende des Heims zum anderen und einmal sogar in Begleitung einer Schwester quer durch die ganze Stadt geschleift.
Mir wurden die Einzelheiten dieses Unternehmens von den Schwestern Margaret und Paulette berichtet. Mein Gelächter war ihnen ganz unverständlich. Für sie war es, wie es schien, eine ziemlich alltägliche Rettungsaktion. Ich aber werde den Anblick der Schwestern, die ihre Köpfe unter den Hauben zusammensteckten und flüsternd den einen oder anderen Plan zur Beschäftigung Lauras ausheckten, nicht so leicht vergessen.
21
Als die Mädchen in diesem Jahr aus dem Sommerlager zurückkehrten, setzte ich durch Mrs. Clancy wieder eine Anzahl Stunden mit Laura fest. Doch zum erstenmal in unserer langen Beziehung weigerte sie sich, zu mir zu kommen. Offensichtlich war ich nun — zusammen mit der Oberin — in die Gruppe der »Bösen« eingereiht worden.
Es war beinahe November, als ich Laura schließlich zu Gesicht bekam. Ihre Lippen zitterten, als sie ihren Haß in alle Richtungen versprühte. Wieder erklärte sie, daß sie der Oberin eines Tages die Meinung sagen, das Heim für immer verlassen und allein wohnen würde. Den Vater, der sich nie wieder gemeldet hatte, erwähnte sie bei diesem Zusammensein nicht. Nach dem einen Besuch war Martin Meyer seiner Tochter aus irgendeinem Grund ferngeblieben — wer weiß, vielleicht hatte er Angst vor seinen eigenen Impulsen. Jedenfalls aber war Laura seither wieder emotional gestört. Und das war sehr ernst.
Laura mißachtete die Vorschriften in der Schule und im Heim immer mehr. Mürrischen Ausbrüchen folgten Perioden krampfhafter Absonderung, während derer sie stundenlang in ihrem Zimmer blieb.
Anfang November wurde eine Konferenz der Mitarbeiter abgehalten, in der Lauras Fall behandelt werden sollte. Jeder, der im Heim mit ihr zu tun hatte, war anwesend. Das Thema war einfach: Konnte sie endgültig nicht geheilt werden?
Als Zeuge der Anklage (wie es sich zeigte) wiederholte Dr. Clemente seine ursprüngliche Meinung. Er faßte sie kurz zusammen:
»Laura muß in eine Klinik. Sie ist krank, ihr jetziges Verhalten beweist eine Verschlimmerung, und im Interesse aller…«
Ich blickte umher. Eine Schwester, die als Abgesandte der Oberin fungierte, war eindeutig von diesen Argumenten überzeugt. Schließlich bildete das Heim eine große Familie, die einzige für die meisten Kinder, und die Schwestern waren die einzigen Erwachsenen, die den Kindern eine Rechtfertigung für ihr Leben gaben. Laura durfte der Mehrheit nicht im Wege stehen.
Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß sich Mrs. Clancy sofort für »unsere« Seite ins Zeug legte. Als sie mit gerötetem Gesicht und betonten Gesten sprach, gab sie einen guten Verteidiger ab. Selbstverständlich erklärten auch die Schwestern Margaret und Paulette beide, sie wären dafür, Laura zu behalten.
Ich machte mir Sorgen. Zwischen Dr. Clemente und mir bestand eine tiefe Kluft in der therapeutischen Methode. Sein Argument war, daß sie »geisteskrank« sei und deshalb in einer Klinik »behandelt« werden müsse. Um diese Ansicht wirklich zu widerlegen, müßte man Bücher schreiben (und einige zu diesem Thema sind in der Tat verfaßt worden), ich aber hatte nur ein paar Minuten zur Verfügung.
Ich argumentierte, Dr. Clementes Theorie setze voraus, daß eine fest umrissene Stelle in Lauras Körper zu behandeln sei, nämlich das Gehirn, eine Substanz, die sich anstecken, entzünden oder deren Gewebe durch Krankheit zerstört werden könne. Keiner sei jedoch der Ansicht, daß Lauras Gehirn nicht richtig funktioniere, im Gegenteil, ihre Meisterung der Sprache nach den langen Jahren des Schweigens sei bemerkenswert. Nein, ihr Gehirn erfordere keine besondere medizinische Behandlung. Sie sei ein unglückliches, verletztes Kind, wenig anders als Tausende von anderen Kindern und Erwachsenen (wie ich betonte), die in ihrem Kampf, sich ihrer Umgebung anzupassen, unterliegen. Nicht Viren oder Mikroorganismen, sondern Menschen seien dafür verantwortlich, daß Laura sich nicht anpassen könne. Darum sei es zum Besten aller, wenn sie bliebe, denn die Kinder im Heim könnten ihr helfen, den Glauben an sich und auch an andere zurückzugewinnen.
Und was noch mehr sei, fuhr ich fort, es wäre mir nicht zu Ohren gekommen, daß sich ein Kind über Laura beschwert hätte. Die meisten schienen ihr helfen zu wollen. Wie so viele von uns sei Laura inneren und äußeren Beanspruchungen erlegen; eine Weile lang sei sie vorwärts gehumpelt, jetzt sei sie gestrauchelt. Dieses Straucheln, so sagte ich, sei eine Schwäche, hervorgerufen durch weit zurückreichende Anpassungsschwierigkeiten an eine Umwelt, die ihr die grundlegenden Voraussetzungen für ein erfolgreiches Weiterleben versagt habe. Die Einweisung in eine Klinik würde diesen Zustand noch verschlimmern. Die augenblickliche Umgebung wäre die einzige, die für Laura noch Hoffnung bedeute.
Auf diese Art gewannen wir schließlich unseren Fall, und Laura durfte im Heim bleiben. Aber es war ein aufregender Nachmittag, und er zeigte mir, wie dünn das Eis war, auf dem wir uns alle bewegten. Gern nahm ich die Zigarette an, die mir Mrs. Clancy danach in ihrem unordentlichen Büro anbot, während wir einen Termin festsetzten, damit ich Laura so bald wie möglich sehen konnte.
Als der Tag kam, brauchte ich sie kaum zu drängen, mir zu berichten, was in ihr vorgegangen war. Daß der »Verrat« ihres Vaters sie tief enttäuscht und verletzt hatte, wurde sofort klar; denn jedesmal, wenn ich seinen Namen auch nur erwähnte, versuchte sie zu zeigen, wie hart und kalt und gleichgültig sie sei. Dabei enthüllten die Tränen, die ihre Wangen hinabliefen, nur zu sehr die Qual ihres Herzens …Ich beschloß daher, wieder einmal den Advokaten des Teufels zu spielen.
»Was hast du denn erwartet?« fragte ich sie schließlich nach einem besonders heftigen Ausbruch von Abscheu. »Einen lieben, freundlichen Teddybär, der mit den Augen rollt, Wenn du es willst, der dich zum Lachen bringt und dich nachts herzt und küßt?«
Laura rief aus: »Ich wußte, daß Sie das sagen würden. Ich wußte es ganz genau. Der Mann ist ein Nichts.« Sie stieß das Wort mit aller Gehässigkeit aus, zu der sie fähig war. »Er hat sich nicht einmal getraut fortzugehen, ohne sich hinter Versprechen zu verstecken, die er nicht halten konnte. Ich hasse ihn, ich hasse ihn! Ich hoffe nur, er kommt doch noch einmal und will mich sehen. Ich möchte ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. Er ist so erbärmlich. Ohne Rückgrat, haltlos. Ja, ein haltloses Subjekt, das mich in die Welt gesetzt hat, und ich bin froh, daß ich nicht bei ihm aufgewachsen bin, sonst wäre mir wirklich die Krone hochgegangen.«
Ich beruhigte sie und versuchte ihr zu zeigen, daß sie sich an Menschen halten müsse, die ihr Liebe geben wollten und konnten.
»Sie haben recht«, antwortete sie, und es gelang ihr, ihre aufwallenden Gefühle zu beherrschen. »Aus einem Stein kann man wohl kein Blut pressen. Aber wissen Sie, ich bin froh, daß ich ihn kennengelernt habe. Ich hatte ihn so in den Himmel gehoben! Ich stellte ihn mir vor wie …oh, so großartig. Ich sah mir die Väter von manchen anderen Mädchen an und sagte mir: ›Meiner ist besser.‹ Jetzt weiß ich, daß er es nicht ist, und es hat keinen Sinn mehr, sich etwas vorzumachen. Er ist einfach nicht so«, sagte sie mit einem Zittern in der Stimme, »wie ich es mir vorgestellt habe.«
Wir setzten unser Gespräch fort. Interessanterweise stellte sich dabei heraus, daß Laura meine Bemerkungen insgeheim erwartet hatte. Vermutlich spürte sie schon lange, bevor ich meine Warnungen äußerte, daß sie eines Tages entdecken würde, wie ihr Vater wirklich war. Jetzt konnte sie der Wahrheit nicht länger ausweichen. Das kleine Mädchen, das sich so fest an den Traum geklammert hatte, eines Tages einen gütigen, liebevollen Vater in einer Welt zwinkernder Teddybären vorzufinden, mußte sich jetzt mit der Wirklichkeit auseinandersetzen. Die komplizierte Mischung aus Kind und Halbwüchsiger, mit der ich es so lange zu tun gehabt hatte, entwickelte sich zu einer erwachsenen jungen Dame.
Obwohl sie nun wieder mit dem für sie so charakteristischen Mut in die Zukunft blicken konnte, bekannte sie, daß sie Angst hatte vor diesem ihr bisher unbekannten Gefühl: ihrem zerstörerischen Zorn.
»Könnte ich auch jemanden vernichten?« fragte sie mit nachdenklichen Augen. »Habe ich darum die Oberin so gehaßt? Wie? Warum?«
Ich versuchte ihr zu erklären, daß sie sich zum Schein selbst bestraft hatte. Ihre Empfindung, sie sei unwürdig — und auch ihre Weigerung zu sprechen — seien stillschweigende Nebenerscheinungen dieses gleichen inneren Gefühls gewesen, das sich nun vor kurzem mit so großer Heftigkeit gegen alle in ihrer Umgebung Bahn gebrochen hatte, einschließlich — wie in einem Teufelskreis — ihrer selbst.
Ihre Weigerung zu sprechen war dem Verhalten eines kleinen Kindes gleichzusetzen, das seine Eltern bestrafen will, indem es den Mund nicht aufmacht, während diese ihm besorgt den vollen Löffel hinhalten. Ihre Vergeltungsmaßnahmen gegen die Welt entwickelten sich zu einer Art Martyrium, bei dem andere durch ihre eigene Selbstzerstörungswut verletzt oder bestraft wurden. Der Feind war, wie schon erwähnt, in ihr selbst. Indem sie jedoch ihrem Zorn Ausdruck gegeben hatte, hatte er an Heftigkeit verloren und war auf eine gewisse Art, unter Kontrolle gebracht worden; ihr Hunger nach Rache würde allmählich nachlassen.
»Ich bin sicher, daß es bald besser für dich werden wird, Laura«, sagte ich. Sie griff nach meiner Hand und drückte sie fest.
Und so war es auch. Laura wurde ruhiger, ging regelmäßig in die Schule und nahm ihre alltäglichen Pflichten im Heim wieder auf. Innerhalb von drei Wochen arbeitete sie erneut bei Schwester Jean. Sie hatte sich noch nie so schnell gefangen, und ich sah es als Zeichen der Besserung und des Fortschritts an. Jedes Problem rührte ihre Ängste auf, und gerade diese Belastung trug dazu bei, daß sie sich von Mal zu Mal besser anpaßte. Es wird oft gesagt, daß es die Überempfindlichen sind, deren seelische Kräfte in Krisensituationen am längsten ausreichen, da sie mehr und größere Anforderungen an sich selbst stellen mußten als andere. Auch Laura wurde unter Schwierigkeiten erwachsen. Gab es überhaupt schlimmere Situationen als die, die sie bereits erlebt hatte? In ihren paar Lebensjahren hatte sie Belastungen erfahren und gemeistert, denen die meisten Menschen gar nie begegnen.
Nachdem die Krise einmal überwunden war, wurde Laura immer ausgeglichener und reifer. Die freundliche Art, mit der sie sich jetzt gab, stimmte mit den körperlichen Veränderungen überein, die sich seit dem Einsetzen der Pubertät an ihr vollzogen hatten. Ihr etwas farbloser kindlicher Ausdruck verlor sich allmählich, und als ich sie das erste Mal mit hohen Absätzen sah, konnte ich kaum glauben, daß sie erst sechzehn war.
Jetzt war sie nur noch selten verstimmt oder deprimieprt. Sie freundete sich mit zwei Mädchen ganz besonders an und verbrachte viel Zeit mit ihnen; andererseits blieb sie nicht immer von den Gehässigkeiten verschont, mit denen sich die Mädchen gelegentlich bedachten. Niemand machte sich Sorgen über sie außer Schwester Jean, die manchmal etwas beunruhigt über Lauras Schmerzen in den Beinen war.
Immer, wenn ich ihr begegnete, winkte sie mir freundlich zu. Alle Kinder schienen nun ein nettes Wort für Laura übrigzuhaben. Sie hielt mit ihrer Gruppe Schritt und gewann mehr Selbstvertrauen und Verantwortungsgefühl. Die Enttäuschung über ihren Vater war eine harte Lektion für sie gewesen, aus der sie gelernt hatte, daß wir alle manchmal unsere Ziele etwas zurückstecken müssen. Sie war aufmerksam und lebendig, und wir entschieden, daß es nun Zeit für ihre dritte Operation sei — nicht die schwerste, aber psychologisch keineswegs die unwichtigste —, die plastische Operation ihres Gesichts.
22
Die Operation war für den Vorfrühling geplant. Wieder einmal war es Schwester Margaret auf geheimnisvolle Weise gelungen, einen Spezialisten herumzukriegen, die Operation kostenlos auszuführen.
Laura schien die Angelegenheit mit gemischten Gefühlen zu betrachten, was mich erstaunte: Die Brandwunden beeinflußten ihr Aussehen, und schließlich hatte sie doch früher so sehr unter ihrer Häßlichkeit gelitten. Als ich sie leise daran erinnerte, antwortete sie:
»Ja, das war damals. Inzwischen habe ich mich an mein Gesicht gewöhnt.«
Sie lachte kurz auf. »Ich habe nur das eine.«
»Du würdest hübscher aussehen«, sagte ich. » Möchtest du das nicht?«
»Oh, Sie müssen mich nicht falsch verstehen«, sprach sie sofort weiter. »Natürlich möchte ich attraktiv aussehen, aber irgendwie finde ich, daß es nicht gar so viel ausmacht. Ich will bei kleinen Kindern arbeiten. Das ist wichtiger für mich als alles andere auf der Welt. Ach, ich wünschte, Sie könnten mir zu mehr Verstand verhelfen, damit ich Kinderschwester werden kann.«
Einerseits bedeutete diese Reaktion eine positive Änderung ihrer Wertmaßstäbe — das Wesentliche für sie war nun die Nützlichkeit als Mensch. Andererseits jedoch konnte sie ein weiteres Sicherheitsventil sein, eine Flucht vor wirklicher innerer Reife.
Die meisten anderen Mädchen in Lauras Alter interessierten sich für Jungen und waren oft in endlose Gefühlsprobleme verwickelt, die eines mittelalterlichen Scholastikers würdig gewesen wären. Laura zeigte dieses Interesse niemals. Die anderen Mädchen gaben ihr Taschengeld und viel Zeit dafür her, sich zu verschönern, Laura nicht.
Lauras Lebenserfahrungen gingen natürlich weit über ihr Alter hinaus, aber wir wollten nicht, daß sie niemals erfuhr, was es heißt, jung zu sein. Sie war jetzt ein sehr ernstes Mädchen, bedacht auf ihre Arbeit bei den Kindern und offensichtlich entschlossen, ihre Zeit nicht mit Spiel, außerplanmäßigen Fächern in der Schule oder langen Telefongesprächen »bloß« mit Jungen zu vergeuden. Sie zog klassische Musik dem zu der Zeit modernen Rock’n’Roll vor. Sie war fast zu zielbewußt.
Also überließ ich Laura die Entscheidung über die Operation selbst. Als ich den Fall eines Tages mit Schwester Paulette besprach, sagte sie:
»Ich weiß, daß Laura kein großes Getue um ihr Aussehen macht wie die anderen Mädchen, aber wenn sie vielleicht das Gefühl hätte, sie könnte genauso hübsch aussehen wie die anderen, würde sie sich nicht scheuen, mit ihnen zu wetteifern. Vielleicht hat sie Angst, daß sich die Jungen trotz der Operation nicht für sie interessieren.«
Das waren interessante Gedankengänge, doch ich glaubte, daß Laura sich wieder einmal aus Angst, verletzt zu werden, vor jeder tiefergehenden Veränderung in ihrem Leben drückte. Oder versuchte sie mir durch ihr Zögern etwas zu sagen, das ich übersehen hatte? Bestand die Gefahr, daß zu diesem Zeitpunkt eine neue Krisis heraufbeschworen wurde? Ich wußte es nicht, sondern mußte darauf warten, daß Laura mir die Antwort auf diese Fragen gab.
In gewisser Hinsicht tat sie das, indem sie der Gesichtsoperation zustimmte, die tatsächlich selbst einen reifen und ausgeglichenen Erwachsenen hätte abschrecken können. Laura unterzog sich dieser Operation mit einer Gelassenheit, die auf ungewöhnliche Reife schließen ließ; sie bedeutete daher einen wichtigen Schritt sowohl in ihrer geistigen als auch der körperlichen Entwicklung.
Ihre schlimmsten Brandwunden befanden sich auf der linken Gesichtshälfte; sie begannen am Kinn und zogen sich hinauf bis zum Auge. Zum Glück für sie wurde das Transplantat nicht abgestoßen, was manchmal der Fall ist. Es gab einige Schwierigkeiten und Befürchtungen, als es hieß, sie dürfe während des Heilungsprozesses nicht lächeln, aber sie war in der Vergangenheit so lange ernst gewesen, daß sie es auch jetzt fertigbrachte. Nach regelmäßigen Untersuchungen, bei denen nach Anzeichen einer Infektion geforscht und die Wunden gereinigt wurden, ging es nur noch darum, den Verband zu wechseln und die Heilung abzuwarten. Im Krankenhaus wurde sie der Liebling der Schwestern und kam bereits nach zwei Wochen ins Heim zurück. Die Operation war gelungen.
Nachdem alle Verbände entfernt waren, schien Laura zufrieden mit ihrem glatten, ungezeichneten Gesicht, wenn sie auch nicht stürmisch begeistert davon war. Jedenfalls wirkte sie in keiner Weise besorgt oder verstört, als ich sie besuchte. Die anderen Mädchen flatterten jedoch unaufhörlich um sie herum, seufzten vor Überraschung, riefen ihre Freundinnen, damit sie Lauras »neues« Gesicht bewundern konnten, und überschütteten sie mit Komplimenten.
Als Laura danach das nächste Mal zu mir kam, wartete ich immer noch darauf, daß sie mir meine Fragen beantwortete. Aber sie wiederholte nur, was sie vor der Operation gesagt hatte — daß es ihr gefalle, hübsch zu sein, daß es aber wichtigere Dinge im Leben gebe. Ich merkte, daß ich ein Opfer meiner eigenen Zweifel und Befürchtungen geworden war, die sich im Laufe unserer langen und engen Beziehung entwickelt hatten.
Lauras Gesichtsnarben waren die Folge davon, daß man sie als kleines Kind in einer Bratpfanne verbrennen wollte. Ich wußte das, sie nicht. Laura kannte nur eine für ihr Ich annehmbare Geschichte: Man hatte ihr vor langer Zeit erzählt, daß sie in ihrer Kindheit das Opfer eines Brandes geworden war.
Für mich hatte die Entfernung der Narben eine symbolische Seite: Das Messer des Chirurgen hatte nun für immer jede Erinnerung an das entsetzliche Verbrechen ausgelöscht.
Ich muß wohl erwartet haben, daß auch sie etwas von dieser Bedeutung spürte, und vergaß, daß die Operation für sie nur eine einfache Verschönerung darstellte — wichtig, aber nicht lebenswichtig. Nein, das Entstehen dieser Narben war eine Tragödie, von der sie nie etwas erfuhr. Ich war es, der vergessen mußte.
Eine Woche später saß ich in meinem Büro und dachte über all das nach, als mich wiederum eine Neuigkeit erreichte, die alles in Frage stellte.
Laura war gerade bei mir gewesen. Die ersten Anzeichen des Sommers brachten immer eine gehobene Stimmung ins Heim. Draußen im Garten sangen die Vögel, tummelten sich fröhlich die Kinder. Auch Laura schien an diesem Nachmittag viel lebendiger. Sie strahlte ein Gefühl der Individualität aus, das sich in der Art, wie sie ihre Hände hielt, und auch in ihrem flüchtigen, unbefangenen Lächeln ausdrückte. Da die Schule bald schloß, bereitete sie sich eifrig auf ihre erste Stelle außerhalb des Heims vor, die Mrs. Clancy bei einer Familie auf Long Island für sie gefunden hatte. Laura sollte den Sommer dort verbringen und auf die Kinder aufpassen. Es war eine aufregende Sache für sie, und wir unterhielten uns über verschiedene Einzelheiten lange über die Stunde hinaus.
Nachdem sie gegangen war, dachte ich über meine eigenen Sommerpläne nach, hoffte auf Ferien und auf ein Nachlassen des Wintertempos, das ständigen Druck und Spannungen mit sich brachte —- als das Telefon neben mir schrillte. Ich nahm den Hörer ab.
Schwester Margarets Stimme sagte: »Lauras Mutter ist hier in meinem Büro.«
Ich schwieg so lange, daß sie zweimal fragen mußte: »Sind Sie noch da, Herr Doktor?
Sie will ihre Tochter sehen«, fügte Schwester Margaret ernst hinzu.
Ich mußte einen Seufzer unterdrücken. Ich fühlte mich müde, ausgepumpt. Hatte ich das nicht alles gerade mit ihrem Mann durchgemacht? Nun ging dasselbe Elend noch einmal los. Ich verschob jede weitere Diskussion mit Schwester Margaret über die Angelegenheit und vereinbarte mit ihr vorerst nur, daß ich die Frau bei meinem nächsten Besuch im Heim sehen würde.
23
Eigentlich war ich neugierig. Was sagte man zu einer Frau, die ein Kind geboren hatte und dann mithalf, es zu quälen — die sogar an einer entsetzlichen Verschwörung beteiligt war, das Kind zu töten?
Fragte man, ob es schon angefangen hatte zu nieseln? Ob der Wetterbericht wieder einmal unrecht habe? Was die Eichhörnchen im Central Park machten? Und was sagte sie darauf? Würde sie die Tochter, deren Leben sie beinahe ausgelöscht hatte, ansehen und fragen: »Und wie ist es dir ergangen, Liebling?«
Ich begegnete Lauras Mutter schon, bevor sie mein Büro erreichte, denn der schwere Duft ihres Parfüms lief vor ihr her wie Trompetenklänge. Einen Augenblick blieb sie im Türrahmen stehen und lächelte ungewiß, fragend, doch auf eine selbstsichere Art — sie erinnerte an eine verblühte Tingeltangel-Diva, die ein Engagement sucht.
Ihr Haar war ungleichmäßig gebleicht. Das Rouge auf ihren Wangen lag unter Puderschichten, die in den Linien und Falten ihres Gesichtes wie Zuckerguß zusammenklebten. Seit ich sie zum letztenmal gesehen hatte, war sie sehr gealtert. Die roten, geschwollenen Augen deuteten auf Schlafmangel hin. Lachfältchen waren zu Krähenfüßen geworden. Adeline, jetzt über Fünfzig, wollte immer noch aussehen wie eine Frau in den Zwanzigern.
Mit einem höflichen Kopfnicken und einem koketten Lächeln trippelte sie herein, schüttelte meine Hand und setzte sich. Dann ratterte sie eine Geschichte herunter, die sie offensichtlich vorbereitet hatte. Sie hätte sich so sehr danach gesehnt, sagte sie, ihre Tochter, Laura, ihr geliebtes Kind, zu gehen.
Rosa Perlen und hin- und herhuschende Augen. Während sie sprach, wechselte ihre Miene ständig. Befangen griff sie nach ihrem Haar, runzelte die Stirn und zündete eine Zigarette nach der anderen an. Ihre Lippen waren trocken, der Gesichtsausdruck meistens irgendwie verwirrt. Ihre Hände waren es, die ihr Alter verrieten.
Hin und wieder kicherte sie, hatte einen krächzenden Hustenanfall oder erging sich in Tiraden über die verseuchte Luft, die wir in der Großstadt einatmen. Bei einem Zucken ihrer linken Gesichtshälfte fiel etwas Puder auf ihren Schoß, woraufhin sie ihr Baumwollkleid heftig abklopfte. Ich entdeckte bald, daß sie keine Ahnung hatte, wo ihr Mann war, ebensowenig wie Martin wußte, wo sie sich zur Zeit aufhielt.
»Das Leben ist schwer für mich gewesen, Herr Doktor«, sagte Adeline und strich die Asche ab. »Ich meine, all der Ärger mit meinem Mann. Scheint nie aufzuhören. Ein grausamer Mann, Herr Doktor, Sie wissen nicht, was ich seinetwegen durchgemacht habe.«
Ich murmelte etwas Tröstliches.
»Ja, all diese Nervenzusammenbrüche, die ich seinetwegen hatte. Man kann sagen, daß ich in den letzten fünfzehn, sechzehn Jahren von einer Klinik in die andere…«
Ihr Gedächtnis ließ sie im Stich, als sie nach Jahreszahlen und Ortsangaben suchte. Sie rieb sich den Kopf bei dieser anstrengenden Bemühung, und mehr Puder fiel in den Schoß, der wieder energisch weggewischt wurde. Mrs. Meyer wollte mir zeigen, daß sie eine Frau mit Selbstachtung war, darüber ließ sie keinen Irrtum aufkommen.
»Ja, ich war krank. Nervenkrank, könnte man sagen. Oh, mein Mann war unmöglich…Natürlich habe ich gearbeitet, wenn ich konnte. Aber nie lange an einer Stelle. Gut, ich habe getrunken, aber ich trinke nicht mehr. Nein, Sir. Ich bin Abstinenzlerin, ob Sie es glauben oder nicht. Alles steht jetzt bestens.«
»Arbeiten Sie zur Zeit, Mrs. Meyer?«
Ich fragte nur zögernd und bereute die Frage, sobald sie gestellt war. Sie warf mir einen feindseligen Blick zu.
»Ich kann Stellen bekommen, soviel ich will, Herr Doktor. Ich hab mich bloß noch nicht entschieden, welche ich nehmen soll. Ich war in der Fabrik, hab als Stenotypistin gearbeitet, als Putzfrau, alles mögliche. Aber nein, ich trinke nicht mehr. Habe ich Ihnen das nicht gerade erzählt? Ich bin vergeßlich. Hab nie ein gutes Gedächtnis gehabt, wissen Sie.« Sie sah mich durch eine Rauchwolke hindurch abschätzend an. »Ich bin gekommen, weil ich Laura sehen will. Das ist meine Tochter.«
»Es geht ihr gut«, sagte ich.
»Muß jetzt ein großes Mädchen sein. Ich wette, sie sieht aus wie ihre Mutter.« Sie drückte die kaum angerauchte Zigarette aus und versuchte mich einnehmend anzulächeln. »Was für ein schönes Kind. Fragt Sie je nach mir? Oh, ich habe soviel an sie gedacht. Ja, so oft gab es Augenblicke wo ich meine Laura gern gesehen hätte.«
»Warum sind Sie nicht früher gekommen, Mrs. Meyer?«
Sie machte eine schwache Handbewegung. »Es gab Gründe.«
Unzusammenhängend redete sie weiter, wie unter Zwang. Ich mußte mir Mühe geben, dem endlosen, sprunghaften Strom der Gedanken, die erst dies, dann jenes berührten, zu folgen.
»Sehen Sie, ich habe Bilder von Laura, als sie noch ein Baby war…jetzt verstehen Sie mich nicht falsch, Doc, ich habe mein Kind immer geliebt.«
»Immer?«
»Na ja, es gab Zeiten, da war ich zu krank, um mich um sie zu kümmern. Wahrscheinlich tue ich Ihnen sogar leid. Nein, das ist gar nicht nötig«, fuhr sie mich plötzlich an, »ich brauche Ihr Mitleid nicht.« Ihr Mund wurde hart. »Alles, was ich von Ihnen will, ist mein Baby. Sie gehört mir, hören Sie, Herr Doktor? Sie können sie mir nicht vorenthalten. Ich bin ihre Mutter, nicht wahr? Ich kann es beweisen. Das Gesetz …«
»Verstehen Sie —« begann ich, aber sie unterbrach mich grob.
»Was heißt verstehen! Ich bin ihre Mutter. Lauras Mutter. Warum stellen Sie diese ganzen Fragen?«
»Ich habe nicht viele Fragen gestellt.«
»Ja, Sie sind ein ganz Gescheiter. Der schicke Anzug. Ich weiß es doch. Sie lassen mich reden, damit Sie sagen können, ich bin verrückt. Aber das bin ich nicht. Fragen Sie die Ärzte in der Klinik. Sie werden Ihnen sagen, daß ich geheilt bin. Mir fehlt nicht das geringste. Und ich will meine Tochter zurück haben.«
»Arbeiten Sie im Augenblick?« unterbrach ich das darauffolgende Schweigen.
»Nicht direkt. Aber ich habe eine Stelle in Aussicht«, beeilte sie sich zu versichern. »Die Zukunft liegt vor mir. Sehen Sie. Ich kann Laura helfen. Ihr Sachen schenken. Kann ihr vielleicht sogar ein Heim schaffen.«
Ich betrachtete diese Frau, als sie sich mit fast hektischen Bewegungen eine neue Zigarette anzündete. Durfte ich über sie richten? Was ich damals im Krankenhaus über sie gelesen hatte, stand in flammenden Buchstaben vor meinen Augen: mit zehn Jahren von ihrem Bruder vergewaltigt, von einem sadistischen Vater unaufhörlich geschlagen, mit achtzehn aus dem Haus geworfen und mit zweiundzwanzig wegen Prostitution verhaftet…Es stand nicht nur in den Akten, nicht nur auf dem Gesicht vor mir, sondern es lastete auf dem Gewissen der Gesellschaft, der wir beide angehörten.
»Haben Sie eine Wohnung, Adeline?« fragte ich daraufhin leise.
»Na ja« — immer noch entrüstet — »man kann sagen, daß ich jetzt gerade in einer Art möbliertem Zimmer wohne. Bis ich meine Angelegenheiten geregelt habe.«
»Und das bedeutet?«
»Ihr Ärzte! Ihr glaubt, ihr wißt auf alles die verdammte Antwort. Für euch ist jeder nur ein Fall. Und alle Fälle passen in irgendein System. Nicht wahr? Warum legen Sie mir Worte in den Mund und wollen mich dadurch verwirren? Ich kenne mich doch aus. Ich habe keine Bildung oder so was, wie Sie. Aber ich hab ein paar Dinge gelernt, und ich habe nichts dagegen, darüber zu reden. Nur denken Sie daran — alles, was hier drinnen gesagt wird, ist streng vertraulich. Sie können nicht gegen mich aussagen, genau wie ein Priester«, sagte sie und schlug mit der Hand auf meinen Schreibtisch.
»Was haben Sie in letzter Zeit getan?« fragte ich.
»Ich habe nicht gesagt, daß ich nichts getan habe. Himmel, Sie verdrehen alles, was ich sage.«
»Das tut mir leid.«
»Das glaube ich, daß es Ihnen leid tut, Mister«, brach sie aus. »Einen Dreck tut’s Ihnen leid. Warum soll Ihnen denn was leid tun? Sitzen da hinter dem Schreibtisch wie’n — wie so’n Richter. Es tut Ihnen leid! Das ist großartig. Wirklich. Wann haben Sie das letzte Mal einen dreckigen Waschraum in einer Fabrik gescheuert, möcht ich mal wissen? Und wissen Sie was?«
»Was?«
»Okay, Schlaumeier, also hören Sie zu. Ich bin in den Slums geboren, in den Slums aufgewachsen und hab mein ganzes verdammtes Leben in den Slums verbracht. Konsequent, was? Ja, war ich. Haben Sie schon mal was wegen der Slums unternommen, Herr Doktor?«
Ich wartete. »Warum sind Sie so böse auf mich, Adeline?«
»Ich bin auf jeden böse. Ihre Hände sind nicht sauber. Wenn ich Ihre Chancen gehabt hätte …«
»Sie wollen, daß ich Sie bemitleide, ja?«
»Ich bin nur hergekommen, weil ich das Kind sehen will. Sie bringen mich durcheinander, Herr Doktor. In der Klinik hat man mir gesagt, daß ich mich nicht aufregen soll. Das Problem war mein Mann. Dann habe ich noch die schlimme Leber. Kommt vom Ärger, und, Junge, davon habe ich mein Teil gehabt. Ich hätte Laura beinahe bei der Geburt verloren, ist Ihnen das klar? Nur eine Mutter weiß, was für ein Leid…«
»Laura ist gut aufgehoben, und es geht ihr auch gut«, versicherte ich ihr.
»Himmel, ich wollte ihr schreiben, aber dann war ich krank. Na, und ich wußte nicht, was ich schreiben sollte. Wußte nicht mal, wo sie war. Ich liebe dieses Kind.«
»Was lieben Sie denn an ihr, Adeline?«
Zum erstenmal, seit sie ins Zimmer gekommen war, schwieg sie eine lange Zeit.
»Sie stellen komische Fragen«, sagte sie schließlich und schüttelte heftig den Kopf. Dabei fiel erneut Puder auf ihr Kleid. »Ich weiß nicht, was ich von Ihnen halten soll. Ich will doch nur fragen, ob ich meine Tochter sehen kann.«
Ich wich aus. »Meinen Sie, ich soll sie Ihnen zeigen, damit Sie sehen, wie sie aussieht?«
»Ich möchte mit ihr sprechen, Herr Doktor.«
»Worüber?«
»Was? Ach, ich weiß nicht. Ich meine…jetzt verwirren Sie mich schon wieder. Wenigstens kann ich sie doch besuchen, und sie kann mich besuchen.«
»Sie können Freundinnen sein«, suggerierte ich.
»Stimmt.«
Ich hielt wieder inne. »Warum sollte Laura Sie sehen wollen?«
»Weil ich ihre Mutter bin«, erwiderte Sie entrüstet, »und weil ich sie liebe.«
»Wären Sie sehr enttäuscht, wenn es nicht ganz so ginge, wie Sie es sich vorgestellt haben?«
»Warum sollte es nicht?« fragte sie argwöhnisch und rutschte auf die Stuhlkante.
Ich erkannte, daß unsere Unterhaltung hier enden mußte. Die Frau hatte ein Gewissen wie Schweizer Käse. Unredlichkeit verleiht eine gewisse Kraft. Der Puder, der von ihrem Gesicht fiel, symbolisierte die Vergangenheit, von der sie sich nach Belieben befreite. Sie war eine eitle Frau, die wußte, daß ihre Anziehungskraft im Schwinden war, und sie spielte ein Spiel, bei dem sie sich keine Zurückhaltung auferlegte. Sie hatte eine Tochter, und sie wollte sie haben. Ich kannte die Behörden gut genug, um zu wissen, daß sie ihr keinen Stein in den Weg legen würden. Es war alles so herrlich einfach. Liebe war wie eine Muttertagskarte. Sie und Laura würden Vergangenes ruhen lassen …ich konnte sie mir direkt vorstellen, wie sie genau diese abgedroschenen Phrasen Laura gegenüber benutzte.
Laura war Wirklichkeit. Hier war Adelines Chance, die dunklen Wolken der kommenden Einsamkeit, die Schatten des Alters abzuwehren. Dieser zweite Anspruch auf Lauras Zukunft war auf seine Art sogar noch gefährlicher. Adeline würde sich weniger leicht abschütteln lassen als Martin Meyer. Eigentlich konnte sich nur Laura selbst von ihr befreien. Ihre Zukunft lag jetzt in ihren eigenen Händen.
Ich sagte: »Ich werde Laura erzählen, daß ihre Mutter sie sehen will. Wir treffen eine Verabredung für Sie in einer Woche. Ist Ihnen das recht?«
24
Laura stutzte, als sie am Nachmittag, bevor sie Adeline Meyer sehen sollte, zu mir ins Büro kam. Als ich aufblickte, um das selbstbeherrschte, gutaussehende Mädchen zu begrüßen, erkannte ich, daß sie nun die geringste Veränderung in meinem Verhalten bemerkte. Sie wußte, daß ich ihr etwas zu sagen hatte.
Und wirklich, sie kam herein, lächelte, setzte sich und sprach eher als ich.
»Jedesmal‘ wenn Sie etwas auf dem Herzen haben, sehe ich es Ihnen an, bevor Sie etwas sagen. Warum zünden Sie sich nicht eine Zigarette an, wie immer? …So. Jetzt können Sie mir besser sagen, was es Schwieriges zu sagen gibt.«
Jetzt mußte ich lächeln, und zwar über die Vertauschung unserer Rollen. »Es ist schwierig, Laura, das muß ich zugeben«, bekannte ich.
»Ich werde damit fertig«, erwiderte sie sofort. »Sagen Sie’s nur. Bin ich bei der Prüfung in der Schule durchgefallen? Oh, ich weiß. Ich bekomme doch keine Stellung im Sommer.«
»Nein. Es handelt sich um deine Mutter. Sie will dich sehen.«
»Meine was!« Sie lehnte sich wie betäubt zurück. »Haben Sie gesagt, meine Mutter?«
Ich nickte. »Sie will dich sehen, Laura.«
Ihre beunruhigten Augen wanderten umher. Sie strich eine Strähne des hellen Haares aus der Stirn. »Meine Mutter ist begraben …wir hatten die schöne Beerdigung …wir haben zusammen gekocht …erinnern Sie sich noch…sie hat getanzt, mir Schuhe geschenkt…ach, sie sah so friedlich aus, als sie starb.« Dann starrte Laura mir in die Augen. »Was will sie?«
»Dich sehen, scheint es.«
»Warum ist sie nicht früher gekommen? Oder ist sie gekommen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie war in einer Klinik nach der anderen und sagt, es sei schwierig gewesen, dich zu finden.«
»Hat sie Ihnen das gesagt? Lügnerin!« Sie beugte den Kopf und schwieg eine Weile.
Als sie aufsah, waren ihre Augen feucht. »Ich nehme an, ich sollte sie sehen. Ich muß sie sogar sehen, nicht wahr? Ich werde sie sehen und höflich sein und, und …ich glaube, mir ist übel. Bin ich sehr durcheinander? Wann sehe ich sie?«
»Morgen. Wenn du willst.«
»Ja. Wenn ich es tue, geht sie vielleicht fort und kommt niemals zurück. Es wird sein, als wäre sie gestorben, und ich kann mir das Gesicht meiner Mutter vorstellen, so wie ich es das letzte Mal gesehen habe, im Sarg. Ich glaube nichts von dem, was sie sagt. Sie ist eine Lügnerin, hören Sie mich?« Laura schlug sich mit den Fäusten auf die Stirn. »Eine Lügnerin, eine Lügnerin! Ich glaube nicht, daß sie die ganzen Jahre fort war und mich nicht finden konnte. Diese Frau ist nicht meine Mutter.«
Dann kamen die Tränen. Verlassen kauerte sie sich in ihrem Stuhl zusammen, als lastete ein Gewicht auf ihr, demgegenüber sie machtlos war. Ich ließ sie einen Moment in Ruhe, hörte draußen Frauenschritte, dann leichtes Lachen. Beim letzten Weihnachtsfest hatte Laura ihrer Schutzbefohlenen geholfen, ein kleines Stück einzustudieren, über Ruth und Naomi und alles Leid der Welt…
»Nein«, sagte ich schließlich, »sie ist nicht tot, Laura. Sie lebt.«
Sie hob das tränenüberströmte Gesicht, das ihre gequälte Seele offenbarte. »Wie sieht sie aus?« fragte sie. »Ist sie sehr hübsch? Ich habe sie mir immer mit schönem Haar und weicher Haut vorgestellt. Ist sie vielleicht alt?«
»Um die Fünfzig.«
»Das ist alt. Frauen altern schnell, nicht wahr? Geht es ihr jetzt gut?«
Ich wartete etwas, dann nickte ich. »Ja.«
Sehr ruhig, fast starr sagte Laura: »Warumkommt sie her? Ich will nicht mehr geplagt werden. Ich habe solche Angst. Ich kann sie nicht lieben.« Einen Augenblick kaute sie an einem Finger. »Ich habe sie geliebt, mich nach ihr gesehnt, sie verehrt. Aber ich fürchte mich, und ich hasse sie. Sehen Sie denn nicht, ich habe nichts zu geben. Ich will nicht wieder krank werden. Bitte. Bitte keine Schmerzen mehr«, sagte sie heftig, »bitte. Ich kenne sie nicht. Man muß jemanden lieben, dann vertraut man ihm.« Laura sah mich beschwörend an. »Ist das nicht wahr? Man muß jemanden lieben…nicht wahr?«
Ich sah, wie sie von ihren Gefühlen hin und her gerissen wurde, aber ich konnte ihr nicht helfen…
»Schwester Margaret wird bei dir sein, Laura.«
»Wie beim letztenmal?« fragte sie tapfer.
»Wie beim letztenmal«, sagte ich und berührte ihre Hand.
Und es war unsere immer mitfühlende Schwester Margaret, die mir über dieses seltsame Treffen Bericht erstattete:
»Daß sie Mutter und Tochter waren, wußten sie nur, weil ich sie einander vorstellte. Sie schleppten sich durch eine nichtssagende Unterhaltung, wie Fremde sie in einem Bus führen. Laura parierte alles Persönliche wie ein geübter Fechter. Sie wären stolz auf sie gewesen, Herr Doktor. Sie war höflich, aber auf Abstand bedacht. Schließlich wurde die Mutter immer gereizter, als ihre Tochter so wenig Wärme zeigte, und ihr Ton verlor mehr und mehr von seiner falschen Süßigkeit. Sie nörgelte an Laura herum, bemängelte ihr Haar, ihre Kleider, die gebügelt werden müßten, obwohl natürlich —- das war ein Seitenhieb auf mich — dieses ›verwahrloste Nest‹ nur ein Heim sei und sie offensichtlich vernachlässige — und so weiter, und so weiter. Und dann sagte sie: ›Schau, was ich dir mitgebracht habe, Laura.‹ Die Frau griff nach einer großen Papiertüte, die neben ihr stand, und schob sie Laura zu. ›Los, sieh’s dir doch an‹, ermunterte sie ihre Tochter. Laura war es bei dem immer schärfer werdenden Wortschwall unbehaglich zumute geworden, und sie sah mich fragend an. Ich nickte, und so langte sie in die Tüte und zog fünf oder sechs Paar alte Schuhe hervor, die zusammengebunden waren. Und das schlug bei ihr ein wie ein Blitz — aus einem Grund, den Sie, Herr Doktor, vielleicht kennen, ich nicht. Laura starrte die Schuhe an, als wären es Schlangen, schleuderte sie dann heftig mit aller Kraft auf den Boden, lief zur Wand und weinte und schrie: ›Du bist nicht meine Mutter, du bist eine Lügnerin, ich brauche deine alten Schuhe nicht. Geh weg! Geh weg!‹ Und dann kam sie in meine Arme.«
»Und was geschah dann?« fragte ich.
»Ihre Mutter konnte den Ausbruch ebensowenig verstehen wie ich. Es waren schließlich nur gewöhnliche Schuhe. Sie wissen ja, unsere Kinder tragen viele Schuhe auf, Herr Doktor, und oft werden uns Schuhe gebracht, auch getragene wie diese. Ich verstand also nicht ganz, warum Laura sich so aufregte. Ich tröstete sie jedoch, so gut ich konnte. Ihre Mutter erging sich derweil in langen Reden darüber, wie undankbar sie sei und wie verwöhnt und daß sie Geschenke gar nicht verdiene. Schließlich verlor ich die Geduld mit der Frau und sagte ihr meine Meinung. Ich bat sie zu gehen, und sie ging.«
Schwester Margaret muß sich gewundert haben, warum ich lächelte. Ich erklärte ihr, es sei ein merkwürdiger Zufall gewesen, daß die Frau ausgerechnet Schuhe gebracht habe. Denn ein hervorstechender Zug der geliebten Mutter in Lauras Phantasie war es, daß sie ihr immer neue Schuhe schenkte. Als daher Adeline Meyer die gebrauchten, abgetragenen Schuhe hervorzog, spielte sie direkt in Lauras Hände. Danach konnte sie nicht ihre Mutter sein.
Die Schwester schüttelte den Kopf und lächelte nachdenklich. »Jedenfalls hat sie versprochen anzurufen, Herr Doktor. Vielleicht sollte ich sagen, sie hat gedreht anzurufen.«
Aber in den folgenden Wochen kam kein Anruf. Laura hatte ohnehin : geschworen, nicht mit ihr zu sprechen und sie auch nicht wiederzusehen. Wie Martin verschwand auch Adeline aus ihrem Leben.
Laura erklärte es mir selbst:
»Sie war nicht wirklich. Ihr Gesicht war wie eine Maske. Hu! Es stand niemand dahinter. Glauben Sie mir, ich habe versucht, sie hinter der Maske zu finden. Ich sagte mir immer wieder vor: ›Das ist deine Mutter, und du mußt sie achten.‹ Aber da war nichts Weiches oder Warmes, das ich berühren konnte. Die ganze Zeit hatte ich das seltsame Gefühl, daß das alles gar nicht geschah. Ich bildete es mir nur ein. Nichts geschah in mir drinnen. Sie verstehen, was ich meine, nicht wahr?«
Ich bejahte.
»Ich konnte ihr Herz nicht finden. Und das erschreckte mich. Und dann gab sie mir plötzlich, wie in einem entsetzlichen Alptraum, diese gräßlichen alten Schuhe, und da habe ich die Beherrschung verloren. Ich meine, ich spürte, daß ich mich nicht in der Gewalt hatte. Die Mutter, die ich wirklich liebte, schenkte mir immer neue Schuhe, und da geschah etwas tief drinnen in mir. Diese Frau war eine Lügnerin. Ich konnte doch nicht zwei Personen sein, nicht wahr? Ich konnte nicht das sein, was Sie wollte. Es war, als ob wir verschiedene Sprachen sprächen. Meine wirkliche Mutter ist ein Mensch, den ich niemals kennen oder verstehen werde. Aber ich bin froh, daß wir uns getroffen haben. Ich habe wirklich keinen Grund, sie wiederzusehen.«
Das war Lauras letzter großer Augenblick der Wahrheit. Sie hatte einen persönlichen Sieg errungen, dem nichts in ihrem vergangenen Leben gleichkam. Es ging nicht etwa darum, daß sie sich nun an ihrer Mutter für die Enttäuschungen gerächt hatte, denen sie im Leben begegnet war. Es war eine Frage ihrer Identität, ihrer Einheit als Person und ihrer Ehrlichkeit sich selbst gegenüber — ihrer Menschlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes. Die Rolle der gehorsamen Tochter zu spielen, während sie keine töchterlichen Gefühle hegte, wäre ein Verrat an ihrer sich immer mehr festigenden Persönlichkeit gewesen.
So war der Teufelskreis endlich durchbrochen, und zwar durch ihre eigene Kraft. Als sie ihre Mutter einschätzte, begann Laura sich selbst zu finden. Und diese innere Kraft, die sie befähigte, Adeline Meyer als oberflächliches, leeres und beinahe klägliches Wesen zu sehen, war die Frucht der menschlichen Liebe, die Laura hier, in diesen grauen Mauern, erfahren hatte. Es war eine Ironie des Schicksals, daß in diesem Falle die Trennung zwischen Mutter und Tochter durch Liebe, nicht durch Haß verursacht wurde.
Im Geiste verglich ich Laura mit einer anmutigen Palme, die sich im Sturm beugt, die sich aber wieder kerzengerade aufrichtet, wenn das Unwetter vorüber ist. Jetzt stand der Sommer vor der Tür, und sie freute sich auf ihre erste Tätigkeit außerhalb des Heims.
25
Mehr als ein Mädchen aus dem Heim wurde den Sommer über als »Stütze der Mutter« von einer Familie engagiert. Es handelte sich meist um wohlhabende Familien, die in einer guten Gegend außerhalb der Stadt auf Anwesen wohnten, deren Unterhalt einen ganzen Trupp von festangestelltem Dienstpersonal erfordert hätte.
Mr. und Mrs. Ross bildeten keine Ausnahme. Ihre Ferien bestanden darin, daß sie die Sorgen für ihre drei Kinder einem halbwüchsigen Mädchen aus dem Heim überließen. Die Mädchen wußten selbst, daß sie billige Arbeitskräfte abgaben, aber es standen ihnen nur wenige Möglichkeiten offen, und die meisten sehnten sich nach der Landluft, die mit der Arbeit geliefert wurde. Die Ross’ besaßen zwei Autos und ein Haus im Ranch-Stil mit Swimming-pool auf Long Island. All das beeindruckte Laura zuerst. Später erzählte sie mir, daß der Duft von nassem, frischgeschnittenem Gras wie ein lebendiges Gedicht für sie war.
Die Kinder waren zwei, drei und fünf Jahre alt. Laura fütterte das Kleinste, spielte mit den Älteren und las ihnen Geschichten vor. Inzwischen verstand sie es vorzüglich, kleine Kinder durch lebendige Schilderungen in ihren Bann zu ziehen, und nach kurzer Zeit hingen alle drei an ihr wie die Kletten.
Leider hatte sie bald immer weniger Zeit für sie. Jeden Morgen gab ihr Mrs. Ross eine Liste mit »kleinen Dingen, die erledigt werden müssen«, darunter auch die Winterbügelarbeit des Haushalts, die anscheinend extra für diesen Zweck aufgehoben worden war. Obwohl Laura immer mehr unter Schwäche in den Beinen litt, die durch ihre Krampfadern verursacht wurde, ließ sie sich so lange ausnützen, bis Mrs. Ross ihr eines Tages wegen einer Kleinigkeit bittere Vorwürfe machte. Da lief sie einfach davon. Sie hatte wieder versagt, oder sie glaubte es wenigstens, und Erfolg bei dieser ersten Stellung hätte viel für sie bedeutet: Sie hatte es sich so schön vorgestellt, den anderen Mädchen bei ihrer Rückkehr von ihren Erfahrungen zu berichten.
Wie sie später erzählte, stieg sie einfach in einen Zug, den Sie dann abends in der Stadt elend und traurig verließ. Sie irrte umher, bis sie gegen drei Uhr früh Panik erfaßte und sie sich auf den Weg zum Heim machte.
Aber bis auf drei ältliche Schwestern, die den Sommer über das Heim hüteten, war es verlassen. Nachdem Laura eine Weile lang energisch geläutet hatte, ließ man sie schließlich ein, gab ihr etwas zu essen und wies ihr ein kleines Zimmer zu.
Laura bat darum, bei den drei alten Schwestern bleiben zu können und nichts ins Lager geschickt zu werden, denn die Konfrontation mit den anderen bedeutete wieder Kritik für sie. Man gestattete es ihr auch, und sie durfte bei einer Gemeindelehrerin wohnen und im Heim essen und arbeiten.
Ich erfuhr all das, als ich im September zum üblichen Termin wieder erschien und das Mädchen, das ich im Juni lächelnd und glücklich verlassen hatte, tief bedrückt vorfand. Das kleine Erlebnis, das die meisten von uns als trivial abtun würden, hatte sie wieder aus der Bahn geworfen. Es war das erste Mal gewesen, daß sie mit der Außenwelt in Berührung kam, und nach diesem Vorfall sah sie dem neuen Schuljahr mit seinen Anforderungen und Ausleseprüfungen mit größerem Bangen denn je entgegen. Sogar ihre Arbeit bei Schwester Jean schien in Gefahr.
Sie erzählte mir viel über Mrs. Ross und zeigte ein frühreifes Verständnis für die Beweggründe dieser Frau. Und eines Tages schloß sie: »Wissen Sie was? Kinder sind nicht so. Nur Kinder können anscheinend so sein, wie sie wirklich sind, brauchen nichts vorzutäuschen. Aus diesem Grund vertraue ich ihnen. Ich glaube, darum bin ich so gern bei ihnen. Können Sie das verstehen?« Sie betrachtete mich einen Augenblick eingehend, als wäre sie verwirrt, und da ich nicht sofort antwortete, schwatzte sie weiter »Sie sind anders als die meisten Erwachsenen, aber Sie täuschen auch etwas vor. Sie tragen eine Maske. Sie sind Arzt, und das ist die Rolle, die Sie spielen. Sind Sie« — und sie hielt inne — »als Mensch anders?«
»Was glaubst du, Laura?« fragte ich.
»Sie sind gütig. Das sagt mir Ihr Gesicht. Wissen Sie, Sie waren der erste Mensch, dem ich vertraut habe.«
»Darüber bin ich froh«, sagte ich.
Als sie fort war, dachte ich über unsere harte, grausame Welt nach, in der sich Laura nun bald zurechtfinden mußte. Wie viele Kämpfe lagen vor ihr! Sie mußte schon doppelt soviel arbeiten wie ihre Klassenkameradinnen, nur um sich gerade über Wasser zu halten. Dabei wußte sie aber, daß sie unbedingt die Oberschule durchlaufen mußte, um ihren Berufswunsch zu verwirklichen. Ich war nicht ganz glücklich darüber, daß sie alles auf eine Karte setzte, aber ich mußte es als logische Wahl anerkennen.
Ich versuchte ihr bei ihren Arbeiten zu helfen und fragte mich dabei, warum wir bei einem Menschen, der Kinder betreuen will, großartige Kenntnisse in Geographie, Geschichte und Wirtschaftskunde verlangen. Mir fielen die vielen gesunden jungen Mütter ein, die nie über die Volksschule hinauskommen und trotzdem durchaus in der Lage sind, für ihre Kinder zu sorgen. Die Tatsache blieb jedoch bestehen, daß keine Schwesternschule Laura ohne Abgangsdiplom der Oberschule und sehr gute Noten aufnehmen würde. Das war die Welt, in der sie leben mußte, in der auch wir leben mußten.
Ihr siebzehnter Geburtstag nahte. Alle Kinder liebten Geburtstage. Und da es im Heim so viele Mädchen gab, war mindestens jeden zweiten Tag eine Geburtstagsparty fällig — mit Geburtstagskuchen von Schwester Martha, Geschenken und unzähligen Karten. Bei diesen Gelegenheiten floß Eiscreme wie Wein und erfreute das Herz auch des unglücklichsten Kindes.
Lauras Party wurde mit aller Sorgfalt geplant. Im ganzen Heim — und auch außerhalb — regnete es Einladungen.
Auch ich war unter den Gästen. Sie betrat den Raum in einem kurzen Organdykleid, das vielleicht billig war, ihr aber gut stand. Als alle das Lied Happy Birthday to you …anstimmten, erhellte sich ihr Gesicht wie früher, als sie noch kleiner war — von innen heraus, schön. Sie ging auf Schwester Paulette zu und umarmte sie.
Die Geschenke, die Laura erhielt, waren faszinierend. Die Schwestern schenkten ihr meist Kleider und andere notwendige Dinge, aber die Kinder mit ihren beschränkten Mitteln mußten sich wirklich etwas einfallen lassen. Mit den selbstgemachten Topflappen und bestickten Handtüchern, die sie an diesem Tag geschenkt bekam, hätte sie einen Handel beginnen können.
»Ich danke dir«, sagte Laura liebenswürdig, und wieder: »Danke, vielen Dank. Das ist genau das, was ich brauche.«
Ich stand abseits, neben dem Toilettentisch, auf dem sie alle Geburtstagskarten ausgebreitet hatte; auch meine war darunter. Als sie mich erblickte, lächelte sie, machte sich nach einem Augenblick frei und kam zu mir.
»Herzlichen Glückwunsch, Laura«, sagte ich. Sie würde noch einen Geburtstag im nächsten November hier verleben und im Januar dann die Abschlußprüfung an der Oberschule machen. Kein Mädchen über achtzehn konnte im Heim bleiben. Ich betrachtete ihr ruhiges, junges Gesicht und überlegte, wie sie wohl weiterleben würde — allein. Wenn sie strauchelte, würde niemand da sein, an den sie sich wenden konnte. Ich hatte sie aus der Welt der Phantasie herausgelockt; nun würde sie bald vom gleichgültigen Strudel der großen Stadt erfaßt werden, in der Einsamkeit brennend sein und Ängste erzeugen kann, von denen bestimmt auch Laura nicht verschont bliebe. »Ich wünsche dir viele glückliche Geburtstage«, sagte ich bedeutungsvoll.
Sie nahm meine Hand und drückte sie fest. »Vielen Dank für das Geschenk. Es war genau das, was ich brauchte.«
Ich hatte ihr ein kleines Maniküreetui geschenkt.
»Du hast ja wirklich eine Menge Karten bekommen«, bemerkte ich.
Eine war größer, greller, gekünstelter als die anderen. Ich beugte mich hinunter und las den Text:
Mit Mutterliebe wächst das Kind,
und als du wuchsest so geschwind,
da liebte ich dich um so mehr.
Die ersten Schritte sah ich an,
sah, wie du lerntest sprechen dann,
hieltst meine Hand —
doch jetzt …
Es muß eine Art Galgenhumor gewesen sein, der Adeline Meyer veranlaßte, diese Karte zu wählen, Und wenn ihr die Bedeutung des Textes entgangen war, so war die Frau tatsächlich so gefühllos, wie Laura sie eingeschätzt hatte. Ich legte die Karte mit Abscheu fort.
Laura nickte: »Haben Sie sie gelesen? …Wissen Sie, ich bin eine solche Närrin, manchmal glaube ich, daß ich schuld an meinem eigenen Unglück bin. Als der Brief kam und ich ihren Namen auf dem Umschlag sah, hatte ich Angst, ihn zu öffnen. Ich habe zwei ganze Tage gewartet, bis ich ihn aufgemacht habe. Und trotzdem inußte ich sogar dann noch weinen, und je mehr ich mich zu beherrschen versuchte, desto mehr mußte ich weinen. Albern, nicht wahr?«
»Ich glaube nicht«, sagte ich.
»Dann las ich die Worte, und plötzlich schien alles in mir wie erstarrt. Sie machten mich ganz gefühllos. Meine Tränen hörten auf. Ich spürte Wut und Haß. Wissen Sie, daß siemich kürzlich abends sogar angerufen hat?«
»Nein, das wußte ich nicht.«
»Das war gerade das, was ich mir wünschte. Ich legte einfach mitten in ihrem Gerede auf. War das eine Erleichterung! Ich verstehe langsam, was Haß einem für ein seltsames Gefühl gibt. Wissen Sie was? Ich hasse das Hassen!« Sie lächelte und fuhr fort: »Muß wie bei einem Polizisten sein, der einen Verbrecher erschießen muß, weil der ihn töten will. Ich glaube nicht, daß es der Polizist gern tut, aber er muß es tun. Ist denn das die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben? Dem anderen zuvorzukommen, ehe er einen erwischt hat? So wie Tiere im Dschungel?«
»Nein.«
»O Gott!« Sie senkte einen Moment den Kopf. »Heute komme ich mir vor wie das winzigste, unbedeutendste Insekt auf der ganzen weiten Welt, und jeder will mich fressen.«
»Das brauchst du nicht«, sagte ich.
Aber sie hatte sich schon umgedreht und war gegangen. Zwei Kinder zogen an ihrem Rock und bettelten, daß sie doch ein besonders schönes Päckchen öffnen solle.
Laura hatte über viel mehr gesprochen als nur über den Haß auf ihre Mutter. Sie wurde sich quälend der eigenen Machtlosigkeit in der AußenWelt bewußt, in der sie nun bald leben mußte, jenem »Dschungel«, in dem Haß manchmal wie eine verlöckende Verteidigungswaffe aussehen mochte, durch die man jedoch nur noch mehr auf sich selbst zurückgeworfen wird.
Jeden Tag rückte der Termin näher, an dem Laura das Heim verlassen mußte. Meine Zweifel, daß sie außerhalb seiner schützenden Mauern würde leben können, wuchsen. Doch wir konnten jetzt nicht mehr viel für sie tun.
Als es wieder Frühling wurde, entdeckte sie eine Vorliebe für Blumen. An den Wochenenden beschnitt sie nun die Hecken im Garten, goß die Beete oder half der Schwester, die den Garten unter sich hatte, beim Aussäen von Grassamen oder beim Setzen eines Fliederbusches, den irgend jemand gestiftet hatte.
Der Sommer kam. Laura war jetzt innerlich so gefestigt, daß sie ohne weiteres bei einer neuen Familie hätte arbeiten können. Aber ich schlug einen anderen Plan vor. Es gab vielleicht doch noch ein Letztes, was wir für sie tun konnten.
Als Kind hatte sie sehr unter Krampfadern gelitten, und ihre Beine schwollen immer noch an, wenn sie lange auf den Füßen war. Als Schwester mußte sie gesunde Beine haben, und daher mußten ihre Krampfadern entfernt werden, und zwar, noch ehe sie das Heim verließ; denn eine solche Operation würde sie sich noch jahrelang nicht leisten können. Die Schule sollte sie möglichst nicht versäumen, denn dann bestand die Gefahr, daß sie scheiterte. Die Ferien waren daher die günstigste Zeit für die Operation, und Schwester Margaret war die Person, die wieder alles arrangieren mußte. Bis jetzt waren die Manöver ja immer gelungen, aber auch ihren Überredungskünsten mochten Grenzen gesetzt sein.
26
Ich traf Schwester Margaret eine Woche später »zufällig« in der Cafeteria.
»Wollen Sie nicht eine Tasse Kaffee mit mir trinken, Schwester?« fragte ich so beiläufig wie möglich.
Wir setzten uns an einen Ecktisch, und als ich den Kaffee eingoß, sah sie auf. »Rücken Sie nur gleich damit heraus, Herr Doktor. Sie sehen so aus wie immer, wenn Sie etwas für Laura wollen.«
Also erzählte ich ihr von meinem Plan. Als ich geendet hatte, nahm sie einen großen Schluck Kaffee, setzte die Tasse mit einem munteren Klirren ab, schob ihre weiten schwarzen Ärmel zurück und sagte: »Du lieber Himmel, ich habe schon geglaubt, Sie wollten mich etwas Schwieriges fragen. Ich kenne einen Arzt, an den wir uns wenden können. Er ist genau der Richtige.«
»Wirklich?« sagte ich. Armer Kerl, dachte ich bei mir.
»Ja, und ich kenne auch die Schwester, die die Verwaltung des Krankenhauses unter sich hat, in dem dieser Arzt arbeitet. Und nächste Woche, wenn ich zu den Exerzitien gehe, werde ich zu Gott beten, daß er die Schwester, Marion heißt sie, darin bestärkt, den Aufsichtsrat zu übergehen und uns ein Zimmer zu geben. Ach, ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr mir all der Papierkrieg zum Hals heraushängt. Manchmal habe ich das Gefühl, daß ich mein halbes Leben damit verbringe, alberne Akten zu unterschreiben. Nur gut, daß ich nicht die andere Hälfte dazu verwende, sie zu lesen! Was wollten Sie sonst noch, Herr Doktor?«
Sie hatte wieder einmal recht. Ich hatte noch andere Dinge auf dem Herzen. Was würde Laura zum Beispiel den Rest des Sommers nach der Operation tun? Sie schlug vor, daß wir mit Schwester Paulette und Mrs. Clancy sprechen und dann gemeinsam überlegen sollten, wie wir Laura am besten helfen könnten.
Mrs. Clancy entdeckten wir in einer anderen Ecke bei einem frühen Lunch. Sie kam mit ihrem Teller und der dampfenden Tasse Kaffee zu uns herüber. Schwester Paulette ließen wir holen, und bald waren wir alle versammelt.
Ich sagte diesen Frauen, was ich von Familien hielt, die eine »Stütze der Mutter« suchten. Das sei doch nur unterbezahlte Sklaverei. Laura hätte schon mit Mrs. Ross genug durchgemacht.
Schwester Paulette schlug vor, sie im Lager anzustellen, wo sie weiter die ganz Kleinen beaufsichtigen könne. Während wir dieser ausgezeichneten Idee zustimmten, erinnerte uns Mrs. Clancy daran, daß Kinder keine bezahlten Angestellten des Heims sein dürften.
»Sie würde damit unseren bezahlten Helferinnen gleichgestellt«, erklärte sie mit einer eindrucksvollen Bewegung ihrer Zigarette, »und das ist nicht erlaubt.«
Schwester Margaret erhob sanft Einspruch. »Bisher haben wir Lauras Gehalt aus dem Fonds ›Verschiedenes‹ bezahlt. Also.«
»Also?« sagte Mrs. Clancy und sah dem Unabänderlichen tapfer ins Auge.
»Na ja, ich sehe nicht ein, warum wir es im Lager nicht weiter so halten können. Schließlich«, sagte Schwester Margaret ziemlich erhaben, »ist Verschiedenes doch Verschiedenes, ganz egal, wie man es betrachtet.«
Ich fand diese Trickbuchhaltung paradox, und auch den Gesichtern von Schwester Paulette und Mrs. Clancy sah man an, daß sie nicht ganz mitkamen. Sie schienen jedoch im Grunde mit der Antwort der Schwester (oder besser, ihren Spitzfindigkeiten) zufrieden, und so wurde beschlossen, »es im Lager weiter so zu halten«.
Und wenn nun eines schönen Tages jemand dumm genug war, Schwester Margaret über diesen Posten »Verschiedenes« zu befragen, aus dem sie Lauras Gehalt, die Kosten für Medikamente und ähnliches und der Himmel weiß was sonst noch bestritt? Ich konnte wetten, daß am Ende des Jahres die Gesamtsumme dieses Postens die Lebensmittelkosten für das ganze Heim überstieg. Der Alptraum eines Buchhalters!
Ich wußte aber auch, daß Schwester Margaret einem möglichen Fragesteller eine Erklärung geben würde, die ihn völlig überzeugte — auch wenn er kein Wort verstand. Der Eindruck absoluter Gründlichkeit und Genauigkeit, den man stets bei ihr hatte, war entwaffnend. Nur sehr selten verriet ihr Lächeln uns, die wir sie am besten kannten, wieviel Spaß sie an ihren Manipulationen hatte.
Aber auch Schwester Margarets Zauberkünste hatten ihre natürlichen Grenzen. Laura würde in Kürze das Heim für immer verlassen müssen.
Wir sprachen über diese unabwendbare Tatsache und über Lauras eigene Ziele und versuchten dabei alle, die Sorge über ihre Zukunft zu verbergen. Welche Arbeit konnte sie ausführen? Haushälterin, Büroangestellte, Fabrikarbeiterin — wir besprachen jede Möglichkeit, wußten aber im Grunde, daß Laura in keinem dieser Berufe glücklich sein würde. Nein, wirklich glücklich wäre sie nur, wenn sie bei Kindern arbeitete. Und wie die Dinge jetzt standen, war das unmöglich zu erreichen.
Ich war es, der das Wort »unmöglich« gebrauchte, und Schwester Margaret reagierte sofort heftig darauf. Das Adjektiv schien sie wütend zu machen. »Das Schwierige braucht Zeit«, sagte sie erregt, »aber das Unmögliche erledigen wir sofort. Wir sind hier schon öfter mit dem Unmöglichen fertig geworden, als Sie sich vorstellen können, Herr Doktor. Und es wird uns auch diesmal gelingen.«
An diesem Punkt erwähnte Schwester Pauline, daß es Privatschulen gäbe, die Kurse in Säuglingspflege durchführten und mit einem Diplom abschlössen. Die Absolventinnen dieser Schulen würden von Krankenhäusern, Heimen und Privatfamilien angestellt. Der Kurs dauere zwölf Wochen und verlange intensive Mitarbeit.
»Sehen Sie«, sagte Schwester Margaret und sah mich eindringlich an. »Was habe ich Ihnen gesagt? Es ist genau das, was Laura braucht.«
Mrs. Clancy, die ihr Essen beendet hatte und schon wieder beim Kettenrauchen angelangt war, rief aus: »Privatschule? Wovon sprechen Sie, Schwester Margaret? Die Oberin würde niemals ihre Zustimmung geben und der Aufsichtsrat auch nicht. Sie würden uns auslachen. Wir haben einfach das Geld nicht. Wir würden niemals die Genehmigung erhalten, niemals!«
Schwester Margaret senkte bei diesem Ausbruch die Augen. Ohne aufzusehen, sagte sie: »Ich finde das Wort ›niemals‹ genauso endgültig wie den Tod, und solange wir noch atmen, ziehe ich Ausdrücke wie ›vielleicht nicht‹ oder ›unwahrscheinlich‹ vor.«
Ein etwas verblüfftes, respektvolles Schweigen entstand, doch wir hatten alle nicht den Eindruck, daß uns Schwester Margaret der Lösung des Problems nähergebracht hatte. Und wieder einmal hatten wir unrecht.
»Sehen Sie, Mrs. Clancy«, fuhr sie in dem gleichen beherrschten Tonfall fort, »Ihre Schlußfolgerung ist nur richtig, wenn man Ihre Voraussetzung annimmt.«
»Womit Sie meinen?« fragte Mrs. Clancy schnell.
»Nun, wenn wir die Oberin und den Aufsichtsrat fragen, wird ihre Antwort ›nein‹ sein. Ich schlage vor, wir vermeiden das Wort ›niemals‹, indem wir sie einfach nicht fragen. Dann«, sie sah mit einem Lächeln auf, »wird der Aspekt wesentlich positiver.
Natürlich würden wir die Genehmigung der Oberin brauchen, wenn wir einen Entscheid über Lauras Ausbildung treffen«, fuhr Schwester Margaret in ihrer ruhigen, gleichmäßigen Art fort. »Wenn Sie das Reglement studieren, so werden Sie finden, daß das Budget schulische Beihilfe für jedes Mädchen vorsieht, das bildungsmäßig benachteiligt ist. Sie werden mir natürlich alle beistimmen, daß Laura das Geld für die Schule braucht gerade weil sie eben benachteiligt ist, denn nur so kann sie später eine passende Stellung finden. Im weiten Sinne lassen wir Laura nur Nachhilfestunden geben auf einem Gebiet, das sie von sich aus nicht ganz schaffen konnte.«
Mrs. Clancy brach das Schweigen, das diesem Geistesblitz folgte, und fragte etwas schwerfällig: »Hmm…im weiten Sinn?«
»Entschuldigen Sie bitte — an welchen bestimmten Posten im Budget haben Sie denn gedacht?« forschte Schwester Paulette verwirrt.
»An den Hilfsschulfonds«, erwiderte Schwester Margaret seelenruhig.
»Aber der ist doch nur für Nachhilfeunterricht im Lesen oder Rechnen oder so bestimmt«, wandte Schwester Paulette ein.
Mrs. Clancy stand abrupt auf. »Was in aller Welt hat ein Kurs in Säuglingspflege mit Lesen- oder Rechnenlernen zu tun?«
»Nun, sehen Sie, Mrs. Clancy«, kam die bedächtige Antwort, »es ist Hilfsunterricht in dem Sinne, daß der Kurs eine Sachlage bereinigt, die nicht bestehen würde, wenn Laura schneller lesen und also in die Schwesternschule eintreten könnte. Und es ist eine schulische Ausbildung, denn sie lernt etwas, was sie vorher nicht wußte. Vielleicht bedeutet der Begriff Hilfsschulfonds bei einem anderen Kind Hilfe beim Lesen oder Rechnen. Für Laura bedeutet er einen Kurs in Säuglingspflege. Verstehen Sie jetzt?«
Mrs. Clancy war wie vom Donner gerührt. Jeder Einwand, den sie vorgebracht hatte, war wie weggezaubert. Sie gab sich geschlagen.
»Da Sie Ihrer Sache so sicher sind, Schwester Margaret, schlage ich vor, daß Sie die ganze Angelegenheit übernehmen.«
Ich verließ die Cafeteria an Mrs. Clancys Seite. Sie sah etwas erschöpft aus.
»Herr Doktor«, fragte sie, »hatten Sie schon einmal Schwierigkeiten, Schwester Margaret zu verstehen?«
»Keineswegs«, antwortete ich heiter. »Warum?«
»Ach, ich wollte es nur wissen. Es gibt keinen besonderen Grund.«
27
Besonders Schwester Jean freute sich darüber, daß Lauras Beine in Ordnung gebracht werden sollten. Sie hatte in letzter Zeit ihre Helferin immer häufiger gefragt, was ihr denn fehle, doch Laura leugnete stets, daß sie Schmerzen habe. Aber die Schwester bemerkte, daß sie sich hinsetzte, wenn es nur irgend möglich war. Und erst ganz vor kurzem hatte Schwester Paulette Laura erwischt, als sie sich heiße Tücher auf die Beine legte. Sie leugnete jedoch wiederum besondere Ermüdungserscheinungen ab.
Es war typisch für Lauras stoische Haltung und ihre Entschlossenheit, die Arbeit bei den kleinen Kindern nicht aufzugeben. Sie befürchtete nämlich, man könne sie ihr wegnehmen, wenn sie sich in irgendeiner Weise als unzulänglich erwies. Wieder einmal hatte ich das Gefühl, daß die Operation nicht nur ihre äußeren Schmerzen, sondern auch ihre inneren Ängste beseitigen würde.
Als ich die Angelegenheit mit ihr besprach und betonte, wie hübsch ihre Beine aussehen würden, wenn die herausstehenden Adern einmal entfernt und die Narben durch plastische Chirurgie verdeckt wären, rief sie aus:
»Ach, meine Beine stören mich nicht.«
Aber wir wußten, daß sich die Schmerzen nach jedem längeren Stehen zur Unerträglichkeit steigern konnten und daß Laura einfach Angst hatte, etwas davon zu sagen. Ich sah wieder Tränen in ihren Augen aufsteigen, als ich sie wegen der Operation beruhigte — daß sie sich danach besser fühlen und natürlich auch wieder bei den Kindern arbeiten würde. Einen Augenblick barg sie den Kopf in den Händen. Es war bei weitem nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, daß ich Laura weinen sah. Schmerz war das Gefühl, das sie am besten kannte und das sie ihr ganzes Leben begleitet hatte. Glück war für sie neu; sie mußte damit erst umgehen lernen. Glück brachte sie zum Weinen.
Am Tag der Operation fuhr Mrs. Clancy mit ihr ins Krankenhaus und blieb bei ihr, bis es soweit war. Alles ging gut, und Lauras Genesung verlief normal. In ein paar Wochen hatte sie sich erholt und erhielt Erlaubnis, ihre Arbeit wieder aufzunehmen.
In diesem Sommer tobte und spielte Laura mit den Kindern im Lager herum, wie man es noch nie bei ihr beobachtet hatte.
In ein paar Monaten wurde sie nun achtzehn und würde kurz darauf von der Oberschule abgehen. Ich sah sie immer noch regelmäßig und bemerkte mehr und mehr, welche Sorgen es ihr machte, ob sich ihr Berufsziel jemals verwirklichen ließe. Einige Lehrer waren entschieden gegen den Plan, denn ihre Noten reichten zur Aufnahme in eine reguläre Schwesternschule einfach nicht aus. Ich selbst konnte sie in ihrem Wunsch nicht allzusehr unterstützen, solange ich nicht wußte, wie erfolgreich sich Schwester Margaret »betätigt« hatte.
An einem Oktobernachmittag fand ich dann eine Notiz in Schwester Margarets Handschrift auf meinem Schreibtisch. Sie lautete:
»Ich habe unseren Plan, Laura in eine Privatschule für Säuglingspflege zu schicken, mit der Oberin besprochen, und sie stimmt ihm voll zu. Zwar reicht unser Budget für das Schulgeld nicht aus, die Hälfte der Kosten würde jedoch davon gedeckt. Die andere Hälfte entnehmen wir wiederum dem Posten ›Verschiedenes‹ da in unserem Budget kein Posten für Dinge wie Uniformen, Bücher und so weiter vorgesehen ist. Laura ist in der Schule angemeldet und wird im Februar beginnen.
Da Laura bereits über achtzehn sein wird, wenn sie den Kurs beendet, werden wir vor eine weitere Schwierigkeit gestellt. Wie wir damit fertig werden, würde ich Ihnen jetzt erklären, wenn ich mich nicht schon zum Beten verspätet hätte. Ich hoffe, Sie haben sich im Sommer gut erholt.«
Dieser Brief bestätigte mir nur, was ich eigentlich bereits an dem Tag gewußt hatte, an dem wir vier um den aschebestreuten Tisch in der Cafeteria saßen. Wieder einmal hatte sich diese außerordentliche Frau durchgesetzt und Laura die Chance verschafft, die sie brauchte.
Endlich wendete sich das Blatt: Durch die Kraft menschlicher Güte erhielt ein mißbrauchtes und vergessenes Leben eine neue Richtung. Die Leute sahen Laura schon jetzt ganz anders an als früher, als ich mit ihr durch die Straßen in der Umgebung gewandert war — sie warfen ihr keine verstohlenen Blicke voller Widerwillen und Furcht mehr zu, die das Los der Häßlichen und Verunstalteten sind und die sie so sehr verletzen. Nun sollte sie das haben, was sie sich wünschte — die Möglichkeit, sich auf eine Weise nützlich zu machen, die ihr Erfüllung gab.
Man hatte der Enttäuschung und Verzweiflung Trotz geboten und so ein verunstaltetes Mädchen aus Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit gerettet. Diese paar Frauen hatten sich wie eine Schutztruppe zwischen Laura und die Kräfte dieser Welt gestellt, die den Schwachen, Armen, Kranken oder auf irgendeine Weise Verwundbaren stets am härtesten zusetzen. Und sie hatten ihre Aufgabe unter den schwierigen Umständen erfüllt, die das Leben in einem Heim mit seinen Vorschriften und Regeln mit sich bringt. Tag für Tag schenkten sie Kindern wie Laura die so dringend notwendige Liebe und Fürsorge, als verfügten sie über einen unerschöpflichen Vorrat an innerer Kraft. Mit ihnen zusammen war es mir vergönnt gewesen, das Schweigen wenigstens eines Menschen zu überwinden. Was diesen Frauen so viel Kraft gibt, das war wohl eine Geschichte, die tief in jedem einzelnen Leben verborgen war.
28
Es war erfreulich, einmal eine gute Nachricht für Laura zu haben. Als sie in mein Büro kam, sah sie entspannt und gut aus. Die Erleichterung, keine Schmerzen in den Beinen mehr zu verspüren, gab ihr bereits neues Selbstvertrauen und mehr Freude am Leben.
Sie sprach wieder über die Ereignisse des Sommers, die sie sehr bewegt hatten.
»Die ganze Zeit fühlte ich mich so lebendig«, sagte sie. »Die Kinder waren so braun, wie Sie es sich gar nicht vorstellen können. Und zu denken, daß ich bald die Abschlußprüfung in der Oberschule mache! Ich kann es kaum glauben. Sie haben mir immer gesagt, daß man niemals zurückschauen soll, sondern immer nach vorn. Und jetzt möchte ich wissen, was ich tun werde, wenn ich aus der Schule heraus bin. Ich denke, man wird irgendeine Stellung für mich suchen, nicht wahr? Ich weiß, daß ich dann hier fort muß.«
»Du wirst einen Kurs in Säuglingspflege absolvieren, Laura«, entgegnete ich. »Es ist schon alles geregelt.«
Sie wurde ganz blaß. Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht, und als sie die volle Bedeutung meiner Worte erfaßt hatte, war sie eine Weile lang sprachlos.
Laura hatte schon früher auf diese Weise reagiert. Sie, die so wenig im Leben gehabt hatte, kam sich unwürdig vor, wenn man ihr Komplimente und Geschenke machte. Wieder einmal brachte diese angeborene Bescheidenheit Tränen in ihre Augen, keine Tränen der Trauer, sondern der Dankbarkeit, einer so überwältigenden Dankbarkeit, daß sie nicht richtig damit fertig wurde. Sie sah erschüttert aus. Dann stand sie auf, wischte sich die Augen und sagte:
»Ich muß träumen. Ich kann nicht glauben, daß es wahr ist. Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben, daß ich jemals Schwester werden könnte. Ich wollte nicht wieder einem Traum nachhängen, der sich dann nicht erfüllt. Und jetzt sagen Sie mir, daß ich doch die Chance habe, die Arbeit zu tun, die mir Spaß macht. Ist das wirklich wahr? Erzählen Sie es mir noch einmal?«
Das tat ich. Wieder konnte sie ihre Gefühle nicht beherrschen. In einem benommenen, verwirrten Zustand, wie aus dem Nichts heraus, fragte sie:
»Warum sind sie hier so gut zu mir? Es ist wichtig für mich, das zu wissen.«
»Sie haben dich gern, Laura. Sie wollen dir das Beste geben, das sie haben.«
»Meinen Sie, sie lieben mich?« fragte sie ruhig, aber hartnäckig. »Ist das Liebe?«
»Ich glaube ja.«
»Ich habe oft über Liebe nachgedacht. Das Wort wird so oft gebraucht, im Fernsehen, im Kino, zwischen lungen und Mädchen, aber es scheint so viele verschiedene Bedeutungen zu haben. Es bedeutet wohl, daß man jemanden gern mag. Mein Vater hat meine Mutter geheiratet. Er muß sie geliebt haben. Dann hatten sie mich, also müssen sie Kinder geliebt haben. Aber das ist lächerlich, das ist nicht wahr. Sie haßten mich. Warum bringe ich immer alles durcheinander? Es wäre besser, ich würde nur an die Schule denken. Sie sollen sehen, was ich für Hausaufgaben habe.« Sie rollte die Augen. »Ich werde mich wirklich anstrengen, passen Sie nur auf.«
Sie hielt ihr Versprechen und widmete sich bis Januar fleißig ihren Schularbeiten. Sie wußte, daß sie mit guten Noten abschließen mußte, selbst um in die private Schwesternschule aufgenommen zu werden. Sie arbeitete jede freie Minute, und ihre Mühe war nicht verschwendet: Sie bestand die letzten Prüfungen und wurde zum Abschluß zugelassen.
Trotz des Drucks in der Schule war Laura in diesen letzten Monaten sehr glücklich. Sie fand sogar Zeit, Schwester Jean wieder bei der Weihnachtsfeier für die Kleinen zu helfen. Als dann der Tag der Abschlußfeier herankam, unterschied sie sich in nichts von jedem anderen Mädchen, das von der Oberschule abgeht — sie befand sich in höchster Aufregung über ihr neues Kleid und die neuen Schuhe (sie suchte eine Woche, bis sie genau das Paar fand, das sie haben wollte).
Am Tag vor der Feier kam Laura in ihrer neuen Garderobe zu mir. In dem weißen Kleid, den Schuhen mit den hohen Absätzen, dem sorgfältig gekämmten hellen Haar und den vor Erregung glühenden Wangen sah sie strahlend aus, eine klaräugige junge Frau, lebensprühend und attraktiv.
Laura konnte sich kaum beherrschen. Sie stand auf, setzte sich wieder, bestand darauf, daß ich eine Zigarette nahm, und wollte sie dann unbedingt’für mich anzünden, konnte sich die eine Minute vor Lachen kaum halten und weinte in der nächsten.
»Ich kann immer noch nicht recht glauben, daß mir das wirklich passiert«, sagte sie. »Aber morgen um halb zwei bekomme ich das Abgangszeugnis. Gefallen Ihnen meine Schuhe auch tatsächlich?« fragte sie plötzlich und hielt sie mit einem kritischen Stirnrunzeln hoch.
»Sehr«, antwortete ich.
»Also, wir haben eine Abschlußfeier im Büro der Direktorin. Ich darf drei Freunde einladen, hat man mir gesagt, Leute, die ich gern mag.«
Sie hielt einen Augenblick inne.
»Wen hast du gewählt, Laura?« fragte ich.
»Ich wünschte, ich könnte jeden einladen. Ich habe die ganze letzte Woche gebraucht, um mich zu entscheiden, und gestern habe ich es schließlich getan.«
»Ja?«
»Einmal Schwester Paulette«, sagte sie und hakte sie an den Fingern einer Hand ab.
»Natürlich.«
»Dann Mrs. Clancy. Wegen der dritten Person war ich nicht ganz sicher.« Sie senkte die Augen. »Ich meine, ich hätte eine bestimmte Person sehr gern eingeladen, aber dann habe ich meine Meinung geändert und statt dessen meine Lehrerin gebeten. Würden Sie in mein Abschlußalbum schreiben? Bitte, tun Sie es doch«, drängte sie. »Ich möchte, daß sie vorn auf der Innenseite schreiben…das ist eine ganz besondere Seite. Ich meine, es ist die allererste Seite, und dort hätte ich Ihren Namen gern. Ich weiß, daß Sie morgen nicht da sind, und darum habe ich das Buch heute mitgebracht.«
»Ich fühle mich sehr geehrt, Laura«, sagte ich, und während ich meinen Federhalter aus der Tasche zog, schwatzte sie lachend weiter. »Mrs. Clancy und Schwester Paulette gehen nach der Abschlußfeier mit mir zum Lunch, und am Abend geben die Mädchen eine große Party für mich. Glauben Sie, daß ich nach einem späten Lunch überhaupt noch etwas essen kann?«
»Ganz bestimmt.«
»Ich glaube, in solchen Zeiten vermißt man es am meisten, wenn man keine Familie hat. Irgendwann möchte ich einmal eine eigene Familie haben, und ich gehe bestimmt zur Abschlußfeier meiner Kinder. Es ist so wichtig, wenn sich Eltern für ihre Kinder interessieren.« Wieder schweiften ihre Blicke unruhig umher. »Ich vermisse sie …wo sie auch sind. Hin und wieder bin ich traurig, so wie jetzt — daß ich keine Familie habe, meine ich —, aber ich versuche stets daran zu denken, daß ich immer vorwärts schauen soll, und das hilft, denn morgen ist der allerglücklichste Tag in meinem Leben. Und wahrscheinlich ist jeder irgendwann im Leben einmal traurig, nicht wahr? Oh, Sie lassen mich immer reden und reden, und Sie selbst sagen nie sehr viel. Ich habe immer geglaubt, Sie tun es absichtlich, damit ich mich hören kann.«
Der Tag, an dem wir deine Stimme zum erstenmal hörten, Laura, dachte ich bei mir, war für das Heim ein Tag, der rot im Kalender angestrichen wurde. Damals war ich derjenige, der sprach. Aber sie war schon bei einem anderen Thema.
»Ja, ich habe viel über mich gelernt, aber andere verstehe ich nicht so gut. Bei anderen Menschen komme ich mir wie ein Fremder vor. Wenn ich daran denke, daß ich frei sein werde, wenn ich hier fortgehe, daß es dann keine Vorschriften mehr gibt, wird mir ganz übel. Ich fürchte mich wirklich. Woher soll ich wissen, was ich tun muß, wem ich vertrauen kann? Verstehen Sie, was ich meine?«
»Sehr gut.«
»Ich werde mich nicht allein fühlen, ich werde allein sein. Es ist Wirklichkeit. Ich werde unter diesen Tausenden von Menschen da draußen allein sein. Das ist schrecklicher als alles, was ich mir vorstellen kann.«
Ihre Reaktion war verständlich genug. Die Situation war schwer für Laura. Sie bedeutete nicht nur das Ende ihrer Kindheit, sondern auch die Trennung von dem einzigen Zuhause, das sie je gekannt hatte.
Der Abschlußtag kam, und Laura zeigte sich der Lage glänzend gewachsen.
Natürlich weinten Mrs. Clancy und Schwester Paulette, als die Direktorin Laura das Diplom überreichte. Es war ja mehr als ein gewöhnlicher Abschlußtag für eine Oberschülerin — es war eine bedeutende persönliche Leistung, ein Sieg über die Kräfte des Bösen.
Nach dem Schulabschluß lebte sie unter Schwester Margarets berühmtem Posten »Verschiedenes« weiter im Heim und besuchte den Kurs in Säuglingspflege. Der Unterricht dauerte sieben Stunden am Tag, und es gab viele Hausaufgaben. Ich setzte meine Besuche bei ihr fort, obwohl ihre Schwierigkeiten nun hauptsächlich darin bestanden, den neuen, von allen Seiten auf sie einstürzenden Lernstoff zu verstehen. Physiologie der Geburt, praktische Kinderpflege …Ich tat mein Bestes, um ihr zu helfen; Schwester Philomene ihrerseits gab Nachhilfe in Biologie; eine Krankenschwester aus der Nachbarschaft wurde ebenfalls herangezogen. Obwohl einige der wissenschaftlichen Fächer ihr sehr schwerfielen, überstand Laura mit Unterstützung von uns allen den Ausbildungskursus.
Sie war jetzt im Kampf um die Erreichung eines Zieles nicht mehr unerfahren, aber am Ende des zwölfwöchigen Kurses spürte man doch Zeichen von Überanstrengung bei ihr. Würde sie die Prüfungen bestehen?
»Ich komme mir so unwissend und dumm vor, als ob mein Verstand tot wäre«, sagte sie eines Tages völlig entmutigt zu mir. »Ich weiß, wie ich Babies behandeln muß, und ich liebe sie. Aber niemals, nicht in einer Million Jahren, werde ich verstehen, warum ich wissen muß, wie sich die Nahrung im Magen eines Kindes bei der Verdauung zersetzt. Können Sie mir sagen, was das mit dem Füttern, Baden und der Betreuung des Kindes zu tun hat? Ich glaube, ich habe die Lehrerin heute beleidigt, dabei wollte ich es doch gar nicht. Sie fragte mich nämlich, warum wir die Kinder aufstoßen lassen. Ich erklärte ihr, das geschehe, um das Kind vom Druck der Gase zu befreien und damit es sich wohler fühle. Sie wollte wissen, was ›chemisch‹ im Magen des Kindes vor sich ginge. Ich wurde wütend und sagte, was das denn für eine Rolle spiele, solange das Kind nur aufstößt! Ja, ich weiß, ich war im Unrecht. Es ist einfach so, daß ich den Sinn von all dem theoretischen Kram nicht zu verstehen scheine.«
Die Abschlußprüfungen fanden an einem Freitag statt. Die Ergebnisse wurden am Montag mittag bekanntgegeben. Ich sollte sie an diesem Nachmittag zum letztenmal sehen, aber ich beschloß, schon zum Lunch im Heim zu sein und zum Abschied mit Schwester Margaret und Mrs. Clancy in der Cafeteria zu essen.
Ich erreichte das Heim kurz nach zwölf Uhr. Die Stimmung dort war mit der Atmosphäre vergleichbar, wie sie an einem Sonntagnachmittag im Stadion herrscht, wenn die lokale Mannschaft das Spiel gewonnen hat. Die Aufregung lag in der Luft, ich spürte sie in der Art, wie die Schwester an der Pforte mir zuflüsterte: »Haben Sie gehört …?«
Laura war durchgekommen. Nicht nur das, sondern beim Lunch erfuhr ich auch, daß Schwester Margaret sich wieder einmal für sie eingesetzt und ihr eine Stellung in einem Heim verschafft hatte, in dem kleine Kinder betreut werden. Ich sollte sie um vier Uhr sehen.
Als ich jedoch wartend an meinem Schreibtisch saß, erkannte ich die junge Frau in Weiß, die zuhinterst im Gang auftauchte und mit leisen Schritten näher kam, zuerst gar nicht. Sie trug ein Schwesternhäubchen und weiße Schuhe mit Gummisohlen. Erst als sie die Hälfte des Korridors entlanggegangen war, sah ich, daß es Laura war und daß sie mir entgegenlächelte.
Sie war in der Schwesterntracht gekommen, die sie in ein paar Tagen zur Abschlußfeier tragen würde. Ich nehme an, ich hatte zu lange den Schatten hinter ihr gesehen, den Schatten eines kleinen, buckligen Kindes mit einem vernarbten Gesicht, häßlich und stumm, das sich hilfesuchend und schwach an eine Schwester klammerte.
Wir unterhielten uns über ihre Pläne und das Zimmer in einer Pension, nicht weit von ihrem Arbeitsplatz entfernt, das ebenfalls von Schwester Margaret besorgt werden war.
Es war kaum zu glauben, daß dieser strahlende junge Mensch mit dem überzeugten Lächeln und dem Ausdruck glücklicher Erfülltheit erst achtzehn Jahre alt war. Durch die Erfahrungen, die sie gemacht hatte, wogen diese kurzen achtzehn Jahre schwerer für sie als für manche Menschen ein ganzes Leben. Entsetzen und Schrecken schienen jedoch weit zurückzuliegen.
Ich muß sie wohl etwas zu lange angestarrt haben, denn sie sah mich fragend an. »Gefällt Ihnen meine Tracht?« fragte sie. »Ich habe sie extra für Sie angezogen.«
»Sehr gut«, sagte ich. »Du siehst hübsch aus, Laura.«
Tränen stiegen in ihren Augen auf. (Diese Gewohnheit hatte sie jedenfalls noch nicht abgelegt!) Sie stand unvermittelt auf.
»Sie wissen wahrscheinlich, daß ich am nächsten Montag fortgehe. Ich bin so aufgeregt, daß ich kaum weiß, wie mir geschieht, aber es tut mir auch leid, hier wegzugehen. Ich verstehe eigentlich nicht richtig, was alles mit mir geschehen ist, warum ich nicht gesprochen habe und all das …meine Krankheit. Es ist einfach zu viel. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
Sie blickte umher, als wollte sie meinen Augen ausweichen oder suchte nach Worten. Vielleicht prägte sie sich auch die Einzelheiten des Zimmers zum letztenmal ein, wo wir uns so viele Jahre lang gesehen hatten.
Dann sagte sie: »Sie waren etwas ganz Besonderes in meinem Leben. Immer, wenn ich verzweifelt war, haben Sie mich getröstet. Wenn ich verwirrt war, haben Sie die Dinge für mich geklärt. Wenn ich jemanden brauchte, mit dem ich sprechen konnte, waren Sie immer da — auch wenn Sie oft nur wenig gesagt haben. Sie sind so viele Leute in einer Person. Oh, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Irgendwie weiß ich, daß Sie für alles, was ich habe, nun ja, verantwortlich sind, aber ich weiß nicht, wie. Ich kann es nicht in Worten ausdrücken. Ich weiß nicht, wie ich allein mit dem Leben fertig werden soll.«
»Du wirst alles sehr gut machen«, sagte ich.
Sie wandte sich mir zu. »Sie wissen ja, ich durfte zu meiner Abschlußfeier einladen, wen ich wollte. Jedesmal, wenn ich überlegte, wen ich einladen sollte, dachte ich an Sie. Beinahe hätte ich Sie gefragt, als die Schulabschlußfeier war«, sagte Sie mit einem Lächeln, »aber jedesmal, wenn es soweit war, bekam ich Angst. Und dann beschloß ich, es nicht zu tun. Ja, es war besser, wenn ich Ihnen gar keine Möglichkeit zur Antwort gab. Ich befürchtete so sehr, daß Sie es mir abschlagen würden, und das hätte mir schrecklich weh getan. Ich wollte viel lieber glauben, daß Sie vielleicht gekommen wären, als daß ich gewußt hätte, mein Traum ist hoffnunglos.«
Sie zögerte, dann sagte sie: »Ich wollte Sie als einen Menschen in Erinnerung behalten, der mich niemals verletzt hat…Ich möchte Sie noch um einen Gefallen bitten, bevor ich gehe. Es hört sich vielleicht dumm an, aber es ist wichtig für mich.«
»Sag es nur«, erwiderte ich.
»Darf ich Sie umarmen?«
»Ja«, antwortete ich.
Laura legte die Arme um meinen Hals und umarmte mich. Dann schob sie mich fort.
»Wissen Sie«, sagte sie nachdenklich, »ich glaube, Sie werden mich genauso vermisssen wie ich Sie.«
Sie drehte sich um und verließ mit festem Schritt mein Büro und mein Leben. Ich mußte noch ein paar Abschiedsbesuche machen, und dann würde auch ich endgültig gehen. Es war früher Abend, als ich das Heim schließlich verließ. Irgendwie hatte ich keine Lust, mich jetzt von dem Betrieb in der Untergrundbahn aufsaugen zu lassen, und so ging ich zu Fuß. Ich ging und ging, auf die vielen hohen Gebäude zu, die schon von blinkenden Lichtern umkreist wurden.
Das also ist Lauras Geschichte. Die Geschichte des Erwachens ihrer Stimme und des Verschwindens dieser Stimme aus meinem Ohr — eine Abwesenheit, die irgendwie immer spürbar sein wird.
Aber es ist auch die Geschichte des Schicksals, wie es jedes einzelne Kind erwartet, das unter Vernachlässigung, Armut und seelischer Krankheit zu leiden hat. Und es ist die Geschichte von ein paar Außenseitern, die nicht aufgeben wollten. Vergessen und unbeachtet mühen sich die Schwestern, die ich jetzt verließ, weiter ab. Und als ich weiterging, klangen mir ihre Stimmen im Ohr: »Herr Doktor, da ist Anne, und auch Susan, wenn Sie jemals glauben, Sie könnten …«
Teil II
Rachel — Ein blindes Kind lernt die Welt mit der Seel sehen
2
Für Charlotte
die ausgehalten hat
Danksagung
Ich danke Carol Ardman dafür, daß sie dieses Manuskript so sorgfältig durchgegangen ist; Drs. Loren Fishman, Ronald Siwoff, Martin Diamond und Robert Could, die sich die Zeit genommen haben, meine medizinischen Fragen zu beantworten; und June Kaiser, Hinda Haskell und Derry Tanner für ihre Geduld bei meinen nicht medizinischen Fragen. Mein Dank gilt ebenfalls Virginia Teller, die nicht in diese Geschichte paßt, was aber nicht ihre Schuld ist; und meinem Agenten, Lois Wallace, und meiner Verlegerin, Jennifer Josephy, für ihre guten Ratschläge und ihre Unterstützung.
Robin Fine, Florence Levine, Chris Stevens, Lourie Testa und Karen Walsh gehörten zu den zahlreichen Menschen im Kinderkrankenhaus, die mit Rachel arbeiteten. Ihnen allen bin ich dankbar und ebenso Carolyn Weil für ihre ungewöhnliche Freundlichkeit, aber auch dem übrigen hervorragenden Personal des Krankenhauses.
Dank an den New Jersey State Council on the Arts. Er hat mir finanzielle Unterstützung gewährt, wodurch dieses Buch überhaupt erst möglich wurde.
Von all dem, was ich während des ersten Jahres nach Rachels Geburt über Blindheit gelesen habe, hat mich nichts so tief berührt wie Selma Fraibergs Insights from the Blind. Ich empfehle ihr Buch wärmstens.
Ich möchte auch Paul danken, dessen Art es nicht ist, zurückzuschauen, der mich aber unentwegt ermutigte.
Teil I
Erwartung
August 1983
Wir haben einen von diesen Sommertagen, für die New Jersey bekannt ist. Die Luft ist dick und unbewegt und unerträglich heiß. Paul kommt von der Arbeit nach Hause und hat Schweißflecken auf dem Hemdrücken, sein Schnauzbart wirkt so unpassend wie eine Pelzstola am Strand. Er gibt mir einen schnellen, flüchtigen Kuß, dann macht er einen Schritt zurück. Die Hände hat er hinter dem Rücken versteckt, seine Augen verraten, daß er irgend etwas im Schilde führt. Ich bin nicht in der Lage zu raten, was er da versteckt hält, obwohl ich weiß, er möchte, daß ich es versuche. Waldbeeren? Den Kugelschreiber, den ich letztes Jahr verloren habe? Eine Libelle?
Er bringt seine Hände zum Vorschein, und ich sehe auf einer Handfläche ruhig und gelassen eine Ratte sitzen, eine große weiße Ratte. Sie ist so groß wie der Turnschuh meiner Tochter, ihr Fell ist zerzaust, die rosafarbenen Augen sind auf irgend etwas fixiert, was sich geradeaus vor ihr befindet, die Barthaare zittern. Paul ruft: »Charlotte!« und läßt das Tier in seine Brusttasche gleiten.
Unsere Vierjährige hört seine Stimme und stürzt die Stufen herunter, die ersten acht auf den Füßen, die letzten fünf — pum, pum — auf ihrem Allerwertesten. Sie befindet sich gerade in einer Phase der Bewunderung für ihren Vater, spricht von ihm in nahezu religiösem Tonfall. Es spielt für Charlotte keine Rolle, daß wir uns alle Mühe gegeben haben, sie möglichst fair zu erziehen — nicht sexistisch und gewaltfrei. In ihren Augen bin ich dazu da, Kleider auszusuchen und ihr einen Pferdeschwanz zu machen, während die Erde und die Sterne ihm gehören. Mein Platz ist in der Küche, so daß sie mit Ihm herumschmusen kann. »Wo ist Er?« fragt sie, wenn er zu spät dran ist, denn für sie ist das Leben öde, wenn Er weg ist. Wenn es Zeit zum Abendessen ist, steht sie an der Tür und bemalt oder baut träge einen Turm, sie stapelt einen Stein auf den anderen, bis das ganze Ding zusammenbricht. Und während dieses unendlichen Wartens zügelt sie sogar ihren wilden Appetit. »Ich habe keinen Hunger. Ich möchte mit Ihm essen.« Sie läuft mit einer Jammermiene herum, bis sie das Motorengeräusch seines Autos vor dem Haus hört. Dann stürzt sie zur Tür und schreit: »O Mama — Er ist da.«
»Dadd-iiie!«
»Ich habe da ein kleines Ding für dich«, sagt er.
Die Tasche bewegt sich und bläht sich auf. Charlotte beugt sich vor, um seine Hose zu untersuchen, denn dort hat sie schon einmal das Vergrößerungsglas gefunden, mexikanische Springbohnen, Radiergummis mit Geruch. Sie wirft seine Geldbörse auf den Boden, sein Taschentuch, den Kugelschreiber, dann tritt sie verwirrt zurück. Sie ist den Tränen nahe. Die Ratte streckt den Kopf aus seiner Tasche. Ihre Ohren sind wie Gänseblümchen; wenn sie irgendwie anders hieße, würde sie wegen ihres feinen weißen Mantels bewundert werden. Paul setzt sie auf den Boden, und ich beobachte, wie sie zwischen uns sitzt, und frage mich erneut, warum sie nicht wegläuft. Ist sie krank, oder hat sie die Orientierung verloren? Ist sie darauf gedrillt worden, sich passiv zu verhalten? Charlotte drückt mit ihrem Zeigefinger auf den Kopf des Tieres, und die Barthaare zucken.
»Sie ist so niedlich!« sagt sie.
»Sie wird bald Babys bekommen«, sagt Paul. »Ich dachte, es wäre vielleicht interessant für dich, das zu beobachten.«
»Warum?« Sie fragt auf eine Art und Weise, die mir das Gefühl gibt, daß die Antworten unbedeutend sind. Ich bin wählerisch und werde auf diese ziellosen Warums nicht mehr antworten, aber ihr Vater wird keine Gelegenheit auslassen, ihr etwas beizubringen.
»Weil Mami ein Baby bekommen wird.«
»Ich weiß.«
Schließlich flitzt das Tier durch den Raum. Ich hole den Merck Manual, ein medizinisches Handbuch, aus dem, Bücherschrank und schaue im Inhaltsverzeichnis unter »Pest« nach. Ah, da ist es: »Beulenpest; Pestis; Schwarzer Tod.« Das gibt es also noch.
»Sie ist keine gewöhnliche Rattus rattus— sie ist eine Rattus norvegicus albinus, über Tausende von Generationen im Labor gezüchtet, bewahrt vor —« er zieht den Finger wie eine Messerklinge über seinen Nacken, als Charlotte gerade ein wenig abgelenkt ist, Sie weiß zwar, daß er mit Ratten arbeitet, aber nicht, was er mit ihnen macht.
Als er wieder ihr Aufmerksamkeit hat, sagt er: »Sie braucht einen Namen.«
»Ratte«, sagt sie.
»Ratte?« Ich versuche, ihr eine andere Namenswahl einzureden. »Wie wär’s mit Whitey oder Schneeflocke oder Sigrid — Sig Norvegicus klingt doch gut für sie.«
Paul fordert mich mit einem Augenzwinkern auf zu schweigen, denn Charlotte ist immer noch empfindlich, was die Auswahl von Namen anbelangt. Wir hatten sie gebeten, einen Namen für ihre ungeborene Schwester vorzuschlagen, und dann Baby Cheeses abgelehnt, der Name, den sie sich ausgesucht hatte. Sie haßt den, den wir ausgesucht haben —- Rachel Alexa —, und erzählt allen, ihren Freundinnen und Kindergärtnerinnen und meinen Eltern am Telefon, daß drinnen im Bauch ihrer Mami die kleine Baby Cheeses wohnt.
Ich sollte nicht überrascht sein über ihre Unerbittlichkeit, denn Namen sind in unserer Familie eine wichtige Angelegenheit. Ich habe meinen ersten, Martha Jane, geändert und werde mich auch in Zukunft immer nur Jane nennen. Und ich habe dafür gekämpft, den passenden Namen für jedes Kind zu finden. Als ich das erste Mal schwanger war, kannte ich das Geschlecht des ungeborenen Babys noch nicht, aber soviel war klar: Das Kind würde nicht nach irgend jemandem benannt werden, schon gar nicht nach meiner Schwester, denn jedesmal, wenn ich den Namen rufen würde, würde ich mich an ihren frühen Tod erinnern. Es würde auch nicht nach Paul genannt werden, der denselben Namen trägt wie sein Vater, denn Juden vergeben Namen nach Toten, und für mich erschien es ein schlechtes Omen, mein Kind nach einem Ehemann zu benennen, der sehr lebendig war. Und überhaupt: Er ist für mich der unvergleichliche Paul. Wir haben uns für Charlotte Claire entschieden — »ein Nullachtfünfzehn-Name«, wie ein Freund spottete. »Charlotte, wie Martha«, sagte ein anderer, »jedermanns Großtante heißt so.« »Ein schrecklicher Name!« rief mein Vater aus, denn vor sechzig Jahren war er von einer rothaarigen Charlotte betrogen worden. Und jetzt Rachel Alexa. Die ideale Anzahl von Silben, ein angenehmer, beruhigender Klang, der geradezu über die Lippen rollt.
Paul baut für die Ratte ein Heim, ein Bett aus Kieferspänen in einem alten Aquarium, in dem wir einmal einen Elefantenfisch gehalten haben. Obendrauf kommt ein Gitter, durch eine spezielle Öffnung wird eine Flasche geführt, mit der sie gefüttert wird. Das Ganze stellt er auf einen kleinen Couchtisch, so daß die Ratte sich in Charlottes Höhe befindet. Er gebraucht Wörter wie »wunderbar« und »sehr schön«, als er ihr die bald bevorstehende Geburt beschreibt. Er nennt das Ereignis »erhebend«, was Charlotte versteht, wenn auch nicht in dem Sinn, wie er es meint, denn »erhebend« ist von Los Angeles herüber nach Osten gekommen und ist unter Kindern in New Jersey ein beliebtes Wort.
Die Ratte bewegt sich nicht viel und ich kann mir bei diesen heißen Tagen vorstellen, wie sie sich fühlt. Sie bleibt unten am Boden, ihre Seite ist aufgebläht, ihre Haut dünn und straff, so daß ich die Bewegungen der Föten darunter sehen kann. Ich sitze neben dem Becken, mit meinen dreißig Pfund über Normalgewicht. Mein Gesicht ist rund, meine Finger sind steif und geschwollen, meine Waden sind doppelt so dick wie normalerweise. Von Paul dazu gedrängt, nimmt Charlotte den Deckel des Aquariums ab, um das Tier zu streicheln, und stößt dabei die Futterflasche um. Wasser tropft auf Rattes Fell. Charlotte senkt ihren Finger, und Ratte zieht den Kopf zwischen die Schultern und springt hin und her. Der Finger bewegt sich um Haaresbreite über ihrem Kopf, und ich werde an Fotografien erinnert von Flugzeugen, die über Reisfelder dröhnen, um jeden Moment einen Angriff zu starten.
»Genug!« rufe ich und hieve mich hoch. »Laßt Sie in Ruhe!« Ich gehe nach oben und lege mich ganz ruhig auf mein Bett, so daß ich die schwache Brise durch das offene Fenster spüre. Die Vögel tummeln sich auf der Klimaanlage. Unser Nachbar mäht seinen Flecken Rasen mit einem alten Kreiselmäher, der rasselt und surrt und süß duftendes geschnittenes Gras aufwirbelt. Rachel bewegt sich in mir. Charlotte drehte sich und trat und klopfte gegen mich wie jemand, der verzweifelt aus einem abgeschlossenen Raum entfliehen will. Dieses Kind hier bewegt sich nur träge. Heute in einer Woche soll der Berechnung nach die Niederkunft sein, und ich denke nicht mehr über mein unbekanntes Baby nach, so wie ich es die letzten neun Monate getan habe. Ich spekuliere nicht mehr über die Beschaffenheit ihres Haars, ihre Augenfarbe, die Konturen ihrer Nase und ihres Kinns, die Form, die ihre Schönheit — bestimmt ist sie schön — annehmen wird, die Neigungen ihres zarten Geistes. Ich habe aufgehört, die Stunden zu zählen, bis sie kommen wird. Statt dessen warte ich nur ab wie ein Passagier auf einem Boot bei rauher See. Noch nicht, Baby. Die Tapete für dein Zimmer liegt noch fest zusammengerollt auf dem Boden; ein unvollendetes Manuskript ist auf meinem Schreibtisch ausgebreitet. Ich war in letzter Zeit so beschäftigt, daß ich Paul und Charlotte nicht die volle Aufmerksamkeit geschenkt habe. Deshalb brauche ich noch ein paar Tage, um sie mit einzubeziehen, damit ich, wenn sich alles geändert haben wird, in der Lage sein werde, mich ganz klar an diese Tage zu erinnern. Das Bedürfnis, doppelt bewußt alles genau wahrzunehmen, ist so stark, daß mein Körper Rachel vielleicht dieses Signal übermittelt hat, denn sie dreht sich in mir wie ein Mensch in tiefem Schlaf.
Ich schlafe auch und werde erst wieder wach, als Charlotte aufs Bett klettert und Paul mir »Abendessen!« in die Ohren singt. Auf dem Eßzimmertisch steht die kalte Suppe, die ich heute morgen gemacht habe, ein Salat, die Muffins von gestern. »Schau die Sefietten!« sagt Charlotte und zeigt mir, wie sie sie zu Dreiecken gefaltet hat, ihre neueste Leistung. »Setz dich einfach hin«, sagt Paul.
Ich setze mich auf meinen Platz neben der Küchentür und sitze ganz ruhig, während sie das Essen auf meinen Teller legen und mein Glas mit Seltzer füllen. Ich wünschte, ich könnte dieses Bild einfrieren. Ich versuche, alle meine Poren zu öffnen, damit mir dieser ruhige Augenblick bleibt. Ich konzentriere mich stark auf diese Aufgabe, als Paul sagt:
»Mami glotzt wie eine Kuh.«
Und ich sage: »Muuh.«
Nach dem Essen steigen Charlotte und ich zusammen in die Badewanne. Sie braucht kein Spielzeug, denn sie hat ja mich. Sie zupft an einer Brust, lehnt ihre Wange an meinen geschwollenen Bauch, streckt einen Finger, um zu sehen, ob sie damit in meinen Nabel eindringen und ihn in seine alte Stellung bringen kann, versucht, einen zwei Zentimeter langen Kamm durch meine Haare zu bekommen —- alles mit großer Intensität, schwer atmend, die Zungenspitze an der Oberlippe.
Ich schaute früher sehr oft in den Spiegel und war verzweifelt über das, was ich sah. Die Lady von Nizes mit zwei verschieden großen Brüsten, zu hohen Hüften und X-Beinen — »Deine Beine sollten eine Party machen, damit sich deine Waden treffen können.« Während der Schwangerschaft verwandelte sich meine Verzweiflung in Freude darüber, daß mein Körper zu dem hier in der Lage war. Er war in Ordnung! Und dann wurde Charlotte geboren und liebte mich, ohne mich zu beurteilen: meine knorrigen Zehen, meine Narben und mein zerzaustes Haar. Für sie spielte das alles keine Rolle — und mit der Zeit auch für mich nicht mehr.
Während wir so spielen, versuche ich, für einen Moment aus dieser Szene herauszutreten und uns beide zu beobachten, wie wir in dieser alten Wanne mit den schrägen Seitenwänden herumspritzen, aber Charlotte taucht ihr Gesicht ins Wasser und bewegt wild ihre Arme auf und ab, und ich muß aufpassen, daß sie nicht ertrinkt, während sie Wasserblasen macht, und daß das Wasser nicht über den Rand schwappt. An der Decke des Eßzimmers zeigt sich nämlich schon deutlich der Abdruck der Badewanne. Meine kleine Nixe taucht wieder auf, die Haare kleben auf ihrem Gesicht, und ich sehe Streifen von Sommerdreck vom Handgelenk bis zum Ellbogen. Ich verdränge mein Bedürfnis, diesen süßen Augenblick festzuhalten, und greife nach der Seife.
Ich weiß, was ich zu tun habe, und sobald Charlotte im Bett ist, eile ich nach oben unters Dach, wo Hunderte von Fotografien in einem Karton aufbewahrt sind. Ich bringe sie in mein Büro und lege den ersten Stapel neben mich auf den Boden. Nach einiger Zeit kommt Paul zu mir. Ich schaue ihn an — er sitzt auf dem Stuhl auf der anderen Seite des Zimmers, und dann das Bild, das aufgenommen wurde, als wir gerade frisch verheiratet waren. Sein Gesicht ohne Schnurrbart sieht nackt aus, und meins ist weicher, weniger eckig, mein Haar welliger als jetzt. Da wir damals unseren Fotoapparat immer auf ein Stativ montierten, sind wir beide auf jedem Bild, meistens ineinandergeschlungen, die Finger ineinandergehakt und die Arme um den Rücken des anderen. Wir in einem Kanu, wir zeigen zwei Schüsseln wilder Beeren, wir lehnen an einem Betonhaus in einer armen Stadt in der Karibik.
»Von wann ist das?« frage ich und zeige Paul ein Bild, auf dem er und eine dralle, kraushaarige Frau vor einem Mietshaus in New York stehen.
Paul schätzt. die Einsamkeit nicht so wie ich. Er mag Gelächter und Unordnung, das Geräusch von Stimmen, einen anderen Körper neben sich, selbst wenn er arbeitet, und aus diesem Grund paßt ihm das Chaos des Familienlebens sehr gut. Er ist mit Büchern und Computerausdrucken nach oben gekommen. Er mag es lieber, neben mir auf einem Stuhl zu sitzen, auch wenn dann sein Rücken schmerzt, als bequem in dem kühlen Sonnenzimmer zu sitzen und allein zu lesen. Und jetzt schaut er sich das Bild lange an. »Carmine Street«, sagt er schließlich »Neunzehnhundertsechsundsechzig. Ich frage ‘mich, was aus dem Hemd geworden ist.«
Ich finde es nicht mehr unerträglich, ihn mit ehemaligen Freundinnen auf Fotos zu sehen. Trotzdem ist da immer noch dieses bleibende Bedauern, daß er so viele Jahre gelebt, geliebt, gegessen und Abenteuer gehabt hat ohne mich. Da macht es auch nichts, daß siebzehn Jahre vergangen sind, seitdem das Foto gemacht wurde, daß die Frau neben ihm‘ inzwischen vielleicht fett und in mittleren Jahren ist. Sie wird immer mit dem Arm um ihn dastehen und lachen.
»Alte Geschichten«, sagt er und wendet sich wieder seiner Zeitschrift zu. Ich durchforste einen zweiten Stapel, als er sagt: »Du solltest schlafen.«
»Ich weiß«, sage ich, in die Fotografien vertieft. Ich sollte schlafen, aber das wird unmöglich sein, solange ich nicht in das, was da vor mir liegt, Ordnung gebracht habe. Ich werde alle unsere Bilder chronologisch ordnen und unsere Geschichte anhand von Schnappschüssen erzählen. Zuerst waren da zwei verschiedene Leute, die sich trafen und sich ineinander verliebten. Dann wurde Charlotte geboren, konnte sitzen, bekam Zähne, konnte stehen, gehen, bezauberte und ärgerte uns. Dann kamst du, Rachel Alexa, wer immer du auch bist.
»Es ist zehn Uhr«, sagt Paul. »Es ist elf Uhr«, sagt er eine Stunde später. »Der morgige’ Tag ist für mich gestorben, wenn ich jetzt nicht ins Bett gehe«, sagt er einen Moment später. Er schläft auf dem Stuhl ein und schnarcht leicht mit offenem Mund. Seine goldenen Backenzähne glänzen im Licht.
Ich sortiere noch hundert weitere Fotografien. Als meine Schwere sich wandelt und mein Kopf hellwach wird, fange ich an, die besten Aufnahmen auszuwählen, arrangiere sie auf den Seiten des Albums und denke mir Beschriftungen aus. 27. Oktober 1979 — Wir tragen Charlotte in unsere Wohnung im vierten Stock in dem Haus ohne Fahrstuhl…21. Oktober 1980 — Wir ziehen nach New Jersey…4. Februar 1982 — Charlotte probiert ihren ersten Schnee.
Es ist fast eins, als ich beschließe aufzuhören. Ich gehe nach unten, um mir ein Glas Wasser zu holen. Ich war auf absolute nächtliche Stille gefaßt, doch tatsächlich höre ich eine ganze Reihe vertrauter Geräusche: Zikaden und Grillen, die laut zirpen; Ratte, die in ihrem Becken scharrt. Eine leichte Brise bauscht die langen, hauchdünnen Vorhänge im Wohnzimmer auf. Ich knie vor dem Aquarium und sehe, daß sie die Späne in einer Ecke aufgehäuft hat und ihr geschwollener Bauch auf dem kühlen Glas des Bodens liegt.
Ratte wirft am nächsten Tag. Erst eins, dann später, als ich nicht mehr voller Spannung über den Rand des Aquariums schaue, ein ganzes Gewühl von rosafarbenen Babys mit weichen runden Köpfen und noch nicht voll entwickelten Pfoten. Sie sind nackt und rosa und so konturlos wie Radiergummis. Die ganze Unterseite des Körpers der Mutter ist bedeckt mit zwei Reihen von Zitzen. Sie ist wahrhaftig doppelbrüstig, vom Nacken bis zu den Oberschenkeln, wie ein Mantel. Als Paul von der Arbeit kommt, kniet er sich vor das Becken.
»Ist es nicht wunderbar?« sagt er, als ich versuche, die Leiber zu zählen.
