Unreife Herzen

Marie Louise Fischer

1983

Ein Glücklichsein ohne Ende, das ist es, was Gina, die blutjung den Mann ihrer Träume geheiratet hat, vom Leben zu zweit erwartet. Aber da ist die elegante Vivian, eine egoistische Schwiegermutter, ein falscher Freund; da werden aus unwichtigen Kleinigkeiten geährliche Krisen. Wird Gina sie überstehen?

Ein typischer Marie Louise Fischer-Roman: lebensnah und spannend von der ersten bis zur letzten Zeile.

Inhaltsverzeichnis

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Die Orgel rauschte auf mit einer Bachschen Fuge, als Gina, siebzehn Jahre, geleitet von ihrem Vater, dem Tierarzt Dr. Lowitzer, die wunderschöne Barockkirche auf der »Wies« betrat.

Gina hob die Augen, um sie gleich darauf wieder, geblendet von all dem Glanz, zu senken — der riesige ovale Kirchenraum schien geradezu im Licht zu schwimmen. Die Symphonie der Farben, der überirdische Strom von Tönen, das überwältigende Glücksgefühl in ihrem Herzen überfiel die junge Braut wie ein Schwindel. Sie mußte sich am Arm ihres Vaters festklammern, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Dies alles war so traumhaft schön, so ganz und gar unwirklich — und doch war es Wahrheit! Sie, Gina Lowitzer, vor wenigen Wochen noch Unterprimanerin, ein Mädchen — unter vielen, hatte es erreicht: sie war die Braut des Mannes geworden, den sie liebte.

Mit gesenkten Augen, feierlich Schritt für Schritt, ging Gina am Arm ihres Vaters auf den prächtigen Hochaltar zu. Tausend Gedanken und Gefühle durchzuckten in diesem einmaligen, unwiederbringlichen Augenblick ihren Kopf und ihr Herz; doch alle wiesen sie nur auf ein Ziel hin: auf Thomas, Rechtsanwalt Dr. Thomas Miller, der in dieser Stunde ihr Ehemann werden würde.

Gina hatte die Nacht zuvor kaum geschlafen, noch auf der Fahrt zum Standesamt hatte sie nicht gewagt, ihrem Glück ganz zu vertrauen, bis zum letzten Moment hatte sie immer noch gefürchtet, daß etwas dazwischen kommen würde, obwohl sie tapfer versucht hatte, ihre Ängste wegzulachen.

Aber das Glück war so übermächtig, so innig herbeigesehnt, so leidenschaftlich erkämpft, daß sie es einfach nicht ganz zu fassen wagte. Sie wußte selber nicht, was sie eigentlich fürchtete, oder doch: daß Thomas es sich in der letzten Minute anders überlegt haben könnte, daß ihr Vater die Erlaubnis zurücknahm, daß irgendeine fremde feindliche Macht sich zwischen sie drängen und für immer auseinanderreißen könnte.

Doch jetzt war alles vorbei, jetzt endlich endlich hatte sie es geschafft!

Gina atmete tief und hob die Augen — ihr Blick fiel auf — die beiden hohen Säulen rechts und links des Tabernakels in festlich aufleuchtendem Rot, die goldenen Kapitäle, den blauseidenen Baldachin über dem Lamm Gottes und auf die verspielte Anmut der barocken Engelkinder, die überall waren, lächelnd, unbeschwert, voll seliger himmlischer Freude.

Mit einem Atemzug, der wie ein Seufzer klang, glitt ihr Blick herab und zur Seite — sie sah Hanna und Ute, ihre Schulfreundinnen und Brautjungfern, reizend anzusehen in ihren zartrosa Kleidchen, die sie selber ausgesucht hatten, und die sich doch nicht im entferntesten mit ihrem eigenen herrlichen Brautkleid vergleichen ließen, einem Traum aus weißer Brüsseler Spitze. Sie sah ihren Bruder Wolfgang im schwarzen, schon ein wenig ausgewachsenen Anzug, ein törichtes Grinsen um den knabenhaften Mund, hinter dem er Verlegenheit mit Rührung zu verbergen suchte. Sie sah ihre Mutter, deren Gesicht leicht verzerrt war, als ob sie gleich anfangen wollte zu weinen, und dann sah sie ihn — Thomas, den Bräutigam, der, geleitet von seinem Sozius Dr. Jahn, von der anderen Seite des Langschiffs her auf sie zukam, um sich mit ihr vor dem Altar zu treffen.

Gina scheute sich, ihn voll anzusehen, beobachtete ihn nur verstohlen unter ihren langen, sanft gebogenen Wimpern heraus — sein männliches, jetzt vor lauter Feierlichkeit fast ausdrucksloses Gesicht, die braunen schön geschnittenen Augen, das schwarze, dicht an den Kopf gebürstete Haar.

Thomas, jubelte es in ihr, oh, Thomas!

Am liebsten hätte sie sich, als er jetzt dicht vor ihr stand, in seine Arme geworfen, hätte seine hohen Backenknochen, seine schmale Stirn mit zärtlichen Händen berührt — ihre Augen trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, und sie spürte mit leisem Erschauern, daß in seinem Blick dieselbe Liebe lag wie in ihrem Herzen.

Gleichzeitig machten beide die kleine Wendung zum Altar hin, knieten nebeneinander auf dem samtbezogenen Schemel nieder.

Noch durchdröhnten die Klänge der Bachschen Fuge die wundervolle spätbarocke Wallfahrtskirche des Baumeisters Dominikus Zimmermann, drangen mit lebendiger Kraft in alle Herzen.

Gina preßte die Hände gegeneinander. — Lieber Gott, betete sie, ich danke dir, ich danke dir, ich danke dir! Daß du Thomas und mich zusammengeführt hast, daß du mir seine Liebe geschenkt hast, daß ich seine Frau werden darf! Beschütze uns, beschütze ihn und mich, segne unsere Ehe!

Mit einem mächtigen Akkord verebbten die Orgelklänge, die Hochzeitszeremonie begann. Die junge starke Stimme des Traupfarrers hallte durch die Kirche, die Ministranten antworteten im Wechselgespräch. Gina war viel zu aufgeregt, um irgend etwas von dieser feierlichen und ausgewogenen Zeremonie tatsächlich bewußt in sich aufzunehmen.

Erst als Thomas, der Mann an ihrer Seite, aufgerufen wurde, kehrte ihr fieberhaft erregter Geist in die Wirklichkeit zurück.

»Thomas, ich frage dich«, sagte der Pfarrer, »hast du vor Gott dein Gewissen geprüft und bist du frei und ungezwungen hierher gekommen, mit dieser deiner Braut die Ehe einzugehen?«

»Ja!« Die Stimme des Bräutigams klang klar und fest.

»Bist du gewillt, deine künftige Gattin zu lieben, zu ehren und ihr die Treue zu halten, bis der Tod euch scheidet?«

»Ja.«

»Bist du bereit, die Kinder, die Gott euch schenken will, aus seiner Hand anzunehmen und zu erziehen, wie es Pflicht eines christlichen Vaters ist?«

»Ja.«

Jetzt kam der Augenblick, dem Gina seit Minuten entgegengezittert hatte. Der Priester wandte sich ihr zu.

»Regina, ich frage auch dich: Hast du vor Gott dein Gewissen geprüft und bist du frei und ungezwungen hierher gekommen, um mit diesem deinem Bräutigam die Ehe ‘ einzugehen?«

Gina fand vor Aufregung kaum Atem. Ihr »Ja« kam heiser, kaum hörbar heraus. Sie hätte sich gerne geräuspert, aber sie wagte es nicht.

»Bist du gewillt, deinen künftigen Gatten zu lieben, zu ehren und ihm die Treue zu halten, bis der Tod euch scheidet?«

»Ja!« Diesmal gelang es ihr schon besser.

»Bist du bereit, die Kinder, die euch Gott schenken will, aus seiner Hand anzunehmen und zu erziehen, wie es Pflicht einer christlichen Mutter ist?«

»Ja.«

»Da ihr also beide zu einer wahren christlichen Ehe entschlossen seid, so stecket einander den Ring der Treue an und sprechet mir nach: Im Namen des Vaters und des, Sohnes und des Heiligen Geistes: Trag diesen Ring als Zeichen deiner Treue!«

Gina sah auf Thomas Millers schmale, sensible Hände, die ihr den flachen Goldreif über den Finger streiften, wagte ein ganz kleines, schüchternes Lächeln zu ihm, das ihm entging, da er damit beschäftigt war, alles richtig und ohne Fehler zu machen. Sie betrachtete ihre Hand, die jetzt plötzlich verändert schien, erwachsen, die Hand einer Frau, besann sich gerade noch rechtzeitig, daß sie jetzt an der Reihe war, ihm seinen Ring überzustreifen.

»Nun schließt den Bund der heiligen Ehe«, forderte der Priester sie auf. »Reichet einander die rechte Hand!«

Ginas Hand legte sich in die ihres Mannes, als ob sie in seinem Griff Schutz und Geborgenheit suchte. Der Priester umschlang ihre vereinigten Hände mit seiner Stola.

»Und sprecht mir nach«, ertönte die Stimme des Priesters: »Vor Gottes Angesicht nehme ich dich, Regina, zu meiner Ehefrau!«

Ginas Stimme klang ganz klar und leicht, als sie die Worte des Pfarrers nachsprach: »Vor Gottes Angesicht nehme ich dich, Thomas, zu meinem Ehemann!«

Ihr Herz erbebte, als der Traupfarrer die uralte Confirmatio sprach: »Im Namen der Kirche bestätige ich den Bund, den ihr geschlossen, und segne ihn: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«

Wie von weit her hörte sie das Schluchzen ihrer Mutter, als er sich an die Gemeinde wandte und mit kraftvoller Stimme rief: »Euch aber, die ihr hier gegenwärtig seid, nehme ich zu Zeugen dieses heiligen Bundes: Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen!«

[2]

Nachher kamen die Küsse, die Glückwünsche, die Tränen der Mutter und der Tanten, die bemüht witzigen Bemerkungen der Freundinnen — Gina, die dies alles schon zum zweiten Mal an diesem Tag über sich ergehen lassen mußte, hatte keinen anderen Wunsch, als endlich mit Thomas allein zu sein.

Aber es war noch lange nicht so weit.

In dem großen Gasthof, zweihundert Meter von der »Wies« entfernt, war das Hochzeitsessen gerichtet. Die kleine Gesellschaft schlenderte hinüber, Gina fast auf Zehenspitzen, ängstlich darauf bedacht, ihre weißen Seidenpumps nicht zu beschmutzen. Der vorhin noch leuchtend blaue Oktoberhimmel hatte begonnen, sich bedrohlich zu verdüstern. Gina blickte erschrocken hoch, als sie einen Tropfen auf ihrer Nase spürte.

Aber auch die anderen hatten es schon bemerkt.

»Regen am Hochzeitstag bedeutet Tränen!« rief Ute, fast frohlockend.

»Unsinn!« widersprach Onkel Ludwig, ein Bruder von Dr. Lowitzer lachend. »Das ist der Segen des Himmels!«

Für Gina war der Regen weder ein gutes, noch ein böses Vorzeichen. Ihr war es nur wichtig, ihr kostbares Kleid in Sicherheit zu bringen, und unwillkürlich fiel sie in einen Laufschritt. Wie auf ein Kommando setzten auch die anderen sich in Trab, atemlos, mit zerzaustem Haar und leuchtenden Augen erreichte man die Türe zum Gasthof.

Gina warf noch einen Blick zurück auf die wunderbare Kirche, in der ihr Glück besiegelt worden war — hell und harmonisch hob sie sich gegen die herbstlich bunten Wälder und den dunklen Himmel ab.

Nur eine Sekunde dauerte diese letzte stille Einkehr, dann wurde sie von dem Strom der Gesellschaft mit in das langgestreckte Extrazimmer geschoben, in dem die Hochzeitstafel gedeckt war. Dabei geschah es, daß sie von Thomas getrennt wurde. Wolfi, ihr Bruder, war plötzlich an ihrer Seite.

»Gina«, flüsterte er, »ich muß dich unbedingt sprechen …«

»Jetzt?«

»Ja. Komm mit nach draußen. Bis die sich alle gesetzt haben, vergeht massenhaft Zeit!«

Gina zögerte. Aber als sie sah, daß Thomas in ein Gespräch mit ihrem Vater vertieft war, entschloß sie sich, Wolfi zu folgen.

»Warte draußen!« raunte sie ihm zu, dann lief sie zu Vater und Ehemann, sagte: »Ich bin gleich wieder da …ich will mich nur ein bißchen frisch machen!« Dann zog sie sich, so unauffällig wie möglich, zurück.

Wolfi stand in der hintersten Ecke des dunklen, ein wenig zugigen Flurs. Gina ging rasch auf ihn zu.

»Also … was ist?« fragte sie ungeduldig.

»Kannst du dir das nicht denken?«

»Keine Ahnung!«

»Das hätte ich mir denken können«, sagte er bitter, das frische Jungengesicht trotzig verdüstert.

»Willst du mir Rätsel aufgeben? Also, dazu habe ich jetzt wirklich weder Zeit noch Lust!«

»Du hast es sehr eilig, wieder zu Thomas zu kommen, wie?«

Gina spürte die Eifersucht des jüngeren Bruders, aus der seine Liebe sprach. Sie zwang sich zur Freundlichkeit. »Komm, komm«, sagte sie, »sei nicht gleich wieder eingeschnappt. Was willst du also?«

»Dich an dein Versprechen erinnern!«

Gina mußte nachdenken. Sie wußte im Augenblick tatsächlich nicht, was Wolfi von ihr wollte.

»Tu doch nicht so, als wenn du alles vergessen hättest!« sagte er wild. »Hundertmal hast du mir gesagt: wenn ich erst mal verheiratet bin, werde ich dir helfen, daß du dein Moped bekommst!«

»Ach so! Davon redest du!«

»Ja, genau. Also was ist … krieg ich es nun oder nicht?«

Sie holte tief Atem. »Hör mal, Wolfi, mir scheint, du bist total verrückt geworden! Damit kommst du mir ausgerechnet jetzt?!«

»Wann denn sonst? Heute abend gehst du auf die Hochzeitsreise … und wer weiß, wann ich dich dann überhaupt noch sehe!«

»In vierzehn Tagen sind wir zurück. Von München aus werde ich sofort anrufen, und ich verspreche dir, ich werde mit Vater reden …«

»Versprechen! Versprechen! Das ist alles, was du kannst! Tu doch endlich auch mal etwas. Oder sind wir dir jetzt, wo du verheiratet bist, auf einmal alle gleichgültig geworden?«

»Hör mal, jetzt will ich dir mal etwas sagen … du hast einen ausgewachsenen Vogel!« Gina wandte sich von Wolfi ab und ging auf den großen Flurspiegel zu.

Er kam hinter ihr her, packte sie beim Handgelenk. »Du mußt mit Vater reden, noch heute! Du mußt es einfach, Gina!«

Sie sah ihn über die Schulter weg an. »Warum tust du es nicht selbst. Verrückt genug dazu wärst du ja!«

»Ich will mein Recht … weiter nichts als mein Recht!«

»Au, du tust mir ja weh!« rief Gina empört.

»He, was ist denn hier los?« Hanna, die eine der Brautjungfern, war aus dem Hochzeitszimmer gekommen und trat zu den Geschwistern. »Alle warten drinnen auf dich, Gina!«

Wolfi ließ Gina los, zog sich brummend zurück.

»Ich komm ja schon!« Gina betrachtete ihr Bild, das der dämmrige Spiegel bleich und ganz unwirklich wieder gab. Sie hob beide Arme, steckte eine ihrer widerspenstigen blonden Locken unter den kleinen, kokett abstehenden Schleier.

»Was wollte denn dein Bruder von dir?« fragte Hanna mit einem Blick zur Türe hin, durch die sich Wolfi verzogen hatte.

»Ein Moped«, erklärte Gina trocken.

»Phantastisch! Ausgerechnet heute an deinem Hochzeitstag kommt er dir mit so etwas? So ein Spinner.«

Gina hatte sofort das Bedürfnis, ihren Bruder in Schutz zu nehmen. »Er kämpft schon wer weiß wie lange darum«, sagte sie entschuldigend.

»Soll er doch! Was geht dich das an?« Hanna trat näher, berührte bewundernd Ginas Spitzenkleid. »Phantastisch! Menschenskind, ich bin mal gespannt, ob sich mein Vater später auch so in Unkosten stürzen wird!«

Gina zuckte die Achseln, machte noch einen Schritt auf ihr Spiegelbild zu, aber sie konnte in der schlechten Beleuchtung nur die Konturen ihres weichen Gesichtchens erkennen.

Sie wandte sich Hanna zu. »Wie sehe ich aus?«

»Wie ein Engel aus Himmels Höhen!«

»Ich meine … ist alles in Ordnung?«

»Und ob! Überhaupt, ganz ehrlich, ich bewundere dich … wie du bei dem allen so ruhig sein kannst!«

»Ich? Hast du eine Ahnung! Hast du nicht gemerkt, daß ich in der Kirche vor lauter Aufregung kaum ein Wort hervorgebracht habe?«

»Das meine ich nicht. Nicht das ganze Drum und Dran. Davor hätte ich auch keine Angst.« Hanna trat sichtlich verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Aber das, was später kommt!« Sie druckste. »Heute nacht!«

Eine Blutwelle schoß in Ginas helles Gesicht, aber die behauptete mit fester Stimme: »Daran denke ich jetzt noch gar nicht! Und überhaupt, wenn man sich liebt …«

»Phantastisch!« Hanna merkte gar nicht, daß sie ihr Lieblingswort jetzt schon zum dritten Mal in den letzten Minuten angewandt hatte. »Du bist wirklich phantastisch, Gina …«

Gina ging an ihr vorbei auf die Tür zum Hochzeitszimmer zu.

Hanna lief wie ein Hündchen neben ihr her. »Aber du wirst uns doch alles schreiben, nicht wahr? Genau, wie es gewesen ist? Du weißt doch, was wir ausgemacht haben …«

»Ja, natürlich«, versprach Gina, aber sie wußte schon im gleichen Augenblick, daß das eine Lüge war. Sie würde über das, was nur sie und Thomas anging, weder etwas schreiben noch etwas erzählen und am allerwenigsten den beiden neugierigen Freundinnen. Noch vor wenigen Wochen waren sie zusammen zur Schule gegangen, hatten manchen Spaß und manchen Streit miteinander gehabt — aber Gina erkannte ganz klar, daß die Trennung zwischen ihnen endgültig vollzogen war. Sie war aufgebrochen, während die anderen am Ufer zurückblieben und ihr nur neidvoll nachblicken konnten.

[3]

Gina öffnete die Türe zum Extrazimmer. Lachen und Geplauder schlugen ihr entgegen. Einen Augenblick lang stand sie fast verloren auf der Schwelle, dann hatte Thomas sie entdeckt.

Er rief ihr über die Köpfe der anderen hinweg zu: »Komm schnell, Gina, setz dich! Wir haben alle auf dich gewartet!«

Er kam ihr entgegen, reichte ihr den Arm und führte sie zum Kopfende der langen Tafel. Honiggelbe Kerzen brannten, die Plätze der Brautleute waren mit roten Rosen geschmückt.

»Der große Moment ist gekommen«, sagte Onkel Ludwig.

»Jetzt kann’s endlich losgehen!« rief Ute, seine Tischdame.

»Was ist?« wandte sich Gina leise an Thomas. »Wovon sprechen sie?«

»Von den Telegrammen. Ich soll sie vorlesen.«

Aber es kam noch nicht sogleich dazu.

Als Gina und Thomas Platz genommen hatten, erhob sich Dr. Jahn und brachte in netten und freundschaftlichen Worten den ersten Toast auf das junge Paar aus. Alle verließen ihre Sitze und gingen in einer langen Prozession an Gina und Thomas vorbei, um mit ihnen anzustoßen. Gina lächelte, dankte, lächelte, dankte, ohne sich später an ein einziges Gesicht erinnern zu können. Sie war froh, als es endlich soweit war, und ihr Vater Thomas den Stoß Glückwunschtelegramme herüberreichte.

Während Thomas sie vorlas — immer wieder von Gelächter und Beifall unterbrochen — waren Ginas Gedanken weit fort. Sie dachte an die Nacht, die kommen, die sie in den Armen ihres Mannes finden würde. Bisher hatte sie sich das ganz selbstverständlich vorgestellt. Aber jetzt hatten Hannas neugierige Worte Unbehagen in ihr erweckt, das wuchs und wuchs und ihr die Kehle zusämmenschnürte.

Sie musterte Thomas mit scheuen Blicken von der Seite sein gut geschnittenes Profil mit der sehr geraden Nase, der leicht vorgeschobenen Unterlippe, sie betrachtete ihn, zum erstenmal, seit sie ihn kannte, wie einen Fremden.

War er nicht ein Fremder für sie? Vor fünf Monaten waren sie sich zum ersten Mal begegnet, als er seinen Urlaub in ihrer Heimatstadt Garmisch-Partenkirchen verbrachte. Sie hatte sich sofort und ohne Besinnung rasend in ihn verliebt, hatte ihn sozusagen im Sturm erobert, sich über den Widerstand ihrer Eltern bedenkenlos hinweggesetzt — und jetzt war sie mit ihm verheiratet. Mit Schaudern stellte Gina fest, wie wenig sie von ihm wußte, nichts, als daß er 27 Jahre alt war, ein angesehener junger Rechtsanwalt mit ausreichendem Einkommen war — sonst hätte ihr Vater ihr die Einwilligung in die Ehe bestimmt nicht gegeben — und daß er bisher als Junggeselle mit seiner Mutter zusammen gelebt hatte.

Seine Mutter — warum war sie eigentlich nicht zur Hochzeit erschienen? Thomas hatte behauptet, daß sie durch ihre Übersiedlung nach Düsseldorf in die Familie seiner Schwester zu schwer in Anspruch genommen wäre — aber war das wirklich eine Entschuldigung? Auch nur eine Erklärung? Mit plötzlicher Hellsicht begriff Gina, daß Frau Miller sie als Schwiegertochter ablehnte, sie vielleicht sogar haßte, weil sie ihr den Sohn genommen hatte. Aber sie schüttelte diesen unbehaglichen Gedanken mit der ganzen Unbekümmertheit ihrer Jugend von sich ab — was scherte sie seine Mutter, wenn sie nur seine Liebe besaß!

Ihre kleine Hand bewegte sich langsam zu ihm hin. Es war, als wenn er ihre Angst und ihr Verlangen spürte. Er umfaßte ihre Finger mit festem, zuverlässigen Druck, zog sie an die Lippen — und plötzlich löste sich der Kloß in ihrer Kehle auf, alles Unbehagen war verschwunden, ja, schon vergessen. Nichts mehr war übrig geblieben, als das überwätigende Glück, mit dem Mann ihrer Liebe verheiratet zu sein.

»Mutter und ich«, las Thomas, »sind in Gedanken heute bei dir, lieber Thomas, und deiner jungen Frau und wünschen euch von Herzen alles Glück und alles Liebe! Deine Schwester Angela.«

Es wurde geklatscht.

»Deine Mutter ist also nicht böse auf mich?« fragte Gina ganz erleichtert.

»Schäfchen!« Er lächelte ihr zu. »Wer könnte auf dich böse sein!«

Er legte das Telegramm seiner Schwester beiseite, überflog das nächste. »Geliebter Thomas«, begann er, steckte, knickte das Telegramm zusammen und ließ es mit gerunzelter Stirn in der Tasche seiner Smokingjacke verschwinden.

»Ein geschmackloser Scherz«, sagte er, halb zu Gina, halb zu den anderen gewandt.

»Von wem?« fragte Gina, plötzlich beunruhigt.

Er könnte schon wieder lächeln. »Das werde ich dir später erklären!«

Aber dazu sollte es nicht mehr kommen. Zu viele Eindrücke stürmten an diesem Tag auf Gina ein. Als sich endlich eine Gelegenheit gab, mit Thomas zu sprechen, hatte sie den kleinen Zwischenfall längst vergessen.

Thomas Miller war froh darüber. Es wäre ihm sehr unangenehm gewesen, ihr gestehen zu müssen, daß das Telegramm von einer Frau kam, die er einmal geliebt hatte und die sich immer noch einbildete, ein Recht auf ihn zu besitzen — genauso unangenehm, wie Gina schon gleich am Hochzeitstag zu belügen.

[4]

Zur selben Zeit, als im Gasthof »Auf der Wies« der erste Gang des Hochzeitsessens aufgetragen wurde, saßen die Journalistin Vivian Geron und der Modefotograf Henry Horn in der Bar des Hotels »Bayerischer Hof« in München und tranken schwarzen Kaffee und einen Cognac.

Vivian Geron war eine schöne junge Frau Ende zwanzig, mit einem ebenmäßigen bräunlichen Gesicht unter lack-schwarzem Haar, schillernden mandelförmigen Augen und einer so damenhaften Haltung, wie sie nur durch langjährige, ganz bewußte Übung erworben werden kann.

Henry Horn, ein breitschultriger, sehr attraktiver Mann betrachtete sie mit belustigtem Wohlgefallen. »Du hast ihm also tatsächlich ein Telegramm geschickt?« sagte er. »Allerhand, Vivian, du traust dich was!«

»Und warum nicht?« sagte sie kampfbereit. »Auf wen hätte ich Rücksicht nehmen sollen?«

Er zeigte lächelnd sehr schöne starke Zähne. »Rücksicht! Was für ein ungewöhnliches Wort in deinem Munde!«

»Ach, hör auf«, sagte sie ärgerlich, »tu nicht so, als wenn ich eine Bestie wäre!«

»Bist du es etwa nicht?«

»Nein. Ich hasse es einfach, daß man mich abschiebt, als ob ich …«

Sie suchte nach dem richtigen Wort. »…als ob ich ein lästiges Insekt wäre! Lach nicht so albern! Genauso hat Thomas es mit mir gemacht das heißt, er hat es versucht! Denn noch ist nicht aller Tage Abend.«

Er ließ ein goldenes Etui aufschnappen, bot ihr eine Zigarette an. »Was hast du also vor?«

»Das weiß ich noch nicht genau!« Vivian ließ sich Feuer geben, blies den Rauch durch die Nase. »Aber irgend etwas wird mir schon einfallen.«

Henry Horn hattesich selber eine Zigarette angesteckt, ließ sein Etui offen auf dem Tisch liegen. »Davon bin ich überzeugt.« Er nahm einen Schluck Cognac. »Ich bin weit entfernt, mir ein Urteil über deine Einstellung anzumaßen, aber du wirst mir wenigstens erlauben, daß ich mich wundere …«

»Worüber?«

»Nun, ich hatte dich bisher immer für eine sehr selbständige, vernünftige junge Frau gehalten — eher kalt als heiß, möchte ich sagen. Ich wäre nie im Traum darauf gekommen, daß du darauf aus warst, diesen jungen Rechtsanwalt einzufangen.«

Sie hob die sorgfältig ausrasierten Augenbrauen. »Du sprichst von einfangen? Ich fürchte, wir reden verschiedene Sprachen.«

»Willst du etwa leugnen, daß du im Grunde genommen doch vorhattest, dich von ihm heiraten zu lassen?«

Sie blähte verächtlich die Nasenflügel. »Was für eine absurde Idee! Traust du mir so eine Geschmacklosigkeit etwa allen Ernstes zu?«

»Geschmacklos könnte ich diesen Wunsch eigentlich gar nicht finden. Höchstens natürlich. Ihr Frauen seid doch alle darauf aus, Nestchen zu bauen. Früher oder später überkommt es jede.«

»Tut mir leid, mein Lieber!« Vivian streifte mit einer unbeherrschten Bewegung die Asche ihrer Zigarette ab. »Du hast völlig danebengetippt. Was mich mit Thomas Miller verbunden hat, war nichts als eine gute Freundschaft!«

»Na, na, na!« sagte er ironisch.

Sie sah ihn herausfordernd an. »Mit allen Konsequenzen versteht sich. Er war nicht der erste Mann in meinem Leben, und ich hatte niemals damit gerechnet, daß er der letzte sein würde.«

»Wenn die Dinge so stehen weshalb regst du dich dann so über seine Heirat auf?«

»Das habe ich dir schon einmal gesagt weil ich es nicht liebe, abgeschoben zu werden. Du kannst dir nicht vorstellen, wie er sich mir gegenüber benommen hat, nein, du kannst es nicht. Er fuhr in diesem Frühsommer nach Garmisch in Urlaub wir hatten eigentlich gemeinsam verreisen wollen, aber dann mußte ich zu dieser Modereportage nach Palm Beach. Wir trennten uns in bestem Einvernehmen …ohne Streit, ohne Spannungen, ohne die Spur einer Entfremdung … und dann, als ich zurückkam, eröffnete er mir ganz kalt, daß es aus zwischen uns sein müßte! Nun sag einmal selber …«

»Scheußlich für dich«, erklärte er, aber sein Mitgefühl klang nicht ganz echt. »Ich nehme an, du hast ihm daraufhin eine Szene gemacht, daß die Wände wackelten.«

Ihre schillernden Augen verengten sich. »Du kennst mich schlecht, Henry, verdammt schlecht. Ich bin völlig ruhig geblieben, habe seine Eröffnung hingenommen, ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Bravo! Ein Meisterstück!«

»Wieso?!« Sie zuckte die schönen Schultern. »Ich habe noch niemals versucht, einen Mann mit Kampf an mich zu fesseln. Reisende soll man nicht aufhalten, das war von jeher meine Devise.«

Er ließ sich nicht täuschen. »Aber du warst überzeugt, er würde zurückkommen?«

»Ja«, gestand sie nach einem kleinen Zögern.

»Und dann? Weiter? Hör mal, diese Geschichte ist unerhört spannend, ich merke, daß man immer noch was dazu lernen kann.«

»Dann erfuhr ich, daß ein Kind dahinter steckte …«

»Ein Kind?«

»Na, eben dieses Mädchen, das er heute geheiratet hat. Sechzehn oder siebzehn Jahre alt, Schülerin. Er hat die Kleine in seinem Urlaub in Garmisch kennengelernt…hältst du so etwas für menschenmöglich?«

»Es überrascht mich« sagte er augenzwinkernd, »aber daß es möglich war, beweist ja, daß es geschehen ist!«

»Hör auf mit deinen Spitzfindigkeiten. Das weiß ich natürlich auch. Aber es ist unglaublich, einfach unausdenkbar … mich wegen eines Teenagers abzuschieben!«

»Da hättest du eigentlich früher kommen müssen. Ist das alles nicht jetzt schon zu spät? Du scheinst zu übersehen, daß die beiden inzwischen verheiratet sind!«

»Na, wenn schon«, erklärte Vivian Geron mit einem bösen Lächeln. »Schließlich kann man sich scheiden lassen!«

[5]

Frau Miller saß im Wohnzimmer der kleinen Düsseldorfer Neubauwohnung, eine elegante zierliche Frau, mit sorgfältig zurechtgemachtem Gesicht und wohl frisiertem, bläulich getöntem Haar. Sie hielt ein Buch in den Händen, aber sie las nicht, sondern starrte durch das Fenster in den verdämmernden Tag hinaus.

Ihre Gedanken waren weit fort, bei Thomas, ihrem Sohn, den sie heute für immer verloren hatte.

Als ihre Tochter ins Zimmer trat, zuckte sie zusammen, wie ertappt.

Angela war mit zwei Schritten mitten im Raum, knipste die Stehlampe an, die das Zimmer sofort mit goldenem Licht überflutete. »Aber, Mama«‘ sagte sie, »warum sitzt du denn im Dunkeln? Du wirst dir die Augen verderben!«

»Meine Augen sind immer noch sehr gut«, erwiderte Frau Miller, gereizt über die unerwünschte Störung.

Angela sah die Mutter halb mitleidig, halb bewundernd an. »Aber daran zweifle ich ja gar nicht, Mama.«

»Dann mach mir, bitte, auch nicht dauernd Vorhaltungen!«

»Dauernd? Nur weil ich mir zu sagen erlaubte…« Angela unterbrach sich. »Schon gut, Mama, entschuldige. Ich weiß, du hast heute einen schweren Tag.«

Angela ging zum Fenster, zog die Vorhänge zu. Sie war eine schlanke, sehr sportliche Frau mit breiten Schultern, kräftigen, aber außerordentlich gepflegten Händen, denen man die Arbeit in Haushalt und Küche nicht ansah. Sie trug das starke braune Haar jungenhaft kurz geschnitten, und die Tatsache, daß sie zu Hause fast ständig in Hosen ging — grade jetzt mit einem bunten schwedischen Cocktailschürzchen vorgebunden — betonte noch die sehr sachliche und selbstbewußte Art ihres Auftretens.

»Ich werde uns jetzt einen Tee aufbrühen, Mama«, sagte sie mit gewollter Unbefangenheit. »Oder möchtest du lieber einen Cocktail?«

»Danke. Sehr lieb von dir. Aber ich werde mich jetzt zurückziehen.«

Angela blieb vor ihrer Mutter stehen. »Warum denn das?«

»Weil dein Mann gleich nach Hause kommt.«

»Na und? Deshalb brauchst du doch nicht zu fliehen. Schließlich bist du ja jetzt hier zu Hause.«

»Nett, daß du das sagst. Aber dein Mann …«

»Hans ist abgespannt, wenn er heimkommt. Das ist doch klar. Er will erst mal seine Ruhe haben, nichts weiter. Glaubst du, er hat mir gegenüber sonst den glänzenden Gesellschafter gespielt? Du erwartest zuviel von den Menschen, Mama, das ist dein Fehler.«

»Er scheint eine seltsame Auffassung von Ruhe zu haben. Das Indianergeheul deiner Kinder läßt ihn jedenfalls immer völlig ungerührt.«

»Aber er freut sich doch, sie zu sehen. Und wenn sie ein bißchen laut sind … du lieber Gott, Kinder sind nun einmal so. Waren Thomas und ich etwa anders?«

»Ja, Angela. Ihr wart von klein auf gut erzogen.«

»Danke«‘ sagte Angela und versuchte ihr Unbehagen mit einem Lachen abzuschütteln. »Ich sehe, du bist wieder einmal in deiner liebenswürdigsten Laune. Ich könnte dir jetzt sagen, daß die Erinnerung dir einen Streich spielt … aber wozu? Ich bitte dich für meine unmögliche Familie um Entschuldigung. Mehr kann ich leider nicht tun.«

Frau Miller erhob sich mit steinernem Gesicht und wollte zur Tür.

Angela lief ihr nach, legte den Arm um ihre Schulter. »Mama, bitte, wollen wir nicht versuchen uns zu vertragen? Ich weiß ja, du meinst es gar nicht so. Es bedrückt dich, daß Thomas heiratet und du nicht dabei bist!«

»Unsinn«, sagte Frau Miller scharf, »daran habe ich nicht einmal gedacht!«

»Aber Mama, warum versuchst du denn, mir etwas vorzumachen? Thomas war immer dein Lieblingssohn, und er hat so an dir gehangen. Da ist es doch geradezu unnatürlich, daß du ausgerechnet an diesem Tag nicht bei ihm bist.«

»Meine Anwesenheit würde bedeuten, daß ich diese völlig undiskutable Verbindung gutheifs’e. Und das werde ich niemals tun. Nicht heute und nicht morgen und auch nicht auf dem Sterbebett.«

Angela sah ihre Mutter ganz erschrocken an. »Wie kannst du nur so unerbittlich sein!«

»Thomas weiß genau, welch schweres Leid er mir mit diesem Schritt zügefügt hat«, sagte die alte Frau starrsinnig.

»Unsinn! Er hat einfach das getan, was jeder junge Mann eines Tages tut. Oder hattest du etwa erwartet, er würde immer dein kleiner Junge bleiben? Du mußtest doch damit rechnen, daß er früher oder später heiraten würde.«

»Aber nicht, ohne mir seine Braut wenigstens vorher vorzustellen.«

»Als wenn er das nicht gewollt hätte! Du warst es ja, Mama, die sich geweigert hat …«

»Stimmt. Ja. Ich habe mich geweigert, ein Schulmädchen als Schwiegertochter zu akzeptieren. Willst du mir daraus etwa einen Vorwurf machen? Thomas hat sich von mir losgesagt, als er sich für dieses Kind und gegen seine eigene Mutter entschied!«

»Was für Ideen! Thomas wollte dich bestimmt nicht kränken. Wahrscheinlich hat er sogar gehofft, du würdest nett zu Gina sein, dich mit ihr verstehen …«

»Ich?! Mit diesem verdorbenen Ding?«

»Verdorben?« sagte Angela, ehrlich erstaunt. »Wie kommst du denn darauf?«

»Zumindest frühreif. Eine Siebzehnjährige, die es fertig bringt, einen erwachsenen Mann einzufangen, ihn gegen seine Mutter aufzuhetzen, kann nichts taugen.«

»Ich hätte niemals gedacht, daß du dich so an Vorurteile klammern würdest, Mama. Schön, Gina ist siebzehn. Aber was besagt das schon? In drei Jahren ist sie zwanzig. Kommt es wirklich darauf an? Du hättest sie dir wenigstens einmal ansehen sollen. Wahrscheinlich ist sie reizend … sicher ist sie das, sonst hätte Thomas sie doch niemals geheiratet.«

»Es sind nicht die besten Frauen, die am schnellsten geheiratet werden, Angela. Thomas ist viel zu gut. Er kennt die Welt nicht …«

»Als Rechtsanwalt?« warf Angela ein.

»Jedenfalls nicht die Frauen«, sagte Frau Miller hitzig. »Er war ihren Tricks noch nie gewachsen. Versuch nicht, mich umzustimmen, Angela. Ich weiß Bescheid. Diese Ehe ist ein schreckliches Unglück. Nicht nur für mich …ich bin eine alte Frau, auf mich kommt es ja nicht mehr an. Aber für Thomas. Dieses Mädchen wird ihn zugrunde richten, wenn er sich nicht rechtzeitig von ihr löst!«

Angela mußte plötzlich lachen. »Jetzt weiß ich, was mit dir los ist, Mama! Hans hat doch mal wieder recht gehabt … du bist einfach eifersüchtig!«

Wortlos, mit hocherhobenem Kopf, verließ Frau Miller das Zimmer.

[6]

Gina und Thomas konnten bei der Hochzeitstafel kaum einen Bissen hinunterbringen.

Gina war viel zu aufgeregt. Ihre Wangen glühten wie im Fieber, Thomas mußte sie immerzu anschaun.

Sie war eine wunderschöne Braut. Das Oberteil ihres schneeweißen Spitzenkleides war ganz eng gearbeitet, der Rock fiel in zahllosen Falten nach unten weit auseinander. Ein Krönchen hielt den kleinen Schleier auf ihrem ungebärdigen hellen Haar, die klaren grauen Augen strahlten.

Thomas hätte sie am liebsten vor allen Leuten in die Arme genommen. Aber das war unmöglich. Er begann ungeduldig zu werden. Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr auf all die Reden und Glückwünsche konzentrieren, die auf ihn einprasselten, hatte nur den einen Wunsch, mit seiner jungen Frau allein zu sein.

Aber er mußte sich bis zum Abend gedulden. Dann erst, als die Musiker auf dem kleinen Podium Platz genommen und Gina und Thomas mit einem langsamen Walzer den Tanz eröffnet hatten, winkte Dr. Lowitzer ihnen verstohlen zu. Thomas nahm Gina bei der Hand und zog sie rasch durch eine Seitentür ins Treppenhaus.

In einem der oberen Gastzimmer hatte Gina schon ihr Tweedkostüm für die Reise zurecht gelegt. Rasch zog sie sich mit Hilfe ihrer Mutter um, während Thomas nur einen sportlichen Mantel über den Smoking warf. Frau Lowitzer weinte, als sie sich mit Küssen von ihrer Tochter verabschiedete.

»Aber, Mutti«, sagte Gina, »Du tust grade so, als ob mir etwas Schreckliches bevorstünde! Ich habe doch nur geheiratet, da ist doch nichts dabei! Ich bin glücklich so glücklich wie noch nie!«

»Bleib es, mein Liebling«, schluchzte Frau Lowitzer, »ach, ich wünsche dir so sehr, daß du es immer bleibst!«

»Puh«, sagte Gina unsentimental, als sie endlich neben Thomas im Fond von Dr. Lowitzers Auto saß, »das hätten wir geschafft!«

Aber die Flucht war doch nicht ganz gelungen. Die Hochzeitsgäste hatten den plötzlichen Aufbruch bemerkt, jetzt stürmten sie ins Freie, jubelten, riefen Scherzworte, ließen Konfetti und Reiskörner über das Auto rieseln.

»Bitte, Vati, fahr zu!« rief Gina.

Dr. Lowitzer ließ den Motor an, wendete den Wagen.

Hanna kam ganz dicht an das Fenster, rief: »Den Brautstrauß … bitte, Gina, bitte!«

Gina zögerte. Es fiel ihr schwer, sich von dem Bukett blutroter, eben erblühter Rosen zu trennen. Aber da griff Thomas schon über sie hinweg, kurbelte das Fenster nieder.

»Wirf ihn hinaus, Gina«, flüsterte er, »sonst kommen wir nie hier weg. Wirf ihn so weit wie möglich!«

Mit Schwung warf Gina den Strauß in die lärmende Gesellschaft hinein, sie sah nicht mehr, wer ihn auffing, denn jetzt hatte das Auto Fahrt gewonnen und brauste davon.

Wolfi, der vorne, neben dem Vater saß, bog sich vor Lachen, er konnte sich gar nicht wieder beruhigen.

»Warum lachst du so blöd!« fuhr ihn sein Vater an. »Hast du etwa zuviel getrunken?«

Wolfi verstummte schlagartig, kroch ganz in sich zusammen.

Gina kannte ihren Bruder. Sie beugte sich vor, legte sanft ihre schmale Hand auf seine Schulter. »Warum hast du so gelacht, Wolfi? Weil sie wissen wollten, wer die nächste Braut ist?«

Wolfi schüttelte den Kopf.

»Also sag’s schon … mach es nicht so geheimnisvoll!«

»Wenn du es unbedingt wissen willst«, sagte er und fing unvermittelt wieder an zu prusten, »sie haben ein Schild hinten an den Wagen gemacht …›Eben geheiratet‹!«

»Typisch«, sagte Dr. Lowitzer, »ich werde gleich anhalten und es abmontieren.«

»Warum?« fragte Gina. »Das stört doch nicht!«

»Aber, Gina!« Thomas Miller legte den Arm um seine junge Frau. »Möchtest du wirklich, daß alle Leute uns nachstarren?«

»Natürlich nicht«, murmelte Gina, aber sie fühlte plötzlich, wie sich Enttäuschung, fast Trauer auf ihr Herz legte. Der wunderschöne Tag war schnell, viel zu schnell vorbei gewesen. Warum hatte es nicht noch ein ganz klein bißchen länger dauern können?

[7]

Eine Stunde später stand sie am geöffneten Fenster ihres Schlafwagenabteils, beide Arme voller Blumen, und lächelte unter Tränen ihrem Vater und ihrem jüngeren Bruder zu, die auf dem Bahnsteig standen und zu ihr hinaufblickten.

»Denk an mein Moped!« schrie Wolfi.

Der Vater warf ihm einen Blick zu, unter dem er verstummte.

Dann setzte sich der Zug in Bewegung.

Gina ließ die Blumen auf das untere Bett gleiten, winkte mit ihrem Taschenmeh hinaus, bis Thomas sie in die Arme nahm und das Fenster schloß.

Er holte tief Atem und sah lächelnd auf sie nieder. »So«, sagte er, »endlich ist’s überstanden. Weißt du eigentlich selber, warum du weinst?«

»Ich … weil …« stammelte sie, »ich glaube, weil ich so durcheinander bin!«

Er tupfte ihr behutsam mit seinem blütenweißen Taschentuch die Tränen aus den Augen, bevor er sie küßte.

Sie merkten nicht, wie die Tür des Schlafwagenabteils geöffnet wurde.

Erst als eine beherrschte Stimme sagte: »Oh, Entschuldigung, es tut mir leid, wenn ich gestört habe …« fuhren sie auseinander.

Eine junge Frau in tadellos sitzendem moosgrünen Kostüm hatte die Tür hinter sich zugezogen und machte, im Gegensatz zu ihren Worten, keine Anstalten, sie allein zu lassen.

»Vivian … du!?« sagte Thomas verstört.

Die junge Frau blieb ganz kühl. »Ein seltsamer Zufall, nicht wahr?« sagte sie. »Du fährst auch nach Rom? Wie nett. Aber warum machst du mich nicht mit deiner Begleiterin bekannt?«

»Vivian Geron«, sagte Thomas steif, »Gina, meine Frau …«

»Ah, das freut mich!« Vivian Geron streckte Gina die Hand mit den spitzen organgerot lackierten Nägeln entgegen. »Sie sind also das Wunderkind, das es fertig gebracht hat, unseren Thomas zum Altar zu schleppen?!«

»Vivian!« sagte Thomas scharf.

Gina hatte benommen den fast schmerzhaft kräftigen Händedruck der anderen erwidert.

»Na, ist es etwa nicht wahr?« rief Vivian mit gespielter Unbefangenheit. »Hast du mir nicht selber gesagt, daß die Kleine dich einfach nicht losläßt? Daß du keine Möglichkeit siehst, dich zurückzuziehen?«

»Das ist nicht wahr!« rief Gina empört.

»Aber warum regen Sie sich auf, Kind?« sagte Vivian zuckersüß. »Es ist doch keine Schande, einen Mann zu kapern … im Gegenteil, es gehört einige Geschicklichkeit dazu. Sie haben das wirklich ausgezeichnet gemacht.«

»Vivian«, sagte Thomas, weiß bis an die Lippen, »wenn du jetzt nicht sofort den Mund hältst …«

»Oh!« Vivian tat erschrecken. »Habe ich aus der Schule geplaudert? Entschuldige, Thomas …verzeihen Sie mir, Frau Miller! Ich hätte daran denken sollen, daß ihr noch in dem Stadium seid, wo man sich gegenseitig etwas vormacht … aber besser wäre es schon, ihr würdet anfangen, der Wahrheit ins Auge zu sehen!«

Thomas trat dicht auf Vivian Geron zu. »Hinaus!« brüllte er.

Gina stieß ihn fast zur Seite. »Bleiben Sie nur!« rief sie mit blitzenden Augen. »Jetzt will ich es genau wissen! Was hat Thomas über mich erzählt? Wer sind Sie überhaupt? Wie stehen Sie zu Thomas? Was …?«

»Aber Kindchen, warum denn so aufgeregt? Lassen Sie sich das alles von unserem Thomas erklären. Er tut es bestimmt mit Vergnügen, wie ich ihn kenne … zartfühlend ist er ja nie besonders gewesen! Bye, bye!« Vivian schlüpfte lächelnd auf den Gang hinaus.

Thomas und Gina blieben allein zurück. Es war, als ob sie sich plötzlich mit anderen Augen sähen. Sie standen sich gegenüber wie zwei wildfremde Menschen.

[8]

In dieser Nacht, die ihre Hochzeitsnacht sein sollte, lag die junge Gina weinend auf ihrem schmalen Schlafwagenbett.

Der D-Zug ratterte durch die nächtliche Landschaft. Wälder und Berge, vom Mondlicht scharf umrissen, erleuchtete Dörfer, Bahnwärterstationen sausten an dem unverhängten Fenster vorüber.

Gina achtete nicht darauf. Sie spürte nur ihren Schmerz und ihre grenzenlose Enttäuschung.

Thomas, der im Oberbett lag, warf sich unruhig von der einen zur anderen Seite. Sie hoffte inständig, daß er wenigstens zu ihr herunterschauen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Ganz im Gegenteil, ihr schien es, als wenn die Atemzüge ihres Mannes allmählich tiefer und gleichmäßiger würden.

War er etwa im Begriff einzuschlafen?

Ginas Tränen versiegten. Sie setzte sich kerzengerade im Bett hoch, stieß sich den Kopf und schrie leise auf — ihr Verdacht verstärkte sich, Thomas reagierte in keiner Weise.

Sie konnte es nicht fassen. Er schlief? Nein, das war einfach nicht möglich, das war ausgeschlossen nach allem, was geschehen war!

Sie hatten den ersten Streit in ihrer jungen Ehe gehabt, einen wilden unvernünftigen verbitterten Streit, bei dem sie sich unverantwortliche Dinge an den Kopf geworfen hatten. — »Du bist ein völlig hirnloses Geschöpf!« — hatte er gebrüllt, und sie, sie hatte gesagt: »Ich bereue, daß ich dich geheiratet habe!«

Eine Welt war für sie zusammengestürzt — und er, er sollte trotz allem schlafen können?

Behutsam schwang Gina die Beine aus dem Bett, kletterte ein paar Sprossen auf der kleinen Leiter nach oben. Im blauen Licht der Nachtlampe war sein Gesicht deutlich zu erkennen. Er hatte die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet — schlief er wirklich?

Das schwarze Haar, das er tagsüber immer streng zurückgebürstet trug, hatte sich gelöst und fiel ihm in wirren Locken in die Stirn. Er sah aus wie ein kleiner Junge, ein geliebter, kleiner Junge, und ohne daß Gina recht begriff, was in ihr vorging, beugte sie sich über ihn und drückte ihm einen zarten Kuß auf den Mund.

Sie war überrascht, aber gar nicht erschrocken, als sich seine starken Arme um sie schlangen.

»Gibst du zu, daß du dich schlecht benommen hast?« flüsterte er, ganz nahe an ihrem Ohr.

»Ja«, hauchte sie, »ja…« Aber dann, um ihre Unterwerfung nicht vollständig zu machen, fügte sie rasch hinzu: »Du aber auch.«

»Ich weiß«, sagte er, »bitte, verzeih mir.«

»Ach, Thomas«, sagte sie erleichtert, »ich bin froh, daß wir uns wieder versöhnt haben! Ich dachte schon …«

»Sprich nicht soviel. Komm unter die Decke. Du bist ja ganz kalt.«

»Thomas«, sagte sie und kuschelte sich eng in seine Arme, »bitte, sei ehrlich … ist es wahr?«

»Was meinst du?«

»Das mit Vivian? War sie wirklich deine …« Sie scheute sich, das Wort auszusprechen, »deine … na, du weißt schon was.«

»Wir waren gut befreundet.«

»Nicht mehr?«

»Bitte, Gina, hör auf damit! Du bist einfach zu jung, um solche Dinge richtig zu verstehen.«

»Zu jung? Ich bin verheiratet … ich bin deine Frau!«

»Was auch immer mit Vivian war«, sagte er, »es hat mit dir nichts zu tun. Es hat aufgehört, als ich dich kennen lernte.«

»Und vorher? Hast du sie geliebt?«

Er zögerte mit der Antwort, nur den Bruchteil einer Sekunde, aber sie merkte es doch. »Nein«, sagte er dann, »nein…geliebt habe ich sie nicht. Sie war ein guter Kamerad, eine der Frauen, mit denen man Pferde stehlen kann …die nichts verlangen, aber immer bereit sind zu geben. Jedenfalls bis zum heutigen Abend habe ich geglaubt, daß sie so war. Niemals hätte ich ihr die Geschmacklosigkeit zugetraut, in unser Abteil einzudringen.«

»Wußte sie, daß du heiraten wolltest?«

Er drehte sich auf die Seite, was in dem schmalen Bett gar nicht so einfach war. »Natürlich. Ich habe es ihr geschrieben. Aber nun kein Wort mehr davon. Ich wünsche, daß du den Namen Vivian nie wieder erwähnst.«

Zum erstenmal wurde sie sich seiner männlichen Nähe voll bewußt, und ihre Stimme klang plötzlich unsicher, als sie fragte: »Wovon soll ich denn reden?«

»Überhaupt nicht«, sagte er, und dann spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund, zärtlich, drängend, fordernd.

Sie versuchte noch einmal, sich aus seiner Umarmung zu befreien, aber dann vergaß sie alles über seiner zärtlichen Leidenschaft, über ihrer eigenen aufflammenden Liebe.

Erst viel später fragte sie; »Thomas, ganz ehrlich wenn ich nun nicht zu dir heraufgekommen wäre? Was hättest du getan?«

Er lächelte in die Dunkelheit hinein. »Ich wäre hinuntergestiegen … was denn sonst? Glaubst du, ich hätte dich unversöhnt einschlafen lassen? Ausgerechnet auf unserer Hochzeitsreise?«

»Bitte, Thomas«, sagte sie und bedeckte sein Gesicht mit kleinen zärtlichen Küssen,. »bitte, tu es nie! Willst du mir das versprechen? Auch wenn wir uns noch einmal zanken sollten … bitte, laß uns nie zerstritten schlafengehen. Ich ich könnte es nicht vertragen. Ich liebe dich viel zu sehr.«

[9]

Sie trafen am frühen Nachmittag des nächsten Tages auf dem Bahnhof Termini in Rom ein.

Thomas Miller hatte ein Doppelzimmer mit Bad im Hotel »Colomba« bestellt, das auf einer der Prachtstraßen zwischen Petersplatz und Tiber liegt. Sie fuhren mit einem Taxi hin, packten gemeinsam ihre Koffer aus, begannen sich umzuziehen.

Gina war noch dabei, die vielen Kleinigkeiten — Nähzeug und Kopfwehtabletten, Fleckenpaste, Kleiderbürste und Reiselektüre — einzuordnen, als das Telefon klingelte.

Sie zögerte, den Anruf entgegenzunehmen, denn sie fürchtete sich, am Telefon italienisch sprechen zu müssen.

»Thomas«, rief sie, »das Telefon!«

Es klingelte wieder.

»Geh du ‘ran«, sagte er undeutlich.

Sie nahm den Hörer ab, sagte unsicher: »Hallo!«

Niemand meldete sich. Aber es war auch kein Freizeichen in der Leitung.

»Hallo«, sagte Gina, und noch einmal, seltsam beunruhigt: »Hallo!«

Es kam keine Antwort, aber es war ihr, als hörte sie fremde Atemzüge. Dann gab es ein leises Knacken, und die Leitung war tot.

Gina runzelte die glatte Stirn und hängte ein.

»Wer war es?« rief Thomas vorn Badezimmer herüber.

»Niemand.«

»Na, dafür hat es aber reichlich lang gedauert.«

Gina trat in die Verbindungstüre. »Ich hatte gehofft, der Anrufer würde sich doch noch melden … es war jemand in der Leitung, ganz bestimmt.«

»Ach, Unsinn«, sagte er, »wer sollte denn …!?« Er brach ab, sagte unbehaglich: »Wir sind beide nicht richtig ausgeschlafen. In so einem Zustand bildet man sich die merkwürdigsten Dinge ein.« Er stöpselte seinen elektrischen Rasierapparat aus, begann ihn zu säubern.

Sie war nahe daran gewesen, den Namen, an den sie beide dachten, auszusprechen. Aber sie wollte sich und ihm den ersten Tag in Rom nicht verderben. Deshalb sagte sie nur: »Vielleicht hast du recht …«

[10]

Zehn Minuten später fuhr Thomas Miller mit dem Lift hinunter. Gina htte noch ein Bad nehmen und sich umziehen wollen.

Als er die kühle, marmorverkleidete Halle betrat, sah er Vivian Geron. Obwohl er es fast erwartet hatte, traf es ihn wie ein Schlag.

Sie saß in einem der tiefen Ledersessel, die schlanken Beine übereinandergeschlagen, und blickte ihm mit einem ironischen Augenbrauenzucken entgegen. Sie wirkte sehr elegant in einem Kleid von matter, grauer Seide, schwarzem großen Hut und dreireihiger schwarzer Perlenkette.

Thomas Miller wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Er versuchte, mit flüchtigem Gruß an ihr vorüber zu gehen.

Aber sie winkte ihm mit einem kleinen Lächeln zu sich heran, rief gedämpft, aber doch laut genug, daß die anderen Gäste in der Halle es hören konnten: »Hallo, Thomas …wie nett, dich hier zu sehen.«

Wohl oder übel mußte er zu ihr treten.

Sie reichte ihm die schmale, sehr gepflegte Hand mit den langen, perlmutt getönten Fingernägeln. »Setz dich doch … oder hast du es eilig?«

Er berührte ihre Hand so flüchtig, als ob er fürchtete, sich zu verbrennen. »Vivian, was soll das! Meine Frau kann jeden Augenblick herunter kommen.«

»Oh, nein, das glaube ich nicht. Auf der Hochzeitsreise braucht man besonders viel Zeit, um sich schön zu machen.«

»Was willst du von mir?«

»Wenn du dich setzen würdest, könnte ich es dir leichter erklären.«

Er machte keine Anstalten, ihrer Aufforderung zu folgen. »Also warst du es wirklich, die eben angerufen hat«, sagte er, »was versprichst du dir von diesen kindischen Mätzchen?«

»War es nicht sehr taktvoll von mir?« fragte sie. »Daß ich meinen Namen nicht genannt habe? Es hätte deiner jungen Frau vielleicht die Laune verderben können.«

»Taktvoll wäre es, wenn du mich und Gina in Ruhe ließest.«

»Ich verstehe, daß du ärgerlich bist«, sagte sie sanft und holte ein Zigarettenpäckchen aus ihrer schwarzen Krokodillederhandtasche, »ich gebe zu, ich habe mich gestern im Schlafwagen unverzeihlich gehenlassen.« Sie klopfte eine Zigarette auf, und als er sich nicht rührte, ließ sie ihr eigenes Feuerzeug aufflammen. »Es tut mir ehrlich leid«, sagte sie und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette, »könntest du nicht versuchen, es zu vergessen?«

»Schon geschehen«, sagte er kühl, »sonst noch was?«

»Ich hatte es nicht vorgehabt«, sagte sie, »ganz bestimmt nicht. Es kam einfach über mich. Als ich dich und deine junge Frau in Rosenheim einsteigen sah … das glückliche junge Hochzeitspaar ich war einfach außer mir. Ich wußte nicht mehr, was ich tat.«

»Ich hatte dir geschrieben, daß ich heiraten würde.«

»Sicher. Aber es ist eben doch ein Unterschied ob etwas auf dem Papier steht, oder ob man es mit eigenen Augen sieht.«

»Warum machst du dir Vorwürfe?« fragte er, »jeder kann mal die Nerven verlieren … Hauptsache, wenn es bei dem einen Mal bleibt.« Er sah unruhig zum Lift, glaubte, jeden Augenblick Gina in die Halle treten zu sehen.

»Weißt du noch, wie wir beide in Rom waren?« fragte Vivian. »Erinnerst du dich an unsere zauberhaften Abende in Trastevere? Wie wir auf der Terasse am Tibet getanzt haben!«

»Wenn ich geahnt hätte, daß du uns verfolgen würdest, hätte ich niemals daran gedacht, mit Gina nach Rom zu fahren.«

»Du irrst dich. Ich bin hier, um über die neue Kollektion von Schuberth zu schreiben.«

»Dann tu das«, sagte er brüsk, »und laß uns in Ruhe.« Er drehte sich um und ging zu der großen Schwingtüre, die auf die Straße führte.

»Thomas!« Sie kam ihm nach. »Thomas … ist dir meine Gegenwart denn wirklich so unangenehm?«

»Ja! Wenn du es genau wissen willst … ja, ja, ja! Was erwartest du denn von mir? Daß ich aufjubele, wenn du versuchst, meine Flitterwochen zu durchkreuzen? Aber du hast dich verrechnet. Ich liebe Gina, und ich werde sie nicht unglücklich machen lassen …auch von dir nicht. Wenn du es darauf anlegst, auch das letzte Fünkchen Gefühl, das ich noch für dich hatte, zu ersticken …«

Sie unterbrach ihn. »Weiß sie von mir?«

»Dafür hast du ja selber gesorgt.«

»Ich meine weiß sie alles?«

»Daß wir befreundet waren …ja.«

»Warum ist es dir dann peinlich, wenn sie uns zusammensieht? Sie weiß, daß wir uns etwas bedeutet haben, und sie weiß auch, daß es aus ist. Was ist schon dabei, wenn wir uns zufällig in der Hotelhalle begegnen und ein paar Worte miteinander wechseln?«

»Warum mußt du mich so quälen?«

»Qual nennst du das? Hast du dir auch nur eine Sekunde überlegt, was ich durchgemacht habe?«

Er seufzte. »Vivian«, sagte er, »gut, zugegeben … vielleicht habe ich mich dir gegenüber wirklich nicht ganz korrekt benommen. Aber du kannst doch nicht leugnen, zwischen uns war von Heirat nie die Rede. Wie hätte ich ahnen können, daß meine Liebe zu Gina dich so umwerfen würde? Also, sei vernünftig! Du warst doch immer ein vernünftiges Mädchen … ich habe es Gina auch erzählt … eine, mit der man Pferde stehlen konnte. Es paßt gar nicht zu dir, daß du jetzt so ein Theater machst. Was versprichst du dir denn davon?«

»Ja, Vivian, das vernünftige Mädchen!« Sie zog eine Grimasse. »Wie sehr du dich täuschst. Wie sehr ihr euch alle getäuscht habt. Ich habe es satt, vernünftig zu sein. Alles habe ich mir mit meiner verdammten Vernunft verpatzt alles!«

»Vivian«, sagte er, »bitte sei wenigstens leise.« Er blickte über seine Schulter hinweg wieder einmal nervös zum Lift und — fuhr herum, als er Gina kommen sah.

Diesmal war sie es wirklich. Sie sah sehr jung und sehr bezaubernd aus in einem gerade geschnittenen weißen Kleid mit halblanger weißer Jacke. Das helle, schimmernde Haar fiel ihr in einer ungebärdigen Welle bis auf die Schultern, ihre klaren hechtgrauen Augen wirkten noch größer unter den sorgfältig nachgetuschten Wimpern, ihre nackten braunen Beine steckten in weißen, hochhackigen Riemchensandalen mit bleistiftdünnen Absätzen.

Einige Herren am Empfangstisch wandten sich ihr bewundernd zu, und eine Welle von Glück und zärtlichem Stolz durchflutete Thomas Millers Herz; für eine Sekunde vergaß er sogar Vivian an seiner Seite, die sich nicht von der Stelle rührte.

Noch hatte Gina sie nicht entdeckt. Sie sah sich suchend in der geräumigen Halle um.

»Verschwinde«, sagte er leise zu Vivian, »rasch, bevor sie dich sieht.«

»Ich denke nicht daran«, erwiderte Vivian Geron hart, »ich bin ja kein Verbrecher, daß ich mich verbergen müßte.«

Ohne ihr eine Antwort zu geben, ging er seiner Frau mit großen Schritten entgegen, küßte ihr zärtlich die Hand. »Gina«, sagte er, »du siehst wunderbar aus.«

Sie lächelte unbefangen. »Gefalle ich dir? Ein schickes Kleid, nicht wahr? Wenn ich die Jacke ausziehe …« Dann entdeckte sie Vivian, die langsam und sehr gelassen auf sie zukam, und stockte mitten im Satz.

Vivian trat zu ihnen.

Thomas Miller räusperte sich, überlegte, wie diese Situation am besten zu meistern war, entschloß sich, den Stier bei den Hörnern zu nehmen. »Fräulein Geron möchte sich bei dir entschuldigen, Gina«, sagte er, »es tut ihr leid, daß sie sich gestern abend im Schlafwagen so aufgeführt hat … das war es doch, was du auf dem Herzen hast, Vivian, nicht wahr?«

Sie lächelte kühl. »Das und einiges mehr.« Sie reichte Gina die Hand. »Aber auf gewisse Weise hat unser Thomas recht«, sagte sie, »ich möchte mich wirklich wegen gestern abend entschuldigen.«

Gina nahm die Hand der anderen nicht entgegen, ihr Gesicht war ganz unbewegt, sie sagte kein Wort.

Vivian zog die dunklen, sorgfältig ausgezupften Augenbrauen zusammen. »Es tut mir leid, mehr kann ich nicht sagen … oder verlangen Sie etwa, daß ich einen Kniefall vor Ihnen mache?«

»Vivian«, sagte Thomas, »bitte …«

Jetzt öffnete Gina den Mund. »Was Sie tun und lassen, ist mir gänzlich gleichgültig«, sagte sie mühsam, »auch was Sie vor meiner Ehe mit Thomas gehabt haben. Es ist jetzt vorbei, bilden Sie sich nur nichts darauf ein. Es ist aus. Für immer.«

»Großartig, daß Sie so denken«, sagte Vivian mit gespielter Begeisterung, »natürlich, Sie haben vollkommen recht. Ich bin sehr froh darüber. Ziehen wir einen dicken Strich unter die Vergangenheit. Nichts hindert uns also daran, gute Freunde zu werden …alle drei. Ist das nicht wunderbar?«

Thomas riß das Gespräch an sich. »Wir würden deinen Enthusiasmus gerne teilen, Vivian, aber wir haben heute noch einiges vor. Ich möchte Gina wenigstens noch ein Stückchen von Rom zeigen.«

»Ach ja, natürlich, ich vergaß ganz … Sie waren sicher noch nie hier, Frau Miller? Thomas und ich …« Sie fing seinen warnenden Blick auf, verbesserte sich und sagte: »Thomas kennt Rom wie seine Westentasche. Sie können sich ganz auf ihn verlassen.«

»Das tue ich, Fräulein Geron«, sagte Gina mit erzwungener Ruhe, »und zwar in jeder Beziehung.«

»Na, dann viel Spaß!« sagte Vivian, und unvermittelt, als wenn es ihr eben erst einfiel, fügte sie hinzu: »Wie wäre es, wenn wir uns heute abend treffen würden? Ihr wollt doch sicher ein bißchen bummeln gehen? Ich kenne da ein bezauberndes Nachtlokal ganz nahe der Via Veneto …«

»Ich fürchte, wir sind zu müde, um heute noch lange aufzubleiben.«

»Ah, ich vergaß«, sagte Vivian mit einem vieldeutigen Lächeln, »mein Fehler. Aber wie wäre es mit morgen … oder übermorgen? Irgendwann werdet ihr doch sicher ausgeschlafen sein?«

»Hör mal, Vivian…« begann Thomas unbehaglich.

Aber Gina ließ ihn nicht zu Ende sprechen. »Warum nicht?« sagte sie kalt. »Machen wir doch gleich einen Treff aus … sagen wir morgen abend. Und wo?«

»Wir können uns zum Essen treffen in der ›Zisterne‹? Du kennst sie ja, Thomas. Ich schlage vor, um neun Uhr … vorher ist in Rom noch nirgends etwas los.«

»Wir kommen«, sagte Gina mit einem kleinen hochmütigen Lächeln, »bis morgen also!« Sie nickte Vivian zu und ging.

Thomas folgte ihr dicht auf dem Fuß.

Auf der Straße drehte sie sich zu ihm um. »Ich hoffe, du bist mir nicht böse«, sagte sie, »natürlich lege ich nicht den geringsten Wert darauf, mit dieser Frau auszugehen aber ich hatte das Gefühl, es blieb uns nichts anderes übrig.«

»Sie hätte uns nicht zwingen können.«

»Wirklich nicht? Ach, Thomas, du weißt genau so gut wie ich, wie die Dinge stehen. Sie wohnt im selben Hotel wie wir und kann es mit Leichtigkeit so einrichten, daß sie uns fünfmal am Tag begegnet. Wenn wir versuchen, ihr auszuweichen, wird sie das nur anspornen, uns noch ärger zu verfolgen.«

»Wir können abreisen.«

Gina blieb stehen und sah ihn an. »Ist das dein Ernst? fliehen? Ihretwegen? Nein, Thomas. Das kommt nicht in Frage ich habe mich so auf Rom gefreut. Und überhaupt.«

»Gina«, sagte er, »ich muß dir etwas gestehen …«

»Ja?«

»Das letzte Mal, als ich in Rom war, war ich nicht allein.«

»Ich weiß es. Sie hat es ja deutlich genug zu verstehen gegeben. Trotzdem bin ich froh, daß du es mir selber sagst.« Sie nahm seinen Arm und schlenderte langsam weiter. »Ganz ehrlich, Thomas, ich verstehe diese Frau nicht. Was will sie eigentlich? Begreift sie denn nicht, daß du mich liebst?«

»Nur dich, Gina«, sagte er sehr ernst, »dich und keine andere. Solange du das nicht vergißt, kann uns nichts und niemand etwas anheben.«

[11]

Dr. Lowitzer saß am Schreibtisch und arbeitete seine allmonatliche Umsatzsteuererklärung aus, als seine Frau ins Zimmer trat. Zögernd kam sie auf ihn zu, blieb stehen.