Neun, nein, elf, und sie hat bloß zehn Zitzen, von denen sich zwei unter den Armen befinden. Als ich darauf hinweise, betrachtet mich Paul lange und sagt dann schließlich: »Genau wie bei dir.« Dann geht er in die Küche, streicht dick Erdnußbutter auf zwei Scheiben Brot und schichtet Bananenscheiben dazwischen. »Ratte hat schon losgelegt, und das wirst du auch«, sagt er in einem ominösen Ton, wickelt das Sandwich ein und steckt es in eine Papiertüte. »Heute nacht ist es soweit.«
»Komm früh ins Bett«, sagt er später, und mir fällt ein, was ich im Schwangerschaftsunterricht gelernt habe: daß nämlich Erschöpfung der Hauptgrund ist, wenn die Wehen schwierig werden. Um zehn gehe ich mit ihm ins Bett, und er wickelt sich um mich herum. Er ist um einiges dicker als damals, als wir uns das erste Mal begegneten, und hat eine weiche Haut und schwere Glieder. Er legt seine großen, flächigen Hände auf meinen Bauch; sein Schnurrbart reibt sich an meinem Nacken. Ich kenne keinen anderenMenschen, weder Erwachsenen noch Kind, der so schnell oder so gesund schlafen kann wie er. Ich stehe auf, und er rollt auf die andere Seite und wickelt die Arme um sein Kissen, ohne auch nur ein bißchen zu Bewußtsein zu kommen.
Meine Taschen sind gepackt: Nachthemd, Still-BH , Lippenbalsam, ein saurer Lutscher, Socken, ein Rückenmassagegerät, Zehn-Cent-Stücke zum Telefonieren. Oben sind die Bilder in Stapeln über meinen Zimmerboden verteilt. Ich öffne einen großen Manila-Umschlag und sehe Paul als Baby, mit einem weißen Taufkleid; Paul mit Fliege und Jacke und kurzen Shorts, mit den blonden Locken, die seine Mutter später abgeschnitten und in einem Umschlag aufgehoben hat, den ich oben habe; seine Schwester mit künstlich roten Wangen und zusätzlichem Blau in den Augen. Ich schaue mir diese Studioaufnahme lange und genau an. Sie sagen mir etwas über den Stil der Personen, aber sie geben nicht den leisesten Hinweis auf den Charakter oder die Persönlichkeit; sie sagen nichts darüber aus, in welche Schwierigkeiten sie einmal kommen könnten, sie lassen auch nicht vermuten, warum ein unglücklicher Junge den Wunsch haben sollte, seine Kindheit noch einmal zu durchleben, indem er selber Kinder hat.
Habe ich an dem Tag, als wir uns kennenlernten, gewußt, daß Paul Kinder so gern mag? Oder erfuhr ich es erst nach einer Woche? Die exakte Zeit ist mir entfallen, denn die Tatsache, daß er Kinder liebte, war von Anfang an genauso ein Teil von ihm wie sein silbriges Haar oder sein wildes Lachen. Nicht daß ich Kinder nicht mochte, es war nur so, daß sie nie in meinen Gedanken vorkamen. Ich hatte nie einen Säugling gehalten oder auf Kleine aufgepaßt; ich hatte keine Freunde, die Babys hatten, die aus der Ferne so verletzlich und bedürftig aussahen. Die wenigen Male, die ich einen Haushalt mit Kindern betrat, ließen der Krach und die Unordnung meine Ohren klingeln. Der nicht endenwollende Zyklus von Füttern und Saubermachen, nie zu Ende gebrachte Sätze, die ausgelaugten Frauen, die ihre Träume’ begraben hatten und zu Hause saßen, um Sandwichs zu machen, während Männer und Kinder spielten — nicht mit mir, auf gar keinen Fall! Und überhaupt, wie hätte einer von uns an solche Dinge denken können, wo wir doch beide so beschäftigt waren?
Paul hält sich nicht so bei der Vergangenheit auf, wie ich es tue, und fragt oft: »Was haben wir eigentlich getan, bevor sie geboren wurde? Ich kann mich kaum mehr an das Leben ohne sie erinnern.«
Was wir gemacht haben, war, daß wir eine Menge Reisen unternahmen, alle drei Monate etwa flogen wir auf eine kleine karibische Insel ohne Touristen. Wir liebten uns häufig und gingen oft essen oder trafen uns mit Freunden. Trotzdem war es keineswegs ein hedonistisches Leben. Unser Alltag bestand mehr aus harter Arbeit als aus Vergnügen. Während Paul bis spät im Labor blieb, wo er arbeitete, saß ich zu Hause und schrieb. Wenn er Wochenenden dort verbrachte, besorgte er einen Ausweis, mit dem ich hineinkonnte, und eine Schreibmaschine, die ich benutzen durfte, und wir arbeiteten viele Stunden in getrennten Räumen. Die Arbeit war unser wichtigstes Band. Wir waren fünfzehn Jahre auseinander, hatten eine unterschiedliche Erziehung und verschiedene Temperamente, aber jeder von uns hatte einen Traum. Als wir uns kennenlernten, arbeitete ich als Redakteurin bei einer religiösen Zeitschrift und schrieb mittags, abends und an Wochenenden Geschichten. Und er arbeitete als Ingenieur, war im höheren Fachsemester in Biologie und studierte mittags, abends und an Wochenenden. Zu der Zeit, als wir heirateten, hatte ich gerade einen Fachkurs für Schriftstellerei angefangen und schrieb vor, nach und zwischen den Unterrichtsstunden und an den Abenden; er hatte eine Praktikumsstelle in der Abteilung Bio-physik bei seiner Forschungsorganisation bekommen und arbeitete harte Praktikumsstunden lang und lernte für die Sprachprüfung im Rahmen der Doktorprüfung, wann immer er zu Hause war.
Und Pauls Liebe zu Kindern brachte mich dazu, selbst an welche zu denken. Während der folgenden drei Jahre, in denen ich andere Familien ganz genau studierte, Theorien entwickelte und ihn über seine Ansichten zur Versorgung der Kinder und der Rolle des Vaters befragte, weichte das »Nicht mit mir, auf gar keinen Fall« allmählich auf. Ich glaubte langsam, daß wir eben selbst als Eltern etwas Neues schaffen müßten, falls eine Familie nach unserem Geschmack nicht in Sicht war. Wir müßten Pioniere sein.
Wenn ich mir unsere Fotografien aus der Zeit anschaue, als wir noch keine Kinder hatten, sehe ich weiche Gesichter ohne Ärger — wie naiv und vertrauensselig wir doch waren zu glauben, daß wir genau dann ein vollkommenes Kind in die Welt setzen könnten, wenn wir eins wollten! Und doch war genau dies der Fall. Fünf Monate nachdem Paul seinen allgemeinen Doktor gemacht hatte und meine erste Erzählung zur Veröffentlichung angenommen worden war, wurde ich mit Charlotte schwanger.
Die meisten meiner Freundinnen waren Singles, und meine Schwangerschaft erschreckte sie. Ich erinnere mich an einen Nachmittag, als ich mich mit zwei alten Freundinnen zum Mittagessen traf. Sie schraken zurück, als sie mich sahen. Eine sagte: »O mein Gott, wie riesig du bist«, als würde mein Umfang bedeuten, daß ich die Selbstkontrolle verloren hatte. Die andere verhielt sich, als ob das, was ich in mir trug, nicht ein Baby wäre, sondern etwas, was jeden Moment explodieren könnte. Sie sagte mehrere Male während des Essens: »Sie wird jeden Moment platzen, das schwöre ich.« Sie erzählten mir die Geschichte von einer netten, energischen Anwältin, die kurz davor war, als gleichberechtigter Partner in einem Büro einzusteigen. Sie bekam ein Baby, verkündete, daß sie davon so erfüllt sei wie von nichts zuvor, und kündigte. Dann war da noch die Grafikerin, die detaillierte Vereinbarungen über einen zweimonatigen Mutterschaftsurlaub getroffen hatte. Sechs Wochen nach der Geburt des Babys rief sie ihren Chef an, verkündete, daß es »das hier sei, worum es ginge«, und ließ sich nie mehr im Büro blicken.
Frauen wie du, sagten sie zu mir. Frauen mit Träumen und Ambitionen, deren treulose Hormone sie in Mütter verwandelten. Ich lachte über diese Geschichten und sagte: »Ihr wißt, was ihr da tut, nicht wahr? Ihr fordert mich dazu auf zu glauben, daß die Geburt eines Kindes etwas in der Gehirnchemie verändert. Ihr wollt mir sagen, daß ich nächsten Monat eine andere sein werde.«
Als ich das Restaurant verließ, sah ich sie überall: Mütter auf Parkbänken, mit Kindersportwagen vor sich; Mütter, die klebrige Hände abwischten, in Sandkästen Eimer mit Sand füllten, kreischende Kinder schoben; Mütter, die an widerspenstigen Kleinkindern zerrten. Ihr Anblick rief ein Klopfen in meinen Schläfen hervor, und als ich nach Hause kam, spürte ich, wie das Gehirn in meinem Schädel pochte. Ich stellte mir vor, wie die Hormone ihr Spiel mit mir trieben, durch mein Blut schossen und eine unwiderrufliche Veränderung in mir verursachten. Ein Aspirin würde das Pochen zum Stillstand bringen, vielleicht würde es auch diese Veränderungen aufhalten. Das einzige Problem war nur, daß ich kein Aspirin nehmen konnte — ich konnte überhaupt nichts einnehmen, denn ich war schwanger.
Die erste dunkle Ahnung, daß ich nicht mehr Herr über mein Schicksal war, überkam mich während der Wehen. Ich nehme an, daß ich in einem dunklen Winkel meines Gehirns schon gewußt hatte, daß die Wehen hart waren, aber das waren Marathonläufe auch, und ich hatte einen durchgestanden und war danach einen Eisbecher essen gegangen. Natürlich hatte ich von Frauen gehört, die schrien und auf Stoffetzen bissen und sich während der Wehen die Haare rauhen — melodramatische Charaktere, die leicht schrien. Nichts bereitete mich auf die Geburt eines Kindes vor, kein Training und kein innerer Wille, auch nicht mein Unterricht zur Vorbereitung der Geburt, wo das stärkste Wort, das zur Beschreibung des Feuers und der Agonie gebraucht wurde, »unangenehm« war.
Die Sonne ging unter, ging auf und wieder unter, bevor sie geboren war. Nach der Geburt schlief ich drei Stunden lang. Dann ging ich barfuß durch den Flur, um nachzusehen, ob es wahr war, daß ich ein Baby bekommen hatte. Da war sie, in der dritten Reihe vom Fenster aus, das zweite Bettchen von links: so unglaublich schön. Ihre Haut war rot und vertrocknet, sie hatte kleine Flecken am Kopf, die Nase war auf die Seite gedrückt. Sie hatte sich im Uterus mit ihren langen Fingernägeln gekratzt, und im Krankenhaus wollte man sie »aus Sicherheitsgründen« nicht schneiden. Eine Krankenschwester gab mir den Rat, sie abzukauen.
Ja, schön; mein schönes kleines Mädchen. Ich hielt drei Tage lang Hof. Freunde und irgendwelche obskuren Verwandten schauten vorbei; vonden Kunden meines Vaters, den Kollegen meiner Mutter und den Nachbarn in der Straße, in der ich aufgewachsen war, kamen Blumen. Ihre Geburt wurde in einem internen Memo in dem Büro, in dem mein Vater arbeitete, bekanntgegeben; ebenso in einem Rundbrief der Synagoge, in der ich vor siebzehn Jahren Hebräischunterricht bekommen hatte. All diese Mitteilungen bestätigten, was ich tief in mir fühlte: daß Charlotte nicht einfach mein Erstgeborenes war, sondern das erste Kind, das überhaupt jemals geboren worden war. Und über was sprach ich mit meinen Besuchern? Über mein Buch, das herausgekommen war, über die schneidende Kälte, die politische Situation in Bangladesch, die Baseball-Weltmeisterschaft, darüber, wieviel eine Dauerwelle kostet — über alles andere als über das Baby, wirklich über alles andere. Ich gab Erklärungen zur Mietpreisbindung ab, während die ganze Zeit meine Brüste, die so dick waren wie Kanonenkugeln, brannten und meine Ohren auf das Quietschen der Wägelchen in der Halle und das Wimmern der Neugeborenen eingestellt waren. Ich brannte darauf, sie zu halten, denn ich hatte Mühe zu glauben, daß es sie gab, wenn sie nicht in meinen Armen lag, und doch redete ich weiterhin diesen Unsinn. »Was ist aufregender, das Buch oder das Baby?« »Nun…das Buch schreit nicht.«
Ich bin immer noch die gleiche, sagte ich zu meinen Besuchern. (Und zur gleichen Zeit fragte ich mich: Ist das Charlotte, die ich da höre? Ist das ihr Schreien?) Ich bin es, ich bin immer noch die alte.
Nicht so Paul. Er verkündete allen, die fragten — und vielen, die nicht fragten —, daß Charlottes Geburt ihn verändert habe. Er sei ein völlig anderer Mensch und verstehe endlich, was Leben bedeute. Jeden Abend kam er mit einer Einkaufstüte voll Obst ins Krankenhaus, bat mich um Verzeihung für das, was ich durchgemacht hatte, und schwor mir, daß er mich nie darum gebeten hätte, ein Baby zu bekommen, wenn er gewußt hätte, wie schlimm es wäre. Während ich Feuerpampelmusen aß, Mandarinen, Mangos, Pfirsiche, Jaffa-Orangen und Himbeeren, hielt er sein winziges Neugeborenes. Wenn ich mich vollgestopft hatte, zog er den Vorhang um das Bett und wechselte ihre Windeln. Er liebte es, ihre Windeln zu wechseln. Jeden Abend legte er sie aufs Bett, nestelte ihre kleinen Ärmchen durch das Unterhemd, löste die Bänder der Windel und hielt sie nackt in seinen Armen. Er schaute von ihr zu mir und murmelte Worte wie »Freude« und »Mysterium« und weinte.
»Das kommt davon, wenn man Männer auf die Entbindungsstation läßt«, sagte ich zu einer Freundin, die sich Sorgen machte, weil er weinte. »Es bringt ihre Hormone durcheinander. Glücklich, traurig — er weiß nicht, was mit ihm los ist.«
Er wußte genau, was mit ihm los war. Er war Tag und Nacht in Ekstase. Die Freude danach. Er band sie sich um die Brust und trug sie überall herum, redete nur noch von ihr und zeigte sie jedem. »Hat sie nicht die niedlichste Nase, die man je gesehen hat?« fragte er die Nachbarn meiner Eltern, ein Ehepaar, das sich noch an mich erinnerte, als ich noch ein kleines Würstchen gewesen und mit seinen Kindern über den Hof gejagt war. »Und ihr Mund. Ist er nicht liebenswert?« Sie nickten und stimmten allem zu, was er sagte. Ja, ihre Nase war niedlich, ihr Mund war liebenswert, ihre Hände waren bemerkenswert, ihre Augen vollkommen, ihre Füße zum Fressen.
»Und ihr Hintern, hat sie nicht den süßesten kleinen Hintern …?«
Paul kam von seinen ekstatischen Höhenflügen herunter, und ich veränderte mich schließlich. Charlottes Geburt ließ in mir eine kleine Stimme zum Vorschein kommen, die für kleine Menschen bestimmt war, wohingegen ich vorher diese Stimme nicht gehabt und deshalb auch nichts zu Babys zu sagen gehabt hatte. Ich riß Coupons für Windeln aus den Zeitschriften bei meinem Zahnarzt, las Verbrauchertips für Babyausstattungen, sammelte Ratschläge für Mütter, besuchte häufig Spielzeugläden und Kinderabteilungen. Charlotte schubste, stieß und trat um sich, um sich neben all dem Zeug in meinem Leben Raum zu verschaffen. Sobald sie klettern gelernt hatte, stieg sie über die Stangen an ihrem Bettchen und kam zu mir ins Bett, als ob sie gewußt hätte, daß meine Träume sie nicht einschlossen, wenn ich allein war. Meine Single-Freundinnen hatten unrecht. Ich tauschte nicht eine Liebe gegen eine andere. Ich hatte nicht meine Perspektive gewechselt, ich hatte sie verloren. Jetzt hatte ich an Stelle eines geraden Wegs viele Straßen, und jede hatte zahlreiche Abzweigungen.
Es war nicht einfach so, daß Paul und ich und das Baby zusammen drei machten. Da waren Paul und ich und die hohen Kosten für Babysitter, ohne die ich nicht zurechtkam, und — Hilfe! — es ist nicht genug Platz da für all die Sachen, die ein Baby heutzutage haben muß! Und wie soll ich ein Kind und Lebensmittel gleichzeitig in den fünften Stock bringen? Daß wir Pioniere waren, hieß nicht, daß wir nicht in dieselben Nöte kamen wie Millionen anderer frischgebackener Eltern — weniger Zeit für Arbeit und Vergnügen, für Freunde und für einander. Außerdem mußten wir plötzlich feststellen, daß wir früher eine Menge Anstrengungen unternommen hatten, um unsere Träume zu erfüllen, während wir kaum ans Sparen gedacht hatten.
Was für mich bemerkenswert ist, ist nicht, daß wir dieselben Probleme wie jeder andere auch hatten, sondern daß wir aufgrund der ständigen Bewegung den Übergang von einem Paar zu Eltern vollzogen, ohne mit der Wimper zu zucken, und daß Paul einen Monat nach der Geburt unseres Kindes fragen konnte, wie ein Leben ohne sie möglich gewesen sei. Die ganze Vergangenheit war zu Geschichte geworden, all die im Bett verbrachten Vormittage und die Wochenenden, an denen wir gemeinsam im Labor gearbeitet hatten. Wir waren jetzt Eltern und waren es, solange wir zurückdenken konnten — und wir würden es sein, bis wir starben.
Als Charlotte zwei wurde, begann Paul mit Neugeborenen zu liebäugeln und ließ Bemerkungen fallen, wie wunderbar doch Babys seien und wie großartig schwangere Frauen. Wir hatten inzwischen ein Haus mit zwei zusätzlichen Zimmern, die er mit kleinen Kindern bevölkert sehen wollte.
Ich dagegen wollte mein zweites Buch zu Ende bringen, bevor ich in Erwägung zog, wieder schwanger zu werden. Ich war in den zwei Jahren seit Charlottes Geburt nur langsam mit meiner Arbeit vorangekommen, ja, nur an ein weiteres Baby zu denken erschien mir wie der Wunsch nach dem beruflichen Tod. Das hielt mich allerdings nicht davon ab, eine geheime Sehnsucht nach einem weiteren Kind zu hegen, eine Sehnsucht, von der ich wußte, daß sie keinen Sinn hatte.
Ein Jahr lang erhob ich Einspruch. Ich widerstand den vorsichtigen Hinweisen der Großeltern, wie nett doch ein Bruder oder eine Schwester für mein einsames Kind wäre, und den Freunden, die diskrete Fragen nach meiner Fruchtbarkeit stellten. Doch als Charlotte drei wurde, spürte ich, daß das Familienleben so kompliziert war, daß ich wahrscheinlich alt und verwitwet wäre und mein Nest leer, bevor es wirklich Platz gäbe, in den ein weiteres Baby hineinpassen würde. Also überließ ich mich der Sehnsucht und wurde schwanger mit Nummer zwei.
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September
Charlottes Kindergarten beginnt wieder, und Rachel bleibt dort, wo sie in den letzten neun Monaten gewesen ist. Die Plazenta hat ihre neun Monate überzogen und bekommt Arterienverkalkung. Da die Geburt schon zwei Wochen überfällig ist, beschließt meine Frauenärztin, mich zweimal die Woche ins Krankenhaus zu schicken. Ich soll dort Tests machen, um zu sehen, ob sie mit genügend Sauerstoff und Nahrung versorgt wird. An dem Tag, an dem die Tests vorgesehen sind, schleppe ich meinen angeschwollenen Körper um sechs Uhr morgens aus dem Bett, um den Zug nach New York zu erwischen. Dann geht es mit dem Bus quer durch die Stadt zum Krankenhaus (und später mit einem Taxi zur Praxis der Frauenärztin).
Der Östriol-Test ist einfach — eine Nadel in den Arm, ein wenig von meinem Blut, an dem überprüft werden kann,ob die Plazenta richtig arbeitet. Dann hinauf in die Entbindungsstation zu Belastungstests. Dort muß ich mich mit einem Gerät, das über meinen Bauch gebunden wird und mit dem der Fötus kontrolliert wird, hinlegen. Ich habe einen Stift in der Hand, so daß ich ein X auf das Band machen kann, das die Maschine neben mir ausspuckt, wenn ich spüre, daß das Baby sich bewegt. Rachels Herzschlag, sollte ansteigen, wenn sie sich bewegt, genauso wie der unsere ansteigt, wenn wir gehen oder eine Treppe hochsteigen. Sollte sich innerhalb von zehn Minuten nicht zweimal ein Ansteigen zeigen, müssen weitere Tests gemacht werden, um sicherzugehen, daß die Plazenta angemessen funktioniert.
Die Entbindungsstation ist derartig überfüllt, daß man den Eindruck bekommt, eine verrückte Wetterlage habe alle schwangeren Frauen dazu veranlaßt, Wehen zu bekommen. Bei meinem ersten Besuch ist kein Kontrollgerät für den Fötus frei, und man teilt mir mit, daß ich warten müsse. Dieser ganze Wirbel, all die Krankenschwestern mit blauen Schürzen und Hauben, die hastenden Schwesternschülerinnen in grünen Kitteln, all die Frauen, die beim Atmen huh, huh, huh machen, wenn sie die Geburtsvorbereitungen in New York mitgemacht haben, und hii, hii, hii, wenn sie aus New Jersey kommen, während ich mit hingerissenen Schwiegereltern und verwirrten Geschwistern im Aufenthaltsraum sitze, eine alte Zeitung durchblättere und warte.
Nach ein paar Stunden hat man ein Kontrollgerät herbeigeschafft, aber es ist keine Kabine frei. Ich werde zu einem Bett eskortiert, das sich in den Erholungsräumen befindet. Ich ziehe ein Krankenhaushemd an, setze das Kontrollgerät auf den höchsten Punkt meines geschwollenen Bauches und warte eine weitere Stunde, daß sich das Baby bewegt. Rachel rührt sich kein bißchen. Unter der Kabine neben mir lugen Beine hervor, ein Kittel, der nicht ganz die Blue Jeans eines Mannes bedeckt, über die Turnschuhe sind Kappen gezogen. Ich höre seine sanfte, vorsichtige Stimme, als er zum ersten Mal sein Neugeborenes begrüßt: »Hallo, Baby. Hallo. Hallo.«
Es tut mir leid, daß ich sie gebeten habe zu warten. Früh am. Morgen meines vierten, Besuchs — aufstehen um sechs, Zug, Bus, Östriol, Belastungstest — bemerke ich, daß meine Wehen begonnen haben. Ich mache alle Tests durch, und am Ende des Tages nehme ich ein Taxi zum Stadtrand, um die aufregende Neuigkeit meiner Frauenärztin mitzuteilen. Sie lächelte mich matt, aber freundlich an und sagt: »Ich hoffe, daß Sie sich irren. Denn falls es stimmt, werden Sie eine Menge Arbeit haben.«
Sollte ich mich täuschen? Sollten diese sehr regelmäßigen, sehr starken Krämpfe Scheinwehen sein? Ich treffe mich mit einer Freundin zum Mittagessen, fahre mit dem Zug nach Hause, gehe vom Bahnhof aus zu Fuß, mache meiner Familie etwas zu essen, stelle meine und Charlottes Taschen zusammen, packe einen Imbiß für Paul ein und fahre dann zum Haus meiner Eltern, wo Charlotte bleiben wird.
Ich schicke Paul in mein ehemaliges Zimmer, damit er mir ein Handtuch holt, und schaue mit meiner Mutter fern, bis die Krämpfe so regelmäßig werden, daß ich nicht länger hier herumsitzen kann. Inzwischen ist es wirklich Zeit aufzubrechen.
Es ist Mitternacht, und die Straßen sind leer. Paul fährt mit Höchstgeschwindigkeit nach New York hinein, so daß wir in Rekordzeit die Innenstadt erreichen. Das Krankenhaus, das von innen überall beleuchtet ist, liegt vor uns, Gott sei Dank, dann verschwindet es wieder aus unserem Blickfeld.
»Noch eine Runde«, sagt Paul zu mir.
Er kann keinen Parkplatz finden. Er fährt prinzipiell nicht in eine Parkgarage. Ich sitze gekrümmt auf meinem Sitz, der Schmerz ist größer geworden, und er sagt: »Wahrscheinlich gibt es in der Dreizehnten Straße einen Parkplatz.«
Als er hinter das Krankenhaus rast, fällt mir ein, daß er vor vier Jahren meine Wehen genau registriert hat — Zeit, Dauer, subjektive Beschreibung (»22. Okt., 13.07 Uhr, 72 sec. Während sie eine Orange ißt…«) — und wie er nach Charlottes Geburt geweint und gesagt hat: »Wenn ich nur gewußt hätte, wie schlimm es werden würde.« Jetzt sagt er: »In der Second Avenue klappt es normalerweise.« Wieder packt mich eine Welle, halb aufrecht stehend erstarre ich. »Vielleicht sollte ich es in der Achtundzwanzigsten versuchen.«
Schließlich finden wir ein Plätzchen und gehen nach oben. Paul hält mich bei der Hand, atmet mit mit, lobt meine Leistung, wischt mir das Gesicht mit einem Schwamm ab, warnt mich wie ein Sportreporter beim Einsetzen einer Wehe. »Und…es ist eine große, ein Doppelstoß…jetzt kommt sie…eins und…hii…hii…hii…«
Nach sieben Stunden Ausatmen, sanfter Massage, Jammern, Stoßen und einer Menge von dem, was in der Geburtsvorbereitung unter »die Kontrolle verlieren« läuft, ist das Baby geboren. Es ist groß und rundlich, mit dunklen, öligen Haaren auf dem Kopf, die an den Spitzen etwas heller sind. Meine Liebe durchströmt mich — ich werde von Liebe überschwemmt, überwältigt. Außerdem habe ich Hunger.
Paul erreicht, daß ich ein paar Rühreier bekomme. Dann ruft er meine Eltern an. »Ja, wir waren die ganze Nacht auf, aber sie ist guter Dinge; sie liegt im Genesungszimmer und frühstückt für zwei…Was soll das heißen: sie muß müde sein? Sie liegt im Bett, ich muß noch nach Hause fahren.«
Ich teile das Zimmer mit einer Frau, die zum ersten Mal Mutter geworden ist. Ihr Fensterbrett ist voll von Rosen, wilden Blumen, wohlriechenden Sträußen, Topfpflanzen und mit Stoffvögeln und -schmetterlingen geschmückten Arrangements. Auf einem Strauß sitzt ein nackter Engel. Zweimal am Tag, während der Besuchszeiten, kommen noch mehr Blumen und Scharen von Besuchern — ihr Mann mit Familie, ihre Kollegen und Nachbarn. Abends kommen vierzig Verwandte mit Sekt und belgischer Schokolade. Ständig klingelt das Telefon, und jedem Anrufer eröffnet sie ihre Geschichte von Schmerz und Freude. Während der wenigen Augenblicke, in denen sie allein ist, weint sie, weil sie einsam ist, weil das Baby nicht an ihrer Brust bleibt, weil er weint, weil sie Angst davor hat, nach Hause zu gehen.
Durchströmt von Glückshormonen liege ich im Bett. Welche süße, einfache Freude ich dieses Mal darüber empfinde, Mutter zu sein. Wie schön ist es, sie einfach zu halten. Ich schlafe ein, und als ich aufwache, frage ich mich, ob es sie wirklich gibt, finde sie in dem Bettchen an meiner Seite, schlafe wieder ein. Die Glückshormone vollbringen ihren Zauber und hüllen mich in Zufriedenheit ein. Ich bin die Erdmutter mit Brüsten voller Milch. Geboren, um zu nähren.
Schließlich klingelt das Telefon für mich. Meine Eltern wollen wissen, ob Paul schon eine Ruhepause machen konnte. Später am Nachmittag tritt eine alte Freundin ins Zimmer. Sie ist elegant gekleidet und trägt einen genoppten hafergrützefarbenen Sweater und einen langen, schmalen gelbbraunen Rock.
Sie überreicht mir zwei Paradiesvögel, exotische Blumen und hält Ausschau nach einer Vase. Auf dem ganzen Flur gibt es keine, weil meine Nachbarin alle hat. Aus Verzweiflung füllt meine Besucherin den verbeulten Abfalleimer mit Wasser und stellt die Paradiesvögel vor die Fensterblenden, so daß sich ihre Schnäbel in die entgegengesetzte Richtung drehen. Wir gehen zum Kinderzimmer und schauen uns die Babys hinter der Glasscheibe an. Alle sind fest eingewickelt, nur die unförmigen Köpfe schauen unter den gestreiften Decken hervor. Die einen schlafen, die anderen jammern oder schreien. Sie sehen aus wie Geschöpfe aus einem Science-fiction-Film: fleischfressende Schwärme mit merkwürdig menschlichen Gesichtern. Rachels Haare sind an den Seiten hochgekämmt wie bei einem Mohawk. Wir geben dem kleinen Ruben den ersten Platz für seine Persönlichkeit, Rodriguez für seine schönen Augen. Bei der kleinen Glynn geht der Daumen hoch für das modernste Aussehen.
Die Ratten haben inzwischen ein Fell, den Ansatz zu einem weißen Mantel, der wie eine Schicht Puder aussieht. Die Ohren stehen ihnen vom Kopf ab, und sie haben Stupsnasen, so daß sie aussehen wie kleine flachnasige Meersäuger. Manchmal liegen sie in einem verworrenen Knäuel zusammen, eine Masse von wogenden Körpern, ihr Herz schlägt schnell unter der durchsichtigen Haut. Aber meistens, wenn ich zu dem Behälter komme, liegen sie unter ihrer Mutter, und dann kann ich nur ein paar Hinterbeine von ihnen sehen, die herausragen und gegen die Holzspäne treten, von einem anderen die Vorderpfoten, die in die Luft gestreckt sind, oder einen kleinen Schwanz. Es geht dort unten ein bißchen zu wie bei der Reise nach Jerusalem: Es gibt elf Babys und nur zehn Zitzen, und von Zeit zu Zeit wird eins von ihnen vollkommen hinausgeworfen. Ratte ist ganz ruhig und erträgt das Krabbeln und Streiten, das sich unter ihrem aufgeblähten Körper abspielt. Ihre Nachkommen saugen, während sie sich ausruht. Nur ihre Nase zuckt dabei.
Ich liebe mein neues Baby; ich fühle mich vollkommen zufrieden, wenn ich an die ständig wiederkehrenden Aufgaben denke, die damit verbunden sind, daß ich für sie sorgen muß. Bei Charlotte komplizierte die Furcht der Unerfahrenen meine Gefühle; sie erschien mir so wundersam, so vollkommen und so verletzlich. Dieses Mal weiß ich, was ich zu tun habe. Wenn sie schreit, kann ich sie trösten, und falls ich das nicht kann, so weiß ich, daß das auch dazugehört, wenn man ein Kind im Haus hat. Rachel macht es mir leicht. Sie ist erstaunlich zufrieden, trinkt ohne großes Aufheben, schläft tief und so lange, daß ich oft in ihr Zimmer gehe, um sie aufzuwecken. Nachts wacht sie zweimal auf, und nach kurzer Zeit nur noch einmal, und nachdem ich sie gestillt habe, fällt sie sofort wieder in Schlaf.
»Warum liebst du sie?« fragt eine von meinen Freundinnen, die als Single leben, als sie mich besucht.
Die vernünftige Frage einer Frau, die Kinder nicht besonders gern mag. Es ist tatsächlich die Frage: Warum? Tastend suche ich nach Antworten und finde keine, die alles, was ich fühle, umfaßt. Warum liebe ich sie? Weil Sie so weich ist und gut riecht. Weil sie mir gehört. Weil es in meinen Genen begründet liegt, daß ich sie lieben soll: Irgendwie gibt es da einen : Code, so daß mir die Brüste kribbeln und die Milch für sie zusammenströmt, wenn sie schmatzt oder Wenn ich das Knistern ihrer Kunststoffwindeln höre.
Die anderen sind nicht so zufrieden. Rachels Gegenwart verwirrt Charlotte. Sie ist sehr aufgeregt und möchte immer nur bei ihrem Schwesterbaby sein. Sie möchte sie halten und sie so fest umarmen, daß niemand anderes an sie herankommt. Sie spricht mit fiebernder Stimme von ihr. Ich hatte gedacht, daß ich ihr Sicherheit geben könnte, indem ich ihr besondere Liebe zukommen ließe, aber sie ist eigenwillig und streitsüchtig und weist meine Aufmerksamkeit für sie zurück. Mich will sie nicht. Sie will nicht mit mir spazierengehen, was sie vor der Geburt so gerne getan hat, denn es bedeutet, Paul bei Rachel zu lassen. Sie will auch nicht, daß ich das schlafende Baby ins Kinderbettchen lege, damit wir beide zusammen spielen können.
Statt dessen drückt sie gegen Rachels Körper, weckt sie auf, so daß meine Aufmerksamkeit sich auf das schreiende Baby richtet. Der Gedanke daran, daß wir bei Rachel sind, und sie ist nicht dabei, regt sie so auf, daß sie mittlerweile mitten in der Nacht, wenn Rachel wach wird, ebenfalls aufwacht. Mehr als einmal finde ich Charlotte in der Tür stehend, wenn ich Rachel nach dem Stillen in ihr Bettchen zurücklege, und stille Tränen laufen ihr über die Wangen.
In der ersten Woche mache ich Fotos von den beiden: Charlotte mit Rachel in den Armen auf der obersten Treppenstufe. Ich bringe sie sofort in die Stadt zum Entwickeln. Wie rührend sie sind: Charlotte, die mir immer so klein vorgekommen ist, ist plötzlich im Vergleich zu dem Baby gewachsen, ihr Körper ist straff und ziemlich muskulös. Die Art, wie sie Rachel hält, sagt alles: Sie schlingt die Arme eng um ihre Schwester, und in ihren Augen liegen Liebe, Verwirrung, Neid, und alles so deutlich, daß es dem ganzen Bild die Farbe gibt.
Paul verwirrt mich mit seiner Kühle Rachel gegenüber. Ich komme nicht umhin, immer daran zu denken, wie er Charlotte nackt an seine Brust gehalten hat. Er war ein furchtloser Vater und seufzte: »Das ist es, worum es geht.« Ich lachte bei seiner Darbietung, amüsierte mich darüber, daß seine Reaktion so schrecklich typisch für das Alter war— ein Vater, derin die Vaterschaft eintritt —, und doch liebte ich ihn deswegen. Und ich liebte es, wie er sich mit großer Aufmerksamkeit etwas so Langweiligem wie Wickeln zuwandte. Die Euphorie wurde durch schlaflose Nächte gedämpft, durch die dauernde Verantwortung für dieses bedürftige Bündel und auch durch die Zeit. Ich hatte mich auf Rachels Geburt gefreut, auf die Zeit, in der er mich wieder am Arm packen und die Schlaffheit von mir abschütteln würde: »Das ist es. Das ist es, worum es geht.«
Wenn Rachel ihn verwandelt hat, dann in einen erschöpften Mann, nicht mehr. Selten hält er sie oder spielt mit ihr, wirft sie nie in die Luft oder küßt ihren Hintern oder schläft, während sie quer über seiner Brust liegt. Ich frage ihn danach, und er antwortet: »Sie ist schwieriger als Charlotte.« Oder er sagt: »Ich empfinde es als Untreue gegenüber Charlotte.« Oder er sagt: »Sie hat kein Interesse daran, gehalten zu werden.« Er sagt: »Wann bin ich denn schon zu Hause?« Es ist wahr, daß er viele Stunden weg ist, daß die Zellen, die er züchtet, um ihren Stoffwechsel zu untersuchen, die dauerhafte Versorgung und Ernährung benötigen, die auch Kinder brauchen, daß sogar die Wochenenden ihm nicht gehören. Zugleich weiß ich aber auch, daß nichts von alledem erklärt, warum es diesem Baby nicht gelingt, ihn zu rühren.
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Oktober
An einem Samstag kommt Paul früh vom Labor nach Hause, und wir fahren zum Jerseyufer. Zu dieser Jahreszeit ist es dort kühl, und es sind nicht viele Leute dort. Rachel ist vollkommen zugedeckt und schläft auf einer Decke neben Paul, der einen Text in einem dicken Buch liest und einige Stellen unterstreicht. Charlotte und ich sitzen am Wasser und lassen Treibsand und Brandung über unsere Beine spülen. Der Strand gehört ganz uns, nur draußen am Horizont ist ein Dutzend Windsurfer, deren leuchtende Segel sich im Wind drehen. Charlotte hält meine Hand und singt so leise ein Lied, daß ich die Worte nicht verstehen kann. Es ist das erste Mal seit Rachels Geburt, daß sie ruhig und verspielt ist. Es macht mir bewußt, wie sehr die Ankunft eines Babys das Familienleben durcheinanderbringt und daß man es neu ordnen muß.
Auf dem Heimweg machen wir an dem Stand eines Bauern halt und kaufen frisch geernteten Mais und die letzten Fleischtomaten, und ein paar Meter weiter kaufen wir einem Jungen, der ungefähr dreizehn Jahre alt sein mag, Flundern ab. Charlotte singt im Auto »Strawberry Fields«, und Paul singt mit. Ich habe meinen Kopf an den Sitz gelehnt und lausche ihrem lustigen, falsch gesungenen Lied. Ich habe das Gefühl, daß die Spannung dieser letzten Monate durch die Anstrengung verursacht ist, alles wieder ins Lot zu bringen, und daß wir endlich auf dem Weg dahin sind, daß es uns wieder gutgeht.
Als wir zu Hause ankommen, bürstet Paul den Kindern den Sand ab und bringt sie ins Sonnenzimmer, während ich mit dem Mittagessen anfange. Obwohl ich nicht oft mit Begeisterung koche, habe ich heute das Gefühl, daß es ein Privileg ist, allein in der Küche zu sein, den Mais zu schälen, die saftigen, unförmigen Tomaten zu waschen, Salatzwiebeln, Knoblauch und Zitronen zu schneiden. Für ein paar Minuten sind die anderen so vollständig aus meinen Gedanken verschwunden, daß ich den Eindruck habe, es seien Stunden vergangen, als sie mir wieder in den Sinn kommen. Ich werfe einen Blick ins Zimmer: Charlotte liegt auf dem Boden und malt Zickzacklinien mit Buntstiften, Paul hält Rachel mit ausgestreckten Armen — ein merkwürdiger Anblick, aber wenigstens hält er sie.
Als ich zurückkomme, um ihm zu sagen, daß das Essen fertig ist, hat Paul die Arme über den Kopf gehoben, und Rachel fliegt, mit dem Bauch auf seinen Handflächen liegend, über ihm.
»Sollten Babys einem nicht mit den Augen folgen?« fragt er mich.
»Mit einem Monat? Laß ihr etwas Zeit.«
Rachel schwebt über Paul, dann schiebt er sie langsam nach links. Der Flug ist beendet, und sie ist mit offenem Mund über ihm.
»Was machst du da?« frage ich.
»Ich bringe sie dazu, mich anzusehen.«
Rachel hat nicht Charlottes große,runde Augen. Sie ist ein Eskimobaby mit schmalen Augen in dicken Falten, einem breiten flachen Gesicht, glatten schwarzen Haaren, deren Spitzen ihr in die Stirn fallen.
»Aber sie sieht dich an«, sage ich.
»Jetzt vielleicht. Aber sieh mal.«
Er läßt sie fliegen, bis sie sich auf seiner rechten Seite befindet. Ihre Augen sind nicht auf ihn gerichtet. Statt dessen scheint sie aus dem Fenster zu schauen. Er spricht sie mit ihrem Namen an und schwenkt ihren Körper herum, so daß ihr Gesicht auf ihn gerichtet ist. Sie schaut in die andere Richtung.
»Vielleicht langweilt sie sich«, sage ich und strecke meine Arme aus, um sie zu befreien.
Später hält er sie noch oft so, mit ausgestreckten Armen, und immer auf seine linke Seite, so daß sie ihn aus den Augenwinkeln ansieht. Eines Tages sagt er: »Sie erinnert mich an Tante Margie.« Das ist eine Tante, die in Massachusetts lebt, eine kleine, ängstliche alte Frau, die selten über ihre Straße hinausging, weil sie, dunkeläugige, dunkelhäutige Jemande von weiß Gott woher, sich an dem vergreifen könnten, was ihr lieb und teuer war. Das eine Mal, als wir sie besuchten, stand sie kein einziges Mal von ihrem Stuhl auf, saß nur in sich zusammengekauert da und beobachtete mich mit einem argwöhnischen Seitenblick.
Er hält Rachel auf der linken Seite und spielt Bauchredner, wobei sie die Puppe ist, die sagt: »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so einen Dreck gesehen.«
Und: »Er war wie alle anderen Heinies auch, unglaublich störrisch.«
Und: »Nun, Billy, er hatte schon immer eine Schwäche für die alte jüdische Dame.«
Ab jetzt nennt er Rachel nur noch Fräulein Argwohn, Abkürzung F. A., und wenn ich sie ihm bringe, setzt er sie auf seine Handflächen und läßt sie auf seine linke Seite schweben, bis sie ihn schließlich ansieht, und dann ist er zufrieden.
Mit sechs Wochen ist Rachel heiter und berechenbar. Und Wenn sie auch noch sehr verschlafen ist, so lächelt sie doch endlich, wenn wir sie ansprechen und ihre Wangen streicheln. Wenn sie lacht, lacht nicht ihr ganzer Körper mit; sie lächelt nur ziemlich verschämt. Wir sind eine sehr ausgelassene Bande, und es ist schwer vorstellbar, daß wir ein so ruhiges Baby in die Welt gesetzt haben. Nicht daß mir das etwas ausmachen würde. Rachel ist so einfach zu handhaben, daß wir sie ins Kino, auf Partys und in Restaurants mitnehmen, wo Paul sie über die Brust gebunden trägt und ihren Kopf mit einer Serviette bedeckt, damit keine Krümel ihren Kopf verunzieren. Fremde bleiben bei uns stehen, um uns zu sagen, was für ein schönes Baby sie ist. Wir sind absolut nicht bescheiden und stimmen zu. Einige Freunde haben bemerkt, daß ich eine ungewöhnliche Beziehung zu Rachel habe, und in der Tat — mir scheint, daß ihre Heiterkeit mich angesteckt hat und mein Vertrauen zu ihrer sonnigen Natur beiträgt. Ich bin sehr glücklich darüber, daß ich kein Baby habe, das stundenlang schreit, kein lästiges Kind, dessen Forderungen den Haushalt durcheinanderbringen und den Frieden bedrohen.
Da sie noch immer die meiste Zeit des Tages schläft, ist es ein leichtes für mich zu arbeiten. Ich habe ein Arbeitszimmer unter dem Dach, einen kleinen abgeschlossenen Raum mit Blick auf nistende Vögel in einem großen Schierlingsstrauch. Der ganze Krimskrams aus meinem vorherigen Leben befindet sich hier oben, Poster und Fotografien aus vergangenen Zeiten, die kleinen »Dinger«, die Charlotte so liebt und die in verschiedenen Schachteln stecken — Karten von Rockkonzerten, Haarschmuck aus Leder oder Horn, die Einzelteile eines Puzzlerings, den ich nicht mehr zusammenbringe, ein Button von den Beatles, eine zusammengefaltete Karte von Santa Barbara, wo ich eine Geldstrafe bekam, weil ich per Anhalter gefahren war, eine Kilt-Nadel, ein Daumenkino. Jeden Morgen trage ich Rachel nach oben und setze sie in einen Kindersitz neben meine Schreibmaschine. Sie ist meine Zweitgeborene, und ich weiß aus Erfahrung, daß das eines Tages alles vorbei sein wird, daß sie aus ihrem verschlafenen Säuglingsstadium herauswachsen und Liebe und Aufmerksamkeit von mir fordern wird.
Es wird kalt, und die letzten Blätter fallen von den Bäumen. Ich kann den Reißverschluß von meiner Jeans, die ich vor der Schwangerschaft getragen habe, wieder hochziehen und eine ruhige Zeit mit Charlotte verbringen. Nur daß Rachel sich nicht verändert — noch nicht.
An einem kalten Sonntag fährt Paul zu einer Neurologen-tagung nach Boston. Er reist nicht gern allein und ruft jeden Abend zu Hause an, um mit Charlotte und mir zu sprechen. Die Tagung ist riesig und sehr anstrengend für ihn — Tausende von Veranstaltungen, mehr Gespräche, als er eigentlich führen kann, eine Explosion von Informationen. Aber es gibt auch Erfreuliches: Er trifft Freunde aus den Doktorandenseminaren und Forscher von anderen Institutionen, er kann in die Materie, in seine Arbeit, die er sich ausgesucht hat, eintauchen, ohne abgelenkt zu werden. Für ihn hat eine neue Laufbahn begonnen, und obwohl seine tagtägliche Arbeit oft ermüdend und frustrierend ist, spürt er doch noch die Freude eines jungen Mannes an der Wissenschaft.
Eines Abends ruft er mich spät an und erzählt mir von einer Frau, die ein Stipendium zur Erforschung der optischen Wahrnehmung bei Kindern bekommen hat. Er fragte sie, in welch ein Alter Babys begännen, Objekte mit den Augen zu verfolgen. Sie beantwortete seine Frage, indem sie ihm von einem Experiment erzählte, bei dem ein Neugeborenes auf dem Schoß seiner Mutter saß, während auf der anderen Seite des Raums Objekte auf einen Bildschirm projiziert wurden. Die Frau erzählte Paul, daß sie, während sie hinter dem Schirm stand, sagen konnte, wo auf dem Bildschirm sich die Gegenstände befanden, indem sie die Augen des Kindes beobachtete.
»Macht Rachel das nicht?« frage ich.
»Ich weiß es nicht, wir haben es nicht überprüft.«
»Hast du nach dieser Frau Ausschau gehalten? Ich verstehe nicht, hast du ihr gesagt, daß wir eine sechs Wochen alte Tochter haben? Was hat sie gesagt?«
»Sie informierte an einem Stand über ihre Arbeit, und ich blieb stehen, um mit ihr zu sprechen, weil ich dachte, das sei interessant. Das ist alles. Geh jetzt schlafen, und mach dir keine Sorgen, ja?«
Wenn das jemand zu mir sagt, mache ich mit gewöhnlich um so mehr Sorgen. Ich hänge ein, nehme Rachel aus ihrem Bettchen, lege sie neben mir aufs Bett und beobachte, wie sie langsam wach wird. Ihre Augen öffnen sich. Sie schiebt ihre Zunge vor und macht ihr »Fütter-mich-Gesicht«. Ich spreche sie an und berühre ihre weiche Wange. Und als sie mich anlächelt, denke ich: Ah, Mittelklasse-Eltern. Was fordern wir von ihr? Sonette? Mathematische Theorien? Sie ist erst sechs Wochen alt!
Ich denke nicht mehr an die Wissenschaftlerin, bis Paul nach Hause kommt und mich Rachel auf meinen Schoß setzen läßt, während er sich ein paar Meter weit weg setzt und ein Spielzeug in ihrem Gesichtsfeld bewegt. Um ihre Augen herum ist soviel Speck, daß es schwierig ist, herauszufinden, ob sie der Bewegung folgt. Manchmal hat man den Eindruck, daß sie es nicht tut und daß ihre Augen sich ganz ziellos bewegen, und manchmal scheint sie ganz klar mit den Augen allem nachzugehen, was er in der Hand hält.
Er beendet sein Experiment und sagt: »Ich glaube, sie ist in Ordnung.« Dann kniet er sich vor Rachel und sagt mit Nachdruck, als er wahrnimmt, wie klein sie ist und wie geduldig sie sitzen bleibt: »Sie ist in Ordnung.«
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November
Paul und ich haben vor, Thanksgiving bei seinen Eltern in Florida zu verbringen. Es schien eine gute Idee zu sein — fünf Tage in der Sonne, gerade rechtzeitig zum achtzigsten Geburtstag meines Schwiegervaters —, und doch, während wir für die Reise packen, werde ich von einer großen dunklen Ahnung gepackt, und ich kann nicht herausfinden, warum.
Meine Schwiegereltern holen uns am Flughafen ab. Sie sind ganz braun gebrannt und tragen pastellfarbene Kleidung, zwei Leute unter vielen, die am Flughafen stehen. Ich schicke Charlotte vor, damit sie ihre Großeltern begrüßen kann, und sie wühlt sich durch die weißhaarige Menge. Draußen sind vierzig Grad, und meine Schwiegermutter hat ihre pinkfarbene Strickjacke bis zum Hals zugeknöpft. Mein Schwiegervater trägt den breitkrempigen Strohhut, den er seit ihrem Umzug nach Florida besitzt.
Nana sieht uns, nicht Charlotte, und geht mit weiten, entschlossenen Schritten auf Paul zu, der Rachel in der Kindertrage in der Hand hält. Einen Moment lang befürchte ich, daß Charlotte unbemerkt bleibt, aber mein Schwiegervater bückt sich schon, um sie zu umarmen. Pauls Mutter gibt sich nicht damit zufrieden, den Reißverschluß der Trage aufzuziehen und in Rachels Gesicht zu schauen. Sie möchte das Baby in den Armen halten, das weiche, süße Kind ihres Sohnes.
Ich erinnere mich daran, wie wir Charlotte im gleichen Alter hierhergebracht haben. Meine Schwiegermutter hatte ihr neues Enkelkind stundenlang geschaukelt und ihr sanft zugeflüstert: »Oh! Was für eine Geschichte!«, wenn sie schmatzte und ihr Bäuerchen machte. Charlotte schrie viel und mußte so oft gestillt werden, daß ich mich mit einem Kissen auf dem Schoß zu Tisch setzte, so daß sie und ich zur gleichen Zeit essen konnten. Ich entsinne mich, wie meine Schwiegermutter sagte: »Na, du Kuh«, wenn ich meinen Still-BH aufknöpfte, wie sie, wenn ich zum Stillen um sechs Uhr morgens aufwachte, ebenfalls auf war, und wie sie mit Geplapper in Babysprache dabei war, wenn ich Charlotte auf dem schmalen Tisch, der an der Wand befestigt war — ihre Frühstücksecke —, die Windeln wechselte. Ich habe nie jemanden so stark lieben sehen. Ich nehme an, daß es mit das Gefühl gab, nicht ganz vollständig zu sein, und in meiner Unerfahrenheit schnaubte ich vor Wut. Während Charlotte noch etwas zu Neues war, um sie mit jemandem zu teilen, so ist dieses Kind ein Geschenk für die Großeltern.
Während wir im Auto sitzen, fragt Paul nach verschiedenen Verwandten, und sein Vater, der ziemlich schwerhörig ist, erzählt uns von den Zementlastwagen, die über diese Straße rasen, und von Unfällen, die in Regennächten passieren. Manchmal überhört er die Unterhaltung der anderen, manchmal nicht. Ihr Haus befindet sich in einer von Hunderten von Rentnersiedlungen, die in diesem trockenen, flachen Teil des Staates gebaut wurden, wo ehemals Orangenhaine und Viehfarmen waren. Wir fahren an mehreren Einfahrten dieser Siedlungen vorbei — Breezy Knoll, Lake Pleasure, Monticello, Palm Hill — alles Sackgassen, die von dem endlosen Florida-Highway abgehen.
Wir biegen in die Einfahrt ein und fahren langsam zu ihrem Haus, wobei wir an einer Frau vorbeikommen, die auf einem Fahrzeug mit drei dicken Reifen sitzt, und an einem Paar, das mit raschen Schritten neben der Straße geht. Die Pflanzen sind gewachsen, die Sago-Palmen sind viermal so groß, und die Weihnachtssterne werden schon rot, aber die Blechhäuser sind nicht für die Ewigkeit gebaut. Ich sehe, wo sie gealtert sind. Hagelkörner haben das Dach einer Garage zerbeult, an der Seitenwand unter dem Erker eines Nachbarn sind Rostflecken. Die Bewohner nennen ihre Häuser Module, da die Einzelteile, die auf Pritschen-Lkws transportiert werden, auf verschiedene Art und Weise zusammengesetzt werden, um den Anschein zu erwecken, sie seien für jeden Rentner maßgeschneidert. Der Staat Florida will sichergehen und verlangt, daß an jeder Fassade eine Lizenzplakette befestigt ist.
Als wir ankommen, sagt meine Schwiegermutter: »Was für ein angenehmes Baby, es schläft trotz der vielen Erschütterungen.«
»Sie würde den ganzen Tag schlafen, wenn wir sie ließen«, sage ich. Es ist das erste Mal, daß ich diese Worte gedacht oder ausgesprochen habe. Ihr Klang verschafft mir Unbehagen, doch ich bin sofort erleichtert, als meine Schwiegermutter sagt: »Natürlich würde sie das. Sie ist eben ein Baby, und was Babys machen, ist schlafen, Gott segne sie.«
Und das tut sie, den ganzen Tag und den größten Teil der Nacht. Während Paul und ich auf der abgeschirmten Veranda sitzen und lesen und Charlotte zu unseren Füßen spielt, indem sie Nanas Perlen, Halsketten und Bergkristallspangen um ihre Stirn, ihren Hals und ihre Arme wickelt, wandert meine Schwiegermutter durch das Haus und trägt Rachel wie einen Schal. Sie flüstert ihr zu: »Oh, was für eine Geschichte!«, wenn Rachel mit den Lippen schnalzt, schaukelt sie in einem Stuhl, den sie von ihrer Mutter geerbt hat, und singt ihre schrecklichen, falsch klingenden Melodien. Ich habe mit Sepia gefärbte Bilder von ihr gesehen, als sie neunzehn Jahre alt und gerade Mutter geworden war. Sie war eine phantastische junge Frau, groß und schlank, mit den großen blauen Augen, der geraden Nase und den muskulösen Beinen, die Paul und Charlotte geerbt haben. Auf diesen Fotografien hat sie Paul auf den Schultern und schaut den Fotografen wütend an, als wollte sie sagen, daß eine Entfernung von zwei Metern verdammt noch mal zu nah sein, solange dieses kostbare Kind sich in ihren Armen befände.
Mein Schwiegervater ist unzufrieden, weil wir nur herumsitzen. Er erinnert uns an die Nixen-Show, die ganz in der Nähe stattfindet, an das beginnende Zirkus-Festival und an das Restaurant, in das sie uns ein Jahr nachdem wir geheiratet hatten, ausführten und wo man Drinks in ausgehöhlten Ananas serviert und einen kleinen Dschungel mit ein paar Affen und einem Flußpferd aufgebaut hat. Ich erinnere mich noch gut an das Bild von Leuten, die das Flußpferd mit Marshmallows, diesen bei Kindern so beliebten, bunten Schaumzuckerdingern fütterten. Das große, stumme Tier hatte eine Zunge wie eine übergroße Matratze und zwei Zähne, so flach wie Baumstümpfe. Die Leute warfen Marshmallows auf die Matratze, und das Tier klappte seine Kiefer zusammen, sank unter das Lilienpolster und kam später wieder hoch, die Marshmallows noch immer auf der Zunge. Man konnte in das Restaurant gehen und zu Mittag essen oder etwas trinken, den Ruheraum benutzen, ein Foto von sich machen und es in Plastik eingehüllt an einer Schlüsselkette befestigen lassen, und wenn man noch einmal zu dem Flußpferd ging, um sich von ihm zu verabschieden, lagen immer noch dieselben Marshmallows auf seiner Zunge.
»Wir sind glücklich, Paps«, sagt Paul. »Zu Hause sind wir jede Minute unterwegs. Ich kann dir gar nicht sagen, wie großartig es ist, einfach so zu faulenzen.«
»Macht, was ihr wollt«, sagt er, und er gehört zu den Menschen, die das auch so meinen.
»Das hier ist es, was wir wollen.«
So sitzen wir also stundenlang auf der Veranda, stehen nur hin und wieder auf, um ein Glas Eistee zu holen oder auf die Toilette zu gehen, und während der ganzen Zeit schläft Rachel. Pauls Mutter bringt einen besonderen kleinen Imbiß für uns, Macadamia-Nüsse oder schmale Stücke von ihrem reichhaltigen selbstgemachten Obstkuchen, und währenddessen liegt Rachel über ihrer Schulter. Manchmal setzt sich Paps zu uns, und er und Paul versuchen, alte Autos und Häuser, die sie einmal gehabt haben, und Leute, die sie jahrelang nicht gesehen haben, zeitlich einzuordnen. Das machen sie so lange, bis Pauls Mutter mit Rachel im Arm hereinkommt und sie ausschimpft, weil sie so besessen von der Vergangenheit sind: »Schaut nicht zurück, schaut nach vorn.«
Die Freude daran, herumzuliegen und jeden Muskel zu entspannen, läßt allmählich nach. Ist Rachel jeden Tag in Schlaf gelullt worden? Sind die Arme meiner Schwiegermutter ein starkes Betäubungsmittel? Ist sie immer so gewesen? Das nächste Mal, als ich sie an Nanas Schulter dösen sehe, nehme ich sie ihr ab und halte sie mit ausgestreckten Armen, so wie es Paul immer macht. Ich drehe sie herum, bis meine Arme ermüden, dann setze ich sie auf den Teppich und tätschle ihre Füße. Sie tritt und bewegt die Arme, als ob ihr das gefiele. Sobald ich damit aufhöre, baut sie ab.
»Es war zuviel Aufregung für sie«, sagt meine Schwiegermutter. »Ein langer Flug, ein ganz neues Bett, eine alte Nana, die die Hände nicht von ihr lassen kann. Natürlich ist sie müde.«
»Charlotte hat nicht so viel geschlafen, als sie hier war.«
»Charlotte war ein Quirl. Du kannst die beiden nicht miteinander vergleichen.«
Sie schläft und schläft. Ich wecke sie, um sie zu stillen, und als sie fertig ist, gebe ich sie Paul. Er läßt sie mit dem Bauch auf seiner Handfläche fliegen. Sie gleitet über seinen Kopf und ist ein wenig verwirrt, aber nicht beängstigt. Er hält an, als sie auf seiner linken Seite ist und sagt wie Tante Margie: »Kinder sind heutzutage einfach nicht gut. Rauchen Marihuana-Zigaretten. Machen Unfälle mit teuren Autos. Wir hatten überhaupt keine Autos, und es war auch in Ordnung, Paul. Ein Mädchen ging zu einem Rendezvous, und wenn es zu Ende war, brachte er sie geradewegs nach Hause, und damit hatte es sich. Heute hört man, daß diese Jungen zum Militär gehen und als Drogensüchtige zurückkommen.«
Meine Schwiegermutter ist geistig noch fast genauso wie als Neunzehnjährige. Sie sieht ihm von der Tür aus zu und sagt: »Was machst du da, du Verrückter?«
»Er läßt sie fliegen«, sage ich.
»Du quälst sie — ich schwöre euch, ihr beiden habt dieses Baby gar nicht verdient. Sieh mal, Paul, sie ist so müde, daß sie ihre Augen verdreht. Seid nicht so gemein, laßt sie ihr Schläfchen halten.«
Ich stehe hinter Paul und sehe, daß sie recht hat, daß Rachel die Augen verdreht wie ein Betrunkener. »Gut«, sage ich und strecke meine Arme aus. »Wir werden sie schlafen lassen.«
Am nächsten Tag gehen wir hinaus, bewaffnet mit einem Lichtschutz und einem Sonnenhut für Rachel. Die Hitze macht ihr nichts aus, auch nicht die Sonne oder unser Gespräch. Sie schläft im Wagen, während der Überraschungsparty, die wir für Pauls Vater geben, und in der Trage, als wir später zum Strand gehen. Sie schläft, als Charlotte, die nackt vor uns herumläuft, von einem Polizisten der Erregung öffentlichen Ärgernisses beschuldigt und gewarnt wird, daß sie eingesperrt würde, falls sie das noch einmal täte, und während des langen Besuchs bei Pauls Neffen. Überall, wo wir hingehen, hören wir dasselbe. Was für ein gutes Kind. Ein Engel. Eine Puppe. Der Tag ist so erfreulich und daß sie schläft, so bequem, daß ich vergesse, was mir den Tag zuvor noch Sorgen gemacht hat. Am nächsten Tag, als ich aufwache und sie nicht, fällt es mir wieder ein.
Paul und ich leihen uns die Fahrräder meiner Schwiegereltern und radeln durch die Umgebung. Überall, wo wir hinkommen, sind die Häuser schön herausgeputzt. Wein klettert an Garagenwänden hoch, Stechpalmen zieren Rasen. Vor vier Reihenhäusern stehen hölzerne Enten, deren Flügel sich im Wind bewegen, Gänseblümchen stechen von dem Rasen vor drei Reihenhäusern ab. Paul hält bei dem Immobilienbüro und holt einen Schlüssel für ein Modellbaus. Brise des Ozeans ist heute geöffnet. Wir stellen unsere Fahrräder davor ab und gehen hinein. Es ist kalt und riecht wie in einem neuen Auto. Paul öffnet Schränke mit Jalousientüren, klopft auf Wände aus Fiberglas und studiert ein sehr echtes Stück Plastikkäse. »Jarlsberg«, sagt er und stellt ihn neben den Lauch aus Gummi.
Das Schlafzimmer hat weiße Plüschvorhänge und ein riesiges mit Chintz bedecktes Bett. Die Lampen haben Füße, die wie gigantische Gummibälle aussehen, Paul legt sich aufs Bett. »Nicht schlecht«, sagt er und streckt die Hände nach mir aus.
Wir schmiegen uns aneinander, alte Liebende in ihrem Rentnerheim. Diese vertraute Haut; meine Glieder verflechten sich so eng mit seinen wie Puzzlestücke. Ich fühle mich, als wären wir schon fünfzig Jahre verheiratet, als ob unser gemeinsames Leben schon viel länger wäre als die Zeit, die wir allein gelebt haben — das Alter dauert um so viel länger als die Kindheit. Ich kenne seinen Körper wie meinen eigenen, das Muttermal auf seinem Arm, das ihn als Kind so selbstbewußt machte, der blaue Punkt dort, wo er einmal mit einem Füller gestochen worden war, die spinnwebenartigen Venen hinter seinen Knien. Ich berühre seine alten Schultern und seinen Rücken, lasse eine Hand zwischen seinen alten Oberschenkeln, spüre seinen alten Mund an meinem. Bleib bei mir, denke ich. Ich weiß nicht mehr, wie es ist, allein zu leben.
Wir hatten vor, einen späten Flug zu nehmen, um den Tag noch gemeinsam verbringen zu können, aber das Wissen, daß wir abfahren, macht es uns unmöglich, irgend etwas anderes zu tun, als uns fertig zu machen. Stunden vor dem Abflug sind unsere Koffer schon aufgereiht, und meine Schwiegermutter fragt mich, ob ich alles habe.
Ich knie mich hin, hebe die Polster von der Couch hoch und schaue unter Stühle, während Rachel in den Armen ihrer Großmutter liegt. Charlotte macht mein Spiel mit, und zusammen fördern wir einen Puppenschuh, ein zerrissenes Haarband, einen Strumpf, der wahrscheinlich Paul gehört, und ein Buch mit dem Titel Mr. Nosy zutage. Die ganze Zeit, während ich suche, fühle ich die Angst in mir, hart und kantig. Ich hätte mehr reden, lebendiger sein, mir das Flußpferd ansehen sollen. Ich hätte meine Liebe zeigen sollen, denn wer weiß, ob wir uns nächstes Jahr wiedersehen werden.
Unser Abschied geht schnell. Ich möchte etwas sagen, aber meine Gefühle sind nicht ganz klar, sie ruhen noch tief in meinem Gedärmen, sind mir nicht bewußt. Als ich mich umdrehe, bevor ich ins Flugzeug steige, um ein letztes Mal zu winken, stehen meine Schwiegereltern Hand in Hand weit weg und sehen mich nicht.
An diesem Abend kommen wir spät zu Hause an, ziehen unseren schlafenden Kindern die Kleider aus und die Schlafanzüge über ihre Glieder, die so schlaff sind, als wären sie aus Gummi. Paul dreht die Dusche auf, und ich gehe hinauf in mein Arbeitszimmer.
Auf dem Regal über meinem Schreibtisch befindet sich eine Zeitschrift über kindliche Entwicklung, die man mir im Krankenhaus gegeben hat. Zwischen den Anzeigen für Babynahrung und Windeln und Fotos von großäugigen Babys sind Entwicklungstabellen. Ich finde die Tabelle für Babys von zwei Monaten und gehe schnell die Spalten durch. Schaut unbestimmt in die Umgebung…fixiert den Blick auf zwei Gegenstände, die ihm gezeigt werden…Folgt sich bewegenden Personen mit den Augen…
Die Bodendielen knistern unter mir. Paul ruft leise nach mir. Da ist noch eine Sache, die ich prüfen muß, bevor ich nach unten gehe, ein Tagebuch, das ich über Charlotte geführt habe, eine Auflistung von ganz gewöhnlichen Dingen, das erste Lachen, der erste Zahn, das erste Wort. Ich höre seine schweren Tritte, als er sich die Treppe hinaufarbeitet, und finde: »Charlotte mit elf Wochen und zwei Tagen…«
Er bleibt in der Tür stehen und fragt: »Was ist los?«
Ich lese: »Sie liegt jetzt neben mir, strampelt und windet sich, ihre Arme schlagen herum, sie ist keine Sekunde ruhig. Wenn sie aufgenommen werden will, ruft sie nach mir und breitet die Arme aus…«
Paul kommt zu mir und blättert um.
»Wenn ich sie stille, schaut sie mich mit diesen großen blauen Augen an und grinst mich zahnlos an, ihr ganzer Körper ist dabei in Bewegung. Ich liebe sie so sehr«, lese ich weiter.
»Mit Rachel stimmt etwas nicht«, sage ich.
Die Zeit, in der wir etwas wußten und doch nicht wußten, ist vorbei.
»Ja«, sagt er.
Die Diagnose
2. Dezember
Es war ein Dienstagabend, als witvon Florida zurückkehrten und diese Eintragungen in meinem Tagebuch durchlasen. Jetzt, an einem Donnerstagmorgen, sitzen wir im Wartezimmer eines Neuro-Ophthalmologen, der mir im Laufe eines kurzen Telefongespräches dreimal gesagt hat, daß sein Honorar sehr hoch sei (was es auch tatsächlich ist). Sechsunddreißig Stunden sind zwischen dem Zeitpunkt vergangen, zu dem Paul und ich den Bescheid erwarteten, und dem tatsächlichen Termin.
Sechsunddreißig Stunden sind nichts im Vergleich zu einem ganzen Leben. Aber während dieser sechsunddreißig Stunden hatte ich einen Säugling zu versorgen, dessen Augen in den Höhlen zitterten. Dies war plötzlich ganz offensichtlich, und ich konnte es nicht fassen, daß ich mir gestattet hatte, mit so lange etwas vorzumachen. Ich hatte im Merck-Manual einen Namen für dieses Symptom gefunden — denn das war es: ein Symptom — und eine Auflistung möglicher Ursachen, die fast alle erschreckend waren. Nystagmus — »Rhythmische Schwankungen der Augen…« Mein Mut stieg und sank wie eine Welle in stürmischer See. Ich war benommen vor Angst, dann zuversichtlich, daß alles mit ihr in Ordnung sein würde, dann wieder benommen. In diesen Stunden gab ich mich einigen gräßlichen Szenarien hin. Die meisten basierten auf der Aufzählung möglicher Ursachen (»Im-allgemeinen läßt ein Nystagmus…auf eine Funktionsstörung im Stammhirn schließen…«), aber am Ende stellte ich mir jedesmal den Arzt vor, wie er mir erzählte, daß, obwohl die Dinge schlecht ausgesehen hätten, am Ende alles gut werden würde. Er würde mir auf die Schulter klopfen und sagen: »Die ganzen Sorgen haben Sie sich umsonst gemacht«, was man mir schon oft gesagt hat. Trotzdem war es schwer, meinen Phantasiemann dies sagen zu lassen, denn in mir steckt ebenso ein Pessimist wie ein Optimist, und ich mußte eigentlich auch in meinen Vorstellungen beide Möglichkeiten berücksichtigen.
Paulund ich brachten Charlotte am Donnerstagmorgen zur Schule und kämpften uns dann durch den Straßenverkehr nach New York. Das Krankenhaus lag in einem Stadtteil, in dem ich selten gewesen war, und als wir in dem Viertel ankamen, war ich überrascht, wie riesig der Komplex der langen, schlichten Gebäude war: Wahrhaft eine Stadt in der Stadt, und doch von ihr getrennt, so wie der Vatikan von Rom getrennt, aber gleichzeitig in ihm enthalten ist. Paul und ich parkten in einer Krankenhausgarage, dann folgten wir den Pfeilen zu dem betreffenden Gebäude. Wir gingen unter einem Gerüst hindurch und dann hinaus ins strahlende Sonnenlicht. Von dem Gebäude auf der anderen Straßenseite blickten wasserspeiende Figuren auf uns herunter, deren Münder sich zu »Os« formten. Auf den Gehsteigen bewegten sich hektisch Männer und Frauen, die Ausweise mit Fotos trugen, die an ihre Jacken geheftet waren: Jeder hatte zwei Gesichter.
Das Wartezimmer des Arztes ist ein schummriger Korridor mit zwei braunen Plastiksofas und einem Beistelltisch sowie einem Stoß Studentenmagazinen, deren Ränder von der dauernden Lektüre gänz weich sind. Eine Sekretärin mit einer kunstvollen Halbbrille hört Muzak aus ihrem Transistorradio und tippt ununterbrochen. Es ist nicht wie im Wartezimmer eines Hausarztes, wo die herumsitzenden Leute Schnupfen haben oder Warzen, die ausgebrannt werden müssen. Mit den Leuten, die hier sind, stimmt wirklich etwas nicht. Während der zwei Stunden, die wir warten, bin ich dauernd am Grübeln. Was ist mit der Frau mit der dunklen Brille los, die in diesem stickigen Zimmer ihren Pelzmantel um die Schultern hüllt? Und dem Mann, auch er mit dunkler Brille, der ihr ab und zu auf Deutsch etwas zuflüstert — ist er auch ein Patient? Uns gegenüber sitzt ein junges Paar, das gekleidet ist, als ob wir uns noch immer in den sechziger Jahren befänden: er mit einer Fransenjacke und sie mit einem perlenbesetzten Stirnband. Sie fragen sich gegenseitig aus, um für irgendeine Prüfung zu lernen, und unterbrechen dies nur für langsame Küsse. Was stimmt hier nicht, und mit wem?
Wir werden als letzte hineingerufen. Dr. Hines ist ein großer, knochiger Mann mit glattem schwarzem Haar, das wie eine Kappe aussieht, und ausgehöhlten Wangen. Er trägt ein weißes Hemd und eine burgunderfarbene Krawatte, die mehrfach mit dem Kopf eines Setters bedruckt ist. Er geht in sein vollgestopftes Büro, die Hände in den Taschen seiner weiten Hosen, und wir gehen hinterher. Rachel schläft in der Trage an Pauls Brust. Sie ist die einzige, die ihren Frieden hat.
»Sie ist also zwei Monate alt, und Sie haben bemerkt, daß etwas nicht stimmt, als —«
»Vorige Woche«, sage ich, »aber Paul machte sich schon vorher Sorgen. Sie schaut uns nicht an und zeigt keinerlei Interesse an Spielsachen. Und sie schläft fast den ganzen Tag.«
»Wir haben sie Fräulein Argwohn genannt, weil sie nie etwas mit den Augen fixiert hat«, sagt Paul.
Wir lachen beide, schauen einander schuldbewußt an, dann schweigen wir.
Die Rolladen sind staubig. Auf dem Fensterbrett sind Mikroskope aufgereiht. Entlang der Breitseite des Zimmers stehen Regale, deren Bretter sich vom Gewicht schwerer schwarzer Lehrbücher durchbiegen. Der Schreibtisch des Arztes ist breit und aus schwarzem Holz. Ein Lederbecher enthält Federn, eine dazu passende Ablage ist voll Papier. In einem Lederrahmen befindet sich das Foto eines hübschen Mädchens mit einer Wollmütze, das neben einem Paar Skiern posiert.
»Ich dachte, daß alle Babys in den ersten paar Monaten eigentlich nur trinken und schlafen. Ich meine, ich habe eine vier Jahre alte Tochter, und als ich versuchte, mir ihre ersten Wochen ins Gedächtnis zurückzurufen, konnte ich mich nicht erinnern, daß sie tatsächlich etwas getan hat. Man vergißt es«, sage ich, während ich mich dem Foto von dem Mädchen mit den rosigen Wangen und der blauen Skimütze zuwende. »Es geht so schnell, wirklich, und sie machte überhaupt keine Umstände, sie aß brav, sie schlief gut und machte kaum einmal Theater. Aber dann fand ich eine Entwicklungstabelle in einem Magazin und eine andere Zeitschrift, die ich abonniert hatte, als meine ältere Tochter noch ein Baby war, und —«
»Geben Sie sie mir.«
Paul öffnet die Reißverschlüsse an der äußeren und inneren Tasche der Trage und nimmt Rachel heraus. Sie schläft und verharrt in ihrer fötalen Haltung, als er sie dem Arzt gibt — ihre Knie sind angezogen, die Arme abgewinkelt nebeneinander und die Fäuste nahe am Gesicht. Dr. Hines hält sie unter den Armen, und sie wölbt ihre Unterlippe vor, als ob sie schreien wollte. Er ist ein großer Mann, und seine Hände umfassen ihren Körper. Er wartet, bis sie aufwacht. Dann hält er sie in Armlänge von sich, wie es etwa eine Tante Margie machen würde, und wirbelt sie im Zimmer herum. Er verlagert sein Gewicht auf seine Fersen, und sie drehen sich ein paarmal herum. Er ist ein freundlicher Vater und betreibt dieses Spiel aus Spaß. Mach es gut, beschwöre ich sie, als ob sie die Macht hätte, an ihrem Schicksal etwas zu ändern. Mach es gut!
Jetzt hat er ein zweites Spiel. Er bittet Paul, sie auf seinen Knien zu schaukeln, während er einen roten Stoffstreifen schwenkt, auf dem sich zwischen roten Flicken Quadrate mit Bildern befinden. Ich bemühe mich herauszufinden, was sie darstellen, und sehe…Mickymaus. Ist das möglich? Er schwenkt den Streifen horizontal und vertikal, er bewegt ihn fortwährend. Er ist ein Zauberer, und der Stoff wird sich in eine Taube verwandeln. Dr. Hines wird applaudieren, die Taube wird gurren, und wir werden uns bedanken und nach Hause gehen. »Die ganzen Sorgen waren umsonst…«
Dr. Hines macht weiter. Seine hübsche Tochter lächelt. Paul hustet.
»Ich brauche jemanden, der sie hält, während ich ihr Tropfen eingebe. Sie wird es nicht mögen, aber ich verspreche Ihnen, daß es ihr nicht weh tun wird. Wollen Sie es tun?« bittet er mich. Es ist das erste Mal, daß er meine Anwesenheit zur Kenntnis nimmt.
»Besser ich«, sagt Paul.
Ihr Schrei läßt mich erstarren, und mir wird eiskalt. Es hört und hört nicht auf, bis ihre Stimme heiser und zittrig wird. Die Wände schwanken, die Mikroskope bewegen sich langsam »Wir tun ihr nicht weh«, murmelt Dr. Hines. »Wir tun ihr nicht weh, sie hat bloß Angst.«
Das Geschrei geht weiter und weiter, bis alles in mir zittert, Zähne, Herz, Knie. Ich habe meine Arme verschränkt, um mich zu beruhigen, und ich spüre, wie sich meine Nägel ins Fleisch bohren. Ich will hier nicht so dastehen, unfähig zu helfen, während sie schreit. Als die Tropfen drinnen sind, versucht Dr. Hines, ihre Augen mit einem Ophthalmoskop zu untersuchen. Seine Hände sind groß, und ihre Augen sind klein. Sie dreht sich auf dem Tisch herum und preßt ihre Augenlider zusammen. Es scheint, daß er sein Instrument nicht in Stellung bringen kann. Über ihr Geschrei hinweg schwört er, daß es ihr nicht weh tun wird.
Plötzlich ist sie still. Ich schließe meine Augen und höre das Rattern der elektrischen Schreibmaschine im Wartezimmer. Ich stelle mir Rachel vor, wie sie in einigen Jahren sein wird: ein kleines Mädchen mit mandelförmigen Augen, dessen Haar noch immer schwarz und glatt ist. Sie ist in einen roten Schneeanzug gepackt und läuft hinter mir her, weil sie draußen spielen will. »Deine Mütze!« sage ich, obwohl sie sie bereits auf dem Kopf hat. »Deine Mütze!« wiederhole ich mit zorniger Stimme, weil ich sie für einen Augenblick in den Armen halten will, und dies sonst nicht möglich ist. Ich stelle mir vor, wie sie sich windet, während ich ihre Haare unter die Krempe stecke und sie überall hinschaut, außer auf mich. »Früher einmal hatten wir Angst um dich«, erzähle ich ihr. »Du warst sehr klein, und wir dachten, du könntest nicht sehen.«
»Schauen Sie«, sagt Dr. Hines. »Eine Pupillenreaktion. Sehen Sie, wie sie auf das Licht reagiert?«
»Das bedeutet, daß der Schaden weiter hinten liegt«, sagt Paul.
Weiter hinten bedeutet im Gehirn. Die Bücherregale hängen durch. Der Schreibtisch ist überhäuft mit Papieren, die Decke vom Alter vergilbt. Wenn ich darüber nachdenke, was ich mir in früheren bangen Augenblicken gewünscht habe — daß mich ein Junge mögen, daß ich einen Test bestehen, einen Bus erwischen oder einen Sitz in einem vollen Kino ergattern würde. Wenn ich nur all das zurückgeben könnte, und mein Kind wäre dafür gesund.
Dr. Hines läßt Rachel bei Paul und kommt einen Augenblick später mit einer zierlichen jungen Frau im Laborkittel zurück, einer Dr. Irgendwer, kaum eineinhalb Meter groß, mit kleinen Händen. Rachel hat mit dem Gebrüll aufgehört und keucht verkrampft. Während Paul sie hält, untersucht die Frau ohne Probleme ihre Augen. Obwohl sie versucht, vor uns ein düsteres Gesicht zu machen, erinnert sie mich an einen Mykologen, der gerade einen seltenen Pilz ausgegraben hat.
»Sie können sie jetzt nehmen«, sagt Dr. Hines.
Paul gibt sie mir. Ihre Augen sind rot und ganz verquollen, und sie bekommt keine Luft. Ich streichle ihren Kopf, bis das Keuchen nachläßt.
Ich liebkose sie noch immer und bin gänzlich damit beschäftigt, sie zu beruhigen, als ich bemerke, daß der Arzt mit Paul redet. »— man nennt es Sehnervhypoplasie. Ihr Sehnerv konnte sich nicht vollständig entwickeln.«
»Sie ist also blind«, sagt Paul.
Blind.
»Die Entwicklung dauert an, bis das Kind ungefähr neun Monate alt ist. Es ist deshalb schwierig vorauszusagen, ob sie ein Sehvermögen haben wird, und wenn sie eines hat, wie groß das sein wird. Es könnte sein, daß sie Licht und Schatten sieht, vielleicht aber auch nicht, obwohl die Pupillenreaktion vermuten läßt, daß wir soviel erhoffen können.«
»Wird sie imstande sein, zu lesen?« frage ich.
»Ich habe nicht brauchbares Sehvermögen gesagt — ich sagte Sehvermögen — Licht und Schatten. Ich würde das an Ihrer Stelle nicht geringschätzen. Eine Lichtwahrnehmung zu haben, ist schon sehr hilfreich.«
»Wird das im Laufe der Zeit wieder vergehen?« fragt Paul.
Dr. Hines scheint es leid zu sein, diese einfache Sache noch einmal zu erklären. Er schließt die Augen und sagt mit kaum verhüllter Verärgerung: »Es ist ein konstanter Zustand, der sich weder verbessert noch verschlechtert —«
Man kann nichts tun. Es gibt keine Medikamente, keine Operationen, keine Therapien, überhaupt keine Heilverfahren.
»Aber es tritt einfach so auf?« frage ich. »Es gibt keine anderen —«?
Ich suche noch nach einem passenden Wort, als er den Kopf schüttelt und fragt: »Gibt es in Ihrer Familie jemanden, der Sehprobleme hat?«
»Sie ist kurzsichtig, und ich bin weitsichtig. Außer dieser Art von Problem nichts«, sagt Paul.
»Wir ließen eine Amnio —«
»Es ist keine genetische Störung, es ist ein angeborener Defekt. Etwas, das während der Entwicklung passiert ist.«
»Was?« frage ich.
Er schaut mich an, dann wendet er sich wieder an Paul. »Bestimmte Studien legen einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von Chinin oder Entkrampfungsmitteln seitens der werdenden Mutter und der Sehnervhypoplasie nahe. Hat sie während der Schwangerschaft irgendwelche Medikamente eingenommen?«
Sie. »Nein«, sage ich. »Nicht einmal ein Aspirin.«
»Irgendeine Krankheit während der Schwangerschaft?«
»Nein.«
»Sie hatte eine Erkältung an Neujahr«, sagt Paul, während er sich mir zuwendet. »Du bist Langlaufen gegangen und hast deine Thermosachen nicht ausgezogen, erinnerst du dich?«
Dr. Hines fährt mit einem Finger über die Einbände mehrerer brauner Bücher. Mir ist, als hätte Paul mir einen Schlag versetzt.
»Erkältungen werden nicht durch feuchte Unterwäsche verursacht«, sage ich.
Hines schlägt ein Buch auf seinem Schreibtisch auf. »Vielleicht war es bloß ein Unfall in der Entwicklung — solche Dinge passieren.« Er klopft mit seinem knochigen Zeigefinger auf das offene Buch. Auf der linken Seite sind zwei Fotografien. Auf einer ist ein gesunder Sehnerv zu sehen: blaß, geädert, rötlich. Auf der anderen umgibt ein dunkler Hof die Helligkeit. Ergibt uns Zahlen an, die sich auf Rachel beziehen. In einem Auge ein Drittel gesundes Gewebe, im anderen die Hälfte.
Rachel atmet kaum merklich in meinen Armen. Ihre Verletzlichkeit erschreckt mich, und ich halte sie so fest, daß meine Arme zittern. Ich will Dr. Hines fragen, worüber er spricht, aber ich kann die Worte nicht formulieren. Und er ist eindeutig in Eile, seine Worte überschlagen sich, als hätte er Angst, nicht rechtzeitig mit uns fertig zu werden. Er schiebt uns zur Tür, während er spricht. Vielleicht ist es unabsichtlich, aber es hat den Effekt, daß ich mir denke, meine nächste Frage sollte besser eine gute sein, weil sie sicherlich die letzte sein wird.
Er sagt zu Paul, daß er uns an einen Neurologen überweisen will, der Rachel untersuchen und eine Computertomographie veranlassen wird, die, so hoffe er, die geringe Möglichkeit, daß ein Gehirntumor ihre Probleme verursacht, ausschließen wird. Gleichzeitig wird man sie einem Reiz-Reaktions-Test unterziehen, der klären wird, ob wir auf Sehkraft hoffen können oder nicht.
»Was können wir tun?« Ich stelle meine letzte und wichtigste Frage.
»Wo, haben Sie gesagt, sind Sie zu Hause? In New Jersey? Sie sollten mit einem Sozialarbeiter von der Kommission für Blinde Verbindung aufnehmen.«
Er begleitet uns zur Tür. »Es tut mir leid«, sagt er.
Paul lacht. »Oh, wir werden den Übermittler der Nachricht nicht erschießen.«
Sie schütteln einander die Hände. Paul läßt Rachel in die Babytrage gleiten und geht hinaus. Dr. Hines schiebt sich an mir vorbei und nimmt einen Kassettenrecorder aus einer Schreibtischschublade.
»Viel Glück«, sagt er zu mir.
Ich bin noch in seinem Büro, als er bereits in sein kleines Mikrophon spricht. »Rachel Glynn, zwei Monate altes Mädchen. Keine Anhaltspunkte für visuelle Reaktionsfähigkeit, außer daß sie bei strahlendem Licht regelmäßig die Augen schließt…«
Die Frau im Pelzmantel steht auf, als ich ins Wartezimmer komme. Der Junge hat rote Augen, und im Vorbeigehen sehe ich, daß er geweint hat. Seine Freundin umarmt ihn und flüstert ihm etwas ins Ohr. Sie versucht, ihn zu trösten.
Er wird blind sein, denke ich mir, als ich rausgehe. Er ist so jung und wird bald blind sein.
Ich schließe die Tür des Wartezimmers und finde mich in einem leeren Vorzimmer wieder, das sich die anderen Ärzte des Krankenhauses teilen. Außer einem Wächter an der Tür ist niemand da. Ich kann Paul nicht finden. Ich gehe an mehreren Türen mit Namensschildern vorbei und stoße auf die Toiletten und einen Brunnen. Der Schreibtisch des Arztes mit den Rollos taucht vor mir auf, das Foto von dem rosawangigen Mädchen mit den Skiern, die Diagnose, die bestimmt und deutlich war. Meine Tochter ist blind. Vor diesem haben schon andere Ereignisse mein Schicksal verändert — Tod, Heirat, die Geburt meines ersten Kindes —, aber noch nie zuvor habe ich mit einer solchen Sicherheit gefühlt, daß ich von diesem Moment an ein anderer Mensch sein würde, für immer getrennt von meiner Vergangenheit.
Pauls Gelächter hallt durch den leeren Raum und führt mich zu ihm. Er steht mit dem Hörer am Ohr an einer Wand mit Telefonen. Sein Gesicht ist gerötet. Wohl von einem Witz, den er gehört hat. Er hustet und lacht, und Rachel stemmt sich gegen seine Brust, ohne aufzuwachen. »Ich würde es dir sagen, wenn es ein Problem wäre, aber es ist keines. Ich komme auf dem Heimweg sowieso praktisch an deiner Haustür vorbei.«
Er hängt auf und dreht sich zu mir um.
»Das war Ron. Ich habe gerade versprochen, ihm einige Nachdrucke zu bringen.«
Seine Augen sind klar. Ist es möglich, daß er nicht gehört hat, was Dr. Hines gerade gesagt hat?
»Warum hast du mich verlassen?«
»Dich verlassen? Ich bin doch hier.«
Er hebt seinen Aktenkoffer auf und geht los. Kaum zu glauben, die Akustik hier. Es ist der widerhallende Raum, der widerhallende Raum, der widerhallende Raum.
Ich weiß nicht, in welche Richtung ich mich bewegen oder was ich tun soll. Als Paul losgeht, gehe ich ihm nach und bin dankbar, daß er uns anführt. Er zögert an der Tür und sieht mich an.
»Was sollen wir tun?« frage ich.
»Heimgehen? Ich weiß es nicht. Wir sollten aber Charlotte nichts sagen. Das hat keinen Sinn, zumindest nicht sofort.«
»Aber sie wird Bescheid wissen. Sie wird uns nur einmal ansehen und sofort bemerken, daß etwas passiert ist.«
»Sag ihr nichts«, wiederholt er hartnäckig. »Nicht, bis die Tests vorbei sind.«
»Was soll sich mit den Tests ändern?«
»Wir haben bis jetzt keine Fakten«, fährt er fort. »Aber nach den Tests können wir etwas sagen.«
Wir verlassen das Gebäude in Richtung Parkplatz. Als wir den Hügel davor erreichen, rennt Paul plötzlich davon — kilometerweit, wie mir scheint. Ich beobachte, wie die Frauen den Kopf verdrehen, als sie an ihm vorbeigehen und ihre Augen auf das schlafende Bündel auf seiner Brust heften. Ah, so süß! Am Fuß des Hügels wartet er auf mich. Und als ich ihn eingeholt habe, meint er: »Laß uns einen Kaffee trinken.«
»Hier?«
»Hier.«
Wir stapfen den Hügel wieder hinauf und gehen die Allee entlang. Trostlose Ziegelbauten erheben sich rund um uns, aber an der Allee sind kleine Läden — eine Reinigung, ein Gemüsegeschäft, ein Schuhladen, eine Bar —, die beweisen, daß in der Krankenhausstadt Menschen leben. Wir machen an einem Café halt. Es ist ein schmaler Raum mit einer Theke, die eine Längsseite eihnimmt, auf der anderen Seite befinden sich kleine Nischen. Das Lokal ist voll mit Krankenhausangestellten, die ihre zweiten Gesichter auf ihren Taschen angesteckt haben. Eine verschrumpelte Kellnerin in ländlicher Tracht mit einem niedrig geschnittenen Mieder, das sie bis zur Taille geschnürt hat, Puffärmeln und einem weiten Rock führt uns zu einer Nische. »Was für ein süßes Kerlchen«, sagt die Kellnerin, während sie uns zwei Speisekarten hinwirft. Ihre Brüste wackeln wie Pudding.
Paul gibt mir eine Speisekarte, ein riesiges, vierseitiges Buch mit Kunstledereinband.
Kühl, cremig, brutzelnd, gebacken, gegrillt, gekocht aus unserer Speisekammer. Ich schaue auf die Bilder in der Speisekarte und denke daran, wie distanziert Paul Rachel gegenüber ist, wie leer seine Gebärden aussehen, sogar jetzt, da er sie im Arm hält. Ausgeschlossen, ich kann nichts essen. »Was bekommen Sie?«
»Kaffee.«
»Bringen Sie zwei«, sage ich zu der Kellnerin, die plötzlich aufgetaucht ist.
»Bestell dir irgend etwas, sonst wird dir deine Milch austrocknen, bestell einen Käsetoast und Milch, okay?« sagt Paul.
Ich denke daran, wie er Rachel herumgewirbelt hat, immer auf die linke Seite, damit es den Anschein hatte, sie würde ihn anschauen. »Dann bestellst du dir auch etwas, ich kann nicht alleine essen. Ich kann einfach nicht.«
»Aber dir macht es doch Spaß, alleine zu essen. Du hast mir einmal erzählt, das wäre eine der großen Freuden im Leben.«
»Heute ist nicht immer. Heute werde ich nicht imstande sein zu essen, wenn du nicht mitißt. Es ist mir peinlich, daß ich so bin, aber ich weiß einfach, daß es stimmt.«
»Zwei Käsetoasts, eine große Milch, einen Kaffee«, sagt er zur Kellnerin.
»Zwei Milch«, sage ich zu ihr.
»Wie alt ist das Baby?« fragt sie.
»Zwei Monate. Eine Milch bitte klein, geht das?« antwortet Paul.
»Nein, beide«, sage ich.
Die Kellnerin beugt sich vor, um Rachels Wange zu berühren. Ich unterdrücke ein Verlangen, sie zu uns in die Nische zu ziehen, damit sie uns Gesellschaft leistet. Aber sie verläßt uns, und so bleiben nur wir beide, und zwischen uns die Blindheit unserer Tochter.
»Bitte sag etwas zu dem Ganzen!« dränge ich ihn.
»Die Amniozentese hat mich von vornherein beunruhigt. Ich hatte ein ungutes Gefühl, als dabei Blut kam.«
»Warum hast du von meiner nassen Unterwäsche angefangen?«
»Er fragte, ob du krank gewesen bist, oder etwa nicht? Er fragte, und ich dachte angestrengt darüber nach, weil wir alles darüber herausbekommen müssen.«
»Daß ich krank war, hatte überhaupt nichts mit meiner nassen Unterwäsche zu tun.«
»Sieh mal! Er fragte: ›War sie krank während der Schwangerschaft?‹ Und ich erinnerte mich daran, daß wir Skifahren waren und du deine langen Unterhosen nicht ausgezogen hast und danach krank wurdest. Okay? Also, da ist unsere Milch —«
Ich hebe mein Glas und warte. Widerwillig hebt er seins. Erst als ich sehe, wie sich sein Adamsapfel bewegt, nehme ich den ersten Schluck.
Wir halten uns in dem Café auf, bis wir die einzigen Gäste sind. Wir wollen beide nicht nach Hause gehen, obwohl keiner von uns es laut ausspricht. Unsere Kellnerin sitzt mit einem Teller Reispudding am Tresen und scherzt mit dem Mann dahinter. Sie ist alt, zumindest sieht sie alt aus. Daß man sie veranlaßt hat, sich dieses ländliche Kostüm anzuziehen, kommt einem grausam vor. Ich beobachte, wie sie ihren Hals verrenkt, um ihr Spiegelbild zu erhaschen. Sie scheint über das, was sie sieht, nicht bestürzt zu sein. Sie schüttelt ihr blondes Haar, steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen und sagt: »Gib mir ‘n Zündholz, Joey.«
Paul zieht einen Füller aus seiner Brusttasche und zeichnet den Querschnitt eines Auges auf eine Serviette. Er ist wieder er selbst, während er auf die durchsichtige Hornhaut und die Linse zeigt, die zwei Teile, die dazu dienen, Bilder auf der Netzhaut im hinteren Teildes Auges abzulichten. Die Netzhaut besteht aus Reizempfangszellen, den Stäbchen und den Zäpfchen, die das Licht aufnehmen, und, nahe an der Oberfläche, aus Gariglienzellen, die von ihnen stimuliert werden. Bei normaler Entwicklung bilden die Ganglienzellen lange, dünne Fortsätze aus, die man Axone nennt und welche entlang der Oberfläche der Netzhaut, durch die Pupille und hinauf zum Gehirn gehen. Die Summe all dieser Axone, die vom Auge bis zum Gehirn reichen, nennt man den Sehnerv. Was Dr. Hines in Rachels Augen gesehen hat, ließ vermuten, daß der Sehnerv unterentwickelt ist und daß ungefähr zwei Drittel der Axone in einem Auge und die Hälfte im anderen fehlen. Das Fehlen der Axone bedeutet, daß die Informationen in diesem Teil der Netzhaut nicht vom Auge zum Gehirn übermittelt werden.
Die Zahlen lassen mich verstummen. Wenn fünfzig Prozent des Sehnervs in einem Auge existieren, warum konnten wir dann nicht auf etwas Besseres als auf Licht und Schatten hoffen?
»Die Tatsache, daß fünfzig Prozent des Sehnervs existieren — und das ist eine optimistische Betrachtungsweise —, bedeutet nicht, daß fünfzig Prozent der Sehganglien mit dem Gehirn verbunden sind«, sagt Paul. »Aber nimm einmal an, daß sie wirklich volle fünfzig Prozent hat. Dann wäre die Frage, wo sich die Ganglien befinden und ob sie gleichmäßig verteilt sind oder nicht. Kannst du dich an das Bulova-Schild am Times Square erinnern, das mit den Hunderten von kleinen Birnen? Der Mann steigt die Stiegen hoch, eine Uhr tickt, alle diese unterschiedlichen Bilder, ja? Nimm an, daß jemand ein Gewehr nimmt und aufs Geratewohl fünfzig Prozent dieser Birnen zerschießt. Du würdest Licht haben, aber du würdest kein Bild haben. Du hast nur ein Bild, wenn sich die Birnen an einer Stelle häufen.«
»Sie könnten sich bei ihr irgendwo häufen.«
»Sicher. Sie könnte eine Anhäufung von Sehganglien in der Peripherie besitzen und imstande sein, Formen wahrzunehmen, aber sie würde dann immer noch keine Farbwahrnehmungen und kein richtiges Sehvermögen haben. Weil nämlich die einzige Stelle auf der Netzhaut, wo wir Sehschärfe besitzen, die Fovea ist. Und die Fovea macht ungefähr nur 0,1 bis 0,5 Prozent der Netzhaut auf.«
Ein Mann kommt aus der Hintertür, in der Hand eine Spülbürste und einen Eimer mit scharf riechendem, grauem Wasser. Paul nimmt die Rechnung und rutscht aus der Nische. Er sagt, daß er ein Buch aus der Bibliothek braucht, und fragt, ob es mir etwas ausmacht, wenn wir einen Augenblick dort anhalten, damit er es holen kann. Sein Vorschlag gefällt mir. Ich würde überall hingehen, nur nicht nach Hause.
Wir fahren schweigend in die Stadt. Paul parkt verbotswidrig und läßt mich mit Rachel im Auto. Ich presse die Nase an die Scheibe und beobachte das Treiben draußen. Studenten mit Daunenjacken und Rucksäcken aus Colorado gehen in Zweiergruppen vorbei. Ihre Stimmen klingen gedämpft. Nur das Gelächter bahnt sich den Weg durch die Scheibe. Plötzlich denke ich an meine Schwester, die starb, als ich siebzehn war. Ich denke an die Menschenmenge bei ihrem Begräbnis — ihre Freunde, meine Freunde, die Freunde meine Eltern — und an den Rabbi, der um eine Kerze herumging, die dann ausgeblasen wurde, und an Lauras Verlobten, Howie, der einen Ring, den sie ihm gegeben hatte, in die Grube warf, ehe man den Sarg in die Erde versenkte.
Unser Haus war voll in der Woche, als wir Schiwa begingen. Alle kamen mit einer Schachtel Keksen oder einem Tablett voller Essen. Ich unterhielt meine Freundinnen in meinem Zimmer, indem ich ihnen mit leiser Stimme unheimliche Geschichten erzählte, so daß sie nahe bei mir sitzen mußten. Als ich sah, wie meiner besten Freundin, Hinda, unwohl wurde, nahm ich sie zur Seite und täuschte einen hysterischen Anfall vor, damit Sie glaubte, ich würde trauern. (Ich habe getrauert, aber ich wußte es zu diesem Zeitpunkt nicht — ich würde es noch jahrelang nicht verstehen.) Ich erinnere mich, daß ich meine Freundinnen hinunterbrachte, um sie meinem Cousin, Herb vorzustellen, der ein Schuhgeschäft besaß, denn sie trugen nur eine bestimmte Art von Halbschuhen — niemals würden sie andere anziehen —, und diese Halbschuhe waren in der Stadt nicht vorrätig. Als er sagte, daß er sie in seinem Geschäft hätte, schrien sie ihre Bestellungen heraus — Korduanleder, ochsenrot, marineblau, schwarz, 8 medium, 6 AA, 9 — und meine Mutter wandte sich zu ihrer Nichte und sagte: »Wie freue ich mich, sie lachen zu hören.«
Ich erinnere mich an das Schweigen, als die Leute weg waren und wir drei nicht mehr sprachen. Wir standen in der Nacht in unterschiedlichen Abständen auf und bekamen uns nie zu Gesicht. Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf und bemerkte Schritte oder den Schein eines Lichtes, das an- und ausging. Ich konnte ein Glas mit trübem Rand finden, von der Buttermilch, die meine Mutter getrunken hatte, oder Hühnerknochen, wenn es mein Vater gewesen war.
Aber jetzt zu dem, was für mich am schlimmsten war: Es gab eine niedrige Ziegelmauer außerhalb der High-School, auf der ich oft mit meinen Freunden saß. Wir hatten sie in der Unterstufe abgesteckt und das Recht erworben, sie im September, als die Oberstufe anfing, als unsere zu beanspruchen. Es war unser Platz, das Sicherste, was die meisten von uns kannten in einer Welt von sich ständig ändernden Bindungen. Mein Platz war für immer und ewig zwischen Barbara und Robin — bis ich nach Lauras Tod wieder zur Schule ging und feststellte, daß Robin und Barbara nun zusammen waren und daß da kein Platz mehr war. Mir schwindelte vor der auf mich zukommenden Gewißheit, daß ich für meine Freunde nicht mehr länger existierte.
Ich hatte recht, wie sich herausstellte, und deshalb hat, obwohl die Zeit so viele meiner Erinnerungen in Anekdoten verwandelt hat, diese Geschichte noch immer Bedeutung. Ich hatte meinen Freunden Angst eingejagt. Sie, konnten mir nicht ins Gesicht sehen nach dem, was passiert war, und wußten nicht, was sie sagen sollten. Sie hielten im Lachen inne, wenn ich dabei war, und versuchten, aus ihren Gesprächen alle kränkenden Wendungen auszuklammern — zum Beispiel, du bist tot, ich könnte dich umbringen, ich wollte sterben. So gab es, abgesehen von dem Problem, zum ersten Mal ein Einzelkind zu sein und mit trauernden Eltern zu leben, abgesehen davon, daß ich mich damit vertraut machen mußte, daß meine Schwester mit mehreren Messerstichen von einem Typen umgebracht worden war, den sie nie gekannt hatte, noch diesen Verlust all meiner Freunde. Ich konnte mit ihnen zusammen sein — wie ein Gespenst —, oder ich konnte allein sein. In diesem Jahr lernte ich, um wieviel einfacher es ist, allein zu sein.
Die ersten zwölf Tage
20.30 Uhr
Das Haus liegt bei unserer Rückkehr schon im Dunkeln und verströmt einen angenehmen Geruch nach Holz, der von Rattes Häuschen ausgeht. Paul geht zu Rachel hinauf, um ihr die Windeln zu wechseln. Ich denke an das erste Mal, als wir das Haus betraten und wie fasziniert ich von allem war, das nun plötzlich mir gehörte: Gardinen, Fenster, Türen, hölzerne Türklinken, Tassen und Schränke. Ich hatte lange Jahre in einem Apartment gewohnt, so daß ich mich jetzt dabei ertappte, wie ich in all diesen Zimmern herumlief und immer wieder sagte: »All das ist mein!«, als wäre ich die Erbin eines unermeßlich großen Gutes Und nicht die Mitbesitzerin eines schäbigen alten Hauses, das vor fast hundert Jahren für einen Arbeiter und seine Familie erbaut worden war. Ein Ölofen, ein Warmwassererhitzer — alles mein! — ein Sitzbad im Souterrain — ich hatte zuvor noch nicht einmal von einem Sitzbad gehört, und nun besaß ich selber eines. Die Faszination verging nach einem Monat, und ich wurde zur beklommenen Bewohnerin eines Hauses, das zuvor Leuten mit einem großen Köter und einer Vorliebe für verchromte Lichtschalter und senffarbene Wände gehört hatte. Mit allen Veränderungen, die wir vornahmen, wurde das Haus mehr und mehr unseres. Jetzt ist es urplötzlich wieder ihres, und ich fühle mich, als stünde ich in dem dunklen Foyer irgendeines fremden Hauses.
Paul kommt die Treppe heruntergelaufen und bleibt vor mir stehen. »Du brauchst nicht im Dunkeln zu bleiben«, sagt er, als ob ich versuchen würde, in die Welt meiner Tochter zu gelangen. Er macht das Licht an und fragt: »Wo ist Charlotte?« »Bei Lauren Fowler am anderen Ende der Stadt. Paul, ich kann nicht versprechen, ihr nichts zu sagen.«
»Lauren — ist das die Mutter oder die Tochter?«
»Das Kind. Die Mutter heißt —« Janet? Joanne? »Ich kann mich einfach nicht mehr erinnern.«
Eine Minute später höre ich seine Stimme aus der Küche. »Hallo, ist dort Laurens Mutter? Ich glaube, meine Tochter ist bei Ihnen.«
Ich höre, wie er dieser Frau, die wir kaum kennen, etwas über den Verkehr erzählt und ihr sagt, daß alles in Ordnung sei. Dann hängt er auf und verläßt mich.
Als er gegangen ist, setze ich mich in den Raum, den der Immobilienmakler »Solarium« genannt hatte, eine Art Wintergarten, unser Sonnenzimmer. Charlotte hatte gebeten, daß wir es »Familienzimmer« nennen sollten. Ich mache die Lampe an und setze mich in den Schaukelstuhl. An drei Seiten sind Fenster, so daß tagsüber das Zimmer mit Sonnenlicht durchflutet wird. Rachels Kindersitz ist hier und auch unsere Pflanzen, die Stereoanlage und der Schwarzweißfernseher, den ich unter der Woche verstecke.
In der Ecke ist der große Weidenkorb, den wir für Charlottes Spielzeug angeschafft haben. Es ist auch Spielzeug drin: Ich kann einen Kasten Malstifte erkennen, ihr Buch mit Abziehbildern und eine kleine nackte Puppe. Doch sie hat — wie ihr Vater — einen Sammeltick und füllt den Korb auch mit Korken von Sektflaschen, mit Beerenschachteln aus Plastik, Goldbändern, leeren Luftballons, Partyeinladungen, Steinen und Blättern und Blumen, die sie Wochen zuvor gesammelt hat und die zu wertvoll sind, um sich von ihnen zu trennen.
Ratte beobachtet mich von einer Ecke ihres Kastens aus. Ich kann nicht anders — für mich ist sie ein fester Bestandteil aus der Zeit zuvor. Ich werde fast nostalgisch, wenn ich daran zurückdenke, wie mich Paul an diesem heißen Augusttag küßte, die Hände mit der Ratte hinter seinem Rücken, und wie Charlotte mit einer Mischung aus Liebe und Scheu die Treppe heruntergerast ist. Ich möchte Charlotte in meinen Armen halten und habe doch Angst, sie zu sehen, so daß ich, während das Warten unendlich erscheint, gleichzeitig hoffe, daß sie nicht allzu bald kommt.
Ich gehe ins Badezimmer und mache das Licht an. Das Gesicht, das ich im Spiegel über dem Becken erblicke, lächelt nicht, doch das kann sich ändern. Andererseits sieht es recht ruhig aus. Ich sage mir, daß sie in Ordnung sein wird. Kinder sind flexibel sagen das nicht alle? Was die Leute nicht sagen, ist, daß Rachels Leben ganz anders ist, daß sie unwiderruflich aus der Normalität herausgerissen wurde — geradeso wie wir.
Ich stelle mir vor, wie weh mir das getan hätte, wenn ich so viele Jahre mit dem Gefühl, anders zu sein, hätte verbringen müssen. In der sechsten Klasse aß ich Hundekuchen und lernte, mit den Ohren zu wackeln und meine Finger in unmögliche Stellungen zu verrenken. Ich schrieb in Spiegelschrift so gut, daß ich bis heute noch rückwärts wie vorwärts gleich sauber und schnell schreiben kann. In der neunten Klasse trug ich schwarze Strumpfhosen und lange Zöpfe und hielt mich für einen Beatnik, obwohl die Zeit des »Beat« längst vorüber war und ich niemals so richtig wußte, was sie überhaupt bedeutete. Während der Hochschulzeit verbrachte ich meine Wochenenden in dunklen kleinen Dorfkneipen, lungerte mit obskuren Musikern herum, die über Güterwagen, Durst und Roggenwhisky sangen. Zu dieser Zeit dachte ich nicht an die Tausende in anderen Vorstädten, deren Art von Nonkonformität genauso war wie meine. Wenn mir das jemand gesagt hätte, ich hätte lautstark protestiert, denn ich wollte daran glauben, daß mein Weg ein außergewöhnlicher war, daß ich in einer unnachahmlichen Weise mein Leben verbrachte. Jahre davor hatte ich tatsächlich im Sinn gehabt, einmal Kinder zu haben. Ich hatte die Hoffnung, daß mein Kind ein Außenseiter werden würde und dementsprechend sensibel. Das änderte sich, als ich Mutter geworden war— als ich zusah, wie Charlotte vom Spielplatz gedrängt oder von einem anderen Kind gemieden wurde, weil sie das Verbrechen begangen hatte, Jungenkleidung, das heißt marineblaue Hosen, zu tragen. Das machte mir bewußt, wie sehr es schmerzt, ein Außenseiter zu sein und daß ich mir eigentlich für meine Tochter wünschte, daß sie dazugehört, daß sie sich wohl fühlt, daß sie mitten im Leben steht und daß ihr soviel Leid wie möglich erspart bleibt.
Und jetzt kommt sie durch die Eingangstür gerannt, mit Spaghettiresten auf ihrem Kleid. Ihre Brotzeitdose baumelt an ihrem Knie, und die Handvoll Zeichnungen und Zettel, die sie dabei hat, muß ich sofort anschauen. Ich laufe auf sie zu, knie nieder, um sie zu umarmen, und kann ihr nichts sagen. Ich kann es nicht ertragen, sie zu verletzen.
»Hallo, Liebling!« Ich begrüße sie wie immer mit einer Umarmung und einem Kuß.
Sie ist steif in meinen Armen und ihre Überschwenglichkeit plötzlich verschwunden. Sie ist noch zu jung für konkrete Ängste, doch irgendwie weiß sie es bereits.
»Charlotte.« — Mein Herz ist wie ein Hammer, der gegen meine Rippen schlägt. »Rachel kann nicht…, sie kann nichts sehen.«
»Aber wir werden dafür sorgen, daß sie ein schönes Leben hat, nicht wahr?« unterbricht mich Paul. »Wir werden ihr alles von der Welt beibringen, und wenn sie ein wenig älter ist, wird sie mit dir spielen und schwimmen und zur Schule gehen. Und sie wird Freunde haben und glücklich sein…«
»Ich brauche Kekse«, sagt meine Tochter.
Kekse? Warum braucht sie Kekse? Ich muß das sofort herausbekommen, sonst glaubt sie, daß ich sie vergessen habe. Doch schon hat sie sich weggedreht und kaut auf einer Haarlocke herum. Kekse, Kekse…Ja, für den Kindergarten. Diesmal sind wir dran, den Imbiß zu besorgen.
Ich bin so erleichtert, daß ich lachen muß. »Keine Angst, wir werden Kekse besorgen. Ich werde sie kaufen, sobald du im Bett bist. Es wird sich nichts ändern, Liebling, das verspreche ich dir. Du wirst Kekse bekommen.«
»Und keine braunen«, fügt sie im Weggehen noch an.
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Was tust du? Was kommt als nächstes?
Du ißt etwas, liest die Zeitung, putzt die Zähne, gehst zu Bett (Und ist es nicht erstaunlich — deine Tochter ist blind, und du liest einen Artikel über James Watt in der Times, saugst ihn nahezu Wort für Wort in dich, obWohl das nur langsam geht, denn dein Gehirn ist gespalten. Die eine Hälfte nimmt diese Geschmacklosigkeit »zwei Frauen, zwei Juden und ein Krüppel« wahr, während sich in der anderen die Szene beim Augenarzt wiederholt. Und du siehst wieder das Bild deiner hübschen Tochter und hörst seine gereizte Stimme, die zu dir sagt: »Ich habe nicht brauchbares Sehvermögen gesagt…«)
Am Morgen wachst du auf, und noch bevor deine Augen offen sind, erinnerst du dich daran, daß dein Baby blind ist, und weil du zur Zeit so empfindlich bist, kannst du dich auch nicht ablenken oder selbst beschützén. Deine ältere Tochter kommt ins Zimmer und daher stehst du auf, um sie anzuziehen. Und wenn sie einmal besonderen Ärger macht und sie bei einer Temperatur von nur zwanzig Grad ein kurzärmeliges Kleid anziehen will, so unterdrückst du den Drang, ihr die Kehle zuzudrücken und »Halt’s Maul, du dummes Ding, ich kann das nicht ertragen!« zu schreien. Und du läßt sie das Sommerkleid tragen…
»Was ich will…« sage ich zu Paul beim Frühstück und verstumme angesichts der Flut von Wünschen, die ich habe. Was ich für Rachel will, ist, daß sie nicht blind ist. »Was ich will, ist ein ganz normales Leben, wirklich.«
Er antwortet mit einer Andeutung von Nicken und Achselzucken.
»Menschen werden von so etwas überwältigt; sie werden besessen, sie hören auf zu lachen…« Ich erinnere mich an eine Geschichte, die mir meine Mutter erzählt hat, von einer Frau, die gegenüber ihrer Gartenwohnung in Queens lebte und »von Arzt zu Arzt rannte«, um nach jemandem zu suchen, der ihr Hoffnung für ihre Tochter machte, obwohl in Wirklichkeit keine bestand. »Ich möchte mit Charlotte in den Zoo gehen und Urlaub machen und wieder zu arbeiten anfangen. Wenn ich das Gefühl bekomme, daß ich auch noch die Arbeit verloren habe, halte ich es nicht mehr aus. Versprich mir, daß solche Sachen auch weiterhin möglich sind.«
Eine lächerliche Bitte, das begreife ich. Aber er blickt auf, und ich bemerke, daß seine Augen feucht geworden sind. »Wir werden’s schon schaffen, sicher…«
Er nimmt mich in die Arme, und ich fühle wieder Hoffnung. Wir werden’s schon schaffen, ja. Wir werden Freude finden, wo immer sie sein wird, und Charlotte Freude machen, und sicherstellen, daß Rachels Leben erfüllt sein wird. Wir werden unsere Arbeit weitermachen…
»Und mehr Kinder haben«, sagt er. »Versprich mir, daß wir mindestens noch zwei haben werden.«
Solange Rachel noch so klein ist und soviel Zuwendung braucht, kann ich an ein anderes Baby nicht denken. Ich möchte, daß er noch ein bißchen bleibt, und sage daher, »zwei, drei, zwölf, so viele du willst«, nur um ihn bei mir zu halten.
Es funktioniert nicht. Er steht auf und schaut auf seine Uhr. Ich gehe mit ihm in den Flur, wo er sein Jackett, die Schlüssel und die Aktentasche nimmt, und erzähle ihm von Annie, einem blinden Mädchen, die denselben Klavierlehrer hatte wie ich, und wie unabhängig sie war und was für eine unglaubliche Familie sie hatte. Annie hatte ein Schachspiel mit viereckigen und runden Figuren, anstelle von schwarzen und weißen, und Karten mit Blindenschrift in einer Ecke. Sie fuhr Fahrrad in einem Park hinter ihrem Haus, und bei ihrer Geburtstagsparty, zu der ich eingeladen war, gab es eine Schatzsuche, die sie gewann. Sie ging mit Billy Russell spazieren und ließ sich mit ihm fotografieren, was die meisten Kinder sehr komisch fanden, und…
Plötzlich ist er weg, und das scheint so endgültig. Die Tür schlägt zu, die Scheiben klirren, der Motor heult auf. Er wird mindestens zehn bis zwölf Stunden wegbleiben, er läßt mich allein mit ihr, sie ist ganz mir überlassen, mein blindes Kind, mein Problem. Das Ende der Geschichte um Annie fällt mir in dem Moment, in dem er hinausgeht, wieder ein, die Stelle, die ich ihm eigentlich erzählen wollte: Sie führte ein ganz normales Leben, wechselte in meine Hochschule über, und ich sah sie dort jeden Tag. Ich erinnere mich an den Kuchen, den ihre Mutter für uns gebacken hat, und den Spaß, den wir hatten, wenn wir miteinander spielten. Später sehnte ich mich danach, »Hallo« zu ihr zu sagen, aber ich tat es nie, denn ich wußte nicht, wie ich es machen sollte. Zwei Jahre wartete ich darauf, den Mut — Mut! — zu haben, um zu einem blinden Mädchen »Hallo« zu sagen, die meine Freundin gewesen war. Ich sagte es niemals.
Und dann?
Du rufst im Krankenhaus an und erfährst, welcher Termin für die Computertomographie und den Reiz-Reaktions-Test festgelegt wurde. Wenn man dir das Datum sagt — 14. Dezember —, merkst du es dir sofort und hoffst, daß die Zeit schnell vergeht. Die Tests sind die nächste Stufe, sie werden dir weitere Informationen bringen. Sie werden dir helfen zu wissen, was noch zu tun bleibt. Du mußt nur die nächsten elf Tage irgendwie ertragen.
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3. Dezember
Unaufhörlich erzähle ich meinen Eltern von Rachel, und genauso fest weigert sich Paul, mit den seinen darüber zu reden. Erst sagt er, daß er nichts sagen will, solange er nichts Genaues weiß. Dann, nachdem eine Verabredung geplatzt ist, sagt er, er wolle bis nach Weihnachten warten. Wir sind beide in unseren Positionen unnachgiebig, obwohl ich weiß — und ich vermute, daß er das auch weiß —, daß weder er noch ich vernünftig reagieren. Mein Argument, daß es falsch ist, so viele wichtige Informationen für sich zu behalten, und daß ich das in meiner Kindheit schon so gehaßt habe, ist nicht falsch. Allerdings verdeckt es bloß das Eigentliche: mein kindliches Bedürfnis zu erzählen. Mami, ich habe mich verletzt; Daddy, reparier mir meine Puppe…
Paul meint, daß ich nicht abschätzen könne, welche Bedeutung Weihnachten für seine Familie habe, und daß es nicht richtig wäre, es ihnen zu erzählen, wo sie doch so weit weg lebten. Sie würden sich lediglich erschrecken und traurig sein; seine Mutter würde hysterisch reagieren. Und überhaupt: Warum soll er etwas sagen, wo sie doch sowieso nichts tun können?
Sicherlich wahr, ich aber rufe trotzdem meine Eltern an. Als ich das »Hallo« meiner Mutter höre, atme ich tief durch und sage: »Ich muß euch beiden etwas sagen.« Ich bitte sie, meinen Vater zu fragen, ob er an die andere Leitung gehen könne, so daß ich nicht einen dazu zwinge, dem anderen alles noch einmal zu erzählen. Ich bin in Ordnung, bis ich sage »Mutter? Vater?« und anfange, zum ersten Mal zu weinen. Es erwischt mich mit solcher Wucht, daß ich mich fühle, als würde mein Inneres nach außen gekehrt. Die pure physische Gewalt meines Weinens macht mich völlig fertig, scheint mir meine Eingeweide herauszureißen. Ich komme mir vor wie eine überfahrene Katze auf der Straße. Danach weiß ich, was Paul zu vermeiden versucht, und daß er irgendwie weiß, daß seine erlernte Fähigkeit der Selbstbeherrschung ihm in diesem Fall nicht helfen würde. Wir brauchen nur »Mutter? Vater?« zu sagen, und schon sind wir nicht mehr in der Lage zu kontrollieren, was dann passiert.
Und so erzähle ich meinen Eltern, und meine Mutter muß sicher an all die Jahre denken, in denen sie Heftpflaster auf kleine Kratzer klebte und Tränen wegküßte und immer sagte: »Oh, ich wünschte, ich könnte etwas tun, ich wünschte, ich könnte machen, daß alles vorbei ist.«
Einen Moment lang spricht niemand. Ich höre das Atmen meines Vaters an der Nebenleitung. Wir erinnern uns alle an andere Wunden — ich kann das in der Stille spüren, und um diese Stille zu überbrücken, erzähle ich ihnen, daß der Arzt Rachels ein Experte auf seinem Gebiet sei, daß wir zu keinem besseren hätten gehen können, daß ihre Verfassung konstant bliebe und sich nicht verschlechtere und daß wir ihr helfen würden, ein gutes, erfülltes Leben zu haben…
Meine Mutter meint: »Gerade der Umstand, daß der Arzt ein Experte ist, schließt nicht aus, daß er einen Fehler gemacht hat.« Und damit ist das Pflaster von meiner Haut gerissen. An seiner Stelle sind die Worte einer Mutter zu einem Kind, das weinend aus einem bösen Traum erwacht ist. Reg dich nicht auf, es war nur ein Traum…
Sie sagt: »Ich gebe überhaupt nichts darauf, daß er vierhundert Dollar für fünfundvierzig Minuten verlangt, er kann trotzdem falsch liegen. Schau dir Dottie an, unseren Nachbarn, dessen Glaukom an demselben Institut verpfuscht worden ist.«
In Rachels Fall lag jedoch keine Fehldiagnose vor, und dies nicht zu akzeptieren würde für mich wesentlich schlimmer sein, als die Wahrheit langsam, aber sicher zu erkennen. »Er blickte ihr in die Augen und sah es«, werfe ich ein. »Er sah es und er rief noch jemand anderen hinzu, und sie sah es auch, und dann zeigte er uns noch ein Bild, und wir verstanden, wie leicht der Fehler zu erkennen war.«
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Als ich aufgehängt habe, beginne ich, die Diagnose wirklich zu glauben.
Weg ist das Bild, das ich mir von meiner strahlenden, schönen, gesunden Tochter gemacht hatte. An seiner Stelle sind die Erinnerungen auferstanden, die ich an blinde Menschen habe: Blinde, deren Augen in den Höhlen rollen, was mich als Kind schon erschreckte und was mich jetzt wieder in Panik versetzt. Meine Tochter, mein Kind. Und da ist keine Hoffnung mehr, gar nichts, und ich sage das Paul, so groß ist meine Angst.
»Ich möchte nicht über sie sprechen, okay? Denn wenn ich über sie spreche, muß ich an sie. denken, und das ist unproduktiv, besonders jetzt, vor den Tests, solange wir keine genauen Informationen haben«, antwortet er.
Wie kann er nur nicht an sie denken?
»Und wenn du sie morgens siehst? Wenn du dich über ihr Bettchen lehnst und sie in deinen Armen hältst, denkst du dann nicht an sie?«
»Bringt uns das deiner Ansicht nach irgendwie weiter?« Seine Stimme klingt brüchig. »Sag mir, bringt uns das weiter?«
»Es bringt uns nicht weiter, es ist nur einfach so, und ich kann nicht aufhören, darüber nachzudenken.«
Was soll ich sagen? Daß er darüber nachdenken soll und so durcheinander sein soll wie ich? Es ist genau das, was ich will. Daß er mein Elend teilt. Doch dann, als er weggeht — warum soll er nicht, wir haben uns nichts mehr zu sagen —, sehe ich an dem schwerfälligen Gang, mit dem er Stufen hinaufgeht, wie unglücklich er ist, und es bricht mir das Herz. Ich rufe seinen Namen, und er dreht sich um und kommt die Treppe herunter und nimmt mich in die Arme — genau das, was ich im Moment brauche. »Laß uns nicht streiten, okay? Nicht jetzt. Nicht jetzt.«
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4. Dezember
Wir haben es noch vier anderen erzählt, und die konnten es nicht für sich behalten. Seitdem läutet das Telefon Tag und Nacht — Verwandte, Kollegen und Freunde, die wir seit Monaten nicht gesehen haben, rufen an, um ihre Anteilnahme auszudrücken. Wenn Paul da ist, verschwinde ich im Bad oder im Keller oder öffne schnell meinen Still-BH und nehme Rachel an die Brust — ich tue alles, um diesen Anrufen zu entgehen. Paul geht mit all dem ausgesprochen ruhig um, erzählt die schlechten Nachrichten, in geeigneter Form abgemildert, ändert das Thema, wenn er das Unbehagen des Anrufers verspürt. Seine Stimme ist dabei so gelassen, daß es scheint, als wäre er kaum davon berührt, als wäre die Tatsache, daß seine Tochter nicht sehen kann, nicht schlimmer, als wenn sie sich ein Bein gebrochen hätte oder kurzsichtig wäre.
Wenn er nicht da ist, versuche ich mein Bestes, denn ich bin genervt von den plumpen Bemühungen von Verwandten und Freunden (sie haben ja doch nur alle ihr eigenes Zeug im Kopf), mir mitzuteilen, wie leid es ihnen tue, wie traurig sie seien und wie dankbar für die Gesundheit ihrer eigenen Kinder; die mich an Charlotte erinnern und alle Gründe, weswegen wir glücklich sein müßten. Sie fügen einen Satz über medizinische Wunder an, reden von Kunstherzen, Hornhauttransplantationen, Kindern, die als hoffnungslos eingestuft wurden und nun die Hochschule besuchen. Jeder kennt irgendeinen, der blind ist, aber trotzdem erfolgreich. Ich erfahre so von einem blinden Pianisten, einem blinden Saxophonisten, einem blinden Sänger, niemand jedoch erzählt von einer blinden Freundin, einer blinden Mutter oder einem blinden Freund. Ich bedanke mich, wenn ich gefragt werde, ob ich den blinden Musiker kennenlernen wolle — »Danke, vielleicht in ein paar Wochen« —, denn ich bin dankbar, daß irgend jemand dadraußen versucht, an mich ranzukommen.
Das Haus ist sehr still, nachdem Paul und Charlotte gegangen sind, und das ängstigt mich, obwohl ich eigentlich immer schon ein großes Bedürfnis nach Einsamkeit hatte und meine Arbeit viel Zeit alleine erforderte. Sobald ich bemerke, daß Rachel sich rührt, gehe ich zu ihrer Wiege und warte, daß sie aufwacht. Ich beobachte, wie ihre Lippen anfangen sich zu bewegen — sie hat schöne Träume von Muttermilch und saugt die Luft über ihr ein. Ich nehme sie in die Arme, mein großes, pausbäckiges Baby mit der weichen Haut, dem dunklen, weichen Haar und den zehn Fingern, die sich bewegen, wenn sie saugt, und den zehn Zehen, die sich beugen. Wenn ich sie halte, ist mir zwar klar, wie die Wahrheit aussieht, doch irgendwie kann ich es doch nicht glauben, und ich erlaube mir die Illusion, daß alles in Ordnung ist.
Dann klingelt das Telefon, und der Traum ist zerstört. Über sie zu reden nimmt mir den Atem. Ich beschreibe ihren Zustand, und mein Herz hämmert in meiner Brust, denn ich höre, was ich sage, und in dem Moment glaube ich es auch. Ich habe gelernt zu erkennen — sei es an Worten oder am Schweigen —, wann ich etwas tun muß, um die Verlegenheit zu überwinden, und ich erzähle meinen Freunden, daß Paul und ich übereingekommen sind, unser Leben wie gewohnt weiterzuführen und daß wir unsere Arbeit weiterhin machen. Mehr Wunsch als Wirklichkeit. Ich erzähle von den Dutzenden Unterhaltungen, die wir irgendwann in der Vergangenheit hatten — was wärst du lieber, taub oder…sehbehindert? —, und wie ich immer behauptet hatte, daß ich lieber…sehbehindert wäre, weil einen das nicht so sehr aus dem normalenLeben stoßen würde. Ich erkläre ihnen, daß ich denke, daß ich meinem Kind, das…sehbehindert ist, mehr bieten könne, als einem, das zurückgeblieben ist. (Ich hätte keine Ahnung, was ich mit einem zurückgebliebenn Kind machen könnte.) Oder einem, das taub ist, denn schließlich rede ich so gerne…Ich erzähle allen, daß ich in der Bibliothek war und Bücher über Kinder mit Sehstörungen geholt habe und daß ich die Kommission für die…Sehbehinderten anrief und daß ein Sozialarbeiter vorbeikam, der mir alles beibrachte, was die Eltern eines Kindes wissen müssen, welches…sehbehindert ist.
Alles außer dem Wort, jeder Euphemismus kann mich davon wegbringen. Sogar wenn ich es sagen will, kann ich meine Lippen für das Initial b nicht zusammenbringen, denn allein das Wort zu hören würde es viel zu real machen.
Das Wort bleibt fest in meinem Inneren verschlossen, und meine Ängste nehmen überhand. Ich höre Pauls Schlüssel im Schloß, und ich möchte ihn mit Küssen begrüßen und ihm ein glückliches Zuhause bieten. Ich eile zur Tür und denke: Sag kein Wort über Rachel, laß ihn einfach in Ruhe! Es ist nicht seine Art, die Hände zu ringen und laut zu klagen. Begrüße ihn und sage, daß du ihn vermißt hast! Laß ihn seinen Mantel ablegen und eine Weile ausruhen!
Er kommt rein, und ich lege meine Arme um ihn. Er macht sich steif, und seine Umarmung ist so beiläufig, daß ich mein Vorhaben schnell vergesse.
»Rachel schlief den ganzen Tag. Ich konnte sie nicht wach halten, egal was ich tat…«, sage ich, während ich ihn ins Schlafzimmer begleite, wo er seine Schuhe auszieht. »Sie schläft so viel, weil sie von sämtlichen Anregungen abgeschnitten ist. Ich las das heute. Es ist für sehbehinderte Kinder die größte Gefahr, daß sie ohne Anregungen bleiben, denn dann schlafen sie den ganzen Tag und haben später ernste psychische Probleme. Aber ich kann ihr keine Anregungen vermitteln. Sie schläft immer wieder ein.«
»Hat jemand angerufen?« fragt er.
Jetzt kann ich mich nicht mehr halten. Er ist mein Ehemann, mein Gefährte. Wir haben unsere gemeinsame Geschichte, und jeder Feind des einen war immer der des anderen. Er hat sich nie über meine Art lustig gemacht, mich niemals abgeschoben, sich nie geweigert, mich zu trösten, und obwohl er sich schlecht gehen lassen kann, erlaubte er mir weit mehr als in unserer ersten Zeit, dasselbe für ihn zu tun. Ich sage ihm, daß ich mich fühle, als wären meine Tage gezählt — den ganzen Tag mit ihr zu Hause und niemals ein Augenblick, in dem ich nicht an sie denke. Und daß ich las, daß ein sehgeschädigtes Kind Orientierung brauche und daß Windglockenspiele an der Eingangstür eine gute Art wären, dem Kind mitzuteilen, wo es ist, und daß ich Windglockenspiele kaufen möchte…
Er geht an mir vorbei in die Küche und starrt eine Weile in den Kühlschrank. »Wer hat angerufen?«
Wer hat angerufen? Was sagte er? Woher weiß er das? Das ist es, was er wissen will, dieser Mann, der bisher niemals hören wollte, was man allgemein so redet oder welche kleinen Querelen und Vorkommnisse sich außerhalb der eigenen Familie abspielen.
Wer hat angerufen? War er ein Verdränger, einer, der an medizinische Wunder glaubt, ein Schau-auf-die-sonnige-Seite-Typ, der versuchte, mich davon zu überzeugen, daß ich eigentlich glücklich darüber sei-n müßte, daß Rachel nicht abscheulich entstellt ist. Noch eine Geschichte vom blinden Musiker? Die letzte wurde für uns beide zum Witz, unserem einzigen. Little Rachel Wonder, Rachel Charles, José Rachel Feliciano. Was werden wir tun, wenn sie wie ihr Vater keinerlei musikalisches Gehör besitzt? Ich werde ihn danach fragen, aber erst…
Ich suche nach seiner Hand, seinen Augen, nach einem Gesichtsausdruck, den ich verstehen kann. »Kannst du bitte irgend etwas sagen? Hallo, wie geht’s dir? Ich muß wissen, daß du noch lebst.«
»Windglockenspiele, das ist eine gute Idee.«
Ich folge ihm ins Eßzimmer und sehe zu, wie er zwei Scheiben Brot abschneidet und eine Büchse Ölsardinen öffnet. Silberne Fischschwänze schauen an den Rändern seines Sandwichs heraus; goldene Öltröpfchen fallen auf seinen Teller.
»Heute dachte ich dauernd an einen Artikel, den ich letztes Jahr gelesen habe. Er berichtete, daß die meisten Leute blind zu sein mehr fürchten als alles andere, ausgenommen Krebs. Die Blinden selbst bemerken diese Furcht. Ich befürchte, daß, wenn Leute Rachel nahekommen und sehen, wie sie ihre Augen rollt, daß sie dann verschwinden. Ich befürchte, daß sie nicht geliebt werden wird.«
Schließlich sieht er auf. »Wo ist der Sinn bei alldem?«
»Denkst du nicht an alle diese Dinge?«
»Nein.«
»Niemals? Was denkst du denn?«
»Nichts. Ich gestatte es mir nicht. Schau, sie ist ein wunderbares Kind. Ihr Leben kann trotz allem erfüllt sein.«
Er kann sich nicht selbst betrügen wie ich. Er hat nicht diese Bilder vor Augen, die ungebeten kommen: seine Tochter, die die Hände im Dunkeln ausstreckt, seine Tochter mit einem Blindenstock, seine ungeliebte Tochter, seine schwankende Tochter, die an ihren Augen herumfummelt, isoliert von der restlichen Welt.
Dann sagt er: »Viel Lärm um nichts« — sein Lieblingssatz aus der Zeit, in der er noch Ingenieur war. Lärm um nichts — ich versuche, mir das vorzustellen. »Es ist Zeitverschwendung, über das alles zu grübeln, solange du nicht weißt, was sie werden wird oder wie die Welt aussehen wird in fünfzehn Jahren.«
»Ich grüble nicht darüber nach — es überfällt mich.«
»Gut, viel Lärm um nichts«, sagt er und steht abrupt auf.
Das Telefon läutet, und Paul ist nirgends zu sehen. Es ist unser guter Freund Joseph mit seiner Frau, die einzigen Menschen aus Sibirien, die wir kennen. Wie konnte er es nur erfahren haben? Ich will ihn fragen, doch schon hat er begonnen, eine lange Geschichte von einem berühmten Mann aus seinem Land zu erzählen. Er hat einen ziemlichen Akzent, und ich bin zu aufgeregt, um ihm genau zu folgen. Scheußlich, denke ich, als er mit der Biographie fortfährt. Ein blinder russischer Musiker, genau das, worüber ich jetzt etwas hören wollte.
ich stoppe ihn, bevor er die Geschichte beendet hat. »Entschuldige, ich glaube, ich kann keine weitere Geschichte von einem blinden Musiker mehr ertragen.«
Es gibt eine lange Pause — eine schlechte Verbindung, eine Unterbrechung aufgrund kultureller Unterschiede? »Mathematiker«, sagt er. »Er ist Mathematiker.«
Paul kommt, und ich gebe ihm den Hörer. Da ich daran interessiert bin (und das war ich schon immer) zu hören, was wer sagt und was wer in Erfahrung gebracht hat, rücke ich ganz dicht an ihn.
Er spricht eine Zeitlang vor allem über Wissenschaft, und gerade als ich aufgeben will, höre ich, wie er sagt: »Ich werde sie bitten, ihre Gehirnströme zu messen, wenn sie die Computertomographie machen. Ich bin nicht sicher, daß sie hören kann.«
Gehirnströme? Sie kann nichts hören? Ich zittere am ganzen Körper und halte mich an meinen eigenen Armen fest, obwohl ich von jetzt an weiß, daß ich nicht aufhören werde zu zittern, egal woran ich mich festhalten werde. Warum sagt er das? Und zu Joseph, nicht zu mir. Er will sie bitten, die Gehirnströme zu messen (was immer auch das bedeutet). Er ist sich nicht sicher, daß sie hören kann? Er glaubt, daß sie blind und taub ist?
Als er aufgelegt hat, frage ich ihn: »Warum hast du gesagt, daß sie taub ist?«
»Ich sagte nicht, daß sie taub ist, ich sagte, daß sie das sein könnte.«
»Aber warum?«
»Weil ich nicht davon überzeugt bin, daß sie hören kann. Schau, machen wir uns darüber keine Sorgen, bevor nicht die Testergebnisse vorliegen.«
Machen wir uns darüber keine Sorgen! Einfach so. Blind und taub. Von Stevie Wonder zu Helen Keller in einem einzigen schwindelerregenden Augenblick. Schon jetzt lehne ich mich gegen die ganzen Geschichten auf, die ich zu hören bekommen könnte, und denke: Wagt es nicht, mir von diesem einzigartigen und bemerkenswerten Leben zusprechen, dieser einen Person unter all den beklagenswerten, hilflosen, taub-blinden Menschen, die jemals gelebt haben. Erzählt mir nichts von Wundern — Wunder gibt es nicht in New Jersey. Auf jeden Fall nicht bei uns.
Wir stehen zueinander. Ich darf ihm nichts von meinen Visionen erzählen, denn er kann sie nicht ertragen. Ich darf nicht, denn sonst wird er aufstehen und ohne mich die Treppe hinaufgehen.
»Das Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden, wenn einem so viel genommen ist.«
Ich kann nicht anders; ich bin außer mir.
Er nickt und sagt: »Wenn es wahr ist, lassen wir sie sterben. Ich werde es selbst tun, das schwöre ich bei Gott.«
Mein Kind? Es baut sich etwas in mir auf, das sie beschützen will, etwas Unbekanntes, Animalisches, das in der Mutter erwacht, die ihr Kind beschützen will. Mein Körper umschließt den ihren, mein Körper wird sie vor dem Feind schützen. Wenn sie blind und taub ist, will auch ich nicht, daß sie lebt, andererseits würde ich jeden umbringen, der sie anrührt.
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5. Dezember
Sobald Paul und Charlotte gegangen sind, nehme ich Rachel mit hinauf und setze sie an einen sonnigen Platz. Ich spreche mit ihr mit einer sanften ruhigen Stimme: »Ich bin’s, Mami, die, die dich liebt und füttert, ich bin’s.« Sonnenlicht, eine sanfte Stimme und die undenkbare Möglichkeit, daß diese Dinge und das meiste, was ich kenne, für sie ohne Bedeutung sein könnte.
Rachel? Baby? Ich knie neben ihr und rufe ihren Namen. Was erwarte ich? Daß sie mich anschaut? Ich weiß, daß sie überhaupt nichts sehen kann, aber das kann mich nicht daran hindern, mein Gesicht nahe an das ihre zubringen und zu erwarten, daß sie mit ihren dunklen Augen aufschaut und nach mir faßt und sich vor Freude hin und her bewegt. Ich schalte Musik an und sie scheint darauf zu reagieren, indem sie lebhaft um sich tritt. Als die Musik aufhört, liegt sie still auf ihrer Decke.
Ich ziehe meine Schuhe aus und schlage die Tür zu, und sie schreckt auf, ihre Ärmchen fliegen hoch — keine Frage! Bei dem Versuch geht es um Leben und Tod. Mein Brust schmerzt so sehr, daß ich ihn kaum wiederholen kann. Es geht — zuerst die Musik, dann das quietschende Spielzeug, meine Stimme, die sie ruft, immer wieder und wieder.
»Schau«, sage ich zu Paul, als er aus der Arbeit kommt.
Wir stehen im Dachgeschoß außerhalb meines Arbeitszimmers, einige Meter von Rachel entfernt. Ihre Windeln rascheln; ihre Zunge hängt ihr über die Lippen. Ich könnte fast lachen. Ich stampfe plötzlich mit dem Fuß auf, und sie erschrickt, nicht so sehr wie vorhin, und trotzdem ist es klar, daß sie es gespürt hat. Ich wiederhole es noch einmal.
»Ist das dazu geeignet, irgendeine Aussage zu machen?« fragt Paul.
»Hast du nicht gesehen, wie sie erschrak, als ich so fest auftrat?«
»Es könnte allein die Vibration gewesen sein, weißt du.«
»Aber sie erschrickt, wenn das Telefon klingelt, und dabei gibt es keine Vibrationen. Sie schreckt auf und blinzelt.«
»Sie blinzelt, großartig. Wie oft blinzelt sie in jeder Minute? Zehnmal? Zwanzigmal? Erzähle mir nicht, wie außergewöhnlich es ist, daß sie blinzelt, wenn das Telefon klingelt.«
»Sie erschrickt richtig. Ihre Arme fliegen hoch, alles. Warum kannst du mir nicht glauben?«
»Weil ich es nicht gesehen habe, und ich glaube nichts, das ich nicht selber gesehen habe.«
»Du glaubst nicht, was ich dir sage?«
»Vertrauen hat damit nichts zu tun. Ich bin Wissenschaftler. Ich habe gelernt, nur das zu glauben, was ich sehe oder was bewiesen ist, und sonst nichts.«
Genau in dem Moment klingelt das Telefon. Paul dreht sich zu ihm um, und Rachel erschrickt, geradeso wie früher. Seine Skepsis erschüttert mich, aber ich habe vor, meinen Glauben, daß sie hören kann, nicht erschüttern zu lassen.
»Es ist für dich«, sagt Paul.
Glücklich rufe ich »Hallo« in den Hörer.
Es ist Linda, eine Freundin, mit der ich Drehbücher verfaßt habe, und frühere Nachbarin. Sie fragt mich, wie es mir geht, und ich antworte: »Gut.« Das ist wahr, oder? »Die Sozialarbeiterin kommt am Mittwoch.«
Die Sozialarbeiterin, ja; meine Retterin — sie wird mir sagen, was zu tun ist. Für sie werde ich mir die Haare waschen und das Haus auf Hochglanz bringen. Ich kann es kaum erwarten.
»Du klingst zu gut«, erwidert sie. »Du weißt, daß du weinen darfst.«
»Ich weine auch. Ich weine immer, wenn ich mit meiner Mutter rede.«
»Du kannst auch heulen und brüllen — ich würde deshalb nicht schlechter von dir denken oder aufhängen oder aufhören zu reden.«
»Uuuh«, mache ich scherzhaft.
Sie lacht nicht.
Ich verspreche ihr, daß ich an sie denken werde, wenn die Zeit gekommen ist, daß ichzusammenbreche, und lege auf. Ich denke an all die Geschichten, die ich gehört habe, von Frauen, deren Schrei über die Ozeane hallte, Frauen, die sich ins Bett legten, um niemals wieder aufzustehen, die sich ihr Haar ausrissen, die weder essen noch lieben konnten. Frauen, die dahinwelkten, bevor sie starben. Ich sehe die Tragödie in diesen verlorenen Leben nicht, sondern die Erleichterung, die der Irrsinn bringen muß. Ich würde gerne schreien und mir die Haare ausreißen, damit der Schmerz in mir vergehen kann, doch die Wahrheit ist, daß ich nicht so flexibel bin wie sie. Auch ist mein Wille nicht stärker als der ihre. Meine Seele ist voller unausgesprochener Trauer.
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6. Dezember
Die Sozialarbeiterin von der New-Jersey-Kommission für Blinde und Sehbehinderte ist jung und frisch verheiratet, mit hüftlangem Haar und einer Schildpattbrille. Sie heißt Sharon und trägt eine Fischerjacke, Blue Jeans und einen verzierten Diamantring, den sie reibt, während sie spricht. Sie gibt mir Erklärungen über die Agentur und erläutert mir entschuldigend die Papiere, die ich unterschreiben muß. Als ich ihr Rachels Geschichte erzähle, hört sie mir aufmerksam zu, bis ich geendet habe, gleitet dann vom Stuhl und kauert sich vor sie. Ich frage mich, ob jemand in ihrer Familie blind ist? Mutter, Schwester, ihr Mann?
»Wie lieb sie ist«, sagt sie und streichelt Rachels Wange.
Da stimme ich ihr zu. (Sie ist schön und wird dies niemals wissen.)
Sie hat ein kleines Blitzlicht mitgebracht und läßt das Licht auf Rachels Gesicht auf und ab flackern. Sie sieht meine offensichtliche Enttäuschung, als Rachel nicht darauf reagiert, und sagt: »Manchaml entwickelt sich die Sehfähigkeit langsamer.«
»Dr. Hines sagt, daß die Entwicklung der Sehfähigkeit über neun Monate dauert.«
Es bleiben für Rachel also noch knapp sieben.
»Es kann bei Kindern viel länger dauern, bis sie lernen, das anzuwenden, was sie können. Ich kenne einen Sechsjährigen, der erst jetzt lernt, Schatten von Licht zu unterscheiden. Wir dachten erst, daß er überhaupt nichts sehen kann.«
Sie kauert sich hin und bringt sich in eine Position, in der sie gut zuhören kann.
»Haben Sie irgendwelche Fragen?«
Von den endlos vielen, die ich habe, beschäftigt mich eine am meisten: Warum macht sie diese Arbeit?
Ich befrage sie über die Blindenschrift, das normale Leben, Blindensport. (Wer in Ihrer Familie ist blind?) Wir sprechen eine Zeitlang von blinden Skifahrern. Ich erzähle ihr von den zahlreichen Geschichten von blinden Musikern, die wir gehört haben, und sie lacht, was mir gefällt. Sie beruhigt mich mit wenig bekannten Fakten (totale Blindheit — keine Lichtempfinddung — ist extrem selten; die meisten »Blinden« haben eine graduelle Sehfähigkeit) und Daten (nur siebzig Blindenschriftleser in New Jersey; knapp über fünftausend im ganzen Land).
»Gibt es irgendwelche blinden Kinder in der Nähe?«
Sie öffnet ein Notizbuch und blättert einige Seiten durch.
»Da ist ein kleiner Junge, aber er ist ziemlich behindert…Und ein Sechsjähriger in der nächsten Stadt, ein netter Junge. Er hat einige Probleme mit den Nerven, aber er macht sich wirklich gut.«
»Irgend jemand mit einer Unterfunktion der Sehnerven?«
»Kristin Peters. Sie ist jetzt sechzehn und wurde vor einiger Zeit in die High-School eingeschult. Es geht ihr jetzt gut, allerdings hat sie viel Zeit verloren, weil sie Anfälle hat, die bislang nicht unter Kontrolle sind, und sie hat diese Anfälle fast jeden Tag…«
In dem Moment lernte ich zwei Dinge: Erstens, daß Blindheit eine seltene Behinderung ist. (In meiner Stadt von dreißigtausend Einwohnern gibt es zwei andere blinde Kinder, die beide mehrfach behindert sind.) Und zweitens, daß die Mehrheit der blinden Kinder, einschließlich der beiden in meiner Stadt, noch andere Probleme haben. Augeninfektionen, die vor Jahren noch eine Erblindung verursachten, können heute behandelt werden. Der angeborene graue Star und eine undurchsichtige Hornhaut können chirurgisch behandelt werden. Aber es bleiben Infektionen, durch den Zytomegalovirus und die Toxoplasmose, genetische und entwicklungsbedingte Störungen, Unfälle und Krankheiten. Es können auch Schwierigkeiten mit dem Auge selbst auftreten — angeborene Schäden an der Retina beispielsweise — oder ein Schaden am Sehnerv (wie bei Rachel). Oder das Auge ist absolut gesund, im Sehzentrum im Gehirn selbst aber ist ein Schaden, der sich im Laufe der Zeit immer mehr bemerkbar macht. Fortschritte in der Versorgung Frühgeborener haben es immer mehr Frühgeburten mit extrem geringem Gewicht ermöglicht zu überleben, Babys, die mit einem großen Risiko behaftet sind, einmal Entwicklungs- und Sehstörungen zu haben.
Die Sozialarbeiterin fragt, ob ich mit einer dieser Familien in Kontakt treten möchte. »Kristins Mutter ist wirklich wunderbar — wie die ganze Familie. Es würde sie nicht stören, wenn Sie sie anriefen.«
»Ja«, sage ich, obwohl ich noch nicht bereit bin, irgend jemanden anzurufen.
Sie ist so liebenswiirdig, wie sie auf der Kante ihres Stuhles sitzt, wie sie ihren Diamantring dreht und darauf wartet, daß ich weiterquaßle, so daß ich nicht anders kann, als damit herauszuplatzen: »Ist eigentlich jemand in Ihrer Familie blind?«
»Nein.« Sie lächelt.
»Wie kamen Sie dann zu Ihrem Beruf?«
»Ich arbeitete einen Sommer in einem Ferienlager für blinde Kinder. Und das hat mir gut gefallen.«
»Oh.«
»Wollen Sie mich noch etwas anderes fragen?«
»Was kann ich für Rachel tun? Da muß es doch etwas geben.«
Sie erzählt mir von einem Programm, das »Kinder-Stimulation« genannt wird und in der Spezialklinik für Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten durchgeführt wird. Die Grundidee dieses Programmes ist es, die Entwicklung der Babys zu forcieren, indem man in Problemgebieten arbeitet und eine Therapie im Beisein der Eltern vornimmt, wodurch die Eltern als Therapeuten für ihre eigenen Kinder ausgebildet werden. Das klingt gut, aber…»Was kann ich heute für sie tun?«
Wieder lächelt sie amüsiert, wogegen ich nichts habe. »Sie ist noch ein Baby, lieben Sie sie wie irgendein Baby — nehmen Sie sie auf den Arm und sprechen Sie zu ihr —, sie wird sich wohl fühlen.«
Aber das ist mir nicht genug. Ich muß mich so fühlen, als ob ich jetzt etwas tun würde, ihr Schicksal zu ändern. Gibt es denn kein Buch, keine Technik, kein Spielzeug? Ich rede so lange auf die Sozialarbeiterin ein, bis sie mir verschiedene Vorschläge macht.
Sobald sie gegangen ist, rufe ich die Spezialklinik an und spreche mit einer gewissen Mrs. Kaiser, die mir erklärt, daß Rachel erst untersucht werden müsse, bevor sie an dem Kinder-Stimulations-Programm teilnehmen könne. Sie macht einen Termin im Januar aus, doch als ich die Tage bis dahin zähle, kommt Panik in mir auf. Was werde ich die nächsten dreiundvierzig Tage tun?
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7. Dezember
Ich kaufe Babyöl, um Rachel massieren zu können, Plastikhunde, die quieken, eine Plüschmaus mit einer Rassel im Bauch, einen Plastikball, der mit Murmeln gefüllt ist…Sobald ich mich ihr nähere, spreche ich mit ihr. Ich spiele lange mit ihr und kaufe so eine Lampe, wie sie die Sozialarbeiterin hatte. Ich bespiele Bänder mit klassischer Musik, die ich in ihrem Zimmer laufen lasse, obwohl ich mich nicht dazu durchringen kann, sie außer in der Nacht ins Bett zu legen.
Es schmeckt nach Tod, sie so alleine in diesem stillen Hinterzimmer zu lassen. Daher nehme ich sie mit in mein Arbeitszimmer und setze sie auf dem Läufer bei mir ab, so daß sie nah bei mir ist, während ich arbeite, und ich umgebe sie mit Spielzeug, das hupt, quietscht und brummt, wenn sie dagegenstößt.
Die Stille macht mir Angst. Ich will sie nicht allein lassen, denn ich befürchte, daß sie in meiner Abwesenheit in ein langes, tiefes Loch fallen würde. Daher rede ich mit ihr wie eine Verrückte. »Jetzt suche ich erst einmal mein Notizbuch. Notizbuch? O ja, das Notizbuch, hier bist du, mit deinem schönen Leineneinband und den braunen Lederecken.« Arbeiten heißt ruhig zu sein, und ruhig zu sein heißt, sie in ihrem Dunkel allein zu lassen, und das schaffe ich nicht.
»Ich spitze jetzt meine Bleistifte, alle zwölf, und das macht einen ziemlichen Krach, so, jetzt. Jetzt kommt der erste in den Spitzer. Weine nicht, Schatz, hab keine Angst.«
Sie weint nicht, weil sie schläft. Sie schläft die meiste Zeit, ein Zeichen meines Versagens. Sie nimmt zu wenig wahr, um wach zu bleiben — sie entbehrt emotionale Eindrücke und wird Schwierigkeiten in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit haben und autistisch werden. Sie wird zu dem Drittel der Blinden gehören, die keine voll funktionierenden Erwachsenen werden können; wie andere Kinder, über die man nicht spricht, die in einem Haus wie dem unseren leben, in einer vergleichbaren Stadt, mit ähnlichen Eltern.
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8. Dezember
»Wir müssen lachen«, sage ich zu Paul, als wir uns fürs Zubettgehen umziehen. Es sind jetzt sieben Tage vergangen, seitdem aus dem süßen, fetten, sanften Baby Rachel ein süßes, fettes, sanftes, blindes Baby geworden ist.
»Versprich mir, daß wir schon bald, bald wieder lachen können.«
»Wir werden lachen«, erwidert er, während er seine Socken aufrollt und sie durch das Zimmer in den Wäschekorb wirft. Die zweite streift die Bettkante und landet in der Ecke.
»Das glaubst du?«
»Ich würde das zu dir nicht sagen, wenn ich es nicht glauben würde. Jetzt geh ins Bett.« Er beugt sich über das Nachtkästchen und macht das Licht aus. Während ich noch in der Dunkelheit auf der Bettkante sitze, bewegt er sich unter der Bettdecke. Nach acht Ehejahren habe ich mich an gewisse Dinge gewöhnt. Seine Müdigkeit, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, ist mir vertraut, seine Art zu schlafen, seine Lieblingsessen, die Dinge, die er nicht verträgt, die Beschaffenheit seiner Haut, seine Angewohnheit, die Wäsche in den Korb zu werfen und dabei die Fehlwürfe einfach für immer liegenzulassen — wenn ich sie nicht aufhebe. Obwohl ich nicht im Inneren seines Kopfes lebe, fand ich ihn immer leicht zu durchschauen. Seine Augen, der Ausdruck seines Mundes, die Art, wie er geht — ich kann immer seine Stimmung abschätzen. In diesen Tagen zeigt mir ein Blick in sein Gesicht, daß da keinerlei Zeichen von Sorgen oder Streß vorhanden ist. Da ist kein Anhaltspunkt für mich darüber, was er fühlt, und das nervt mich. Ich beschränke mich darauf, Fragen zu stellen wie: »Was denkst du gerade?« Diese Frage hatte ich niemals stellen wollen. Ich hatte mir geschworen, das niemals zu tun.
»Ich denke, wenn du dich endlich hinlegst, werde ich Schlafen können.«
Es ist zehn Uhr, und unsere Tochter ist blind und möglicherweise taub. Ich frage: »Wie kannst du schlafen?«
»Wie? Erst schließe ich die Augen und lege mich möglichst bequem hin, und dann denke ich an den Vorbau, den ich in Maine machen möchte. Ich erstelle ein paar Kalkulationen, und wenn die Zahlen zu komplex werden, schlafe ich ein. Du brauchst Schlaf, Jane. Wenn du die ganze Zeit erschöpft bist, schaut alles noch schlimmer aus.«
Ich lege mich neben ihn. Das Zimmer ist so dunkel, daß ich zuerst überhaupt nichts sehe. Ist es das, was Rachel empfindet? Dieses absolute Nichts, egal, wie ich mich anstrenge, ein Bild zu sehen. Oder wird es so sein (nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben): dunkel, das Büro und der Bücherschrank dunkler als der Raum um sie herum, der Flur etwas heller? Ich versuche an einen Vorbau an unserem Häuschen in Maine zu denken, was eigentlich ganz schön wäre, bleibe aber in Gedanken bei Worten wie rot, blau, nah, fern hängen und frage mich, wie ich ihr die Welt beschreiben kann, wenn sie nichts sieht. Paul schnarcht leise.
Das Telefon. Ich liege im Bett, mein Herz klopft. Paul nimmt nach dem dritten Klingeln ab und sagt nach einer Pause: »Maura! Wie geht’s?«
Maura Regan, eine Freundin aus Massachusetts, unser siebtes Gespräch heute.
»…Ja, gut, es ist halt so eine Sache — ein Entwicklungsfehler, sagte man uns…Nein, ich glaube nicht, Maura, denn ihre Augen sind in Ordnung, es ist der Sehnerv, der nicht richtig umsetzt.« Er dreht sich von mir weg und stützt sich auf seinen Ellbogen auf. »Ja, ich weiß, ich weiß, daß es wahr ist, aber der Sehnerv ist im Gehirn — es ist einfach nicht daran zu denken, eine Operation im Gehirn durchzuführen. Die gute Neuigkeit ist, daß ihre Lage statisch ist und daß es ihr ansonsten gut geht — du müßtest sie sehen, sie ist ein großartiges kleines Kind, wenn ich das so sagen darf. Dichtes, schwarzes Haar mit blondem durchsetzt. Im Krankenhaus haben sie sie für Jane besonders. frisiert…«
»Maura Regan«, sagt er, als er aufgehängt hat. »Hörte es von Glenn. Gib nicht auf, es gibt sogar Gehirntransplantationen.«
Er dreht sich um und schläft wieder ein.
Der Vorbau, denke ich. Einer, der zum Meer hinausgeht. Irgendwie mit einem Geländer mit eng aneinandergereihten Latten. Bei schönem Wetter kann ich ein Verlängerungskabel an einer Steckdose anschließen und meine Schreibmaschine mit hinausnehmen. Ich könnte die Reiher sehen, wie sie am Ufer stehen, und die Kormorane, wie sie von der Insel auffliegen, die bei Flut verschwindet, und die Lobsterboote, die träge dahindümpeln, während die Fischer die Netze hochziehen. Reiher, Kormorane, Hummerfischer, Netze. Dinge kommen und gehen nicht, Regen fällt vom Himmel. Du hast zehn Finger und Zehen, mein Liebling…, Charlotte wird dich durch das Zimmer tragen…, Mami und die Brust sind eines.
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9. Dezember
Sharon kommt wieder zu Besuch. Ich zeige ihr den Karton, den ich habe — voller Spielzeug, das klappert, quietscht, klingelt, brummt und Musik spielt. Sie lacht leise und dreht ihren Ring und sagt: »Blinde Kinder freuen sich auch über Spielzeug, das keinen Lärm macht.«
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10. Dezember
Charlotte hat die Bedeutung des Wortes »blind« gelernt und gebraucht es mit Leichtigkeit. Mir wurde gesagt, daß die Bedeutung für Kinder in ihrem Alter noch viel zu abstrakt ist, obwohl das Wort selbst eine Bedeutung hat — etwas ist nicht in Ordnung —, aber nicht mit ihrer Schwester, die sie in ihrem Kinderstuhl aufrichtet, damit sie die »Sesamstraße« anschauen kann. Blind bedeutet, daß etwas mit uns nicht in Ordnung ist, daß wir trotz unseres Lächelns und unserer Versicherungen unglücklich sind. Und warum sollte sie das auch nicht fühlen — sie lebt mit uns. Sie weiß, daß wir all unsere Freude für sie aufheben; sie hört uns am Telefon. Sie sieht mich am Ende des Tages, schwach und überlastet. Sie steht in den Fluren, still und mit großen Augen, und sieht mich weinen.
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11. Dezember
Dr. Hines’ Bericht kommt diesen Morgen an. Ich nehme ihn mit hinauf und lese ihn mehrmals durch, mache Pausen, um unbekannte Worte nachzusehen und um Bemerkungen am Rand zu machen. Es dauert bis zum Mittag, bevor ich einsehe, daß meine Verständnisschwierigkeiten weniger vom Jargon rühren als daher, daß der Brief zweifelsohne direkt vom Band, das er am Tag seiner Untersuchung besprochen hatte, in die Maschine geschrieben wurde und daher mit Fragmenten und Mehrfachworten durchsetzt ist, und das mit einer Syntax, wie ich sie noch nie gesehen habe.
Wir kamen mit unserer Zweimonatigen wegen ihrer »mindestens zwei Wochen alten Geschichte, in der eine Tendenz einer Abweichung ihrer Augen links und rechts feststeht.« Ihre Augen wurden mit Mydriacyl gedehnt und untersucht. »Eine moderate Form der Hypoplasie des Sehnervs wurde festgestellt, die Basis für eine Beeinträchtigung der Sehfähigkeit in einem mehr als nur eben signifikanten Grad, obwohl das nicht mit Sicherheit bedeutet, daß er gar nicht auf Licht reagieren wird, und vielleicht eher in Zusammenhang mit wandernder Oszillation als einem motorischen Defekt der Augen, obwohl unsicher.« Es wurde eine Computertomographie vereinbart, um einen angeborenen Tumor auszuschließen, ebenso wie eine »septo-optische Dysplasie, die Abwesenheit von Septum pellucidum, was oftmals die Notwendigkeit mit sich bringt, Wachstumshormone zuzuführen«. Der Tumor wurde schon erwähnt, aber das letzte — septo-optische Dysplasie — war mir neu. Ein Septum ist nach dem Lexikon eine Membran beziehungsweise eine trennende Schicht. Eine Dysplasie ist ein abnormales Wachstum beziehungsweise eine abnormale Entwicklung. Gray’s Anatomy beschreibt das Septum pellucidum als einen »engen Gang zwischen den beiden lateralen Ventrikeln«. In einer Zeichnung der »mittleren Regionen des Gehirns« sehe ich, daß nahe bei diesem Septum der Hypothalamus liegt, der optische Chiasmus und die Hirnanhangdrüse. Ist septo-optische Dysplasie so wenig anders als ein Tumor? Soll ich darüber besorgt sein?
Am Abend lese ich den Brief Paul vor und warte dann auf seine Antwort.
»Es wäre toll, wennsie eine Aufnahme machen könnten«, sagt er nach ein paar Minuten.
Aufnahmen in NMR (»Nuclear Magnetic Resonance«) oder in MR wären besser, denn, so sagt er, mit CT-Aufnahmen kann man zwar gut zwischen Knochen, Knorpeln und weichem Gewebe unterscheiden, aber NMR—Aufnahmen, ebenfalls eine nicht invasive Technik, können besser zwischen weichem Gewebe, Tumoren und Fett unterscheiden und deshalb auch besser zwischen Zysten und Tumoren. Aber diese Technik ist für Babys sowieso nicht zugelassen.
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12. Dezember
Wir stehen auf und ziehen uns wie jeden Morgen für die Arbeit beziehungsweise für den Kindergarten an. Paul frühstückt, während ich für Charlotte das Essen mache. Er steht mit dem leeren Teller und Becher auf, gerade als ich fertig bin und ihm am Tisch Gesellschaft leisten will. »Ich werde heute spät zurückkommen«, sein Schnauzbart berührt kurz meine Wange. Er lehnt sich hinüber, um Charlotte zu umarmen, dann nimmt er seine Aktentasche und den Mantel. Charlotte folgt ihm und bleibt barfuß auf der Vordertreppe stehen, bis sein Auto außer Sicht ist.
Heute werde ich arbeiten, denke ich, als ich ihr Frühstück fertig mache. Alles was ich zu tun habe, ist ein Kapitel pro Woche durchzusehen, damit ich im Februar fertig bin. Wenn das Manuskript angenommen wird, so würde das zwar nicht meine Sorgen für Rachel lindern, aber es wäre etwas, an dem man sich festhalten könnte, etwas Konkreteres als die Hoffnung und die Angst, die mir die Tage verdunkeln. Charlotte ißt, während ich mein eigenes Frühstücksgeschirr wegräume, putzt sich die Zähne, während ich ihr die Schuhe schnüre. Sie ist auf der Toilette, während ich Rachels Windeln wechsle. Ich bleibe zu lange am Wickeltisch, und sie kommt in den Flur und sagt: »Komm endlich!« und bringt mich so in die Wirklichkeit zurück.
Hinda ruft an, und wir unterhalten uns ein wenig. Sie ist meine älteste Freundin, meine Ersatzschwester.
»Ich kann nicht glauben, wie du damit umgehst«, sagt sie, bevor sie auflegt. »Ich gehe damit nicht um. Es geschieht mir. Ich lasse mich nur treiben.«
»So«, sagt sie in dem gereizten Tonfall, den ich seit zwanzig Jahren kenne. »Die meisten Leute würden daran zerbrechen.«
Ich hänge auf, nehme ein paar Jacken von den Haken, drücke Charlotte ihr Mittagessen in die Hand und nehme Rachel auf den Arm. Einen Moment lang ist es, als stünde ich neben mir, gerade lange genug, um die Art und Weise zu sehen, in der wir den Alltag erleben. Wir sind alle Teil einer gut geölten Maschinerie. Ich denke an Hindas Worte und überlege, ob ich vielleicht auch schuld habe an dieser Routine. Zum ersten Mal bin ich fähig, mir eine Zeit vorzustellen, in der meine Gedanken wieder meine eigenen sein werden und das Hämmern in meiner Brust vergangen sein wird.
Ich bringe Charlotte in den Kindergarten. Sie mag es nicht, wenn ich sie ganz hineinbringe, so daß ich am Korridor innehalte und sie allein weitergehen lasse. Sie hängt ihren Mantel an einen Haken im Vorraum und winkt. Ich habe mich gerade umgedreht, um zu gehen, als ein kleines Mädchen auf mich zukommt. Sie hat platinblonde Zöpfe, die über ihre Ohren fallen, und immens große grüne Augen, die ihr schmales Gesicht beherrschen. Sie läuft schweigend neben mir her, bis ich sie ansehe.
»Dein Baby ist blind«, sagt der Zwerg.
»Das ist wahr«, antworte ich, als ich die Treppe hinuntereile. Heute werde ich arbeiten, denke ich. Heute werde ich arbeiten.
Als ich nach Hause komme, trage ich Rachel nach oben und lege sie auf den Rücken in die Mitte ihrer Matte. Um sie herum sind die Spielzeuge, die knattern, klingeln, quietschen und brummen oder Musik machen würden, wenn sie Sie nur anfassen würde. Sie hat keine Sehkraft, die sie stimulieren könnte, sieht keine schönen, leuchtenden Dinge um sich herum, die schön anzulangen oder in den Mund zu nehmen wären.
Aber wenn sie erst oft genug gegen diese Spielzeuge gestoßen ist, wird sie lernen, daß um sie herum eine Welt existiert.
Ich kitzle sie und gebe ihr einen Kuß, streichle ihre Backen und rufe sie, bis sie mich scheu anlächelt. Ich nehme sie hoch und werfe sie in die Luft. Sobald ich damit aufhöre, schläft sie wieder ein. Ich stehe auf. Ich gehe im Kreis herum, bis ich mich daran erinnere, was ich mir vorgenommen habe. Heute ist der Tag. Heute werde ich arbeiten.
Ich nehme das Manuskript vom Bücherschrank und finde das Kapitel, an dem ich gerade arbeitete, als wir Florida verließen. Die getippten Zeilen sind umrahmt von handschriftlichen Bemerkungen, die auch sämtliche Ränder füllen, so daß man, um die Korrekturen entziffern zu können, das Blatt in alle Richtungen drehen muß. Wo war ich? Ich war so lange draußen, daß es schwierig ist, diese Welt, die ich mir selbst ausgedacht habe, wieder zu betreten. Sogar meine-Handschrift ist unleserlich. Als ich fertig bin, nehme ich den kürzesten Stift und schreibe, bis meine Handrücken schmerzen. Ich mache eine Pause, um eine Tasse Tee zu trinken, und schaue dann auf das
Papier, um zu sehen, was ich zuletzt geschrieben habe:
ROHE MUSCHELN
UNGEWASCHENE FRÜCHTE
LSD, GENOMMEN 1967
WASSER AUS DER WASSERLEITUNG;
TONIK (CHININ?) BEI G.s DICHTERLESUNG
NASSE UNTERWÄSCHE
Rachel wacht auf, und nachdem ich sie gestillt habe, ist es Zeit, Charlotte abzuholen.
Megan, der Zwerg, ist sogleich zur Stelle, als ich zum Hort komme. Sie rennt die Vorhalle herunter und folgt mir bis zu Charlottes Gruppenraum. Ihr schwarzes T-Shirt hat vorne die Aufschrift »Thriller«.
Charlotte steht in der Spielküche und trägt einen samtenen Hut, ein langes verziertes Kleid, das bis zum Boden reicht, und rote Lederschuhe.
Sie macht gerade Tee für einen Teddybär.
»Hallo, Megan«, sage ich.
Sie lächelt mich linkisch an und sagt dann: »Dein Baby ist blind.«
»Das ist es, aber es ist ein sehr liebes Baby. Möchtest du es mal sehen?«
Ich lasse mich auf die Knie nieder und öffne meinen Mantel, so daß Megan sie sehen kann, wie sie schlafend in der Kindertasche liegt. Megan berührt ihre Backen und versucht dann, mit ihrem Finger in Rachels Faust zu kommen. Sie ist sehr vorsichtig, was mir gefällt. Ich fühle mich, als würde ich der Allgemeinheit einen wichtigen Dienst erweisen, indem ich diesem kleinen Mädchen eine frühe Begegnung mit einem blinden Kind ermögliche, so daß sie später einmal keine Angst davor hat. Rachel ist nur ein Baby mit zarter Haut, einem kleinen Mund, offenen Lippen, während sie schläft, und fest verschlossenen Augen.
»Sie ist süß, nicht wahr?«
»Sie ist blind«, sagt Megan und geht.
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13. Dezember
Charlotte kommt von der Schule und sagt: »Wenn mein Geburtstagsfest ist und wir Blinde Kuh spielen, braucht man Rachel die Augen gar nicht zu verbinden.«
»Das stimmt!« antworte ich und hebe sie hoch, um sie zu küssen. Ich kann gar nicht aufhören zu lachen. »Das ist vollkommen richtig.«
Sie weiß alles und macht sich anscheinend keine Sorgen. Rachel ist blind, aber sie ist noch unser Baby. Ich stelle mir vor, wie Charlotte über die Felder geht, mit Rachel an der Hand, und wie sie Blumen pflückt, damit Rachel sie berühren und an ihnen riechen kann. Butterblumen, Schafgarbe, Habichtskraut, die Blumen, die hinter unserem Haus in Maine wachsen…Es macht mir nichts aus, daß diese Vorstellung abgedroschen ist, es macht mir so viel Freude, daß ich, als das Telefon klingelt, mit einem glücklichen »Hallo« antworte.
Es ist meine Mutter. Sie fragt: »Wie geht’s dir, Liébes?«, und ich fange zu weinen an.
»Paul glaubt, daß Rachel taub ist!«
Ich weine nie, wenn Freunde anrufen, obwohl sich mein Körper manchmal so anfühlt, als würde er gleich in Stücke zerbrechen. Nun ruft meine Mutter an und fragt: »Wie geht’s, Liebes?«, und ich fange zu schluchzen an. Das schlimmste ist, daß ich dabei sehe, wie Charlotte mich anstarrt. Die Geschichte wiederholt sich: Sie ist das lebendige Kind und Rachel das tote. Sie wird das Kreuz tragen, indem sie immer versuchen wird, alles für ihre Eltern zu sein, um ihnen ihr gebrochenes Herz wiederherzustellen. Sie wird es versuchen und merken, daß sie es nicht schafft, und ihre Auflehnung wird freudlos sein.
»Mir geht’s gut«, sage ich zu beiden, zu Charlotte und meiner Mutter. »Mir geht’s gut, wirklich. Laß mir nur einen Moment Zeit.«
Ich möchte ihr erzählen, wie viele Artikel ich gelesen habe und wie gut ich vorbereitet bin, Rachel zu helfen. Ich möchte ihr sagen, wie sehr ich Paul liebe und wie entschlossen wir sind, unserer Familie ein schönes Leben zu bereiten. Ich hole tief Luft, um den Atem anhalten zu können.
»Ich habe mich verschluckt«, klage ich, und es ist wahr. Ich bekomme keine Luft, ich habe keine Kraft mehr, ich werde nicht frei davon.
»Ich weiß«, sagt sie. Ihre Tochter starb, und die gesunde Tochter, nämlich mich, hat sie aus den Augen verloren. Sie war damals an der Stelle, an der ich heute bin, und sagt: »Bestimmte Tage sind schlimmer als andere — wer weiß warum. Vielleicht hast du heute ein anderes Baby gesehen, ein gesundes. Vielleicht ist es das Wetter. Oder es war einfach ein schlechter Tag. Aber glaube mir, Jane, eines Morgens wirst du aufwachen, und du wirst nicht mehr weinen.«
»Niemals!« schluchze ich.
»Du hast Paul und Charlotte. Du kannst dich nicht so auf das Baby fixieren, daß du sie vergißt. Ehen gehen wegen so etwas kaputt.«
»Ich weine nicht«, sage ich und atme kurz und hart wie Rachel damals, nachdem Dr. Hines ihr Augentropfen gegeben hatte. »Ich Weine wirklich nicht.«
Als Paul von der Arbeit nach Hause kommt, erwarte ich ihn an der Tür, mit trockenen Augen und lächelnd.
»Hör mal zu«, sagt er, »in meiner Abteilung gibt es zwei Männer, die Ross heißen, zwei Taiwanesen, zwei Männer mit Glatze, und zwei Väter von blinden Kindern…he, du wolltest lachen, nicht wahr?«
Ich folge ihm in die Küche, wo er eine Banane schält und mit drei Bissen verschlingt.
»Wer hat noch ein blindes Kind?«
»Michael Leahy…seine Tochter ist allerdings schon fünfzehn. Eine Frühgeburt, glaube ich.«
»Ah, retrolentale Fibroplasie. Eine zu hohe Sauerstoffkonzentration im Inkubator, was die Retina geschädigt hat.« Es ist unglaublich, was ich alles über Blindheit weiß! Wenn ich doch nur gar nichts darüber wüßte! »Was hat er gesagt?«
»Nichts.«
»Wie hast du es dann erfahren? Hat es dir jemand anderes erzählt?«
»Michael kam heute nachmittag in mein Zimmer.«
»Und…?«
»Er fing an zu weinen.«
O mein Gott, denke ich. Sie ist fünfzehn Jahre alt, und er weint immer noch.
Die Krankenhausstadt
14. Dezember
Paul nimmt sich den Tag frei, an dem Rachel ins Krankenhaus eingeliefert werden soll. Er frühstückt mit uns, aber nachdem ich Charlotte zur Schule gebracht habe, sehe ich, daß er schläft, ein Kissen um seinen Kopf gepackt. Ich verkneife es mir, ihn zu wecken, und gehe nach oben in mein Büro.
Wir haben keine genaue Vorstellung, wann Rachel aufgenommen wird, wir wissen nur, daß wir im Laufe des Tages angerufen werden. Wenn es soweit ist, werden wir die Kinder und unser Gepäck einsammeln und zur Krankenhausstadt fahren, wo ich die Nacht bei Rachel verbringen werde. Paul wird zu meinen Eltern weiterfahren, bei denen Charlotte den nächsten Tag bleiben wird.
Das Telefon steht den ganzen Morgen still, und Paul wird und wird nicht wach. Es überrascht mich nicht. Seit der Diagnose schläft er nur mit Unterbrechungen. Er schläft relativ leicht ein, wacht aber mitten in der Nacht auf, ißt etwas, sieht fern oder arbeitet am Computer. Morgens finde ich Bananenschalen, Krümel, Messer mit Erdnußbutterresten, die Weste und Pantoffeln, die er in diesen späten Stunden, in denen die Heizung nur schwach läuft, anhatte, um nicht zu frieren. Ferner Stapel mit Spektralzeichnungen, Diagramme von hochenergetischen Phosphaten, die man aus Batterien mittels der NMR-Spektroskopie erhält. An Werktagen streckt er sich oft vollständig angezogen mit Jackett, Handschuhen und Hut auf dem Fußboden aus und hält ein zehnminütiges Nickerchen, bevor er das Haus verläßt, aber wann immer er Zeit hat, verbringt er Stunden mit einem Kissen um den Kopf gewickelt. Daß er an Wochenenden so viel schläft, beunruhigt mich sehr. Ich weiß, daß er es braucht und daß er trotz seines Optimismus (»Ihr Leben kann immer noch erfüllt sein«) niedergeschlagen ist. Ein Blick auf ihn — Augen geschlossen, Schaumgummipfropfen in den Ohren — bestätigt das. Und dennoch, wenn ich ihn so sehe, denke ich daran, daß ich ihn verlieren könnte. Er könnte bei einem Unfall ums Leben kommen, chronisch erkranken, sich eine seltene Krankheit zuziehen. Alles kann passieren, ist ja schon passiert.
Ich arbeite immer noch an demselben Kapitel, das ich in der Woche, bevor wir aus Florida abgereist sind, begonnen habe. Als ich die mit vielen Korrekturstrichen versehenen Seiten, die ich kaum noch entziffern kann, überfliege, komme ich mir vor wie Joseph Grand aus Die Pest, der ein Leben lang damit beschäftigt war, einen einzigen Satz zu vervollkommnen. Es ist einfach lächerlich, jeden Tag die Treppe hochzusteigen und in meinem Büro zu sitzen, um nichts weiter zu tun, als hie und da ein Wort zu verändern, aber ich bin wie ein alter Milchkarrengaul, der nur einen Weg kennt.
Ich lese mehrere Abschnitte, bringe über einer Zeile neue Zeichen mit dem Bleistift an, flitze über das Papier und fahre fort herumzukritzeln. Als ich mein Gefühl für Ort und Zeit wiedergewinne, ertappe ich mich bei der Lektüre eines Artikels über die Stimulation der Sinne. Ich habe keine Ahnung, wie ich von dem einen zum anderen gekommen bin, ich weiß nur, daß ich hier bin mit dem Artikel, der auf meinem Manuskript liegt, und daß das Telefon nicht geklingelt hat.
Der Artikel ist in einer geschlechtsneutralen Sprache geschrieben. Anstatt er oder sie, oder er/sie zu gebrauchen, heißt es, »ihr visuell beeinträchtigtes Kind«. Mein visuell beeinträchtigtes Kind könnte kein Körpergefühl haben. Ich kann ihm dabei helfen, indem ich meinem visuell beeinträchtigten Kind Glocken an Handgelenke und Knöchel binde. Das ist auch eine gute Methode für mein visuell beeinträchtigtes Kind zu lernen, daß es Töne hervorbringen kann, damit es veranlassen kann, daß; etwas willentlich geschieht. Ohne Hilfe wird es dieses einfache Phänomen möglicherweise lange Zeit nicht verstehen.
Ich muß diese Glocken sofort haben. Ich renne hinunter, um Paul von den Glocken zu erzählen und finde ihn immer noch schlafend vor, das Kissen um den Kopf gewickelt. Ich rolle ihn hin und her wie ein rundes Stück Holz, aber er wird nicht wach. Wenn ich das Haus verließe, könnte es passieren, daß Rachel stundenlang schreit, das klingelnde Telefon unbeachtet bleibt und das Krankenhausbett von jemand anderem belegt wird. Dennoch, ich muß die Glocken haben. Ich schleife den Apparat an den Bettrand und stelle die Lautstärke auf Maximum, befestige das Tragegestell an meiner Brust und gehe mit Rachel los.
Es ist kalt draußen, der Himmel hat eine Farbe wie Spülwasser. Rachels Körper wird von den Kordschichten warmgehalten, und auf dem Kopf trägt sie eine Angoramütze, die ihr ständig in die Augen rutscht. Bis auf den regen Verkehr bei der Ein- und Ausfahrt des Supermarktparkplatzes ist kein Leben auf den Straßen. Alle paar Meter sind stilisierte Christbäume aufgestellt, das synthetische, grüne Zeug, aus dem sie gefertigt sind, schimmert im Wind. Die Ecken der Schaufensterscheiben sind weiß von künstlichem Frost.
Das Kurzwarengeschäft führt keine Glocken, das 5 & 10 auch nicht. Die einzigen Glocken in dem Spielwarenladen hängen an kleinen Schraubzylindern, die dazu dienen, Kinderschnürsenkel zu sichern. Die Verkäuferin erkundigt sich, wozu ich die Glocken brauche. Ich sage ihr, daß ich sie an die Handgelenke und Knöchel meines Babys binden will.
»Das ist aber eine gute Idee!« sagt sie. Dann bückt sie sich ein wenig und öffnet meine Jacke. »Wunderschön«, sagt sie.
Blind, denke ich.
Jetzt verstehe ich Megan endlich. Ich habe es so lange vermieden, das Wort zu gebrauchen, daß ich mich schon ganz geschwollen fühle, weil ich es so lange unterdrückt habe. Ich fühle mich, als ob ich platzen würde, wenn ich so weitermache und so tue, als wäre sie ein normal sehendes Baby.
»Sie weiß nicht, wo ihre Füße sind«, sage ich.
»Natürlich nicht.«
Sie streichelt mit dem Zeigefinger Rachels Wange, ganz sachte, eine solch zärtliche Geste, daß ich mich selbst in ihrer Bewunderung verliere, in der Vorstellung eines perfekten Mutter-Kind-Glückes. Das beschäftigt mich, bis wir ein neues Geschäft erreichen, in welchem geschickt verpackte und gänzlich überflüssige Sachen verkauft werden.
Ich möchte keine Beifallsschachtel, die einem applaudiert, wenn man sie öffnet, und keinen Schemel, dessen Beine zwei große Turnschuhe bilden, und auch keinen Schnabel mit einer feministischen Botschaft. Glocken will ich, und ich finde sie hinten im Laden, bei den Bändern und dem Geschenkpapier — Weihnachtsglöckchen aus Messing mit einer Schlaufe, durch die man eine Schnur ziehen kann. Ich nehme ein Dutzend mit zur Kasse. Die Verkäuferin packt sie in eine chinesische Schachtel (auch in Keramik erhältlich).
»Frou-frou?« fragt sie.
»Frou-frou?«
»Fein«, sagt sie, während sie die Schachtel mit einer Art glitzernder Holzwolle füllt.
Ich will gerade die Straße überqueren, als ein großer Lastwagen neben mir anhält. Die Schiebetür geht auf, und eine schwangere Frau winkt mir. Zwei Kinder schlafen auf den Rücksitzen; eines sitzt vorne und dreht an einem Spielzeuglenkrad, das an seinem Sitz befestigt ist.
»Sie sind Charlottes Mutter«, sagt sie, während sie sich aus dem Lastwagen herauszwängt.
Sie hat langes, dunkles, aus dem Gesicht gekämmtes Haar. Ihre Haut ist tadellos, ihre Lippen gewölbt, ihr Ausdruck ist etwas eigenartig und glückstrahlend. Nach einer Weile erkenne ich sie, es ist die Mutter von Charlottes Spielkameraden Nicholas, der die Hände seiner He-Man-Puppe abgeknabbert hat.
»Wie geht’s dem Baby?« fragt sie.
»Fein.« Hat sie gehört? Hat sie nicht? Ist es notwendig, daß ich mit einer fast Unbekannten darüber spreche?
»Es gab einen Grund für ihre Geburt«, sagt sie.
Aha — sie weiß es also. »Wir dachten, es läge an den Muscheln«, teile ich ihr mit.
»Vielleicht hat Gott gerade in Ihre Familie ein besonderes Baby gebracht, weil er wußte, daß Sie ihm ein glückliches Leben geben können.«
Ihre Stimme ist wie Samt, ihr Lächeln heilig. Ich denke an ihren Sohn, wie er an den Händen seiner Puppe kaut, und dann an ihre Worte: Gott brachte uns ein besonderes Baby. Ich möchte ihr sagen, daß ich nicht glaube, daß Blindheit irgend etwas Besonderes ist und daß Gott nicht existiert, aber plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher.
»Es gibt für alles einen Grund«, versichert sie.
»Danke«, sage ich.
Ich renne den ganzen Weg nach Hause. Die Glocken klingeln dumpf, eingehüllt in der Holzwolle. Rachel hüpft an meiner Brust. O Gott, O Gott, O Gott.
Paul liegt auf dem Rücken im Bett. Seine Augen sind offen.
»Sag mir die Wahrheit. Ich weiß, daß du nicht an Gott glaubst, aber wie sieht es in Zeiten der Not aus, wie war es, als dir das Stückchen Steak im Hals steckengeblieben ist und du keine Luft mehr bekommen hast, als du geglaubt hast, daß du sterben mußt? Hast du nicht gedacht — bitte, lieber Gott, laß mich nicht sterben?«
»Und wenn ich so gedacht habe, dann war es nur eine Redewendung.«
»Hast du jemals an ihn geglaubt?«
»Es ist, wie wenn du zu einem Lkw-Fahrer, der dich schneidet, ›leck mich‹ sagst. Man ist nicht wirklich daran interessiert, von ihm irgendwo geleckt zu werden, und man schert sich nicht die Bohne um sein Sexualleben. Man hat irgendwann einmal gelernt, ›leck mich‹ zu sagen, wenn man sauer ist, deshalb sagt man es.«
Ich erzähle ihm von Nicholas Mutter, von ihrer weichen Haut und ihrem Mona-Lisa-Lächeln, und wie sie gesagt hat, daß es einen Grund gäbe.
»Es gibt einen Grund, es war die Amniozentese, ich bin sicher. Sie haben dich dreimal gestochen, bevor sie Flüssigkeit entnehmen konnten. Einmal müssen sie dir dabei einen Virus in den Uterus gepflanzt haben, darauf wett’ ich was.«
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Als wir um fünf Uhr immer noch keinen Anruf erhalten haben, rufe ich den Neurologen an. Seine Sekretärin sagt mir, daß wir sofort losfahren sollen.
Draußen regnet es in Strömen. Paul und ich schnappen uns jeder ein Kind und rennen zum Wagen. Den ganzen Tag über dieses ätzende Warten, doch erst jetzt bin ich nervös. Weshalb? Paul haßt den Gedanken an Rachels Vollnarkose — er würde alles tun, um das zu verhüten, wenn es nicht um die unerläßliche CT-Untersuchung ginge. Für mich ist die Narkose kein Problem, obwohl ich die Risiken kenne. Die septo-optische Dysplasie beunruhigt mich nicht, da ich nicht ganz verstehe, was das ist, auch nicht die Möglichkeit eines Gehirntumors, da ich der Stimme von Dr. Hines entnommen habe, wie gering diese Möglichkeit ist. Es ist der Reiz-Reaktions-Test, der mich zum Zittern bringt, wenn ich mir erlaube, daran zu denken, denn er wird uns darüber Aufschluß geben, ob Informationen von Rachels Netzhaut zu ihrem Sehzentrum in die Großhirnrinde gelangen. Zuversicht und Pessimismus wechseln sich in mir ab. Sie wird sehen! Sie wird niemals sehen! Und wenn das Stammhirn gereizt wird, wird sie hören können! Sie ist taub!
Als wir in der Krankenhausstadt ankommen, ist gerade Berufsverkehr. Wir fahren an der Augen-, Krebs-, Gehirn- und Hauptabteilung vorbei und folgen den Hinweisschildern an dem hohen dunkelgelben Gebäude, zu dem Räume für Frauen und Kinder gehören wie Rettungsboote zu einem sinkenden Schiff. Jeder, den wir antreffen, arbeitet in der Krankenhausstadt. Sie leeren Bettschüsseln aus, messen den Blutdruck, kontrollieren die Reflexe, untersuchen Stuhlproben, bereiten die Mahlzeiten zu, polieren die Fußböden, trösten die Familien der Sterbenden, bilden Assistenzärzte aus und richten Dampfkessel. Unsere Krankheit ist ihre Arbeit.
Es regnet immer noch sehr stark. Ich lasse meine Familie im Auto zurück und eile in das Gebäude. Die Empfangsschwester neben dem Eingang fragt mich nach meinem Namen, ich stammele meinen Vornamen, bevor ich daran denke, unseren Familiennamen zu nennen. Sie sagt mir, daß für mich und Rachel oben kein Zimmer frei ist und daß wir in ein paar Stunden wiederkommen sollen. Ich habe den ganzen Tag gewartet und bin nicht mehr fähig, länger zu warten. Es muß ein Zimmer frei sein. Es muß ein Zimmer geben, und wenn sie uns eines bauen müßten. Ich antworte der Empfangsschwester nicht.
Ich laufe wieder nach draußen und setze mich in den warmen Wagen. Regenwasser ist in meine Schuhe gedrungen, und meine Zehen sind taub. Ich verabschiede mich von Paul und sage alles, was mir gerade einfällt. Schlaf gut, fahr vorsichtig, bis morgen, ich liebe dich. Dann klettere ich auf den Rücksitz neben Charlotte. Sie schaut gar nicht zu mir auf, ich flüstere zärtliche Worte, sie kramt in einem länglichen Beutel, in dem sie ihre kleine Puppe, die ich ihr zu Rachels Geburt gekauft habe, aufbewahrt, ihre Kleider und Schuhe und das ganze Zubehör, das heutzutage zu einer Puppe gehört. Sie ist so sehr von dem Inhalt des Beutels in Anspruch genommen, daß es mir leichtfällt anzunehmen, daß ihr diese Trennung, schließlich nur für eine Nacht, nichts bedeutet.
»Viel Spaß bei Großmutter«, sage ich.
Ihre Finger bewegen sich nicht. Für einen Augenblick schaut sie auf, dann zerrt sie einen kleinen Schuh aus dem Beutel und versucht verzweifelt, ihn dem Fuß der Puppe anzuziehen. Lustig! Sie hat mich weinen sehen, sie stand daneben, als Paul und ich unseren Besuchern immer wieder die gleiche Geschichte erzählt haben. In dem Haus, in dem sie lebt, ist die Familie von Rachels Augen besessen. Und jetzt verlasse ich sie. Als ich mich entschloß, bei Rachel zu bleiben, schien es absolut richtig. Charlotte konnte ich sagen, daß ich zurückkommen würde, während Rachel morgen früh allein aufwachen würde, falls ich nicht da wäre, und nicht wissen würde, daß es nur für eine Nacht ist. Sie würde vielleicht aufwachen, stundenlang schreien und die Flasche verweigern,weil sie bisher nur mich gehabt hat. Erst jetzt wird mir klar, daß Charlotte zwar sprechen kann, dies aber nicht heißt, daß sie fähig ist, alles zu verstehen.
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Die Räume der Kinderabteilung sind weihnachtlich geschmückt. Von der Decke baumeln glitzernde Kugeln. Ein Weihnachtsbaum wurde mit Sternen aus angemalten Zungenspateln und ausgeschnittenen Nikoläusen mit Bärten und Knöpfen aus Watte geschmückt. Ein Kind brüllt unaufhörlich.
Es stimmt, daß kein Bett für Rachel frei ist, aber eine Minute nach meiner Ankunft wird ein rostfreies Stahlbett mit hohen Beinen in das Zimmer gerollt, in dem sie schlafen wird. Es ähnelt so sehr einem Käfig, daß es mir weh tut, sie hineinzulegen. Ich ziehe den Vorhang vor, der ihren Käfig von den leeren daneben trennt, dann öffne ich die Nachttischschublade und das schmale Schließfach, als wäre ich in einem Hotel und könnte eine Speisekarte für den Zimmerservice und Postkarten mit türkischen Bädern finden. Gegenüber gibt es einen großen häßlichen Naugahyde-Stuhl und ein Fenster, und als ich die Lamellenjalousie hochziehe, sehe ich all die hohen Gebäude, die die Krankenhausstadt bilden.
Rachel schläft ein, und ich gehe spazieren. Ich finde einen Eisautomaten und das Badezimmer für die Patienten. Die Tische in den Schwesternzimmern sind verwaist, ein kleines Mädchen, das man in einer rostfreien Stahlkrippe abgestellt hat, steht da und beklagt sich. Sie redet so laut und deutlich, daß es scheint, als ob sie in einer fremden Sprache etwas sehr Gebildetes von sich gäbe, aber bei näherem Hinhören entpuppt es sich als Kauderwelsch. Ihr Haar ist blond, das Lächeln ihres Mundes mit den zwei Zähnen bezaubernd. Sie hat keine Finger an einer Hand, ihre Füße sind verkrüppelt. Ich biege um die Ecke, gehe an einem Spielzimmer voller Plüschtiere und einem abgeschlossenen Klassenzimmer vorbei. Im Fernsehraum schaltet ein kahlköpfiges Kind in einem zu großen Pyjama mit Hilfe der Fernbedienung von einem Programm zum anderen. Mit Charlottes Geburt verließen wir die kinderlose Welt des morgendlichen Sexuallebens, der nächtlichen Partys und der Freunde der objets d’art auf niedrigen Tischen. Rachels Geburt brachte uns hierher.
Sie schläft auf dem Rücken, mit den Armen über dem Kopf, ihre Beine sind angewinkelt. Ich decke sie mit einem zusätzlichen Laken zu und öffne den Reißverschluß meiner Übernachtungstasche, um etwas zum Lesen zu suchen. Ich habe genug dabei — Das Gefühlsleben von Blinden, Wie man ein kleines blindes Kind erzieht. Da sind auch die Autobiographien zweier blinder Männer, aus denen keine Musiker geworden sind, und verschiedene Kopien von Zeitschriftenartikeln.
Ein Mann geht vorbei und schüttelt seinen Regenschirm aus. Wassertropfen fliegen in mein Zimmer. »Schrecklich, wie es regnet«, sagt er. Eine Krankenschwester kommt mit einer Schachtel Windeln und Einwegwäsche herein. »Es regnet«, sage ich zu ihr. »Aprilregen bringt Maiblumensegen«, entgegnet sie.
»Im Dezember?«
Sie hebt Rachel an den Knöcheln hoch und schiebt eine Unterlage unter sie. »Die sind praktisch«, sage ich zu ihr. Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll.
»Nehmen Sie ein paar.«
Sobald sie wieder weg ist, stecke ich die Unterlagen bis auf zwei in meine Übernachtungstasche. Um den Reißverschluß zuzuziehen, muß ich mich auf die Tasche setzen.
Als der Stationsarzt kommt, um Rachel zu untersuchen, kämpfe ich gerade mit meiner Tasche, die Knie am Kinn. Ich springe auf, um ihn zu begrüßen.
Das Gesicht des Stationsarztes und das auf seiner Jackentasche befestigte sind recht unterschiedlich. »Sie haben sich rasiert«, sage ich, worauf er sein Kinn berührt. Er öffnet die Druckknöpfe von Rachels Strampelanzug und versucht, die Arme freizubekommen. Er ist nicht sehr geschickt dabei, so daß ihr Körper in eine komische Lage fällt. Sie wacht auf und schaut finster. Als der Anzug endlich ausgezogen ist, setzt er ihr das kalte Stethoskop an die Brust, und sie beginnt zu wimmern.
Ihr Weinen übertönend, fragt er: »Wann haben Sie zuerst bemerkt, daß sie, äh, daß sie nicht, äh, —« Er ist genauso schlecht wie ich.
»Daß sie nicht sehen kann? Also —« Ich habe soviel Übung beim Erzählen meiner Geschichte, daß ich mir dabei nicht mal mehr zuhören muß. Ich sage, daß Paul begonnen hat, sich Sorgen zu machen, als sie einen Monat alt war, daß wir sie »Fräulein Argwohn« genannt haben, und wie ein Bericht in meiner Zeitschrift mich davon überzeugt hat, daß etwas nicht stimmt. Ich erzähle ihm ein bißchen über die Unterredung mit Dr. Hines, die zu dem Entschluß geführt hat, die morgige CT-Untersuchung durchzuführen.
»Wer ist der Neurologe?«
»Dr. Klibansky. Er wurde uns noch nicht vorgestellt.«
»Klibansky!« Seine Augenbrauen gehen hoch.
»Ist er gut?« frage ich.
»Der beste, aber…schwierig«, sagt der Stationsarzt.
Er hört ihre Herztöne ab, sieht ihr in die Augen und Ohren, zieht sie an den Fingern hoch, bis sie sitzt, zieht sie höher, bis sie auf wackeligen Beinen steht. Es sind ihre Augen, möchte ich sagen. Ihre Augen sind das Problem. Wonach sucht er?
»Mein Mann glaubt, daß sie taub sein könnte«, sage ich.
Er stellt sich neben sie und klatscht heftig in die Hände, und als sie erschrickt, sagt er: »Sie kann hören.«
»Und sonst? Scheint sie in Ordnung? Dr. Hines meinte, daß es keine anderen Komplikationen gäbe.«
»Sie scheint in Ordnung, die Spannkraft der Muskeln ist gut. Mehr kann ich wirklich nicht sagen.«
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Linda ruft an und fragt, ob ich gerne Gesellschaft hätte. Ich bin zu leer, um noch zu wissen, was ich möchte, deshalb sage ich »Mir geht’s gut«, wobei ich annehme, daß das stimmt.
»Hast du gegessen? Ich könnte euch etwas zum Essen bringen.«
Mir ist immer noch nicht klar, was ich will, deshalb sage ich, daß es ein schrecklich langer Weg hierher ist und daß die Umgebung schlecht ist. Ich gehe keine Wände hoch, schreie nicht jammere nicht und raufe mir nicht die Haare. Ich warte bloß.
»Willst du mir sagen, daß du keine Besucher wünschst, oder willst du und hast Probleme, es zu sagen?«
Oder was? Vielleicht kann ich ihr Angebot nicht ablehnen, weil ich sie nicht ausschließen will. Vielleicht bringt mich die Tatsache, Hilfe zu brauchen, in Verlegenheit. Wenn sie kommt, werde ich ihr nichts Neues oder Lustiges erzählen können. Ich könnte am anderen Ende des Zimmers sitzen, stumm und ausgehöhlt wie jetzt, oder ich könnte plötzlich zusammenbrechen, was dieser Tage auch schon vorgekommen ist, im einen Moment in Ordnung, im nächsten verzweifelt schluchzend.
Sollte ich es versäumt haben, einige Familientraditionen zu pflegen? Eines wurde mir besonders gut eingeschärft: Beklage dich nicht. Du weißt was passiert, wenn du ein Jammerlappen wirst, nicht wahr? Nach einer Weile werden deine Freunde die Straßenseite wechseln, wenn sie dich kommen sehen — das predigte mir meine Mutter, so wie es ihre ihr gepredigt hatte.
»Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, daß ich kommen möchte, daß es mir guttut, einer Freundin zu helfen?« fragt Linda. Das verändert die Sachlage so, daß ich das Gefühl habe, ihr einen Gefallen zu erweisen, wenn ich einverstanden bin.
Erst als sie ankommt, eine große Einkaufstüte schleppend, wird mir klar, daß ich mich freue, sie zu sehen. Ich klappe die Broschüre zu, in der ich gerade las, und sage: »Blinden Mädchen muß man beibringen, ihre Beine zu kreuzen, wenn sie Röcke tragen.«
»Muß ich lachen?«
»Du mußt nicht.«
»Gut. Können wir uns irgendwo hinsetzen?«
Sie nimmt die Tüte und folgt mir den Korridor hinunter. Ich plappere, während wir gehen, in der Hoffnung, sie von eventuellen erschreckenden Dingen abzulenken. Die Umgebung sieht jetzt sehr freundlich aus. Das Fernsehzimmer ist leer. Linda nimmt einen halben Liter Apfelmost aus der Tüte, Käse, Äpfel, einen Behälter, der mit Reis und Sojabohnen gefüllt ist, und ein großes Stück Vollkornbrot. Sie breitet das Essen auf einem Papiertischtuch aus, das quer über einen Glastisch läuft, und sagt: »Iß!«
Mein Appetit war immer wie ein wildes Tier, das in mir lebt, groß und unersättlich, und um die Herrschaft über meinen Willen kämpft. Das war immer so. Schon als Kind konnte ich mich zu den Mahlzeiten aufraffen, auch wenn mich Fieberträume plagten und ich Engel über meinem Kopf sah. Aber die Kreatur schläft jetzt. Der Essensgeruch, von dem ich verstandesgemäß weiß, daß er gut ist, verursacht ein unwohles Gefühl in meinem Magen. Linda scheint es nichts auszumachen. »Du kannst später essen«, sagt sie.
Sie greift in die Tüte und zieht die Ausgabe eines modischen City-Magazins heraus, das mit Starinterviews gesteckt voll ist. Ich bin im Begriff, es beiseite zu legen, als sie mir mit ihrem Kinn bedeutet, es zu öffnen. Ich breite die Zeitschrift auf dem Glastisch aus und blättere die Seiten um. Die Werbung ist voller Modelle mit spitz abstehendem Haar in verrückten Farben, Schultern wie Rugby-Spieler und fluoreszierenden Armbändern.
In der Mitte des Magazins entdecke ich eine ganzseitige Fotografie eines jungen, brandneuen Stars namens Matt Dillon. Sein Haar ist nach oben gestylt, seine Lippen wölben sich zu einem halben Lächeln. Obwohl seine Aufmachung streng aussieht, kann nichts seine reine Haut und seine strahlenden Augen verbergen, die Unschuld wirft seine Pose über den Haufen.
Vor acht Jahren, als Linda und ich für einen unserer Freunde als Talentsucher arbeiteten, entdeckten wir diesen Jungen in einem Gymnasium in Westchester. Wir waren den ganzen Tag durch das Gebäude gezogen und hatten auf der Suche nach dem neuen James Dean in die Klassenzimmer gespäht. Wir hatten schon ein Dutzend Jungen aus ihrer Klasse gefischt — jeder von ihnen attraktiv und aufgeweckt —, hatten sie in die Halle mitgenommen und mit Fragen bombardiert. (Wer ist dein bester Freund? Was macht dich verrückt? Bist du schon jemals aufgetreten?) Wir waren müde und bereit, nach Hause zu gehen, als die Glocke läutete und die Räume sich leerten und als er um die Ecke geschlendert kam, gleichermaßen hart und hübsch, mit einem Schliff und einer künstlerischen Ausstrahlung, daß alle anderen ausschieden. Er wurde für die Hauptrolle ausgewählt und glänzte in dem Film unseres Freundes und dann in einer Reihe anderer. Sein Bruder wurde Schauspieler. Ein anderer hat kürzlich Interesse bekundet.
Was wäre, wenn Matt in seiner Klasse gewesen wäre, in der er eigentlich sein sollte? Ich kann nur daran denken, wenn immer ich sein Bild sehe. Was wäre, wenn Linda und ich einen anderen Weg genommen hätten oder einen Augenblick eher gegangen wären? Es war nicht so, daß er ein einzigartiges Talent gehabt hätte, so daß er früher oder später notgedrungen entdeckt worden wäre. Es war ein Blick, der uns gefiel, eine Pose, die wir haben wollten, das war alles.
»Hat er uns erwähnt?« fragte ich.
»Lies und du wirst sehen.«
Ich verstaue die Zeitschrift in der Einkaufstüte. Linda erzählt mir Neuigkeiten über gemeinsame Freunde, über Filme, die sie gesehen hat, und über mögliche Jobs und klatscht über Matts Karriere. Ich bin ruhig und höre zu und hoffe, daß sie niemals aufhört.
Das kahle Kind, ein halbwüchsiger Junge, wie ich sehe, kommt mit einem rothaarigen Mädchen zurück, die einen Doppelstecker heranschleift. Sie setzen sich hin und schalten den Fernseher an. Das Mädchen schaltet mit der Fernbedienung von einem Kanal zum anderen, während der Junge mit dem Farbenregler herumspielt, bis die Gesichter auf dem Bildschirm purpurrot und die Augenhöhlen blau sind. Die Rothaarige nimmt eine Zigarette, die wie ein Kaminrohr gebogen ist, aus ihrer Tasche und sagt: »Haben Sie mal Feuer?«
»Bitte nicht rauchen«, sage ich.
Mein Einwand hat nichts mit meinem Recht auf gute Luft als Nichtraucherin zu tun. Es ist die Bitte einer Mutter, und sie versteht sie auch so. »Sie können gehen, wenn es Ihnen nicht gefällt«, sagt sie.
Linda packt das Essen in den Beutel zurück, und wir gehen in Rachels Zimmer. Da ist ein Sims unter dem Fenster, breit genug, um seitlich darauf zu sitzen. Wir schauen eine Weile hinaus. Das erste, was ich sehe, ist mein eigenes Spiegelbild, die dunklen traurigen Augen, die Mundwinkel so herabhängend, daß ich sie komisch gefunden hätte, wenn sie zu jemand anderem gehört hätten. Dann fällt mir auf, wie lebendig die Stadt draußen ist, als ob der Regen den ganzen Unrat weggewaschen hätte. Die Straßen glänzen wie echtes Leder; die Autos bilden ein leuchtendes Band ohne deutlichen Anfang oder Ende. Wir beginnen zu erzählen, das traurige Gesicht verschwindet, und die Stadt entfernt sich aus meinem Blick. Jetzt gibt es nur noch uns: zwei weiche Stimmen in einem dunklen Zimmer, ein romantisches Gespräch, unwiderstehlich und schmerzhaft zugleich. Sie erinnert sich, wie sie mich zum erstenmal getroffen hat, wie fröhlich und lustig ich ihr erschienen war; ich erinnere mich, wie vertrauenerweckend sie schien und wie sie sich nach vorne gebeugt und auf ihre Schenkel geklatscht hatte, wenn sie lachte.
Jahrelang kannten wir dieselben Leute, aber nicht einander. Unsere gemeinsamen Freunde sagten immer: »Ihr solltet euch kennenlernen«, und so ist es dann auch gekommen. Sie fand eine Wohnung für mich, nur durch einen Gang getrennt von ihrer. Fast von Anfang an arbeiteten wir zusammen. Vor elf Jahren schrieben wir gemeinsam ein Manuskript für eine Gesellschaft, die Aufklärungsfilme produzierte. Danach kamen zwei Drehbücher, die niemand wollte, dann ein viertes, das wir für ein Studio geschrieben hatten, das in finanziellen Schwierigkeiten steckte und uns für eine zweite Fassung nicht bezahlen konne. Diese Arbeit, die wir zwischen Familie und bezahlter Arbeit einschieben, ist die Basis für unsere Freundschaft, obwohl wir uns selten außerhalb unserer Arbeit sehen und selbst dann wenig Zeit haben, um über uns zu sprechen. Nun werden wir in diesem kalten dunklen Zimmer von unseren Worten davongetragen.
Wir sprechen immer noch über. Männer, obwohl ich in acht Jahren keine Verabredung hatte und sich meine Geschichten abgedroschen anhören, weil sie so oft erzählt worden sind. Es tut weh, über die Vergangenheit zu sprechen, weil es bedeutet, den Teil von mir auszugraben, der, wie ich fühle, durch den ganzen Kummer verschüttet wurde; gleichzeitig möchte ich an diesem Teil von mir festhalten. Sie mag unzugängliche Männer, die distanziert sind — Helden. Der beständigste Mann in ihrem Leben ist mit einer anderen zusammen, zweitausend Meilen entfernt. Ich mag sanfte, zärtliche Männer, die mich bis zur Raserei lieben. Sie fühlt sich als Baumeister ihres Lebens, und ich fühle mich wie ein vom Wind hin und her gewehtes Blatt, mein Leben ist nicht mehr im Einklang mit dem Bild, das ich von mir habe.
Die Deckenbeleuchtung geht an, und wir werden in strahlende Helligkeit getaucht. Zwei Krankenschwestern rollen ein Bett für Erwachsene herein und stellen es neben dem Käfig auf. Es liegt jemand darin, der mit tiefer Stimme stöhnt. Es ist ein Mann, um Gottes willen, sie rollen einen sterbenden Mann in mein Zimmer!
»Entschuldigen Sie, ich dachte, hier sei die Kinderabteilung«, sage ich zu der Krankenschwester, die die Vorhänge zuzieht. »Es ist die Kinderabteilung«, sagt sie und verschwindet mit einem leeren Käfig.
»Ohhhhhhhhhhhhhh«, stöhnt der Mann.
Linda und ich warten. Er hört auf. Eine Sekunde später beginnt er zu röcheln. Es klingt, als hätte er Kieselsteine in seiner Luftröhre. Rachel fängt an zu weinen, deshalb nehme ich sie in die Arme und verlasse den Raum.
Wir gehen den Korridor hinunter auf der Suche nach einem leeren Zimmer, als uns eine große Krankenschwester mit kurzer Uniform und Kniehosen anspricht.
»Geben Sie mir das Baby her, dieses Baby ist noch nicht eingesackelt worden«, sagt sie.
»Eingesackelt?« Ich sehe Bilder aus dem Vietnam-Krieg, Körperteile von Soldaten, die in Säcken nach Hause transportiert werden. Ich sehe einen großen Beutel, eine Art Seesack, der mit einem Tuch zugebunden ist, und meine Tochter in der Dunkelheit darin gefangen.
»Kommt nicht in Frage.«
»Ihr Urin muß heute nacht aufgefangen werden. Es muß sein. Achten Sie bitte dafauf!«
Es ist zwei Uhr nachts. Ich übergebe Rachel der Krankenschwester und nehme mit Linda den Aufzug nach unten.
Der Haupteingang ist abgeschlossen. Wir rütteln mehrmals an der Tür, starren sie stumm an, bis ein Wächter erscheint, der uns umständlich den Weg zur Notaufnahme erklärt, die ständig geöffnet ist.
Wir steigen ein paar Treppenstufen hinab, gehen von einem Gebäude zum nächsten durch aufeinanderfolgende Gänge. Ein Weg durch Flure voller zerbrochener Pflastersteine und weggeworfener Nägel. Er scheint endlos, als ob uns ein feindlich gesinnter Wächter einen Streich gespielt hätte. Dann gelangen wir in einen überfüllten Raum, in dem unglückliche Gestalten in vergammelten Stühlen vor sich hindämmern. Die Tür ist offen.
Es hat aufgehört zu regnen, die Luft ist feucht und kalt. Ich warte mit Linda auf ein Taxi, und als ein paar Minuten verstreichen und keines kommt, gehe ich mit ihr zu einem Polizeiauto und frage den Fahrer, ob er sie zu einem sicheren Platz bringen kann.
Der Polizist erklärt sich ohne zu zögern dazu bereit. Ich bin so überrascht, als hätte ich ihn behext. Linda rutscht auf den Rücksitz und winkt mir zum Abschied. Auf dem langen Weg zurück zu den Frauen und Kindern denke ich an jenen kurzen unwahrscheinlichen Augenblick und wünsche, daß es auch einen Zauber für Rachel gäbe.
Als ich oben in der Kinderabteilung ankomme, höre ich das Schreien. Es scheint das gleiche Weinen zu sein, das ich gehört habe, als ich vorhin ankam, und ich bin erstaunt darüber, daß ich diese verzweifelten Töne so viele Stunden verdrängen konnte. Als ich auf unser Zimmer zu gehe, wird mir klar, daß es nicht dasselbe Schreien ist; es ist ein Kind im selben Alter wie das erste. Kläffende Hunde klingen unterschiedlich, aber alle Babys schreien gleich; jedes Neugeborene genau wie das andere, jedes vierjährige Kind, das »Mami« im Supermarkt ruft, hat eine Stimme wie mein vierjähriges. Meine Brüste stechen, mein Körper versucht mir etwas zu sagen. Ich laufe um die Ecke, die Töne werden lauter und erbärmlicher, bis ich endlich vor dem weinenden Baby stehe. Es ist meins und hat nur ein Unterhemd an.
Die Krankenschwester steht vor ihr und rammt ihr einen Katheter zwischen die Beine. »Sie hat das verdammte Ding rausgezogen«, sagt sie, während sie sie unsanft aus dem Käfig hebt.
Rachel sieht aus, als wäre sie gerade auf die Welt gekommen, runzlig und rot, ihre Beine viel zarter als ihr Oberkörper. Ich erinnere mich, wie sie auf mir lag, wie rot und naß sie war, neugeboren, ihre dunkel karmesinfarbene Nabelschnur war noch nicht durchtrennt. Die Krankenschwester drückt sie mir in die Arme und stürmt davon.
Rachel beruhigt sich sofort. Ich bringe sie zurück in unser Zimmer, meine Hände sind auf ihrer warmen nackten Haut. »Ohhhhhhhhhhh«, stöhnt der Mann, als wir ankommen. Ich drücke sie an meine Brust, und sie beginnt regelmäßig zu atmen. Ihr Herz schlägt gegen meines. Ah, so weich und warm, und ich bin…naß, denn sie hat mein ganzes T-Shirt vollgepinkelt.
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4 Uhr nachts
Es ist lächerlich, in einem Zimmer mit einem stöhnenden Mann ans Schlafen zu denken, deshalb habe ich meine Tasche genommen und bin in den Fernsehraum gegangen. Die Luft ist verbraucht und verraucht, und als ich auf der Couch liege, schaudere ich vor den Gerüchen, die dem Kissen entweichen.
Rachel wird in zwei Stunden wahrscheinlich wach werden, und Paul wird wegen der CT-Untersuchung eineinhalb Stunden danach eintreffen. Es scheint Zeitverschwendung, schlafen zu wollen. Ich nehme alle meine Bücher und Ratgeber heraus, dann wird mir plötzlich klar, daß ich den Gedanken an Rachels Blindheit nicht ertragen kann, nicht jetzt, da ich ganz allein bin in einem stinkenden Zimmer, zu einer Uhrzeit, zu der es weder Nacht noch Morgen ist.
Ich finde die Zeitschrift, die Linda mir dagelassen hat, und blättere zu dem Interview mit Matt. Trotz aller spritzigen Darstellungen ist es den Herausgebern dieser Zeitschrift nicht gelungen, einen besseren Zugang zu einer Person zu finden, als durch das Frage-Antwort-Schema, und das Interview ist sehr eindringlich: Woran arbeiten Sie jetzt, was liegt an demnächst…? Während ich lese, gewinne ich den Eindruck, daß er sich genauso sieht, wie seine Fans ihn sehen: ein Star von Geburt an. Es geht mir nicht aus dem Kopf, daß ein zufälliges Ereignis sein Leben von Grund auf verändert hat. Was war Ihre liebste Rolle, treffen Sie sich mit jemand Besonderen, wie haben Sie Ihre erste Chance bekommen…?
»Also, ich habe eines Tages die Unterrichtsstunde geschwänzt, ich weiß nicht, etwas wirklich Langweiliges, Sie können es sich vorstellen, Geometrie, irgend so ein Blödsinn, und da waren diese beiden Typen…«
Typen!
Wovon spricht der? Typen. Wir, Lina und ich! Du würdest auf dem Gymnasium verschmachten, wenn es uns nicht gäbe, du Dummkopf. Wo steht hier Lindas Name? Wo bin ich, um Gottes willen?
Hier! denke ich, während ich ein kleines Winkelzeichen über der Zeile einfüge. Und hier am Rand…
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Und hier in der Stadt des Elends wird mir nach zweistündigem Warten mitgeteilt, daß der Computertomograph kaputt ist. Die Schätzung hinsichtlich der Reparatur reicht von zehn Minuten bis zu einer Woche. Das Wartezimmer in diesem Untergeschoß, mehrere Blocks entfernt von unserem Nachtquartier, ist voll mit körperlich kräftigen Menschen. Ich erkenne zwei Leute aus der Kinderabteilung. Eine ist eine hübsche junge Frau mit langen Haaren, die sie ausladend und aufgebauscht trägt und deren Tochter so groß ist, daß sie kaum in einen der rostfreien Stahlkäfige paßt.Die Mutter des Kindes mit den verformten Händen und Füßen sitzt mit einem gänzlich grimmigen Gesicht und liest »Wirklich geschmacklose Witze«. Der Korridor ist überfüllt mit Körpern, die vor zwei Stunden noch so still waren, daß sie tot aussahen und jetzt begonnen haben, sich zu rühren und zu stöhnen. Neben mir ist ein Mann, der aufgerichtet wahrscheinlich gut und würdevoll aussehen würde. Seine Zähne sind gezogen worden. »Ein bißchen höher, bitte«, sagt er mit einer perfekten Aussprache, die sich an niemand Bestimmten wendet. »Danke, ah, ich danke Ihnen sehr, meine Liebe.« Er setzt sich ein bißchen auf. Ich stelle ihn mir stehend vor, in sein weißes Laken gehüllt, und wie er die anderen Körper dazu bringt, ihm zu folgen. Ich sehe ein Dutzend Geister, die sich in ihren wallenden Gewändern erheben, um die geschlossenen Türen zu stürmen, hinter denen sich die Techniker und Ärzte verstecken.
Paul und ich wissen nicht, ob wir hier noch länger warten sollen, oder ob wir Rachel nach oben bringen sollen für den Reiz-Reaktionstest. Das Wichtigste ist, Rachels Neurologen zu treffen, doch wie auch immer — keiner von uns beiden möchte ihn anrufen. Wir beginnen so heftig darüber zu streiten, wer Dr. Klibansky kontaktieren soll, daß ich‘fürchte, daß wir diejenigen sind, die die Körper zur Unruhe gebracht haben. Es ist lächerlich zu streiten, wenn wir unsere gegenseitige Hilfe brauchen, und doch: je länger wir damit fortfahren, desto mehr wird mir klar, daß einer von uns beiden mit diesem Mann sprechen muß, und daß ich nicht diejenige sein möchte. Wir können beide hartnäckig streiten, halten an allen Argumenten fest, zählen alles auf, was geeignet ist, den anderen zu überreden, die Aufgabe zu übernehmen.
Wer hat Rachel zuletzt trockengelegt? Ich. Wer hat sie so lange gehalten, bis sie eingeschlafen ist? Er. Wer hat schlechter geschlafen? Ich. Wer hat das Frühstück verpaßt? Er. Wer ruft sonst immer an? Ich. Wer spricht sonst immer mit Ärzten? Er. Wer putzt und kocht meistens, wer steckt Mottenkugeln in die Winterkleidung, wer war damit einverstanden, eine große Hochzeit zu feiern? Ich, ich, ich. Wer versorgt Rachel jeden Morgen, wer ist bei Tagesanbruch hierher gefahren, wer wünscht sich verzweifelt, daß der andere einmal in seinem Leben Anerkennung zeigt? Er, er, er.
Wir beschwören die Gunstbezeigungen der vergangenen fünf Jahre, Besuche bei verhaßten Verwandten, den Einsatz im Urlaub, wenn eine Fremdsprache nötig war, schmutzige Tauschgeschäfte aus Charlottes Kindheit, als Paul die Hände wie ein Schiedsrichter erhebt und sagt: »Also gut.« Sofort entspanne ich mich. »Hop oder top?«
»Paul, es ist lächerlich«, flüstere ich.
Sein Gesicht strahlt. »Hop oder top?«
»Du kannst mir einen einzigen Gefallen tun — nur ein einziges . Mal. Ich verstehe, daß du hungrig und müde bist. Ich kann es dir nachfühlen. Aber du mußtest nicht das Zimmer mit einem sterbenden Mann teilen.«
»Fertig?« sagt er und macht eine Faust.
»Also gut. Top.«
»Einmal, zweimal, drei…«
Er wird die Eins zeigen, er zeigt immer die Eins. Nein, er wird die Zwei zeigen, weil er sonst immer die Eins zeigt, und ich weiß, daß er weiß, daß ich weiß, daß ich es weiß, und deshalb muß er das ändern. Nein, normalerweise zeigt er die Eins, und er weiß, daß ich es weiß, und er weiß, daß ich denke, daß er diesmal die Zwei zeigen wird, und deshalb wird er mich austricksen und die Eins zeigen. Ich nehme die Zwei.
Sogar in solchen Zeiten gefällt es mir zu gewinnen. In dieser Hinsicht bin ich kindisch, ich feixe. Paul greift in seine Gesäßtasche nach seinem Taschentuch und putzt sich die Nase.
»Man muß zweimal von dreimal verlieren«, sagt er schließlich.
»Schwindler!«
»Psst, meine Liebe«, sagt der Mann ohne Zähne.
»Du hast in einem fairen Wettkampf eindeutig verloren, also geh!«
Das Spiel ist aus, das Lachen ist vorbei. Paul schiebt seinen Unterkiefer nach vorn und sieht mich so böse an, daß es mir schwerfällt zu glauben, daß er mich jemals geliebt hat. »Es war deine Idee«, sage ich.
Er dreht sich um und geht; mein Magen krampft sich zusammen. Ich gehe den Gang entlang und warte in der Nähe der Ambulanz. Das Baby in dem Käfig hinter Rachel wimmert, seine Mutter steht auf, um es zuzudecken. Hingestreckt paßt es kaum auf die Matratze.
»Wie alt ist Ihr Baby?« frage ich.
»Vier«, sagt die Mutter.
Sie ist kein Baby mehr. Sie ist ein kleines Mädchen in Charlottes Alter, mit Buntstiften, einem Sesam-Straßen-Malbuch und mit Cookie-Monster-Slipper-Socken. Es ist die Kahlheit, die mich wieder durcheinandergebracht hat. Die Mutter erzählt mir, daß sie eines Tages einen Höcker auf dem Augenlid des Kindes entdeckt hat, der wie Blutgefäße ausgesehen hat. Der Höcker entpuppte sich als eine Art Tumor, der Neuroblastom genannt wurde, in ihrem Darm ausgebrochen war und sich verbreitet hatte. Das kleine Mädchen wurde mit Chemotherapie und Bestrahlung behandelt, was sie sehr krank gemacht, aber die Tumore zum Schrumpfen gebracht hat. Bei ihrer letzten Untersuchung hat der Arzt neue Tumore auf ihrem Schädel entdeckt. Sie hatte anfangs keine Angst vor dem Krankenhaus. »Jetzt bettelt sie mich an, sie nicht mehr dahinzubringen.«
Ich höre den leisen Erzählungen der Mutter zu und frage mich, wann sie ihre rosa Schuhe gekauft hat und wie sie es schafft, ihr Haar so gut zu frisieren. Ihr kleines Mädchen hebt den Arm, an dem die intravenöse Infusion angeschlossen ist, und stöhnt. Ich verlasse das Wartezimmer, aber ich kann das Malbuch, das Mädchen in Charlottes Alter, das traurige Lächeln der Mutter und die Tatsache, daß die Leute hier zu erschöpft sind, um zu weinen, nicht vergessen. Ein bleietnes Pendel scheint in meiner Brust zu schwingen und mir Schläge zu versetzen. Herzschmerzen. Und ich habe immer gedacht, daß das nur eine andere abgedroschene Redensart sei, bedeutungslos und übertrieben, Worte aus einer Zeit, in der das Herz als Sitz aller Leidenschaften angesehen wurde. Es ist so wirklich wie Zahnschmerzen.
Paul kommt die Halle heruntergestürmt und versucht Schritt zu halten mit einem kleinen, gebückten Mann mit einem Kopf voll borstiger grauer Haare und einem finsteren Blick. Seine Rockschöße fliegen. Wem jagt er nach? denke ich.
»Dr. Klibansky«, sagt Paul.
Ich strecke meine Hand aus, offensichtlich ohne Grund.
»Wo ist sie?« fragt er und sieht über mich hinweg.
»Niemand weiß, was mit den Maschinen los ist, deshalb möchten wir mit ihr nach oben gehen wegen des Reiz-Reaktions-Tests«, sagt Paul.
Dr. Klibansky eilt an mir vorbei zu Rachel, die auf dem Rücken liegt, in einem T-Shirt mit dem aufgedruckten Namen des Krankenhauses. Ohne ein Wort nimmt er ihre Hände und zieht sie hoch, bis sie sitzt, klopft auf ihre Knie mit einem kleinen Hammer, kitzelt sie an den Fußsohlen — ein verspielter Mann, könnte man denken —, während er uns die ganze Zeit die Fragen stellt, die wir so gut zu beantworten gelernt haben. Paul und ich erzählen die Geschichte in geteilter Harmonie, in der Erwartung der gleichen Aufmerksamkeit, die uns zuteil wird, wenn wir unsere Lieblingsgeschichten auf abendlichen Partys zum besten geben. Dr. Klibansky unterbricht uns und bohrt nach Einzelheiten, die ich mir nicht mehr in Erinnerung rufen kann. Es genügt nicht, zu sagen, daß Paul im Herbst begonnen hat, sich Sorgen zu machen.
»Wann im Herbst? Der Herbst dauert lang«, fragt er. »September? Oktober? November?«
»Was meinen Sie damit: ihre Augen gingen zu einer Seite — beide Augen? Nur eines? Standen sie seitwärts? Welche Seite — war es nur eine Seite?«
»Sie schläft viel? Was ist viel? Sechzehn Stunden am Tag? Zwanzig?«
Ich versage; ich kann mich an nichts erinnern. Ich breche in Schweiß aus.
Klibansky zieht ein Maßband hervor, das er um Rachels Kopf wickelt, dann um ihre Brust, und dann vom Kopf bis zu den Zehen, als ob er sie vierteilen wollte.
»Was hat ihr Leiden verursacht?« frage ich.
Ich kann die Wärme von Pauls Körper spüren, der zwischen mir und Klibansky steht. »Dr. Hines sagt, daß die Ursache unbekannt ist«, antwortet er.
Ich frage ein zweites Mal, und erkenne im gleichen Moment, daß »unbekannt« nicht genügt und daß ich fortfahren werde zu fragen, bis ich eine Antwort bekomme.
»Unfall während der Entwicklung. Virus. Niemand weiß es sicher.«
»Wie viele Kinder sehen Sie mit optischer Nervenhypoplasie?«
»Zwei oder drei im Jahr, vielleicht weniger.«
»Und es erscheint allein — ich meine, angenommen, die CT-Untersuchung schließt den Tumor aus ebenso wie die — uh — septo-optische Displasie, wird dann das visuelle Problem alles sein?«
Er legt eine Hand auf Rachels Brust und dreht sich um und sieht mich an. Was macht ihn so wütend? »Wer hat Ihnen das gesagt?«
»Ich weiß nicht. Ich dachte, das sei es, was Dr. Hines sagte.«
»Eine ganze Reihe von Dingen können sich zeigen. Was wir am häufigsten beobachten, sind anfallartige Störungen und intellektuelle Defizite.«
»Intellektuelle Defizite? Was heißt das genau?
›Können Sie mir Zahlen nennen?‹ frage ich. ›Ich will Sie nicht festnageln, ich will nur wissen, was Sie mit am häufigsten meinen.‹
Ist er beleidigt, weil ich gefragt habe? Er dreht sich von Rachel weg und starrt mich mit gerunzelter Stirn an.
›Das ist ein überaus seltener Fall, den wir.hier haben, und Statistiken basieren auf Zufällen. Bei vielen Kindern mit ähnlichen Problemen besteht nicht die Tendenz, daß so was auftritt. Bei jenen, von denen wir Aufzeichnungen haben, beobachten wir eine signifikante Anzahl mit anfallartigen Störungen und verschiedene intellektuelle Defizite‹. Ihre Tochter sieht gut aus, aber das ist keine Garantie, daß später keine Probleme auftreten werden.«
Ich betrachte seine fliegenden Rockschöße, als ich mich an meine, übrigen Fragen erinnere. Was ist eine signifikante Anazahl? Zwanzig Prozent? Neunzig? Ich möchte es abschätzen, ihre Chancen einschätzen können. Intellektuelle Defizite — ist das ein Euphemismus für Unterentwicklung oder ist es etwas anderes? Anfälle, so wie epileptische Anfälle? Er ist weg, und es ist niemand da, den man fragen könnte.
Gott
Als die Drähte an Rachel befestigt sind, beginne ich an Gott zu denken.
Sie liegt in einem tiefen Betäubungsschlaf, während der Techniker die Elektroden an ihrem Gesicht und an der Schädeldecke befestigt. Er ist jung und nett, mit seinem herabhängenden Schnurrbart und dem schulterlangen Haar sieht er aus wie ein Rock-Star. Er summt ein Wiegenlied, als er die Elektroden mit Kollodium und einem Gazestreifen bedeckt und das Ganze mit einem Luftschlauch trocknet. Das Kollodium verbreitet den verführerisch-bedrohlichen Geruch von Flugzeugkleber. Während ich vor Rachel stehe, studiert Paul die Maschinen am Rande der Untersuchungstische. Er berührt Anzeigentafeln und Meßinstrumente und stellt dauernd Fragen. Ich kann meine Augen nicht von meiner Tochter abwenden. Drähte gehen von ihrem Haar weg, verlaufen unterhalb ihrer Augen, sind an ihren Ohrläppchen befestigt. Klein-Medusa schläft ruhig und weiß von nichts.
Zwei Tests stehen bevor: der visuelle Reiz-Reaktions-Test, um ihr Sehvermögen zu prüfen, und der Stammhirn-Reiz-Test, um ihr Gehör zu untersuchen. Jedes Sinnesorgan wird während des Tests aktiviert, und wir werden die Wahrheit erfahren: Vielleicht wird sie einmal sehen. Sie wird niemals sehen. Vielleicht wird sie einmal hören. Sie wird niemals hören.
Der Techniker setzt den Kopfhörer auf und stellt mehrere Meßinstrumente ein. Paul fährt fort, alles zu erkunden und zu ertasten, stellt permanent Fragen, als ob das alles hier bloß von wissenschaftlichem Interesse wäre, bis der Techniker einen Finger an die Lippen legt.
Zuerst macht er den Sehtest. Ein Röhrenblitz flackerr in rhythmischem Turnus über Rachels Gesicht — klick, klick, klick. Das Aufzeichnungsgerät zieht lange Striche über das Papier. Sie schläft, Kopf und Gesicht sind voller Drähte, ihr entblößter Körper ist vollkommen normal. Ich male mir wieder einmal aus, daß dies eine schreckliche Erfahrung ist, die gut enden wird, und ich kann mich hören, wie ich Monate später die Einzelheiten ausbreite: »Du kannst dir nicht vorstellen, wie verängstigt wir waren.«
Der Techniker scheint schon etwas zu wissen, aber es ist ihm nicht gestattet, die auf dem Papier aufgezeichneten Ergebnisse zu interpretieren. Das Licht blinkt weiter. Sagen wird er uns nichts, aber was verrät sein Gesicht? Wird es uns gelingen, das zu entschlüsseln, was er nicht verbergen kann? Ihr Kind wird niemals sehen. Ihr Kind wird in Dunkelheit gefangen sein. »Wenn sie blind und taub ist, holen wir sie hier heraus«, hat Paul ein zweites Mal gesagt. »Ich mache es selbst, ich schwöre es.« Ich betrachte sie unter all diesen Drähten, und sie ist so hübsch. Ihre schmale Brust hebt und senkt sich, ihre Zehennägel sind wie polierte Muschelsplitter, die am Strand naß geworden sind. Bitte, Gott. Ich weiß, daß ich vorher nicht an dich geglaubt habe…
Paul nimmt mich beiseite und sagt: »Du kannst gehen.«
»Und dich allein lassen?«
»Mir geht’s gut. Hör zu. Ich könnte wirklich einen Kaffee vertragen. Kuhmilch, kein Zucker.«
»Liebst du mich immer noch?«
»Natürlich.« Er küßt mich auf die Stirn, wie um einen Segen zu erteilen.
»Linda hat Essen gebracht.«
»Großartig. Bring das auch mit. Ich denke, wir sollten etwas essen.«
Er sieht auf seine Uhr. Es ist zwei Uhr nachmittags, und er hat noch nichts gegessen. Er umarmt mich. und versucht das Zittern zu unterdrücken.
»Bist du sicher, daß es dir gutgeht?« frage ich.
»Sicher. Hol mir den Kaffee, wir sehen uns dann später wieder hier.«
Das Gebäude ist mehrere Blocks entfernt von dem, in welchem Rachel und ich die Nacht verbracht haben. Sie sind durch einen ebenerdigen Gang miteinander verbunden. Ich fürchte, daß ich mich bei dem Versuch, ihn zu finden, verirren werde, deshalb gehe ich lieber draußen, wo es Hinweisschilder gibt, nach denen man sich richten kann.
Der Himmel ist zu klar; die frische Luft verursacht mir Halsschmerzen. Preßlufthämmer reißen den Beton auf, Hupen tönen laut. Meine Augen schmerzen im grellen Sonnenlicht. Ich arbeite mich durch die Menge wie ein Schwimmer durch eine starke Strömung. Jedermann spricht und lacht. Fremde gehen vorbei, zeigen ihre Zähne. Ist es nicht genug, wenn sie blind ist? Muß sie auch noch taub und zurückgeblieben sein?
Als ich mich dem Bereich der Frauen und Kinder nähere, habe ich begonnen, mit mir selbst zu handeln. Einverstanden, sie ist blind; ich akzeptiere das. Aber, damit sie mit einem gesunden Gehör und einer normalen Intelligenz hier rauskommt, was wäre ich bereit dafür zu geben? Würde ich einen Arm hergeben, ein Bein, meine Arbeit? Es ist sehr wichtig, daß ich ehrlich dabei bin und vorbereitet, falls ein Lichtstrahl durch die Halle fährt und eine Stimme verkündet: »Ihr Gehör wird gut sein, fangen Sie an, für ihre höhere Ausbildung zu sparen.«
Na gut, ich werde meine Arbeit aufgeben.
Ich sehe mich meine Notizbücher und Aufzeichnungen verbrennen, mein Büro in ein Wohnzimmer verwandeln. Das Bild ist so klar, daß es mir wie eine Vorsehung vorkommt. (Ich gehe langsam eine Straße entlang…) Niemand sonst weiß oder bedauert, daß ich aufgehört habe, dort oben zu sitzen und mir Geschichten auszudenken, eine Tätigkeit, die so oft sinnlos und kindisch schien. (Warum bin ich so außer Atem und unwillig?) Ich habe Zeit, ein nettes Zuhause zu schaffen, die Holzwände abzudichten, die Zimmer herzurichten und meiner Familie imrovisierte Mahlzeiten zuzubereiten. Ich sehe mich wach, jedoch noch halb gefangen von einem letzten nächtlichen Traum. Ich setze meine Füße vorsichtig auf den Boden, und der Traum verflüchtigt sich, wie das Träume so leicht tun. Vor mir liegt ein Tag wie der vergangene und der folgende. Und was ist mit den Augenblicken, denen es gelingt, durch das Chaos zu dringen und mich schmerzhaft zu erfüllen? Wenn ich sagen könnte, was ich fühlte, müßte ich nicht schreiben, aber die Worte bleiben mir in der Kehle stecken. Worte tragen nichts dazu bei, diesen Knoten aus Liebe und Angst zu lösen, der in mir steckt. Ich weiß, was passieren wird. Ich werde diesen Knoten mit mir herumtragen; bald werde ich lernen, jene schmerzhaften Augenblicke nicht mehr zu bemerken, weil es nichts mehr geben wird, was ich mit ihnen anfangen könnte.
Das mag richtig sein, aber es tut weh zu wissen, daß ich nicht einmal meiner eigenen Tochter zuliebe fähig bin, dieses Opfer zu bringen, daß ich in dieser hypothetischen Situation mein eigenes Wohlbefinden über das ihre gestellt habe. Was würde ich tun? Ich kann ein Zehntel meiner Zeit den Bedürftigen opfern. Ich kann versprechen, nie wieder zu lügen oder zu stehlen. Nicht daß ich das regelmäßig tun würde…Ich kann mich an keine Lüge erinnern, obwohl ich innerlich weiß, daß ich unaufrichtig sein kann; noch habe ich jemals gestohlen, nicht einmal in meiner Jugend, als der »fünffingrige Hebauf« ebenso beliebt war wie der Twist. Was mich zu Hause hielt, während meine Kumpels den modischen Schnickschnack klauten, war nicht meine bessere Moral: Es war einfach Feigheit.
Der Wächter sieht das Schild auf meiner Jacke und läßt mich ein. Ich dränge mich in den Aufzug, voller Vorsätze, die ich gewiß einhalten kann.
Sobald ich die Kinderabteilung erreiche, kann ich das Schreien hören. Ich laufe um die Ecke, um zu Rachel zu gelangen. Mein Körper ist so schwer, es dauert ewig, bis ich unser Zimmer erreiche und mir klar wird, daß das schreiende Kind nicht mein eigenes ist.
Der sterbende Mann, mit dem ich das Zimmer teilte, sitzt im Bett neben dem Fenster. Er ist sechzehn oder siebzehn, hat dunkle Augen und lockiges Haar und ein sehr fein geschnittenes Gesicht. Ersieht aus wie ein schöner griechischer Jüngling dessen marmorner Körper zu Fleisch geworden ist. Und er sieht aus wie ein beschämter Junge, als er seine Augen abwendet und sagt: »Es tut mir leid wegen gestern nacht. Es war alles zum Kotzen.«
»Ach, du …«
Gutaussehende Jungen machen mich immer noch so verlegen wie damals, als ich vierzehn’war. Ich wurde rot und stotterte, als könnte man meine Gedanken lesen. Heute werde ich dadurch daran erinnert, daß ich nicht fünfundzwanzig bin wie in meiner Einbildung, sondern zehn Jahre älter: Mutter zweier Kinder und aus dem Rennen.
Ich nehme den Handkoffer aus dem Schließfach neben dem leeren Kinderbett und ziehe die Unterlagen heraus, die ich letzte Nacht mitgehen ließ. Ich bin nicht in Not geraten; ich werde ohne sie nicht verhungern oder sterben.
Die Unterhose von gestern fliegt heraus, dann ein Bündel Zellstofftücher, auch geklaut. Die Sachen bringen mich in eine komische Lage, da niemand sie im Augenblick brauchen kann. Mein Nachbar sieht mit unverhohlenem Interesse zu. Ich grabsche die Schlüpfer, mache einen ordentlichen Stoß aus den Unterlagen, glätte die Zellstofftücher und gehe. Er schaut immer noch, als ich ein paar Minuten später zurückeile, um Lindas Essen zu holen.
Als ich eine halbe Stunde später zurückgehe, rollt gerade ein Krankenpfleger Rachel durch die Tür. Ihr Haar steht in klebrigen Büscheln ab, und ihre Haut ist fleckig vom Heftpflaster und den Kleberesten.
Sie schläft tief, wegen des Betäubungsmittels — oder weil das eben die Beschäftigung ist, für die sie die meiste Zeit aufwendet.
»Der Computertomograph funktioniert. Klibansky möchte, daß wir gleich rüberkommen«, sagt Paul.
»Hat der Techniker etwas gesagt?«
»Es war keine Zeit für das Stammhirn. Wir werden einen neuen Termin vereinbaren müssen.«
Das Stammhirn ist der Sitz des Gehörs. Ich weißnicht, ob ich erleichtert Oder enttäuscht sein soll.
Die Aufzugtüren öffnen sich, und wir passen kaum hinein. Der Krankenpfleger pfeift durch seine Zähne.
»Und das andere?« frage ich.
»Er konnte nichts sagen — das weißt du doch.«
»Sein Gesichtsausdruck, konntest’ du etwas daraus schließen?«
»Nichts.« Er reckt seinen Hals, um einen Blick auf die Papiertüte in meiner Hand zu werfen. »Ist das mein Kaffee?«
Wir gehen schnell und ohne haltzumachen durch die Untergeschosse der einzelnen Gebäude, aber das hält Paul nicht zurück. Er zieht sein Schweizer Armeemesser aus einer Gesäßtasche, nimmt mir die Tüte weg, holt den Kaffee heraus und reißt ohne stehenzubleiben ein kleines Dreieck in den Plastikdeckel. Dann fragt er mich, ob Milch darin ist.
»Weißt du, wie lange wir verheiratet sind?« frage ich.
»Ja. Ist Milch in meinem Kaffee?«
»Nach all den Tassen Kaffee, die ich für dich gekocht habe, glaubst du immer noch nicht, daß ich weiß, wie du ihn magst?«
Der Krankenpfleger blinzelt mir zu.
»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, sagt Paul.
»Mit Milch, mit Milch.«
Er nimmt ein Schlückchen. »Und hast du speziell Kuhmilch verlangt?«
»Ich habe Kuhmilch vérlangt.«
Wir lenkten unsere Schritte an den ausgestreckten Körpern im Gang vorbei geradewegs in den hinteren Teil, wo uns Dr. Klibansky einem indischen Anästhesisten mit Plastikhaube und Kittel vorstellt, der einen Beutel reiner Glukose in der Hand hält. Der Anästhesist erklärt, was man mit Rachel vorhat, und wie lange sie schlafen wird. Ich habe keine Ahnung, wovon er redet; trotzdem nicke ich, als er die Namen der Medikamente nennt.
Paul sagt: »Bitte passen Sie auf sie auf.«
»Natürlich«, sagt der Anästhesist mit einem leichten Nicken.
Dr. Klibanski entfernt sich.
»Ist es in Ordnung, daß ich sie vor einer Stunde gestillt habe?« frage ich, nur um etwas zu sagen.