»Georg«, sagte sie, »ich möchte nur fragen hast du noch lange zu tun?«

Erst jetzt hob er den Kopf. »Nanu?! Ich dachte, du wolltest fernsehen.«

»Ach, die reden doch nur wieder über Politik. Du weißt, daß mich das nicht interessiert.«

»Dann nimm dir ein gutes Buch.« Dr. Lowitzer vertiefte sich wieder in seine Arbeit.

»Du darfst nicht denken, daß ich nichts zu tun hätte«, sagte sie, »ganz im Gegenteil …aber ich bin so unruhig heute abend.«

Er murmelte eine Zahlenreihe vor sich hin.

Sie nahm einen neuen Anlauf. »Georg«, sagte sie, »ganz ehrlich … findest du nicht auch, daß es schrecklich still bei uns geworden ist, seit Gina fort ist?«

Er legte den Kugelschreiber aus der Hand und sah sie aufmerksam an.

Sie errötete unter seinem Blick. »Ich meine ja nur, Georg, bitte, sei mir nicht böse … natürlich weiß ich, daß da nichts mehr rückgängig zu machen ist. Aber seit sie fort ist, kommt es mir einfach so vor, als ob …« Sie konnte ihre Erregung nicht länger unterdrücken. »Wir hätten es nicht zulassen dürfen, Georg, um keinen Preis! Sie ist ja noch viel zu jung so völlig ahnungslos! Ich darf gar nicht darüber nachdenken … unsere kleine Gina jetzt ganz allein mit diesem jungen Rechtsanwalt in einer fremden großen Stadt … Gina, die noch nie für längere Zeit allein von zu Hause weg gewesen ist!«

Wortlos war Dr. Lowitzer aufgestanden, ging an den kleinen eingetäfelten Wandschrank, nahm eine Flasche Cognac und zwei Gläser heraus, schenkte ein. »Da, nun trink mal einen Schluck«, sagte er, »dann wird dir gleich wieder besser werden.«

»Du glaubst doch nicht etwa …« versuchte sie zu protestieren.

»Doch«, sagte er ruhig, »es sind die Nerven. Sonst könntest du so krauses Zeug gar nicht erzählen. Wenn du ehrlich vor dir selber bist, wirst du zugeben müssen, daß Gina alles andere als ahnungslos ist … sie ist so aufgeklärt, wie die meisten ihrer Generation, wesentlich aufgeklärter als du es zum Beispiel bei unserer Hochzeit warst. Dabei warst du damals zwei volle Jahre älter als Gina es heute ist. Und was diesen jungen Rechtsanwalt betrifft …ich nehme an, du meinst damit Thomas … so ist er ihr Ehemann, vor dem Gesetz und vor Gott. Sie hat sich für ihn entschieden und muß sein Schicksal mit ihm teilen so ist es nun mal. Schließlich ist Gina wahrhaftig nicht das erste Mädchen, das sein Elternhaus verlassen hat, um zu heiraten.«

Sie nippte an ihrem Glas. »Du hast recht, Georg, natürlich«, sagte sie, aber es klang nicht sehr überzeugend, »trotzdem, wir hätten auf einer gewissen Bedenkzeit bestehen sollen.«

»Aber wir haben es nicht getan …basta. Aus.« Dr. Lowitzer kippte sein Glas mit einem Zug, schenkte sich gleich noch einmal ein. »Es hat gar keinen Zweck, wenn wir uns jetzt darüber Vorwürfe machen … wir hatten ja einfach keine Wahl. Niemand kann behaupten, wir hätten uns diesen Entschluß nicht reiflich überlegt. Wir waren ja gezwungen, unsere Zustimmung zu geben, wenn wir Schlimmeres verhüten wollten.«

»Schlimmeres!« sagte sie. »Was kann schlimmer sein, als sich auf alle Zeiten an einen Menschen zu binden, der … ich meine … den man eigentlich gar nicht kennt?«

Er hob lächelnd den Zeigefinger. »Anna, Anna … was sind das für Ideen! Von dieser Seite hast du dich mir eigentlich noch nie gezeigt!«

»Du willst mich nicht verstehen«, sagte sie und nahm einen größeren Schluck Cognac, »begreifst du denn nicht, daß ich mir ernsthafte Sorgen mache?«

»Nein«, sagte er erstaunt, »warum?«

»Wenn Thomas wirklich so zuverlässig und gewissenhaft wäre, wie er sich uns gegenüber gestellt hat, dann … dann hätte er doch wenigstens telegrafieren können.«

»Was?«

»Daß sie heil und gesund in Rom angekommen sind.«

Dr. Lowitzer lachte. »Anna! Warum sollten sie? Wenn der Zug entgleist wäre, hätten wir es doch ganz bestimmt in der Zeitung gelesen.«

»Mach dich nur über mich lustig«, sagte sie mit einer Bitterkeit, die ihr halbes Lächeln nur schlecht verbarg, »ich weiß ja, alles klingt dumm, was ich sage ich kann es nicht richtig ausdrücken, weil es eben gar nicht zu beschreiben ist. Aber ich habe Angst um Gina. Ich mache mir schreckliche Sorgen. Nicht davor, daß der Zug entgleisen könnte es ist etwas ganz anderes, das mich bedrückt. Ob sie glücklich werden wird … ob sie der Ehe überhaupt gewachsen ist. Ich habe so ein Gefühl … ein ganz ungutes Gefühl … als wenn ein drohendes Unheil auf sie zukäme.«

»Das bildest du dir alles nur ein, Anna«, sagte er und bot ihr eine Zigarette an, »und selbst wenn du recht hättest …« Er gab ihr Feuer. »Du darfst dich nicht verrückt machen lassen. Gina hat sich unserer Verantwortung entzogen, wir können ihr beim besten Willen nicht mehr helfen. Außerdem ist sie wesentlich selbständiger und wesentlich unsentimentaler als du glaubst. Sie wird schon mit ihrem Schicksal fertig werden. Vergiß nicht, sie hat es sich selber gewählt.«

»Alles, was du sagst, klingt riesig vernünftig, aber …«

»Hör mal, nun laß mich erst mal meine Umsatzsteuer fertig machen. Nachher stehe ich dir zur Verfügung. Wo ist Wolfi? Schaut er sich das Fernsehen an?«

»Nein. Er ist fort. Gleich nach dern Abendbrot ist er gegangen.«

»Wohin?«

»Er hat irgend etwas vor sich hingemurmelt. Du weißt ja, Wie er ist. Ich nehme an, er ist mit seinen Freunden zusammen.«

»Siehst du, das solltest du ganz genau wissen. Kümmere dich mehr um den Jungen. Wolfi ist jetzt in einem gefährlichen Alter. Gerade in den Jahren, wo man sich selber nicht ausstehen kann. Gib acht auf den Jungen …ich mache mir wesentlich mehr Gedanken um ihn als um Gina.«

[12]

Als Gina erwachte, glaubte sie, noch halb im Traum versunken, zu Hause in ihrem schmalen Bett in der kleinen Kammer unter dem Dach zu liegen. Der Wecker hatte nicht geklingelt — oder hatte sie ihn überhört?

Sie öffnete die Augen, setzte sich hoch. Vor Erleichterung hätte sie beinahe laut aufgelacht.

Sie war nicht mehr Gina Lowitzer, das Schulmädchen, sie war eine verheiratete Frau auf der Hochzeitsreise. Sie war erwachsen.

Behaglich ließ sie sich wieder in die Kissen zurücksinken, streckte und dehnte sich wie ein Kätzchen, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lächelte in sich hinein. Was für ein herrlicher Tag war gestern gewesen. Sie war mit Thomas durch die römische Altstadt geschlendert, sie hatten Münzen in das schimmernde Wasser der Fontana di Trevi geworfen, sie waren die Spanische Treppe hinauf und hinunter gelaufen, Thomas hatte ihr bei den Blumenständen einen wunderbaren Strauß dunkelroter Rosen geschenkt, sie waren durch die Via Veneto gebummelt, hatten die Auslagen in den eleganten Läden bestaunt – sie waren glücklich gewesen. Und keiner von ihnen hatte auch nur mit einem Wort Vivian Geron erwähnt.

Vivian Geron! Der Gedanke an die Rivalin löschte das Lächeln auf Ginas Gesicht.

Warum hatte Thomas ihr nie von dieser Frau erzählt? Ob er sie geliebt hatte, wirklich geliebt? Nein, das war unmöglich, es war — einfach nicht auszudenken.

Gina richtete sich auf dem Ellbogen auf, wandte sich zu Thomas hinüber, der, das braune Haar zerzaust, in den weißen Kissen lag und schlief. Er wirkte viel jünger als sonst, gelöster und irgendwie fremd, ganz anders als der Thomas, den sie kannte. Er lächelte im Traum, ein kleines zärtliches Lächeln. Galt es ihr? Oder — träumte er von Vivian?

Plötzlich ertrug Gina es nicht länger. Sie beugte sich über Thomas, küßte ihn auf die Nasenspitze, auf die geschlossenen Lider und, als er immer noch nicht erwachte, mitten auf den Mund.

Er öffnete schlaftrunken die Augen. »Gina!« sagte er, streckte die Arme aus und zog sie an seine Brust. »Du bist schon wach?«

Sie kuschelte sich an ihn. »Gott sei Dank! Rat mal, wovon ich geträumt habe!«

»Vom schiefen Turm zu Pisa.«

»Ganz falsch!«

»Also, erzähl’s mir schon!«

»Ich habe geträumt, ich hätte den Wecker überhört, und ich hatte furchtbare Angst, daß ich zu spät zur Schule käme!« Sie lachte.

»Hör mal«, sagte er, »das bringt mich auf einen Verdacht … hast du mich etwa nur geheiratet, damit du nicht mehr in die Schule zu gehen brauchst?«

»Fragst du das im Ernst?«

»Ja. Die Schlußfolgerung liegt doch sehr nahe.«

»Du alberner Kerl.« Sie biß ihn zärtlich ins Ohrläppchen. »Ich habe dich geheiratet, weil … weil …«

»Na, jetzt bin ich aber mal gespannt!«

»Weil ich in der ersten Sekunde, als ich dich sah, wußte …diesen oder keinen!«

»Und wenn es nicht geklappt hätte? Ich hätte ja abfahren und nichts mehr von mir hören lassen können und außerdem sah es ja lange Zeit so aus, als ob deine Eltern nie und nimmer einwilligen würden!«

»Dann hätte ich überhaupt nicht geheiratet! Lach nur, es ist doch so. Ich wäre zwar nicht in ein Kloster gegangen, aber ich wäre Juggesellin geblieben. Ehrenwort.«

»Du Kindskopf! Du hättest mich bestimmt vergessen.«

»Das ist nicht wahr! Aber jetzt will ich dich mal etwas fragen was hast du dir gedacht, als du mich das erste Mal sahst? Du weißt doch noch, das war in diesem Gartenlokal am Eibsee es war eine herrliche Nacht! All die Lampions … und die schicke Kapelle …«

»… und du in deinem weißen Kleidchen! Ich habe gedacht: Was für ein reizendes Schulmädchen! Ob die Kleine wohl schon vierzehn ist?«

Gina lachte. »Hast du mich deshalb gleich zum Tanz aufgefordert? Und dich den ganzen Abend bloß um mich gekümmert? Alter Schwindler, du!«

Er bemühte sich, ein ernsthaftes Gesicht zu machen. »Ich spreche die lautere Wahrheit!«

»Dann finde ich es aber sehr merkwürdig von dir, daß du mich gleich am ersten Abend geküßt hast!«

»Habe ich das wirklich?«

»Nun tu bloß nicht so, als wenn du das vergessen hättest … unten am Ufer, in dem alten morschen Kahn! Ich hatte Angst, daß er jeden Augenblick absacken könnte, und dann die Mücken…am nächsten Tag sah ich aus, als ob ich die Masern hätte.«

Er zog sie enger an sein Herz. »Aber es war trotzdem schön, nicht wahr?«

»Ja«, sagte sie verträumt, »damals wußte ich noch nicht …« Sie stockte.

Aber er begriff sofort, daß sie an Vivian Geron dachte, beugte sich über sie und küßte sie innig. »Ich liebe nur dich, dich allein, Gina … glaubst du mir? Du mußt es mir glauben!«

»Ja«, flüsterte sie, »ja, Thomas!«

[13]

Als sie mit Thomas das Gelände des Forum Romanum durchstreifte, dachte Gina zum erstenmal seit ihrer Abreise wirklich bewußt an ihre Eltern und an zu Hause.

Das Forum machte auf sie einen überwältigenden Eindruck. Noch die Trümmer, die zerbrochenen Säulen, die geborstenen Skulpturen und die Tempel, von denen zum Teil kaum mehr als die Grundmauern vorhanden sind, gaben ihr einen Begriff der ehemaligen Größe Roms.

»Wenn ich das hier früher gekannt hätte«, rief sie begeistert, »hätte ich bestimmt mit Vergnügen Latein gelernt! Von hier muß ich Wolfi’ unbedingt eine Ansichtskarte schicken, damit er sieht, wo sie den alten Cäsar in den Iden des März umgebracht haben!«

»Wenn wir hinausgehen«, sagte er, »werden wir ein paar Amichtskarten kaufen.«

»Ach ja, bitte! Ich möchte auch den Eltern eine schicken, und Ute und Hanna … und du mußt auch deiner Mutter schreiben, Thomas!«

»Das habe ich schon getan.«

»Ach ja?« sagte sie und war plötzlich ein wenig ernüchtert.

Er spürte es nicht. »Ich habe ihr heute morgen einen langen Brief geschrieben, als ich in der Hotelhalle auf dich gewartet habe.«

Sie versuchte tapfer ihre Eifersucht zu überwinden. »Hoffentlich lebt sie sich gut in Düsseldorf ein«, sagte sie und nahm seinen Arm, »was meinst du?«

»Na ja, mit Angela hat Mama nie besonders gestanden, aber es wird schon gehen. Du solltest dir deswegen wirklich keine Gedanken machen, Gina!«

Sie blickte zu ihm auf. »Das tue ich aber! Schließlich … ich bin schuld, daß sie von München fort ist, nicht wahr?«

Er gab ihr einen raschen Kuß auf die Stirn. »Gina«, sagte er gerührt, »ich liebe dich sehr!«

Sie strahlte ihn an. »Ich dich auch!«

»Hör mal«, sagte er, »ich glaube, ich habe eine glänzende Idee. Wie wäre es, wenn wir heute abend nach Frascati hinausführen? Du weißt, ich wollte dir immer schon die Weinhöhlen…«

Sie unterbrach ihn. »Als ob du vergessen hättest, daß wir verabredet sind.«

»Oh, ich könnte Vivian anrufen und ihr sagen …na, eben irgend etwas. Mich bei ihr entschuldigen. Die Verabredung absagen … oder auch nur verschieben.«

Sie sah ihn an, und alle Kindlichkeit war aus ihrem klaren Gesicht wie weggewischt. »Du hast schreckliche Angst, mich mit Vivian zusammenzubringen, nicht wahr?« Sie hatte sich auf einem der großen sonnendurchglühten Steine niedergelassen und sah zu ihm auf.

»Sie ist … ich fürchte, sie kann sehr boshaft sein«, gab er zu. »Und ich mag nicht, daß man dich verletzt.«

»Es ist dir unangenehm, wenn sie mir etwas von … von früher ‘erzählt von euch beiden. Aber mach dir bloß keine Gedanken darüber. Ich bin nicht so empfindlich wie du glaubst.«

»Ich weiß gar nicht, warum wir uns auf diese Verabredung eingelassen haben. Wenn ich mir vorstelle, wie mit dir und Vivian…eine alberne Situation.«

Sie stand auf, strich sich ihren Rock glatt. »Wir müssen es durchstehen, Thomas ,…anders werden wir sie nie los.« Sie begann, die überhohen steinernen Stufen hinabzuturnen.

Er nahm ihren Arm, spürte Zärtlichkeit, als er ihre glatte, seidige Haut fühlte. »Ich fürchte, du hast recht«, sagte er, »warum sind wir bloß nach Rom gefahren! Es gibt so viele andere wunderbare Orte auf der Welt, wo wir miteinander hätten allein sein können.«

»Ich glaube nicht«, sagte sie, »sie wäre uns überall hin gefolgt, unter diesem oder jenem Vorwand. Und weißt du warum? Weil sie dich immer noch liebt. Sie ist verrückt vor Eifersucht. Eigentlich müßte sie uns leid tun.«

»Tut sie dir leid?«

»Nein«, sagte sie, und sie dachte: Ich könnte sie umbringen. — Aber sie sprach diesen Gedanken nicht aus, denn sie erschrak vor sich selber.

So sicher sie sich auch gab, so graute ihr doch mindestens genau so sehr vor dem bevorstehenden Abend wie ihrem Mann. Sie wollte es nicht zugeben, aber sie wußte in ihrem tiefsten Inneren genau, daß sie Vivian Geron nicht gewachsen war. Vivian war so elegant, so bewußt, so selbstsicher, zehn Jahre älter als sie selber und hundertmal lebenserfahrener. Ihre Waffen waren sehr ungleich, und dennoch spürte sie instinktiv, daß sie sich diesem Kampf stellen mußte, wenn sie sich nicht von vornherein geschlagen geben wollte.

Sie zog sich für den Abend mit ungewohnter Sorgfalt um, bürstete ihr helles ungebärdiges Haar, bis es schimmerte, tuschte ihre Wimpern, zog die Augenbrauen behutsam nach, legte sich einen zarten hellblauen Strich über die Lider. Ihr voller Mund war schön geschnitten, sie brauchte nur die Umrisse ihrer Lippen nachzuziehen, es gab nichts zu verbessern.

»Gefall ich dir?« fragte sie und drehte sich zu Thomas um, der hinter ihr vor dem großen Spiegel stand und sich den Schlips band.

»Du siehst wunderbar aus«, sagte er anerkennend.

Aber sie selber war nicht mit sich zufrieden. Noch im letzten Augenblick, bevor sie das Zimmer verließen, wischte sie mit Watte und Creme die Farbe von ihren Lippen.

»Warum tust du das?« fragte er erstaunt.

»Damit sie sieht, daß ich es noch nicht nötig hab, mich zu schminken.«

Sie trafen Vivian in der Hotelhalle. »Das ist lustig«, sagte sie, »da können wir gleich zusammen losfahren oder wollt ihr lieber gehen? Es ist ein schöner Abend.«

Sie einigten sich darauf, bis zum nahen Petersplatz zu schlendern, um dort eine »Carrozza« zu mieten, eine jener schwarzen, von mageren Pferden gezogenen Kutschen, die gegenüber den Springbrunnen in langer Reihe zu warten pflegen.

Thomas ließ den Damen den Platz auf dem Rücksitz, klappte sich selber einen der kleinen Notsitze heraus. Als das Pferdchen lostrabte und die Kutsche sich in Bewegung setzte, warf Gina noch einen Blick zurück — auf den Petersdom mit seiner wunderbaren Kuppel, die großzügig geschwungenen Arkaden, die Springbrunnen, die ihre schäumenden Fontänen in den herbstlichblauen Himmel warfen, den schlanken Obelisken mitten auf dem riesigen Platz. Alles war voller Schönheit, und sie hätte glücklich sein können, wenn sie mit Thomas allein gewesen wäre. Statt dessen mußte sie mit Vivian Geron, die sie haßte, eine albeme Konversation führen, alberne Dinge sagen, lächeln, Haltung bewahren. Sie fühlte sich wie eine Marionette auf einer Bühne, und sie sah Thomas an, um herauszufinden, ob er ebenso empfand wie sie selber. Aber er brachte es anscheinend fertig, sich ganz zwanglos mit Vivian zu unterhalten.

Ganz plötzlich überfiel Gina das Gefühl einer so übermächtigen Einsamkeit, daß sich ihr das Herz in der Brust förmlich zusammenzog. Sie fühlte, wie ihr Gesicht starr wurde, versuchte sich zu einem Lächeln zu zwingen; aber es war unmöglich.

Dann streckte Thomas seine Hand aus und berührte ihren Arm, und es war ihr, als wenn mit dieser leichten Berührung das Leben wieder in sie zurückflösse. Sie lächelte ihm dankbar zu, spürte wie ungewollte Tränen ihr in die Augen stiegen und wandte rasch das Gesicht ab.

Vivian Geron zeigte sich von ihrer besten Seite. Sie war heiter, charmant, liebenswürdig, machte weder während der Fahrt noch später in der »Zisterne« die geringste Anspielung privater Art; Gina gegenüber gab sie sich freundschaftlich, ohne gönnerhaft zu sein, erzählte einige interessante Begebenheiten aus ihrer Arbeit als Modejournalistin, bemühte sich aber ansonsten nur solche Themen zu berühren, bei denen Gina mitsprechen konnte.

Langsam wich der Alpdruck von Ginas Seele. Sie wurde wieder ihr eigenes, kindhaft glückliches Selbst. Voller Staunen sah sie sich in dem gemütlichen, volkstümlich eingerichteten Lokal um, betrachtete die Kellner, die wie mittelalterliche Schankknechte herausstaffiert waren, die italienischen Familien, die laut und fröhlich miteinander zu Abend speisten.

Sie trank mit Thomas und Vivian den roten Weiß, aß eingelegte Artischockenböden, gratinierte grüne Nudeln, ein heißes, mit viel Knoblauch gewürztes Lammgericht.

Gina wirkte ganz unbefangen. Dennoch vergaß sie keinen Augenblick, daß Vivian in ihr eine Rivalin sah; sie war in jeder Sekunde auf der Hut.

Was aber dann wirklich geschah, kam ganz unerwartet.

Der Kellner hatte gerade den blank gescheuerten braunen Tisch abgeräumt und drei Tassen Espresso gebracht, Thomas bot den Damen Zigaretten an, als Henry Horn eintrat.

Er war so hoch gewachsen, daß er den Kopf einziehen mußte, um sich nicht zu stoßen. Nicht nur Gina fiel er sofort auf. Groß und blond, breit in den Schultern und schmal in den Hüften, sehr helle Augen in dem braun gebrannten, gut geschnittenen Gesicht, war er es gewohnt, alle Blicke auf sich zu ziehen.

Es dauerte ein Paar Sekunden, bis Gina selber merkte, daß sie ihn neugierig und ganz selbstvergessen angestarrt hatte. Sie schlug verlegen die Augen nieder.

Da kam er auch schon auf ihren Tisch zu, sagt: »Hei, Vivian…gut gespeist?«

Vivian Geron gab sich überrascht. »Henry«, sagte sie, »na so etwas. Ich glaube langsam, man kann in Rom nirgends ausgehen, ohne dich zu treffen.«

Der große Mann sagte gar nichts, lächelte nur und sah Gina an, mit einem unverschämt ruhigen Blick, der sie irritierte.

Thomas war aufgestanden.

»Darf ich bekannt machen«, sagte Vivian, »Henry Horn …«

»Wir kennen uns«, erklärte Thomas.

»Stimmt«, sagte der andere, »lassen Sie mich nachdenken … nein, helfen Sie mir nicht! Du bist blaß, Luise … jetzt weiß ich’s wieder! Sie sind Doktor Miller, arbeiten mit Rechtsanwalt Doktor Jahn zusammen, was? Ihr habt mich ganz fein herausgepaukt damals, als ich die Geschichte mit meinem Wagen hatte.«

»Gina«, sagte Thomas, »das ist Henry Horn, ein bekannter Münchner Modefotograf meine junge Frau, Herr Horn.«

Er streckte ihr eine riesige braune Franke hin, in der ihre kleine Hand völlig verschwand. »Freut mich sehr«, sagte er, »freut mich wirklich ungemein …«

»Willst du dich nicht zu uns setzen?« fragte Vivian.

Er zögerte. »Eigentlich nicht. Habe nur mal reingeschaut, ob ich ein bekanntes Gesicht sehe, wollte ein bißchen auf die Pauke hauen heute nacht.«

Vivian strahlte. »Hast du deinen Wagen da? Na wunderbar. Warte noch fünf Minuten, dann kannst du uns mitnehmen. Wir sind ausgezogen, der kleinen Gina das Nachtleben von Rom zu zeigen.«

»Ausgezeichnet. Ganz meine Masche.« Henry Horn zog sich nun doch einen Stuhl herbei. »An was hattet ihr zuerst gedacht?«

Niemand sah, daß Ginas klare Augen sich verdunkelt hatten. Es war alles so harmlos Vivians‘ Vorschlag und Henry Horns Einstimmung schienen so natürlich — und dennoch!

Gina hatte das unbehagliche Gefühl, daß es ein abgekartetes Spiel war, ein Spiel, bei dem die anderen die Trümpfe in der Hand hatten.

Ihre Hand, die das Täßchen mit dern Espresso zum Munde führte, zitterte so, daß das kohlschwarze Getränk überschwappte.

[14]

»Il Fissaggio«, das erst kürzlich eröffnete Nachtlokal nahe der Via Veneto, unterscheidet sich in Aufmachung und Einrichtung kaum von anderen Tanzbars gleichen Charakters in Paris, New York und Düsseldorf — auf Gina, siebzehn Jahre alt, behütete Tochter aus gut bürgerlichem Haus, machte es einen ungeheuren Eindruck.

Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Ausruf der Begeisterung. Die gedämpfte Beleuchtung, die goldenen Seidentapeten, die gläserne, von unten erleuchtete Tanzfläche, die Negerband in ihren weißen Smokingjacken, das elegante internationale Publikum, diese ganze faszinierende Szenerie versetzte Gina fast in einen kleinen Rausch. Sie fühlte sich aus dem Alltag herausgehoben, in eine Welt versetzt, die bisher nur im Kino und in ihren Träumen existiert hatte.

Am liebsten hätte sie zu ihrem Mann gesagt: »Kneif mich, Thomas, damit ich merke, ob ich wirklich wach bin!« — aber da streifte sie ein ironischer Blick aus Vivian Gerons dunklen Augen, und sie war mit einem Schlag ernüchtert.

Für eine Sekunde hatte sie vergessen, daß auch der Besuch im »II Fissaggio« nicht zu ihrem Vergnügen arrangiert worden war, sondern zu einem ausgeklügelten Plan gehörte, den Gina nicht kannte, von dem sie nur wußte, daß er gegen sie und ihre Liebe gerichtet war. Sie begriff, daß sie sich nicht ihrem Vergnügen hingehen durfte, sondern auf der Hut sein mußte.

Den blonden Kopf hoch erhoben, das junge Gesicht eine ernste Maske, folgte sie den anderen. Sie bemerkte nicht die vielen bewundernden Männerblicke, die auf sie gerichtet waren.

Henry Horn hatte ganz selbstverständlich die Führung übernommen. Gleich bei ihrem Eintritt hatten sich zwei beflissene Kellner auf den hochgewachsenen breitschultrigen Mann gestürzt. Er hatte mit ihnen eine kurze, halblaute Unterhaltung in italienischer Sprache geführt, und nun begleiteten die beiden rot befrackten Kellner die kleine Gesellschaft zu einem Tisch in einer erhöhten Nische im Hintergrund des großen Raumes, von dem der eine mit einer diskreten Handbewegung das Schild entfernte, auf dem in drei Sprachen zu lesen stand, daß dieser Tisch reserviert war.

Schon im Hinsetzen ließ Vivian Geron die golddurchwirkte Stola von ihren schmalen braunen, Schultern gleiten, die sich schimmernd und verführerisch von dem Weiß ihres ärmellosen Brokatkleides abhoben. Gina fühlte sich neben so viel selbstsicherer Eleganz sehr mädchenhaft und sehr unbedeutend.

Das Gespräch ging über sie hinweg. Vivian Geron sprach von gemeinsamen Münchner Bekannten, von denen nur Gina nie etwas gehört hatte, und die sie auch nicht interessierten. Sie nippte an dem blutroten Wein, den Thomas bestellt hatte, lauschte der Musik, beobachtete die Rivalin.

Als Henry Horn, der bisher noch kein Wort mit ihr gewechselt hatte, sich plötzlich erhob und sich vor ihr verbeugte, geschah das so unvermittelt, daß Gina im ersten Augenblick gar nicht begriff, um was es ging.

Henry Horn lächelte amüsiert auf sie hinunter: »Darf ich um diesen Tanz bitten, gnädige Frau?« Mit einer leichten Verbeugung zu Thomas hin fügte er hinzu: »Natürlich nur, wenn Ihr Gatte es gestattet …«

Gina wurde über und über rot und sagte mit einer Heftigkeit, die über ihre Befangenheit hinwegtäuschen sollte: »Nein, danke. Ich tanze nur mit meinem Mann.«

Vivian Geron lachte belustigt auf, und Thomas sagte irritiert: »Aber, Gina, sag doch sowas nicht! Wenn man dich hört, könnte man mich ja für einen eifersüchtigen Wüterich halten.«

»So habe ich es doch nicht gemeint«, versuchte Gina sich zu verteidigen, »nur … ich möchte wirklich nur mit dir tanzen.«

Vivian lachte wieder, und Gina hätte sie in diesem Augenblick ermorden mögen.

»Mein Pech«, sagte Henry Horn gelassen, »aber zu einem Drink in die Bar werde ich Sie doch wohl einladen dürfen?«

Gina warf einen hilfesuchenden Blick zu ihrem Mann, aber Vivian Geron hatte sich gerade eine Zigarette genommen, und Thomas war so damit beschäftigt, ihr Feuer zu geben, daß er Ginas stumme Frage übersah.

»Ja, bitte«, sagte Gina unsicher und stand auf, fügte, zu Thomas gewandt fast entschuldigend hinzu: »Ich bin gleich wieder da.«

Henry Horn schob seinen Arm unter ihren nackten Ellbogen und dirigierte sie mit weltmännischer Sicherheit zwischen den gut besetzten Tischen und dem Rand der Tanzfläche vorbei in den Barraum. Er half ihr auf den hohen Hocker, schwang sich neben sie, bestellte, ohne sie erst zu fragen, beim Barmann einen Champagnercocktail und einen doppelten Whisky und bot ihr eine Zigarette an.

Es schoß ihr durch den Kopf, wie sehr jede einzelne aus ihrer früheren Schulklasse sie beneiden würde, wenn sie sie hier sitzen sehen könnte — in einem Nachtlokal in Rom, in der exclusiven Bar, neben einem so auffallend gut aussehenden und männlichen Mann wie Henry Horn. Sie begriff selber nicht, warum sie diese Stunde nicht hinnehmen und genießen konnte. Sie fühlte sich unbehaglich, ja unglücklich.

»Sie hätten nicht heiraten sollen«, sagte Henry Horn und beobachtete amüsiert die Wirkung dieser unverschämten und ungeheuerlichen Worte.

Gina war viel zu überrumpelt, als daß sie ihn kühl hätte zurechtweisen können. »Ich …« stammelte sie, »aber…ich liebe meinen Mann!«

»Wie alt sind Sie?« fragte er gelassen.

»Was geht Sie das an?!«

Ihre Empörung prallte an ihm ab. »Jedenfalls war es eine irrsinnige Torheit von Ihnen, Ihr Leben in einem Moment zu beschließen, wo es eigentlich erst anfangen sollte. Hat Sie denn niemand gewarnt?«

Gina holte tief Atem. »Herr Horn …« begann sie.

Er unterbrach sie sofort: »Nennen Sie mich ruhig Henry, wie alle meine Freunde … und gestatten Sie mir, daß ich Sie Gina nenne, wenigstens wenn wir allein sind.«

»Nein!«

»Interessant!« Er betrachtete sie, als wäre sie ein Insekt unter einem Vergrößerungsglas. »Sie spüren also selber gar nicht, daß die. Anrede ›Gnädige Frau‹ ein wenig … zu hochtrabend für Sie ist?«

»Ich habe niemals verlangt, daß Sie mich so anreden«, sagte sie, und ihre Augen funkelten vor Zorn, »nennen Sie mich so, wie ich heiße … Frau Miller.«

In seinem braunen scharf geschnittenen Gesicht rührte sich keine Muskel. »Nun wohl, Frau Miller also …« Er betonte die Anrede, daß sich Gina selber albern, ja, geradezu idiotisch vorkam. »Ihr Wunsch ist mir Befehl. Was wollten Sie vorhin sagen?«

»Jetzt haben Sie mich ganz draus gebracht«, sagte Gina, wütend und kläglich zugleich.

»Darf ich Sie erinnern, Frau Miller? Ich drückte mein Bedauern darüber aus, daß Sie sich allzu unüberlegt und voreilig in die Ehe gestürzt haben.«

»Ich glaube, das kann ich besser beurteilen als Sie.«

»Sie irren, Frau Miller. Sie sind viel zu befangen. Offensichtlich haben Sie ja in einem Zustand blinder Verliebtheit gehandelt, der … aber da kommen unsere Drinks.« Er hob sein Whiskyglas. »Cheerio!«

Der Champagnercocktail schmeckte wundervoll, herb und erfrischend. Gina nippte erst, dann tat sie einen tiefen Zug. »Wunderbar«, sagte sie ehrlich, als sie das Glas abstellte.

»Ich freue mich sehr, daß ich ihren Geschmack getroffen habe, Frau Miller«, sagte er grinsend.

»Wenn Sie noch einmal Frau Miller zu mir sagen … so, mit dieser unverschämten Betonung … dann stehe ich auf und gehe an unseren Tisch zurück.«

»Sie können keinen Spaß verstehen, wie?«

»Nicht, wenn es um Dinge geht, die mir sehr viel bedeuten.«

»Wie Ihre Ehe zum Beispiel?«

»Ja, wie meine Ehe.« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Ich liebe Thomas …«

»Das sagten Sie bereits.«

»Und wenn ich es schon hundertmal gesagt hätte … es ist die Wahrheit.«

»Liebe Gina!« Sein Ton klang plötzlich ganz verändert, sehr ernst und sehr herzlich. »An Ihrer Liebe habe ich nie gezweifelt … wie käme ich auch dazu. Dennoch bleibt es schade, daß Sie sich so früh gebunden haben. Bitte, widersprechen Sie jetzt nicht gleich wieder, lassen Sie mich erst einmal ausreden. Sicher haben Sie in Ihrem Leben doch schon einige Romane gelesen, nicht wahr? Ist Ihnen niemals aufgefallen, daß die Hochzeit fast immer am Ende steht? Alle wichtigen und wirklich entscheidenden Dinge im Leben eines Menschen geschehen vor der Ehe. Wenn man erst einmal verheiratet ist, ist Schluß … Schluß mit der Freiheit, der Entwicklung, Schluß mit dem Abenteuer und den Hoffnungen, Schluß sogar mit den Träumen …«

Gina konnte nicht länger an sich halten. »Aber …das ist doch einfach nicht wahr!« rief sie. »Ein Leben zu zweien ist bestimmt genauso aufregend und interessant … viel viel lustiger, als wenn man immerzu von Vater und Mutter am Gängelband herumgeführt wird.«

»Ach«, sagte er, »haben Ihre Eltern das getan?«

Sie runzelte die glatte Stirn. »Nein«, sagte sie, »ich weiß nicht … ich habe nie darüber nachgedacht, aber vielleicht haben Sie recht. Ich habe zu Hause niemals das tun dürfen, was ich wollte.«

»Das erklärt manches«, sagte er und bot ihr eine neue Zigarette an; als sie ablehnte, gab er sich selber Feuer. »Sie haben sich also in die Ehe geflüchtet.«

Sie sah ihn an. »Was sind Sie nur für ein Mensch! Sie drehen einem ja das Wort im Mund herum. Ich habe aus Liebe geheiratet …«

»Sie betonen das ein bißchen zu oft, finden Sie nicht selber?«

»Ach«, sagte sie wütend und verzweifelt, »ich mag mich schon gar nicht mehr mit Ihnen unterhalten. Was wollen Sie überhaupt von mir? Zu was haben Sie mich hierher gelockt? Um mich zu quälen und zu beleidigen? Oder …« Ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr auf. »… damit Vivian Geron mit Thomas unter vier Augen sprechen kann? Haben Sie es deshalb getan?«

Er sah sie kopfschüttelnd an. »Sagen Sie, schämen Sie sich denn eigentlich gar nicht? Sie sind doch wahrhaftig das mißtrauischste kleine …« Sie wollte von ihrem Hocker rutschen, aber er umfaßte ihr Handgelenk mit eisernem Griff. »Halt, hiergeblieben. Ich verlange von Ihnen, daß Sie mir Gelegenheit geben, Ihre Frage zu beantworten.«

»Ich will es gar nicht wissen«, sagte sie wütend.

»Das könnte Ihnen so passen. Erst Beleidigungen ausstoßen und dann verschwinden.« Er ließ sie so unvermittelt los, daß sie beinahe vom Hocker gefallen wäre. »Um ganz ehrlich zu sein ich hatte gehofft, Sie wären gar nicht verheiratet.«

»Was?« Sie riß die klaren grauen Augen auf und starrte ihn entgeistert an.

Er grinste unverfroren. »Es soll schon vorgekommen sein, daß junge Leute miteinander verreisen, ohne sich vorher vom Vater Staat die Erlaubnis zu holen!«

»Ja«, sagte sie, »ich weiß. So weltfremd, wie Sie tun, bin ich schließlich auch nicht.«

»Bravo! Kluges Mädchen. Dann dürfen Sie mir auch nicht böse sein, daß ich es gehofft hatte ich hatte es gehofft, in Ihrem und in meinem Interesse. Ich hätte nämlich etwas aus Ihnen machen können. Ich habe das auf den ersten Blick gesehen. Sie gehören zu den ganz wenigen, die das Zeug dazu haben…« Er leerte sein Glas, schob es dem Barmann hin, sagte: »Noch einen doppelten, bitte.«

Ginas Neugier war geweckt. »Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden?«

»Sie sind zu schade für die Ehe«, sagte er, »viel zu schade. Sie gehören nicht an den Kochherd. Sie sind für ein anderes Leben geschaffen. Verdammt, daß ich Ihnen nicht früher begegnet bin ich hätte Sie zum Covergirl gemacht, die Welt hätte Ihnen zu Füßen gelegen. Sie hätten Karriere machen können, das garantiere ich Ihnen. Mit einem entsprechenden Management hätten Sie es zum Weltstar gebracht.«

Sie nahm einen Schluck ihres Champagnercocktails, drehte das Glas auf dem gläsemen Bartisch, bevor sie fragte: »Und jetzt … jetzt kann ich es nicht mehr?«

»Nein«, sagte er hart, »mit einer verheirateten Frau fange ich so etwas nicht an. Niemand täte das. Das Risiko ist viel zu groß. Außerdem …glauben Sie, daß der verehrte Doktor Miller für solche Pläne Verständnis hätte?«

[15]

»Langsam beginne ich dich zu verstehen, Thomas«, sagte Vivian Geron und zog mit dem spitz gefeilten langen Nagel ihres Zeigefingers unsichtbare Linien über das schimmernde Damasttuch, »Gina ist wirklich ein reizender kleiner Kerl.«

Er schwieg.

Als sie ihn verstohlen unter den langen, grün getuschten Wimpern anblickte, sah sie, daß sein Gesicht sehr verschlossen war.

»Habe ich wieder etwäs Falsches gesagt?« fragte sie nervös.

»Ich wundere mich nur«, sagte er; »es würde mir nie im Traum einfallen, die Bezeichnung Kerl im Zusammenhang mit Gina zu brauchen.«

»Mein Gott, sei doch nicht so überempfindlich! Als ob du nicht wüßtest, daß ich dir nur etwas Nettes habe sagen wollen …«

»Danke, Vivian. Ich weiß die gute Absicht zu schätzen. Aßer du strapazierst dich ganz ünnötig.«

Sie sah ihn an, und in ihren schönen dunklen Augen spiegelte sich ein ganz echter, fast kreatürlicher Schmerz. »Thomas«, sagte sie, »warum willst du mich nicht verstehen?! Ich … ich möchte doch nichts als gutmachen, dich versöhnen! Wenn du mich schon nicht mehr liebst…wenn du mir schon dieses kleine Mädchen vorgezogen hast …warum können wir dann nicht wenigstens gute Freunde bleiben? Weshalb darf ich nicht in deiner Nähe sein? An deinem Leben teilnehmen?«

»Als was? Als meine …«

»Nicht«, sagte sie rasch, »nicht! Sprich es nicht aus! Es bringt dir keine Ehre, mich zu beleidigen.«

»Wenn die Wahrheit eine Beleidigung ist …«

»Bitte Thomas, sei fair. Ich bin doch nicht nur eine Frau … ich bin doch ein Mensch, ein Mensch, von dem du vor noch nicht sehr langer Zeit viel gehalten häst. Du kannst doch jetzt nicht, nur weil du verheiratet bist, all deine alten Freunde von dir stoßen … es gibt doch nicht nur dich und Gina auf der Welt.«

»Ich weiß. Es gibt zum Beispiel auch einen Henry Horn.«

»Aber Thomas!« Vivian zwang sich zu einem unnatürlichen kleinen Lachen. »Was soll das? Henry Horn hat mir niemals das Geringste bedeutet …«

»Glaubst du im Ernst, daß mich das noch treffen würde?«

»Nicht?! Dann begreife ich wahrhaftig nicht, auf was du anspielst.«

»Du bist eine schlechte Lügnerin, Vivian. Aber immerhin, das spricht für dich. Bildest du dir wirklich ein, ich hätte auch nur eine Sekunde geglaubt, daß Henry Horn aus reinem Zufall in der Zisterne aufgekreuzt ist? Nein, meine Liebe, so dumm bin ich wahrhaftig nicht. Ich kenne dich, und ich kenne den Ruf dieses Herrn Münchens Playboy Numero eins! Du hast ihn in die Zisterne bestellt, weil er Gina kennenlernen sollte, und er sollte sie kennenlernen, um ihr den Kopf zu verdrehen …«

»Du mußt verrückt sein, so etwas zu behaupten!« unterbrach sie ihn scharf. »Mir scheint wahrhaftig, du bist verrückt verrückt vor Eifersucht! Wenn du fürchtest, daß dir dieser kleine Teenager mit dem ersten besten Mann davonlaufen köhnte …«

»…hätte ich sie nicht ausgerechnet mit Henry Horn allein gelassen!«

»Du mußtest es, wenn du dich nicht blamieren wolltest. Aber du leidest Höllenqualen, du zitterst, sie zu verlieren … ach, Thomas, Thomas, wie konntest du nur ausgerechnet dieses Kind heiraten! Begreifst du denn nicht, daß sie nicht zu dir paßt, nicht in deine Welt gehört?«

Er erhob sich. »Ich begreife nur, daß du eine böse Person bist«, sagte er kalt, »und ich bereue, daß ich mich je mit dir eingelassen habe!«

»Thomas!«

Er verbeugte sich steif. »Guten Abend!«

Sie sprang auf, mit ganz undamenhafter Hast, so daß der Tisch ins Schwanken geriet und der Inhalt ihres Glases überschwappte. »Wo willst du hin?!«

»Zu meiner Frau. Ich habe das Bedürfnis nach der Gesellschaft eines sauberen Menschen.«

Sie stand mit flammenden Augen und erhobenen Fäusten vor ihm, achtete nicht auf die Aufmerksamkeit, die sie an den Nebentischen erregte. »Du Philister«, zischte sie, »du Verdammter Philister! Ja, sitz jetzt nur auf dem hohen Roß, aber warte nur, du fällst auch wieder herunter. Es wird dir noch leid tun, daß du mich so behandelt hast. Wenn du erst selber drauf kommst, daß deine Ehe ein Reinfall ist …«

Er drehte sich wortlos um und ließ sie stehen.

Als er in die Bar trat, sah er von Gina nur den Rücken, ihren geradezu jungen Rücken in dem Kleid aus resedagrüner Seide und das ungebändige blonde Haar, das sie sich für diesen Abend hochgesteckt hatte. Sie hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und schien andächtig auf das zu lauschen, was Henry Horn ihr erzählte.

Thomas Miller spürte ganz plötzlich eine jähe Wallung schmerzhafter Eifersucht.

Nein, dachte er, das ist doch nicht möglich, das darf doch nicht wahr sein. Ich weiß doch, daß sie mich liebt … nur mich!

Dennoch mußte er sich räuspern, bevor er sie ansprach: »Gina«, sagte er so gleichmütig, wie es ihm eben möglich war, »hallo!«

»Oh, Thomas!« Sie erkannte seine Stimme sofort, rutschte von ihrem Barhocker herunter und lief auf ihn zu wie ein verwirrtes, schutzsuchendes Kind.

»Na, hast du dich gut unterhalten?«

»Ja, sehr«, sagte sie mit einem unsicheren Blick zu Henry Horn hinauf, der die kleine Szene grinsend beobachtet hatte. »Wo ist Vivian?«

Er beantwortete ihre Frage nicht. »Wollen wir tanzen?«

»Bitte!« Sie hängte sich bei ihm ein.

»Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen meine Frau entführe …« sagte Thomas zu Henry Horn, bevor er mit Gina den Barraum verließ.

Sie merkte, daß etwas nicht in Ordnung war. »Hat Vivian dich geärgert?«

»Ja«, erwiderte er kurz.

»Wirklich?« fragte sie und lächelte ihn zärtlich an. »Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen.«

»Ich verstehe dich nicht …«

»Ach, Thomas, tu doch nicht so! Die ganze Zeit, als ich in der Bar war, habe ich gezittert, daß sie recht lieb und nett sein könnte. Ich war sicher, daß sie alles darauf anlegen würde, dich wieder einzufangen. Aber wenn sie dich statt dessen gekränkt hat … was hat sie denn gesagt?«

»Ach, nichts Besonderes. Der ganze Ton war widerlich.«

Sie waren jetzt bei der Tanzfläche angekommen. Sie schmiegte sich in seine Arme, überließ ihren Körper dem weichen Rhythmus eines Blues.

»Was hast du denn mit diesem Herrn Horn geredet?« fragte er.

»Ach, allerhand, ich weiß schon gar nichts mehr…bestimmt nichts Wichtiges.«

»Er wird dir doch Komplimente gemacht haben …«

Sie lachte unbekümmert. »Schon. Aber nennst du das wichtig?«

»Du hast ihm jedenfalls sehr gespannt zugehört.«

»Nein, gar nicht. Ich habe die ganze Zeit bloß an dich gedacht.« Sie legte ihren Kopf an seine Brust. Ihr junger frischer Geruch stieg ihm in die Nase. »Ach, Thomas, ich bin so froh, daß wir es überstanden haben. Jetzt brauchen wir sie nie mehr wiederzusehen, nicht wahr? Keinen von beiden.«

»Henry Horn wird bestimmt gar keinen Wert darauf legen«, sagte er, »oder hat er dir etwa seine Telefonnummer gegeben?«

Sie richtete sich kerzeng’erade auf und wich ein wenig von ihm zurück. »Was hast du bloß immer mit diesem Henry Horn? Er geht uns doch gar nichts an …oder?«

»Er ist ein sehr gut aussehender Mann … und berühmt für seine Erfolge bei Frauen. Es könnte doch sein, daß er auf dich Eindruck gemacht hat …«

»Nein«, sagte sie ernsthaft, »das hat er nicht. Und wenn du es genau wissen willst ich habe ihm gesagt, daß er mich mit seinem Gerede in Ruhe lassen soll. Weil ich nur dich liebe … nur dich, Thomas! Zweifelst du etwa daran?«

»Nein«, sagte er, plötzlich beschämt, »nein, Gina. Natürlich nicht. Ich weiß selber nicht, was eben mit mir los war. Verzeih mir, bitte, ich war ein Narr.«

Sie sah ihn aus strahlenden Augen an. »Ich bin so glücklich, Thomas …«

[16]

Als sie in das Hotel zurückkamen und Thomas am Empfangstisch um die Zimmerschlüssel bat, sagte der Hotelsekretär an der Rezeption: »Doktor Miller? Einen Augenblick. Bitte ich habe eine Nachricht für Sie!« Er zog einen gelben Umschlag aus einem der Postfächer, reichte ihn Thomas über den Tisch. »Ein Telegramm.«

»Woher?« fragte Gina und versuchte, Thomasüber die Schulter zu sehen.

Die Hotelhalle war schon abgedunkelt, und er beugte sich über den Empfangstisch, um besser sehen zu können. »Aus Düsseldorf«, sagte er, »seltsam …« Er zögerte einen Augenblick, als fürchtete er sich, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Er las mit schmerzlich zusammengezogenen Augenbrauen.

»Was ist?« fragte Gina. »Etwas Unangenehmes?«

»Leider ja, ich fürchte, wir müssen abreisen.« Thomas wandte sich an den Pförtner. »Können Sie mir vielleicht sagen, wann morgen früh der erste Zug nein, warten Sie, es wäre besser, wir nehmen ein Flugzeug.«

»Aber was ist denn geschehen?!« rief Gina, ganz außer sich.

»Meine Mutter ist verunglückt.«

»Schlimm?!«

»Ich weiß nicht. Verunglückt, mehr hat meine Schwester nicht telegrafiert.«

»Aber Thomas, ich bitte dich … und bloß daraufhin willst du Hals über Kopf abreisen? Vielleicht ist es gar nicht so schlimm … vielleicht ist sie längst wieder aus aller Gefahr … vielleicht …« Ohne es selber zu wissen, hatte sie sich an ihn geklammert.

Er schüttelte sie mit einer ungeduldigen Bewegung ab. »Es ist meine Mutter … begreifst du das denn nicht?«

»Doch, und ich verstehe auch, daß du in Sorge um sie bist … in großer Sorge. Ich meine nur, es hat doch keinen Zweck, einfach drauflos zu fahren …« Ihr kam ein Gedanke. »Warum rufst du nicht wenigstens vorher mal an?!«

Thomas sah Gina mit leeren Augen an. »Gut. Du hast recht. Dann wissen wir es sofort.« Er wandte sich an den Pförtner, der noch immer in Kursbüchern und Flugplänen blätterte. »Bitte, versuchen Sie eine Verbindung mit Düsseldorf zu bekommen ich schreibe Ihnen die Telefonnummer auf … wir gehen jetzt nach oben. Bitte, legen Sie das Gespräch auf mein Zimmer. Und suchen Sie mir auf alle Fälle auch die nötigen Verbindungen heraus. Wahrscheinlich muß ich noch morgen früh nach Düsseldorf fliegen.«

»Und ich?« fragte Gina, als sie im Lift nach oben fuhren. »Du sprichst immer nur von dir … du willst nach Düsseldorf fliegen! Wo soll ich denn bleiben?«

»Du kommst natürlich mit. Oder hast du einen anderen Vorschlag?«

»Nein«, sagte sie leise, »nur …« Ihr Instinkt warnte sie noch rechtzeitig, den Satz zu Ende zu sprechen. Sie hatte ihn fragen wollen, ob er denn ganz vergessen hatte, daß dies ihre Hochzeitsreise war, ob er sich nicht vorstellen konnte, wie unglücklich sie war, weil er nach Deutschland zurück mußte gerade jetzt, wo es doch erst anfangen sollte, wirklich schön zu werden.

Aber sie sagte nichts von alledem. Schweigend folgte sie Thomas auf ihr Zimmer, schweigend schlüpfte sie aus ihrem Kleid und zog sich ihren Morgenmantel über.

Er hatte sich an den kleinen, weißlackierten Schreibtisch gesetzt und sich eine Zigarette angezündet. Als sie nach zwanzig Minuten aus dem Bad zurückkam, saß er noch immer, wie sie ihn verlassen hatte, aber das Zimmer war blau von Zigarettenqualm, und der Aschenbecher lag voller Stummel.

»Thomas«, sagte Gina vorsichtig, »meinst du nicht, du solltest dich auch ein wenig hinlegen? Wer weiß denn, wann das Gespräch durchkommt.«

»Bildest du dir etwa ein, ich könnte ausgerechnet jetzt schlafen?«

»Nur ausstrecken habe ich gedacht.«

»Nein. Dazu habe ich keine Ruhe.« Er sah sie an. »Du solltest dich auch nicht hinlegen. Fang lieber an zu packen. Ich möchte die nächste Gelegenheit wahrnehmen, von hier fortzukommen.«

»Aber du weißt doch noch nicht einmal …«

»Gina!« sagte er so böse und ungeduldig, wie er noch nie mit ihr gesprochen hatte. »Tu endlich, was ich dir gesagt habe! Oder legst du es etwa darauf an, allein in Rom zu bleiben?!«

»Ohne dich?« Sie sah ihn ganz entgeistert an. »Ach, Thomas, wie kannst du so etwas denken!« Sie lief auf ihn zu, schlang die Arme um seinen Hals und preßte ihre Wange an sein Gesicht.

Er spürte, wie sie zitterte, streichelte sie mechanisch — aber seine Gedanken und sein Herz waren bei der Mutter.

Das Telefon klingelte. Er streckte den Arm aus, nahm den Hörer ab, meldete sich. Dann deckte er die Sprechmuschel ab, sagte zu Gina: »Es ist Düsseldorf … bitte!«

Sie begriff, daß sie ihn störte, ließ ihn los und richtete sich auf. Sie fühlte sich verloren.

»Angela«, sagte Thomas, »ich habe gerade eben dein Telegramm bekommen …« Er lauschte, sagte: »Natürlich komme ich es war sehr richtig, daß du mich sofort verständigt hast. Ich werde sehen, daß ich gleich morgen einen Platz im Flugzeug bekomme meine Frau? Ich weiß noch nicht. Vielleicht bringe ich sie mit.« Er lauschte wieder. »Ja, ich verstehe. Wahrscheinlich hast du recht. Bis morgen also. Ich werde meine genaue Ankunft noch telegrafieren.«

Er legte den Hörer auf, zündete sich eine neue Zigarette ein.

Sie wagte nichts zu fragen, und es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder zu ihr sprach. »Es sieht nicht gut aus, Gina«, sagte er mit gepreßter, mühsam beherrschter Stimme. »Mutter ist im Treppenhaus gestürzt …eine schwere Gehirnerschütterung und verschiedene Knochenbrüche…«

»Das tut mir leid«, sagte sie und spürte selber, wie lahm das klang.

»Wie lange wirst du zum Packen brauchen?«

Sie sah sich unsicher im Zimmer um. »Ich weiß nicht genau …«

»Am besten fängst du gleich an. Du kannst dich dann nachher schlafen legen.« Er stand auf. »Ich gehe inzwischen hinunter und spreche noch einmal mit dern Portier. ES ist oft gar nicht so einfach, von einer Stunde auf die andere Flugkarten zu bekommen.« In der Türe wandte er sich zu ihr um. »Pack für mich einen kleinen Koffer extra. Nur mit dern Nötigsten … Waschzeug, Rasierapparat, Schlafanzug, ein paar Hemden…«

»Nimmst du mich nicht mit?«

»Nein«, sagte er, »du mußt jetzt sehr vernünftig sein. Ich weiß, das alles ist scheußlich für dich, aber Angelas Kinder haben die Masern und …«

»Aber was hat das mit mir zu tun?!«

»Bitte, Gina, nimm dich zusammen. Mach mir nicht alles noch schwerer. Ich … ich weiß schon gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Du kannst mir nicht helfen in Düsseldorf … begreifst du das denn nicht? Ich werde mich um meine Mutter kümmern müssen und gar keine Zeit für dich haben …«

»Aber wo soll ich bleiben? Allein in der Wohnung?«

»Warum nicht? Du bist doch schließlich kein Kind mehr. Hast du etwa Angst, allein zu bleiben?«

»Nein, das nicht! Aber warum? Warum?!« rief sie. »Ich begreife das alles nicht. Erklär mir doch wenigstens …«

Er verlor die Geduld. »Herrgott, muß ich denn für jede Entscheidung, die ich treffe, Rechenschaft ablegen!?«

»Nein«, sagte sie, »Thomas, nein …«

Aber er hatte sich schon, ohne sie anzuhören, umgedreht und war aus dem Zimmer gegangen. Die Türe fiel hinter ihm ins Schloß.

Sie stand mitten im Raum, mit hängenden Armen. Ein aufsteigendes Schluchzen schnürte ihr die Kehle zu. Sie fühlte sich so unglücklich wie nie zuvor in ihrem jungen Leben.

[17]

Sie flogen am nächstenNachmittag vom Flugplatz Fiumicino aus nach München zurück.

Thomas hatte vorher noch einmal mit Düsseldorf telefoniert und erfahren, daß seine Mutter aus der Bewußtlosigkeit erwacht war. Dennoch hielt seine Sorge an. Er war nervös, achtete kaum auf das, was Gina sagte, drängte zum Aufbruch.

Zwei Stunden nach ihrem Abflug landeten sie in München-Riem. Es war kalt und regnerisch; Herbstwetter.

Thomas begleitete Gina durch den Zoll, übergab ihre Koffer einem Träger, bat den Taxichauffeur, ihr das Gepäck in die Wohnung zu bringen und verabschiedete sich von seiner jungen Frau.

Gina warf sich in seine Arme, umklammerte ihn, küßte ihn mit wilder Zärtlichkeit.

»Sei nicht traurig, mein Liebling, ich komme bald …sehr bald!« sagte er.

Aber sie spürte, daß er in Gedanken schon nicht mehr bei ihr war. Er löste sich sanft aus ihren Armen, drehte sich um und ging.

Sie wäre ihm am liebsten nachgelaufen, hätte ihn angefleht, sie nicht allein zu lassen. Aber sie spürte, daß sie ihn nicht noch mehr belasten durfte, hielt sich mit Anstrengung zurück.

Sie starrte ihm nach, noch lange, nachdem er durch die gläserne Schwingtür im Plughafengebäude verschwunden war — seine Maschine nach Düsseldorf startete in zehn Minuten — und fand erst in die Wirklichkeit zurück, als der Chauffeur sie anrief.

Sie hatte sich den Einzug in ihr neues Heim anders vorgestellt.

Alles schien ihr unwirklich. Sie fühlte sich nicht wie sie selber, sondern kam sich wie eine Schauspielerin vor, die eine Rolle in einem schlechten Stück hatte übernehmen müssen.

»Kopernikus dreiundzwanzig …« sagte der Fahrer, als er in einer Straße des Münchner Stadtteils Bogenhausen hielt. »Ist es hier richtig, Fräulein?«

Gina schrak zusammen, riß die Augen auf, starrte auf das fremde Haus. »Ich glaube ja«, sagte sie zögernd.

Sie öffnete die Wagentür, stieg aus, durchquerte den kleinen, nicht eingezäunten Vorgarten, hatte Mühe, die Haustür aufzuschließen.

Sie war vor ihrer Ehe einige Male hier gewesen, immer in Begleitung ihrer Mutter, hatte ihre Wäsche in die Einbauschränke geräumt, die Aufstellung des neuen Schlafzimmers begutachtet und sich sehr erwachsen dabei gefühlt.

Jetzt schien ihr Thomas Millers Wohnung mit einemmal ganz fremd.

In den Tagen seiner Abwesenheit war nicht gelüftet worden, es roch muffig, auf der Flurgarderobe lag Staub.

Gina bedankte sich bei dem Chauffeur, der ihre Koffer in die kleine Diele gebracht hatte, und bezahlte ihn. Als die Tür hinter ihm zufiel, fühlte sie sich schrecklich verlassen.

Es dauerte eine ganze .Weile, bis sie sich endlich dazu aufraffte, ihren Mantel auszuziehen. Sie sah sich in den Spiegel und der Anblick ihres eigenen, frischen Gesichtes gab ihr wieder Mut. Sie ging durch die ganze Wohnung, von einem Zimmer zum anderen, knipste alle Lampen an, öffnete die Fenster, drehte die Heizkörper auf.

Ganz allmählich fühlte sie sich besser.

Sie trat zum Telefon, nahm den Hörer ab, lauschte auf das Freizeichen.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Thomas konnte noch nicht in Düsseldorf sein. Außerdem würde er bestimmt zuerst ins Krankenhaus fahren und dann erst in die Wohnung seiner Schwester.

Gina stöpselte den Fernsehapparat ein, knipste ihn an um sich so wenigstens die Illusion zu verschaffen, nicht ganz allein zu sein. Aber das Gespräch über den Grünen Plan und die Wünsche der Bauern, das gerade auf dem Fernsehschirm stattfand, konnte sie auch nicht trösten.

Plötzlich hielt sie es nicht länger aus. Sie schlug das Telefonbuch auf, suchte die Vorwahlnummer von Garmisch heraus, rief in ihrem Elternhaus an.

Frau Lowitzer kam an den Apparat. »Du!?« sagte sie, mehr erschreckt als erfreut. »Ja, aber Gina ich hoffe doch nicht … ist denn etwas passiert?«

Gina erklärte ihr ganz rasch die Situation.

»Dein Mann hat dich also allein gelassen?« sagte die Mutter. »Einfach in München abgesetzt? Also, ich muß schon sagen, das kann ich beim besten Willen nicht richtig finden! Hast du ihm denn nicht klar gemacht …«

»Aber, Mutter, verstehst du denn nicht? Er mußte doch nach Düsseldorf, seine …«

»Ja, ja, ich weiß. Aber er hätte dich doch mitnehmen können, schließlich geht dich die Sache doch auch etwas an … oder?«

Frau Lowitzer sprach genau das aus, was Gina im geheimen gedacht hatte; gerade deshalb sagte sie sehr ungeduldig und sehr gereizt: »Ach, Mutter, das verstehst du nicht!«

»Findest du das Verhalten deines Mannes etwa ganz in Ordnung?« fragte Frau Lowitzer höchst erstaunt.

»Ja, ja und noch einmal ja! Misch dich, bitte, nicht in meine Angelegenheiten, Mutter! Thomas weiß genau, was er tut!«

»Wie schön!« sagte Frau Lowitzer ruhig. »Ich freue mich, daß du so denkst.«

Es entstand eine lange Pause.

Gina hatte ihre Mutter bitten wollen, nach München zu kommen, um ihr zu helfen und Gesellschaft zu leisten, jetzt wagte sie es nicht mehr.

»Ist Vater noch nicht zu Hause?« fragte sie statt dessen.

»Nein. Er ist auf Visite. Soll ich ihm etwas ausrichten?«

»Schöne Grüße.«

»Ja. Ich werde daran denken.«

»Ich wollte euch nur wissen lassen, daß wir wieder zurück sind.«

»Ich verstehe …«

Gina nahm einen Anlauf. »Mutter«, sagte sie, »ich…ich wollte dich nicht kränken. Du bist mir doch hoffentlich nicht böse?«

»Bestimmt nicht, Gina, nur … ich kann mich so schwer daran gewöhnen, daß du so…erwachsen geworden bist. Aber natürlich, du hast ganz recht … du mußt jetzt allein mit deinem Leben fertig werden.«

»Ja, Mutter«, sagte Gina heiser.

Dann legte sie rasch den Hörer auf, denn sie fühlte, daß sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten konnte.

[18]

In dieser Nacht schlief Gina sehr schlecht. Sie wartete auf einen Anruf ihres Mannes. Aber das Telefon blieb stumm.

Erst in den frühen Morgenstunden, als alle Hoffnung entschwunden war, fiel sie endlich in einen tiefen Schlummer.

Sie stand spät auf, machte sich eine Tasse Neskaffee in der Küche, fand ein paar Kekse in einer Dose. Den Eisschrank hatte Thomas beim Verlassen der Wohnung abgestellt. Er war leer.

Gina spürte einen gesunden Hunger. Ihr Mut wurde wieder lebendig. Bei Tageslicht sah alles ganz anders aus. Draußen vor dem Fenster lag goldener Herbstsonnenschein, drinnen war es warm und gemütlich. Die Wohhung war modern und geschmackvoll eingerichtet, und es war ihre Wohnung, ihr Heim, in dem sie hausen und wirtschaften durfte, wie sie wollte.

Gina faßte den Entschluß, sich zuerst einmal anzuziehen und einkaufen zu gehen. Alles andere sollte später an die Reihe kommen.

Sie stand schon in der kleinen Diele und war im Begriff, sich ihren Regenmantel anzuziehen, als, es an der Haustür klingelte.

Einen Augenblick stutzte sie, dann betätigte sie den Drücker. — Das ist bestimmt ein Telegramm von Thomas, schoß es ihr durch den Kopf.

Sie riß die Wohnungstür auf — ihr Bruder stand vor ihr.

»Wolfi?« rief sie erfreut, dann erst begriff sie, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. »Wolfi, was ist los?« fragte sie und zog ihn in die Wohnung. »Wie kommst du überhaupt nach München? Müßtest du nicht eigentlich in der Schule sein?«

Er starrte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Ich brauche Geld, Gina …«

»Wozu?«

»Ich habe ein Moped zusammengefahren … nun schau mich bloß nicht gleich so an, als wenn ich ein Ungeheuer wäre! Sowas kann doch schließlich jedem passieren! Oder liest du etwa nicht die Zeitung? Verkehrsunfälle kommen jeden Tag vor und …«

»Wessen Moped war’s?«

»Das von Frieder Ullmann. Er war damit zur Schule gekommen, und in der Pause habe ich bloß so zum Spaß …«

»Hatte er es dir gestattet?«

Wolfi senkte den Kopf, tat, als wenn er angelegentlich damit beschäftigt wäre, in den Taschen seines Anoraks nach Zigaretten zu suchen. »Nein.«

Gina sagte nichts.

»Ich könnte mich ja selber ohrfeigen«, sagte Wolfi zerknirscht, »so ein Wahnsinn. Mich ausgerechnet mit Ullmann anzulegen … du weißt doch, wie er ist. Er genießt es geradezu, daß er mich jetzt in der Hand hat. Wenn ich ihm den Schaden nicht bezahle, will er Anzeige erstatten.«

»Wieviel brauchst du?«

»Zweihundert Mark.«

Gina tat einen tiefen Atemzug. »Schauderhaft. Zweihundert Mark … soviel habe ich nicht. Du mußt es Vater sagen.«

»Niemals.«

Gina sah ihren Bruder voller Mitgefühl an. »Ich weiß, wie dir zumute ist, Wolfi, aber ich kann dir nicht helfen. Ich sehe einfach keinen anderen Ausweg. Oder … warte mal … ich werde einfach mit Thomas darüber sprechen.«

»Mit deinem Mann?«

»Ja, Er hat das Geld bestimmt. Außerdem ist er Rechtsanwalt, er könnte …«

Wolfi stand auf. »Niemals habe ich gedacht«, sagte er voll Verachtung, »daß du so gemein sein könntest.«

»Aber Wolfi! Ich…«

»Warum lügst du mich an? Sag mir doch einfach, daß du mir nicht helfen willst, du bist ja nicht dazu verpflichtet.« Er griff in Ginas Handtasche, die halboffen auf der Küchenbar lag, holte ein Bündel Lire-Scheine daraus hervor, blätterte es vor sie hin. ‘

»Ist das da etwa kein Geld?!«

»Aber Wolfi, das sind doch die Lire, die Thomas übrig behalten hat, die muß ich auf sein Konto einzahlen, die gehören mir doch gar nicht.«

»Quatsch. Es liegt dir bloß nichts mehr an mir.«

»Ich kann doch nicht einfach etwas von diesem Geld nehmen«, sagte sie verzweifelt, »wie soll ich Thomas denn erklären …« ‘

»Überhaupt nicht. Du bist ja seine Frau. Was ihm gehört, gehört auch dir … hast du etwa Angst vor ihm?« Er packte sie bei den Schultern. »Gina, du mußt mir das Geld geben … du mußt! Wenn diese Geschichte herauskommt, das würde ich nicht überleben … glaub bloß nicht, daß ich Witze mache. Da käme ich einfach nicht drüber weg.«

Gina kämpfte mit sich. »Gut«, sagte sie endlich, »du sollst das Geld haben!«

[19]

Frau Miller lag mit geschlossenen Augen in dem schmalen eisernen Krankenhausbett, als ihr Sohn eintrat, einen, Strauß langstieliger flammender Gladiolen in der Hand.

Thomas hatte schon den Mund geöffnet, um sie zu begrüßen, mit jener gekünstelten, leicht verlegenen Heiterkeit, aber er brachte plötzlich kein Wort mehr über die Lippen. Zum erstenmal erkannte er, daß seine Mutter eine alte, vom Leben erschöpfte Frau war.

Sie war nicht allein in dern schmucklosen Zimmer; eine sehr dicke rotgesichtige Frau und ein noch kindhaft junges Mädchen lagen im selben Raum. Die Luft war dick von den Ausdünstungen der Kranken und dem scharfen Geruch der Medikamente.

Frau Miller war nicht mehr die überlegene, gepflegte, selbstsichere Dame, als die er sie sein ganzes Leben gesehen hatte. Aller Schmelz, den Kosmetik und Gymnastik einer alternden Frau verleihen können, war von ihr abgefallen. Das Haar hatte seinen sanften bläulichen Schimmer verloren, wirkte grau und stumpf, das Gesicht klein, spitz und eingefallen, die Lippen waren ein dünner, farbloser Strich.

»Mutter«, sagte er mühsam.

Sie schlug die Augen auf, ihr Blick schien aus weiter Ferne zu kommen, sich nur schwer zurecht zu finden.

»Mutter«, sagte er noch einmal, »erkennst du mich denn nicht? Ich bin’s, Thomas!«

»Doch«, sagte sie mit dem herzzerreißenden Versuch eines Lächelns, »ich sehe dich schon … nur, ich dachte, es wäre ein Traum!«

Er legte die Gladiolen auf;ihren Nachttisch, setzte sich auf den Bettrand, streichelte ihre zerbrechliche Hand. »Ich bin’s wirklich, Mama!«

»Aber, ich dachte … oder habe ich mir das nur eingebildet?« Sie sah ihn ratlos an. »Mein Kopf es ist alles drinnen ein bißchen durcheinander geschüttelt. Warst du nicht … auf einer großen Reise?«

»Auf meiner Hochzeitsreise.«

»Also doch. Ich wußte doch, daß da irgend etwas war.« Ihre Finger krampften sich plötzlich um seine Hand, in ihren Augen stand Entsetzen. »Thomas, mein Junge«, flüsterte sie eindringlich, »sei ehrlich zu mir …« Sie versuchte sich aufzurichten. »Muß ich sterben?«

Er drückte sie sanft wieder in ihre Kissen zurück. »Aber nein, Mama, was sind das für dumme Gedanken! Ich habe eben mit Professor Bender gesprochen. Es ist alles in Ordnung so gut, wie es den Umständen nach nur sein kann.«

»Du lügst«, sagte sie wimmernd. »Ihr lügt alle! «

»Bestimmt nicht, Mama, du tust mir Unrecht. Ich begreife, daß du dich sehr elend fühlst, aber du solltest trotzdem nicht solche Sachen sagen.«

»Du weißt es genau!« sie sah ihn an, und in ihren Augen flackerte Angst. »Sonst wärst du doch gar nicht gekommen, wenn du nicht wüßtest, daß ich …«

Er unterbrach sie, sagte fast erleichtert: »Da sieht man mal wieder, daß du mich ganz falsch einschätzt. Angela rief mich in Rom an und teilte mir mit, daß du im Treppenhaus gestürzt seist und bewußtlos wärest … das warst du doch, nicht wahr?«

Sie nickte, beobachtete voller Mißtrauen jede Regung seines Gesichtes.

»Daraufhin habe ich sofort beschlossen, nach Düsseldorf zu fliegen du kannst Gina fragen. Ich bin bei diesem Entschluß auch geblieben, als ich erfuhr, daß du außer Gefahr bist. Bildest du dir etwa ein, du mußt erst im Sterben liegen, damit ich mich um dich kümmere?«

»Du hast mich aus der Wohnung gedrängt …«

»Aber, aber, Mama! letzt bist du wirklich ungerecht! Ich habe dich ja gebeten zu bleiben … du warst es, die fort wollte.«

»Du hättest dieses Mädchen nicht heiraten dürfen.«

Er zog seine Hand zurück. »Aber ich habe es getan«, sagte er, härter, als er selber gewollt hatte, »und ich bereue es keinen Augenblick. Es ist unfair von dir, wenn du deinen Unfall und meine Heirat in einen Zusammenhang miteinander bringen willst unfair und unlogisch. Das eine hat mit dem anderen nicht das Geringste zu tun.« Er beugte sich zu ihr nieder, sagte sehr herzlich: »Mama! Du weißt doch, wie sehr wir dich lieben. Du hast uns durch deinen Sturz einen schönen Schrecken eingejagt, mach es bitte nicht noch schlimmer.«

Sie schwieg eine ganze Weile, sagte dann mit jenem Unterton von Spott in der Stimme, den er in gesunden Zeiten so gut bei ihr gekannt hatte: »Ich bin wohl sehr unausstehlich, mein Junge?«

»Nun, leicht machst du es uns gerade nicht.«

»Ich weiß. Aber ich kann nichts dafür. Ich fühle mich … sehr schlecht. Vielleicht liegt es daran, daß ich soviel Blut verloren habe. Und dann … mein Kopf …«

»Stören dich die Blumen so nahe beim Bett? Sie duften ziemlich stark. Ich werde hach der Schwester klingeln …«

»Tu’s nicht«, sagte sie rasch, »ich kenne diese Schwestern. Sie würden bestimmt wieder sagen, daß ich nicht soviel reden soll. Das sagen sie immer. Sie würden dich nach Hause Schicken. Und ich möchte doch, daß du noch bleibst.«

»Ja, Mama.«

Er drückte ihre kraftlose Hand, und sie sahen sich an, voller Liebe, voller Erschütterung und doch mit wachsender Befangenheit. Sie wußten auf einmal nichts mehr miteinander zu reden.

»Wie geht es Gina?« fragte Frau Miller endlich.

»Danke. Alles in Ordnung.«

»Hast du sie mitgebracht?«

»Nein. Sie ist in München.«

»Ist sie sehr wütend auf mich?«

»Wütend? Warum sollte sie wütend sein?«

»Weil ich euch die Hochzeitsreise verdorben habe.«

»Du schätzt Gina ganz falsch ein, Mama. Sie ist ein guter Mensch, sie sie war ganz dafür, daß ich zu dir fuhr. Sie hat sofort begriffen, daß ich sonst keine ruhige Minute gehabt hätte.«

»Grüß sie von mir.«

»Ja, Mama.«

»Wie lange kannst du bleiben?«

Er zögerte. »In der Kanzlei habe ich mir ja frei genommen«, sagte er, »aber bitte, sei mir nicht böse, Mama …ich möchte Gina doch nicht länger als möglich allein lassen, noch dazu in der fremden Wohnung. Unsere Wohnung ist ja fremd für sie, und dann … sie kennt in München keinen Menschen.« Mit einem raschen Lächeln fügte er hinzu: »Du siehst, von sterben ist bei dir keine Rede … sonst würde ich natürlich bleiben.«

»Es ist sehr lieb, daß du gekommen bist.«

Wieder schwiegen sie lange.

»Du fühlst dich doch wohl bei Angela?« fragte er dann.

»Oh, ja«, sagte sie dann, aber es klang nicht sehr überzeugend, »ganz bestimmt.«

»Ich habe mich nur gewundert, daß sie dich auf zweite Klasse hat legen lassen. Ich habe übrigens schon mit den Leuten von der Verwaltung gesprochen. In den allernächsten Tagen kriegst du ein Einzelzimmer.«

»Aber das ist doch nicht nötig…«

»Ich finde doch. Möglicherweise mußt du noch Wochen im Krankenhaus bleiben … du siehst, ich beschönige nichts … da sollst du es wenigstens so bequem und angenehm haben, wie es wirklich möglich ist.«

»Aber die Versicherung zahlt doch nur …«

»Darauf kommt es nicht an. Den Rest kratzen wir auch noch irgendwie zusammen.«

»Du bist ein guter Junge«, sagte sie und drückte seine Hand.

Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich fürchte, ich muß jetzt gehen, Mama, sonst mache ich mich hier unbeliebt. Fünf Minuten hatte mir der Professor zugestanden, und jetzt bin ich schon über eine Viertelstunde hier …« Er stand auf, beugte sich über sie und drückte einen K(uß auf ihre Stirn, die sich kühl und ein wenig feucht anfühlte.

»Mußt du wirklich …?« fragte sie bedauernd.

»Ich komme heute nachmittag wieder, ganz bestimmt.«

Er richtete sich auf. »Soll ich jetzt nach der Schwester klingeln?«

»Ach nein. Nicht extra wegen der Blumen, die Schwestern haben so viel zu tun. Stell sie nur vorne ins Waschbecken und laß Wasser ein, so machen es alle.« Als er sich schon zum Gehen wandte, sagte sie noch einmal: »Grüß Gina von mir … du wirst sie doch anrufen?«

»Ja, gleich wenn ich nach Hause komme. Von Angeles Wohnung aus.«

[20]

Wolfi Lowitzer war allein in der Wohnung, als das Telefon klingelte. Er war in der Küche und hatte Pellkartoffeln aufgesetzt, wie seine Schwester ihm aufgetragen hatte. Gina war auf die Bank gegangen, um die Lire auf das Konto ihres Mannes zu zahlen und 32 000 für ihren Bruder umzuwechseln.

Das Schrillen des Telefons irritierte den Jungen. Er wußte sehr gut, daß es Unsinn war, sich zu melden. Er mußte sich tot stellen, einfach so tun, als ob er nicht da wäre — aber plötzlich hielt er es nicht mehr aus.

Wenn es nun Gina war, die anrief? Wenn irgend etwas schief gegangen war? Wenn sie ihn brauchte?

Er lief ins Wohnzimmer und zum Schreibtisch, nahm den Hörer ab, sagte: »Hallo!«

Eine winzige Stille entstand, in der er die Atemzüge des anderen hören konnte.

»Hallo, wer ist denn da?« fragte er ungeduldig.

»Doktor Thomas Miller. Ich möchte meine Frau sprechen.«

Wolfi ließ den Hörer auf die Gabel fallen, als wenn er sich verbrannt hätte. Er stand mit hochrotem Kopf Und zusammengepreßten Lippen. Er spürte, wie das Blut ihm in den Schläfen pochte.

Ich Idiot, dachte er verzweifelt, ich Hornochse, ich Rindvieh!

Das Telefon schrillte wieder — in den Ohren des Jungen klang es gereizt, angriffslustig, bösartig.

Er zögerte eine Sekunde, dann drehte er sich um, lief in die Küche hinaus und schloß die Türe fest hinter sich.

Aber auch hier war die elektrische Glocke zu hören, und es nutzte nichts, daß er sich die Ohren zuhielt — er hörte es immerzu, äuch als sie tatsächlich schon längst verstummt war.

Er begriff, daß er etwas Törichtes angestellt hatte — er hätte sich niemals melden dürfen, und nachdem es geschehen war, hätte er den Hörer nicht einfach auf die Gabel knallen dürfen, sonderh erklären müssen — aber was? Daß er die Schule geschwänzt, daß er von seiner Schwester Geld verlangt hatte, daß sie auf die Bank gegangen war, um es ihm zu verschaffen — nein, das konnte er niemandem anvertrauen, am wenigsten seinem Schwager. Für ihn war Thomas Miller ein wildfremder Erwachsener, der es darauf angelegt hatte, ihm die Schwester zu entfremden. Er hatte nicht ein Fünkchen Vertrauen zu ihm.

Das schlechte Gewissen machte Wolfi zu jeder vernünftigen Überlegung unfähig. Er brachte es nicht einmal über sich, Gina, als sie eine Viertelstunde später zurückkam, von dem Zwischenfall zu erzählen. Er hatte inzwischen Pellkartoffeln gekocht und abgezogen, aber er verzichtete darauf, mit ihr zusammen zu essen.

»Hast du denn keinen Hunger?« fragte sie enttäuscht. »Das ist aber wirklich nicht nett, daß du mich jetzt einfach allein läßt«

Er drehte die Geldscheine, die sie ihm gegeben hatte, unruhig zwischen den Fingern. »Ich … ich möchte das erst in Ordnung bringen«, sagte er, »verstehst du …«

»Ja, natürlich. Aber essen könntest du doch vorher noch …«

Er schüttelte den Kopf. »Nö. Lieber nicht. Aber wenn du mir eine Zigarette mitgeben würdest … nur eine, ich möchte nicht damit auffallen.«

Sie gab sie ihm, und er steckte sie in die äußere Tasche seines Anoraks. »Tschüs«, sagte er verlegen, »dank auch schön …«

»Komm bloß nicht nochmal mit sowas«, sagte sie, »ich bin nicht deine Kinderschwester.«

»Keine Bange, sowas Blödes passiert einem nur zweimal im Leben einmal zum ersten und einmal zum letzten Mal!«

»Wollen wir’s hoffen.«

Gina hörte, wie die Wohnungstür und wenig später die Haustür hinter ihm zufiel. Sie hatte ein ungutes Gefühl dabei. Schon in dem Augenblick, in dem sie ihm das Geld gegeben hatte, hatte sie es bereut. Auf was hatte sie sich da bloß eingelassen!

Und doch wußte sie in ihrem innersten Herzen, daß sie, noch einmal vor dieselbe Entseheidung gestellt, genau so gehandelt hätte. Sie hatte, solange sie denken konnte, immer mit ihrem Bruder zusammen gehalten, gegen die Eltern, gegen die Kamerden, gegen eine feindliche Umwelt. Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Sie konnte ihn jetzt nicht einfach im Stich lassen, nur weil sie verheiratet war.

Aber sie konnte Thomas alles gestehen!

Bei diesem Gedanken atmete Gina auf. Natürlich, daß sie nicht gleich darauf gekommen war! Alles war ja ganz einfach. Sie würde ihren Mann unter dem Siegel der Verschwiegenheit ins Vertrauen ziehen. Bestimmt würde Thomas sie verstehen und bereit sein, den Eltern gegenüber reinen Mund zu halten.

Gina fühlte sich mit einem Mal viel besser. Sie begann leise vor sich hin zu singen. Dabei ging sie in die Küche, packte ihre Einkäufe aus — ein Pfund Butter, fünf Semmeln, fünf Eier, fünf Apfelsinen, Zucker, Büchsenmilch und eine Tafel Schokolade. Sie stellte den Eisschrank an, tat Butter, Eier, Apfelsinen und Büchsenmilch hinein, zog die Stime kraus, weil er immer noch ziemlich leer aussah.

Dann stellte sie eine Platte des elektrischen Herdes an, suchte lange, bis sie eine Pfanne fand, stellte sie auf, tat ein Stück Butter hinein und schnitt Kartoffeln dazu. Ein paar Minuten lang blieb sie geduldig neben dem Herd stehen, drehte die Kartoffelscheiben mit einem Messer wieder und wieder um. Aber dann dauerte es ihr zu lange. Sie hatte den Eindruck, als hätte sie schon eine Ewigkeit am Herd gestanden, ohne daß ihre Kartoffeln auch nur eine Spur von Bräune zeigten. Sie entschloß sich, zwischendurch etwas anderes zu tun.

Ihr fielen die Koffer ein. Sie hatte gestern abend nur die Anzüge und Kleider heraus gehängt. Jetzt war eine gute Gelegenheit, alles andere auszupacken.

Sie ging ins Wohnzimmer, kniete sich vor die geöffneten Koffer auf den Boden und begann die gebrauchte von der sauberen Wäsche zu sortieren. Zum erstenmal schien es ihr, als ob eine frühzeitig abgebrochene Hochzeitsreise auch etwas Gutes für sich hatte — der größte Teil aller Sachen war noch nicht benutzt und konnte, so wie er war, weggeräumt werden.

Nachdem Gina die schmutzige Wäsche ins Badezimmer gebracht und in die Waschmaschine gesteckt hatte, schleppte sie einen der halb geleerten Koffer nach dem anderen ins Schlafzimmer und begann einzuräumen. Es war ein wunderbares Gefühl, die eigenen und die Sachen ihres Mannes in den doppeltürigen, funkelnagelneuen Kleiderschrank zu ordnen, ein Nachthemd für sich selber, einen Schlafanzug für Thomas auf die Betten zu legen, Pantoffeln in die Nachtkästchen zu räumen, Cremedosen, Lidschminke, Lippenstift, Kamm und Bürste auf dem kleinen Toilettentisch mit dem dreiteiligen Spiegel zu ordnen.

Gina arbeitete vergnügt, mit heißen Wangen und leuchtenden Augen. Zwischendurch stellte sie das Radio an. Das Mittagskonzert dröhnte durch die kleine Wohnung.

Das erste Mal, als das Telefon klingelte, glaubte Gina sich getäuscht zu haben. Die Musik war so laut. Aber sie hob doch den Kopf und spitzte die Ohren — da, wieder!

Sie ließ alles stehen und liegen, raste ins Wohnzimmer, nahm den Hörer ab, meldete sich. »Thomas, du!?« rief sie begeistert. Sie hielt sich das freie Ohr zu, um besser verstehen zu können.

»Was ist denn bei dir für ein Lärm?« fragte er.

»Das Radio … entschuldige bitte!«

»Stell ab. Man kann ja sein eigenes Wort nicht verstehen.«

Gina legte den Hörer auf den Schreibtisch, lief zum Radioapparat, knipste ihn aus. »Bist du noch da?« fragte sie atemlos, nachdem sie den Hörer wieder aufgenommen hatte.

»Natürlich.«

»Wunderbar, daß du anrufst!« sagte sie. »Ich habe gestern den ganzen Abend …«

Er fiel ihr ins Wort: »Hast du Besuch?«

»Besuch? Ich?« fragte sie erstaunt. »Was sollte ich denn für einen Besuch haben?«

»Das frage ich dich.«

»Nein, ich bin ganz allein.«

»Aber du hattest Besuch.«

»Nein. Wie kommst du darauf?« Im Augenblick, wo sie es gesagt hatte, fiel ihr ein, daß er nur Wolfi gemeint haben konnte. Aber da war es schon zu spät.

»Ich habe schon einmal angerufen vor etwa einer Stunde…«

»Ich war einkaufen, Thomas«, sagte sie hastig, »und habe das Geld auf die Bank gebracht …«

»Du willst also behaupten, daß du gar nicht da warst?«

Sein Ton machte sie wütend. »Glaubst du, ich lüge?«

»Ich bin doch kein Idiot. Es hat sich ein Mann gemeldet, als ich vorhin anrief … und dann, als ich meinen Namen nannte, sofort abgelegt.«

»Das ist unmöglich«, sagte sie schwach.

»Wer war der Mann?!«

Auch wenn sie jetzt gesagt hätte: »Mein Bruder!« — er hätte ihr bestimmt nicht mehr geglaubt, oder er hätte eine große Untersuchung angestellt, bei der alles herausgekommen wäre.

Gina wußte nicht, wie sie sich verteidigen sollte, und so wählte sie instinktiv den Angriff. »Du scheinst sehr wenig Vertrauen zu mir zu haben«, sagte sie.

»Ich will die Wahrheit wissen!«

Gina holte tief Atem. »Thomas«, sagte sie, »bitte, nun nimm doch Vernunft an! Selbst wenn ein Mann hier in der Wohnung gewesen wäre … glaubst du, ich hätte ihn zum Telefon gehen lassen? So blöd kann doch wahrhaftig kein erwachsener Mensch sein. Oder bildest du dir ein, ich will dich absichtlich eifersüchtig machen? Großer Quatsch.«

»Es wird dir nicht gelingen, mir etwas auszureden, was ich mit eigenen Ohren gehört habe«, sagte er stur.

»Wahrscheinlich, weil du ein schlechtes Gewissen hast«, platzte sie heraus.

»Was!?«

»Weil du unsere Hochzeitsreise abgebrochen und mich einfach hier abgesetzt hast, darum!«

»Gina«, sagte er, »aber du weißt doch genau …«

»Daß deine Mutter verunglückt ist, ja! Und das tut mir furchtbar leid! Aber du hättest mich trotzdem nach Düsseldorf wenigstens mitnehmen können ich habe dich nicht gebeten, mich allein zu lassen! Wenn einer das Recht hat, dem anderen Vorwürfe zu machen, dann bin ich es!«

»Aber, Gina, ich dachte doch, du hättest begriffen … du wärst ganz einverstanden gewesen …«

»Du hast mich ja nicht ein einziges Mal gefragt!«

»Gina!«

»Wenn es doch wahr ist. Und jetzt wirfst du mir noch vor …also, das ist wirklich eine Gemeinheit …«

»Aber ich bitte dich, kannst du mir den erklären …«

»Nein! Und ich denke auch gar nicht daran! Entweder hast du Vertrauen zu mir oder du hast es nicht! Mich zu verdächtigen, bloß weil du eine falsche Nummer gewählt hast…«

»Falsche Nummer? Wie kommst du denn darauf?«

»Weil sich ein Mann gemeldet hat! Und hier bei mir ist nie ein Mann gewesen!«

Eine Weile blieb es still, dann sagte Thomas mit veränderter, sehr beherrschter Stimme: »Also gut. Ich habe dich nur angerufen, um dir zu sagen … ich werde zusehen, daß ich einen Schlafwagenplatz bekomme. Dann bin ich morgen früh in München.«

»Oh, Thomas, wie wundervoll!« rief sie begeistert.

»Und deine Mutter?«

»Es ist alles in Ordnung. Bis morgen dann!«

Sie wollte noch etwas sagen, aber er hatte schon eingehängt.

Aus der Küche drang ein brenzliger Geruch. Sie lief hin. Beißender Rauch erfüllte den ganzen Raum. Sie öffnete das Fenster und die Türe zum Küchenbalkon, warf dann erst einen Blick auf die Pfanne. Die Bratkartoffeln waren schwarz verbrannt, glichen Kohlenstückchen.

Gina schob die Pfanne auf eine kaltePlatte, drehte den Schalter ab. Sie regte sich nicht auf. Der Appetit auf Bratkartoffeln war ihr sowieso vergangen.

Sie suchte eine Weile herum, bis sie eine Zigarettenpackung auf dem Wohnzimmertisch entdeckte, zog eine Zigarette heraus, steckte sie zwischen die Lippen und zündete sie an.

Ohne es selber zu merken, seufzte sie tief.

Sie hatte Thomas angelogen, zum ersten Mal, seit sie sich kannten. Sie hatte gelogen, ganz ohne Sinn und Verstand; denn tatsächlich war es doch durchaus kein Verbrechen, daß sie ihren eigenen Bruder in der Wohnung gelassen hatte.

Wolfi, dieser Hornochse! Warum hatte er ihr bloß nicht gesagt, daß Thomas während ihrer Abreise angerufen hatte? Sie hätte sich gleich denken können, daß er ein schlechtes Gewissen hatte, als er so schnell abschwirrte. — Wenn er sich mal wieder blicken läßt, dachte sie wütend, dem werde ich aber mal tüchtig Bescheid stoßen! Mich in solch eine Situation zu bringen! — Sie ballte unwillkürlich die Fäuste, obwohl sie wußte, daß aller Zorn auf den Bruder die Dinge nicht mehr besser machen konnte.

Wenn sie geahnt hätte, daß Thomas etwas wußte, hätte sie natürlich sofort die Wahrheit gesagt. Aber sie hatte geglaubt, Thomas wollte nur auf den Busch klopfen und außerdem — sie hatte im Moment Wolfis Besuch selber total vergessen gehabt.

Nun war alles verfahren. Thomas glaubte ihr nicht, und wenn dazu noch die Sache mit dem Geld aufkam — nicht auszudenken!

Gina rauchte nachdenklich und nervös, wobei sie sich zugeben mußte, daß ihr die Zigarette überhaupt nicht schmeckte. Bei den Eltern zu Hause hatte sie immer nur heimlich rauchen dürfen — in der Schule auf der Toilette, mit ihren Freundinnen auf einer versteckten Bank am See, abends auf ihrem Zimmer, wenn sie sicher war, daß niemand mehr heraufkommen würde — damals war es ihr immer ein Hochgenuß gewesen. Aber jetzt, da niemand mehr da war, der es ihr verbot, begann auch das Rauchen seinen Reiz zu verlieren.

Gina war sehr unglücklich.

Sie begriff, daß es nur eine Möglichkeit gab, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen — Thomas mußte die Wahrheit erfahren, die ganze Wahrheit.

Aber wie? Am Telefon konnte sie es ihm unmöglich sagen, er würde es falsch verstehen. Morgen, wenn er wieder zu Hause war? Sie fühlte, wie sie schon bei dem Gedanken an eine solche Aussprache der Mut verließ.

Das Beste würde sein, ihm zu schreiben. Aufsätze waren immer ihre Stärke gewesen. In einemBrief traute sie sich zu, alle Dinge richtigzustellen und so zu berichten, daß er begreift, daß sie keine Schuld traf.

Aber selbst wenn sie jetzt sofort schrieb, konnte der Brief ihn unmöglich, noch in Düsseldorf erreichen. Es war also sinnlos.

Gina stand auf. Sie spürte einen dicken Kloß in der Kehle. Sekundenlang überfiel sie der panische Wunsch, ihre Koffer zu packen und zurück zu ihren Eltern zu fahren.

Mit hängenden Schultern ging sie in die Küche, kippte den Inhalt des Aschenbechers in den Mülleimer. Sie suchte sich aus einer der Küchenschubladen ein stumpfes Messer und begann, die verbrannten Kartoffeln aus der Pfanne zu kratzen. Das war nicht gerade eine Arbeit, bei der sich ihre Laune bessern konnte.

Dann klingelte das Telefon.

Sie stellte die Pfanne aus der Hand, rannte ins Wohnzimmer, nahm den Hörer ab und meldete sich atemlos.

»Ich bin’s noch einmal Thomas«, sagte die Stimme ihres Mannes am anderen Ende der Leitung.

»Du?!«

»Ja. Ich möchte mich entschuldigen. Es scheint, ich habe dir vorhin Unrecht getan. Wahrscheinlich habe ich tatsächlich eine falsche Nummer gewählt.«

»Oh, Thomas, und ich …«

»Ich begreife, daß du dich aufgeregt hast. Ich hätte sowas nicht denken sollen.«

»Bestimmt nicht, Thomas, glaube mir du hast mir wirklich Unrecht getan.«

»Ich weiß, Kleines … tut mir leid. Entschuldige bitte.« Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: »Das kommt bloß daher, daß ich dich so sehr liebe!«

Nachher, als das Gespräch zu Ende war, brach Gina in Tränen aus. Sie weinte vor Erleichterung und vor Glück.

Thomas glaubte ihr, Thomas liebte sie! Wie gut, daß sie ihm nichts gestanden hatte! Nun brauchte er nie ein Wort von der ganzen blöden Geschichte zu erfahren. Das mit den fehlenden Liren, das würde sie auch noch in Ordnung bringen — Hauptsache war, daß Thomas Vertrauen zu ihr hatte.

Sie liebte ihn so sehr.

[21]

Angela Herrmann, Thomas Millers verheiratete Schwester, trat, das Kaffeetablett in beiden Händen, in das Wohnzimmer ihrer kleinen Neubauwohnung und lächelte Thomas, der sich im Schaukelstuhl niedergelassen hatte, mechanich zu.

»Na, alles in Ordnung zu Hause?« fragte sie, während sie Tassen, Untertassen, Zuckerdose und Sahnekännchen auf bunten Sefs anordnete, und ohne eine Antwort von Thomas abzuwarten, fügte sie in einem Atemzug hinzu: »Der Kaffee ist in fünf Minuten so weit.«

»Danke«, sagte Thomas, ohne selber zu wissen, ob sich diese Amwort auf den ersten oder den zweiten von Angelas Sätzen bezog.

Angela dachte nicht darüber nach, sie war ganz mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. »Der Doktor sagt, die Kinder dürfen morgen aufstehen, wenn sie heute den ganzen Tag ohne Fieber bleiben … na, du kannet dir denken, was das für eine gute Nachricht für mich ist! Als es ihnen sehr schlecht ging, war es schon schlimm genug…aber jetzt, wo sie sich allmählich besser fühlen, ist es einfach nicht mehr zum Aushalten.« Sie zündete die Kerze in dem Küpferstövchn an, sagte, während sie die Deckplatte wieder auflegte: »Na, hoffentlich lassen sie uns wenigstens in Ruhe Kaffee trinken. Jedenfalls habe ich es dunkel im Kinderzimmer gemacht und gedroht …«

Wie auf’s Stichwort wurde eine helle fordernde Kinderstimme laut, und Angela unterbrach sich. »Entschuldige mich bitte einen Moment, Thomas!« Sie eilte aus dem Zimmer.

Wenige Minuten später kam sie, die Kaffeekanne in der Hand, ins Wohnzimmer zurück. »Nichts von Bedeutung«, sagte sie, »Angi hat sich nur eingebildet, daß sie aufs Klo müßte, aber als sie darauf saß, konnte sie natürlich nicht. Ich hoffe nur, daß beide tatsächlich einschlafen werden, die Krankheit hat sie doch sehr geschwächt.«

Angela setzte sich Thomas gegenüber, goß sich selber und ihrem Bruder Kaffee ein, stellte die Kanne auf das Stövchen, bot Zucker und Sahne an.

»Ich bin übrigens ganz deiner Meinung, daß es angenehmer für Mutter ist, im Krankenhaus ein Zimmer für sich zu haben, aber ich wußte nicht, ob die Versicherung …«

»Das ist doch in so einem Fall ganz egal. Notfalls müssen wir eben etwas drauflegen«, sagte Thomas nervös.

»Wenn du dir das erlauben kannst …«

»Du etwa nicht?«

»Seit Angi auf die Welt gekommen ist, arbeite ich nicht mehr. Ich verdiene also seit Jahren keinen Pfennig.«

»Ach, hör doch auf damit. Glaubst du, ich weiß etwa nicht, wie gut Otto sich steht? Du hast mir doch selber gestern abend erzählt, daß ihr ein Grundstück gekauft habt? …«

»Ja, wir wollen bauen. Und gerade darum haben wir keinen Pfennig über« Sie griff in die Zigarettenschachtel, die Thomas ihr anbot. »Für das neue Haus habe ich mir sogar das Rauchen abgewöhnt … ich rauche jetzt nur noch zu besonderen Gelegenheiten, das heißt, wenn ich wo eine Zigarette schnorren kann.«

»Du hast dir immer schon in der Rolle der Märtyrerin gefallen.«

»Und du hast es von jeher geliebt, den Großzügigen auf anderer Leute Kosten zu spielen.« Ihr Ton war unversehens sehr gereizt geworden; sie merkten es beide gleichzeitig, blickten sich fast erschrocken an.

»Entschuldige, bitte, Thomas, ich habe es nicht so gemeint …« versicherte Angela, »warum muß man bloß immer seinen nächsten Menschen gegenüber so ekelhaft sein?«

»Weil die Distanz fehlt«, sagte er trocken. »Du willst dich also nicht an den eventuellen Mehrkosten beteiligen?«

»Ich kann es nicht.«

»Gut. Bitte. Von mir aus. Dann werden Gina und ich uns eben einschränken müssen.«

»Tut mir leid, Thomas …«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Er nahm einen Schluck Kaffee, stand auf, und begann, die Hände auf dem Rücken, in dem langgestreckten Raum auf und ab zu gehen.

»Thomas«, sagte sie.

»Ja?« Er blieb vor ihr stehen.

»Es gibt noch etwas, das ich mit dir besprechen möchte. Ich weiß, es ist vielleicht nicht eben der günstigste Augenblick …aber wer weiß, wann wir uns wiedersehen.«

»Los«, sagte er ungeduldig, »mach’s nicht so spannend!«

»Möchtest du dich nicht, bitte, wieder setzen? Deine Herumlauferei ist nicht gerade sehr angenehm für mich.«

Er ließ sich wieder in den Schaukelstuhl sinken. »Jetzt zufrieden?« Sie drückte ihre Zigarette aus, goß sich eine zweite Tasse Kaffee ein, nahm Zucker und Sahne — alles sehr bedachtsam mit dem kaum verborgenen Wunsch, Zeit zu gewinnen. »Ich möchte mit dir …über Mutter sprechen!« sagte sie schließlich.

»Der Arzt sagt …«

Sie unterbrach ihn. »Das meine ich nicht. Sicher wird sie wieder ganz gesund, daran zweier ich nicht … aber was dann?«

»Ich verstehe dich nicht …«

Sie nahm sich unaufgefordert eine zweite Zigaretteh;. wartete nicht, bis er ihr Feuer gab, sondern bediente sich selber. »Ich habe, ehrlich gestanden, nicht das Gefühl gehabt, daß sie sich bei uns sehr wohl gefühlt hat.«

»Wieso nicht? Mir hat Mamaimmer sehr sehr zufrieden geschrieben.«

»Möglich. Aber ich glaube nicht, daß sie es wirklich war.« Angela beugte sich vor und sah ihren Bruder eindringlich an. »Sieh mal, Thomas, was hat sie denn schon hier in Düsseldorf? Alle ihre Bekannten, ihre alten Freundinnen, die Geschäftsleute, die sie kennt, leben in München … aber das ist noch nicht das Schlimmste. Du siehst ja selber, wie klein unsere Wohnung ist. Wir konnten ihr nur die Kammer einräumen … eine Kammer für Mama! Dazu ist das ganze. Hatis so hellhörig und …«

»Aber ihr wollt ja sowieso bauen«, sagte er, »euer Aufenthalt hier ist also nur ein … Übergang.«

Sie überhörte seinen Einwurf. »Thomas, verstehst du denn nicht, wie quälend das alles ist. Für meine Familie und für Mama? Die Kinder müssen dauerrid still sein, sozusagen auf Zehenspitzen gehen, um die Großmutter nicht zu stören wenn wir abends Gäste haben, Menschen unseres Alters, ja, wie können wir da Mama dazu einladen? Tun wir es, ist der ganze Abend verdorben, denn sie paßt einfach nicht dazu tun wir es nicht, ist es noch schlimmer. Du glaubst doch nicht, es könnte irgendeine Stimmung aufkommen, wenn wir wissen, daß Mama in ihrer Kammer sitzt und grollt? Wenn sie aus dem Krankenhaus zurückkommt, wird alles noch schlimmer, denn dann wird sie doch bestimmt pflegebedürftig sein … und wer soll sich kümmern? Ich etwa? Ich habe mit dem Haushalt und den Kindern wahrhaftig genug zu tun. Bis jetzt konnte sie wenigstens einkaufen gehen und mich so ein bißchen entlasten, aber jetzt, nachdem sie im Treppenhaus gestürzt ist…«

Er unterbrach seine Schwester, fragte kalt: »Was willst du eigentlich, Angela? Mama abschieben? Wohin?«

»Nun, es gibt doch sehr nette … na, wie soll ich sagen … Institute …«

»Altersheime meinst du wohl.«

»Aber nein! Doch so etwas nicht! Ich stelle mir ein … ein nettes Damenstift vor. In Golzheim ist zum Beispiel eines … wunderbar, da würde Mama sich bestimmt wohl fühlen. Mit allem Komfort und sehr reizenden alten Damen.«

»Hast du schon mal mit Mutter darüber gesprochen?«

»Nein.«

»Warum erzählst du es mir dann? Das ist eine Sache, die nur Mama allein entscheiden kann.«

Angela nahm einen langen Zug aus ihrer Zigarette. »Thomas«, sagte sie, »du warst immer Mamas Liebling! Nein, das soll kein Vorwurf sein, wirklich nur eine Feststellung. Ich kann nicht mit ihr darüber sprechen. Bei mir würde sie es sofort in den falschen Hals kriegen. Tu du es, Thomas bitte, tu es für mich!«

»Nein«, sagte er entschlossen, »ich hätte dir gerne geholfen. Angela … aber das kann ich nicht.«

»Bist du zu feige?«

»Nein, ich halte es einfach für falsch. Mama soll nicht in ein Altersheim bitte, nenn es Damenstift, aber es ist doch im Prinzip dasselbe! Solange wir leben, sollte sie so etwas wirklich nicht nötig haben.«

»Bitte, von mir aus. Aber spiel nicht nur den Edelknaben …tu etwas! Hol Mama nach München zurück falls deine junge Frau damit einverstanden ist.«

»Bildest du dir etwa ein, ich müßte Gina deswegen um Erlaubnis fragen?«

»Müssen vielleicht nicht. Aber ich an deiner Stelle würde das schon tun. Die Hauptbelastung bei so einem Arrangement trägt ja doch immer die Hausfrau. Ihr Männer seid immer unterwegs … was wißt ihr denn schon!«

[22]

Für die Rückreise nach Garmisch hatte der junge Wolfgang Lowitzer — dank Ginas Hilfe — den Zug nehmen können.

Er traf eine halbe Stunde vor Ankunft des Bummelzuges ein, mit dern die Schüler am Samstag mittag aus Traunstein heimzukehren pflegten. Da er seine Angelegenheit mit Frieder Ullmann in Ordnung bringen und außerdem vermeiden wollte, durch eine vorzeitige Heimkehr die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu erwecken, bummelte er auf dem Bahnhofsgelände herum, rauchte im Wartesaal seine Zigarette, die er sich bis jetzt aufgespart hatte, holte sich seine Schulmappe, die er in der Frühe bei einem Mädchen am Bahnhofsbüffet, das er von frühester Kindheit her kannte, zur Aufbewahrung gegeben hatte. Als der Schülerzug einlief, mischte er sich so unauffällig wie möglich unter die herausströmenden Jungen und Mädchen.

Frieder Ullmann kam, wie fast immer, allein. Er war nicht beliebt bei seinen Kameraden — warum, hätte wohl niemand genau zu sagen gewußt, man mochte ihn einfach nicht. Ullmanns Eltern waren erst vor drei Jahren zugezogen, er was als letzter in eine geschlossene Klassengemeinschaft gekommen, er sprach ohne den bayrischen Anklang der anderen — das allein genügte den Jungen, ihn abzulehnen. Ullmann, weit davon entfernt, sich um Sympathie zu bemühen, versuchte sich durch ein besonders herausforndes Auftreten und boshaften Witz dafür zu rächen. Er war ein glänzender Schüler, und auch das verübelte man ihm.

Als Wolfi Lowitzer ihn jetzt wenige Schritte vor sich hergehen sah, klein und geschmeidig, mit hochgezogenen Schultern, die ihn selbst von hinten arrogant erscheinen ließen, fühlte er die Wut in sich hochsteigen. Er war wütend auf Frieder Ullmann, weil er seinetwegen in eine solch unangenehme Klemme geraten war, gab innerlich - dem anderen die Schuld für den eigenen Unfall.

Er schritt rascher aus, um Ullmann einzuholen, legte von hinten, ohne ihn anzureden, die Hand auf seine Schulter und spürte mit Genugtuung, wie er zusammenzuckte.

Ullmanns leichtes Erschrecken verwandelte sich in Sekundenschnelle wieder in seine gewohnte spöttische Überlegenheit. »Lowitzer du!« sagte er und musterte den Klassenkameraden mit hochgezogenen Augenbrauen. »Na, alles in Ordnung?«

»Du wirst lachen … ja.«

»Dein Glück.«

Wolfi holte die zusammengefalteten Scheine aus der Brusttasche seines Anoraks, sagte: »Hier ist das Geld. Aber ich brauche eine Quittung.«

»Zu was?«

»Ich möchte nicht zweimal bezahlen müssen.«

»Sie einmal an!« Ullmann grinste. »Du machst dich!« Er öffnete seine Schulmappe, riß eine leere Seite aus dem Mathematikheft, schraubte seinen Kugelschreiber auf. »Also was soll ich schreiben?«

»D-Mark einhundertsiebenundachtzigfünfzig …soviel war es doch, nicht wahr? … zur Reparatur meines Mopeds erhalten zu haben bescheinigt Unterschrift und Datum.«

»Wenn’s weiter nichts ist! Bück dich mal, daß ich auf deinem Buckel schreiben kann.«

Wolfi tat es. »Na, vielleicht könntest du noch hinzufügen … damit sind meine sämtlichen Ansprüche an Wolfgang Lowitzer erfüllt.«

»Bitte, von mir aus.« Frieder Ullmann schrieb. »Man soll mir nicht nachsagen können, daß ich kleinlich bin.« Er hielt Wolfi den ausgeschriebenen Text unter die Nase. »So in Ordnung?«

Wolfi überflog ihn. »Hm«, sagte er, »kannst du wechseln?«

»Gib her!«

Wolfi reichte Ullmann die Scheine. Es waren, nach Abzug der Eisenbahnkarte, noch 190 DM.

»Ich weiß nicht, was du willst!« Ullmann steckte das Geld gelassen ein. »Das stimmt doch genau!«

»Aber …« Wolfi schnappte nach Luft.

»Der Rest ist Schmerzensgeld«, sagte Ullmann lächelnd, »… oder Schweigegeld, wenn dir das lieber ist.«

Wolfi stieg das Blut zu Kopf, er ging mit geballten Fäusten auf den anderen los. »Du … du, Schuft! Du gemeiner …«

Ullmann wich keinen Schritt. »Vorsicht, Lowitzer«, sagte er kalt, »du möchtest doch wohl nicht, daß alle Welt auf unseren kleinen Handel aufmerksam wird … oder? Ich kann jeder Zeit erklären, weshalb ich das Geld von dir verlangen mußte … aber du? Ich möchte wetten, du kannst noch nicht einmal sagen, woher du es hast.«

»Glaubst du etwa ich habe es geklaut?«

»Wahrscheinlich. Aber reg dich nicht auf. Mich interessiert das nicht. Ich bin kein Spitzel.« Ullmann weidete sich an Wolfis Zorn. »Übrigens, fast hätte ich es vergessen … du kannst dich zu Hause auf. einiges gefaßt machen. Dein Vater wollte dich von der Schule abholen, und da habe ich ihm natürlich sagen müssen, daß du heute gar nicht da warst. Am besten denkst du dir gleich eine plausible Erklärung aus.«

»Und das sagst du mir erst jetzt!?«

»Na klar. Wie ich dich kenne, hättest du versucht, mit dem bißchen Geld in der Tasche auf und davon zu gehen …vor dieser Blamage wollte ich dich bewahren. Sei dankbar!«

Frieder Ullmann grüßte ironisch mit erhobener Hand, wandte sich auf dem Absatz um und schritt, die Hände in den Hosentaschen, mit hochgezogenen Schultern gelassen davon. Zurück blieb Wolfi Lowitzer, wütend, verzweifelt und völlig durcheinander.

Am liebsten wäre er noch in dieser Minute auf und davon gegangen, hätte der Heimatstadt, dem Elternhaus, der ungeliebten Schule ein für allemal den Rücken gekehrt. Aber ein Rest von Vernunft hielt ihn vor diesem letzten Schritt zurück. Ohne Geld würde er kaum weit kommen, und er kannte seinen Vater. Da er jetzt schon wußte, daß er nicht in der Schule gewesen war, würde er bestimmt noch diesen Nachmittag die Polizei alarmieren, wenn er nicht rechtzeitig nach Hause kam.

Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf den Heimweg zu machen und es wieder einmal mit sturem Leugnen zu versuchen, eine Taktik, die von ihm und seiner Schwester in der Vergangenheit oft mit Erfolg angewandt worden war. Eine Erklärung oder gar Entschuldigung für sein Schuleschwänzen wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen.

»Hallo, Mammutschka«, sagte er mit gespielter Ahnungslosigkeit und warf seine Schulmappe unter die Flurgarderobe, als Frau Lowitzer ihm die Haustüre öffnete, »hast du mir schon was wann gemacht? Ich habe einen Mordshunger!«

»Wo warst du?«

»Ich?« Wolfi riß die Augen auf. »In der Schule natürlich. Wo denn sonst?«

»Eben das würde deinen Vater interessieren. Zieh dir den Anorak aus und geh hinein. Vater wartet auf dich.«

Wolfi tat verwirrt. »Sag mal … was ist denn eigentlich los? Du bist so komisch. Habe ich etwa was ausgefressen?«

»Geh nur hinein. Du wirst es schon erfahren.«

Dr. Lowitzer erhob sich hinter seinem Schreibtisch, als der Junge eintrat, kam ihm ein paar Schritte entgegen.

»Hallo, Vater!« Wolfis Stimme klang beklommen.

»Komm, setz dich!« Dr. Lowitzer wies seinem Sohn einen der Sessel an dem runden Tisch an. »Ich denke, du hast mir einiges zu erzählen.«

»Ich …dir?!«

»Ja, Wolfi. Ich hoffe es jedenfalls.«

»Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst … auch Mutter war schon so komisch … was ist denn los?«

»Weißt du es wirklich nicht?«

Wolfis Gesicht hellte sich auf. »Bist du etwa wütend wegen dem blöden Witz den der Ullmann gemacht hat? Er hat dir gesagt, daß ich heute nicht in der Schule war, wie? Aber das hast du doch nicht geglaubt.«

»Doch, Wolfi«, sagte Dr. Lowitzer ruhig.

»Doch? Aber, Vater …«

»Du bist ein glänzender Komödienspieler, Junge!« Dr. Lowitzer schnitt bedächtig die Spitze seiner hellen Zigarre ab. »Aber du verschwendest dein Talent, oder anders ausgedrückt, du kämpfst auf verlorenem Posten. Ich gebe dir noch eine letzte Chance ich hoffe, du wirst dich doch noch entschließen, die Wahrheit zu sagen.«

Aber Wolfi hatte sich schon zu sehr verrannt; er konnte nicht mehr zurück »Warum sollte ich denn lügen?« sagte er dumm.

Dr. Lowitzer hatte sich seine Zigarre angezündet, paffte ein paar runde, bläuliche Wölkchen in die Luft. »Ich habe mit deinem Klassenlehrer gesprochen«, sagte er beherrscht, »du warst nicht in der Schule.«

Wolfi schwieg, zog mit der Schuhspitze das Muster des Teppichs nach.

»Möchtest du dich nicht jetzt endlich zu einem Geständnis bequemen?«

»Ich weiß nicht, was ihr alle gegen mich habt«, sagte Wolfi mürrisch.

Mit Dr. Lowitzers Geduld war es zu Ende. Er sprang auf, warf die eben erst angezündete Zigarre in die Aschenschale, brüllte: »So, das weißt du nicht?! Du schwänzt die Schule und weißt nicht, weshalb ich dich dafür zur Rechenschaft ziehen muß?!«

»Nein, wirklich nicht, Vater«, sagte Wolfi unsicher, »ich weiß gar nicht, was du von mir wissen willst es ist einfach so passiert.«

»Passiert?«

»Ja. Sowas kann doch mal vorkommen. Heute früh bin ich zu spät zum Zug gekommen, und weil ich es doch nicht mehr rechtzeitig schaffen konnte, habe ich mir gedacht … also, ich hatte einfach mal keine Lust, zur Schule zu gehen.«

»Und wo hast du den ganzen Vormittag gesteckt?«

»Och, mal hier, mal da … genau weiß ich das gar nicht mal mehr.«

Dr. Lowitzer nahm seine Zigarre auf, die Glut war erloschen, er mußte ein neues Streichholz nehmen. »Und wie oft ist sowas schon vorgekommen?« fragte er und sah seinen Sohn über die Flamme hinweg forschend an.

»Noch nie!« Wolfi war ganz erleichtert, daß er endlich die Wahrheit sagen durfte. »Also wirklich nie, nie, Vater! Da kannst du fragen, wen du willst.«

»Um so besser für dich. Damit es aber auch tatsächlich das erste und letzte Mal bleibt, muß ich dir leider einen Denkzettel erteilen. Du bleibst heute und morgen auf deinem Zimmer, das Essen bringt dir die Mutter hinauf …«;

Wolfi sprang auf. »Nein!«

»Du weigerst dich?«

»Ja, weil es einfach eine Gemeinheit ist! Ihr könnt mich doch nicht das ganze Wochenende einsperren, nur weil ich …« Er stockte.

»Na, sprich es nur aus! Weil du einen ganzen Schultag versäumt und dazu noch mit dreister Stirn gelogen hast! Scheint dir das zu wenig? Dann sind wir verschiedener Meinung. Mein Vater hätte mir für soviel Verantwortungslosigkeit eine tüchtige Tracht Prügel verpaßt, ich halte nichts von solchen Maßnahmen. Aber zwei Tage absolute Ruhe werden dir unbedingt gut tun. Du kannst da mal darüber nachdenken, was du deinen Eltern und deiner Mitwelt schuldig bist.« Und als Wolfi mitten im Raum stehenblieb und verstockt an ihm vorbei sah; fügte er hinzu, heftiger, als er gewollt hatte: »Geh jetzt! Ich will dich nicht mehr sehen.«

Wolfi wandte sich ab, verließ das Zimmef und ging, ohne den fragenden Blick seiner Mutter zu erwidern, die Treppe hinauf. Er mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht vor Wut loszuheulen.

Er fühlte sich unverstanden und schlecht behandelt.

[23]

Der D-Zug aus Düsseldorf lief am Sonntagmorgen kurz nach sechs Uhr früh auf dem Hauptbahnhof München ein.

Gina Miller hatte schon seit einer halben Stunde hinter der Sperre gewartet. Sie fror erbärmlich, denn der Herbstmorgen war kühl und ein wenig dunstig. Sie hatte in der Nacht zuvor nur unruhig geschlafen, war, noch in der Dunkelheit, mit nüchternen Magen aus dem Haus gestürzt, um Thomas nur ja nicht zu verpassen.

Dabei wußte sie nicht einmal; ob er mit diesem Zug kam. Sie hatte es nur vermutet, weil er von einem Schlafwagenplatz gesprochen hatte, und sie hatte so große Sehnsucht nach ihm, daß sie unter keinen Umständen länger als nötig von ihm getrennt sein wollte.

Jetzt, da der Zug endlich einlief, ballte sie vor Erregung die Hände. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Strom der ankommenden Reisenden besser übersehen zu können — eine Gruppe unnatürlich lustiger junger Burschen, einige Herren, grau, übernächtig, mit schweren Aktentaschen unter dem Arm, wahrscheinlich Vertreter, eine Dame mit einem kleinen Mädchen, ein älterer Herr in einem Ulster mit Pelzkragen, und dann endlich — ihr Mann.

»Thomas!« rief sie so laut, daß die Umstehenden sie teils mißbilligend, teils belustigt ansahen.

Es kümmerte sie nicht. »Thomas!« rief sie noch einmal und vergaß ganz, daß sie eine verheiratete Frau war; sie sprang ungeduldig und begeistert von einem Fuß auf den anderen.

Jetzt hatte er sie entdeckt. Der Schimmer eines Lächelns erhellte sein männliches, verschlossenes Gesicht, er winkte ihr kurz mit der behandschuhten Rechten.

Die Sekunden, die vergingen, bis er hinter den anderen Reisenden die Sperre passiert hatte, schienen ihr eine Ewigkeit. Sie warf sich in seine Arme, spürte den rauhen Stoff seines Mantels an ihrer Wange, schnupperte seinen herben frischen Geruch.

Er strich ihr zärtlich und doch leicht verlegen über das blonde ungebärdige Haar, von dem ihr das seidene Tuch gerutscht war, sagte unbeholfen und sehr gerührt: »Na, na, na, Kleines du tust ja, als käme ich von einer Weltreise zurück.«

Sie hob den Kopf, und er sah, daß in ihren schönen grauen Augen Tränen glänzten. »Ich habe solche Sehnsucht nach dir gehabt!«

»Ich auch nach dir«, sagte er und versuchte behutsam, sich aus ihrer Umarmung zu befreien, »aber jetzt sind wir ja wieder beisammen … zu Hause haben wir Zeit genug, Wiedersehen zu feiern!«

»Aber auf dem Bahnhof ist es doch am schönsten!« Sie lächelte unter Tränen und in ihren bräunlichen Wangen erschienen jene winzigen Grübchen, die ihn seit ihrer ersten Begegnung immer wieder entzückt hatten.

Sie hakte sich bei ihm ein. »Weißt du, sowas kommt so oft im Kino vor … Paare, die sich auf dem Bahnhof nach langer langer Zeit endlich wieder in die Arme sinken dürfen. Ich habe immer ein bißchen dabei weinen müssen … aber natürlich nur so, daß niemand es merkte. Meine Freundinnen hätten mich nicht schlecht ausgelacht.«

»Kindskopf«, sagte er und gab ihr von der Seite einen raschen Kuß auf die Nase, »deine Liebespaare im Kino hatten bestimmt nie Hunger, was? Und mir knurrt der Magen.«

»Ich könnte jetzt auch was vertragen«, gab sie zu, »ich habe noch nicht gefrühstückt.«

»Verschlafen?«

Sie sah ihn mit einem großen Augenaufschlag an. »Was du denkst! Ich wäre viel zu aufgeregt gewesen, um was herunterzubringen. Überhaupt …« Sie schob die Unterlippe vor und machte einen Schmollmund.

»Na … was denn?«

»Du bist kein bißchen überrascht, daß ich dich vom Zug abhole. Dabei hattest du mir nicht einmal gesagt, wann du kommst. Ich dachte, du würdest platt umfallen vor Freude und statt dessen …«

»Ich bin platt umgefallen«, sagte er lächelnd und drückte ihren Arm fester an sich, »jedenfalls innerlich. Ich bin immer noch ganz weg vor Überraschung, ich kann mir so etwas nicht so anmerken lassen. Aber als ich dich vorhin sah, da war es mir …« Er stockte.

»Wie?« fragte sie, begierig, ein Kompliment zu hören.

»Na, ich dachte mir sehr unvernünftig von den Eltern, daß sie dieses reizende kleine Schulmädel in aller Herrgottsfrühe allein auf den Bahnhof lassen!«

»Schuft!« Sie puffte ihn in die Rippen, sagte ernsthaft: »Das kommt nur, weil ich heute früh Schuhe mit flachen Absätzen angezogen habe, damit wirke ich gleich ein paar Zentimeter kleiner und …« Sie unterbrach sich. »Jetzt habe ich wieder einmal das Wichtigste vergessen wie geht es deiner Mutter?«

»Danke«, sagte Thomas, »der Arzt hofft, sie ist über den Berg.«

»Gott Sei Dank.«

Sie waren in der Bahnhofshalle angekommen, sie wollte die Richtung zum Hauptausgang einschlagen, aber er dirigierte sie mit fester Hand nach rechts.

»Was hast du vor?« fragte sie erstaunt.

»Wirst du gleich sehen.« Beim Blumenkiosk erstand er ihr sieben eben erblühte Rosen, und sie errötete vor Glück.

Er überreichte sie ihr mit einer feierlichen kleinen Verbeugung. »Ist das für’s Frühaufstehen?« fragte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen.

»Nein«, sagte er und sah ihr lächelnd in die Augen, »Ich hatte eigentlich vor, dir diese Rosen ans Bett zu bringen.«

»Da ist mir ja fast etwas entgangen«, sagte sie, aber das Leuchten ihrer Augen Strafte ihre Worte Lügen.

Sie kauften am Bahnhof noch frische Semmeln, durchwachsenen Speck und ungarische Salami und fuhren in einer Taxe nach Hause. Thomas ließ es sich nicht nehmen, selber das Frühstück zu richten, während Gina das Schlafzimmer in Ordnung brachte.

»Na, was hast du für einen Gatten?« fragte er stolz, als er sie zwanzig Minuten später an die gedeckte Küchenbar rief.

Er hob den Deckel von der Pfanne, und sie schnupperte genüßlich den Duft von gebratenen Eiern und Speck.

»Prima«, sagte sie anerkennend und zog sich den Hocker an die Bar, »aber immerhin … Spiegeleier braten kann ich auch.« Sie tat sich ein Stück Zucker in die Kaffeetasse. »Und Neskaffee kochen ist schließlich auch keine Kunst.«

»Bravo«, sagte er belustigt, »und da wir gerade dabei sind was kannst du sonst noch? Ich denke nicht an Mathematik oder Latein … ich meine natürlich im Haushalt!«

»Bratkartoffeln«, sagte sie und dachte voll Unbehagen an die verkohlte Mahlzeit von gestern, »Rührei und Pfannenkuchen …«

»Ist das alles?«

»Warte. Mir wird schon noch was einfallen.« Sie steckte sich ein tüchtiges Stück Ei und gebratenen Speck in den Mund, sagte, als sie es hinuntergeschluckt hatte: »Überhaupt kochen kann man doch lernen. Jeder hat mal klein angefangen.«

»Stimmt. Aber ob eine Ehe nun gerade der richtige Übungsplatz ist?«

Sie ließ die Tasse sinken, die sie gerade an die Lippen hatte setzen wollen, und sah ihn aus großen Augen an: »Aber das hast du doch gewußt … ich habe doch nie behauptet, daß ich von der Hausarbeit viel verstehe!«

Er streckte seine Hand über den Tisch, sagte beruhigend. »So habe ich es ja nicht gemeint, Gina … ich will dir doch keinen Vorwurf machen. Nur … mir scheint, jetzt ist doch der Moment gekommen wo wir uns ernsthaft mit diesem Problem befassen müssen.«

»Jetzt? Beim Frühstück? Wo du gerade erst nach Hause gekommen bist?«

Er war sofort bereit einzurenken. »Entschuldige, bitte, vielleicht hast du recht. Verschieben wir es also auf später. Möchtest du noch ein Ei?«

»Nein, danke.«

»Wirklich nicht? Dann werde ich es nämlich essen. Es hat keinen Zweck, die Dinger kalt werden zu lassen.«

»Iß nur«, sagte sie geistesabwesend.

»Um auf etwas anderes zu kommen«, sagte er und stippte ein Stück Semmel in das Eigelb, »da unsere Hochzeitsreise ja nun einmal geplatzt ist, habe ich mir überlegt … wahrscheinlich ist es das Beste, ich gehe so bald wie möglich wieder in die Kanzlei zurück …« Er sah sie prüfend an.

»Wie du meinst«, sagte sie ausdruckslos.

»… und wir holen unsere Flitterwochen nach. Nächstes Frühjahr. Oder wir fahren zum Wintersport. Überleg dir das mal.«

»Sehr schön«, sagte sie.

»Was? Eine Frühjahrsreise? Oder Wintersport?«

»Das mußt du entscheiden.«

Er runzelte die dunklen Augenbrauen. »Was ist los mit dir? So kenne ich dich ja gar nicht! Schlechte Laune?«

»Nein«, sagte sie, »nur … du hast da vorhin was angeschnitten, und ich möchte es jetzt ganz genau wissen. Wieso ist es auf einmal ein Problem, daß ich noch nicht sehr im Haushalt bewandert bin? Bisher hast du noch nie etwas dabei gefunden.«

»Ich finde auch jetzt nichts dabei.«

»Warum redest du dann so komisch?«

»Gina, bitte, ich dachte nur … ich will dir ja nur helfen!«

»Das ist sehr lieb von dir«, sagte sie steif, »aber ich hoffe, daß ich es auf die Dauer schon allein schaffe.«

»Sicher, Gina, ich weiß, daß du sehr tüchtig sein kannst, wenn du willst. Aber ich sehe nicht ein, warum du es dir unnötig schwermachen willst, wenn es auch anders geht.«

»Wie anders?«

»Gina«, sagte er, »wahrscheinlich ist es falsch, daß ich dich jetzt damit überfalle, aber ich mag einfach keine Geheimnisse vor dir haben. Kannst du das verstehen?«

»Ja«, sagte sie beklommen.

»Na also. Nun paß mal auf ich habe mit meiner Schwester Angela gesprochen. Über Mutter. Und es sieht leider ganz so aus … ich habe das natürlich nie geahnt … daß meine Mutter sich nicht sehr wohl in Düsseldorf gefühlt hat. Jetzt kommt noch dazu, daß sie nach ihrem Unglück schonungsbedürftig ist … Angela wohnt im fünften Stock, und es gibt keinen Lift im Haus … man kann Mama kaum zumuten, täglich diese Treppen zu gehen. Kurz und gut … glaub mir, ich habe mir die Sache die ganze Nacht überlegt … ich bin zu der Einsicht gekommen, daß es das Beste sein wird … das Beste auch für dich, Gina … wenn wir Mama zu uns nehmen.« Er machte eine kleine Pause und sah sie erwartungsvoll an.

Eine Weile saß sie? ganz stumm, dann sagte sie: »Bitte, gib mir eine Zigarette!«

Er reichte ihr das Päckchen über den Tisch, gab ihr Feuer.

Sie nahm einen tiefen Zug. »Wie würde es dir gefallen«, fragte sie dann, »wenn ich dir vorschlüge, meine Mutter zu uns zu nehmen?«

»Wenn wir aus irgendwelchen Gründen uns in eurem Haus in Garmisch einquartieren müßten, würde ich natürlich nicht daran denken, deine Eltern zu vertreiben.«

»Ich …habe …also …deine…Mutter …vertrieben?« fragte sie, jedes einzelne Wort betonend.

»Sie ist deinetwegen gegangen.«

»Aber die Wohnung gehört ihr?«

»Im Grunde genommen ja. Aber darum handelt es sich ja gar nicht. Es geht nicht um die Wohnung, sondern darum, daß sie meine Mutter ist und daß ich mich verpflichtet fühle, für sie zu sorgen … nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern wirklich … als Sohn. Ich liebe meine Mutter sehr, Gina …«

»Mehr als mich?«

Er stieß seinen Teller zurück, nahm sich jetzt ebenfalls eine Zigarette. »Worauf willst du hinaus?« fragte er stirnrunzelnd.

»Ich fürchte, du wirst dich entscheiden müssen.« Sie konnte das Zittern ihrer Stimme nicht verbergen. »Zwischen deiner Mutter und mir.«

»So«, sagte er, »jetzt will ich dich mal etwas fragen … hättest du mich denn nicht geheiratet, wenn du von Anfang an gewußt hättest, daß Mama hier bleiben würde?«

Ganz unvermittelt brach sie in Tränen aus. Sie schlug die Arme vor das Gesicht, warf ihren Kopf auf die Platte der Küchenbar, ihr junger Körper wurde von Schluchzen geschüttelt.

»Gina?« sagte er erschrocken, stand auf und kam auf ihre Seite. »Gina, bitte, wein doch nicht … du weißt doch, wie sehr ich dich liebe! Du bist doch meine Frau!«

»Ach, Thomas«, stammelte sie unter Tränen, »und ich hatte mir alles so schön vorgestellt …wir beide ganz allein! Nur wir beide! Es hätte alles so wunderbar werden können … und jetzt …«

Er zog sie ganz fest in seine Arme. »Ich weiß ja, Gina, ich weiß glaubst du nicht, daß es mir selber schwer genug fällt? Aber wir müssen es tun, ich habe keine Wahl, oder ich müßte mich selber verachten.« Er küßte ihr die Tränen von den Wangen. »Weine doch nicht, Gina, bitte, weine nicht … vielleicht kommt es ja gar nicht dazu! Ich habe mit Mama noch gar nicht darüber gesprochen … wer weiß denn, ob sie überhaupt will!«

[24]

Die Eröffnung, daß ihre Schwiegermutter wahrscheinlich zu ihnen ziehen würde, war für Gina ein schwerer und gänzlich unerwarteter Schlag gewesen. Aber mit der Elastizität ihrer jungen Jahre überwand sie ihn bald.

Schließlich hatte Thomas ja gesagt, daß seine Mutter voraussichtlich noch Monate im Krankenhaus bleiben mußte, und überhaupt war es ja noch gar nicht sicher, ob sie auf seinen Vorschlag überhaupt einging — auf alle Fälle, bis es soweit war, konnte noch viel passieren.

Wichtiger und vordringlicher war es, die Sache mit den fehlenden 32 000 Liren in Ordnung zu bringen, über die sie mit Thomas noch nicht hatte sprechen können. Sie traute sich durchaus zu, ihn auch in diesem Punkt glaubhaft anzuschwindeln, aber sie wollte es nicht. Sie hatte sich so fest vorgenommen, eine gute Ehe zu führen, und sie war überzeugt, daß es ohne gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Offenheit nicht ging.

Sie begriff, daß es ein schwerer Fehler gewesen war, ihm einzureden, daß er bei seinem Anruf aus Düsseldorf eine falsche Nummer gewählt hätte. Sie war zu verwirrt gewesen. Sein Mißtrauen, der Wunsch, sich zu verteidigen und ihren Bruder zu decken waren stärker gewesen, als ihr Wille zur Aufrichtigkeit. Aber noch war es nicht zu spät, die ganze Wahrheit zu sagen.

Aber es war schwer, sehr schwer, den Anfang zu finden. Thomas gab ihr keine Gelegenheit. Es fiel ihm auf, daß sie sehr bedrückt war, aber er schob es natürlich auf ihre Angst vor dem Zusammenleben mit der Schwiegermutter.

»Komm«, sagte er zärtlich, »nimm es nicht zu schwer, lächle ein bißchen! Hauptsache ist doch, wir beide haben uns lieb, nicht wahr?«

Sie holte tief Luft. »Thomas, ich muß dir etwas sagen …«

Das Telefon klingelte und sie brach ab.

Thomas ging an den Apparat, meldete sich, sagte ein paar Worte, gab dann den Hörer an Gina weiter.

»Wer ist es?« fragte sie.

»Deine Mutter.«

Gina nahm ihm den Hörer aus der Hand. »Wie lieb, daß du anrufst, Mutter …« sagte sie, leicht verlegen, weil Thomas im Raum war und ihr Gespräch mit anhörte.

»Ich hatte gedacht, du wärst noch allein«, hörte sie die Stimme der Mutter. »Deshalb wollte ich dich fragen, ob du nicht zum Essen oder wenigstens zum Kaffee zu uns kommen wolltest. Aber jetzt, wo Thomas wieder da ist …«

»Sehr lieb von dir, Mutter, aber ich glaube wirklich … weißt du, Thomas ist erst seit heute früh zurück und da möchte ich ihn nicht in der Gegend herum jagen!«

»Du hast natürlich recht, Gina. Dann ein andermal.«

»Wir kommen bestimmt bald, Mutter, alle beide. Wie geht’s denn Vater?«

»Er ist zum Frühschoppen in den ›Kronprinzen‹ gegangen.« Frau Lowitzer dämpfte unwillkürlich ihre Stimme, als wenn sie fürchtete, belauscht zu werden. »Es hat schweren Ärger gegeben, Gina, wegen Wolfi.«

»Ach …« sagte Gina und drehte sich unwillkürlich so, daß Thomas ihr Gesicht nicht sehen konnte.

»Zufällig hat Vater herausbekommen, daß Wolfi am Samstag die Schule geschwänzt hat. Er war sehr wütend. Wolfi darf übers Wochenende sein Zimmer nicht verlassen. Schon deshalb hatte ich gehofft, du würdest …«

Gina ließ ihre Mutter nicht zu Ende sprechen. »Weshalb?« fragte sie. »Ich meine weshalb war er nicht in der Schule?«

»Das haben wir nicht herausbekommen. Du weißt, wie verstockt Wolfi sein kann.«

»Wahrscheinlich hatte er einfach keine Lust.«

»Ja, genauso stellt er es dar. Aber Vater glaubt ihm nicht. Er denkt, es steckt etwas Schlimmeres dahinter.«

»Vater!« sagte Gina ironisch.