Chaos. Alle sind zornig. Der Anästhesist gestikuliert mit dem Glukosebeutel vor meinem Gesicht und verflucht mich auf Hindi; Klibansky stürmt mit fliegenden Rockschößchen zurück und fängt zu schimpfen an: »Ich habe Ihnen doch ausdrücklich gesagt, sie nicht zu stillen«, und hört nicht mehr auf.
»Niemand hat etwas gesagt«, entgegne ich.
»Sie hätten es wissen müssen…«
Ich hätte es wissen müssen, aber warum hat mir niemand etwas gesagt?
»Wir müssen ihr intravenös Jod injizieren«, sagt er. »Wenn sie nicht ruhig ist, müssen wir die Prozedur wiederho]en.«
»Er hat nicht gesagt, daß ich sie nicht stillen soll, oder?« frage ich Paul, nachdem man sie weggebracht hat.
»Vergiß es.«
Wir sitzen im Wartezimmer und hören ihrem durchdringendem Schreien zu. Es ist nicht mehr wichtig, ob mir jemand gesagt hat, daß ich sie nicht stillen darf. Ich höre ihrem Schreien zu, und als sie aufhört, höre ich der Stille zu. Paul reicht mir ein Taschentuch, und ich putze mir die Nase.
»Laß’ uns essen«, sagt er.
Ich schaue ihn an, er schaut mich an, und ich sehe meine eigene Müdigkeit in seinem Gesicht. Auf dem Tisch zwischen uns liegt eine Broschüre über die Selbstuntersuchung der Brust. Auf die Brüste sind konzentrierte Ringe gezeichnet, die sie wie Zielscheiben aussehen lassen. Pfeile zeigen auf sie. Darunter liegt eine Broschüre mit dem Titel Frei sprechen über Hodenkrebs, die ich Paul zuwerfe. Wir lesen sie zusammen, lachen und können nicht aufhören. Das Gelächter ist unkontrollierbar wie ein Schluckauf, und wie ein Schluckauf wird es unangenehm, und mein Rücken beginnt zu schmerzen. Uns gegenüber sitzen zwei alte Frauen mit schwarzen Mänteln und Samthüten. Ich beginne, mir Sorgen zu machen, weil sie uns über Hodenkrebs lachen sehen und weil sich einer ihrer Gatten des nämlichen Leidens wegen hier befinden könnte. Die Frau links strickt einen langen Schal, die andere ist ein eher klassischer Typ und knetet ein Taschentuch in ihrer Hand. Eine junge Frau neben ihnen unterzieht mittels eines zitronenförmigen Spiegels ihre Mäkel einer genauen Untersuchung. Die hübsche Mutter des an Neuroblastemie erkrankten M[ädchens sitzt da, ihre schlaffen Hände im Schoß.
Paul stellt einen Aschenbecher auf den Boden und nimmt Lindas Essen aus der Tüte. Er teilt den Käse und das Vollkornbrot in zwei Hälften und reicht mir einen Löffel für den Reis mit Bohnen.
»Du zuerst«, sage ich.
Paul sagt: »Du bist die Feuerwehr und ich bin die Wasserspritze, jetzt komme ich…ta—tü, ta—tü —«
Ein Stück Kornbrot landet auf meiner Zunge. Ich spüre die rauhe Struktur, kann aber nichts schmecken.
»Lach mich nicht aus, Paul. Ich habe versprochen, gut zu werden, wenn Rachel in Ordnung ist.«
»Bist du denn noch nicht gut?«
»Beinahe gut. Anständig, tugendhaft, ehrlich. Ich werde dich nicht mehr bitten, mir Dinge von der Arbeit mit nach Hause zu bringen.«
»Was bringe ich nach Hause — Kugelschreiber?«
»Ich werde mir selber Kugelschreiber kaufen. Ich möchte nicht mehr stehlen. Ich möchte ein anständiges Leben führen.«
Das Mädchen blickt von ihrem Zitronenspiegel auf und starrt mich an. Als ich zur Schule ging, gab es ganz unterschiedliche Cliquen. Sie könnte ein Popper gewesen sein mit ihrem aufgetürmten schwarzen Haar, den dunkel ummalten Augen und den Lederjeans.
»Ich werde sie nach Hause bringen, ohne dich zu fragen«, sagt er.
»Tu das nicht.«
»Ich habe das nicht versprochen.«
»Du hast auch eine Art Gelübde gemacht, nicht wahr? Bitte sage mir, was es ist.«
»Ich habe versprochen, mich nicht über meine dürftigen Lesekünste zu beklagen.«
Ein Versprechen, das mich zutiefst berührt, da er nur mit Mühe und Anstrengung lesen kann.
»Wem? Gott?« flüstere ich.
»Mir selbst.«
Wir essen alles auf. Paul zerknüllt die Folie und wirft sie quer durch das Zimmer in einen Mülleimer aus Metall. Er versucht das gleiche mit dem Butterbrotpapier von dem Käse, aber es ist ein Querschläger, der auf dem Knie der Strickerin aufprallt. Die Frau rafft den Saum ihres Mantels hoch und schaut nach dem Schaden. »Entschuldigyng«, sagt Paul. Ich muß kichern und gehe deshalb hinaus. Paul folgt mir.
Noch mehr Körper sind hinausgerollt worden, und die Gänge sind überfüllt. Paul und ich versuchen gerade, das Verhältnis der alten Damen zu ergründen — Schwestern? Freundinnen? Liebende? Mutter und Tochter? — als Klibansky auf uns zufliegt. Meine Knochen beginnen zu klappern. Mir geht es wie Pawlows Hund: Sobald ich diesen Mann zu Gesicht bekomme, fange ich an zu zittern.
»Sie ist jetzt still«, sagt er. »Manchmal liegt es am warmen Licht.«
»Sie war bereits betäubt worden«, sage ich.
Paul ist im Begriff, eine Frage über die CT- Diagnostik zu stellen. Klibansky fällt ihm ins Wort und sagt: »Die Ergebnisse des Sehtests liegen vor, sie sind gut. Der VRRT, der visuelle Reiz-Reaktionstest war gut. Sehvermögen vorhanden.«
Paul umarmt mich stürmisch und beginnt zu weinen. Sein Haar ist wie Seide und sein Nacken heiß. Er umklammert mich so fest, daß ich fürchte, meine Rippen könnten zerbrechen. Ich weiß nicht, warum er erst so sehr weinen muß, warum seine Scherze und sein herzliches Lachen mich glauben lassen haben, er mache sich nichts aus Rachel. Und ob er das tut. Nun, da ich ihn in meinen Armen halten, fühle ich, daß wir uns gegenseitig beschützen können und daß wirSogar das durchstehen werden.
Er weint immer noch, als Klibansky sagt: »Das heißt nicht, daß sie sehen wird.«
Seine Schroffheit verblüfft mich. »Er weiß das«, entgegne ich.
Klibansky eilt davon. Paul und ich gehen zurück in den Warteraum. Unsere Sessel sind noch frei. Paul läßt sich in einen fallen und schlägt die Hände vor das Gesicht. Das »Niemals« ist weg, und wir bewegen uns wieder auf der Ebene des »Vielleicht«. Rachel könnte Licht und Schatten sehen, vielleicht mehr. Sie könnte auch Anfälle bekommen und zurückgeblieben sein.
Die Begleiterin der Strickerin räuspert sich so auffällig lang, daß ich aufschaue und sehe, wie sie auf Paul zeigt. »Gehen Sie in das Büro, Sie werden dort ein Aspirin bekommen«, flüstert sie.
»Aspirin wird seine Kopfschmerzen nicht vertreiben«, sage ich.
Lange Erziehungsjahre haben gefruchtet. Sogar jetzt, erschöpft und mit wehen Rippen, erinnere ich mich an meine Kinderstube. »Trotzdem, vielen Dank«, füge ich hinzu. »Danke für Ihren Tip. Sie sind sehr nett.«
___________
Mein Vater schenkt mir ein bißchen Scotch ein, bringt Paul ein Bier, setzt sich neben meine Mutter auf ein grünes Zweiersofa und hört zu.
»Mehr Kummer auf jedem Kubikmeter als irgendwo sonst auf der Welt«, sagt Paul.
»Die Leute sind krank«, sage ich. »Ich spreche nicht von Mandelentzündung oder Schnupfen. Ich meine schwere Krankheiten wie Krebs, Nierenversagen und schwere Mißbildungen.« Der Scotch reizt meine Schleimhäute. Man hat mir immer gesagt, daß Scotch — so wie abstrakter Expressionismus, Schnecken und atonale Musik — etwas ist, was nur reife, gebildete Leute richtig zu schätzen wissen, aber ich bin reif und gebildet und hasse alles, was braun und alkoholisch ist. Heute abend schätze ich nur seine schnell trunken machende Wirkung.
»Und dann haben sie sie in dieses kleine Kinderbett aus rostfreiem Edelstahl gelegt…«, sagt Paul.
»Der Käfig« — füge ich hinzu. »Niemand hat mir gesagt, daß ich sie nicht füttern soll…Sie haben sie beinahe umgebracht, sage ich euch. Und Klibansky, was für ein gemeines Arschloch.«
Meine Mutter verzieht eine Augenbraue zu einem hohen Bogen, eine Technik, die sie in ihrer Jugend stundenlang bis zur Vollkommenheit eingeübt hat. Mein Vater steht auf, verschränkt seine Finger und läßt seine Knöchel krachen. »Ich glaube, du bist dicht«, sagt er.
Ich bleibe noch ein bißchen in dem Schaukelstuhl sitzen, der für mich einst so groß war, daß ich im Schneidersitz darin saß und mir vorstellte, er wäre mein Thron. Jetzt ist er nur ein Stuhl. Paul winkt mir zu, und ich folge ihm in mein ehemaliges Zimmer. Die beiden Betten sind immer noch da, durch ein Nachtkästchen voneinander getrennt. Charlotte schläft in dem Bett, das meiner Schwester gehört hatte. Sie liegt ausgestreckt auf dem Rücken zwischen den zerknitterten Laken, einen Arm über den Kopf gelegt. Ihr Nachthemd ist bis zur Taille hochgewandert, ein nacktes langes Bein ist über die Bettdecke drapiert. Sie sieht aus wie ein Mädchen aus einem Kinderporno. Paul legt seinen Arm um mich, zusammen stehen wir da und sehen zu, wie sie schläft. Liebe und Trauer überwältigt mich, weil ich weiß, was es bedeutet, wenn man in der Tragödie eines anderen gefangen ist. Sie ist das gesunde Kind, so wie ich das überlebende war, und ich habe mein Versprechen nicht gehalten und sie vergessen.
Teil II
Manchmal ist es zum Verrücktwerden
Was kommt als nächstes?
Du rufst deine engsten Freunde an und verbreitest die Neuigkeit, daß deine Tochter weder einen Tumor noch eine septo-optische Dysplasie hat und daß beim Reaktionstest herausgekommen ist, daß sie vielleicht doch sehen kann. Du gibst dir Mühe, keine Mißverständnisse zu verbreiten: Es bedeutet nicht, daß sie sehen wird. Denn inzwischen hast du gelernt, daß Sehfähigkeit möglicherweise nur bedeutet, daß man Licht und Schatten unterscheiden kann, mehr nicht. Nichtsdestoweniger gratuliert man dir, als hättest du eine Goldmedaille gewonnen. Du begreifst‘ daß sie sich, trotz deiner vorsichtigen Ausdrucksweise, für dein Kind eine Welt mit Gesichtern, Blumen und Vögeln vorstellen.
Du nimmst alle Glückwünsche entgegen. Du schätzt ihre Teilnahme, genauso wie du es schätzt, gute Nachrichten zu überbringen. Aber du kannst dich nicht von den Worten des Neurologen freimachen, der von häufigen Anfällen und geistigen Mängeln bei Kindern sprach, die die gleichen Störungen haben wie deine Tochter. Dein Mann will diese Worte nicht hören — er wird sich nicht über etwas Gedanken machen, was er gar nicht genau kennt. Du möchtest dir ebenfalls keine Gedanken machen, aber die Worte des Neurologen sind so hartnäckig wie die Blindheit, sie sind allgegenwärtig, und selbst wenn du dich durch die Außenwelt und durch Vergnügen ablenken läßt, kommen sie dir doch immer wieder in den Sinn.
Und doch wünschst du dir so stark, daß der Kummer ein Ende hat; daß all die normalen und unspektakulären Dinge wieder dein Leben dominieren, die es vor der Diagnose in der Familie gegeben hat. Du möchtest dich an einem Schneesturm erfreuen, an einem Bad mit deiner älteren Tochter, an einem Spaziergang in die Stadt zum Brötchenholen, an einem Tag, an dem weiter nichts passiert, den du aber ruhig und in guter Laune verbringst. Du bemerkst, daß all das nicht verschwunden ist. Es ist ein Teil des alltäglichen Lebens. Wenn du in guter Verfassung bist, macht es dir das Leben angenehm, wenn nicht, wird es dir zur Last, und das einzige, was dich jetzt davon abhält, glücklich zu sein, sind diese Worte. Du beschließt, daß du, obwohl du Sie nicht wegschieben kannst, auf all das Positive zurückgreifen, dabei verweilen, ihm Lebensfreude abpressen wirst.
Nach den Untersuchungen legst du dich ins Bett und erzählst das deinem Mann. Du sagst: »Wir müssen zusammenhalten. Wir müssen da gemeinsam durch«, denn genau das hat er zu dir am Tag nach der Diagnose gesagt.
Wir werden uns gegenseitig stützen, so wie wir es bisher immer getan haben.
Du versuchst ihm klarzumachen, wieviel es dir bedeutet hat, ihm helfen zu können, wenn er weinte, wie nah du dich ihm gerade dann gefühlt hast.
Küsse, ja? Gib mir einen Kuß.
Ich liebe dich…
Ich liebe dich auch…
»Es gibt keinen Grund, warum ihr Leben nicht ausgefüllt sein sollte«, sagt Paul. »Sie kann nicht in einem Labor arbeiten, aber sie könnte Wissenschaftlerin werden, Historikerin, Rechtsanwältin, Lehrerin…«
Und wenn sie zurückgeblieben ist? Sprich es nicht aus; fang jetzt nicht damit an.
»…Professorin für Altphilologie, Kulturanthropologin, Mathematikerin, sie könnte Reden schreiben.«
»Sie könnte Musikerih werden« , sage ich kleinlaut.
Er lacht und sagt: »Klar…, könnte sie.«
»Ich habe diese Kassetten von Suzuki gekauft. ›Scheine, scheine, kleiner Stern.‹ ›Mary hat ein kleines Lämmchen.‹ Es gibt eine Theorie, wonach sich ihre musikalischen Fähigkeiten früh entwickeln könnten, wenn sie diese einfachen Lieder jetzt aufnimmt Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß überhaupt eins von unseren Kindern musikalische Begabung hat, aber man weiß ja nie. Sie könnte, wenn sie größer ist…«
»Komm unter die warme Decke«, sagt er. »Wir müssen uns angewöhmen, früher zu schlafen.«
»Du bist doch derjenige, der fast jeden Abend weg ist.«
»Wir sollten keine Zeit damit verschwenden zu bereden, wer wann was getan hat. Heute abend fangen wir an, okay? Laß uns von heute an früher schlafen gehen. Hast du etwas zu lesen?«
Vor neun Jahren flog Paul auf einer kleinen Insel in der Karibik über die Lenkstange des Motorrads, das er sich ausgeliehen hatte. Er hatte Schnittwunden und Quetschungen und mußte im Bett bleiben. Ich lag neben ihm in dem nüchternen Stuckzimmer, das für eine Woche uns gehörte, und las ihm Farewell, My Lovely vor. Seitdem habe ich ihm Bücher, Zeitschriften- und Zeitungsartikel und Detektivromane vorgelesen — wobei wir beide uns wunderbar ergänzten: eine Dilettantin mit einer kraftvollen Stimme und ein Lesegestörter mit hervorragenden Fähigkeiten zuzuhören. Heute sage ich: »Oh, warte. Das hier war heute im Briefkasten —« und strecke mich, Um es von meinem Nachtschränkchen zu nehmen: » ›Die Vorstellungskraft von Geburt an blinden Menschen: Wie bildhaft sind bildhafte Vorstellungen?‹ Ginger hat es mir geschickt.«
»Hast du keinen Detektivroman?«
»Es hat nur dreizehn Seiten und eine Menge graphischer Darstellungen, so daß der Text eigentlich nur ungefähr zehn Seiten lang ist, sagen wir neuneinhalb.«
»Wir können es doch später lesen und jetzt einen Detektivroman anfangen«, sagt er. »Ich muß mich ablenken.«
»Es fängt mit einem großartigen Satz an; ich glaube, es ist überhaupt nicht schwierig. Hör zu — ›Menschen,die von Geburt an blind sind, besitzen einen großen Wissensschatz über die sichtbare Welt.‹ Ist das nicht interessant, hm?«
Er dreht sich von mir weg und greift zum Lichtschalter.
»Ein Detektivroman, okay. Sekunde, ich werde einen holen.«
Ich gehe nach oben, wo ein ganzer Stapel von Büchern liegt, die mir meine Mutter gegeben hat. Ich greife wahllos eins heraus, lege mich wieder ins Bett und lese ihm den Klappentext auf dem schwarzen Einband und die »Bombenkritiken« aus irgend welchen obskuren Zeitungen vor. Dann öffne ich das Buch und warte, bis er die Kapitelüberschrift gelesen hat. So machen wir es immer. Er streckt seine Hand aus und angelt sich seine Brille, setzt sie auf und liest vor: »Erstes Buch.«
Dann bin ich ander Reihe. Ich bin schon selbst eine Seite des Buches geworden, als sein Atem schwerer wird. Ich frage ihn, ob er schon im Begriff ist einzuschlafen, er streitet es ab. Ich lese weiter. Er ist warm und bewegt sich nicht. Seine Augen sind geschlossen. Als ich zur dritten Seite komme, gebe ich den Personen neue kuriose Namen und füge an einer sehr dichten Stelle, wo die Söldner in Angola beschrieben werden, die letzte Strophe von »Invictus« ein. Er rührt sich nicht. Ich greife nach dem Artikel über die Vorstellungskraft von Blinden und lese, bis ich müde werde. Dann schalte ich das Licht aus und rolle mich an seiner Seite zusammen.
So haltet ihr zusammen und helft euch gegenseitig?
Manchmal schon.
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Weihnachtszeit
Anscheinend geben alle unsere Bekannten dieses Jahr eine Party. Wir gehen auf eine Grog-Party, eine Dinner-Party, eine Chanukah-Party, eine Feier zu Ehren eines frischgebackenen Doktors der Philosophie. Einige Gäste bringen es nicht fertig, mit uns zu reden, und andere beeilen sich, uns mitzuteilen, wie gut wir aussehen.. Was für ein Unbehagen wir bei unseren Bekannten auslösen! Wir sind nicht mehr zwei Leute, die zu einem Treffen kommen und bereit sind, ihre Interessen und Meinungen jedem, der es will, offenzulegen. Wir sind die Eltern eines blinden Kindes, und die Gäste, die neben uns am Büfett stehen oder im Wohnzimmer auf dem Sofakissen neben uns sitzen, zittern, weil sie Fragen haben, sie aber nicht auszusprechen wagen. Ich bin selbst früher in ihrer Lage gewesen und habe mich, wenn ich mit den Sorgen anderer konfrontiert wurde, gefragt: Soll ich etwas sagen, oder ist es besser, das Thema ganz zu meiden? Ist es unsensibel, von etwas anderem zu sprechen, oder ist es eine Entlastung? Es ist in der Tat eine Situation, in der es das richtige Verhalten nicht gibt. Denn wenn man überhaupt nichts erwähnt, bemächtigt sich das Unausgesprochene all dessen, was gesagt wird, und Rachels Blindheit legt einen Schleier über alles. Wenn wir aufgefordert werden, unsere Geschichte zu erzählen —was wir möglichst leidenschaftslos und genau tun —, und ich die nervöse Neugierde uns gegenüber spüre, fühle ich mich, als würden wir selbst ein Teil der Geschichte und wären nichts darüber hinaus.
Paul und ich sind immer ein geselliges Paar gewesen, haben uns gern in Raumen voller Larm unter die Leute gemischt, aber bei diesen Partys hier halten wir uns an den Händen und sitzen in einer ruhigen Ecke beieinander, etwas, was wir außer in den allerersten Tagen, als jede Minute der Trennung noch Höllenqualen bedeutete, nie getan haben. Wir essen Hors d’oeuvres, lachen über Witze und versuchen krampfhaft, das Gespräch auf andere Themen zu lenken. Am Ende des Abends sagt immer jemand: »Ich kann es euch gar nicht richtig abnehmen. Ihr macht einen so guten Eindruck.«
Machen wir, nicht wahr?
Er stiehlt sich Küsse wie ein frisch Verliebter und sucht meine Hand, wenn wir nebeneinander stehen. Wenn er nachts schläft, wickelt er sich regelrecht um mich. Er ruft jeden Tag von der Arbeit aus an, und wenn es nichts zu sagen gibt, sagt er, daß er mich liebt. Er kommt von der Arbeit nach Hause, damit ich ein wenig laufen kann, auch wenn er deshalb später am Abend noch einmal hinfahren muß: So ist er, ein Mann, der meine Arbeit und meine Freuden ernst nimmt.
Ich treffe ihn an der Tür — ich habe schon meinen gelben Jogging-Anzug an —, küsse seinen Nacken und laufe hinaus. Er hält mich fest und fragt: »Hast du das Baby gestillt? Hast du zusätzlich Milch abgepumpt? Wo hast du deine Weste?« Es gefällt mir, daß er so besorgt ist, und ich versichere ihm, dag Rachel gefüttert ist, daß im Kühlschrank eine Flasche Muttermilch steht und sechs weitere im Gefrierschrank. Dann schlüpfe ich in meine reflektierende Weste und breche auf.
Ich laufe durch gewundene Vorortstraßen, an einem langen schmalen See im Stadtpark vorbei, über einen Golfplatz. Der Abend ist klar und frisch, und während ich die Hügel hinauf laufe, fühle ich mich wie ein Vollblutpferd. Wenn ich hier draußen auf den Straßen bin, klärt sich mein Gehirn vollkommen, und alle ‘du mußt’, die es Tag und Nacht überhäufen, verschwinden. Und selbst jetzt, da ich die Fähigkeit verloren habe, an etwas anderes als an Rachels Zukunft zu denken, ist es immer noch eine Erholung, wenn ich an einem sternklaren Abend wie diesem draußen bin, und ich kehre voller Wohlbehagen nach Hause zurück.
Kaum habe ich die Tür geöffnet, höre ich Rachels erbärmliches Geschrei. Paul sitzt im Eßzimmer, ißt ein Sandwich und liest Zeitung, und Rachel ist oben in ihrem Zimmer. Er hat sie in ihr Bettchen gelegt und sie schreien lassen; so liegt sie in der Dunkelheit, mit rotem und tränennassem Gesicht.
Als ich sie aufnehme, beruhigt sie sich, aber ihr Brustkorb stemmt sich noch gegen meinen, und sie bekommt keine Luft. Ich trage sie nach unten und stelle mich neben Paul. Er schlägt die Seite der Zeitung um, ohne aufzublicken.
»Warum hast du sie nach oben gebracht?« frage ich.
»Sie hat geschrien.« Die Zeitung reißt, als er sie umblättert.
»Charlotte hast du nie schreiend in ihrem Bett liegenlassen.«
Niemals, nicht ein einziges Mal, und sie hatte Ausdauer. Sie konnte stundenlang schreien. Ich erinnere mich, wie er mit der heulenden Charlotte durch unser kleines Apartment ging oder sie an der Brust trug, und an all die Nächte, in denen er sie zwischen uns ins Bett packte. Und selbst als wir feststellten, daß es nicht gut war, sie zu nehmen, und man sie lieber alles herausschreien ließ, konnte er es nie ertragen, sie allein zu lassen. Und jetzt sitzt er da, ißt unbekümmert sein Erdnußbutter-Sandwich und liest Zeitung.
»Das verstehe ich nicht«, sage ich.
»Da gibt es nichts zu verstehen. Sie hat geschrien, und ich habe sie in ihr Bett gelegt.«
»Aber so lange? Sie ist durch und durch naß vor Schweiß.«
Machst du dir keine Gedanken um sie? Ich spreche diese Worte nicht laut aus, denn gerade habe ich an seinem Unterkiefer gesehen, daß er eine tiefe und gefährliche Wut kaum mehr unterdrücken kann. Aber worüber? Was hat Rachel denn getan, außer daß sie geschrien hat — was alle Babys tun? Es ging ihm gut, als er nach Hause kam. Er war freundlich besorgt, jedenfalls dachte ich das. Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Ich habe das starke Bedürfnis, diese Frage zu stellen, die Situation sofort zu klären, noch in dieser Sekunde, denn ich kann so nicht leben, es ist eine absolute Qual für mich. Aber ich bin lange genug mit Paul verheiratet, um zu wissen, daß, wenn er in so einem Zustand ist, er weder Worte noch Gründe hat, bloß Wut. Ich bin hilflos gegenüber diesen Launen, denn in einem zärtlichen Augenblick hat er mir einmal gestanden, daß er es nicht ertragen kann, jemanden in seiner Nähe zu haben, wenn ihn so ein düsterer Anfall überkommt. Wenn ich jetzt weiter in ihn dringe, nehme ich einen Kampf auf, der keinen guten Ausgang haben wird, und ich denke mir: Okay, er hat sie schreien lassen, weiter nichts. Ganze Generationen von Babys hat man schreien lassen — dich hat man schreien lassen, und irgendwie hast du es überlebt. Warte, bis er sich beruhigt hat. Dann wird er dir sagen, Warum er so ärgerlich war, und das Leben wird weitergehen.
Er steht vom Tisch auf, schiebt mit dem Fuß ein Spielzeug aus dem Weg und geht allein die Treppe hinauf. Die Schlafzimmertür fällt laut ins Schloß, einen Augenblick später wird sie wieder geöffnet. Meine Schuhe fliegen heraus. Ich lasse ihn ungestört in der Nische in unserem Schlafzimmer, die seit Rachels Geburt sein Arbeitszimmer ist, damit er eine Zahlenreihe auf seinem Computer überprüfen kann.
Ich lese Charlotte ihre Gutenachtgeschichte alleine vor. Die kleine Sal und ihre Mutter. Waldbeeren fallen in den kleinen Eimer aus Zinn, kupling, kuplang, kuplung. Kleiner Bär und seine Mutter verschlingen sie. Mampf. Mampf. Pauls rasender Blick, seine zusammengepreßten Lippen, sein Körper haben sich von uns abgewendet und sind über den Bildschirm gebeugt. Ich schwanke innerlich: Laß ihn in Ruhe! Fordere ihn auf, alles zu erklären! Laß ihn! Laß ihn! Fordere! Laß ihn! Fordere!
Er klettert ins Bett, während ich mir die Zähne putze, und bis ich neben ihm liege, ist er schon eingeschlafen. In der Nacht steht er ein paarmal auf und wandert durchs Haus, wobei er eine Spur von Krümeln, Besteck und Büroklammern hinterläßt. Seine Jacke und seine Daunenschuhe liegen auf der Couch, auf der er schließlich schläft wie ein Toter.
Am nächsten Morgen geht er zur Arbeit, zieht einen weißen Kittel an, begrüßt seine Kollegen, arbeitet im Labor. Ich bleibe zu Hause und bin mir ganz sicher, daß ich arbeiten werde. Statt dessen mache ich mir Sorgen um Rachel, wenn sie wach ist, und lese über Blindheit, wenn sie schläft. Der Morgen verstreicht, und Paul ruft nicht an.
Seine Tochter ist blind, und er ist aufgebracht, denke ich. Nur weil er nicht zugibt, daß er leidet, heißt das noch nicht, daß alles in Ordnung ist. Wie konnte ich mich durch sein Lachen auf Partys täuschen lassen? Lache ich nicht auch auf Partys? Wie konnte ich mir so sicher sein, daß es ihm leichtfällt zu sagen, was in ihm vorgeht, nur weil er unsere Geschichte so gut erzählen kann? Unsere Geschichte ist sorgfältig einstudiert, so daß wir sie herunterbeten und gleichzeitig überlegen können, was wir zum Abendessen kochen.
Seine Tochter ist blind, und er liebt sie nicht, er, dieser zärtlichste aller Väter, dieser aufgeschlossenste aller Männer, der mir bei der Arbeit über die Brauen streichelte, mir die verkrampften Waden massierte, der wenige Augenblicke nach der Geburt seinen glitschigen Säugling in den Armen hielt.
Er liebt sie nicht.
Ich, die sie in meinen Armen hielt, die sie stillte, die für sie sorgte, die eine so große Freude an diesem weichen, süßen Baby hatte, ich konnte nicht verstehen, warum er so wenig Interesse an seinem wunderschönen Kind zeigte.
Wenn ich jetzt zurückdenke, sind die Gründe dafür sehr klar. In meiner unbeschwerten Vergeßlichkeit konnte ich sie nicht erkennen. Das Baby hat, ihn nicht angesehen. Er wartete darauf, daß sich ihre Blicke begegneten, und wenn das nicht eintraf, ließ er sie in Armlänge herumfliegen, wobei er sie in dem Winkel hielt, in dem ihre Augen genau auf ihn gerichtet waren. Er spielte dieses Spiel mit Leidenschaft, ohne daß ihm klar war, wie sehr er es brauchte, daß sie ihn ansah.
Ich durchwühle meinen Stapel Papiere und finde welche, die sich genau mit diesem Problem befassen.
Hier ist eins: Der Blickkontakt ist das einfachste Signalsystem zwischen Eltern und Säugling. Und hier: Eltern normaler Kinder berichteten, daß ihre ersten Liebesgefühle gegeniiber ihrem Baby aufkamen, als das Baby ihren Blick auffing und lächelte. (Und hatte ich nicht genau das über Charlotte geschrieben? »…sie schaut mit diesen großen blauen Augen zu mir auf und grinst mich zahnlos an, ihr ganzer Körper ist dabei in Bewegung. Ich liebe sie so sehr…«)
»Wenn das Baby blind ist, fehlt diese Art der Kommunikation. Blinde Kinder schauen ihre Eltern nicht an und lachen auch nicht freundlich. Demzufolge fühlen die Eltern sich oft ungeliebt und nicht wahrgenommen und spielen weniger mit ihnen. Man schmust nicht so viel mit diesen Babys, und sie werden passiv und erscheinen so selbstzufrieden, daß sie für längere Zeiträume allein gelassen werden. Sie leben in einer sinnlichen Leere, und es besteht die Gefahr, daß sie ernstzunehmende emotionale Probleme bekommen. Bei unserer Beratungstätigkeit lernen wir blinde Babys kennen, die einen Großteil des ersten Lebensjahres, was sinnliche Reize betrifft, in einer Wüste gelebt haben — Babys, die eine Mulde in die Matratze ihres Bettchens gelegen haben, Babys, die keinen Ton von sich geben, die kaum lachen und den größten Teil des vierundzwanzigstündigen Tages schlafend verbringen.« (»Ein Erziehungsprogramm für blinde Kinder.«)
Oh, ihr armen Lieblinge, ich wünsche mir, daß es euch beide gutgeht! Wenn er nur wüßte, wie sehr ich ihn liebe, wie sehr ich mich bemühen werde, daß alles gut wird.
Ich rufe ihn in der Arbeit an, er ist kurz angebunden und distanziert. Noch bevor ich etwas Nettes sagen kann, teilt er mir mit, daß er nicht reden kann und daß er rechtzeitig zu Hause sein wird, damit ich laufen kann.
Ich bin voller Hoffnung und Zuversicht und nehme mir vor, ihn zu umarmen, wenn er nach Hause kommt. Sobald ich höre, wie der Schlüssel ins Schloß gesteckt wird, eile ich mit Charlotte zur Tür. Ohne ein Wort zu sagen, geht Paul an uns vorbei und die Treppe hinauf. Obwohl ich mich zu schwach zum Laufen fühle, ziehe ich mich schnell um und beeile mich, aus dem Haus zu kommen.
Meine Knochen schmerzen, ich fühle mich schwer. Kilometerlang gelingt es mir nicht, mich zu entspannen. Dann, nach der halben Strecke, beginne ich allmählich zu vergessen.
Rachel schreit, als ich nach Hause komme. Ein lautes erbärmliches Schreien erfüllt das Haus. Charlotte ist in ihrem Zimmer und hält sich mit den Händen die Ohren zu, während Paul ein Glas Milch trinkt. Ich trage Rachel nach unten und baue mich vor ihm auf. Ich schere mich nicht mehr darum, daß er leidet, kein bißchen. Sogar die Erinnerung an mein Mitleid ist verschwunden.
»Sie ist deine Tochter. Wie konntest du ihr das antun?«
Er nimmt sein Geschirr und drängt sich an mir vorbei in die Küche. Ich folge ihm. Jegliche Freundlichkeit, die ich empfunden habe, ist weg, jegliche Vorsicht, die ich bisher an den Tag gelegt habe, ist unter meiner Wut begraben.
»Schau sie dir an!« sage ich und halte sie ihm entgegen, denn sie ist immer noch ganz außer Atem, obwohl ich sie in den Armen halte.
»Überlaß sie mir nicht«, erwidert er. Teller und Glas zittern in seinen Händen.
Er geht jeden Tag weg zur Arbeit, schließt die Eingangstür hinter sich und läßt uns zurück. Ich arbeite zu Hause und teile mein Zimmer mit Rachel. Sie ist den ganzen Tag bei mir, sie ist jede Minute in meinem Kopf. Ich habe keine Arbeit mehr, außer an sie zu denken. Plötzlich kann ich das Gewicht all der Tage seit ihrer Geburt und all der Tage, die noch in der Zukunft liegen, nicht mehr ertragen. »Wie kannst du sagen, daßich sie dir nicht überlassen soll? Wie kannst du das sagen?«
»Wie? So —« und er schmeißtdas Glas an die Wand. »LASS SIE NICHT BEI MIR! Verstehst du? Mach das nicht!«
»Du wirst das aufputzen, du, du!« Ich halte den Kopf des Babys in meiner Handfläche und laufe die Treppe hinauf. Oh, wie ich ihn hasse, immer gehaßt habe und ihn immer hassen werde. Selbstsüchtig, kindisch…, krieg deine Anfälle woanders! Wenn ich nur an dich denke, werde ich krank.
Ich lege Rachel schlafen und schließe mich in meinem Zimmer ein. Ich wage mich nicht nach unten, bis es beinahe Mitternacht ist. Ich höre, daß Paul schläft.
Du bist der Vater, denke ich, als ich ihn anschaue. Die Sorge für sie liegt auch bei dir. Es gibt niemand anderen, keinen Betreuer, dem man vertrauen kann, und niemals trenne ich mich von ihr, außer wenn ich laufe.
Obwohl ich selten drei Tage hintereinander laufe, quetsche ich mich am nächsten Abend, als er nach Hause kommt, an ihm vorbei, laufe aus dem Haus und durch die Straßen.
Die Häuser sind alle so schön, Kränze hängen an den Türen, in den Fenstern sind einzelne Kerzen angezündet, Weihnachtsbäume glitzern hinter hauchdünnen Vorhängen. Glückliche Familien, alle sind glücklich. Mein Hals beginnt zu kratzen; die Brust schmerzt.
Es ist unmöglich, zur gleichen Zeit zu weinen und zu laufen. Das Weinen verengt die Brust, das Atmen wird verkrampft, und da man in diesem Zustand nicht laufen kann, hat man keine andere Wahl, als sich dem Kummer hinzugeben oder es zu lassen. Da für mich die Gewohnheit zu laufen stärker ist, gewinnt mein Körper automatisch die Oberhand.
Je weiter ich von zu Hause weg bin, desto schneller vergeht meine Wut. Er versucht nett zu sein und zu vergessen, aber er ist verletzt, genauso wie ich. Mein Verletztsein äußert sich in Tränen und seins in Wut gegen mich, gegen Charlotte und Rachel und gegen leblose Dinge, die ihm im Weg liegen: Schuhe, Spielzeug, Teller, Socken. Er ist das Opfer seiner Wut, er hat vollkommen die Kontrolle darüber verloren. Wie kann ich da wütend auf ihn sein?
Doch als ich mich wieder meiner Haustür nähere, denke ich: Wie kann er sich so schrecklich aufführen mir gegenüber, wenn ich selbst verletzt bin, dieser entsetzliche, selbstsüchtige Mann, der das Haus mit seinen Launen erschüttert, warum verschwende ich mein Leben mit ihm?
In dem Moment, wo ich die Vordertreppe hinaufgehe, höre ich Geschrei. Ich stürze hinein: Paul und Charlotte kugeln sich auf dem Boden. Er kitzelt sie, was sie mehr mag als alles andere, sie schreit vor Vergnügen. Ich gehe nach oben und dusche mich, und als ich runterkomme, liegen sie sich in den Armen.
»Es tut mir leid wegen gestern«, sagt er, als die Kinder schlafen »Ich muß Rachel ins Bett legen, wenn sie so schreit. Wenn du nicht willst, daß ich sie nach oben bringe, kannst du mich nicht bitten, bei ihr zu bleiben. Bitte versteh das!«
»Liebst du sie denn überhaupt nicht?«
»Natürlich liebe ich sie, sie ist schließlich meine Tochter. Aber kaum bist du aus dem Haus, fängt sie an zu brüllen und hört nicht mehr auf, und ich halte das nicht aus. Ich halte das einfach nicht aus. Können wir jetzt über etwas anderes reden? Oder lesen? Warum gehen wir heute nicht mal früher ins Bett, damit wir etwas lesen können?«
Wir machen in dem Buch weiter, mit dem wir vor ein paar Abenden begonnen haben. Es fesselt mich nicht, und ich werde nach einem Kapitel schläfrig. Er bettelt, ich solle fortfahren. Wenn ich noch eine Seite mehr lese, wird er mir das bessere Kopfkissen überlassen; wenn ich noch sechs vorlese, wird er aufstehen, falls Rachel schreit; für zwölf Seiten wird er Charlotte am nächsten Morgen anziehen. Es ist ein Spiel, das wir spielen, seit ich angefangen habe, ihm vorzulesen.
Ich weigere mich, auch nur eine Seite weiterzulesen, und es endet damit, daß ich noch zwanzig lese. Ich schalte das Licht aus, und Paul sagt mir, daß er mich liebt und daß sein Leben nichts wäre, wenn ich ihn verlassen würde. Als er einschläft, hat er seine Arme um mich geschlungen, sein Bauch berührt meinen Rücken.
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An dem Tag, als der Brief von Dr. Klibansky ankommt, wird meine eigene Verrücktheit in Bewegung gesetzt. Er beginnt mit den Ergebnissen des optischen Reiz-Reaktionstests (»beidseitig intakt«) und einer Bemerkung, daß diese intakten Reaktionen keinesfalls eine brauchbare Wahrnehmung garantieren. Es folgen die Resultate der Computertomographie ihres Kopfes (»normal bis auf ein Cavum septum pellucidi oder eine entzündete Zyste, eine häufig vorkommende Abweichung, welche die Diagnose einer septo-optischen Dysplasie nicht stützt.«)
Als nächstes wird über die Einzelheiten der neurologischen Untersuchung berichtet: Kopfgröße normal, sowohl Beweglichkeit als auch Tonus und Reflexe der einzelnen Glieder normal, Haltung des Kopfes, wenn er bei Rückenlage angehoben wird, hervorragend, Schädelnerven intakt mit Ausnahme des Sehnervs. Kurz, sie wäre vollkommen in Ordnung, wenn sie nicht blind wäre.
Den letzten Absatz allerdings lese ich immer und immer wieder. Darin teilt er Dr. Hines mit (der Brief ist an ihn adressiert, und ich habe davon eine Kopie bekommen), daß er sich gezwungen sah, die Eltern auf einen signifikanten Zusammenhang zwischen geistiger Schwäche beziehungsweise anfallartigen Störungen und einer Hypoplasie des Sehnervs aufmerksam zu machen. »Nichtsdestoweniger waren die durchgeführten Untersuchungen und die Tests normal und lassen einigen Spielraum für eine optimistische Sichtweise.«
Ich hefte den Brief in einen Ordner ein, der mit »Rachel« beschriftet und schon acht Zentimeter dick ist. Ich hole ihn mehrmals am Tag wieder heraus, und jedesmal, wenn ich den Brief durchlese, bleibe ich an denselben Sätzen hängen. »Ich habe mich gezwungen gesehen, die Eltern auf einen signifikanten Zusammenhang zwischen geistiger Schwäche beziehungsweise anfallartigen Störungen und einer Hypoplasie des Sehnervs aufmerksam zu machen. Nichtsdestoweniger waren die durchgeführten Untersuchungen und Tests normal und lassen einigen Spielraum für eine optimistische Sichtweise.«
Was ist ein signifikanter Zusammenhang? Zwanzig Prozent der Kinder? Neunzig Prozent? Warum einigen Spielraum? Einigen. Meine Freundin Hinda, eine Logopädin, die viele ärzliche Gutachten gelesen hat, versichert mir, daß der Brief einer Sekretärin diktiert worden sei (genauso wie Dr. Hines’ Brief) und daß er zweifelsohne weder Zeit noch Lust gehabt habe, jedes Wort auf die Waagschale zu legen, was ich tue. Meine Mutter meint, ich suche die Probleme. Paul überfliegt einmal den Brief,pickt sich aus dem ersten Absatz »keine Abweichungen« heraus, aus dem zweiten »keine Mängel« und aus dem dritten das Zweimalige »normal«.
»Er hat gesagt, sie sähe gut aus«, meint er zu mir.
Ich denke an die besagten Worte und an die, die darauf folgen: »…keinesfalls…garantiert.«
Anstatt mit ihr zu spielen, teste ich sie, schwenke das Spielzeug hin und her, lasse es quieken oder kreischen, rufe ihren Namen von der anderen Ecke des Zimmers aus. Weder bewegt sie sich, noch spielt oder schreit sie — sie macht wenig außer schlafen. Ich weiß, daß es verrückt ist, von einem erst vierzehn Wochen alten Baby viel mehr zu erwarten. Ich weiß auch, daß blinde Babys passiv sind, denn ich habe mehr über das Blindsein gelesen, als ich jemals wollte. Und doch, sie so zu sehen…Sie scheint mir nicht nur passiv, sondern…zurückgeblieben. Sie ist zurückgeblieben. Meine Tochter ist zurückgeblieben. Ich halte es nicht aus, eine zurückgebliebene Tochter zu haben. Wie kann man ein zurückgebliebenes Kind ‘aufziehen, zurückgeblieben — verachtet und einsam? Wie kann man ein Kind aufziehen, das keine Zukunft hat — keine Arbeit, keine Liebe, keine Freunde, keinen Platz auf dieser Welt?
Ich setze mich an meinen Schreibtisch, um zu arbeiten, statt dessen lese ich im Merck-Manual. Ich studiere die Kapitel, denen es darum geht, wie man chronische Gebrechen bei Kindern behandelt, und die über Entwicklungsprobleme und Lernstörungen. Ich überfliege den Text unter der Überschrift »Geistige Retardation« und einen über Abweichungen in den Chromosomen — alles Dinge, die ich schon viele Male zuvor gelesen habe. Ich finde kein Wort, das meine Ängste bestätigt oder sie mir nimmt. Ich sehe noch einmal das Material über Dandy-Walker-Zysten und die Arnold-Chiari-Mißbildung durch, als ich Rachel gurren höre. Ich setze mich neben sie und beobachte sie, wie sie auf einem Spielzeug herumkaut und mit den Händen spielt. Dann hebt sie langsam — sie liegt auf dem Bauch — den Kopf und brummt. Sie ist so schön, so ein richtiges Baby, daß ich mich frage, warum ich mich so quäle.
Nichtsdestotrotz kann ich es nicht lassen. Wie ein Talmudschüler verbringe ich eine ganze Woche mit diesen Worten. Warum hat er gesagt »einigen Spielraum«; dieser Mann, der bei unbestimmten Aussagen so ungeduldig wurde, so unduldsam gegenüber Schätzungen und vagen Angaben und Wörtern wie »anscheinend« und »ich dachte«. Wenn er fragte, wann etwas passiert war, gab er sich mit ungefähren Angaben nicht zufrieden, er wollte das exakte Datum und die genaue Tageszeit. Ich weiß nicht, wo er wohnt, ob er Familie hat, was er wählt, was sein Hobby ist, ich weiß nur, daß er in einem spannungsgeladenen Augenblick herausplatzte, um die Dinge beim Namen zu nennen: »Das heißt nicht, daß sie sehen wird.« Und in dem Brief wiederholte er ständig diese Worte. »…keinesfalls eine brauchbare optische Wahrnehmung garantieren.« Ein Mann wie er benutzt nicht einfach so das Wort »einigen«. Er hat es benutzt, um uns mitzuteilen, daß bis jetzt noch nichts eindeutig ist, daß es—das aber werden kann und daß sein Optimismus genauso wie unserer bestens gehütet werden müsse.
Ich mache mich mit meiner Angst verrückt und reiße die Menschen, die ich am meisten brauche, mit.
Warum ich so negativ sei, fragt meine Mutter. Warum ich die guten Seiten nicht sehen wolle.
Die Untersuchung hat gezeigt, daß sie keine Mängel hat, sagt Paul. Warum glaube ich nicht daran?
»Sieh das Heute, und nicht, was morgensein wird«, sagt Hinda zu mir. Meine Mutter sagt: »Sieh das Heute und nicht das, was morgen sein wird.« — »Schau, du brauchst nur das zu sehen, was heute ist und nicht das, was morgen sein wird«, sagt Paul. Eine Bekannte, die ich in der Stadt treffe, klopft mir auf die Schulter und bietet mir ihren weisen Rat an: »Sieh das Heute und nicht das, was morgen sein wird.«
»Danke. Danke für deine Teilnahme. Ich verspreche, daß ich dir Bescheid gebe, wenn du irgend etwas tun kannst…«
WARTE! — Mir ist gerade etwas eingefallen. Du siehst das Heute. Du siehst das Verdammte Heute, aber ich kann das nicht. Ich bin psychisch unfähig, die Möglichkeit aus meinem Kopf herauszukriegen, daß meine Tochter zurückgeblieben sein könnte. Es ist doch nicht so, daß ich händeringend jedes graue Haar beklage — es ist mein Baby, sein Leben, seine Zukunft. Warum wird so etwas von mir verlangt? Ich bin auch nur ein Mensch, oder etwa nicht? Ich unterscheide mich von niederen Wesen dadurch, daß ich einen Daumen zum Greifen habe und aufrecht stehen kann und dadurch, daß ich denke und Pläne mache. Hört auf, mir zu sagen, ich solle nur das verdammte Heute sehen.
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Während die ausdauernde Jane sich mit ihrem Wort quält, wie ein Hund mit einem mageren Knochen, schwankt Pauls Stimmung mit solch schwindelerregender Geschwindigkeit zwischen Höhenflügen und absolutem Nullpunkt, daß niemand von uns weiß, was der nächste Tag bringen mag, am wenigsten er selbst.
Manchmal steht er früh auf und wartet nur darauf, daß ich den herrlichen Tag mit ihm teile. Dann ist er so verspielt wie in alten Tagen, als er sich auf mich stürzte, wenn ich nach acht noch schlief, herumposaunte, daß ich die Nacht in schlechter Gesellschaft verbracht hätte und rief: »Es ist Zeit, etwas zu unternehmen!«, bis ich aufstand. Jetzt dagegen beginnt er den Tag flüsternd: »Wir werden ihr ein gutes Leben verschaffen, ganz bestimmt!«
Manchmal zuckt er im Schlaf zusammen, weil er schlechte Träume hat, undwacht mit Vergeltungsgelüsten auf. Sein Körper ist dann verkrampft, sein Kinn nach vorne geschoben, und jeder und alles ist ein potentieller Feind — ein Kind, ein Schuh, ein unvorsichtiger Autofahrer. Seine Wut ist dann so deutlich spürbar, daß ich Charlotte rate, sich von ihm fernzuhalten, und ich ihm selbst aus dem Weg gehe aus Angst, er könne mich genauso treten wie den alten Schuh. An solchen Tagen haßt er mich. Er haßt meine Mutter, er haßt es, daß ich meine Schuhe überall in den Zimmern herumliegen lasse, er haßt meine Freunde, meine Brille, meine Wortwahl, das Leben, in das ich ihn eingesperrt habe, das Kind, das ich geboren habe (und trotzdem bleibt er am Telefon freundlich).
Und manchmal ist er so ein Daddy und stellt einen kleinen niedrigen Tisch neben seinen, so daß Charlotte in seiner Nähe bleiben kann. Ich wache auf und finde sie Seite an Seite um sieben Uhr morgens geschäftig Rätsel lösen, die beiden, die sich nicht nur wegen den blauen Augen, der feinen, geraden Nase und den muskulösen, wohlgestalteten Gliedern so ähnlich sind, sondern auch in ihrer Vorliebe für Pinwand-Nägel, Kugelschreiber und Behältnisse aller Art, für Papierstöße und gespitzte Bleistifte.
Manchmal ist er so ein Daddy und wirft mit einer Kanne nach mir, wenn ich ihm von einem anderen Baby in Rachels Alter, erzähle, das temperamentvoi1 gluckste und auf Spielzeug einschlug. Dann brüllt er: »Ich will es nicht hören, verdammt noch mal.« Die Kanne fliegt durch die Tür, springt die Treppe hinunter und landet wunderbarerweise unzerbrochen unten — sie ist um so viel stabiler als ich. Am nächsten Morgen versetzt dieser Mann, der Erwachsene verachtet, die Kinder schlagen, und seine eigenen niemals angerührt hat, Charlotte einen Schlag ins Gesicht, weil sie so viel Wirbel darum macht, was sie anziehen soll. Und er schnaubt dabei mit solcher Wut, daß eine Frau, die auf dem Parkplatz neben uns steht, Charlotte zur Seite nimmt und sie bittet, ihr zu erzählen, was passiert sei. Und da sie keine Antwort bekommt, ruft sie uns später an, um herauszufinden, ob unsere Tochter mißhandelt wird.
Inzwischen kümmert sich Rachel um ihre eigenen Angelegenheiten, fernab von dem Chaos, das sie angerichtet hat. Sie nimmt die Brust, schläft, gluckst, stöhnt, spielt mit den Fingern — sie lacht sogar, wenn wir uns darum bemühen, indem wir ihre Wange streicheln und sie unter Koseworten duschen. Ständig beobachte ich sie und suche nach einer Veränderung. Aber die Wahrheit ist, daß sich lediglich die Art und Weise ändert, in der ich sie wahrnehme: heute ein dickes, hübsches und vollständig gesundes Kind, das abgesehen von seiner Sehkraft ganz normal ist, und morgen ein zurückgebliebenes Kind.
Ich nehme an, daß sie sich in Pauls Augen in derselben Weise verändert, denn es ist einfach nicht plausibel, daß all diese Hochs und Tiefs von der Luftfeuchtigkeit oder dem Luftdruck herrühren.
Manchmal bin ich die Urheberin, indem ich ihm von meiner Sicht der Dinge erzähle, ohne Ende und voller Leidenschaft meine Ängste vorbringe und ihn zwinge, Rachels Blindheit wahrzunehmen, was er überhaupt nicht erträgt.
Manchmal, wenn ich über eine Bagatelle weine (die Welt ist voll von Dingen, die mich an ihre Blindheit erinnern) und versuche, es vor ihm zu verbergen, spürt er mich auf und nimmt mich in seine Arme. Und während er mir das verschwitzte Haar aus dem Gesicht kämmt, fleht er mich an, ihm zu sagen, warum ich so außer mir bin.
Warum? Weil ein Stoffbär in dem Postpaket war (ein weiches Spielzeug, Symbol der Unschuld), und sie ihn nie sehen wird. Weil ich deprimiert bin.
»Vielleicht bekommst du deine Periode«, erwidert er.
Meine Tränen trocknen sofort. »Meine Tochter ist blind und ist vielleicht zurückgeblieben, und du vermutest, ich sei deprimiert, weil ich meine Periode bekomme?«
Manchmal sind wir so normal, daß ich es gar nicht glauben kann, aber das kommt nicht gerade oft vor.
Manchmal liebt er seine Familie und verlangt nichts weiter vom Leben, als Tag und Nacht mit uns zusammenzusein. Einmal während eines solchen glücklichen Augenblicks gehen wir aus, und sobald wir das Haus verlassen haben, halten wir uns an den Händen, schmusen und kommen zu dem Schluß, daß es am Haus liegen muß, daß wir streiten, da es, der Ort so vieler unglücklicher Stunden ist. Bei einem Treffen, zu dem wir eingeladen sind, rafft sich ein Bekannter auf, zu uns zu kommen, und meint nervös, wir seien erfrischend. Wir versuchen bescheiden zu sein, aber wir fühlen uns in diesem Moment beide unglaublich gut. Wir gehen nach Hause und lieben uns. Und als ich aufwache, sind wir zu viert im Bett: Rachel liegt auf Pauls Bauch herum, Charlotte zusammengerollt neben seinem Arm, und er dreht sich zu mir und sagt: »Ich liebe das, du nicht auch?«
Er fragt, ob ich meine Spezial-Pfannkuchen mache, die mit Buttermilch und Sesam obendrauf, und natürlich sage ich ja. Ein Morgen, an dem wir Pfannkuchen essen, ist ein geruhsamer Morgen und selten. Nichts drängt uns, wir haben keine Pläne, außer daß wir zusammensein wollen.
Während ich mich tief unter den Decken zusammenrolle und albernerweise noch eine Minute Schlaf zu ergattern versuche, schlüpft Paul in seinen Frotteebademantel und in seine Daunenschuhe und geht nach unten, um die Heizung anzustellen und die Zeitung hereinzuholen. Als er vor die Tür tritt, sieht er, daß eine Abbruchfirma angefangen hat, das alte Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite abzureißen. Er läuft wieder zurück nach oben und zieht die Vorhänge der Schlafzimmerfenster auf. Die Sonne ist so hell, daß ich sogar mit geschlossenen Augen ihre heiße Röte wahrnehme.
Zusammen mit den Kindern knien wir auf dem Bett und starren auf dieses Schauspiel, das uns für die nächste Stunde in Beschlag nimmt. Zuerst werden die Balkone losgerissen. Anschließend zerschlägt ein Frontlader die Seitenwände des alten Hauses — einmal lebte ein Senator mit seiner Frau und seinen Kindern darin —, bis das ganze Ding ins Wanken gerät und zusammenbricht. Eine Staubwolke breitet sich aus, und das Innere wird ausgespuckt: Teile von Zimmern, Rohre, Tapeten, Holzböden.
Plötzlich kann ich es nicht mehr ertragen zuzuschauen. Ein Haus, sage ich mir. Es ist nur ein Haus. Warum wühlt es den ganzen Kummer in mir auf?
Ich lasse die anderen am Fenster zurück und gehe hinunter, um mit dem Herrichten des Frühstücks zu beginnen und um dieses Gefühl der Verzweiflung abzuschütteln. Sobald ich das Küchenlicht einschalte, sehe ich das schmutzige Geschirr, das auf der Anrichte herumliegt, eine Tasse mit Teerändern, ein klebriges Messer, eine Schüssel, in der Teebeutel liegen, Krümel auf der Anrichte.
Charlotte spaziert in die Küche, Paul kommt hinterher. Er niest mehrmals hintereinander und gurtet Rachel auf ihrem Kindersitz fest, während ich Bilder von silbernen Bilderrahmen, geblümten Tapeten, einer Schildpattbürste, Samtvorhängen, einer Uhr auf einem Kaminsims, einem Bostoner Farn im Kopf habe: alles einfach weggeblasen, in Schutt verwandelt. Aber das einzige, wofür ich Worte finde, ist das schmutzige Geschirr, das er letzte Nacht auf der Anrichte hat herumliegen lassen, das er immer herumliegen läßt, obwohl es in unmittelbarer Reichweite eine Spülmaschine gibt. Das Geschirr, das Geschirr. Ich bin so wütend, daß man meinen könnte, ich hätte soeben seine Geliebte in meinem Bett entdeckt, und er sagt nur: »Laß mich in Ruhe mit dem Geschirr, um Himmels willen.«
Ich bin so betrübt, daß ich es nicht kommen sehe. Ich weiß nur, daß ich mitten in der Küche stehe und über das Geschirr schimpfe, als er herumfährt, sich einen Besen schnappt und damit auf den Ofen einschlägt.
Rachel schreit, Charlotte schaut mit entsetztem Blick und völlig passiv zu. Genauso steht sie immer da, wenn ich weine. Paul wirft den Besen ins Eßzimmer, wählt die Nummer der Polizeistation und beschwert sich bei dem diensthabenden Beamten über den Staub, der von der Baugrube her in unser Haus eindringt, er meckert herum und spricht Drohungen in den Hörer wie ein verrückter alter Kauz. Dann hängt er ein, kommt zu dem Schluß, daß es die Ratten sind und nicht der Staub, der sein Niesen verursacht: Er fährt sie zurück ins Labor, wo sie buchhstäblich den Kopf verlieren werden.
Er läßt uns vier allein für den Rest des Tages — mich, Charlotte, Rachel und die Blindheit. Einen Augenblick lang stehe ich in der Mitte der Küche und versuche mir klarzumachen, was genau passiert ist, herauszufinden, wer schuld hat. Es geht nicht, weil ich kein Bild mehr von mir habe, weil ich nicht mehr weiß, wer ich vor der Diagnose war, und ich kann mich auch nicht mehr erinnern, wie Paul früher war. Es ist wahr, daß ich mir immer Sorgen gemacht habe und er immer launisch war, aber wir sind so ungeheuerlich aus den Fugen geraten, so schrecklich deformiert, daß wir kaum noch wiederzuerkennen sind.
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Als mich in dieser Nacht das Weinen aufweckt, bin ich so desorientiert, daß ich zunächst nicht weiß, was los ist und wo ich mich befinde. Oh, warte, ja, ich bin zu Hause, es ist Rachel, sie ist blind. Wo ist sie?
Ruckartig setze ich mich auf und schaue unter die Bettdecken.
Dann steige ich auf den Fußboden, um neben und unter dem Bett zu suchen. Sie ist nirgends, und ich finde mich nicht zurecht. Schließlich finde ich sie im Kinderbett. Selbst als ich sie schon in den Armen halte, gelingt es mir nicht, meinen Herzschlag zu verlangsamen. Ich fühle mich, als ob sich der Boden unter mir geöffnet hätte, als ob zwischen den Holzplanken ein Loch klaffte. Ich halte den Handrücken unter ihren Kopf und trage sie vorsichtig in unser Zimmer. »Bring sie hier RAUS«, sagt Paul.
»Geh du raus«, belle ich. »Zum Teufel, geh raus, schlaf irgendwo anders. Sie wohnt hier.«
Er nimmt sein Kissen und geht hinauf in mein Arbeitszimmer. Ich stille sie und falle wieder in Schlaf.
Als ich dann wieder wach werde, ist es Morgen, und Charlotte liegt neben Rachel, Paul liegt auf der anderen Seite. Ich denke an den Tag — es ist erst drei Monate her —, als sie mich ins Bett schickten, damit ich ein Nickerchen machte, und wie sie auf das Bett sprangen, um mich aufzuwecken, und mir »Abendessen!« ins Ohr brüllten. Ich stelle fest, daß wir dabei sind, unsere Ehe — dieses schöne Etwas, das wir geformt und gestaltet haben, in das wir uns so gut eingefügt haben — zu zerrütten, und daß wir unfähig sind, damit aufzuhören. Und es ist so schrecklich, nicht nur Rachels Blindheit, sondern auch die Misere, die wir aus unserem Leben machen, daß ich anfange zu weinen. »Es tut mir leid«, sagt Paul zu mir. Dann bemerke ich, daß Charlotte den Kopf hebt. »Es tut mir leid«, sage ich zu ihr.
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5. Januar
Eine Verabredung mit Sharon. Ich räume das Haus auf, dusche mich, wasche mir die Haare, reinige mir die Zähne mit Zahnseide, ziehe mir eine saubere Kordhose an, benutze die Kontaktlinsen, ein bißchen Make-up und Lidschatten. Dann warte ich.
Sie zückt ihre Stablampe, als sie ankommt, und läßt den dünnen Lichtstrahl über Rachels Augen streifen. Keine Reaktion. Sie erschrickt kein bißchen. Ich dagegen sehr wohl.
Sobald sie mit Rachel fertig ist, frage ich nach dem Mädchen in der High-School, das eine Hypoplasie des Sehnervs hat. Ich stelle meine Frage vorsichtig wie nebenbei, seitdem ich weiß, daß sie mir aus beruflichen Gründen nicht den ganzen Klatsch über Freunde und Freundinnen mitteilen kann, den ich gerne hören möchte. Aus ihren Antworten entnehme ich, daß Kristin eine minimale Lichtwahrnehmung hat, daß sie sagen kann, wann sie an einem Fenster steht, und nichts mehr. Außerdem hat sie ernste Probleme mit Anfällen. Sie geht in eine staatliche Schule, liest Blindenschrift und mag Computer, kann sehr gut mit Erwachsenen umgehen, obwohl sie sich oft unreif verhält, wenn sie mit Kindern ihres Alters zusammen ist. Sie liebt Babys und hat der Sozialarbeiterin seit ihrer Heirat zugesetzt, sie solle sich beeilen und schwanger werden.
Ich könnte losheulen, während ich zuhöre, weil das alles so normal klingt. Ich weiß, daß, könnte ich das Schicksal meiner Tochter bestimmen, ich ohne Frage ihre Sehfähigkeit für ihren Intellekt opfern würde. Da ich keine Macht darüber habe und da ich mich nicht daran gewöhnen kann, nicht Bescheid zu wissen, fange ich an, mit Wahrscheinlichkeiten herumzuspielen. Wenn es einen signifikanten Zusammenhang gibt zwischen intellektueller Beeinträchtigung und einer Hypoplasie des Sehnervs und Kristin gescheit ist, was bedeutet das für das einzige andere Kind in dieser Gegend (Rachel), das auch zu dieser Minderheit gehört? Dann denke ich an den Forscher, der schrieb: »Es ist schwierig, blinde Kinder zu finden, die intakt sind.« Und an die Sozialarbeiterin, die sagt: »Die meisten blinden Kinder sind vielfach beeinträchtigt.«
Sharon ermutigt mich, Kristin bei sich zu Hause zu besuchen. Sie sagt: »Die ganze Familie ist wirklich großartig; ich weiß, daß sie Ihnen gefallen wird.«
Eine wirklich großartige Familie. Eine Familie, die diesen ganzen verrückten Kummer durchgestanden und erlebt hat. Ist es möglich, nach alldem noch glücklich zu sein?
Am Nachmittag rufe ich dort an und stelle mich vor, indem ich sage: »Hallo, meine Tochter Rachel hat eine Hypoplasie des Sehnervs.«
»Oh, ja«, sagt Mrs. Peters.
»Und ich würde gerne einmal — Kristin treffen.«
Warum?
Wir verabreden uns für Mittwochabend.
Am Dienstag kommt Lindsey herüber, um das Haus zu putzen. Lindsey ist sechzehn, trägt in jedem Ohr vier Ohrringe und steht hundertprozentig auf Fingernagelkunst. Heute sind ihre Fingernägel rot lackiert mit goldenen diagonalen Streifen auf den kleinen Fingern. Am linken Fuß trägt sie einen hohen roten Turnschuh und am rechten einen weißen. Sie geht auf dieselbe High-School wie Kristin Peters, also frage ich sie, ob sie sie kennt.
»Sie meinen das blinde Mädchen?«
»Wie ist sie?«
»Eine richtige Plage. Sie kann nicht sehen, sie zieht ein Bein hinterher, irgend etwas stimmt nicht mit ihrem Gesicht. Und sie ist so scheußlich, ich kann’s kaum glauben. Eine Freundin von mir hat einmal versucht, ihr in der Eingangshalle zu helfen, und Kristin sagte so was wie ›Scher dich zum Teufel.‹ Jemand müßte ihr erklären, daß man nicht durch die Leute hindurchgehen kann. Ich glaube nämlich, daß sie das nicht weiß.«
Am Morgen liegen fast zwei Zentimeter Schnee. Ich rufe Mrs. Peters an und sage ab, wobei ich das Wetter vorschiebe. Ich kann nicht, kann sie jetzt einfach nicht treffen.
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Ich bin bestimmt hunderte Male am Kinderkrankenhaus vorbeigefahren, seitdem ich nach New Jersey gezogen bin. Jedesmal wanderten meine Augen vom Wegweiser an der Straße den steilen Hügel hinauf zu dem eleganten Haus, das von ionischen Säulen umgeben ist, und zu dem langen modernen Flügel, der daran angebaut ist. Und noch, wenn die Gebäude weit hinter mir lagen, war die immer gleiche Frage in meinem Kopf: Was für Kinder sind dort?
Das Stimulationszimmer für Kinder, in dem Rachel untersucht wird, sieht aus wie die Werkstatt vom Nikolaus — auf dem Fenstersims sind Puppen aufgereiht, die kleinen Kämmerchen sind voll von durchsichtigen Kästen mit Spielzeug. Es gibt Tiger und Clowns, ein lebensgroßer Bär lümmelt sich in einer Ecke, eine Puppenküche, komplett ausgestattet mit Geschirr und Besteck, das in einem Spülbecken aufgestapelt ist, daneben ein kleiner Tisch und Stühle. Spielzeug zum Anschieben, Spielzeug zum Ziehen, Spielzeug, auf dem man reiten kann, ein Ball, der mir bis zur Hüfte reicht, ein Kasten mit kleinerem Spielzeug, und das ist erst der Anfang.
Auf einer Matte in der Mitte des Raums liegt ein Mädchen mit dunklen Augen und schimmerndem schwarzem Haar. Sie trägt einen Overall mit rosafarbenen Flicken und eine Bluse mit Puffärmeln. Jemand hat ihr Bänder ins Haar geflochten und ihre Fingernägel rosa lackiert. Sie hat die Größe einer Dreijährigen, aber ihr Körper ist schrecklich schlaff, die Beine sind krumm, die Fußsohlen nach innen gedreht. Nur ihre Augen sehen lebendig aus. Eine junge Frau, die neben ihr sitzt, hält dem Kind eine Schüssel unter die Nase und ruft: »Katie!« mit sanfter Stimme, wie es Mutter zu tun pflegen, die ihr schlafendes Kind wecken wollen. »Katie — hmm — Schokolade!« sagt sie.
Sie schraubt den Deckel zu und nimmt eine andere von den kleinen braunen Dosen von einem Regal, auf dem sich ein Dutzend davon befindet. »Katie!« ruft sie mit ihrer Aufweckstimme. »Zitrone!«
Was für leuchtende Augen das Kind hat; riesige schwarze Augen mit langen Wimpern. Obwohl sie die junge Frau anzuschauen scheint, reagiert sie nicht auf die Gerüche, die ihr unter die Nase gehalten werden.
»Wir sind zu einer Untersuchung hier«, sage ich.
»Oh, warum haben Sie das nicht gesagt? Ich werde Mrs. Kaiser holen.«
Sie steht auf. Das Kind bewegt sich nicht. Keine Emotion, keine Angst oder Enttäuschung, kein Lächeln; kein Versuch, ihr mit den Augen durch den Raum zu folgen. Ich stelle mir die Mutter vor, wie sie in die Kinderabteilung geht, um diese hübschen Kleider für ihre Tochter zu kaufen, und dann, wie sie heute morgen rechtzeitig aufgestanden ist, um Katies Fingernägel zu lackieren und ihr schimmerndes Haar mit Bändern zusammenzubinden, und ich kann nicht verstehen, wie sie diese einfachen Dinge tun kann.
Eine Frau mit kurzgeschnittenem Haar und einer großen Brille mit durchsichtigem Gestell tritt in den Raum und stellt sich als June Kaiser vor. »Hallo, du Süße«, sagt sie und streichelt dabei Rachels Wange. Dicht hinter ihr folgen vier andere Frauen, alle mit strahlendem Gesicht und lässig gekleidet. Sie sind in einem Alter, wo man sie eher Mädchen als Frauen nennen würde. Jede trägt ein Abzeichen, aus dem ihr Beruf hervorgeht: Beschäftigungstherapeutin, Physiotherapeutin, Sprachtherapeutin, Sozialarbeiterin. Mrs. Kaiser führt uns hinüber zu einer Matte am Fenster, und ich lege Rachel auf den Rücken. Die Frauen hocken, knien oder setzen sich mit gekreuzten Beinen um sie herum.
»Sie ist lieb, nicht wahr?« sagt die Beschäftigungstherapeutin mit den Sommersprossen auf dem Nasenrücken.
»Schaut euch diesen kleinen Amormund an —«
»Armbänder«, sagt eine andere und berührt ihre rundlichen Handgelenke.
»Sie füttern sie nicht besonders gut, nicht wahr?« sagt P. T., wobei sich auf ihrer Wange Grübchen bilden.
Paul trägt einen winzigen Stuhl heran und setzt sich mit angezogenen Knien in den Kreis hinein.
»Ammonia — oooooh!« summt die eine Therapeutin quer durch den Raum. »Ist das, nicht einfach schrecklich?«
»Könnten Sie vielleicht damit anfangen, daß Sie uns ein wenig über die Schwangerschaft berichten?« fragt Mrs. Kaiser.
Ein tiefer Seufzer, und das Terrain gehört mir. Normale Schwangerschaft, normale Vaginalgeburt, alles war in Ordnung, bis…Die Therapeutinnen kritzeln in ihre Notizbücher Glynn, Rachel Alexa…
»Lacht sie?« fragt die B. T. mit den Sommersprossen.
»O ja, sie lacht inzwischen viel, nicht wahr?« frage ich Paul.
Er fährt mit einem Finger über ihre Wange und wartet. Dann versuche ich es.
»Sie ist müde«, sage ich, da ich keinen Erfolg habe.
»Lacht sie, auch wenn sie nicht durch Berührung stimuliert wird?«
»Ich glaube schon.« Ich schaue Paul an. Er zuckt mit den Schultern.
»Versuchen Sie es«, sagt Mrs. Kaiser zu mir.
»Rachel, Rae-Rae!« ruft Paul.
»Rachel!« stimme ich ein. Meine Stimme klingt wie die von Karies Therapeutin. Ich bin jetzt eine Mutter, die versucht, ihr Kind aufzuwecken. »Normalerweise schläft sie um diese Zeit. Wir mußten sie aus dem Bett nehmen, deshalb ist sie wahrscheinlich vollkommen erschöpft.«
Die Therapeutinnen wenden ihre freundlichen Gesichter mir zu, und die Fragerei beginnt wieder.
»Reagiert sie auf Stimmen?«
»Auf Farben?«
»Dreht sie sich auf die Seite?«
»Bewegt sie sich viel?«
»Ist ihr Weinen anders,wenn sie Hunger hat, als wenn, sagen wir mal, sie einfach nur aufgenommen werden will?«
Ich sehe, wie Paul den Kopf schüttelt und höre meine eigenen Antworten. Nein. Nein. Nein. Nein.
Man drückt quiekendes Spielzeug vor ihrem Gesicht zusammen; man schüttelt gehäkelte Bälle, in denen Glöckchen sind. Man streift mit einem Igel-, der weiche Gummistacheln hat, über ihre Hände. Frau Kaiser füllt eine Dose mit Seifenlauge, kniet sich neben Rachel und bläst Reihen von Seifenblasen in die Luft. Als ich Kind war, haben mich Seifenblasen zum Weinen gebracht. Ich schwöre es, als ich sah, wie schön und kurzlebig sie waren, erfuhr ich etwas vom Sterben. Wenn meine Mutter »Ich werde immer Seifenblasen machen« sang, verbarg ich mein Gesicht, damit niemand sich über mich lustig machte, weil ich so bekümmert war. Die Blasen gleiten über Rachels Kopf, zerplatzen auf ihren Wangen, auf dem Overall, auf ihren Händen, und ich empfinde in mir den gleichen, lächerlichen Schmerz.
Als der Test vorüber ist, setzen sich Paul und ich auf eine Bank in der Eingangshalle des Krankenhauses, damit ich Rachel stillen kann. Ich denke an den zurückgebliebenen Jungen — einen großen dunkelhaarigen Teenager —, der auf einem rostigen Fahrrad durch die Stadt fährt und den Kindern einen Schrecken einjagt, weil er so groß ist wie ein Mann und doch so eine kindliche Art hat, nach ihnen zu rufen. Ich denke an die Teenager, die sich vor der Eisdiele treffen und lachen und flirten, an die Freunde, die ich nicht anrufen kann, weil sie nicht über Rachel Bescheid wissen und es keine Möglichkeit gibt, es ihnen zu sagen; an die Freunde, deren Briefe ich nie beantworten werde, weil ich nicht die Wahrheit schreiben kann. Es ist schon eine zu große Angelegenheit geworden, als daß ich darüber reden könnte. Ich denke an Samstagabend, als wir Charlotte zu einer Pizza ausführten und neben einem Paar saßen, das drei Kinder hatte. Das jüngste beobachtete uns ständig von ihrem hohen Stuhl aus, während ihre und unsere Familie aßen. »Wie alt ist sie?« fragte Paul. Was für große Augen sie hatte, Augen, die uns verschlangen. Sie konnte nicht genug bekommen. »Kommenden Montag wird sie vier Monate.«
Zwei Tage jünger als Rachel. Rachel saß da mit gesenktem Kopf und zu Fäusten geballten Händen, während das andere Baby die ganze Welt in sich aufnahm. Ich denke an all das, was Rachel verpaßt und wir auch, und sage: »Ich glaube nicht, daß sie sehen wird.«
»Nein.«
Ich wollte ihn nur auf die Probe stellen, wollte nur seine dicke Haut kitzeln, hinter der er sich versteckt. Wer hätte geahnt, wie sehr ich von seinem wütenden Leugnen der Wahrheit abhängig bin. Jetzt ist es Wirklichkeit geworden. Sie ist blind. Sie ist blind.
»Die Sozialarbeiterin kennt ein Kind mit einer Hypoplasie des Sehnervs, das ein eingeengtes Gesichtsfeld hat«, sage ich.
»Sie hat kein eingeengtes Gesichtsfeld.«
»Warum nicht? Sie hat fast einen halben Sehnerv in einem Auge.«
»Aber das haben wir doch schon durchgesprochen.«
Er steht auf und starrt in das lange Wasserbecken mit Fischen, das neben der Bank steht. Engelhaie und Gouramis schwimmen herbei, eine Schatztruhe öffnet und schließt sich und läßt Blasen aufsteigen. In einer künstlichen Muschel schimmert eine Perle.
»Schau mal. Wir sind beide müde, wir haben hart gearbeitet. Laß uns heute zusammenhalten, okay? Wir haben Schlimmes mitgemacht, aber sie ist ein schönes Baby, und sie wird es schon schaffen.«
»Sie wird niemals heiraten.«
Ich denke, daß der natürliche Ablauf durchbrochen ist; Kinder werden geboren, wachsen, heiraten, bekommen Kinder, und deren Kinder heiraten und bekommen wieder Kinder. Ich habe nie darüber nachgedacht, bis die Probleme mit Rachel anfingen, und ich begreife, daß es Menschen gibt, die geboren werden, keine Spur hinterlassen und sterben, daß ihr Aufenthalt auf Erden keine größere Bedeutung hat als eine einjährige Gartenpflanze.
»Auch blinde Menschen heiraten«, sagt er.
»Und was ist mit geistig Zurückgebliebenen?«
»Jesus, warum sagst du so etwas?«
»Warum? Weil sie große Aussichten hat, geistig zurückgeblieben zu sein. Weil sie meine Stimme nicht kennt, weil sie nicht mit Spielzeug spielt, weil sie sich nicht mal genug aus der Welt macht, um wach zu bleiben.«
»Gerede.«
»Ich habe es nicht aufgebracht, und ich habe die Probleme nicht gesucht. Ich habe eine Frage gestellt, und ich habe eine Antwort bekommen, und ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Früher haben wir immer über unsere Sorgen geredet, aber jetzt sage ich etwas über Rachel, und du wirst wütend. Ich meine, sie ist doch auch deine Tochter, aber manchmal sieht es so aus, als ob du dir gar keine Gedanken über sie machen würdest. Du nimmst sie kaum einmal und spielst mit ihr…«
»Wann bin ich denn zu Hause — sag.«
»Als Charlotte geboren wurde, warst du noch mehr beschäftigt, aber du hast die ganze Zeit mit ihr gespielt. Du hast sie in die Luft geworfen, hast dich mit ihr auf dem Boden herumgekugelt und hast sie aus ihrem Schlaf geweckt. Erinnerst du dich, wie ich mit meiner Eifersucht zu kämpfen hatte, wenn du nach Hause kamst und dich gleich mit ihr beschäftigt hast, so daß du sogar vergessen hast, mich zu begrüßen? Ich kann mich nicht an ein einziges Mal seit Rachels Geburt erinnern, daß du sie genommen hast, ohne daß ich dich dazu aufgefordert habe.«
»Laß mich in Ruhe.« Seine Stimme hebt sich.
»Ja, es ist wahr. Manchmal habe ich das Gefühl, als ob sie nur mein Kind wäre, mein blindes Baby.«
Er steht auf und geht durch die Halle. Er hat ein paar Pfund zugenommen seit Rachels Geburt. Er geht, als ob Bleigewichte an seine Gelenke gebunden wären. Nur, wenn er nicht bei mir ist, blüht meine Liebe zu ihm auf, und ich rufe mir schließlich in Erinnerung, daß er auch leidet. Ich denke an all die Male, wo er mir erzählt hat, daß es nicht seine Natur sei, sich Sorgen zu machen und daß er nie an ihre Zukunft denke oder sie sich vorstelle, wie sie in einer Woche, einem Monat oder in einem Jahr sein würde, und doch stützt er sich jeden Morgen, wenn ich Rachel gestillt habe, auf den Ellbogen und streicht mit der Hand über ihr Gesicht. Er denkt dann, ich würde schlafen, aber ich sehe, wie er Rachels teilnahmsloses Gesicht studiert. Seine Hand fährt zehn-, zwanzigmal darüber. Es ist zu früh, um wach zu sein, aber Paul hört nicht auf: dreißigmal, vierzig, bis das graue Licht der Morgendämmerung allmählich heller wird.
»HABT IHR FISCHE ZU HAUSE?«
Ein Junge im Rollstuhl sitzt vor dem Becken. Sein Gesicht ist schief, sein Körper wird von einem Stützappatat aufrecht gehalten, der teilweise mit Stoff umwickelt und an seinem Oberkörper festgebunden ist. Seine Hände sind schlaff zusammengefaltet, seine Beine liegen wie bei einer Puppe an den Gelenken achtlos übereinander. Der Therapeut hält ihm zwei Karten vor: Ja. Nein.
»HABT IHR FISCHE? WELCHE KARTE? JA ODER NEIN?«
Paul setzt sich wieder neben mich und schlingt den Arm um meine Hüfte.
»BOBBY, HABT IHR FISCHE?«
»Es tut mir leid«, sagt er.
»Es tut mir leid«, sage ich zu ihm.
Fragen und keine Antwort
Das Telefon läutete nicht mehr. In unserem Haus ist es so still geworden, daß ich mich an die Wochen nach Schiwa erinnere, als die Gäste gegangen waren. Man hatte die Familie sich selbst überlassen, und sie mußte allein durch ihre Probleme stolpern. Wir stolpern nun gelassener als zuvor, mit weniger Gemütsschwankungen, weniger Streitereien und ohne weitere quälende Blicke von Charlotte, die mit großen, ängstlichen Augen unsere Verrücktheit still beobachtet hatte.
Nicht daß wir plötzlich reifer geworden wären, uns verändert, abgefunden oder beruhigt hätten. Wir sind ganz einfach zu müde, um weiter so intensiv zu leiden. In unserem Haushalt ist es ruhiger geworden. Und diese ruhigen Augenblicke ermöglichen es mir, mich zu sammeln und meine Vorstellungen zu zügeln und für mich zu behalten. Es schmerzt mich, wenn ich das mache, denn es erschüttert meine romantische Ansicht von uns zweien als Seelenverwandte, die alles miteinander teilen. Nichtsdestotrotz ist es die einzige Möglichkeit.
Manchmal sagt Paul über Rachel: »Sie wird nie sehen.« Und das mit solcher Sicherheit, daß es mir panische Angst macht. Manchmal sagt er: »Ihr wird es einfach gut gehen«, und ich fühle, wie er hartnäckig fordert, daß ich ihm zustimme. Ich kann diese Äußerungen nicht unterstützen oder sie wiederholen, wenn er gleichzeitig das Gegenteil fühlt. Er gibt mir auch keinen Anhaltspunkt, was er wirklich fühlt. Ob er nun der verzweifelte Wissenschaftler ist, der sagt, daß sie nicht sehen kann, weil er keinen Beweis für das Gegenteil hat, oder der Optimist, der auf das Bild schaut, das am vielversprechendsten ist, und sagt: »Sie ist ein schönes Kind. Ihr wird es einfach gutgehen.«
Gibt es nicht den Grundsatz, daß ein scharfer Verstand zwei gegensätzliche Ideen gleichzeitig festhalten kann? Paul ist dazu unfähig, obwohl er tatsächlich einen scharfen Verstand hat. Er ist entweder oben oder er ist unten. Ich denke, es ist eine Art Legasthenie. Weil er nämlich ein Mann ist, der nicht das Wochenprogramm besprechen kann, während er einen Topf Hafergrütze kocht. Eines überfährt das andere. Er sagt, daß seine Gedanken entweder bei der Menge Hafer sind, die in das kochende Wasser geführt werden muß, oder bei den Tagen, an denen er länger arbeitet.
Ich sehe mein Gehirn als einen riesigen Wandschrank mit Fächern, in denen ich Erinnerungen verwahre, und mit Hunderten von kleinen Schubladen, die mit Arbeit, Haushaltskram und persönlichen Dingen vollgestopft sind. Auf diese Weise ist mein bewußter Verstand vielfach ein Durcheinander von Botschaften — du brauchst Milch, bezahle Rechnungen, besorge Schuhe, kaufe Brokkoli —, so daß ich viele Jahre gebraucht habe zu verstehen, daß seine Art aus seiner physischen Beschaffenheit resultiert und nicht bloß Sturheit ist. Aber trotzdem gibt es Zeiten, wo es mich verletzt, weil ich es einfach nicht fassen kann, daß er unfähig ist, beispielsweise auf die einfache Frage zu antworten, ob er am Donnerstag länger arbeitet, nur weil er gerade Eier kocht.
Einmal, mitten in einem Streit, als ich einen Moment lang wie eine Unbeteiligte die Situation betrachtete, sah ich mit großer Besorgnis, wie sehr er mich haßte. Später verstanden wir uns wieder gut, und ich sagte: »Jetzt weiß ich, warum mir unsere Auseinandersetzungen so zerstörerisch vorkommen. Wenn du zornig bist, hörst du auf, mich zu lieben.«
»Und du liebst mich, wenn du streitest?«
»Ja, das tue ich. Ich mag dich in diesem Moment hassen, aber meine Liebe verschwindet nicht gänzlich.«
Er kann dies nicht glauben. »Du hast mich geliebt, als ich Charlotte geschlagen habe?«
»Ich tat es. Es bereitete mir Schmerzen, dich zu lieben. Ich litt wie unter meiner eigenen Tragödie, weil ich es tat, aber ich tat es…«
»Also, das ist nicht so wie bei mir.«
»Ich weiß. Und das ist es, was ich spüre, diesen plötzlichen Verlust der Liebe.«
Er haßt mich, er hebt mich. Sie ist blind, es wird ihr gutgehen.
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15. Januar
Der Bericht aus dem Kinderkrankenhaus ist heute eingetroffen.
»Rachel, ein gut genährtes, reizendes, vier Monate altes Baby, wurde von ihren Eltern zur Beurteilung gebracht. Sie war während des Tests kooperativ und ruhig, außer daß sie einmal sehr kurz weinte. Sie war sehr geduldig.«
Entsprechend der Testberichte auf dem kognitiven Abschnitt ihres »Frühinterventionsentwicklungsprofils« wurde Rachel in der Beurteilung danach bewertet, ob sie einem Drei-Monate-Niveau entspricht. »Sie legt vielseitige Verhaltensweisen an den Tag, bringt beispielsweise ihre Hände in Nabelhöhe, um nach einem greif- und hörbaren Spielzeug zu fassen, und versucht, es zu ihrem Mund zu führen…Die Rassel schüttelt sie nicht…Eindruck, daß Rachel ein aufgewecktes, obwohl stilles Kind ist, dessen kognitive Leistung beim Test durch Sehmängel und schwankende Muskelanspannung in den oberen Extremitäten verringert wird.«
Die Physiotherapeutin schrieb: »Sie beginnt, wie verlautet, in der Bauchlage mit Seitenbewegungen …aber ihre Reflexe und die erhöhte Spannung des Beugemuskels scheinen sie darin zu behindern. In Rückenlage rührt sie sich und strampelt abwechselnd mit den Beinen und hilft mit, wenn man sie hochzieht…Wenn sie beim Stehen unterstützt wird, trägt sie ihr Körpergewicht und federt leicht durch, wechselndes Beugen und Strecken von Hüfte und Knie.«
»Ihr Greifreflex ist noch immer vorhanden«, merkte die Beschäftigungstherapeutin an. »Er ist auf der rechten Seite stärker, aber sie kann Dinge, die man ihr in die Hand gelegt hat, loslassen. Ihre Hände heben sich bei der Untersuchung nur dann in Nabelhöhe, wenn man es ihr leichter macht und sie an den Schultern unterstützt…« Eine leicht erhöhte Muskelanspannung beeinflußt die. Bewegungen ihrer oberen Extremitäten, aber »diese Steifheit kann durch Berührungen gelöst werden.«
Rachels Sprachfähigkeit wurde als angemessen für das Niveau einer Dreimonatigen bewertet. »Ihre Sprechversuche sind in der Zahl begrenzt und treten eher wahllos als Reaktion auf Hörreize auf«, heißt es von seiten der Sprachtherapeutin. »Ein Lachen kann ihr weder entlockt werden, noch haben die Eltern eines vermerkt.« Sie zeigte auch eine Asymmetrie von Kopf und Rumpf und ein asymmetrisches Lachen, was auf eine »rechtsseitige Gesichtslähmung…« hindeutet.
Obwohl ich in diesen Tagen geradezu süchtig nach medizinischen Berichten bin und sogar die langweiligsten von ihnen studiere, scheint dieser die Anstrengung, die ich für ihn aufbringe, wirklich wert zu sein. Denn als ich ihn zum ersten Mal lese, verblüfft es mich, daß jeder Pieps und jedes Grunzen von Rachel eine Bedeutung hat. Sie ist passiv und schläft außerordentlich viel, aber die Annahme, daß sie herumliegt und nichts tut, ist falsch. Schaut doch — sie faßt nach Spielzeug und versucht, es in ihren Mund zu stecken; sie strampelt mit ihren Beinen auf und ab! Sie ist kognitiv nur einen Monat zurückgeblieben und in anderen Bereichen weniger als das. Und dies zufolge eines standardisierten Tests, der ihre Blindheit nicht berücksichtigt. Hatte nicht eine der Therapeutinnen geschrieben, daß ihre »kognitive Leistung beim Test durch Sehmängel und schwankende Muskelanspannung in den oberen Extremitäten verringert wurde«?
Schwankende Muskelanspannung?
Während ich den Bericht ein weiteres Mal durchlese, bemerke ich, daß Rachels Muskelanspannung in jedem Abschnitt erwähnt wird. »Erhöhte Anspannung des Beugemuskels« hindert sie daran, sich zu drehen, »eine leicht erhöhte Muskelanspannung« beeinflußt die Bewegungen der oberen Extremitäten. Asymmetrisches Lachen deutet hin auf »rechtsseitige Gesichtslähmung….«
Ich bitte eine der Therapeutinnen, diese Bemerkung zu erklären. »Bei blinden Kindern läßt sich schwer sagen, was diese frühen Muskelanspannungsprobleme genau bedeuten«, sagt sie. »Es kann nervlich bedingt sein oder eine Versteifung durch die innere Anspannung, die sich körperlich manifestiert.«
Donnerstag ist der Tag für die Kinder-Stimulation. Ich warte die ganze Woche darauf, dort hinzugehen, so wie ich früher auf die Sozialarbeiterin gewartet habe. Die Therapeutinnen, die in dem Gebäude auf dem Hügel arbeiten, sind jetzt meine weißen Göttinnen. Sie haben die Antworten; sie werden mir zeigen, was zu tun ist. Am Morgen dusche ich und kleide mich mit mehr Sorgfalt als üblich, doch wenn es Zeit ist zu gehen, hält mich irgend etwas zurück. Daher bin ich immer zu spät, wenn ’ ich in den hellen Raum komme, und bewaffnet mit Entschuldigungen, die niemand hören will: den Schlüssel verloren, das Auto wollte nicht anspringen, eisige Straßen, keine Parkplätze, in letzter Minute noch Rachels Windeln gewechselt. Hier lüge ich in der Hoffnung auf etwas anderes, denn ich habe mich noch nicht darauf eingestellt, Mitglied in einer Gruppe von Müttern mit geschädigten Kindern zu sein.
Stofftiere sind hübsch auf dem Fensterbrett aufgestellt, im Spülbecken einer Puppenküche ist Geschirr aufgestaplt, Puppen liegen in Krippen und Wiegen. Bausteine türmen sich in Kisten, die Puzzlespiele haben ihren besonderen Platz. Man hat eine Rutsche aufgestellt und den Sandkasten aufgefüllt.
Die Kinder liegen auf einer Art Matten, wie sie mir von der Turnstunde her in Erinnerung sind: hell leuchtend, in Rot und Weiß. Sie haben dieselben Namen wie normale Kinder — Steven, Tory, Alex, Katie, Lauren — und tragen Jogginganzüge und Yankeejacken und kleine Aerobicschuhe, obwohl zwei von ihnen nie gehen werden und eines nie schnell rennen wird. Während eine zerkratzte Aufnahme von Pachelbels Canon auf einem alten Plattenspieler läuft, sitzt jede Therapeutin bei einem Kind. Terry macht Seifenblasen für Steven; Joan farbige Würfel für Tory auf; Alex federt auf einem Ball, der bis zur Hüfte reicht. Faith macht einen Wirbel um Torys kleine Schuhe und Mrs. Kaiser sagt: »Hallo, Süße« und kniet vor Rachel nieder.
Die Mütter spielen mit ihren Babys und plaudern miteinander. Sie haben Träume und Ängste. Ich weiß, sie müssen sie haben, doch wenn sie reden, so nur über gewöhnliche Dinge — Sonderangebote in einem Geschäft in der Stadt, die vereisten Straßen, ihre älteren Kinder. Ich bin eine dieser Mütter, die sich mit der Tatsache und den Auswirkungen des Zustandes ihrer Tochter herumschlagen muß und dem verlorenen Traum von einem gesunden Kind nachtrauert. Ich wache jeden Morgen zeitig auf, esse dreimal täglich anständig, mache meine Tochter rechtzeitig für die Schule fertig, gehe zu Versammlungen und ins Kino und lache über Witze. Und dennoch sitze ich abseits von allen anderen und wundere mich, wie diese Frauen aus dem Bett steigen, ihr Haar fönen, Schuhe kaufen und so mühelos über banale Dinge sprechen. Als ob ich eine Außenseiterin wäre, erschreckt und fasziniert mich ihre Normalität, und ich kann mich nicht mit ihnen identifizieren. Vielleicht beobachte ich die anderen deswegen, weil ich mich mit meinem Ich, das die tägliche Routine durchläuft, nicht verbunden sehe und hoffe, daß ich mit Hilfe ihrer Gesichter herausfinden könnte, wer ich geworden bin.
Die Therapeutinnen sind jung und fragen nicht, was sie als Gegenleistung für die Liebe bekommen, die sie den Kindern geben. Ich verstehe, daß es ihre Aufgabe ist, mit unseren Babys zu arbeiten, und daß sie für ihre Anstrengungen bezahlt werden, und doch scheint mir, daß das, was sie geben, weit über die bloße Arbeit hinausgeht. Mrs. Kaisers »Süße« ist nicht das nutzlose »Süße« einer Fremden. Ich kann an ihrer zarten Fürsorge sehen, Rachel ist eine Süße für sie. Es ist wichtig, daß Rachel von den anderen geschätzt wird, daß sie hier, in diesem Zimmer, niemals danach beurteilt wird, was sie tut oder nicht tut. Es ist wichtig für Alex’ Mutter, daß ihr Sohn nicht mit lieblosem Anstarren und ebensolchen Fragen begrüßt wird, sondern hier ein Kind ist, das von anderen liebkost und geliebt wird.
Würde zufällig ein Fremder hereinschauen, er würde spielende Kinder sehen und nichts sonst — wie Steven auf die Seifenblasen schlägt, wie Tory farbige Steine von einer Hand in die andere legt; Alex, der an den Hüften festgehalten wird und lacht, während er auf dem großen grünen Ubungsball reitet. Mit dem Spiel wird jedoch eine Absicht verfolgt; das Spiel soll bestimmte Reaktionen entlocken beziehungsweise andere unterdrücken. Das Spiel als Stimulation.
An diesem Morgen fängt Rachel in einem Eimer voller Styroporkugeln an. Danach wird sie an ein Polster in einem Wäschekorb gelehnt. Vor ihr ist eine Papierrolle aufgehängt, von der Art, wie sie zum Geschenkeeinwickeln oder für Aluminiumfolien verwendet wird, welche man mit Stoff von verschiedener Beschaffenheit wie Leinen und Samt überzogen hat. Wenn sie die Hände ausstreckt, kann sie nicht umhin, diese Rolle zu berühren, und wenn sie sie losläßt, kann sie sie wiederfinden.
Die Theorie, die hinter Rachels Spiel steckt, wurde von Selma Fraiberg und ihren Kollegen von der medizinischen Fakultät der Universität von Michigan entwickelt, die Mitte der sechziger Jahre mit einer Langzeitstudie an Kindern begannen, die von Geburt an blind waren. Am Anfang ihrer Arbeit stellten sie bei blinden Kindern, die in anderer Hinsicht intakt waren, eine hohe Häufigkeit von verminderter geistiger Entwicklung und übermäßige Störungen in der frühkindlichen Ich-Funktion fest. Und sie wunderten sich, warum fünfundzwanzig Prozent der blinden Kinder (»eine vorsichtige Schätzung«) »ernste kognitive Behinderungen und/oder emotionale Probleme« hatten. In ihrem Artikel »Ein pädagogisches Programm für blinde Säuglinge« stellen sie die Theorie auf, daß diese Ich-Störungen und kognitiven Mängel auf die ersten achtzehn Lebensmonate zurückgehen, die Zeit, während der die meisten Kinder in einer Leere leben.
Ein normales Baby verbringt die meiste Zeit des Tages mit bloßem Umherschauen. Babys beobachten Lichtstrahlen und schwebenden Staub, das Spielzeug in ihrem Bett, die Gesichter der Eltern oder den Hund des Nachbarn. Wie das Kind, das uns im Restaurant so konzentriert angeschaut hat, empfangen diese Kinder Freude und Information von der sichtbaren Welt.
Das sehende Baby sieht seine Mutter und lacht ihr zu; bald lernt es, daß es dadurch die Aufmerksamkeit der Mutter erhält weil die Mutter durch dieses Lachen spürt, daß sie geliebt wird. Und eine liebende Mutter neigt eher dazu, mit ihrem Baby zu spielen. Der sehende Säugling sieht ein Spielzeug, hebt seinen Kopf und greift eines Tages danach, steckt es in den Mund und entdeckt, daß es hart und kühl ist und daß es rasselt, wenn er es schüttelt.
Aber wie verhält es sich bei blinden Babys? Sie haben keine Welt aus strahlenden und wundersamen Dingen, nach denen sie greifen wollen, und daher lernen sie auch nicht so leicht etwas von der Welt kennen. Sie sind passiv und schwerlaufzurütteln und sie lachen nicht bereitwillig: Sie geben ihren Eltern so wenig zurück, daß sie schwer zu lieben sind.
Wenn Rachel sehen könnte, hätte sie bereits als Neugeborene ihren Kopf von einer Seite zur anderen bewegt und versucht, sich aufzustützen, um herumzuschauen. (»Das sehende Baby wird von den ersten Wochen an im bloßen Schauen auf die Welt eine fesselnde Ganzzeitbeschäftigung vorfinden, die es dazu bringt, daß es sich anstrengt, seinen Kopf aufrecht und im Gleichgewicht zu halten.«) Sie würde sich drehen und die Hände ausstrecken, sie würde kriechen, stehen und gehen, weil sie Dinge sehen würde, die sie haben wollte.
Zu Beginn ihrer Studie nahm Fraiberg an, daß man Klänge als Lockmittel verwenden könnte, aber das stellte sich als unmöglich heraus. Sehende Babys werden nicht nach dem greifen was sie hören, aber nicht sehen — zum Beispiel nach einer Spieldose, die unter einer Decke versteckt ist —, bis weit in ihr erstes Lebensjahr hinein, und blinde Babys tun das schon gar nicht.
Obwohl blinde Kinder ungefähr zur selben Zeit sitzen wie sehende, kriechen sie später; sie stehen etwa um dieselbe Zeit, aber sie gehen nicht. (Für blinde Kinder ist es nicht ungewöhnlich, daß sie mit zwei Jahren erst zu gehen beginnen.)
Oft sind sie blockiert in der Weise, daß sie Bewegungen dauernd wiederholen, wie etwa das Schaukeln. Sie schaukeln, weil sie physiologisch vorbereitet sind, sich zu bewegen, ihnen aber die visuellen Anreize fehlen. Die Gefahr während der Zeit, in der Rachel weder ein Sehvermögen hat, das sie stimuliert, noch die Fortbewegungsfähigkeit, die es ihr ermöglichen würde, Informationen über die Welt erwerben, ist, daß sie ihr Leben in einer sinnlichen Leere verbringen könnte.
Um dem Kind in diesem frühen Zeitraum zu helfen, entwickelten Fraiberg und ihre Kollegen das Konzept des »interessanten Raums«, worunter man ein begrenztes Gebiet versteht, in dem Spielzeug und andere anziehende Dinge zu entdecken sind. Mrs. Kaiser setzt Rachel an einen Spieltisch, der einen dem Körper angepaßten Sitz mit einer Rückenlehne hat und eine Platte, die festsitzt. Das Spielzeug, das Rachel scheinbar am meisten liebt — ein Gummistachelschwein und ein gehäkelter Ball —, wird direkt vor ihr auf den Tisch gelegt. Wir legen Rachels Hände auf das Spielzeug, damit sie weiß, wo es ist, obwohl sie es auch finden würde, wenn sie zufällig ihre Hände auf den Tisch legt.
»Das blinde Kind lebt in seinem ersten Lebensjahr zu lange in einer Welt, in der es ›Dingen‹ zufällig begegnet«, schreibt Fraiberg. »Die ›Dinge‹ erscheinen aus dem Nichts, begegnen zufällig Fingern und Mund und verschwinden bei Verlust des Kontaktes im Nichts.« Man hofft, daß Rachel allmählich versteht, daß der Tisch ein Platz ist, wo Dinge zu finden sind, so daß sie nach ihnen greifen wird, sogar bevor man sie darauf gelegt hat. Und daß sie schließlich lernen wird, daß auch anderswo interessante Dinge sind, und daß alles, was sie zu tun hat, ist, nach ihnen zu tasten, um sie zu finden.
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Wenn die Stunde vorbei ist, gehen die Therapeutinnen, und es kommt eine Sozialarbeiterin herein mit einem Tablett mit Kaffee und Keksen und Ermunterungen, daß die Mütter noch bleiben sollen. In der ersten Woche lehne ich ab. In der zweiten Woche überwältigt mich meine Neugierde, und ich schließe mich den anderen an, die sich auf der mittleren Matte neben ihren Babys scharen.
Was für eine gemischte Gruppe sie sind — jung, in mittleren Jahren, schick, schäbig gekleidet, schwarz, weiß — eine aus jeder Schicht, als wenn uns jemand in der Stadt zusammengesammelt hätte, um zu beweisen, daß Geburtsschäden nichts mit Rasse oder Glaubensbekenntnis zutun haben.
Das Gespräch läuft leicht und mit geringem Einsatz, wie das Gespräch von Müttern, die auf den Beginn einer Versammlung des Elternbeirats warten. Dann plötzlich wird das Geplaudere zu einem ernsthaften Gespräch. Es dreht sich um Krankenversicherung, welche Tragen die besten sind, die unverschämten Preise für orthetische Geräte, einen Kinderwagen, der geräumig genug ist, daß er Platz hat für Rücken- und Seitenstützen, die Reaktion der Großeltern auf ihre Kinder, und wie intensiv die Ärzte arbeiten. Und nun sind sie nicht mehr länger eine Gruppe von spießigen Müttern, sondern eine Schwesternschaft von Leidenden.
»Er sagt nichts, während wir in seinem Büro sind, nicht ein einziges Wort. Dann ruft er uns spät in der Nacht an und sagt uns, daß sie dahinvegetieren wird und wir uns schon wegen einer Einrichtung umschauen sollten, die sie nimmt…«
»Ich erzählte ihm, das Baby atmet nicht, und er sagt mir, ich soll einen Luftbefeuchter besorgen. Einen Luftbefeuchter! Dieses Baby erstickt vor meinen Augen, und der feine Pinkel sagt mir, ich soll in die Stadt gehen und mir einen Luftbefeuchter kaufen!«
»Wir erzählen also dem Arzt von diesem Artikel, den wir gelesen haben, und er gerät vollkommen aus der Fassung und sagt nur: ›Wer hat nun die medizinische Ausbildung, Sie oder ich?‹«
Solange ich zuhöre, spüre ich mein Herz schneller schlagen und denke zuerst, daß mich das Mitgefühl überwältigt. Dann bin ich auf einmal wieder im Untergeschoß der Krankenhausstadt und erhalte die Nachricht, daß Rachels Reiz-Reaktionstest positiv ausgefallen ist. Die Situation ist so aufgeladen, daß ich besser jetzt nicht darüber nachdenke. Nichtsdestoweniger fallen mir die Dinge wieder ein: Paul weint zum ersten Mal. Sein Nacken ist heiß und sein Haar schimmert wie Seide. Mit rauher Stimme sagt er: »Das heißt nicht, daß sie sehen wird.«
Mein Bedürfnis zu sprechen ist viel stärker als mein Beschluß zu schweigen. Ich muß über diesen Vorfall sprechen, und auch die anderen müssen das. Ich muß diesen Fremden von Dingen erzählen, die man, wie man mir immer eingetrichtert hat, besser für sich behält, weil diejenigen, die mir am nächsten stehen, sie einfach nicht hören wollen. Paul kann es nicht ertragen, an Rachel zu denken. Meiner Mutter bereitet es Schmerzen, wenn ich hoffnungslos, bin, weil ich doch ihr Kind bin. Meine Freunde wissen nicht, was sie sagen sollen. Ich will mit jemandem sprechen, der meine Qualen anhören kann, der meinen Schrei beachtet, der meinen verzweifelten Witzen zuhört, mit jemandem, der mich versteht. An diesem Ort hier, in diesem Zimmer und mit diesen Frauen kann ich das. Nur hier gibt es jemanden, der imstande ist zu sagen: »Sie ist ein liebes Baby, was fehlt ihr?«
Wir können einander fragen, was den Kindern fehlt und ob es sich bessern wird. Wird sie einmal sehen können? Wird er Liebe machen können, wenn er älter ist? Wird sie jemals erwachsen werden?
»Sie hat etwas, das man Sehnervhypoplasie nennt«, erkläre ich.
Hypo — unter; -plasie Entwicklung, Bildung. Augen mit langen Wimpern, weiche Haut, kleine Nase, Gurkenzehen — sie ist lieb, groß und gesund, hat einen Trommelbauch, Bänder um ihre Knöchel und Fettringe um ihre Schenkel — sie ist in jeder Hinsicht perfekt, außer daß sich ihr Sehnerv nicht richtig entwickelt hat.
»Haben sie Ihnen gesagt, wie das gekommen ist?«
»Ein Unfall während der Entwicklung!«
»Wodurch wurde er hervorgerufen?«
»Vielleicht ein Virus.« Oder Muscheln oder die Amniozentese.
Wie soll denn das gelaufen sein?
Wenn wir die Ursachen wüßten, könnten wir diese Frage ad acta legen. Wir könnten unsere Ernährung ändern, aus der Stadt wegziehen, in der wir leben, andere Kinder haben oder nicht. Wir könnten unsere Erfahrung an andere mit ähnlichem Risiko weitergeben und Trost in unseren Aktivitäten suchen.
Gäbe es mehr solche Kinder, wäre es einfacher, darüber Betrachtungen anzustellen, aber hier handelt es sich um eine ungewöhnliche Störung. In der Standardliteratur findet sich nichts über Sehnervhypoplasie, und in den Abhandlungen, die Paul nach Hause bringt, ist die Beispielauswahl furchtbar klein: zehn Kinder in einer, sieben in einer anderen, einundfünfzig in der größten Studie — doch diese einundfünfzig Fälle wurden in einem Zeitraum von elf Jahren gesammelt. Und welche Schlußfolgerungen ergeben sich daraus? Aus einer Abhandlung erfahren wir, daß es eine bekannte Verbindung von »einigen« Fällen von Sehnervhypoplasie mit der Diabetes von Müttern und der Einnahme von Chinin während der Schwangerschaft gibt. Sieben Patienten hatten Mütter, die Entkrampfungsmittel genommen hatten.
In einer anderen Studie stellten die Autoren fest, daß Kinder mit Sehnervhypoplasie sehr oft Erstgeborene von sehr jungen Müttern in der mittleren und späten Jugend sind, von denen wiederum zehn Prozent Drogen- und Alkoholprobleme hatten. Umweltfaktoren, die eine »sehr spezifisch schädigende Wirkung auf die Ganglienzellen der Retina haben und auch häufig auf die Gehirnzellen«, stellen eine Möglichkeit dar, sagen die Autoren einer anderen Studie. Abnormitäten der Chromosomen der Trisomien 13 bis 15 sind zufolge eines Forschers nachgewiesen worden; Abweichungen der Chromosomen der Trisomie 18 hat man nach Ansicht eines anderen Forschers ausfindig gemacht. Auch einen Erbfehler hat man vermutet, indem man sich auf dreizehn Fälle stützte, die man in einem Zeitraum von achtundzwanzig Jahren in der Zeit von 1947 bis 1975 aufgezeichnet hatte.
Was soll ich davon halten? Ich hatte eine Fruchtwasserpunktion, weil ich nach Definition der Geburtshilfe eine Spätgebärende war. Vor der tatsächlichen Durchführung saßen Paul und ich in einer genetischen Beratungsstelle und versuchten, Familienkrankheiten ausfindig zu machen. Und alles, was wir zur Sprache bringen konnten, waren Allergien und Krampfadern. Die Amniozentese schloß Chromosomenabweichungen aus. Ich hatte während der Schwangerschaft nicht geraucht und nie mehr als ein Glas Wein getrunken. Sollte ein Glas Beaujolais die ganze Geschichte verursacht haben? Ich esse weder Fleisch oder übermäßig behandelte Nahrungsmittel, noch verwende ich künstliche Süßstoffe oder arbeite mit giftigen Chemikalien — ich wußte nicht mehr, was ich sagen sollte. In der Isolierung unseres Hauses gibt es kein Formaldehyd, in unseren Wänden kein Asbest. Wir haben auch kein Radon in der Erde unter unserem Haus. Ich bin nicht in der mittleren oder späten Jugend. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt und habe im Augenblick eine Menge Probleme, doch Drogen gehören nicht ‘ dazu.
Auch Paul forscht gründlich. Er wird zwar nicht auf einer Party einen Kardiologen in die Enge treiben oder einen Termin für eine Untersuchung vereinbaren, weil unser Internist tüchtig ist und etwas wissen könnte, von dem wir noch nicht gehört haben — beides Dinge, die ich gemacht habe. Aber er bringt einen Computerausdruck mit Auszügen aus Abhandlungen über Sehnervhypoplasie nach Hause, die in den letzten zehn Jahren veröffentlicht wurden. Forschen ist Wissenschaft, sagt er, während wir die Auszüge durchstreichen, die uns nicht interessieren, und die, die wir lesen wollen, einkreisen.
Obwohl es eine deprimierende Aufgabe ist, sind wir zumindest zusammen, wenn wir über diesen Abhandlungen hocken, wie zwei Detektive, die diese Studien nach einem Schlüssel für ihre Zukunft durchsuchen. Wir arbeiten Seite an Seite, so wie früher, in unseren glücklicheren Tagen.
Wie schrecklich diese Gutachten sind! Viele der Kinder haben septo-optische Dysplaspie und damit verbundene endokrine Probleme. Von Wachstumsverzögerung und Zwergenwuchs wurde berichtet und, auf der anderen Seite, von sexueller Frühreife. Es gibt Kinder mit Bewegungsproblemen, Lernproblemen, Leberproblemen und mit Schäden in verschiedenen Teilen ihres Gehirns. Viele sind zurückgeblieben, wenn auch nicht alle; viele haben anfallartige Störungen, wenn auch nicht jedes. Welche Schlußfolgerungen können wir aus diesen Fallstudien ziehen? Daß Paul recht hat, wenn er hofft (Schau Sie an, wie schön sie ist!) und daß ich recht habe, wenn ich mir Sorgen mache.
Die meisten Leute, die von Rachel hören, prophezeien, daß man sie heilen wird. Ich muß mir nur meinen Schwiegervater ins Gedächtnis rufen, wie er die Winter beschrieb, als er noch ein Schuljunge war. Als eines Tages der Stuhl neben ihm leer war, als dann auch der Stuhl hinter ihm leer war. Die Kinder starben an Masern, Scharlachfieber, Keuchhusten und Diphterie. Oder meine Mutter, als sie von der Angst erzählte, die in jenen Sommern über den Eltern schwebte, als eine Polioepidemie herrschte. Dann verstehe ich die Ehrfurcht, die diese Leute vor der modernen Medizin haben. Man hat große Fortschritte gemacht. Antibiotika und Impfungen haben unser Leben völlig verändert. Und jetzt leben wir, schon viele Jahre nach dem Zeitalter der Zauberkugel, in einer Zeit, wo uns die moderne Medizin schmucke Diagnosetechniken, wunderbare Therapien und hochtechnologische Prothesenvorrichtungen beschert hat, und doch…
In Rachels Gruppe bei der Säuglingsanimation ist zum Beispiel Tory, die in ihrer Entwicklung zurückgeblieben ist, wo es heißt »Ätiologie unbekannt«, des weiteren Steven, mit Gehirnlähmung, »Ätiologie unbekannt«, Alex, mit Spina bifida, »Ätiologie unbekannt«, Lauren, die zwölf Wochen zu früh geboren wurde, »Grund für die Frühgeburt unbekannt«, und Rachel, mit Sehnervhypoplasie, »Ätiologie unbekannt«. Diese Syndrome hat man studiert und charakterisiert; was dem Gehirn und den Nervenimpulsen zugestoßen ist, wird oftmals begriffen. Wenn es aber um Schlußfolgerungen und Heilverfahren geht, dann ist wenig vorhanden.
Katie war ein gesundes Kind, sprudelnd vor Leben, munter und frühreif, ein tadelloses Kind in jeder Hinsicht. An einem Freitag, als sie sieben Monate alt war, erwachte sie mit hohem Fieber. Ihre Mutter dachte zuerst, es sei Grippe, aber an der Art, wie das Baby weinte, war etwas seltsam, und sie brachte sie daher zum Kinderarzt. Es war keine Grippe, es war Hirnhautentzündung. Katie war einen Monat lang im Krankenhaus und so krank; daß man erwartete, sie würde nicht durchkommen. »Aber du bist ein zähes Kerlchen, nicht wahr?« sagt ihre Mutter.
Der Neurologe sagte der Familie, daß die Krankheit ausgedehnte Gehirnschäden verursacht habe und daß Katie deshalb blind und taub sei wie eine Pflanze. »Er hatte unrecht. Sie bewegt ihre Augen, wenn ich ins Zimmer komme. Sie schaut, wo ich gehe, und macht Umstände, wenn ich mich abwende.«
Tory ist ein schönes kleines Mädchen mit großen Haselnußaugen, langen geraden Wimpern und einem Kopf voll feiner Haare, die hochstehen, als wären sie elektrisiert. Sie ist ein Zwilling mit einer Schwester, die bei der Geburt ein Pfund schwerer war. Wenn ein Zwilling nur einige Dekagramm weniger wiegt als der andere, gibt es keinen Grund zur Sorge. Ein Gewichtsunterschied, der so groß ist wie der zwischen Tory und ihrer Schwester jedoch, läßt darauf schließen, daß ihr Mutterkuchen unzureichend ausgebildet war. Tory kam ihren Eltern normal vor. Erst der Kinderarzt fing an, sich Sorgen zu machen, als sie ihren Kopf nicht hochhielt, während Erin dies bereits machte. »Sie mit Erin zu vergleichen, ist nicht gerecht — sie ist in ihrem Entwicklungsfahrplan in allem weit voraus gewesen. Erin saß mit fünf Monaten. Sie steht bereits.«
Torys Mutter ist munter und weigert sich, ihrem Arzt zu glauben, der ihrer Tochter eine schwierige Zukunft voraussagt. Katies Mutter hat Hoffnung, wo es keine Hoffnung gibt. »Sie haben mir gesagt, sie sei blind und taub, und schau —« während sie ihre schöne sanfte Tochter im Schoß hält und mit einem Schlauch füttert. Die Mutter von Alex ist jung und unverheiratet und versteht nicht, was mit ihrem Baby passiert ist. Obwohl ihr Vater, ein Prediger, ihr versichert hat, daß Alex wegen ihres sündhaften Lebens so sei, wie er ist. »Warum würde Gott Alex das antun? Er hat ja nicht in Sünde gelebt. Warum hat nicht statt dessen mir etwas angetan?« Und ich sitze da und quäle mich mit dem Gedanken, daß Rachel nie sehen wird, daß sie zurückgeblieben sein und Anfälle haben könnte.
Wir sind alle sehr verschieden, und unsere Reaktionen auf die Probleme unserer Kinder sind unterschiedlich. Und doch wühlen wir uns alle durch denselben Schmutz, wir wühlen und wühlen, Woche für Woche. Warum? Was ist geschehen? Weshalb tun wird das?
Stevens Mutter hatte drei normale Schwangerschaften, bis ihr Sohn geboren wurde, und drei normale, gesunde Kinder. Ihre Entbindung von Steven war ohne einen Vorfall bis zum Schluß, als sie zu bluten anfing. Was hatte zur Blutung geführt? Wo war der Arzt, als es passierte? Sie sagt, daß sie zurückgehen und ihn fragen will, warum ihn die Schwestern nicht finden konnten und ob die Blutung die Probleme ihres Sohnes verursacht hat. Aber sie hat Angst zu gehen, weil sie den Arzt so nett gefunden hat. Ihre Ehemann sagt, was geschehen ist, ist geschehen. Warum wühlen? Jede Woche erzählt sie uns die Geschichte von ihrer Niederkunft.
Paul denkt, daß die Amniozentese schuld war. Er war während des Vorgangs dabei und beobachtete, wie die Nadel in meinen Uterus eingeführt und Blut statt Fruchtwasser herausgezogen wurde. Und das dreimal, bis das Fruchtwasser kam. Er ist überzeugt davon, daß eine »kranke Fruchtblase« Rachels Probleme verursacht hat. Eines Abends zeigt er mir eine Zeichnung in einem Lehrbuch. Ich denke zuerst, daß es sich um die Abbildung von einem Frosch handelt. Wir blicken von oben auf das Gehirn. Zuerst kommen die Augapfel, zwei hervorstehende Kugeln, und dann, im Hintergrund, kommtdie Retina. Die Nervenfasern, die den Augapfel verlassen, sind die Sehnerven, welche sich in der Illustration in der Mitte des Gehirns zu kreuzen scheinen. In Wirklichkeit nähern sich einige der Nervenfasern jedes Sehnervs an einer Stelle einander an, die Sehnervenkreuzung genannt wird. Dann trennen sie sich wieder und setzen sich später als Sehstränge fort.
Vor allem die Sehnervenkreuzung, die Stelle, wo sich die Sehnervenfasern kreuzen, interessiert Paul. Und wenn nun während der Fruchtwasserpunktion diese Zone verletzt wurde? Könnte das nicht möglich gewesen sein, als die Nadel so viele Male eingeführt wurde? Und wenn der Schaden nicht durch die Nadel selbst verursacht wurde, könnte nicht ein Virus eingeleitet worden sein? Die Entwicklung des Sehnervs beginnt ungefähr in der fünften Woche, und eine Sehnervhypoplasie kann man sich jeder Zeit zuziehen, bis das Auge voll entwickelt ist. Er erprobt seine Theorie an mehreren Ärzten und muß erfahren, daß sie lächerlich, unmöglich und bestenfalls vage ist. Er verwirft sie, aber er ist zu hungrig auf Antworten, als daß er aufhören könnte zu wühlen.
Möglicherweise war das Wasser oder die Luft schuld. Solch grundsätzliche Dinge, die unseren Eltern nie Sorgen bereitet haben. Luft und Wasser. Leukämie bei Kindern in Woburn, Massachusetts, und in Rutherford, New Jersey; Geburtsfehler in Love Canal, New York, in Times Beach, Missouri. Die Nachrichten sind voll von solchen Geschichten.
Nein, sagt die Sozialarbeiterin, die die Müttergruppe leitet. Im Winter 1983 gab es keine ungewöhnlich große Anzahl von Kindern, die angeborene Probleme aufwiesen. Man war ziemlich beunruhigt, als im selben Krankenhaus drei Kinder mit Spina bifida geboren wurden, bis man erfuhr, wie weit voneinander getrennt die Kinder lebten…Ja, es gibt mehr Kinder mit angeborenen Problemen, weil viel mehr überleben, als in der Vergangenheit. Im Zimmer unter uns waren Kinder, die bei der Geburt nur tausend Gramm wogen, Kinder, die früher nicht überlebt hätten und bei denen ein erhöhtes Risiko für nervliche Probleme, kardiovaskuläre Probleme, Sehfehler und Lernschwächen und andere Krankheiten bestand.
Vielleicht hast du etwas getan, das ihre Probleme verursacht hat? Ich bin gelaufen, während ich schwanger war (stolz und eitel, das geschieht dir recht). Ich bin mit der Ermunterung von Sportmagazinen und der Zustimmung meiner Frauenärztin gelaufen. Nicht viel zwar, nicht zehn Meilen am Tag, aber vielleicht zwei, nicht eine Meile in sieben Minuten, aber in zwölf. Und ich habe mich niemals einem Sauerstoffmangel ausgesetzt. Ich bin auch gelaufen, als ich mit Charlotte schwanger war, und andere sind auch gelaufen, und es ist von keinen Schäden an ihren Kindern berichtet worden. In der Literatur fand sich nichts darüber, außer, daß ein wenig Sport der Mutter guttut. Und doch.
Warst du krank? Wir hatten zu Neujahr für drei Tage ein Haus auf dem Land gemietet. Die Freunde, die uns begleiteten, wußten daß Paul und ich kein Fleisch essen, und planten für den Neujahrsabend ein Essen mit Sushi und rohen Schalentieren Obwohl wir bereits aufgehört hatten, rohe Meeresfrüchte zu essen (wir vorsichtigen Dinger), hatten wir nicht den Mut, diese abzulehnen, da sie bereits eingekauft waren. Wir waren höflich und aßen. Als wir nach Hause kamen, hatte Paul Beschwerden, die er auf ein Magenvirus zurückführte. Und ich — ungefähr seit fünf Wochen schwanger — trieb mich einen Nachmittag lang in der Nähe der Toilette herum. Könnte das schuld sein? Oder könnte es der übriggebliebene Tomatenhering gewesen sein, den ich nach dem Essen erbrach? Oder der Salmiak, den ich an einem Nachmittag beim Bodenputzen verwendete und der das Zimmer mit derart ekelhaften Dämpfen erfüllte, daß ich hinausgehen mußte? War es ein Unfall, verursacht durch meine Höflichkeit oder meine Blödheit? Wie konntest du nur den Boden mit Salmiak putzen, wo du doch schwanger warst? Oder war es einfach ein Virus, irgendwelche Bakterien, die zwar der Mutter nichts ausmachen, sich aber auf den Fötus verheerend auswirken, wie die Röteln?
Es handelt sich nicht nur um meine persönliche Zwangsvorstellung, daß ich nach Antworten suchen muß, die mich zu diesen Nachforschungen treibt. Es ist eine Verpflichtung, die ich Elternteil empfinde, denn ich bin in dem Glauben erzogen worden, daß es die Aufgabe der Mutter ist, bis zum Tod um das Überleben ihres Kindes zu kämpfen. Und meine Art zu kämpfen ist, alles in Erfahrung zu bringen, was es zu wissen gibt. Ich habe Angst, daß wenn ich duckmäuserisch die Tatsache akzeptiere, daß man nichts tun kann, ich ihr…irgend etwas vorenthalten könnte.
Unter diesen Umständen kommt mir der Skeptizismus, auf den ich so stolz war, plötzlich schädlich vor. Ich ertappe mich dabei, daß ich mir Dinge anhöre, die mich vor Rachels Geburt genervt hätten; die mich sogar noch vor einem Monat zornig gemacht hätten. Diese Dinge klingen jetzt vernünftig für mich. Mega-Vitamine. Warum nicht? Der Saft der »Grünen Magma«, weil es von diesem teueren grasigen Zeug heißt, daß es Schwächlinge in Überhelden verwandelt. Man weiß ja nie. Ich sage noch immer: »Es ist ein gleichbleibender Zustand, man kann nichts dagegen tun.« Ich sage den Aposteln der medizinischen Wissenschaft noch immer, daß der Sehnerv sich im Gehirn befindet und daß Gehirntransplantationen nicht im Bereich des Möglichen liegen, weil ich weiß, daß diese beiden Dinge stimmen. Ich weiß aber auch, daß ich mir nichts mehr wünsche, als eines Besseren belehrt zu werden.
Eines Abends, ziemlich spät, ruft Joyce an. Sie ist eine Freundin und Therapeutin, eine intelligente und sensible Frau, deren medizinische Kenntnisse von den Hauptströmungen bis zum äußeren Rand gehen.
Sie erzählt mir von einem Workshop mit einer Heilerin, an dem sie teilgenommen hat. Eine sehr talentierte Frau, die mit Brandopfern gearbeitet und einigen wirklichen Erfolg mit Zellentwicklung und Regeneration gehabt habe in Fällen, in denen die herkömmliche Medizin versagt hätte. »Ich weiß nicht, was sie für Rachel tun könnte — ob sie überhaupt etwas tun könnte —, aber ich dachte, ich sollte dir von ihr erzählen, denn sie lebt in Kalifornien, in Glendale, und ich habe ein Ticket nach L. A., das nur noch bis Monatsende gilt. Ich kann es selber nicht benutzen. Wenn du also Rachel hinbringen willst, um sie zu treffen, so würde ich es dir abtreten.«
Eine Heilerin? Eine Scharlatanin mit feurigen Händen, die Worte wie »Energie« und »weißes Licht« verwendet, ein irrsinniges Honorar verlangt und falsche Hoffnungen weckt? Was soll man bei Rachel heilen? Sie ist nicht krank, sie fühlt keinen Schmerz. Was passiert ist, ist passiert. Und doch…
»Wie heißt sie?« frage ich.
Joyce gibt mir den Namen der Frau und die Adresse des »Heillungszentrums«. Sie erzählt mir, daß die Leute oft monatelang warten, um die Heilerin treffen zu können. Und das, was ich tun müsse, sei, ihr sofort einen Brief zu schicken, der Rachels Zustand erläutert und auch ihre medizinischen Gutachten beinhaltet. Dann sollte ich einen Telefonanruf folgen lassen.
Ich lege auf und bleibe neben dem Telefon stehen. Ich sehe mich schon dabei, wie ich Rachel in ihren Strampelanzug aus Wolle einpacke und für uns zwei eine kleine Tasche vollstopfe. Und es kommt mir so kläglich vor, daß ich mit ihr über das ganze Land fliege, auf der Suche nach einer Wunderheilerin. Rachels Zustand ist nicht zu behandeln und unveränderbar. Es ist unsere Aufgabe, sie so zu lieben, wie sie ist. Nerven regenerieren sich nicht — das ist die einfache Wahrheit. Und doch…Was habe ich zu verlieren? Das Ticket ist kostenlos, Freunde könnten uns aufnehmen. Wir würden nur ein oder zwei Tage weg sein.
»Wer war das?« fragt Paul.
»Joyce.«
»Was wollte sie?«
Kann ich ihm sagen, wie sehr ich es mir wünsche zu fliegen? Er wird mir antworten, daß ich mich lächerlich mache. Und er hat recht damit.
Oder wird er das nicht tun? Hatte ich nicht gehört, wie mein schon lange vom Katholizismus abgefallener Gemahl, der im übrigen darauf besteht, daß seine Religion als »Irisch« registriert wird, einem Freund, der zur Kirche geht, am Telefon sagte: »Zünd eine Kerze für sie an!« Hat er nicht, als er vor einer Woche eine Erkältung bekam, eine Knoblauchölkapsel geschluckt, ein Nickerchen gemacht und nach dem Aufwachen verkündet, daß er kuriert sei? Soll das ein Wissenschaftler sein, ja, er, der meine laienhaften Spekulationen, »anekdotenhaft« nennt, aber gegenüber jedem, den er trifft, die heilende Wirkung von Knoblauch ausposaunt?
Wie ein Kind, das etwas Schreckliches gestehen muß, fange ich an zu weinen, ehe die Wörter herauskommen. »Joyce hat ein Ticket. Ich weiß, es klingt verrückt, aber es wird nicht viel kosten; und sie wird in keiner Weise verletzt werden, und vielleicht… man weiß ja nie.«
Sein Gesicht ist bleich, sein Ausdruck völlig unergründlich. Ich erinnere mich, wie ich ihm in dem höhlenartigen Foyer vor dem Büro des Ophthalmologen gegenübergestanden hatte und wie in seinen Augen nichts zu lesen stand, das ich mir hätte erklären können, absolut nichts. Und das nach all unseren Jahren der Nähe.
»Wenn du fahren willst, dann fahr«, sagt er schließlich.
Ich bin jetzt wie die Frau in der Gartenwohnung gegenüber dem Haus meiner Eltern, die ihre zurückgebliebene Tochter von einem Arzt zum anderen schleppte.
Ich schreibe der Heilerin einen langen Brief und lege Kopien der Briefe von Hines und Klibansky bei, so wie es Joyce vorgeschlagen hat. Die Heilerin hat einen seltsamen Namen, den ich vorher noch nie gehört habe. Ich stelle sie mir dunkelhäutig und zigeunerhaft vor, mit langem, dickem Haar, in einem wallenden Rock und mit schwarzen, allwissenden Augen.
Fünf Tage später rufe ich in dem Zentrum an und frage, ob ich die Heilerin mit dem seltsamen Namen sprechen könnte. Sie kommt zum Telefon. Die Verbindung knattert dermaßen, daß es mir vorkommt, als würde ich mit jemandem sprechen, der hoch über der Erde seine Bahn zieht.
Ich sage ihr, wer ich bin und frage dann: »Haben Sie meinen Brief erhalten?«
»Welcher war das, meine Liebe?« fragt sie mit sanfter Stimme.
»Das Baby mit den…Sehproblemen?«
»Aha, das kleine Mädchen, ja. Hmmm…Sagten Sie nicht, Sie leben in New York?«
»New Jersey.«
»Ja, das ist ziemlich weit weg. Es wäre nicht richtig, sie herzubringen und den langen Weg zu machen, wenn ich nicht wirklich weiß, daß ich etwas tun kann, um ihr zu helfen.«
»Mein Hinflug ist bereits bezahlt. Ich habe Freunde, die uns aufnehmen werden. Es ist wirklich kein Problem.« Ich bettle praktisch.
»Es gibt einen wunderbaren Mann in Baltimore. Das ist in den Nähe von Ihnen, nicht wahr? Wenn Sie wollen, könnte ich Ihnen seinen Namen geben. Aber das kleine Baby den ganzen Weg nach Kalifornien zu bringen…«
Als ich aufhänge, stelle ich fest, wie überrascht ich darüber bin, daß diese Frau so liebenswürdig und moralisch war, wo doch meine Vorstellung von ihr die einer Scharlatanin und Ausbeuterin gewesen ist. Und immerhin, ich war schon bereit zu fahren.
Paul sitzt an seinem Schreibtisch, als ich ihm erzähle, daß ich nicht fahre. Er hat Stapel voll Papier unter seinen Ellenbogen. Auf dem Regal über ihm stehen jede Menge Flaschen mit Knoblauchölkapseln.
»Diese gottverdammte Joyce«, sagt er. »Eine Heilerin. Sie will dich zu einer Heilerin schicken. Und das zu einem Zeitpunkt, wo du vor einem solchen Mist nicht gefeit bist.«
»Ich wollte ja fahren.«
Ich denke an die Knoblauchölkapseln, an einen neuen Zaubertrank, an die Wunderpille und an die Tatsache, daß letzten Endes keiner mehr von uns konsequent ist. Er glaubt an die wissenschaftliche Methode und wurde durch Knoblauchöl kuriert; er schwört, daß er nie an Rachel denkt und wacht im Morgengrauen auf und läßt seine Hände über ihr Gesicht gleiten. Ich bin die Vernünftige, die, die dauernd skeptisch ist, und ich warte auf Blitze, himmlische Worte und eine Wunderheilung.
Wir heben den Kopf
2 Februar
Heute abend sind wir nicht traurig, wir streiten nicht und grübeln nicht. Wir sitzen zusammen in meinem Arbeitszimmer, denn das ist in dieser kalten Nacht der wärmste Raum im Haus. Jemand hat Paul einen Drucker für den Computer geschenkt, aber leider nur mit Unterbrechungen funktioniert, und Paul hat schon mehrere Platten abgeschraubt, um seine Einzelteile untersuchen zu können. Ich sitze bei ihm und lese, ich leiste ihm Gesellschaft, weil er mich darum gebeten hat. Es ist so still, daß ich sein leises, regelmäßiges Atmen hören kann. Ich lege mein Buch zur Seite und sehe Paul zu, wie er die Vorrichtung abnimmt, die das Papier führt und dann mit unverminderter Konzentration die Traktorabdeckung, und da muß ich daran denken, daß wir jetzt schon eine ganze Weile in Frieden miteinander leben, daß wir ‘endlich angefangen haben, uns kurze Momente der Ruhe gönnen zu können, die wir in den letzten Monaten nie gehabt hatten.
Ich schwanke noch immer heftig zwischen Hoffnung und Angst, fange an zu weinen, wenn ich die Stimme meiner Mutter höre, verbringe ganze Nachmittage damit, Rachel zu testen, leide an »Merckus Interruptus«. Phantasiebilder überfallen mich noch immer ohne jede Vorwarnung, manchmal stürzen mich Kleinigkeiten in eine solch tiefe Verzweiflung, daß ich kaum noch atmen kann: der Anblick eines hübschen jungen Mädchens, ein Tiefschlaf, aus dem Rachel sich nicht wecken läßt. Wenn ich Rachel neben anderen Kindern ihres Alters sehe, wie sie mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten dasitzt, habe ich das Gefühl, mein Herz würde zerbrechen. Aber wenn sie dann lächelt oder wenn ich sehe, wie sie ein Spielzeug an sich drückt und jeden Millimeter seiner Oberfläche ablutscht — ganz normales Babyverhalten! —, dann erfüllt mich Hoffnung und Freude.
Erst jetzt, wo ich angefangen habe, meinen Kopf zu heben, wird mir bewußt, welch ein ausschließliches Gefühl Trauer ist. In ihren Qualen ist kein Platz für irgend jemand anderes. Aber du hast das doch so gut gemeistert! Du warst auf Partys, du hast über schlechte Witze gelacht, hast deinen Freunden Geburtstagsgrüße geschickt! Nicht daß ich wirklich Interesse für so etwas gehabt hätte oder Geduld für ihre Kopfgrippe und für ihre sonstigen Kümmernisse, die doch alle bald vorübergehen würden…während meine Tochter weiterhin blind bleiben würde.
Von Trauer gequält, vernachlässigte ich Charlotte. Ich gab ihr zu essen und zog sie an, malte neben ihr Bilder aus, baute Betten aus Lego und Häuser mit kleinen Fenstern, aber ich war ganz darauf angewiesen, daß Charlotte sich um sich selbst kümmerte. Sie merkte, daß ich Kummer hatte, und tat es, ohne große Umstände zu machen. Sie putzte sich allein die Zähne, sie goß sich selbst ihren Saft ein, sie zog sich das Nachthemd an, holte Windeln für Rachel und ging ans Telefon. Bitte, brauchte ich nur zu sagen, und schon war Charlotte dabei, das Verlangte zu erledigen. Ich brauche deine Hilfe, sagte ich, und schon half sie mir.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem Paul Charlotte mitbrachte, als er mich im Krankenhaus besuchte. Sie trug das Strickkleid mit dem Herz aus Seidenstoff auf der Vorderseite, neue Schnallenschuhe, und ihr Haar mit den Pony-fransen fiel dick und seidig wie das ihres Vaters. Als sie mich in der Tür des Aufenthaltsraumes stehen sah, blieb sie sitzen und baumelte mit den Beinen, bis Paul sagte: »Na, los doch.«
Da gingen wir aufeinander zu, plötzlich waren wir uns fremd geworden — Charlottes Mutter hatte ein neues Baby, und mein Baby war erwachsen geworden. Ich kniete mich auf den Boden, legte die Arme um sie und drückte ihren langen, festen Kleinmädchenkörper. »Jetzt hab’ ich wieder einen Schoß«, sagte ich. Dann begann ich zu weinen. Sie war so groß, so vollkommen im Vergleich zu Rachel.
Seit der Diagnose ist diese Größe alles, was ich mir an Charlotte zu sehen gestatte.
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Am Samstag muß Paul ins Labor, um die Neuroblastenzellen zu füttern, also nehme ich mir vor, mit Charlotte zur Bücherei zu gehen.
Ich helfe ihr beim Anziehen und schicke sie dann nach unten. In der Zeit, die ich benötige, um Rachel fertigzumachen, legt sie drei Puppen in den Sportwagen, dazu zwei Decken, das gewellte Innenteil einer Verpackung, ein Lätzchen von einem Hummer-Restaurant in Maine, ihre neue Frühstücksdose gefüllt mit Armbändern und Perlen, Bleistiftstummeln und Stofffetzen. Wenn Rachel nicht auf die Welt gekommen wäre, dann wäre Charlotte nach wie vor mein Baby.
Unterwegs zur Bücherei fragt mich Charlotte aus über Schneeflocken, Murmeltiere und über Mr. Lincoln. Wieso ist Mr. Lincoln auf allen Pennies? Warum hat er bei Kerzenlicht studiert? Weshalb feiert man seinen Geburtstag, wo er doch tot ist? Was ist das für eine Art Party, die man feiert, wenn jemand tot ist?
Ihr Enthusiasmus erinnert mich daran, daß Feiertage noch etwas anderes sind als Zeiten, in denen Schlußverkäufe abgehalten werden, und in mir erwachen lang vergessene Geschichten von Blockhütten, Kirschbäumen und Königin Isabella.
»Man feiert den Geburtstag eines Toten, um sich an ihn zu erinnern«, erkläre ich. »Du könntest ja deine Freunde einladen zu Lincolns Geburtstag, und dann könntet ihr über die guten Dinge reden, die er getan hat.«
Diese Erklärung findet keinen Anklang bei Charlotte. »Welcher Feiertag kommt als nächster?« will sie wissen.
»Papas Geburtstag. Sein fünfzigster.«
Charlotte packt den Griff des Kinderwagens und meint: »Das ist aber alt«, in einem Ton, in dem Ekel mitschwingt.
Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als mir Vierzig alt vorkam und als mir von allem, was ich an Paul bei unserer erste Begegnung geheimnisvoll fand, sein Alter am bedrohlichsten erschien. Vierzig! Wie konnte ich mich bloß in einen Mann verlieben, der vierzig Jahre alt war! Er schwor, daß er selbst kaum über sein Alter nachdachte, obwohl er sich als virzigjährigen Mann bezeichnete, wenn er über sich sprach, statt einfach »ich« zu sagen; und Unterhaltungen mit ihm waren gespickt von Vorträgen über die endliche Anzahl der Male, die sich eine Zelle teilen kann und über die Unfähigkeit des Menschen, sich das Nichts jenseits des Todes vorzustellen. Wenn er vom Kinderkriegen sprach, nannte er es »die DNA weitergeben«. Vierzig zu werden war bedeutungslos, aber er hatte auf einem Stativ eine Kamera aufgebaut, damit er jeden Morgen ein Bild von sich vor der kahlen Wand machen konnte, um seinen Verfall zu dokumentieren. Und jetzt wurde er fünfzig.
»Fünfzig ist nicht so alt«, sage ich.
Charlotte möchte eine Party für Paul haben mit blauen Papierschlangen, Gasballons und einer Eistorte. Während sie redet, nimmt die Idee in meinem Kopf Gestalt an, und ich füge noch ein paar erwachsenere Dinge hinzu: Wein und Küsse, alte Freunde, Trinksprüche auf Pauls zukünftiges Glück.
Ich bezweifle, daß Charlotte bis fünfzig zählen kann, und doch grübelt sie über sein Alter nach. Auf dem Heimweg sagt sie ein zweites Mal: »Das ist aber alt.«
Diesmal trifft es mich wirklich. Fünfzig. Ich bin mit einem Mann verheiratet, der bald fünfzig Jahre alt wird. »Die große Fünf-Null«, nennt es Paul, der versichert, die Tatsache, daß er sich dem Markstein eines halben Jahrhunderts nähert, sei kaum der Erwähnung wert.
Es ist nicht das Alter an sich, das mich aus der Fassung bringt, obwohl ich auch immer die Jahre, die ich versäumt habe, bereue. Ich mache mir Sorgen, weil Fünfzig ein ausgesprochen gefährliches Alter ist für Männer, ein Alter, in dem sie beim Schneeschippen oder beim Tennisspielen plötzlich tot umfallen. In seinem ganzen Leben war er keinen einzigen Tag krank, da mäht er am Tag nach seinem fünfzigsten Geburtstag den Rasen und bums…
Paul sagt, er wolle gar keine Geburtstagsparty, und ich glaube ihm, genauso wie ich ihm damals geglaubt habe, daß es völlig bedeutungslos ist, wenn man vierzig wird. »Du hast genug um die Ohren, auch ohne eine Party organisieren zu müssen«, meint er. Also bleiben wieder nur wir vier, eine Eiskremtorte und gasgefüllte Luftballons — das jedenfalls denke ich ein bißchen enttäuscht.
Am Montag ruft mich Paul von der Arbeit an und sagt: »Rate mal, mit wem ich heute gesprochen habe?« Als ich gerade die Neuigkeit aufnehme, daß er mit einem Freund telefoniert hat, den er seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen hat, da erwähnt er schon die Namen zwei weiterer Freunde, mit denen er ebenfalls Kontakt aufgenommen hat. Er möchte keine Party, aber am nächsten Tag überreicht er mir eine Liste mit fünfundzwanzig Leuten (multipliziert mit zwei, wenn man die Ehepartner und Lebensgefährten dazurechnet), die zu sehen er plötzlich Lust verspürt. Bis Mitte der Woche ist die Liste um weitere zehn Personen angewachsen, weil Paul nicht Tom zu der Party, die wir nicht veranstalten, einladen kann, ohne auch George einzuladen, und wenn George kommt, wäre es gemein, Hank auszuschließen. Und so geht es weiter, bis schließlich achtzig Leute auf der Liste stehen.
»Ich dachte, du wolltest keine Party?« frage ich hoffnungsvoll, denn ich bekomme langsam kalte Füße.
»Ich wollte auch keine.«
»Und jetzt?«
»Muß ich konsequent sein?«
»Darauf kannst du aber wetten.«
»Okay. Ich will eigentlich keine Party, aber ich bin ein guter Junge, also lasse ich dich eine für mich organisieren.«
Es ist eine verrückte Idee, in einer Zeit wie dieser eine Party zu veranstalten, und daß ich mir zusätzlich zu den Sorgen, die ich ohnehin schon habe, noch so viele neue aufbürde. Gleichzeitig aber gibt es mir das Gefühl, daß wieder ein bißchen Freude in unser Leben tritt, nicht nur für einen Moment hier und da, sondern über Zeiträume, die immer länger werden, und daß wir es eines Tages kaum werden glauben können, wie lange wir getrauert haben.
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Als der Zeitpunkt für die Party näherrückt, beginnen die Vorbereitungen für sie meine Tage auszufüllen: guter Wein, geliehene große Kaffeemaschinen, Basilikum im Winter. Ich habe Angst, daß die Party ein Fehlschlag werden könnte und leide unter immer wiederkehrenden Träumen, in denen früh am Abend die Gäste ankommen, und Paul sie herumführt wie ein Graf auf seinem Landgut, während ich noch meine Sportsachen anhabe.
Wenn mich jemand danach fragt, schwöre ich, daß ich nie mehr im Leben eine Party dieses Ausmaßes in Angriff nehmen werde. An dem Abend jedoch, als die Liste bei siebzig Personen angekommen ist, schleicht Paul die Treppe herunter und erwischt mich dabei, wie ich in der Küche stehe und singe.
Er setzt sich auf die Trittleiter und hört mir zu, wie ich mir Sorgen mache. Siebzig Leute. Wir können unmöglich siebzig Leute in diesem Haus unterbringen. Wir werden sie anrufen müssen, um sie dazu zu überreden, daß sie schichtweise hier auftauchen, die Verwandten um fünf, die ältesten Freunde um sieben, die neuen um neun und so weiter.
Paul legt die Arme um mich und sagt: »Du bist glücklich, nicht wahr? Du willst es nicht zugeben, aber gerade warst du allein hier unten und hast vor dich hingesungen. Ich weiß auch, weshalb du glücklich bist.«
»Weshalb denn?«
»Weil du etwas Neues hast, worüber du dir Sorgen machen kannst.«
Wenn das Sorgen sein sollen, so sind sie jedenfalls von grundsätzlich anderer Art. Es sind Sorgen, die mich anspornen, die mich wachrütteln, mir Auftrieb geben, Sorgen, die die leeren Schubladen in meinem Gehirn ausfüllen und mich von den wirklichen, quälenden Sorgen, die ich mir über Rachel mache, ein bißchen befreien. Ich habe es bisher nie genossen, mir Sorgen zu machen, oder ich habe jedenfalls nie gedacht, daß Sorgen einem Vergnügen bereiten können, aber ich muß jetzt gestehen, daß sie auch ihre guten Seiten haben können.
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Es gehört zu den Grundsätzen des Krankenhauses, daß alle Kinder, die an dem Förderprogramm für Kinder teilnehmen, vom Kinderphysiotherapeuten der Klinik (einem Arzt, der sich auf Rehabilitation spezialisiert hat) untersucht und beurteilt werden, und so bringe ich Rachel vier Tage vor Pauls Party ins Untergeschoß der Klinik zu Dr. Goldstein. Das Untergeschoß ist der Teil des Krankenhauses, in dem sich die Therapieräume und Betten der stationären Patienten befinden, das Schwimmbad und die Cafeteria. Durch seine Gänge schiebt man Kinder in den letzten Stadien degenerierender Erkrankungen und einstmals normale Jugendliche mit Kopfverletzungen. Hier unten sieht man mißgebildete Kinder, Kinder mit genetischen Störungen und Geburtsfehlern. Hier unten ist das Leben am grausamsten. Alles, was schiefgehen kann, ist hier schiefgegangen.
Dr. Goldstein begrüßt uns in einem kleinen Zimmer, das an der einen Wand einen Untersuchungstisch hat und diesem gegenüber an der anderen Wand eine Spielecke mit einer Matratze, einem Spiegel und einer Kiste voller Spielzeug. Dr. Goldstein ist ein junger, lässig gekleideter Mann — kein weißer Kittel, keine medizinischen Utensilien in seinen Taschen. Er sitzt auf einem Hocker mit Rollen, flitzt zum Untersuchungstisch, um sich ein Klemmbrett zu holen, flitzt dann zu uns und beugt sich mit einem langen, freundlichen »Hal-looooo« weit zu Rachel hinab, die auf meinem Schoß sitzt.
Kein Lächeln, kein Lachen, nichts.
»Ich mußte sie aus ihrem Mittagsschlaf aufwecken«, erkläre ich, was zwar stimmt, aber nicht im mindesten zum Thema gehört.
Dr. Goldstein stellt dieselben Fragen, die jeder Arzt stellt, der Rachel untersucht: Schwangerschaft, Geburt, Beobachtungen der Eltern. Was ihn von anderen unterscheidet, ist die Tatsache, daß er freundlich und entspannt ist, und so fühle ich mich nicht unter Druck gesetzt, alles in höchstens dreißig Sekunden in genau der richtigen Reihenfolge herunterzubeten.
Die Geschichte nimmt ein oder zwei Minuten in Anspruch, dann beugt sich Dr. Goldstein noch einmal zu Rachel hinab und ruft: »Rachel! Wie geht es diii—iir?«
Und ich antworte sofort: »Es geht ihr gut, sie ist höchstens vielleicht ein bißchen müde.«
»Aha. Lächelt sie?«
»Sehr viel. Als sie klein war, mußten wir ihr immer erst die Wange streicheln, aber jetzt lächelt sie auch, ohne daß wir sie berühren. Nicht wahr, Baby?« Ich halte sie in die Luft. »Lächle doch mal, Herzchen.«
Da segelt sie nun dort oben, mit hängenden Lippen und geballten Fäusten. Lächle doch, verdammt noch mal.
Nichts.
»Na ja, sie tut es jedenfalls.« Dann, als ich sehe, daß er lächelt, füge ich noch hinzu: »Wirklich.«
»Viele Mütter berichten mir, daß ihre Kinder zu Hause mehr fertigbringen…Sagen Sie, reagiert sie, wenn sie Ihre Stimme hört?«
»Ja.«
»Jetzt ziehen Sie sie doch bitte einmal aus…«
Ich schäle Rachel aus ihrer Kleidung und lege sie auf den Untersuchungstisch. Dr. Goldstein zieht sie zum Sitzen hoch, hebt ihre Arme, klopft auf ihre Knie, kitzeltihre Fußsohlen — alles so spielerisch, daß ich denken muß: »Sieh mal an, der Typ muß Kinder wirklich mögen, schau dir doch bloß einmal an, welchen Spaß er mit ihr hat.« Er zieht ein Maßband aus der Tasche und mißt Rachel vom Kopf bis zu den Füßen, dann legt er ihr das Maßband um die Brust. »Das hier«, erklärt er, während er das Maßband um ihren Kopf schlingt, »das hier ist das Allerwichtigste, was ein Kinderarzt macht.«
Das erinnert mich wieder daran, wie ernst diese Spielerei in Wirklichkeit ist. Wächst Rachels Gehirn richtig?
»Hat ihr Kopf den richtigen Umfang?«
»Jawohl«, erwidert er. »Sie sieht gut aus.«
Ich frage ihn, ob er etwas über optische Nervenhypoplasie weiß Ich weiß, wie dumm es ist, von ihm zu erwarten, daß er Antworten parat hat, wo selbst Klibansky und Hines nicht mehr weiter wissen, aber das ist etwas, was mich noch nie zurückgehalten hat.
»Haben Sie schon eine Blutuntersuchung vornehmen lassen?« erkundigt er sich, als ich fertig bin.
»Wozu?«
»Sie sollten Ihren Antikörperspiegel überprüfen lassen, um festzustellen, ob Sie ein Virus hatten. Wie alt ist Rachel — vier Monate? Dann ist es immer noch möglich herauszubekommen, ob Sie ein Virus hatten, als Sie schwanger waren.«
Ein Virus. Hatte nicht auch Klibansky in seiner Aufzählung möglicher Ursachen ein Virus erwähnt? Wieso hatte er uns dann nicht zu einer Blutuntersuchung geraten?
Dr. Goldstein bringt uns zur Tür. »Lassen Sie das Baby ruhig auch untersuchen«, meint er noch. »Urin und Blut. Vereinbaren Sie einen Termin mit Mrs. Barrett, bevor Sie gehen.«
Am Nachmittag gehe ich meinen häuslichen Pflichten nach und bin so vertieft in Fenchel, Schalotten und Käse für siebzig Leute, daß ich mir kaum Gedanken über das Virus mache. Das Wort schlummert irgendwo in meinen Gedanken, bis ich heimkomme und die Lebensmittel ausgepackt habe. Dann hole ich meinen hilfreichen Merck aus dem Regal, blättere seine dünnen Seiten durch und überfliege Abschnitte, die ich in den letzten zwei Monaten ein paar dutzendmal gelesen habe. Die Gewohnheit zu wühlen ist fest in mir verwurzelt. Ich wühle wie andere Menschen mit den Fingergelenken knacken oder an den Nägeln kauen, dabei ist es vollkommen nutzlos, denn ich kann auf diese Weise meiner Angst keine Luft machen, und es tröstet mich auch kein bißchen. Aber schon bin ich wieder dabei, wie ein Hund im Blumenbeet.
Und diesmal finde ich einen Knochen.
Cytomegalovirus, CMV: eine überall zu findende Virusinfektion, »die kongenital, postnatal oder in einem beliebigen Lebensalter auftreten kann. Ihre Erscheinungsform variiert zwischen Infektion ohne Krankheitssymptome bis zu Erkrankungen, die mit Fieber, Hepatitis und (bei Neugeborenen) sogar mit ernsten Hirnschädigungen einhergehen können…Das Ausmaß des pathologischen Prozesses ist bei kongenitaler Infektion äußerst unterschiedlich…Über neunzig Prozent der infizierten Neugeborenen zeigen keine klinischen Anzeichen ihrer Erkrankung, unter den Fällen jedoch, die bereits bei der Geburt Symptome aufweisen, treten Probleme auf, die Mikrozephalie, geistige Behinderung, neuromuskuläre Störungen, Hörverlust, Chorioretinitis oder optische Atrophie und Zahnprobleme umfassen. Beeinträchtigung des Zentralnervensystems tritt bei etwa zehn Prozent der Kinder auf, die bei der Geburt völlig unauffällig waren…«
Optisch, Sehnerv. Optische Atrophie, optische Nervenhypoplasie. Werden diese Begriffe vielleicht manchmal für ein und dasselbe verwendet? Ist das hier etwa der Virus, auf den sich sowohl Klibansky als auch Goldstein bezogen haben, dieser allgegenwärtige, symptomatische Bazillus, der neunzig Prozent der Babys, deren Mütter ihn in sich tragen, keinerlei Schaden zufügt, aber bei den restlichen zehn Prozent dermaßen grundlegende Störungen verursacht?
Das Handbuch behauptet, daß eine geistige Behinderung bei sechzig Prozent der Kinder auftaucht, die bereits bei der Geburt Symptome aufweisen.
»Ich fühle mich verpflichtet, die Eltern auf die signifikante Verknüpfung von geistiger Behinderung…und optischer Nervenhypoplasie hinzuweisen…«
Der nächste Abschnitt macht mich ebenfalls stutzig. Toxoplasmose: »Ein kleiner, bananenförmiger Parasit…übertragen durch den Genuß von rohem oder ungenügend gekochtem Fleisch, das Gewebezysten enthält oder durch den direkten oder indirekten Kontakt mit Oozysten, die in den Fäkalien der Katze ausgeschieden werden…«
In meinem Kopf beginnt sich etwas zu drehen — wir essen kein Fleisch und haben auch keine Katze, aber das Haus von Charlottes Kinderpflegerin wimmelte nur so von ihnen, und wer weiß schon, wohin überall eine Vierjährige ihre Hände steckt, und außerdem »bleibt die Infektiosität der Oozyste mehrere Monate lang erhalten, und es sind auch bestimmte wirbellose Bakterienüberträger wie Fliegen und Küchenschaben an ihrer Weitergabe beteiligt«.
Bei der Geburt weisen siebzig Prozent der Neugeborenen keine Symptome auf. Zehn Prozent kommen auf die Welt mit Beeinträchtigungen der Augen, wie zum Beispiel Retinochoroiditis, Optischer Nervenatrophie und Blindheit.
Optische Nervenatrophie, optische Nervenhypoplasie. Ist das das gleiche?
»Die Prognose für kongenitale Toxoplasmose ist schlecht. Die meisten Neugeborenen, bei denen Symptome auftreten, entwickeln ernste neurologische und okuläre Folgeerscheinungen…Selbst Säuglinge mit bei der Geburt nicht feststellbarer Infektion tragen das Risiko, in späteren Jahren eine breite Skala von geistigen Defiziten zu entwickeln und an Retinochoroiditis zu erkranken, die zu Blindheit führen kann.«
Ich lese diesen Abschnitt immer und immer wieder durch. »Zehn Prozent derer, die mit okularen Beeinträchtigungen geboren werden…Die Prognose…ist schlecht…das Risiko…eine breite Skala von geistigen Defiziten zu entwickeln…« und ich kann mir einfach nicht erklären, weshalb uns niemand etwas davon gesagt hat. Dann fällt mir ein, daß Dr. Hines uns versichert hat, optische Nervenhypoplasie trete allein auf, und Rachel werde in anderen Bereichen unbeeinträchtigt bleiben, und daß Klibansky andere, damit verbundene Probleme erst erwähnt hat, nachdem ich ihn ausdrücklich danach gefragt hatte.
Ich laufe nach oben und finde den Stapel mit Nachdrucken wissenschaftlicher Zeitschriften bei Rachels Papieren. Cytomegalovirus wird in der obersten erwähnt. »Ein Kind wies einen signifikant hohen Titer für Cytomegalovirus auf und außerdem einen hohen Spiegel von spezifischem IgM…«
Ich wähle die Nummer von Pauls Arbeitsstelle.
»Ein Virus?« fragt er, als ich ihm erzähle, was ich herausgefunden habe. »Das bedeutet dann wohl, daß wir keine Kinder mehr haben können.«
»Er hat über weitere Kinder nichts gesagt.«
»Wer zum Teufel ist dieser Kerl eigentlich überhaupt? Klibansky hat von einem Cytomegalovirus nichts erwähnt.«
»Das weiß ich, und ich finde, daß das unglaublich verantwortungslos von ihm war, aber ich habe wirklich keine Ahnung, weshalb du so wütend auf mich bist.«
»Du hast mich mitten in einem Experiment angerufen.«
Er legt auf, bevor ich noch ein Wort sagen kann.
Ich stehe da mit dem Telefonhörer in der Hand. Es kommt mir vor, als wären wir wieder ganz am Anfang dieses ganzen Schlamassels, mein wild pochendes Herz donnert gegen meine Rippen, mein ganzer Körper tut mir weh.
Charlotte treibt sich in meiner Nähe herum, sie wedelt mit einem Bild, das sie gemalt hat, und eine Weile später bringt sie mir eine Puppe, die sie angezogen hat. Alles, was ich herausbringe, ist: »Das ist aber schön«, und das in einem völlig abweisenden Ton. Ich mache ein Rührei für Charlotte, streiche Butter auf eine Scheibe Toast, stehe dann in der Küche herum und blättere in der Zeitung.
Als Paul kommt, ist er so leise, daß nicht einmal Charlotte, die auf das geringste Geräusch seiner Heimkehr eingestimmt ist, von ihrem Teller aufschaut, bis er seine Schlüssel auf den Kaminsims legt. Ich weiß, daß er als nächstes in die Küche kommen wird, also ziehe ich mich in die entfernteste Zimmerecke zurück und drehe mich weg, als mache mein verstecktes Gesicht mich für Paul unsichtbar.
Er steht schweigend neben mir und wartet darauf, daß ich mich umdrehe und etwas sage. Ich bin ja diejenige, die mit Worten so gut umgehen kann, die, deren Aufgabe es ist, das Schweigen zu brechen, wenn wir uns gestritten haben. Aber heute abend ist mein Kopf vollkommen leer.
Er legt die Hand auf meine Schulter und stupst mich, bis ich mich schließlich umdrehe.
»Ich kann mich einfach nicht so gehenlassen, daß ich anfange zu weinen«, sagt er. »Wenn ich mich so gehenlasse, bekomme ich das Gefühl, als würde ich einen Teil von mir selbst verlieren. Kannst du das verstehen?«
Ich kann es nicht verstehen, bis er mich in die Arme nimmt. Dann bricht alles aus mir heraus., und ich bin völlig außer mir vor Weinen. »Wir haben es so gut hingekriegt, daß ich geglaubt habe, es wäre vorüber. Das habe ich wirklich geglaubt.«
»Es wird nie vorüber sein«, sagt Paul.
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Am nächsten Morgen fahre ich Charlotte zum Kindergarten und von dort aus weiter zum Krankenhaus. Die Tür zum Untersuchungszimmer steht halb offen, und die Schreie des Kindes, das gerade bei Dr. Goldstein ist, hallen durch den Korridor. Nach ein paar Minuten öffnet sich die Tür ganz, und ein Junge mit nassem Gesicht, der vom Bauch bis zu den Zehen in einem festen Gipsverband steckt, wird herausgefahren. Er lächelt schon wieder. Ich dagegen zittere noch immer.
Dr. Goldstein flitzt vom Untersuchungstisch zur Tür, als er mich kommen sieht. Ich berichte ihm, was ich im Merck-Manual gefunden habe und warte darauf, daß er mir sagt, daß ich keinerlei Grund habe, mich aufzuregen.
Er hört mir zu, ohne etwas zu sagen, und erkundigt sich dann: »Wann lassen Sie die Blutuntersuchungen vornehmen?«
»Morgen.«
»Lassen Sie uns abwarten, bis die Ergebnisse vorliegen, bevor wir irgendwelche Schlüsse ziehen. Babys mit CMV oder Toxoplasmose haben gewöhnlrch eine Mikrozephalie und eine vergroßerte Leber, aber bei Rachel sah alles gut aus. Aber wir können wirklich nicht viel sagen, bevor wir die Testergebnisse haben.«
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5. Februar
Zweiundsiebzig Leute erscheinen, um Pauls Geburtstag zu feiern. Das Essen steht bereit, und ich habe mich rechtzeitig umgezogen. Das Geburtstagskind steht in der Tür und läßt sich zweiundsiebzigmal umarmen. Den größten Teil des Abends verbringe ich in der Küche, aber ein paarmal mische ich mich auch unter die Verwandten, die Freunde aus der High-School, die Freunde aus dem College, die Freunde von der Arbeitsstelle, die Freunde von den Fahrgemeinschaften, die Segelfreunde und die ehemaligen Freundinnen und höre ihnen dabei zu, wie sie sich langsam wieder kennenlernen. Wo ich auch bin, kann ich Pauls wildes Lachen hören, wenn er seine Freunde begrüßt, oder danach, wenn er seinen Witz erzählt. »In meiner Abteilung gibt es zwei Männer, die Ross heißen, zwei Männer aus Taiwan, zwei Männer, die eine Glatze haben, und zwei Männer, die Väter blinder Kinder sind.« Es ist so viel los, daß ich völlig verwirrt bin, was gegenüber den letzten paar Monaten keine große Veränderung bedeutet, denn ich hatte in diesem Zeitraum kaum einmal das Gefühl gehabt, die Dinge unter Kontrolle zu haben. Aber selbst so freue ich mich darüber, all diese Menschen in unserem Haus willkommen zu heißen und zu hören, wie Paul in wahre Lachsalven ausbricht.
Gegen Mitternacht ist alles vorüber. Ich gieße mir ein Glas Wein ein und setze mich auf die Trittleiter. Paul bringt seinen Taschenrechner mit in die Küche und dividiert die Anzahl der Minuten, die all die Leute hier verbracht haben (240) durch die Anzahl der Gäste (72). Er kommt zu dem Ergebnis, daß er, wenn er seine Zeit unter allen Gästen gleichmäßig aufgeteilt hätte, genau 3,33 Minuten Zeit mit jedem einzelnen von ihnen hätte verbringen können.
»Aber es war doch schön, findest du nicht auch?« fragt er mich. »Die Leute schienen sich wirklich gut zu amüsieren.«
Er schaut sich die Geschenke an, die er bekommen hat: ein Exemplar von »Der alte Mann und das Meer«, ein Handbuch für Reparaturen im Haus, ein T-Shirt mit der Aufschrift »Fünfzig ist prima«, und er meint: » Du wirst mich nicht verlassen, jetzt, wo ich fünfzig bin, oder?«
Es gab eine Zeit, in der ich mich nach Absolutheiten verzehrte — immer, niemals, auf ewig —, eine Zeit, in der ich mir nicht vorstellen konnte, auch nur für eine Sekunde von Paul getrennt zu sein. Aber als er mich jetzt fragt, ob ich ihn verlassen werde, fordert er mich auf, einen Blick in die Zukunft zu tun, und da merke ich, daß ich von solchen Voraussetzungen nicht mehr ausgehen kann.
»Ich weiß es nicht. Könntest du sagen, daß du mich nie verlassen wirst? Die meiste Zeit gefällt es dir ja nicht einmal, daß du mit mir verheiratet bist.«
»Das liegt nicht an dir. In letzter Zeit gefällt mir eigentlich gar nichts.«
Er probiert das T-Shirt an, ein auffällig buntes Ding mit riesigen, glänzenden Buchstaben, so scheußlich, daß ich lachen muß. »Ich habe das Gefühl, das Leben geht an mir vorüber«, sagt Paul. »Ich komme mir alt vor.«
»Kein Mensch würde dich für Fünfzig halten.«
»Nicht alt in dem Sinn. Weißt du noch, wie ich sonntags immer die Anzeigen für Boote gelesen habe, um zu sehen, was für ein Boot wir uns kaufen könnten? ›Fünfunddreißig Fuß Zweimaster, sechs Segel, Innenbordmotor, automatische Steuerung, Loran.‹ Ich habe mir dann immer die Reisen vorgestellt, die wir darin machen würden und daran gedacht, wie ich Charlotte das Segeln beibringen würde. Das alles mache ich nicht mehr.«
»Und die Sonnenterrasse?«
»Ich baue auch die Sonnenterrasse nicht. Ich singe nicht unter der Dusche, ich träume nicht.«
Ich denke an die letzten Wochen, wie Paul neben mich ins Bett schlüpfte und mir den Rücken zuwandte, bevor ich ihn berühren konnte, und wie selten wir miteinander schlafen. Manchmal habe ich das Gefühl, ich hätte mich langsam daran gewöhnt, daß ich alles hinnehmen und mit dem Allernötigsten auskommen kann, weil ich schließlich aus einer alten Familie zäher Bauern stamme. Aber es gibt auch Zeiten, in denen mich das Bewußtsein all dessen, was wir verloren haben, plötzlich überfällt und mir schrecklich weh tut.
Paul steht vor mir in seinem grellen T-Shirt, und ich weiß, daß ich ihn trotz all unserer Enttäuschungen immer noch aus ganzem Herzen liebe.
» Weißt du, was für mich am schwierigsten ist? All die verbotenen Gesprächsthemen. Ich schreibe mir selbst andauernd was ich alles nicht sagen darf. Rede nicht über Rachel, erzähle Paul nicht, was der Arzt gesagt hat, rede nicht über deine Ängste. Denn wenn ich diese Dinge erwähne, bekommen wir Streit, und ich kann manchmal einfach nicht mehr kämpfen. Ich habe gelernt, Dinge für mich zu behalten, ist dir das schon aufgefallen? Ich habe Angst, daß ich es zu gut lerne.«
Er streckt seinen Arm nach mir aus und nimmt meine Hand. »Erzähl mir.«
»Ich möchte das Gefühl haben, daß wir wenigstens einander haben, egal, was passiert.«
»Aber das tun wir doch auch.«
»Manchmal«, sage ich.
»Manchmal«, stimmt er mir zu.
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Die Ergebnisse der Blutuntersuchungen treffen Anfang März ein und sind negativ.
»Wenn sie keinen Virus hat, was hat sie dann?« frage ich Dr. Goldstein.
»Es könnte eine degenerative Krankheit sein, aber es gibt nichts, was man dagegen unternehmen könnte, also vergessen Sie es. Es nützt ja nichts, wenn man die Pferde scheu macht.«
Was für eine Krankheit, geben Sie mir doch einen Namen, wie werde ich sie erkennen, wann wird es passieren? »Wir werden ihre motorische Entwicklung im Auge behalten. Wir werden ihr Gehör beobachten. Es kann sein, daß sie ein Jahr alt ist oder zwei oder auch sechs, bevor sich irgend etwas zeigt.«
Fünf Tage später fahren Paul und ich nach New York, wo für Rachel ein Termin zum EEG vereinbart ist und eine Nachuntersuchung bei Dr. Klibansky. Es ist das erste Mal, daß wir seit den anfänglichen Tests im Dezember wieder in der Krankenhausstadt sind, und sobald die beigefarbenen Gebäude am Horizont auftauchen, überfallen mich die Erinnerungen an all diese Untersuchungs- und Gesprächstermine, und jede einzelne von ihnen ist so scharf und klar wie Glas.
Zuerst wird das EEG gemacht, dann folgt eine Untersuchung von ähnlicher Art wie die, die Dr. Goldstein vorgenommen hat. Dr. Ki1banskymißt Rachel quer, langs und um den Kopf, kitzelt und klopft sie ab, halt Sie an den Händen, bis Sie auf ihren breiten, kleinen Füßen stehen bleibt, und fragt dann, ob sie sitzen kann. Paul zieht Rachel hoch, spreizt ihre Beine, ordnet sie richtig an, als wäre sie eine Biegepuppe. Rachel bleibt eine halbe Minute sitzen, dann beginnt sie, sich langsam zur Seite zu neigen und gerät ins Schwanken. Dr. Klibansky meint: »Es würde mir schon gefallen, wenn sie inzwischen sitzen könnte«, dann macht er sich auf den Weg zu seinem Büro.
Als wir alle zusammen dort sitzen, berichte ich ihm von meinen jüngsten Entdeckungen und frage ihn, weshalb er uns nie nahegelegt hat, eine Blutuntersuchung vornehmen zu lassen.
»Zu welchem Zweck?« fragt Dr. Klibansky.
»Auch Sie haben doch als eine mögliche Ursache ein Virus erwähnt, nicht wahr?«
»Ich habe von einem Virus gesprochen, nicht von einem Cytomegalovirus. Optische Nervenhypoplasie und optische Nervenatrophie sind zwei vollkommen verschiedene Dinge. Wenn Sie über optische Nervenhypoplasie nachlesen wollen, dann tun Sie das ruhig, aber hierherzukommen und sich über CMV und über Toxoplasmose zu unterhalten, ist reine Zeitverschwendung.«
»Ich habe herumgewühlt«, sage ich schließlich verlegen. »Ich habe nach Ursachen gesucht.«
»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß die Pathogenese der optischen Nervenhypoplasie noch nicht genau durchschaut ist. Wenn man wissen würde, was die Hypoplasie verursacht, hätte ich Ihnen das mitgeteilt.«
Er steht auf, ein nicht besonders feiner Wink für uns, dasselbe zu tun. Paul läßt Rachel in die Babytrage rutschen und folgt mir zum Aufzug. Rachel ist größer geworden, seit wir das letzte Mal hier waren. Damals konnte man nur das oberste Stückchen ihres Kopfes sehen, wenn sie sich an Pauls Brust lehnte. Jetzt sind ihr ganzer Kopf und ihr Hals im Freien, und ihre Hände kommen durch die dafür vorgesehenen Schlitze auf beiden Seiten, so daß es aussieht, als umarme sie ihren Vater. Ihr Haar steht hoch in verklebten Strähnen, und in sauberen Reihen sieht man auf ihrer Kopfhaut die roten Markierungen, die die technische Assistentin für das EEG auf Rachels Kopf gezeichnet hat. Ich komme mir töricht vor, daß ich einen solch dummen Fehler gemacht und so viel gewühlt habe, obwohl man mir doch schon mehrmals gesagt hat, daß ich keine endgültigen Antworten finden werde. Und dabei weiß ich, daß man mir meine hartnäckige Suche nach Antworten als edle Tat anrechnen würde, wenn Rachel das Kind von jemand anderem wäre, aber weil Rachel mein eigenes Kind ist, sieht man in mir nur die neurotische Mutter. Ich werde nicht aufgeben, denke ich. Niemals!
Ich habe diesen Gedanken noch nicht einmal ganz zu Ende gedacht, da wird mir auch schon klar, daß es nicht stimmt. Ich bin viel zu müde, um noch lange so weiterzumachen, ich habe zu sehr das Bedürfnis, meine Gedanken von Rachel auch einmal auf die anderen Menschen, die in meinem Leben wichtig sind, zu lenken.
Langsames Erwachen
März
Rachel wird nicht plötzlich wach, wie Dornröschen von dem Kuß des Prinzen. Sie wacht langsam und ruhig aus ihrem Schlaf auf. Von dem Chaos des alltäglichen Lebens beansprucht, haben Paul und ich diese Änderung zuerst nicht vollständig erfaßt. Oberflächlich betrachtet ist sie die gleiche geblieben. Sie ist immer noch herzerweichend passiv.
Wenn sie ein normales sechs Monate altes Baby wäre, würde sie sich sicherlich vom Bauch auf den Rücken drehen, sich auf allen vieren erheben, mit ihren hochgereckten Gliedmaßen strampln und vielleicht kriechen. Sie würde greifen und grapschen, Gegenstände von Hand zu Hand reichen, in der Badewanne planschen und spritzen. Sie würde lachen, lallen, necken und spielen. Sie würde protestieren, wenn man sie einen Augenblick lang allein ließe. Doch Rachel dreht sich nicht um und bewegt sich nicht. Ob dies allein von ihrer Blindheit kommt, oder ein Zeichen für andere Schwierigkeiten ist, ist immer noch unbekannt. Sie sitzt, was an sich Anlaß zur Hoffnung gibt, da sie ganz normal zu sitzen begonnen hat. Dennoch, wenn man sie allein läßt, wird sie sitzen und sitzen — für eine Ewigkeit, wie es scheint, den Kopf hängend, die Arme angezogen, ohne zu klagen. Die Änderung besteht darin, daß sie für unsere Bewegungen empfänglich geworden ist, und daß sie mit geneigtem Kopf unserem Kommen und Gehen zuhört. Wenn einer von uns sich ihr nähert, kreischt sie auf. Wenn wir sie berühren oder ihr ein Spielzeug auf die Ablage ihrer Gehschule legen, quietscht sie, und ihr ganzer Körper bebt vor Vergnügen. Sie hat auch gelernt, nach einem Gegenstand zu greifen, mit dem wir ihr über die Hände fahren, womit das erste Ziel bei dem Plan, sie mobil zu bekommen, erreicht ist.
Paul kommt von der Arbeit nach Hause und sieht nach ihr. Er nähert sich langsam, flüstert, wenn er ganz nahe ist, und wenn sie strahlt und vor Erwartung aufkreischt, bewegt er sich hinunter und, hebt sie hoch in die Luft und nennt sie »Babychen«. Ich beobachte ihn, wie er mit Rachel spielt und bin von Ehrfurcht erfüllt. Guck mal, wie er sie an sich drückt, ihre Nase, ihren Bauch und die Zehen küßt, wie er mit ihr herumspielt, sie badet und auf die Couch setzt, umgeben von einer Mauer aus Kissen, damit sie ihm Gesellschaft leistet, während er liest. Ihr Bündnis entstand so langsam, daß ich daran zweifelte, ob er jemals die reine, freudige Liebe, die er für Charlotte hatte, auch für sie aufbringen würde. Aber sieh, wie er sie jeden Abend in ihren Hochstuhl plaziert, indem er den Stuhl nahe an den seinen rückt, so daß ihre Fußsohlen auf seinem Bein ruhen können, während sie essen. Er liebt sie! Er liebt sie wirklich. Seine Liebe zu ihr erhellt das ganze Haus und erfüllt mich mit Hoffnung für uns alle.
Für Charlotte ist das Ganze hart. Ein anderes Babychen, eins, das leicht zu tragen ist, und das man in die Luft heben kann, während sie zu schwer dafür ist. Dennoch bemerke ich, daß sie, ebenso wie Rachel, mehr Interesse zeigt, mit Rachel zu spielen. Ihr Spiel ist nicht mehr so besitzergreifend und zielt nicht mehr nur darauf ab, andere daran zu hindern, ihrer Schwester nahe zu kommen. Jetzt spricht sie zu Rachel und singt ihr vor, morgens klettert Sie in die Krippe neben sie. Sie erzählt ihren Freunden stolz, daß Rachel blind ist, obwohl sie keine Ahnung hat, daß etwas mit ihr nicht stimmt. Sie weiß nur, daß man dies über sie sagt. Rae-Rae ist ihre kleine Schwester, der man Schals umwickeln und Hüte aufsetzen kann, die man auf der Straße herumfahren kann, und der man einen besonderen Namen geben kann. Und wenn ich darauf bestehe, sie Rachel zu nennen, protestiert sie: »Ihr Name ist Rae-Rae.«
Wenn ich Paul oder Charlotte mit Rachel spielen sehe, wird mir klar, wie vollkommen ihre Blindheit Charlotte ausgeschlossen hat. Ich habe die Fachliteratur gelesen und wußte, daß diese Gefahr bestand, doch habe ich niemals geglaubt, daß wir sie vernachlässigen würden, wir nicht, nicht in unserem Haus. Dennoch, ist nicht genau das passiert?
In den sechs Monaten, in denen wir uns mit dem Gedanken an Rachels Behinderung vertraut gemacht haben, hatten wir in unserem Haus ein schläfriges, ruhiges, anspruchsloses Baby, das wuchs, aber sich kaum veränderte, das selten lächelte, niemals lachte und kein Interesse für seine Familie zeigte. Obwohl mich ihre langen Nickerchen rasend machten, hatte ich mich daran gewöhnt, denn wenn sie schlief, hatte ich Zeit zum Arbeiten, oder Zeit für Charlotte und Paul, oder Zeit, um einfach nicht an ihre Blindheit zu denken.
Ich liebte sie, weil sie zu mir gehörte, und fand Vergnügen an dem weichen, süßen Baby. Wie oft habe ich mit ihr gespielt? Wenn ich an all die einfachen Spielchen denke, die Babys und Eltern stundenlang unterhalten — Gesichter schneiden, Verstecken, Hoppe-hoppe Reiter, Nase fangen, Plitschplatsch in der Badewanne — wird mir bewußt, daß es zigtausend Wege — gibt, ein sehendes Kind zum Lachen zu bringen, doch keinen, um unsere kleine Tochter aufzumuntern.
Ich spielte niemals mit Rachel, ich arbeitete mit ihr, indem ich die Techniken anwendete, die ich bei dem Kinderförderungsprogramm gelernt hatte. Charlotte und ich wickelten Papiertücher und Packpapier, dekorierten den darunterliegenden Karton und befestigten die Rollen am Kopf- und Fußende ihres Bettchens und an der Kuschelecke ihres Laufstalls, den ich mir nach oben in mein Büro gestellt hatte. Wir packten Rachel um die Taille und setzten sie auf den Medizinball, den ich vom Krankenhaus ausgeliehen hatte, genauso wie die Therapeutin es mir gezeigt hatte. Rachel ritt dort oben mit hängendem Kopf und geballten Fäusten und war dabei völlig ruhig. »Gefällt es ihr?« fragte Charlotte dann erwartungsvoll. Gefiel es ihr wirklich? »Sie weint nicht«, lautete meine Standardantwort.
Jetzt wendet uns Rachel ihren Kopf zu, wenn wir in der Nähe sind, und macht auf sich aufmerksam. Sie stößt einen kurzen Schrei aus, wenn wir ganz nahe sind, und bebt am ganzen Körper. Paul kommt nach Hause, schleicht auf Zehenspitzen zu ihr, hebt sie hoch, küßt sie auf die Stirn und nennt sie »Babychen«. Es hat nur diesen kurzen Schrei gebraucht, damit das Bündnis zwischen ihnen zustande kam, ein kurzer Schrei, der sagt, daß sie ihn liebt und braucht und daß sie weiß, wer er ist.
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Es liegt etwas so Reizendes in der Art, wie sie mit hocherhobenem Kopf dasitzt — unser kleines Vögelchen, das auf das Näherkommen ihres Papis lauscht —, und ich kann nicht aufhören, mich darüber zu wundern, bis mir zufällig ein Packen Fotos in die Hände fällt, die ersten, die ich nach der Diagnose von ihr gemacht habe. Auf jedem sitzt sie und hat den Kopf auf die gleiche Weise in den Nacken geworfen. Ich kann mich erinnern, was ich an dem Tag, an dem ich die Fotos geschossen habe, getan habe: Ich habe sie an das andere Ende des Zimmers postiert bin dann mit der Kamera zurückgetreten und habe ihren Namen gerufen, damit sie ihren hängenden Kopf hob. Sie hat es jedesmal getan, indem sie ihn auf die gleiche komische Art nach hinten neigte.
Warum? frage ich mich, als ich diese Fotos ausbreite. Wenn sie total blind wäre, warum schaut sie dann auf, wenn ich ihren Namen rufe? Blinde Babys drehen sich nicht nach Tönen um — habe ich das nicht oft genug gelesen? Ist es nicht das, was wir versucht haben, ihr bei der Säuglingstherapie beizubringen, sich umzudrehen und hinzuwenden zu dem, was sie hört, aber nicht sieht? Ist es möglich, daß sie ihren Kopf emporreckt, weil sie zu sehen versucht und nicht, weil sie aufmerksam zuhört?
In diesen Tagen hat Sehen für mich eine gänzlich neue Bedeutung erlangt. Es bedeutet keine Gesichter und Bilder und Landschaften, sondern vage Formen, Licht und Schatten. Das ist alles, worauf ich mir zu hoffen erlaube, vorsichtig, denn es wäre so verführerisch, von meinen eigenen Wünschen getäuscht zu werden, so wie von den Gefühlen der Familie und der Freunde, die von Anfang an darauf bestanden, daß Rachel sehen kann.
Ihre Beobachtungen basieren hauptsächlich auf dem Nystagmus, denn ihre Augen bewegen sich (nicht sprunghaft wie vorher) langsam in eine Richtung und viel schneller wieder zurück, ähnlich wie bei einem Sehenden, der einen Gegenstand anpeilt. Ich weiß, das ist es, weshalb meine Freunde sagen, »Sie sieht«, und dennoch fühle ich eine Woge der Hoffnung aufkommen, so oft ich diese Worte höre, denn ich möchte meine ganze Skepsis und Zweifel loswerden. Zur gleichen Zeit fahre ich fort, nach der Wahrheit zu suchen, damit ich sie, wenn es soweit ist, akzeptieren kann.
Die Wahrheit besteht darin, daß Rachel blind ist. Was ich deshalb seit der Diagnose wollte, war, anzufangen, sie als Blinde zu betrachten und das Wort auch zu gebrauchen, nicht um mich in dem Glauben daran zu peinigen, sondern um ihren Zustand zu akzeptieren. Die Ironie liegt darin, daß ich mich, als ich soweit bin, dabei ertappe, daß ich ihre plötzliche Aktivität beobachte und vermute, daß sie doch sehen kann.
Als Sharon das nächste Mal Rachel mit ihrer Stablampe untersucht, notiert sie, daß Rachel dem Licht »zu folgen schien«. Diese drei Worte erfüllen mich mit solch einer nervösen Hoffnung, daß das Haus zu eng erscheint, mich aufzunehmen.
Es ist ein furchtbar grauer Tag, die Straßen sind voller Klumpen geschwärzten Schnees. Ich packe meine Kinder zusammen und gehe mit ihnen in den Park. Schmutz und Schlamm haben sich unter den Schaukeln und an den Enden der Wippe angesammelt. Charlotte hat den Park für sich, setzt sich auf jede nasse Schaukel und saust die kleinen und großen Rutschen herunter. Der Park ist irgendwie prächtig in seiner ganzen Grauheit, mit dem Schlamm und den spindeldürren Bäumen. Wieder wird mir klar, was Hoffnungslosigkeit bewirkt. Sie hat mir den Blick getrübt und mich für all das blind gemacht, was mir früher Freude bereitet hat. Diese einfachen Worte — »zu folgen schien« — machten mich wieder sehend.
Ich lasse mein Glück nicht in mir drin, wo es ohnehin mit der Zeit gedämpft wird. Ich erzähle es Hinda und meiner Mutter. Ich schreibe Briefe an Leute, die Kindersachen geschickt haben, da ich nun sagen kann, daß sie blind geboren wurde, aber anfängt, aufzubluhen, und daß wir voller Zuversmht sind. »Heute war auch die Sozialarbeiterin von der Blindenvereinigung der Meinung, daß sie dem Licht zu folgen scheint.«
Als Paul nach Hause kommt, wiederhole ich den Versuch. Er sieht eine Weile zu, dann verurteilt er erbost Sharons Worte. Es könnte an einem Geräusch gelegen haben, das ihre Reaktion verursacht hat, an einem Luftzug, an ihrem Augenzittern. Es kann Zufall gewesen sein. Er möchte von diesen »Tests«, die ich durchführe, nichts wissen und nichts von den wohlgemeinten Ratschlägen von Freunden hören. Rachel kann nicht sehen; sie kann nun mal nicht sehen.
Er wird sie nicht blind nennen. Nicht in den nächsten drei Monaten, sagt er, weil uns Dr. Hines wissen ließ, daß sich das visuelle System weiterentwickelt, bis ein Kind neun Monate alt ist.
Ihre Blindheit schreckt ihn mehr als mich. Ich habe es akzeptiert, und wenn ich mich dem Gedanken an Magie ergebe, so hoffe ich bloß: Blindheit, aber keine intellektuelle Beeinträchtigung; Blindheit, aber von anderen Leiden soll sie verschont bleiben, bitte, bitte, bitte. Er hat denselben Horror vor Blindheit wie die meisten Menschen.
Sobald Mrs. Kaiser in der Säuglingstherapie neben uns sitzt, sage ich: »Ich glaube, Rachel kann etwas Licht sehen.«
Nachdem die Worte heraus sind, frage ich mich, ob ich verrückt bin, so sicher zu sein. Gleich wird sie zu mir sagen, daß ich aufhören soll, töricht zu sein, und mich an Rachel gewöhnen soll, so wie sie ist. »Paul sagt, daß es bloß das Augenzittern ist, aber ich könnte schwören, daß sie dem Licht folgt, wenn ich es vor ihr hin und her schwenke. Die Sozialarbeiterin hat das auch so empfunden.«
Mrs. Kaiser holt ihre Taschenlampe und führt den Lichtkegel über Rachels Gesicht. Rachels Augen bewegen sich manchmal in Richtung des Lichtkegels und genauso oft nicht. »Ist dir langweilig?« sagt sie zu Rachel. »Sitzt da und denkst dir, ›Meine Dame, nehmen sie das Licht aus meinen Augen‹? Nicht wahr? Laß uns das blöde Licht wegnehmen und spielen wir zur Abwechslung mit etwas Interessantem.«
Mrs. Kaiser bimmelt mit Glocken vor Rachels Gesicht und dann seitlich von ihr, und wir warten darauf, daß sie danach greift. Der nächste Schritt, da sie nun auf einen taktilen Reiz reagiert, besteht für sie darin, auf einen akustischen zu reagieren, das heißt nach etwas zu greifen, das sie ohne einen taktilen Schlüssel hören kann.
Die Glocken läuten. Meine Tochter sitzt da mit einem hübschen, verblüfften Gesicht und mit geballten Fäusten und hält den Kopf in einem komischen Winkel geneigt. Vielleicht irre ich mich trotz allem, vielleicht habe ich so sehr gehofft, daß sie sehen kann, daß ich es schließlich glaubte. Es macht mich traurig, sie so zu erleben, und ihr Versagen berührt mich bis ins Innerste.
Alex liegt auf der Matte auf seinem Rücken und schlägt kräftig auf einen Ball ein, der von der Decke baumelt. Tory sieht einer Therapeutin zu, die Seifenblasen pustet und weint Krokodilstränen. Steven soll zwei Klötze aufheben, aber er macht kehrt, um die Seifenblasen zu berühren, und da er über wenig Körperkontrolle verfügt, plumpst er auf Katie, die heute Schleifen an ihren Zöpfen trägt, passend zu ihren lavendelfarbenen Jeans. Todds Mutter eilt herein — ihr Sohn steckt immer noch in seinem Schneeanzug — und jubelt: »Todd kann aufrecht sitzen!« Beifall für ihren zweijährigen Sohn erfüllt den Raum.
Rachel reckt ihren Kopf und hört dem Klatschen zu, dann horcht sie auf die Glocken, die ein paar Meter entfernt klingeln. Mrs. Kaiser beginnt zu lachen. »Sehen Sie mal, wie sie aufpaßt«, sagt sie. »Sie ist so empfänglich für Geräusche.«
Sie streichelt Rachels Wange, erntet ein Lächeln und dann ein vergnügtes Lachen, das ihren kleinen Körper erheben läßt. »Sie hat solche Fortschritte gemacht«, sagt sie zu mir.
Ich sitze sehr ruhig da und die Freude, die mich überströmt, ist schwindelerregend. Ich glaube, ich glaube — und es ist so süß. Vielleicht wird sie blind sein, aber blinde Menschen können ein erfülltes Leben haben, ich weiß es in meinem Herzen, und ebenso weiß ich, daß ich imstande sein werde, ihr die Welt zu zeigen.
Ich kann den Optimismus der Therapeutinnen, die mit Rachel arbeiten, spüren. Obwohl ich bei keiner von ihnen jemals einen Augenblick der Ungeduld entdeckt habe, keine einzige gesehen habe, die auch nur ein Kind aufgegeben hätte, kann man ihre gestiegene Hoffnung erkennen. Sie sind auf die kleinsten Änderungen in der Entwicklung eingestellt, auf die winzigsten Fortschritte. Wie schön sie sitzt, und genau dann, wann sie soll! Wie gut dies zu dem Bild eines visuell beeinträchtigten Kindes zu passen scheint, deren Bewegungen verzögert sind, doch die neurologische Entwicklung selbst nicht. Es war gut, wie sie ihren Kopf aufrecht gehalten hat, und nun sitzt sie gut, auch wenn sie immer noch passiv ist — kann man von einem Kind ohne Sehvermögen mehr erwarten? Und selbst wenn ihr Kopf immer hängt — welchen Grund sollte sie haben, ihn hochzuheben? Und selbst wenn ihre Hände immer zu Fäusten geballt sind — hat nicht Selma Fraiberg von der Ironie des Ausdrucks »eines blinden Menschen Augen sind seine Hände« gesprochen, weil nämlich blinde Kinder »blinde« Hände haben, bis man ihnen beibringt, wie sie zu gebrauchen sind? Ist es nicht das, worauf wir jetzt hinarbeiten, wenn wir sie lehren, wie sie nach etwas greifen soll?
Faith arbeitet als nächste mit Rachel. Sie biegt ihr Bein und hilft ihr sich umzudrehen, was Rachel nicht alleine kann. Pachelbels Canon tönt aus der Stereoanlage, Tory beklagt sich lautstark. Am lautesten aber sind die Beifallsstürme für die erstaunlichen Erfolge, die an diesem Nachmittag erzielt wurden. Tory greift, Steven sitzt, Alex schlägt Klötze aneinander, Rachel drückt eine Ente. Die Sonne scheint durch die Fensterreihen und sprenkelt die Puppen, die auf dem Fensterbrett aufgereiht sind, mit Licht und Schatten. Der große Teddybär läßt seine Schultern hängen wie ein müder Mann. Dieses Zimmer ist kein Teil der Welt da draußen. Es ist ein abgeschiedener Ort, der von seinen eigenen Gesetzen regiert wird, ein Ort, wo die Liebe, die wir für unsere Kinder empfinden, nicht durch die Meinung anderer getrübt ist, wo ihre Fortschritte richtig gewürdigt werden. Wir feiern den Sieg eines zweijährigen Jungen, der zum ersten Mal ohne Hilfe sitzt; er ist der Held des Tages. Wir gratulieren beiden, ihm und seiner Mutter, die versucht, mit den Achseln zu zucken, dann aber zugibt: »Er macht sich.«
Der Zauber dauert nicht lange. Die Therapeutinnen gehen. Die Kinder werden launisch. Die Sozialarbeiterin kommt mit Kaffee und Kuchen. Wir sprechen über Grundstücksverkäufe, Möbelrestaurierung, Arztkosten, gefühllose Ärzte, und dann wühlen wir, wühlen und wühlen, bis wir ein tiefes Loch gegraben haben — mitten in der Welt des Alltags.
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2. April
Linda ruft an und erzählt mir, daß eine Frau von einem Filmstudio an einem Drehbuch interessiert ist, das wir beide vor ein Paar Jahren geschrieben haben.
Wie ich mich fühle, als ich die Nachricht erhalte? Wie ein Fossil, das vor einer Ewigkeit verschüttet wurde, und diese mysteriöse Frau ist die Archäologin, die mich gerade ausgegraben hat.
»Also, dann schüttle den Staub ab, sie möchte sich mit uns am Dienstag treffen«, lacht Linda.
Obwohl ich mich damit quäle, was ich anziehn soll (als ob der letzte Schrei an Ohrringen oder Schuhen das Schicksal des Drehbuchs bestimmen würden), lautet die brennende Frage: Wer wird auf Rachel aufpassen?
Es ist die Aufgabe der Mutter, ihr behindertes Kind zu pflegen: Das hat sich in modernen Zeiten kaum geändert. Alle Frauen aus der Müttergruppe (Müttergruppe, als ob es keine Väter gäbe) haben von der Schwierigkeit gesprochen, jemanden zu finden, der auf ihre Kinder aufpaßt, und sei es auch nur für eine Stunde. Wer ist da, um Katie zu pflegen, damit ihre Eltern, die keinen Urlaub mehr hatten, seit sie vor zwei Jahren erkrankte, auch mal verreisen können? Wer wird sich um Steven kümmern? »Meine Schwiegermutter war großartig bei den beiden anderen, aber wenn ich sie bitte, nach Steven zu sehen, damit ich zum Arzt gehen kann, dann wird sie so von Panik ergriffen, daß ich absage«, sagte Stevens Mutter eines Donnerstags. »Sie sagt: ’Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll, ich weiß nicht, was ich ihm zum Essen geben soll, was ich machen soll, wenn er schreit.‘ Ich meine, was soll ich ihr erklären? Er klettert und krabbelt nicht, er hat den Verstand eines Pferdes. Er ist ja gar nicht so weit entwickelt, daß er Unfug machen könnte.«
Wer wird auf Rachel aufpassen?
Paul sagt, er wird einen Tag Urlaub nehmen, aber das deckt nur ein größeres Problem zu. Wer wird auf Rachel aufpassen, wenn sie zu alt ist, um neben mir zu spielen? Wer würde für sie sorgen, wenn mir etwas zustößt?
Zu der Zeit, als Charlotte sechs Monate alt war, hatte ich eine Frau angestellt, die täglich vier bis fünf Stunden auf sie aufpaßte. Diese Frau war liebevoll und aufmerksam, und ich vertraute ihr. Ich wußte, daß Charlotte ihre Wünsche kundtun würde: Wenn sie hungrig war, schrie sie nach Essen, wenn sie Beachtung wollte, verschaffte sie sich diese. Rachel dagegen ist so ruhig. Das einzige Mal, an dem ich sie einem Babysitter überlassen hatte, fand ich meine Tochter bei meiner Rückkehr in einer automatisch schwingenden Wiege vor. »So ein braves Baby«, lobte Beryl, und ich wußte, daß sie sie den ganzen Tag hatte schaukeln und schlafen lassen, ein braves Baby, überhaupt kein Problem.
»So wird sie eben einen Tag verlieren«, sagt Paul, als ich ihr erzähle, warum ich Beryl nicht wieder fragen möchte.
Ich stelle mir vor, wie sie in ein dunkles schwarzes Loch fällt und in die Leere taumelt.
»Ein Tag wird sie nicht umbringen«, sagt er.
Ich habe nicht mehr die Zeit, um jemand anderen zu finden, und so tauche ich am Tag des Treffens mit Rachel in meinen Armen in Beryls Haus auf.
Beryl nimmt sie mir ab, wiegt sie sanft und macht ein paar liebevolle Geräusche. »Du bist ein braves Mädchen. Bist du das? Ja, das bist du.«
Ich mache meinen Mund auf, um irgend etwas zu sagen. Ich will es gerne glauben, daß ein Tag sie nicht umbringen wird, dennoch kann ich mir nicht helfen, es als eine Art Mord zu betrachten. »Bitte, leg sie nicht in die Wiege«, sage ich zuletzt. »Laß sie nicht den ganzen Tag schlafen.«
Ich fühle mich, als ob ich niemals imstande sein werde, meine Sorgen abzuschiitteln, daß das Einzige, was noch in meinem Hirn vorhanden ist, Sorge um dieses Kind ist. Ich erwische den Zug gerade noch, finde einen Sitzplatz, starre schwermütig aus den schmierigen Fenstern. Während der ganzen Zugfahrt nach New York bleibt meine Stimmung unverändert.
Dann befinde ich mich plötzlich in dem russischen Teezimmer, schüttle Hände und stelle mich vor, trinke Sprudel, spreche mit großer Leichtigkeit über Charaktere, von denen ich vergessen hatte, daß sie existieren, und über Situationen, die ich vor langer Zeit erfunden habe. Zwei nette Stunden vergehen auf diese Weise, und ein lange Zeit stummer Teil meines Ichs meldet sich wieder zurück. Ich bin nicht mehr die Mutter eines blinden Kindes und sonst nichts. Ich bin eine Schriftstellerin, meine Gedanken an zu Hause sind so weit weg, daß Linda diejenige ist, die antwortet, als gegen Ende des Essens die Frau fragt, ob eine von uns Kinder habe, und auf mich zeigt: »Sie hat welche.«
»Wie alt?«
»Vier und sechs Monate.«
»Ein Baby!« sagt die Frau.
Ich bin auch dann noch eine Schriftstellerin, als ich lächle und mein Geheimnis verberge (wissen Sie, sie ist blind), weil ich weiß, daß es niemand sieht, daß ich verwundet bin, daß ich mir irgendwie diese Maske abgerissen habe.
Der März präsentiert sich dieses Jahr kraftvoll wie ein Löwe, und als ich das Restaurant verlasse, treibt mich ein starker Rückenwind die Fünfundsiebzigste Straße hinunter. Ich zittere und schlüpfe in meinen Mantel. Für mich sieht die Welt strahlender aus als all die Monate vorher.
Auf dem Bürgersteig drängt sich die Mittagspausenmenge: Frauen in schicken Kleidern und leichten Schuhen, japanische Touristen, senegalesische Straßenverkäufer. Der Anblick anderer Leute erinnert mich daran, wie ausgeschlossen ich in diesen letzten paar Monaten gewesen bin, wie abgeschieden von den Vorgängen im Land und in der Stadt, von den kleinen Sorgen und Enttäuschungen anderer und von meinen eigenen Vergnügungen und Sehnsüchten. Das ganze Auf und Ab, die guten und die schlechten Tage drehten sich um Rachel. Sie wird blind sein, sie wird sehen, ihr Verstand wird normal sein, sie ist zurückgeblieben…
Kein Wunder, daß ich gegenüber den Meinungen meines Mannes, der Therapeutinnen, der Freunde und der Art der ärztlichen Prognosen so empfindlich geworden bin; kein Wunder, daß ich Kurpfuscher, obskure Aufsätze und Zeitungsartikel so ernst nehme. Rachels Wohlbefinden hat mein ganzes Leben ausgefüllt. Ich möchte wieder ein Teil der Welt sein. Ich möchte jemanden finden, der auf Rachel aufpaßt, damit ich atmen kann.
Ich bleibe vor der Doubleday-Buchhandlung stehen und gucke in das Schaufenster, in welchem ich vor viereinhalb Jahren zum ersten Mal mein Buch gesehen habe, während ich auf den Bus wartete. Ich erinnere mich, wie lebendig es mir im Vergleich zu den anderen erschien, wie leicht es von draußen zu entdecken war, wie es wie meine eigenen Kinder unter einer Schar von Kindern herausstach. An diesem Nachmittag ging ich in den Laden, um mein Buch in Händen zu halten, während ein Bus nach dem anderen vorbeifuhr. Ich studierte den Einband, die Frontseite und das Schriftbild mit solch einem Interesse, daß eine Frau neben mir das darunter befindliche Exemplar aufhob und herauszufinden versuchte, was ich daran so faszinierend fand. Ich stand neben ihr und dachte: Ich bin die Schriftstellerin, ich bin es wirklich!
Ich bin diese Schriftstellerin, während ich weiter die Fifth Avenue entlanggehe und mein Trenchcoat im Wind flattert. Es wird noch mehr Geschichten geben, ich weiß, daß es welche geben wird; ich spüre, wie offen mich dieser einzige Nachmittag wieder gemacht hat. Ich bin diese Schriftstellerin, bis ich an der St.-Patricks-Kathedrale vorbeikomme und den schwarzen Mann sehe, dessen Augen von einem milchigen Film überzogen sind, und das Zeichen, das er um seinen Hals trägt. Ich bin blind, bitte helfen Sie mir, Gott schütze Sie.
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Noch zwei Treffen in New York; noch zwei Fußmärsche (unter Umgehung der Madison Avenue, um nicht auf den Bettler zu stoßen); noch zwei Nachmittage, an denen ich meine Tochter bei Beryl lasse, wo sie den ganzen Tag verschlafen wird, denn sooft ich es ihr auch erkläre, Beryl schafft es nicht, ein Baby aufzuwecken, das so friedlich schläft.
Was ist es, was mich das tun läßt? Manche Gründe liegen auf der Hand: Ich verdiene Geld, das wir brauchen, arbeite für jemand anderen, muß einen Termin einhalten, komme, was da wolle. Dann gibt es Gründe, die schwerer zu erklären sind: Es gefällt mir, daß ich mich schnell anziehen muß, um einen Zug zu erwischen, es gefällt mir, mit Fremden zu sprechen. Wenn ich einen Raum betrete, in dem Leute sind, die ich nicht kenne, streife ich meine Geschichte ab wie einen alten Regenmantel. Wenn ich auf einer überfüllten Straße bin, voller anonymer Menschen, die vorbeigehen, erscheint mir die Welt so strahlend und neu, und wenn ich an Rachel denke, tue ich das mit Optimismus. Sie greift nach etwas, fühlt meinen Arm und die Armbanduhr und paßt auf unsere Stimmen auf! Endlich ist sie aufgewacht.
Sogar Paul amüsiert sich über die Geschichten, die ich von Zusammenkünften und Nachmittagen außer Haus mitbringe, und wenn es mich fertigmacht, Rachel zurückzulassen (denn ich habe vergessen, wie man es anstellt, seine Kinder ohne Probleme auch mal alleine zu lassen), sagt er: »Kannst du dich nicht an unser Abkommen erinnern? Ich unterstütze dich und du mich?« Ich höre, wie er Leuten am Telefon erzählt: »Nächstes Jahr werde ich mich zur Ruhe setzen.«
Ich gebe eine Anzeige in der Zeitung auf. »Liebevolle Betreuung für ein acht Monate altes Mädchen mit besonderen Bedürfnissen gesucht.« In der nächsten Woche klingelt das Telefon genauso oft wie in der Woche nach der Diagnose.
Eine Frau ruft an, die auf ein Baby aufpassen möchte, da sie ohnehin zu Hause festsitzt. Eine schwangere Frau will Erfahrungen sammeln, bevor sie ihr eigenes Kind bekommt, und eine andere ist seit kurzem Witwe und wäre nach Ansicht ihrer Kinder weniger deprimiert, wenn sie ein Baby um sich hätte. Ich erhalte einen Anruf von einem zwölfjährigen Jungen, der eineinhalb Dollar die Stunde möchte, und von der Schwester eines Jungen mit Gehirnschaden, die mich viermal nach dem Stundenlohn fragt, den ich zahlen kann. Die junge Frau mit den besten Qualifikationen — einen Beinahe-Abschluß eines Diploms über Störungen der Kommunikation — sitzt mit uns in dem Sonnenzimmer und nähert sich kein einziges Mal dem Baby, das zu ihren Füßen sitzt. Dafür erzählt sie uns alles über ihre Seminararbeit.
Mittendrin ruft Pauls Nichte an und fragt, ob sie bei uns wohnen kann. Sie hat ihre Arbeit (Anfertigung falscher Zähne) aufgegeben und kommt von Kalifornien (über Florida) mit mehreren Koffern angereist. Außerdem hat sie hundert Pfund zahnmedizinischen Gips und vage Pläne, bei uns zu bleiben, nach New York zu ziehen oder zurück nach Hause zu fahren. Für die Zwischenzeit erklärt sie sich bereit, auf Rachel aufzupassen.
Ich habe erstaunlich wenig über mein eigenes Kind zu erzählen. Eine Minute genügt, um all ihre Vorlieben, Abneigungen und tägliche Gewohnheiten aufzuzählen. Spielzeuge interessieren sie nicht sonderlich, ihre Auswahl an Speisen ist begrenzt. Ein Bad erscheint eine nette Idee, obwohl es ein trauriger Anblick ist, zu sehen, wie sie kauernd und geduckt in der Badewanne sitzt. Nur eine Sache ist mir wichtig: »Laß sie nicht zu lange schlafen.«
Zum ersten Mal seit ihrer Geburt gehe ich die Treppe zu meinem Büro alleine hinauf, befreit von der Sorge, ob Rachel zu lange schlafen oder zu früh aufwachen wird. Das Zimmer gehört mir, meine Gedanken drehen sich um mich. Ich hole mein Manuskript hervor und schlage es bei dem Kapitel auf, das ich vor sieben Monaten begonnen habe. Es ist absolut still.
Zu still. Ich stehe an der Tür und lausche. Spricht sie zu Rachel? Spricht sie mit ihr? Liest sie vielleicht ein Buch, während Rachel sitzt und sitzt? Nein, sie ist nett, sie liebt Kinder, sie hat das schon früher gemacht. Ich schließe die Bürotür, um — was immer auch draußen vor sich geht, Ruhe oder Lärm — abzudämmen, und zwinge mich zur Arbeit.
Nach einer Woche beschließt sie abzureisen. Ich kann sie verstehen. Meine Gesellschaft erscheint einem Mädchen in den Zwanzigern langweilig angesichts der ruhigen und ereignislosen Tage, die ich zu verbringen pflege. Ich arbeite jeden Tag bis drei Uhr, mache mich fertig, hole die Kinder, erledige die tägliche Hausarbeit, esse, bade die Kinder, stecke sie ins Bett und versuche, selbst schnell ins Bett zu kommen. Den Himmel auf Erden bedeutet es für mich, mit Paul und einem guten Buch früh zu Bett zu gehen, und weil die Abende auf diese Weise vergangen sind, bin ich erfüllt von dem Gefühl, daß es mir gutgeht. Das Leben hat uns wieder, denke ich, doch wenn ich mein Leben mit ihren Augen betrachte, dann wird mir mit einem bitteren Schock bewußt, wie weit entfernt ich vom Leben mit fünfundzwanzig bin.
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Mai
Keine Zusammenkünfte mehr, keine Reaktion mehr auf das Manuskript. Ich war nicht imstande, es über mich zu bringen, Linda anzurufen, um von ihr die Bestätigung der schlechten Nachricht zu erhalten.
»Weißt du, wie oft solche Sachen unter den Tisch fallen?« sage ich zu Paul und gebe mir Mühe, meine Enttäuschung zu verbergen.
»Sicher weiß ich das«, sagt er. »Etwas hast du doch davon gehabt, nicht wahr? Es war eine gute Erfahrung.«
Eine dünne Stimme in meinem Kopf verhöhnt mich mehrmals am Tag. He, Dummchen, hast du wirklich an die Weltgerechtigkeit geglaubt? Warst du so dumm zu glauben, nur weil du schwere Zeiten durchgemacht hast, wird ein Erfolg kommen und alles auszugleichen? (Na ja…in der Art.)
Ich kann mich an eine Phase erinnern, als ich an solch eine Gerechtigkeit glaubte. So wie damals, als ich spät abends gefährliche Straßen durchstreifte: Meine Schwester ist jung gestorben, demzufolge wird mir das nicht zustoßen. Aber Kummer läßt sich nicht wie ein Kuchen aufteilen, für jeden eine Portion. Letzte Woche habe ich in der Müttergruppe herausgefunden, daß jede von uns mindestens zweimal einen schweren Schlag erlitten hat. Meine ältere Schwester wurde ermordet und meine Tochter wurde blind geboren. Stevens Mutter hat einen Sohn mit zerebraler Lähmung und einen Mann mit Krebs. Katies Mutter hat eine autoimmune Krankheit, eine sterbende Mutter und eine Tochter mit schwerem Gehirnschaden. Todds Vater wurde in Vietnam schwer verwundet.
Die Welt sieht eine Tragödie als traurig an. Wenn sie so geballt erscheinen, dann werden wir zum Objekt nervösen Gelächters. Wir sind so unglücklich, daß es lächerlich ist. Vielleicht verdienen wir es.
Ein Anruf von Dr. Klibansky beendet unsere Tage des Optimismus in bezug auf Rachel, als er die Ergebnisse des EEG mitteilt. Es war nicht normal, mit niedrigen Amplitudenerhebungen in der linken Okzipitalregion. Er entschuldigt sich dafür, daß er uns so lange auf den Bescheid hat warten lassen, und sagt, daß er »verwirrt und frustriert« sei von dem Befund. Er kann nicht sagen, ob das bedeutet, daß sie ein Problem mit Anfällen bekommt: »Manchmal tauchen diese Amplituden in Zusammenhang mit kortikaler Blindheit auf…Wir werden warten müssen und dann sehen.« Er klingt eher beunruhigt als abweisend.
Was bedeuten die Erhebungen? Daß sie eine subklinische anfallartige Störung hat, oder daß die Schädigung mehr als den Sehnerv betrifft, das Sehzentrum in der Großhirnrinde selbst? »Es gibt keinen Grund zur Annahme, daß der Schaden auf den Sehnerv begrenzt ist«, sagt Klibansky.
Sie hat einen Gehirnschaden, wenn das wahr ist, ist intellektuell beeinträchtigt, zurückgeblieben. Die Veränderungen, die mich noch vor einem Monat ermutigt hatten, erscheinen jetzt erbärmlich. Es stimmt, daß sie freudig bebt, wenn sie uns hört; und daß sie aufschreit, wenn wir uns ihr nähern, aber viel mehr macht sie nicht. Sie ist neun Monate alt, und sie kann nicht kriechen oder krabbeln, oder sich selbst hochziehen, ihre Hände sind ständig zu Fäusten geballt. Sie kann sie nicht mal umdrehen.
Nachdem ich den Hörer aufgelegt habe, setze ich mich an meinen Tisch, Geschichten über Eltern gehen mir durch den Kopf, die sich ganz den Kindern verschrieben haben, die von der Welt als hoffnungslos angesehen wurden. Ein autistischer Junge, der nicht fähig war, sich denen in seiner Umgebung mitzuteilen, ist jetzt völlig normal. Ein hoffnungslos spastisches Mädchen, das ohne Krücken geht. Und wo war ich? Ich habe mich um das Schicksal meines Manuskripts gesorgt. Mein Ehrgeiz bringt mich in Verlegenheit. Zu einer Zeit wie dieser erscheint es unangebracht und egoistisch, daß ich etwas für mich selbst verlange. Wenn ich nur auch so standhaft wäre wie jene Eltern, so selbstlos wie Mutter Theresa, so geduldig wie Mrs. Kaiser. Wenn ich doch nur Rachel zu dem Heilpraktiker gebracht hätte, alternative Therapien ausprobiert hätte, ihr Megadosen Vitamine gegeben hätte und wirklich nichts als ihren Fortschritt im Kopf gehabt hätte.
Paul hält diese Gedanken für lächerliche Selbstquälerei. »Sie ist erst neun Monate alt«, sagt er. »Du kannst noch nicht viel mit ihr anfangen.«
Wer weiß, ob das wahr ist. Ich habe noch nie das Ende der Geschichte über die Frau aus Queens gehört, die ihr behindertes Kind von Arzt zu Arzt geschleppt hatte. Vielleicht hat sie den richtigen gefunden.
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Von all ihren Verzögerten Entwicklungen beschäftigt mich die Tatsache, daß sie sich nicht umdreht, am meisten. Es ist etwas, was ich nicht wegerklären kann, da sich normale Babys ungefähr mit vier Monaten vom Bauch auf den Rücken drehen, und blinde nicht viel später, und da ist sie, neun Monate alt, und zeigt überhaupt keine Anstalten dazu. Bei der Kinderförderung richtet die Physiotherapeutin ihre Beine so hin, daß sie im Ansatz einer Drehung liegt. Rachel, süß und klaglos‘ akzeptiert die helfende Hand, aber macht keinen Versuch, sich umzudrehen. Und ich frage mich und frage jeden: Warum dreht sie sich nicht um?
Ein Berater von der Kommission kommt uns an einem Freitag besuchen. Seine Aufgabe besteht darin, blinden und visuell beeinträchtigten Menschen zu weitgehender Unabhängigkeit im Alltag zu verhelfen. Bis vor kurzem wurde mit solchen Übungen erst begonnen, wenn die Blinden in der Oberstufe waren. Die zur Zeit gültige Theorie propagiert den Start kurz nach der Geburt.
»Auch wenn das Baby noch in der Krippe liegt, sollte es einen Sinn dafür haben, wo es sich im Verhältnis zu seiner Umgebung befindet«, sagt er zu mir. »Das ist Mami, die hereinkommt, das muß die Tür sein. Wenn Mami aufhört zu Sprechen, gibt es sie dann immer noch an einem anderen Ort?«
»Ein Kind muß in etwas hineintappen, um zu begreifen, daß etwas existiert. Es muß die Tische und Stühle untersuchen, damit es oben, unten, außenrum verstehen kann. Machen Sie nicht den Versuch, sie überzubehüten.«
»Ich wünsche, ich hätte die Chance dafür«, sage ich. »Rachel bewegt sich überhaupt nicht. Sie kann sich nicht mal von ihrem Bauch auf den Rücken legen.«
Er schaut zu mir auf, dann wendet er schnell seine Augen ab. »Es ist sonderbar, daß sie so gut sitzt und nicht fähig ist, sich umzudrehen.«
»Ja«, meint auch er. »Ja, Sie sind zu Recht besorgt.«
Ich wache am nächsten Morgen auf und erinnere mich an die Art, wie er mir in die Augen geschaut und dann schnell weggesehen hat. Ja. Ja, Sie haben recht. Sie sollte sich jetzt umdrehen können. Und wenn ich Rachel auf dem Boden sitzen sehe, erblicke ich ein hübsches, fröhliches Baby, das für immer da sitzen wird, wo wir sie lassen. Mit der Geschäftigkeit des Tages verblaßt sein Blick, in den stillen Augenblicken ist er wieder da. Als ich am Abend zu Bett gehe, hallen seine Worte in meinen Gedanken wider.
Rachel schreit im Schlaf auf, so wie fast jede Nacht. Es ist ein eigentümlicher Schrei — scharf und stöhnend — und ist so schnell vorbei, daß sie in der Zeit, in der ich aufstehe, um nach ihr zu sehen, schon wieder eingeschlafen ist. Als ich diesmal ihr Bettzeug richte, denke ich, daß sie weiß, was in Zukunft passieren wird. Irgendwie versteht sie.
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Am nächsten Morgen steht Charlotte mit den Hühnern auf. Sie springt auf mein Bett und zerrt heftig an mir, bis ich wach bin. Sobald meine Augen offen sind, schiebt sie mir einen bauchigen Umschlag in die Hand.
Innen ist eine Karte, die mehrmals gefaltet wurde. »Ich liebe dich, Jan«, steht darauf.
»Alles Gute zum Geburtstag, Jan.«
»Ich weiß, daß es eigentlich J-A-N-E heißen müßte, aber es war mir nicht danach, das E zu schreiben«, sagt sie. »Ich war zu sehr in Eile.«
Die Geschenke sind genauso großartig — eine Meeresmuschel und ein kleines Keramikhündchen aus ihrer eigenen Sammlung, das in ein Bündel bedruckter Servietten gewickelt ist.
Nach dem Frühstück kommen wir alle im Sonnenzimmer zusammen. Paul und ich teilen uns die Sonntagszeitung, und Charlotte wühlt in einer Schachtel mit Klamotten zum Verkleiden. Sie beginnt den Tag mit einem Barett aus schwarzem Samt, einem Kleid mit Pailletten und Schuhen mit Leopardenmuster und Plateausohlen. Draußen nippt ein Schwarm Vögel an den Maulbeeren, und zu meinen Füßen dreht sich Rachel vom Bauch auf den Rücken, und dann, als ob sie wüßte, was für eine Zweiflerin ich bin und wie leicht es mir fiele zu glauben, daß es eine Illusion ist, dreht sie sich wieder um und wieder und wieder.
Er glaubt daran
Es wird ganz plötzlich heiß, und Paul und ich bekommen einen schlimmen Sehnsuchtsanfall nach Maine. Ich erwische mich dabei, wie ich mir den Geruch der Tannennadeln vorstelle, das kühle Wasser, das so klar ist, daß man das Seegras unter der Oberfläche hin und her schwanken sieht, die Einsiedlerkrebse die Hufeisenkrebse, die kleinen Inseln, die den Reihern als Ruhestätte dienen, die größeren Inseln, auf denen sich in sauberen Reihen die Kormorane aufstellen, die Beerensträucher, die entlang der ungeteerten Straße wachsen, das kleine Häuschen, das wir uns ein Jahr nach unserer Heirat gekauft haben, weit weg von der Welt, der Arbeit und dem Streß. Spät in der Nacht, als ich davon ausgehe, daß Paul seit einer Stunde fest schläft, beginnt er in der Dunkelheit darüber zu reden, wie er den Mast reparieren will, damit wir im Sommer segeln gehen können, und daß er vor hat, die Fundamente für die Terrasse in Angriff zu nehmen. Im letzten Jahr hat Paul Urlaubstage verfallen lassen, was er— das schwört er — nie wieder machen wird. »Ich nehme jeden Tag, der mir zusteht, jeden einzelnen gottverdammten Tag.«
Am folgenden Nachmittag, einem Samstag, baut er ein maßstabgetreues Modell unseres Häuschens und dazu den Abhang, der zur Bucht hin abfällt, und er entwirft eine Terrasse mit Blick über das Wasser, mit ausgesparten Ecken, die den hohen Kiefern Platz lassen, von denen keiner von uns will, daß sie gefällt werden. Charlotte sitzt neben Paul und schneidet winzige Stühle und Sofas aus Pappe aus, die sie faltet und klebt, bis sie stehen bleiben, und Figuren, die sie biegt, damit sie auf diese Spielzeugmöbel passen, die sie dann in dem Modellhäuschen aufstellt. Es ist das erste Mal seit Rachels Geburt, daß ich Paul einer entspannenden Tätigkeit nachgehen sehe, und dieser Anblick rührt mich sehr.
Auch Charlotte wird von unserer Sehnsucht nach Maine angesteckt.
»Da gibt es Möwen, Mami«, erzählt sie mir an diesem Abend.
»Da gibt es auch Moskitos.«
»Man kann winzige, winzige, winzige Fische fangen«, schwärmt sie und hält ihren Daumen und ihren Zeigefinger den Bruchteil eines Zentimeters voneinander entfernt.
Man kann sich auch eine Hirnhautentzündung einfangen, denke ich.
»O Mami, und die Bucht ist so wunderschön, möchtest du nicht auch einfach hinfahren?«
Ja, das möchte ich, denn in Maine waren wir immer glücklich. Es ist jedoch eine Sehnsucht, die nicht so leicht zu befriedigen ist. Paul muß seine Zellen füttern, und er hat Verpflichtungen einem seiner Kollegen gegeniiber; er steckt mitten in einem Experiment, und wenn das Experiment fertig ist, ist er an der Reihe, den NMR-Apparat zu benutzen, also ist es für ihn unmöglich wegzufahren.
Gegen Monatsende habe ich dann die Ausreden. Für Linda und mich sind Gelder genehmigt worden, so daß wir das Skript für Lindas Regie umschreiben können.
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20. Juni
Linda zieht für eine Woche bei uns ein. Sie bringt ihre Kleider und Bücher nach oben in mein Arbeitszimmer und stopft ihr spezielles Essen in Vorratsschrank und Kühlschrank. Ein Mädchen namens Lourie, das sich auf meine Zeitungsannonce hin gemeldet hat, kümmert sich um Rachel, damit Linda und ich ohne Unterbrechung von neun bis drei Uhr, wenn Charlotte heimkommt, arbeiten können. Es ist nicht einfach für Linda, sich bei uns heimisch zu fühlen. Sie lebt allein, und das Chaos, ein eingeplanter Faktor in meinem Leben, macht sie ganz nervös: der Lärm, das Ende eines Tages mit der Gereiztheit müder und hungriger Kinder, der Berg häuslicher Pflichten, vor dem ich stehe, wenn Charlotte heimkommt: Kinder versorgen, kochen, aufräumen, Kinder baden, ins Bett stecken und dann wieder nach oben, um mit Linda weiterzuarbeiten. Wenn ich die mitleidvollen Blicke sehe, mit denen sie mich betrachtet — das Lasttier Jane, angebunden an einem Pfosten —, und mitbekomme, wie sie Paul beobachtet, wobei ihre Augen mir mitteilen, was ich ohnehin längst weiß — Paul sollte mehr im Haushalt erledigen —, dann fällt mir mein eigener Horror wieder ein, den ich in uralter Vergangenheit, als ich noch allein lebte, immer vor dem Familienleben hatte. Auf gar keinen Fall, nicht mit mir…
Manchmal sehe ich mich selbst mit ihren Augen, sehe mich als unglücklichen Packesel, auch wenn ich immer öfter merke, daß es sich mit dem Chaos einer anderen Person genauso verhählt wie mit dem Unglück, das einem anderen zustößt: es ist nur in den Augen eines Außenstehenden unerträglich.
Eine der Besonderheiten unseres Hauses ist, daß mein Arbeitszimmer im dritten Stock an dieselben Heizungsrohre angeschlossen ist wie das Badezimmer im zweiten Stock, so daß man das, was unten vorgeht, klar und deutlich verstehen kann, wenn man an meinem Schreibtisch sitzt. Was ich höre, während ich arbeite, ist Louries Stimme, wenn sie Rachel badet, ihr tiefes Lachen, ihre Fröhlichkeit und ihre Energie. Wenn ich nach unten gehe, sehe ich die beiden im Sonnenzimmer. Rachel mit dem Rücken an Louries Brust gelehnt, Rachels Hand in der von Lourie, die sie ein Stofftier streicheln läßt. »Das ist weich, Rae-Rae, spürst du, wie weich das ist?« Ich sehe die beiden vor dem Kamin sitzen, so, daß Rachel die Backsteine befühlen kann oder auf dem Rasen neben unserem Haus, Rachel mit Häubchen und Hemd und nacktem Popo, so daß das Gras direkt ihre Haut berührt. Manchmal, wenn ich mit der Arbeit fertig bin, kommen sie gerade vom Supermarkt zurück, wohin Laurie Rachel mitgenommen hat, um sie an den Blumen riechen zu lassen. Oder sie sitzen beide auf der Treppe vor dem Haus: eine junge Frau mit heller Haut und langen, in Spiralen über ihren Rücken fallenden Locken, die irgendwie aussieht wie eine hübsche Melkerin, die mit einem Rosenblatt die Wange eines hübschen Babys streichelt.
Laurie badet Rachel jeden Tag, damit sie lernt, sich im Wasser wohl zu fühlen; sie läßt Rachel ihr Essen »erfahren«, damit sie lernt, selbständig zu essen. Sie findet, daß Rachel die Form, das Gewicht und die Beschaffenheit, also das, was die Tasse zur Tasse macht, erforschen muß, um ihre Tasse kennenzulernen. Sie gibt Rachel jeden Tag einen Löffel in die Hand, führt dann ihre Hand zum Teller und beschwert sich nicht, wenn der Haferbrei Flecken auf ihrer Bluse hinterläßt, oder wenn der Löffel durch die Gegend fliegt und die Wand hinter ihr vollspritzt.
Am Tag, an dem Linda und ich mit unserer Überarbeitung fertig sind, gehe ich nach unten, um Tee zu machen, und beobachte dabei, wie Lourie Rachel füttert. Sie verteilt Bananenstückchen auf dem Tisch ihres Hochstühlchens und sagt: »Banane, Rae-Rae.« Rachel fährt mit der Hand über das Tischchen, befördert ein Stück Banane in ihre Hand und schiebt die Hand über ihr Gesicht. Ihr Mund funktioniert als Staubsauger und saugt die Banane auf. Die Art, wie sie dasitzt, während sie das macht, wie sie ihren Kopf schieflegt, läßt mich stutzen. Sie horcht nicht auf diese Bananenstückchen. Ich sehe ihr zu, wie sie den Kopf zur Seite neigt und dabei alle Stückchen auf diese Weise einfängt, Handfläche über das Tischchen, Hand zum Mund, und ich denke: Das kann sie zu gut für ein Kind, das nichts sehen kann.
Als Lourie gegangen ist, setze ich mich mit Rachel ins Sonnenzimmer. Ich weiß ja, daß sie nichts sehen kann, aber ich knie mich trotzdem vor sie hin, so daß sich mein Gesicht ganz nahe bei dem ihren befindet. Die Spätnachmittagssonne hinterläßt Streifen auf Rachels Decke. Ich sitze ganz still vor ihr und warte darauf, ob sie mich erkennt. Sie scheint meine Anwesenheit überhaupt nicht wahrzunehmen, weder meine Wärme noch meinen Geruch, weder das Geräusch meines Atems noch meinen enttäuschten Seufzer. Ich setze sie hin, und sie verharrt genau in der Position, in die ich sie gebracht habe, mit gesenktem Kopf, vollkommen bewegungslos. Die Pflanzen auf dem Tisch über ihr haben sich dem Licht zugewandt, ihre Stämme sind krumm und zum Fenster hin gebogen, und die breiten Blätter der Begonie sehen aus wie Tassen, die die Sonne in sich aufnehmen. Rachel patscht ein bißchen auf den Teppich, ihre mit Grübchen übersäte Hand liegt im Sonnenschein. Sie spannt die Faust an und entspannt sie wieder auf eine seltsame, krampfähnliche Art. Ich rücke sie ein paar Zentimeter aus dem Sonnenlicht und warte. Rachel beugt sich nach vorn und streckt den Arm aus, als könne sie das Sonnenlicht einfangen und in den Mund stecken. Ich rücke sie wieder an eine andere Stelle, und wieder streckt sie die Hand nach der Helligkeit aus.
Paul kommt früh nach Hause. Er ist zu müde, um noch irgend etwas Neues aufnehmen zu können, also halte ich ihm die Wange hin, damit ersie küssen kann, bin ganz kühl und distanziert und gehe wieder in die Küche. Die Neuigkeit, die ich mit mir herumtrage, bildet in meinem Magen einen dicken Klumpen. Paul hebt Rachel hoch in die Luft und ruft: »Babychen!«, und als Charlotte seine Stimme hört, kommt sie die Treppe herabgerannt und wirft sich in seine Arme. Ich unterbreche sie nicht beim Spielen, nicht eine Sekunde lang.
Linda ißt mit uns zu Abend. Paul fragt sie über technische Aspekte des Films, die ihn interessieren, aus: welche Filter und welche Linsen zum Einsatz kommen, wenn der Film gedreht wird, welche Kosten für Herstellungsverfahren und für das Ziehen der Kopien anfallen. Er stellt Fragen über Dreharbeiten bei Nacht und die dazugehörigen optischen Probleme — alles Dinge, die mich auch interessieren würden, wenn ich nicht dabei wäre, auf diesen perfekten Zeitpunkt zu warten. Charlotte versucht, Pauls Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen, indem sie sich auf seinen Schoß setzt, an seinen Hemdenknöpfen herumspielt und ihm ziellose Fragen stellt. Als das alles langfristig erfolglos bleibt, geht sie schließlich raus.
Sobald sie oben ist, sage ich: »Ich möchte, daß du dir etwas ansiehst.«
Er sieht die Taschenlampe und meint: »Sind wir denn damit nicht längst fertig?«
»Du weißt genau, wie vorsichtig ich bin. Du weißt, daß ich immer allen falschen Hoffnungen aus dem Weg gegangen bin. Kannst du mir nicht glauben, wenn ich dir sage, daß sie einen Lichtstrahl mit den Augen verfolgen kann? Ich habe es mehrere Male mit ihr ausprobiert, und sie hat es jedesmal gemacht. Kannst du dich nicht wenigstens ein bißchen freuen?«
Ich weiß, daß Rachel es nicht schaffen wird, ihn zu überzeugen. Ich weiß, sobald der Lichtstrahl auf das Tischchen ihres Kinderstuhls scheint, daß sie dem ersten Babygesetz treu bleiben und auf mein Ersuchen hin gar nichts vorführen wird. Ich weiß das, aber ich habe ja keine andere Möglichkeit, ihn dazu zu bringen, daß er mir glaubt.
»Lourie hat es auch gesehen. Sie hat Bananenstückchen auf Rachels Tischchen gelegt, und Rachel hat sie alle aufgenommen.«
»Was ist daran denn so Besonderes?«
»Gib ihr doch eine Sekunde Zeit, Paul«, schaltet Linda sich ein.
Ich bewege die Taschenlampe, so daß der Lichtkegel über das Tischchen wandert.
Rachel sitzt da mit gesenktem Kopf.
»Versuch es doch einmal mit der Banane«, schlägt Linda vor.
»Oh, um Gottes willen.«
Paul packt seinen Teller. Ich höre, wie er die Geschirrspülmaschine aufmacht, höre, wie das Tellergestell klappert, höre Pauls Schritte, als er nach oben geht.
Um zehn Uhr geht er schlafen. Eine Stunde später gehe ich auch ins Bett, und da liegt Paul verkrampft und zur Wand gedreht. Als wir uns erst ganz kurz kannten, konnte ich keine Nacht von ihm abgewandt verbringen. Wenn Paul auf Worte nicht reagierte, schaltete ich das Licht an, zog an der Bettdecke, beschwor einen Streit herauf — ich setzte alles daran, um diese menschliche Mauer zu durchbrechen. Inzwischen sind wir acht Jahre verheiratet, und der Schmerz, den ich empfinde, ist nicht mehr ganz so heftig. Ich kann auch ohne dich leben, denke ich.
Als es dämmert, werde ich wach. Rachel liegt auf dem Rücken zwischen uns im Bett. Ich sehe, wie Paul seine Hand über ihrem Gesicht bewegt, dreißigmal, vierzigmal. Dann schlafe wieder ein.
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30. Juni
Ein Wochenende in Maine (endlich!). Unterwegs machen wir in einem Restaurant an der Straße halt, einer düsteren, heruntergekommen wirkenden Örtlichkeit mit türkisfarbenen Sitzgruppen, fleckigen Teppichen und kränklich aussehenden Kellnerinnen. Paul geht mit Charlotte zur Herrentoilette; ich setze Rachel in einen Hochstuhl und mache mich auf den Weg, um ihr ein paar Bohnen von der Salattheke zu holen. Das Gemüse sieht so blaß aus, daß man meinen könnte, es sei unterirdisch gewachsen. Ich löffle ein paar Dosenbohnen aus der trüben, Flüssigkeit und bring sie zu Rachel, die mit gesenktem Kopf und eingezogenen Händen dasitzt, wie ein bedrohtes Tier, das sich in seinen Panzer zurückzieht.
»Essen, Baby«, sage ich, während ich ein paar Bohnen vor sie hinlege. Ich glaube zwar nicht, daß sie mich versteht, aber ich rede trotzdem. »Bohnen, Baby, hier.«
Ich kraule sie unter dem Kinn, und sie dreht den Kopf zur Seite. Ihre Augen tanzen hin und her. Eine ihrer Fäuste öffnet sich. Sie bewegt den Arm und führt die Hand zu einer Bohne hinab.
Ihre Bewegungen sind langsam und ruckartig, als habe sie einen mechanischen Arm, der von einem unerfahrenen Menschen bedient wird. Als ich Paul aus der Toilette kommen sehe, beginnt mein Herz wild zu schlagen. Rachels Hand schließt sich um eine Bohne. Paul sagt: »Entschuldigung«, und eine Bedienung kommt zu uns herübergeschlendert und läßt ein paar Speisekarten auf die Platzdeckchen vor uns fallen. Paul bestellt Kaffee mit Milch; »Kuhmilch«, sagt er, damit sie weiß, daß er Milch meint und nicht Sahne oder ein eßbares Erdölprodukt.
Er dreht den Henkel der Tasse auf die richtige Seite, und Charlotte sagt: »Kuhmilch—muuh«, und mir fällt ein, wie Paul mich in jener Augustnacht, bevor Rachel geboren wurde, mit einer Kuh verglichen hatte.
Rachel hebt den Arm und läßt die Hand ungeschickt auf eine weitere Bohne herabfallen, dann auf die nächste. Ich verteile noch ein paar vor ihr. Das Tischchen ist braun, und die Bohnen nur um eine Schattierung dunkler. Rachel legt den Kopf schief und ihre Faust öffnet sich. Ich will nichts heraufbeschwören, jetzt nicht, aber Paul beugt sich zu mir herüber, als erwarte er darauf, daß ich etwas sage, also bemerke ich: »Ich weiß, was du sagen wirst: es ist der Luftzug, es ist das Geräusch, das die Bohne verursacht, wenn ich sie auf den Tisch lege, es ist der Schatten meiner Hand, es ist der reine Zufall.«
Ich nehme eine Bohne in jede Hand und halte meine beiden Fäuste auf den Tisch vor Rachel. Aus einer Hand fällt eine Bohne. Sobald ich sie zurückziehe, bewegt sich Rachels Hand ungeschickt auf sie herab.
»Sie kann sehen«, flüstert Paul.
Er rückt näher und versucht den Trick selbst. Rachel legt den Kopf schief und findet die Bohne. »Verdammt noch mal, sie kann sehen.«
Die Bedienung kommt zurück, um Pauls Tasse zu füllen, und ich setze mich auf wie ein Verbrecher, den man auf frischer Tat ertappt hat. Ich sehe nicht, wie Paul den Arm nach mir ausstreckt, ich sehe nur, wie er mit seinem Ellbogeh gegen die Tasse stößt. »Sie kann sehen«, sagt er noch einmal, und der Kaffee färbt das Tischtuch vor ihm dunkelbraun.
Die Bedienung wischt den Fleck mit einem Handtuch auf und legt ein sauberes Platzdeckchen vor Paul. Sie erkundigt sich, ob wir schon wissen, was wir wollen. Ich aber bin ganz woanders. Ich befinde mich ein paar Monate in der Vergangenheit, am Tag, als bei Rachel die Computertomographie gemacht wurde, damals, als Paul die Arme um mich schlang und anfing zu weinen. Obgleich ich jetzt aufrecht dasitze, kann ich seinen heißen Hals spüren, seine Arme, die meine Rippen einquetschen und der Schwall von Liebe und Hoffnung, die ich fur uns beide gespürt habe.
Verdammt noch mal, sie kann sehen.
Die Kellnerin kneift die Augen zusammen und wirft mir einen langen, prüfenden Blick zu.
»Kuhmilch«, erklärt ihr Charlotte. »Kuhmilch, muuuuh.«
TEIL III
Maine-Fieber
Juli
Sie kann weiße Bohnen auf dem Tischchen ihres Kinderhochstuhls sehen, Erbsen, Käsestückchen, buntes Spielzeug. Wir lassen eine Schnur vor ihr herunterbaumeln, legen einen Penny auf den braunen Teppich oder eine Erbse auf das Tischchen ihres Hochstuhls, sie legt den Kopf schief, um das Bild zu erfassen, und streckt dann zögernd die Hand aus, um den betreffenden Gegenstand zu packen. Die Art und Weise, wie sie etwas genau sehen will, legt uns die Vermutung nahe, daß die Sehkraft, die sie besitzt, nicht in der Fovea zentriert und deshalb nicht scharf ist. Auch andere Dinge weisen darauf hin. Sie reagiert nicht auf Gesichter. Spiegel interessieren sie ebensowenig wie Puppen, Seifenblasen oder Stofftiere mit großen Augen. Paul hat mir erklärt, daß sich in den Außenbezirken des Auges nicht genug Rezeptoren befinden, als daß Rachel jemals eine hohe Sehschärfe erzielen könnte, und daß das Beste, was sie je erreichen wird, vage, verschwommene Bilder sind. Und doch hat sie sich inzwischen so sehr verändert, daß es einem vorkommt, als habe dieses kleine bißchen Sehen sie befähigt, mit der Welt Kontakt aufzunehmen.
Morgens wacht sie auf und ruft: »Uuu!« aus dem Kinderzimmer, und Paul dreht sich im Bett um und antwortet: »Uuu!« Wenn er noch schläfrig ist und eine Weile braucht, bis er aufsteht und sie holt, ruft sie: »Nan-nan-nan«, so lange, bis er sich doch aufrafft und über den Flur zu ihr geht. »Nan-nan-nan«, antwortet Paul. Während ich noch um ein bißchen Extraschlaf kämpfe, höre ich, wie meine beiden Vögel sich unterhalten:
»Uuu!« ertönt es aus dem Flur, wo Rachel sitzt, »Uuu!« aus dem Badezimmer, wo Paul sich rasiert, »Uuu!«, wenn er sie hochnimmt, sein Gesicht erforschen läßt und sie dabei hartnäckig nach seiner Nase und seinem Mund packt. Er läßt sie mit seiner Brille spielen, und sie nimmt Gläser und Bügel in den Mund, während sie nach unten gehen, um Frühstück zu machen. »Uuu!« ruft sie auf der Treppe, und »Uuu!« ruft er zurück.
Sie ist dem dunklen, nach innen gerichteten Zustand, in dem sie gefangen war, endlich entronnen, und auch wenn sie noch immer passiv ist, so streckt sie doch die Hände aus und ruft »Uuu!«, um uns zu zeigen, daß sie lebt. Sie windet sich vor Vergnügen, wenn wir sie auf den Arm nehmen, sie zieht uns an den Haaren und zwickt uns in Nasen, Lippen und Ohren, als müßte sie in unser Fleisch hineingraben, um uns Wirklichkeit zu verleihen. Paul und ich haben beide überall im Gesicht kleine, halbmondförmige Kratzer, Erinnerungen an ihre Fortschritte, von denen manche sogar recht schmerzhaft sind. Sie ist ein richtiges Baby, flüstern wir einander zu. Und wenn sie weint, sagen wir ganz andächtig: »Sie beklagt sich!«
Das glatte, dunkle Haar, mit dem Rachel geboren wurde (und das ihr nie ausgegangen ist), ist hell und lockig geworden, und wenn wir mit ihr irgendwohin gehen, dann ist es das, was die Leute sehen: ein Baby mit Locken. Wenn schon der Anblick eines Babys Leute verändert, die normalerweise eher zurückhaltend sind, so bringt sie ein Baby mit Locken zum Flöten und Zwitschern. Diese Haare! Schau dir doch bloß diese Haare an! Ich habe nicht gewußt, daß es möglich ist, mit solchen Haaren auf die Welt zu kommen — mit weichen Locken, durch die man die Finger stecken kann. Engelhaar.
Ich weiß nicht, was das ist, aber Fremde tauchen aus dem Schatten auf und machen Bemerkungen über Rachels Haar. Ihr Haar zieht so viel Aufmerksamkeit auf sich, daß keiner etwas über ihre Augen sagt, die immer noch zur Seite und dann wieder in die Mitte rutschen, außer vielleicht: »Oh, sie ist müde, der kleine Schatz.« Ich habe keinerlei Bedürfnis, unser Geheimnis preiszugeben, wenn ich solche Komplimente höre (sie ist blind, wissen Sie). Ich genieße sie, und es tut mir auch weh, sie zu hören (sie ist schön, aber sie wird es niemals wissen), und ich bin dankbar für sie, denn ich kenne Mütter mit Kindern, die vor den Augen der Offentlichkeit nicht so gut abschneiden, und das Ausmaß von Dummheit und Gefühllosigkeit, dem Sie ausgesetzt sind, ist absolut schockierend. Em Fremder geht auf die Mutter eines Jungen mit Spina bifida, ein strahlendes, mandeläugiges Kind, zu und sagt: »Es ist doch gut, daß es heutzutage Abtreibungen gibt.« Ein Unbekannter sieht Katie zusammengesunken in ihrem Sportwagen sitzen und tadelt die Mutter: »Das ist doch ein großes Mädchen, sehen Sie zu, daß sie laufen lernt«; dabei ist Katie so schwer behindert,daß sie nicht einmal ihren Kopf aufrecht halten kann. Was geht wohl in einer großmütterlichen Frau, die in ihrem geblümten Kleid so nett aussieht, vor, daß sie auf die Mutter eines behinderten Kindes zugeht und ihr sagt: »Was in aller Welt ist denn los mit ihr?«
Wenn Unbekannte stehen bleiben, um unser lockenköpfiges Baby zu bewundern, hält Paul Rachel hoch, um vorzuführen, was sie alles kann. »Wo ist Papas Brille?« fragt er, und Rachel zieht sie ihm von der Nase. Er zeigt diesen Trick vor Freunden und Verwandten, vor Kellnern und Verkäuferinnen. Paul sagt: »Alles wird gut werden mit ihr«, und ich nehme seine Stimme in mich auf und zwinge mich selbst, meineÄngste vor all den Komplikationen, die auf Rachel zukommen könnten, zu verdrängen. Ich versuche, das auffällige EEG zu vergessen, das selbst den Neurologen durcheinandergebracht hat, versuche, mir die Bilder anderer Babys aus dem Kopf zu schlagen, die so anders sind, als gehörten sie zu einer anderen Spezies.