»Ja, so ist er nun mal. Aber er hat euch beide sehr lieb und hat immer nur das Beste für euch gewollt.«

»Natürlich, Mutter«, sagte Gina rasch, »das weiß Wolfi ja auch!«

»Was war?« fragte Thomas, als sie eingehängt hatte.

»Nichts Besonderes«, sagte Gina und sah ihn gedankenabwesend an. In dieser Minute faßte sie ihren Entschluß sie konnte und wollte ihren Bruder nicht noch mehr hineinreißen.

»Du siehst ja … ganz betroffen aus!« sagte er.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Wieso? Das kommt dir nur so vor. Mir ist nur gerade eingefallen …habe ich dir schon den Kassenzettel gegeben? Ich meine, die Bankquittung für die Lire, die ich auf dem Konto eingezahlt habebe? Nein? Siehst du, ich wußte doch … warte, ich hole ihn dir.«

»Das eilt doch nicht«, sagte er.

Aber Gina wollte es hinter sich haben.

Sie holte ihre Handtasche aus dem Schlafzimmer, zog die Quittung heraus, gab sie Thomas. »Da, bitte«, sagte sie.

Er sah sich den Kassenbeleg an, las ihn dann noch einmal, sehr aufmerksam, mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Wie kommt denn das?« sagte er. »Ich hatte dir doch achtzehntausendzweihundert gegeben und hier sind nur siebzehntausend angeführt.«

»Keine Ahnung«, sagte Gina scheinbar ohne Arg, »hätte ich sie nachzählen müssen? Ich habe sie so, wie sie waren, zur Kasse gegeben.«

»Na, das ist aber blöd.«

»Von mir?«

»Nein, nein, natürlich nicht von dir«, sagte er rasch, »ich meine überhaupt. Daß ich mich so geirrt haben soll. Ich begreife das gar nicht.«

»Wahrscheinlich waren es noch soviel, als du sie das letzte Mal gezählt hast«, sagte sie, »und nachher hattest du dann doch noch Ausgaben.«

»Schon möglich; Du bist sicher, daß sich die Scheine nicht in deiner Handtasche verirrt haben?«

Sie reichte ihm sofort die Tasche über den Tisch. »Sieh selber nach! Das ist genau die Tasche, in die du sie mir im Flugzeug gesteckt hast.«

Es war eine schmale, sehr elegante Tasche aus weichem weißem Leder. Thomas zog ein mit Lippenstift verschmiertes Taschentuch heraus, einen Taschenkamm, Portemonnaie, Schlüsselbund, eine Anzahl von Fahrscheinen und Eintrittskarten, die Gina sich zur Erinnerung aufbewahrt und noch nicht herausgenommen hatte, Lippenstift, Lidstift, Spiegel und Wimperntusche. Dann öffnete er die Tasche weit — es fielen ein paar Krümel heraus, ein Zehnpfennigstück, Sicherheitsnadeln.

»Na siehst du«, sagte Gina. »Kein Trick, kein doppelter Boden.«

Er zog aus einem Seitenfach eine schmale weiße Karte, hielt sie zwischen die Fingerspitzen, betrachtete sie mit zusammengepreßten Lippen.

Sie ahnte nichts. Nur sein Gesichtsausdruck machte sie stutzig.

»Weißt du das wirklich nicht?«

»Nein! Keine Ahnung!«

»Die Visitenkarte eines Verehrers.«

Sie beugte sich über seine Schulter, las: »Henry Horn!« lachte und sagte: »Ach so! Die muß er mir damals an der Bar hineingeschmuggelt haben!«

Er drehte die Karte wortlos um. Ihre Augen wurden weit, als sie las, was Henry Horn in zügiger, mühsam gebändigter Schrift auf die weiße Rückseite geschrieben hatte. »Tel. 773701. Denk daran, was du mir versprochen hast! Ich werde auf dich warten! Henry Horn.«

»Aber das muß ein Irrtum sein!« stammelte Gina ganz verblüfft.

»Daß du mir die Tasche gegeben hast? Ja, das war wohl ein Irrtum.«

»Aber, Thomas!« Sie packte ihn bei den Schultern, schüttelte ihn. »Ich schwöre dir, ich habe diese Karte nie gesehen! Glaubst du mir denn nicht?«

Er drehte sich um und sah ihr in die Augen. »Was hast du diesem Kerl versprochen?«

»Nichts! Gar nichts! Was denkst du denn?!«

»Was jeder Mann in dieser Situation denken würde.«

Es wurde ein verdorbener Sonntag, und Gina spürte mit Entsetzen, daß man auch in der Nähe des Menschen, den man liebt, sehr einsam sein kann.

Auch Thomas war erschüttert. Er erschrak vor seinem eigenen Mißtrauen. Er hätte Gina so gerne geglaubt, aber es kam zuviel zusammen. Henry Horns offensichtliches Interesse für Gina damals in Rom, die Tatsache, daß sich bei seinem Anruf aus Düsseldorf ein Mann am Apparat gemeldet und dann so eilig aufgelegt hatte, und jetzt diese Visitenkarte mit der unmißverständlichen Mitteilung.

Die Warnungen seiner Mutter fielen ihm ein. Hatte sie nicht am Ende doch recht gehabt? War es ein Fehler gewesen, so überstürzt zu heiraten? Kannte er Gina überhaupt? Was wußte er wirklich von ihr, außer daß sie sehr jung, sehr schön und sehr begehrenswert war?

Thomas Miller hatte in seinem Beruf als Rechtsanwalt allzu frühe und allzu tiefe Einblicke in die Abgründe der menschlichen Seele bekommen. Sein zur Skepsis erzogener Verstand vergrößerte noch die Verwirrung seines Herzens. Er wäre gerne allein gewesen, hätte in Ruhe über alles nachgedacht.

Aber Gina war bei ihm. In der Enge der kleinen Wohnung konnten sie sich nicht aus dem Wege gehen. Er spürte, daß auch sie litt und zwang sich, die Angelegenheit zu bagatellisieren.

So kam es zu einer Versöhnung, an der nichts echt war — nicht die Küsse, nicht die Blicke, nicht die Worte. Sie bemühten sich beide ehrlich, alles was zwischen ihnen stand, wegzuschieben, zu vergessen. Aber es gelang nicht. Die Wunden waren noch zu frisch, das einmal erwachte Mißtrauen ließ sich nicht so leicht wieder einschläfern.

Gina war froh, als der quälend lange Tag und die von Schatten erfüllte Nacht vorbei war und Thomas nach einem flüchtig bereiteten und flüchtig eingenommenen Frühstück die Wohnung verließ, um in seine Kanzlei zu fahren.

Sie war entschlossen zu handeln.

Thomas würde ihr nie mehr wirklich glauben, wenn sie nicht ihre Unschuld beweisen konnte, darüber war sie sich klar. In den schlaflosen Stunden der Nacht hatte sie sich einen Plan gemacht. Sie mußte Henry Horn zur Rede stellen.

Sie hatte ihn zwar in Rom zuletzt gesehen, aber das besagte gar nichts. Er konnte sich genauso gut schon wieder in München, wie auch in Berlin oder Paris aufhalten.

Sie stülpte den Papierkorb um, suchte die Visitenkarte heraus, die sie gestern achtlos zerknüllt und weggeworfen hatte, glättete sie sorgfältig und wählte die Nummer.

Das Preizeichen ertönte, und sie Wartete mit klopfendem Herzen.

Es war nicht Henry Horn, der sich meldete, sondern eine sehr liebenswürdige und geschäftsmäßige weibliche Stimme. »Guten Tag. Hier Atelier Henry Horn …«

Gina mußte schlucken. »Ich möchte gerne Herrn Horn sprechen …«

»Wen darf ich, bitte, melden?«

Gina zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Dann sagte sie: »Vivian Geron …«

»Einen Moment, bitte…«

Noch ehe die Verbindung zustande kam, legte Gina ein. Sie hatte erfahren, was sie wissen wollte. Henry Horn war tatsächlich in München. Das genügte ihr. Sie hatte nicht die geringste Lust, sich mit ein paar Redensarten am Telefon abspeisen zu lassen.

Sie schlug das Telefonbuch auf, fand seine Adresse. Atelier und Privatwohnung des Fotografen lagen in der Sonnenstraße.

Gina nahm sich nicht die Zeit, das Frühstücksgeschirr zu spülen oder die Betten zu machen. Sie war noch in Schlafanzug und Morgenrock. Jetzt zog sie sich in fliegender Eile um. Sie wählte ein kleines marineblaues Jerseykostüm mit weißen Manschetten- und Kragenblenden, steckte ihr blondes Haar am Hinterkopf hoch, machte reichlich Gebrauch von Lippenstift und Wimperntusche. Dann war sie mit ihrem Aussehen zufrieden. Sie wirkte nicht mehr so jung und verletzbar, sondern älter, härter, selbstbewußter, und gerade das war es, was sie erreichen wollte. Sie war sich darüber klar, daß Henry Horn es ihr nicht leichtmachen würde.

Sie schlüpfte in ihren Kamelhaarmantel, schloß die Wohnung hinter sich ab und verließ das Haus. Eine Sekunde schoß es ihr durch den Kopf, was Thomas denken würde, wenn er auf die Idee kam, sie anzurufen, und niemand sich in der Wohnung meldete. Aber das mußte sie riskieren. Um das Glück ihrer Ehe zu retten, war kein Preis zu hoch.

Sie stand schon an der Straßenbahnhaltestelle, als ihr einfiel, daß sie ja keine Ahnung hatte, in welchem Stadtteil die Sonnenstraße lag. Sie fragte eine ältere Dame danach, die mit ihr wartete.

»Da stehen Sie hier ganz richtig«, sagte die Dame freundlich, »Sie können gleich mit der nächsten Bahn fahren … allerdings nur eine Station, bis zum Max-Weber-Platz. Da müssen Sie umsteigen und Richtung Stadtmitte bis zum Karlsplatz fahren die Münchner nennen ihn Stachus, aber das kommt auf dasselbe heraus. Verpassen können Sie ihn bestimmt nicht, und von dort aus … na, da fragen Sie am besten noch einmal.«

Gina überlegte, ob sie nicht doch besser daran tat, eine Taxe zu nehmen. Aber sie wußte nicht, wieviel es kosten würde, und sie scheute sich, neuen Ärger heraufzubeschwören.

Dann kam schon die Straßenbahn, und Gina stieg hinter der alten Dame ein. Gina kannte München. Sie hatte des öfteren mit ihren Eltern ein Wochenende hier verbracht. Dennoch hätte die Fahrt durch die Stadt, die fremden Gesichter und Gespräche um sie herum, die Geschäftsstraßen mit dem vielfältigen Verkehr ein prickelndes Abenteuer sein können. So aber war alles für sie überschattet von Angst, dem Gefühl der Einsamkeit und des Entwurzeltseins.

Als sie endlich das moderne riesige Bürohaus in der Sonnenstraße, in dessen oberstem Stock Henry Horn sein Atelier hatte, gefunden hatte, fühlte sie sich erschöpft und benommen.

Sie fuhr mit dem Lift nach oben und sah sich zwei Etagentüren gegenüber — die eine führte ins Atelier, die andere in die Privatwohnung des Modefotografen.

Nach kurzem Zögern klingelte sie am Eingang zum Atelier.

Der Summer ertönte, sie drückte die Tür auf, trat in eine kleine Diele, in der ein junges Mädchen mit karottenrot gefärbtem Haar hinter einem Schreibtisch saß und mit schlanken Fingern auf einer Schreibmaschine tippte. Sie sah nur flüchtig auf, als Gina herein kam, tippte dann eifrig weiter.

»Ich möchte …« begann Gina und trat näher.

»Moment!« Das rothaarige Mädchen ließ sich nicht in seiner Arbeit stören, dann erst, als sie die Seite beendet und aus der Maschine gezogen hatte, fragte sie: »’Schon mal dagewesen?«

»Nein«, sagte Gina verblüfft.

»Dann müssen Sie einen Fragebogen ausfüllen.« Das rothaarige Mädchen zog eine Schreibtischschublade auf und entnahm ihr ein doppelseitiges vorgedrucktes Formular.

Gina nahm es mechanisch entgegen. »Aber wozu?« sagte sie. »Ich möchte doch nur Herrn Horn sprechen.«

»Eben drum.«

Gina las den Vordruck, während das rothaarige Mädchen die Kohlepapiere aus den fertigen Blättern zog und einen neuen Stoß zusammenlegte.

»Name: …Künstlername: …Haarfarbe: …Gewicht:…Taille: … Brustumfang: …«, las sie und runzelte die glatte junge Stirn; dann plötzlich begriff sie. »Ach so«, sagte sie, »Sie glauben, ich will als Fotomodell arbeiten. Aber das stimmt nicht. Ich möchte bloß Herrn Horn sprechen privat.«

Die Rothaarige tippte sich mit ihrem sehr langen, blutrot lackierten Fingernagel gegen das Kinn und sah sie nachdenklich an. »Ich glaube nicht, daß Herr Horn Besuch erwartet«, sagte sie.

Gina war nahe daran, die Nerven zu verlieren. »Nein«, sagte sie heftiger, als es nötig gewesen wäre, »er erwartet mich sicher nicht. Aber ich muß ihn trotzdem sprechen. Melden Sie ihm das, bitte.« Und dann erst fiel ihr ein, daß sie sich noch gar nicht vorgestellt hatte, und sie sagte: »Ich heiße Gina Miller.«

»Wie Sie wollen«, sagte die Rothaarige nicht eben sehr freundlich, »ich kann’s ja versuchen.«

Sie nahm den Hörer des resedafarbenen Telefons ab, sagte: »Hallo … hallo, Chef! Ja, ich weiß, tut mir leid … aber hier ist ein Fräulein Miller, das Sie unbedingt sprechen möchte …«

»Nicht Fräulein … Frau!« sagte Gina rasch und hielt ihr den Ehering unter die Nase.

»Eine Frau Miller«, verbesserte sich die Rothaarige, sie lauschte einen Augenblick, wandte sich dann an Gina und fragte: »Um was handelt es sich?«

»Um eine Privatangelegenheit.«

»Um eine Privatangelegenheit«, wiederholte die Rothaarige in den Apparat. »Ja«, sagte sie dann, »danke. Ich habe es mir schon gedacht.« Sie hängte auf. »Herr Horn ist sehr beschäftigt«, erklärte sie Gina, »er bedauert sehr, aber er ist ganz außerstande, Sie jetzt zu empfangen. Vielleicht könnten wir einen Termin ausmachen …«

Gina begriff, daß man sie abwimmeln wollte. Das Blut stieg ihr zu Kopf. »Nein«, sagte sie, »es muß jetzt sein. Jetzt sofort. Es ist … wichtig für mich, begreifen Sie denn nicht? Ungeheuer wichtig.«

»Tut mir leid!« Die Rothaarige legte sich das Stenogramm zurecht und begann, Ohne Gina noch eines Blickes zu würdigen, erneut mit rasender Geschwindigkeit zu tippen.

Gina war den Tränen nahe. Sie fühlte sich zurückgestoßen und gedemütigt. Daß Henry Horn sie nicht empfangen würde, hätte sie sich nicht einmal in ihren bösesten, Träumen vorgestellt.

Sie blieb zögernd und hilflos mitten im Raum stehen, konnte sich nicht entschließen, so einfach unverrichteter Dinge abzuziehen.

Aus der Diele, einem kleinen, sehr intim eingerichteten Raum mit erdbeerrot und weiß gestreifter Tapete und schwarzen lederbezogenen Möbeln, führten verschiedene Türen in die umliegenden Räume. Wenn Gina geahnt hätte, in welchem Zimmer sich Henry Horn aufhielt, hätte sie es vielleicht gewagt, einfach einzudringen. Aber sie kannte sich nicht aus.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Wahrscheinlich hatte Henry Horn am Telefon gar nicht begriffen, wer sie war. Wenn es ihr gelänge, ihm klar zu machen …

Sie öffnete hastig ihre Handtasche, wühlte darin und fand tatsächlich Henry Horns zerknüllte und wieder geglättete Visitenkarte, die sie gedankenlos eingesteckt hatte.

Sie trat näher an den Schreibtisch, fragte: »Bitte, haben Sie einen Umschlag?« Sie mußte ihre Frage zweimal wiederholen, ehe die Rothaarige endlich den Kopf hob.

»Einen Umschlag?«

»Ja, bitte.«

Der Blick, den die Rothaarige ihr unter grün getönten Lidern her zuwarf, war alles andere als freundlich, aber sie rückte den Umschlag heraus, und das war für Gina die Hauptsache. Rasch steckte sie die Visitenkarte hinein, klebte ihn zu, reichte ihn über den Schreibtisch und sagte: »Bitte, bringen Sie das Herrn Horn!«

Die Rothaarige hob die Augenbrauen und schien eine ablehnende Antwort auf den Lippen zu haben, dann aber, als sie das verzweifelte Flehen in Ginas Augen sah, sagte sie nur: »Moment!« Sie drückte auf einen Knopf und wenig später erschien ein hemdärmeliger junger Mann, dem sie den geschlossenen Umschlag gab. »Für den Chef«, sagte sie und wendete sich ohne ein weiteres Wort wieder ihrer Schreibarbeit zu.

Gina ließ sich auf einen der schwarzen Stühle sinken. Die Streifen der rotweiß gestreiften Tapete verschwammen vor ihren Augen. Sie hatte das Gefühl, daß sich in diesen Sekunden ihr Schicksal entschied, ohne daß sie noch das Geringste dazu beitragen konnte.

Sie konnte nichts mehr tun als warten.

[25]

An seinem vertrauten Schreibtisch in dem kleinen Arbeitsraum in der Kanzlei »Dr. Jahn und Dr. Miller, Rechtsanwälte«, wie es auf dem Emailschild an der Eingangstür hieß, fand Thomas allmählich sein seelisches Gleichgewicht wieder.

Dr. Jahn hatte er noch nicht persönlich begrüßen können, da sein Sozius an diesem Morgen auf dem Amtsgericht zu tun hatte. Aber seine Sekretärin, Frau Bornhom, eine glücklich verheiratete Frau mit einer kleinen bürobekannten Schwäche für ihn, hatte ihn mit einem strahlenden Erröten empfangen, und Referendar Keilhammer hatte ihm, eine halbe Stunde nach seiner Rückkunft, einen dicken Stoß Akten auf den Schreibtisch geknallt, sehr erleichtert, die Verantwortung los zu sein.

Thomas Miller mochte den jungen Mann mit den porzellanblauen Augen und dem immer lachbereiten großen Mund. »Na«, sagte er lächelnd, »wieviel Prozesse haben Sie während meiner Abwesenheit zu einem guten Ende geführt, Keilhammer?«

Der Referendar zog eine komische Grimasse. »Um ehrlich zu sein …ich habe mich nicht mal durchgearbeitet. Ein Glück, daß Sie wieder da sind, Herr Doktor!«

»Hat’s was Neues gegeben in meiner Abwesenheit?«

»Nicht viel. In dem Schadenersatzprozeß Bünger contra Rebheim ist es zu einem Vergleich gekommen, den Termin Liebrecht hat Doktor Jahn selber wahrgenommen…na, und dann natürlich, das wird Sie besonders interessieren, in der Scheidungssache Ellmann gegen Ellmann liegt das Material der Detektei vor.«

»Na und? Haben Sie etwas herausbekommen?«

»Was glauben Sie?«

Dr. Thomas Miller runzelte ganz leicht die Augenbrauen. »Ich hoffe, Sie wollen mir jetzt nicht eine Wette vorschlagen, Herr Keilhammer!«

Der Referendar nahm den Tadel ungerührt hin. »Wäre unfair, Herr Doktor«, sagte er, »schließlich kenne ich ja schon das Ergebnis …«

Er suchte eine Akte aus dem Stoß, schlug sie weit hinten auf.

»Ich habe den Bericht gleich eingeheftet. Da, lesen Sie!«

Der Scheidungsprozeß Ellmann war einer jener Fälle, den Thomas Miller nur mit innerem Vorbehalt übernommen hatte, weil von Anfang an nur zu offensichtlich war, daß das menschliche und moralische Recht nicht auf Seiten seines Klienten stand. Heinrich Ellmann mochte ein tüchtiger Geschäftsmann sein, in seinem Beruf vielleicht sogar bis zu einer gewissen Grenze korrekt, in privater Hinsicht, und nur darum ging es in diesem Prozeß, war er jedoch alles andere als ein Ehrenmann. Er hatte gar keinen Hehl daraus gemacht, daß er seine Frau Jahre hindurch vernachlässigt, gedemütigt und betrogen hatte, bis sie endlich, als er es nicht einmal mehr für nötig hielt, den Schein zu wahren, die Geduld verloren und die Scheidungsklage eingereicht hatte. Daraufhin war Heinrich Ellmann bei Thomas Miller erschienen, um sich vertreten zu lassen, und zwar wollte er sofort mit einer Gegenklage antworten, weil er fest überzeugt war, daß seine Frau ihn betrog.

»Die hat einen Freund«, hatte er behauptet, »da gibt es gar nichts. Sonst wäre ihr nie der Gedanke gekommen, mich rauszuschmeißen!«

»Haben Sie Beweise?« hatte Thomas mechanisch gefragt.

»Nee. Wo denken Sie hin. Ich habe doch keine Zeit, ihr nachzulaufen. Das müssen Sie herausbringen, das ist doch Ihr Beruf.«

Sie hatten sich dann geeinigt, die Detektei Rameau zu Beauftragen, mit der Dr. Jahn und Dr. Miller schon vielfach sehr gut zusammengearbeitet hatten.

Und jetzt lag der Bericht der Detektei vor — ein Bericht, der für das Schicksal einer Ehe, einer Familie und einer schwer geprüften Frau entscheidend war.

Thomas Miller warf noch einen kurzen Blick auf das Foto, das Heinrich Ellmann der Detektei zur Verfügung gestellt und das jetzt an den abschließenden Bericht angeheftet war — es zeigte eine blasse, nicht mehr junge Frau mit einem schmalen Mund und traurigen Augen: Edith Ellmann, vierzehn Jahre verheiratet, drei unmündige Kinder.

Es ist ausgeschlossen, dachte er, völlig ausgeschlossen, daß diese Frau einen Liebhaber hat!

Wenige Minuten später war er froh, es nicht ausgesprochen zu haben. — Auf der zweiten Seite des Berichtes stand in dürren Worten zu lesen, daß »die fragliche Person« am Freitag, den 22. Oktober nachmittags zwei Uhr 35 die Wohnung eines gewissen Herrn Herbert Schumachers, Freyenstraße 27, betreten und dort bis kurz nach 17 Uhr geblieben sei. Sie habe für diesen Besuch auffällige Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, das Taxi einen ganzen Block vor ihrem Ziel verlassen, sich häufig umgedreht und versucht, den rückwärtigen Verkehr in den spiegelnden Schaufenstem zu kontrollieren. Befragung der Hausbewohner Freyenstraße 27 habe ergeben, daß eine Frau, die aufgrund der Fotografie einwandfrei als »die fragliche Person« identifiziert wurde, des öfteren und immer zu verschiedenen Zeiten die Wohnung Schumachers aufgesucht habe. Herbert Schumacher sei Staubsaugervertreter, seit einigen Jahren geschieden und als ein sehr liebenswürdiger Mensch geschildert, der amourösen Abenteuern nie abgeneigt gewesen sei.

»Na, das haut hin, was?« sagte Keilhammer, als Thomas Miller die Akte aus der Hand legte. »Unser lieber Heinrich wird sich freuen.«

Thomas Miller konnte die Anwesenheit des jungen Mannes plötzlich nicht mehr ertragen. Er sah mit einer nervösen Bewegung auf seine Armbanduhr, hob den Telefonhörer ab, sagte heiser: »Lassen Sie mich jetzt, bitte, allein … ich habe zu arbeiten!« Er spürte selber, daß diese Aufforderung schroff, ja, verletzend geklungen hatte und versuchte, sie durch ein Lächeln zu mildern, das aber kläglich mißlang.

Referendar Keilhammer starrte ihn verblüfft, mit halboffenem Mund an, dann machte er auf der Stelle kehrt und verließ das Zimmer.

Thomas Miller saß, den Telefonhörer in der Hand, und spürte, wie ihm kalter Schweiß auf die Stirn trat. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er den Hörer nicht nur abgenommen hatte, um den jungen Mann zu vertreiben, sondern daß er wirklich hatte telefonieren wollen.

Er hatte die Detektei anrufen und beauftragen wollen, Gina überwachen zu lassen.

Er warf den Hörer auf die Gabel zurück, sprang auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn. War er denn wahnsinnig geworden? Kaum eine Woche verheiratet und schon hielt er es für möglich, daß seine junge Frau ihn betrog! Gina, die junge unschuldige Gina, die er von der Schulbank weg geheiratet hatte.

Nein, es war nicht ihre Schuld. All die Verdachtsgründe, die sich gegen sie angesammelt hatten, ließen sich bestimmt ganz harmlos aufklären. Sein Mißtrauen, seine krankhafte Eifersucht war es, die aus ein paar merkwürdigen Zufällen eine Tragödie machten.

Ja, er war krank, er war nicht mehr normal — nie zuvor war ihm so etwas geschehen, nie hatte er sich so aufgeführt.

Er dachte an die Frauen, die er vor seiner Ehe gekannt hatte — Vivian Geron zum Beispiel, die elegante selbstbewußte Vivian Geron. Wie oft war sie ohne ihn ausgegangen, allein verreist — und niemals hatte er auch nur eine Funken von Eifersucht gespürt. Und jetzt auf einmal

Arme Gina! Zärtliche Liebe strömte wie eine mächtige Woge in sein Herz. Arme, geliebte Gina! Er spürte plötzlich das Bedürfnis sie vor sich zu sehen, sie in seine Arme zu nehmen oder wenigstens ihre kindliche, ein wenig heisere Stimme zu hören.

Schon hatte er den Telefonhörer wieder in der Hand, wollte seine eigene Nummer wählen — aber er tat es nicht. Vielleicht würde Gina es falsch auffassen, würde glauben, er wollte ihr nur nachspionieren — nein, so ging es nicht. Er würde ihr heute mittag etwas mitbringen. Blumen? Nein. Etwas Persönlicheres. Handschuhe, einen Schal, vielleicht ein kleines Schmuckstück — nur so konnte er ihr zeigen, wie sehr er seine unvernünftige Eifersucht bereute, wie fest er entschlossen war, daß von nun an alles anders, besser werden sollte.

Dr. Thomas Miller atmete tief durch, setzte sich wieder an den Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. Er schlug die Akte Ellmann gegen Ellmann auf, las den Bericht noch einmal und spürte mit unendlicher Erleichterung, daß er nichts mehr dabei empfand — nichts, gar nichts. Es war ein Fall unter vielen anderen, der sein Herz nichts anging, sondern nur seinen Verstand und sein juristisches Wissen beanspruchte.

Gina, Seine Liebe, seine Ehe hatten nichts damit zu tun.

[26]

»Ich bin untröstlich«, sagte Henry Horn und legte seine Hand mit einer sehr selbstverständlichen, fast besitzergreifenden Bewegung unter Ginas Arm, »können Sie mir noch einmal verzeihen? Aber wie hätte ich auch ahnen können …«

Er schob sie in einen großen, sehr luxuriös eingerichteten, aber überaus unordentlichen Raum — auf einem wunderbaren Gobelinsessel lagen halb aufgerollte Stoffballen kreuz und quer durcheinander, auf einer gotischen Truhe Stöße von leicht zerfledderten Zeitschriften, Fotografien gab es überall, selbst auf dem Fußboden, der mit einem riesigen bizarr bemusterten Teppich bedeckt war. In einer großen kupfernen Schale häuften sich Zigarettenstummel zum Teil mit korall- und zyklamroten Lippenabdrücken. Sie sah aus, als ob sie seit mindestens einer Woche nicht mehr geleert worden wäre. In einer Kristallvase stand, statt Blumen, ein zierlicher Damenregenschirm.

Er half ihr aus dem Mantel, legte ihn über eine Sessellehne.

»Setzen Sie sich, Gina«, sagte Henry Horn und wischte mit einer achtlosen Handbewegung ein paar herrliche Seidenschals von einem Schaukelstuhl, »machen Sie es sich bequem!« Er selber hockte sich auf einen niedrigen, reich geschnitzten Schemel und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Wie geht’s Ihnen denn? Sie sehen blendend aus, Kindchen. Seit wann sind Sie aus Rom zurück?« Er sah in einem überfallenden weißen Hemd aus grobem blauen Leinen unverschät gut und selbstsicher aus.

»Sie wissen …« sagte Gina, aber ihre Stimme klang gebrochen, so daß sie sich räuspern und noch einmal beginnen mußte: »Sie wissen, warum ich gekommen bin.«

Er zwinkerte belustigt mit den Augen. »Sie haben meine kleine Aufforderung gefunden.«

»Nicht ich«, sagte Gina, und ihre Hände krampften sich um ihre Handtasche, »mein Mann!«

Er tat einen langen Pfiff. »Au wei!«

Gina schluckte. »Warum haben Sie das getan?«

»Ich wollte Sie gerne wiedersehen. Ist das so unverständlich?«

»Sie lügen! Ich habe Ihnen niemals irgendein Versprechen gegeben, das wissen Sie ganz genau. Und Sie hatten auch kein Recht, mich zu duzen!«

»Na, na, na«, sagte er ungerührt, »das sind harte Worte!« Er zog ein zerknülltes Zigarettenpäckchen aus der Hosentasche, hielt es ihr hin.

Sie hätte gerne geraucht, aber sie wollte nicht friedfertig erscheinen. Sie schüttelte stumm den Kopf.

Er zeigte sich nicht getroffen. »Sie überschätzen mich«, sagte er grinsend, »noch bin ich nicht so weit, daß ich die Damen, die mich besuchen, mit präparierten Zigaretten betäube.« Er steckte sich eine zwischen die Lippen und zündete sie sich mit einem Tischfeuerzeug an.

Sie saß sehr aufrecht, die schlanken Beine nebeneinander gestellt und sah ihn unverwandt an.

»Also, wenn Sie es genau wissen wollen«, sagte er und strich sich einen Tabakkrümel von der Lippe, »es sollte ein Spaß sein. Ich dachte, es würde Sie amüsieren, wenn Sie meine Karte fänden.«

»Ich kann nicht den geringsten Witz bei dieser Sache entdecken«, sagte sie kalt, »anscheinend haben Sie einen makabren Humor.«

Er lachte, ganz herzlich und unbefangen. »Sie sind ein Goldstück, wahrhaftig! Wahrscheinlich ahnen Sie nicht einmal, wie süß Sie sind.«

Plötzlich begriff sie, daß alles gar keinen Zweck hatte. Er lebte in einer anderen Welt, er konnte sie nicht verstehen. Die Belastung für ihre Nerven war zu groß. Wenn sie noch eine Sekunde länger blieb, würde sie in Tränen ausbrechen.

»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie, stand hölzern auf und ging zu ihrem Mantel.

Mit einem Satz war er auf den Beinen. »Kindchen, was ist mit Ihnen?« fragte er, plötzlich ehrlich erschrocken.

Ihre Lippen zitterten. »Ich möchte gehen.«

»Aber warum denn? Habe ich Sie etwa beleidigt? Verdammt nochmal, machen Sie nicht so ein Gesicht, das ist ja nicht zu ertragen…«

»Herr Horn«, sagte Gina, »ich bin nicht gekommen, um Ihnen eine Szene zu machen. Lassen Sie mich lieber gehen, bevor ich anfange zu schreien …«

»Aber warum denn? Warum? Was habe ich Ihnen getan?«

»Sie haben meine Ehe zerstört … nur so zum Spaß, rein aus Vergnügen! Und da fragen Sie mich noch, was Sie mir getan haben?«

»Aber … ich konnte doch nicht wissen, ich konnte doch nicht ahnen.«

Sie verlor die Fassung. »Hören Sie auf, mich anzulügen!« schrie sie. »Es tut ihnen ja noch nicht einmal leid!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht, ihr junger Körper bebte vor Schluchzen.

Er wollte sie in die Arme hehmen, aber sie stieß ihn heftig und voller Zorn zurück.

Er rauchte, die linke Hand in der Hosentasche, seine Zigarette zu Ende wartete, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte.

Dann erst, als sie nach einem Taschentuch zu suchen begann, sagte er: »Sie irren sich. Es tut mir leid. Es tut mir sogar verdammt leid. Es war ein übler Streich. Ich weiß nur nicht, ob Ihnen mit dem Ausdruck meines Bedauerns gedient ist.«

»Bitte«, sagte Gina und sah ihn flehend an, »bitte, sprechen Sie mit meinem Mann! Erzählen Sie ihm, wie es wirklich war! Machen Sie ihm klar, daß ich gar nichts dafür konnte!«

Er überlegte kurz, dann sagte er entschieden: »Nein, Gina, das hat keinen Zweck!« Er hob die Hand, als sie ihm widersprechen wollte. »Ich würde es tun, glauben Sie mir, wenn ich Ihnen damit helfen könnte. Aber es geht nicht. Was für einen Grund hätte Ihr Mann, ausgerechnet mir zu glauben? Nein, er würde es nur für ein abgekartetes Spiel halten. Ich kann Ihnen nicht helfen … beim besten Willen nicht!«

»Aber … Sie könnten es doch wenigstens versuchen.«

»Es würde Ihre Situation nur verschlimmern.« Er nahm ihr das Taschentuch aus der Hand, sagte: »So, nun halten sie mal ganz still«, und begann, behutsam ihre Augen abzutupfen. »Da!« Er zeigte ihr das Tuch, auf dem die Wimperntusche schwarze Spuren hinterlassen hatte. »Jetzt sehen Sie wieder menschlich aus.« Er öffnete ihre Handtasche, steckte das Tuch hinein. »Wenn Ihr Mann Ihnen nicht glaubt, zu wem sollte er dann Vertrauen haben?«

»Was soll ich bloß tun?« fragte sie verzweiflungsvoll.

»Am besten gar nichts. Gehen Sie hübsch ruhig nach Hause. Seien Sie nett und lieb zu Ihrem Mann, versuchen Sie, sich ganz natürlich zu benehmen. Das dürfte Ihnen ja nicht schwer fallen, denn tatsächlich haben Sie ja ein blütenreines Gewissen. Sie werden sich wundern, wie schnell diese ganze dumme Geschichte vergessen sein wird. Ihr Mann liebt Sie doch, nicht wahr?«

»Nicht mehr. Ich meine, ich weiß nicht, ob er mich noch liebt.«

»Dann wäre er ein schöner Esel. Kopf hoch, Kindchen, und wenn alle Stricke reißen, Sie wissen ja, Henry Horn ist immer für Sie da. Ohne Witz. Sie sind ein Typ, aus dem man etwas machen kann. Also, wenn Sie es nicht mehr aushalten können, wenden Sie sich getrost an mich, aber erst mal telefonisch, wenn’s geht, damit wir nicht wieder so eine Panne erleben wie heute morgen.«

»Danke«, sagte sie, obwohl sie wußte, daß es im Grunde genommen überhaupt keinen Grund gab, sich zu bedanken, »aber ich hoffe, so weit wird es nie kommen.«

»Na, sehen Sie!« lächelte er gönnerhaft, »ich freue mich, daß Sie das einsehen. Ein kleiner Ehekrach ist noch lange kein Grund zum Verzweifeln. Im Gegenteil, sowas frischt die Liebe nur noch auf. Und noch ein Rat, es gibt in der Ehe Situationen, in denen man seinem Partner alles, aber auch alles beibringen kann, kapiert? Sie wissen schon …«

Sie unterbrach ihn kühl. »Danke«, sagte sie und schlüpfte, ehe er ihr noch helfen konnte, in ihren Kamelhaarmantel, »leben Sie wohl!« Als er ihr die Hand küssen wollte, zog sie sie rasch zurück. Er brachte sie in den Vorraum.

An der Eingangstür klingelte es, und das rothaarige Mädchen drückte auf.

Vivian Geron trat ein, sehr elegant in einem tabakgrauen Wildlederkostüm und kleinem dunkelgrünen Jacqueline-Kennedy-Hut.

Unwillkürlich stellte sich Henry Horn schützend vor Gina. Aber Vivian Geron hatte sie schon gesehen.

»Gina, Liebste!« sagte sie frohlockend. »Was für eine reizende Überraschung! Aber ich war wahrhaftig nicht gefaßt, wieso sind Sie überhaupt schon in München? Ich hatte gedacht …«

»Frau Miller war gerade im Begriff zu gehen«, sagte Henry Horn entschlossen und führte Gina zur Etagentür, »ich danke Ihnen nochmals für Ihren Besuch, gnädige Frau und, bitte, grüßen Sie Ihren Gatten recht herzlich von mir!« — Erst als die Tür hinter ihr ins Schloß gefallen war, drehte er sich zu Vivian um.

»Hast du dich etwa in die Kleine verguckt?« fragte Sie ironisch. »Du tust ja gerade so, als wenn ich sie fressen möchte.«

Er ging vor ihr her in den Aufnahmeraum. »Du würdest es tun, wenn du sie damit aus dem Leben deines Doktor Millers entfernen könntest.«

»Na, erlaube mal!«

»Hör auf, mir etwas vorzumachen.« Er schloß die Türe sehr sorgfältig hinter ihr. »Du bist wütend, daß du ihn nicht hast halten können. Und statt einzusehen, daß es dir wahrscheinlich doch an weiblichen Qualitäten mangelt, versuchst du, das Glück dieses Kindes zu vernichten. Ich schäme mich, daß ich mich jemals für deine Ziele habe einspannen lassen. Jawohl, ich schäme mich. Aber jetzt ist Schluß damit. Endgültig. Du wirst mich nicht noch einmal einwickeln, verlaß dich drauf.«

»Also doch«, sagte sie ruhig und zündete sich eine Zigarette an.

Er starrte sie mißtrauisch an. »Was soll das heißen?«

»Nichts Besonderes. Du hast Feuer gefangen. Aber das weißt du wohl am besten selber.«

»Auch wenn es so wäre«, sagte er wütend. »dich geht es nichts an.«

»Darf ich mich nicht wenigstens darüber freuen? Ich gratuliere, Henry. Ich wußte immer, daß du einen ausgezeichneten Geschmack hast, und ich wünsche dir von ganzen Herzen Erfolg.«

»Du kennst mich sehr schlecht«, sagte er kalt, »von mir hat dieses Kind nichts zu befürchten. Ich wünsche ihr, daß sie glücklich wird. Auch wenn es dich noch so ärgert.«

»Warten wir’s ab«, sagte sie ruhig und drückte ihre Zigarette aus. »Es hat keinen Zweck, daß wir uns streiten. Kann ich die römischen Fotos sehen? Ich hoffe, du hast sie schon entwickelt.«

[27]

»Thomas«, sagte Gina atemlos vor Glück, als sie das kleine Päckchen öffnete, das er ihr beim Heimkommen mit einem beinahe schüchternen Lächeln in die Hand gedrückt hatte, »Thomas, das habe ich wirklich nicht verdient.«

Vor ihr lag, auf blauem Samt, eine zauberhafte kleine goldene Schleife.

»Doch«, sagte er, »du hast …«

»Nein«, sagte sie, und Tränen des Glücks stiegen ihr in die Augen, »nein, wirklich nicht, Thomas! Wo ich noch nicht einmal geputzt und gar nichts zu Mittag gekocht habe!«

»Schlimm, schlimm«, sagte er und setzte eine übertrieben finstere Miene auf, »dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als auswärts zu essen.«

Sie schmiegte ihren Kopf an seine Brust. »Bist du mir wirklich nicht mehr böse?«

»Nein«, sagte er, »es war meine Schuld. Ich habe mich wie ein Idiot benömmen, wie ein eifersüchtiger Narr.« Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, sah ihr in die klaren grauen Augen. »Gina, kannst du mir verzeihen?«

»Ja«, sagte sie atemlos, »alles, alles, was du willst!«

Sie küßten sich lange, und die Glut, die wie eine Welle in ihnen aufstieg und sie beide mit sich fortriß, schwemmte alle bösen Gedanken, alles Mißtrauen, alle Feindseligkeit mit sich fort.

»Gina«, flüsterte er sehr dicht an ihrem Ohr, »eigentlich habe ich gar keinen Hunger.«

Sie lächelte ihn an, Tränen des Glücks in den Augen. »Ich auch nicht, Thomas, nicht ein bißchen!« Sie schmiegte sich noch fester in seine Arme. »Nur auf Liebe, auf deine Liebe.«

Aber später entschlossen Gina und Thomas sich doch noch essen zu gehen.! Einen Häuserblock weiter war ein kleines, gut bürgerliches Lokal, das Thomas früher nur aufgesucht hatte, wenn seine Mutter verreist war. Jetzt liefen sie Hand in Hand hinüber, glücklich wie die Kinder »Bestell etwas Rasches«, mahnte Thomas, als sie an einem Ecktisch, der eben frei geworden war, Platz genommen hatten. »Du weißt, ich muß in einer halben Stunde wieder in der Kanzlei sein.«

»Das schaffst du nie!«

»Stimmt! Und wer ist schuld daran? Du kleine Hexe.« Er zauste ihr zärtlich in der honigblonden Mähne. »Aber immerhin will ich versuchen, mit so wenig Verspätung wie nur möglich anzutanzen.«

»Ich könnte dir auch einen Entschuldigungsbrief schreiben«, neckte sie ihn.

»Ach, wirklich?« Er lachte. »Und wie würdest du ihn abfassen? Mein Mann Thomas konnte nicht rechtzeitig im Dienst sein, weil er einer unvorhergesehenen Verführung zum Opfer gefallen ist?«

Sie ergriff seine Hand. »Sag lieber Versöhnung! Wir haben uns jetzt doch versöhnt, Thomas, nicht wahr? Es ist alles wieder in Ordnung?«

»Ja, Gina, ja!«

»Und du glaubst mir, daß an dieser Sache mit Henry Horn gar nichts dran war?«

Er wurde plötzlich ernst. »Ich möchte nie wieder darüber sprechen!«

»Aber ich muß, Thomas, ich muß dir noch etwas sagen!«

Thomas war es gelungen, die Kellnerin herbeizulocken. Er bestellte für sich und Gina das erste Menü. »Und zwei Fläschchen Johannisbeersaftl« sagte er. »Aber schnell, bitte, Fräulein Lotte, wir müssen gleich wieder fort!«

»Es geht ganz fix, Herr Doktor«, versprach die Serviererin.

»Du bist hier wohl sehr gut bekannt?« fragte Gina mit aufsteigendem Unbehagen.

Er sah sie mit einem sonderbaren Ausdruck an. »Willst du etwa versuchen, den Spieß umzudrehen? Zu deiner Orientierung: Fräulein Lotte arbeitet in diesem Lokal seit drei Jahren. Es wäre also ein Wunder, wenn sie mich nicht kennen würde. Obwohl ich nur höchst selten hier gegessen habe.«

»Ach so«, sagte Gina, weniger von seinen Worten, als von dem Ton, in dem er sie gesprochen hatte, überzeugt.

»Also, was wolltest du mir sagen?«

Gina wagte nicht ihn anzusehen. »Ich war bei Henry Horn.«

»Was!?« Er reagierte noch heftiger, als sie befürchtet hatte.

»Ja, Thomas, bitte, bitte, versteh das nicht falsch! Ich wollte, ich habe einfach versucht, die Sache mit der Visitenkarte klarzustellen.«

»Wann?«

»Bitte, gib mir erst einmal eine Zigarette!«

»Jetzt vor dem Essen?« sagte er mechanisch. Aber gleichzeitig zog er schon sein Päckchen aus der Tasche, bot es Gina an, gab ihr Feuer und bediente sich selber.

Sie tat ein paar tiefe Züge. »Heute morgen«, sagte sie.

»Vorher nicht?«

»Thomas!«

»Entschuldige, bitte.«

Sie fühlte sich plötzlich in diesem gemütlichen kleinen Lokal, inmitten all den Menschen, an der Seite ihres jungen Ehemannes, so entsetzlich einsam, wie nie zuvor in ihrem Leben. Schauernd zog sie die Schultern zusammen.

»Was hast du?« fragte er. »Ist dir nicht gut?«

»Es hat alles keinen Zweck«, sagte sie tonlos, »du glaubst mir nicht, es hat gar keinen Zweck, dir irgend etwas zu erklären.«

»Gina«, sagte er bestürzt, »du weißt doch, wie sehr ich dich liebe.«

Sie sah ihn an, aus Augen, die plötzlich nicht mehr jung, sondern ernst und sehr wissend waren. »Was ist Liebe ohne Vertrauen?«

»Verzeih mir, ich will dir ja glauben, Gina. Ich will es versuchen, wirklich!«

Fräulein Lotte brachte die Suppe, aber weder Gina noch Thomas drückten ihre Zigarette aus.

»Henry Horn behauptete, das Ganze wäre nichts als ein dummer Witz gewesen«, sagte sie gepreßt, »aber ich bin sicher, Vivian Geron steckt dahinter. Sie hat es von Anfang an darauf angelegt, uns auseinanderzubringen.«

»Gina, ich bitte dich!«

»Als wenn du das nicht selber wüßtest! Henry Horn hat es ja auch zugegeben. Nur, er wollte mit dir nicht darüber sprechen. Ich habe ihn darum gebeten. Ja, deshalb bin ich doch überhaupt zu ihm gegangen. Aber er sagte, das würde alles nur noch schlimmer machen. Du würdest ihm bestimmt nicht glauben.« Sie schwieg.

»Ist das alles?«

»Alles, was Henry Horn betrifft.«

»Aber es gibt da noch etwas anderes?«

Er unterbrach sie, weil Fräulein Lotte wieder an den Tisch getreten war: »Sie können die Suppe wegnehmen«, sagte er.

Gina wartete, bis die Serviererin sich zurückgezogen hatte, dann bekannte sie mit Überwindung: »Als ich gerade gehen wollte, kam Vivian Geron.«

»Und?«

»Nichts weiter. Sie wird dir bestimmt heute noch alles erzählen. Von ihrer Warte. Sie wird versuchen, mich bei dir zu verdächtigen oder lächerlich zu machen.«

Er drückte seine Zigarette aus. »Hast du mir nur deshalb von diesem Besuch etzählt?«

»Ja«, sagte sie ehrlich.

Eine Pause entstand, eine schwere lastende Pause.

»Na schön«, sagte er schließlich, »ich glaube dir.«

Sofort leuchtete ihr junges Gesicht wieder voll Hoffnung auf. »Ehrlich, Thomas?«

»Ja. Sonst müßte ich ja verzweifeln.«

»Es war so, Thomas, genau wie ich erzählt habe. Ganz bestimmt. Mir liegt an diesem blöden Henry Horn gar nichts, nicht das Geringste, nur, ich war so verzweifelt. Ich mußte einfach etwas unternehmen, um dir meine Unschuld zu beweisen. Aber, ich habe einfach immer Pech.«

»Du hast sehr unbedacht gehandelt, Gina.«

»Jetzt weiß ich das auch! Aber ist das wirklich noch wichtig, wenn du’mir glaubst?«

»Nein«, sagte er, und endlich stand wieder das Lächeln in seinen dunklen Augen, das sie so sehr an ihm liebte, »nichts ist wichtig, Gina, außer dir und mir!«

»Ich bin ja so froh!« Sie nahm seine Hand, schmiegte ihre Wange hinein. »Oh, Thomas, ich bin ja so glücklich!« Tatsächlich war ihr, als wenn sie eine schwere Last von der Seele gewälzt hätte. Sie hätte laut singen mögen vor lauter Erleichterung.

Der Hauptgang wurde gebracht — Kalbsbraten mit Erbsen, Möhren und Kartoffelpüree — und er beobachtete mit Rührung, wie sie sich mit dern Heißhunger eines Schulmädchens auf das Essen stürzte. Er verstand sich selber nicht mehr — wie hatte er Gina, seine unschuldsvolle kindliche kleine Gina nur so verdächtigen können? Er liebte sie doch, und er wußte, daß er der einzige Mann in ihrem Leben war. Es war, als wenn ein böser Geist ihnen diese Liebe und ihr junges Glück nicht gönnte, als ob der Teufel selber im Spiel wäre.

»Thomas«, sagte Gina, kaum daß sie den letzten Bissen in den Mund gesteckt hatte, »ich muß dir noch etwas beichten.«

»Nicht schon wieder!«

»Doch! Ich, ich will einfach keine Geheimnisse mehr vor dir haben! Ich habe dich nämlich angelogen! Bitte, bitte, sei mir nicht böse! Es war ein Mann in der Wohnung, als du von Düsseldorf anriefst, und ich habe dir Geld geklaut!« Und dann erzählte sie ihm alles — von Wolfis überraschendem Besuch, von ihrer Verwirrung, dem Wunsch, ihm zu helfen, ihrer Angst, die Wahrheit zu sagen.

»So«, schloß sie tapfer, wenn auch mit zitternder Stimme, »nun weißt du alles, wirklich alles. Jetzt kannst du mir eine Watschen geben, wenn du willst, oder Hausarrest oder sonst irgendwas! Das ist dein gutes Recht. Ich wäre trotzdem froh, weil ich nun kein schlechtes Gewissen mehr zu haben brauche!«

»Gina, Gina«, sagte er »was bist du bloß für ein Kindskopf! Ich bin doch nicht dein Lehrer, der dich für eine Dummheit bestrafen möchte. Ich bin doch dein Mann!«

»Verzeihst du mir?« fragte sie rasch.

»Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Aber eines mußt du mir versprechen, ganz fest! Daß du nie mehr solche Streiche machst!«

»Ich habe dir doch erzählt, wie alles gekommen ist!« sagte sie, fast empört. »Ich wollte es ja gar nicht!«

»Ein erwachsener Mensch muß einfach wissen, was er tut; und er muß auch die Folgen seiner Handlungsweise voraussehen.« Er seufzte. »Versprich mir also etwas anderes, das ist viel einfacher, daß du mir in Zukunft immer die Wahrheit sagen wirst. Immer. Und nicht erst nach ein paar Wochen, sondern sofort.«

»Ja, Thomas«, sagte sie, »das will ich tun.«

Er glaubte ihr, und er war sehr froh, daß er ihr wieder glauben konnte. Die ganze törichte Geschichte mit Wolfis Mopedunfall und dem Geld, um das es gegangen war, hatte ihn mehr als alles andere davon überzeugt, daß sie ganz unschuldig und ohne bösen Willen gehandelt hatte. Nur ein unverbildeter junger Mensch war zu solchen Dummheiten fähig.

Er hatte ja gewußt, daß er ein Schulmädchen heiratete, und er, nur er, war für sie verantwortlich. Er nahm sich fest vor, sie vor allen Unbillen des Lebens zu beschützen — Gina, seine liebe junge Frau.

[28]

Am Nachmittag hatte er gerade eine Besprechung mit einem Klienten, der in einen Fall von Hehlerei verwickelt war, als das Telefon klingelte und seine Sekretärin ihm mitteilte, daß Fräulein Vivian Geron ihn zu sprechen wünschte.

»Stellen Sie durch!« sagte er kurz, und dann, zu seinem Klienten: »Entschuldigen Sie, bitte!«

»Hallo, Thomas!« sagte Vivian mit gemachter Unbefangenheit. »Ich wollte mich mir mal erkundigen, wie es dir geht, und wie du mit deiner jungen Ehe zu Rande kommst!«

»Du solltest wissen, daß ich im Augenblick …«

»Ja, natürlich. Wahrscheinlich bist du nicht allein. Wie wäre es, wenn wir uns nachher treffen würden?«

»Vivian, ich…«

»Ich habe dir etwas Interessantes zu erzählen!«

Er hätte sie am liebsten angeschrien, aber er bekämpfte diesen Impuls. Er wußte, daß es so nicht ging. Er müßte Vivian seinen Standpunkt ein für alle Mal und mit unmißverständlicher Deutlichkeit klarmachen, Wenn er in Zukunft Ruhe vor ihr haben wollte.

»Also gut«, sagte er beherrscht, »gegen sechs bin ich fertig! Was schlägst du vor?«

»Ach, komm doch einfach zu mir! Dann brauche ich nicht irgendwo auf dich zu warten, und wir können in aller Ruhe miteinander sprechen.«

»Wie du meinst. Aber ich kann nicht lange bleiben. Du weißt, Gina…«

»Ach, was Gina betrifft«, sagte sie leichthin, »wäre es wohl wirklich besser, du kämest einmal unerwartet früher nach Hause!«

Er verstand sie sehr gut und war froh, daß sie sein Gesicht nicht sehen konnte. »Wie meinst du das?« fragte er dennoch.

»Das werde ich dir nachher erklären. Also, bis später!«

Sie hängte auf, bevor er noch etwas fragen oder sagen konnte.

Er wußte, daß dies eine wohl berechnete Taktik von ihr war, und kalte Wut stieg in ihm auf. Welch fürchterliche Zweifel hätte sie in ihm erweckt, in welch einen entsetzlichen Verdacht hätte sie ihn gestürzt, wenn Gina ihm nicht schon vorher alles gebeichtet hätte!

Er hatte Vivian Geron immer für einen vernünftigen, ständigem eher ein wenig nüchternen Menschen gehalten!

Wie sehr er sich getäuscht hatte. Oder kam es einfach daher, daß sie eine Frau war? Waren alle Frauen zu solchen Handlungen fähig, wenn es galt, um eine verlorene Liebe zu kämpfen?

Auf jeden Fall mußte er Gina mitteilen, daß er zu Vivian ging Er durfte neuen Mißverständnissen keine Nahrung geben.

Es fiel Thomas minutenlang schwer, sich auf seinen Klienten und dessen Anliegen zu konzentrieren. Aber dann siegte sein beruflicher Ehrgeiz und sem Pflichtgefühl. Er schob alle privaten Gedanken energisch beiseite.

[29]

Vivian Gerons Appartement war mit erlesenem Geschmack eingerichtet. Es wirkte, als ob es geradewegs aus der Wohnungsseite einer exclusiven Frauenzeitschrift herausgesprungen wäre. Hier gab es alles, was man der modernen Junggesellin zu empfehlen pflegte — einen weißen runden Tisch, der, wie die dazugehörigen Sessel, auf einem einzigen mittleren Bein stand, eine mit scharzem Leder bezogene Couch, Blumen in altmodische Krüge gepflanzt, Bilder, deren Wert ihre Bedeutung als berechnend gesetzte Farbflecken hatten.

Thomas Miller war dies alles vertraut, denn er war, bevor er Gina kennenlernte, mehr als einmal hier gewesen. Was ihn überraschte, war nur Vivian selber — sie trug nicht den gewohnten, eher sportlichen Hausanzug, sondern ein reizvolles, sehr weibliches Negligé aus fließender zartgrüner Seide mit einem Besatz von cremefarbenen Spitzen. Sie trug das lackschwarze Haar hochtoupiert, hatte die schillernden Augen durch geschickte Lidstriche geheimnisvoll vergrößert.

Ein erregender Reiz ging von ihr aus, und Thomas spürte Unbehagen, seltsam gemischt mit Begehren, als sie in einer Wolke von duftendem Parfüm auf ihn zuschwebte. Er verachtete sich selber, weil es ihm schwer fiel, hart zu bleiben.

»Probst du für ein Kostümfest?« fragte er grob.

Der Hieb hatte gesessen. Sie wurde biaß unter der bräunlichen Haut. Aber sie hatte ihre Stimme ganz in der Gewalt. »Ach, weißt du, ich habe es mir bequem gemacht«, sagte sie unbefangen, »willst du dich nicht setzen?«

»Muß sehr bequem sein, in so einem bühnenreifen Kostüm herumzuwedeln«, sagte er spöttisch.

Aber sie hätte sich schon wieder gefaßt, tat, als ob sie seine Ironie überhört hätte. »Was möchtest du trinken?« fragte sie. »Gin, Whisky, Wodka?«

»Danke. Gar nichts.«

»Ach, verzeih. Ich habe vergessen, daß du seit neuestem unter dem Pantoffel stehst. Wenn ich dir ein Glas kalte Milch anbieten darf?«

»Laß das Theater. Ich dachte, du wolltest mit mir sprechen.«

»Vielleicht gestattest du, daß ich mir wenigstens einschenke.« Sie trat an ihre kleine schimmernde Hausbar, goß Sich zwei Finger breit Whisky ein, ließ klirrend zwei Eiswürfel in das Glas fallen und kam zum Tisch zurück.

»Du siehst nicht gut aus, Thomas«, sagte sie, »ziemlich ermattet.«

»Hör auf damit!«

»Willst du nicht doch etwas trinken?«

Er sah auf seine Armbanduhr. »Ich habe genau zehn Minuten Zeit. Wenn du mir also etwas zu sagen hast, solltest du es schnell tun.«

Sie setzte sich ihm gegenüber in einen der schalenförmigen einbeinigen Sessel, schlug die Beine übereinander, so daß ihr grünseidenes Negligé auseinanderfiel, ließ nachdenklich die Eiswürfel in ihrem Glas kreisen. »Ich überlege ernsthaft, ob es überhaupt richtig ist, dir alles zu sagen.«

»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte er ruhig; »wahrscheinlich wäre es besser, du würdest dich endlich ‘raushalten. Aber da du dazu nicht fähig bist, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als dich anzuhören.«

Sie nahm einen Schluck Whisky. »Ich weiß, es klingt lächerlich. Aber ich fühle mich dir immer noch verbunden. Dabei sollte ich doch eigentlich genug von dir haben. Nach allem, was du mir angetan hast.«

»Sprich dich ruhig aus.«

Sie zog die Zigarettendose zu sich heran. »Es fällt mir furchtbar schwer zu reden«, sagte sie mit einem kleinen hilflosen Lächeln. Sie nahm sich eine Zigarette, wartete darauf, daß er ihr Feuer geben würde, aber er rührte sich nicht.

»Rüpelhaftigkeit«, sagte sie, »hat nichts mit Männlichkeit zu tun. Wenn du glaubst, daß du mich durch schlechtes Benehmen strafen kannst.« Sie ließ das Tischfeuerzeug aufspringen, zündete sich ihre Zigarette an.

Er spürte, daß seine Nerven dieser Belastung nicht mehr lange gewachsen sein würden. »Komm endlich zur Sache«, sagte er rauh.

»Neugierig bist du also doch?«

»Ja. Das bin ich. Ich möchte endlich wissen, was dein verschrobenes kleines Hirn nun wieder ausgebrütet hat.«

Sie steckte mit betonter Umständlichkeit ihre Zigarette in die Spitze. »Sehr sicher scheinst du deiner jungen Frau nicht zu sein.«

»Man kann keiner Frau ganz sicher sein.«

»Ich bin froh, daß du es so siehst!« Sie beobachtete ihn durch eine Wolke grauen Rauches. »Dann wird dich das, was ich dir zu sagen habe, vielleicht gar nicht allzu sehr erschrecken.«

»Nach all diesen Vorbereitungen bestimmt nicht mehr.«

Sie strich die Asche ihrer Zigarette ab, sagte ganz ohne Betonung, während sie ihn aus den Augenwinkeln beobachtete: »Gina betrügt dich.«

Er zuckte mit keiner Wimper, denn gerade diese Eröffnung hatte er erwartet. »So?« sagte er nur sehr ruhig.

Es wurde ihr schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen.

»Das wundert dich gar nicht?«

»Nicht, wenn du es behauptest.«

»Mein lieber Thomas, glaube nicht, daß es mir Spaß macht, dir so etwas sagen zu müssen.«

»O doch, das glaube ich. Du hast selten eine Szene so genossen. Gib es doch zu.«

»Du verkennst mich. Aber das wundert mich nicht. Du hast mich immer verkannt.«

»Wollten wir nicht über Gina sprechen? Ich nehme an, du hast Beweise für deine Anschuldigung.«

»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«, sagte sie langsam, jedes einzelne Wort betonend.

»Hast du hinter einem Vorhang in Henry Horns Schlafzimmer gestanden?« fragte er mit unverhohlenem Spott.

»Wie kommst du auf Henry Horn?«

»Halte mich, bitte, nicht für zu schwer von Begriff, liebe Vivian! Um welchen anderen Mann könnte es sich sonst wohl handeln?«

»Du mußt das verstehen, Thomas«, sagte sie mit geheuchelter Güte, »Gina ist jung, sehr jung noch, fast ein Kind, und Henry Horn ein ganz besonders attraktiver Mann. Außerdem ist er durchaus skrupellos. Ich könnte mir vorstellen, daß ihm jedes Mittel recht war.«

»Wie dir!«

»Willst du mit etwa die Schuld an Ginas Ehebruch in die Schuhe schieben?«

»Gina hat sich nichts zuschulden kommen lassen.« Er sprang auf. »Du, nur du warst es, die es von Anfang an darauf angelegt hatte, uns auseinanderzubringen!«

Sie blieb mit gespielter Ruhe sitzen. »Ach was! Willst du etwa behaupten, ich hätte sie narkotisiert und zu Henry Horn verschleppt?«

»Nein! Aber du hast ihn angestiftet, ihr seine Visitenkarte mit der verfänglichen Aufforderung in die Handtasche zu schmuggeln.«

»Der sie aber doch nachgekommen ist!«

»Nein! Sie ist zu ihm gegangen, weil ich die Karte gefunden hatte, um ihn zu bitten, den Fall aufzuklären! Und als sie von ihm wegging, hast du sie gesehen!«

Jetzt erst begriff sie. Sie nahm einen Schluck Whisky, um sich zu fassen, aber das Glas zitterte in ihrer Hand, so daß die Eisstücke klirrten. »Sie hat es dir also gesagt.«

»Ja. Alles. Und versuch jetzt nur nicht, mir einzureden, daß sie gelogen hätte. Es gibt nur eine Person, die lügt, und das bist du. Nur du! Jede Intrige und jede Lüge ist dir recht, die dazu beitragen kann, Gina in meinen Augen schlecht zu machen. Aber du hast dir nur selbst geschadet. Als ich dich Ginas wegen verließ, tatest du mir leid. Ich hatte fast ein schlechtes Gewissen dir gegenüber. Aber jetzt, jetzt danke ich dem Himmel, daß ich dich losgeworden bin, und zwar endgültig. Versuch nie, nie wieder, dich in meine Ehe zu mischen. Es ist aus, aus und vorbei. Und zwar endgültig.«

Er drehte sich um und stürmte aus dem Zimmer, froh endlich wieder an die frische Luft zu kommen. Er redete sich ein, daß er erleichtert war, Vivian die Meinung gegagt sich endlich ganz von ihr gelöst zu haben.

Aber er hätte kein Mann sein müssen, wenn er sich im Unterbewußtsein nicht doch durch ihre Hartnäckigkeit geschmeichelt gefühlt hätte. Sie hatte mit unfairen Mitteln gekämpft, daran bestand kein Zweifel, aber sie hatte es seinetwegen getan.

Noch ehe er seine Wohnung erreicht hatte, hatte er ihr innerlich schon wieder verziehen.

___________

Thomas erzählte Gina alles, zwar nicht, was er gefühlt, aber doch, was er gesagt hatte. Und sie vertraute ihm. Sie hätte sich gar nicht vorstellen können, daß er Vivians Vorgehen nicht für genauso verabscheuungswürdig hielt, wie sie selber.

Die nächsten Tage wurden zu einer Zeit reinsten Glücks. Sie verlebten sozusagen einen zweiten Honigmond, hatten beide das Gefühl erst jetzt, nachdem die erste Ehekrise überstanden war, ganz zueinander gefunden zu haben.

Gina schrubbte und putzte mit Begeisterung den ganzen Vormittag in der Wohnung herum, versuchte, einfache kleine Gerichte mit Hilfe des Kochbuches zuzubereiten, was ihr auch meistens einigermaßen gelang.

Wenn sie mit strahlendem Stolz ein leicht angebranntes Schnitzel oder eine etwas hart gewordene Leber auf den Tisch setzte, hatte Thomas nicht das Herz, sie auf irgendeinen Mangel hinzuweisen. Er spürte, wieviel Liebe in dieser unerfahrenen Kocherei steckte und er verbot es sich, an die glänzenden Kochkünste seiner Mutter zu denken. Tatsächlich schmeckte ihm das Essen wirklich, weil es ja gar nicht wichtig war, was er aß — wichtig war nur, in ihr leuchtendes junges Gesicht zu sehen, ihrem unbefangenen Geplauder zu lauschen, ihre große unschuldige Liebe zu spüren.

Dann kam der Tag, wo sie ihn nicht mehr mit strahlendem, sondern mit sorgenvollem Gesicht empfing. Er ahnte nichts Böses, mußte lachen.

»Was ist denn los, Kleines? Du siehst aus, als wenn du eine Lateinarbeit verpatzt hättest.«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. ‘ »Der Vergleich stimmt sogar fast.«

»Wieso? Du brauchst doch jetzt keine Arbeiten mehr zu schreiben.«

»Das nicht, aber«, sie stockte, überwand sich. »Ich bin mit dem Wirtschaftsgeld am Ende.«

»Was!? Das ist doch nicht möglich! Wir haben doch erst den Achtzehnten.«

»Ja. Leider.«

Er legte ihr die Hand unters Kinn. »Nun mal ganz ehrlich, Gina, was hast du dir gekauft? Ein Hütchen? Einen Pullover? Eine Handtasche?«

»Ich? Gar nichts. So etwas würde ich doch niemals tun.«

»Na, na, na.«

»Bestimmt nicht. Nicht ohne dich zu fragen.«

»Hat Wolfi dich wieder mal angepumpt?«

»Auch nicht.«

»Also dann stehe ich vor einem Rätsel. Ich habe dir genausoviel Wirtschaftsgeld gegeben wie meiner Mutter. Und Mama ist immer glänzend damit ausgekommen. Sie hat sogar immer noch kleine Extras davon bestreiten können.«

»Ich bin eben nicht deine Mamal« sagte sie, heftiger, als es nötig gewesen wäre.

Er sah in ihr erregtes junges Gesicht und begriff, sehr er sie verletzt hatte. »Komm, komm!« sagte er und legte behutsam seinen Arm um ihre Schultern, »Wir wollen doch keine Tragödie daraus machen. Ich wäre dir bloß dankbar, wenn du mir erklären könntest …«

»Das kann ich eben nicht! Ich habe bloß das Wichtigste gekauft, das weißt du selber, und trotzdem ist das Geld alle.«

Er versuchte, ihr eine Brücke zu bauen. »Ist es nicht möglich, daß du etwas verloren hast?«

»Nein! Ich wäre ja froh, wenn es so wäre! Aber ich habe ja gemerkt, wie das Geld jeden Tag weniger geworden ist.«

Sie mußte darum kämpfen, ihre Stimme in der Gewalt zu behalten. »Deshalb hat es ja auch gestern und vorgestern nur Konserven gegeben.«

Er sah sie ehrlich erstaunt an. »Hälst du Konserven etwa für billig?«

Sie erwiderte seinen Blick voller Arglosigkeit. »Sind sie es etwa nicht?«

»Aber, Gina! Rechnen mußt du doch wenigstens in der Schule gelernt haben!«

»Jedenfalls sind sie billiger als Fleisch! Weißt du überhaupt, wieviel Schweinefleisch jetzt kostet?« Ihr war ein Gedanke gekommen, und schon begannen sich die Schatten auf ihrem jungen Gesicht wieder zu verflüchtigen. »Jetzt hab ich’s! Ja, ich weiß, woran es liegt! Als deine Mama dir den Haushalt geführt hat, war ja alles noch viel billiger. Die Preise steigen ja jeden Tag, wirf bloß mal einen Blick in die Zeitung! Mir kännst du an dieser Entwicklung wirklich keine Schuld geben.«

»Nein, Gina, mach dir nichts vor. Mama hat mir ja ganz andere Sachen auf den Tisch gesetzt«, entfuhr es ihm unbedacht.