Dieser erzwungene Optimismus bringt mir mehr Angst als Erleichterung. Ich wünsche mir so sehr, daß Rachel gesund ist, und gerade deshalb ist es für mich leichter, Zweifel zu haben, als mit dem Risiko leben zu müssen, daß ich irgendwann feststellen muß, daß meine ganzen, schönen Visionen ungerechtfertigt waren. Nichtsdestoweniger verlege ich mich auf diese optimistische Haltung, erlaube mir, die Mutter eines Kindes zu werden, das zwar zu Beginn seines Lebens Schwierigkeiten hatte, es aber doch schaffen wird. So gewappnet, sammle ich die Geschichten, die mich vor ein paar Monaten noch vollkommen durcheinandergebracht haben, und lese sie erneut: über blinde Musiker, Programmierer und Mathematiker, über Babys, die man als zurückgeblieben eingestuft hat und die jetzt eine Schule besuchen, in der behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Ich lasse zu, daß ich mir Gedanken darüber mache, wie Rachel sein könnte: sehbehindert (denn so nennen wir das inzwischen) und ansonsten gesund, und als es wieder Zeit für die Untersuchung in der Klinik ist, führe ich auch Dr. Goldstein Rachels Tricks vor. Er zwitschert mit ihr herum, läßt sie auf seinem Knie hopsen, und während ich Rachel anziehe, teilt er mir mit freundlicher Stimme mit, sie befinde sich jetzt auf dem Stand eines Kindes von gut sechs Monaten, und fragt dann: »Haben Sie denn ihr Gehör überprüft?«
Rachel ist jetzt zehn Monate alt, und ich habe mir monatelang keine Gedanken über ihre Hörfähigkeit gemacht. Ich sinke tief an diesem Tag. Ich gehe nach Hause, fange an, Gegenstände vor Rachels Gesicht zusammenzuschlagen, mit den Füßen zu stampfen, ich rufe ihren Namen direkt vor der Zimmertür und habe das Gefühl, daß ich es niemals schaffen werde, mich aus diesem Sumpf der Verzweiflung zu ziehen. Ich höre, wie Paul am Telefon jemandem erzählt, wie gut Rachel sich macht, und als er auflegt, bekomme ich einen hysterischen Anfall: »Was ist denn so toll? Sie ist auf dem Entwicklungsstand eines sechsmonatigen Kindes, und der Arzt macht sich Sorgen über ihre Hörfähigkeit.« Am nächsten Abend hören wir Musik aus ihrem Zimmer, und als wir uns auf Zehenspitzen hinschleichen, sehen wir, wie Rachel an der Schnur ihres Vogels, der ein Lied spielen kann, zieht und der Melodie lauscht. Paul legt den Arm um mich. »Sie wird uns noch überraschen, warte nur.«
»Ich hoffe es«, sage ich, aber die Brust tut mir dabei so weh, daß ich kaum atmen kann.
Wir reden andauernd davon, wieder nach Maine zu fahren, aber die Tage vergehen, die Sonne wird immer heißer, der Teer am Straßenrand wird weich, und da sind wir nun und arbeiten so viel, daß wir kaum Zeit haben, uns zu fragen, warum. Paul sagt, er muß bestimmte Experimente noch einmal durchführen, muß es tun, weil sie das Kernstück seiner Arbeit sind, und weil er eigentlich versprochen hat, mit dem experimentellen Teil schon vor langer Zeit fertig zu sein, er muß es tun, weil er unter Druck steht, seinen Schwerpunkt auf andere Forschungsgebiete zu legen, muß am Wochenende daran arbeiten, weil der NMR-Apparat von mehreren Forschern gemeinsam benutzt wird, die ihn alle dringend brauchen, und da Pauls Dissertation schließlich seine persönliche Angelegenheit ist, sind die einzigen Stunden, die ihm zur Verfügung stehen, diejenigen, die sonst keiner will.
Wenn wir uns sehen, reden wir über Alltagsangelegenheiten — wer übernimmt was, wenn —, wir zanken uns um Belanglosigkeiten, entschuldigen uns und fangen wieder an zu zanken. Paul meint: »Laß uns doch einfach alles hinschmeißen und noch morgen nach Maine abhauen.« Maine ist der Ort, wo wir sein wollen, Maine wird uns wiederherstellen, Maine wird uns beide wieder zusammenbringen.
Ich frage ihn, was er denkt, wann wir fahren können, und da kann er mir kein Datum nennen. »Und außerdem hast du doch gesagt, du wolltest nicht weg, bevor du mit deinem Buch fertig bist.«
Paul wacht mitten in der Nacht auf und kann nicht wieder einschlafen (während ich schlafe wie ein Murmeltier und dabei mit solcher Heftigkeit mit den Zähnen knirsche und sie zusammenbeiße, daß mir der Kiefer weh tut, wenn ich aufstehe). Er hat so viele frühe Morgenstunden vor dem Fernseher verbracht, daß er eines Tages das Kabel mit der Kneifzange durchzwickt, als ob ihn das von seiner schlechten Angewohnheit abbringen könnte. Wenn er jetzt aufwacht, fängt er an, Zahlen aufzulisten, oder er sitzt am Computer, bis sich die Kinder zu regen beginnen. Bei der Arbeit trinkt er Kaffee, um auf Trab zu bleiben, manchmal zehn oder zwölf Tassen. Der Kaffee hält zwar wach, doch sein Kopf fängt davon an, derart zu schwirren, daß es ihm schwer wird, sich zu konzentrieren.
Dieser Kreislauf von Schlaflosigkeit und Übermüdung wiederholt sich mehrere Male, bis Paul Schließlich krank wird und zwei bis drei Tage durchschläft. Als er sich von seiner Krankheit wieder hochgerappelt hat, ist er voll guten Mutes und kommt zu mir mit seinem Kalender, damit wir den Tag aussuchen können, an dem wir nach Maine fahren. Er schlägt den Monat Juli auf, studiert die Vierecke mit den Daten und streicht langsam eines nach dem anderen durch. Die nächste Woche ist ungeeignet, weil da die Zellen gefüttert werden müssen, und Wenn Paul nicht da ist, kümmert sich keiner darum. In der darauffolgenden Woche muß er zusammen mit einem Kollegen Experimente durchführen. Inder nächsten Woche hat er Termine am Apparat.
Ich klappe den Kalender zu, und er schaut mit traurigen Augen zu mir auf. »Wenigstens kriege ich mein Buch fertig«, sage ich zu ihm.
Obgleich Paul Naturwissenschaftler ist und mit beiden Füßen fest auf dem Boden des zwanzigsten Jahrhunderts steht, glaubt er doch gleichzeitig an Wunder, und als ich ihm am nächsten Morgen erzähle, daß ich Charlotte zu einer zweiwöchigen Freizeit beim CVJM anmelden möchte, wendet er ein, es sei keine gute Idee, uns so festzulegen. »Was ist, wenn wir es doch nächste Woche schaffen, hier rauszukommen?« Er sagt das so überzeugend, daß ich, wenn ich die Augen schließe, spüren kann, wie das Auto langsam die Kurven der unbefestigten Landstraße entlangrollt. Man sieht die Bucht schimmern hinter dem Ferienhäuschen, und der Wind ist angenehm kühl. Als Paul zur Arbeit geht, öffne ich die Augen und sehe mir die durchgestrichenen Quadrate an, die unseren Kalender ausfüllen. Ein wenig später schreibe ich Charlotte für die erste Freizeit in Camp Ranamol ein.
Der CVJM liegt nur vier Häuserblock‘s von uns entfernt, also setze ich Rachel morgens in den Kinderwagen und bringe Charlotte zu Fuß zu ihrer Freizeit. Sie trägt eine Sporttasche über der Schulter, in ihr befinden sich das Vesperbrot, der Badeanzug, ein Handtuch, mehrere kleine Puppen, ein paar Buntstiftstummel, Postkarten, der dicke Bleistift und der hölzerne Apfel, den sie bei einem Kinderfest zu Beginn des Kindergartens geschenkt bekommen hat. Die Tasche schlägt ihr beim Gehen die Knie, und alle paar Schritte bleibt sie stehen, um sie wieder zurechtzurücken; sie zeigt mir Stechpalmenblätter und Ringelblumen, die gerade aufgeblüht sind. Sie kniet sich auf ein Blumenbeet, steckt die Nase in eine Lilie und sagt: »Mami, sind die nicht wundaschön?«
Wenn wir zusammen draußen sind, sind wir Freunde, weg von zu Hause gibt es keine Schelte und keine Ermahnungen. Wir gehen spazieren, und die Welt um uns herum ist großartig, die Blumen, Charlottes Turnschuhe, die Taubenfedern, die Kieselsteine, die von den Bäumen gefallenen Blätter, alles ist wundaschön. Ich möchte diese Augenblicke in mich hineinsaugen, sie in mein Gedächtnis eingravieren — ihre Stimme, ihre Hand in der meinen, die Welt durch ihre Augen.
Das Gras neben dem CVJM-Gebäude ist ganz plattgetreten von all den Kindern, die hier auf die Busse warten, welche sie abholen kommen. Die meisten Kinder steigen in einen großen, gelben Bus, aber manche von ihnen besteigen auch den Kleinbus dahinter, von dem Charlotte sagt, er sei für »besondere« Kinder. Manchmal erwähnt sie ein Kind, das mit ihr im Ferienlager ist, und sagt dann: »Oh, er fährt im kleinen Bus«, ohne damit irgendein Urteil zu verbinden.
Auf dem Heimweg komme ich an dem Kleinbus vorbei, und die in ihm sitzenden Freizeitteilnehmer, von denen die meisten schon fast erwachsen sind, winken mir zu. Ich winke zurück und denke daran, wie Charlotte zu Rachel ins Ställchen steigt, ihr Häubchen aufprobiert, ihre weiche Haut küßt, sie »Schätzchen« nennt und mit ihr prahlt. Meine Schwester. Hast du meine Schwester mitgebracht? Mollie möchte gern meine Schwester kennenlernen. Bitte mach, daß sie im gelben Bus mitfährt, denke ich. Das wird mein tägliches Stoßgebet.
Wenn ich zu Hause ankomme, sitzt Lourie schon auf der Türschwelle, mit einer Zigarette und einer Dose Diät-Pepsi. Sie nimmt Rachel aus dem Wagen und drückt sie an sich. Die beiden sehen so schön aus zusammen. Rachel mit ihren leicht geröteten Wangen und ihren blonden Locken, Lourie mit makelloser Elfenbeinhaut und dem langen, dunklen Haar, das in großen Spiralen über ihren Rücken fällt. Ich gehe nach oben in mein Arbeitszimmer, und manchmal vergehen Stunden, ohne daß ich auch nur einmal an die beiden denke, während ich mich ein andermal dabei erwische, wie ich ihrem Lachen lausche und mir wünsche, bei ihnen sein zu können.
»Ich hätte gern ein Baby wie Rachel«, sagt Lourie eines Nachmittags.
»Nein, das hättest du nicht.«
»Wieso denn nicht?«
»Weil Rachel blind ist und vielleicht auch geistig zurückgeblieben.«
»Aber sie ist so schön.«
»Ja«, entgegne ich. »Und wenn sie älter wird?«
»Alle mögen sie so gern. Wohin sie auch kommt, fühlen sich die Leute zu ihr hingezogen.«
»Alle Leute mögen hübsche Babys.«
Wir führen diese Diskussion viele Male. Louries Standpunkt kommt mir so romantisch vor, so ohne jeden Bezug zur Realität, und ich erwische mich bei dem Gedanken: Sie ist eben nicht deine Tochter, also weißt du auch nicht, wie das ist. Erst als ich Lourie besser kenne, fange ich an zu verstehen, daß es einfach nicht ihre Art ist, Leute nach ihrer Intelligenz zu beurteilen oder nach dem, wieviel Erfolg sie in der Welt haben. Wärme, Freundlichkeit und Ehrlichkeit bedeuten Lourie am meisten. Für sie hat jeder seinen Platz, sie sieht Erfülltheit auch im beschränktesten Leben.
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Die Tage vergehen, und wir werden immer erschöpfter, Paul bei seiner Arbeit mit den Zellen, ich bei der meinen mit den Worten. Wir besuchen keine Freunde mehr, schlafen nicht aus, sehen uns keine Filme an, denn all diese Dinge würden uns nur von der Arbeit abhalten. Wenn mich im Juli jemand fragt, was mich am meisten ärgert, halte ich einen langen Vortrag darüber, wie entsetzlich unfair es ist, daß Paul mehr Zeit zum Arbeiten hat als ich. Er hat die Möglichkeit, den ganzen Tag durchzuarbeiten, er kann das Essen ausfallen lassen, wenn er will, er kann abends oder an den Wochenenden noch zusätzliche Arbeitsstunden anhängen, während ich die Hausarbeit zu erledigen habe und Kinder versorgen muß, die wollen, daß man sich um sie kümmert, die etwas zu essen brauchen und gebadet werden müssen, ganz gleichgültig, was mir selbst gerade durch den Kopf gehen mag. Und das macht mir zu schaffen, denn ich muß mit dem Buch fertig werden, damit ich nach Maine fahren kann, muß das Buch fertigkriegen wegen der verlorenen Monate, in denen ich meine Gedanken von den Problemen mit Rachel nicht auf die papierne Phantasiewelt umstellen konnte, muß es fertigkriegen wegen all der Termine, die ich abgeschlossen und dann doch überschritten, verlängern lassen und wieder nicht eingehalten habe, muß fertig werden, weil ich nichts vorzuweisen habe, weil ich, wenn ich nicht arbeite, der Tatsache ins Gesicht sehen muß, daß wir viele Opfer gebracht haben, damit ich schreiben kann, und daß ich trotz dieser Opfer versagt habe. Jetzt ist es mein Ziel, dies alles zu ändern, denn jetzt ist kein Kind mehr neben meinem Schreibtisch, das mich ablenkt, wenn es wach ist, und auch, wenn es schläft. Jetzt, wo ich wieder ich selbst bin, will ich die verlorene Zeit wettmachen und mein Manuskript fertigstellen, aber fünf Stunden pro Tag, fünf Tage pro Woche reichen dafür nicht aus.
Ich halte Paul diese offensichtliche Ungleichheit entgegen, verlange und bekomme einen Tag des Wochenendes für mich, einen sechsten Tag, an dem ich mich oben einschließen kann. Das erscheint mir großartig und frei und echt gerecht, bis ich eines Samstags morgens zufällig mitbekomme, wie Charlotte sich bei Paul erkundigt, wessen Tag denn heute ist, seiner oder der von Mami. Da sehe ich im Spiegel ihrer Worte, wie verdreht unser Leben geworden ist, wie leer, ohne all jene Freuden, die das Leben süß machen.
Selbst daß wir einen Spaziergang machen, ist selten geworden, und eines Tages, als wir beschließen, uns in der Stadt einen Bagel zu holen, kommt die Besitzerin des Restaurants uns gleich entgegen, als wir hereinkommen, und fragt uns, wo wir gewesen seien.
»Wir haben gearbeitet«, erklärt Paul.
»Gearbeitet«, meint sie, »heißt das, daß ihr nichts mehr eßt?« »Doch, wir essen«, antwortet Paul. »Wir haben ja gar keine andere Wahl.«
Wir tragen unsere Tabletts zu einem Tisch an einer verspiegelten Wand, den Charlotte ausgesucht hat, schauen auf und sehen plötzlich unser Bild im Spiegel. Wie abgespannt und überarbeitet ich aussehe; und Paul hat tiefe dunkle Ringe unter seinen großen, traurigen Augen. Er küßt mich auf die Wange, damit ich sehe, daß er mich noch liebt, und sagt: »Wir müssen weg von hier. Wir müssen nach Maine.«
Doch erst einmal fängt Charlotte die zweite vierzehntägige Freizeit in Camp Ranamol an. Sie ist die jüngste und kleinste Teilnehmerin, und nachdem sie jetzt einen Monat mit älteren Kindern zusammen war, hat sie eine ganz kokette Art zu gehen angenommen und ist zu der Erkenntnis gekommen, daß Jungen lästige und rätselhafte Kreaturen sind. »Jungen«, sagt sie mit einem milden Seufzer, »ich versuche, mich mit ihnen anzufreunden, aber es klappt einfach nicht.«
Sie kommt nach Hause und singt dieselben Lieder, die ich im Sommerlager gesungen habe, und abends, wenn ich ihr den Sand aus allen Ritzen wasche’und ihren weichen, braunen Körper einseife, singt sie: »Jake und Jeannie sitzen auf dem Baum, k-y-s-s-m-n-g…« in perfektem, neckischem Singsang und ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, was sie eigentlich da zu buchstabieren versucht. Ich singe mit ihr:
»Zuerst kommt die Liebe, dann kommt die Hochzeit, und dann das Baby im Kinderwagen.«
Die Ferien sind zum wichtigsten Gesprächsthema in der Müttergruppe geworden. Katies Mutter Gina hat eine Reise gebucht, zum ersten Mal, seit Katie krank geworden ist. Die Klinik hat sich bereit erklärt, in der Zeit für Katie zu sorgen, und die Sozialarbeiterin hat Gina versprochen, Katie jeden Tag zu besuchen. Gina wäre reisefertig. »Wenn nur meine Mutter endlich sterben würde.« Ihre Mutter hat Krebs im Endstadium, ihr Tod steht nahe bevor, nur kann natürlich niemand vorhersagen, wann genau er eintreten wird. »Es ist schrecklich, so etwas zu sagen, aber jedesmal, wenn das Telefon klingelt, hoffe ich, daß es ihr Arzt ist, der uns mitteilt, daß es zu Ende geht. Ich habe bloß Angst, daß sie am Tag, bevor wir nach England fliegen wollen, stirbt, und dann müssen Larry und ich unseren Flug absagen. Alles, was ich will, sind meine Ferien. Ich kann nichts dagegen machen, das ist wirklich alles, was ich will.«
jede Woche fragen wir sie, wie es ihrer Mutter geht, und jede Woche antwortet sie: »Alles, was ich will, sind meine Ferien.« Als der Juli seinem Ende entgegengeht, habe ich begonnen, Ginas Worte nachzubeten. Wir sind müde und gereizt, und alles, was ich will, sind meine Ferien.
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Einmal, als Paul sagt: »Laß uns doch einfach morgen abhauen«, nehme ich ihn beim Wort, trage alle Zimmerpflanzen auf den Hof und fange an, die Kleider der Kinder einzupacken. Es ist schon Anfang August und so heiß, daß wir nachts unbekleidet schlafen, uns im Zeitlupentempo bewegen und uns von Selterswasser, Joghurt und Gurken ernähren. Man muß Handschuhe anziehen, damit man im Auto das Lenkrad anfassen kann, und auf einer meiner seltenen Fahrten nach außerhalb entdecke ich eine neue Sorte Aufkleber an den Autos: eine Stechmücke, und darunter die Worte »Nationalvogel von New Jersey.«
Paul kommt von der Arbeit nach Hause und findet mich damit beschäftigt, die Kleider der Kinder zusammenzulegen und in eine riesige Plastiktüte zu packen. Er hört mir zu, wie ich von Benzin und Autoreifen plappere und von dem alten Mann, der drei Meilen vom Ferienhaus entfernt Blaubeeren verkauft, und er sagt nichts dazu, aber er hat seinen Kalender auf den Knien und beginnt, unheilvolle Striche über die zweiten Vierzehn Tage des Monats zu ziehen. Irgend etwas wegen einer NMR-Veranstaltung, die er auf keinen Fall versäumen darf.
Ich packe die Plastiktüte an einer Ecke und schleudere sie in die Luft, so daß kleine Hemden und Hosen über unsere Köpfe segeln.
»Vergiß es«, sage ich zu ihm. »Laß uns das Wegfahren doch einfach ganz vergessen.«
Aber ich bringe es nicht fertig, zu vergessen. Maine bedeutet Leben, Liebe, Freude. Maine wird unsere Rettung sein. Maine zu Vergessen, würde bedeuten, daß wir aufgegeben haben. Und so setzen wir schließlich ein Datum für unsere Abreise fest und erklären diesen Tag — den 23. August — für unverrückbar, unveränderbar, komme, was wolle, Tod oder Teufel.
»Werd bloß nicht krank«, sage ich zu Charlotte, als ich sie Tage vor unserer geplanten Abreise vom Sommerlager abhole. »Ich bringe dich um, wenn du krank wirst«, schreie ich, wenn sie einmal niest. Ich kontrolliere ihre Zunge und ihren Hals, untersuche die Flecken auf ihren Beinen, jage sie quer durchs Wohnzimmer, weil ich ihr unbedingt auf die Stirn fühlen will, und erwische sie schließlich am Boden, immer mit dem einen Gedanken im Kopf: Alles, was ich will, sind meine Ferien.
Zwei Tage bevor wir losfahren wollen, sitze ich oben in meinem Arbeitszimmer und drucke auf Pauls eigenwilligem Drucker ein Kapitel meines Buches nach dem anderen aus, als es plötzlich an meine Tür klopft.
Lourie steht vor der Zimmertür mit Rachel auf ihrer Hüfte. Noch niemals ist Lourie diese Treppen heraufgekommen, nicht ein einziges Mal in all diesen Wochen. Ich weiß sofort, daß irgend etwas nicht stimmt.
Rachels Wangen sind gerötet und ihre Locken feucht von Schweiß. Lourie sagt: »Ich glaube, sie hat gerade einen Anfall gehabt.«
»Beschreib ihn mir.«
»Wir saßen auf dem Boden und haben gespielt, da machte sie plötzlich eine ruckartige Bewegung nach vorne. Das gleiche ist vorige Woche schon einmal passiert, aber ich dachte, sie sei vielleicht müde und habe deshalb die Kontrolle verloren, und da kam es mir dumm vor, euch gleich zu alarmieren. Aber diesmal war sie gerade aus ihrem Mittagsschlaf aufgewacht, und es ist zweimal passiert. Es tut mir so leid.«
»Kannst du mir vormachen, was mit ihr passiert ist?«
Ich nehme ihr Rachel ab. Lourie setzt sich im Schneidersitz auf den Boden und beugt sich mit ausgestreckten Armen von der Taille aus nach vom. Sofort weiß ich, was Lourie gesehen hat. Ich habe das schon heute morgen gespürt, während Rachel getrunken hat — ein plötzliches Krümmen, ein Verlust jeglicher Kontrolle.
Als Lourie gegangen ist, hole ich den Merck-Manual aus dem Regal und finde auch gleich das, was ich suche.
»Infantile Krampfanfälle sind gekennzeichnet durch eine plötzliche Beugung der Arme, eine Vorwärtsbewegung des Rumpfes und ein Ausstrecken der Beine. Die Anfälle dauern oft nur wenige Sekunden, können sich aber mehrere Male am Tag wiederholen. Ihr Auftreten beschränkt sich auf die ersten drei Lebensjahre, häufig jedoch werden sie von anderen Anfallsformen abgelöst. Gewöhnlich kann eine Hirnschädigung nachgewiesen werden.«
Gewöhnlich kann eine Hirnschädigung nachgewiesen werden.
Irgend etwas Störrisches rührt sich in mir, so daß ich das, was ich da eben gelesen habe, wegschieben will. Paul und ich müssen weg von hier — wir müssen, sonst wird von uns nichts mehr übrigbleiben.
Die nächsten paar Stunden verbringe ich damit, für die Reise zu packen, Kleider für Regenwetter, für Hitze und für plötzliche Kälteeinbrüche. Ich mache Ausflüge auf den Speicher und in den Keller und plündere leise die Schubladen der Kinder, und das störrische Gefühl in mir breitet sich aus wie Hefeteig. Ich habe mich mit jeder furchtbaren Möglichkeit auseinandergesetzt, ich habe Monate mit der Suche nach der Wahrheit verbracht. Jetzt steht sie vor mir, doch sie ist zu heiß und zu grell, als daß ich ihr ins Auge blicken könnte.
Paul will Dr. Klibansky anrufen.
»Warum? Damit er uns schlechte Neuigkeiten mitteilt? Was haben sie alle denn jemals anderes getan, als uns schlechte Neuigkeiten zu überbringen? Nichts. Wir fahren weg«, sage ich so heftig, daß er mir nicht widerspricht.
Es ist jetzt wie ein Mantra, das mein müdes Gehirn durchfluttet — wir müssen wegfahren, wir müssen wegfahren.
Am nächsten Tag nehme ich den Zug nach New York und lade dort ein schweres Manuskript ab, das zwar von Anfang bis Ende‘vollständig ist, aber als ich es aus der Hand gegeben habe, weiß ich, daß es alle Zeichen meiner Erschöpfung aufweist. Später treffe ich mich mit Linda in der Innenstadt. Sie sagt mir, daß an dem Skript noch etwas gearbeitet werden muß, einen oder höchstens zwei Tage, und sie bittet mich, meine Reise zu verschieben. Ich schüttle den Kopf, der sich bleischwer auf meinen Schultern bewegt. »Nein«, sage ich.
»Einen Tag? Kannst du die Reise nicht einfach um einen Tag verschieben?«
Sie argumentiert, schlägt Alternativpläne vor, erinnert mich daran, daß der Druck nicht von ihr kommt, sondern von höherer Stelle. Mein Wunsch wegzufahren ist so stark, daß meine Urteilskraft vollkommen außer Gefecht gesetzt ist. Ich bin außer mir vor Erschöpfung. Ich kann keinen einzigen Tag länger hier bleiben.
Als ich von New York nach Hause komme, packen Paul und ich fertig. Wir stopfen alles in Schachteln und Tüten, die wir im Auto verstauen, essen dann wie Kinder nur zehn Körnchen Mais zu Abend und steigen die Treppe hoch zu unserem Bett. Paul flüstert süße Worte. Ich hatte ganz vergessen, daß er sie kennt. Er schlingt die Arme um mich, zieht mich an sich und sagt: »Ah, ich habe dich vermißt.«
Er ist nervös und unsicher. Vielleicht spürt er auch meine eigene Angst, denn obwohl ich möchte, daß er mir nahe ist, weiß ich doch, daß Schmerz und Lust in mir verschlungen sind wie Weinreben und daß das störrische Gefuhl in mir sterben wird, wenn ich zulasse, daß er mich zu tief berührt. Ich muß mich von ihm losmachen und mich allein in mich selbst zurückziehen.
Als er einschläft, hält er mich immer noch fest in seinen Armen. Ich fühle, wie ich in einen tiefen Brunnen falle, bis mir schwindlig wird und ich meine Widerstandskraft verliere. In meinem tiefsten Innern, dort, wohin der Trotz nicht vorgedrungen ist, weiß ich es. Ich denke an all die Male, als Rachel im Schlaf aufgeschrien hat oder als sie beim Trinken plötzlich ganz steif geworden ist, und ich weiß, daß auch das Anfälle waren.
Rachel erwacht, als der Tag gerade anbricht. Paul holt sie zu uns ins Bett und legt sie neben mich. Auf der Suche nach meiner Brust wackelt sie mit dem Kopf hin und her und packt dann die Brustwarze zwischen ihr hartes Zahnfleisch. Ihr rhythmisches Kneifen entspannt mich, und ich falle in einen leichten Schlaf.
Als ihr Körper diesmal steif wird, schrecke ich auf und mache mich los. Ihr Gesicht ist wächsern, die Augen nach oben verdreht, so daß nur das Weiße zu sehen ist. Sie ist tot, sie ist tot.; Irgend etwas in mir zerbricht, und ich schreie Paul an: »Das ist es! Jetzt hat sie wieder einen!«
Ich springe aus dem Bett und bleibe weinend und alleine stehen. Paul rutscht im Bett herüber und nimmt Rachel in seine Arme. Er streichelt ihre Stirn und flüstert: »Ah, süßes Baby, Papa ist ja bei dir«, während ich am anderen Ende des Zimmers stehe und mein Gesicht mit den Händen bedecke.
Die Zeit, bis Rachel anfängt zu jammern und wieder zum Leben erwacht, ist so lange. Eine Minute, zwei…
»Sie ist wieder in Ordnung«, sagt Paul.
Ich nehme die Hände vom Gesicht und entdecke, daß Charlotte mit ihrer Decke und ihrer Puppe unter dem Arm an der Tür steht.
»Es tut mir leid«, sage ich. Was ich sagen will, ist, daß mein Weinen ein Traum war und daß sich im wirklichen nichts verändert hat. »Es tut mir leid«, ist alles, was ich herausbringe.
Paul sagt: »Komm zu mir, Charlotte. Du auch, Mami.«
Er versucht, uns an sich zu ziehen, uns zu einer Art menschlichem Sandwich zusammenzupressen. Nur ich widersetze mich. Mami, die Zwiebel, bitter und hart.
»Wir fahren weg«, sage ich zu ihnen.
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23. August
In alten Zeiten habe ich Paul immer vorgelesen, wenn wir nach Maine fuhren. Bis zu der Gegend um New Haven herum konnte ich ziemlich flüssig lesen, aber dann wurde meine Stimme langsam heiser. Sobald Paul merkte, daß ich das Lesezeichen zwischen die Seiten legte, verlangsamte er das Tempo, schwenkte nach rechts, schnitt Öllaster und Winnebagos und ließ das Auto auf dem Seitenstreifen ausrollen.. »Ich bin müde«, sagte ich, und er stellte den Motor ab, warf den Kopf zurück und wartete, bis ich das Buch wieder öffnete. Dieses Spiel wurde während der ersten Jahre, die wir zusammen verbrachten, immer ausgeklügelter. Selbst an den heißesten Tagen kurbelte Paul die Scheiben hoch, damit es weniger laut war und ich meine Stimme schonen konnte. Er kaufte mir eine Leselampe, die man am Zigarettenanz‘ünder anschließen konnte. Auf diese Weise lasen wir eine ganze Menge Bücher.
Charlotte allerdings mag es nicht, wenn ich Paul vorlese. Sie fängt an zu weinen, hat schreckliche Langeweile und zerrt an ihrem Sicherheitsgurt herum, also fahren wir schweigend unsere abwechselnden zweistündigen Schichten und halten nur an, um zu tanken oder um zur Toilette zu gehen. Wir essen Butterbrote und Obst im Auto. Nach einer Weile fangen Charlotte und ich an, Lagerlieder auszutauschen. Sie singt: »Jake! und Jeannie sitzen auf dem Baum, k-y-s—s-s-r-g«, und ich singe »Das gute Schiff Titanic«. Später auf der Fahrt singt Paul: »Zigaretten und Whisky und wilde, wilde Frauen« — und Rachel rührt sich zum ersten Mal seit sechs Stunden.
Ich bin ungewöhnlich nervös am Steuer. Die Autobahn macht ohne Vorwarnung Kurven, Lastautos drängeln sich an meine Stoßstange oder stellen mir zu zweit in geheimer Absprache auf der mittleren Fahtspur eine Falle. Wir könnten hier auf der Straße umkommen, wir alle vier in einem einzigen Moment.
Paul merkt, wie verkrampft ich bin, und sagt: »Der weiß schon, daß du da bist, mach dir keine Sorgen«, und mir wird klar, daß er die Welt noch immer als einen Ort ansieht, in dem Logik herrscht. Für mich regiert die Willkür. Der Fahrer ist vielleicht betrunken oder unaufmerksam, seine Bremsen könnten versagen; vielleicht ist er ein Draufgänger oder ein Selbstmordkandidat. Die armen Idioten, höre ich die Leute sagen. Zuerst kriegen sie eine blinde Tochter, und dann sterben sie alle vier bei einem Autounfall.
Die Kinder schlafen beide, als wir nach Brunswick kommen, unsere beiden Fische, feucht und mit aufgesperrten Mündern. Im Auto riecht es nach überreifen Bananen und Apfelsaft. Paul öffnet das Fenster, um die kühle Luft hereinzulassen, und beschleunigt das Tempo auf dem langgestreckten Hügel, der in die Stadt hineinführt. Es ist noch da, es ist alles noch da, das Postamt, die Kirchen, das College, die lange, gerade Straße, die zu den Inseln hinausführt.
Unser Haus steht wohlbehalten unter den Bäumen. Wir lassen unsere schlafenden Kinder im Auto und gehen durch das nasse Gras. Die Sonne steht tief und die Bucht funkelt. Paul legt den Arm um meine Schultern, und wir lauschen beide den Wellen, die gegen ein Boot plätschern.
»Meinst du, wir sollten Klibansky morgen anrufen?« frage ich.
Das ist das erste Mal, daß wir Rachel erwähnen.
»Am Montag«, antwortet er. »Bis dahin wird mit ihr alles in Ordnung sein.«
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Decken und Wände des Häuschens sind aus knorrigem Kiefernholz, und die Astlöcher treten oft in Paaren auf, so daß sie aussehen wie Augen. Vor einem Jahr habe ich Charlotte beigebracht, sich diese Tieraugen anzusehen, damit sie nicht aufwachte und sich vor ihnen erschreckte. Und jetzt, am ihrem ersten Morgen in der Hütte, kommt sie zu uns ins Bett gekrochen, streckt den Arm nach oben und erzählt uns die Namen der Tiere: ein Waschbär ist da, eine Cheshire-Katze, ein Bär. Sobald ich richtig wach bin, muß ich wieder an Rachels Anfälle denken.
Ich mache Wasser heiß für den Tee und stelle Brot und den übriggebliebenen Käse auf den Tisch. Das Haus liegt umgeben von Nadelgehölz, und die Luft ist erfüllt vom Duft der Tannennadeln. Paul hebt Rachel in ein Laufgestell, das einmal Charlotte gehört hat, und dann sitzen wir am Fenster, essen und planen den Tag. Die Nervosität, die sich Zu Hause durch unsere Gespräche zieht, ist aus unseren Stimmen schon fast verschwunden. Paul nennt mich »Süße« — diesen Namen habe ich schon seit Monaten nicht mehr gehört —,’ und als ich äufstehe, um den Tisch abzuräumen, zieht er mich an sich, um mich zu küssen, bevor ich weggehe.
Es ist Ebbe, und die Bucht ist glasklar wie ein See. Ein Reiher steht reglos auf einer mit Muscheln bedeckten Felsbank. Charlotte knabbert ein Stück Käse und möchte dann hinaus ins Freie. Zu Hause kann sie nicht allein auf die Straße gehen oder Freunde besuchen, ohne daß jemand sie begleitet. Hier sagen wir ihr nur: »Geh aber nicht hinunter zum Wasser«, und dann hören wir, wie die Tür ins Schloß fällt.
Charlotte hockt in den Tannennadeln in der Nähe des Hauses sammelt Tannenzapfen, dunkelgrüne Moospolster und weiße, glimmergeäderte Steine.
»Sie ist schön«, sagt Paul.
Schön und unschuldig. Sie weiß nichts, von Falten, von Geld, Krankheit, Tod. Sie ist niemals deprimiert.
Rachel jammert, und ich schaue vom Fenster weg. Sie wirft die Arme empor und macht eine ruckartige Bewegung nach vorn. Paul hebt sie aus dem Laufgestell und drückt sie an seine Brust. Weder seine Liebe noch seine Kraft können verhindern, was da mit ihr passiert. Ihr Körper krampft sich noch einmal zusammen. Er küßt sie auf den Kopf und geht mit ihr im Zimmer herum, hin und her, bis die Krämpfe schließlich vorüber sind.
Nach dem Frühstück holen wir das Boot unter dem Haus hervor und schrubben Schmutz und Spinnweben von seinem Rumpf. Als wir damit fertig sind, rufen wir Charlotte. Sie kommt angerannt mit einer Handvoll Tannenzapfen, die sie uns einen nach dem anderen vorführt: angefaulte, zerdrückte, verformte Exemplare. Das sind ihre Schätze, jeder von ihnen ist schön für sie. Für sie sind diese lädierten Tannenzapfen kein bißchen weniger wert als die, die fest, gerade und gesund gewachsen sind.
Wir ziehen Charlotte eine orangefarbene Schwimmweste über den Kopf und schlingen die Bänder um ihre Brust und um ihre Mitte. Die kleinste Weste ist immer noch zu groß für Rachel und drückt ihr das Kinn nach oben. Sie weint, als ich sie zum Wasser hinuntertrage, und weint wieder, als ich sie zwischen meine Beine ins Kanu setze.
Der Wind schaukelt das Boot hin und her, Paul muß tüchtig paddeln und spritzt uns dabei naß. Charlotte lacht, und Rachel heult. Ich stelle mir vor, daß ich sie ins kalte Wasser fallen lasse — um wieviel leichter wäre das Leben dann für alle. Ich kann spüren, wie ihr weicher, rundlicher Körper langsam in das Wasser der Bucht gleitet. Ich weiß, wie sie dann aussehen würde, weil ich sie vorgestern so gesehen habe, mit wächserner Haut und nach oben verdrehten Augen. Ich habe sie schon sterben sehen. Ich stelle mir vor, wie sie mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibt, ich stelle mir die Beerdigung vor, wie die meiner Schwester an einem sonnigen Tag. Ich stelle mir vor, wie wir die Spielsachen in ihrem Zimmer zusammenpacken, in dem Zimmer, das wir für sie gestrichen und tapeziert haben, wie wir das Tuch abnehmen mit den Kreuzstichfiguren, die viermal so groß sind wie die auf dem Sticktuch von Charlotte, weil meine Mutter der festen Überzeugung war, daß Rachel eines Tages würde sehen können. Das alles male ich mir aus, und Rachel beginnt leise zu jammern, weil ich sie zu fest an mich presse.
Auf einer grünen Insel inmitten der Bucht machen wir halt und nehmen unsere Plastiktassen mit, um Blaubeeren zu pflücken. Nester von Fischadlern thronen hoch oben auf nackten Baumästen, die männlichen Vögel ziehen über unseren Köpfen Kreise und kreischen heiser, während wir vorbeiwandern. Die Beeren sind winzig und schmecken sehr süß. Wir pflücken und pflücken und kehren mit vollen Bäuchen und leeren Tassen zurück.
Charlotte balanciert auf den Granitfelsen, die zum Meer hin abfallen. Ich ziehe Rachel aus und setze sie an einer ganz flachen Stelle ins Wasser. Als sie das kalte Wasser an ihrer Haut fühlt, holt sie tief Luft und wirft die Arme empor, wie sie es auch tut, wenn ein Krampf sie überfällt. Dieses Mal gehen die Arme langsam wieder herunter, mit den Handflächen nach unten wie um aufs Wasser zu patschen. Das alles geschieht zu langsam, daß es einem vorkommt, als sehe man einen Film in Zeitlupe. Rachel sitzt da mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten, öffnet dann langsam die eine Faust und schlägt zaghaft ein bißchen auf die Wasseroberfläche, und als sie dann die kleinen Wasserspritzer fühlt, haut sie das nächste Mal ein bißchen fester zu. »Sie planscht!« ruft Charlotte. »Mami, schau doch, sie planscht!« Rachel reckt das Kinn nach oben und beginnt ganz plötzlich, mit aller Kraft auf das Wasser einzuschlagen. Sie kreischt wie eine Möwe, und das Wasser spielt in aufgewühlten Wellen um sie. Sie lacht, sie planscht, und ihr Gesicht ist ganz naß. Paul steht neben mir und schaut ihr zu. Er sagt kein Wort, aber ich weiß, was er denkt, denn es ist dasselbe, was ich denke. Genau wie ein Baby, wie irgendein Baby. Wie ein ganz normales Baby.
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Am Montagmorgen rufe ich Dr. Klibansky an. Er ist in Urlaub, und eine Stunde später ruft uns Dr. Gutman, ein Assistenzarzt, zurück. Ich berichte ihm, daß Rachel an optischer Nervenhypoplasie leidet, und daß in ihrem letzten EEG in der Hinterhauptregion nadelförmige Impulse mit niedriger Amplitutde festgestellt worden sind. Ich beschreibe, was Lourie gesehen hat und auch den Anfall, den Rachel am Samstagmorgen im Bett gehabt hat, daß sie dabei ausgesehen hat, als wäre sie tot. Dr. Gutman schweigt einen Augenblick, und alles, was ich höre, ist das Gurgeln eines Außenbordmotors im Leerlauf draußen in der Bucht.
Dann sagt der Arzt: »Bringen Sie das Kind zu mir, damit ich sie mir anschauen kann.«
»Heute?«
Paul kommt ins Zimmer, er trägt Rachel auf der Hüfte.
Der Außenbordmotor heult auf und das Boot fährt los.
»Ich frage das, weil wir momentan in Maine sind.«
»Wie lange haben Sie vor, dort zu bleiben?«
»Noch eine Woche.«
»Dann beobachten Sie das Kind. Wenn sie eine weitere Attacke bekommt, rufen Sie mich sofort an. Wenn nicht, können Sie abwarten. Aber schieben Sie es nicht auf, wenn Sie wieder zu Hause sind.«
Ich kenne diesen Mann nicht, und deshalb kann ich mir auch nicht vorstellen, was in diesem Moment in seinem Kopf vorgeht.
»Es gibt einen Flugplatz eine Stunde von hier entfernt. Ich könnte noch heute morgen ein Flugzeug nehmen und wäre am späten Nachmittag mit meiner Tochter bei Ihnen. Bitte sagen Sie mir, wenn ich das tun soll.«
Wieder gibt es eine Pause. »Sehen Sie, wie sie sich fühlt — aber rufen Sie mich umgehend an, wenn sie wieder eine Attacke bekommt.«
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Rachel bekommt mehrere Male am Tag Krämpfe. Es tut weh, das mitanzusehen, denn es ist für ihren kleinen Körper eine Qual, und sie beginnt zu weinen, aber die Krämpfe selbst versetzen mir keinen Schrecken. Es sind kleine, schluckaufartige Krämpfe — solche, wie sie Lourie gesehen hat; sie scheinen belanglos zu sein im Vergleich mit dem Anfall, den sie am Samstagmorgen im Bett hatte. Aber dennoch ist es nicht mehr nur ein Krampf alle paar Tage, sondern eine ganze Reihe von aufeianderfolgenden Krämpfen, von denen der zweite schon einsetzt, wenn das vom ersten verursachte Weinen gerade aufgehört hat, und dann überfällt sie ein dritter — und ein sechster und ein siebter.
Wenn Paul da ist, nimmt er die Stoppuhr und mißt die Uhrzeit, wann der Krampf auftritt und wie lange er dauert. Er benutzt dazu dasselbe gebundene Buch, das er auch benutzt hat, um die Abstände meiner Wehen zu notieren, als ich mit Charlotte schwanger war. Als er mich bittet, über die Krämpfe Buch zu führen, wenn er nicht da ist, nehme ich ihn nicht ernst. Listen, Graphiken, Flußdiagramme, so etwas hat ihn schon immer begeistert. Das hier sind keine »Attacken«, und ich will auch nicht ihre Zeitdauer registrieren. Es sind einfache leichte Krämpfe, die sie überfallen, wenn sie schläft oder wenn sie trinkt oder wenn sie gerade aufgewacht ist. Wenn sie kommen, drücke ich Rachel fest an mich, und wenn sie wieder aufhören, wende ich mich anderen Dingen zu.
An unserem vierten Tag in Maine bekommen wir Besuch von einem Paar aus Israel, das wir im Geburtsvorbereitungskurs kennengelernt haben, als ich mit Rachel schwanger war. Hannah ist eine irakische Jüdin, eine kleine, temperamenwolle Frau mit schwarzem Haar und schWarzen Augen; ihr Mann Uri ist blond und herzlich. (Ein Däne und eine Pakistanerin, hatten wir gedacht, als wir sie vor einem Jahr am anderen Ende des Raums zum ersten Mal sahen.) Paul und ich haben so wenig Zeit hier oben, daß wir eigentlich nicht vorgehabt hatten, jemanden einzuladen, aber bei Uri hat man soeben Lymphknotengeschwulste in fortgeschrittenem Stadium festgestellt, und seine Überlebenschancen sind äußerst gering.
Wir sind schon eine Gruppe mit schlimmen Schicksalen, wenn man sich die Tatsachen einmal aufzählt: Paul und ich mit unserem blinden Baby, das an frühkindlichen Krämpfen leidet (»gewöhnlich kann eine Hirnschädigung nachgewiesen werden«); Uri mit Krebsgeschwulsten im Knochenmark, im Darm und im Lymphsystem, der seine letzte Reise macht, bevor er eine Chemotherapie beginnt. Und doch sind die Tage erfüllt von einer Wärme und einer stillen Freude gleich von Anfang an, als Hannah meine beiden Töchter in die Arme schließt und sie in einer großen, warmen Umarmung festhält, während Uri seine Taschen auf den Boden stellt, tief Luft holt und sagt: »Ah, wunderbar!«, sich dann umdreht und zur Bucht hinabgeht. Ich folge ihm und sehe, wie sein Gesicht vor Freude strahlt.
Er und Hannah liegen abwechselnd in der Hängematte aus Yucatan, oder sie paddeln hinaus zu den Inseln. Die Sonne scheint strahlend Tag für Tag. Wir kaufen Lebensmittel ein und fahren nach Mackerel Cove, um uns den Sonnenuntergang anzusehen. Wir bleiben abends noch lange auf und reden — nicht über Leben und Tod, sondern über ganz banale Dinge — über unsere Lieblingskrimis, über unsere Theorien, wie man Kinder am besten dazu bringt, daß sie nachts durchschlafen, über die Reisen, die wir gemacht haben, als wir noch nicht verheiratet waren. Uris Krebs ist mir immer im Bewußtsein, genauso, wie ich mir immer über Rachels Schwierigkeiten bewußt bin. Uris Hals ist geschwollen, und das helle Haar, das sich wild auf seinem Kopf lockt, wird bald beginnen auszufallen. Meine Tochter macht mehrmals am Tag ruckartige Bewegungen von der Mitte aus nach vorn. Aber der Himmel ist blau, die Bucht schimmert, und die Schönheit, die uns umgibt, ist stärker als unsere Angst.
Hannah und Uri essen zum ersten Mal im Leben Hummer und befolgen dabei sorgfältig Schritt für Schritt die Anweisungen, die auf ihrem Platzdeckchen stehen. Uri erzählt uns, daß es in Jerusalem eine Straße gibt, die nach seinem Vater benannt ist, und Hannah berichtet, wie sie und Uri sich vor vier Jahren an der Universität kennen- und liebengelernt haben. Am nächsten Tag gehen Uri und ich schwimmen. Wir sind weit draußen, als Uri anhält und beginnt, Wasser zu treten. Sein Gesicht, das über dem Meer auf und ab hüpft, hat wieder diesen wunderbaren, vor Freude strahlenden Ausdruck. »Also, das ist das Leben«, sagt er.
Einmal, als Hannah und ich durch den Wald gehen und Pilze sammeln, die zu essen keiner von uns den Mut aufbringen wird, erzählt sie mir, daß sie über Uris Krebserkrankung nachgelesen hat. »Er wird sterben, das weiß ich«, flüstert sie, und ihre dunklen Augen sind voller Tränen. Ein andermal schaue ich von Hannahs und Uris kleinem lungen, der vier Tage älter ist als Rachel, der läuft und klettert und von Betten und Tischen mit wie zu Flügeln ausgebreiteten Armen herabhüpft und dabei ruft: »Abba! Aama!«, hinüber zu unserer Tochter, die nichts tut als zu sitzen und zu sitzen, und in diesem Augenblick weiß ich mit furchtbarer Sicherheit, daß mein letzter Traum dahin ist.
Als Uri und Hannah abgefahren sind, rufe ich Linda an und sage ihr, daß ich zum Arbeiten bereit bin. Sie leitet alles in die Wege, um hierherzufliegen, und am folgenden Nachmittag fahre ich nach Portland, um sie abzuholen. Wir machen uns auf unseren verschlungenen Heimweg und halten unterwegs an, um auf dem Bauernmarkt Brot und Gemüse einzukaufen.
Als wir zum Ferienhaus kommen, sehen wir als erstes Paul, der mit Rachel auf dem Arm auf und ab geht. »Diesmal waren es zehn«, sagt er. »Sechs Minuten lang hat es sich hingezogen. Es ist besser, wenn wir Dr. Gutman noch einmal anrufen.«
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Dr. Gutman ruft uns um neun Uhr abends zurück. Ich beschreibe ihm die Anhäufung von Krämpfen, die wir beobachtet haben, »kleine, wie Schluckauf«, und warte, daß er mich beruhigt. Sie haben sich unnötige Sorgen gemacht, mit ihr ist alles in Ordnung. Nach all der Zeit, all den bitteren Briefen und Untersuchungen, erwarte ich noch immer, daß jemand kommt und mich auslacht und neckt, weil ich mir zu viele Sorgen mache.
»Diese Anfälle gelten als neurologischer Notfall. Sie haben die Tendenz, lawinenartig anzuwachsen, und wenn es erst einmal soweit ist, sind sie extrem schwierig unter Kontrolle zu halten. Ich möchte, daß Sie Ihre Tochter hierherbringen.«
»Okay.«
»Warten Sie nicht. Ich werde ihr ein Zimmer in der Klinik besorgen, und dann fangen wir sofort mit der Behandlung an.«
»Wie lange wird sie im Krankenhaus bleiben müssen?«
»Ein oder zwei Wochen — das hängt von Ihnen ab.«
Von mir? Ich stelle mir vor, wie sie in diesem Stahlkäfig liegt, wie sie morgens weint und niemand da ist, der sie in den Arm nimmt. Ich weiß nicht, was ich ihr bedeute, wenn ich ihr überhaupt etwas bedeute, aber ich kann sie auf keinen Fall im Stich lassen.
»Kann ich bei ihr bleiben?«
»Das werden Sie müssen.«
Er gönnt mir eine heitere Beschreibung der Kinderstation, dort sei eine andere, »menschlichere« Atmosphäre als in der Krankenhausstadt. »Es wird Ihnen dort bestimmt gefallen«, sagt er. »Es ist wie in einem Hotel.« Seine Worte können jedoch die unheilvollen Pausen, die zwischen ihnen entstehen, nicht ganz überdecken, und plötzlich packt mich das Bedürfnis, alles zu wissen. Ich erkundige mich nach den Anfällen und danach, was sie für Rachels Zukunft bedeuten können.
»Bei Kindern in ihrem Alter sind Krampfanfälle für gewöhnlich Zeichen einer Schädigung des Gehirns.«
»Was für eine Art von Schädigung? Ich will Sie nicht festlegen, aber ich muß einfach alles wissen.«
»Kinder mit infantilen Krampfanfällen sind oftmals zurückgeblieben. Nicht immer, aber oft — sehr oft. Es gibt da eine ganze Bandbreite von Möglichkeiten, die von Kindern reicht, die vor Einsetzen der Krämpfe nie irgendwelche Auffälligkeiten gezeigt haben, bis zu solchen, die bereits auf mehreren Gebieten zurück sind. Wie alt ist Ihre Tochter denn?«
»Fast ein Jahr.«
»Läuft sie?«
»Nein.«
»Krabbelt sie?«
»Nein.«
»Zieht sie sich zum Stehen hoch?«
»Nein.«
»Was soll ich da sagen? Bei Kindern, die schon vor Einsetzen der Anfälle Probleme haben, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß sie weitere Probleme bekommen.«
»Was für Probleme?«
»Na ja…es treten eine ganze Menge psychomotorischer Störungen auf.«
Es folgen die Einzelheiten. Wann und wohin ich kommen soll. Ich notiere Zimmernummern und Uhrzeiten auf einem Stück Papier, das Paul mir schnell hingeschoben hat, aber meine Gedanken sind inzwischen schon bei Charlotte. Sie fängt nächste Woche mit der Vorschule an, und sie hat keine Schuhe. Den ganzen Sommer haben wir schon von diesem glücklichen Tag gesprochen, davon, wie wir alle vier zusammen losziehen werden, Charlotte in unserer Mitte, mit dem hölzernen Apfel um den Hals, in einem nagelneuen Kleid und Schuhen, die wir noch würden kaufen müssen. Es sollte ein ganz besonderer Tag sein, und jetzt würde er für immer von Traurigkeit überschattet bleiben.
Nachdem ich aufgelegt habe, sage ich zu Paul: »Charlotte hat keine Schuhe.«
»War das Gutman? Was hat er gesagt?«
»Die kleinen Krämpfe sind auch Anfälle. Wir müssen Rachel ins Krankenhaus bringen, bevor sie eine Lawine von Anfällen auslösen. Sie wird wahrscheinlich ein oder zwei Wochen bleiben müssen…Charlotte kommt in zehn Tagen in die Schule, und ich habe ihr noch keine neuen Schuhe gekauft.«
»Hat er gesagt, welche Schäden, die Anfälle verursachen können?«
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sage ich.
»Beantworte meine Frage — verursachen die Anfälle irgendwelche Schäden?«
»Ja. Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht mehr daran, was er gesagt hat.«
»Wir hätten sie sofort ins Krankenhaus bringen sollen.«
»Aber ich habe Gutman doch gefragt, ob wir lieber nach Hause fahren sollten.«
»Und was hat er geantwortet?«
»Daß es in Ordnung ist, wenn wir abwarten. Daß wir sie beobachten sollten und dann, wenn wir wieder daheim sind…«
»Er hat gesagt, wir sollten sie beobachten und ihn anrufen, wenn sie noch eine Attacke bekommt, das waren doch seine Worte, oder?«
»Ja, okay, das waren seine Worte, und wir bringen sie ja auch ins Krankenhaus, oder etwa nicht?«
»Aber sie hat doch die ganze Zeit über Anfälle gehabt. Hast du mir nicht gesagt, daß du glaubst, sie hat diese Anfälle nachts schon seit längerer Zeit? Wir hätten sie sofort ins Krankenhaus bringen sollen.«
»Es ist meine Schuld, ich versteh schon. Es ist meine Schuld. Was willst du denn von mir?«
»Ich habe nicht gesagt, daß es deine Schuld ist. Ich habe gesagt, daß es falsch war, hierherzukommen.«
»Können wir bitte aufhören zu streiten? Es ist für mich genauso furchtbar wie für dich.« Ich schaue ihn an und warte auf eine Antwort. »Können wir nicht wenigstens Freunde sein?«
»Fang an zu packen«, sagt er nur, und ich komme mir vor wie eine Ausgestoßene.
Ich haste durch die kleinen Zimmer und hinaus zur Wäscheleine, an der unsere Badeanzüge und unsere Handtücher hängen. Ich komme an den Tannenzapfen und Steinen vorbei, die Charlotte vor der Tür aufgebaut hat, und ich muß wieder daran denken, daß Sie mit der Schule anfängt, während ich nicht da bin, und ohne ein anständiges Paar Schuhe. Ich denke an die Tage, die ich hier verbracht habe. Und ich kann nichts Wunderbares mehr entdecken an meinem Vergessen, sondern nur noch, daß es gefährlich und verrückt war. Ich habe einfach ignoriert, was mit Rachel los ist. Ich war erschöpft, ich habe mich geweigert, die logischen Schlüsse zu ziehen, und jetzt haben sich ihre Anfälle gehäuft. Ich kann nicht fassen, was ich da getan habe.
Noch einmal muß ich Pauls und meine Eltern anrufen, Pauls, damit sie zwei Wochen früher als vorgesehen aus Florida zurückkommen, meine, damit sie sich um Charlotte kümmern, bis Pauls Eltern da sind. Es ist wieder genauso schlimm wie vor einem Jahr, als ich sie angerufen habe, um ihnen zu sagen, daß Rachel blind sei. Jetzt ist sie zwar nicht mehr vollkommen blind, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit hirngeschädigt.
Ich wähle zuerst die Nummer meiner Eltern, und als ich die Stimme meiner Mutter höre, beginne ich zu weinen. Ich sitze auf dem Bett, das Paul aus Treibholz gebaut hat und das er so hoch gemacht hat, daß wir auf die Bucht hinaussehen können, wenn wir aufwachen, und ich weine, bis mir alles so weh tut, als hätte mich jemand geschlagen. Obwohl das, was ich sagen muß, eigentlich ziemlich einfach ist, ist doch alles, was herauskommt, als ich schließlich wieder sprechen kann: »Charlotte hat keine Schuhe!«
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Charlotte weiß von nichts und spürt doch alles in ihrem kleinen Körper. Sie ist nervös und gereizt, und kaum sitzen wir im Auto, besteht sie darauf, daß ich singe. Volkslieder, Beatleslieder, biblische Lieder, Lieder aus Shows, Scherzlieder, und die ganze Zeit über bin ich in Gedanken bei den abgetragenen kleinen Turnschuhen an ihren Füßen und dabei, daß ihr großer Tag nicht wirklich besonders sein wird, Wenn sie diese Turnschuhe anziehen muß. Ein Lied nach dem anderen singe ich, während Paul schweigend am Steuer sitzt und Rachel schläft.
Wir kommen spät bei meinen Eltern an und fahren mit Rachel am nächsten Morgen in aller Frühe weiter. Eine Weile versuche ich, mit Paul im Auto Konversation zu machen, aber ich merke bald, daß er von dem, was ich sage, gar nichts aufnehmen kann. Jetzt, wo wieder harte Zeiten angebrochen sind, hat Paul sich weit von mir entfernt, er ist in seiner eigenen Umlaufbahn, völlig von mir getrennt. Ich kann ihn nicht erreichen. Ich kann nicht einmal versuchen, ihn an die Liebe zu erinnern, die er zwei Tage zuvor empfunden hat, denn diese Erinnerung ist für ihn überhaupt nicht mehr zugänglich.
Als wir im Krankenhaus ankommen, warte ich in der Empfangshalle, und Paul bringt Rachel zum EEG. Die ganze Prozedur, die notwendigen Papiere durchzugehen und auszufüllen, dauert länger als eine halbe Stunde, und als ich wieder zu Paul komme, ist Rachel bereits an die Elektroden angeschlossen.
Paul sitzt mit Rachel in den Armen auf einem Schaukelstuhl und wiegt sie sanft, leise vor sich hinsingend, bis sie einschläft. Über welche Reserven von Zärtlichkeit für sie er doch verfügt. Etwas weniger hat er für Charlotte, die mehr von ihm will, als nur in die Arme genommen zu werden, wenn sie Zuwendung nötig hat. Und noch weniger hat er für mich, obwohl es in Wirklichkeit seine Wärme ist, die ich mir wünsche, seine Arme, jemand, der mir hilft, Frieden zu finden.
Rachels Gehirnströme werden auf Papier aufgezeichnet, auf meterlangen Papierstreifen, die sich über den Boden ausbreiten. Sie schläft fest, bis das Stroboskop angeschaltet wird. Dann zuckt sie in Pauls Armen zusammen.
Paul bleibt, bis Dr. Gutman kommt, und danach bringt er mich noch zu meinem Zimmer. Sobald er Rachel in den Stahlkäfig gelegt hat, sagt er auf Wiedersehen. Er dreht sich einfach um und geht, kein Kuß für mich, nichts, woran ich mich festhalten kann.
»Warte!« rufe ich ihm nach. Er schaut auf die Uhr und dann auf seine Füße, und es ist, als wären wir wieder in jenem höhlenartigen Foyer von damals, nachdem man uns Rachels Diagnose mitgeteilt hat. Alles, was ich weiß, ist, daß die schlechten Neuigkeiten eine Mauer zwischen uns errichtet haben und daß ich mit den Fäusten gegen diese Mauer trommle, während Paul sich nur abwenden will, und daß wir nach fast einem Jahr, in dem wir nun mit unseren Problemen gelebt haben, überhaupt nichts dazugelernt haben.
»Was denn?«
»Sorgst du dafür, daß Charlotte Schuhe bekommt?«
Er wirft den Kopf hoch. »Ich werde im Stoßverkehr steckenbleiben.«
»Krieg ich einen Kuß?« Meine Stimme klingt klein und erbärmlich.
Paul küßt meine Wange und geht, während ich denke: Du bist jetzt ein großes Mädchen. Du bist allein.
Dem Baby die Nadel geben
September
Es gibt nicht viel zu tun, also wandére ich die meiste Zeit die hellen Flure des Krankenhauses auf und ab — orangefarbene Flure in der chirurgischen Abteilung, gelbe in der kardiologischen, grüne in der Neugeborenenstation. Rachel reitet auf meiner Hüfte, den Kopf an meine Brust gelehnt. Sie trägt einen Schlafanzug, auf dessen Rückseite der Name des Krankenhauses gedruckt ist. Überall hält man uns an: Schwestern, Besucher und Patienten in Pantoffeln. Ein Pfleger, der einen zahnlosen Mann zum Aufzug fährt, stellt einen Fuß zwischen die sich schließenden Türen, um Rachel den Kopf zu tätscheln. »Ist sie nicht ein süßes Püppchen?«
»Es ist vielleicht altmodisch, das zusagen, aber sie ist eine kleine Shirley Temple«, schwärmt eine Frau mittleren Alters in einem Seidenkimono. Ihre kunstvolle Perücke ist ihr zu weit nach vorne gerutscht. »Weshalb ist sie denn hier?«
»Ich lerne, ihr Spritzen zu geben.«
Die Frau stößt einen Pfiff aus, um Rachels Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, beugt sich zu ihr und schnalzt mit der Zunge. Nach all den Monaten, die inzwischen vergangen sind, weiß ich immer noch nicht, wie ich erklären soll, weshalb mein Baby seinen Kopf an meiner Schulter versteckt und die Augen gesenkt hält. »Sie ist ein bißchen schüchtern«, sage ich diesmal.
»Es wird ihr bald wieder gutgehen, Gott segne sie.«
»Das wird es nicht« , erwidere ich.
»Seien Sie nicht so verrückt, sie ist so schön, daß es ihr in Null Komma nichts besser gehen wird.«
Die Frau hat ihre eigenen Probleme — ihre Haare sind ihr ausgefallen; sie hat falsche Zähne. Sie möchte von mir nur die Bestätigung dafür haben, daß Schönheit bedeutet, daß jemand auch gut und gesund ist, und daß meinem Baby nichts weiter fehlt als ein schlimmer Schnupfen. Alles, Was ich tun müßte, ist zu nicken und ihr beizupflichten, dann wäre sie schon froh, aber das kann ich nicht tun, denn ich kann es mir nicht erlauben, an so etwas zu glauben, nicht einmal eine Sekunde lange. »Danke«, sage ich schließlich. Das ist das Beste, was ich tun kann.
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»Zu Hause« bedeutet für mich in diesen Tagen die Kinderabteilung, in der die Wände kobaltblau gestrichen sind, mit einem weißen Streifen, der sich durch die Korridore zieht, und wo glitzernde Sternchen von der Decke herabhängen. Ich bin gerade auf halbem Weg zu meinem Zimmer, als ich an einen Freund denken muß, mit dem ich vor vielen Jahren zusammen war und der in seiner psychedelischen Frank-Stella-Periode die Wände unserer Wohnung genauso angestrichen hat — kühne Streifen quer über die Wände und Sternbilder über unserem Bett. Es ist ein seltsames Gefühl, jetzt an ihn zu denken, sich an ein Leben zu erinnern, das von meiner Gegenwart so weit entfernt ist, daß es scheint, als wäre es die Geschichte einer anderen Person. Es sind auch nicht nur diese vergangenen Tage in East Village; die ganze Welt ist in den Hintergrund gerückt: frische Luft, chinesisches Essen, Charlottes Körper, der Klang meines eigenen Lachens.
Unsere Zimmergenossin ist sechs Wochen alt und wiegt fünf Pfund. Tagsüber kümmert sich ein altes Großmütterchen aus Irland um sie, eine verschrumpelte, kleine alte Jungfer in einer kurzen, weißen Uniform, die schon für dreihundertundvier Kinder gesorgt hat und dieses hier »mein Baby« nennt, so daß ich einen verstohlenen Blick auf die Krankenkarte werfen muß, um herauszubekommen, welchen Namen das Baby hat: Constance Tyron Hewitt. Mrs. Hewitt, die biologische Mutter, ist eine nervöse Blondine mit verkniffenem Gesicht und einem flachen Hinterteil, die einmal pro Tag unangemeldet hereinschneit, ihre Einkaufstasche absetzt, zu mir sagt: »Hallo, meine Liebe, wie geht es der Kleinen?« und sich, bevor ich antworten kann, wegdreht und Zustände bekommt wegen den blauen Flecken, die ihr Baby auf dem Arm hat, wegen ihrer erhöhten Temperatur, dem Durchzug im Zimmer und der Nachlässigkeit der Kinderärzte. Es schließt sich ein großes Gerenne an, Schwestern, Assistenzärzte und Kinderärzte rasen herein und wieder hinaus. Schließlich sinkt Mrs. Hewitt erschöpft in Nannys Schaukelstuhl, beklagt sich bei mir über Nanny und das ganze Krankenhaus, macht ein paar Telefonanrufe, in denen sie dieselben Beschwerden wiederholt, und geht dann wieder. Nanny nimmt ihren Schaukelstuhl wieder in Besitz, wiegt ihr Baby und summt vor sich hin: »Ah, du armes Ding mit so einer bösen, alten Mutter.« Wenn das Kind schließlich eingeschlafen ist, sagt sie zu mir: »Die Mutter liebt sie nicht, nein, kein noch so winziges bißchen. Ich bin diejenige, die das Kleine gern hat.«
Aber wenn das Baby bei Nacht wach wird, was etliche Male vorkommt,. dann bin ich die einzige, die da ist. Ich scheue davor zurück, sie anzufassen, denn sie ist viel winziger als eines meiner eigenen Kinder bei der Geburt, und außerdem ist ihr Arm mit einem Tropf verbunden, also laufe ich mit verquollenen Augen auf den Flur und rufe: »Das Baby ist wach! Kommen Sie bitte, und helfen Sie dem Baby!«
In der dritten Nacht, als ich hinauslief, um »Das Baby ist wach!« zu rufen, erschien eine dunkelhaarige Schwester in einer zu kleinen Uniform und sagte: »Es ist den Eltern nicht gestattet, Nachthemden zu tragen.«
»Und was ist mit Schlafanzügen?«
»Eltern dürfen überhaupt keine Schlafkleidung tragen.«
Ich hatte nicht besonders gut geschlafen, und ich spürte, wie meine Augäpfel pochten. Das Geschrei des Babys war dabei, sich zu überschlagen. »Und worin soll ich dann schlafen?«
»In Ihren Straßenkleidern.«
»In meinen Straßenkleidern? Wollen Sie mir damit sagen, daß Sie die Mütter, die wochenlang hierbleiben, auffordern, in ihren Straßenkleidern zu schlafen? Ich meine, mein Gott, machen Sie es hier doch ruhig richtig gemütlich, daß man sich wie zu Hause fühlen kann.«
»Dies hier ist nicht Ihr Zuhause«, erwiderte die Schwester und klappte dabei die Augen zu. »Wir sind hier in einem Krankenhaus, und auf den Korridoren laufen pubertierende Jugendliche herum. Ambulante pubertierende Jugendliche.«
Tatsächlich war der Flur ziemlich leer, denn auf dieses Wochenende fiel der 1. Mai, und es waren keine Operationen anberaumt worden.
»Zeigen Sie mir doch mal einen gottverdammten pubertierenden Jugendlichen. Na los doch! Na los, nur einen einzigen, verdammt noch mal!«
Ich schrie, und das Baby schrie. Die Schwester sagte nur: »Das sind die Krankenhausregeln«, und rauschte an mir vorbei.
Seither ist viel Zeit vergangen, und ich habe gelernt, pragmatisch zu handeln. Ich ziehe zum Schlafen weiterhin mein Nachthemd an, aber ich renne nicht mehr auf den Flur, sondern rufe statt dessen von der Tür aus: »Bitte kommen Sie und helfen Sie dem Baby!« Ich mache keinen Aufstand mehr über die Demütigung, die es für die Eltern bedeutet, daß sie die öffentlichen Toiletten benutzen sollen, sondern ich gehe still und leise zu den Toiletten für die Patienten, vorbei an den winzigen, nahe am Boden gebauten Klosettschüsseln, bis ich zu der einzigen für Erwachsene komme. Ich schimpfe nicht mehr über die Zuzahlung, die die Eltern für einen Teller Krankenhausessens entrichten müssen, sondern bestelle einfach für Rachel eine große Portion, die ich dann zwischen uns aufteile. Damit bin ich gerade beschäftigt, als Dr. Gutman hereinkommt.
Joghurt und Saft bekommt Rachel, das überbackene Käsebrot ist für mich. Der Käse hat eine leuchtend orangerote Farbe; ein schwarzes Spitzenmuster bedeckt das Brot. Das Ganze ist sehr hübsch und sieht aus, als sei es präpariert, um der Nachwelt erhalten zu bleiben. Dr. Gutman begrüßt Nanny und sagt: »Hallo, hübsches Baby«, während er mit dem Finger über Rachels Wange streichelt. Er ist jung und sonnengebräunt und trägt eine Brille, die sich der Lichtstärke anpaßt und noch ein bißchen dunkel ist, ein rosarotes Polohemd und Turnschuhe. Das erinnert mich daran, daß heute Samstag ist.
»Pseudoessen«, bemerke ich und zeige ihm das glänzende Käsebrot.
»Sie sehen müde aus.«
»Sie weint die ganze Nacht«, flüstere ich und zeige mit dem Kinn zum anderen Kinderbettchen. »Niemand kommt und kümmert sich um sie.«
Dr. Gutman legt die Hand auf meine Schulter und drückt sie, zweimal kurz und einmal lang, und ich fürchte, daß ich die Botschaft, die er mir damit überbringt, nicht entziffern kann.
»Ich möchte gern, daß Sie hier herauskommen. Sie haben einen Mann, der will, daß Sie bei ihm sind, und ein kleines Mädchen, das Sie vermißt.«
»Ich weiß«, antworte ich, obgleich ich weiter das Gefühl habe, daß sie zum Leben eines anderen gehören.
»Haben Sie schon angefangen?«
Ich hole die IV-Karte aus meiner Tasche und zeige ihm die Stellen, an denen ich das Plastik durchlöchert habe.
»Gut«, lobt er mich. »Sehr gut —« und wirft dann die Karte in den Müll. »Versuchen Sie es jetzt an Rachel, damit Sie nach Hause kommen.«
Er umfaßt Rachels Fuß mit einer Hand. Er sagt nicht: »Kein Baby, das so hübsch ist wie dieses, kann ernsthafte Probleme haben«, wie so viele andere, sondern er ruftsanft ihren Namen, als wolle er sie aus einem tiefen Schlaf wecken. Schau hoch, denke ich. Lächle ihn an. Aber ihr Kopf bleibt gesenkt. »Sie hat nicht gut geschlafen«, erkläre ich und weiß doch, noch bevor die Worte aus meinem Mund gekommen sind, wie lächerlich ich mich mache, wenn ich sie ausspreche.
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Es gibt noch andere Mütter, die durch die blauen Korridore spazieren. Manche schieben ihre Babys in krankenhauseigenen Kinderwagen, und die, deren Kinder bettlägerig sind, wandern für sich allein. Alle kommen schließlich zum Foyer, um eine Zigarette zu rauchen und ein bißchen zu plaudern. Die Wände sind abgestoßen, die Polster der Couch voller Flecken. Auf einer Wand ist ein Schwarzes Brett angebracht mit Bildern ehemaliger Patienten. »Danny — Bürgermeister der Kinderabteilung« steht unter dem Foto eines rundlichen Jungen. Und über einem gestellten Porträt eines kleinen Mädchens mit Zöpfen: »Trudy — ich bin jetzt zu Hause.« Auf der Couch sitzt eine Inderin mit dem roten Kastenzeichen auf ihrer glatten Stirn. Ihr Junge fährt mit seinem Tropf durch das Foyer, als wäre das Gestell eine Art Roller. Eine modisch gekleidete hasidische Frau, deren Mann jeden Tag mit Kochgerät und Essen vorbeikommt, sitzt neben ihr. Sandra, eine fröhliche junge Mutter aus Coney Island, beschreibt gerade einer deutschen Frau die Gegend, in der sie lebt, als ich hereinkomme. Mit einem Brooklyn-Akzent, der so rein ist, daß es mich heiß überläuft, redet sie von den weißen Sandstränden, von einer hölzernen Strandpromenade, dem Ozean, den kreisenden Möwen, und das alles klingt so wunderbar, daß ich mich plötzlich schmerzhaft danach sehne, abzuhauen und mit der Untergrundbahn zu diesem Küstenparadies zu fahren. Die deutsche Frau hört zu, nickt, sagt »Ja« und tupft sich die Augen.
Ich gehe ein paar Schritte in ihre Richtung, um dem Jungen mit dem Tropf auszuweichen, und Sandra sagt: »Oooh, da ist ja das süße Baby, von dem ich euch erzählt habe. Darf ich sie mal halten?«
Alle wollen Rachel gern auf den Arm nehmen. Sie ist sanft und friedlich und beklagt sich nicht. Außerdem ist sie als einzige in diesem Stockwerk nicht mit Schläuchen und Pfosten verbunden oder in einem Plastikzelt eingesperrt.
»Ich würde alles geben für Locken wie diese hier.«
Sandra ist klein, hat eine Stupsnase, und sie trägt ihr Haar am unteren Ende nach außen gewellt, genauso, wie ich das meine auf den Abiturfotos. Sie hat die Regeln des Krankenhauses dadurch umgangen, daß sie bei Tag und Nacht ein geblümtes Hauskleid trägt. Jetzt küßt sie Rachel auf die Wange, macht dabei laut »M-wwwah« und sagt: »Was hat der Arzt denn jetzt gesagt? Hat er Ihnen schon einen Termin genannt?«
Wir alle wohnen in der Klinik, und die Entlassung ist das interessanteste und schmerzlichste Gesprächsthema.
»Ich kann gehen, sobald ich gelernt habe, ihr die Spritzen zu verabreichen.«
»Sie werden sich daran gewöhnen, glauben Sie mir. Ich habe einen Onkel, der Diabetiker war, und ich weiß genau, daß es am Anfang sehr schwer ist, aber wenn man dann erst einmal anfängt, daran zu denken, wie das Zeug hilft, ist es schon nicht mehr ganz so schlimm.« Sie hält Rachel auf Armeslänge von sich weg und sagt: »Sag du es ihr, Schätzchen. Sag: ›Gib mir diese Spritzen, Mama. Die machen mich wieder gaaanz gesund‹.«
»Sie wird nie ganz gesund werden.«
»Schauen Sie sie bloß an«, sagt Sandra zu der deutschen Frau. »Werfen Sie doch mal einen Blick auf dieses Baby und sagen Sie mir dann, ob dieses Baby nicht wieder gesund werden wird.«
»Ja«, sagt die deutsche Frau, und die Tränen laufen ihr dabei übers Gesicht.
»Seht euch doch die Männer mit den künstlichen Herzen an — vor ein oder zwei Jahren hätte man mich ins Irrenhaus gesteckt wenn ich, behauptet hätte, daß sich ein Mensch mit einem künstlichen Herzen in der Brust einfach so hemmtreiben würde. Hey, schaut euch doch mal Ryan an.«
Ihr Baby liegt mit Schläuchen in beiden Nasenlöchern im Wagen. Sein Atmen hört sich an wie das Poltern von Steinen. Früher hätte ich es nicht fertiggebracht, mir ein Baby wie Ryan auch nur anzusehen, aber jetzt, wo ich meine Welt danach einteile, wem es einmal wieder besser gehen wird und wem nicht, da sehe ich ihn an und erblicke die Zukunft in seinem Gesicht.
Die Substanz, die ich in Rachels Beine Spritzen soll, heißt ACTH — Adrenocortikotrop-Hormon. Das Medikament wird sie nicht heilen können, aber es soll die Anfälle verhindern. Obwohl mir niemand sagen kann, wie oder warum das funktioniert, wissen die Ärzte doch ein kleines bißchen über seine Wirkung. Dr. Gutman hat mir eine Liste von möglichen Nebeneffekten gegeben: Lethargie, Reizbarkeit, erhöhte Blähungsneigung. Sie wird ein Mondgesicht bekommen und einen Kugelbauch. Die Physicians’ Desk Reference, die ich von einer netten Schwester namens Miss Theo bekommen habe, hat das, was fehlte, noch hinzugefügt: möglich sind Schädgung der Muskeln, des Nervensystems, des Herzens, der Nieren, der Lungen, der Geschlechts- und der Sinnesorgane. Psychische Störungen können auftreten, die von Euphorie bis zur »offenen Psychose« reichen. Das Medikament kann die Wundheilung behindern, Infekte überdecken, zu verstärktem Haarwuchs führen, das Größenwachstum unterdrücken und Glaukome mit möglicher Schädigung des Sehnervs verursachen. Zur Anwendung dieses Medikaments wird nur geraten, wenn die vorhandene Störung auf herkömmliche Therapiemethoden nicht anspricht. Es werden so viele Warnungen und Vorsichtsmaßnahmen erwähnt, daß es mir vorkommt, als glaube der Hersteller selbst, das Mittel solle lieber überhaupt nicht zur Anwendung gebracht werden. Nichtsdestoweniger ist es das Medikament, auf das die Wahl fällt, weil es auf geheimnisvolle Weise wirksam ist, und zwar weit effektiver als alle diejenigen Mittel, die weniger zerstörerisch sind.
Zuerst war ich dagegen, Rachel gleich das stärkste Medikament zu geben, aber die Anfälle sind seit ihrer Einlieferung immer häufiger geworden, und inzwischen muß ich ein halbes dutzendmal am Tag zum Schwesternzimmer rennen, damit sich ein Assistenzarzt der Pädiatrie ein Kind mit infantilen Krampfzuständen ansehen kann. Jetzt sieht es so aus, als hätte ich gar keine andere Wahl.
Im Schwesternzimmer ist niemand, aber aus dem Zimmer hinter dem Schreibtisch hört man Gesang. Drinnen umringen vier Schwestern einen dünnen Mann in blauem Kittel. Miss Theo kauert auf dem Schoß des Assistenzarztes.
»Ummmmm«, mache ich wie eine menschliche Türklingel.
»Kommen Sie rein!« Miss Theo wirft ihren Arm um den Typen, um eine Stütze zu haben.
»Ich möchte meiner Tochter ihre Spritze geben.«
»Wunderbar! Ich komme in — sagen wir mal — in zwanzig Minuten zu Ihnen.«
Neunzehn Minuten später bin ich in meinem Zimmer. Nanny sitzt in ihrem Schaukelstuhl oder eigentlich nur auf der rechten Ecke des Sitzes, wie ein Kind, das vorzeitig gealtert ist. » Sie war hier; sie hat sich nicht nach dem Baby erkundigt, mit keinem Wort; ne-e-e, über den Hund redet sie, das ist alles, was Sie interessiert, dieser dreckige Köter. Ne-e-e-e«, flüstert sie dem Baby zu, das so winzig in der Mulde ihres Schoßes liegt. »Armes, kleines Ding, deine Mama hat dich gar nicht lieb.«
Miss Theo kommt hereingeeiit, nylonraschelnd reiben sich ihre Schenkel aneinander. Das Gerausch versetzt mich zurück in die Zeit, als ich zur Grundschule ging, als Hüfthalter, Taftslips und enge Röcke zum guten Ton gehörten.
»Okay, Mami, diesmal mache ich es noch, und Sie sehen mir ganz genau dabei zu«, verkündet sie.
»Ich habe schon dabei zugesehen und habe mir vorgenommen, es selbst zu machen, damit ich nach Hause gehen kann.«
Das sind alles Lügen,aber ich weiß genug, um genau das zu wiederholen, was man korrekterweise sagen muß.
»Sehen Sie genau hin, hören Sie zu, was ich sage, und morgen früh kann Mami es dann selbst machen.«
»Aber morgen früh sind Sie doch gar nicht hier«, wende ich ein.
»Sherry wird es Sie machen lassen.«
Sherry ist die Schwester, die glaubt, daß ambulante pubertierende Jugendliche durch den Anblick meines Nachthemdes in Erregung geraten könnten.
»Fangen Sie an.«
»So. Was ich hier habe, ist von der Apotheke abgepackt, aber das erste, was Mami wird machen müssen, wenn sie wieder Hause ist, wäre, die Phiole abzuwischen, okay? Dann Sehen Sie sich die Spritze an und suchen die richtige Markierung. So. Jeder hat seine eigene Art, die Nadel in der Hand zu halten, aber ich halte sie gerne so, wie eine Zigarette.«
Die biologische Mutter von Constance Tyron Hewitt kommt hereinspaziert. Nanny rümpft die Nase wie ein Kind, das etwas Unangenehmes riecht und sagt »Guten Abend, Mrs. Hewitt« — das ist ihre Art, ihre Arbeitgeberin dafür zu tadeln, daß sie so spät kommt. Das Baby wechselt den Arm. Nanny zieht ihren Mantel an.
»So. Während das Gel in die Spritze sickert, muß Mami mit dem Finger dagegen schnipsen, damit die Luftblasen weggehen. Füllen Sie die Spritze ein kleines bißchen mehr als bis zur Markierung, weil Sie ja die Luft herausbekommen müssen, und das ist ein absolutes Muß, denn das Letzte, was Mami will, ist schließlich, ihrem Baby Luft einzuspritzen, ist es nicht so?«
»WIESO IST DIESER VERBAND WEG? MARGARET! HOLEN SIE SOFORT DEN ASSISTENZARZT, DA IST EITER AUF IHREM ARM. SCHWESTER!«
»…Sie drücken auf den Kolben, bis Sie…einen Tropfen herauskriegen…von dem …ah…da haben wir es…«
Miss Theos Freund kommt gerannt, um Constance Tyron Hewitt zu untersuchen. Er hat eine sanfte Stimme, und es fällt ihm offensichtlich nicht schwer, beruhigende Worte zu finden. Was Mrs. Hewitt sieht, ist ein Stückchen Wundschorf, eine völlige Belanglosigkeit. Das Baby wird planmäßig nach Hause kommen und nicht einmal eine Narbe zurückbehalten. Miss Theo läßt die Vorderseite des Gitterbettchens herab, öffnet Rachels krankenhauseigenen Schlafanzug und zieht eines von Rachel’s Beinen heraus. Das Bein ist kurz und dick und hat ein Fettpolster um den Oberschenkel. Miss Theo gibt Rachel einen Kuß.
»Sie werden die Spritzen nicht alle in dasselbe Bein geben wollen, sondern Sie müssen abwechseln. Manche Mütter machen ein Band um den Knöchel desjenigen Beins, das sie gerade genommen haben, damit sie wissen, daß beim nächsten Mal das andere an der Reihe ist.«
Der Assistenzarzt geht wieder. Mrs. Hewitt zieht Nannys Stuhl zum Telefon. »Jetzt geht’s los. Erst den Muskel abreiben, zusammendrücken, und wenn die Nadel dann einsticht, ziehen Sie den Kolben ein wenig zurück, um sicherzugehen, daß Sie keine Vene getroffen haben.«
Miss Theo halt Rachels Arme uber ihrem Kopf fest und ihr linkes Bein mit dem Unterarm. Das Medikament ist ein Gel, und es braucht Zeit, bis alles hineingelaufen ist. Ich sehe zu, wie man meinem Kind weh tut, und ich unternehme nichts dagegen. Rachel macht sich ganz steif und läuft rot an, aber sie fängt erst an zu weinen, als Miss Theo die Nadel schon wieder herausgezogen hat. Miss Theo klebt ein Pflaster über die Einstichstelle, und jetzt beginnt Rachel zu jammern. Die Schwester muß mich auffordern: »Nehmen Sie sie hoch, Mami« bevor ich mich zu Rachel herunterbeuge und sie an mich drücke. Sie läßt sich nur schwer wieder beruhigen. Es ist, als habe Sie ihr Vertrauen zu mir verloren.
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Ist es Mitternacht? Zwei Uhr fruh? Vier Uhr?
»Das Baby weint«, rufe ich von der Tür aus. »Bitte kümmern Sie sich doch um das Baby.«
Sherry knipst das Licht an und beäugt mein Nachthemd. Der blendende Lichtschein und Sherrys Mißbilligung machen mich erst ganz wach. Ich habe meinen Irrtum gerade festgestellt, als sie sagt: »Warum nehmen Sie sie denn nicht hoch, schließlich ist sie doch Ihr Baby.«
»Sie weint nie mitten in der Nacht.«
»Sie hatte bestimmt einen Alptraum. Also nehmen Sie sie doch hoch.«
Rachel hort nicht auf zu weinen. Ich setze mich m Nannys Stuhl, um sie zu stillen, aber sie beißt mich in die Brust und stößt mich weg. Ich wiege sie, trage sie herum, singe ihr etwas vor. Draußen wird es langsam hell, Rachels Schreien verwandelt sich in ein Stöhnen, ein leises, primitives Mmmm, das nicht mehr aufhört.
»Warum?« frage ich Dr. Gutman, als er an diesem Tag erscheint, um nach uns zu sehen.
Es ist dies eine Frage, die ich im Laufe des letzten Jahres über hundertmal gestellt habe, eine Frage, die genauso primitiv und sinnlos ist wie Rachels Stöhnen. Aber ich kann mich nicht beherrschen.
»Warum verhält sie sich so?«
Es ist mir peinlich, ein Fall aus dem Lehrbuch zu sein, dieselben Fragen zu stellen wie alle anderen trauernden Eltern auch, die jeweiligen Stadien zu durchlaufen in genau derselben Reihenfolge, wie sie im Buch aufgeführt sind: Trauer, Wut, Feilschen, Depression. Ich habe so hart dafür gearbeitet, ein Leben in Klarheit führen zu können, und hier stehe ich nun, mein »Warum?« ist nichts weiter als ein Stöhnen, meine Stimme bricht wie die einer Heranwachsenden. Wie konnte so etwas passieren? Wie kann sie so perfekt aussehen, mit ihren langen bewimperten Augen, ihrer winzigen Nase, ihren rosigen Lippen und Fingernägeln — und dabei so geschädigt sein?
Gutman überfliegt die Symptomliste, die ich kopiert habe, und sagt: »Ich bin froh, daß Sie das Zeug lesen. Ich bitte alle Eltern, sich zu informieren. Ich sage ihnen: Lesen Sie die entsprechende Literatur, erkundigen Sie sich, welche Nebenwirkungen auftreten können, und schlucken Sie es wie einen Karton Salz. Nicht eine Prise — ein Karton. Alles, was nur im entferntesten möglich ist, wird hier aufgeführt — wirklich alles.«
»Was ist also los? Rachel hat irgendwelche Probleme, sie war doch sonst nicht so.«
»Manche Babys vegetieren nur noch dahin während einer solchen Behandlung, andere schreien von früh bis spät.«
»Wieso machen wir all das mit ihr? Was macht es überhaupt für einen Unterschied, ob wir es tun oder lassen?«
»Den Babys, die der Behandlung unterzogen werden, geht es besser als denen, die nicht behandelt werden. So einfach ist das.«
Dr. Gutmans Hemd hat die glatte, weiche Eleganz reiner Baumwolle, die in einer chinesischen Wäscherei gewaschen und gebügelt wurde.
»Besser oder schlechter, was für ein Leben wird sie haben? Wieso bemühen wir uns überhaupt?«
»Geben Sie sie nicht einfach auf«, sagt er müde.
»Sie waren doch derjenige, der mir gesagt hat, wie Rachels Zukunft aussehen würde, ich habe mir das nicht selbst ausgedacht.«
Dr. Gutman nimmt die Brille ab und reibt seinen Nasenrücken.
»Sie haben selbst ein Baby«, stelle ich fest. »Ich habe selbst ein Baby — aber was soll ich dazu sagen? Ich habe selbst ein Baby, aber der Junge ist stark und gesund, und ich mache mir trotzdem Sorgen um ihn, wie Sie sich Sorgen um Ihre Tochter machen. Keiner bleibt davon verschont.«
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Kurze Zeit später kommt Paul mit einer Tüte voll frischem Obst und einem kleinen Teddy mit Latzhose, den er in eine Ecke von Rachels Bettchen setzt. Rachel ist gerade eingeschlafen. Er sieht sie lange Zeit an, dann legt er ihre Arme zurecht, weil sie einen davon ungeschickt unter sich geklemmt hat. Paul nimmt das Obst aus der Tüte und stapelt es auf die Fensterbank neben das Obst, das er gestern abend gebracht hat: Trauben, eine Melone, ein großer Apfel, eine Birne. Ein paar Meter uns entfernt ist Nanny dabei, das winzige Baby in den Armen zu wiegen, sie singt ihm ein Schlaflied, das mit Schimpfwörtern gespickt ist.
Paul und ich gehen so unbeholfen miteinander um, daß es einem schwerfällt, sich daran zu erinnern, wieviel wir uns früher zu erzählen hatten. Damals rief Paul mich jeden Tag von der Arbeit aus an, und an den Abenden, an denen er Überstunden machen mußte, wachte ich immer auf, wenn er schließlich nach Hause kam, und leistete ihm dann beim Essen Gesellschaft. Vor dem Zeitpunkt, als wir Rachels Diagnose erfuhren, konnte ich eine gute Neuigkeit nie richtig genießen, bevor ich sie nicht mit Paul geteilt hatte, und selbst die schlimmsten Nachrichten wurden durch seine liebevolle Reaktion gemildert. Jetzt sitzen wir die meiste Zeit über schweigend da, als hätten unsere Gedanken all die kleinen Verflechtungen und Verbindungen mit unserer Arbeit oder den Leuten, die wir kennen, auf einmal ganz verloren.
»Meine Eltern wollen morgen vorbeikommen«, erzählt Paul schließlich. »Deine Mutter hat in der Stadt Schuhe für Charlotte gekauft, Turnschuhe übrigens. Rosarote hat sie ausgesucht. Siebenundzwanzig Dollar haben sie gekostet. Ich konnte es kaum glauben. Siebenundzwanzig Dollar.«
»Hat jemand angerufen?«
»Hinda hat zweimal angerufen, während wir weg waren. Sie möchte, daß du sie zurückrufst.«
»Das war alles?«
»Das war alles.«
»Hinda war der einzige Mensch, der angerufen hat, während der ganzen Zeit, als wir nicht da waren?«
»Dreimal hat jemand aufgelegt«, antwortet Paul.
»Du weißt, was das Zeug hier mit Rachel anstellen wird, oder?«
»Welches Zeug?«
Er versteht nicht, was ich sagen will, was er früher immer getan hat. Jede Einzelheit muß genau erläutert werden. »Das Medikament, das man ihr einspritzt.«
»Es wird ihr helfen.«
»Glaubst du das wirklich?«
»Ja«, sagt er. »Ja, das tue ich.«
»Sie hat Schmerzen«, berichte ich. »Die ganze letzte Nacht und heute den ganzen Tag über hat sie geweint. Und sie beginnt schon langsam aufzuschwemmen.«
Rachels schönes Gesicht wird sich aufblähen. Schönheit ist alles, was sie besitzt, und jetzt soll ihr auch dies genommen werden.
»Vielleicht sollten wir uns mal abwechseln«, schlägt Paul vor und drückt mir ein Ticket in die Hand. Ich muß den Aufdruck zweimal lesen, bevor ich kapiere, daß es von einem Parkhaus ist. »Du gehst heute abend nach Hause, und ich werde hier bleiben. Zu Hause herrscht zwar ein ziemliches Durcheinander, aber du kannst dich mal ein bißchen ausschlafen, und du wirst Charlotte sehen. Morgen kannst du dann ja eine Freundin besuchen.«
»Was für eine Freundin?«
»Willst du oder willst du nicht?«
»Ich kann nicht. Ich muß lernen, wie man Rachel die Spritze gibt, sonst werde ich für immer hier bleiben.«
»Na gut«, sagt er und steckt das Ticket wieder in die Tasche.
Als Paul gegangen ist, meint Nanny: »Was für einen gutaussehenden Mann Sie haben.«
»Ja«, antworte ich.
»Und nett ist er!«
»Ja«, sage ich noch einmal.
»Mr. Hewitt ist auch so einer, der Vater, jawohl. Er gerät nie in Wut, keine Sekunde lang, nicht so wie sie.«
»Ja«, sage ich und laufe aus dem Zimmer.
Wie ich selbst schläft auch Rachel unruhig, sie wacht die ganze Nacht über immer wieder auf und weint. Am nächsten Morgen ist ihr Gesicht angeschwollen, und ihre Augen sind rot. Nicht, kann sie beruhigen, weder meine Stimme, noch mein Körper neben dem ihren. Ich versuche, sie auf meiner Hüfte reiten zu lassen und mit ihr herumzugehen, aber sie stößt sich weg und stöhnt; Mmm bei jedem Schritt, den ich mache, Mmm, wenn ich stehenbleibe. Wir gehen die orangefarbenen Korridore entlang, dann die grünen. Ich suche jemanden. Ich suche einen Menschen, der mir sagt, daß mit einem Baby, das so schon aussieht, nichts wirklich Schlimmes los sein kann.
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Als Paul das nächste Mal kommt, hat er Charlotte dabei. Sie darf nicht nach obenkommen, also nehme ich den Aufzug und fahre nach unten. Sie sitzt auf einem blauen Plastikstuhl im Wartebereich und tragt dieselben Sachen wie nach Rachels Geburt, das blaue Kleid mit dem seidenen Herzen auf der Brust. Ihre Füße stecken in neuen, rosafarbenen Turnschuhen. Ihr Haar glänzt und die Ponyfransen fallen ihr in die Augen. Sie ist ganz darin vertieft, erst beide Beine, dann eines nach dem anderen hin und her zu schwingen.
Ich sage leise ihren Namen, und sie rennt auf mich zu. Meistens ist Charlotte viel zu ruhelos, um es lang in den Armen ihrer Eltern aushalten zu können, aber heute umarmt sie mich so heftig, daß ihre Arme zu zittern anfangen. Ihr Haar ist frisch gewaschen und riecht fruchtig, die kleinen, unregelmäßigen Nägel sind rot lackiert.
»Wo ist Rae—Rae?« will sie wissen.
»Oben. Deine neuen Turnschuhe gefallen mir.«
»Mami—«, haucht sie.
Ich warte und warte, und als nichts nachkommt, frage ich: »Was ist, mein Schätzchen?«
»Wenn Rachel groß ist, Wird sie dann autofahren können?«
»Nein.«
»Ist das bei allen blinden Menschen so?«
»Ja.«
»Aaahhh«, sagt sie. »Du machst ja bloß Witze!«
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Der mechanische Vorgang ist nicht schwierig. Ich reibe den Gummistopfen ab, stecke die Nadel auf die Spritze und führe sie in die umgekehrt gehaltene Phiole ein. Während das Medikament hineinsickert; schnipse ich mit dem Finger gegen die Spritze, um eventuelle Luftbläschen zum Platzen zu bringen. Dann drücke ich auf den Kolben, bis ein Tropfen der Flüssigkeit zur Nadelspitze hochsteigt, leuchtend wie ein Edelstein.
Miss Theo läßt die Vorderseite des Gitterbettchens herab und tätschelt Rachels Kopf. »Mami ist hier, mein Goldkäferchen«, sagt sie.
Mami ist hier, um dir weh zu tun.
Meine Hand zittert. Die Schwester öffnet den Reißverschluß an Rachels krankenhauseigenem Schlafanzug und zieht ein Bein heraus. Rachels Schenkel ist schon gesprenkelt mit blauen Flecken und Nadeleinstichen. Jetzt verstehe ich endlich die Geschichten von Eltern, die ihre Kinder aus Krankenhausbetten herausziehen oder sie mitten in der Behandlung entführen. Ich lege meine Hand über Rachels Bein, aber die Schwester zieht sie schnell wieder weg und erinnert mich: »Zuerst abreiben, Mami.«
Ich bearbeite die Folienverpackung und versuche erfolglos, eine Ecke abzureißen, bis die Schwester sie mir schließlich aus der Hand nimmt. In der Packung befindet sich ein alkoholgetränkter Tupfer. Rachels Körper wird ganz steif, als ich ihn damit berühre. Ihre Füße beginnen Kreise zu beschreiben. Sie weiß, daß ich ihr weh tun werde. Ihr Gehirn ist zwar geschädigt, und es gibt in ihm Verbindungen, die sich nicht vollständig entwickelt haben, es gibt Dinge, die sie vielleicht niemals wahrnehmen oder verstehen wird, aber das weiß sie: Alkohol bedeutet Schmerz. Ihre Mutter tut ihr weh. Ihre Brust hebt und senkt sich heftig. Sie fängt an zu weinen.
Meine Hand ist so kraftlos, daß die Nadel in meinen Fingern zittert. Die Krankenschwester hält Rachels Knie gerade und ihre Arme über dem Kopf fest. »Sie können es, Mami, na los doch jetzt; na los.«
Ich finde eine Stelle ohne blauen Fleck und berühre mit der Nadel Rachels Bein. Ihre Haut bietet für einen Augenblick einen solchen Widerstand, daß ich das Gefühl kriege, die Nadel werde hier nie durchgehen. Ich drücke kräftig, und als die Nadel die Haut durchsticht, merke ich, wie Rachel sich zusammenkrampft. »Mami hilft dir doch«, säuselt die Schwester. »Ja, sie hilft dir, sie hilft ihrem kleinen Baby.« Ich drücke den Kolben, und das Gel sickert langsam in den Muskel. Die Schwester ermutigt mich. Plötzlich bin ich in meiner Küche, noch im Morgenmantel, eine Tasse Kaffee neben mir. Rachel rennt an mir vorbei, sie saust an mir vorüber, sie will spielen gehen. Ich packe sie im letzten Moment am Ärmel. Es gab einmal eine Zeit, da hatten wir Angst, sage ich. Es gab eine Zeit, da hatten wir Angst, daß du nie groß werden würdest.
Manche Babys weinen
Am nächsten Morgen bin ich gerade dabei, Obst in meinen Koffer zu stopfen, als Miss Theo kommt. Rachel stöhnt leise in ihrem Bettchen. Nanny schaukelt in ihrem Stuhl, sie liest die Septemberausgabe von Town & Country, die Mrs. Hewitt für mich hier gelassen hat. Miss Theo legt das Fläschchen und die Spritze auf das Nachtschränkchen, schaut auf ihre Uhr und fragt, wann er denn hier sein wird, mit einer Art von Ehrfurcht, die Charlotte IHM dargebracht hat, als sie vier Jahre alt war.
»Jede Minute«, sage ich. »Es sei denn, er steckt im Stau.«
Genau in diesem Augenblick kommt Paul hereingestürzt, lächelnd und gut gelaunt. Miss Theo bekommt ein Grübchen. Nanny klappt ihre Zeitschrift zusammen und hält Paul die Hand entgegen, als erwarte sie, daß er sie küßt. Sie hat die sommersprossige Haut einer ehemals Rothaarigen und grüne Augen, die in Pauls Gegenwart zu funkeln beginnen. Sie geht mit Männern so gelassen um, daß mir klar wird, daß sie einmal, dreihundertundvier Babys früher, hübsch gewesen sein muß. Ah, was Kinder mit einer Frau anstellen können!
»Sind Sie bereit, Mr. Glynn?« fragt Miss Theo.
Ich habe die Prüfung bestanden, und man traut mir zu, daß ich Rachel die Spritzen zu Hause verabreichen kann. Jetzt ist Paul an der Reihe. Wenn er besteht, können wir alle drei das Krankenhaus zusammen verlassen, gerade rechtzeitig, um Charlotte an ihrem ersten Vorschultag zu begleiten.
»Das dürfte nicht so schwer sein«, meint Paul. »Ich mache das die ganze Zeit über mit Ratten. Ein Schuß Nembutal, und weg sind sie. Für immer. Hat meine Frau Ihnen erzählt, daß ich Chirurg bin? Ich operiere die Ratten auch, und ich muß sagen, meine Technik ist recht elegant. Ich kann sie aufschneiden, ohne daß auch nur ein Tröpfchen Blut fließt. Das einzige Problem bei der Sache ist, daß ich sie nieht wieder zusammennähen kann…«
Paul ist nervös und kann nicht aufhören zu reden. Es stimmt, daß er Ratten aufschneidet. Aber es stimmt auch, daß er grün im Gesicht wird, wenn jemand nur das Wort »Blut« oder »Nadel« oder »Spritze« in den Mund nimmt. Er hält sich die Ohren zu und läuft aus dem Zimmer, wenn ich über etwas so Banales rede wie eine Grippespritze, und einmal, als mir für eine Routineuntersuchung Blut abgenommen wurde, war er es, der beinahe in Ohnmacht fiel. Jetzt steht er da und plaudert leutselig mit Miss Theo, als würde sie so vielleicht vergessen, weshalb er hier ist.
Ich berühre seine Schulter und rufe ihn beim Namen, um ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen. Nanny schaut auf. Miss Theo dreht sich um, und ich komme mir vor wie eine schlecht gelaunte böswillige Frau, die den Vortrag ihres charmanten Ehemanns über chirurgische Techniken unterbricht. Paul ist auch wirklich charmant. Es ärgert mich, daß das Bild, das er in der Öffentlichkeit abgibt, von unseren Schwierigkeiten so völig unberührt geblieben ist.
Miss Theo klappt die Vorderseite von Rachels Bettchen herunter und knöpft Rachels Krankenhauspyjama auf. Paul sagt: »Na, dann mal los, Babychen«, und reibt ihr Bein ab. Danach zögert er keinen Moment mehr. Er nimmt die Spritze aus Miss Theos Hand, preßt Rachels Fleisch zusammen, sticht zu, versichert sich, daß kein Blut herausgezogen worden ist, und dreht dann den Kopf weg. Nur in dem kurzen Augenblick, als er auf den Kolben drückt, ist sein Gesicht angstverzerrt. Dann nimmt er Rachel schnell in die Arme und geht leise vor sich hin summend im Zimmer auf und ab, bis sie sich beruhigt hat.
Als es Zeit wird zu gehen, trägt Paul Rachel, und ich schleppe den Koffer die blauen Korridore entlang. Meine Freundinnen stehen im Foyer, rauchen Zigaretten und warten. Sandra sieht den Koffer, sagt »Ooh, Sie Glückspilz« und küßt mich. Die deutsche Frau winkt mit den Fingerspitzen und ruft: »Auf Wiedersehen!«
Die Aussicht, wieder in die freie Welt einzutreten, hat nicht nur angenehme Seiten. Wie ein Sträfling hungere ich zwar nach Freiheit, aber ich fürchte mich gleichzeitig auch vor ihr. Da draußen schreibt mir keiner vor, was ich machen soll. Ich werde verlorengehen in der Welt der Gesunden, in der Welt derer, die niemals wirklich werden verstehen können.
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Natürlich geraten wir in den Stoßverkehr. Fünfzehn Minuten, bevor die Schule anfängt, hält unser Auto hinter dem von Pauls Eltern.
Zu Hause. Meine Couch und meine Stühle, meine Bilder an den Wänden. Meine Teppiche und meine Tische, das Porträt meines Urgroßvaters an der Wand, mein Kühlschrank, auf dessen Seite ein Plan befestigt ist, den Paul in meiner Abwesenheit entworfen hat und der anzeigt, welche Menge ACTH Rachel am jeweiligen Tag bekommen muß. Die Dosis wird jeden zweiten Tag leicht verringert, bis sie es Ende November schließlich durchgestanden haben wird. Die Tage der ersten Woche sind schon durchgestrichen.
Paul stößt einen Jodler aus, und da kommt Charlotte durch die Hintertür hereingestürzt, macht sich über mich her, schlingt die Arme um meine Knie und wirft mich beinahe um. Sie hat ein neues Kleid an, das zu ihren Turnschuhen paßt, und ihr Haar ist glatt und glänzend gebürstet. Hinter ihr kommen Pauls Eltern. Meine Schwiegermutter geht mit ausgebreiteten Armen auf Paul zu, und er reicht ihr Rachel. Ich möchte etwas sagen, möchte ihnen dafür danken, daß sie den ganzen Weg hierhergekommen sind für etwas, das bestimmt kein Urlaub sein wird, aber ich stehe nur stumm da. Mein Gesichtsausdruck bringt meine Schwiegermutter ganz durcheinander, und sie sagt: »Ich habe für Charlotte ein Käsebrot gemacht und ihr ein Glas Orangensaft gegeben. Und ein paar Trockenpflaumen. Ich habe noch nie gehört, daß ein Kind Trockenpflaumen ißt, aber die wollte sie haben.«
»Trockenpflaumen sind wunderbar«, antworte ich.
Paul faßt Charlotte bei der einen Hand, ich bei der anderen, und dann gehen wir mit ihr die Elm Street hinauf zur Schule. Jetzt sind wir genau gleich wie all die anderen Eltern, denen wir begegnen; die Mütter, die nicht arbeiten gehen, in lässiger Kleiung, die Väter im Jackett mit Krawatte. Charlotte hüpft, springt uber Ritzen in der Straße und tanzt, daß der flache, rote Apfel, auf dem in perfekt geformten Buchstaben »Charlotte Glynn« steht, nur so gegen ihre Brust prallt.
Charlottes Schule sieht derjenigen, die ich in ihrem Alter besucht habe, ausgesprochen ähnlich; es ist ein rotes Backsteingebäude aus den dreißiger Jahren, an das ein absurd moderner Anbau geklatscht ist, der die geburtsstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit aufnehmen soll. An den Wänden sind Schilder angebracht, auf dem die Namen und die Gruppeneinteilung der jeweiligen Lehrer stehen, und die Kinder haben schon begonnen, sich dahinter aufzureihen. Eine Mutter schubst einen kleinen Jungen, der offensichtlich kurz vorher beim Friseur war, zu seinen Kameraden, und er geht zuerst auch weiter, aber dann bleibt er stehen und fängt an zu schreien: »Nein, nein, nein!«, reißt sich von seiner Mutter los, schleudert seinen Apfel ins Gebüsch und rennt weg, wobei seine Ellbogen wie Pumpenschwengel fliegen.
Die Lehrerin schickt uns weg, bevor wir Charlotte von oben bis unten abküssen können, und führt sie zu ihren Klassenkameraden. Charlotte ist einen Kopf kleiner als die Kinder um sie herum, was uns überrascht, weil wir sie nie für besonders klein gehalten haben. Sie scheint sich in dieser neuen Situation ganz sicher zu fühlen, wirkt viel selbstbewußter als ich in ihrem Alter.
Paul und ich gesellen uns zu einer Gruppe von Eltern, die in einem kleinen Wäldchen stehen und mit ihren Babys und Krabbelkindern darauf warten, daß die Schulkinder ins Haus gehen. Alle sind leutselig und ein bißchen durcheinander, daß ihre Babys jetzt tatsächlich schon mit der Schule anfangen. Paul ist ganz begeistert von einem Zwillingspärchen, das sich in einem Sportwagen gegenübersitzt, und ich sage, ohne mich an jemand Bestimmten zu wenden: »Diese Schule sieht genauso aus wie meine alte Grundschule«, um zu erfahren, daß das Paar neben mir die gleiche Schule und auch noch in der gleichen Zeit besucht hat wie ich.
Eine Frau, die ich von Charlottes Schwimmkurs her kenne und die ich nicht mehr gesehen habe, seit wir beide schwanger waren, fragt mich, was es bei mir geworden ist. »Ein Mädchen«, antworte ich, und sie sagt: »Oh, bei mir auch, wir müssen uns mal mit den Babys zusammen treffen.« Ihr Mann macht Fotos von ihr, und Paul fotografiert mich. Wir knipsen einen Film voll, legen im Schatten einen neuen ein und machen noch ein paar Bilder, und als Charlotte schließlich hinter ihrer Lehrerin in das Schulgebäude geht, bleiben wir noch einen Augenblick stehen.
»Soll ich ein Bild von Ihnen beiden machen?« fragt die Frau aus dem Schwimmkurs. »Bitte lächeln, na los doch. Ein großes Lächeln, dann kommt das Vögelchen…«
Auf dem Bild hat Paul den Arm um mich gelegt, und ich lehne mich an seine Schulter. Wir lächeln beide ein bißchen matt. Man sieht nichts von dem Kummer, der uns bedrückt, keine Spur von unserer Erschöpfung und Verwirrung. Höchstens ein bißchen nervös sehen wir aus. Paul betrachtet die Bilder eingehend und meint: »Es ist schwer, hübsch auszusehen, wenn man verstopft ist.«
Auf der gleichen Filmrolle gibt es auch eine Bilderserie, auf der Pauls Eltern auf weißen Campingstühlen im Hof sitzen. Mein Schwiegervater ist mit zurückgelegtem Kopf eingeschlafen, meine Schwiegermutter blickt in die Kamera, ihre tiefliegenden blauen Augen sind erfüllt von Hilflosigkeit. Rachel liegt steif auf ihrem Schoß, die Hände fest zu Fäusten geballt, die Zehen ausgestreckt. Ihr Gesicht ist geschwollen, ihr Mund eine gerade, schmale Linie. Ich habe Bilder gesehen von weinenden Babys und Hochglanzfotos in Zeitschriften von hungrigen, notleidenden Kindern, die teilnahmslös in die Kamera starren. Der grimmige Gesichtsausdruck, den Rachel hat, ist etwas anderes, und dazu kommt noch das, was die Kamera nicht einfangen konnte, nämlich der Laut, der zwischen diesen zusammengepreßten Lippen hervorkam, dieses schauerliche Mmmm, das nicht enden wollte, das unsere Ohren überflutete, das uns durch Mark und Bein ging und das ganze Haus mit Rachels Schmerz erfüllte.
Damit müssen wir jetzt leben, mit diesem Weinen, das man nicht zum Versiegen bringen kann. Gewohnheit oder die Biologie selbst bringt uns immerwieder dazu, den Versuch zu unternehmen, sie zu beruhigen, obgleich wir wissen, daß wir kaum etwas tun können, um ihr zu helfen. Wir wiegen sie und füttern sie und versuchen vergeblich, ihr Interesse für Lieder oder Spielzeug oder Bewegung zu wecken. Wir versuchen, uns mit Gesprächen oder einem schönen Essen abzulenken, aber ihr Weinen ist im Hintergrund immer da, ist immer bei uns, und so setzt sich außer ihren Bedürfnissen nichts für längere Zeit in unserem Kopf fest.
Zwischendurch wird sie hin und wieder einmal ruhig, und wer dann gerade bei ihr ist, registriert den genauen Augenblick, in dem sie aufgehört hat zu weinen, und ruft: »Sie mag es, wenn ich ihre Füße knete!« oder: »Sie mag Vivaldi!« oder: »Es gefällt ihr, wenn ich ihr den Rücken kraule!« Dann ist die ruhige Phase wieder vorüber, und wir versuchen, sie zurückzuholen, mit Methoden, die sich alle im Laufe der Tage als eine lange Liste von Fehlschlägen erweisen: wir kneten ihre Füße, spielen Vivaldi, kraulen ihren Rücken, halten sie mit dem Kopf nach unten, singen: »Hush, Little Baby.« Eines Abends wird sie ruhig als ich Paul gerade erzähle, was er im Supermarkt einkaufen soll, und am nächsten Tag, als sie keine Reaktion darauf zeigt, daß wir ihr die Füße kneten, Vivaldi spielen, ihr den Rücken kraulen und so weiter, da versuchen wir es damit, daß wir die Einkaufsliste hersagen.
Genau das machen wir gerade, wir singen: »Streichkäse! Magermilch! Roggenbrot! Windeln!«, als Hannah, unsere israelische Freundin, mit einem Blaubeerkuchen auf Besuch kommt.
Paul erklärt unser absonderliches Benehmen, was eigentlich gar nicht notwendig wäre, denn Hannah hat im vergangenen Jahr jeden Abend mit ihrem Sohn eine ausgedehnte Autofahrt unternommen, damit er einschlief, und sie versteht unsere elterliche Verzweiflung. Ihre Anregung, mit Rachel nach draußen zu gehen, verwerfen wir zwar als unpraktisch, aber Paul ist ganz begeistert von ihrem Vorschlag, uns eine Babywippe zu leihen, die bei ihrem Sohn, als er ganz klein war, etwas genutzt hat.
Eine Babywippe, um Rachel zu beruhigen, wo wir doch die ganzen Monate hindurch hart daran gearbeitet haben, sie munter zu kriegen.
»Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß sie den ganzen Tag schläft«, sage ich zu Paul, als Hannah gegangen ist.
»Möchtest du, daß sie statt dessen den ganzen Tag weint?«
Der Gedanke, daß sie dauernd vor sich hin Wippt, ist so entsetzlich. »Du hast nicht wie ich die ganzen Zeitschriften gelesen, all das Zeug darüber, welche psychologischen Probleme Babys entwickeln können, wenn sie unterstimuliert sind.«
»Das gilt vielleicht für gesunde Kinder. Rachel ist krank. Sie kann nichts lernen, wenn es ihr schlecht geht. Es sollte unsere Aufgabe sein, ihr das Leben so angenehm wie möglich zu machen und sonst nichts. Sie wird ihren Rückstand wieder aufholen, wenn sie die Behandlung hinter sich hat.«
»Glaubst du daran?«
»Natürlich glaube ich daran.«
»Dann hol die Wippe nach der Arbeit auf dem Heimweg ab.«
Ich sage das nur, um der Diskussion ein Ende zu machen. Was ich wirklich denke, ist: Wir werden die Wippe nicht aufstellen. Niemals. Ich werde mit Rachel arbeiten. Ich werde den ganzen Tag mit ihr verbringen, bis ich herausbekommen habe, wie ich es ihr so erträglich machen kann, daß sie wieder Kontakt zu uns aufnimmt. Ich weiß, daß ich das schaffen kann. Ich weiß es.
Aber sie weint, wenn ich sie im Arm halte, sie weint, wenn ich sie wiege, wenn ich ihr vorsinge, wenn ich sie tätschle, wenn ich sie allein lasse. Ihr ununterbrochenes Jammern ist eine solch ausgesuchte Folter, daß ich noch vor Mittag zusammenbreche.
Paul kommt von der Arbeit nach Hause, stellt die Wippe im Wohnzimmer auf und stopft Rachel in den Sitz, der für ein Neugeborenes gemacht ist. Es ist schrecklich, mitansehen zu müssen, wie sie in dem winzigen Sitz kauert, mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten. Paul gibt der Wippe einen leichten Schubs, und wir stehen herum und sehen zu. Einen Augenblick richtet Rachel sich auf, als die Wippe zu schaukeln beginnt, und dann unternimmt sie nur noch schwache Versuche, sich zu befreien.
Vor ihrem Jammern gibt es kein Entfliehen, nicht einmal nachts, denn sie wacht weinend auf und will wie ein neugeborenes Baby alle zwei Stunden trinken. Ich stille sie so oft bei Tag und bei Nacht, daß meine Brüste sich anfühlen, als hätte ich gerade geboren — sie sind ganz empfindlich und prall voll Milch. Rachel beißt mich, nicht forschend wie ein Neugeborenes oder so, als wolle sie ein juckendes Zahnfleisch beruhigen, sondern aus eigenem Elend. Sie lächelt nicht, sie lacht nicht, sie reagiert nicht auf unsere Stimmen oder Gesten. Sie kann nicht die Hände nach etwas ausstrecken, und wenn wir versuchen, sie zu trösten, stößt sie uns weg. Die einzige Beziehung, die zwischen ihr und mir besteht, ist das Stillen, obwohl sie mich dabei so oft beißt, daß auch diese Verbindung erfüllt ist mit Schmerz.
»Sag ihr ›Nein!‹« rät mir meine Mutter. »Gib ihr einen Klaps, wenn sie dich beißt.«
Es ist ein nutzloser Vorschlag, denn Rachel gehört nicht mehr zu dieser Welt.
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Am Samstag machen wir einen Ausflug hinunter zur Küste, um einen alten Freund von Paul zu besuchen, den er seit seiner Kindheit kennt. Was denken wir uns bloß dabei, als wir diese Pläne machen — denken wir, daß das Jammern von unserem Haus kommt und daß wir es zurücklassen können, wenn wir die Haustür hinter uns zumachen? Glauben wir denn tatsächlich, daß alles vorüber ist? Wir packen Windeln, Taschentücher und Proviant für die Autofahrt, Nadeln, Spritzen und Gel ein. Dann steigen wirins Auto und fahren Richtung Garden State Parkway.
Rachel windet sich in ihrem Autositz; sie weint und jammert ohne Unterbrechung. Das Auto ist viel kleiner als das Haus, und jeder von uns ist fest angeschnallt und vollkommen machtlos. Es ist eine Folter, hilflos der Äußerung ihres Schmerzes zuhören zu müssen, und keiner entrinnt der Folter, ohne daß sie ihn verändert. Mein Schwiegervater verwandelt sich in einen Feldwebel, mein Ehemann in einen unberechenbaren Autofahrer, meine ältere Tochter macht sich das Unbehagen ihrer Schwester zu eigen und fängt an, selbst zu leiden. Meiner Schwiegermutter verschlägt es die Sprache, und ich hege Mordgedanken in meinem Herzen.
Der Feldwebel erteilt hektische Anweisungen, Zeichen zu geben, langsamer zu fahren, die Fahrspur zu wechseln; das kleine Mädchen jammert zusammen mit ihrer Schwester: ich mußma, mußma, mußma … All das Dröhnen lenkt den Fahrer ab, der sich windet und sich gegen sein Gesicht schlägt, als wären die Worte Fliegen. Und der Feldwebel sagt: »Sag mal, findest du nicht, daß du beide Hände am Steuer lassen solltest?«
Meine Schenkel kleben an dem Autositz aus Plastik, und wenn ich einen nach dem anderen hochhebe, habe ich das Gefühl, als würde mir die Haut abgezogen. Wen will ich denn nun umbringen? Vielleicht am besten Paul, der uns mit seiner Fahrweise alle in Gefahr bringt. Oder Charlotte, deren unentwegter Singsang mußma, mußma, mußma sie zu einer Kandidatin mit ziemlich guten Chancen macht. Ich mache mir Gedanken über mein Opfer, obgleich mir die ganze Zeit über klar ist, daß ein Mord aus Leidenschaft nicht von Leuten verübt wird, die müde sind — Leidenschaft beinhaltet schließlich Energie, Begeisterung und inneres Feuer, und nichts dergleichen brennt heute in mir. Ich weiß auch, daß Charlotte nicht wirklich pinkeln muß. Ihr ist langweilig, Rachels Gejammer geht ihr auf die Nerven, und das ist ihre Art, wie sie ihr Unbehagen zum Ausdruck bringt und die auch nicht unangenehmer im als das aggressive Spurwechseln ihres Vaters. Ich weiß das alles, aber ich kann auch kein schluchzendes, gedemütigtes Kind riskieren, und als Charlottes Mußma immer dringender und qualvoller wird, sage ich: »Anhalten!«
Paul bringt das Auto innerhalb weniger Sekunden von hudertzehn Stundenkilometern auf Null und schleudert uns an den Seitenstreifen.
»Raus«, befehle ich.
Charlotte sucht ihre Turnschuhe, zieht sie sich an, wobei sie sorgsam die Schuhbänder kreuzt, nicht horizontal, sondern in perfekter X-Form, damit sie bestimmt fest werden, wie es die großen Mädchen im Ferienlager auch gemacht haben. Sie quetscht sich an ihrer jammernden Schwester vorbei und tritt behutsam auf die Straße. Als sie dann vor dem löchrigen Asphalt und dem unkrautbewachsenen Abhang steht, der in einem öligen Wassertümpel endet, meint sie: »Jetzt muß ich nicht mehr.«
»O doch, du mußt.« Diesmal reicht meine Stimme, eine einfache, sanfte, einmalige Feststellung.
»Okay«, sagt sie genau im gleichen Tonfall wie Paul.
Sie steigt aus ihrer Unterhose, einem weißen Bikinihöschen mit Tatzenabdrücken und einem grinsenden Kater Garfield, dann hockt sie sich hin und pinkelt. Sie sieht zu, wie ihr Urin einen Bogen beschreibt und im Niedergehen ihre Turnschuhe naß macht. Ich reiche ihr ein Papiertaschentuch, und sie hockt sich wieder hin, wischt sich ab und versucht, mir das Taschentuch wieder in die Hand zu drücken. Ich verschränke meine Hände auf dem Rücken. »Schmeiß es einfach weg. Na los doch.«
»Ihr habt mir aber gesagt, daß ich keinen Abfall in die Gegend werfen soll.«
»Weg damit«, sage ich.
»Aber ich soll doch nicht…«
»Weg damit!« Meine Backenzähne beißen hart aufeinander.
Charlotte legt das Papier auf den Boden, und während ich sie zum Auto zurückzerre, verdreht sie den Kopf und schaut es traurig an. Das Auto setzt sich wieder in Bewegung, und Charlotte lehnt sich gegendas Fenster und beobachtet, wie der Abfall, den wegzuwerfen ich sie gezwungen habe, immer kleiner wird.
Ach, es ist so leicht, ein Kind anzuschreien. Hab doch ein bißchen Mitleid mit ihr, sage ich zu mir selbst. Denk daran, daß sie auch ganz verstört ist und daß ihr die Worte fehlen, um ausdrücken zu können, was sie fühlt. Der Vorsatz scheint ganz einfach zu sein, bis das Mußma wieder beginnt. Diesmal ist es Hunger — und der ganze Proviant, den ich eingepackt habe, ist aufgegessen. Mußma, mußma, heult sie so lange, daß ich fast spüren kann, wie meine Faust in ihrem Gesicht landet und sich ihre kleinen, viereckigen Zähne von meinem Schlag lockern.
Als wir ankommen, sind meine beiden Töchter am Heulen. Ich hänge mir Rachel über die Schulter und gehe hinter den anderen ins Haus unserer Freunde. Die Frau hat Rachel lange nicht gesehen und macht all die angemessenen Bemerkungen darüber, wie allerliebst sie ist. Der Mann sagt nur: »Sie könnte eine Diät vertragen.«
Ich setze Rachel auf den Teppich, und da sitzt sie nun, läßt den Kopf auf eine Schulter herabfallen und weint vor sich hin. Ich knete ihre Füße, summe Vivaldi, kraule ihr den Rücken, rezitiere: »Streichkäse! Roggenbrot!«, aber alles nützt nichts. Ich nehme sie auf den Arm, und da beißt sie mich in die Schulter und will weg von mir.
Der ganze Besuch ist auf ihr Elend konzentriert. Ihr ist heiß, sie ist müde, sie ist hungrig, sie will trinken. Jeder hat eine Erklärung parat, aber alle Erklärungen sind falsch. Schließlich nimmt meine Schwiegermutter Rachel aus meinem Arm und geht mit ihr nach draußen. Ich höre, wie der Kies unter ihren Füßen knirscht, lausche auf das Schlaflied, das sie mit zittriger Stimme singt, und erinnere mich daran, wie sie mir vor einem Jahr gesagt hat, was für ein wunderbares Gefühl es doch sei, ein Baby von Paul in den Armen zu halten.
Pauls Freund lädt uns auf sein neues Boot ein. Meine Schwiegermutter besteht darauf, daß ich das Baby bei ihr lasse und mit den anderen gehe. Sie sagt: »Geh nur, du bist schließlich sein Gast…«, und ihre Stimme klingt streng, obwohl sie ihre Güte nur ungenügend überdecken kann.
Wir ziehen Schwimmwesten über und stehen im Bug, während Pauls Freund das Boot aus dem Kanal herausfährt. Das Boot schlägt gegen die Wellen. Sobald wir offenes Wasser erreicht haben, werden die Segel gesetzt. Das Hauptsegel knattert, während es hochgezogen wird, und fängt dann mit einem Knall den Wind ein. Charlotte und ich sehen zu, wiePaul die Segelleine losmacht. Der Wind bläst ihm die Haare ins Gesicht, und er lacht das wilde, ungehemmte Lachen, das ich seit Monaten nicht mehr von ihm gehört habe. Er streckt den Arm nach Charlotte aus, und sie hüpft mit der gleichen Sicherheit wie er auf das Kabinendach, wo sie neben ihm steht, das Gesicht der Sonne zugewandt.
»Nächstes Jahr«, sagt Paul, als ich zu den beiden trete. »Nächstes Jahr bringe ich ihr das Segeln bei.«
Es ist alles perfekt, die Sonne, die kleinen Nadelstiche, die die Wasserspritzer auf meinem Gesicht hinterlassen, der Klang seines Lachens. Perfekt, absolut perfekt, ein Augenblick, der aus einer glücklicheren Zeit zu stammen scheint. Und doch will ich zurück, ich vermisse Rachel so sehr. Ich glaube nicht, daß sie mich noch kennt, und selbst wenn sie es doch tun sollte, verschafft ihr meine Anwesenheit jedenfalls keine Erleichterung. Es fühlt sich einfach irgendwie unerledigt an, daß ich von ihr weggegangen bin, so als hätten wir uns gezankt und im Streit getrennt. Wir sind meilenweit voneinander entfernt, und ich kann ihr meine Liebe nicht zeigen. Die Möwen kreisen über unseren Köpfen mit lautem Gekreische, und die Bojen seufzen traurig. Ich möchte zurückfahren und Rachel in meine Arme nehmen.
Dann geht mein Wunsch in Erfüllung, ich bin wieder an Land und renne ins Haus, wo ich Rachel weinend in den Armen ihrer Großmutter vorfinde. Meine Schwiegermutter meint: »Sie fühlt sich so unwohl«, und reicht sie mir.
Abwechselnd tätscheln wir sie, kitzeln wir sie, halten wir sie mit dem Kopf nach unten. Jeder hat seine Methode, jeder hat eine Erklärung, aber nichts davon hilft.
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Also gehen wir nicht mehr aus. Wir wollen andere Leute nicht mit unserem Elend belästigen. Aber meine Eltern rufen an und fragen, ob sie uns besuchen dürfen, und es kommt uns unfreundlich vor, ihnen abzusagen.
Meine Mutter und mein Vater betreten das Haus, beladen mit Einkaufstüten, und in ihrer Begeisterung, uns die darin befindlichen Geschenke zu zeigen, und mit ihrer tatsächlichen Toleranz gegenüber Chaos und Lärm, scheint keiner das jammernde Kind auf meinem Arm wahrzunehmen oder das andere, das sich auf dem Boden wälzt und in dessen Haaren sich große Staubflusen ansammeln. Meine Eltern begrüßen meine Schwiegereltern, stellen ihre Tüten ab und warten darauf, daß wir über die Beute herfallen.
Die Geschenke sind eine drollige Ansammlung von Dingen, die sie gekauft, selbst gemacht, angepflanzt oder gefunden haben: ein selbstgestrickter Pullover für Charlotte, ein Fächer aus Stroh, den sie bei einer Hochzeitsfeier bekommen haben, drei Gläser Feinschmeckersenf, Gemüsetüten aus Plastik, die man für schmutzige Windeln verwenden kann, eine weiße Rübe, mehrere in Zeitungspapier eingewickelte Fleischtomaten, ein Paar Schuhe, die ich vor ein paar Jahren in ihrer Wohnung habe stehen lassen und die ich eigentlich nicht mehr will, ein Gasanzünder, eine Stoppuhr für die Küche, ein Hackmesser mit Holzgriff, das mein Vater hochhält, als wäre es eine Machete. Und es kommt noch mehr und immer mehr, bis meine Armmuskeln vom Gewicht meines kranken Kindes zu zittern anfangen.
Als die Vorführung beendet, ist, geht Paul weg, mein Vater geht nach draußen, und ich bin allein mit den Tüten und dem zerknüllten Papier, mit einem Kind, das sich herumwälzt, und einem, das nicht aufhört zu jammern. Ich setze Rachel auf den Teppich und bin gerade dabei, die Geschenke auf dem Tisch zu stapeln, als ich merke, wie die Augen meiner Mutter von der jammernden Rachel zu Charlotte huschen, die noch immer so tut, als wäre sie ein Mop. »Mach deinen Kindern etwas zu essen«, sagt meine Mutter.
Ich mache mich auf den Weg in die Küche und spähe in den Kühlschrank. Es ist schließlich Zeit fürs Mittagessen, oder etwa nicht? Und habe ich nicht meine Eltern zum Essen eingeladen? Ich werfe ein Stück Käse auf die Anrichte und bin dabei, es auszupacken, als ich höre, wie meine Mutter mir zuruft: »Sie weint, tu doch irgend etwas.« Ich lasse den Käse wieder fallen, nehme Rachel auf den Arm, stopfe sie in ihre Babywippe und haste wieder in die Küche. Was wollte ich hier tun? Wollte ich Vivaldi singen? Rachels Windel wechseln? Wo ist eigentlich Paul? Der Käse gibt mir ein Stichwort. Mittagessen. Mir fällt ein, daß unsere Eltern gerne Kaffee trinken, und ich lasse Wasser in den Kessel laufen. Da erscheint auch schon meine Mutter wieder, und ihre Stimme klingt schrill nach etwas, das sich wie Ärger anhört. »Sie ist in ihrem Sitz verrutscht, hilf ihr doch.«
Ich setze Rachel richtig hin, und als ich wieder in die Küche komme, sehe ich, wie das Wasser in wahren Sturzbächen über den Rand des Kessels läuft, so daß das Spülbecken schon halb voll ist. Rachels Schreie werden lauter. Ich hole sie aus der Wippe und renne nach oben, Rachel über die Schulter geworfen.
Paul liegt auf dem Rücken im Bett, die Arme über dem Kopf verschränkt. Ich schaue suchend in sein Gesicht und versuche, einen Schimmer von dem Mann zu entdecken, den ich geliebt habe, als wir in Maine waren, aber ich sehe keine Spur von ihm.
»Hier«, sage ich und setze Rachel auf seine Brust. Werd du mal damit fertig, will ich ihm zu verstehen geben.
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Beim Essen tauschen die Großväter Geschichten über harte Zeiten aus. Wer war ärmer? Wessen Schuhe hatten mehr Löcher? Der eine der Väter stopfte sich Pappe in die Schuhe, der andere benutzte Zeitungspapier. Wer war schlimmeren Vorurteilen ausgesetzt: die Juden in New York oder die katholischen Iren in Boston? Ein Vater kann sich an Schilder erinnern, auf denen stand: »Iren brauchen sich nicht zu bewerben.« Der andere erzählt von Arbeitsplatzquotierungen, die gegen die Juden eingeführt wurden. Der eine ging Kohlen klauben, der andere verrichtete niedere Arbeiten für zwölf Cents pro Stunde. Einer wurde von den Italienern zusammengeschlagen, der andere von den Deutschen.
Rachel schiebt ihren Teller vom Tischchen ihres Kinderstuhls. Meine Mutter bemerkt: »Sie mag das nicht, was du ihr gegeben hast.«
»Sie mag überhaupt nichts.«
Während ich den Boden aufwische, hebt Paul Rachel aus dem Stühlchen und versucht, sie auf seinem Schoß sitzen zu lassen. Mit leiser Stimme probiert er, sie dazu zu kriegen, daß sie ein Stück Brot ißt. Charlotte beißt ein Stück von ihrem Sandwich ab und beobachtet die Situation, in ihren Augen braut sich ein Sturm zusammen. Sie dreht sich wieder zum Tisch und öffnet den Mund, damit wir alle sehen können, was sie gerade kaut.
»Hör auf damit«, sagt Paul.
Charlotte spürt die Spannung im Zimmer und gerät immer mehr in Panik. Sie hat sich nicht mehr unter Kontrolle. Wenn es dreißig Jahre früher und ich selbst an ihrer Stelle wäre, würde meine Mutter jetzt sagen: »Sie will Ärger kriegen.« Ärger ist es aber nicht, worauf Charlotte aus ist. Sie will Trost, Liebe, Lachen, irgend etwas. Sie streckt die Zunge heraus und zeigt uns Käse und Brotteig.
Paul steht auf, sein Stuhl poltert nach hinten. Mit einer fließenden Bewegung setzt er Rachel in ihrem Stühlchen ab und packt Charlotte am Hemd. Der Kaffee meines Vaters schwappt in die Untertasse, ein Messer fällt klappernd auf den Boden. Paul ragt vor Charlotte auf, ein Riese, der ihr Hemd in seiner weißen Faust festhält. Sie schaut zu ihm hoch, und ihre Augen sind riesengroß vor Schreck. Paul hebt sie vom Stuhl herunter, und als der Stoff des Hemdes zerreißt, fängt er sie am Oberarm auf und schleppt sie so die Treppe hinauf. Ich höre, wie ihre Füße gegen die Stufen schlagen, ich höre, wie Paul sie aufs Bett wirft, wie er die Tur zuknallt, und dann hore ich Charlottes Weinen, das erst losbricht, als Paul schon wieder auf dem Weg nach unten ist. Der Seufzer meiner Mutter holt mich zurück an den Familientisch, und Rachels nicht endenwollendes Gejammer dringt wieder in mein Bewußtsein.
»Gib ihr was zu essen«, sagt meine Mutter.
Von der Tür her verkündet Paul: »Ich gehe weg.«
Die Tür schlägt zu. Das Auto fährt an. Er hat mich sitzenlassen. Er hat gesagt, daß er es nicht mehr aushält und ist weggegangen, einfach so. Ich halte es auch nicht mehr aus, aber ich habe keine andere Wahl. Jetzt ist es keine Frage mehr für mich, wen ich am liebsten umbringen würde.
Mein Väter geht nach draußen. Meine Schwiegermutter bringt ihren Teller in die Küche. Meine Mutter schaut mich prüfend an, und als ich ihren Blick erwidere, sagt sie: »Sie wollte Ärger kriegen.«
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Am Abend gehen wir gemeinsam nach oben, Rachel in den Armen ihres Vaters. Wie romantisch das aussieht, wenn wir so die Treppe hinaufgehen, Seite an Seite. Paul knipst in unserem Zimmer das Deckenlicht an, und das Licht schimmert in einer Kristallschüssel, die gefüllt ist mit Spritzen. Auf dem Nachtschränkchen befinden sich außerdem Wattebäusche, ein Behälter mit Nadeln, eine Flasche Alkohol, dessen Geruch durch das Zimmer zieht und bewnkt, daß es hier riecht wie im Behandlungszimmer eines Arztes.
Paul gibt mir Rachel, damit ich sie halte, während er die notwendigen Utensilien zusammensucht. Ich knöpfe Rachels Strampelanzug auf, und sie biegt den Rucken durch und will losgelassen werden. Es ist schwer zu glauben, daß sie noch vor zwei Wochen gelächelt und uns die Arme entgegengestreckt hat. Jetzt sind an ihr alle Zeichen von Menschlichkeit verschwunden, außer dem einen: sobald wir sie aufs Bett legen, macht sie sich ganz steif, und ihre Füße beginnen zu kreisen.
Das hier ist das einzige, was Paul und ich noch gemeinsam machen. Er entfernt die Luft aus der Spritze, reibt Rachels Bein ein und hält es am Knie fest. Ich fühle nicht mehr den entsetzlichen Widerstand der Haut, wie ich das früher tat, ich denke auch nicht, daß es Rachel ist, in die ich da hineinsteche. Es ist nicht mein Kind, es ist ein Stück neutraler Haut, das ich suche, ein Stück Muskel und keine Vene. Es ist eine Aufgabe, die ich ordentlich erledigen muß, und ich erlaube mir gar nicht erst nachzudenken, wieso.
Als es vorbei ist, möchte ich sie gerne hochnehmen, aber ich habe Angst, daß sich in ihrem Kopf die Gleichung bildet Mami gleich Schmerzen, und daß ich diese nie mehr auslöschen kann. In der Sekunde, die ich zögere, hat Paul sie schon hochgenommen und drückt sie an seine Brust, so daß das Blut von der Einstichstelle in sein Hemd sickert. Er geht mit ihr durchs Zimmer, eine Hand auf ihren Hinterkopf gelegt, während ich mit leeren Armen dastehe.
Dann setzt er sich mit ihr hin und beginnt zu singen: »Hush, Little Baby.« Die Melodie verwandelt sich in etwas anderes, die Worte verschwimmen. Ich beneide Pauls Stärke, die ihn dazu befähigt, Rachels Qualen ganz direkt zu begegnen. Ich weiß, daß es ihn jedes Atom seiner Zärtlichkeit kostet, und doch muß ich, während ich seinem sanften, nicht ganz den richtigen Ton treffenden Singsang lausche, daran denken, was für ein Mensch er ist, und da beginne ich mich schmrzlich danach zu sehnen, auch selbst etwas von dieser Zärtlichkeit abzubekommen.
»Du hast kaum mit mir geredet, seit ich wieder zu Hause bin«, bemerke ich.
Er antwortet nicht, bis ich ihn ein zweites Mal anspreche, und dann meint er: »Es gibt nichts zu sagen.«
»Nichts?«
Er wiegt Rachel in seinen Armen und summt weiter sein atonales Lied.
»Nichts?« Ich bin genauso verzweifelt wie Charlotte, als sie uns das gekaute Essen in ihrem Mund gezeigt hat.
»Genau.«
»Ich dachte, Wir wollten die Sache gemeinsam durchstehen. Hast du mir das nicht immer gesagt? Daß wir beieinander Halt suchen wollten?«
»Wenn ich so etwas gesagt habe, dann habe Ich mich geirrt.«
»Aber warum?«
»Weil es nicht möglich ist.«
»Aber das War es doch, was wir immer getan haben, bevor Rachel geboren wurde. Wir haben uns doch immer einer an den anderen gewandt, wenn wir aus dem Gleichgewicht waren. Immer.«
»Das hier ist etwas anderes. Es ist etwas anderes, und ich will nicht daruber sprechen; ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden, kannst du das verstehen?«
Inzwischen sollte ich es eigentlich verstehen, aber ich tue es nicht. »Ich werde dich in Ruhe lassen«, sage ich.
Einer von uns versucht wegzulaufen
Das Drehbuch, das Linda und ich letzten Sommer umgeschrieben haben, ist in der Phase der Vorproduktion. Wir haben von oben Anweisungen erhalten, daß wir es listiger, mehr sexy und frecher machen sollen. Wir sollen Maßschneiderinnen sein, die an das Ende jeder Szene Knöpfe annähen, wir sollen Chirurginnen sein, die zwanzig Seiten sofort herausschneiden, da ein Team angeheuert wurde, das auf diese Änderungen wartet, und ihre Pläne hängen von der/Überarbeitung ab, die wir vornehmen.
Ich arbeite zum ersten Mal seit Jahren außer Haus, werde um sechs wach, sorge mich um Kleidung und sauberes Haar, wetteifere mit Paul um die Dusche, den Spiegel und um das Waschbecken. Was das für ein Unterschied ist, für und mit anderen Leuten zu arbeiten. Ich muß nicht nur vorzeigbar sein, was ich zu Hause oft nicht bin, sondern auch frisch und munter, um etwas leisten zu können, ganz egal, wie ich mich fühle. Obwohl ich immer stolz darauf war, diszipliniert zu sein, kann ich an der Tatsache nicht vorbei, daß meine eigene Schriftstellerei meinem Alltag zum Opfer gefallen ist. Ich kann es mir nicht leisten, abgelenkt zu werden, was allerdings kein Problem ist, denn sobald ich das Haus verlasse, liegt alles, was darin passiert, in weiter Ferne.
Ich habe angefangen, das Leben, das ich zu führen begonnen habe, als das eines Mannes zu betrachten. Natürlich arbeiten Frauen. Ich sehe sie in Bussen und Zügen, über kleine Spiegel gebeugt, wie sie Lidschatten oder Rouge auftragen, und Joghurt mit mickrigen Löffeln aus Plastik essen. Ich sehe sie, wenn sie Tüten mit Brot und Gemüse schleppen, Söckchen über Strumpfhosen gezogen. Ich sehe ihre Schuhe flink über den Asphalt laufen, wenn sie den Abhang hinuntergaloppieren, um den Zug nach Hause zu erwischen, denn dort warten Kinder, die sie vermissen, Mahlzeiten, die zubereitet werden müssen, zu viele häusliche Arbeit in viel zu kurzer Zeit.
Die Männer schlendern; sie plaudern, sie lesen Firmenberichte und benutzen ihre stabilen Aktenkoffer als Unterlage. Sie beeilen sich nicht, und sie ärgern sich nicht, wenn sie Züge verpassen. Arbeit ist Arbeit, und daheim ist daheim, und diese Bereiche überschneiden sich nicht. Heutzutage können Männer Babys wickeln, aber sie nehmen sie nicht mit zur Arbeit. Sie kaufen kein Fleisch in der Mittagspause.
Ich suche meine Kinder, bevor ich das Haus verlasse, küsse sie inbrünstig und verabschiede mich von Paul, als ob es das letzte Mal wäre. Ich schließe die Tür, hebe die Zeitung auf, und in dem Moment, in dem ich die Plastikhülle abstreife, habe ich meine Familie bereits vergessen. Egal, wie lang mein Arbeitstag dauert, ich denke erst an sie, wenn er vorbei ist.
Wenn Linda in einer Pause nach ihnen fragt, kann ich nicht all ihre herzerweichenden Eigenheiten zusammenfassen, und deshalb erzähle ich die Neuigkeiten, die mir passend erscheinen, in einer kühlen distinguierten Weise. Rachel geht es miserabel, Charlotte gefällt es in der Schule. Sie sagt, daß ich mutig sei, so zu arbeiten, was mich beschämt. Was ist daran mutig, daß ich es fertigbringe, vor dem Unglück in meinem Haus wegzulaufen und meine Familie im Stich zu lassen, wegzulaufen, auch wenn sie mich rufen? Weggehen bringt Erleichterung.
Das Produktionsbüro, in dem ich Schutz finde, ist ein unordentlicher T-förmiger Raum mit Sicht auf mehrere Porno-schuppen gegenüber. Es sieht aus, als wäre er in Eile eingerichtet worden,mit gemieteten Tischen und Lampen, geformt wie Gänsehälse. Schachteln mit Bürobedarf stehen herum, offen, aber nicht ausgepackt, Filmposter wurden mit Reißzwecken an die Wand gepinnt, Polaroidfotos mit einem Klebeband aufgehängt. Eines Tages, als ich diese Fotos betrachte, sieht es aus, als wäre die Farbe bereits verblichen. Dann schaue ich mich im Büro um und sehe, daß die Leute, die für den Fotografen den Clown gemacht haben, alle um mich herum sind, sie telefonieren, tippen auf geliehenen Schreibmaschinen, bedienen den Fotokopierer und haben sich auf Tischen und Stühlen niedergelassen. Alle tragen modisch dunkle Kleidung: khaki, oliv, schwarz, Hosen, die in der mittleren Wadenhöhe abgeschnitten sind, schwarze, spitz zulaufende Schuhe, Hemden, die von der Schulter rutschen und dabei ein Unterhemd in einer dunklen schimmligen Farbe entblößten. Sie sind alle jung und unbelastet, ohne Ehemänner, Kinder oder Babys, die Tag und Nacht schreien.
Häufig wird Linda mitten in unserer Arbeit angerufen, um einen Liedtexter zu treffen oder Schnappschüsse zu studieren, die von hiesigen Talentsuchern gemacht wurden, und ich ertappe mich dabei, wie ich den Gesprächen in meiner Umgebung lausche. Es ist soviel Lachen dabei, soviel ordinär gute Laune, daß ich vor Schmerzen über meine verlorene Vergangenheit vergehe, die Zeit, als mein Leben vielversprechend war, als noch keine Türen verschlossen waren, als ich noch nicht dem Spiel des Zufalls ausgeliefert war und all meine Träume Verheißungen waren. Während dieser ruhigen Augenblicke stelle ich mir vor, wie ich mein gegenwärtiges Leben abstreife und etwas Neues mache. Warum nicht? Die Leute tun das ständig. Warum soll ich mich gezwungen fühlen, bei Paul zu bleiben? Wir haben unsere Geschichte verloren, unsere Begierde auf einander, unser Lachen, unsere Träume; wir sind füreinander nichts mehr als die Eltern eines stöhnenden Kindes. Warum nicht alles liegen- und stehenlassen? Was ist daran edel, solch ein Unglück aufrechtzuerhalten?
Die Arbeit dauert von morgens bis spät abends. Gepriesen seien die Kräfte, die uns jeder Entwurf, den wir vollenden, und jede neue Umarbeitung abverlangen. Ich bin müde, gelangweilt, dankbar, hier zu sein, erfreut, daß trotz allem mein Gehirn noch funktioniert, daß ich genau wie ein Mann säuberlich Arbeit und Privatleben trennen kann.
Sobald ich das Gebäude verlassen habe, ist alles vorbei. Etwas in mir sagt »nach Hause« und ich ertappe mich dabei, wie ich mich beeile, dahin zu gelangen. Am Broadway funkelt Neon. An den Straßenecken drängen sich Theatergänger, die zusammengerollte Programme festhalten und nach Taxis Ausschau halten. Ich laufe die Achte Straße entlang, an öden Sexshops vorbei, und an durchgängig geöffneten Imbißlokalen und an Männern vorbei, die zu bekifft sind, um einen anzuschauen, obwohl sie es gewohnheitsmäßig versuchen. Ich laufe an allem vorbei, weil ich wieder eine Mutter bin, und meine Gedanken werden von Bildern meiner Kinder überflutet. Laufend denke ich an das weiche Fleisch an Rachels Beinen, die von den Nadelstichen so gesprenkelt sind, daß ich nach einer unversehrten Stelle suchen muß, die ich noch schädigen kann. Ich denke daran, wie morgens, wenn es noch dunkel ist, Charlotte ins Bett klettert und einen Arm um mich legt, so daß ich aufwache und ihr glänzendes Haar an meiner Wange fühle. Wie geduldig und zufrieden sie geworden ist, seit ich die Arbeit aufgenommen habe. Sie sieht, daß Paul und ich auch zerbrechlich sind, und sie hat es auf sich genommen, es uns gleichzutun. Ich weiß, daß sie sich anstrengt,doppelt so gut zu sein, und daß es ihr nicht gelingen wird, weil es unmöglich ist, und daß sie ihr Scheitern als ihre Schuld empfinden wird.
Bis mein Bus kommt, habe ich Zeit, in eine griechische Bäckerei zu laufen, um ein Stück Baklava für Paul zu kaufen, und dann in einen durchgängig geöffneten Gemischtwärenladen, wo ich ein Malbuch und einen Radiergummi in Form eines Frosches für Charlotte entdecke, und Haarspangen für Rachels schöne Locken, denn jeden Morgen, egal wie sehr ich in Eile bin, lege ich ihre Kleidungheraus und mache ihr die Haare.
Ich muß immer an Katie denken, wenn ich viel Aufhebens von Rachels Haar mache. Früher habe ich nicht verstanden, wie eine Mutter für ein Kind wie dieses hübsche Kleidchen kaufen, ihr Schleifen ins Haar binden und die Nägel polieren kann. Jetzt verstehe ich es. Gegenseitigkeit bedeutet uns nichts. Wir lieben und können nichts dafür. Wie die Rattenmütter säugen wir unsere Jungen, weil wir so sind. Rachel saugt, und in ihrem Elend beißt sie mich. Ich stoße sie weg, aber wenn sie aufgeregt wird und sich anschmiegt, ziehe ich sie wieder an mich, weil sie zu mir gehört.
Eine Stunde später bin ich in meiner Stadt, und während ich durch die dunkle Straße nach Hause eile, lausche ich auf meine Schritte. Die Ampel steht auf Gelb, und ein Auto saust mit heruntergelassenen Scheiben; vorbei, Bruce Springsteen erfüllt mit seiner krächzenden Stimme die Luft, nur für einen Augenblick, dann ist er weg. Nur die Eisdiele ist geöffnet. Drei Jungen stehen draußen auf dem Bürgersteig, alle haben zerknitterte Hemden an, Jeans, die vorne geknöpft sind, und schwere Schnürstiefel. Auf einmal möchte ich unbedingt Paul sehen — den Paul, den ich geheiratet habe, mit seinen großen Augen und seinem wilden Lachen, mit seiner Abscheu vor einfachen Dingen und seiner alle Schmerzen vertreibenden Umarmung.
Ich erinnere mich daran, wie ich mit ihm, nicht lange nachdem wir uns kennengelernt hatten, in einem Café an der Lower East Side gesessen bin und Tabellen auf Servietten gemalt und unsere Karriere-Strategien aufgelistet habe, um zu sehen, was uns die Zukunft bringen könnte. Was für Verheißungen doch jene Tage bereithielten. Was für eine Einstellung hatte ich doch mit fünfundzwanzig, zu glauben, daß wir uns lediglich durch guten Willen ein wunderschönes Leben schaffen könnten.
Es war die Zeit, als ich Pentimento las und auf einen Abschnitt über Dashiell Hammett stieß, in welchem Lillian Hellman über die guten und schlechten Jahre schrieb. Weil meine Gefühle für beide, Hellman und Hammett, so verklärt waren, und weil ich von Hammetts Trunksucht und seiner angegriffenen Gesundheit wußte und von der Kommunistenhetze in den 50er Jahren und von ihren darauffolgenden finanziellen Sorgen, glaubte ich, daß sie schlechte Zeiten durchgemacht hatten, und dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los. Ganze Jahre, die schlecht waren, Hunderte und Aberhunderte von Tagen — ich konnte mir nicht vorstellen, wie jemand in einem Job oder in einer Beziehung verharren konnte, die ihn oder sie unglücklich machte.
Dies sind schlechte Zeiten, und wir haben alles schlimmer gemacht, indem wir uns aus den Augen verloren haben. Was immer wir einst gemeinsam hatten, wurde von Dreck, Traurigkeit und Erschöpfung begraben. Selbst die ersten Tage nach der Diagnose scheinen rührend im Vergleich, weil damals wenigstens unser Gedächtnis intakt war. Unsere zertrümmerten Gläser und bösen Worte waren Zeichen von Verrücktheit, aber unsere Umarmungen heilten uns wieder. Am Ende eines jeden Streites hatten wir uns gegenseitig immer noch.
Jetzt ist nichts mehr da. Wir können inzwischen unseren Kummer so gut bewältigen — Paul tobt nicht mehr, ich weine nicht mehr —, daß wir in demselben Bett schlafen und in demselben Haus wohnen können, genauso entfernt voneinander wie Fremde. Es ist nur, daß ich mein Gedächtnis wiedererlange, wenn ich nach Hause eile, und dann kann ich fühlen, daß mir die versteckte Liebe tief im Innern schmerzhafte Stiche versetzt, die so spitz und zermalmend sind wie Felsen.
Ich renne den Hügel hinauf und sehe unser von innen hell erleuchtetes Haus, und ich stelle mir vor — jeden Abend tue ich das —, wie ich ihn in meine Arme nehme und an seiner Umarmung spüre, daß wir wieder zusammen sind.
Seine Eltern sitzen im »Solarium«, sie beugen sich über einem kleinen mitgenommenen Schwarzweißfernseher mit eine Kleiderbügel als Antenne. Ich sitze auf dem Boden und sehe den Figuren zu, die über den flimmernden Bildschirm laufen, die Lippen bewegen, ein Crescendo an Gelächter tönt aus dem Kasten.
»Wie geht es den Kindern?« frage ich. Meine Schwiergermutter sagt: »Rachel war so unglücklich.« Es scheint ihr zu widerstreben weiterzusprechen, und nach einer langen Pause, während der wir auf den Bildschirm starren, fährt sie fort.
»Ihr kleiner Körper schmerzte, egal was ich unternahm. Fast den ganzen Vormittag habe ich sie in meinen Armen gehalten, Dad kann es mir bestätigen. Dann kam Charlotte nach Hause und fühlte sich ausgeschlossen, als sie mich so mit dem Baby sah.«
»Es tut mir leid.«
Ich stehe auf, und meine Schwiegermutter sagt: » Vergiß nicht, Rachel die Spritze zu geben.«
»Wo ist Paul? Er hätte sie ihr bereits um halb sieben geben sollen.«
»Er war nur eben lang genug zu Hause, um mit uns zu Abend zu essen, dann ging er zurück in die Arbeit. Er hatte einen schweren Tag.«
Gegen meinen Willen überkommt mich die Wut. »Wir alle hatten einen schweren Tag.«
Ich gehe nach oben, hole eine Nadel und eine Spritze. Das Gel muß im Kühlschrank aufbewahrt werden, und als ich es herausnehme, ist es in der Phiole erstarrt. Ich reibe die Phiole zwischen meinen Handflächen, um das Gel zu verflüssigen, dann betupfe ich den Gummipfropfen mit Alkohol. Nachdem ich eine Nadel an der Spitze angebracht habe, stecke ich sie durch den Pfropfen. Zuerst muß der Kolben zurückgezogen werden, dann muß man ihn vollständig vordrücken, damit die Luft entweicht, und dann muß er bis zur richtigen Markierung bei aufrecht gehaltener Phiole herausgezogen werden. Das Gel ist immer noch so dick wie Honig und sickert nur langsam in die Spritze. Obwohl ich es hasse, Rachel diese Spritzen zu geben, bereiten mir diese Vorbereitungen eine komische Art von Vergnügen. Ich bin eine ziemliche Expertin im raschen Aufwärmen des dickflüssigen Gels geworden. Ich weiß genau, wie weit unter der Dosierungsmarke die Spritze gefüllt werden muß, und wie ich mit zwei gezielten Schlägen die Luftblasen am wirkungsvollsten herausbekomme. Dann tausche ich die Nadel aus — ein Ratschlag von Miss Theo, die mir gesagt hat, daß die Nadel einen Bart bekommt, nachdem sie den Gummipfropfen durchdrungen hat.
Da ist es, das Juwel an der Nadelspitze.
Rachels Augen sind offen. Mein Baby, denke ich, als ich sie hochhebe. Sie ist kaum wiederzuerkennen unter der Schicht von Fett und Flüssigkeit. Ihr Gesicht ist so aufgedunsen, daß ich unter ihrem Kinn kein Lätzchen mehr anbringen kann, und ihr Bauch ist so angeschwollen, daß bis auf dehnbare Strampelanzüge nichts mehr ihren Umfang aufnehmen kann…Ich halte sie in meinen Armen und stelle mir vor, wie Dr. Klibansky vorbeihuschen will. Ich grapsche nach seinem weißen Ärmel, bevor er an mir vorbei ist, und schüttle ihn zornig. Warum bringen Sie mich dazu, sie so zu quälen? Warum die Plage? Wozu? Manchmal sitze ich umgeben von Büchern in einem schweren Stuhl, wenn ich in sein Büro eindringe und ihn anbettle, sie sterben zu lassen, buchstäblich auf die Knie falle und ihn mit gefalteten Händen anflehe. Sie hat einen Gehirnschaden und Schmerzen, es hat keinen Sinn, sie so leiden zu lassen.
Ich mache das Licht in unserem Zimmer an und glätte die zerknüllten Nachthemden. Sobald ich Rachel hinlege, versteift sie sich und weint. Mama ist gleich Schmerzen. Ich zittere am ganzen Körper. Mami tut mir weh. Welches Bein? Morgens links, abends rechts — eine Gedächtnisstütze, auf die Paul und ich uns geeinigt haben für diese alltägliche Arbeit. Ich knöpfe ihren Schlafanzug auf.
Ihr Bein ist wie Gummi, als ich es aus dem Anzug heraushole, ganz schnell, damit ich sie in meinen Armen halten kann. Mami — Schmerz — Trost. Ich finde eine Stelle von unbeschädigtem Fleisch auf der Innenseite ihres Oberschenkels und reibe ihn mit Alkohol ein. Sie stößt kraftlos mit ihrem Bein. Ich fange ihr Knie mit meinem Ellenbogen und stecke die Nadel hinein — den Kolben zurück, kein Blut — dann drücke ich ihn wieder vor.
Als ich drücke, fühlt sich der Kolben wacklig an, und als ich ihn zurückziehe, bleibt die Nadel in ihrem Fleisch stecken. Ihr Oberschenkel ist glatt von dem Gel. Ich weiß nicht, wann sich die beiden Teile voneinander gelöst haben und wieviel ACTH herausgetropft ist. Alles? Ein wenig? Rachel wimmert ständig wie eine Katze. Ich hasse sie, ich liebe sie, ich bin erschrocken. Wenn ich ihr noch eine Spritze gebe, ist das dann eine Überdosis? Wenn ich’s nicht tue, wird sie dann andere Beschwerden bekommen? Werden wir die Behandlung diesmal mit einer höheren Dosis beginnen? Ich hebe sie auf und wiege sie in meinen Armen. Ich brauche Hilfe. Ich brauche jemanden, der mir sagt, was zu tun ist.
Ich gebe ihr keine zweite Spritze mit der halben üblichen Dosis. Dann gehe ich zu Bett. Visionen halten mich die halbe Nacht wach. Ich stelle mir vor, daß ich stolpere, während ich sie in meinen Armen halte, daß ich die Treppenflucht hinunterstürze und sie mit meinem Gewicht erdrücke. Es ist so wirklich, daß ich ihren zerbrochenen Körper spüren kann. Ich stelle mir vor, wie ich ihr eine Spritze gebe, überdrüssig und verzagt, so besorgt, es hinter mich zu bringen, daß ich es nicht schaffe, die Luft aus der Sprit2e zu bekommen, oder den Kolben zurückzuziehen, um nachzusehen, ob Blut drin ist. Ich injiziere Luft in ihre Venen und töte sie, weil ich will, daß sie stirbt. Ich sehe ihr Zimmer, die Rosenranken an den Wänden, das leere weiße Kinderbett, Spielsachen, mit denen sie nie gespielt hat, in Schachteln, ihre Kleider in Tüten, und ich weiß nicht, ob es wirklich so ist, daß ich möchte, daß sie stirbt.
Im Morgengrauen kommt Charlotte ins Bett. Sie hat ihre Puppe und ihre Decke dabei, läßt sich neben mir nieder, rüttelt und schüttelt mich und niest in mein Ohr. Die Kommodenschublade quietscht, ihre Metallgriffe schlagen gegen das Holz. Am Ende des Bettes sitzt Paul und zieht seine Socken an.
»Hast du noch Geld?« fragt er, als ich die Augen öffne. Sein Hemd ist zerknittert, die Spitzen seines Kragens ringeln sich nach unten. Was sich in mir abspielt, ist so verwirrend, daß mir zumute ist, als ob ich einen entscheidenden Schlag erlitten hätte, daß ich zwischen Freud und Leid, Haß und Liebe nicht mehr unterscheiden kann. Er sieht abgehärmt und geisterhaft aus. Ich denke an die Spritze, die er ihr nicht gegeben hat, und die ich ihr dann so unheilvoll verabreichte.
»Ist Rachel nicht aufgewacht?«
Er wirft mir einen verwirrten Blick zu. »Sie war um sechs wach und ist dann gleich wieder eingeschlafen.«
Er zögerte einen Augenblick. Ich versuche, von der Spritze loszukommen, zu dem Ort, an dem ich gestern nacht war, als ich mit schwingenden Armen nach Hause lief.
»In meiner Tasche ist ein Zwanziger. Wann bist du nach Hause gekommen?«
»Um eins. Und du?«
»Um elf? Ich weiß nicht.« All dies klingt sehr bedächtig, so, als wären wir zwei Bekannte, die sich beim Zahnarzt getroffen haben.
»Wie war die — hm —«
»Es war eine Sitzung — alle Abteilungsleiter haben sich versammelt, um das Drehbuch durchzugehen. Wir haben noch etwas zu tun, deshalb muß ich heute später zurückfahren. Ich…habe dich’vermißt.«
Die Worte rutschten mir genauso schwer heraus wie das erste »Ich liebe dich«, so ängstlich bin ich darauf bedacht, nicht abgewiesen zu werden. Ich bin mir nicht einmal so sicher, ob es wahr ist, als er sagt: »Ich habe dich auch vermißt«, dennoch fühle ich mich gewaltig erleichtert.
Er verlegt sein Gewicht. Charlotte setzt sich auf, schaut uns an, dann trottet sie in ihr eigenes Zimmer. Wie haben wir uns doch daran gewöhnt, unsere Kinder Zeugen unserer Privatangelegenheiten werden zu lassen.
»Vielleicht sollten wir am Samstag irgendwo hingehen. Zum Reservat hinausfahren und ein Picknick machen oder einen Spaziergang, etwas ganz Normales tun«, sage ich.
»Ich muß arbeiten.«
»Den ganzen Tag? Wir haben uns seit einer Woche nicht mehr gesehen.«
»Ist das meine Schuld?« fragt er.
»Ich habe nicht von Schuld gesprochen, ich habe nur etwas festgestellt. Ich bin enttäuscht, das ist alles.«
»Gut, ich bin auch enttäuscht.«
Seine Worte ermutigen mich. Ich sehe ihm zu, wie er aus dem Bett steigt und ein Jackett aus dem Wandschrank angelt. Der Kleiderbügel klappert auf den Fußboden. Du überläßt mir die Dreckarbeit.
»Enttäuscht wegen mir?« frage ich.
»Wegen allem.«
Er ist halb draußen, bevor ich ausreden kann.
»Du warst zu Hause, warum hast du darauf gewartet, bis ich komme, um ihr die Spritze zu geben?«
»Ich war eine Stunde lang zu Hause.«
»Und jetzt haust du das ganze Wochenende ab und läßt sie hier bei mir. Also, ich möchte sie nicht das ganze Wochenende.«
»Ich nehme sie. Ich nehme sie und lebe woanders. Du kannst Charlotte haben.«
Ich setze mich auf und werfe mein Kissen nach ihm. »Geh doch. Geh doch und nimm sie mit!«
Der Gedanke, ohne sie zu sein, bringt mich zum Weinen.
Sie ist krank, das arme Baby, so schwach, daß sie kaum aufrecht sitzen kann, bis zur Unkenntlichkeit aufgedunsen. Sie hat hohen Blutdruck und eine vergrößerte Leber. Ihr Blutzucker ist erhöht. Ihr Schrei erfüllt mich schmerzhaft mit Liebe und Hilflosigkeit — bitte, irgend etwas, das ihr hilft, irgend etwas! Mein Leben für ihres! Bitte laßt sie sterben! Ich möchte sie in meinen Armen halten, bis es ihr gutgeht! Ich möchte sie erwürgen! Ich will, daß es ihr wieder besser geht, egal wie behindert sie sein mag! Ich will, daß sie tot ist!
Meine Träume verstören mich die ganze Nacht über. So oft wache ich in Panik auf, daß ich anfange, mich gegen den Schlaf zu wehren. Wenn ich wach bin, halte ich sie fest, lege meine Hände um ihren Hinterkopf, weil ich vor dem, was in meiner Mühsal und Verzweiflung passieren könnte, Angst habe. Meine Hände zittern, als ich ihre Spritze vorbereite. Es dauert ein paar Minuten, bis ich eine geeignete Stelle an ihren gefleckten Oberschenkeln finde, und ich zögere, vor Angst, einen Schritt auszulassen. Ich habe Angst, daß ich vergessen könnte, sie zu betupfen oder nachzuschauen, ob ich im Muskel bin. Ich habe Angst, daß die Nadel wieder abgehen wird, ich habe überhaupt ganz einfach Angst.
Ich gehe weniger häufig zur Arbeit, und wenn, dann sind die Tage kürzer als vorher. Die Arbeit trägt mich weit weg und gibt mir Augenblicke der Ruhe, und doch — obwohl ich keinen ersichtlichen Grund habe — möchte ich lieber zu Hause sein.
Meine Schwiegermutter versorgt Rachel mit einer Leidenschaft, die niemals zu versiegen scheint. Sie begegnet Rachels Elend erhobenen Hauptes, mit der unzerstörbaren Zuversichcht, daß ihre Pflege die Qualen lindern wird, und doch sieht es manchmal so aus, als ob sie sich Rachels Schreie einverleibt hätte und mit sich trägt. Diese einst aufbrausende Frau ist jetzt meistens wie erstarrt und stumm.
Paul und ich Sprechen selten miteinander, tauschen nur häusliche Botschaften aus. Seine Eltern sagen nichts über unsere Entfremdung, obwohl ich weiß, daß sie sehen, wie entzweit wir beide sind. Was denken sie? Erinnern sie sich, so wie ich, an unseren ersten Besuch in Florida, damals, als wir frisch verheiratet waren? Paul wurde im Flugzeug krank, er fieberte tagelang, hielt mich an seiner Seite, damit ich ihm vorlas. Wir kuschelten uns auf ihrem langen Brokatsofa zusammen: er mit einem Afghanen um seine Schulter, ein heißes Bein über meinem, seine heißen Arme um meine Taille, während ich las. Wir verbrachten viele Stunden auf diese Weise, nur von Teetrinken und warmen Mahlzeiten unterbrochen, bis nach sieben Tagen und fünf Büchern seine Mutter sagte: »Laß sie in Ruhe, du wirst Sie sonst aussaugen.«
Eines Tages beginnen die Glynns zu packen. Ich bin erschreckt von der Aussicht, und obwohl es unhöflich wäre, sie zu bitten, länger zu bleiben, fürchte ich mich vor dem, was wir einander antun könnten, wenn sie weg sind.
Wir gehen an diesem Abend früh zu Bett, ich schlafe lange und außergewöhnlich tief, ein Schlaf, aus der Erschöpfung geboren. Was mich in der Früh aufweckt, ist Paul, der aus dem Bett hochschnellt. Er saust dermaßen aufgeregt Zur Schlafzimmertür, daß ich ihm hinterherlaufe.
Charlotte sitzt mit einem kaputten Leintuch ganz oben auf der Treppe, atemlos, schluchzend und mit glühenden Wangen. Paul geht mit langen Schritten an ihr vorbei und stößt die Tür zu dem Zimmer auf, in dem seine Eltern geschlafen haben. Ihre Betten sind abgezogen, Laken, Decken, Kissen liegen säuberlich aufgetürmt auf der Truhe. Selbst jetzt kann ich es noch nicht glauben, daß sie weggegangen sind, ohne sich zu verabschieden. Paul macht noch ein paar lange Schritte die Treppe hinunter und öffnet die Haustür.
»Sie sind weg«, sagt er. »Ich kann es nicht glauben, aber sie sind weg.«
Als er zu mir hersieht, fließt der ganze Schmerz von meinem Körper ab. Er legt seine Arme um mich und zieht mich fest an sich. Dann macht er sich plötzlich los und hebt Charlotte von der Treppe hoch. Er drückt sie gegen seine Brust und preßt sie gegen meine, um ein Sandwich aus Menschen zu machen, Charlotte mit verweintem Gesicht in der Mitte.
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Nach der Abreise der Glynns kommt Lourie jeden Tag. Sie hält Rachel stundenlang in den Armen und singt ihr Schlaflieder vor. Ich bin so dankbar, daß man es mit Worten nicht ausdrücken kann, und ich habe Angst, daß sie mir eines Tages sagen wird, daß sie nicht mehr kommen kann. Ich bin auch beschämt, daß es mir nicht gegeben ist, so mit meiner Tochter umzugehen, daß mir die Gabe, zu geben, ohne zu nehmen, die Lourie besitzt, abgeht. Es ist nicht so sehr das Schreien, das ich nicht aushalten kann, sondern eher die Tatsache, daß ohnehin nichts hilft. Mein Gefühl der Nutzlosigkeit stellt mich gegen sie ein: Ich hasse sie, weil ich ihr nicht helfen kann. Es gibt keinen Sinn, aber es ist so.
Als Rachel Geburtstag hat, möchte ich ihn in irgendeiner Weise feiern. Ich kaufe einen Kuchen mit Kerzen, die sie nicht ausblasen kann, stecke sie in das einzige Kleid, das, ihr noch paßt, ein weiter Kittel mit Volants am Saum, und fahre mit ihr zu dem Haus meiner Eltern. Ich weiß, daß es lächerlich ist, diese Qualen durchzustehen — Mickymaus-Teller für ein blindes, krankes Kind. Aber sie lebt und gehört uns, und daß wir ihren Geburtstag feiern, ist die einzige Möglichkeit, die ich habe, um meine Liebe zu ihr zu zeigen.
Sie schläft während des Essens, und als es Zeit ist für ihren Kuchen und ihre Geschenke, streiten Paul und ich, weil ich sie aufwecken möchte und er sie schlafen lassen will. Er ist unerbittlich, aber er steht allein da, deshalb nehme ich sie aus ihrem Kinderbett und setze sie in ihren hohen Stuhl. Unser Geburtstagskind plumpst in ihren Sitz und stöhnt mit zusammengepreßten Lippen und geballten Fäusten. Sie ist so riesig, daß sie aussieht, als würde sie einen Reifrock tragen.
Sie wird ihre hübschen Päckchen nicht berühren. Charlotte ist es, die sie öffnet und viel Aufhebens davon macht — ein Schachtelmännchen, ein Spielzeug zum Ziehen mit Klötzen drin, ein Plüschvogel mit großen beweglichen Flügeln. Paul sieht finsterem Gesicht zu, wie sie die Spielsachen inspiziert, und deshalb frage ich sie, ob sie sie nicht Rachel zeigen will. Sie stapelt sie auf der Ablage vor Rachels Hochsitz, dann nimmt sie die Hand ihrer Schwester und führt sie über den weichen, strahlenden Vogel. Rachel zappelt, zu schwach, um auszubrechen. Zuletzt dreht sie sich weg, und, während sie all ihre Kraft aufbringt, streicht sie mit dem Arm über die Ablage, so daß alle Geschenke durch die Luft fliegen. Die Flügel des Vogels breiten sich aus, und einen Augenblick lang schwebt er in der Luft. Wir sehen zu und erwarten einen Moment lang, daß ein mit Schaumgummi und Nußschalen ausgestopftes Spielzeug über uns schweben wird. Die Klötze fallen hinunter, der Vogel stürzt ihnen nach, und die Wahrheit schaut uns wieder ins Gesicht: Nichts kann zu ihr dringen, und das trifft auf uns genauso zu wie auf die Spielsachen.
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Oktober
Meine Mutter ist diejenige, mit der ich in diesen Tagen streite. Ich streite mit ihr, weil sie sagt, daß es Rachel besser gehen wird, und weil sie meine Frisur nicht mag. Ich streite mit ihr, weil sie mich bezichtigt, aus Eitelkeit zu hungern, während in Wahrheit mein Appetit großartig war, der Kummer mir jedoch das Fleisch von den Knochen gezehrt hat. Ich streite mit ihr, weil wir zu einer Familienfeier eingeladen sind, und sie zu mir sagt, daß es nicht nett wäre, Rachel mitzubringen und mich bittet, sie zu Hause zu lassen bei dieser Zusammenkunft, die für Erwachsene und Kinder gleichermaßen gedacht ist. Wir zanken über diesen Punkt so lange, bis mir meine Stimme versagt.
Am nächsten Tag erzählt sie mir dann, was für ein feiner Mann Paul doch ist, wie wunderbar er zu den Kindern ist, wie ungewöhnlich es ist, daß er sich nicht bedroht fühlt, da ich jetzt so oft weg bin, und um wieviel schwerer es für einen Mann als für eine Frau ist, ein behindertes Kind zu haben, und wir streiten wieder. Ich weiß, daß sie mir diese Sachen sagt, weil sie Angst hat, daß ich ihn verlassen könnte. Nichtsdestotrotz — ihre Worte treiben mich die Wände hoch. Erzählt sie Paul, daß er nett zu mir sein soll, wenn ich nicht da bin? Erzählt sie ihm, wie schwer es für mich ist? Hält irgend jemand hier zu mir?
Ich streite mit meiner Mutter, weil sie mich zum Einkaufen mitnehmen will, aber als wir hinausgehen, hört sie Rachels Schrei hundertfach verstärkt und ist überzeugt, daß wir die anderen Kunden stören, die eigene Schreihälse vor sich her schieben. Rachel windet sich in ihrem Wägelchen und bewegt ihren Kopf von einer Seite zur anderen, die Art ihres Körpers, »Nein!« zu sagen, und meine Mutter bringt sie mit böser Stimme zum Schweigen, ganz so, als wäre meine Tochter verzogen und hätte es nötig, an die Spielregel erinnert zu werden. Meine Mutter möchte nach Hause gehen, weil Rachel weint. Mir fallen Kinder ein, die in Anstalten eingesperrt sind, sowie Witze und Verbote, die auf Angst beruhen, und ich streite wieder. Ich kann mich an Rollstuhlbataillone erinnern, die durch ein Museum rollten, und wie sie mich weggezogen hat, damit ich es nicht sehen muß. Bringt unsere perfekte Welt nicht in Unordnung mit euren verkrüppelten Körpern, knorrigen Stümpfen und unbrauchbaren Gliedmaßen. Zeigt uns nicht eure Atemgeräte und Prothesen. In der Müttergruppe hat man mich gewarnt, daß ich zum Anwalt werden würde, und ich wurde es.
»Sie hat ein Recht zu leben!« erkläre ich meiner Mutter, und erinnere mich gerade dann an eine typische Phrase aus meiner Kindheit: Es ist eine freie Welt.
Sie ist es nicht, natürlich nicht.
Sie kann das Ausmaß meines Zorns nicht begreifen und sagt: »Bitte, laß sie uns nach Hause bringen. Es gehört sich nicht.«
»Verdammte Scheiße«, sage ich.
Wir streiten, weil sie sagt, daß ich verbittert bin.
»Ich habe das Recht, verbittert zu sein.«
»Nein«, sagt sie. »Irgendwann wirst du deshalb allein sein.«
Ich lache bitter. »Und was ist daran neu? Ich bin allein.«
Und das ist wahr. Ich denke an unsere erste Woche, als das Telefon pausenlos klingelte. Wie ruhig unser Haus jetzt abends und an Feiertagen ist, wie still unsere Verwandten und Freunde sind! Wo sind sie nur alle hin?
»Du erwartest zuviel«, sagt meine Mutter, und während ich das bedenke, sagt sie: »Die Leute haben Angst anzurufen. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen.«
»Sie haben Angst — gut, das verstehe ich. Aber wenn meine eigenen Verwandten in einer Zeit wie dieser ihre Ängste nicht überwinden können, dann möchte ich kein gottverdammtes Wort mehr über die Familie hören und davon, wie wichtig sie ist. Denn es macht keinen Sinn, wenn die ganze Sache mit der ganzen Familie darauf hinausläuft: gut für uns und schlecht für dich.«
»Du weißt nicht, wie weh es mir tut, dich so zu erleben.«
Ich bin selbst Mutter und kann mir vorstellen, wie beunruhigend es sein muß zu sehen, wie das süße Baby, das sorglose Kind, der kichernde Teenager zu dieser traurigen Gestalt wurde. Nichtsdestotrotz ist meine sprachliche Gewandtheit beeinträchtigt, und alles was ich herausbringen kann, ist ein anderes trotziges »Verdammt.«
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Ich packe Pauls Sachen für eine Tagung in Denver, ich packe für ihn, wie die sprichwörtlich gute Ehefrau, die ich nicht bin, zähle die Unterwäsche ab, lege Hemden zusammen und wähle Krawatten aus. Und dann ist es dieselbe alte Geschichte: Ich kann es nicht erwarten, bis er weg ist, und kann es nicht aushalten, daß er weg ist.
Am ersten Morgen, an dem ich allein bin, brennt sich ein Gedanke in mein Gehirn. Wir bringen dieses Kind um, sie wird an diesem Zeug, das wir ihr in ihre gefleckten Beine injizieren, zugrunde gehen.
Seit Beginn der Behandlung habe ich Angst, bin besessen von Träumen, in denen wir ihren Tod verschulden. Dann sagt Louri an einem Nachmittag, als ich von der Arbeit zurückkehre: »Es geht ihr so viel schlechter.«
Als ich Dr. Klibansky anrufe, erfahre ich, daß sowohl er als auch Dr. Gutman auf einer Tagung sind. Dr. Klibanskys Sekretärin gibt mir den Namen eines Kinderneurologen, der ihn vertritt. Am nächsten Morgen erreiche ich ihn. Ich beschreibe Rachels Krankheit und die Diät, die sie bekommt. Ich erzähle ihm, wie schwach sie ist, daß sie sich nicht mehr umdrehen und nicht mal mehr sitzen kann.
»Mit ACTH wird sie behandelt?« fragt er.
»Ja«, sage ich. »Sind Sie damit vertraut?«
»Einigermaßen. Und was Sie beschreiben, klingt überhaupt nicht so, als hätte es etwas mit Medikamenten zu tun.«
Er sagt, daß er sie sich ansehen werde, wenn ich das wünsche, aber wahrscheinlich werde es nicht der Mühe wert sein, daß ich sie nach New York fahre, denn das Beste, was er tun könne, sei, ihre Lunge und ihr Herz zu untersuchen, nicht mehr als mein hiesiger Kinderarzt.
Ich befolge seinen Rat und erzähle meine Geschichte statt dessen unserer Kinderärztin. Sie führt eine Routineuntersuchung durch — Augen, Ohren, Nase —, sagt mir, daß Rachel übergewichtig ist, und daß ihre Ohren ein bißchen rot sind. Es ist wirklich nichts, doch es könnte auch der Anfang einer Infektion sein.
Sie schreibt ein Rezept für Amoxicillin aus, von dem ich weiß, daß ich es ihr nicht geben werde, und notiert auf ein anderes Papier den Namen einer besonderen Schule in der Nähe, zu der ich Rachel eventuell schicken könnte. »Sie hat einen ausgezeichneten Ruf«, sagt sie.
Es ist eine Schule für die minderbemitteltsten Kinder, für diejenigen ohne Hoffnung. Es ist die Schule, in die man Katie eingewiesen hatte. Ich zerknülle das Papier, lasse es in ihren Papierkorb im Wartezimmer fallen und gehe.
Donnerstags weine ich. Sobald ich den Raum zur Kinderstimulation betrete, fühle ich, wie der Kummer hochkommt. Pachelbels Kanon bringt mich zum Weinen. Rachel stöhnt. Ein Kind, das seine ersten Schritte mit drei macht. Ein Kind, das in einem Körper gefangen ist, der überhaupt nicht funktionieren wird. Die hellen, von Freiwilligen unbeholfen angemalten Wände, Raggedy Ann und Andy, eine Wagenladung Spielzeug. Der riesige Bär in der Ecke mit seinen massigen hängenden Schultern bringt mich manchmal zum Weinen, und manchmal auch ein Kind, das ängstlich »Maaaaamaaaaal« schreit. Manchmal bin ich diskret, und niemand bemerkt es. Manchmal verstecke ich mich im Badezimmer.
Eines Tages, nachdem ich Rachels Stöhnen eine geschlagene Stunde lang zugehört habe, breche ich zusammen, so wie ein Damm bricht: Vor einer Minute noch war alles unter Kontrolle, und dann plötzlich ein Sturzbach, den nichts aufhalten kann. Obwohl es sehr unangenehm ist — die Nase läuft, die krächzenden Schluchzer schmerzen, Maskara läuft unter die Kontaktlinsen —, kichere ich und lache trocken, als ob ich Freude weinen würde. Danke für das Fest, danke euch allen.
»Ich sollte sie nicht mehr hierherbringen«, sage ich.
»Wenn Sie Sie nicht mehr herbringen wollen, dann lassen Sie es«, sagt Faith. »Aber bitte, glauben Sie nicht, daß sie uns stört, oder daß wir von ihr erwarten, daß sie eine Vorstellung gibt.«
»Es ist solch eine Zeitverschwendung.«
»Für uns nicht. Vergessen Sie nicht, wir arbeiten mit Kindern im Koma.«
Ich nicke und schniefe und fühle mich wie eine Närrin, und als die Sitzung zu Ende ist, nehme ich Rachel mit hinunter zu Dr. Goldstein.
Er hat sie seit Juli nicht mehr gesehen, und obwohl er freundlich und gesprächig ist und er in der gleichen munteren Weise zu ihr spricht, kann ich seiner Art entnehmen, daß ihr Befinden ihn verwirrt. Ich erzähle ihm von den infantilen Spasmen und von den ACTH-Spritzen. Als ich meinen Vortrag beendet habe, sagt er:
»Ich habe noch nie von einer solchen Reaktion gehört. Vielleicht ist das, was wir sehen, nicht das ACTH, sondern der Gehirnschaden selbst. Meist zeigt es sich deutlicher, wenn ein Kind älter wird.«
»Wer hat das gesagt — Klibansky?« fragt Paul, als ich ihm diese Neuigkeit telefonisch überbringe.
»Klibansky ist auf einer Konferenz, und Gutman auch, deshalb habe ich mit Dr. Goldstein —«
»Klibansky hat uns gesagt, daß sie krank werden könnte, nicht wahr? Und was hat Gutman gesagt? ›Manche Babys schreien von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang.‹ Also, erzähl mir nicht, was irgendein Arschloch gesagt hat, ich möchte es nicht hören!«
Am Tag der Familienfeier kann ich nichts finden, was Rachel paßt. Es endet damit, daß ich in die Stadt gehe und ihr einen Anzug kaufe, der mehrere Nummern zu groß ist und deshalb an den Ärmeln und Beinen hochgerollt werden muß. Selbst dieser ist um die Mitte herum eng.
Ich selbst kann auch nichts zum Anziehen finden. Ich streife Kleider von den Bügeln, probiere etwas, werfe es auf das Bett, ziehe etwas anderes an und schimpfe die ganze Zeit über leise vor mich hin. Warum soll ich sie verstecken? Sie ist meine Tochter, sie geht dahin, wo ich hingehe.
Paul ist aufgebracht, Rachel weint. Ich probiere alles, was ich habe, und hasse es immer noch, wie ich aussehe.
Wir sind spät dran, das hebt die Laune nicht gerade. Auf dem ganzen Weg zu dem Haus meines Onkels fahre ich fort, im stillen zu schimpfen, während Rachel in ihrem Autositz stöhnt. Muß ich so tun, als ob meine Tochter nicht existiert, obwohl sie eine von uns, unser Fleisch und Blut ist? Sind diese Feste nur für die Unversehrten gedacht und nicht für sie?
In mir ist solch ein geballter Zorn, daß es keinen Weg gibt zuzugeben, daß es noch einen Grund gibt, weshalb ich sie mitnehme: weil ich es nicht übers Herz gebracht habe, Lourie zu fragen, ob sie auch am sechsten Tag hintereinander auf sie aufpaßt.
Als wir ankommen, trägt Paul Rachel in das Haus meines Onkels, und ich eile geradewegs ins Badezimmer. Ich sitze auf dem Wannenrand und stelle mir vor, wie ich durch das schmale Fenster klettere und ganz weit weglaufe. Dann wasche ich mir Gesicht und Hände und verlasse den Raum.
Paul steht in der Küche, wiegt sie in seinen Armen und erklärt die Spasmen und die Spritzen, die sie krank machen. Meine Familie steht da und hört zu, und als er zu sprechen aufhört, nimmt eine meiner Verwandten Rachel, so daß er etwas essen kann. Nach einer Weile nimmt meine Tante Rachel aus den Armen meines Cousins; dann hält mein Vater sie für ein Weile. So geht der Nachmittag vorbei. Es gibt Zeiten, in denen ich sie hasse, und Zeiten, in denen sie weit genug weg ist, so daß ich sie beinahe vergessen kann.
Wir warten
November
Am letzten Tag des Monats halten Paul und ich Rachel noch einmal auf dem Bett fest, holen einen ihrer gesprenkelten Schenkel aus dem Schlafanzug und verabreichen ihr die letzte Spritze. Als wir damit fertig sind, nehme ich Rachel auf den Arm. »Jetzt haben wir es geschafft, Baby«, sage ich zu ihr. »Wir haben es geschafft.«
Paul wirft die Spritzen und Nadeln in hohem Bogen in den Abfall und schmeißt die Phiole hinterher, in der sich noch Gel im Wert von dreißig Dollar befindet.
In der darauffolgenden Woche bekommen wir den ersten Schnee in dicken, wolligen Flocken, und der Wind weht so stark, daß es aussieht, als ob der Schnee auf der Erde entstehen und zum Himmel hochgeblasen würde. Auf dem Speicher finde ich einen Schneeanzug, der groß genug ist, um Rachels Umfang Platz zu bieten. »Mein kleiner Wonneproppen«, sagt Paul zu ihr, als er sie in ihrem Autositz festschnallt.
Die Straße ist schön, das Auto wie ein Ozeanriese auf nebliger See. Im gleichen Moment, in dem die Scheibenwischer den Schnee wegschieben, klatscht von oben schon neuer herunter, und Paul, muß sich ziemlich anstrengen, um den Weg sehen zu können. Ich liebe den Schnee. Ich liebe ihn vollkommen kritiklos, so wie man eine wertlose Person liebt, und deshalb mochte ich die vergangenen dürftigen Winter nicht.
Bald sind wir auf den Straßen der Innenstadt. Ein Mann fegt gerade sein Auto mit einem Küchenbesen frei, eine Frau geht vorbei, eingehüllt in eine Plastiktüte von einer Reinigung. Ihr Hund tragt Ohrenschützer. Lange Zeit, bevor ich die bräunlichen Gebaude sehen kann, spure ich in meinen Eingeweiden, daß wir angekommen sind.
Wir parken das Auto und steigen den steilen Hügel empor, vorbei an Augen und Krebs und Hirn. Ein Jahr ist vergangen, fast auf den Tag genau ein Jahr, seit die Diagnose zum ersten Mal gestellt wurde. Ein schlechtes Jahr. »Ich haue ihm eine runter, wenn er gemein zu uns ist«, drohe ich. »Ich schwöre bei Gott, das werde ich tun.«
»Tu’s nicht«, sagt Paul.
Die Tatsache, daß er mich einer solchen Tat für fähig hält, genügt, um mich zu besänftigen.
Wir hängen unsere Mäntel in einem Wartebereich auf, der von mehreren Ärzten gemeinsam benutzt wird, und sind gerade dabei, Rachel aus ihrem Schneeanzug zu schälen, wobei jeder von uns sich ein Bein vornimmt, da sehen wir, wie uns Dr. Klibansky vom Korridor aus zu sich winkt. Er sieht genauso aus wie in meinen Träumen: klein und finster, mit einem wilden Haarschopf auf dem Kopf.
»Gehen wir hier hinein«, sagt er. Die Schöße seines weißen Kittels wehen, wenn er sich umdreht.
Wir befinden uns in einem ganz einfachen Raum: hellblaue Wände, ein Druck eines Blumenstraußes von Picasso, Tupfer, Zungenspatel, ein verchromter Mülleimer. Paul setzt Rachel auf den Üntersuchungstisch und zieht ihr das Hemd über den Kopf. Seine Hände zittern. Ich stehe in einer Ecke und sehe zu, wie er Rachels Latzhose ungeschickt über ihre Schuhe zieht. Als er es schließlich geschafft hat, setzt er Rachel wieder hin und richtet ihre Beine, um sie auszubalanderen. Sie neigt sich zur Seite und gerät ins Schwanken. Klibansky rückt zu ihr herüber.
Er legt sie hin und hilft ihr wieder hoch, klopft ihr auf die Knie, kitzelt ihre Fußsohlen. Er legt ihr das Maßband um den Kopf, und ich halte den Atem an, als ob absolute Stille den Umfang ihres Kopfes verandern konnte. Als Dr. Klibansky zum zweiten Mal mißt, kann ich an semem Gesicht sehen, daß er nicht zufrieden ist. Ich möchte wissen, was los ist, ich möchte es nicht wissen, ich möchte es wissen, ich möchtees nicht wissen.
»Ziehen Sie sie wieder an«, meint er schließlich.
Als wir alle in seinem Büro sitzen, beginne ich zu sprechen.
»Sie kann nicht auf dem Bauch liegen. Sie ist zu schwach zum Sitzen. Sie stöhnt den ganzen Tag über.«
»Ich habe es Ihnen gesagt, nicht wahr? Ich habe Ihnen erklärt, daß manche Babys viel weinen.«
»Man hat mir gesagt, ihre Schwäche habe nichts mit dem ACTH zu tun, und das, was wir sehen, seien die Auswirkungen ihrer Hirnschädigung.«
»Ich habe Ihnen das aber bestimmt nicht gesagt.«
»Sie waren nicht da.«
»Eine Muskelschwäche ist bei diesem Medikament eine sehr häufige Nebenwirkung. Sie wird bald wieder kräftig werden.«
Das Bedürfnis zu wissen gewinnt die Oberhand. »Ist ihr Kopfumfang noch normal?«
Er zeigt uns die Tabelle, auf der Rachels Kopfmaße festgehalten wurden, und ich sehe, daß man mit einer geraden Linie alle Punkte verbinden könnte, mit Ausnahme des letzten.
»Er ist etwas zurückgegangen, aber das ist zu erwarten, wenn ein Kind infantile Krampfanfälle durchgemacht hat.«
»Und was bedeutet das?«
»Es ist eine Schädigung des Gehirns eingetreten und sein Wachstum hat sich verlangsamt.«
»Wie sind Ihre Prognosen?« fragt Paul.
»Die Tatsache, daß sie infantile Krämpfe hatte, läßt auf eine Schädigung schließen, und Sie sehen ja, was mit ihrem Kopfumfang passiert ist. Wenn Sie nun von mir wissen wollen, welches Ausmaß der Schaden hat, kann ich Ihnen das wirklich nicht sagen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird eine gewisse intellektuelle Beeinträchtigung vorliegen.«
Da sind sie wieder, diese Worte.
»Was bedeutet das genau, eine gewisse intellektuelle Beeinträchtigung? Ist das ein Euphemismus?«
»Ich benutze keine Euphemismen. Es bedeutet das, was es heißt, nämlich, daß eine ganze Reihe von Defiziten autreten können. Es kann sein, daß Sie es sofort erkennen, es kann aber auch sein, daß Sie es erst merken werden, wenn Sie in die Schule kommt und größere Anforderungen an sie gestellt werden. Vielleicht bedeutet es einen Verlust von dreißig IQ-Punkten bei einem IQ —«
»Das wäre nicht schlimm, wenn man von einem IQ von einhundertundfünfzig ausgeht«, wirft Paul ein.
»— oder es könnte auch bedeutend mehr sein. Geben Sie ihr Zeit, sich von den Folgen des ACTH zu erholen. Es kommt jetzt darauf an, wie schnell sie es schafft, ihre Rückstände aufzuholen.«
Als wir wieder draußen sind, schneit es immer noch, aber auf dem Boden ist davon kaum etwas zu sehen. Paul hält Rachel so, daß ihr die Flocken aufs Gesicht fallen. »Schnee«, sagt er. »Kalter weißer Schnee.«
Ich erinnere mich daran, wie er mit Charlotte immer auf der Couch saß, das offene Buch zwischen ihnen, und wie er dann von einem Bild zum anderen deutete. »Da ist ein Häschen, das sind Häschens Socken, Häschens Schuhe, seine Jacke, sein Hut, seine Handschuhe…« Ich weiß noch genau, wie ich eines Nachmittags an ihnen vorbeikam, Paul auf die Bilder deuten sah und hörte, wie Charlotte sagte: »Häsen Suhe, Häsen Socke, Häsen Hut, Häsen Jacke…«
»Licht«, ruft Paul jetzt. »Rinnstein! Taxi! Schnee! Schnee, Rachel, Schnee!«
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Dezember
Also warten wir.
Warten können wir gemeinsam. Wir warten darauf, daß sich etwas verändert, oder auf noch weniger, nämlich auf irgendein Anzeichen, daß sich zumindest eine Veränderung anbahnt. Paul geht jeden Morgen zur Arbeit und: ruft jeden Nachmittag zu Hause an, um sich zu erkundigen: »Was gibt’s Neues?« — »Nicht viel«, antworte ich, und er legt wieder auf.
Als Charlotte geboren war, sagte mir Paul einmal, daß ein Kind zu haben ihm das Vergehen der Zeit bewußt mache wie nie etwas zuvor. Ein Säugling verwandelt sich aus einem schläfrigen Bündel von Bedürfnissen so schnell in ein wahrnehmendes Wesen, daß es einem vorkommen kann, als beobachte man im Zeitraffer eine Blume, die aufblüht. Paul rief mich nach Charlottes Geburt jeden Tag an, und immer gab es irgendeine momentane Neuigkeit. Sie lächelte, sie konnte sitzen, sie hielt ihre Tasse allein fest…
Rachel wacht auf, und wir holen sie aus ihrem Bettchen. Sie hat sich das Kinn wundgerieben. Sie will gefüttert werden. Draußen ist es kalt und grau oder kalt und sonnig oder kalt und regnerisch. Paul ruft an und fragt: »Hallo, was gibt’s Neues?« Und ich antworte: »Es gibt nichts Neues.« — »Hatten wir Post?« — »Die Gasrechnung, die Wasserrechnung. und irgendwelche Reklame.«
Wir heben Rachel hoch, küssen ihr Mondgesicht, wechseln ihre Windeln vorsichtig wegen der blauen Flecke, die sie immer noch überall auf den Beinen hat, und an einem Tag schneit es draußen, und am nächsten hat es schon wieder getaut. Wir packen Rachel in den großen Schneeanzug und nehmen sie mit zur Kinderfördergruppe, zu meinen Eltern, zum CVJM, wo Charlottes Schwimmkurs stattfindet, und an einem Nachmittag kann ich die Kälte bis in die Lungen spüren, während ich am nächsten ohne Mantel ausgehen kann.
Wir heben Spielzeug und Schuhe auf, wir heben Rachel auf und küssen ihren geschwollenen Bauch, und wenn sie im Supermarkt anfängt zu weinen, werfen wir ihr Trauben in den Mund wie Münzen in einen Schlitz. Paul ruft an und sagt: »Hallo, ich bin’s.« Und ich antworte: ,»Hallo.« — »Hat jemand angerufen?« — »Laß uns überlegen…hmmmm…ein Computer namens Hal, der uns eine Lebensversicherung verkaufen wollte.« — »Und?« — »Wir wollten keine haben.« — »Und?« — »Das war’s so ungefähr.«
In diesen endlosen Tagen, in denen überhaupt nichts passiert, geht Charlotte zu Kindergeburtstagen und lernt, Lauf, Hund, lauf zu lesen, Paul züchtet seine Zellen und registriert Daten, und ich entwerfe eine Geschichte, die ich »Dem Baby die Nadel geben« nenne. Rachel wacht auf und weint, und wir wickeln sie und halten sie in unseren Armen. An einem Tag scheint die Sonne so strahlend, daß man denken könnte, der Winter sei zu Ende. Am nächsten Tag fällt Graupel aus einem schwärzlichen Himmel, scheußliches Zeug, das Rachel aufweckt, als ich mit ihr nach draußen gehe. Paul ruft an, und wie immer gibt es nichts zu sagen, also berichte ich ihm von der Kruste hinter Rachels Ohren, über die Länge ihrer Fingernägel und von dem dunklen Haarflaum, der ihr im Nacken gewachsen ist, auch dies eine weitere Nachwirkung des ACTH. Ich erzähle: »Ich habe ihr die Zehennägel geschnitten, und es schien ihr gar nichts auszumachen.« Oder: »Sie hat in der Badewanne gesesesen, ohne einmal umzufallen«, denn in diesem Fall sind alberne Neuigkeiten immer noch besser als gar keine Neuigkeiten.
Eines Tages lächelt Rachel. Sie ist immer noch aufgedunsen und unwohl, aber zum ersten Mal seit der Zeit der Spritzen geht es ihr gut genug, daß sie ein bißchen aus ihrem Unbehagen hervorkommen kann. Und mir wird klar, daß ihr Elend so plötzlichüber uns alle hereingebrochen ist, daß wir alle sofort mit darin steckten, während ihre Genesung sich schrittweise vollzieht.
»Sie weint nicht«, sage ich eines Tages zu Paul, als wir alle beisammensitzen.
Wir streiten uns nicht, hätte ich auch sagen können, wenn es mir zu diesem Zeitpunkt schon aufgefallen wäre.
Ein Lächeln, ein Interesse an etwas anderem als am Essen, eine Reaktion auf unsere Stimme, die Bereitschaft, die einfachen Babyspiele zu spielen, die sie vor ein paar Monaten so sehr geliebt hat. (»Wo ist Papas Brille?«)
Eines Sonntagsmorgens sind wir alle vier zusammen im Bett, und ich habe überhaupt keine Lust, wach zu werden. Charlotte und Paul wispern und wälzen sich und ziehen an der Bettdecke, und schließlich fassen sie mit lauter Stimme den Beschluß, daß sie zum Frühstück ausgerechnet die Sorte Pfannkuchen essen wollen, die nur ich zubereiten kann. Ich bettle um ein bißchen mehr Schlaf, ich bin bereit, all die Vorrechte, die ich besitze, für zwanzig Minuten Extraschlaf aufzugeben. Aber die Sonne steht schon hoch am Himmel, und die anderen sind hungrig. Ich rolle mich in meine Decke ein wie in einen Kokon. Charlotte klettert auf mich und zieht an meinem Augenlid, wie sie es getan hat, als sie zwei Jahre alt war, und sagt: »Augen auf, Mami, Augen auf«, wobei sie mit ihren klebrigen Fingern an ihnen herumfummelt.
Ich öffne unwillig die Augen, und was ich sehe, ist Rachel, die versucht, den Berg zu erklimmen, den ich für sie darstelle. Sie klammert sich an die Decke und stößt sich mit den Füßen ab, ihr Gesicht ist vor Anstrengung ganz ernst. Sie arbeitet schwer, sie gibt alles, was sie hat.
TEIL IV
Zeit der Genesung
Nachdem die Spritzen überstanden waren, hatten wir ganz simple Wünsche: alles, worauf wir hofften, war, daß es Rachel bald besser gehen sollte. Wir wünschten, sie würde friedlich einschlafen, mit einem Lächeln wieder aufwachen und an der Welt den Gefallen finden, den sie an ihr gehabt hatte, bevor sie krank wurde. Wir waren überglücklich über ihre ersten Bemühungen, sich aus dem Leid zu befreien, das sie so lange gefangengehalten hatte, aber wir hegten keinerlei Erwartungen und dachten auch nicht über ihre Zukunft nach. Schließlich mußten auch unsere Wunden erst wieder heilen, auch wenn dies keinem von uns wirklich bewußt war.
Im Laufe des Winters weinte Rachel immer weniger und schließlich fast gar nicht mehr. Die blauen Flecken auf ihren Beinen begannen zu verblassen, und ihr Lächeln verwandelte sich langsam in ein Lachen. Eines Tages, als ich dabei war, ihr ein Frotteelätzchen um den Hals zu binden, bemerkte ich, daß die Ödeme abzuschwellen begannen.
Unser Heilungsprozeß verlief genauso langsam und leise wie der ihrige. Wir verbrachten unbeschwerte Stunden zusammen, lachten und redeten von anderen Dingen. Schritt für Schritt begannen wir auch wieder, Anspruch auf unser eigenes Leben zu erheben. Wir erinnerten uns an die Träume, die wir gehabt hatten, bevor wir Rachels Diagnose kannten, an mein Buch und Pauls Dissertation. Eines Abends, als Paul sich von einem anderen Zimmer aus mit mir unterhielt, wurde mir klar, daß sich auch unsere Stimmen verändert hatten. Verschwunden war der gereizte Unterton, der regelmäßig mitgeschwungen war, verschwunden auch die sprtzen Bemerkungen und Anklagen. Wir redeten wieder nett miteinander, wie Freunde oder Liebende es tun.
Charlottes Genesungsprozeß verlief dramatischer. Als es Rachel langsam besser ging, verlor sie ihre sanfte Unterwürfigkeit. Sie ließ ihre Socken in die Toilette fallen, pinkelte hinein und leugnete dann die ganze Angelegenheit. Sie zerpflückte einen ganzen Karton voller Styroporflocken und schüttete die Bescherung auf den Boden des Sonnenzimmers, spuckte jeden Morgen ihre Vitamin-Kautabletten neben das Waschbecken nahm Rachels Stofftiere und versteckte sie unter ihrer Bettdecke. Obwohl sie nach wie vor bezaubernd war, wenn sie mit Paul oder mit mir allein war, konnte sie uns beide zusammen nicht ertragen, und wenn wir uns in ihrer Gegenwart umarmten oder küßten, drängte sie sich mit ihrem kleinen Körper zwischen uns. Es machte sie so elend, wenn sie uns glücklich sah, daß es einem fast vorkam, als seien ihr die Tage lieber gewesen, in denen wir beide kaum ein Wort herausgebracht hatten.
In dem Winter, in dem Rachels Körper sich langsam von den Auswirkungen des ACTH erholte, begannen Charlottes Schwierigkeiten mit den Augen. Wir stellten ihr besorgte Fragen, und sie gab zu, ja, sie sehe die Tafel in der Schule nur verschwommen, die großen Buchstaben in ihren Geschichtenbüchern seien schwer zu lesen, manchmal sehe sie alles doppelt, und manchmal könne sie überhaupt nichts sehen.
Wir vereinbarten einen Termin für sie bei einem Augenarzt um die Ecke, und an einem verschneiten Nachmittag ging Charlotte zusammen mit Paul dorthin. Ich war gerade draußen beim Schneeschippen, als die beiden den Hügel wieder hochgestapft kamen, durch weichen, lockeren Schnee, über den sie sich eigentlich hätten freuen müssen. Charlotte ging ein paar Meter vor Paul, Schneeklumpen in ihrem Haar und auf ihrem Pullover, der Reißverschluß an ihrer Jacke war offen und Tränen strömten ihr übers Gesicht. Sie klatschte mir ein Malbuch und einen Aufkleber mit der Aufschrift: »Ich mag meinen Augenarzt« in die Hand und stürmte ins Haus, jede Information verweigernd. Paul überbrachte mir die bestürzende Nachricht, daß Chariottes Augen »ganz langweilig normal« seien.
Wir gaben ihr ein altes Brillengestellt von Paul, und später kauften wir ihr ein witziges eigenes Gestellt, das im Dunkeln leuchtete. Sie trug es eine Weile, dann wurde es ihr ziemlich schnell lästig, und als sie sieben Jahre alt wurde und wir schon dabei waren, uns langsam damit abzufinden, daß sie irgendwann einmal tatsächlich eine Brille brauchen würde, verkündete sie, das Brillengestell sei häßlich und sie würde ihr ganzes Leben lang nie wieder eine Brille aufsetzen.
In dem Winter, als Charlotte in Tränen aufgelöst war, weil sie normale Augen hatte, machte ich mir über Rachels Sehvermögen kaum Gedanken. Welche visuellen Defizite sie auch immer noch haben mochte, so erschienen doch ihre diesbezüglichen Schwierigkeiten gegenüber ihren sonstigen Problemem so geringfügig, daß sie aufhörten, ein Hauptanliegen von mir zu sein. Rachel war hirngeschädigt, nur mußten wir erst noch herausfinden, in welchem Ausmaß. Klibansky hatte zu uns gesagt: »Es kann sein, daß Sie es sofort sehen; es kann aber auch sein, daß Sie es erst herausbekommen, wenn sie mit der Schule anfängt und höhere Anforderungen an sie gestellt werden.« In meiner Erinnerung sieht es so aus, als hätte, ich mich vollkommen mit ihrer Beinahe-Blindheit abgefunden, daß mich diese nicht mehr beunruhigte. Ich nehme an, daß das nicht ganz stimmt, denn ich kann mich auch daran erinnern, wie ich mich oft ganz nah neben sie setzte und sie breit anlächelte. Ich wollte sie damit nicht prüfen. Ich war viel zu sehr abgeschreckt, um tiefer zu wühlen, und Paul ging es ebenso. Ich glaube, der Grund dafür, daß ich so dasaß und sie angrinste, war, daß ich nach wie vor den Augenkontakt vermißte, der Eltern so viel erzählt, wenn andere Formen der Kommunikation nicht zur Verfügung stehen, und daß ich, so hoffnungslos es auch aussah, doch noch immer darauf wartete, daß sie wie die meisten Babys bei meinem bloßen Anblick anfangen würde zu strahlen.
Eines Tages bleckte ich also wieder einmal alle Zähne zu einem breiten Lächeln, und da hätte ich schwören können, daß mein kleines Mädchen ihr Gesicht verzog und zurückgrinste. Oder etwa nicht? Weil es für mich nichts Schlimmeres gibt als falsche Hoffnungen, hatte ich mir im Verlauf des letzten Jahres angewöhnt, erst einmal zu zweifeln, bevor ich irgend etwas glaubte, und so setzte ich der Aufregung, die in mir aufwallte einen Dämpfer auf, lächelte noch einmal für Rachel und bekam als Belohnung ein großes, faltiges Grinsen. Ich streckte die Zunge heraus, und als habe Rachel dieses Spiel schon lange gekannt und nur darguf gewartet, daß ich es endlich spitzkriegte und mit ihr spielte, streckte sie ebenfalls die Zunge heraus.
Nicht einmal Paul konnte abstreiten, daß Rachel mein Lächeln sah und nachahmte, daß sie also demzufolge mein Gesicht wahrnehmen konnte. Ob sie es scharf sah oder verschwommen, war unwichtig. Sie lächelte als Antwort auf mein eigenes Lächeln, sie streckte die; Zunge heraus, wenn ich ihr die meine herausstreckte. Mit der Zeit begannen auch andere Dinge Rachel zu interessieren, die sie bisher ignoriert hatte: Ballons, Spielzeug und Spiegel. In der Kinderfördergruppe setzte ich sie vor einen Spiegel mit Scharnieren, und sie schnitt ihrem Spiegelbild Grimassen wie ein kleines Affchen. Das Licht mußte dafür in bestimmter Weise auf sie fallen, der Spiegel mußte sich ganz in ihrer Nähe befinden, und sie mußte munter genug sein, um es überhaupt zu versuchen. Aber wenn sie dann im Spiegel ihre Grimassen schnitt, war es so wunderbar anzusehen, daß die anderen Mütter sich voller Ehrfurcht zu ihr umdrehten und sagten: »Es ist doch ein Wunder. All der Kummer…Diese Mistkerle von Ärzten…«
Nein, es war kein Wunder, auch wenn es uns so vorkam. In seiner ersten Diagnose hatte Dr. Hines bereits davon gesprochen, daß Rachels visuelle Defizite zwar bedeutend seien, aber nicht vollständig. Das lange Warten hatte unsere Hoffnungen gedämpft. Neun Monate hatte es gedauert, bis sie Bohnen, Bananen und Lichtstrahlen sehen konnte. Es schien nicht angemessen, mehr zu erwarten, denn die Art, wie Rachel den Kopf schief legte, wies darauf hin, daß das Sehvermögen, das ihr zur Verfügung stand, in der Peripherie des Auges angesiedelt war.
Paul hatte mir viele Male erklärt, daß in diesem Bereich der Netzhaut keine große Sehschärfe erreicht werden kann (außerdem gibt es dort auch kein Farbensehen), so daß Rachel niemals klare, detaillierte Bilder wahrnehmen würde. Aber selbst wenn das so war, konnte sie doch ein Lächeln und ein verächtliches Schnauben voneinander unterscheiden, und sie sah genug von ihrem eigenen süßen Gesicht, daß sie Spaß daran hatte, vor einem Spiegel Faxen zu machen.
Ich erinnerte mich daran, wie Sharon gesagt hatte, daß Kinder lernen müssen, die ihnen zur Verfügung stehende Sehkraft zu nutzen und daß ihre Sehfähigkeit selbst dann noch über Jahre hinweg stetig zunimmt, wenn ihr Zustand eigentlich statisch ist (was bei Rachel der Fall ist). So gingen Paul und ich in der Zeit nach Rachels erstem reaktivem Lächeln durch die Gegend wie Hanswürste: dauernd grinsten wir und streckten die Zunge heraus. Ich kaufte für Rachel Bilderbücher, eine Puppe mit riesigen, aufgerissenen Augen, einen leuchtend roten Ball mit großen weißen Punkten. Ich blies Seifenblasen für sie und gab ihr Topfdeckel und Folie, damit sie das Licht einfangen konnte. Rachel legte den, Kopf schief, kniff die Augen zusammen und griff nach Sachen. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie frustriert und jammerte, wenn sie etwas haben wollte oder wenn wir sie allein ließen, denn jetzt wußte sie, was sich außerhalb ihrer Reichweite befand. Ihr durchdringendes Geschrei war Musik für uns, und Paul legte die Arme um mich und sagte: »Ah. Genau wie ein richtiges Baby.«
Wie ein richtiges Baby begann Rachel nun auch zu krabbeln, wenn sie auch zu diesem Zeitpunkt keine sieben oder acht Monate alt war, sondern ein Jahr und fünf Monate. Wie ein richtiges Baby zog sie sich zum Stehen hoch, wenn auch nicht mit acht oder zehn Monaten, sondern mit eineinhalb Jahren. Wir freuten uns so sehr darüber, daß sie jetzt ein richtiges Baby war — unser süßes, lockiges Kind, das grunzte, wenn es nach etwas griff, das plapperte, schnaubte, lallte, in der Badewanne planschte, sich morgens selbst Nan-nan-nan vorsang und die Lippen zum Küssen schürzte. Ein richtiges Baby. (So zurückgeblieben!) Genau wie ein richtiges Baby. (Wieso hat Sie so lange gebraucht?) Es war so unglaublich großartig (War sie behindert?)
Gegen Ende des Winters gewöhnte ich mich daran, daß es Rachel gut ging. Das soll nicht heißen, daß ich ihre gute Gesundheit als etwas Selbstverständliches hinnahm, sondern daß sich mit der Zeit wieder ein Bewußtsein für die Bereiche einstellte, in denen Rachel zurück war, eine Art Kehrseite unseres Glücks. Ich verlebte nicht jede Sekunde des Tages in dem Wissen, daß Rachel einen Hirnschaden hatte; das Wort selbst und alles, was es beinhaltete, schlich sich in verwundbaren Momenten an mich heran. Schon immer hatte ich das gekannt, was ich Grauen nenne: dunkle Ängste davor, was die Zukunft wohl bringen mag. Rachels Hirnschädigung verursachte dieses Gefühl des Grauens. Sie stürzten auf mich herab, wenn ich mich schwach fühlte, bohrten sich in mein Herz, erfüllten mich mit Angst. Dann machten sie sich wieder davon und hinterließen kaum eine Spur in mir, so daß ich wieder in vollen Zügen genießen konnte, daß Rachel jetzt ein echtes Baby war.
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Als Rachel fünfzehn Monate alt war, verließ uns Lourie. Mrs. Kaiser hatte ihre Begabung erkannt und verhalf ihr zu einer Stelle als Praktikantin m einer Schule für Kinder mit orthopädischen Schäden. Sie bekam dort mehr bezahlt, als ich mir je hatte leisten konnen. Das hieß zwar nicht, daß sie gut bezahlt wurde, denn dieLeute, die sich um kleine Kinder kümmern, verdienen weniger als Müllmänner oder Putzfrauen, aber es war doch genug, daß Lourie Geld für die Studiengebühren zurücklegen und ein Studium der Sonderpädagogik beginnen konnte.
Das Krankenhaus verfügte über eine Kindertagesstätte, eine kleine, strukturierte Einrichtung, die von einer kompetenten, warmherzigen jungen Frau namens Robin geleitet wurde. Zwei Ganztagskräfte und am Nachmittag noch zusätzliche studentische Hilfskräfte kümmerten sich um eine Gesamtzahl von etwa sechs Kindern, von denen die meisten einen Teil des Tages in der Tagesstätte verbrachten. Es schien der perfekte Ort für Rachel zu sein.
Ich haßte es, sie dorthin schicken zu müssen. Ich hatte meine Babys immer jemandem in die Arme gedrückt, und jetzt sollte ich Rachel bei einer Einrichtung abgeben. Dazu kam, daß die Wände des Tagensstättenraumes gesäumt waren von orthopädischen Geräten, Laufgestellen und seltsamen, mittelalterlich wirkenden Apparaten, die man um Bauch und Beine schnallen konnte. Die ersten paar Vormittage, die Rachel in der Tagesstätte verbrachte, trieb ich mich in diesem Raum herum und wartete darauf, daß sie irgendein Zeichen von Vergnügen oder von Traurigkeit von sich geben würde — überhaupt irgendein Zeichen. Ich musterte sie prüfend beim Frühstück, um zu sehen, ob sie vielleicht Angst davor hatte, daß sie mich verlassen mußte, und ich versuchte am Nachmittag herauszufinden, ob sie Zeichen eines Traumas aufwies.
Mit fünfzehn Monaten war Rachel durchaus kein kompliziertes Kind mit einer Skala von Vorlieben, Abneigungen und Launen. Deswegen war es auch besonders schwer für mich, sie in der Obhut von jemand anderem zu lassen, denn wenn ich wegging, hatte ich immer das Gefühl, daß ich nur noch meine Hoffnung mit nach Hause nehmen konnte. Angst hatte Rachel nicht in ihrem Repertoire. Sie hielt einen auch nicht zum Narren und spielte keine Spielchen. Sie war nie zimperlich oder launisch. Sie konnte bestimmte Dinge voraussehen (und verfügte demzufolge auch über ein Erinnerungsvermögen!). Wenn wir uns ihr näherten, begann sie vor Freude zu zappeln, streckte die Arme nach uns aus und zeigte ihr Vergnügen mit einer ganzen Skala von Lauten, und wenn sie in ihrem Hochstühlchen saß, grunzte sie und schlug mit ihrem Löffel auf den Tisch. Sie wußte, was es bedeutete, wenn man sie in ihr Ställchen setzte, auch wenn sie kein einziges Mal dagegen protestierte. Nur eines brachte sie aus der Fassung, und zwar, wenn Lourie »Lullaby« sang, das Lied, das sie so oft gesungen hatte, in der Zeit als Rachel krank war. Monate nachdem die Behandlung beendet war, sang Lourie »Lullaby«, und Rachels Gesicht knautschte sich zusammen, und ein seltsamer, leiser Schrei brach aus ihr hervor, der seinen Grund ganz eindeutig in einer Erinnerung an die Vergangenheit zu haben schien.
Es brauchte nicht lange, bis mir klar wurde, daß man Rachel in der Tagesstätte sehr lieb hatte. Robin und Karen machten all die Dinge mit ihr, die notwendig waren, um Rachel anzuregen, sie brachten ihr Backe-backe-Kuchen bei, spielten Ball mit ihr und versuchten, sie dazu zu bringen, Ringe auf einen Stab zu stapeln. Sie setzten sie in eine Karre mit großen Rädern, die sie anschieben konnte, lasen ihr vor, sangen für sie, zeigten ihr einfache Bilder, ermutigten sie, sich zu bewegen. Außerdem frisierten sie ihr jeden Tag die Haare, und oft, wenn Charlotte und ich kamen, um sie abzuholen, hatte sie einen Mittelscheitel und Spangen auf jeder Seite. Andere Male waren ihre Haare zu einem Dutt hochgesteckt oder naß gebürstet, so daß sich ihre Locken kringelten. Rachel von der Tagesstätte abzuholen wurde für Charlotte und mich ein wichtiger Teil des Tages. Der Vorgang nahm immer den gleichen Anfang, nämlich den, daß wir uns beide auf Zehenspitzen in den Raum schlichen, uns ein paar Meter von Rachel entfernt leise hinknieten und darauf warteten, daß sie uns erkannte — was sie nie tat. Schließlich hatte Charlotte genug von diesem Spiel, und sie gesellte sich zu den Kindern der Tagesstätte, um mit ihnen eine Kleinigkeit zu essen. Ich rief Rachel beim Namen, und wenn sie dann vor Freude quietschte, kam ich zu ihr und nahm sie in die Arme.
Charlotte beschäftigte sich in diesem Zimmer so fröhlich, daß es schwer war, sie wegzubekommen. Oft verging eine Stunde, bis ich meine beiden Mädchen schließlich eingesammelt hatte und wir uns alle auf den Weg durch den langen Korridor machen konnten. Auf unserem Weg aus dem Krankenhaus blieben immer Leute stehen, um uns zu begrüßen. Die Krankenschwestern streckten den Kopf aus der Ambulanz, die Sozialarbeiterin legte den Telefonhörer beiseite. Wenn ich im Krankenhaus war, packte mich nie die Verzweiflung wegen Rachel. Hier liebte und schätzte man sie, und sie wurde niemals beurteilt, nie als geschädigt oder minderwertig angesehen. Hier war jeder ihrer Fortschritte ein Grund zum Feiern.
An einem sonnigen Tag im März, als Charlotte und ich kamen, um Rachel abzuholen, fanden wir sie draußen, ausgerüstet mit einem weißen Schutzhelm, wie sie, während sie sich an einem metallenen Laufgestell festhielt, ihre ersten Schritte machte. Sie war so groß auf ihren breiten, kleinen Füßen und so zufrieden mit sich selbst. Ich verschoß eine ganze Filmrolle mit Bildern von ihr, wie sie diese ersten vorsichtigen Schritte machte. (Bis sie frei gehen konnte, sollten noch einmal sechs Monate vergehen und noch ein Jahr, bis sie sich ganz sicher auf den Beinen fühlte.) Die beiden Großmütter haßten diese Fotos. Sie sahen nur das Gestell (genauso wie ich, als Rachel die erste Woche in der Tagesstätte verbrachte und ich nur die mittelalterlich anmutenden Gerätschaften wahrnahm). Wenn sie doch nur fähig gewesen wären, das Kind dahinter zu sehen, wie es dastand und lachte, das Gesicht zum Himmel erhoben. Wenn sie doch bei ihr gewesen wären, als ich Rachel den Korridor hinabtrug, wo alle ihrer großen Errungenschaft Beifall spendeten.
Aber wir leben nicht in der Isolation. Der Anblick von Babys anderer Leute erinnerte uns daran, wie weit Rachel zurückgeblieben war. Kinder in ihrem Alter rannten normalerweise, hüpften, erforschten, forderten, stellten mit ihrem Eigensinn die Geduld ihrer Eltern auf harte Proben oder entzückten sie mit geistigen Fähigkeiten. Nur weil man Rachel in der Tagesstätte so innig liebte, bedeutete das noch lange nicht, daß uns keine Berichte über die Entwicklung von der Kinderfördergruppe oder von der Physiotherapeutih mehr ins Haus flatterten: »Kognitivér Entwicklungsstand bei zehn Monaten, Grobmotorik bei sieben bis neun Monaten, Feinmotorik bei sieben bis elf Monaten…« — so lauteten die Berichte, als Rachel fünfzehn Monate alt war.
Ein Lächeln genügte nicht länger. Was war an diesen Entwicklungsverzögerungen schuld? War die Hirnschädigung für alles verantwortlich zu machen? Welche Bedeutung war der Tatsache beizumessen, daß sie so lange krank gewesen war, daß sie den ganzen Herbst über eine Behandlung hatte durchmachen müssen und daß noch dazu lange Zeit davor die nächtlichen Krampfanfälle aufgetreten waren, die niemand als solche wahrgenommen hatte? »Gebt ihr Zeit, damit sie das alles aufholen kann«, rieten uns Freunde wie Fachleute. Dieselbe Leute jedoch berichteten mir ebenfalls, daß normale Kinder, deren Entwicklung durch eine Krankheit verzögert wurde, ihre Rückstände sehr schnell wieder aufholen, sobald sie erst einmal wieder gesund sind.
Wie schnell? Würde es einen Monat dauern? Ein Jahr?. Welche Rolle spielte Rachels verminderte Sehkraft bezüglich ihrer Rückstände? Sie konnte Gesichter und Ballons wahrnehmen, und doch erkannte sie mich nicht, wenn ich in den Kindergarten kam und mich vor sie hinkniete, um sie nach Hause zu holen. War es noch gerechtfertigt, daß ich Tabellen studierte, auf denen die motorische Entwicklung normaler Babys verglichen wurde mit der vollkommen blinder Kinder und solcher, die nur »minimale Lichtwahrnehmung« aufwiesen. Waren diese Tabellen auf Rachel noch anwendbar, jetzt, wo sie ihr eigenes Spiegelbild sehen konnte? Waren ihre Defizite in der Grobmotorik von ihrer geringen Sehfähigkeit verschuldet? Was war mit ihrem Kopfumfang, der sich seit den infantilen Krampfanfällen verringert hatte? Ein außergewöhnlich kleiner Kopf war ein Zeichen dafür, daß Zellen abgestorben waren. Wie viele? Dreißig Punkte Abzug von einem IQ von einhundertundfünfzig? Oder fünfzig Punkte Abzug von einem IQ von einhundert?
»Wie kannst du dir über ein Kind Sorgen machen, daß so gut alleine essen kann?« meinte meine Mutter, denn Rachel konnte trinken, ohne zu kleckern, und aß mit dem Löffel so gut, daß es durchaus den Maßstäben für ein sehendes Kind entsprach. Wie kam es, daß sie das fertigbrachte und an anderen Aufgaben scheiterte, die normale Kinder in ihrem Alter meisterten: Ringe um einen Stab stapeln, einen Turm aus Klötzen bauen, Seiten in einem Buch umblättern? Ein Kind sammelt Erfahrung, indem es solche Dinge übt, aber Rachel weigerte sich, sie überhaupt erst auszuprobieren. Warum? Weil ihr geringes Sehvermögen diese Tätigkeiten für sie inhaltslos machten? Oder lagen sie weit jenseits ihrer Fähigkeiten?
Wieso beherrschte sie mit eineinhalb Jahren noch keinen sauberen Zangengriff, das heißt, das Zugreifen mit Daumen und Finger, um eine Rosine oder eine Fluse aufzuheben? Nach Angaben der Denver-Entwicklungsskala verfügen fünfzig Prozent aller Kinder im Alter zwischen zehn und elf Monaten und neunzig Prozent im Alter von fünfzehn Monaten über diese Fähigkeit. Diese Greiftechnik gilt als Meilenstein in der neurologischen Entwicklung, sie gehört nicht zu den Dingen, die erlernt werden. Wieso benutzte Rachel ihre Hände weiterhin in der Art der Affen mit dem primitiveren Griff der Handfläche? Warum sagte sie nicht »Mama« und »Dada«, wie es neunzig Prozent aller Kinder, diejenigen mit Sehbehinderung inbegriffen, im Alter von zweiundzwanzig Monaten tun? War sie neurologisch beeinträchtigt? War das Sprachzentrum in ihrem Gehirn geschädigt? War sie geistig behindert? Bestand die Möglichkeit, daß ihre Rückstände von ihren Sehschwierigkeiten verursacht waren, daß sie, obwohl sie unser Lächeln und unsere herausgestreckten Zungen wahrnehmen konnte, doch ein blindes Kind war, das außerdem noch furchtbar krank gewesen war und eines Tages alles aufholen würde? Oder machten wir uns selbst etwas vor?
Es gab so viele mildernde Umstände für Rachels Zurückbleiben, daß ich einfach nicht akzeptieren konnte, daß sie tatsächlich zurückgeblieben war. Das zu akzeptieren wäre mir vorgekommen, als würde ich aufgeben, und sie machte genug Fortschritte, um uns weiter glauben zu lassen.
Ich kann mich an Tage erinnern, an denen ich in den Kindergarten kam und dieses Kind vor mir sah, das einmal nichts weiter gewesen war als ein hübscher, kleiner Kloß, und das sich jetzt mit neu entdeckter Entschlossenheit an dem Laufgestell festhielt und mit vorsichtigen Schritten das Zimmer durchmaß. Dann mußte ich unwillkürlich denken : »Mein Gott, so weit ist sie gekommen, wieso mache ich mir so viele Sorgen?«
Ich kann mich auch noch an den Tag erinnern, als Rachel ungefähr achtzehn Monate alt war und ich wegen eines Entwicklungsberichts, den ich gerade erhalten hatte, meinte, das Herz müsse mir brechen. An diesem Tag also begegneten wir Kristin Peters, einer jungen Frau, die an optischer Nervenhypoplasie litt und von der man in groben Worten behauptet hatte, sie befinde sich in einem »wirklich gräßlichen Zustand«. Sie war gerade auf dem Heimweg von einer Therapiesitzung für ambulante Patienten, als ich ihr und ihrer Mutter auf dem Krankenhauskorridor in die Arme lief, und sie erzählte mir mit großer Lebhaftigkeit über eine neue Schule, die sie im Herbst besuchen würde. Sie erklärte, daß sie dort an Computern arbeiten würde und daß sie schon seit sechs Monaten keinen Anfall mehr gehabt hatte, was die längste anfallsfreie Zeit war, seit sie fünf Jahre alt geworden ist. Ich verstand, weshalb man ihren Zustand als gräßlich bezeichnet hatte: Sie hatte blaßgrüne Augen, die in ihren Höhlen herumschweiften, einen leeren Blick und einen ungelenken, schlurfenden Gang. Aber sie hatte auch weiches, kastanienbraunes Haar, und in ihren kurzen Hosen stand sie schlank und übermütig vor mir und erschien mir absolut hübsch, ein junges Mädchen, das dabei war, zur Frau zu erblühen, strahlend und voller Energie. Während ich wegging, dachte ich: »Sie hat Köpfchen, ihr fehlt es an gar nichts.« Trotz Anfällen und Blindheit und alldem, wünschte ich mir mehr als alles andere, daß meine Tochter werden würde wie sie.
Das Tagebuch, das ich in dieser Zeit zu führen begonnen habe, ist spärlich, doch in ihm lese ich, daß ich an einem Tag »glücklich, glücklich, glücklich« bin, und daß Paul und ich es »wagen, daran zu glauben«.
Außerdem steht hier aber auch, daß wir in der darauffolgenden Woche zu einer Party gingen, auf der normale Kinder herumhüpften, und daß Paul, als nähme er zum ersten Mal wahr, wie anders seine Tochter War, fragte: »Sollen Sie eigentlich so sein?« An diesem Abend stritten wir uns über die Lebensmitteleinkäufe, die Paul gemacht hatte, und am Ende heulte ich wegen der überreifen Gurke, die er nach Hause gebracht hatte. Später, als mir klar geworden war, wieso ich mich so aufgeregt hatte, wollte Paul nichts von dem hören, was ich ihm zu sagen hatte, und ich schlief in dem Bewußtsein ein, daß »die Sache uns noch immer entzweit«.
Zehn Tage danach ist Rachel »süß und aufgeschlossen, ein Püppchen, eine reine Freude. Sie bringt die Wärme und Zuneigung selbst der verhärtetsten Menschen an den Tag.«
Einen Monat später traf Paul bei der Arbeit einen alten Freund, der inzwischen an die Westküste gezogen war. Er fragte nach Rachel, und Paul geriet so in Aufregung, daß er mitten im Gespräch das Zimmer verlassen mußte. Als er mir später davon erzählte, bekam ich das Gefühl, daß unsere Sorgen nie enden und wir niemals aufhören würden zu weinen.
Es hat vielleicht den Anschein, daß wir in dem Winter, in dem Rachel sich zu erholen begann, in ziemlich der gleichen Situation waren wie damals, nachdem man uns ihre Diagnose verkündet hatte; daß wir in einem ständig mit atemberaubender Geschwindigkeit wechselnden Auf und Ab lebten, zwischen Verzweifeln, Glauben, Akzeptieren und Deprimiertsein. Tatsächlich aber war es ganz anders, denn ich befand mich nicht mehr vollständig im Griff dieses Auf und Ab; ich ertrank nicht mehr in meinem Wehklagen. Ich hatte ein Kind, dessen Zukunft äußerst unsicher war. Ich erlebte Tage voller Freude genauso wie Augenblicke schrecklicher Angst und so viele Stunden, in denen ich überhaupt nicht an Rachel dachte, was mich heute noch überrascht. Nein, am Anfang mußten Paul und ich all unsere Energie aufbringen, um uns gerade eben über Wasser zu halten, und all den Versprechungen, die wir uns gegenseitig machten, und all den Streitigkeiten lag immer Rachels Blindheit zugrunde. Wenn uns dagegen jetzt jemand fragt, wie es uns ginge, konnte ich ganz ehrlich antworten: gut.
Ich wußte natürlich, daß es noch lange nicht durchgestanden war — wobei ich mit es die Probleme meine, die uns noch bevorstanden. Aber daran gab es nichts zu rütteln: Rachel ging es gut, und sie füllte unser Haus nicht mehr mit ihrem Leid. Sie war fröhlich und aufgeschlossen, und oft entfernte sich das Grauen weit von mir. Ich wachte dann mit dem Gefühl auf, ein guter Tag vor mir lag, und nahm die Ruhe, die ich spürte, mich auf. Ich saugte sie regelrecht in jede Zelle meines Körpers ein, denn Ruhe, das war es, was ich am allerdringendsden brauchte. Was ich gelernt hatte war, von einem Tag zum anderen zu leben — wenigstens manchmal.
Rachels Krankheit war wie ein mächtiger Sturm, der uns auseinandergefegt hatte, und Paul und ich brauchten Zeit, um uns hochzurappeln und unser Leben wieder in Ordnung zu bringen. Es gab keine Überreste von Bitterkeit, wie es manchmal nach einem ungelösten Streit der Fall ist. Der Sturm war vorüber, und wir waren noch zusammen. Ich wünschte mir zwar, wir hätten uns aneinander festhalten können, aber ich sah dieses Scheitern nicht als ein Scheitern unserer Liebe an — wer hätte schon ahnen können, daß unsere Art zu trauern eine so unterschiedliche sein würde? Wodurch hätten wir darauf vorbereitet sein sollen?
Wir lernen zu lieben, indem wir geliebt werden, und später, indem wir uns verlieben. Kinder großzuziehen und mit einem anderen Menschen zusammenzuleben, lernen wir auf ganz ähnliche Art Und Weise. Es gibt nichts, was uns das Trauern lehrt, bevor wir selber trauern, und dann ist es zu spät. Mir hatte man immer erzählt, daß Not eine Familie enger zusammenbringt oder aber sie auseinanderreißt, und daß die, die sich wirklich lieben, harte Zeiten überstehen, während die, deren Ehen schon vorher brüchig waren, dies nicht schafften — so einfach war das. Nach Rachels Diagnose mußte ich oft an einen Artikel über ein Paar, dessen Kind von der Tay-Sachs-Krankheit befallen war, denken. Ihr Arzt behauptete, daß manche Paare auf der Couch in seinem Sprechzimmer Schulter an Schulter eng beieinander saßen, während andere an entgegengesetzten Seiten Platz nahmen, und daß er auf den ersten Blick sagen konnte, welche der Paare die Probleme gemeinsam durchstehen würden. Ich glaubte diese Geschichte und versuchte, mir Paul und mich als diejenigen vorzustellen, die Schulter an Schulter saßen. Als ich gezwungen war einzusehen, daß wir diesem Bild nicht entsprachen, war ich am Boden zerstört.
Wie hätten wir auch eng beieinander sitzen können? Paul war unfähig, über Rachels Zukunft nachzudenken, und ich konnte nichts anderes tun. Ich hatte das zwanghafte Bedürfnis, mir Sorgen zu machen, mich an seiner Schulter auszuweinen, traurige Phantasiebilder auszutauschen, dem ins Auge zu blicken, was mir die Wirklichkeit zu sein schien — und das war genau das, was er nicht ertragen konnte. Ich wollte, daß er die Fortschritte, die Rachel machte, zusammen mit mir bejubelte, die Fortschritte, die er mit den Augen eines Naturwissenschaftlers als »unbewiesen« ansah. Später, als mir klar wurde, daß ich, bevor ich mich wieder dem Romanschreiben zuwenden konnte, zuerst dieses Buch würde niederschreiben müssen, um mit dem, was geschehen war, klarzukommen, fragte ich Paul, wie er ein paar bestimmte Ereignisse gesehen hatte. Er jedoch konnte mir nicht helfen, denn die Vergangenheit war vorbei, und er konnte in seinem Gedächtnis nicht nach Einzelheiten forschen.
Wie unterschiedlich unsere Art zu trauern doch war! Wie könnte ich da zurückblickend behaupten, daß wir, wenn wir uns nur genügend geliebt hätten, die Sache Hand in Hand hätten durchhalten können?
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Ich wußte immer, daß Rachel eines Tages laufen lernen würde, und wenn ich ungeduldig darauf wartete, daß sie diese Schritte auch ohne fremde Hilfe schaffte, so lag das daran, daß das Verstreichen der Tage uns einer Diagnose näherbrachte, die ich nicht akzeptieren wollte. Je früher sie das Laufen lernte, desto weniger behindert war sie — oder jedenfalls hatte ich dieses Gefühl. Ich studierte die Entwicklungstabellen, wie ein Astrologe die Sterne studiert, und erwartete mir Antworten von ihren Balken und Graphiken, Voraussagen für Rachels Zukunft. Wenn neunzig Prozent aller Kinder eine Aufgabe ausführen konnten, die Rachel nicht schaffte, war das trotzdem noch in Ordnung; wenn der‘Balken jedoch endete oder die Kurve unterhalb ihres Alters verlief und sie es immer noch nicht fertigbrachte, dann machte ich mir Sorgen. Die Tatsache, daß sie zwei Jahre alt war und noch immer nicht laufen konnte, brachte mich aus der Fassung. Aber ich war sicher, daß sie es schließlich doch lernen würde.
Ich hatte keine Ahnung, ob Rachel jemals sprechen lernen würde; dabei war es das, was ich mir am meisten wünschte. Ich sehnte mich schmerzlich danach, zu erfahren, wer dieses Kind war, danach, einen Blick in ihre Seele werfen zu können, und so war ich weiterhin bereit, mit ihrer geringen Sehfähigkeit um Intelligenz und Sprachvermögen zu feilschen.
Mit fünfzehn Monaten sprach Rachel kein Wort, weder »Mama« noch »Dada«. Mit achtzehn Monaten war es noch genauso. Sie war zwanzig Monate alt, als ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, daß sie sich daran machte, etwas zu sagen.
Bah erschien als erstes, ein bescheidener Laut, der allen Babys angeboren ist. Jedesmal, wenn ich sie auf die Wickelkommode legte, um ihr eine frische Windel anzuziehen, streckte sie die Arme in die Höhe und berührte mit den Fingern der einen Hand die kleine Puppe, die meine Mutter ihr kurz nach der Geburt geschenkt hatte, und dann sprudelten Laute über ihre Lippen: buh-buh-buh. »Sie versucht, Baby zu sagen«, berichtete ich Paul. Er nahm mich nicht ernst. Sie plapperte schon seit einiger Zeit, und das, was ich gehört hatte, war einfach eine ganz zufällige Silbe — mah, pah, buh —, es waren so wenige, und deshalb war die Wahrscheinlichkeit, daß sie zu einem bestimmten Zeitpunkt eine davon sagte, sehr groß. Obwohl ich ganz sicher war, daß Paul unrecht hatte, bestand ich nicht darauf. Sie würde früh genug wirklich das Wort richtig sagen, das jetzt andeutungsweise über ihre Lippen sprudelte.
Der Fortschritt, den Rachel machte, schien eine ewig lange Zeit in Anspruch zu nehmen. Manchmal dachte ich, daß es so war, weil ich so angespannt darauf wartete, und ein Kind, das man beobachtet, fängt niemals an zu sprechen. Und ich beobachtete und beobachtete sie, bis eines Tages ausdem bescheidenen Buh ein Bah wurde und dann aus dem Bah ein Bah-bah, das sich schließlich noch weiter dem richtigen Wort — Baby — annäherte.
Danach erschienen andere: Mami, Daddy, Suuh, Sock, Ball, Ballon, Nana und noch etliche mehr. Sie benutzte sie ihrer Bestimmung gemäß, das stand außer Frage. Wenn man ihr einen Ballon zeigte — etwas, was sie besonders leicht erkennen konnte —, dann sagte sie Ballon. Wenn sie ihren Strumpf anfaßte, sagte sie Sock. Aber wenn wir sie fragten: »Wo ist Mama?«, dann drehte sie sich um und deutete auf…Paul oder Charlotte. »Wo ist Papa?« fragten wir, und sie zeigte auf mich oder auf ihre Großmutter…als wäre sie sich einfach nicht so ganz sicher.
»Sie wird euch nicht die richtige Antwort geben, nur weil ihr das gern so hättet — schließlich ist sie ein Baby«, meinte meine Mutter.
»Sie weiß den Unterschied nicht«, sagte Paul.
»In ihrem Alter kommen sie manchmal durcheinander — normale Babys auch«, erklärte uns die Sprachtherapeutin.
»Sie weiß den Unterschied nicht«, beharrte Paul.
Später am selben Tag hörte ich, wie er am Telefon mit einem alten Freund sprach: »Sie macht sich großartig — wir halten ihr die Daumen.«
War das wirklich so?
Wenn ich voller Euphorie war, stellte ich Listen zusammen von den Wörtern, die Rachel konnte; war ich verzweifelt, machte ich dasselbe. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob sie jemals Sprechen lernen würde, und da konnte sie nun schon vierzig Wörter, die sie mit ihrer süßen kleinen Stimme so klar hervorbrachte, daß auch Fremde sie verstehen konnten.
Sie konnte nur vierzig Wörter. Wäre sie normal, würde sie weit mehr als fünfzig Wörter kennen und die ganze Zeit noch neue hinzulernen und anfangen, sie aneinanderzureihen, aber alles, was Rachel konnte, waren armselige vierzig Wörter.
In diesem Winter begann Charlotte, ihre eigenen Probleme zu entwickeln. Wir hatten sie in der Schule angemeldet, als sie noch keine fünf Jahre alt war, und das in einem Schulsystem, wo der Trend vorherrschte, die Kinder eher spät einschulen. Ihre Erzieherin hatte uns sehr nahegelegt, ihr noch ein zusätzliches Jahr Zeit zu lassen, aber Charlottes Reife und ihr Selbstvertrauen ließen uns immer wieder vergessen, wie jung sie in Wirklichkeit war. Das Einführungsjahr mit seinem Schwerpunkt auf den Grundfertigkeiten und jeden Abend Hausarbeiten zu erledigen, fielen ihr sehr schwer.
Im Winter schwoll plötzlich die eine Seite ihres Halses stark an, und Paul und ich gerieten in Panik, weil wir Angsr hatten, es könnte Krebs sein. Während des Tages, an dem ich auf einen Termin beim Arzt wartete, wurde mir bewußt, wie verletzlich Charlotte war, daß Rachels Schwierigkeiten ihre Schwester nicht vor physischen oder psychischen Leiden bewahren würden. Ich hatte kein Recht, mich einfach darauf zu verlassen, daß Charlotte gesund und glücklich war. Alles mögliche konnte auch ihr jederzeit zustoßen. (Es stellte sich heraus, daß die Schwellung von einer Drüse verursacht war, und sie verschwand bald wieder. Auch die Schulschwierigkeiten gingen vorüber, kehrten jedoch zurück, als Charlotte ins zweite Grundschuljahr kam.)