Ginas Gesicht wurde ganz starr. »Was willst du damit sagen?«

»Aber Gina! Bitte, entschuldige, ich habe wirklich nicht gemeint…«

»Doch. Das hast du! Du versuchst mir einzureden, daß du bei deiner Mutter besser versorgt gewesen bist als bei mir! Dabei weißt du genau, wieviel Mühe ich mir gebe.«

Er fiel ihr ins Wort. »Ja, ja, natürlich, Gina, und du machst deine Sache großartig. Aber es wäre doch einfach unnatürlich, wenn du dich genauso gut auf den Haushalt verstündest wie Mama!«

»Unnatürlich?«

»Ja! Denk doch mal nach! Mama hat seit vierzig Jahren gewirtschafiet, und du stehst ja noch ganz am Anfang.«

Sie wandte sich ab. »Wenn du die Dinge so siehst«, sagte sie tief gekränkt, »wäre es wohl besser gewesen, du wärest bei deiner Mama«, sie spuckte das Wort geradezu aus, »geblieben.«

»Vom hauswirtschaftlichen Standpunkt gesehen«, sagte er, jetzt auch erbittert, »wäre das bestimmt richtiger gewesen!«

Sie fuhr herum. »Thomas!«

»Entschuldige«, sagte er und tat einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen, »aber du hast mich herausgefordert!« Er machte einen raschen Schritt auf sie zu. »Gina, über was streiten’wir uns überhaupt? Das ist doch alles Wahnsinn. Du bildest dir doch nicht etwa ein, daß ich dich geheiratet habe, weil ich dich für eine perfekte Hausfrau hielt? Oder?«

»Natürlich nicht«, sagte sie schwach.

Er nahm sie in seine Arme. »Mach nicht so ein Gesicht, Gina, bitte nicht, schau nicht so unglücklich drein! Ich liebe dich doch. Ich liebe dich von ganzem Herzen!« Er berührte ihr honigblondes Haar mit den Lippen. »Auch wenn ich deine Schnitzel nicht gerade hervorragend finde!«

Sie klammerte sich ganz fest, wie eine Ertrinkende, an ihn. »Und ich habe mir soviel Mühe gegeben!«

»Ich weiß ja, Liebling, ich weiß. Bitte, bitte, weine nicht. Es ist ja halb so schlimm. Habe ich mich denn jemals beklagt?«

»Aber es hat dir trotzdem nicht geschmeckt, als ob ich das nicht gemerkt hätte!«

Er legte seine Hand unter ihr Kinn, zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Nun einmal Hand aufs Herz, Kleines. Willst du etwa behaupten, daß du selber nie und nirgends besser gegessen hast?«

Sie mußte unter Tränen lächeln. »Nein«, sagte sie kläglich.

»Na, siehst du! Du hast also gar keinen Grund, die Beleidigte zu spielen!«

»Ich bin nicht beleidigt. Ich ärgere mich einfach. Über mich selber. Daß ich ein solcher Versager bin!«

»Ach, Unsinn! Das stimmt doch gar nicht!« Er zog ein Taschentuch aus der Brusttasche, tupfte ihr die Tränen ab. »Du hast deine Sache sehr gut gemacht. Besser hätte es gar nicht gehen können.«

Ihre großen grauen Augen blickten ihn unschuldsvoll an. »Ist das dein Ernst?«

»Ja. Mein Ehrenwort drauf. Du hast dich wunderbar gehalten.«

»Aber«, sagte sie, Schon halb getröstet, »wo ist bloß all dies verflixte Geld geblieben?«

»Das werden wir auch noch herausbekommen. Jetzt wollen wir erst einmal essen, für einen Happen wird es ja wohl doch noch gereicht haben. Und heute abend setzen uns in aller Ruhe zusammen und versuchen, der Sache auf die Spur zu kommen. Ein Ausgabenbuch hast du wohl nicht geführt?«

»Hätte ich das sollen?«

»Nicht unbedingt. Aber natürlich wäre es ganz gut gewesen, wenn wir jetzt alle Unterlagen hätten. Hast du wenigstens die Rechnungen aufbewahrt?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd, »das heißt, weggeworfen habe ich nichts. Ein paar sind bestimmt noch in einem Portemonnaie oder in meiner Handtasche.«

»Gut. Dann such alles zusammen, was du finden kannst. Heute abend werden wir dann gemeinsam unsere Köpfe anstrengen, bis es raucht. Es wäre‘doch gelacht, wenn wir nicht rausbekommen könnten, wo die Fehlerquelle liegt!«

[30]

Kurz nach drei Uhr nachmittags — Gina war gerade dabei, Taschen und Schubladen nach Rechnungen zu durchwühlen — klingelte es an der Wohnungstür. Sie lief in die Diele, betätigte den Drücker, steckte den Kopf ins Treppenhaus.

Der Briefträger grüßte lächelnd hinauf. Er war gerade dabei, die Post in die einzelnen Fächer des Hausbriefkastens zu verteilen.

»Für mich etwas dabei?« rief Gina.

»Ich hab’ schon eingeworfen.«

»Danke!« Gina lief in die Wohnung zurück, holte ihre Schlüssel, rannte die wenigen Stufen zur Haustür hinunter.

Der Briefträger war schon wieder auf die Straße hinausgegangen.

Gina schloß den Briefkasten mit der Aufschrift »Dr. Th. Miller« auf, fuhr mit der Hand hinein, erwischte Drucksachen — daß es Drucksachen waren, fühlte sie, ohne hinzusehen, gleich an dem glatten Papier — und einem Brief.

Sie betrachtete den Brief, noch bevor sie das Fach wieder abschloß, aber ihre jähe Freude erlosch sofort. Er kam aus Düsseldorf und war an Thomas gerichtet. Sie drehte ihn um, las den Absender — er kam von Angela Fischer, ihrer verheirateten Schwägerin.

Voll Unbehagen und Mißtrauen, eine steile Falte auf der glatten Stirn, hielt sie ihn in Händen. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß es wieder um die Mutter ihres Mannes ging.

Für ihr Leben gerne hätte Gina gewußt, was Angela geschrieben hatte. Aber durfte sie den Brief öffnen?

Sehr nachdenklich schloß Gina das Fach des Hausbriefkastens, stieg, Angelas Brief in der einen, die Drucksachen in der anderen Hand, die wenigen Stufen zur Wohnung hinauf, stieß die angelehnte Tür auf und trat ein.

Mit Überwindung legte sie Drucksachen und Brief auf den Garderobentisch, trat ins Wohnzimmer, warf sich der Länge nach auf die Couch und starrte zur Decke.

Seit langem war zwischen Thomas und ihr nicht mehr die Rede davon gewesen, seine Mutter nach München zurückzuholen. Aber sie kannte ihren Mann inzwischen gut genug, um zu wissen, daß er diesen Plan, trotz seines Schweigens, noch nicht aufgegeben hatte. Und Angela wollte die alte Dame loswerden, das war ganz klar.

Wenn sie ihm nun wieder deswegen schrieb — und das war doch unbedingt anzunehmen — würde Thomas dann nicht doch weich werden und nachgehen? Würde ihm Ginas Versagen im Haushalt nicht ein willkommener Anlaß sein, die Mutter einzuladen? Und welchen Grund hatte sie, Gina, dagegen zu stimmen?

Keinen.

Er würde ihr verhalten, daß sie alleine mit dem Haushalt nicht fertig wurde und dankbar sein müßte, daß seine Mutter ihr die Last der Verantwortung abnahm. Er würde nicht verstehen, wieviel ihr daran lag, endlich selbständig wirtschaften zu dürfen, wie überzeugt sie war, daß sie es mit ein bißchen Geduld von seiner Seite in kürzester Zeit schaffen würde.

Nein, er verstand sie nicht. Er begriff nicht, warum sie sich so dagegen sträubte, seine Mutter aufzunehmen, daß sie mit ihm allein sein wollte, um jeden Preis.

Um jeden Preis?

Ginas Gedanken hakten ein. War sie nicht wieder einmal dabei, sich selber etwas vorzumachen? Um jeden Preis. Dabei wagte sie nicht einmal, diesen Brief zu öffnen, um sich wenigstens Gewißheit zu verschaffen.

Mit plötzlichem Entschluß schwang sie beide Beine auf den Boden, stand auf und lief zur Garderobe hinaus. Als sie den Brief in die Hand nahm, spürte sie ein nervöses Kribbeln. Sie mußte ihn öffnen, mußte wissen, was er enthielt. Es war ihr unmöglich, den ganzen Nachmittag mit diesem Brief, dessen bedrohliche Ausstrahlung sie geradezu körperlich Zu fühlen glaubte, in der gleichen Wohnung zu verbringen.

Aber noch zögerte sie. Irgend etwas hielt sie zurück. Wäre es nicht richtig gewesen, Thomas anzurufen und ihn zu bitten, den Brief lesen zu dürfen? Nein. Unmöglich. Bestimmt würde er verlangen, daß sie ihn gleich am Telefon vorlas. Und das hätte sie nicht fertiggebracht.

Sollte sie ihn heimlich öffnen, über Wasserdampf, und ihn nachher wieder zukleben? Der Gedanke schien bestechend. Dann aber fiel ihr ein, daß sie einmal ihre Mutter im Verdacht gehabt hatte, das mit einem Brief von Thomas getan zu haben — in jener Zeit, als die Eltern noch ganz und gar gegen diese Verbindung eingestellt waren.

Sie erinnerte sich mit bildhafter Deutlichkeit, wie zornig sie damals gewesen war, wie schäbig und unwürdig sie das Verhalten ihrer Mutter gefunden hatte.

Nein. So ging es also auch nicht. So tief durfte wollte sie nicht sinken.

Viel besser war es, den Brief einfach aufzumachen. Schließlich war sie Thomas’ Frau und hatte ein Recht zu erfahren — oder doch nicht? Jedenfalls, mehr als Vorwürfe konnte es deswegen nicht geben, und darauf kam es nun auch nicht mehr an.

Gina lief zum Schreibtisch ihres Mannes, nahm den Brieföffner und riß den Umschlag mit einem energischen Ruck auf. Das Herz klopfte ihr bis zum Halse, als sie den Bogen herausnahm. Sie überflog die ersten Zeilen, die Belanglosigkeiten enthielten, schon glaubte sie, sich vor Gespenstern gefürchtet zu haben, aber dann kam es — das, was Gina erwartet hatte.

Angela schrieb: »Ende nächster Woche wird Mama aus der Klinik entlassen. Ich habe heute mit dem Professor gesprochen. Er ist mit ihrem Zustand ganz zufrieden.

Natürlich, lieber Thomas, kann und soll Mama die anschließenden Wochen bei uns verbringen. Etwas anderes wäre ja auch mit Rücksicht auf ihre angegriffene Gesundheit gar nicht möglich. Aber wir müssen uns trotzdem ernsthaft überlegen, was weiter mit ihr geschehen soll.

Bei uns kann sie auf die Dauer nicht bleiben, das habe ich dir schon bei unserer letzten Begegnung in Düsseldorf gesagt, und daran hat sich inzwischen nichts geändert und wird sich auch nichts ändern. Mama kann sich nicht in unsere Familie einfügen, und sie fühlt sich auch nicht wohl bei uns. Da du sie auch nicht bei dir haben willst — das soll kein Vorwurf sein, Thomas, im Gegenteil, ich verstehe das sehr gut — bleibt ja nur noch die eine Möglichkeit: das Altersheim.

Es gibt hier in Dusseldorf-Golzheim ein sehr vornehmes Stift für alte Damen, vielleicht könnten wir sie dort einkaufen. Wenn du sie aber lieber in deiner Nähe haben möchtest — wie ich Mama kenne, würde sie das bestimmt vorziehen — mußt du dich einmal selber in Bayern umtun. Das alles klingt grausam, ich weiß, aber, glaub mir, es wäre die beste Lösung für uns alle.

Ich habe schon versucht, Mama schonend auf eine solche Entwicklung vorzubereiten, aber du kennst sie ja. Wenn sie etwas nicht will, hat sie ein ganz besonderes Talent, sich auf beiden Ohren taub zu stellen. Aber sie wird sich den Tatsachen beugen müssen. Für uns ist sie wirklich nur eine Belastung, für deine junge Ehe wäre ihre Anwesenheit das Allerverkehrteste, und um ganz allein zu leben ist sie nicht mehr selbständig genug. Also überleg dir die Sache gut und teile mir deinen Entschluß mit — aber wirklich bald, denn lange läßt es sich nicht mehr hinausschieben.«

Als Gina den Brief zu Ende gelesen hatte, empfand sie im ersten Augenblick nichts als eine ungeheure, geradezu atemberaubende Erleichterung. — Die Gefahr war gebannt! Thomas’ Mutter würde nicht zu ihnen ziehen, sondern sie sollte ins Altersheim!

Sie war schon nahe daran, den Telefonhörer abzunehmen und Thomas die sensationelle Neuigkeit mitzuteilen. Dann aber hielt sie mitten in der Bewegung inne. Nüchterne Überlegung machte ihrem impulsiven Überschwang Platz.

Sie konnte doch unmöglich Angelas Vorschlag Thomas als eine Art Freudenbotschaft mitteilen. Woher wußte sie denn, wie er das aufnahm?

Gina suchte nach einer Zigarette, zündete sie sich an, schwang sich auf die Schreibtischkante und las Angelas Brief noch einmal, diesmal ganz kritisch und bewußt, Wort für Wort, und plötzlich begriff sie, daß sich an der bestehenden Situation nichts, aber auch gar nichts geändert hatte.

Angela wollte die Mutter abschieben, und wenn Thomas sie nicht bei sich aufnehmen wollte, sollte sie ins Altersheim. Aber das würde Thomas nicht zulassen, nie — oder jedenfalls nicht gerade jetzt. Noch war ihre junge Ehe viel zu ungefestigt, als daß er einsehen würde, daß sie viel besser ohne die Mutter zurechtkamen. Wenn sie ihm jetzt diesen Brief vorlas oder ihn ihm heute abend zeigte, würde er bestimmt denken: Was für ein Glück! Wenn Mama zurückkommt, werde ich wieder so bekocht und verwöhnt, wie ich es gewohnt bin. Gina schafft es ja doch nicht.

Bei diesem Gedanken wäre Gina beinahe in Tränen ausgebrochen. Aber sie nahm sich zusammen. Schon als Kind hatte sie die Erfahrung gemacht, daß es unnütz war zu weinen, wenn es niemanden gab, der trösten und die Tränen trocknen konnte. Sie mußte jetzt ihre ganze Kraft zusammennehmen und überlegen, was zu tun war.

Thomas durfte diesen Brief nicht bekommen — jedenfalls nicht gerade jetzt, wo sie sich mit dern Wirtschaftsgeld so blamiert hatte. Sie brauchte Zeit, um ihm zu beweisen, daß sie den Haushalt doch gewachsen war. In ein paar Monaten, in ein paar Wochen, ja, vielleicht sogar in ein paar Tagen würde er anders über den Fall denken.

Warum mußte dieser blöde Brief auch gerade heute kommen? Gestern wäre es nicht so schlimm gewesen, und auch morgen würde der Eindruck ihres Versagens nicht mehr ganz so frisch sein.

Ob sie ihn einfach ein paar Tage lang zurückhalten sollte? Aber das ging nicht. Da war das Datum des Briefes und auch der Poststempel. Nein, der Brief mußte ganz und gar verschwinden, das war die einzige Möglichkeit.

Thomas konnte und würde es nicht bemerken. Der Briefträger, der sie gesehen hatte, hatte viel zu viel zu tun, um sich ausgerechnet an diesen Brief zu erinnern. Niemand würde ihr beweisen können, daß sie ihn je erhalten hatte. Angela würde jetzt sicher erst mal eine Woche auf Antwort warten und dann noch einmal schreiben. In einer Woche konnte viel geschehen. Natürlich würde sie sich wundern, daß Thomas auf diesen Brief gar nicht reagierte. Aber Briefe konnten schließlich verlorengehen. So etwas kam vor. Auch die Post war nicht unfehlbar.

Gina hielt den Bogen noch immer vor sich. Jetzt legte sie ihre Zigarette entschlossen in den Aschenbecher, riß ihn mit beiden Händen entzwei, einmal kreuz und einmal quer, noch einmal und noch einmal, ließ die Schnipsel in den Papierkorb flattern. Uff, es war geschehen! Sie nahm den Umschlag, um ihn denselben Weg gehen zu lassen, dann erst wurde ihr klar, daß dieses Verfahren allzu dilettantisch war.

Sie nahm den Papierkorb, lief damit ins Bad, schüttete den Inhalt in das Waschbecken, entzündete das Papier mit ihrem Feuerzeug, warf den Umschlag dazu, als die Flammen schon aufloderten.

Voll tiefer Befriedigung beobachtete sie, wie das Feuer sehr rasch das blütenweiße Papier in grauschwarze Asche verwandelte, Dann drehte sie den Wasserhahn auf und spülte alles hinunter.

Erst als sie das Becken sauberwischte, wurde ihr siedenheiß bewußt, daß sie ihr Versprechen Thomas gegenüber gebrochen hatte — schon wieder hatte sie ein Geheimnis vor ihm, schon wieder mußte sie eine Lüge vor ihm verbergen, konnte ihm nicht die Wahrheit sagen.

Aber es gelang ihr, ihr Gewissen zu beschwichtigen. »Was sollte ich denn anderes tun«, dachte sie, »ich mußte einfach! Es war Notwehr! Eines Tages werde ich es Thomas gestehen, und er wird alles begreifen. Daß ich es nur für ihn getan habe, nur um unsere Ehe zu retten. Aus Liebe.«

[31]

»Ist keine Post gekommen?« fragte Thomas arglos, als er am Abend nach Hause kam.

»Nein«, sagte Gina, sehr damit beschäftigt, seinen Mantel aufzuhängen, »das heißt, ich habe nicht nachgeschaut.«

»Bist du denn gar nicht neugierig?«

Sie sah in den Garderobenspiegel, tat, als müßte sie ihr Haar ordnen. »Wer soll mir schon schreiben?«

»Na, eine von deinen Freundinnen zum Beispiel!«

»Ach, das ist doch uninteressant!«

Er war schon wieder die Wohnung hinaus, lief die wenigen Stufen zum Hausbriefkasten hinunter. Als er wieder heraufkam, beobachtete sie ihn verstohlen, dachte, wie gut es war, daß sie die Drucksachen in den Briefkasten zurückgelegt hatte. Er wirkte enttäuscht, aber keineswegs beunruhigt.

»Nichts«, sagte er, »nur Makulatur!« Er warf die Prospekte achtlos in den Papierkorb.

»Das habe ich mir gleich gedacht«, sagte sie.

»Wieso?«

»Na, sonst hätte der Postbote doch geklingelt. Das tut er immer, wenn ein richtiger Brief dabei ist.«

»Kluges Kind«, meinte er lächelnd und gab ihr einen kleinen zärtlichen Kuß.

Damit war das Thema »Post« erledigt. Gina atmete auf. Sie hatte zwar gewußt, daß er nichts merken konnte — aber dennoch! Es war gut, daß es überstanden war.

»Wie wäre es mit einem Aperitif?« schlug sie vor.

»Können wir uns den denn noch leisten?« fragte er neckend.

»Da er aus der Kasse des sparsamen und ach so umsichtigen Haushaltungsvorstandes bestritten wird, ja.«

»Dann bring mal herein. Allerdings fürchte ich, daß diese Kasse jetzt auch in Anspruch genommen werden muß.«

Gina lief in die Küche, kam mit einem Tablett mit zwei gefüllten Gläsern wieder, wartete gespannt, bis er einen Schluck genommen hatte.

»Richtig so?«

»Großartig.« Er setzte sein Glas ab. »Wenn du so gut kochen wie mixen könntest.«

»Mußt du mich immer ärgern?«

»Nein«, sagte er zerknirscht, »ich weiß selber nicht, woher das kommt. Mir scheint, du forderst dazu heraus.«

»Fein«, sagte sie und setzte sich auf seinen Schoß, »also einigen wir uns darauf. Ich bin mal wieder schuld!« Sie fuhr ihm zärtlich durch das dichte dunkle Haar. »Hast du einen anstrengenden Tag gehabt?«

»Wie immer. Ich habe mich tunlichst geschont, um unserer geplanten Rechnerei gewachsen zu sein.«

»Weißt du, Thomas« sagte sie und küßte ihn zärtlich auf die Nasenspitze, »ich habe mit inzwischen überlegt«, sie zögerte, weiterzusprechen.

»Ja?« fragte er ermunternd.

»Warum müssen wir das eigentlich? Ich meine, das Geld ist weg, und wenn wir jetzt auch noch soviel rechnen, wiederkriegen tun wir es dadurch doch nicht.«

Er nahm ihre Hand, küßte sie zärtlich. »Nein, nein, versuch’s nur nicht so herum, Liebling, das zieht bei mir nicht. Hopp!« Er stellte sie auf die Beine, gab ihr einen kleinen Klaps. »Die Rechnungen her, damit wir es hinter uns bringen!«

Gina zögerte immer noch. »Ich habe gar nicht soviel gefunden, wie ich geglaubt habe.«

»Schade. Dann wirst du wohl von nun an Buch führen müssen.«

Das wirkte. »Nur nicht!« rief Gina mit übertriebenem, aber durchaus nicht nur gespieltem Entsetzen und sauste davon. Was sie anbrachte, war ein kleiner Stoß ziemlich zerknitterter, aber immerhin doch vorhandener Belege.

»Na also«, sagte er befriedigt, »das ist doch schon etwas. Zünde mir eine Zigarette an, bitte!«

Sie tat, wie er gesagt hatte, steckte ihm die brennende Zigarette zwischen die Lippen. Er dankte mit einem Kopfnicken, ganz damit beschäftigt, die Rechnungen zu studieren. Sie nahm sich ebenfalls eine Zigarette, setzte sich ihm gegenüber und beobachtete ihn angstvoll.

»Eins steht schon mal fest«, sagte er schließlich, »du kaufst viel zu viel Konserven, aber das habe ich dir ja schon gesagt.«

»Aber, es gibt doch jetzt kein Gemüse!«

»Doch. Kohl gibt es immer. Auch Hülsenfrüchte. So etwas hast du noch nie gekocht.«

Das kann ich nicht! hätte sie beinahe gesagt. Sie stoppte sich gerade noch rechtzeitig. »Ab morgen«, versprach sie.

Er nahm einen anderen Zettel zur Hand. »Wieso ist diese Wäscherechnung so hoch?«

»Das sind alles bloß Sachen von dir!« sagte sie triumphierend. »Ich trage sowieso nur Perlonwäsche und wasch mir alles selber.«

»Wenn ich mich recht erinnere, haben wir doch eine Waschmaschine.«

»Die benutze ich ja auch! Bloß die Bettwäsche habe ich ’rausgegeben und deine Oberhemden.«

»Ach so«, sagte er.

»Aber wenn du lieber möchtest, daß ich sie selber bügle!?«

»Bestimmt nicht«, sagte er rasch und sah sich schon mit ansengtem Kragen in die Kanzlei gehen, »das laß mal ber, obwohl«, er stockte.

»Oh, ich weiß schon!« rief sie aufgebracht. »Obwohl deine Mama sie immer selber gebügelt hat. Das wolltest du doch sagen!«

»Nicht im entferntesten«, behauptete er, »obwohl es sehr teuer ist!«

Darauf wußte sie nichts zu sagen, zog heftig an ihrer Zigarette.

Etwas anderes war ihm aufgefallen. »Hier eine Metzgerrechnung. Ein Kilo Kalbsschulter! Wann haben wir das denn gegessen?«

»Überhaupt nicht«, gab sie zu.

Er sah sie an. »Jetzt verstehe ich nichts mehr!«

»Aber das ist doch so einfach! Ich wollte dir einen schönen Kalbsbraten machen. Ist das etwa ein Verbrechen?«

»Bestimmt nicht. Bloß ich habe ihn nie bekommen.«

»Weil er mir mißlungen ist. Ich weiß auch nicht, wie es passiert ist, ich schwöre dir, ich habe mir soviel Mühe gegeben, ihn dauernd begossen und gedreht! Aber erst dauerte es unendlich lange, und er bekam überhaupt keine Farbe, und dann, ganz plötzlich«, Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ganz plötzlich war er verbrannt.«

Er sah sie an, als hätte sie gerade gestanden, silberne Löffel gestohlen zu haben. »Und nichts mehr zu retten?«

»Ein bißchen schon. Das Innere. Das habe ich dann zu dem Büchsengulasch getan. Deshalb schmeckte es ja auch so … so …« »…angebrannt«, vollendete er herzlos ihren Satz. »Also weißt du, Gina.«

»Bitte, bitte«, flehte sie, »bitte, Thomas, sei mir nicht böse! Wenn du dir nur vorstellen könntest, wie scheußlich das Ganze für mich war. Der verbrannte Braten, und die Küche voller Rauch und immer die Angst, du würdest gleich nach Hause kommen und alles merken! Es war schauderhaft. Wirklich, glaub mir, ich bin gestraft genug.«

Er konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken. »Was soll man da sagen?!«

»Nicht schimpfen, bitte, nicht! Das macht ja auch nichts besser!«

»Du hast recht«, sagte er resignierend. »Was geschehen ist, läßt sich nicht ändern. Aber wie soll es weitergehen?«

»Oh«, sagte sie eifrig, »deswegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen! Ich habe mein Lehrgeld gezahlt! In Zukunft werde ich mich zusammennehmen. Ganz bestimmt.« Mit heroischer Selbstüberwindung fügte sie hinzu: »Wenn du willst, werde ich auch ein Ausgabenbuch führen. Dann kannst du immer alles kontrollieren und…«

Er fiel ihr ins Wort. »Aber davon lernst du auch nicht kochen!«

Sie sprang auf, so ungestüm, daß sie ihr Cocktailglas umwarf und die bräunliche Flüssigkeit über die hübsch gestickte Decke ergoß. »Wie gemein du bist!« rief sie. »Oh, wie gemein!«

»Aber, Gina, ich will doch nur«, aber es war sinnlos geworden, weiterzusprechen. Gina war schon aus dem Zimmer gestürzt.

Thomas blieb allein zurück, in einer Stimmung, die weit davon entfernt war, heiter zu sein. Er machte sich ernsthafte Sorgen, und dennoch war er Gina nicht böse.

Sie hatte das Beste gewollt, wollte immer nur das Beste, darüber war er sich völlig klar. Daß trotzdem alles schief ging, lag nicht an ihr, sondern nur an ihrer völligen Unerfahrenheit.

Wenn jemand schuld an dieser Situation hatte, dann war es nur er selber. Er hätte Gina nicht von der Schulbank weg heiraten dürfen. Alle hatten ihn gewarnt — seine Freunde, seine Mutter, Ginas Eltern. Aber er war all diesen Mahnungen gegenüber taub geblieben, weil er nur von dem einen Wunsch besessen gewesen war, sie ganz zu besitzen.

Er hatte es erreicht, sie war seine Frau — tat es ihm leid?

Thomas saß ganz reglos und versuchte sich über seine Gefühle klar zu werden. Wenn er jetzt noch einmal alles rückgängig machen könnte, würde er es tun?

Nein, und noch einmal nein! Er liebte Gina, und er war glücklich‘ daß sie bei ihm war!

Mit einem Satz war er auf den Beinen, lief in die Küche, um sie zu suchen. Aber dort war sie nicht. Der Wasserkessel stand auf dem Herd, ohne Pfeife, und stieß dichte Dampfwolken aus. Mit einer kleinen Grimasse stellte er die Flamme aus, rief: »Gina! Gina!«

Keine Antwort. Er lief zum Schlafzimmer, die Türe war abgeschlossen. Er klopfte, rief, trommelte mit beiden Fäusten gegen das Holz. Nichts rührte sich.

Na, warte! dachte er und mußte über sich selber und seine törichte Rolle als erzieherischer Ehemann schon lächeln.

Er lief in die Küche zurück, auf den Balkon hinaus und kletterte durch das andere Fenster ins Schlafzimmer.

Gina lag auf dem Bett, schluchzend, den Kopf mit dem honigblonden Haar in das Kissen vergraben. Er kam auf sie zu, sein Lächeln war zärtlich geworden, setzte sich auf den Bettrand, nahm sie in die Arme.

»Gina, mein armer, armer Liebling!«

Sanft strich er ihr über das Haar, küßte sie auf das Ohrläppchen, auf den Hals, flüsterte ihr kleine zärtliche Worte zu. Aber es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich endlich umdrehte und ihm ihr rührend junges, tränennasses Gesicht zuwandte.

»Ach, Thomas, ich bin ja so unglücklich!«

Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Bist du das?« fragte er. »Bist du das wirklich?«

Er küßte sie innig auf den Mund, so lange, bis ihre Verkrampfung sich löste und sie beide Arme um seinen Hals schlang.

»Immer noch?« fragte er.

»Nicht, wenn ich fühle, daß du mich lieb hast«, hauchte sie.

Und dann verschwanden für eine Weile alle Sorgen und aller Ärger hinter dem wunderbaren Bewußtsein, daß sie einander ganz und für alle Zeiten gehörten.

[32]

Zwei Tage später empfing Gina ihren Mann mittags mif einem seltsamen Gesichtsausdruck.

Er bemerkte es sofort. »Was ist los?« fragte er. »Wieder etwas angebrannt?«

»Nein. Gar nicht. Es gibt einen Resteauflauf. Dabei kann doch nichts passieren.«

»Um so besser!« er hängte Hut und Mantel auf.

»Du, Thomas«, sagte sie unsicher, »Frau Dr. Jahn hat angerufen.«

»Wirklich? Wie nett von ihr.«

»Ja. Sie hat mich eingeladen. Zu irgend so einem Alte-Damen-Kränzchen. Ich wußte gar nicht, was ich dazu sagen sollte.«

»Aber wieso denn?« fragte er verstandmslos. »Das ist doch famos!«

»Ich fand es auch sehr nett, daß sie an mich gedacht hat«, sagte Gina zögernd. »Aber ich brauche doch wohl nicht hinzugehen?«

Er lachte. »Nun tu nur nicht so. Meinst du nicht, ich hätte es schon längst gemerkt, daß es dir leid ist, immer nur hier herumzusitzen?«

»Ich sitze nicht herum«, sagte sie heftig, »ich arbeite.«

»Na, dann arbeitest du eben mal einen Nachmittag nicht. Das wird dir nur gut tun.«

Sie begriff, daß es richtig war, die Aussprache über dieses Thema jetzt besser fallenzulassen, ging in die Küche, um sich um ihren Auflauf zu kümmern.

Diesmal hatte sie Glück. Der Auflauf, den sie kräftig und ein wenig wahllos gewürzt hatte, war wirklich gelungen, und Thomas war froh, ihr endlich einmal ein aufrichtiges Lob spenden zu können.

»Siehst du!« sagte sie strahlend. »Ich habe dir ja gesagt, ich werde es schaffen! Paß nur auf, bald werde ich so perfekt sein, daß és dir unheimlich ist!«

Er hätte manches darauf sagen können, aber er schwieg, um ihr die Freude nicht zu verderben.

Sie räumte ab, ging in die Küche, um Kaffee zu filtern. Er benutzte die Pause, um einen Blick in die Tageszeitung zu werfen. Nach zehn Minuten brachte sie das Kaffeetablett herein, deckte um.

Sie wartete, bis er die erste Tasse getrunken und sie sich beide eine Zigarette angesteckt hatten, dann erst kam sie auf Frau Dr. Jahns Einladung zurück.

»Du meinst also, ich muß wirklich hingehen?« fragte sie.

»Unbedingt. Du scheinst gar nicht zu begreifen, daß diese Einladung eine Ehre für dich ist.«

»Aber kein Vergnügen.«

»Rede nicht so töricht daher!« sagte er ärgerlich. »Frau Jahn ist eine reizende Frau, das weißt du selber, und ihrem Gatten habe ich viel zu verdanken. Wenn er mich nicht in seine Kanzlei aufgenommen hätte, wäre ich heute noch lange nicht so weit, daß ich ans Heiraten auch nur denken könnte.«

Sie war wenig beeindruckt. »Das willst du mir nur einreden! Du bist doch so tüchtig, daß du leicht …«

»Sprich nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst«, unterbrach er sie hart.

Sie schwieg eingeschnappt, bemühte sich, ein gleichgültiges Gesicht zu machen, konnte aber nicht verhindern, daß ihr das Blut ins Gesicht stieg.

»Komm, jetzt spiel nicht die beleidigte Schönheit«, sagte er versöhnlich, »warum glaubst du mir nicht einfach, was ich dir sage? Ich habe gar keinen Grund, dir etwas vorzumachen.«

Er wartete, um ihr Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben, aber sie schwieg beharrlich. Er hielt es für besser, ihre schlechte Laune zu übersehen.

»Die Einladungen von Frau Erika Jahn sind berühmt«, sagte er, »und für dich wird es ganz besonders interessant dort sein, denn da hast du die beste Gelegenheit, einige Kollegenfrauen kennenzülernen.«

»Wozu?« fragte Gina erbittert.

»Na, endlich sprichst du wieder!« sagte er lachend. »Ich dachte schon, dir hätte es ein für allemal die Sprache verschlagen!«

»Wozu soll ich Kollegenfrauen kennenlernen?« wiederholte sie, ohne ihn anzusehen.

»Aus gesellschaftlichen Gründen. Damit du selber eine gewissen Ansprache hier in München hast. Und dann auch, um mir zu helfen. Weißt du, es kommt öfters mal vor, daß ein Rechtsanwalt dem anderen einen Auftrag zuschiebt. Deshalb ist es wichtig, unter den Kollegen nicht mir angesehen, sondern auch beliebt zu sein. Eine junge Frau wie du kann viel dazu beitragen.«

Das leuchtete ihr ein. »Meinst du wirklich?«

»Ja. Es ist wichtig für mich, wenn du dorthin gehst. Ich bitte dich darum, Gina. Du wirst mich doch nicht im Stich lassen?«

»Natürlich nicht!«

»Das habe ich doch gewußtl« Er berührte dankbar ihre Hand. »Wann soll denn das große Ereignis stattfinden?«

»Donnerstag naehmittag.«

»Sehr schön. Dann werden wu heute abend eine kleine Modenschau veranstalten, um auszusucheh, was du zu dieser Gelegenheit am besten anziehst.«

[33]

Am Donnerstag, kurz vor vier, läutete Gina beklommen und klopfenden’Herzens an der Gartentür von Dr. Jahns kleiner Villa in Bogenhausen.

Zwei Minuten später wurde aufgedrückt und sie schritt den kiesbedeckten Weg auf die Treppe zum Haustor zu. Eine Hausangestellte — sehr dekorativ in schwarzem Kleid, weißem Schürzchen und Häubchen — hatte schon geöffnet. Sie war nur wenig älter als Gina selber, und der jungen Frau des Rechtsanwaltes schien es merkwürdig, sich aus dem Mantel helfen zu lassen.

Sie bemühte sich nervös, das Papier von den sieben ausgesucht schönen Nelken zu entfernen, die Thomas Frau Dr. Jahn besorgt hatte.

»Darf ich Ihnen helfen, Frau Doktor?« fragte das Mädchen nett.

»Ja, bitte. Aber«, fügte sie entschlossen hinzu, »nennen Sie mich nicht Frau Doktor. Mein Mann hat den Titel erworben, nicht ich.«

»Wie Sie wünschen, gnädige Frau.«

Das klang noch feierlicher, aber Gina wußte nicht, sie gegen diese Anrede einwenden sollte.

Bevor sie ihre Nelken wieder entgegennahm, warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel. Auf Thomas’ Anraten trug sie ihr schwarzes französisches Kostüm mit einer weißen Spitzenbluse. Das honigblonde Haar hatte sie mühsam zu einer Hochfrisur gebändigt, um nur ja nicht so jung auszusehen, wie sie war. Sie hätte mit ihrem Spiegelbild durchaus zufrieden sein können, denn sie sah zauberhaft aus — aber sie war es doch nicht, weil sie selber spürte, daß ihr die Würde der verheirateten Frau fehlte.

Sie schnitt sich selber eine kleine Grimasse, sagte burschikos: »Na, dann wollen wir mal!«, nahm ihre Nelken und folgte dem Mädchen, das sie in einen eleganten kleinen Salon führte.

Frau Jahn, sehr elegant in einem grauen Seidenkleid, das genau mit dem Ton ihres sehr vornehm getönten Haares harmonierte, kam ihr mit ausgestreckten Händen entgegen.

»Meine kleine Gina! Ich darf Sie doch so nennen? Wie freue ich mich, Sie zu sehen! Und diese wundervollen Nelken! Bitte, Leni, tun Sie sie in eine Vase, ja?«

Gina sah sich unbehaglich um. Außer ihr war noch niemand von den Gästen erschienen. »Bin ich zu früh dran?« fragte sie.

»Aber durchaus nicht«, versicherte Frau Jahn, »ich finde es sehr schön, daß Sie als erste gekommen sind. Dann haben wir doch noch Gelegenheit, ein bißchen miteinander zu plaudern.«

Sie nahm auf dem wunderschönen alten Maria-Theresia-Sofa Platz, streckte die Hand aus und zog Gina neben sich.

»Jetzt erzählen Sie mir, wie fühlen Sie sich in Ihrer junggen Ehe?«

»Sehr gut«, erwiderte Gina steif.

»Sind Sie zufrieden mit Ihrem Thomas?«

»Oh, ja.«

»Noch keine Wolken am Ehehimmel?«

»Wir verstehen uns sehr gut.«

»Na, das ist ja wunderbar. Und wie geht es Frau Miller? Ich hoffe, sie hat sich von ihrem Unfall erholt?«

Gina wurde noch vorsichtiger. »Sie liegt noch in der Klinik.«

»Was für ein entsetzliches Unglück! Der arme Thomas, er hat immer so an seiner Mama gehangen. Soll ich einmal ganz ehrlich sein?«

Lieber nicht, hätte Gina beinahe ausgerufen, aber sie nahm sich zusammen, sagte: »Ja?«

»Ich hätte nie geglaubt, daß er überhaupt heiraten würde! Wir haben oft über ihn geredet, wir Damen unter uns. Und alle waren wir der Meinung, daß er zum Junggesellen wie geschaffen wäre, umsorgt und verwöhnt von seiner Mama. Jetzt lachen Sie, nicht wahr? Ich gebe ja zu, daß wir alle uns getäuscht haben.«

Gina war es durchaus nicht zum Lachen zumute. Sie wußte überhaupt nicht, was sie zu dieser Eröffnung sagen sollte, zermarterte sich den Kopf, ohne daß ihr auch nur das belangloseste Wort eingefallen wäre.

Frau Jahn schien die Verlegenheit ihres jungen Gastes gar nicht zu merken. »Es war natürlich ein Schock für Frau Miller! Wir alle haben so mit ihr gefühlt. Aber, nun ja, so etwas bleibt keiner Mutter erspart. Und ich bin überleugt, wenn das erste Enkelchen auf der Welt sein wird.« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sah Gina prüfend an.

Gina hatte die Anspielung verstanden, wurde über über rot.

»Aber, Kindehen, deswegen brauchen Sie sich doch nicht zu genieren! ‘Wir sind ja unter uns! Ist es etwa schon soweit?«

»Nein«, sagte Gina mühsam.

»Ich verstehe, ihr wollt erst eure junge Ehe ganz für euch allein genießen! Sehr vernünftig, ich sage immer …«

Plötzlich konnte Gina es nicht länger ertragen. »Ich finde, das ist etwas, das niemanden angeht, außer uns ganz alleine!« sagte sie heftig, mit zitternder Stimme. »Das ist wirklich eine Privatangelegenheit!«

Frau Jahn sah sie an, als ob sie sich plötzlich, vor ihren Augen, in ein Ungeheuer verwandelt hätte.

Ein peinliches Schweigen entstand.

Dann sagte Frau Jahn; sehr damenhaft und sehr kalt: »Entschuldigen Sie, bitte, Frau Miller. Wahrscheinlich habe ich eine solche Zurechtweisung verdient.«

»Oh, nein, nein!« rief Gina bestürzt. »Nur, ich bin so nervös, und über diese Dinge kann ich wirklich nicht reden!«

Sie war erleichtert, als in diesem Augenblick Leni den nächsten Gast hereinführte, die Frau des Rechtsanwalts Heinrich, eine sehr gepflegte und gut erhaltene Vierzigerin mit fülliger Figur und einen schmalen Pelz um die Schultern ihres Kostüms.

Die Begrüßung war sehr herzlich, Frau Jahn machte Gina und Frau Heinrich miteinander bekannt. Frau Heinrich setzte sich in einen der Biedermeiersessel, sagte: »Also Sie sind die junge Frau Miller, von der ich schon soviel gehört habe! Wie geht es mit der jungen Ehe?«

Gina, die spürte, daß all die Fragen, die sie schon einmal ungern beantwortet hatte, wieder auf sie zukamen, wand sich vor Verlegenheit. Sie war dankbar, daß Frau Jahn ihr zu Hilfe kam.

»Die jungen Millers leben noch in den Flitterwochen«, sagte sie lächelnd, »etwas ausgedehnte Flitterwochen, aber immerhin. Ich glaube, wir sollten Gina nicht in Verlegenheit bringen.«

»In Verlegenheit?« fragte Frau Heinrich erstaunt, sah in Ginas brennendes Gesicht und fügte schnell hinzu: »Oh, ich verstehe, aber ja, natürlich.«

Doch offensichtlich verstand sie gar nichts, denn sie begann, fast in einem Atemzug von ihren eigenen Schwierigkeiten zu erzählen, ohne die intimsten Einzelheiten auszulassen.

Gina mußte sich das alles anhören, und es half auch nichts, wegzudenken, denn Frau Heinrichs schrille Stimme hatte die Eigenschaft, jede innere Abschirmung zu durchdringen, eine Tatsache, mit der sich ihr Mann längst abgefunden hatte.

Dann kamen, eine nach der anderen, die übrigen Damen. Gina hörte neue Namen, sah neue Gesichter, wurde von allen betont herzlich begrüßt und fühlte sich doch von Sekunde zu Sekunde mehr fehl am Platz. Keine einzige der anwesenden Frauen war jünger als dreißig, und Gina mit ihren siebzehn fühlte sich genauso unbehaglich wie früher, wenn ihre Mutter Freundinnen zu Besuch gehabt und sie Grüß Gott hatte sagen müssen. Damals wurde sie nach ihren Schulleistungen gefragt und lächelnd ausgeforscht, ob sie schon einen Freund hätte. Heute war es gar nicht viel anders, nur daß man ihren hausfraulichen Kenntnissen auf den Grund kommen und sich nach dem Zustand ihrer Ehe erkundigen wollte.

Gina antwortete mit ja und nein, zwang sich zu lächeln. So kam es, daß man bald das Interesse an ihr verlor und sich den eigenen Sorgen zuwandte.

Gina saß stocksteif auf dem schönen Maria-Theresia-Sofa, nippte an ihrem Tee, führte hie und da ein Stückchen der wirklich köstlichen Törtchen zum Mund, ohne wirklich etwas zu schmecken. Sie langweilte sich tödlich.

Lange wurde über das Dienstmädchenproblem gesprochen und wie schwer es war, auch nur eine wirklich tüchtige Putzfrau zu finden. Man beneidete Frau Jahn um ihre Leni, aber mit ein paar kleinen Bemerkungen gab Frau Jahn zu verstehen, daß auch in diesem Fall nicht alles so rosig war, wie es aussah.

Dann kam die neue Modelinie dieses Winters an die Reihe, ein sehr ergiebiges Thema. Alle Damen waren sich darüber einig, daß sie die Bundhosen, die zum Aprés-Ski oder zum Wandern getragen werden sollten, einfach schauderhaft fanden.

Gina schwieg beharrlich.

Eine etwas schlampige, sehr intellektuelle Brillenträgerin versuchte sie ins Gespräch zu ziehen. »Ich könnte mir denken, daß Ihnen solche Extravaganzen vielleicht sogar gefallen, Frau Miller«, sagte sie, »oder?«

Gina nahm das Stichwort auf, aber sie sprach den falschen Text. »Ganz bestimmt«, sagte sie ehrlich. »Ich finde Bundhosen eigentlich sehr hübsch, ich wäre froh, wenn ich eine hätte.«

Zu spät merkte sie, daß sie wieder einmal das Verkehrte gesagt hatte, fügte entschuldigend hinzu: »Natürlich muß man die entsprechende Figur dazu haben.«

Damit hatte sie alles noch schlimmer gemacht.

Frau Heinrich sprang, ein, um die Situation zu retten. »Frau Miller ist wirklich jung genug, um so etwas noch tragen zu können«, sagte sie rasch, »aber ich finde nicht, daß es eine Frage der Figur ist, sondern eher der Lebenshaltung.«

Mit diesem Urteil waren alle einverstanden, und Gina, die gern protestiert hätte, war immerhin klug genug, um diesmal zu schweigen.

Immer mehr wurde sie von dem Gefühl überwältigt, ein vollkommenes Nichts zu sein. Warum war sie überhaupt hier? Weil Thomas sie darum gebeten hatte. Er hatte gewünscht, daß sie ihm helfen sollte, Beziehungen schaffen. Wie gerne hätte sie mitgeredet, irgend etwas gesagt, was die Zustimmung der anderen hätte finden können. Aber ihr fiel beim besten Willen nichts ein.

Die Damen sprachen jetzt über Kochrezepte — was sollte sie zu diesem Thema beitragen? Sollte sie von ihrer verbrannten Kalbsschulter erzählen? Oder ihrem gelungenen Auflauf? Sie hätte sich nur dem allgemeinen Gelächter preisgegeben.

Sie war erleichtert, als einige Damen sich Zigaretten anzündeten, tat es ihnen verstohlen nach, beinahe darauf gefaßt, deswegen getadelt zu werden. Aber niemand kümmerte sich um sie.

Die Damen waren von den Kochrezepten zu Theaterpremieren übergegangen, behandelten dieses Thema mit der gleichen Zungenfätigkeit, sprachen über Stücke, von denen Gina nie gehört hatte, von Schauspielern, die sie nur dem Namen nach kannte.

Noch einmal versuchte die Intellektuelle sie ins Gespräch zu ziehen: »Was halten Sie denn von unserem Münchner Theater, Frau Miller?« fragte sie.

Gina, die nicht mehr damit gerechnet hatte, angesprochen zu werden, zuckte zusammen. »Oh, ich weiß nicht…«

»Sagen Sie uns einfach Ihren Eindruck! Das wird bestimmt interessant für uns sein!«

»Ich war noch nie in München im Theater«, mußte Gina bekennen, »das heißt, früher schon mal. Mit der Schule Aber nicht, seit ich verheiratet bin.«

»Nicht?« rief Frau Heinrich. »Ja um Himmelswillen, Ihr Mann scheint ja ein Tyrann zu sein?! Was machen Sie den abends?«

»Wir gehen früh zu Bett«, gestand Gina in aller Unschuld und begriff erst zu spät, warum die anderen lachten.

Es wurde immer noch gelacht, als ein Junge ins Zimmer kam, schlaksig, blond, mit vergnügten blauen Augen.

»Ah, Rolf, komm her!« sagte Frau Jahn. »Nett, daß du uns guten Tag sagen willst.«

Rolf, sichtlich unbehaglich, begrüßte jede der Damen mit einer kleinen Verbeugung, wurde Gina vorgestellt. Er mußte die üblichen Fragen über sich ergehen lassen. Nur Gina beteiligte sich nicht, denn in ihren Augen war Rolf so etwas wie ein Leidensgenosse.

»Fertig mit Schularbeiten?« fragte Frau Jahn.

»Ja, Mutti.«

»Und was hast du vor?«

»Zu Peter«, erwiderte Rolf kurz angebunden.

»Heute einmal nicht!« erklärte Frau Jahn energisch. »Kannst du nicht einen Nachmittag zu Hause bleiben?«

»Was soll ich denn hier anfangen?«

»Irgendwas wird dir doch schon einfallen.« Frau Jahn wandte sich an ihre Freundinnen. »Ist es nicht entsetzlich? Der Junge hat alles, was das Herz begehrt, sogar einen Tischtennisraum haben wir ihm eingerichtet.«

»Ping-Pong spielen kann man nicht alleine«, sagte Rolf.

»Ich würde gerne mit Ihnen spielen«, sagte Gina mit plötzlichem Entschluß.

Alle sahen sie an, als wenn sie etwas absolut Unanständiges gesagt hätte.

»Ja, wirklich«, verteidigte Gina sich, »ich habe so lange nicht mehr gespielt und«, kleinlaut fügte sie hinzu, »natürlich nur, wenn Sie Lust haben, Rolf.«

»Oh, famos!« rief der Junge. »Das ist die Idee des Jahrhunderts! Auf geht’s! Los! Kommen Sie!«

Gina erhob sich, murmelte eine Entschuldigung und flüchtete hinter ihm her.

Niemand sagte ein Wort, nur Frau Jahn zog scharf und sehr hörbar den Atem ein.

[34]

»Wie kommen Sie denn unter die alten ,Suppenhennen?« fragte Rolf respektlos, während sie nebeneinander die Treppe zum Keller hinabliefen.

»Ihre Mutter hat mich eingeladen.«

»Wieso?«

Gina begriff, daß er gar nicht richtig mitbekommen hatte, wer sie war. »Ich bin mit Thomas Miller verheiratet«, sagte sie, »dem Sozius Ihres Vaters!«

Rolf hatte die Tür zum Tischtennisraum gerade geöffnet, jetzt drehte er sich verblüfft zu ihr um. »Sie sind das? Donnerwetter! Da schlag doch einer lang hin.«

»Ich verstehe nicht, was daran so sonderbar sein soll«, sagte Gina, einigermaßen gekränkt.

»Na, hören Sie mal! Das fragen Sie noch? Ich hab’ Sie mir einfach anders vorgestellt.«

»Wie denn?«

»Weiß ich auch nicht. Dralle Dorfschöne, wahrscheinlich. Provinzvamp.«

»Man scheint nicht gerade schmeichelhaft über mich gesprochen zu haben«, sagte Gina.

»Hatten Sie das etwa erwartet?«

»Vielleicht.«

»Dann fehlt es Ihnen entschieden an Menschenkenntnis. Mutti hätte Dr. Miller schon seit Jahren gern verheiratet. Mit einer Cousine von ihr, ganz nettes altes Mädchen, aber ein bißchen fad. Natürlich hat Dr. Miller nicht angebissen, kleiner Schock für Mutti, wie Sie sich denken können. Als sie aber dann erfuhr, daß er sich eine Frau vom Lande geholt hatte, war sie einer Ohnmacht nahe.«

»Ich stamme nicht vom Land«, sagte Gina, »Garmisch-Partenkirchen.«

»…ist ein Ort, wo man zur Erholung hinfahren kann«, ergänzte Rolf ungerührt. »Seien Sie froh, daß Sie dort fort sind. Das ist immerhin etwas.«

»Ich bin sehr glücklich«, erklärte Gina mit Nachdruck.

Er sah sie ungläubig von der Seite an.

»Ah, wirklich?«

»Warum sollte ich es nicht sein?« fragte sie, kampfbereit.

»Weil ich es einfach nicht verstehe.«

»Was verstehen Sie nicht?«

»Wie eine so zünftige Person wie Sie so einen Lustgreis heiraten kann.«

»Lustgreis!?« rief Gina empört. »Sind Sie verrückt? Thomas ist siebenundzwanzig.«

»Eben.«

»Mit siebenundzwanzig ist man doch kein Greis.«

»Aber beinahe. Übrigens nehmen Sie alles zu wörtlich. Ich wollte bloß sagen, Sie passen nicht zu so einem alten Knacker.«

»Diese Ausdrucksweise finde ich um keinen Deut besser.«

»Kann schon sein. Verzeihung. Mutti klagt auch immer, daß ich kein Benimm habe.«

»Na ja«, sagte Gina, schon wieder versöhnt, »mit meinem Betragen war sie auch nicht gerade zufrieden.«

»Machen Sie sich nichts draus. Ihnen hat sie wenigstens nichts zu sagen.«

»Aber ich hätte sogem einen guten Eindruck gemacht.«

»Schon falsch. Wenn man versucht, denen zu imponieren, geht’s immer daneben. Denken Sie lieber: die sollen mir doch den Buckel ’runterrutschen. Dann klappt’s!«

Gina lachte. »Eine sehr philosophische Einstellung. Aber eigentlich bin ich nicht mit Ihnen hierhergekommen, um zu quatschen. Ich wollte wirklich Tischtennis spielen!«

»Sollen Sie haben, meine Dame. Wählen Sie sich einen Schläger! Auf geht’s!«

Es wurde dann doch noch ein ganz vergnüglicher Nachmittag. Sie spielten eine volle Stunde miteinander, und Gina machte es Spaß, festzustellen, daß sie nichts verlernt hatte.

Als sie sich endlich entschloß, doch wieder hinaufzugehen, waren die Damen schon im Gehen begriffen. Der Abschied fiel ziemlich frostig aus.

Nur die Intellektuelle mit der Brille sagte: »Falls mal irgend etwas schief gehen sollte, Frau Miller, rufen Sie mich doch ruhig an. Das heißt, Sie dürfen auch ruhig anrufen, wenn alles in Ordnung ist. Ich würde mich sehr freuen, Sie bald wiederzusehen. Übrigens, falls Sie meinen Namen nicht verstanden haben sollten, was ja kein Wunder wäre, ich bin Frau Hemmesberger.«

»Danke«, sagte Gina, »vielen Dank. Ich werde mich bestimmt melden.«

Aber tatsächlich dachte sie nicht im entferntesten daran. Sie hattenur den einen Wunsch, mit keiner dieser Kollegenfrauen je wieder in Berührung zu kommen.

[35]

Gina hatte nicht eigentlich ein schlechtes Gewissen. Dennoch war sie sich klar darüber, daß Thomas ihr Benehmen nicht gerade für vorbildlich halten würde. Sie zog es deshalb vor, ihren Bericht über diesen denkwürdigen Nachmittag ein wenig zu frisieren.

Thomas erwartete sie schon, als sie nach Hause kam. »Na, wie war es? Wie ist es gegangen?« fragte er, nahm sie in die Arme und küßte sie zärtlich. »Erzähl doch mal!«

»Es geht«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen.

»Gina, Liebling, das ist doch keine Antwort! Waren die Damen nett zu dir?« Er hielt sie immer noch bei den Schultern.

»Ziemlich.«

»Na, siehst du!« Jetzt erst ließ er sie los.

»So nett auch wieder nicht«, sagte Gina. »Erst wollten sie alles mögliche von mir wissen; und nachher haben sie über lauter Sachen gesprochen, von denen ich keine Ahnung hatte.«

»Das ist doch nicht weiter tragisch«, sagte Thomas, »warte nur, bis du längere Zeit in München bist und öfters mit den Kollegenfrauen zusammenkommst. Dann wirst du auch über alles Bescheid wissen.«

»Kann sein!« Gina ging zum Schlafzimmer.

»Wo willst du hin?« fragte er.

»Mich umziehen. Dauert nur fünf Minuten.«

»Schön. Ich werde mich inzwischen ums Abendbrot kümmern.«

Als Gina wieder kam — sehr adrett und sehr reizend in ëinem blauseidenen Hausmantel — hatte Thomas schon den Tisch gedeckt und den Tee aufgebrüht.

»Du bist so gut zu mir«, sagte sie mit einem tiefen, fast reuevollen Seufzer.

Er lachte. »Unsinn. Ich weiß einfach, was meine Pflicht ist. Wenn meine kleine Frau sich mit der bösen Welt herumgeschlagen hat, um mir Beziehungen zu schaffen.«

»Ach, Thomas«, fiel sie ihm ins Wort.

»Ja?«

»Ich fürchte, ich bin wirklich ein gräßlicher Versager.«

»Was soll das nun schon wieder heißen?«

»Ich habe dir gar keine Beziehungen geschaffen. Im Gegenteil. Ich glaube, sie konnten mich alle nicht leiden.«

»Das bildest du dir ja nur ein.«

»Bis auf eine, so eine Brillenschlange, die war wirklich nett zu mir.«

Er dachte nach. »Du meinst wohl Frau Hemmesberger?«

»Ja, so hieß sie. Eine etwas Schlampige, aber Nette.«

Er lachte. »Deren Wohlwollen nutzt uns gar nichts. Sie ist die Frau eines Richters, hat übrigens selber Jura studiert, und böse Zungen behaupten, daß sie ihrem Mann die Urteile ausarbeitet.«

»Und sie kann dir nicht helfen?«

»Dummerchen. Ein Richter kann doch keiner Partei einen Rechtsanwalt empfehlen. Das ist unmöglich.«

»Schade.«

»Nun hör auf, dir Gedanken zu machen. Der Nachmittag ist überstanden, du hast dich gut gehalten, ich bin sehr stolz auf dich.«

Bei diesen netten Worten meldete sich Ginas Gewissen. Aber ihre Erleichterung darüber, daß dieses unliebsame Thema nun endlich abgetan war, war so groß, daß sie die innere Stimme schnell, ganz schnell zum Schweigen brachte.

[36]

Drei Tage ging alles gut.

Dann traf Dr. Miller, als er das Amtsgericht verließ, die Frau des Rechtsanwaltes Dr. Heinrich.

»Doktor Miller, ich warte auf meinen Mann!« rief sie ihm entgegen. »Haben Sie eine Ahnung, wie lange er noch zu tun haben wird?«

Thomas lüftete seinen Hut, trat auf Frau Heinrich zu. »Leider nein, gnädige Frau.«

»Zu dumm. Ich wollte ihm einen Hut zeigen, der«, sie unterbrach sich. »Aber auf diese Weise habe ich wenigstens Gelegenheit, Ihnen zu Ihrer reizenden kleinen Frau zu gratulieren.«

Thomas strahlte. »Nett, das zu sagen. Sie haben sie neulich bei Erika Jahn kennengelernt, nicht wahr?«

Frau Heinrich nickte. »Sie ist wirklich ein Sonnenscheinchen. Wir haben uns alle köstlich über sie amüsiert.«

Thomas’ Lächeln erlosch, er witterte Unheil; »Ja?«

»Wie sie da mit dem Knaben Rolf zum Tischtennis abschwirrte«, sagte Frau Heinrich milde, »so etwas von Unbefangenheit! Wirklich ganz ganz reizend.«

»Sie hat mir davon erzählt«, behauptete Thomas steif.

»Ach, wirklich? Wie süß von ihr. Man kann ihr nicht böse sein, nicht wahr? Ein richtiger kleiner Kindskopf.«

Frau Heinrich sah sich um. »Ah, da kommt ja schon mein Mann! Welches Glück! Es war reizend, daß wir uns einmal unterhalten haben, Doktor Miller.«

Als Thomas in sein Auto stieg, war er immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Frau Heinrich gegenüber hatte er sein Gesicht eben noch wahren können, obwohl er gar nicht sicher war, daß sie nicht doch gemerkt hatte, was in ihm vorging.

Wie konnte Gina ihn in eine solche Situation bringen? Mit einem Jungen Tischtennis zu spielen, und das auf einer Damengesellschaft! Unglaublich. Wenn sie ihm wenigstens etwas davon gesagt hätte!

Thomas hatte eigentlich vorgehabt, gleich zum Amtsgericht aus nach Hause zu fahren. Aber jetzt brachte er es nicht über sich. Er spürte, daß er viel zu erregt war, um Gina Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Er fuhr in die Kanzlei zurück.

Dr. Jahn wollte gerade das Büro verlassen, Thomas begegnete ihm, schon in Hut und Mantel, im Vorzimmer.

»Kann ich dich einen Augenblick sprechen, Herbert?«

Dr. Jahn wollte erst ablehnen, dann aber sah er in das Gesicht des jungen Kollegen und besann sich eines anderen. »Ja, natürlich«, sagte er, »komm nur herein.« Er ging in seinen Arbeitsraum zurück, schwang sich auf die Schreibtischkante. »Um was geht es?«

Thomas hatte die Tür sehr sorgfältig hinter sich zugezogen. »Um meine Frau!«

»Ärger gehabt?« Dr. Jahn zog ein Zigarettenpäckchen aus seiner Manteltasche, bot Thomas an.

»So kann man es nennen!« Thomas nahm sich eine Zigarette, gab Dr. Jahn, der sich ebenfalls bedient hatte, Feuer. »Ich habe eben Frau Heinrich getroffen.«

»Aha! Und die alte Schnepfe hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun, als dir von diesem Vorfall auf Erikas Kränzchen zu berichten!«

»Du weißt davon?«

»Aber selbstverständlich! Erika hat mir noch am gleichen Abend davon berichtet. Du weißt doch, wie die Frauen sind. Sie können nichts für sich behalten, jedenfalls nichts, was ihre Freundinnen oder Feindinnen betrifft.«

Thomas krauste die Stirn. »Und du hast es nicht für nötig gehalten, es mir sofort zu erzählen?«

»Nein. Das habe ich nicht. Erst einmal bin ich keine Klatschtante, und zweitens nahm ich natürlich an, Gina selber, aber ich begreife schon, hat die Kleine es vorgezogen, den Mund zu halten.«

»Unverantwortlich!« sagte Thomas, und es war nicht ganz klar; ob er damit Dr. Jahns oder Ginas Schweigen meinte.

»Komm, Junge«, sagte Dr. Jahn, »nun nimm’s mal nicht so tragisch! Weis ist denn überhaupt Furchtbares geschehen?!«

»Das eben möchte ich von dir wissen!«

Dr. Jahn nahm einen Aschenbecher vom Schreibtisch, streifte seine Zigarette ab und hielt ihn weiter mit der Hand, während er sprach. »Rolf stieß zu den Damen, um die üblichen Verbeugungen zu machen. Anschließend machte er dabei eine Bemerkung, daß er keinen Partner zum Tischtennis hätte. Daraufhin erbot sich deine Gina. …«

Thomas konnte nichtlänger an sich halten. »Wie ist ihr bloß sowas eingefallen!« rief er empört.

»Die Erklärung liegt doch sehr nahe«, sagte Dr. Jahn ruhig, »sie hat sich im Kreise der Damen nicht wohlgefühlt. Wahrscheinlich wäre sie auch davongestoben, wenn unsere Leni hereingekommen wäre und gesagt hätte, daß mit dem Abwa5ch in der Küche nicht fertig werden würde. Gina hat einfach die erste beste Gelegenheit benutzt, sich aus dem Staub zu machen.«

»Aber, das ist ja furchtbarl« sagte Thomas ganz erschüttert.

»Kann ich durchaus nicht finden. Eine Siebzehnjährige paßt eben nicht in einen Kreis von Frauen, in dem die jüngste immerhin sehr nahe an den Dreißigern ist. Das, mein lieber Thomas, ist nicht Ginas Schuld. Das alles hättest du dir überlegen müssen, bevor du sie heiratetest!« Er hielt Thomas den Aschenbecher hin.

Der junge Rechtsanwalt streifte seine Zigarette ab. »Aber sie hätte mir die Sache doch wenigstens erzählen müssen«, sagte er schwach.

»Wahrscheinlich hat sie Angst vor dir.«

»Angst? Unsinn. Sie weiß genau, wie sehr ich sie liebe.«

»Auch wir Eltern lieben unsere Kinder, und unsere Kinder wissen es. Trotzdem haben sie oft Angst vor uns. Weil sie spüren, daß sie nicht imstande sind, unseren Maßstäben gerecht zu werden.«

»Du scheinst sehr von Gina eingenommen zu sein.«

»Ja, das bin ich wirklich. Aber ganz davon abgesehen, bemühe ich mich, gerecht zu sein. Und ich habe Mitleid mit ihr. Wahrscheinlich hat sie jetzt seit Tagen Höllenqualen gelitten bei dem Gedanken, daß ihr dummer Streich ans Licht kommen könnte. Und mit Recht. Denn wie ich dich kenne, wirst du jetzt als zürnender Ehemann…«

Thomas fiel ihm ins Wort. »Du meinst, ich sollte sie nicht zur Rede stellen?«

»Genau das. Du solltest überhaupt kein Wort über die ganze Sache verlieren. Irgendwann, nicht jetzt, sondern viel später, kannst du, wenn du willst, den Fall mal ganz beiläufig erwähnen, nur damit sie merkt, daß du Bescheid weißt.«

»Aber dann wird sie sich doch nie bessern!«

»Mein lieber Thomas«, sagte Dr. Jahn und drückte seine Zigarette aus, »eine Ehe ist keine Erziehungsanstalt. Das solltest du doch eigentlich wissen. Wenn man eine Frau so liebt, daß man sie unbedingt heiraten muß, dann sollte man sie auch so nehmen, wie sie ist, mit all ihren Fehlern. Ganz abgesehen davon weißt du sehr wohl, daß Gina nur einen einzigen Fehler hat, der sich nicht durch Erziehung sondern nur durch die Zeit ändern läßt. Sie ist zu jung fur eine Ehe.«

»Und damit wären wir bei all dem angekommen, was du mir vor meiner Heirat gesagt hast.«

»Genau. Du hast kein Recht, dich zu beklagen, denn du warst gewarnt genug. Du mußtest wissen, was du dir mit dieser Ehe antatest.«

[37]

Thomas stand noch lange am gleichen Platz, als Dr. Jahn ihn längst verlassen hatte. Das Gespräch mit dem Freund hatte ihm keinen Trost gegeben, sondern nur sein Gefühl verstärkt, daß die Situation hoffnungslos verfahren war.

Er wußte, daß es eine Erleichterung für ihn gewesen wäre, Gina den Kopf zu waschen — aber Dr. Jahn hatte ihm davon abgeraten. Was sollte er also jetzt wirklich tun? Nach Hause zu fahren und sich den Anschein geben, als wenn nichts geschehen wäre, das brachte er einfach nicht über sich.

Langsam, fast wie betäubt, ging er in sein eigenes Arbeitszimmer hinüber, nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Er mußte an Vivian Geron denken. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte er der Versuchung nicht widerstehen, die beiden Frauen miteinander zu vergleichen — die sehr selbständige, sehr überlegene Vivian und die blutjunge, völlig unerfahrene Gina.

Der Vergleich fiel — wie konnte es anders sein — zu Vivians Gunsten aus. — Wenn ich Vivian geheiratet hätte, dachte er, wäre mir das alles nicht passiert. Vivian hätte mich niemals in eine solche Situation gebracht. Vivian konnte großartig mit allen Menschen umgehen, sie hätte seine Karriere gefördert, mir eine gesellschaftliche Position geschaffen — ach, dabei ist mir das alles gar nicht so wichtig. Lächerlich hätte sie mich jedenfalls nicht gemacht, so etwas bringt nur Gina fertig.

Eine heiße Welle des Schams und des Zorns stieg ihm in die Stirn, wenn er daran dachte, daß Ginas unglaubliches Benehmen jetzt bestimmt schon die Runde durch die Juristenkreise Münchens gemacht hatte. Er hörte förmlich die boshaften Bemerkungen, die hinter seinem Rücken über ihn und seine junge Ehe gefällt wurden, das schadenfrohe Gelächter. Nein, er konnte und wollte Gina jetzt nicht sehen!

Er nahm den Telefonhörer ab, wählte seine eigene Nummer.

Gina meldete sich. Ihre kindliche, ein wenig rauhe Stimme weckte nicht wie Sonst Rührung in ihm, sondern stieß ihn fast ab.

»Thomas!« rief sie, als er seinen Namen genannt hatte, »wo steckst du denn?! Das Essen ist längst fertig und …«

Er unterbrach sie. »Tut mir leid, ich kann heute nicht kommen.«

»Nicht!?« fragte sie maßlos enttäuscht.

»Ich bin aufgehalten worden. Also dann, bis heute abend!« Ehe sie noch etwas fragen oder erwidern konnte, hatte er schon eingehängt.

Aber er fühlte sich nicht besser. Im Gegenteil, er spürte ein merkwürdiges Würgen in der Kehle, das er nur einmal, vor langer Zeit gehabt hatte. Sonderbar, daß ihm dieser Vorfall gerade jetzt einfiel. Er war damals zwölf Jahre alt gewesen, zwölf oder dreizehn, als eine Maus in der Speisekammer in die Falle gegangen war. Sie lebte noch. Er hatte sich angeboten sie zu töten — und er hatte es getan, Aber danach hatte er dieses gleiche ekelhafte Würgen in der Kehle gehabt wie heute.

Thomas öffnete eine Schreibtischtür, holte eine Flasche Cognac heraus, die er immer für besondere Klienten bereit hielt, nahm eines der kleinen Gläser, goß sich ein. Das tat gut. Er trank ein weiteres Glas und noch eines. Jetzt war ihm besser.

Dennoch war er nicht angeheitert. Er war sicher, er hätte die ganze Flasche leeren können, ohne betrunken zu werden. Er korkte sie zu, stellte sie fort, schob das Glas von sich.

Was für eine verfahrene Situation! Er saß hier in seiner Kanzlei und versuchte sich zu betrinken, und Gina war allein zu Hause, allein und unglücklich. Wie sollte es weitergehen?

Es wären eine Menge Lösungen möglich gewesen. Die naheliegendste, Nachsicht mit Gina zu haben und vielleicht eine Aussprache im Guten herbeizuführen, fiel Thomas gar nicht ein. Jetzt, da der Alkohol sein Denken gelockert hatte, tat er das, was er in den vergangenen Jahren seines Lebens, bis er Gina kennengelernt hatte, in jeder schwierigen Situation getan hatte — er dachte an seine Mutter. Von ihr war ihm immer Trost, Hilfe, Rat gekommen — warum sollte es jetzt anders sein?

Thomas wählte die Nummer der Düsseldorfer Klinik, in die seine Mutter nach ihrem Unfall eingeliefert worden war. Aber dort erfuhr er zu seiner Überraschung, daß sie schon entlassen war.

Er wählte die Nummer seiner Schwester Angela. Sie war besetzt. Er zündete sich eine Zigarette an, versuchte es noch zweimal, dreimal. Erst beim vierten Mal hatte er Glück. Die Nummer war frei. Angela meldete sich.

»Thomas, endlich!« rief sie. »Ich warte schon seit einer Woche auf eine Nachricht von dir!«

»Wieso?« fragte er dumm.

»Ja, hast du denn meinen Brief nicht bekommen?«

»Nein.«

»Wie sonderbar«, sagte sie nach einer kurzen Pause, »dann muß er wohl verlorengegangen sein. Ich habe dir geschrieben.«

»Hör mal«, unterbrach er sie, »ich wollte eigentlich Mama sprechen. In der Klinik sagte man mir …«

»Ja. Sie ist wieder bei uns. Aber sie hat sich vor einer Viertelstunde hingelegt.«

»Wie fühlt sie sich?«

»Ziemlich schwach. Aber es geht ihr schon besser.«

»Na schön. Ich versteh, daß du sie jetzt nicht wecken willst, ich werde dann später noch einmal …«

»Bitte, Thomas, leg nicht auf! Ich bin ja so froh, daß ich endlich mit dir sprechen kann. Ich habe dir nämlich schon geschrieben, wir müssen eine Lösung wegen Mama finden. Ich habe mich inzwischen bei dem Damenstift in Golzheim erkundigt.«

»Angela«, unterbrach er sie, »du kennst meinen Standpunkt. Ein Altersheim kommt für Mama nicht in Frage.«

»Aber hier bei uns kann sie nicht bleiben, Thomas, wirklich nicht! Es liegt nicht an meinem schlechten Willen, aber sie ist unglücklich hier. Und das lastet natürlich auf meiner ganzen Familie.«

Thomas war einen Augenblick ganz still. »Meinst du, daß sie zurückkommen würde?«

»Das ist doch nicht dein Ernst!«

»Warum nicht?«

Angela holte tief Atem. »Ich weiß, wie sehr du an Mama hängst. Aber gerade deshalb. Das kannst du Gina doch nicht antun. Wie geht es ihr überhaupt? Bist du glücklich mit deiner jungen Frau?«

»Oh, ja.«

»Das klingt nicht sehr überzeugend.«

»Gewisse Schwierigkeiten waren ja vorauszusehen«, sagte er vorsichtig.

»Wenn das so ist«, sagte Angela, »darfst du Mama erst recht nicht zurückholen. Das würde alles nur noch schlimmer machen, glaub mir. Sie ist eine alte Frau, sie hat ihr Leben gelebt aber ihr beide …«

Er fiel ihr hart ins Wort. »Diese Entscheidung solltest du wohl mir überlassen!«

»Ja, natürlich. Entschuldige.«

»Ich werde dir schreiben.«

»Aber bald, Thomas, bitte! Irgend etwas muß geschehen und …«

»Du hörst von mir.« Er hängte auf.

Einen Augenblick lang war es ihm als eine blendende Idee erschienen, seine Mütter zurückzuholen. Aber Angelas Bedenken hatten ihn wieder unsicher gemacht. Und dennoch — war das nicht überhaupt die Lösung? Er mußte mit Gina darüber sprechen, mußte ihr in aller Ruhe klar machen …

Er dachte nicht zu Ende, sondern hatte den Telefonhörer schon in der Hand, wählte seine Nummer. Er konnte das Freizeichen hören. Lange Zeit.

Aber niemand meldete sich.

Gina war wirklich sehr unglücklich gewesen. Lustlos hatte sie alleine zu Mittag gegessen. Sie fühlte sich sehr verlassen.

Die Stimme ihres Mannes hatte fremd und böse geklungen. Oder hatte sie es sich nur eingebildet?

Sie war gerade dabei, ihren Teller abzuräumen, als sie es draußen, vor dem Wohnzimmerfenster pfeifen hörte. Erst achtete sie nicht darauf, dann wurde sie neugierig. Sie warf einen Blick durch die Gardine auf die Straße.

Rolf Jahn stand draußen und pfiff zu ihr herauf.

Gina zögerte einen Augenblick.

Sie schob den Vorhang zur Seite, öffnete das Fenster und rief hinunter: »Was ist los?«

»Ich wollte nur fragen, haben Sie Lust ins Kino?« schrie Rolf Jahn zurück. »Es läuft ein prima Film mit Pierre Brice!«

Gina hatte Lust. Sie wäre am liebsten aus dern Parterre-Fenster gesprungen und so, wie sie war, mit Rolf gelaufen. Aber noch bezwang sie sich. »Geht leider nicht, Rolf!« gab sie zurück.

»Warum denn nicht? Sind Sie etwa eingesperrt?«

»Ach, Unsinn! Nur, mein Mann …«

»Bis der zurück ist, sind Sie doch längst wieder zu Hause. Es dauert ja bloß bis vier!«

Gina überlegte. Vor fünf, halb sechs kam Thomas abends nie heim. Sie konnte es also wagen — warum eigentlich nicht? Ein Kinobesuch mit diesem netten Jungen war doch wirklich das harmloseste auf der Welt.

»Ich komme?«, rief sie mit plötzlichem Entschluß und klappte das Fenster zu.

Gina brachte hastig ihren benutzten Teller und die Schüsseln in die Küche, nahm sich nicht die Zeit, irgend etwas wegzuräumen, war schon in der Tür, lief noch einmal zurück, um sich zu vergewissern, daß der Herd ausgeschaltet war, schlüpfte in ihren Kamelhaarmantel, steckte Geldbörse und Schlüssel ein und rannte auf die Straße.

»Donnerwetterl« sagte Rolf anerkennend, als sie auf ihn zulief.

»Donnerwetter, was?«

»Daß es so fix gegangen ist. Die meisten Weiber bummeln unerträglich.«

»Ich hab’ nicht mal in den Spiegel geguckt«, gestand sie lächelnd.

»Haben Sie doch auch gar nicht nötig!«

Nebeneinander liefen sie zu dem kleinen Vorstadtkino, das nur einige Häuserblocks entfernt war. Sie hatten sich wenig zu sagen, aber das störte Gina nicht. Sie freute sich kindlich darauf, wieder einmal ins Kino zu kommen, alles andere war ihr ziemlich egal.

Rolf löste die Eintrittskarten, und schon während sie in den Saal gingen, gab Gina ihm das Geld für ihre Karte zurück. Es berührte sie angenehm, daß er das für ganz selbstverständlich zu halten schien.

Im Vorführungsraum wurde es gerade hell, als sie hereinkamen. Er war gut besetzt, fast ausschließlich von jungen Leuten, Schülern, dazwischen einzelne Hausfrauen. Rolf grüßte hierhin und dorthin, offensichtlich sehr stolz auf seine Begleiterin. Sie fanden zwei Plätze nahe dem Gang. Gina zog ihren Mantel aus, legte ihn über den Schoß, dann wurde es auch schon dunkel. Die Wochenschau begann.

Gina interessierte sich weder für Politik noch für das Zeitgeschehen. Sie wartete gespannt auf den Beginn des Hauptfilms. Dann endlich war es soweit. Es wurde noch einmal hell, dann wieder dunkel.

Rolfs Hand tastete sich zu Gina hinüber. Sie merkte es, zog ihre Hand rasch zurück.

Malerische Indianerstämme galoppierten über die Leinwand. Es wurde nach echter Wildmanier geschossen und geliebt. Gina war begeistert. Als Rolfs Hand noch einmal die ihre suchte, ließ sie sich seinen Händedruck gefallen. Die Berührung dieser mageren, trockenen Jungenshand war durchaus nicht unsympathisch. Das jugendliche Publikum johlte, pfiff, lachte und schmatzte an den passenden, manchmal auch an den unpassenden Stellen. Anderthalb Stunden lang war Gina wieder so jung und unbekümmert, wie es ihrer wirklichen Altersstufe entsprach.

[38]

Als sie nachher auf die Straße traten, war es schon dämmrig. Es hatte sachte begonnen zu schneien, und weiße Flocken setzten sich wie ein zartes Häubchen auf Ginas honigblondes Haar.

Rolf betrachtete sie voller Bewunderung. »Gehen wir noch irgendwohin, ‘ne Tasse Kaffee trinken?« fragte er.

»Nein, wirklich nicht, Rolf, sehr lieb von Ihnen, aber ich muß nach Hause.«

Er schlenderte neben ihr her. »Wann sehen wir uns wieder?«

»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen!«

Die Kinobesucher waren schon auseinandergelaufen, die winterlichen Straßen wirkten sonderbar still. Die leuchtenden Auslagen der Läden, der Lichtschein, der aus den Fenstern fiel, verstärkte noch den Eindruck der Dunkelheit und Einsamkeit.

Rolf blieb plötzlich stehen. »Gina!«

»Ja«, sagte sie arglos und verhielt ebenfalls den Schritt. »Gina, bitte …« Mit einer raschen, ein wenig ungeschickten Bewegung hatte er sie an sich gezogen, wollte einen Kuß auf ihre Lippen drücken, aber sie hatte eben noch das Gesicht zur Seite drehen können, so daß seine Lippen nur ihr Ohrläppchen trafen.

»Was fällt dir ein?!« rief sie empört und stieß ihn so heftig vor die Brust, daß er taumelte.

»Gina, ich«, stammelte er, »als wenn du nicht wüßtest.«

»Du bist einfach gemein!« rief sie außer sich.

»Ich, du machst mich verrückt.«

»Hör mal, Rolf«, versuchte sie und versuchte, sich eine Würde zu geben, die sie in Wahrheit durchaus nicht besaß, »ich will dir verzeihen, wenn du dich von jetzt an zusammennimmst. Schließlich bin ich eine verheiratete Frau, vergiß das nicht.«

»Verdammt noch mal, glaubst du denn, ich könnte einen Augenblick lang nicht daran denken?«

»Rolf!«

»Warum zum Teufel mußtest du ausgerechnet diesen alten Knacker heiraten?«

Ginas Hand rutschte aus und landete mit einem hörbaren Knall auf Rolfs Wange. Eine Sekunde lang sah sie ihn, selber ganz erschrocken, aus weit aufgerissenen Augen an, dann rannte sie durch den immer dichter fallenden Schnee, ohne sich nur noch ein einziges Mal umzusehen, nach Hause.

[39]

Schon von der Straße her sah Gina, daß Licht in ihrer Wohnung brannte.

Sie erschrak. War es möglich, daß sie selber vergessen hatte, die Lampen auszuknipsen, als sie die Wohnung verlassen hatte? Ausgeschlossen, es war ja noch heller Tag gewesen.

Also mußte Thomas zurück sein.

Sie verlangsamte ihren Schritt, ging ein wenig beklommen auf die Haustür zu. Als sie aufgeschlossen hatte, warf sie einen raschen ängstlichen Blick über die Schulter zurück. Rolf war nicht mehr zu sehen.

Gina ging ins Haus, schloß die Wohnungstür auf, trat ein.

Sie hatte erwartet, daß Thomas ihr sofort entgegenkommen würde. Aber nichts dergleichen geschah.

Sehr langsam, um Zeit zu gewinnen zog sie ihren Mantel aus, hängte ihn über einen Bügel, schüttelte ihr Haar, um die Schneeflocken, die schon zu schmelzen begonnen hatten, loszuwerden. Sie warf einen Blick in den Garderobenspiegel. Ihr Gesicht, ganz ungeschminkt, die Wangen von der Kälte getötet, die großen runden Augen, dunkel vor Erregung, wirkte sehr jung und sehr unschuldig.

»Man sieht mir nichts an« dachte sie erleichtert, »Gott sei Dank!«

Dann trat sie ins Wohnzimmer, sagte mit einer Überraschung, die nicht ganz echt klang: »Thomas, du bist schon zu Hause?«

Er hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht, die langen Beine ausgestreckt, die Füße auf einem Hocker, war anscheinend ganz in die Zeitung vertieft. »Wie du siehst«, erwiderte er kurz, ohne aufzublicken.

»Soll ich, soll ich dir das Abendbrot richten?« fragte sie unsicher.

»Wenn du möchtest!«

Plötzlich hielt sie es nicht länger aus. Ihre mühsam errungene Selbstbeherrschung zerbrach.

»Nein, Thomas, ich möchte nicht, ich möchte viel lieber«, sie rannte zu ihm hin, ließ sich neben seinem Sessel in die Knie sinken, verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. »Oh, Thomas, ich habe mich so blöd benommen!«

Er räusperte sich. Auch ihm fiel es schwer, die Rolle, die er sich ausgedacht hatte, weiterzuspielen, kühl und abweisend zu bleiben. »So?« fragte er, anscheinend uninteressiert.

»Ich, bitte, sei nicht so! Hau mir lieber eine ‘runter, dann wird mir wohler sein!«

»Soll das heißen, du hast eine Ohrfeige verdient?«

»Nicht nur eine! Oh, Thomas, wie konnte ich bloß so blöd sein!«

Jetzt endlich faltete er die Zeitung zusammen, legte sie fort. »Soviel weiß ich jetzt schon«, sagte er, »möchtest du mir nicht allmählich die ganze Geschichte erzählen?«

»Wirst du mir auch bestimmt nicht böse sein?«

»Für Dummheit kann man schließlich niemanden verantwortlich machen!«

»Bitte, Thomas, bitte, nimm mich in deine Arme und gib mir einen Kuß! Sonst traue ich mich wirklich nicht!«

Er konnte nicht länger widerstehen, küßte sie auf die frischen roten Lippen, die noch nach Kälte und Schnee schmeckten, zog sie auf seinen Schoß.

»Mein Gott«, sagte er, »wie konnte ich nur einen solchen Kindskopf wie dich heiraten!«

»Tut es dir leid?«

»Manchmal ja«, sagte er ehrlich.

»Oh, Thomas, das hättest du nicht sagen dürfen!«

»Nein, wirklich nicht. Denn wie ich dich kenne, wirst du jetzt gleich wieder den Spieß herumdrehen und mir die Schuld an allem geben. Also, ‘raus mit der Wahrheit! Wo bist du gewesen? Was ist passiert?«

»Ich war im Kino«, gestand Gina mit sichtlicher Überwindung.

»Wenn das alles ist.«

»Nein. Ich, ich war mit Rolf Jahn. Er hat mich abgeholt. Und auf dem Heimweg hat er versucht mich zu küssen.«

Thomas hatte sich fest vorgenommen, was Gina ihm auch immer sagen würde, ganz ruhig zu bleiben. Aber er konnte es nicht. Er machte eine so heftige Bewegung, daß Gina fast von seinem Schoß gefallen wäre.

»Was ist?« rief sie erschrecken. »Aber, Thomas, ist denn das so schlimm? Er hat es ja nur versucht, gelungen ist es  ihm nicht!«

»Entschuldige«, murmelte Thomas, »ich wollte nur«, er griff über sie hinweg, nahm sich eine Zigarette, zündete sie an.

»Du hast Rolf bei Erika Jahn kennengelernt?« sagte er mit mühsamer Beherrschung.

»Ja. Wir haben Tischtennis miteinander gespielt! Ich wollte es dir eigentlich gleich sagen, aber, ich hatte Angst, du würdest es falsch auffassen.«

»Ich habe es vollkommen richtig aufgefaßt.«

»Ja, wirklich? Ach, Thomas, du bist so wunderbar! Es war entsetzlich für mich bei diesen alten Damen, ein richtiger Tantenverein ist das, ja, und da war ich natürlich froh, daß Rolf mich zum Tischtennis aufforderte.«

»Das hat er nicht getan. Du hast es ihm selber angeboten.«

»Wo ist denn da der Unterschied?«

»Gina, bitte, setz dich mal vernünftig hin, mir gegenüber, dort auf den Sessel. Ich glaube, wir müssen mal in aller Ruhe miteinander reden.«

Sie tat, wie er gesagt hatte. »Erst tust du so, als verstündest du alles«, sagte sie mit unglücklichem Gesicht, »und jetzt willst du mir doch nur Vorwürfe machen.«

»Überhaupt nicht. Ich möchte dir nur die Situation klarmachen. Anscheinend hast du immer noch nicht begriffen, was du eigentlich angerichtet hast.«

»Darf ich mir wenigstens auch eine Zigarette nehmen?«

»Von mir aus«, sagte er kurz angebunden, aber er machte keine Anstalten, ihr Feuer zu geben.

»Du warst bei Frau Jahn eingeladen, Gina«, sagte er, »ganz gleich, ob es dir dort nun gefiel oder nicht, du hättest durchhalten müssen! Das gibt es einfach nicht, daß man aufspringt und davonläuft, noch dazu mit einem halbwüchsigen Jungen!«

»Rolf ist fast so alt wie ich.«

»Um so schlimmer. Sag lieber, du bist beinahe so jung wie Rolf. Ja, du bist jung, Gina, ich weiß es, und anderen wissen es auch. Du brauchst es ihnen also nicht immer noch durch dein unmögliches Benehmen noch extra unter die Nase zu reiben. Du hast mich doch freiwillig geheiratet, oder?«

»Ja, Thomas, natürlich.«

»Also mußt du dich jetzt auch bemühen, dich wie eine erwachsene, verheiratete Frau zu benehmen. Du willst mich doch nicht blamieren?«

»Nein, Thomas.«

»Und daß es unverantwortlich war, sich von diesem Knaben mit ins Kino nehmen zu lassen, weißt du hoffentlich jetzt auch.«

»Ich habe mir gar nichts dabei gedacht, Thomas, wirklich nicht!«

»Aber Rolf. Es sieht also ganz so aus, als wenn sogar er noch ein bißchen reifer wäre als du!«

»Es tut mir alles so leid, Thomas«, sagte sie kleinlaut. »Ich verspreche dir, von jetzt an werde ich mich wirklich bessern.« Fast im gleichen Atemzug fügte sie hinzu. »Zu so einem Damenkränzchen gehe ich aber nie wieder. Keine zehn Pferde werden mich dazu bringen.«

»Natürlich nicht«, sagte er, »nach dem, wie du dich bei Frau Jahn aufgeführt hast, wird auch bestimmt niemand mehr auf die Idee kommen, dich einzuladen.«

»Darauf pfeife ich«, erklärte Gina trotzig.

»Obwohl du weißt, wieviel mir an einem guten Kontakt liegt?« fragte er ernst.

Sie warf mit einer ungestümen Bewegung das Haar aus der Stirn, sah ihn voll an. »Thomas«, sagte sie, »ich liebe dich sehr, aber wenn du dich so, so schulmeisterlich aufführst, dann könnte ich dich beinahe hassen!« Dann brach sie in Schluchzen aus, sprang auf und wollte zur Tür.

Aber er war mit einem Satz bei ihr, packte sie bei den Schultern, riß sie herum.

»So kommst du mir nicht davon, Gina. Ob du mich haßt oder liebst, du bist ineine Frau. Und ich habe mit dir zu sprechen.«

Er führte sie zu ihrem Sessel zurück, drückte sie nieder.

»Ich habe heute mit Angela telefoniert.«

Gina dachte an den Brief, den sie unterschlagen und verbrannt hatte, und das schlechte Gewissen trieb ihr das Blut ins Gesicht.

Er deutete es falsch. »Paßt dir etwas nicht daran?« fragte er hart.

Sie schwieg, biß die Lippen zusammen.

»Angela sagte, daß sie mir einen Brief geschrieben hätte. Weißt du etwas davon?«

Gina schüttelte stumm den Kopf.

»Nun, er scheint verlorengegangen zu sein«, sagte Thomas, ohne Verdacht zu schöpfen, »das ist auch nicht weiter wichtig. Wichtig ist nur, daß Mama sich bei Angela nicht wohlfühlt. Ich habe mich deshalb entschlossen, sie bei uns aufzunehmen.«

»So? Hast du das?« fragte sie mit unverhüllter Bitterkeit. »Und ich werde gar nicht gefragt!«

»Du vergißt, daß dies meine Wohnung ist, eigentlich sogar die Wohnung meiner Mutter.«

»Aber ich bin schließlich deine Frau!«

»Daran denkst du nur, wenn es um deine Rechte geht. Die Pflichten dagegen sind dir ziemlich lästig.«

Sie holte tief Luft. »Thomas, bitte, wir wollen das doch in Ruhe besprechen.«

»Das hatte ich vor. Aber leider scheint ein sachliches Gespräch mit dir unmöglich zu sein.«

»Entschuldige, wenn ich mich wieder mal daneben benommen habe. Aber Thomas, wir haben ja bloß drei Räume. Wo soll deine Mutter denn leben?«

»Im kleinen Zimmer.«

»Aber«, sie stockte, sprach den Satz nicht zu Ende. Sie hatte sagen wollen, daß sie diesen Raum bisher doch immer als Kinderzimmer vorgesehen hatte. Aber plötzlich wagte sie einfach nicht mehr, Thomas daran zu erinnern. Alles schien so völlig und hoffnungslos verfahren.

»Sprich dich ruhig aus«, sagte er grob.

»Nichts«, sagte sie, »gar nichts.«

»Na schön. Dann ist wohl alles abgemacht.«

Sie spürte, daß es keinen Sinn mehr hatte, irgend etwas zu sagen, Thomas hatte seinen Entschluß gefaßt, und es gab kein Argument, das ihn davon abbringen konnte.

Sie erhob sich müde. »Soll ich jetzt das Abendbrot richten?«

Plötzlich wurde ihm das Maß seiner Verantwortung für dieses junge Menschenwesen wieder voll bewußt. »Gina«, sagte er, »du hast keinen Grund, so ein verzweifeltes Gesicht zu machen! Ich tue es doch vor allem deinetwegen!«

»Ach, Thomas«, sagte sie hoffnungslos.

»Doch wirklich! Damit du nicht mehr soviel allein bist! Es wird doch viel schöner für dich sein, wenn du jemanden zum Plaudern hast.«

»Jemanden, der auf mich aufpaßt, meinst du wohl?«

Er verlor die Geduld. »Es ist nicht meine Schuld, daß es soweit gekommen ist!«

»Natürlich nicht, du bist ja der reinste Engel!«

[40]

An diesem Abend gingen Thomas und Gina das erste Mal in ihrer jungen Ehe unversöhnt zu Bett.

Gina lag noch lange wach, als Thomas schon längst eingeschlafen war. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, starrte sie zur Zimmerdecke. Sie war todunglücklich.

Wie herrlich hatte sie sich alles vorgestellt, und wie grauenhaft war es geworden! Sie hatte Thomas geheiratet, weil sie ihn liebte, ja, aber es hatte auch noch etwas anderes gegeben, darüber wurde sie sich in diesen nächtlichen Stunden ganz klar. Sie hatte gehofft, auf diese Weise endlich der elterlichen Bevorrnundung zu entgehen, ein erwachsener Mensch zu werden, selber über ihr Leben entscheiden zu dürfen.

Wie sehr hatte sie sich getäuscht. Zum ersten Mal dachte sie voller Sehnsucht an ihre Mädchenzeit zurück. Natürlich, sie hatte jedesmal fragen müssen, wenn sie abends noch fort wollte, und es hatte Krach gegeben, wenn sie auch nur eine Viertelstunde zu spät kam. Aber damals hatte sie doch wenigstens fortgekonnt, sie hatte einen Kreis von gleichaltrigen Jungen und Mädchen gehabt, mit denen allen sie sich fabelhaft verstanden hatte, sie war nie wirklich allein gewesen.

Selbst die Schule schien ihr auf einmal lustig und interessant. Niemals hatte sie sich ein so ödes Leben, wie sie hier in München führte, auch nur vorgestellt. Den ganzen Tag schuftete, putzte, wusch, kochte, bügelte sie, nur dem einen Gedanken beseelt, Thomas alles recht zu machen. Aber gelingen konnte ihr das nie, denn Thomas würde nie aufhören, sie mit seiner heißgeliebten, ach so perfekten Mama zu vergleichen. Und jetzt würde sie selber kommen, die Schwiegermama, zu ihnen in die kleine Wohnung ziehen, an allem kritisieren, alles besser wissen – es war wirklich zum Verzweifeln.

Gina konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Erst weinte sie lautlos, dann mit ersticktem Schluchzen. Sie fühlte sich so tief unglücklich, daß sie am liebsten gestorben wäre.

Sie merkte es gar nicht, daß Thomas wach wurde — oder hatte er so wenig schlafen können wie sie selber? Erst als er sich zur Seite rollte und sie sacht an seine Brust zog, wurde es ihr bewußt. Jetzt schluchzte sie herzzerbrechend und rückhaltlos.

»Aber, Gina, Liebling, so schlimm ist doch alles gar nicht«, sagte er tröstend, »wir haben einen Krach gehabt. So etwas kommt in jeder Ehe vor. Oder hast du geglaubt, wir würden ewig im siebten Himmel leben?«

»Warum nicht, Thomas«, schluchzte sie, »warum kann das nicht sein?«

»Weil wir beide Menschen sind und beide Fehler haben. Ich auch, Gina, ich weiß es. Wir müssen lernen, uns mit unseren Fehlern zu lieben, verstehst du?«

»Du liebst mich überhaupt nicht mehr.«

»Ach, Unsinnn, Gina, das redest du dir doch nur ein.«

»Bestimmt nicht. Solange hast du mir schon nicht mehr gesagt, daß du mich liebst.«

»Und du? Du hast sogar gesagt, daß du mich haßt!«

»Aber das war doch gar nicht wahr!«

»Aber gesagt hast du es trotzdem.«

»Es stimmt nicht, Thomas, ich liebe dich!«

»Ich dich auch, Gina. Und wir wollen uns beide ganz fest vornehmen’ uns zu bessern.«

»Das hilft nichts«, sagte sie unglücklich,- »das habe ich schon versucht.«

»Du brauchst wirklich keine Angst vor Mama zu haben, Gina. Sie ist eine wunderbare Frau. Könnte ich sie denn sonst so liebhaben?«

»Aber mich mag sie nicht.«

»Sie kennt dich ja noch gar nicht.«

»Weil sie mich nicht kennenlernen wollte, weil sie von Anfang an gegen unsere Heirat war.«

»Aber jetzt sind wir ja verheiratet, Gina! Wenn Mama wirklich zu uns zieht, dann bedeutet das, daß sie uns verziehen hat.«

»Verziehenl? Was gibt es denn da zu verzeihen?«

»Nicht gleich wieder wild werden, Gina, ja? Von Mama aus gesehen, war es falsch von mir, daß ich gegen ihren Willen gehandelt habe. Gina, du mußt das doch verstehen! Es ist für eine Mutter immer ein Schock, wenn ihr einziger Sohn heiratet, noch dazu ein Mädchen, von dem sie vorher nie etwas gehört hatte.«

»Das begreife ich schon«, sagte Gina zögernd.

»Na also. Dann wird ja alles gut werden. Ich gehe jede Wette ein, ihr beide werdet euch großartig verstehen.«

»Hoffentlich«, sagte Gina seufzend und schmiegte sich enger an ihn.

»Bestimmt. Weißt du, Gina, was du tun solltest? Schreib einen netten Brief an Mama. Schreib ihr, wie sehr du dich freuen würdest, wenn sie zu uns kommt.«

»Das kann ich nicht, Thomas, nein, das kannst du nicht Von mir verlangen! Das wäre eine glatte Lüge!«

»Na und? Willst du etwa behaupten, daß du es mit der Wahrheit sonst immer so genau nimmst?«

»Nnnein«, mußte sie zugeben.

»Na also. Und außerdem wäre es eine fromme Lüge. Also, bitte, tu mir die Lüge, ja?«

Sie kam nicht mehr dazu, zu antworten, denn da waren seine Lippen schon auf ihrem Mund, und in seiner Umarmung vergaß sie noch einmal alles, was zwischen ihnen gestanden hatte, alles, was die Zukunft noch für sie bereit hielt.

Neben ihrer großen Liebe war alles unwichtig worden.

[41]

Gina hielt ihr Versprechen.

Gleich am nächsten Morgen, als sie die Wohnung aufgeräumt hatte, machte sie sich daran, einen Brief an ihre Schwiegermutter Zu verfassen. Sie brauchte eine gute Stunde dazu, riß mehrere Entwürfe entzwei, bis sie endlich mit ihrem Werk zufrieden war. Es hatte sie eine große Überwindung gekostet, diesen Briefzu schreiben, aber sie hatte es in dem Gefühl getan, ihrer Liebe ein wirkliches Opfer zu bringen.

Als Thomas mittags nach Hause kam, zeigte sie ihm ihr Werk. Er las den ein wenig steif abgefaßten, in sorgfältiger Jungmädchenhandschrift geschriebenen Brief und verstand sofort, wie er gemeint war — als eine Liebeserklärung an ihn.

»Ist er in Ordnung?« fragte Gina ängstlich, weil er so lange Zeit nichts sagte.

»Er ist wundervoll!« Thomas nahm seine Frau impulsiv in die Arme, küßte siezärtlich.

»Ob sie sich freuen wird?«

»Ganz bestimmt. Wenn Mama diesen Brief gelesen hat, wird sie eins, zwei, drei ihre Koffer packen und zu uns kommen!«

Das war nicht gerade das, was Gina hatte hören wollen. Im tiefsten Herzen hoffte sie doch immer, Frau Miller würde ganz von selber begreifen, daß sie nicht in die junge Ehe einbrechen durfte Aber Gina war klug genug, diesmal nichts weiter zu sagen. Sie war der ewigen Streitereien sehr müde und war entschlossen, Thomas einfach nicht mehr zu widersprechen.

Thomas bemerkte ihr Unbehagen nicht oder — genauso gewillt wie Gina, von nun an Frieden zu halten — überging es geflissentlich.

»Ich habe auch eine Überraschung für dich«, sagte er.

Sie war noch jung genug, sofort ihre dunklen Gedanken zu vergessen. »Ja?« sagte sie gespannt.

»Nach dem Essen werde ich sie dir verraten!«

»Nein, bitte, bitte, jetzt schon! Es ist nicht fair, mich auf die Folter zu spannen!«

»Na schön. Weil du es bist.« Er griff in seine äußere Jackentasche. »Ich habe zwei Karten besorgt, fürs Nationaltheater.«

»Oh«, sagte Gina beeindruckt, »waren die nicht sehr teuer?«

»Erst einmal hat eine Dame nach so etwas nicht zu fragen und zweitens habe ich sie von einem Klienten geschenkt bekommen.«

»Herrlich!« sagte sie, jetzt erst wirklich begeistert. »Laß sehen. Loge, wie wunderbar! Und ›Carmen‹, ach, das ist doch die Sache mit der Zigeunerin und dem Torero? Das hätte ich immer schon mal sehen wollen.«

»Ich freue mich, daß mein Klient deinen Geschmack getroffen hat!« sagte er. »Also, mach dich so schön wie möglich. Du hast den ganzen Nachmittag Zeit dazu. Vergiß nicht, ich möchte Eindruck mit dir machen!«

Ihre Augen strahlten ihn an. »Ach, Thomas, ich bin ja so glücklich!«

»Kindskopf! Bloß weil wir zusammen ins Theater gehen?!«

»Nein«, sagte sie, plötzlich sehr ernst, »weil du wieder gut zu mir bist. Ich will mich nie nie mehr mit zanken!«

[42]

Der Abend wurde wunderbar.

Thomas, der sich nicht viel aus Musik und aus Oper schon gar nichts machte, genoß glücklich Ginas Freude. Mit ihrer kindlichen Begeisterung gelang es ihr tatsächlich, ihn anzustecken.

Sie hatte sich sehr hübsch gemacht, trug ein hellblaues, goldgesticktes Kleid aus schwerer Seide, am Hals hochgeschlossen, aber ärmellos und mit tiefem Rückendekolleté. Sie hatte ihr ungebärdiges helles Haar gebürstet, bis es schimmerte, einen zarten hellblauen Strich auf die Lider gelegt, der ihre Augen noch größer erscheinen ließ. Den vollen, schöngeschnittenen Mund hatte sie so zart mit einem hellen Rot nachgezogen, daß er in der künstlichen Beleuchtung ganz rein und natürlich wirkte.

Thomas war sehr stolz auf seine junge Frau. Als sie während der großen Pause im Foyer auf und ab schritten, genoß er die bewundernden Blicke der Männer, die anerkennenden, wenn auch nicht neidlosen der älteren Frauen und der jungen Mädchen. Am tiefsten berührte es ihn, daß Gina das Aufsehen, das sie erntete, gar nicht zu bemerken schien, sondern nur Augen für ihn hatte.

Die Pause war fast zu Ende, als sie Dr. Jahn und seiner Frau begegneten. Man hatte gerade noch Zeit, ein paar begrüßende Worte zu wechseln.

Gina, die sich so sicher an diesem Abend fühlte, wie noch nie zuvor in ihrem Leben, tat etwas, was niemand von ihr erwartet hatte. Sie sagte: »Ich bin so froh, daß ich Sie hier treffe, Frau Jahn. Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Ich weiß, daß ich mich neulich auf Ihrer Einladung sehr scheußlich benommen habe. Aber das kam nur, weil ich mich so, so unbedeutend fühlte.«

»Aber, mein liebes Kind«, sagte Frau Jahn, von Ginas Entschuldigung überrumpelt, »Sie dürfen doch nicht glauben, daß ich Ihnen das übelgenommen habe. Wir alle haben uns ein bißchen falsch verhalten, nicht wahr?«

»Bravo, Erika«, sagte Dr. Jahn und klopfte seiner Frau so kräftig auf den Rücken, daß sie zusammenzuckte, »das ist genau das, was ich dir auch gesagt habe.«

Frau Jahn warf ihrem Mann einen raschen, zurechtweisenden Blick zu.

»Vielleicht sollten wir nach dem Theater alle vier noch ein bißchen zusammenbleiben?« schlug sie vor.

»Tut mir sehr leid, gnädige Frau«, sagte Thomas rasch, »aber bei mir zu Hause liegen noch ein paar Akten, die auf mich warten.«

»Und ich habe morgen eine wichtige Verhandlung«, stimmte Dr. Jahn zu, »also dann, ein andermal! Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!«

Das zweite Klingelzeichen ertönte, die kleine Gruppe löste sich auf und schloß sich den in den Zuschauerraum hineingtrömenden Gästen an.

»Warum hast du geschwindelt?« flüsterte Gina, als sie wieder auf ihrem Logenplatz saßen.

»Das fragst du noch?« sagte er erstaunt. »Deinetwegen natürlich. Ich dachte, du legtest keinen Wert darauf, Frau Erika Jahn zusammen zu sein.«

»Heute doch«, behauptete sie.

»In dir soll sich einer auskennen!«

Sie legte ihre schmale Hand auf seinen Arm. »Thomas, bitte, es ist alles so herrlich heute. Können wir nicht nachher wirklich noch irgendwohin gehen?«

In diesem Augenblick hob der Dirigent den Taktstock, die Musik setzte ein, der Vorhang ging auf.

»Mal sehen«, konnte Thomas Gina nur noch zuflüstern.

Der Gedanke, noch mit Gina auszugehen, war ihm nicht sehr behaglich, obwohl er sich über seine’ Beweggründe selber nicht ganz klar war. Fürchtete er sich etwa, Vivian Geron oder Henri Horn zu begegnen?

»Das ist ja lächerlich«, sagte er sich, wir leben in der gleichen Stadt. Auf die Dauer werden wir ihnen nicht ausweichen können. Und außerdem, Gina hat sich heute so tadellos benommen, daß sie wirklich eine Belohnung verdient hat.

So überwand er sich und fragte Gina, als der letzte Ton verklungen war, durch den donnerhden Applaus: »Wo möchtest du denn gerne hin, Kleines?«

»Nach Schwabing«, erklärte Gina wie aus der Pistole geschossen.

Er sah die erwartungsvolle Freude in ihrem Gesicht und konnte einfach nicht nein sagen.

»Na schön«, sagte er, »weil du es bist!«

»Thomas!« rief sie ungläubig und begeistert. »Ich bin einfach weg!« Und ohne sich um die anderen Besucher in der Loge zu kümmern, gab sie ihm einen raschen Kuß.

Er sah sich etwas, unbehaglich um, zog schnell sein Taschentuch, um sich die Wange abzuwischen, stellte mit Erleichterung fest, daß alle zur Bühne hinsahen, wo sich die Sänger verbeugten. Niemand hatte den kleinen Zwischenfall bemerkt.

»Tut mir leid«, sagte Gina rasch, »ich gebe zu, das war nicht ganz ladylike!« Vergnügt schob sie ihre Hand unter seinen Arm. »Komm, schnell, ich kann es kaum noch abwarten! Weißt du, Hanna …«

»Welche Hanna?«

»Ach, du mußt sie doch kennen! Sie war ja Brautjungfer bei unserer Hochzeit. Hanna war mal in Schwabing, und sie hat wahnsinnig damit angegeben. Wir haben sie alle beneidet.«

»Willst du etwa nur nach Schwabing, damit du deinen Freundinnen etwas zu schreiben hast?«

»Ach wo«, sagte Gina. »Komisch«, fügte sie hinzu, »wir schreiben uns eigentlich überhaupt nicht mehr, dabei hatten wir es uns so fest vorgenommen. Woher das wohl kommt?«

»Weil ihr in verschiedenen Welten lebt.«

»Kann schon sein. Ihre Briefe kamen mir so, also wirklich blöd vor. Kindisch.«

»Und du bist inzwischen so wahnsinnig erwachsen geworden!« neckte er sie.

Aber sie ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Ihre Vorfreude war so groß, daß nichts ihre Laune hätte trüben können. Leise Besorgnis kam in ihm auf. War es nicht doch ein Fehler gewesen, auf Ginas Wunsch einzugehen? Ihre Erwartung war so groß, daß es zu einer Enttäuschung kommen mußte.

Aber jetzt war es zu spät, sein Versprechen zurückzunehmen.

Bei »Gisela«, der singenden Schwabinger Wirtin, war es gestopft voll. Blaue Tabakschleier schwebten über den Köpfen des bunt gemischten Publikums.

Thomas hätte sich am liebsten auf der Schwelle wieder umgedreht und Gina mit sich gezogen.

Aber sie war weit entfernt, sein Unbehagen zu spüren oder gar zu teilen. »Einfach toll, nicht?!« sagte sie, tief beeindruckt.

»Es hat keinen Zweck. Wir sind zu spät gekommen.«

»Aber wieso denn?«

»Siehst du denn nicht, daß kein Platz mehr frei ist?«

Aber in diesem Augenblick stand die junge Besitzerin des Nachtlokals schon neben ihnen. »Aber, Herr Doktor«, sagte sie mit ihrer tiefen, sehr heiseren Stimme. »Für Sie ist immer noch ein Platz frei!«

»Da siehst du!« erklärte Gina strahlend und betrachtete voll schaudernder Bewunderung die Frau, die für sie ein Inbegriff lockender Verkommenheit war.

Sie quetschten sich hinter Gisela durch die eng beieinander stehenden Tische zu der niedrigen Balustrade, die an das Podium grenzte, auf der die kleine Band musizierte. Mit einem Blick und einer Kopfbewegung scheuchte Gisela zwei junge Männer auf, die sich ohne Widerspruch sofort erhoben und das Ende eines der länglichen Tische freigaben.

Eine Kellnerin schoß herbei, nahm Gina und Thomas die Mäntel ab. Sie setzten sich.

Gisela stemmte die Hände auf den Tisch, beugte sich vor, sagte lächelnd: »Schön, Sie mal wiederzusehen, Herr Doktor!« Sie reichte Gina die Hand. »Und Sie sind die junge Frau, nicht wahr?«

Gina konnte nur die Hand nehmen und benommen nicken.

Thomas spürte, daß Gisela sich gerne zu ihnen gesetzt hätte. Aber gerade das wollte er vermeiden. »Wir haben Durst«, sagte er schroff, fast ungezogen.

Gisela war nicht gekränkt, oder jedenfalls ließ sie es sich nicht anmerken. Sie wandte sich an die Kellnerin. »Nimm die Bestellung auf, Steffi.« Sie lächelte Gina zu. »Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Mein Auftritt naht.«

Thomas bestellte zwei Gin Fizz. Er war entschlossen, so bald wie möglich aufzubrechen. Er hätte sich ohrfeigen können; daß er Gina überhaupt hierher gebracht hatte, in ein Lokal, in dem er früher mit Vivian Geron oft gewesen war. Natürlich, Gisela war diskret, das gehörte zu ihrem Beruf. Trotzdem war es ein scheußliches Gefühl, dieser Diskretion ausgeliefert zu sein.

»Sie ist eigentlich furchtbar nett, nicht wahr?« sagte Gina kindlich.

»Wer?« fragte er zerstreut.

»Gisela natürlich. Du, ich hatte sie mir eigentlich ganz anders vorgestellt. Viel mondäner. Aber sie ist einfach und so natürlich.«

Er bot ihr eine Zigarette an, um seine Verlegenheit zu überspielen, versuchte abzulenken. »Hoffentlich hat Herbert Jahn es uns nicht übelgenommen.«

Sie unterbrach ihn. »Gisela kennt dich gut, nicht wahr? Warum hast du mir nie davon erzählt?«

»Weil ich eine flüchtige Bekanntschaft zu einer Nachtlokalbesitzerin für völlig unwesentlich halte.«

Jetzt erst bemerkte sie seine schlechte Laune. »Was ist los mit dir?« fragte sie erschrocken und fügte sofort reuevoll hinzu: »Wenn ich etwas falsch gemacht habe?«

»Aber gar nichts. Ich bin nur müde. Das ist alles. Schließlich habe ich einen anstrengenden Tag hinter mir.«

Er hoffte, sie würde von sich aus vorschlagen, gleich wieder zu gehen. Vielleicht hätte sie es auch ihm zuliebe getan. Aber gerade in diesem Moment war Gisela ans Mikrophon getreten.

Sie begrüßte ihre Gäste mit einem Scherz und begann zu singen, mit einer fast männlich tiefen, von Alkohol und Rauch angekratzten Stimme. Sie sang das Lied, das sie berühmt und berüchtigt gemacht hatte, das Lied mit den zahllosen Strophen und dem ständig wiederkehrenden Refrain: »Aber der Nowak läßt mich nicht verkommen…«

Von Strophe zu Strophe wurde der Beifall stärker, und Gina stimmte unbefangen in den allgemeinen Jubel ein.

Thomas kannte das Lied so gut, daß er jede Pointe schon im voraus wußte. Er hatte sich niemals bisher an dem reichlich freien Text gestört, hatte es immer durchaus belustigt gefunden. Aber heute, in Ginas Gegenwart, schien es ihm einfach abscheulich.

»Ich begreife nicht, wieso du dich für so etwas begeistern kannst«, sagte er hart, als Gisela das Mikrophon endlich ihrem Gitarristen abgab.

»Aber, es ist doch toll!« sagte sie ganz verständnislos.

»Nicht für ein anständiges junges Mädchen!«

Sie lachte, äußerst vergnügt. »Aber, Thomas, ich bin doch kein Mädchen mehr. Ich bin deine Frau!« Sie nahm einen durstigen Schluck aus ihrem Glas.

Die Band hatte einen Twist angestimmt.

»Wollen wir tanzen?« fragte Gina hoffnunsvoll.

»In dem Gedränge?«

»Aber das ist doch gerade lustig!«

»Mein liebes Kind«, begann Thomas und wollte ihr lehrhaft seine Meinung auseinandersetzen.

Aber er kam nicht dazu.

Ein junger Mann in zerknautschten Hosen, grün-blaumeliertem Rollkragenpullover und sehr sonderbarem Haarschnitt verbeugte sich vor Gina.

Sie errötete, sah Thomas an. »Darf ich?«

»Wenn es dir Spaß macht«, sagte er unfreundlich.

Sie überhörte seinen ungehaltenen Ton, sprang auf, küßte ihn auf die Stirn. »Oh, danke!« rief sie und war mit wenigen Schritten die Stufen hinunter und, ihren Tänzer im Schlepptau, im Gewühl verschwunden.

Sekunden später tauchte das Paar wieder auf, und es war Thomas unmöglich, die Augen von ihnen abzuwenden. Gina in ihrem kostbaren goldbgstickten Kleid und der junge Mann in seinem ungepflegten Aufzug, paßten äußerlich überhaupt nicht zusammen. Und dennoch war die Art, wie sie miteinander tan2ten, voll seltsamer Harmonie. Jeder schien jede Bewegung des anderen schon vorauszuahnen. Sie berührten sich nicht im Tanz, wurden nur hin und wieder durch das Gedränge ringsum gegeneinandergestoßen. Dennoch wuchs Thomas Millers Unbehagen von Sekunde zu Sekunde, wurde zu quälender Eifersucht. Plötzlich begriff er, was die beiden dort unten miteinander verband, sie füreinander geschaffen erscheinen ließ — eine gedankenlose jugendliche Unbekümmertheit, die er gelber längst verloren hatte. Er fühlte sich uralt und gänzlich fehl am Platze.

Als die Band ihr Pausensignal gab, atmete er auf.

Wenige Sekunden später war Gina wieder bei ihm. »Puh«, stöhnte sie, »das ist heiß!« Sie stürzte den Rest ihres Drinks hinunter. »Aber es war einfach toll!«

»Das sagst du jetzt schon zum zehnten Mal!«

»Was?« fragte sie verständnislos.

»Toll! Ist das die einzige Vokabel, über die du verfügst?«

Sie fühlte sich nicht getroffen. »Woher denn! Ich könnte auch sagen phänomenal, überdimensional, eine Wolke, eine Wucht! Wie man’s ausdrückt, ist doch wohl nicht so wichtig.«

»Ich begreife dich nicht.«

Sie zuckte nur die kindlich runden Schultern, blickte hellwach und mit brennender Neugier in das bunt gemischte Publikum. Sie sah weiße, braune und schwarze Gesichter, Damen im Abendkleid saßen neben kunstvoll ungepflegten Schwabinger Typen, Herren im Gesellschaftsanzug plauderten mit langmähnigen, dämonisch geschminkten Mädchen. Gisela, mollig und sehr adrett in langer schwarzer Hose und weißer Bluse, war unermüdlich um das Wohl ihrer Gäste besorgt.

»Daß dir das gefällt, mit einem Halbstarken zu tanzen«, sagte er unzufrieden.

Sie sah ihn an.

»Er ist Kunststudent, schon im fünften Semester. Von halbstark kann gar keine Rede sein.«

»Trotzdem.«

Die Band war auf ihre Plätze zurückgekehrt. »It’s one of those things …« sang das hüftschwenkende blonde Mädchen.

Thomas spürte, wie es in Gina’s Füßen zuckte. Er war sich völlig darüber klar, daß es richtig gewesen wäre, sie jetzt aufzufordern. Aber er stand unter einem Zwang, den er sich selber nicht erklären konnte. Er brachte es einfach nicht über sich.

Er kämpfte noch mit sich, als der junge Mann im blau-grünmelierten Rollkragenpullover schon wieder vor Ginas Platz auftauchte. Diesmal fragte sie nicht um Erlaubnis, sondern sprang sofort wie elektrisiert auf und hüpfte zur schmalen Tanzfläche hinunter.

Thomas zündete sich eine Zigarette an, drückte sie sofort wieder aus, stand auf, um die Kellnerin herbeizuwinken, zahlte.

Als die Band ihr Pausenzeichen gab, stand er, schon im Mantel, dicht neben der Tanzfläche, fing Gina ab. »Komm, es ist genug!«

Der Ausdruck von Ginas Gesicht, in dem jäh alle übermütige Freude erlosch, schmerzte ihn wie eine Ohrfeige.

»Es ist spät«, sagte er mühsam, »Wir müssen nach Haus«

Sie preßt die Lippen zusammen, schwieg, ließ sich von ihm in den Mantel helfen, folgte ihm gehorsam zum Ausgang.

Wortlos gingen sie zum Auto, das Thomas in einer Nebenstraße geparkt hatte. Während der Heimfahrt starrte Gina blicklos geradeaus.

Plötzlich konnte er es nicht länger erfragen. »Hör mal, Gina«, sagte er, »sei nicht unvernünftig. Es ist zwölf Uhr vorbei.«

»Und wenn schon!« brach es aus ihr heraus. »Ist das wirklich so furchtbar? Wie oft gehen wir denn schon zusammen aus!? Gerade wo es so lustig war!«

»Nicht für mich.«

»Das ist deine eigene Schuld! Warum konntest du nicht wenigstens einmal mit mir tanzen?!«

»Du weißt, daß mir so etwas nicht liegt.«

»Nein, das wußte ich nicht! Früher, da hast du mit mir getanzt, mit Begeisterung sogar!«

»Das war etwas anderes!«

»Bloß, weil wir ein paar Monate verheiratet sind? Müssen wir uns deshalb wie ein uraltes Ehepaar betragen?!«

»Gina«, sagte er gequält, »das verstehst du nicht.«

»Stimmt!« rief sie wild. »Weil ich in deinen Augen ein Kindskopf bin, eine Idiotin, eine, ach, was hat es überhaupt für einen Sinn, mit dir zu reden! Du und meine Eltern und die Kränzchendamen, ihr seid alle so wahnsinnig gescheit! Bloß ich, ich bin immer die Blöde!«

Sie begann zu weinen, lautlos. Die Tränen rollten ihr die Wangen hinab, in die Mundwinkel.

»Gina«, sagte er, schuldbewußt und erschrocken. »Gina, um Himmelswillen, weine doch nicht! Du hast doch gar keinen Grund. Was ist denn schon geschehen!? Nur, wir etwas früher nach Hause fahren, als du dir vorgestellt hast?«

Sie konnte jetzt ihr Schluchzen nicht unterdrücken. »Nein! Weil du, weil du so abscheulich zu mir bist! So, als ob du mich gar nicht mehr liebtest!«

Er trat auf die Bremse, brachte den Wagen am Straßenrand zum Stehen. »Aber das bildest du dir doch einfach ein!« Er wollte sie in die Arme nehmen.

Sie riß sich mit einer ungestümen Bewegung los. »Laß mich!«

»Gina!«

»Du gönnst mir überhaupt nichts! Ich gehe dir auf die Nerven. Nie kann ich es dir recht machen!«

»Gina, ich, aber begreifst du denn nicht? Ich bin einfach eifersüchtig. Weil ich dich liebe. Ich liebe dich so sehr, daß ich es nicht ertragen kann, dich mit irgendeinem anderen zusammen zu sehen!«

Ihre Tränen versiegten von einer Sekunde auf die andere. Sie sah ihn aus großen glänzenden Augen an. »Ist das wahr?«

»Aber ja. Soll ich es dir vielleicht schriftlich geben?«

Sie konnte schon wieder lachen, ein kleines schluchzendes Lachen. »Dann«, sagte sie, »dann bist du wirklich der größere Dummkopf von uns beiden! Glaubst du wirklich, ich hätte mir etwas daraus gemacht, mit dieser komischen Type herumzuwedeln? Ich habe es doch nur getan, weil du, weil du dich wie ein Ölgötze benommen hast!«

»Eben! Es war dir lieber, mit diesem Schnösel zu tanzen, als still bei mir zu sitzen!«

»Wie kannst du so etwas denken!«

»Du hast es mir ja sehr deutlich gezeigt«, sagte er grollend.

»Nein, nicht so. So habe ich es nicht gemeint!« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, barg ihr tränennasses Gesicht an seiner Brust. »Oh, Thomas, bitte, bitte, sei mir nicht mehr böse!«

»Ich bin dir nicht böse.«

»Glaub mir, ich schwöre dir! Ich würde lieber mit dir auf einer einsamen Insel sitzen, als ohne dich, als mich ohne dich wie toll zu amüsieren!«

Er sagte nichts, streichelte nur mechanisch ihr zerzaustes Haar.

»Thomas«, sagte sie ängstlich, »Thomas, du glaubst mir doch, daß ich dich liebe!«

Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ja! Ja, natürlich, Liebes!«

Sie versöhnten sich. Noch einmal versöhnten sie sich. Aber ein Rest von Enttäuschung und Bitterkeit blieb in ihrer beider Seelen zurück. Sie waren sich ihrer selber nicht mehr sicher.

[43]

Am nächsten Morgen fand Gina im Hausbriefkasten einen Brief von ihrer Schwiegermutter. Er war an Thomas adressiert.

Gina wollte ihn nicht öffnen, sie legte ihn auf den Schreibtisch ihres Marines und versuchte ihn zu vergessen. Aber die Ausführung dieses Vorsatzes überstieg einfach ihre Kräfte. Sie wußte, daß dieser Brief die Entscheidung darüber enthalten mußte, ob Frau Miller tatsächlich zu ihnen zog oder nicht.

Sie rief Thomas in seiner Kanzlei an. Aber er war nicht da. Die Sekretärin sagte ihr, daß er auf dem Amtsgericht zu tun hatte. Um halb elf versuchte sie noch einmal ihr Glück, und um elf Uhr wieder.

»Wenn Thomas jetzt nicht da ist?«, dachte sie, »mache ich ihn einfach auf! Schließlich habe ich ja ehrlich versucht, ihn zu erreichen!«

Aber diesmal sagte die Sekretärin sofort: »Einen Augenblick, gnädige Frau, ich verbinde!«

Thomas liebte es nicht, während seiner Dienststunden angerufen zu werden, das wußte Gina.

Deshalb sagte sie ohne jede Einleitung. »Du, Thomas, ein Brief von deiner Mutter ist gekommen, ich dachte …«

»Was schreibt sie?« fragte er kurz.

»Ich habe ihn doch noch nicht aufgemacht«, sagte sie in einem Ton, der ihm deutlich machen sollte, wie völlig fern ihr solch eine Handlungsweise läge.

»Sehr schön. Dann sprechen wir heute mittags darüber.«

»Aber, Thomas …«

»Hör mal, ich habe hier einen Klienten, Gina.«

»Ja, ich verstehe, aber es ist doch furchtbar wichtig, wie sie sich entschieden hat!«

»Sicher«, sagte er, »aber eine Stunde wirst du dich doch wohl noch gedulden können!« Damit hängte er auf.

Gina fühlte sich gedemütigt und beschämt. Sie war tief verärgert über die Verständnislosigkeit ihres Mannes.

Als er eine Stunde später nach Hause kam, lief sie ihm nicht wie sonst entgegen, sondern machte sich mit übertriebenem Eifer in der Küche zu schaffen. Als sie das Essen hereinbrachte, stand er am Schreibtisch, den geöffneten Brief in der Hand. Sie wußte daß er eine Frage von ihr erwartete, aber sie dachte: »Nun gerade nicht!«

»Komm, setz dich«, sagte sie, »sonst wird alles kalt. Es gibt gegrillte Steaks und Salat. Möchtest du ein Glas Bier dazu?«

»Ja, bitte«, sagte er, ohne aufzusehen.

Sie öffnete die Flasche in der Küche, brachte sie zusammen mit zwei Gläsern herein, schenkte ein, setzte sich.

»Hat’s was Interessantes im Büro gegeben?« fragte sie, während sie eines der Steaks auf seinen Teller praktizierte.

»Nichts Besonderes.« Er rückte sich einen Stuhl zurecht, nahm Platz.

Gina mischte noch einmal den Salat durch. »Ich habe heute dein Wäschefach mal gründlich aufgeräumt.«

Er unterbrach sie. »Sag mal, zu was erzählst du mir das?«

»Entschuldige, wenn ich dich gelangweilt habe«, erwiderte sie spitz.

Er lachte. »Gina, was soll das Theater?! Meinst du, ich weiß nicht, daß du vor Neugier fast vergehst?«

»Ich ahne nicht einmal, wovon du sprichst«, sagte sie mit gespieltem Hochmut.

»Von Mamas Brief. Willst du gar nicht wissen, was darin steht?«

Sie zuckte die kindlichen Schultern. »Ich nehme an, du wirst es mir so und so mitteilen.«

»Wenn es dich nicht interessiert.«

Sie konnte sich nicht länger beherrschen. »Wie kannst du so etwas Blödes sagen! Natürlich interessiert es mich. Mehr als alles andere. Schließlich hängt unser ganzes Schicksal davon ab.«

»Na, na, na! Das Schicksal unserer Ehe liegt doch wohl nur in unseren Händen.«

Gina verstand ihn falsch. »Also kommt sie nicht?« fragte sie hoffnungsvoll.

»Doch. Sie hat sich sehr über deinen Brief gefreut. Sie schreibt, daß sie gerne kommt.«

Gina senkte den Kopf und starrte angestrengt auf ihren Salat. »Wann?«

»Heute in acht Tagen. Also am nächsten Freitag.«

Sie schwieg.

»Na, freust du dich denn nicht?« fragte er.

»Das verlangst du doch wohl nicht im Ernst von mir«, sagte Sie, ohne ihn anzusehen.

»Gina, sei doch nicht so dickköpfig! Du weißt genau, wieviel mir daran liegt, daß Mama …«

»Ja, das weiß ich«, sagte sie schroff, »das hast du mir schon hundertmal klar gemacht. Es liegt dir mehr an deiner Mama als an mir!«

»Gina!«

»Warum soll ich die Dinge nicht beim Namen nennen? Ich habe es begriffen und bin bereit, mich danach zu richten. Aber daß ich darüber aufjubele, kannst du wirklich nicht von mir verlangen!«

[44]

In den nächsten Tagen sprachen Thomas und Gina nicht mehr über die bevorstehende Ankunft von Frau Miller. Sie versuchten beide nach Kräften, die Mißstimmung, die zwischen ihnen entstanden war, zu überbrücken. Aber die Spannung, genährt von unausgesprochenen gegenseitigen Vorwürfen, blieb.

Gina brachte die ganze Wohnung auf Hochglanz, bezog das Bett in dem kleinen Zimmer, in dem sie immer das zukünftige Kinderzimmer gesehen hatte, arbeitete verbissen. ‘

»Ich werde sie rausekeln«, dachte sie unglücklich. Aber dann schämte sie sich ihrer eigenen Gedanken. Immerhin war Frau Miller die Mutter ihres Mannes, und sie hatte ein Recht, hier bei ihnen zu leben.

Am Freitag mittag, bei der letzten Mahlzeit, die sie miteinander allein waren, überwänd sie sich endlich. »Thomas«, begann sie zaghaft.

Ihr Ton ließ ihn aufhorchen. »Ja?« fragte er.

»Ich wollte dir nur sagen, ich, es tut mir leid, daß ich so ruppig war. Ich werde mir Mühe geben, daß alles gut geht, daß deine Mama sich wohl bei uns fühlt.« Ihre schönen grauen Augen standen voller Tränen.

»Aber das weiß ich doch, Liebling«, sagte er überumpelt, »ich weiß doch, daß du ein gutes Kind bist!«

»Ein Kind!« sagte sie mit ungewollter Bitterkeit.

»Aber so habe ich es doch nicht gemeint! Ein guter Mensch, wenn es dir lieber ist!«

»Ich will nichts als deine Frau sein, die Frau, die du liebst!«

»Das bist du«, sagte er heftig.

»Wirklich, Thomas? Manchmal habe ich das Gefühl«, sie stockte, wagte nicht weiter zu sprechen.

»Sag es nur! Ich bin dir bestimmt nicht böse.«

»Als ob ich dir gar nichts recht machen würde. Als ob du die alten Zeiten herbeisehntest, wo du bloß mit deiner Mama zusammen lebtest und auf niemanden Rücksicht zu nehmen brauchtest!«

»Aber, Gina, was für ein Unsinn!« sagte er rasch, und er fühlte sich elend, weil er sich zugeben mußte, daß ein Fünkchen Wahrheit an ihrer Behauptung war. »Ich könnte mir ein Leben ohne dich gar nicht mehr vorstellen! Ich, ich brauche dich doch!«

»Ist das auch wahr?«

»Natürlich, mein Liebling!« Er streckte die Hand aus und zog sie auf seinen Schoß. »Ich gebe zu, es ist nicht immer ganz einfach mit uns beiden. Aber so geht es wohl in jeder jungen Ehe. Solange wir beide den guten Willen haben, werden wir uns bestimmt zurecht raufen.«

»Solange wir uns lieben«, sagte sie ernsthaft.

»Ja!« Er schloß sie ganz fest in die Arme, wiegte sie wie ein Kind hin und her. »Wenn du dir nur nicht soviel unnütze Gedanken machen würdest! Mama ist eine so kluge und wunderbare alte Dame. Sie wird uns gewiß nicht stören, ganz im Gegenteil. Ich bin sicher, du wirst sie liebgewinnen!«

»Ich werde es versuchen. Weil sie deine Mutter ist.«

»Und wenn es wirklich nicht gehen sollte«, versprach er, tröstend, »können wir uns immer noch eine neue Lösung überlegen. Schließlich sind wir beide ja miteinander und nicht mit Mama verheiratet!«

»Ach, Thomas, wenn du das von Anfang an gesagt hättest, wieviel Kummer hättest du mir erspart!«

»Aber das hättest du dir doch selber denken können, du Dummchen! Glaubst du, ich würde dich je im Leben oder für irgendeinen anderen Menschen aufgeben?!«

»Auch nicht für deine Mama?«

»Ich habe mich für dich entschieden, als ich dich geheiratet habe«, erklärte er sehr ernst. »Gegen Mamäs Willen. Ich glaube, das war deutlich genug. Wenn du noch mehr Beweise meiner Liebe verlangst.«

»Nein, nein, natürlich nicht!« Ihre Lippen suchten seinen Mund, sie küßfen sich voll zärtlicher Leidenschaft.

Dann löste sie sich aus seinen Armen, sprang auf. »Ach, Thomas, ich bin so froh, daß alles wieder zwischen uns in Ordnung ist. Du ähnst ja nicht, wie unglücklich ich war! Wann kommt Mama? Um wieviel Uhr genau, meine ich? Soll ich mit zur Bahn fahren, um sie abzuholen?«

»Nein, ich glaube, es ist besser, du bleibst zu Hause und bereitest hier den Empfang vor. Sorg für Blumen, Mama liebt Blumen. Am besten kaufst du ein paar hübsche Töpfe …Pelargonien oder so etwas, ich verstehe nicht viel davon.«

»Wird gemacht. Aber du mußt mir Geld geben.«

Dieses eine Mal unterdrückte er eine Bemerkung über ihre schlechte Wirtschaftsführung, gab ihr wortlos einen größeren Geldschein.

»Und einen Kuchen werde ich auch backen!« erklärte Gina unternehmungslustig. »Deine Mama soll gleich merken, daß ich keine ganz lausige Hausfrau bin!«

Als Thomas Gina an diesem Mittag verließ, dachte er zum ersten Mal, ob seine Schwester Angela nicht recht hatte, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, seine Mutter kommen zu lassen. Konnten sich die beiden Frauen verstehen? Die vom Leben sehr verwöhnte und, wie er sich zugab, ein wenig egoistische alte Dame und die kindliche, rührend gutwillige kleine Gina? Mutete er seiner jungen Frau mit dieser Entscheidung nicht tatsächlich zuviel zu? Er verwarf seine Bedenken sofort. Es war zu spät, jetzt noch irgend etwas rückgängig zu machen und außerdem, was hätte mit seiner Mutter geschehen sollen, wenn er nicht bereit war, sie bei sich aufzunehmen.

Er wäre ein schlechter Sohn gewesen, wenn er sich ihr nicht verpflichtet gefühlt hätte.

[45]

Gina räumte das Mittagsgeschirr hinaus, brachte das Wohnzimmer wieder in Ordnung, sah auf die Küchenuhr. Sie holte ihr Kochbuch, begann voller Eifer alle Zutaten für den geplanten Kuchen zurechtzustellen, holte Butter und Eier aus dem Kühlschrank, Mehl, Rosinen, Backpulver, Zucker und Mandeln aus dem Schrank.

Es war ein einfacher Rührkuchen, den sie backen wollte, sie hatte das Rezept schon einmal ausprobiert und es war sehr gut gelungen.

Sie begann die Butter zu rühren, aber sie war hart wie Stein. So ging es nicht. Sie tat die Butter in einen Kochtopf, stellte ihn auf den Herd. Die Zeit, während die Butter warm wurde, nutzte sie aus, um das Geschirr zum Spülen zurechtzustellen. Als sie wieder danach guckte, war sie schon zur Hälfte aufgelöst.

Diesmal ging ihr das Rühren flink von der Hand. Als sie das dritte Ei hinzufügte, begann der Teig zwar zu gerinnen, aber das schadete wohl nichts. Sie rührte das Mehl zu, und er wurde wieder glatt und wirklich sehr ansehnlich. Sie füllte alles in eine längliche Form, schob sie in den Backofen, stelle ihn ein. Dann machte sie den Tisch sauber, spülte das Geschirr weg.

Sie warf einen Blick in den Ofen.

Der Kuchen begann schon schön braun zu werden. Aber er war seltsam flach geblieben. Hatte sie das Backpulver vergessen? Nein, ausgeschlossen! Sie öffnete den Mülleimer, wühlte darin, fand das leere Tütchen und war einigermaßen beruhigt. Sie hatte nichts falsch gemacht, er mußte hochkommen, er mußte!

Sie ging ins Wohnzimmer, zündete sich eine Zigarette an, zwang sich, in einer Illustrierten zu blättern.

Nach zehn Minuten hielt sie es nicht länger aus, rannte wieder in die Küche. Ein angenehmer Duft schlug ihr entgegen. Sie riß die Türe des Backofens auf. Der Kuchen war knusprig braun, aber — immer noch flach.