Man konnte Charlotte auch langsam den Streß anmerken, den für sie bedeutete, eine Schwester zu haben, die dermaßen viel Aufmerksamkeit für sich beanspruchte. Ich versuchte, ihr die Möglichkeit zu geben, auf Rachel auch einmal wütend zu sein, aber vielleicht hielt Charlotte uns noch immer für zu verletzlich, denn ihr Verhalten Rachel gegenüber war rührend, selbst wenn die beiden allein miteinander waren. Charlottes finstere Gefühle kamen jedoch ans Tageslicht, wenn sie mit Lourie zusammen war. Bei ihrer einstmals geliebten Freundin benahm sie sich zänkisch und fordernd, zeigte. ein unstillbares Verlangen nach Geschenken und nach Aufmerksamkeit, und sie war unfähig sich vorzustellen, daß Lourie sie und Rachel lieben könnte.
In meinem eigenen Herzen gab es keine Konkurrenz zwischen meinen beiden Mädchen, denn in mir war Raum genug, sie beide zu lieben (und Raum genug, mir Sorgen zu machen, wie mir jetzt aufging). Charlotte nahm meine Gedanken und mein Herz in Anspruch, und Rachel sprach die sanfte, fürsorgliche Seite in mir an, von der ich gar nicht gewußt hatte, daß sie so stark vorhanden war. Rachel war verschmust und knuddelig, während es bei Charlotte für diese Dinge bestimmte Grenzen gab. Charlotte hatte ihre Hausaufgaben, sie hatte langes, dickes Haar, das ich ihr jeden Tag bürsten sollte, und große Entscheidungen zu treffen, die sie nicht alleine fällen wollte: Sie wußte nie, was sie anziehen sollte, wollte nicht einmal Strümpfe und Unterwäsche alleine aussuchen. Sie wollte Geschenke und wünschte sich ihre Eltern als Spielkameraden. Weil sie komplizierter war, widmete ich ihr den Löwenanteil meiner Zeit, obgleich ihr das gar nicht auffiel. Schließlich vergossen wir über sie keine Tränen, zitterten nicht, wie sie sich wohl entwickeln würde, riefen ihretwegen keine Ärzte, redeten nicht endlos von ihr am Telefon. Andere Leute erkundigten sich nach ihr nicht mit der gleichen Ausführlichkeit wie nach Rachel.
Im Frühling, als Rachel zwanzig Monate alt war, plante ich eine Reise mit Charlotte: zwei Tage in New York, wo wir tun und lassen konnten, was wir wollten, zwei Nächte lang ein Apartment ganz für uns allein.
Es fiel mir noch immer schwer, von Rachel wegzugehen. Sie weinte nicht, wenn ich weg war, und sie kam auch nicht auf mich zugerannt, wenn ich zurückkehrte. Es war für mich unmöglich festzustellen, was sie dachte, wenn ich nicht da war — wenn sie überhaupt darüber nachdachte –, und ich wußte auch nicht, ob sie die geistigen Fähigkeiten hatte zu verstehen, daß ich immer wiederkam, auch wenn ich ab und zu wegging. Ich war schon zweimal auf kurzen Reisen von ihr getrennt gewesen, und weil ich sie nicht anrufen und ihr wie Charlotte sagen konnte: »Ich liebe dich, Herzchen, ich bin bald wieder zu Hause«, hatte ich ihr Bild in mir getragen und es nie ganz fertiggebracht, meine Sehnsucht nach ihr abzuschütteln. Beide Male wurde Rachel krank, während ich nicht da war, als hätte ihr Körper meine Abwesenheit gespürt. Als ich zurückkam, erwartete mich jedoch keine besondere Begrüßung, kein irgendwie verändertes Verhalten. Wir nahmen unsere Beziehung einfach dort wieder auf, wo wir sie unterbrochen hatten.
Charlotte und ich fuhren mit dem Bus. (Das hatte sie sich so ausgesucht.) Die ganze Fahrt über saß sie da und preßte die Nase gegen die verschmierte Fensterscheibe. Sie sprach kein Wort, bis wir auf einer erhöhten Plattform von Port Authority ausstiegen, wo es nach Abgasen stank. Dann, als wir zu der nach unten führenden Treppe hasteten, sagte sie, abgehackt und mit Tränen in den Augen: »Mama, das macht solchen Spaß. Es ist noch viel spaßiger, als ich dachte.«
Alles machte Spaß an diesen beiden Tagen. Es gefiel Charlotte in dem Café zu frühstücken, das Paul und ich oft besucht hatten, als wir noch in New York gewohnt hatten. Dort, wo ihr Vater gewesen war in jener Nacht, in der sie zur Welt kam und wo er vor Glück Tränen in sein Bier vergoß. Am zweiten Morgen erkannte uns hier der Eigentümer und sagte: »Sie wollen mir doch wohl nicht erzählen, daß diese hübsche junge Dame das Baby Charlotte Claire ist?« Charlotte mochte den Wind, der ihren Rock bis zu ihrem Kinn hochblies, als wir auf der Spitze des Empire State Building standen, und wie die Fähre nach Staten Island ohne anzustoßen anlegte.
Sie liebte die Met, die Mumien, den Park mit den Skulpturen, die Räume mit Möbelnaus der Kolonialzeit. Sie verkündete zwar, Gemälde seien langweilig, aber als wir am Tag darauf ins Museum für moderne Kunst gingen und an einer Sonderausstellung über Rousseau vorbeikamen, schlenderte sie wie eine Schlaf‘wandlerin von einer Leinwand zur nächsten und betrachtete hingerissen die Zigeuner und die Tieraugen. Sie mochte die maßstabsgetreuen Häuschen mit winzigen Figuren und Bäumen und die Cafeteria, wo sie all die Sachen, die sie später vielleicht essen würde, ausführlich begutachtete.
Zweimal am Tag spürte ich eine stechende Sehnsucht nach Rachel. Einmal in den Geschenkeläden, die Charlotte heiß liebte, weil ich dort etwas für Rachel kaufen wollte, obwohl sie sich doch nichts aus Spielsachen und hübschen Kleinigkeiten ‘ machte, und dann noch einmal später am Abend, wenn wir Paul anriefen, der zu uns beiden sagte: »Ich vermiß dich« und dann den Telefonhörer zu Rachel hielt. Am anderen Ende der Leigung passierte nichts, außer daß Paul versuchte, Rachel zu zeigen, was sie machen sollte, aber wenn ich ganz genau hinhörte, konnte ich ihr mühsames kleines Atmen hören, denn Rachel hatte am Tag unserer Abreise einen Schnupfen bekommen.
Ich besitze ein Foto, das Charlotte zeigt, wie sie Rachel bei unserer Rückkehr küßt. Rachel ist im Autositz eingepackt in ihren rosaroten Anorak, ihre makellose Haut ist rosig angehaucht. Ihr breites Gesicht ist sechs Monate nach der Behandlung noch immer dick, und die Lippen sind aufgeworfen und ihre Augen vollständig leer.
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Hier ist sie noch einmal einen Monat später, wie sie durchs Wohnzimmer kreuzt, vom Tisch zur Wand, zur Couch, zum Stuhl. Paul schleicht sich auf Zehenspitzen an sie heran, und sofort dreht sie sich um und legt den Kopf schief, sie ist für Geräusch so empfindlich wie ein Reh im Walde. Ihre Augen flackern, während sie versucht herauszubekommen, wer das nun ist. Und wenn Paul nahe genug kommt, daß sie es erraten kann, dann zwickt sie in seinen Arm und drückt mit aller Gewalt seine Haut zusammen, so daß sie vor lauter Anstrengung anfängt zu zittern. Dieses Zwicken, An-den-Haaren-Ziehen und Beißen ist ein richtiges Problem für uns. Rachel macht das aus Aufregung, nicht weil sie wütend ist; es ist fast, als könne sie unsere Gegenwart nicht ganz aufnehmen, solange unser Fleisch nicht zwischen ihren Fingern gequetscht wird.
»Wie wäre es mit einem Kuß, Rae-Rae?« fragt Paul.
Rachel zieht die Unterlippe ein und küßt ihn auf die Wange, um das Maß voll zu machen, dreht sie sich dann schwankend um und schlingt die Arme um ihn, um ihn zu drücken.
»Babychen!« ruft er aus und wirbelt sie durch die Luft. »Oooh, ich liebe dich so.«
In Charlottes Augen braut sich ein Sturm zusammen. »Sie hat sich verändert, findest du nicht auch?« meint er, als wir allein sind und unsere Aufregung in sicherer Entfernung von Charlottes eifersüchtigen Ohren austauschen können. »Sie bewegt sich viel mehr. Sie erforscht ihre Umgebung. Sie macht sich wirklich, nicht wahr? Sie kommt prächtig voran!«
Hier aber sehen wir sie eine Woche danach, dickbäuchig und passiv wie ein kleiner Buddha sitzt und sitzt sie da, ungestört von dem Grauen, das über mich herfällt und mich bis ins Mark erschüttert mit seinem Wispern. Nimm das Wort in den Mund, nimm das Wort in den Mund,nimm es in den Mund. Geistig zurückgeblieben. Sie ist geistig zurückgeblieben.
Manchmal war Rachel so süß, So vollkommen normal, daß es einem unmöglich erschien, daß irgend etwas nicht in Ordnung sein sollte. Manchmal brachte mich der Anblick, wie sie irgendeine neue Tätigkeit ausprobierte, dazu zu glauben, daß alles mit ihr in Ordnung kommen würde. Manchmal aber war sie so ausdruckslos, daß ihr Anblick alle Hoffnungen, die ich jemals gehegt hatte, zum Schwinden brachte.
Manchmal gingen wir Hand in Hand spazieren, und dann redete Paul darüber, wie wunderbar es doch sei, einfach mit diesen beiden schönen Kindern zusammen zu sein, und ach, es war alles in Ordnung, alles, alles. Manchmal aber brachte ihn irgend etwas bei der Arbeit aus der Fassung, und er kam nach Hause und sagte: »Mir reicht’s, ich will hier raus«, und dann spürte ich in meinen Eingeweiden die blinde Furcht vor der Zukunft, das schmerzliche Bewußtsein, daß unsere Probleme niemals aufhören würden.
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Eines Tages, ein Jahr nachdem Paul beobachtet hatte, wie Rachel eine Bohne von ihrem Tischchen am Kinderstuhl aufgelesen hatte und er zum ersten Mal daran hatte glauben können, daß sie etwas sah, überfiel uns eine schlimme Sehnsucht nach Maine. Es war an einem Samstag, und ich war mit Paul durch eine Unzahl von Eisenwarengeschäften gezogen, weil er sich Grabgeräte für Zaunpfostenlöcher und Tischsägen anschauen wollte. Danach wollten wir als besondere Belohnung für unsere geduldigen Kinder in einem jener allgegenwärtigen Eßlokale zu Abend essen, die mich normalerweise in Verzweiflung darüber stürzen, daß wir in New Jersey leben. Wir saßen um unseren Tisch und teilten uns Pommes frites und Sandwichstückchen, als Rachel auf einmal glasige Augen bekam und alles Leben aus ihr verschwand.
Als Charlotte in ihrem Alter gewesen war, starrte auch sie manchmal ins Leere, so oft, daß ihr Babysitter in Maine mehrmals am Tag zu ihr sagte: »Charlotte ist wieder mal in Bolivien!« Aber sie kam auch schnell wieder aus einem solchen Zustand heraus. Rachel dagegen bewegte sich nicht, als wir auf das Tischchen an ihrem Kinderstuhl klopften und ihr übers Gesicht strichen, sie blinzelte nicht, sie weinte nicht, sie verzog keine Miene.
In der Minute, die Rachel so reglos dasaß, kam all das Leid des letzten Jahres wieder über uns, die Erschöpfung, die uns überkommen hatte, diese physische und psychische Müdigkeit, die ich nie zuvor gekannt hatte.
Dann war es vorüber, Rachel fuhr mit der Hand über ihr Tischchen, entdeckte dabei ein Stück Brot und begann zu essen.
Auch für uns war es schnell vorüber. Mir wurde wieder einmal klar, wie zerbrechlich unser Glück doch war, daß es so vieles gab, das nur darauf wartete, es zu zerstören. Wir hatten eine hirngeschädigte Tochter, die soeben einen epileptischen Anfall gehabt hatte.
Als ich sie ins Krankenhaus brachte, um ein EEG machen zu lassen, sagte die Assistentin, die die Elektroden an Rachels Kopfhaut anbrachte: »Dr. Klibansky! Was für ein wundervoller Mann!«
»Ist er das?« erwiderte ich.
»Er kümmert sich wirklich um die Kinder, nicht so wie die meisten anderen. Er kommt noch spät in der Nacht ins Krankenhaus, wenn sonst niemand mehr da ist, nur um sich die Kinder anzusehen.«
Ich versuchte, diese fürsorgliche Seite von Dr. Klibansky während unseres Gesprächs festzustellen, aber ich konnte sie weder in seinen Gesten noch in seinen Worten entdecken. Wir kamen aus dem Sprechzimmer heraus mit der Diagnose partiell komplexer plexer Krampfzustände, und einem Rezept für Phenobarbital, ein Medikament, das schon seit vielen Jahren auf dem Mark war und als ungefährlich galt, weil es, wie Dr. Klibansky sich ausdrückte, »nichts Unsichtbares« mit dem Körper anstellte.
Eine Woche, nachdem wir die Behandlung mit Rachel begonnen hatten, fuhren wir nach Maine.
Ich dachte, ich würde meine Sorgen über Rachel nie völlig abschütteln können. Aber plötzlich befanden wir uns auf dem ungeteerten Weg zu unserem Ferienhäusehen, ich konnte die Bucht durch die Bäume schimmern sehen, und da stand unser kleines Haus, hübsch und nach Tannennadeln duftend. Als erstes hängte Paul unsere Hängematten aus Yucatan zwischen den Bäumen auf, und wir kletterten in die größte, die so geräumig war, daß wir alle in ihr Platz fanden. Und wie wir so dalagen, mit Blick aufs Meer, Arme, Beine, wackelnder Babyspeck, singende Vögel in den Bäumen, da beruhigte mich die Schönheit, die mich umgab — genau wie immer.
Es war ein warmer, trockener, außergewöhnlich sonniger Sommer. Lourie blieb den ganzen Juli über bei uns und half uns, Rachel zu versorgen. Charlotte ging tagsüber in ein Ferienlager. In vorangegangenen Jahren hatte ich im Innern des Hauses bei künstlichem Licht Jeans und Jacken genäht. Dieses Jahr verbrachte ich den größten Teil des Tages draußen in einem Liegestuhl, den Schreibblock auf dem Schoß, die Brille neben mir, und so vergaß ich niemals, nicht eine Sekunde lang, die Schönheit um mich herum.
Ich lief über die hügeligen Straßen und schwamm in der Bucht, die in diesem trockenen Sommer ungewöhnlich warm war. Die Blaufische wanderten frühzeitig in diesem Jahr, und zwei Tage lang färbte sich die ganze Bucht silbern von riesigen Schwärmen von Brassen, von denen manche aus dem Wasser sprangen, so daß selbst an windstillen Tagen, an denen die Bucht normalerweise spiegelglatt war, die Wasseroberfläche immer wieder von springenden Fischen aufgerissen wurde.
Paul kaufte ein hundert Liter fassendes Aquarium, das wir mit Seewasser und kleinen Lebewesen aus dem Meer füllten: mit Einsiedlerkrebsen, Babyaalen, Garnelen und zentimeterlangen Hummern. Paul hatte Bedenken gegen das Hochbett für Charlotte, das sie und ich gerne für sie wollten; also baute er ihr eines aus unbehauenen Stämmen und benutzte die Seitenteile des alten Kinderbettchens als Geländer, so daß sie nicht herausfallen konnte. Wir nannten ihr neues Zuhause Himmelbettchen, und tatsächlich, es wurde für sie ein Zufluchtsort, wo sie am Fußende genug Platz hatte, ihre Spielsachen und ihre Puppendörfer unterzubringen und ungestört zu spielen.
Einen Tag nachdem Paul nach New Jersey zurückgekehrt war, unternahm ich mit Lourie und den Kindern eine Kanufahrt. Wir paddelten hinaus zu einer Inselgruppe und suchten uns eine davon aus, die wir erforschen wollten.
Während wir damit beschäftigt waren, Heidekraut zu pflücken, kam ein Wind auf, und als wir uns auf den Heimweg machen wollten, war er bereits so stark, daß wir trotz heftigen Paddelns meinerseits immer wieder zur Insel zurückgetrieben wurden. Charlotte bekam Angst. Ich paddelte, bis meine Arme brannten, und sang ein paar Strophen von »Ru-, Ru-, Ruder das Boot«, um sie abzulenken und paddelte, bis wir schließlich, viele Strophen und Ruderschlägespäter, sicher zu Hause ankamen.
Als ich an diesem Abend dabei war, das Essen zu machen, ging Rachel zwischen Couch, Fensterbrett und Stuhl hin und her und sang dabei in einer sanften, zaghaften Stimme: » Ru-, Ru-, Ru—.«
Ich drückte ihr beide Daumen und schrieb in unser Maine-Tagebuch:
Sie hat angefangen, ihre Umgebung zu erforschen und zu plappern, sie singt ansdauernd »Ru-, Ru-, Ru-«, sagt Miich (Milch), Nana, Ap-pel, Buuh (Buch), Klöte (Kröte), sie singt neineineinein, psalmodiert wie ein Kantor, steigt auf Stühle und auf das Bett, hat ihren Nabel entdeckt, der sich vom vielen Bohren schon rosa verfärbt hat. Sie kann jetzt ein Männchen in ein Spielzeugauto setzen! Sie geht einen Schritt vorwärts und läßt sich dann in unsere Arme plumpsen — da kann man einen richtigen Schreck kriegen! Als Charlotte Rachel in ihr Kapuzenhandtuch eingewickelt sieht, sagt sie: »Mami, sie sieht ja aus wie ein Mainzelmännchen!«
Laurie schrieb in das Buch:
Kae-Rue macht sich großartig — sie kann jetzt beinahe laufen. Neulich am Strand hat sie einen dicken Mann mit einem Luftballon verwechselt.
Und die Eintragung meiner Schwiegermutter:
Welche Uberraschung, Rae-Rae macht sich großartig, sie spricht Worte, unter anderem Oma, Papa, Kröte, Ru-, Ru-, Ruder das Boot, Mami, Papi… Sie ist wie eine laufende Puppe…
Ihr Radar
Rachel im Haus eines Freundes, zwei jahre und zwei Monate alt. Das Zimmer iSt ihr nicht vertraut, und sie steht mit geneigtem Kopf in der Ecke. Fünf andere Kinder spielen in der Nähe, die meisten sind jünger. Sie raufen um ein Schaukelpferd, spielen mit Klötzen, essen Trauben, schmeißen Kissen von einer Liege, wälzen sich herum wie junge Tiere, legen ihre Köpfe liebkosend in den Schoß ihrer Mutter, laufen dann zurück zu der Balgerei.
Rachel steht da. Sie »paßt auf«, wie Mrs. Kaiser sagen würde, sie schenkt dem, was vor sich geht, viel Aufmerksamkeit. Zu Hause hält sie ihr Ohr gegen den Kühlschrank, um ihn brummen zu hören; bei der Kinderförderung hört sie so intensiv der aufgenommenen Musik zu, daß sie vergißt, den Anweisungen des Vorsängers zu folgen, und in dem Haus meines Freundes steht sie da und hört den Kindern beim Spielen zu, bis wir sie in die Mitte des Zimmers führen. Obwohl sie nicht sicher auf ihren Beinen ist (sie läuft erst seit zwei Monaten), hat sie keine Angst, deshalb lassen wir ihre Hände los und treten zurück.
Die Kinder sausen vorbei und plumps! landet sie auf ihrem von der Windel gepolsterten Hinterteil. Sie wuchtet ihren Körper hoch — mit zwei ist sie immer noch übergewichtig (eine Folge der Behandlung mit ACTH und ihres Bewegungsmangels). Sie ist einen Augenblick lang auf ihren Beinen, als die Kinder von der entgegengesetzten Richtung angerannt kommen, und plumps! sitzt sie wieder da auf ihrem Hintern. Auf und nieder, wie einer von diesen schwerfälligen Vögeln.
Sie stand immer wieder auf — das war (und ist) ihre Natur. Sie war vorsichtig und unsicher, erpicht auf wiederholte Versuche, egal, wie oft sie dabei hinfiel. Dieser Schwung, den sie an den Tag legte, rührte mich. Es rührte mich, als ich sie auszog und sah, daß die Haut an ihren Knien so oft abgeschürft worden war, daß sie in den paar Monaten, die sie fähig war zu gehen schorfig und ledrig geworden War. Sie schlurfte und torkelte, trippelte über Unebenheiten und Hindernisse, fiel aufgrund ihrer eigenen Begeisterung hin und rappelte sich wieder auf.
Wenn man sie zu Hause oder in den Ubungsräumen beobachtet, wo sie sich so sicher wie ein Kind mit perfektem Sehvermögen bewegte, hätte man schwören können, daß mit ihren Augen alles in Ordnung war. Dennoch, wenn etwas verstellt war, zum Beispiel der Eßtisch ausgezogen war, dann ging sie auf ihn zu und stieß mit ihrer Nase auf ihn. Schwierig gestaltete sich der Farbwechsel auf dem Boden für sie, grünes Gras nach grauem Zement zum Beispiel, oder ein farblich abgestufter Teppich, bei dem der dunklere Bereich einen Abgrund suggerierte. Auf unebenem Terrain bewegte sie sich langsam vorwärts, wie ein sehender Mensch in einem dunklen Zimmer, den einen Fuß vorsichtig ausgestreckt, dann das ganze Bein, dann noch ein vorsichtiger Schritt.
Sie konnte sich nicht besonders gut zurechtfinden, und sie konnte nicht besonders gut sehen, aber wenn sie sprach, hielt sie immer Blickkontakt, wo immer sie sich auch befand. Sprache wurde zu ihrem Radar, zu ihrem persönlichen Detektor. Sie kannte alle mit Namen — die Lehrer in den Übungsräumen und unten in der Halle, die Kinder in der Krippe, auch die aus anderen Gruppen — und wenn sie dort ankam, rief sie die Kinder von weitem — Nanda, Rob, Lewa, Doon. (Sie nannte Charlotte monatelang »Baby«, dann hintereinander »Die-die«, »Stester«, »Dadit«, Scha-dit, »Scha-wit«.) Laura konnte sie ganz gut aussprechen (Lewa), obwohl sie aus mir unbegreiflichen Gründen mit einem Namen wie Laurie nicht zurechtkam, die nun Hilfskraft in der Gruppe schräg gegenüber der Halle war und Rachel täglich sah. Sie miaute wie eine Katze (und muhte oft wie die Kuh), stieß ihr »Mist« hervor, sagte ihr Repertoire auf und zählte bis zwanzig. Sie sagte »Guuuten Taaag, wie geht’s«, wenn sie Leute begrüßte, »danke« und »bitte«.
Zu Paul sagte sie »Tickl«, dann lachte sie hemmungslos, probierte ihre Stimme aus, indem sie »Mami« in einem verrückten und verzweifelten Tonfall aussprach, wie ein Pferd wieherte, flüsterte oder schrie. Sie küßte die Puppen mit einem lauten Schmatz und machte »ai-ai«, hob die Röcke ihrer Lehrerinnen und Freundinnen hoch, um ihren Nabel zu suchen, grapschte sich die Knie sitzender Fremder, flehte sie an, ihre Oberschenkel zu öffnen und drückte sie wieder zusammen, während sie die ganze Zeit »Auf! Du! Auf! Du!« sagte.
Die Berichte, die nach Rachels zweitem Geburtstag eintrafen, gaben seit der Diagnose am meisten zur Hoffnung Anlaß. Ihre grobmotorischen Fähigkeiten waren um fast ein Jahr verzögert, und um die Feinmotorik stand es genauso schlecht. Aber ihre Sprache und ihre verbalen Fähigkeiten lagen nur ein wenig unter dem Durchschnitt, und das unter Berücksichtigung »der Gefährdung des Ausdrucksvermögens durch Rachels visuelle Beeinträchtigung«. Die Sprachtherapeutin notierte auch, daß sie »einen signifikanten Fortschritt bei der Identifikation von Bildern und bei der Demonstration der Funktion der Objekte erzielt hat«
Innerhalb des ganzen Zeitraums seit der Diagnose war dies der Zeitpunkt, zu dem meine Hoffnungen am stärksten waren. Endlich ging sie und gebrauchte neue Wörter. Sie stürmte den Gang entlang und rief ihre Freunde, die sich überall befanden. Sie begann Bilder aus Büchern wiederzuerkennen — das Foto eines Apfels, einer Orange, einer Eistüte, eines Schlüssels — Fotos in, natürlicher Größe auf flachem Hintergrund. Damit sie diese Bilder sehen konnte, waren eine ordentliche Beleuchtung und ihrerseits große Anstrengung nötig. Anfangs versuchte sie oft zu schwindeln, in dem sie »Süß!« sagte, wenn wir ihr ein Bild zeigten, oder »Baby Puppe«, obwohl es eine Spule Garn oder ein Elefant war. Selbst das schien ein Zeichen des Fortschritts, da sie sechs Monate vorher überhaupt keine Possen gemacht hatte.
Es ist ein breites Spektrum, was als eine normale Sprachentwicklung im Alter von eins bis zwei Jahren angesehen wird, manche Kinder benennen die Dinge mit einem Jahr, und andere, auch ausgesprochen aufgeweckte Kinder sprechen erst mit zwei Jahren. Ein typisches zweijähriges Kind verfügt über einen aktiven Wortschatz von hundert bis zweihundertfünfundsiebzig Wörtern, obwohl — die meisten Eltern wissen das ebenso wie ein Sprachtherapeut — es keinen Grund zur Sorge gibt, wenn ein Kind in diesem Alter viel weniger sagt.
Der große Sprung in der Sprachentwicklung passiert im Alter von zwei bis drei Jahren. Der Wortschatz eines normalen Kindes beginnt abzuheben, und wenn es mit anderen spricht, dann geschieht das mit klarer Absicht. Ich wußte, daß das die kritischste Zeit für Rachel war, daß ihr Wortschatz wachsen mußte, und daßsie bald beginnen mußte, die Wörter aneinanderzureihen. Nur dann konnten wir davon ausgehen, daß ihre motorischen Verzögerungen eine andere Basis hatten und daß ihr Verstand einwandfrei war. Entweder sie würde sich weiterentwickeln oder noch weiter zurückfallen, wie auch immer — wir würden es in den nächsten sechs Monaten erfahren. Vielleicht würde sie denken und lesen und Freunde haben. »Vielleicht wird sie trotz allem aufs College gehen«, sagte Paul. Oh, bitte, bitte, bitte. Sie macht sich so unglaublich gut.
Rachel war zweieinhalb, als sie anfing ihren Radar in der Welt draußen zu gebrauchen. Wo immer wir auch hingingn, peilte sie Fremde an und zog sie mit ihrem kleinen Stakkato in ihren Bann.
»Halloooo! Guuuten Taaag, wie geht’s?«
Der ganze Satz dieses quirligen Lockenköpfchens war so aufsehenerregend und reizend, daß niemand widerstehen konnte zu antworten. »Gut! Und dir?«
»Guuut!«
»So ein kleines Mädchen, sie spricht so gut! Wie heißt du?«
»Rae-Rae.«
»Wie alt bist du, Rae—Rae?«
»Weiii.«
»Ach Gottchen, gehst du zur Schule?«
»Hallo!« sagte sie dann.
»Ist das deine große Schwester?«
»Hmmm. Hallo! Guuuten Taaag, wie geht’s?«
Selbst wenn die Antworten in keinem Zusammenhang mit den Fragen standen, fanden die Fremden das Mädchen, das genauso klein und rund war wie ein um ein Jahr jüngeres Kind, und die Förmlichkeit ihrer Begrüßungen ausgesprochen bezaubernd. Wo immer wir auch hingingen, erzählten mir die Leute, wie hübsch und prächtig sie sei.
In dem Winter, in dem Rachel zweieinhalb wurde, machten Paul und ich Pläne für einen Skiurlaub. Wir stritten darüber, was wir den Leuten, die dort in der Kinderkrippe arbeiteten, über Rachel erzählen sollten. Wenn wir ihre Probleme ausdrücklich herausstellten, könnten sie sich weigern, auf sie aufzupassen, und dies schien so lächerlich, da sie so entzückend und in vielerlei Hinsicht so normal war. (Und wer konnte es wissen? Vielleicht würde es ihr gutgehen!) Wir einigten uns darauf zu erklären, daß ihr Sehvermögen gering und ihre Entwicklung verzögert sei und daß sie jung sei für ihr Alter.
»Oh, sie ist so klug«, sagte der Babysitter, als wir sie von der Krippe abholten. »Ich habe schon einen Haufen Kinder gesehen, aber sie ist ein kluges Kind, also gut, sie kann ihr Abc, und sie kann zählen.«
Manchmal sahen Paul und ich uns an und tauschten ein klägliches Lächeln aus. Manchmal erklärten wir, daß das, was uns am meisten Sorge bereitete, war, daß sie alles sehr gut nachsprechen konnte, aber nicht über das Nachplappern hinauskam. Manchmal nahm ich das verschwenderisch ausgeteilte Lob entgegen und dachte mir, warum nicht? Vielleicht bin ich so ängstlich, daß ich unfähig bin anzuerkennen, wie prächtig sie ist.
Dann wieder kam eine Freundin vorbei, und ich erfuhr, was ein normales, unscheinbares Kind mit der Sprache alles anfangen kann, wieviel mehr als Mimikri, mehr als die gleichen Sätze immer wieder und wieder. Die meisten Kinder brauchen nicht lange, um Wörter zu verbinden. Charlotte konnte das, als sie so alt war wie Rachel, als sie meine Muttermilch »Mami-Saft« nannte und zu unserem Haus »Essenstadt« sagte, wegen des großen Supermarkts unterhalb des Hügels.
Ich beobachtete, wie die Wochen nach Rachels zweitem Geburtstag vergingen, und als ich sah, wie ihr Bedürfnis zu sprechen schneller wuchs als ihr Wortschatz, begann ich das Verstreichen der Zeit zu fürchten. Ich wollte nicht, daß sie älter als zwei ist, denn solange sie zwei war, war sie immer noch normal, trotz ihrer Wiederholungen und ihrer beschränkten Anzahl an Wörtern. Ich sagte, sie sei zwei, solange ich konnte, und als es März wurde, sagte ich, zweieinhalb. Ich fühlte, wie die Monate vergingen und sorgte mich, weil sie sich nicht schnell genug entwickelte. Sie war zweieinhalb im März, im April, im Mai und im Juni. Mit zweieinhalb ist man immer noch ein Baby; drei ist das Eintrittsalter für den Kindergarten. Ich hatte Angst, an sie als Dreijährige zu denken.
Als der Winter vorbei war, kämpfte sie damit, über ihr Repertoire hinauszugelangen, und schickte sich an, unsere Unterhaltung zu unterbrechen, indem sie sagte »›Schuuudiguuu‹, Daddy, ›Schuuudiguuu, Schuuuduguuu‹«, bis einer von uns still war.
»Was?«
»Hm…schau…hm…abadago bago.«
»Willst du näher am Tisch sitzen?« Irgend so etwas fragte dann einer von uns.
»Abadago bago.«
»Nimm sie hoch«, sagte Paul dann vielleicht, da wir uns um die Bedeutung dieser komischen Sache stritten, die sie zu wiederholen anfing.
»Abadago bago, abadago bago, abadago bago…«
Sie bediente sich dieser Phrase über mehrere Monate, so oft sie das Bedürfnis zu sprechen und nichts zu sagen hatte, oder nicht wußte, wie sie sich über‘das, was ihr durch den Kopf ging, äußern sollte. Lange nachdem wir es aufgegeben hatten, an der Bedeutung herumzurätseln, hatte sie immer noch Erfolg damit und stieß draußen in der Welt auf Resonanz, da die Leute daran gewöhnt sind, einen Sinn hinter der Babysprache zu entdecken. Sie antworteten begeistert mit »Oh!« und »Wie nett!« und »Ist das richtig?« Abadago bago verwirrte mich, aber es brachte mich nicht zur Verzweiflung, nicht, solange der nächste Satz aufkam, den man als »Ich will in den Kindergarten gehen« oder »Ich war im Kindergarten« oder »Ich will den Kindergarten« interpretieren konnte. »Ich will ein Brötchen«, hielt fast ein Jahr lang vor.
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Als Rachel in die Kinderkrippe aufgenommen Worden war, hatten ihre Erzieherinnen empfohlen, daß Charlotte zu Besuch kommen sollte, wenn sie frei hatte. Es wurde zur Gewohnheit, und Charlotte liebte es, ungefähr einmal im Monat den Kindern zu »helfen«. Sie malte Bilder, ergötzte sich an dem Spielzeug, setzte sich in Rollstühle, zog einen der behindertengerechten Stühle an den Tisch, um den Kleinen bei den Zwischenmahlzeiten Gesellschaft zu leisten. Natürlich bedeutete diese gut ausgestattete Spielwiese den Himmel auf Erden für sie, das breite Angebot an gestifteten Büchern und Spielsachen, das Puppenhaus, die Kutschen und Musikinstrumente. Es muß auch gesagt werden, daß sie die Krippenkinder liebgewann, was auch Paul und ich taten, und daß sie sie als ihre Freunde betrachtete. Sie brachte Bücher über Zeichensprache mit nach Hause, damit sie zu ihrer tauben Freundin Jenny sprechen konnte, sie lernte die Zeichen für »süß« und »Baby« und buchstabierte »Charlotte« und erzählte ihren Freundinnen voller Stolz von ihrer tauben Freundin Jenny. Eines Tages, als ich in die Krippe kam, um meine beiden Mädchen abzuholen, fand ich die kleine Jenny in ihrem Rollstuhl vor, wie sie Charlotte in einem Wägelchen vor sich herschob.
Charlotte bastelte gerne, und oft machte sie zu Hause Häuser, Möbel und Menschen aus Pappkarton. Ihre Kreationen waren zerbrechlich und gingen oft kaputt. Einmal spielte sie mit ihren Menschen aus Pappe in meinem Büro, so daß ich der Konversation dieser kleinen Amputierten folgen konnte. »Oh, ja, also, mein Arm fiel ab…Ich muß in einem Rollstuhl sitzen, weil mein Bein futsch ist…Eines Tages ging ich spazieren und mein Kopf ging ab…«
Dennoch begegnete sie den Kindern in der Krippe ohne Beklemmung, Mitleid oder Angst. Die orthopädischen Vorrichtungen, die Krücken, die Orthesen, die Wägelchen und Rollstühle — die einzigen Gegenstände, die ich gesehen habe, als ich diesen Raum betrat — schienen sie nicht zu irritieren. Sie sprach frei von Hemmungen von denen mit »Problemen«, ein Wort, das sie von uns aufgeschnappt haben mußte. »Er ist wie Freddy, er hat ein Problem«, sagte sie über einen Pförtner, der stumm war. Oder: »Er geht in ein besonderes Trainingslager für Kinder mit Problemen.«
Wenn sie ein Kind einlud, um mit ihr nach der Schule zu spielen, bestand sie darauf, daß ihre Spielgefährtin sie begleitete, um Rachel abzuholen. Sobald der Wagen eingeparkt war, rannte Charlotte voraus, schwenkte ihre Arme vor der automatischen Tür, um zu zeigen, was für ein großer Zauberer sie war. In dem Gang, der zur Halle führt, pflegte sie zu rennen, stoppte dann, um ihre Freundin dem Sozialarbeiter vorzustellen, begrüßte die Krankenschwestern, dann ging’s durch zwei weitere Türen, die zur Krippe führten. Die Spielgefährtin ging einigermaßen tapfer weiter, bis wir Rachels Zimmer erreichten. Dann, als Charlotte zu ihren Freunden stürmte, sah ich, wie die Spielgefährtin zurückwich und alle ängstlich anstarrte: das zierliche Mädchen im Rollstuhl, den Jungen, der endlose Kreise mit dem Dreirad zog, den Jungen in ihrem Alter mit nach innen verdrehten, zu kurzen Beinen, den Jungen in einem starren Korsett, und das Mädchen, das schaukelnd in der Ecke saß und in die Hände klatschte. Für uns waren sie Kinder, Gregg, Freddy, Sean, Jenny, Jean; für Charlottes Freunde waren sie der Stoff für Alpträume.
Die Spielgefährtin gewann meist ihre Sprache erst wieder, wenn sie im Auto auf dem Rücksitz saß und fragte: »Warum geht deine Schwester hierher?«
Und Charlotte sagte dann: »Oh, sie hat ein Problem.«
Nur einmal erlebte ich, daß Charlotte auf das Unbehagen ihrer Freundin Rücksicht nahm. Das war als Sean, der in ihrem Alter war, sich für das Mädchen, das Charlotte mitgebracht hatte, interessierte und fragte: »Wer ist deine Freundin?« Charlotte ‘ drehte sich um und sah ihre Spielgefährtin mit verschränkten Armen in einer Ecke stehen. »Wer ist deine Freundin, Charlotte?« sagte er wieder. »Stelle mich deiner Freundin vor.« Sie hat es bleiben lassen.
Es wird ein Ende haben, dachte ich an jenem Tag. Die Zeit wird kommen, wenn der Stolz auf ihre kleine Schwester der Scham weicht, und wenn sie aufhören wird, jemanden mit nach Hause zu bringen. Ich habe mir vorgenommen, daß ich nicht traurig sein werde, wenn das passiert, aber wenn ich die beiden sehe, wie sie sich in unserem Sonnenzimmer herumwälzen, oder wenn ich sehe, wie Rachel auf der Suche nach Charlotte »Stester? Stester?« ruft, dann weiß ich, daß es mir das Herz brechen wird.
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Rachels Kinderfördergruppe traf sich nun zweimal wöchentlich für zwei sehr gut vorbereitete, eineinhalbstündige Sitzungen. Währenddessen gab es Lieder, zu denen Gesten ausgeführt wurden (öffnet die Hände, berührt eure Knie und umdrehen, umdrehen, umdrehen…), die den Kindern halfen, einer Richtung zu folgen, und Spiele, die sie vor einfache Aufgaben stellten. (Also, ich möchte, daß jeder ein Spielzeug aus dem Sack holt. Nur eines!)
Nach der Sitzung trafen die Therapeuten ein, und die Kinder begaben sich an verschiedene Tische. Zwei machten nette motorische Übungen mit Klötzen und Puzzles, zwei andere probten taktile Aufgaben, »Kunst«-Projekte aus Farbe, Bohnen und Kleber, oder Kochprojekte mit Fertigteig, der geschlagen und ausgebreitet werden mußte. Die dritte Gruppe machte Spiele auf der Rutsche, auf der Luftmatratze oder mit großen Schaumgummibällen, um die Grobmotorik zu schulen. Rachel mochte es nicht, an einem der Tische zu sitzen, und benutzte ihren kürzlich erworbenen Charme, um sich davor zu drücken. Wenn wir uns hinsetzten, um einen Turm zu bauen ein Bauklötzchen auf dem anderen, etwas, was die meisten normalen Kinder mit eineinhalb Jahren machen können, pflegte sie nett zu lächeln, schob die Blöcke beiseite und sagte: »Alles fertig!«
»Rachel hat einige Vermeidungsstrategien entwickelt, indem sie die Vollendung einer gestellten Aufgabe verkündet, um sie zu verhindern«, hieß es in dem nächsten Bericht, »aber dem konnte leicht entgegengearbeitet werden.«
Das ging so: Rachel sprang von ihrem Stuhl auf und meldete: »Alles fertig!«, und Mrs. Kaiser sagte: »O nein, du bist nicht fertig« und setzte sie wieder hin.
Im gleichen Bericht heißt es, daß Rachel sich »kooperativ und glücklich« verhält. Und weiter: »Während der Gruppensitzungen bemühte sie sich zuzuhören und versuchte mitzumachen…trotz visueller Begrenzungen. Sie kannte die Namen der anderen Kinder in der Gruppe.« Auch ihre sprachliche Perseveration wurde zu diesem Zeitpunkt notiert.
Webster’s Third definiert Perseveration als »kontinuierliche Wiederholung eines mentalen Aktes, üblicherweise durch Sprache zum Ausdruck gebracht…eine spontane und andauernde Rekurrenz.« Es ist ein in keinem Alter normales Verhalten.
Die glückliche, kooperative, beim Hören sehr wachsame Rachel hielt Leute in den Gängen des Supermarktes, in Arztpraxen und in Geschäften auf und sagte: »Hallo! Guuuten Taaag, wie geht’s?«
Da war es wieder, dieses außergewöhnlich freundliche Kind, denn meist sind die Kleinen in diesem Alter scheu und verkriechen sich hinter Mutters Rock, wenn sie von Fremden angesprochen werden, während dieses auf Fremde zuging, »Auf, Zu« mit ihren Oberschenkeln spielte und sie mit klarer hoher Stimme ansprach.
Wer konnte widerstehen zu antworten: »Gut, wie geht es dir?«
»Guuut. Hmmmmm. Ich will in die Schule gehen.«
Und der Betreffende sagte dann zu mir: »Was für ein prächtiges kleines Mädchen«, und zu Rachel; »Das ist nett. In welche Schule gehst du?«
»Hm…Ich will in die Schule.«
»Genauso wie deine Schwester, hm? Wie alt bist du?«
»Hm…Ich…hm…Ich will in die Schule.«
Ich sagte dann: »Sag wie alt du bist, Rachel«, denn das war eine Frage, die sie beantworten konnte. Oft sagte sie einfach: »Ich will in die Schule«, und trottete zum nächsten und sagte in Hörweite des ersten: »Guuuten Taaag, wie geht’s?«
Die Leute lachten. Die meisten fanden es immer noch süß, doch waren es weniger als zuvor. Ich versuchte sie abzulenken, indem ich sie aufforderte, ihren Namen zu sagen oder sie zum Zählen zu bringen. Ich gewöhnte mir an, Fremden zu sagen, daß sie sich nicht aufhalten lassen sollten, da Rachel die Leute lange festhielt, während sie sich abmühte, irgend etwas zu sagen, obwohl sie nichts zu sagen hatte.
Eine der Therapeutinnen riet mir, in die Hände zu klatschen, um die Perseveration zu stoppen; ein anderer, es zu ignorieren. Wir machten beides, und manchmal funktionierte es. Meist jedoch hatte es den Anschein, als ob sie perseverieren müßte, und als wir sie von ihrem Satz ablenkten, kam es immer wieder und wieder, wie ein verbaler Schlaganfall: »Ich will…Ich will…Ich will…«
Einmal sagte Paul: »Es macht mich krank, wenn sie das tut.«
Nicht angewidert krank, sondern krank vor Überdruß, weil sie glücklich war und sicher auf ihren Beinen stand und bei allen Spielen in der Gruppe mitmachte und morgens aufwachte und sagte: »Ich will auf!«, und »Ich will off« anstatt offen, und »Zurück«, begleitet von einem kräftigen Stoß, wenn sie wollte, daß wir uns bewegten. Sie benutzte zum ersten Mal Possessivpronomina, sie sagte »Mein Buch!« und »Meine Baby—Puppe!« Meine Mutter nannte sie »Dave«, der Name meines Vaters, da meine Mutter ihn so häufig ruft, daß es einem Lied gleicht, das sie singt. So kam sie zu ihrem Namen wie der Kuckuck. Und so sind wir nicht alle unsere Träume losgeworden.
In dem Frühling, in dem Rachel zweieinhalb war, begannen wir uns wieder Sorgen um ihre Augen zu machen, und ich hatte angefangen zu hoffen, daß die Tage so lang wie Wochen dauern, und die Wochen so lang wie Monate, damit Rachel sich sprachlich weit genug entwickeln könnte, um drei zu werden. Sie schielte auf einem Auge. Nicht immer, doch oft genug, jetzt, da sie ihr Sehvermögen nutzte. Paul und ich unterhielten uns darüber, sie wieder zu Dr. Hines zu bringen, dann änderten wir unsere Meinung, bevor wir einen Termin ausmachten. Schließlich war er Neuro-Ophthalmologe, und sein Gebiet erschien uns viel zu esoterisch, als daß er sich mit so etwas Einfachem wie einem trägen Auge befassen könnte.
Wir ließen sie statt dessen von einem ansässigen Augenarzt für Kinder untersuchen, der jeden Monat zu den Kindern in die Klinik kam. Nach der Untersuchung sagte der Arzt, daß es nicht weh tun würde, wenn man ihr zweimal die Woche eine Augenklappe auf das gute Auge kleben würde, und — wer weiß? — vielleicht könnte es ihr sogar etwas nützen. Wir sollen die Augenklappe bis zum Herbst anwenden, erst dann würde man sehen können, ob es sich gelohnt hat oder nicht.
Wir kauften in der Apotheke Augenklappen, »optische Verschlüsse«, legten die Schachtel auf ihren Wickeltisch und machten einen Tag aus, an dem wir beginnen wollten. Der Termin verstrich. Wir einigten uns auf einen zweiten Tag und verpaßten auch diesen. Dann einen dritten und vierten.
Die Wahrheit war, daß es keiner von uns übernehmen wollte. Ihr gutesAuge zu bedecken, bedeutete, sie beinahe blind zu machen, wodurch sie zurück in die Welt ihrer Kindheit gestoßen wurde. Wir hatten an der Behandlungsmethode nichts auszusetzen. Schließlich war sie die Standardtherapie für »Strabismüs«, ungleiche Augenmuskelspannung, und sehr wichtig. Denn beim Schielen dominiert das gute Auge immer mehr, um die Verwirrung durch ein doppeltes Bild zu vermeiden, und das schwächere Auge wird unterdrückt, was mit der Zeit zum verlust der Sehkraft führt.
Schließlich losten wir. Ich verlor und deckte ihr das Auge zu. Rachel schrie und sträubte sich schwach, als ich die selbstklebende Klappe an ihr befestigte. Sie ging in ihrem Unterricht und in ihrem Zimmer, das ihr vertraut war, genausogut wie zuvor herum, munter und fröhlich wie immer. Sie war die gleiche, es sei denn, es ging darum, Bilder zu identifizieren. Ich verabscheute diese Klappen; selbst nachdem ich gesehen hatte, wie gut sie damit zurechtkam, betrübte mich das Zukleben ihres guten Auges weiterhin.
Die einzige Wirkung, die das Bedecken von Rachels Auge hatte, war, daß Fremde alarmiert wurden. Obwohl Schielen bei kleinen Kindern weit verbreitet ist, und Augenklappen ebenso, wurde sie plötzlich in die Welt der offensichtlich Behinderten gestoßen. Sie war nicht mehr so süß, daß es unvorstellbar war, daß etwas mit ihr nicht stimmte.
Wenn sie jetzt auf Leute zuging und sagte »Ich will in die Schule gehen«, schauten sie mich mitleidig an, und es kam nicht mehr »Ist sie nicht wunderbarl«, sondern »Was ist mit ihrem Auge passiert?« All das hat mir wieder bewußt gemacht, wieviel Schönheit wert ist, wieviel wertvoller Rachel in den Augen der Öffentlichkeit war, solange sie süß war.
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Auch nachdem Rachel zwei geworden war, traf ich mich mit den anderen Müttern. Obwohl ich nicht mehr das Bedürfnis hatte, Ängste loszuwerden oder Krankheitsgeschichten zu erzählen, blieb die Gruppe für mich genauso wichtig wie davor. Ich warf immer noch meinen Terminplan um, damit ich jede Woche mit den Frauen zusammensein konnte. Es war wie mit dem Bedürfnis nach Kontakt mit Freunden aus der Kindheit, die uns kennen, so wie wir sind, ohne jede Künstlichkeit.
Von der ursprünglichen Gruppe ist nur Stevens Mutter geblieben. Katie ist vor einem Jahr drei geworden und in eine Tagesstätte für schwerstbehinderte Kinder versetzt worden. Lauren und Alex sind im Kindergarten gegenüber der Halle. Lauren macht große Fortschritte trotz ihrer neurologischen Probleme, und Alex fällt weiter und weiter zurück.
Torys Familie ist umgezogen. Eine der Mütter blieb in Kontakt mit ihr und brachte gelegentlich Neuigkeiten mit. Tory hatte überhaupt keinen Fortschritt gemacht und war mit zweieinhalb auf dem Entwicklungsstand eines sieben Monate alten Kindes stehengeblieben. Sie hatte keine Objektbeständigkeit, das heißt keinen Sinn dafür, daß Leute und Dinge existierten wenn sie nicht in ihrem Gesichtsfeld waren. Sie war launisch und unberechenbar, und obwohl ihre Mutter immer noch sagte, daß es mit Tory besser werden würde, fiel es ihr schwer mit einem Kind fertig zu werden, das so undankbar war. Sie war zornig auf die Therapeutinnen und auf das Programm, das Tory durchlief, und auf Torys Schwester, die so aussah und sich benahm, als sei sie zwei Jahre älter, so daß es nicht mehr nötig war, Fremden zu erklären, warum der eine Zwilling viel größer als der andere war.
Jetzt gibt es dort Steven, dessen Gehirnlähmung als mild diagnostiziert worden ist, und seine Mutter drückt Daumen, wie Paul und ich es für Rachel getan haben. Die Ärzte meinten, daß er gehen könnte und höchstens bei Übermüdung stolpern würde, und daß sein Intellekt nicht beständig sein würde. Mit zweieinhalb war er an eine leichtgewichtige Orthese unterhalb des Knies aus Plastik festgeschnallt, die mit Velcro-Gurten gesichert war, und fing an, in einer ungelenkigen, sprunghaften Weise zu laufen.
Er war auch »taktil defensiv«, überempfindlich auf Berührungen und würgte, so oft er etwas Weiches und Klebriges oder Nasses anfaßte. Er haßte die Kunstprojekte in der Säuglingstherapie, würgte, wenn der Kleber vor ihn hingestellt wurde, und wies so viele Nahrungsmittel zurück, daß jedes Essen seine Mutter fertigmachte. Und er sagte immer noch kein einziges Wort. Seine Mutter suchte verzweifelt nach Gründen für seine Verzögerungen. War er lernbehindert? Langsam? War das Sprachzentrum in seinem Gehirn beschädigt? Würde er rechtzeitig sprechen? Würde er überhaupt jemals sprechen?
Der Müttergruppe schlossen sich Frauen an, deren Kinder vorher noch nie in der Förderungstherapie gewesen waren. Sie waren bei der Geburt und danach normal, und erst als sie auf ihren dritten Geburtstag zugingen, zeigten sich einige Verzögerungen in ihrer Entwicklung. Unter den Kindern war ein quirliger kleiner Junge, der mit drei noch nicht sprach, und ein ebenso altes Mädchen, das fließend schnatterte, aber mit dem Bleistift kein X malen oder Holzfiguren in ein Steckspiel legen konnte.
Unabhängig von dem Grad der Behinderung waren die Mütter, die zum ersten Mal die Probleme ihrer Kinder ernsthaft in Angriff nahmen, tief betrübt und verzweifelt, während diejenigen von uns, die alte Hasen waren, einen grundverschiedenen Stil hatten. Wir alten Hasen schimpften oder jammerten nicht, wir seufzten höchstens. Verflogen war die Wut auf gefühllose Ärzte, auf Fremde und auf Sachbearbeiter bei den Versicherungsgesellschaften; die alten Hasen waren damit beschäftigt zu lernen, wie man innerhalb des Systems am besten zurechtkommt.
Dieses Jahr ließ uns eine Sorge nicht los, ein Thema, über das wir eine Woche nach der anderen diskutierten, während wir selbstgemachte Plätzchen aßen, die eine der Frauen mitgebracht hatte. Unsere Kinder standen entweder alle vor ihrem dritten Geburtstag oder waren bereits drei. Mit drei ist man kein Baby mehr. Drei ist das Alter für den Kindergarten, und wir stellten alle ernstliche Überlegungen an über unser Vorgehen im kommenden Herbst.
Vor nicht langer Zeit bestand das Ziel der Regierung darin, allen Kindern eine gleiche Ausbildung zu ermöglichen. In den letzten Jahren hat man, dank der Behindertenfürsprecher, das Ideal darin gesehen, jedes Kind nach seinen besonderen Bedürfnissen und Fähigkeiten auszubilden. Vorschulerziehung für drei- bis fünfjährige Kinder mit besonderen Bedürfnissen ist in New Jersey seit 1983 Gesetz, jetzt ist sie bundesweit Pflicht.
Da die Verantwortung für die Bereitstellung dieser »angepaßten« Erziehung bei dem Schulbezirk liegt, in dem das Kind wohnt, variiert das Schicksal eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen von Ort zu Ort. In einem optimistischen Fall ist ein wissenschaftliches Team der Stadt, das sich mit Kindern auskennt, für die Bedürfnisse des Kindes verantwortlich, für die Wünsche der Eltern und für die Befolgung der Empfehlungen der Therapeuten und Ärzte. Es ist ein für alle zufriedenstellendes Programm. Eine Stadt kann auch über ihr eigenes Vorschulprogramm für Behinderte verfügen und darauf zielen, es mit Kindern mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Fähigkeiten zu belegen, denn Kinder zu einem außerhalb des Bezirksangebots gelegenen Programm zu schicken, kann fünf- bis zehntausend Dollar im Jahr kosten, während die Eingliederung in ein Programm, das die Stadt anbietet, viel weniger kostet.
Werde zum Anwalt — das haben wir das ganze Jahr immer wieder und wieder gehört. Rede für dein Kind, auch wenn du noch nie deine Stimme erhoben hast. Eine Stadt kann Vater oder Mutter nicht zwingen, ihr Kind in ein Programm zu stecken, das unannehmbar ist. Gegen alle Entscheidungen kann Berufung eingelegt werden. Sie und Ihre Kinder haben Rechte.
Im September wird Rachel drei.
Charlottes Fertigkeiten im Alter von ein oder zwei Jahren sind mir nicht so klar im Gedächtnis geblieben, aber mit drei kann ich sie mir lebhaft vorstellen. Als sie drei war, war sie einen Monat lang scheu, als wir sie zu einem Campingausflug in den Josemite in den Sequoia-Nationalpark mitnahmen. Es war September, und die Bären waren hungrig und frech. In einer Nacht hängte Paul unseren vollen Proviantsack aus dickem Stoff zwischen zwei Bäumen auf, wohl nicht hoch genug — wie auch immer —, in der Nacht kam ein Bär und lieferte sich mit dem Sack einen Boxkampf. Paul wachte auf, sah ihn und brüllte ein heiseres »Hoo! Hoo!« aus unserem Zelt heraus. An einem anderen Morgen, in einem anderen Park, wo unser ganzes Essen in der bärensicheren Schachtel aus Metall, die uns das Camp zur Verfügung gestellt hatte, eingeschlossen war, fanden wir unser Auto mit einer fehlenden Fensterscheibe vor, der Fußabdruck eines Bären auf unserem Koffer und Knabberspuren an Charlottes Spielzeugsack.
Ich erwähne diese Zwischenfälle, weil ich mich daran erinnern kann, daß die Bären für Charlotte eine Sensation darstellten und daß sie ständig von ihnen sprach und Paul bat, für sie »Hoo! Hoo!« zu machen. Ich kann mich erinnern, wie wir ihr erklärten, daß die Bären nicht schlecht wären, daß sie einbrechen, »weil sie es nicht besser wissen«, und auch daran, wie sie uns erzählte, daß ein Baby-Bär in unseren Wagen eingebrochen war — sie wußte es, weil er mit ihren Spielsachen gespielt hatte.
So oft ich daran dachte, war ich über den Unterschied zwischen Charlotte und Rachel verblüfft. Charlotte — sie war nicht frühreif und sprach auch nicht außergewöhnlich früh — bat uns, Familiengeschichten zu erzählen und wandte die »Sie wissen es nicht besser«-Erklärung auf jene an, die Abfälle oder glimmende Lagerfeuer in den Parks zurückließen. Sie sprach von Baby-Bären. Sie war daran gewöhnt, auf die Toilette zu gehen.
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Nun, bevor ich mit unserem städtischen kinderwissenschaftlichen Team gesprochen hatte, wußte ich, daß ich wollte, daß Rachel in das Vorschulprogramm bei Children’s kommt. Ich war mir sicher, daß dies der Ort war, der ihr am meisten nützen würde, obwohl ich nur meine Überzeugung hatte und keine harten, klaren Fakten. Die Sozialarbeiterin machte mich darauf aufmerksam, daß ich den Mitgliedern des Teams schlecht erzählen konnte, daß ich meine Tochter bei Children’s unterbringen wollte, weil ich die Erzieher kannte und ihnen vertraute, oder weil die Sozialarbeiterin Rachel geküßt hatte, als sie zum ersten Mal wegging, und weil die Schwestern in der Klinik applaudiert hatten. Es spielte keine Rolle, daß dieser Ort von Anfang an ihr zweites Zuhause war.
Nichtsdestotrotz, als ich mit dem Koordinator des Teams sprach, legte ich ihm diese Gründe dar und hoffte naiv, daß das ausreichen würde. Er hörte mir respektvoll zu, und dann erzählte er mir von dem städtischen Kindergarten für Behinderte.
Ich erklärte mich bereit, einer Stunde der städtischen Klasse beizuwohnen, um Vergleiche zwischen diesem Programm und dem bei Children’s ziehen zu können. Ich bemühte mich, für alle Möglichkeiten offen zu sein.
Ich erfuhr, daß die Kinder, die in dem öffentlichen Vorschulprogramm eingeschrieben waren, nur milde Schädigungen in den unterschiedlichsten Bereichen hatten, und daß die meisten von ihnen ziemlich normal waren. Es gab einen Sprachtherapeuten und einen Beschäftigungstherapeuten, aber keine Physiotherapeuten, und demzufolge keine Kinder mit ernsten orthopädischen Problemen.
Einige Lehrer und Therapeuten, die ich hat, mir solide nicht emotionale Gründe zu nennen, weshalb Rachel bei Children’s bleiben soll, forderten mich auf, es mir noch mal zu überlegen. Warum darauf beharren, daß sie bei Children’s blieb? Warum soll man nicht daran denken, sie zu einem Programm mit Kindern zu schicken, die weiter fortgeschritten waren? Es war nicht so, daß sie die Therapien nötig gehabt hätte, die nur bei Children’s angeboten wurden. »Es könnte ihr guttun. Es könnte sie wirklich anspornen.«
Eine Vision erschien mir mit einer Deutlichkeit, die ich mir niemals gestattet hatte. Rachel in einem normalen Klassenzimmer. Mein kleines Mädchen in Charlottes Schule. Ich konnte sie in einer Reihe mit den anderen stehen sehen, so klein wie Charlotte damals war und die Buchstaben ihres Namens auf einem Apfel aus Holz. Rachel mit Freunden aus der Nachbarschaft auf Geburtstagsfesten, Rachel, die mit Kunstwerken in der Hand nach Haüse läuft. Ich habe es mir gestattet, mir diese Dinge vorzustellen, und als ich das getan hatte, verstand ich, daß ich Children’s brauchte, daß mir die gewährte Unterstützung vielleicht den Blick getrübt hatte. In der Zeit, als ich die städtische Klasse besuchte, war ich jedoch für alles offen.
Es war nicht wichtig, daß an dem Tag, an dem ich in der Vorschulklasse saß, die Hilfe für Behinderte ungeduldig mit den Kindern war, daß alle Aufgaben, die die Kinder zu lösen hatten, eine visuelle Komponente aufwiesen. Es war nicht wichtig, daß die Sprachtherapie in nur einem halben Zimmer erteilt wurde und daß hinter der faltbaren Stellwand die Juniorenkapelle übte, mit Zymbeln und allem, oder daß eine unfähige Stellvertreterin die Gruppe leitete, und daß ich nie die Erzieherin, die für das kommende jahr engagiert worden war, kennenlernte. Ich saß da und sah den Kindern zu, und alles was ich sehen konnte, war, daß sie nicht sehr behindert waren, nach meinen Begriffen jedenfalls. Sie machten solche Sachen wie Charlotte, als sie in den Kindergarten ging, Aufgaben, von denen ich mir nicht vorstellen konnte, daß Rachel sie im nächsten Jahr bewältigen würde, unabhängig davon, welche Fortschritte sie macht.
Es gab niemals irgendwelche Verhandlungen. Das kinderwissenschaftliche Team beurteilte Rachel und war damit einverstanden, daß Children’s der beste Ort für sie war.
»Warum weinst du?« sagte Paul, als ich ihm die Neuigkeit erzählte. »Es ist nur das, was du wolltest, oder nicht?«
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Drei Geschichten aus Maine aus dem Sommer, als Rachel vier Monate lang zweieinhalb blieb.
1. Gerade als wir zu unserer Reise aufbrechen wollten, hatte Rachel einen Anfall. Als Dr. Klibansky Rachel sah, sagte er: »Also, sie ist sicher ein hübsches Mädchen, das ist kein Problem für sie.«
Er trug mir auf, ihre Dosis Phenobarbital im Vergleich zu anfangs um das Dreifache zu erhöhen. Dann gingen wir weg.
Vor kurzem hatte ich erfahren, daß zwar Phenobarbital nichts heimlich dem Körper zufügt, aber das Sinnessystem in der Großhirnrinde und die motorische Aktivität unterdrückt und die Gehirnfunktion verändert, was häufig Schläfrigkeit, Benommenheit und Lernstörungen verursacht, die bei einem so kleinen Kind wie Rachel dauerhaft sein können. Demzufolge hatte ich keine wohlwollende Einstellung dem Medikament gegenüber.
Im Frühsommer wurde Rachels Petseveration stärker. Sie schien mehr Kommunikationsschwiefigkeiten zu haben als davor, selbst bei einfachen Dingen. Ich rief Dr. Klibansky aus Maine an, um ihm über die hohe Dosis Phenobarbital Fragen zu stellen, und er versicherte mir, daß es keinen Grund zur Sorge gebe, »solange sie so übermütig ist wie sonst«.
Ich akzeptierte es beinahe, aber das Wort »übermütig« war so unangebracht für Rachel, daß ich verstimmt sagte: »Ich würde Rachel nicht gerade als übermütig bezeichnen.«
Diesmal ordnete er an, die Dosis Phenobarbital zu verringern und mitleinem zweiten Medikament zu beginnen, das Tegretol heißt, und zwar keine Lernstörungen verursacht, aber mit einer Reihe von Gegenanzeigen und Warnungen versehen war, die denen des ACTH in nichts nachstanden.
Jetzt standen wir vor einer schwierigen Wahl. Sollten wir Lernstörungen riskieren oder physischen Schaden? Die Gebrauchsanweisung warnte vor Nebenwirkungen wie »ernste und manchmal tödliche Abnormitäten der Blutzellen«, ernsten Hautproblemen, Herzversagen wegen Blutstau, Abnormitäten bei Leberfunktionstests, Lungenüberempfindlichkeit, Linsentrübungen an der Augenrinde und Gelenk- und Muskelschmerzen. Die pharmakologische Gesellschaft empfahl, bei anfallartigen Störungen dieses Produkt nicht als das der ersten Wahl, auch war die »Sicherheit und Wirksamkeit« bei Kindern unter sechs Jahren nicht garantiert.
Wir entschieden uns dennoch dafür, ihr dieses Medikament zu geben. Ein Grund war, daß Dr. Klibansky behauptete, keiner seiner Patienten habe jemals an Nebenerscheinungeri durch Tegretol gelitten. Auch würden ihre Blutwerte, solange sie Tegretol erhielt, zu Beginn wöchentlich untersucht und dann monatlich, so daß wir in der Lage sein würden, ihren Gesundheitszustand zu beobachten. Kurz nachdem wir die Phenobarbitaldosis verringert und mit Tegretoi angefangen haben, begann sie tatsächlich munter zu werden.
2. Linda kam mit mir nach Maine, so daß wir beginnen konnten, an einem anderen Projekt zu arbeiten. Im letzten jahr war sie sehr viel gereist und hatte den Film, den wir zusammen geschrieben haben, auf verschiedenen Festivals gezeigt. Ihr Zuhause zwischen diesen Reisen hatte sie nach Los Angeles verlegt, so daß wir uns selten gesehen hatten. Wann immer wir auch zusammen gesprochen hatten, hatte sie mich nach Rachel gefragt, und ich hatte ihr erzählt, was immer ich auch fühlte.
Nachdem sie ein paar Tage bei uns in Maine gewohnt hatte, fragte sie: »Warum hast du mir nicht erzählt, daß es ihr so schlecht geht?«
Ich war am Boden zerstört. Es ging ihr so schlecht, und ich hatte es nicht einmal bemerkt. So schlecht, als ich mich an ihrem hübschen Äußeren ergötzte und nichts sah. Was war das, was ihr solche Beschwerden bereitete?
Sie perseverierte und sagte mehrmals am Tag: »Weißt du was? Ich will in die Schule gehen.« Sie konnte von sich aus kein Spiel anfangen. Niemals berührte sie den Wäschesack mit Spielzeug. Wenn ich ihn ausleerte, suchte sie sich höchstens eine Kassel aus
Sie trug zweimal in der Woche eine Augenklappe, war das so schlimm?
Und: Sie konnte keine Fragen beantworten, selbst die einfachsten konnte sie nicht verarbeiten, und wenn wir sie so etwas wie »Hast du Hunger?« fragten, dann sagte sie beispielsweise »Waaaaaaaas?«, obwohl sie die Worte kannte und selbst sagen konnte, daß sie essen wollte.
Lindas Worte weckten die Angst wieder auf, daß sie keine Kommunikation mit mir machen würde, denn ein Kind, das meistens Unsinn plappert, das einfache Feststellungen treffen kann, aber die einfachsten Fragen nicht beantworten kann, steht nicht wirklich mit anderen in Verbindung. Ihre Worte erfüllten mich mit der Furcht, daß Rachel zu einer eigenartigen Kreatur werden würde, deren Sprache aus Fetzen, aufgeschnappten Phrasen und nichts anderem besteht. Ich hatte Angst, daß sie so sein würde wie der Mann, der auf dem Bahnsteig auf mich zukam, der ein Arbeitshemd und Jeans trug, ein ganz gewöhnlicher Mann, bis er mir zu nahe kam und mir ins Gesicht grummelte: »Glauben Sie nicht, daß die Rrrrrrrrraritan Valley-Linie die beste Linie in New Jersey ist?« Und dann wandte er sich einer Gruppe älterer Frauen zu und fragte: »Glauben Sie nicht, daß die Rrrrrrrrrraritan Valley-Linie…«
3. Die Tage vergingen, viele von ihnen waren regnerisch, leider, aber es war immer noch Maine. Meine Aufgaben im Haushalt beschränkten sich darauf, Piniennadeln aus dem Häuschen zu kehren, das Geschirr mit der Hand zu spülen und einmal in der Woche meine Wäsche in die Reinigung zu bringen. Ich hatte Zeit, in der Hängematte zu liegen, die Kinder mit dem Kanu zu den Inseln zu bringen und mit ihnen zu dem Jahrmarkt in Topsham zu fahren, um preisgekrönte Schweine und Schafe anzuschauen. Ich buk Plätzchen und kochte Marmelade ein, und ohne ärztliche Berichte, Aufgaben, Verantwortungen und den häuslichen Pflichten um die Ohren, hatte ich Zeit, mir bewußt zu werden, wie sehr ich meine Kinder liebte. In Maine war meine Liebe zu Rachel von ihren Problemen weit entfernt. Ich liebte all das, was süß, weich und bezaubernd an ihr war, und feierte alle ihre Fortschritte, ohne von der Frage besessen zu sein, was aus ihr werden würde, so daß Lindas Worte aufhörten, in mir widerzuhallen. Ich dachte nicht mehr daran, daß es ihr so schlecht ging, sondern daran, daß sie meine Rachel war.
Die Frau, die ich in diesem Jahr angestellt hatte, damit sie auf Rachel aufpaßte, war in Rente, eine junge Urgroßmutter, eine von mehreren Schwestern, die alle strohblond waren. Jeden Tag kam Gerry in ihrem kleinen, braunen Auto mit Evie oder Charlotte oder Betty oder Mary. Ich sprach sehr aufrichtig über Rachels Probleme, als ich Gerry einstellte, aber die Schwestern wollten davon nichts wissen. Sie war ein kleines flinkes Ding, die die Spiele lernte, die sie ihr beibrachten. Sie brachte sie zum Lachen durch die Art, wie sie sagte: »Guuuten Taaag, wie geht’s?«, mal in einer rauhen oder quietschenden Weise, mal flüsternd, und wie sie an der Tür stand und »Mietzekatze, lauf nach Haus!« der Katze hinterherbrüllte, so wie sie es machten. Sie konnte »Eine einsame Auster« aufsagen und wenn sie schlafen sollte, lag sie auf ihrer Matte und sang: »Allein, juh huh, allein«, und schließlich »Ssssss-Bum!« für »Dynamit«. Nein, sie war so schlau wie ein Fuchs.
Zweimal wöchentlich trug sie die Augenklappe, und selbst an den Tagen, an denen ihr beide Augen zur Verfügung standen, war sie bei knorrigen Wurzeln und Steinen und Baumstümpfen auf den Hügeln sehr vorsichtig, wenn sie spazierenging, und so waren sich die Schwestern ihres schlechten Sehvermögens bewußt.
Eine von ihnen zog mich beiseite und sagte, daß es gut wäre, daß Rachel hier wäre, da ihre Enkelkinder nun verstanden, daß manche Kinder weniger glücklich seien als sie selbst. Sie erzählte mir das noch einmal und später auch Paul. Ich fand das dumm und war ziemlich schockiert — so wie damals, als eine von Charlottes Freundinnen sie ziemlich spöttisch fragte, warum Rachels Augen komisch aussahen. »Ihre Augen?« hatte Charlotte reichlich verwirrt geantwortet, »ihre Augen schauen nicht komisch aus.«
»Hältst du Rachel für weniger glücklich?« fragte ich Paul.
»Nein«, sagte Paul. »Und du?«
»Ich auch nicht«, sagte ich. »Wirklich nicht.«
Liebe zu Rachel
In jenem Herbst, als Rachel drei Jahre alt wurde, weinte ich dreimal. Das erste Mal, als ich sie in den Transporter setzte, der sie in die Tagesstätte der Kinderklinik brachte. Sie trug einen kleinen, knielangen Overall, neue Schuhe mit gestreiften Schnürsenkeln und einen blauen Rucksack, der einmal Charlotte gehört hat. Letzterer war gerade groß genug, daß Wäsche zum Wechseln und das Notizbuch’für die täglichen Bemerkungen ihrer Erzieherin hineinpaßten. Um acht Uhr ertönte die Hupe, und Paul, Charlotte und ich brachten Rachel hinaus. Wir ließen sie die Eingangstreppe auf ihre vorsichtige, seitliche Art hinuntergehen, wobei sie die Hand auf das Geländer stützte und mit den Füßen langsam vorrückte, um das Ende der einzelnen Stufen zu spüren. Paul half ihr in den Transporter, und der Begleiter der Fahrerin gurtete sie an ihrem Sitz fest. Dann fuhr der Transporter ab — wie ich es mir in meinen Ängsten ausgemalt hatte — und brachte meine Tochter in eine Sonderschule. Ich hatte immer gewußt, daß das passieren würde. Ich war mir mehr als Paul darüber im klaren gewesen, und doch hatte ich es nie ganz wahrhaben wollen! Ich legte meinen Arm um Paul und weinte und hörte im Hintergrund Charlotte mit leiser Stimme fragen: ’»Warum heult Mami?«
»Sie hat auch geweint, als du den ersten Tag in den Kindergarten gegangen bist«, sagte er.
»Ich habe nicht geweint, als Charlotte mit dem Kindergarten anfing«, erzählte ich Paul später.
»Hast du nicht? Ich war ein wenig durcheinander.«
»Aber nicht wegen Rae-Rae?«
Und Paul, der manchmal noch immer sagt: »Wer weiß, vielleicht wird sie es schließlich doch schaffen«, und manchmal: »Sie ist wirklich zurückgeblieben, oder?« bemerkte nun: »Ich fand, sie sah reizend aus mit ihrem Rucksack, wie ein normaler, kleiner Mensch.«
Beim Erntedankfest weinte ich zum zweiten Mal. Ich war in das Wohnzimmer meiner Eltern gekommen, wo mein Vater mit Rachel und einem alten Freund zusammensaß, und ich hörte den Freund sagen: »Sie ist ein schönes Kind«, und mein Vater sagte bloß: »…es ist ein Jammer.« Ich drehte mich um, ging wieder hinauf, setzte mich ins Badezimmer und brach in Tränen aus, die von ganz unten aus mir herausdrängten, obwohl ich mir immer gedacht hatte, daß ich nie mehr wieder derartig weinen würde.
Dann wusch ich mein Gesicht, ging hinunter, gesellte mich zu meiner Familie zum Abendessen, trank auf die Gesundheit von allen und bediente mich. Während ich aß, setzte ich einen Brief an meinen Vater auf, der von meinem sehnlichen Wunsch sprach, daß er sie lieben sollte, so wie sie war, und aufhören, sie als bemitleidenswert anzusehen. Wenn er aufhören könnte, an all das zu denken, was sie nicht ist, würde er imstande sein zu bemerken, daß sie bezaubernd und liebenswert ist. Versuche mit dem Gedanken Schluß zu machen, daß sie unser Unglück ist! Sie leidet nicht, schrieb ich in Gedanken. Sie fühlt sich nicht herabgesetzt. Ihre Sehkraft und ihr Intellekt sind Teil ihres Selbst und sind alles, was sie bisher kennengelernt hat.
In dem Brief erzählte ich meinem Vater von einem Abend, den ich mit einer Jugendfreundin verbrachte, und wie wir, als wir uns über gemeinsame Bekannte unterhielten, eine einsame Frau erwähnten, die unfähig war zu lieben, einen gescheiten Mann, der zwanghaft seine Karriere zerstörte, und den Sohn eines gemeinsamen Freundes, der aufgrund seiner Depressionen wie gelähmt war. Und ich erzählte, wie mich Rachel an der Tür begrüßte, als ich an diesem Abend nach Hause kam, und ich mich fragte, warum wir ihr Leben eigentlich für tragisch hielten.
Ich glaubte an das, was ich in Gedanken schrieb, ich glaubte absolut daran. Warum hatte ich dann an diesem Abend geweint? Warum weinte ich vier Monate später, als mich eine Frau aus Tennessee anrief, eine Fremde, und mir von ihrem kleinen Mädchen erzählte, an dem man Sehnervhypoplasie diagnostiziert hatte, und das mit sieben Monaten noch völlig blind gewesen war? Sie hatten für sie gebetet, und der Herrgott hatte sie geheilt. Und jetzt konnte sie auf beiden Augen mit zwanzig Dioptrien sehen. Sie war so alt wie Rachel und in jeder Hinsicht in Ordnung. Und die Mutter wollte mich das wissen lassen, damit ich nicht vergesse, daß »Er derselbe Gott ist wie im Alten Testament und noch immer Wunder vollbringt«.
Ich beendete das Telefonat und gab die Nachricht an Paul weiter. Gerade als ich mich dafür entschuldigen wollte, daß ich wie ein Geysir spritzte, fing auch er zu weinen an.
Dreimal ist nicht allzu schlimm, wenn ich es mit den Monaten nach Rachels Diagnose vergleiche, als ich so oft weinte, daß es mir vorkam, ich würde irgendwann völlig ausgetrocknet sein. Oder mit dem darauffolgenden Jahr, als ich weniger über Rachel weinte, dafür aber leicht durch andere Dinge aus der Fassung gebracht wurde, wie zum Beispiel durch eine Blechdose aus einem Tierheim mit dem Bild eines weißen Hundes darauf, Worunter geschrieben stand: DIESER JUNGE HUND WURDE OHNE AUGEN GEBOREN. Hungernde Kinder aus Äthiopien brachten mich zum Weinen und ebenso die Laute eines schreienden Babys oder eine Besprechung mit Charlottes Lehrer, der mir in düsteren Tönen erklärte, meine Tochter habe eine schwache Hochsprungtechnik; die Geschichte von einem zurückgebliebenen Kind, das sich im Wald verirrte; eine tote Opossummutter mit ihren Babys, die auf der Straße lag; eine Reportage im Fernsehen über eine Geburt, die eine Mutter zeigte, die ihr neugeborenes Baby im Arm hielt, ein gebrechlicher Urgroßvater, der auf der Hochzeit meines Cousins Challa-Kuchen aufschnitt. Ich könnte noch fortfahren…
Wenn ich heute Bilder von streunenden Hunden sehe, dann muß ich nicht mehr weinen. Jetzt möchte ich sogar unbedingt einen haben. Die Tatsache, daß ich allergisch auf Hunde bin, ist unwichtig. Ich wünsche mir diesen streunenden Hund so sehr, daß ich bereit bin, bis in den Süden von Jersey zu einem Tierheim zu fahren, um diesen kleinen Hund in die Arme zu schließen, ihn zu füttern, ihn zu versorgen und ihn wieder gesund-zupflegen. Wenn ich über Pflegekinder lese, dann will ich ein Pflegekind ins Haus nehmen, und als ich ein vietnamesisches Kind auf einem Sitz im Zug stehen sah, das aus voller Brust »Mary Had a Widdle Wamb« sang, wollte ich statt dessen eines adoptieren.
Vögel, Meerschweinchen, Hunde, Kätzchen, Kinder. Früher war ich ein salziger Brunnen, aus dem laufend Tränen gurgelten. Jetzt bin ich in einer mütterlichen Phase und will, aus einem sonderbaren Zwang heraus, andere versorgen. Ich will etwas zurückgeben. Ich möchte Bedürftigen helfen, abgebrochene Pflanzenzweige einbinden, eine kranke Wanderdrossel füttern oder ein Kind gesundpflegen. Während des vergangenen Winters machte ich meine Familie verrückt mit meinem glühenden Wunsch, Medizin zu studieren, damit ich einmal für die Leidenden sorgen und die Welt von allen Krankheiten befreien könnte. Ich kann nicht mehr dazu sagen, als daß ich nicht mehr so viel weine.
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Nicht, daß sie mir davon erzählen konnte, aber Rachel mochte den Kindergarten. Ich merkte es an der Freude, mit der sie sich jeden Tag dafür fertig machte, an der Art, wie sie ausrief: »Kathy ist da!«, wenn sie die Busfahrerin draußen hupen hörte, und an der Tatsache, daß sie am Abend, wenn sie im Bett lag, die Namen ihrer Spielkameraden aufsagte, als wollte sie sich an sie erinnern, und die Lieder sang, die sie gelernt hatte.
Ihr Kindergarten sah aus wie der von Charlotte. Ein kleiner, gemütlicher Raum voller Spielzeug, in dem sogar eine Staffelei und ein Sandkasten waren. An der Wand hingen ausgeschnittene Bilder — angemalte Bilder, als ich im Herbst zu Besuch war — und eine Tabelle mit dem Namen und dem Geburtstag jedes Kindes. An der Wand hingen auch Listen mit den Lernzielen jedes Kindes, zum Beispiel »Bis zwanzig zählen. Den Namen schreiben.« Oder »+ und o abschreiben.« An den Begriffen »gleich« und »anders« arbeiten.
Sie waren eine heterogene Gruppe. Ein Kind hatte einen Gehirnschaden als Folge einesUnfalls, ein anderes Gehirnlähmung, ein drittes Spina bifida. Ein Kind war aufgeweckt, eines hatte ernste nervliche Probleme, die es beim Lernen behinderten, eines war zurückgeblieben, eines hyperaktiv. Damit will ich nicht sagen, daß jedes Kind nur ein Problem hatte. Wenn man erst einmal mit der Welt von Kindern Bekanntschaft macht, die besondere Bedürfnisse haben, dann versteht man, wie vielschichtig ihre Probleme sind. Besonders für die vielen von ihnen, die gehirngeschädigt sind. Rachels »Verzeichnis der aktiven Probleme« im ersten Jahresbericht listete folgende Punkte auf:
schwache Sehkraft
zurückgebliebene Feinmotorik
Tendenz zu perseverativem Sprachgebrauch
leichte kognitive Verzögerungen
sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne
Dieser letzte Punkt in dem Verzeichnis — die sehr kurze Aufmerksamkeitsspanne — stellte sich als derjenige heraus, der am kniffligsten zu handhaben war, weil Rachels früheres »Vermeidungsverhalten«, zum Beispiel ihre Art, »Baby-Puppe« zu sagen, wenn man ihr ein Bild von einem Schuh zeigte, oder »alles fertig«, wenn man ihr ein Puzzle gab, ein großes Lernhindernis für sie darstellte. Beim Geschichtenerzählen in diesem Herbst, als sich die anderen Kinder in einem Kreis geschart hatten, um der vorlesenden Erzieherin zuzuhören, plapperte Rachel dazwischen und zappelte auf ihrem Stuhlherum. Nachdem man ihr in entschiedenem Ton gesagt hatte, sie solle ruhig sein, legte sich ihr Gesicht langsam in Falten‘und der Mund wurde länger und länger und stieß dabei einen leisen Schrei aus. Sie rieb mit der Faust an ihren Augen oder ringelte sich in einer fötalen Stellung auf dem Boden. Wie sollte sie etwas lernen, wenn sie nicht aufmerksam sein konnte?
Und was war mit dem zweiten Punkt, mit der zurückgebliebenen Feinmotorik? Ihre Hände und Schultern waren so schwach, daß sie zusammengesteckte Bausteine nicht auseinanderziehen konnte. Sie hatte auch Schwierigkeiten, ihre taktilen und visuellen Systeme zusammenzubringen, und verwendete sie oft getrennt voneinander. Dann war sie beispielsweise zwar imstande, ein Objekt auf einem Tisch zu identifizieren, konnte aber nicht sagen, worum es sich handelte, wenn man es ihr in die Hand legte. Sie hatte keine klare Vorstellung davon, wo sie sich befand. Ihre Beschäftigungstherapeutin, die sich einmal die Woche nur mit ihr beschäftigte und Rachel als eine der ersten begutachtet hatte, als sie drei Monate alt gewesen war, wußte noch immer nicht genau, ob das davon kam, weil sie dyspraktisch war — das heißt, eine leichte Störung in der Bewegungsplanung hatte — oder ob es von ihrer eingeschränkten Sehkraft herrührte.
Ich besuchte in diesem Herbst Rachels Gruppe und sah, wie schwer es für sie war, ihre Erzieher mit den anderen Kindern zu teilen, still zu sitzen und ihre Aufmerksamkeit auf die Aufgaben zu konzentrieren, die man ihr aufgegeben hatte. Und doch, obwohl sie sich so vielen Dingen anpassen mußte, war ich erstaunt, wie selbständig sie geworden war.
Sie hängte ihre Jacke auf ihren eigenen Haken in der Garderobe und trug ihren Stuhl zum Tisch, um mit den anderen einen Imbiß einzunehmen. Nach dem Imbiß warf sie ihren Pappteller in den Abfall und stellte ihre Tasse ins Spülbecken. (Kein Wunder, daß sie zu Hause ihr Geschirr wegwarf!) Sie konnte über die Verwendung von Dingen Auskunft geben, das heißt, wenn man sie fragte, wofür eine Tasse nötig war, sagte sie »zum Trinken«, und Scherben waren »zum Schneiden«. Sie verstand Präpositionen wie »in« und »unten« und konnte ihrer Sprachtherapeutin sagen, wo sich ein Ding befand. Sie hatte begonnen, ihre Finger zu benutzen, um ein Loch in einer Stecktafel zu finden, und war imstande, den Stift in das Loch zu stecken (obwohl sie manchmal ihre Finger in ein Loch steckte und dann angestrengt versuchte, den Stift in ein anderes zu geben). Sie konnte auch mit einem Bleistift ein verschwommenes, ungefähres Abbild von einem O zeichnen und hatte angefangen, große und kleine Dinge durch Hindeuten zu identifizieren. Und wenn es schwierig war, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und wenn sie in demselben Sprach‘inhalt verweilte und Vermeidungsverhalten zeigte, so hatten die Erzieherinnen herausgefunden, wie sie ihr beim Durchbrechen des Widerstandes helfen konnten. Sie gaben ihr wieder das Stichwort, erinnerten sie sofort an die Aufgabe, sogar mehrmals, wenn nötig. »Wo ist der große, Rachel? Der große. Zeig mir den großen.«
Ich erkannte nach diesem Tag in der Gruppe, daß sie im Kindergarten ein anderes Kind war als zu Hause (wie alle Kinder), und daß sie in ihrem strukturierten Unterricht verschiedene Dinge lernte und auf ihre Art Fortschritte machte, während sie zu Hause, wo wir nicht den ganzen Tag mit ihr zusammensitzen und arbeiten konnten, ein seltsames Kind blieb, das sich noch immer in ihren eigenen Wiederholungen verlor.
Zu Hause nahm sie schließlich auch das Spielzeug aus dem Korb, das obenauf lag, und fuhr ihre Puppen in einem Wagen herum, doch sie blieb unfähig, etwas zu beginnen, das komplizierter war als das. Wenn ich in der Küche beschäftigt war, wanderte sie herum, öffnete Schranktüren und schlug sie zu, rüttelte an den Metallschüsseln, die drinnen hingen, bat dutzendmal um etwas zum Trinken, sagte dutzendmal: »Weißt du was? Sandy kommt rüber…« Wann immer ich versuchte, die Zeitung zu lesen, schlug sie mit der Faust ins Papier und wollte, daß ich ihr beim Hüpfen zuschaue. Sie fuhr auch mit ihrem Dreirad herum oder nahm ihr Spielzeugtelefon zur Hand und sagte: »Hallo, Nana? Hier ist Jane. Ich werd.’ dich am Freitag anrufen…«, und gab mir dann den Hörer rüber und sagte: »Es ist für dich.«
Ihre Sprache war immer noch ein Gebräu aus erlernten Phrasen und zufällig aufgeschnappten Artigkeiten, und deshalb hatte sie, wie es eine Freundin bezeichnete, »Oberlehrermanieren«. Sie sagte zum Beispiel zu Fremden »Hallo, wie geht es Ihnen?« und » Entschuldigen Sie, darf ich Sie etwas fragen?« (obwohl sie keine Frage hatte) und »Wünsche einen guten Tag«, bevor sie wegging. Manchmal sagte sie »Ich werde Sie am Freitag anrufen«, was die Leute immer zum Lachen brachte. (Würde sie das noch mit vierzig sagen? Werde ich dann lachen, wenn sie es tut?) Wenn Sie zu Hause einen Bleistift zur Hand nahm, fragte sie: »Wie buchstabiert man Rachel?« oder »Wieviel ist zwei und zwei?«, was auch Charlotte und ich gerade gesagt hatten, als wir mit Bleistiften am Tisch gesessen waren. »Ich habe eine Hausaufgabe«, kündigte sie an, wenn sie vom Kindergarten nach Hause kam. Manchmal, wenn wir spazierengingen, beugte sie sich vor und sagte: »Warte eine Sekunde, meine Schuhe sind offen«, obwohl ihre Schnürsenkel fest geknüpft waren.
In dem Herbst, als Rachel drei wurde, entschloß ich mich, die Tapeten des Speisezimmers abzuschaben. Fünf Schichten Papier auf einer alten Mörtelwand, von denen keine abzuziehen war. Jenen Leuten, die Paul und mir gratulierten, daß wir ein solch höfliches Kind erzogen hatten — mit ihren dienstfertigen Dankeschöns und Entschuldigungen —, konnte ich mit Bedauern und Belustigung berichten, daß sie in diesem Winter »O Scheiße« sagen gelernt hatte und diesen Ausdruck in dem perfekten, irritierten Tonfall, den sie von mir gehört hatte, von sich gab. Sie fuhr mit einem Spachtelmesset die Wand entlang — und sagte nach jedem Schritt »O Scheiße«. Wenn ich auf der Leiter stand und mir der Schwamm aus der Hand fiel, sagte eine leise Stimme unter mir: »Sag ›O Scheiße‹ Mami.«
Daheim konnte sich niemand heimlich einen Imbiß machen, ohne daß Rachel ihn entdeckte. Dieses Kind, das schon früh eine Tasse halten konnte und sehr früh ordentlich aß, kannte mit drei Jahren die Namen und Gerüche einer erstaunlichen Menge von Nahrungsmitteln. Ihr geringes Sehvermögen war ihr dabei kein Hindernis. Rachel konnte Weintrauben aus einer Meile Entfernung ausfindig machen und in ihrem eigenen Mund Heidelbeeren von Himbeeren unterscheiden. Eines Abends öffnete ich den Kühlschrank, als sie zwei Zimmer weit weg war, und sie fragte: »Machst du gerade den Kühlschrank auf?« Und sie rief auch: »Was ißt du?«, als ich ein Glas herausnahm. »Ist es eine Essiggurke?«, sobald ich den Deckel aufgeschraubt hatte. Und dann, während sie mit fliegenden Armen zu mir herstürmte, sagte sie: »Entschuldige. Kann ich bitte eine Essiggurke haben? Vielen Dank.«
Im Winter bemerkten wir, daß inmitten all dieser aufgeschnappten Phrasen Wörter waren, die aus ihrem eigenen Herz und Verstand kamen. Gerade zu dem Zeitpunkt, als sie uns bereits alle ein wenig verrückt gemacht hatte mit ihrem Spruch: »Weißt du was? Sandy kommt rüber!«, sagte sie plötzlich: »Weißt du was? Mein ummmmm…mein Schuh ist offen.« Und es stimmte! Oder: »Weißt du was? Sandy kommt rüber. Unnnnnnnd …Ich habe mit Buddy und Kristy und Adrian gespielt. Im Kindergarten. Es hat so viel Spaß gemacht!«
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Eine Sozialarbeiterin von der Kommission für Blinde saß alle paar Wochen einmal in Rachels Gruppe. Nach ihrem Besuch im Winter erzählte sie mir von einem Optometriker, der mit schwachsichtigen Kindern arbeitete. » Er kann Messungen machen wie sonst niemand.«
Mit unserem Durcheinander von Aktivitäten waren wir nicht entscheidend weitergekommen. Paul und ich überlegten deshalb wieder, welche Schritte wir als nächste unternehmen sollten. Sollten wir am Ende wieder zu Dr. Hines zurückkehren? Oder versuchen, einen Kinderophthalmologen zu finden, der mehr Erfahrungen mit Kindern mit Sehnervhypoplasie hatte? Für die Empfehlung der Kommission, einen Optometriker aus einer kleinen Stadt westlich von uns aufzusuchen, schien es keine sonderlich zwingenden Gründe zu geben. Was machte er in dieser Stadt, wenn er so gut war? Warum einen Optometriker, der ja kein Mediziner war, anstatt eines Ophthalmologen? Wer war er?
Ein ungewöhnlicher Mann, wie sich herausstellte. Ein Tüftler und Bastler, der seine Laufbahn als Optometriker mit schwachsichtigen Erwachsenen begonnen hatte, denen man immer und immer gesagt hatte, daß man nichts tun könne, um ihnen zu helfen, und die sich daran zu gewöhnen hatten, ihre Beschränkungen zu akzeptieren. Die Situation für Kleinkinder war noch schrecklicher, weil diese keine Fürsprecher hatten und keine Möglichkeit, über ihre Frustrationen zu reden.
Die Arbeit mit schwachsichtigen Kindern leidet an denselben Problemen wie die herkömmliche Medizin; es wird mehr Energie auf die Beschreibung der Syndrome verwendet als für die Arbeit an Interventionsstrategien. Vor acht Jahren, als man den Eltern von schwachsichtigen Kindern noch immer sagte, daß man nichts tun könne, fing Dr. Siwoff an, Methoden zu entwickeln, die diese Kinder dazu befähigen, die jeweils vorhandene Sehkraft bestmöglich zu nutzen.
Die Sehschärfe wird anhand einer Tabelle festgestellt, wobei Objekte von einer bestimmten Größe und in einer bestimmten Entfernung verwendet werden. (Welches Objekt und welche Entfernung, ist nach Dr. Siwoff eine »Frage der Zweckdienlichkeit«.) Man kann Buchstaben verwenden oder, bei jüngeren Kindern, Bilder. Um die Sehschärfe bei Kleinkindern oder Kindern, die nicht sprechen können, zu messen, müssen deren Augenbewegungen sorgfältig beobachtet werden. Dr. Siwoff fand heraus, daß man durch zwei Tests, wenn man sie nacheinander durchführt, zu äußerst zuverlässigen Ergebnissen kommen kann.
Der erste Test ist auf etwas aufgebaut, das opto-kinetischer Nystagmus genannt wird: die unbewußte Reaktion gesunder Augen und die Ursache dafür, daß sie flattern und »einen kleinen Tanz aufführen«. Dr. Siwoff benutzt eine Reihe von Streifen auf einer Walze, die sich auf das Gesichtsfeld zubewegt, und wendet sich dann dem Kind zu und beobachtet den opto-kinetischen Nystagmus. Wenn es keinen »Tanz« gibt, mißt er die Größe der Streifen und deren Abstand vom Kind.
Beim zweiten Test benutzt er weiße Plastikkreise, die vor einen schwarzen Hintergrund gehalten werden. Die Sehschärfe wird anhand der Größe und dem Abstand der Kugel gemessen sowie durch das Studium »der zweckgerichteten Sehbewegungen der Augen« des Kindes.
Nachdem man Rachels Sehschärfe auf diese Weise gemessen und festgestellt hatte, daß bei ihr keine deutlichen Brechungsabweichungen vorlagen (sie war nicht kurzsichtig, weitsichtig oder astigmatisch), prüfte Dr. Siwoff, ob das Auge außen gesund war, und machte eine neurologische Einschätzung der außerokularen Muskeln. Ein durch ein Prisma geleiteter Lichtstrahl wurde verwendet, um die Augenablenkung zu messen. Wenn die Augen in Ordnung sind, dann wird das Licht einer vorgehaltenen Stablampe im Mittelpunkt der Pupille reflektiert; wenn nicht, dann ist die Reflexion verschoben. Dr. Siwoff glaubte, daß viele Kindermit schwachem Sehvermögen es »lernen«, die Augen zu verdrehen. Nicht, weil sie mit den Muskeln Probleme haben, sondern mit der Wahrnehmung. Ihr Auge weicht deshalb ab und dreht sich in die Zone mit der besten Sicht. Bei Rachel schien dies der Fall zu sein. Sie schielte, damit sie eine Art Sehfenster benutzen konnte.
Dr. Siwoff probierte prismatische Gläser an ihr aus, um die Abbilder auf der Retina zu verlagern — um buchstäblich die Welt auf ein funktionierendes Stück der Retina zu legen. Dann bat er sie, nach einem kleinen, glänzenden Ball zu greifen, den er zuerst vor sie und dann zu beiden Seiten von ihr hielt. Jedesmal griff sie danach und nahm den Ball ohne Unterbrechung. Sie richtete dabei weder den Kopf auf, um ihn sehen zu können, noch schielte sie. Sie konnte den Ball sogar sehen, wenn er ihn zu ihrer Linken hielt, wohingegen ohne die prismatischen Gläser dieser Teil der Welt einfach nicht für sie existierte.
Daraufhin nahm er ihr die Gläser ab, warf den Ball weg und bat Rachel, ihn zu holen. Sie ging im Krebsgang, um ihn zurückzubringen. Sie hatte dabei den Kopf aufgerichtet und die Augen verdreht und schob den Fuß ihres linken Beins vorsichtig vor. Er gab ihr die Gläser zurück und warf den Ball wieder. Rachel richtete ihren Kopf und ihren Körper auf und fand ihn sofort.
Warum veränderten die Gläser Rachels Gangart? Ohne sie mußte sie ihren Kopf drehen, um das beste Gesichtsfeld zu finden. Und wenn sie das tat, straffte sich ihr Körper.
Wie Dr. Siwoff erklärte, »sind wir so konstruiert, daß wir unsere visuellen Informationen erhalten, wenn wir geradeaus gehen.« Wenn Rachel den Kopf drehte, um das Sehfenster zu finden, verwirrte sie ihr Gehirn. »Die Augen sagen, daß sie geradeaus geht, aber der Kopf ist verdreht, und deshalb strafft sich der Körper.«
Unser Sehsystem wirkt sich auf die Fähigkeit zu gehen, die Informationsaufnahme und das Verhältnis zum Raum aus. Dr. Siwoff glaubt, daß es für ein sehbehindertes Kind nicht ungewöhnlich ist, wenn es auf der Suche nach der klarsten Sicht eine Körperseite anspannt. Er glaubt, daß manchmal die Haltungsprobleme bei schwachsichtigen Kindern, die man als orthopädische diagnostiziert, in Wirklichkeit aber visueller Art sind.
Ohne prismatische Brille finden viele Kinder niemals heraus, daß sie ein Sehfenster besitzen. Bei vielen hat es den Anschein, daß sie keinerlei Sehkraft haben, weil sie nicht wissen, wie sie sie verwenden sollen. Deshalb sind Geschichten wie diese — von Kindern, die für so viele Monate völlig blind sind — nichts Ungewöhnliches.
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Wir erwarteten, daß Rachel ihre Brille ablehnen würde und daß wir sie mit einem speziellen Band um ihren Kopf festmachen müßten. Aber als ihr Dr. Siwoff zwei Wochen später die kleine, rosa Brille aufsetzte, berührte sie sie einmal und ließ sie dann, wo sie war. Sie lernte schnell, sie zu richten, wenn sie ihr die Nase runterrutschte, indem sie mit ihren Handflächen gegen die Linsen drückte und dann angestrengt durch die Fettflecken guckte, welche sie auf das Glas gepatzt hatte. Wir waren bald so daran gewöhnt, sie mit Brille zu sehen, daß sie für uns, wenn sie herunten war, das unfertige Aussehen hatte, wie es Langzeitbrillenträger bekommen. Später nahm sie sie ab, wann immer sie müde war. (Viel später warf sie sie weg und ließ sie auf dem Sofakissen oder auf dem Boden liegen. Sie verbog die Ohrenauflage und brach dabei fast den Rahmen. Als wir sie auf Veranlassung ihrer Erzieherin wieder untersuchen ließen, stellten wir fest, daß ihr schwächeres Auge nun mehr Leistung erbrachte und daß sie höchstwahrscheinlich doppelte Bilder gesehen hatte.)
Die Brille war das erste Positive, das man für Rachel vorgeschlagen hatte. Alles was wir vor dem Termin mit Dr. Siwoff gehört hatten, lautete immer, nie, unmöglich, unumkehrbar. Jetzt, da sie die Brille hatte, warteten wir darauf, daß ein Wunder eintreten würde.
Zuerst lag die einzige Veränderung in ihrer Gangart. Weil sie nicht mehr den Kopf aufrichtete, um etwas sehen zu können, ging sie vom ersten Augenblick an aufrechter, wenn sie ihre Brille trug. Ihre Füße drehten sich nicht mehr so stark nach innen. Und wenn sie auch manchmal noch taumelte, ging sie doch mit größerer Zuversicht. Und tatsächlich, sie fing zu laufen an, wann immer es ihr möglich war, und rief dabei: »Laufen, laufen, laufen!« während ihre Arme in allen Richtungen herumflogen. »Laufen, laufen, laufen« auf ihre eigene, einmalige Art, die ihre Beschäftigungstherapeutin treffend als »die Jagd nach ihrem Schwerpunkt« charakterisierte.
Ihre Erzieherin hatte das Gefühl, daß sie sich mit den Bilderbüchern leichter tat und für längere Zeitspannen aufpassen konnte, obwohl sie nicht sicher war, daß das von der Brille herrührte. Ihre Beschäftigungstherapeutin sah kaum eine Verbesserung und vermutete, daß Rachel sich vielleicht noch nicht an ihr verbessertes Sehvermögen gewöhnt hatte.
Ich hätte wissen sollen, daß die Veränderungen nicht plötzlich, sondern nur allmählich eintreten würden, und daß wir erst mit der Zeit sehen würden, daß sie sich verändert hatte. Im Frühling erst merkten wir, um wieviel besser Rachel im Einklang mit der Welt lebte, seit sie die Brille hatte. Sie nahm andere Menschen wahr. Sie war viel interessierter an den anderen Kindern in ihrer Gruppe und brachte manchmal denjenigen, die nicht gehen konnten, Bücher oder Sachen zum Spielen. In einem Geschäft blickte sie auf und deutete auf einen über unseren Köpfen aufgestellten Regenschirm; draußen zeigte sie uns einen Baum. Wir hatten es nie für möglich gehalten, daß sie überhaupt wußte, was ein Baum ist, oder etwas sehen konnte, das so weit weg war. Und jetzt streckte sie ihre Arme aus und sagte uns, daß wir den schönen Baum anschauen sollten. Die Brille hatte ihre Welt vergrößert.
Sie hatte nie ihre Umgebung erforscht, und jetzt tat sie es. Sie öffnete Schubladen, nahm Messer vom Küchentisch und hüpfte auf den Sofakissen herum. Im Sommer, bevor sie vier wurde, warf sie einen Kamm und Fingerpuppen in das Aquarium, das Paul in Maine aufgestellt hatte. Und an einem anderen Tag stand sie neben dem großen Bassin und trank einige Teelöffel von dem trüben Salzwasser. Bevor sie die Brille hatte, hatte sie Kämme und Fingerpuppen ebensowenig zur Kenntnis genommen wie die Tatsache, daß Wasser in dem großen Bassin plätscherte. All diese Dinge waren damals undenkbar gewesen.
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Um dieselbe Zeit, als wir sahen, wieviel größer Rachels Welt geworden war, hielt ihre Erzieherin in ihrem Buch fest, daß Rachels »Farbensehen unsicher« war. Sie schlug vor, daß ich sie selber testen sollte, und so gab ich ihr an jedem Nachmittag einen Haufen Plastikstifte und bat sie, mir einen grünen oder gelben zu geben — die Farben, die sie in der Schule am öftesten zu erkennen schien.
Ich sollte regelmäßig mit Rachel zu Hause arbeiten, um das Pensum »beharrlich weiterzuverfolgen«, das sie in der Schule lernte. Es kam mir zunehmend schwieriger vor, weil sie so zerstreut war, sich auf den Rücken fallen ließ oder mir inmitten der Lektion unwichtige Fragen stellte. Sobald ich sie zu unterrichten versuchte, wurde ich an all ihre Mängel und Unfähigkeiten erinnert, an alles, was sie nicht konnte. Dies brachte mir auch all die verlorenen Nachmittage wieder in Erinnerung, an denen ich Tabellen überprüft, ihre Zurückgebliebenheit abgewägt und versucht hatte, genau zu berechnen, was für Rachel geeignet war und wie ihre Zukunft aussehen wird. Über drei Jahre lang hatte ich nach der Wahrheit mit all ihrer Scheußlichkeit gesucht, nach den nackten Tatsachen, so schrecklich sie auch sein mochten. Ich wollte das nicht mehr länger machen. Ich wußte, daß Rachel zurückgeblieben war, aber ich war nun an einem Punkt angelangt, wo ich eher ihre Fortschritte feiern als über ihre Zurückgebliebenheit trauern wollte, wo ich die Unsicherheit einem Urteil vorzog, das ihre Beschränkungen definierte.
Es war schwierig, mit Farben zu arbeiten. Ich hatte nie von Rachel erwartet, daß sie fähig sein würde, Farben zu sehen. Daher lastete auf keiner von uns ein Druck. »Welcher ist der grüne Klotz?« fragte ich sie Tag für Tag. »Rachel, schau, der grüne Klotz. Gib mir den grünen Klotz.«
Manchmal hob sie den grünen auf. Manchmal holte sie den orangefarbenen und nahm den grünen erst, nachdem ich meine Befehle wiederholt hatte. Es gab Tage, an denen sie mühelos die richtigen Farben heraussuchte, gefolgt von anderen, an denen sie überhaupt keinen Farbensinn zu haben schien.
Es dauerte bis in den späten Frühling, bis sie sicher genug war, so daß ich es wagen konnte, Paul zu sagen, sie könne Farben erkennen. Er weigerte sich, das zu glauben, aber ich war nicht mehr verzweifelt darauf aus, daß er sah, was ich sah, daß er glaubte, was ich glaubte, daß er betrübt war, wenn ich betrübt war. Ich bestand nicht hysterisch darauf, daß sie Farben sehen konnte, nur um dann in meiner Überzeugung zu schwanken, wenn er widersprach. Ich gab ihm die Stecktafel mit sechsunddreißig Stiften und sagte ihm, daß er sie, wenn er Zeit hätte, bitten sollte, die grünen herauszusuchen, und daß er sehen würde, daß sie aus den sechsunddreißig diese wenigen auflesen könnte. Als ich mich abwandte, dachte ich mit Schrecken daran, daß sie es für ihn vielleicht nicht tun würde.
Sie tat es aber, und als er am Abend zu mir kam, sagte er: »Du weißt doch, was das bedeutet? Sie besitzt etwas Sehkraft im Mittelpunkt. Ich hätte es nie für möglich gehalten. Sie besitzt etwas Sehkraft im Mittelpunkt!«
Es war das zweite Mal, nachdem Rachel drei geworden war, daß er weinte.
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Ich will diese Geschichte noch nicht beenden. Ich will von dem Tag im Juni erzählen, als ich sie in der Sprachtherapie besuchte, und sie für dreißig Minuten dasaß, ohne sich zu winden, und lebensgroße Zeichnungen von Kleidern identifizierte. Sie sagte: »Das ist ein…Hemd. Das ist eine…Hose«, und dann, als Zeichnungen von Speisen und Kleidern nebeneinander waren, erzählte sie der Therapeutin, was sie anziehen würde und was essen. An diesem Tag folgte sie auch den zweigeteilten Befehlen, die man ihr gegeben hatte. Sie klatschte mit den Händen und stellte dann einen gelben Klotz auf ihren Kopf, sie berührte ihre Nase und klatschte dann in ihre Hände, sie berührte ihren Kopf und öffnete dann ihren Mund. Ich will auch erzählen, daß sie bei der Beschäftigungstherapie bäuchlings in einer Schaukel lag, die an der Decke aufgehängt war, und als wollte sie jene kontroverse Theorie unter Beweis stellen, daß das Tragen von Gewicht und Bewegung helfen, taktile und visuelle Systeme zu integrieren, schwenkte sie große Klötze und steckte sie zusammen.
Ich will an diesem Manuskript weiterarbeiten (in einem fort, wie die Zeiger der Uhr) und darf in diesem Sinn die Aufzeichnung ihrer Fortschritte weiterführen. Zum Abschluß muß ich jetzt noch davon berichten, daß sie die warmen Monate damit verbrachte, jeden nach seinem Namen und seinem Alter zu fragen, sogar diejenigen, die sie am besten kannte. Sie hielt Fremde an, um zu sagen: » Mein Dad sagte.« Ein Satz, der vier Monate lang unvollständig blieb, bis sie schließlich bei »Mein Dad sagte…hallo!« anlangte. Sie konnte auch nicht alleine spielen, und es war noch immer schwierig, sie mit etwas anderem zu beschäftigen als mit den Stapel- und Sortierübungen, die sie im Kindergarten gelernt hatte. Sie sang Kinderreime und Lieder, machte einfache Beobachtungen und Bemerkungen und folgte Anweisungen.
Sie konnte sich nicht ins Gedächtnis zurückrufen, was sie am Nachmittag gemacht hatte, sogar wenn es etwas so Aufregendes gewesen war wie Ponyreiten. Wenn Charlotte oder Paul ausgegangen waren, fragte sie nie, wo sie waren oder wann sie zurückkommen würden; sie konnte mir nichts über sie erzählen und auch nicht über die anderen Kinder in ihrer Gruppe, obwohl sie noch immer in der Nacht deren Namen aufsagte. Sie konnte sich nicht alleine an- oder ausziehen. Sie konnte nicht alleine auf die Toilette gehen.
Wir wußten nicht, ob sie jemals imstande sein würde zu lesen, vernünftig zu denken oder für sich zu leben, ob sie mit ihrem Perseverieren aufhören oder ihr Leben lang damit fortfahren würde. Manche Kinder, die in der frühen Kindheit zurückgeblieben sind, holen auf, andere bleiben bei ihren langsamen Fortschritten, wieder andere bleiben später zurück, wenn die Fertigkeiten, die sie erbringen müssen, komplizierter werden. Rachels Erzieherin war mit ihren Fortschritten zufrieden und hatte Hoffnungen für sie. Ihre Beschäftigungstherapeutin aber war von ihren Fähigkeiten unbeeindruckt und glaubte, daß sie neben bloßem Auswendiglernen wenig konnte und daß sie nicht fähig war, eine Masse von Informationen zu verarbeiten oder Informationen zur Lösung von Problemen zu verwenden.
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Warum weinst du nicht mehr?
Weil sie zu uns gehört, und wir sie lieben. Wir sind nun besser daran gewöhnt, mit Rachel zu leben, und sind vertrauter mit all dem, was ihr Leben mit sich bringt. Wenn sie wie Katie wäre, wäre es anders, vermute ich. Wenn ihre leuchtenden Augen das einzige wären, das sie an uns bindet; wenn sie zwar größer und schwerer würde, ihr Verstand jedoch nicht wachsen würde und alles, was wir erzählen könnten, wäre: »Sie ist so schwer, daß ich sie kaum hochheben kann«, dann könnten wir wie Katies Mutter von einer Unterbringung, von einer Institution sprechen. Dann würden wir vielleicht noch immer weinen.
Rachels Kampf ist ihr eigener Kampf. Ihr Leben ist dazu ausersehen, daß es sich von jedem anderen, das ich kenne, unterscheidet. Einst quälten mich die Gedanken an ihre Zukunft. Meine Ängste darum, wer sie einmal lieben und was für ein Leben sie haben wird, waren so stark, daß ich kaum an etwas anderes denken konnte. Aber jetzt sind fast vier Jahre vergangen, und es ist normal, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Die Zeit verringert die Ängste und schleift die Kanten ab. Die Zeit heilt wirklich.
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Hast du dich verändert?
Ich ergreife den Augenblick und gewinne ihm jedes bißchen Glück ab. Und gleichzeitig fühle ich mich ungeschützter als vorher. Wenn ich zu meinem morgendlichen Lauf hinausgehe, und die Luft ist frisch und kühl, und meine Schritte sind lang und mühelos, dann fühle ich Tatkraft und Stärke in mir, bin verbunden mit Erde und Himmel und werde geküßt vom Schicksal. Das Leben ist süß, und ich bin so unglaublich glücklich und…eines Tages werde ich mich nie mehr wieder so fühlen; eines Tages werde ich alt sein, und alles wird man von mir nehmen. Eines Tages werde ich sterben.
Was gibt es sonst Neues? Meine engsten Freunde könnten sagen, daß ich immer so gewesen bin, immer eine, die schon von Jugend an der Schuh drückte. Aber andererseits glaube gerade ich nicht daran, daß die Not uns adelt. Der Schmerz läßt uns erkennen, wie zerbrechlich wir sind. Wir sehen, wie hilflos wir sind, wenn wir unser eigenes Schicksal bestimmen wollen. Es ist nicht wie bei den Windpocken: garantierte Immunität nach überstandener Krankheit. Es ist unwichtig, was in der Vergangenheit passiert ist, da in der Zukunft etwas Schlimmeres passieren kann.
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Was hast du daraus gelernt?
Zum einen gar nichts.
Zum anderen das Folgende: wie man Spritzen gibt; wie es ist, wenn man alles versuchen muß, um etwas zu bekommen; wie furchtbar es ist, nicht imstande zu sein, die Schmerzen eines anderen zu lindern; wie hoffnungslos das Leben sein kann; wie das Gefühl des Schmerzes uns von anderen ausschließt; auf wie viele Arten man betrübt sein kann. Mein Wortschatz hat sich verbessert. Hört mal zu, wie ich diese Spezialistenausdrücke hersage und mit Leichtigkeit von adaptiven Fähigkeiten, partiell komplexen Anfällen, Entwicklungsverzögerung, kognitiven Mängeln oder Perseveration spreche. Ich kann auf Cocktailpartys mit Ophthalmologen, Psychiatern, Sprachtherapeuten, Sonderschullehrern, Neurologen, Blindenschriftlehrern oder Sozialarbeitern Small-talk machen. Sowie ein Baby mich befähigt hat, mit anderen Babys zu sprechen, hat ein behindertes Kind mich befähigt, mich mit den Behinderten wohl zu fühlen.
In einer dieser Ich-überwand-Einschüchterungen-und-Vorurteile-Autobiographien, die ich nach Rachels Diagnose las, wurde ein Vorfall erzählt, der den blinden Autor aufregte. Ein Mann nahm ihn nämlich auf einem Flughafen beim Arm und sagte zu ihm im wesentlichen folgendes: Ihre Blindheit ist mir ein Trost, weil mein Enkel zurückgeblieben ist. Ich glaube nicht, daß der Mann meinte, daß alle Blinden zurückgeblieben sind, was der Autor verstand, sondern daß sich eher eine Stimme in ihm gelöst hatte. Etwas, das ihm erlaubte, ungezwungen zu sprechen, indem er sich auf andere bezog, die behindert waren. (Und dies ist eines der stärksten Argumente für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern. Die Vertrautheit mit etwas verringert Mißtrauen und Angst.)
Ist das alles?
Eines Abends traf ich Stevens Mutter zufällig im Supermarkt. Unsere Kinder waren in unterschiedlichen Gruppen gewesen, und wir hatten einander seit dem vorigen Sommer nicht mehr gesehen. Sie sagte: »Wie geht es Rachel?«
»Gut! Sie hat Brillen mit Prismen bekommen, so daß sich ihre Sehkraft wirklich verbessert hat. Aber sie hat eine Menge Lernprobleme und…sie ist ziemlich zurückgeblieben. Wie geht’s Steven?«
»Oh, er kommt wirklich gut zurecht, aber…Er spricht noch immer nicht, und sie reden jetzt davon, daß er möglicherweise nie sprechen wird. Er ist so frustriert gewesen, daß er nicht imstande ist, uns zu sagen, was er will, und eine Woche lang hat er jeden gebissen. Dann, ungefähr vor einem Monat, haben wir angefangen, ihm Zeichen zu geben, und er hat wirklich geantwortet.«
Ich eilte nach Hause und ging die Treppe hinauf, um zu meinen Mädchen reinzuschauen. Vielleicht habe ich letzten Endes doch Glück, dachte ich, während ich die beiden unter die Decke steckte.
Dann stellte ich mir Stevens Mutter vor, wie sie nach Hause ging und leise in das Zimmer ihres Sohnes trat. Ich konnte sehen, wie sie seine Stirn küßte und sich glücklich fühlte, weil ihre Liebe so tief war. Vielleicht bin auch ich ihr in den Sinn gekommen, und sie dachte: »Mein Gott, sie hat alle Hände voll zu tun, die Kleine sieht nicht gut, sie hat einen torkelnden Gang, sie wiederholt sich andauernd, sie hat Epilepsie, sie ist zurückgeblieben.« Diese andere Mutter könnte so geredet haben, denn für die Welt ist es das, was Rachel darstellt.
Für mich ist sie Rachel. Meine Liebe zu ihr ist weder die stumme, instinktive Liebe, wie sie eine Mutterratte für ihr Kleines empfindet — obwohl das auch dazugehört —, noch ist sie eine sorgenvolle Liebe. Ich liebe sie, weil sie warm, reizend und entgegenkommend ist, weil sie meine Liebe erwidert, weil sie nach dem Aufstehen unsere Namen ruft und uns sagt, daß wir sie kitzeln sollen. Frage ich Charlotte, ob sie etwas zum Essen will, ruft Rachel aus drei Zimmern Entfernung: »Ummmm Sahne Olive Zwiebel Senf Fischstäbchen Apfelsaft.« Wenn ich sie küsse, sagt sie: »Ich bin so süß!« Ich liebe sie, weil sie mir folgt, wenn ich ins Badezimmer gehe, und sagt: »Entschuldige, entschuldige. Darf ich reinkommen?« und dann die Tür öffnet und mit großer Freude ruft: »Ich bin drinnen!« Sie steigt in die Dusche und sagt: »Ich bin in der Dusche!« und: »Machst du Pipi? Ich kann es hören. Das war gut, das war sehr, sehr, sehr gut. Ja klar!« Ich liebe sie, weil sie zu mir gehört.
Sie bringt mich zum Lachen. Sie hat im Juli gelernt, wie man hüpft, und hüpft jetzt beim geringsten Anlaß. Sie preßt die Arme zusammen, winkelt die Ellenbogen an und springt in die Höhe. Oftmals verlassen ihre Füße dabei nicht einmal den Boden, aber sie ist vergnügt und voll Stolz, und wir sind es auch. Sie gibt ihren Puppen dicke, feuchte Küsse und sagt zu ihnen, wenn sie allein ist: »Bist du mein Schätzchen? Hmmm? Hmmm?« und küßt auch uns direkt auf die Lippen, ohne daß sie blin’zelt. In ihrem Innern lebt ein reiner, süßer Geist.
Ich spare nicht für ihre College-Ausbildung.
Ich kann nicht selbst Rachels Leben leben oder von der Welt erwarten, daß sie mir zu ihren Fertigkeiten Beifall spendet, denn wenn sie einmal heranwächst und alle Merkmale eines Kleinkinds verliert, wird sie niemals von der Welt geschätzt werden, ganz egal, worin schließlich ihre Behinderungen bestehen werden.
Es wäre eine Lüge zu sagen, daß ich mir keine Sorgen mache. Wenn es eine Wunderpille gäbe, um sie von allen Mängeln zu befreien, so würde ich sie ihr geben, aber ich liebe sie wegen ihrer Unzulänglichkeiten nicht weniger; noch liebe ich sie trotz dieser, obwohl es Zeiten gibt, in denen meine Liebe noch immer von Traurigkeit und Angst beeinträchtigt wird.
Sie ist mein kleines Mädchen, und sie hat noch so ein langes und hartes Schicksal vor sich. Ich habe sie so viele Male fallen und sich selbst aufhelfen sehen. Ich habe mit meinen Händen ihre lederartigen Knie gestreichelt und ihren Schwung bestaunt und die Art, wie sich ihr Körper daran anpaßte. Aber es hat nie eine Zeit gegeben, in der ich mich nicht selbst daran hindern mußte, sie in meinen Armen zu halten, damit sie niemals wieder stolperte.
Ich bin bei dir, Rachel. Diese letzten vier Jahre haben mich darauf vorbereitet. Ich habe gelernt, dich in die Welt einzuführen und stolz auf dich zu sein, auch im Angesicht von Jammer und Spott. Ich bin in der tiefen Liebe zu dir so gewachsen, daß ich wahrhaftig sagen kann, daß ich mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorzustellen vermag.
August 1987
1(Richard D’Ambrosio) Deutsche Übersetzung von Rosemarie Soenderop (1992)
2(Jane Bernstein) Aus dem Englischen von Kollektiv Druck-Reif (1989)