Enttäuschung und Verzweiflung trieben ihr die Tränen in die Augen.

Es hatte keinen Sinn, den Kuchen länger im Ofen zu lassen. Er würde höchstens noch verbrennen. Sie zog die Form heraus, kippte den Kuchen auf die vorbereitete Platte. Er war flach wie eine Flunder. Sie überlegte, ob sie Puderzucker darüber streuen und ihn einfach so auf den Tisch stellen sollte. Wenn sie mit Thomas allein gewesen wäre, hätte sie es sicher gewagt — aber so! Nein, diesen mißlungenen Kuchen zum Empfang der anspruchsvollen Mama zu präsentieren war völlig ausgeschlossen.

Gina nahm ein Messer, schnitt ihn an, kostete. Er schmeckte ihr großartig, aber was hatte es für einen Sinn, sich selber zu belügen. Er war dätschig.

Sie überlegte noch eine Sekunde, obwohl sie schon wußte, daß ihr keine Wahl blieb. Dann packte sie die Platte, ließ das Ergebnis ihrer Bemühungen mit einem tiefen Seufzer des Bedauerns in den Müllschlucker gleiten.

So. Wenigstens war er fort. Schlimm, daß ihr das passiert war. Woran es wohl gelegen hatte? Aber es blieb keine Zeit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Immerhin ein Glück, daß sie ihn noch rechtzeitig hatte verschwinden lassen können. Auf diese Weise war ihr wenigstens eine Blamage erspart geblieben.

Rasch entfernte Gina die Spuren ihrer Tätigkeit, rannte in die Garderobe und schlüpfte in ihren Mantel. Sie hatte sich schon getröstet. Schließlich besaß ein Kuchen ja heutzutage keinen Seltenheitswert. Sie würde einfach einen kaufen gehen. Die Blumen mußte sie ja auch noch besorgen.

[46]

Als Thomas die Mama nach Hause brachte, war der Tisch weiß und festlich gedeckt, es duftete wie in einem Treibhaus. Gina selber, in einem einfachen blauen Wollkleid mit großem weißen Kragen, sah adrett und reizend aus.

Thomas atmete auf. Ohne es sich selber zuzugeben, hatte er eine Katastrophe befürchtet. Er begrüßte Gina mit einem besonders innigen Kuß, weil er das Gefühl hatte, ihr etwas abbitten zu müssen.

Dann half er seiner Mutter aus dem schwarzen Persianermantel. Sie sah sehr zerbrechlich und zart aus mit ihrem blassen, von feinen Falten durchzogenen Gesicht, dem schönfrisierten, leicht geblauten Haar.

Gina, die die besten Vorsätze gefaßt hatte, stand ihr in tödlicher Verlegenheit gegenüber, wußte nicht, wie sie sie begrüßen sollte.

Frau Miller machte es ihr leicht. Sie reichte ihr lächelnd die Hand. »Meine liebe Gina, es hat lange gebraucht, bis wir beide uns begegnet sind, aber ich freue mich, ich freue mich ehrlich, dich kennenzulernen. Du hast mir einen so lieben Brief geschrieben.«

Gina errötete bis in die Haarwurzeln, warf Thomas einen flehenden Blick zu. »Ja, ich …«

»Du kannst ruhig Mama zu mir sagen, wie Thomas«, half Frau Miller, »wenn du magst, natürlich nur!«

»Ja, Mama!« Impulsiv drückte Gina einen sanften Kuß auf die weiche duftende Wange der alten Dame.

Thomas strahlte. Es ging alles viel besser, als er gehofft hatte.

»Hast du uns einen Kaffee gekocht, Gina? Das kann sie nämlich wunderbar, Mama!«

»Nein«, sagte Gina erschrocken, »ich, ich dachte Tee.«

Frau Miller nickte ihr zu. »Völlig richtig, mein Kind. Die Kaffeezeit ist schon vorüber. Wenn ich nach vier Uhr Kaffee trinke, kann ich die ganze Nacht nicht schlafen.«

Gina lief erleichtert in die Küche, brühte den Tee auf, brachte die Kanne herein. Als sie zurückkam, waren Mutter und Sohn in ein ebenso ausführliches wie langweiliges Gespräch über den Gesundheitszustand von Frau Miller vertieft. Gina war ganz froh darüber, daß sie nicht mitzureden brauchte. Sie ärgerte sich über ihre eigene Unsicherheit, aber sie hatte einfach Angst, etwas Dummes oder Falsches zu sagen.

Sie schenkte Tee ein, wartete auf die Gelegenheit, den Englischen Kuchen anzubieten, den sie in einer Konditorei noch im letzten Moment erstanden hatte.

Endlich wurde Thomas auf sie aufmerksam. »Nimm dir doch von dem Kuchen, Mama«, sagte er unbefangen, »ich bin gespannt, wie er dir schmeckt. Gina hat ihn dir zu Ehren eigenhändig gebacken!«

Gina wurde rot, aber sie wagte nicht, Thomas zu widersprechen. Er war so stolz auf sie, sie mochte ihn nicht enttäuschen.

Frau Miller nahm eine Scheibe, brach ein winziges Stückchen ab, kostete, sagte: »Wirklich?« Sie sah dabei Gina aus ihren klugen alten Augen durchdringend an.

Gina wußte, daß jetzt der Moment gekommen war, die Dinge richtigzustellen. Aber die Zunge war ihr wie gelähmt.

Später zog sich Frau Miller zurück, um ihre Koffer auszupacken. Gina erbot sich ihr zu helfen, aber sie lehnte ab, und Gina war nicht traurig darüber. Der Gedanke, mit der alten Dame allein zu sein, war ihr schrecklich. Sie hatte keine Ahnung, über was sie mit ihr reden sollte.

So ließ sie sich Zeit damit, den Teetisch abzuräumen, spülte anschließend, richtete alles zum Abendessen. Es sollte Brot, Butter, Aufschnitt, Käse geben, zwei kleine Salate, die sie im Delikateßgeschäft gekauft hatte. Aber was dazu? Tee hatten sie ja gerade getrunken.

Gina lief ins Wohnzimmer. Thomas hatte es sich bequem gemacht, die langen Beine weit von sich gestreckt, las Zeitung. Er sah nicht auf, als sie herein kam.

»Du, Thomas«, sagte sie, »glaubst du, daß Mama Bier mag?«

»Bier? Wie kommst du darauf?«

»Na, zum Abendbrot!«

»Ach so! Mach dir darüber keine Sorgen. Ich werde eine Flasche Wein aufmachen.«

Sie hatte auf ein anerkennendes Wort gewartet, aber hatte sich schon wieder in seine Zeitung vertieft. Sie trat von hinten an ihn heran, legte ihre Wange an seine.

»Ganz ehrlich, hat bis jetzt nicht alles wunderbar geklappt?«

»Hm, hm«, murmelte er undeutig.

»Tu doch mal für eine Sekunde deine dumme Zeitung weg!«

Er zögerte, dann legte er das Blatt zusammen, sah zu ihr auf. »Und jetzt?«

Mit einem Satz war sie auf seinem Schoß, schlang die Arme um seinen Hals, strahlte zu ihm auf. »Gib mir einen Kuß!«

Er küßte sie, aber nur flüchtig, wie gedankenabwesend.

»Nein, richtig!«

»Hör mal, Gina«, er mußte sich räuspern, »das geht jetzt nicht. Mama …«

»Was hat Mama damit zu tun, wenn wir uns küssen? Glaubst du, sie hat etwas dagegen?«

»Natürlich nicht, nur, begreifst du denn nicht, daß das taktlos wäre?« Er packte sie bei den Oberarmen, stellte sie wieder auf die Füße.

»Taktlos?« fragte sie mit großen Augen.

»Nenn es, wie du willst«, sagte er ärgerlich, »ich habe jetzt weder Zeit noch Lust, mit dir darüber zu streiten!«

Eine ganze Weile blieb sie reglos vor ihm stehen, hoffte ein Lächeln von ihm, ein versöhnendes Wort.

Auch ohne sie anzusehen, war er sich ihrer fordernden Gegenwart durchaus bewußt. Fast zwei Minuten hielt er es aus, dann ließ er die Zeitung sinken.

Ihre Blicke trafen sich.

Aber gerade in diesem Augenblick trat Frau Miller ins Zimmer »Ich will nur mein Waschzeug ins Bad bringen«, sagte sie und wollte den Raum durchqueren.

»O je!« rief Gina. »Ich habe vergessen, dir Handtücher herauszuhängen!« Sie sauste davon.

An diesem Abend ergab sich keine Gelegenheit mehr, mit Thomas allein zu sein. Beim Essen schleppte sich das Gespräch zähflüssig und quälend dahin. Alle drei waren seltsam gehemmt.

Dann, beim zweiten Glas Wein, wurden Thomas und Frau Miller gelockerter. Sie sprachen von Angela und ihrem Mann, den Kindern, von germeinsamen Münchner Bekannten, zu denen Gina keine Beziehung hatte. Erinnerungen tauchten auf, an denen die junge Frau nicht teilhaben konnte. Sie fühlte sich ausgeschlossen, an die Wand gedrückt, und das Schlimmste war, daß Thomas ihre unglückliche Situation nicht einmal zu spüren schien.

Als sie den Tisch abgeräumt hatte, verabschiedete sie sich.

»Schon?« fragte Thomas, aber er machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten.

»Ich werde mich auch bald niederlegen«, erklärte Frau Miller.

Gina wandte sich rasch ab, damit niemand ihre Tränen sah.

»Nun«, fragte Thomas, als er mit seiner Mutter allein war, »wie findest du Gina?« Als Frau Miller nicht sogleich antwortete, fügte er wie entschuldigend hinzu: »Sie natürlich noch sehr jung, jung und unerfahren. Man muß Geduld mit ihr haben. Aber sie ist doch wirklich ein liebenswerter Mensch, so klar und aufrichtig wie, wie Bergkristall.« Er errötete ein wenig, weil ihm dieser poetissche Vergleich plötzlich albern vorkam.

»Aufrichtig?« sagte Frau Miller.

»Durchaus. Man weiß immer, woran man mit ihr ist. Du wirst es noch selber erleben. Wenn sie mal einen ungeschickten Versuch macht zu schwindéln, sieht man es ihr gleich an der Nasenspitze an.«

»Das allerdings.«

»Was willst du damit sagen?« fragte er mißtrauisch.

»Nun, routiniert war ihre Lüge wirklich nicht.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.«

»Nicht? Dann entschuldige bitte. Ich dachte natürlich, du hättest ihre Unehrlichkeit auch durchschaut.«

Er biß sich auf die Lippen. »Möchtest du dich nicht, bitte, klarer ausdrücken?«

»Nun, ich mag eine törichte alte Frau sein«, sagte Frau Miller und zerbröselte einen Keks zwischen ihren hageren, blaugeäderten Fingern, »aber einen gekauften Kuchen von einem selbstgebackenen zu unterscheiden, bin ich noch allemal imstande.«

»Ach so«, sagte er, fast erleichtert, »darum geht es.« Er zündete sich eine Zigarette an.

»Das scheint dir unerheblich?«

»Ja. Ziemlich.«

»Dann tut es mir leid, daß ich darüber überhaupt gesprochen habe.« ‘

»Jedenfalls wäre es weiser und gütiger gewesen zu schweigen«, sagte er ärgerlich.

»Ich bin noch niemals zu Kompromissen bereit gewesen und werde es auf meine. alten Tage auch nicht sein.«

Thomas seufzte. »Mama, begreifst du denn nicht, daß wir sehr nachsichtig zueinander sein müssen, wenn wir das Leben überhaupt ertragen wollen?«

Sie sah ihn aufmerksam an. »So weit ist es also schon mit euch gekommen?«

Er drückte mit einer unbeherrschten Bewegung seine Zigarette aus. »Du verdrehst mir das Wort im Munde.«

»Nein. Ich sage nur die Wahrheit, wenn sie dir vielleicht auch unbequem ist. Du bist nicht glücklich mit deiner Gina geworden. Genau, wie ich es dir prophezeit habe.«

»Du irrst dich«, sagte er, »wir lieben uns. Wir lieben uns wie am ersten Tag.«

»Aber ihr paßt nicht zueinander. Ihr wißt ja nicht einmal, was ihr miteinander reden sollt.«

»O doch. Wenn wir alleine sind«, er stockte, weil ihm klar wurde, daß er im Begriff stand, seine Mutter zu verletzen.

Aber es war schon zu spät. »Also bin ich der Störenfried? Darauf willst du wohl hinaus?«

»Mama«, sagte er, »es ist dein erster Abend wieder hier zu Hause. Müssen wir ihn uns unbedingt durch dumme Streitereien verderben?«

»Es gibt Dinge, die einfach ausgesprochen und klargestellt werden müssen«, erklärte die alte Dame starrsinnig. »Du kannst nicht von mir verlangen, daß ich meine Überzeugung verleugne, heuchle, nur um meinen Frieden zu haben. Dazu bin ich noch nicht alt genug.«

»Wirf doch nicht immerzu dein Alter in die Debatte«, rief er, bis aufs Äußerste gereizt, »merkst du denn nicht, wie unfair das ist?« Er war aufgesprungen, stand jetzt, fast drohend, dicht vor ihr.

Frau Miller begriff, daß sie zu weit gegangen war. »Entschuldige«, sagte sie rasch, »ich konnte wirklich nicht ahnen, daß du so überempfindlich geworden bist!«

Die Angst in ihren Augen beschämte ihn. »Verzeih, Mama«, sagte er und drückte einen raschen Kuß auf ihre Stirn, »wir sind beide übermüdet und gereizt. Morgen werden wir uns wieder besser verstehen. Ich bin ja so froh, daß du gekommen bist.«

»Ich auch, Thomas. Ich glaube, es war die höchste Zeit.« Sie unterbrach sich.

»Sei nett zu Gina«, sagte er, »versuche, mit ihr auszukommen. Sei nachsichtig, so nachsichtig, wie du es Angela und mir gegenüber immer gewesen bist.«

[47]

Das Wochenende wurde zu einer quälenden Angelegenheit.

Am Samstagnachmittag schlug Gina, die der häuslichen Atmosphäre entrinnen wollte, vor, ins Kino zu gehen. Frau Miller hielt das für eine gute Idee. Also kam sie mit. Am Sonntag wäre Thomas gern mit dem Wagen hinausgefahren, aber Frau Miller hatte im Radio gehört, daß Glatteisgefahr bestand und hielt es deshalb für zu gefährlich. Also blieb man zu Hause. Gina, die sich sonst immer die ganze Woche auf das Zusammensein mit Thomas gefreut hatte, war zum ersten Mal froh, als endlich Sonntag abend war.

Am Montag nachmittag rief Thomas an und sagte Gina, die den Hörer abgenommen hatte, daß er am Abend erst spät nach Hause kommen würde, da er noch zu arbeiten hätte.

»Du läßt mich allein!?« rief Gina entsetzt.

»Aber wieso denn allein?« antwortete Thomas. »Mama ist ja bei dir.«

Er hängte ein, um Gina keine Gelegenheit zu Fragen oder Klagen zu geben.

Er hatte ein schlechtes Gewissen dabei, denn er wußte, daß die Arbeit nur ein Vorwand war, das Nachhausekommen solang wie möglich aufzuschieben. Er redete sich ein, daß es besser wäre, die beiden Frauen erst einmal in Ruhe Tuchfühlung miteinander nehmen zu lassen. Aber im innersten Herzen wußte er, daß er eine Situation heraufbeschworen hatte, der er einfach nicht gewachsen war.

Am späten Nachmittag, als die Angestellten schon nach Hause gegangen waren, kam Dr. Jahn in sein Büro.

»Was, du arbeitest noch?« sagte er erstaunt. »Ich habe geglaubt, jemand hätte das Licht brennen lassen.«

»Der Fall Faber«, sagte Thomas, »eine ziemlich komplizierte Sache.«

»Betrugsaffairen sind selten einfach. Aber daß du deswegen Überstunden machst, halte ich denn doch für übertrieben. Wie wär’s, wenn du die Akten mit nach Hause nähmst?«

»Da würde ich doch keine Ruhe haben. Meine Mutter ist am Freitag von Düsseldorf gekommen.«

»Ach so«, sagte Dr. Jahn nur, aber Thomas spürte voll Beschämung, daß er alles begriff.

Dr. Jahn zog sich einen Stuhl herbei, ließ sich Thomas gegenüber nieder, bot ihm eine Zigarette an. Thomas bediente sich schweigend, gab dem Älteren Feuer.

Dr. Jahn nahm einen tiefen Zug. »Ja, ja, die Frauen«, sagte er nachdenklich.

»Ich habe mich nicht beklagt«, verteidigte sich Thomas hitzig.

»Stände dir auch schlecht zu Gesicht, mein Junge. Du warst es doch, der die Mama aufgefordert heit, zu euch zu ziehen, nicht wahr?«

»Es ist alles eine Sache der Gewöhnung.«

»Hoffentlich hast du recht«, sagte Dr. Jahn diplomatisch. »Aber um das Thema zu wechseln, ich bin ganz froh daß ich mal in Ruhe mit dir reden kann. Du weißt, ich wollte nächstes Wochenende zum Juristenkongreß nach Düsseldorf fahren, das heißt eigentlich ist es ja fast eine kleine Woche, Freitag, Samstag, Sonntag, Montag.«

»Ja, und?«

»Ich hab’s mir anders überlegt. Erika ist nicht ganz auf dem Damm und sie würde es mir bitter übel nehmen, wenn ich sie in diesem Zustand allein ließe.«

»Was hat sie denn?«

»Irgendein Frauenleiden. Sie spricht nicht gerne darüber. Aber ich sehe ja, wie es um sie bestellt ist.«

»Und du meinst nicht, daß es sich die nächsten Tage bessern könnte?«

Dr. Jahn betrachtete angelegentlich die Glut seiner Zigarette. »Kaum. Ich rechne eher mit einer Operation.«

»Schauderhaft.«

»Ja, sehr traurig. Aber ich habe es nicht erzählt, um dich damit zu belasten. Ich wollte dich nur fragen, willst du nicht an meiner Stelle nach Düsseldorf? Ich würde deine Termine hier selbstverständlich wahrnehmen, und für dich wäre es bestimmt eine interessante Sache.«

»Ja, natürlich«, sagte Thomas, schon halb verlockt, »aber…«

»Kein aber, mein Junge! Pack deine Gina zusammen und fahr los!«

Thomas drückte nervös seine Zigarette aus. »Aber das geht doch nicht«, sagte er unsicher.

»Und wieso nicht, wenn ich fragen darf?«

»Mama würde mir das nie verzeihen!«

»Wieso Mama? Was hat denn deine alte Dame damit zu tun?«

»Na ja, sie ist doch kaum angekommen. Sie wäre beleidig wenn ich sie jetzt schon allein ließe.«

»Aber hinter deiner Arbeit verschanzen, das darfst du dich?«

»Das ist etwas anderes«, behauptete Thomas sich, »da weiß sie doch wenigstens, daß ich allein bin.«

Dr. Jahn hob die Augenbrauen. »Ohne deine Frau?«

»Ja«

»Also weißt du, Thomas!«

»Danke«, unterbrach Thomas ihn heftig, »ich brauche keine Belehrungen. Alles was du mir beibringen willst, habe ich mir schon tausendmal selber gesagt. Du kannst dich einfach nicht in meine Situation versetzen.«

»Vielleicht doch.«

»Nein!«

»Also hör mal, Thomas, deine Gefühle und deine Rücksichtnahme auf deine Mama in allen Ehren, aber für Gina wäre Düsseldorf wirklich eine herrliche Abwechslung. Und meinst du nicht, daß sie die verdient hätte?«

»Schon«, sagte Thomas zögernd.

»Na, siehst du? In Düsseldorf wird ja nicht nur gearbeitet, es gibt gesellschaftliehe Begegnungen, einen Ball. Erika hat das immer sehr genossen.«

»Ich glaube nicht, daß man deine und meine Frau miteinander vergleichen kann.«

»Oh, doch. Die meisten Frauen sind sich im Grunde genommen sehr ähnlich. Zugegeben, Erika war älter, als wir geheiratet haben. Aber ganz leicht ist es trotzdem nicht immer gewesen. Soll ich dir mein Eherezept verraten?«

»Ich bin gespannt«, sagte Thomas, aber seine Gedanken waren ganz woanders. Dr. Jahns Anspielung auf die gesellschaftlichen Ereignisse, den Juristenball, hatten eine Kette von Vorstellungen in ihm erweckt, die alles andere als angenehm waren. Er sah Gina, seine schöne junge Gina, von Arm zu Arm fliegen, sah sie begehrt, beneidet, belächelt und fühlte, daß er das zu ertragen einfach nicht imstande war.

»Man braucht die Frauen nicht zu verwöhnen, man braucht ihnen keine kostspieligen Geschenke zu machen«, sagte Dr. Jahn und drückte seine Zigarette aus. »Aber man muß ihnen immer etwas in Aussicht stellen, auf das Sie sich freuen können. Das erhält sie bei guter Laune.«

Thomas hatte nur mit halbem Ohr zugehört. »Ich glaube, ich werde zum Kongreß fahren, wenn du gestattest«, sagte er, »aber allein.«

»Und Gina bei deiner Mutter lassen?«

»Warum nicht?«

»Hör mal, das kann nicht gutgehen. Gina ist lebenslustig. Es ist ihr gutes Recht, das zu sein. Du kannst sie nicht einsperren und von einer alten Dame bewachen lassen. So etwas läßt sich keine Frau mehr gefallen. Die Zeiten sind vorbei.«

»Du hast sicher recht mit allem, was du sagst. Aber du mußt mir schon erlauben …«

»Selbstverständlich«, sagte Dr. Jahn leicht verletzt und erhob sich, »ich hatte durchaus nicht die Absicht, mich in deine Angelegenheiten zu mischen. Also, es bleibt dabei?«

»Ja«, sagte Thomas, »ich fahre.«

[48]

Gina nahm den Entschluß ihres Mannes in Anwesenheit von Frau Miller mit scheinbarer Gelassenheit zur Kenntnis. Thomas, der eine Szene befürchtet hatte, war sehr erleichtert. Er nahm sich vor, Gina ein schönes Geschenk aus Düsseldorf mitzubringen.

Aber später, im Schlafzimmer, als sie allein waren, brach der Sturm los.

»Du kannst mich nicht allein lassen, Thomas. Nein, wirklich, das kannst du nicht!« rief Gina verzweifelt.

»Nicht so laut«, sagte er, »ich bitte dich, nimm dich zusammen. Man hört dich ja durch die ganze Wohnung!«

»Und wenn schon! Warum soll deine Mama nicht wissen, wie mir zumute ist? Glaubst du, sie hätte sich das als junge Frau gefallen lassen? Sie erzählt doch immer, was für eine tolle Häuslichkeit sie gehabt, was für Feste sie damals gefeiert haben.«

»Das war eine andere Zeit!«

»Sicher! Ich verlange ja auch nicht, daß du mir eine Villa kaufst, eine Zofe engagierst, Hausbälle veranstaltest. Ich möchte einfach mit dir nach Düsseldorf fahren! Ist denn das wirklich zuviel verlangt?«

»Nun sei doch mal vernünftig, Gina! Was hättest du denn davon? Es handelt sich um einen reinen Arbeitskongreß. Ich werde von früh bis spät zu tun haben. Und du, was willst du denn überhaupt ohne mich unternehmen?«

»Wenn das deine ganze Sorge ist! Ich werde dir bestimmt nicht zur Last fallen! Ich werde deine Schwester Angela besuchen, ins Kino gehen, Schaufensterbummel machen …«

»An Angela liegt dir gar nicht soviel, wie du jetzt tust. Und alles andere kannst du auch hier in München!«

»Mit deiner Mama?!«

»Sie wird dich niemals hindern zu gehen, wenn du etwas vorhast.«

»Wird sie das nicht? Bist du ganz sicher?« fragte Gina bitter. »Seit sie hier ist, habe ich nicht ein einziges Mal die Wohnung verlassen, ohne ihr vorher genau erklärt zu haben, warum ich es wollte. Und meistens ist es dann so ausgelaufen, daß sie es mir ausgeredet hat. Oder sie hat Gesicht gezogen, daß ich mich schon gar nicht mehr traute.« Gina versuchte, die zarte, ein wenig brüchige Stimme der alten Dame zu kopieren. »Geh nur, Kind, damit werde ich eben alleine die Schränke aufräumen.« Heftig fügte sie hinzu: »Oder bügeln, oder Silber putzen Oder die Küche aufwischen! Irgend etwas fällt ihr immer ein, womit sie mich zurückhalteh kann. Ich käme mir ja wie ein Unmensch vor, wenn ich sie allein schuften ließe. Dabei ist ihre ganze hausfrauliche Tüchtigkeit einfach übertrieben und glatter Wahnsinn!«

»Jetzt sagst du Dinge, die du gar nicht meinst. Wenn du ehrlich bist, mußt du zugeben, daß du schon eine ganze Menge von Mama gelernt hast!«

»O ja, aufwischen, Zwiebel schneiden, bohnern! An die feinen Arbeiten läßt sie mich ja nicht heran! Weißt du, wie sie mich behandelt? Wie ein junges Dienstmädchen vom Lande. Ja, genauso! Und mehr bin ich hier ja auch nicht mehr. Ein Dienstmädchen, gerade gut genug, den Dreck aufzuputzen!« Aufschluchzend warf sich Gina quer über das Bett.

Vergeblich wartete sie darauf, daß er sie in die Arme nehmen, trösten würde. »Aber, Gina«, sagte er nur, unwillig und schuldbewußt zugleich, »hör auf damit. Du weißt selber, daß du übertreibst!«

»Nimm mich mit!« schluchzte sie. »Bitte, bitte, nimm mich mit!«

»Nein.«

Sie warf sich herum, zeigte ihm ihr tränenüberströmtes Gesicht. »Dann bleibe ich auch nicht hier«, stieß sie schluchzend hervor, »wenn du wegfährst, bleibe ich nicht eine Stunde!«

»Jetzt hör mal, Gina …«

»Nimmst du mich mit?«

»Ich habe dir schon gesagt …«

»Dann fahre ich nach Hause!«

Damit hatte er nicht gerechnet. Einen Atemzug lang war er aus der Fassung gebracht. Dann sagte er: »Warum eigentlich nicht? Es wäre sicher nett für dich, deine Eltern mal wiederzusehen.«

Sie begriff, daß sie ihren Trumpf ausgespielt hatte, ohne eine Wirkung damit erzielt zu haben. Ihre Tränen versiegten. »So gleichgültig bin ich dir also schon geworden?« fragte sie, und in ihrer Stimme schwang echte Tragik.

Er wollte es nicht wahrnehmen. »Gina, mach doch nicht so ein Theater.« sagte er ärgerlich. »Was ist denn schon dabei? Wir sind verheiratet, schön, das bedeutet aber doch nicht, daß wir wie die Galeerensträflinge aneinandergekettet leben müssen. Ich fahre also nach Düsseldorf und du nach Garmisch. Das scheint mir eine ausgezeichnete Lösung. Die kurze Trennung wird uns sicher beiden guttun.«

Sie erhob sich, ging wortlos an ihm vorbei.

Er folgte ihr. »Gina, was ist los? Hast du mir denn nichts mehr zu sagen?«

Ohne ihn anzusehen, den Blick auf ihr verweintes Gesicht im Spiegel gerichtet, sagte sie: »Was erwartest du? Vielleicht hast du ja recht. Es wird sicher angenehm sein, sich wenigstens ein paar Tage lang mal nicht als Sklavin zu fühlen.«

»Sklavin? Bist du verrückt?«

»Du warst es, der diesen Vergleich zuerst gebraucht hat, Thomas.«

»Aber so war es doch nicht gemeint! Du weißt ganz genau …«

»Ich weiß überhaupt nichts mehr. Nicht einmal, warum du mich überhaupt geheiratet hast.«

»Wirklich nicht? Muß ich dich daran erinnern?«

Sie sah ihn nachdenklich an. »Vielleicht hast du mich damals noch geliebt, oder jedenfalls hast du es dir eingebildet.«

»Ich liebe dich, Gina. Heute wie damals.«

Er trat auf sie zu, aber sie wich vor ihm zurück. »Dann nimm mich mit, Thomas!«

Er hätte sie liebend gerne in die Arme genommen, sich mit ihr versöhnt, ihr seine Liebe bewiesen. Er wußte plötzlich selber nicht mehr, warum er sie nicht nach Düsseldorf mitnehmen wollte. Alle seine Gründe waren in ihrer lebendigen Gegenwart wesenlos geworden.

Aber irgend etwas in ihm verbot ihm, jetzt nachzugeben. Er gab es sich nicht zu, aber er hatte Angst, instinktive Angst, seine Schwäche zu zeigen. Es schien ihm von entscheidender Wichtigkeit, jetzt stark zu bleiben, sich nicht umstimmen zu lassen. Wie hätte er denn dagestanden, vor seiner Mutter, vor Dr. Jahn und vor Gina selber, wenn er wieder schwach geworden wäre.

»Nein«, sagte er, »nein, das ist unmöglich! Gina, versteh doch!«

Er zog sie an seine Brust, wollte sie küssen.

Sie ließ es geschehen, aber sie blieb kalt und starr, voll eisiger verachtungsvoller Abwehr.

Gina hatte sich aus purem Trotz entschlossen, während der Abwesenheit ihres Mannes nach Garmisch zu fahren. Aber in dem Maße, wie der Zug sich ihrer Heimatstadt näherte, wuchs ihre Vorfreude.

Es würde schön sein, die Eltern, die Freundinnen, den Bruder wiederzusehen, sich anstaunen und beneiden zu lassen. Sie war ein junges Mädchen gewesen, fast noch ein Kind, als sie Garmisch verlassen hatte. Jetzt war sie erwachsen, eine verheiratete Frau.

Thomas rechnete vielleicht damit, daß sie sich bei ihrer Mutter ausweinen würde. Aber daran dachte sie nicht einmal im Traum. Niemand in Garmisch konnte wissen, daß in ihrer Ehe nicht mehr alles in Ordnung war, und von ihr würde es auch niemand erfahren.

Gina sah mit blanken Augen in die vorbeisausende oberbayerische Landschaft hinaus, ihren geliebten Bergen entgegen. Es war ein blauer, strahlendschöner Vorfrühlingstag. Der Föhn hatte den Schnee von den Wiesen schon fast heruntergerissen, Büsche und Bäume zeigten die ersten grünen Spitzen. Ginas Herz klopfte schneller im Rhythmus der donnernden Räder.

Als der Zug in den Bahnhof Garmisch einfuhr, stand sie schon lange mit ihrem kleinen Koffer auf dem Perron. Sie hatte es drinnen im Abteil nicht mehr ausgehalten. Der Zug hielt nöch nicht richtig, als sie schon die Türe aufriß und hinaussprang, der Ruck, mit dem die Lokomotive zu stehen kam, hätte sie fast aus dem Gleichgewicht geworfen.

Erwartungsvoll sah sie sich um und — erlebte die erste Enttäuschung. Sie hatte Ute und Hanna telegrafiert, sie abzuholen, aber keine ihrer Freundinnen war erschienen. Dabei hatte sie ihre Ankunft extra so gelegt, daß die beiden Zeit haben mußten. Es war Samstag mittag, sie hätten es leicht einrichten können, nach der Schule zum Bahnhof zu kommen.

Na, vielleicht warten sie an der Sperre, versuchte Gina sich zu trösten.

Mit weitausholenden Schritten, ihr Köfferchen fest in der Hand, marschierte sie zum Ausgang.

Gina sah sich fast die Augen aus, um die Freundinnen zu entdecken, so kam es, daß sie der Mutter fast in die Arme lief, ohne sie wirklich zu sehen.

»Gina!« rief Frau Lowitzer. »Ja, hast du mich denn nicht erwartet?!«

»Mutti!« Gina schlang ihr in impulsiver Freude die Arme um den Hals, küßte sie auf beide Wangen. »Also wirklich, ich hätte dich fast übersehen.«

»Nanu?« Frau Lowitzer lachte. »So unscheinbar bin ich doch gar nicht!«

»Natürlich nicht, Mutti«, sagte Gina und sah ihre Mutter prüfend an, »du siehst blendend aus!« Aber sie errötete ein bißchen über ihre eigene Lüge — sie hatte die Mutter ganz anders in der Erinnerung gehabt, jünger, eleganter. Hatte sie sich so verändert oder hatte sie sich ein falsches Bild gemacht?

Frau Lowitzer bemerkte Ginas Unsicherheit nicht. »Und du bist einfach nicht wiederzuerkennen, wie eine richtige Dame siehst du aus! Mit Hut! Kaum zu glauben! Und das reizende Pepitakostüm! Deine Freundinnen werden staunen.«

»Ach ja«, sagte Gina und gab sich Mühe, so beiläufig wie möglich zu sprechen, »wo stecken die beiden eigentlich? Ich hatte ihnen telegrafiert.«

»Ja, ich weiß , sie haben mich gestern angerufen. Sie sind zum Skifahren auf die Zugspitze. Aber heute abend kommen sie vorbei, wenn es ihnen irgend ausgeht.«

»Wie gnädig«, sagte Gina.

»Du darfst ihnen das nicht übelnehmen, sie hatten es schon seit langem geplant.«

»Na ja, da kann man nix machen. Und Wolfi?«

»Ist mit ein paar Klassenkameraden zu einer Bergtour. Er kommt erst Sonntag abend zurück. Aber du bleibst doch bis Montag, nicht wahr? Dann wirst du ihn auch noch sehen.«

»Feine Aussichten«, sagte Gina und blieb stehen. »Nehmen wir ein Taxi?«

»Ist dein Köfferchen so schwer?«

»Das nicht. Aber ich habe keine Lust, durch die halbe Stadt Spießruten zu laufen.«

»Wie du sprichst! Die Leute würden sich doch freuen, dich wiederzusehen.«

»Bisher habe ich nicht gerade den Eindruck.«

»Weil Wolfi und deine Freundinnen nicht da sind? Aber du mußt doch zugeben, daß dein Besuch reichlich plötzlich gekommen ist. Wenn du dich eine Wothe früher angemeldet hättest.«

»Sicher. Aber da wußte ich ja noch nicht, daß Thomas nach Düsseldorf fahren mußte. Es kam ganz plötzlich. Und da wollte ich natürlich die Gelegenheit ausnützen.«

Gina war auf ein Taxi zugesteuert. Der Chauffeur nahm ihr den Koffer ab, stellte ihn auf den Vordersitz, öffnete die Tür zum Fond. Gina ließ die Mutter zuerst einsteigen, setzte sich dann neben sie.

»Wie kommt es eigentlich, daß Thomas dich nicht mit nach Düsseldorf genommen hat?« fragte sie.

»Er fährt zu einem Kongreß. Ich hätte mich dabei wahrscheinlich nur gelangweilt.«

»In Düsseldorf? Also ehrlich, Kind, das kann ich mir nicht vorstellen!«

»Das war jedenfalls die Meinung meines Mannes«, sagte Gina hart. »Es blieb mir wohl nichts anderes übrig, als sie zur Kenntnis zu nehmen, oder was hätte ich sonst tun sollten?«

»Ja, natürlich«, sagte Frau Lowitzer rasch, »jedenfalls sind wir froh, daß du mal wieder hier bist!«

Gina hatte eigentlich erwartet, daß ihre Mutter nun, da das Thema einmal angeschnitten war, noch mehr Fragen stellen würde, und sie hatte das Gefühl, daß es ihr guttun würde, sich einmal entgegen ihren Vorsätzen, allen Kummer von der Seele reden zu dürfen.

Aber merkwürdigerweise dachte Frau Lowitzer nicht daran. Sie begann von Belanglosigkeiten zu berichten, sprach über die Putzfrau, die sie endlich bekommen hatte; über die Praxis Dr. Lowitzers, über neue Vorhänge, die das Wohnzimmer schon seit langem brauchte, berichtete vom Stadtklatsch.

Es dauerte einige Zeit, bis Gina begriff, daß die Mutter einfach nichts von ihren Eheschwierigkeiten hören, sich nicht mit Dingen belasten wollte, an denen sie doch nichts ändern konnte.

»Ich habe dir doch geschrieben, daß Frau Miller jetzt bei uns lebt, nicht wahr?« gelang es Gina endlich einzugreifen.

Aber auch über diese Bemerkung ging Pfau Lowitzer rasch hinweg. »Ach ja«, sagte sie, »das wird nicht ganz einfach für dich sein. Aber andererseits spricht es unbedingt für Thomas, daß er seine Mutter nicht in ein Altersheim gehen lassen will. Das meint Vater übrigens auch.«

»Wie schön, daß ihr euch so einig seid«, sagte Gina bitter.

»Ja, darüber bin ich auch froh«, erklärte Frau Lowitzer ruhig. »Es ist nicht leicht, verheiratet zu sein, und es geht nicht ohne Auseinandersetzungen ab. Aber Vater und ich verstehen uns immer noch, nach zwanzig Jahren. Das ist sehr viel, ein großes Glück. Aber ich habe auch oft schwer darum kämpfen müssen.«

»Glaubst du, ich mache es mir leicht?«

»Das weiß ich nicht. Dein Vater und ich sind nur nach wie vor der Meinung, daß du dich zu jung in diese Ehe gestürzt hast. Es wundert uns nicht, daß du jetzt den Schwierigkeiten nicht gewachsen bist. Aber du mußt dich durchbeißen. Uns kannst du keine Schuld geben. Wir haben dich gewarnt.«

[49]

Die Freundinnen kamen am späten Nachmittag, jung und unbd‘ümmert, braungebrannt, in Skihosen, Pullovern und Anoraks, brachten einen Schwall klarer frischer Schneeluft in das kleine Haus, in dem Lowitzers lebten.

Nach der ersten lärmenden Begrüßung sagte Gina: »Jetzt legt ab und kommt mit ‘rauf in meine alte Bude. Wir wollen es uns mal wieder richtig gemütlich machen. Ich habe euch jede Menge zu erzählen.«

Hanna und Ute wechselten einen verlegenen Blick.

»Leider ausgeschlossen«, sagte Ute, »wir müssen uns noch umziehen. Wir gehen heute abend auf eine Party.«

»Ach«, sagte Gina nur, aber es war ihr unmöglich, ihre Enttäuschung zu verbergen.

»Warum kommst du nicht einfach mit?« schlug Hanna vor. »Es sind ein paar prima Boys dort, die alte Clique, oder fühlst du dich etwas zu überlegen, bei einer simplen Party mitzumachen?«

»Ach, laß sie doch«, sagte Ute rasch, »du siehst doch, sie ist über unsere kindlichen Vergnügen weit erhaben!«

Gina begriff, daß die Freundinnen sie nicht wirklich dabei haben wollten. Dennoch — oder vielmehr gerade deswegen fragte sie: »Wer gibt denn die Party?«

»Sepp, Sepp Unterhuber«, gab Hanna Auskunft. »Du erinnerst dich doch noch an ihn? Seine Eltern sind heute abend zu einem Lionsball. Wir werden also ganz unter uns sein.«

Gina sah die Freundinnen nachdenklich an. »Das könnte mich beinahe reizen!«

Eine reichlich verlegene Pause entstand.

Dann sagte Ute: »Sepp würde sich natürlich freuen. Er hatte schon immer ‘ne Schwäche für dich. Allerdings …«

»Na, sprich es nur aus!« sagte Gina ermunternd.

»Er ist augenblicklich mit mir liiert, und du wirst verstehen, ich meine, wenn du mir vorher versprechen würdest, daß du dich nicht an ihn heranmachst.«

»Und an Klaus auch nicht«, fügte Hanna rasch hinzu. »Der geht nämlich mit mir, verstehst du! Er ist nicht gerade mein Ideal, aber wegschnappen lassen möchte ich ihn mir auch nicht. Jedenfalls nicht, solange ich nichts Besseres habe.«

Gina hob die schmalen, schön geschwungenen Augenbrauen. »Ja, sagt mal, seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Bildet ihr euch im Ernst ein, ich wäre an einem eurer blöden Schulbuben interessiert? Ihr habt wohl total vergessen, daß ich eine verheiratete Frau bin?«

»Na eben deshalb«, sagte Ute rasch, »wäre die Party eben doch nichts für dich! Findest du nicht auch, Hanna?«

Hanna nickte nur stumm, wagte es nicht, Gina anzusehen.

»Jetzt paßt einmal auf«, sagte Gina und lachte, aber es klang nicht sehr heiter, »ich bin durchaus imstande zu entscheiden, was ich zu tun und was ich zu lassen habe. Und ich würde nicht einmal im Traum daran denken, euch irgendwo in die Quere zu kommen. Außerdem kann ich heute abend gar nicht aus dem Haus, weil ich einen Anruf von meinem Mann erwarte. Seid ihr jetzt beruhigt?«

»Aber, Gina, so haben wir das doch gar nicht gemeint!« behauptete Hanna. »Wir hätten uns doch gefreut, wenn du mitgekommen wärst, wirklich.«

»Du mußt doch zugeben«, sagte Ute, »daß es besser war, dir die Situation von vornherein ganz klarzumachen, oder?«

»Schon in Ordnung. Ihr braucht euch nicht zu entschuldigen.« Sie schob die Freundinnen zur Haustür. »Also, dann, bis bald!«

Lächelnd winkte sie den beiden nach, als sie, ihre Skier geschultert, in der Abenddämmerung verschwanden.

Dann fiel ihr Lächeln ab wie eine schlechte Maske. Sie fühlte sich unsagbar enttäuscht und verlassen. Eine heiße Sehnsucht nach Thomas stieg in ihr auf. Er war doch der einzige Mensch auf der Welt, zu dem sie jetzt wirklich gehörte. Warum war er bloß alleine gefahren? Was hatte sie ihm denn getan?

Sie schluckte schwer.

Und trotzdem, wäre es nicht besser gewesen, sich seinem Entschluß zu fügen, statt sich im Zorn von ihm zu trennen? Ob es ihm jetzt nicht genauso leid tat wie ihr?

Bestimmt, denn er liebte sie doch. Vielleicht würde er wirklich heute abend noch anrufen. Ja, wenn er sich überhaupt noch etwas aus ihr machte, würde er es tun.

[50]

Thomas hätte niemals geglaubt, daß Gina ihm so fehlen würde. Tagsüber, während der Vorträge, der Diskussionen, die im Kongreßsaal der Rheinhalle stattfanden, ging es ja noch. Aber abends, beim geselligen Zusammensein mit Kollegen, wurde es ganz schlimm. Thomas hätte sich ohrfeigen mögen, daß er seine junge Frau nicht mitgenommen hatte. Warum eigentlich nicht? Er verstand sich selbst nicht mehr.

Dem großen Ball am Samstag abend konnte er nicht das geringste Vergnügen abgewinnen. Und er wollte es auch nicht. Es schien ihm, als ob er kein Recht dazu hätte, sich der allgemeinen festlichen Stimmung zu freuen, während Gina trostlos bei ihren Eltern hockte. Thomas schämte sich seiner eigenen Gedankenlosigkeit.

Kurz vor elf gelang es ihm, unauffällig den Ballsaal zu verlassen. Mit einem Taxi fuhr er ins Hotel »Fürstenhof« zurück. Er gab dem Nachtportier die Telefonnummer seiner Schwiegereltern, bat ihn, ein Gespräch nach Garmisch zu vermitteln.

»Geschieht sofort, Herr Doktor«, sagte der Portier, »Kabine eins, wenn’s recht ist!«

Thomas hatte das Gespräch eigentlich auf seinem Zimmer entgegennehmen wollen, weil er mit einer längeren Wartezeit gefechnet hatte. Die Geschwindigkeit, mit der jetzt alles geschah, überrumpelte ihn beinahe. Er spürte einen seltsamen Krampf in der Herzgegend — wenn Gina nun nicht zu Hause war? Wenn sie sich auch weiter so kalt und ablehnend zeigte wie in den letzten Tagen vor seiner Abreise? Er spürte plötzlich, daß das mehr sein würde, als er ertragen konnte. Wenn er Gina jetzt nicht erreichte oder sie noch mit ihm böse war, würde er Kongreß Kongreß sein lassen und sich noch heute nacht in die Bahn setzen und nach Hause fahren.

Seine Hand, mit der er das Feuerzeug aufspringen ließ und an die Zigarette führte, die er sich in den Mund gesteckt hatte, zitterte vor unterdrückter Erregung.

Dann klingelte der Apparat, und nach einem tiefen Atemzug nahm er den Hörer ab:. »Hier spricht Thomas Miller«, sagte er, »könnte ich wohl …«

Aber da war schon Ginas Stimme, hell und voller Jubel. »Oh, Thomas, ich habe ja gewußt, daß du anrufen würdest!«

Er begriff, daß sie den ganzen Abend neben dem Telefon gesessen hatte, und seine bange Sehnsucht wich gerührtem Besitzerstolz. »Na, entsprechend benommen hast du dich in den letzten Tagen aber nicht«, sagte er.

»Es tut mir leid, Thomas«, sagte sie zerknischt, »glaub mir, es tut mir wirklich leid!«

»Na, immerhin ist es mal schön für dich, wieder zu Hause zu sein«, sagte er gönnerhaft, »wie geht es den Eltern. Deinen Freundinnen?«

»Das erzähl ich dir alles, wenn wir wieder beisammen sind. Und wie gefällt’s dir in Düsseldorf?«

»So mittel. Du hast bestimmt nichts verloren, daß du nicht mitgekommen bist.«

Gina hätte gern gesagt, wie gerne sie bei ihm gewesen wäre. Aber sein Ton machte es ihr unmöglich. »Wann kommst du zurück?« fragte sie statt dessen.

»Irgendwann im Laufe des Montags. Wahrscheinlich erst gegen Abend. Ich rufe dich dann noch einmal an, wenn ich wieder in München bin.«

»Vorher nicht?«

»Nein. Warum auch? Wir wollen es doch nicht übertreiben?«

»ich liebe dich sehr, Thomas.«

»Ich dich auch. Also dann, schlaf gut, grüße die Eltern!«

»Thomas«, rief sie, »ich«, aber da hatte er schon eingehängt.

Sie betrachtete mit zusammengepreßten Lippen den Hörer. Sie hatte selber nicht gewußt, was sie ihm noch sagen oder ihn fragen sollte. Das Gespräch, das sie so sehnsüchtig erwartet hatte, war ihr entsetzlich kurz erschienen. Es kostete sie Überwindung, den Hörer aufzulegen.

»Alles in Ordnung?« fragte Dr. Lowitzer vom Fernsehapparat her.

»Ja, Vati. Nur, Thomas möchte, daß ich schon morgen nach Hause komme«, log sie.

»Schade«, sagte ihr Vater. »Na ja, München liegt schließlich nicht aus der Welt. Ich denke, du wirst uns bald mal wieder besuchen.«

»Bestimmt«, sagte sie, obwohl sie im innersten Herzen wußte, daß auch das eine Lüge war.

Sie fühlte sich ihrer alten Umgebung entwachsen, hatte genug von allem hier und hoffte inständig, daß sie nie wieder in die Situation kommen würde, zu Hause bei den Eltern Zuflucht nehmen zu müssen.

[51]

Thomas fühlte sich, nachdein er Ginas Stimme gehört hatte, unendlich erleichtert.

Er verstand nicht mehr, wieso ihn Sehnsucht und Sorge aus dem Ballsaal getrieben hatten. War er denn völlig verrückt gewesen? Gina hatte kein Recht, ihn überall hin zu begleiten, seine Entscheidung war ganz in Ordnung gewesen. Höchste Zeit, daß sie zu lernen anfing, wer der Herr im Hause war. Es war töricht gewesen, sie anzurufen. Es hätte ihr bestimmt ganz gut getan, noch ein bißchen zappeln zu müssen.

Er hätte plötzlich keine Lust mehr, zu Bett zu gehen, schlenderte in die Hotelbar hinüber. Eine kleine Band spielte gedämpfte Barmusik und wieder dachte er: Wie schade, daß Gina nicht da ist! Das wäre das Richtige für sie gewesen!

Aber wieder ärgerte er sich über seine eigenen sehnsüchtigen Gedanken, schritt zur Bar, verlangte einen doppelten Whisky. Ein Page kam, nahm ihm Mantel und Hut ab. Er schwang sich auf einen der Hocker und sah sich unauffällig um.

Die Bar war höchst elegant mit Palisanderholz und Seidentapeten ausgestattet, es herrschte ein angenehmes verhangenes Licht, das den Damen schmeichelte. Auf den kleinen Tischen brannten honiggelbe Kerzen in hübschen Porzellanleuchtern. Es war nett hier zu sein, angenehm zu trinken und die Gedanken zu entspannen.

Thomas ließ sich vom Barkeeper einen Schuß Wasser in seinen Whisky geben, nahm einen Schluck, zündete sich eine Zigarette an. Er musterte verstohlen die Anwesenden und dachte, ohne es zu wollen, daß nicht eine der Damen seiner jungen schönen Gina auch nur das Wasser reichen konnte. Fast alle hatten großes Make up aufgelegt, das ihre Gesichter, ob jung oder alt, eine trügerische Glätte, zugleich aber auch eine fast maskenhafte Starre verlieh. Die Haare waren künstlich hochtoupiert, zum Teil sogar von Perücken verdeckt — jedenfalls nahm Thomas das an, obwohl er sich zugeben mußte, daß er nicht viel von Damenfrisuren verstand. Er wußte nur, daß er schmiegsames, fallendes, duftiges Haar liebte, wie Gina es hatte, und alle diese kunstvollen Aufbauten geradezu haßte.

Gina, immer wieder Gina! Konnte er denn an gar nichts anderes mehr denken!?

Er spürte den Druck einer schmalen Hand auf der Schulter, fuhr so heftig herum, daß er sein Whiskyglas fast umgestoßen hätte.

Vivian Geron stand vor ihm, hochelegant in einem schräg plissierten Cocktailkleid aus mattgrüner Seide, die kastanienroten Locken hochgetürmt, sehr selbstsicher und ungeheuer reizvoll.

»Hei«, sagte sie lächelnd, »ich traue meinen Augen nicht! Das ist aber mal eine Überraschung! Wo ist deine kleine Frau?«

»In Garmisch«, sagte er überrumpelt, »bei ihren Eltern!«

»Du bist Strohwitwer? Wie nett! Dann können wir also noch ein bißchen zusammenbleiben. Oder hast du eine andere Verabredung?«

»Natürlich nicht.«

Ihr Lächeln vertiefte sich. »Ich dachte natürlich nicht an eine Frau, ich weiß ja, was für ein treuer Ehemann du bist; Darf ich mich zu dir setzen?«

»Ja, bitte. Aber du wirst doch kaum allein hier sein?«

»Das nicht. Aber ich bin mit lauter Langweilern zusammen! Dreh dich nicht um, sie sitzen da hinten an dem großen Tisch hinter dem Pfeiler. Ich denke, sie können sich ruhig mal eine Weile mit sich selber beschäftigen.« Sie schwang sich mit einer geübten Bewegung auf den Barhocker, ihr grünes Kleid rutschte dabei so hoch, daß es ihre langen, schlanken Beine bis übers Knie freigab. Vivian machte keine Anstalten, es wieder hinunter zu ziehen.

Thomas betrachtete sie mit einem seltsamen Gemisch aus Unbehagen und Freude. »Was möchtest du trinken?«

»Champagner natürlich«, erwiderte sie prompt, »Wir haben doch allen Grund unser unverhofftes Wiedersehen zu feiern, nicht wahr?«

»Wußtest du, daß ich in Düsseldorf bin?«

»Aber, Thomas! Deine Einbildung scheint langsam keine Grenzen mehr zu kennen! Nein, ich habe mir die Modeschau eines Pariser Hauses hier angesehen. Ich mußte mich orientieren, was sie für Modelle zum nächsten Sommer nach Deutschland zu exportieren gedenken.«

Thomas hatte den Barkeeper herangewinkt, gab seine Bestellung auf.

»Sehr enttäuscht?« fragte Vivian.

»Worüber?«

»Nun, daß ich nicht deinetwegen hier bin.«

»Nein«, sagte er, »ganz im Gegenteil. Du kennst mich ja. Es wäre mir unangenehm gewesen. Ich gehöre nicht zu den Männern, die gejagt werden wollen.«

»Nun, wenn das heißen soll, daß ich dich störe.« Sie machte eine Bewegung, als ob sie sich wieder vom Hocker herabgleiten lassen wollte.

»Nein, durchaus nicht«, sagte er impulsiv, »ich freue mich, daß du da bist!«

Sie strich ihm mit einer sehr selbstverständlichen Bewegung über das dunkle Haar. »Hast dich ein bißchen einsam gefühlt, wie? Du brauchst dich nicht zu genieren, ich kann das verstehen. Überhaupt«, sagte sie gedankenvoll und angelte sich eine Zigarette aus dem Päckchen, das er vor sich auf die Bar gelegt hatte, »ich begreife jetzt alles. Wieso du dich so in die kleine Gina verliebt und weshalb du sie geheiratet hast.«

Er gab ihr Feuer. »Wirklich?« fragte er skeptisch.

»Doch.« Sie sah ihn offen an. »Du mußt mir das glauben. Es kam bloß alles so plötzlich, so gänzlich unvorbereitet. So schnell habe ich es einfach nicht verkraften können. Es tut mir leid, daß ich mich so aufgeführt habe. So abscheulich primitiv.«

Der Keeper hatte den schäumenden Champagner in zwei geschwungene Schalen gegossen und stellte die Flasche in einen Eiskübel.

Vivian nahm das eine Glas zur Hand. »Ich bin sehr froh, daß ich dir das einmal sagen konnte. Es hat mich schon seit langem bedrückt.«

»Na ja dann«, sagte Thomas und hob ihr sein Glas entgegen, »auf unsere alte Liebe.«

»Nein«, sagte sie, »nein, Thomas, so nicht. Auf unsere neue Freundschaft, das ist viel besser.«

»Nun gut, auf unsere Freundschaft also.«

Ihre Gläser klangen aneinander, sie tranken.

[52]

Gina war am Sonntag nachmittag mit den besten Vorsätzen nach München zurückgefahren. Aber auf den Empfang den ihr Frau Miller bereitete, war sie doch nicht ge’faßt.

»Du bist schon zurück, Kind?« sagte die alte Dame unangenehm überrascht. »Also damit hatte ich wirklich nicht gerechnet!«

»Vielleicht hätte ich wirklich anrufen sollen«, sagte Gina, fügte aber sogleich mit neu erwachtem Trotz hinzu: »Aber schließlich bin ich hier ja zu Hause!«

»Natürlich, Gina, nur, ich hatte einfach nicht mit deinem Kommen gerechnet!«

»Ist nichts zu Essen da? Das macht ja nichts. Ich habe sowieso überhaupt keinen Hunger.«

»Doch, doch, es ist nur, ich habe Erika Jahn versprochen, einen Sprung zu ihr hinüber zu komrmn. Aber natürlich, wenn du mich begleiten möchtest.«

Es war merkwürdig. Gina spürte einen scharfen Stich im Herzen. Die Freundinnen hatten sie gestern nicht dabei haben wollen, und Frau Miller ging es genauso. Ihrer Aufforderung hatte jede Überzeugungskraft gefehlt. Warum nur? Was war mit ihr los, daß alle gegen sie waren? Vor ihrer Ehe war sie doch immer und überall beliebt gewesen. Hatte sie sich so verändert?

»Ich fürchte nur, daß du dich langweilen würdest«, sagte Frau Miller in Ginas Gedanken hinein.

»Das stimmt«, mußte Gina zugeben.

»Na, siehst du. Dann bleiben wir eben beide zu Hause.«

»Aber wieso denn?« protestierte Gina. »Du brauchst doch meinetwegen nicht hierzubleiben, Mama! Glaubst du etwa, du kannst mich nicht mal für ein paar Stunden allein lassen?«

»Ich möchte es nicht gern«, sagte Frau Miller. »Bestimmt hast du mir vieles zu erzählen. Wir könnten es uns einmal richtig gemütlich machen und …«

»Bloß nicht«, rief Gina, »zu erzählen gibt es überhaupt nichts, und ob du nun bleibst oder gehst, ich hatte mir sowieso vorgenommen, früh ins Bett zu gehen. Frau Jahn würde bestimmt enttäuscht sein, wenn du jetzt nicht kämst, und ich sehe auch überhaupt keinen Sinn darin!«

»Trotzdem.«

Gina sah die alte Dame voller Mißtrauen an. »Oder hast du Thomas etwa versprochen, auf mich aufzupassen?«

»Wie kannst du so etwas sagen! So etwas auch nur denken!«

»Dann verstehe ich wirklich nicht, warum du nicht gehen willst.«

»Na schön«, sagte Frau Miller, »wie du meinst. Ich halte es zwar nicht für richtig, aber aufdrängen möchte ich mich bei Gott nicht. Wenn Thomas anruft …«

»Das wird er nicht. Er hat schon gestern abend mit mir telefoniert.«

»So?« sagte die alte Dame mit einem seltsamen Ausdruck. »Er hat dich angerufen? Was hat er denn gesagt?«

»Überhaupt nichts Besonderes.«

»Wenn du mir nichts erzählen willst.«

»Aber da gibt es nichts zu erzählen, wirklich nicht. Er wollte einfach wissen, wie es mir geht. Das war alles. Herrgott, warum mußt du bloß immer so mißtrauisch sein.«

»Ich bin nicht mißtrauisch«, verteidigte sich Frau Miller, »durchaus nicht! Ich hätte es nur richtiger gefunden«, sie sprach ihren Gedanken nicht zu Ende, warf einen Blick auf ihre zierliche goldene Armbandühr. »So spät schon? Jetzt hätten wir uns fast verplaudert! Ich muß laufen. Richte dir bitte etwas zum Essen, der Eisschrank ist voll. Und vergiß nicht das Licht auszuknipsen, wenn du schlafen gehst. Ich bin spätestens um elf zurück.«

»Ist gut, Mama«, sagte Gina und drückte ihrer Schwiegermutter einen schwachen Kuß auf die Wange. »Bis morgen früh also. Wenn du kommst, liege ich längst im Bett!«

[53]

Als Frau Miller gegangen war, fühlte Gina sich fast erleichtert. Es war schön, endlich mal wieder allein zu sein, zwischen den eigenen Wänden.

Sie brachte ihren Koffer ins Schlafzimmer, packte ihn aus, ordnete die unbenutzten Sachen wieder in die Schränke, stellte ihre Toilettenutensilien im Badezimmer auf, Dann schlüpfte sie aus ihrem Pepitakostüm, hängte es sorgfältig auf einen Bügel auf den Küchenbalkon zum Auslüften, zog sich ihren Morgenrock an, ging wieder in die Küche zurück und öffnete eine Flasche Bier.

In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

Thomas! dachte Gina und rannte im gleichen Moment los. Atemlos nahm sie den Hörer ab, meldete sich.

Aber es war eine rauhe Jungenstimme, die sie hörte. »Gina, bist du allein?«

»Wer spricht denn da, bitte?« fragte Gina verwirrt.

»Ich bin’s. Wolfgang.«

»Wolfi, du! Ich dachte, du wärst auf einer Bergtour.«

»Schon zurück.«

»Na so etwas. Rufst du von zu Hause an? Zu dumm, daß wir uns verpaßt haben!«

»Gina«, sagte Wolfi gepreßt, »ich bin in München.«

» Wo?«

»In der Telefonzelle am Effnerplatz. Ganz in deiner Nähe.«

»Na so etwas! Warum kommst du denn nicht her?«

»Weil ich erst wissen wollte, ob du allein bist!«

»Ja! Ich sagte dir doch schon …«

»Dann bin ich in drei Minuten bei dir!«

»Wolfi!« rief Gina. »Was ist denn los mit dir? Warum tust du so geheimnisvoll? Du hast doch hoffentlich nicht wieder etwas angestellt?«

Aber sie bekam keine Antwort. Die Leitung war tot.

Als Gina ihrem Bruder Wolfi gegenüberstand, wußte sie sofort, daß etwas Schreckliches geschehen sein mußte. Wolfis frisches Jungengesicht war verzerrt, rote Flecken brannten auf seinen Wangenknochen, seine Augen hatten einen gehetzten, ja geradezu verstörten Ausdrück.

»Wolfi!« rief sie entsetzt. »Komm herein. Wie siehst du denn aus?«

Er verstand sie falsch. »Ich hatte keine Möglichkeit mehr mich umzuziehen«, sagte er.

Tatsächlich trug er immer noch die ledernen Bundhosen, wollene Strümpfe und den sportlichen Anorak, mit denen er in die Berge gestiegen war. Jetzt begann er den Haken seines Rucksacks loszunesteln, warf ihn auf den nächsten Stuhl.

»Du bist doch allein?« fragte er mißtrauisch.

»Ja«, sagte Gina, »aber das ist bloß ein Zufall! Mama ist zu einer Bekannten gegangen und …«

Er fiel ihr ins Wort. »Wie lange wird sie bleiben?«

Gina zuckte die Achseln. »Weiß nicht, bis zehn, elf Uhr, nehme ich an.«

Er atmete auf. »Das genügt.«

»Für was?« fragte Gina. »Was willst du von mir?«

»Du mußt mir helfen.«

»Brauchst du wieder Geld?«

»Das auch. Aber …«

»Ich habe nichts, Wolfi, wirklich nicht«, erklärte sie rasch. »Nicht einmal Wirtschaftsgeld. Seit Mama bei uns lebt.«

»Irgend etwas wirst dd schon auftreiben. Und wenn nur ein paar Mark sind.«

Gina ging zum Schreibtisch, nahm sich eine Zigarette aus dem Kästchen, zündete sie sich an. Ihr Schrecken hatte sich gelegt, begann Verärgerung Platz zu machen. »Wieso bist du eigentlich so sicher, daß ich dir helfen muß? Daßich dir helfen werde?«

Wolfi ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich bin gar nicht so sicher«, sagte er müde, »es ist nur … Du bist der einzige Mensch. Außer dir gibt es niemanden, der etwas für mich tun würde.«

»Wenn du bloß ahntest, wieviel Ärger ich damals wegen dir gehabt habe! Thomas war wütend, sage ich dir!« Sie schnippte heftig die Asche ihrer Zigarette ab. »Ich will mir meine Ehe nicht kaputtmachen lassen. Weder von dir noch von sonst jemanden.«

Wolfi stand auf. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß er seit ihrer letzten Begegnung gewachsen, fast erwachsen geworden war.

»Na schön«, sagte er müde und nahm seinen Rucksack auf. »Da kann man nichts machen.« Er wandte sich ab.

Sie wußte, er würde jetzt gehen und nichts mehr von ihr fordern, wenn sie ihn nicht zurückhielt. Aber sie brachte es nicht über sich. Er war doch ihr Bruder, der Freund ihrer Kindheit, lange Zeit ihr einziger Vertrauter.

»Also mach schon«, sagte sie, fast böse auf sich selber und die eigene Gutmütigkeit, »tu nicht so geheimnisvoll! Was hast du jetzt schon wieder ausgefressen?!«

Er wandte sich ihr zu, sein Gesicht war starr. »Einen Menschen ümgebracht«, sagte er tonlos.

»Nein!« — Es war ein Schrei der Abwehr.

Er zog eine Grimasse. »Glaubst du, ich würde mir so etwas ausdenken?«

Sie ließ ihre Zigarette in einen Aschenbecher fallen, lief auf ihn zu, packte ihn bei den Schultern. »Wolfi! Sie mich an! Wolfi, das ist doch nicht möglich! Du hast es nicht getan! Doch nicht mit Absicht?«

»Nein«, sagte er gequält, »natürlich nicht! Ich meine, so genau weiß ich das gar nicht mehr!«

»Hör zu«, sagte sie, »setz dich, ja, setz dich wieder! Stell den blöden Rucksack weg! Willst du etwas trinken? Doch, du mußt!« Sie lief zum Schrank, holte eine Flasche Cognac heraus; schenkte ihrem Bruder ein Glas ein, hielt es ihm hin. »Trink ihn hinunter. Das wird dir gut tun!« Sie beobachtete, wie er trank. »Jetzt geht’s dir besser, nicht wahr?«

»Gina«, sagte er hoffnungslos, »aber das nutzt doch alles nichts.«

»Ich bin froh, daß du zu mir gekommen bist! Direkt froh, Wolfi!« rief sie. »Ein Glück, daß ich einen Rechtsanwalt geheiratet habe! Ich habe die Nummer seines Düsseldorfer Hotels.« Sie lief zum Telefon.

»Nein!« schrie er.

Sie hatte schon die ersten beiden Zahlen gewählt, als er bei ihr war, ihr den Hörer aus der Hand riß, ihn auf die Gabel knallte.

»Du darfst mich nicht verraten!«

»Sei bitte nicht kindisch, Wolfi! Thomas muß es wissen, nur er kann …«

»Was kann er denn? Mich verteidigen, nicht wahr, das meinst du doch? Und wenn er der beste Strafverteidiger Europas wäre, frei bekommen würde er mich doch nicht! Aber ich will nicht eingesperrt werden, hörst du, Ginal? Ich könnte es nicht ertragen! Eher würde ich«, er stockte.

»Was würdest du?«

»Ich bringe mich um!«

Gina wußte nicht, ob er wirklich dazu imstande war, oder ob er nur drohte. Aber sie begriff, daß er sehr verzweifelt und sehr fern aller Vernunft war.

»Red nicht solch einen Unsinn«, sagte sie rauh. »Setz dich lieber wieder und trink noch ein Glas! Starr mich nicht so an, als ob du überhaupt kein Vertrauen zu mir hättest. Mein großes heiliges Ehrenwort, ich werde Thomas nicht anrufen, solange du nicht einverstanden damit bist. Jetzt zufrieden?«

»Du brauchst gar nicht erst zu versuchen, mich dazu überreden.«

»Will ich überhaupt nicht. Komm, setz dich!« Sie ergriff seinen Arm, bugsierte ihn wieder zum Sessel zurück, zog sich einen Stuhl zu ihm heran, so daß sie ihm nahe genug saß, um ihn zu berühren. »Jetzt erzähle mir erst mal, was wirklich passiert ist!« Sie schenkte noch einen Cognac ein, nahm selber einen Schluck, bevor sie ihm das Glas reichte.

Et trank nicht, drehte es unruhig zwischen den Fingern. »Es ist«, sagte er stockend, »ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

»Wer war es?« fragte sie. »Ullmann?«

»Ja«, sagte er fast erleichtert, »du weißt ja, ich konnte ihn nie ausstehen. Wenn ich gewußt hätte, also, wir hatten diese Bergtour schon sei Wochen geplant, ein paar aus der Klasse und ich. Wir wollten ganz zünftig aufsteigen, bis zum Joch, am Nachmittag noch ein bißchen Skifahren, und am nächsten Tag mit den Skiern herunter. Bis zur Schneegrenze. Ich hatte keine Ahnung, daß Ullmann mitwollte. Aber als ich zum Treff kam, war er schon da. Keiner sagte etwas dagegen und ich, na, ich hatte Angst, daß sie sich auf Ullmanns Seite stellen würden.«

»Klar«, sagte Gina. »Und wann ist es zum Krach gekommen?«

»Erst heute mittag. Wir waren bis zur Schneegrenze gekommen, waren gerade dabei, auf dem Plateau unsere Bretter abzuschnallen. Da fing Ullmann an. Du mußt mir glauben, daß er angefangen hat, Gina.«

»Ich kenne ihn ja, Wolfi«, sagte sie beruhigend.

»Er machte dreckige Bemerkungen! Diese Art, auf die man gar nichts sagen kann, nur zuschlagen. Ich stürzte mich auf ihn, er ging sofort in die Verteidigung. Er verpaßte mir eins gegen das Kinn, aber er ist ja nicht stark. Es tat mir nicht sehr weh, aber ich wurde immer wütender.«

»Und die anderen?«

Thomas zuckte die Schultern, nahm jetzt doch einen Schluck Cognac. »Feuerten uns an, ihnen machte das Ganze Spaß. Zuzusehen, meine ich. Wir drehten uns wie verrückt umeinander, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich endlich einen Schwinger landen konnte. Er taumelte. Ich hatte erst gar nicht bemerkt, daß er mit dem Rücken zum Abgrund stand. Ich stürzte mich auf ihn zu, er wich einen Schritt zurück …« Wolfi holte tief Luft. »Das ist alles.«

»Er ist also abgestürzt?« fragte Gina.

»Ja.«

»Aber das war doch eigentlich gar nicht deine Schuld, Wolfi!«

»Doch, Gina. Ich hatte ihn angeschlagen und dann, ich sah ja, daß er beim nächsten Schritt hinunterstürzen würde. Ich hätte …« Er brach ab. »Es hat gar keinen Zweck, darüber zu reden, Gina. Das nutzt auch nichts. Jedenfalls ist er tot.«

»Bist du ganz sicher? Habt ihr ihn denn wieder heraufgeholt?«

»Es fällt ganz steil dort ab, du kennst doch die Stelle. Mindestens fünf Meter. Solch einen Sturz übei‘lebt keiner. Du hättest sehen sollen, wie er dort unten lag, wie, wie eine zerschlagene Puppe.«

»Grauenhaft.«, sagte Gina.

»Ja, du hast recht. Du weißt, daß ich Ullmann gehaßt habe, aber als ich ihn da hängen sah.« Wolfi schluckte schwer. »Ich war einfach weg. Und auch die anderen. Es war einfach unfaßbar. — ›Hau ab‹, sagten sie zu mir, ›hau ab, so schnell wie möglich‹! — Und da bin ich gerannt. Den ganzen Weg den Berg hinunter bis zum Bahnhof. Ich hatte gerade noch genug Geld, bis München zu kommen.«

Gina krauste die glatte Stirn. »Ich glaube, das hättest du nicht tun sollen. Wenn du nun einfach geblieben wärest?«

»Um mich verhaften zu lassen?«

»Du hättest das Ganze als einen Unfall hinstellen können!«

»Wo alle zugeguckt haben?«

»Trotzdem. Immer noch besser als davonzulaufen. Damit hast du dich ins Unrecht gesetzt.«

»Nein, Gina«, sagte er, »du ‘siehst die Sache ganz falsch. Dadurch habe ich einen Vorsprung. Ich habe mir alles gut überlegt. Die anderen werden dicht halten. Wenigstens eine Weile. Und selbst wenn ich gesucht werde. So schnell kriegt mich die Polizei bestimmt nicht. Wenn du mir hilfst, heißt das.«

»Wo willst du denn hin? Hast du dir das überhaupt schon überlegt?«

»Na klar. Nach Hamburg. Auf irgendeinem Frachter anheuern, der nach Südamerika geht. Dort werde ich dann untertauchen. Sieh mich nicht so mitleidig an, Gina. So schlimm ist das gar nicht, wenn ich es schaffe. Zu Hause habe ich doch nichts mehr zu verlieren. Es hängt mir längst alles zum Halse heraus. Vielleicht hat es so kommen müssen, weißt du.«

»Aber ich habe kein Geld«, sagte Gina, »bloß Kleingeld im Portemonnaie. Und ein bißchen was, das ich mir für den Geburtstag meines Mannes gespart habe. Höchstens fünfundzwanzig Mark im ganzen. Damit kommst du niemals bis Hamburg.«

»Per Anhalter schon. Geld ist nicht das Wichtigste, was ich brauche.«

»Was denn?« fragte sie verständnislos.

»Eine andere Kluft selbstverständlich. So wie ich jetzt aussehe, schnappen sie mich sofort.«

»Aber woher sollich denn …«

»Du wirst mir doch irgendein paar alte Klamotten von Thomas geben können! Es braucht nichts Gutes zu sein, soll es gar nicht.«

Gina dachte angestrengt nach. »Ich glaube«, sagte sie dann, »auf dem Speicher gibt es einen alten Koffer …«

»Gina«, sagte er erleichtert und drückte ihre Hand mit schmerzhaftem Griff, »ich wußte ja, du würdest mich nicht im Stich lassen!«

»Tu ich auch nicht«, erklärte sie entschlossen, »obwohl ich das, was du vorhast‘ für ganz und gar blödsinnig halte. Wenn wir Thomas einweihen würden?«

»Nein!«

»Sei doch nicht so dickköpfig! Ich bin sicher, Thomas würde ein besserer Ausweg einfallen.«

»Du willst ja bloß die Verantwortung loswerden!«

Gina sah ihren Bruder an. »Na schön«, sagte sie, »wahrscheinlich ist es der größte Fehler meines Lebens. Aber ganz wie du willst. Mein Schicksal scheint dir furchtbar gleichgültig zu sein.«

»Hör auf mit dem Theater. Es braucht doch kein Mensch etwas davon zu merken.«

»Hoffentlich.«

Gina brachte den Bruder ins Schlafzimmer. Wolfi zog sich bis aufs Unterzeug aus. Gina nahm seine ganzen Sachen über den Arm, um sie auf den Boden zu bringen.

»Ich schließe dich jetzt ein, Wolfi«, sagte sie, »das ist das Sicherste für dich. Wenn das Telefon klingelt, kümmere dich nicht darum. Frau Miller wird nicht so früh zurückkommen, aber sollte das doch der Fall sein, dann stell dich einfach tot, hörst du? Vielleicht wird sie an der Schlafzimmertür rütteln, du darfst dich jedenfalls nicht mucksen.«

»Ich bin doch nicht verrückt«, sagte Wolfi.

Gina brachte Wolfis Anzug hinaus, schloß die Türe ab, ließ den Schlüssel in die Tasche ihres Morgenrocks gleiten Sie holte die Schlüssel vom Speicher aus der Küche, nahm im Vorbeigehen Wolfis Anorak und seinen Rucksack mit. Jetzt, nachdem sie sich entschlossen hatte, ihm zu helfen, fühlte sie sich plötzlich ganz ruhig, geradezu unheimlich ruhig.

Sie lief die fünf Treppen zum Boden hinauf. Das Haus war heute, am Sonntag, sehr still. Aber selbst wenn sie jemandem unterwegs begegnet hätte, hätte es nicht viel ausgemacht. Sie kannte die Mietbewohner höchstens vom Sehen. Es war ziemlich ausgeschlossen, daß jemand ihr Aufmerksamkeit schenkte.

Der riesige alte Schrankkoffer war nicht verschlossen. Gina warf Wolfis Sachen zu Boden, begann darin zu wühlen. Sie fand einen alten braunen Anzug, einen gestopften Pullover, und, nach einigem Suchen, auch ein Paar Schuhe es waren Lackschuhe, schon ziemlich spröde im Oberleder, aber darauf kam es jetzt nicht an.

Gina zog einen kleinen Koffer von einem Gestell herunter, klopfte ihn aus, packte die wenigen Habseligkeiten aus Wolfis Rucksack hinein. Sie hängte Hose und Anorak ihres Bruders in den Schrankkoffer, verstaute seine Bergschuhe, steckte, nach kurzem Überlegen, seinen dicken Pullover noch in das Köfferchen. Vielleicht würde er ihn auf See brauchen können.

Dann nahm sie die Sachen ihres Mannes über den Arm, sah sich noch einmal prüfend in dem Bodenabteil um und vergewisserte sich, daß sie keine Unordnung hinterließ. Dann schloß sie ab und lief wieder hinunter.

Sie konnte alles in allem kaum eine Viertelstunde aus der Wohnung fortgewesen sein, aber als sie ins Schlafzimmer trat, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, daß Wolfi schlief. Er hatte sich in ihr Bett gekuschelt, die Decke hochgezogen, atrnete schwer mit offenem Munde.

Gina warf die Sachen über das Bett, setzte sich auf den Hocker vor ihrem Toilettentisch und betrachtete ihren Bruder mit Mitleid und Rührung. Sein Gesicht wirkte sehr jung im Schlaf, hilflos und preisgegeben, sie empfand eine schmerzliche Liebe für ihn. Plötzlich schien ihr alles, was sie für ihn getan hatte und noch im Begriffe stand zu tun, vollkommen richtig und in Ordnung.

Wolfi war kein Mörder, nicht einmal ein Totschläger, er war ein unglücklicher Junge. Es durfte nicht geschehen, daß er eingesperrt wurde, zusammen mit jugendlichen Verbrechern, von denen der harmloseste tausendmal verkommener war als er.

Wie erschöpft er war!

Gina wußte, daß es richtig gewesen wäre, ihn zu wecken, aber sie brachte es nicht über sich. Ihr schien es zu grausam, diesen Schlaf zu stören.

Sie saß lange, die Hände im Schoß, und bewachte den Schlaf ihres Bruders.

Erst als sie die Wohnungstür ins Schloß fallen hörte, fuhr sie hoch. Es dauerte eine Sekunde, bis ihr die Situation wieder ganz bewußt wurde.

Mit einem Satz war sie auf den Beinen, öffnete leise die Tür, zog den Schlüssel, der immer noch draußen steckte, herein, drehte ihn um. Dann lauschte sie atemlos, wich rückwärts bis zum Doppelbett zurück.

Sie sah, wie die Türklinke sich bewegte, hörte Frau Millers Stimme. »Hallo, Gina. Schläfst du schon?«

»Noch nicht«, antwortete Gina.

Wolfi bewegte sich unruhig, mahnend legte sie ihre Hand auf seinen Mund.

»Ich soll dich sehr lieb von Erika Jahn grüßen«, sagte Frau Miller auf der anderen Seite der Tür.

»Danke. War es nett?«

»Sehr. Ich bin so früh zurückgekommen, weil ich dachte, na ja, ich wollte dich nicht so lange allein lassen.«

»Reizend von dir. Aber das hättest du nicht tun sollen. Ich bin gleich ins Bett gegangen.«

Einen Augenblick war es ganz still.

Dann sagte Frau Miller: »Dann also, gute Nacht, Gina!«

»Gute Nacht, Mama!«

Wolfi war wach geworden, er wollte etwas sagen, aber Gina hielt ihm den Mund zu. »Still«, raunte sie, »ganz still. Wir müssen jetzt warten, bis sie in ihrem Zimmer ist.«

[54]

Frau Miller ging nicht gleich zu Bett. Sie lief erst noch eine ganzé Weile hin und her durch die Wohnung, brachte das Cognacglas und den benutzten Aschenbecher in die Küche, stellte die Flasche in den Schrank zurück, legte ein Kissen wieder an seinen Platz, stellte einen Sessel zurecht.

Dabei lauschte sie mit nicht nachlassender Aufmerksamkeit zum Schlafzimmer hin, in das Gina sich eingeschlossen hatte. Irgend etwas schien ihr merkwürdig. Daß Gina schon zu Bett gegangen war, nein, das war nicht verwunderlich. Aber warum hatte sie die Schlafzimmertür erst abgeschlossen, als sie in die Wohnung gekommen war?

Sie hatte es doch deutlich gehört. Oder sollte sie sich geirrt haben?

Frau Miller war mißtrauisch wie die meisten alten Menschen. Aber noch hatte ihr Verdacht keine bestimmte Richtung. Eigentlich war sie nur beleidigt, weil Gina sich so betont von ihr zurückgezogen hatte.

Nach einer guten halben Stunde, als sie umständlich die Wohnung in Ordnung gebracht und alle Vorbereitungen zur Nacht getroffen hatte, zog sie sich in ihr Zimmer zurück.

Aber ihr Schlaf war schon seit langer Zeit nicht mehr tief und fest, sondern sehr hellhörig. Immer wieder wachte sie auf, lauschte auf die Glockenschläge einer fernen Uhr. Sie haßte die Nächte. In ihnen tauchten zu viele Erinnerungen an ein langes Leben auf, und manchmal auch die dumpfe, atemberaubende Angst vor dem Ende.

Als sie in dieser Nacht das zweitemal erwachte, glaubte sie, draußen Schritte zu hören, leise tapsende Schritte.

Sie lag ganz still, lauschte mit angehaltenem Atem. Nein, sie hatte sich nicht getäuscht. Jemand bewegte sich durch den Wohnraum. Da waren auch Stimmen, flüsternde Stimmen, die sie weder verstehen noch voneinander unterscheiden konnte.

Sie hörte, wie die Wohnungstür leise geöffnet und ebenso leise wieder ins Schloß fiel. Wenige Sekunden später fiel die Haustür zu.

Mit einer Behendigkeit, die niemand ihr zugetraut hätte, war die alte Darhe aus dem Bett, lief zum Fenster. Ihr kleines Zimmer lag zur Straße hinäus, sie konnte von hier aus zwar nicht die Haustüre, aber den Vorgarten und die Straße überblicken. Sie sah den jungen Mann mit dem Köfferchen in der Hand ganz deutlich im Licht der Laterne. Er blickte sich um, warf einen Blick zu den Fenstern im Erdgeschoß — blitzschnell zog Frau Miller ihren Kopf hinter den Vorhang zurück.

Der junge Mann winkte — hatte er sie gesehen? Nein, wahrscheinlich nicht. Er winkte Gina zu, die sicher vom Wohnzimmer aus auf die Straße hinab sah.

Dann ging er mit raschen Schritten davon, verschwand in der Dunkelheit.

Die alte Dame fühlte Verachtung für Gina, Mitleid für ihren Sohn, aber auch ein süßes Triumphgefühl. So hatte es kommen müssen! Wenn Thomas auf sie, seine Mutter gehört hätte, wäre ihm das gewiß erspart geblieben.

[55]

Thomas Miller kam am Abend des nächsten Tages heim. Gina begrüßte ihn stürmisch. Frau Miller ging in die Küche, um das Abendessen zuzubereiten. Gina machte keine Anstalten, ihr dabei zu helfen. Sie wich keinen Schritt von der Seite ihres Mannes, während er sich wusch, eine bequeme Hausjoppe anzog.

»Ich bin so froh, daß du wieder da bist, Thomas«, sagte sie, »ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin!«

»War es denn so schrecklich?« fragte er neckend.

»Ja,«, sagte sie ernsthaft, »ganz schauderhaft. Ich hab’s zu Hause einfach nichtmehr ausgehalten. Stell dir vor, alles ist mir fremd geworden, in dieser kurzen Zeit! Ich gehöre einfach nicht mehr dorthin.«

»Das wäre ja auch noch schöner. Schließlich bist du meine Frau. Für dich gibt es nur einen einzigen Platz auf der Welt.«

»Hast du mich auch vermißt? Wenigstens ein bißchen?«

Er lächelte ihr im Spiegel zu. »Viel mehr, als ich geglaubt hatte.«

»Ist das wahr?« Sie trat nahe an ihn heran.

»Ja«, sagte er, »und wenn du es genau wissen willst: Es tut mir riesig leid, daß ich dich nicht mitgenommen habe!«

»Oh, Thomas!« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte ihr Gesicht an seine Brust.

Der frische Duft ihres Haares stieg ihm in die Nase. »Eigentlich wollte ich dir diesen Triumph gar nicht gönnen«, sagte er, »aber, na ja, der Wahrheit die Ehre!« Er legte ihr seine Hand unter das Kinn, so daß sie ihn ansehen mußte. »Aber halte es mir nie vor, wenn ich bitten darf!«

»Was hältst du von mir!« sagte sie und versuchte, die Gekränkte zu spielen, während ihr das Glück aus den Augen strahlte. »Ich habe mich genauso dumm benommen wie du! Es tut mir so leid, daß ich dir wegen dieser Reise Szenen gemacht habe!«

»Na also. Dann sind wir ja fast quitt.«

»Wir wollen uns nie wieder streiten, Thomas, ja? Es ist so furchtbar allein zu sein!«

»Es liegt nur an dir, Gina.«

»Nicht nur! Auch du warst …«

»Willst du schon wieder recht haben?«

»Entschuldige«, sagte sie zerknirscht, »ich gebe zu, ich bin ein furchtbares, zanksüchtiges, rechthaberisches Frauenzimmer: Und du bist ein wahrer Engel in Mannesgestalt! Jetzt zufrieden?«

»Du, wenn du mich auf den Arm nehmen willst!«

»Aber gar nicht«, sagte sie, spitzbübisch lächelnd, »ich sag doch bloß, was du hören möchtest.« Sie gab ihm einen Nasenstüber.

Er versuchte, sie zu fangen, aber sie lief ihm davon. Schließlich gelang es ihm natürlich doch, sie stolperten beide, fielen über das Bett.

Er hielt sie ganz fest in den Armen. »Gina«, flüstérte er, »meine kleine süße Gina. Bin ich denn wirklich so ein Schuft?«

»Ja«, sagte sie, »ja, das bist du. Aber ich liebe dich von ganzem Herzen!«

Ihre Lippen berührten sich, trafen sich in einem berauschenden Kuß. Gina schloß die Augen. Alle Angst, alle Zweifel sanken zurück. Nichts blieb mehr als das große Glück ihrer Liebe.

Sie fuhren auseinander, als an die Schlafzimmertür geklopft wurde.

»Das Abendessen steht auf dem Tisch«, sagte Frau Miller draußen mit einer Stimme, der die Mißbilligung deutlich anzuhören war.

»Wir kommen!« rief Thomas.

Er zog eine kleine Grimasse, und Gina lachte glücklich — sie spürte, daß er zum ersten Mal ganz auf ihrer Seite stand.

Sie sprang auf, zog ihn an der Hand auf die Beine. »Schnell, wir wollen Mama nicht ungeduldig machen!«

Das Abendbrot verlief in seltsamer Stimmung. Thomas und Gina plauderten und lachten, Frau Miller blieb stumm, abweisend, obwohl beide immer wieder versuchten, sie in ihre Unterhaltung zu ziehen.

»Darf ich dich bitten, Gina, den Tisch abzudecken und das Geschirr zu spülen?« fragte Frau Miller formell, als die Mahlzeit beendet war.

Thomas spürte Ginas Unlust, er sagte rasch: »Ich werde dir helfen, Liebling. Zu zweien schaffen wir es eins, zwei, drei!«

»Bitte, nicht, Thomas«, sagte seine Mutter; »ich habe mit dir zu sprechen.«

»Das klingt ja so feierlich! Was ist denn los?«

Frau Miller warf einen Blick auf ihre Schwiegertochter, und Gina sagte sofort: »Eine Sekunde, ich bin gleich draußen!«

Frau Miller schwieg, bis Gina den Tisch abgeräumt und die Küchentür hinter sich geschlossen hatte.

»Du benimmst dich sehr sonderbar, Mama«, sagte Thomas ärgerlich, »möchtest du mir nicht endlich erklären, was du auf dem Herzen hast?«

»Es ist leider etwas sehr«, Frau Miller räusperte sich, »Unangnehmes!«

»Komm, komm!« sagte er ungeduldig. »Ich bin kein Kind mehr, das man erschrecken kann! Sag, was du zu sagen hast!«

»Thomas, deine Frau betrügt dich!«

Gina war dabei, Teller und Tassen abzutrocknen, als Thomas in die Küche stürmte.

»Ah, hat deine Mama dich schon entlassen?« begann sie neckend. Aber als sie den Ausdruck seines Gesichtes sah, blieb ihr das Wort im Halse stecken.

Er kam auf sie zu, als ob er sie schlagen wollte, und unwillkürlich hob sie die Arme schützend vor das Gesicht.

Ein Teller entfiel ihrer Hand, zerbrach klirrend auf dem Boden.

Er riß ihr die Arme herunter, packte sie, schüttelte sie, brüllte: »Gina! Wie konntest du!?«

»Ich weiß gar nicht, von was du sprichst«, stammelte sie hilflos.

»Du Lügnerin! Du infame niederträchtige Lügnerin!«

»Laß mich los!« rief sie verzweifelt. »Was willst du denn von mir?«

Er schleuderte sie auf einen Stuhl, sah voll Ekel auf sie herab. »Mein Gott«, sagte er erschüttert, »mein Gott, wie ist es möglich, daß ich jemals auf dich hereingefallen bin!«

Wenn er ruhig mit ihr ge5prochen hätte, würde sie wahrscheinlich alles gesagt, die ganze Wahrheit gestanden haben. Aber daß er sie verurteilte, ohne sie erst anzuhören, erweckte Trotz und wilde Abwehr in ihr. Er war für sie ein Fremder, mit dem sie nichts verband. Wolfi, der Bruder, stand ihrem Herzen in diesen Minuten näher, viel näher, und sie hatte nur den einen Wunsch, ihn gegen diesen bösen Menschen zu schützen, ihm den Vorsprung zu ermöglichen, um den er sie so dringend gebeten hatte.

»Sprich dich nur aus«, sagte sie zornig, »du hast dir ja seit eh und je das Recht herausgenommen, mich zu beschimpfen!«

»Du Hure!« schrie er außer sich. »Du wagst es noch, so mit mir zu reden, nachdem du mich betrogen hast?!«

Sie rieb sich die schmerzenden Arme. »Du mußt verrückt sein, wenn du so etwas glaubst«, sagte sie kalt.

»Ich glaube es nicht, ich weiß es! Mama hat dich von Anfang an durchschaut!«

»Ach ja, die Mama«, sagte Gina ironisch. Sie warf das Küchentuch mit Scthng auf das Spülbecken, schlug die Arme übereinander und sah ihn herausfordernd an.

Sie sah schöner aus denn je, ihre großen Augen wirkten schwarz vor Erregung, ihre Wangen glühten, und ihr honigblondes Haar schimmerte im Schein der Küchenlampe. Ihre Schönheit, die er als eine böse Herausforderung empfand, schmerzte ihn mehr als ihre kalten Worte. Er begriff, daß er so nicht weiterkam, daß er sich beruhigen mußte, wenn er sie zu einem Geständnis bringen wollte.

Er holte tief Atem, ballte die Fäuste, preßte die Nägel in die Handflächen, daß es schmerzte. »Du leugnest also?« fragte er mit erzwungener Ruhe.

»Ja!« Es klang wie eine Herausforderung.

»Möchtest du mir dann, bitte, erklären, wieso du schon am Sonntag abend nach Hause gekommen bist?«

Ihr Gesichtsausdruck wechselte, wurde betroffen. »Sogar das scheint dir jetzt verdächtig? Was bist du für ein armseliger Mensch, Thomas!«

»Lenk nicht ab! Ich will eine klare Antwort haben!«

»Aber das weißt du doch«, sagte sie müde, »ich bin zurückgekommen, weil mir zu Hause alles so verleidet war. Das habe ich dir doch schon erzählt!«

»Nicht etwa, weil du eine Verabredung hattest?«

»Mit wem? Möchtest du mir das vielleicht sagen? Ich kenne ja kaum einen Menschen in München!«

Er zog es vor, diese Frage nicht zu beantworten. »Warum hast du Mama fortgeschickt? Warum hast du dich geweigert, sie zu begleiten?«

»Ist das alles, was du gegen mich vorzubringen hast?«

»Warum hast du die Schlafzimmertür abgeschlossen, genau in dem Moment, als Mama die Wohnung betrat?«

»Dreimal darfst du raten«, sagte sie böse.

»Bilde dir nur nicht ein, daß diese Frechheit dir irgend etwas nutzt!« brüllte er, merkte im gleichen Augenblick, daß er schon wieder über das Ziel hinausschoß und rang um Fassung. »Mama hat alles gehört, wie du mit diesem Kerl geflüstert, wie du ihn mitten in der Nacht aus der Wohnung gelassen hast!«

»Sie scheint einen schlechten Traum gehabt zu haben«, erwiderte Gina eisern.

»Sie hat ihn sogar gesehen, verstehst du? Gesehen!«

Gina dachte blitzschnell nach. Sie hatte kein Licht gemacht, als sie Wolfi hinausgebracht hatte, und die Türe von Frau Millers Zimmer hatte sich auch um keinen Spaltbreit geöffnet, dessen war sie sich ganz sicher.

»Sie leidet an Halluzinationen«, sagte sie, »wie wär’s, wenn du sie mal zu einem guten Irrenarzt schicken würdest?«

»Sie hat ihn gesehen. Ganz deutlich. Im Licht der Laterne!«

Gina hob die Augenbrauen. » Seit wann haben wir Laternen in der Wohnung?«

»Draußen, vor dem Haus, auf der Straße!«

»Ach so!« Gina zuckte die Achseln. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Daß sie einen Mann auf der Straße gesehen hat, ist natürlich durchaus möglich. Nur, hier aus der Wohnung gekommen ist er eben nicht! Wie sollte er auch?«

»Du leugnest also?«

»Ja.« Gina erhob sich. »Aber ich weiß natürlich, daß es sinnlos ist. Du glaubst deiner verehrten Mama doch mehr als mir.«

»Warum sollte sie sich so etwas ausdenken?«

»Ja, warum wohl?« fragte sie spöttisch. Sie nahm Kehrblech und Handfeger und begann die Scherben vorn Küchenboden zusammenzufegen.

Plötzlich wurde Thomas unsicher. Ohne daß er es gemerkt hatte, war seine Wut verraucht. Wenn seine Mutter sich nun doch geirrt, wenn er Gina unrecht getan hatte? Er empfand keine Erleichterung bei diesem Gedanken, dazu war er schon zu weit gegangen, sondern nur ein peinigendes Gefühl tiefer Beschämung.

»Gina«, sagte er mit veränderter Stimme, »Gina, kannst du mir schwören, daß du unschuldig bist?«

»Ich könnte es«, sagte sie, »aber ich werde es nicht tun. Wenn ich heilige Eide schwören muß, damit du mir glaubst.« Sie ließ die Scherben in den Müllschlucker gleiten, der sie ratternd verschlang.

»Gina«, sagte er mühsam, »und wenn ich dich nun um Entschuldigung bitte?«

Sie erschrak, spürte, daß jetzt der Moment gekommen war, wo sie die Wahrheit sagen mußte. Aber sie hatte soviel für ihren Bruder getan — sie konnte ihn doch jetzt nicht verraten!

»Nein«, sagte sie starrsinnig, »das möchte ich nicht. Es käme dir nicht aus dem Herzen, und dann, es gibt Dinge, die einfach nicht mehr gutzumachen sindl«

»Gina, hör mal! Ich glaube, ich habe mich wie ein Idiot benommen! Natürlich ist Mama eifersüchtig.«

»Das hättest du dir alles früher überlegen sollen«, sagte sie eisig, »jetzt habe ich nur noch eine Bitte: laß mich allein. Ich mag nicht mehr mit dir reden. Und ich mag dich auch nicht mehr sehen.«

Er sah sie an, und sein Blick zerschnitt ihr das Herz. »Ist das dein letztes Wort?«

»Ja«, sagte sie mühsam.

Er drehte sich um und verließ die Küche.

Minunten lang stand sie wie betäubt. Dann sank sie auf einen Stuhl, legte den Kopf auf den Küchentisch und begann bitterlich zu weinen.

[56]

Thomas hatte die Wohnung verlassen. Er kam in dieser Nacht nicht nach Hause.

Den ganzen nächsten Tag blieb Gina mit ihrer Schwiegermutter allein. Zwischen den beiden Frauen war eisige, unverhüllte Feindschaft zum Ausbruch gekommen. Sie sprachen nicht einmal mehr das Nötigste zusammen, waren beide krampfhaft bemüht, einander aus dem Wege zu gehen, was in der kleinen Wohnung, in der sie gemeinsam die Küche und das Bad benutzen mußten, gar nicht so einfach war.

Am Nachmittag hielt Gina es nicht länger aus. Sie verließ das Haus, ohne Frau Miller zu sagen, was sie vorhatte. Tatsächlich wußte sie es selber nicht. Sie wollte nichts als fort, mit sich allein sein, dieser erstickenden Atmosphäre entfliehen.

Frau Miller blieb allein zurück. Sie hatte viel Zeit nachzudenken. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, ob es nicht doch falsch gewesen war, Thomas ihre Beobachtungen zu erzählen. Wäre es nicht besser gewesen, erst mit Gina zu reden?

Nein, nein, versuchte sie sich zu beruhigen, dieses Kind ist zu verlogen. Ich hätte bestimmt kein wahres Wort aus ihr herausgebracht. Und Thomas mußte es doch wissen. Niemand kann von mir verlangen, daß ich ruhig mit ansehe, wie er belegen und betrogen wird.

Sie machte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich ins Wohnzimmer, schaltete den Femsehapparat an, drehte ihn wieder aus. Sie war sehr unruhig.

Als das Telefon klingelte, tat ihr Herz ein paar schnelle schmerzhafte Schläge. Eine Sekunde lang fürchtete sie, daß Gina sich etwas angetan haben könnte und daß ein Polizeibeamter sie jetzt anrief, um ihr das schonend beizubringen.

Aber das war natürlich Unsinn. Sie ärgerte sich über ihre eigene Nervosität, ging zum Schreibtisch und nahm den Hörer ab.

»Hier spricht Dr. Lowitzer«, sagte eine männliche Stimme am anderen Ende der Leitung, »könnte ich, bitte, meine Tochter sprechen?«

»Gina?«

»Ja, bitte.«

»Es tut mir sehr leid, Herr Doktor«, sagte Frau Miller, »aber Gina ist fortgegangen. Ich weiß auch nicht, wann sie zurückkommt. Sie hat mir nichts gesagt.«

Einen Augenblick herrschte Stille. Dann sagte Dr. Lowitzer: »Spreche ich mit der Mutter meines Schwiegersohnes?«

»Ja, ich bin am Apparat.«

»Ich habe noch nicht die Ehre gehabt, Sie kennenzulernen, gnädige Frau, aber wenn ich Sie trotzdem etwas fragen darf?«

»Ja, bitte.«

»Wissen Sie zufällig, ob mein Sohn Wolfgang dieser Tage in München war?«

»Nein!« erwiderte Frau Miller erstaunt. Plötzlich begann sie die Zusammenhänge zu ahnen. »Jedenfalls habe ich ihn nicht gesehen.«

»Er, es ist möglich, daß er versucht hat, seine Schwester Gina heimlich aufzusuchen«, erklärte Dr. Lowitzer mit Überwindung.

Frau Miller hielt es für das Beste, sich ahnungslos zu stellen. »Heimlich? Aber warum denn?«

»Es ist etwas sehr Unangenehmes passiert. Einer seiner Kameraden ist bei einer Bergtour verunglückt. Wolfgang trug, zumindest indirekt, eine gewisse Schuld daran. Daraufhin hat er die Nerven verloren und ist davongerannt. Wir, meine Frau und ich, glaubten, er würde, wenn er sich erst beruhigt hätte, von selber zurückkommen. Aber da inzwischen drei Tage vergangen sind, fürchte ich, daß wir die Polizei benachrichtigen müssen.«

»Wie entsetzlich!«

»Ja. Es ist sehr unangenehm. Er war ganz ohne Mittel. Halten Sie es für möglich, daß er sich von Gina Geld, vielleicht auch andere Kleider hat geben lassen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Frau Miller, »aber warten Sie, das müßte sich doch feststellen lassen! Ich könnte die Anzüge meines Sohnes durchschauen! Wenn irgend etwas fehlt …«

»Ach, das wäre wirklich sehr liebenswürdig, wenn Sie sich diese Mühe machen wollten!«

»Gut, ich werde es versuchen. Ich rufe zurück, wenn ich etwas herausgebracht habe.«

»Ja, bitte! Tun Sie das in jedem Fall!«

[57]

Rechtsanwalt Dr. Thdmas Miller und sein Sozius Dr. Jahn hatten in ihrer Kanzlei eine Besprechung über eine komplizierte juristische Frage, als eine der Sekretärinnen Thomas über das Haustelefon verständigte, daß Gina im Vorzimmer säße und ihn zu sprechen wünschte.

»Meine Frau?« sagte Thoma’s übermmpelt. »Aber, nein, bitte, sagen Sie ihr, daß ich jetzt zu tun habe. Es hat auch keinen Zweck zu warten, ich …«

Dr. Jahn griff über den Schreibtisch und nahm ihm den Hörer aus der Hand. »Bitte, Fräulein Hellmer, lassen Sie Frau Miller hereinkommen, sagen wir in drei Minuten, ja?« Er legte den Hörer auf.

»Was fällt dir ein?« sagte Thomas zornig. »Wer gibt dir das Recht, dich in meine Privatangelegenheiten zu mischen?! Ich will Gina nicht sehen, ich habe nicht das geringste Interesse.«

Dr. Jahn fiel ihm ins Wort. »Du scheinst zu vergessen, daß du verheiratet bist, mein Junge. Man kann sich seinen Verpflichtungen nicht entziehen, indem man sich tot stellt!«

»Wenn du ahntest!«

»Oh, ich ahne eine ganze Menge. Ihr habt euch gestritten, nicht wahr? Du bist letzte Nacht nicht nach Hause gegangen! Woher ich das weiß? Nun, ich habe so meine Späher.«

»Es war mehr als ein Streit!«

»Um so dringender ist es, die Sache so schnell wie möglich wieder beizulegen. Gina scheint mir klüger zu sein als du. Sie hat sich jedenfalls durchgerungen, den ersten Schritt zu tun.«

»Oder sie will sich scheiden laseen.«

»Dann ist es noch wichtiger, sie jetzt anzuhören. Es gibt eine Menge Möglichkeiten, eine Ehe gut oder schlecht zu gestalten. Auf Eis legen kann man sie jedenfalls nicht.« Dr. Jahn erhob sich. »Also nimm dich zusammen, Thomas.«

»Du willst mich doch nicht mit ihr allein lassen?«

»Ich werde zu euch stoßen, falls du meinen juristischen Beistand benötigst.«

Thomas war ebenfalls aufgestanden, tat einen raschen Schritt auf ihn zu. »Nein, bitte, bleib! Ich, ich möchte nicht mit ihr allein sein, wirklich nicht! Sei mein Zeuge, Bitte!«

»Na ja«, sagte Dr. Jahn, »ich halte das zwar …«

In diesem Augenblick wurdenach kurzem Anklopfen die Türe geöffnet, und Fräulein Hellmer, die Sekretärin, ließ Gina herein.

Beide Männer starrten sie an.

Gina hatte ihr reiches blondes Haar hochgesteckt, eine Frisur, die sie älter erscheinen ließ als ihre Jahre. Ihr Gesicht war sehr blaß, die vollen Lippen nur leicht nachgezogen, die schönen grauen Augen tief umschattet. Sie wirkte noch in der Verzweiflung ungeheuer reizvoll und Dr. Jahn trat einen schnellen impulsiven Schritt auf sie zu.

»Meine liebe Gina«, sagte er und drückte ihre schmale kalte Hand, »wollen Sie sich nicht setzen? Sie sehen wunderbar aus, wie ein Frühlingstag. Ein etwas kühler verregneter Frühlingstag zwar, aber ich möchte wetten, daß die Sonne bald wieder durchbrechen wird.«

Gina zwang sich zu einem Lächeln, aber ihre Blicke galten nur ihrem Mann.

»Guten Tag, Thomas«, sagte sie, »ich hoffe, du bist mir nicht böse, daß ich dich hier überfalle. Aber, ich muß mit dir sprechen.«

»Setz dich«, sagte er trocken.

»Wenn es Ihnen nicht allzu viel ausmacht, werde ich dabei bleiben«, sagte Dr. Jahn, »ich habe das Gefühl, Sie können einen seelischen Beistand gegen diesen Burschen brauchen, Gina.«

»Ja, ich weiß eigentlich nicht«, begann Gina unsicher.

»Dr. Jahn bleibt«, bestimmte Thomas. »Also, was hast du zu sagen?«

Gina setzte sich auf den Sessel, den Dr. Jahn ihr zuschob, sie schlug die schlanken Beine übereinander. Sie versuchte, sich zur Ruhe zu zwingen, konnte aber nicht verhindern, daß sich ihre Hände nervös bewegten.

»Deine Mutter hat recht gehabt, Thomas«, sagte sie mit Überwindung, »in jener Nacht war ein Mann in unserer Wohnung, in unserem Schlafzimmer.«

»Gina!« Thomas fuhr in die Höhe.

»Immer mit der Ruhe«, mischte Dr. Jahn sich ein, »laß deine junge Frau doch erst mal aussprechen.«

»Es war Wolfi«, sagte Gina, »mein Bruder. Er, er war auf der Flucht. Er hat mich gebeten, ihn nicht zu verraten, ihm wenigstens einen Vorsprung zu lassen. Deshalb, nur deshalb konnte ich es dir nicht sagen, Thomas. Und dann, du warst auch gleich so furchtbar zornig.«

Thomas warf sich in seinen Stuhl zurück, zündete sich eine Zigarette an. »Eine hochinteressante Geschichte«, sagte er böse.

»Willst du damit sagen, daß ich lüge?«

»O nein. So ein häßliches Wort würde ich niemals im Zusammenhang mit dir auch nur zu denken wagen. Du hast dir diese Geschichte sehr fein zurecht gelegt, meine liebe Gina«, sagte Thomas mit fühlbarer Ironie.

»Wenn du das glaubst«, Gina machte Anstalten sich zu erheben.

»Bitte, bleiben Sie«, befahl Dr. Jahn mit Nachdruck, »ich weiß, daß Sie nicht schwindeln, wenn Ihnen das eine Genugtuung ist. Was könnte Ihnen denn eine Lüge nützen, die so leicht nachzuprüfen ist?« Er bot Gina eine Zigarette an, gab ihr Feuer, sie dankte ihm mit einem warmen Blick.

»Leicht nachzuprüfen, daß ich nicht lache!« rief Thomas. »Gina hatte inzwischen Gelegenheit genug, sich mit ihrem Bruder in Verbindung zu setzen.«

»Wolfi ist nicht in Garmisch«, erklärte Gina gefaßt, »du kannst ruhig bei meinen Eltern anrufen. Er ist am Sonntag fortgelaufen.«

»Und er kam zu Ihnen, damit Sie ihm helfen sollten?« fragte Dr. Jahn.

»Ja. Ich habe ihm alles Geld gegeben, was ich hatte und einen alten braunen Anzug von Thomas, ein paar brüchige Lackschuhe und einen Pullover.« Gina hob den Kopf und sah Dr. Jahn herausfordemd an. »Ich mußte das tun. Schließlich ist er ja mein Bruder. Und wenn Frau Miller mir nicht nachspioniert hätte.«

»Bitte, laß Mama aus dem Spiel!« sagte Thomas heftig.

»Sie hat sich ja eingemischt, nicht ich! Sie muß in alles ihre Nase stecken, und sie hatte nichts Eiligeres zu tun, als mich bei dir anzuschwärzen!«

»Das Verhalten der Mama steht hier eigentlich gar nicht zur Debatte«, erklärte Dr. Jahn. »Erzählen Sie uns jetzt erst mal lieber, warum Ihr Bruder ausgerissen ist? Und was ihn bewogen hat, gerade zu Ihnen zu kommen? Und warum Sie nicht auf den Gedanken gekommen sind, Ihre Eltern anzurufen? Die alten Herrschaften müssen sich doch inzwischen furchtbare Sorgen machen.«

»Meine Eltern«, sagte Gina stockend, »haben für so etwas kein Verständnis. Sie haben immer nur gewollt, daß wir uns anständig benehmen und, na ja, und daß sie ihre Ruhe vor uns haben. Sie verstehen sich sehr gut, ja, man kann sagen, sie führen eine glückliche Ehe. Vielleicht kommt es daher, daß sie immer gegen uns waren.« Sie zuckte die Achseln. »Möglicherweise stimmt das auch gar nicht. Aber Wolfi und ich haben es immer so empfunden.«

»Ist er deshalb von zu Hause weg?«

»Nein!« Gina streifte die Asche ihrer Zigarette ab. »Nein, sondern es ist ihm was passiert. Er, er hatte eine Prügelei mit einem anderen Jungen, Frieder Ullmann, seinem Todfeind. Diese Prügelei fand auf einem Felsplateau statt, die Jungen Waren auf einer Bergtour. Dabei ist Ullmann in die Tiefe gestürzt.«

»Aber, das klingt ja wie Mord!« rief Thomas außer sich.

»Nein«, sagte Gina heftig, »er hat es nicht mit Absicht getan, ganz bestimmt nicht! Er wollte es nicht!«

Dr. Jahn fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Ja, verdammt«, sagte er, »das alles ist reichlich unangenehm. Ziemlich scheußlich das Ganze! Verflucht, sind Sie denn nicht auf die Idee gekommen, Thomas zu verständigen?«

»Doch! Das wollte ich ja! Aber Wolfi! Er hat gedroht, sich etwas anzutun! Ich hatte soviel Angst um ihn!«

»Immerhin«, sagte Dr. Jahn unbehaglich, »betrogen hat dich deine Frau also nicht, Thomas. Das hattest du doch eigentlich befürchtet, oder? Ich finde, ihr beide solltet euch jetzt schleunigst aussöhnen. Und dann werden wir in Ruhe überlegen, was in dieser verfahrenen Angelegenheit zu tun ist!«

Aber Gina und Thomas schwiegen, sahen aneinander vorbei.

»Wo wollte denn der Junge hin?« fragte Dr. Jahn.

»Nach Hamburg«, sagte Gina. »Er wollte auf einem Frachter anheuern, versuchen Südamerika zu erreichen.«

»Wahnsinn«, rief Thomas, aber es klang eher resigniert als empört.

»Was hättest du denn an deiner Stelle getan?« fragte Gina wild.

»Ich? Also ich wäre, ach, Unsinn. Nie im Leben wäre ich in eine solche Situation geraten!«

»Ich weiß«, sagte Gina bitter, »weil du unfehlbar bist.«

»Weil ich kein kompletter Idiot bin!« schrie Thomas außer sich. »Wolfi hätte natürlich dableiben müssen, sich stellen, warten, bis die Sache geklärt worden ist. Notfalls seine Strafe hinnehmen wie ein Mann.«

»Großartig«, sagte Gina ironisch.

Er überhörte ihren Einwand. »Und du, du hättest mich verständigen müssen, deine Eltern, am besten sogar die Polizei! Bist du dir eigentlich im klaren darüber, daß du durch deine unverantwortliche Handlungsweise womöglich meine ganze Karriere zerstört hast?!«

»Aber wieso denn? Was hast; du denn damit zu tun?«

»Die Polizei wird deinen Bruder finden, sie wird ihn verhaften, es wird zum Prozeß kommen! Du hast ihm zur Flucht verholfen, du wirst als Zeugin auftreten müssen, wegen Begünstigung angeklagt werden.«

»Halt, halt! Nicht so schnell!« warf Dr. Jahn ein. »Angeklagt werden kann sie nicht. Sie ist ja die Schwester des Täters. Vergiß nicht, die Begünstigung ist straflos, wenn sie von einem Angehörigen gewährt wird!«

»Ja, aber das Gericht kann annehmen und wird wahrscheinlich annehmen, daß ich ihr zu diesem Schritt geraten habe! Kein Mensch wird glauben, daß sie mich beim Auftauchen ihres Bruders nicht verständigt hat!«

»Das sind doch alles Hypothesen, Thomasf«, sagte Dr. Jahn mahnend, »bitte beruhige dich jetzt mal. Nimm dich gefälligst zusammen. So kommen wir ja nicht weiter.« Er nahm den Telefonhörer ab, sagte: »Fräulein Hellmer, stellen Sie doch bitte mal eine Verbindung nach Garmisch her. Wie heißen Ihre Eltern, Gina?«

»Lowitzer.«

Dr. Jahn reichte ihr den Hörer. »Sagen Sie Fräulein Hellmer die Nummer, dann geht es schneller.« Er wandte sich Thomas zu. »Willst du mit deinen Schwiegereltern sprechen?«

»Nein, danke«, sagte Thomas stur, »ich möchte mit dem ganzen Fall so wenig wie möglich zu tun haben.«

»Ein sehr merkwürdiger Standpunkt«, sagte Dr. Jahn ärgerlich.

Sie warteten schweigend, bis die Verbindung hergestellt war. Dann klingelte das Telefon, Dr. Jahn nahm den’Hörer ab, reichte ihn Gina.

»Ja,‘ ich bin’s, Vati«, sagte Gina zaghaft »ich habe, das weißt du schon?«

Sie lauschte, während die beiden Männer sie gespannt beobachteten.

»Ullmann ist nicht tot?« sagte sie schließlich. »Ja, Vati, natürlich, ich weiß, daß das ein Fehler war, aber«, sie schwieg wieder, sagte: »Nach Hamburg! Bitte, verzeih mir, Vati, ich, hoffentlich nicht, Vati, aber ich kann mir nicht vorstellen … ja, bitte, ruf mich an, wenn du etwas erfahren hast!«

»Also, was ist?« fragte Thomas ungeduldig, noch bevor Gina den Hörer aufgelegt hat.

Sie atmete tief durch. »Ullmann lebt«, sagte sie, »es ist kein Strafverfahren gegen Wolfi eingeleitet worden, die Jungen haben ausgesagt, daß es ein Unglücksfall war. Wolfi hatte ihn ja nicht gestoßen. Ullmann ist getaumelt und zurückgewichen, und auf diese Weise ist es passiert. Mein Gott, mir ist ein Stein vom Herzen gefallen!«

»Mir aber auch«, sagte Dr. Jahn, »denn somit wäre ja alles wieder in schönster Ordnung! Mach ein anderes Gesicht, Thomas. Gina hat ja nur aus begreiflicher Schwesternliebe gehandelt, kein Schatten fällt auf deine Karriere!«

»Trotzdem war es unverantwortlich.«

»Stimmt«, sagte Dr. Jahn rasch, »nämlich, daß du sofort das Schlimmste angenommen hast! Also seid nett, Kinder, gebt euch ein Küßchen. Ich bin überzeugt, ihr habt einander nichts vorzuwerfen!«

Gina und Thomas sahen sich an.

»Verzeih mir«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer, »ich, ich dachte ja, du würdest es gar nicht merken. Und dann, ich hätte es dir bestimmt gesagt, wenn du nicht, wenn du nicht gleich so furchtbar zornig gewesen wärest!« Tränen ‘ waren in ihre schönen Augen gestiegen, sie schluckte schwer.

»Gina«, sagte er, »ach Gina, warum nur?« Aber dann nahm er seine Frau ganz fest in die Arme, streichelte sie, küßte ihr die Tränen aus den Augenwinkeln. »Wie dumm wir beide waren, wie furchtbar dumm!«

Aber noch während er sie tröstete, spürte er, daß er dies nie würde vergessen können — die Kaltblütigkeit, mit der sie ihm die Stirn geboten, ihn belogen hatte.

Ich liebe sie, dachte er, ja, leider liebe ich sie. Aber ob ich ihr je wieder ein Wort werde glauben können?

Als Gina und Thomas nach Hause kamen, lief Frau Miller ihnen an der Wohnungstür entgegen.

Sie nahm Gina in die Arme. »Mein armes Kind«, sagte sie, »ich weiß alles.«

»Wir auch, Mama«, erklärte Thomas trocken, »bitte, mach’s nicht zu dramatisch!«

»Aber begreifst du denn nicht, daß wir ihr unrecht getan haben?« rief Frau Miller.

»Na wenn schon!« Thomas hing seinen Mantel in der Garderobe auf. »Das hat sie schließlich nur sich selber zu verdanken!«

Gina, die sich sehr unbehaglich in dieser überraschenden Umarmung fühlte, versuchte, sich zu befreien. »Thomas hat ganz recht, Mama«, sagte sie, »ich habe mich sehr dumm benommen.«

»Du bist mir also nicht mehr böse?«

»Nein, bestimmt nicht, Mama«, behauptete Gina, aber es klang nicht sehr überzeugend, »es war ja meine Schuld.«

Frau Miller sah von Gina auf Thomas, von Thomas wieder zurück auf Gina. Sie hätte zu gerne herausbekommen, wie die Dinge zwischen den beiden standen. »Ihr seid schon seltsam, ihr jungen Leute«, sagte sie endlich seufzend, »aus euch soll einer klug werden.«

»Versuch’s erst gar nicht, Mama«, sagte Thomas und gab seiner Mutter einen flüchtigen Kuß auf die Stirn.

»Es ist also alles wieder zwischen euch in Ordnung?«

»Ja, Mama, wir haben uns versöhnt«, sagte Gina und warf einen raschen flehenden Blick zu Thomas.

Aber er beachtete sie nicht. Er trat ins Wohnzimmer, blieb erstaunt stehen, als er Wolfis Bundhose und seinen Anorak auf einem Sessel sah. Daneben standen seine schweren Bergstiefel. »Was ist denn das?« fragte er, obwohl er die Antwort schon im gleichen Augenblick selber wußte.

»Wolfis Sachen«, erklärte Gina rasch. »Hast du sie zufällig auf dem Boden gefunden, Mama?«

»Nein. Ich habe danach gesucht. Nachdem dein Vater mir die Situation erklärt hatte.«

»Ach so!« Gina nahm die Kleidungsstücke auf, wußte nicht recht, wohin damit, hielt sie unschlüssig auf dem Arm.

»Pack sie in einen Karton und schick sie nach Garmisch«, riet Thomas, »je eher das Zeug aus dem Haus ist, desto besser. Ich wünsche, daß über diesen Fall in Zukunft so wenig wie möglich geredet wird.« Er zog sich ins Schlafzimmer zurück, um sich umzuziehen.

Sein unfreundlicher Ton trieb Gina die Tränen in die Augen.

»Der arme Junge«, sagte Frau Miller, »wo er jetzt wohl stecken mag! Wie alt ist er eigentlich?«

»Fünfzehn.«

»Ein halbes Kind noch! Ich hatte ihn für wesentlich älter gehalten!«

»Ja, er ist sehr groß«, sagte Gina mühsam.

Sie lief in die Küche, um diesem Gespräch zu entrinnen.

Aber Frau Miller kam ihr nach, holte einen Karton aus der Besenkammer. »Der hier wird gehen.« Sie half Gina, die Sachen zu verpacken. »Der arme Junge«, sagte sie wieder, »er muß immer noch glauben, daß sein Freund tot ist. Und daß er die Schuld daran trägt! Wir müssen beten, daß er so bald wie möglich gefunden wird.«

»Ja«, sagte Gina, »hoffentlich!« Sie sah ihre Schwiegermutter aus großen Augen an. Erst jetzt fiel ihr siedendheiß auf die Seele, daß sie Wolfi, anstatt ihm zu helfen, in diese verzweifelte Situation getrieben hatte. »Mein Gott«, sagte sie ganz erschüttert.

Zum ersten Mal begriff Frau Miller, was in dem jungen Mädchen vorging. »Du hast es gut gemeint«, sagte sie rasch, »du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Gina.«

»Ich habe mich wie eine Idiotin benommen!«

»Nein. Du hast dich von seiner Verzweiflung einstecken lassen. Wenn du nur ein bißchen mehr Vertrauen zu mir gehabt hättest.«

»Zu dir?!« sagte Gina ganz verblüfft.

Frau Miller errötete leicht unter ihrem Blick. »Ja, ich weiß, ich, du hattest wirklich keinen Grund mir zu vertrauen. Du mußtest mich für schrecklich voreingenommen halten. Aber ich bin eine alte Frau, Gina, es ist mir sehr schwergefallen umzulernen. Aber von nun an soll alles anders werden, ja?«

»Natürlich, Mama«, sagte Gina.

Was hätte sie ihf sonst auch antworten können? Daß ihr die so plötzlich erwachte Sympathie ihrer Schwiegermutter ganz gleichgültig war? Daß sie sie nicht einmal für echt hielt? Daß sie sich nichts wünschte, als mit Thomas allein zu bleiben, ihn wieder versöhnen zu können, ihn ganz zurückzuerobern?

Es war unmöglich, der alten Dame das an den Kopf zu schleudern, unmöglich und völlig sinnlos. Gina begriff, daß sie im Kampf um die Liebe ihres Mannes ganz allein stand.

[58]

Zwei Tage später wurde Wolfgang Lowitzer völlig abgerissen in St. Pauli, wo er sich durch Gelegenheitsarbeiten über Wasser zu halten versucht hatte, aufgegriffen und auf die Davidswache gebracht. Auf Grund der Vermißtenanzeige, die sein Vater aufgegeben hatte, konnte er identifiziert werden und wurde kurz darauf per Schub nach München gebracht.

Er kam nicht mehr nach Hause. Dr. Lowitzer nahm ihn beim Polizeipräsidium in Empfang und brachte ihn in ein strenges Internat in Niederbayern.

Gina erfuhr noch am gleichen Tage durch einen Anruf ihrer Mutter davon. Wolfi tat ihr leid, denn sie wußte, wie sehr er das Eingesperrtsein haßte. Dennoch fiel ihr ein Stein vom Herzen, weil alles noch so glimpflich abgelaufen war.

Es hätte ja viel schlimmer kommen können. Wenn es Wolfi tatsächlich gelungen wäre, wie er vorgehabt hatte, auf einem Frachter anzuheuem und sich vielleicht jahrelang in der Welt herumgetrieben hätte, ohne zu erfahren, daß Ullmann lebte — nicht auszudenken!

Frau Miller freute sich mit ihr. Aber als sie am Abend ihrem Mann von dieser Entwicklung der Dinge berichtete, hörte er kaum zu.

»Aber, Thomas!« rief sie verständnislos. »Interessiert dich das denn gar nicht?«

»Ehrlich gestanden nein«, sagte er kalt. »Je weniger du mich an diese Geschichte erinnerst, desto besser.«

Sie ertrug es nicht. »Manchmal glaube ich, dir tut es direkt leid, daß ich dich nicht betrogen habe«, sagte sie wild, »dann hättest du wenigstens einen Grund gehabt, mich hinauszuwerfen!«

»Aber, Gina!« rief Frau Miller entsetzt. »Wie kannst du so etwas über die Lippen bringen?«

Gina drehte sich zu ihr um. »Weil es wahr ist! Sieh dir Thomas doch mal an! Er hält es ja nicht einmal für nötig zu widersprechen!«

»Mit Verrückten diskutiere ich nicht!« Thomas erhob sich und verließ das Zimmer.

Beide Frauen starrten ihm nach.

Dann sprang Frau Miller auf, lief hinter ihm her. »Thomas, was hast du denn vor? Gina hat es doch gar nicht gemeint.«

»Laß mich«, erwiderte er hart, »ich gehe!«

»Wir wollten uns doch das Fernsehspiel zusammen ansehen!«

»Dazu braucht ihr mich nicht! Leb wohl!«

Gina hörte die Türe hinter ihm ins Schloß fallen. Sie stand mit zusammengebissenen Zähnen auf, begann den Abendbrottisch abzuräumen.

Frau Miller kam zurück, half ihr. »Was ist bloß in den Jungen gefahren?« sagte sie kopfschüttelnd.

»Das ist nicht schwer zu erraten«, sagte Gina, »er liebt mich nicht mehr. Ich gehe ihm auf die Nerven.«

»Jeder Mann braucht auch mal ein bißchen Freiheit«, versuchte Frau Miller zu trösten, »du darfst nicht gleich zu schwarz sehen.«

»War denn das so schlimm, was ich ihm gesagt habe?« rief Gina und stellte, das Tablett mit dem Geschirr mit einem Knall auf die Küchenbar. »Er hat mich doch dazu getrieben.« Sie konnte nicht weitersprechen, hatte Mühe, die aufsteigenden Tränen zu bekämpfen.

»Wahrscheinlich hat er nur einen Vorwand gesucht, um Von zu Hause wegzukommen«, erklärte Frau Miller weise. »Mein Mann machte das auch manchmal so.«

Gina schluckte. »Glaubst du?«

»Es kommt mir ganz so vor. Er wußte, daß wir uns auf diesen Abend gefreut hatten. Aber ihm wird irgendeine andere Verabredung dazwischen gekommen sein. Da er fürchtete, wir würden das nicht verstehen, suchte er nach einem Anlaß zu einem Krach. Und den hast du ihm ja auch gegeben.«

»Er war seit, seit damals nur zweimal abends zu Hause«, sagte Gina.

»Stimmt«, gab Frau Miller zu. »Das ist wirklich ein bißchen wenig. Aber nimm es nicht so schwer. In jeder Ehe gibt es mal Krisen. Wir wollen ihm keine Vorwürfe machen, sondern uns bemühen, ganz besonders lieb und nett zu ihm zu sein. Dann wird er am ehesten wieder zur Vernunft kommen.«

Aber dieses oft erprobte Rezept half in diesem Fall nichts. In den nächsten Wochen wurde immer deutlicher, daß Thomas das Zusammensein mit Gina und seiner Mutter so weit wie eben möglich mied. Er kam immer seltener nach Hause, schützte Arbeit vor, geschäftliche Besprechungen, und wenn er wirklich einmal blieb, war er wortkarg und geistesabwesend. Seine Anwesenheit war fast noch quälender für Gina als sein Fernbleiben.

Sie war oft nahe daran, auf und davon zu laufen. Aber wohin sollte sie denn gehen? Zu ihren Eltern? Sie hätten ihr bestimmt keinen freudigen Empfang bereitet.

Wenn sie wenigstens etwas gelernt hätte, so daß sie sich auf eigene Füße hätte stellen können! Zum ersten Mal bereute Gina, die Schule nicht beendet zu haben. Mit dem Abitur in der Tasche hätte vielleicht schon manches anders ausgesehen, aber so!

Sie zergrübelte sich Tag und Nacht den Kopf darüber, bis ihr endlich etwas einfiel. Sie entschloß sich, bei der nächsten Gelegenheit mit Thomas darüber zu sprechen.

[59]

Diese Gelegenheit kam an einem Samstag.

Thomas war erst am späten Nachmittag nach Hause gekommen, aber hatte keine Andeutung darüber gemacht, daß er noch etwas vorhatte. Er zog seine Hausjoppe an, begann in einem dicken Stoß Zeitungen zu lesen, die er sich mitgebracht hatte.

Gina brannte darauf, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Aber während er las, wagte sie ihn nicht zu stören. Nicht daß sie Angst vor ihm gehabt hätte, aber sie wußte, daß er es übel aufnehmen würde, wenn sie ihn in seiner Lektüre unterbrach, und sie brauchte für dieses Gespräch ein möglichst günstiges Klima.

Erst zum Abendessen legte er die Zeitungen aus der Hand.

»Hör mal, Thomas«, begann Gina zaghaft.

Er ging nicht darauf ein, schien angelegentlich damit beschäftigt sein Toastbrot mit Butter zu bestreichen.

»Gina möchte dir etwas sagen«, half Frau Miller, die wußte, was Gina auf dem Herzen hatte.

Thomas tat erstaunt. »Warum tut sie es dann nicht?«

»Weil ich möchte, daß du mir wirklich einmal zuhörst«, sagte Gina.

»Na schön. Ich bin ganz Ohr.«

»Ich möchte etwas lernen, Thomas!«

»Ich denke, das tust du bei Mama?«

»Ich spreche jetzt nicht vom Haushalt, ich denke an etwas ganz anderes einen Beruf, mit dem ich Geld verdienen kann!«

»Wozu? Soll das heißen, daß ich dich zu knapp halte?«

»Aber, Thomas, darum geht es ja gar nicht! Es ist nur … ich möchte wie jeder Mensch etwas gelernt haben! Und jetzt hätte ich doch gerade Gelegenheit dazu. Für zwei Frauen ist in unserem kleinen Haushalt wirklich nicht genug zu tun, ich habe schon mit Mama darüber gesprochen.«

»Ah so?« sagte er. »Na, dann finde ich es aber reizend, daß du es überhaupt für nötig hältst, mich über deine Pläne zu informieren. Welch unerwarteter Beweis deines Vertrauens!«

»Gina möchte eine Handelsschule besuchen«, sagte Frau Miller, »und ich halte das auch für durchaus richtig. Es ist wirklich zu langweilig für sie, den ganzen Tag zu Hause zu hocken.«

»Jetzt verstehe ich!« rief Thomas mit gespielter Erleichterung. »Sie braucht eine kleine Zerstreuung! Wie wär’s dann mit einer Reise ins Bad? Oder mit dem Eintritt in einen exclusiven Club? Es braucht doch wohl nicht gerade Arbeit zu sein, was du suchst, um deine Zeit totzuschlagen?«

Gina sprang auf. »Oh, Thomas«, rief sie, »warum bist du so gemein? Was habe ich dir denn getan, daß du so mit mir sprechen mußt!«

»Bitte, setz dich, Gina«, sagte Frau Miller, »beruhige dich. Aber ich finde auch, Thomas, du benimmst dich ziemlich unmöglich!«

»Wie schön, daß ihr beide euch wieder einmal einig seid!«

»Ich weiß, daß du mich loshaben willst, Thomas«, sagte Gina, »du zeigst mir ja deutlich genug, wie sehr du es bereust, mich geheiratet zu haben. Und glaub mir, ich würde heute noch gehen, wenn ich nur wüßte wohin! Aber ich habe keinen Pfennig Geld, und gelernt habe ich auch nichts! Deshalb, nur deshalb will ich lernen, um dir nicht ein ganzes Leben zur Last zu fallen.«

Er war jetzt doch betroffen. »Gina«, Sagte er, »aber, Gina, was ist dir da bloß eingefallen?«

»Lüg mich nicht an«, rief sie wild, »es hat keinen Sinn mehr!«

Frau Miller spürte, daß es besser war, die beiden jetzt allein zu lassen. Sie ging lautlos aus dem Zimmer.

»Gina«, sagte er, »Gina, ich, du mußt mir glauben, ich, ich bereue gar nichts!«

»Das ist ja nicht wahr!«

»Nun, ich will ehrlich sein, ich hatte mir unsere Ehe anders vorgestellt. Deine Lügen, deine Unbedachtheit, diese blödsinnige Geschichte mit deinem Bruder, das alles hat mich sehr geschmissen, äber, du mußt mir einfach ein bißchen Zeit lassen, damit fertig zu werden.«

»Ja, so stellst du dir das vor! Und ich, deine demütige Magd, soll derweilen still und bescheiden warten, daß der gnädige Herr sich wieder zu mir herabneigt!«

Sie war so schön in ihrem Zorn, glühend, wild, hemmungslos, daß der eisige Panzer, der sich um sein Herz gelegt hatte, zu schmelzen begann.

»Ach, Gina«, sagte er, »Gina, warum machen wir beide es uns nur so schwer. Komm, gib mir einen Kuß!«

»Da kannst du lange warten!« rief sie, aber ihr Herz klopfte rascher, weil ihr die Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, nicht entging.

Er sprang auf. »Dann werde ich …« Er wollte nach ihr greifen.

Aber gerade in diesem Augenblick klingelte das Telefon.

Er ließ die Arme sinken, sie sahen sich an.

»Ich gehe ‘ran«, sagte Gina und wollte zum Schreibtisch.

Aber mit einem einzigen großen Schritt vertrat er ihr den Weg. »Nein, laß mich.« Er nahm den Hörer ab, meldete sich. »Ach, du«, sagte er dann nach einer Pause: »Doch, natürlich … nein, schlecht … gerade heute …« Er runzelte die Stirn. »Na schön. Wie du willst. Dann in einer Stunde.« Er legte auf.

»Du mußt fort?« fragte sie maßlos enttäuscht.

»Ja, leider. Ein Klient. Sehr wichtiger Fall.«

»Und du duzt dich mit diesem Klienten?«

Er brauste auf. »Und warum nicht? Willst du mir etwa Vorhaltungen darüber machen, wie ich mit meinen Klienten umzugehen habe!?«

»Ich glaube dir nicht«, sagte sie sehr beherrscht, »das war kein Klient.«

»Von mir aus! Glaub, was du willst!« Er drehte sich um und verschwand im Schlafzimmer.

Sie lief hinter ihm her, erreichte ihn, noch bevor er die Türe zuschließen konnte. »Thomas,‘ ich bitte dich, warum kannst du nicht einen Abend zu Hause bleiben?«

»Es geht nicht«, sagte er, »aber ich schwöre dir: In der nächsten Woche werde ich wieder häufiger nach Hause kommen.«

Sie empfand dieses Versprechen wie einen Schlag ins Gesicht. »Wie ungemein entgegenkommend«, sagte sie kalt, drehte sich auf dem Absatz um und ließ ihn allein.

Er machte eine Bewegung, als ob er ihr nacheilen, sie zurückholen wollte. Dann aber besann er sich anders, trat vor den Spiegel und begann sich umzuziehen.

[60]

Gina ertrug es bis gegen zehn Uhr. Aber das Fernsehspiel rauschte an ihr vorüber, ohne daß sie überhaupt begriff, was sich vor ihren Augen abspielte.

Immer wieder rief sie sich das Gesicht ihres Mannes, seine Worte während ihrer letzten Auseinandersetzung ins Gedächtnis Zurück. Unabwendbar war die Gewißheit in ihr erstanden, daß er sie betrog.

Ja, es konnte nicht anders sein. Nur so wären sein dauerndes Fernbleiben, seine Lieblosigkeit, wenn er zu Hause war, seine Unduldsamkeit, seine Kühle zu erklären.

Er liebte eine andere Frau.

Wenn das aber wirklich so war, dann waren ihre ganzen früheren Überlegungen sinnlos geworden. Dann mußte sie fort von ihm, ihn für immer verlassen. Sie konnte nicht länger als ein lästiges Anhängsel bei ihm bleiben, als eine Frau, deren er überdrüssig geworden war und die sich weigerte, das zu bemerken.

»Wenn Thomas micht betrügt«, sagte sie plötzlich laut aus ihren Gedanken heraus, »werde ich ihn verlassen.«

Frau Miller begriff sofort, was in ihr vorging. Sie stand auf, schaltete den Apparat aus, sagte: »Aber, Gina, rede dir doch so etwas nicht ein!«

»Es gibt eine andere Frau in seinem Leben«, sagte Gina, »sonst wäre er heute abend nicht fortgegangen.«

»Aber, Gina.«

»Sei ehrlich, Mama. Hast du nicht schon selber daran gedacht?«

Frau Miller zögerte. »Eigentlich, ich hatte eher den Eindruck, daß er in seinen alten Kreis zurückgefunden hätte.«

»Du meinst zu seiner alten Freundin? Du brauchst mir nichts vorzumachen, Mama. Ich kenne Vivian Geron.«

»Ach so?«

»Ja. Und ich weiß, daß sie nie wirklich bereit war, ihn aufzugeben.«

»Aber er hat dich geheiratet.«

»Was besagt denn das schon!?« Gina stand auf. »Erzähl mir doch so etwas nicht. Ich weiß, daß es Männer gibt, die ihre Frauen betrügen. Und Frauen, die sich ganz skrupellos an verheiratete Männer heranmachen.«

»Aber, Gina, gewiß gibt es so etwas. Aber woher willst du wissen, daß das gerade in diesem Fall zutrifft?«

»Ich fühle es.«

Frau Miller zwang sich zu einem Lachen. »Mit deinen Gefühlen wirst du kein Gericht der Welt überzeugen. Das sind doch alles Hirngespinste, Kind. Ich gebe zu, Thomas hat sich in letzter Zeit dir gegenüber sehr unfreundlich benommen. Trotzdem besteht doch kein Grund, gleich das Schlimmste anzunehmen.«

»Es hat lange genug gedauert, bis ich darauf gekommen bin. Thomas muß mich für eine absolute Närrin gehalten haben.«

»Weil du ihm keine Eifersuchtsszenen gemacht hast? Unsinn. Bilde dir nur nicht ein, daß das besser gewesen wäre. Damit hättest du ihn nur um so schneller aus dem Haus gejagt.«

Gina begann mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen. »Ich muß es wissen«, sagte sie verbissen, »ich muß es ganz genau wissen.«

»Dann frag ihn doch!« Frau Miller knipste die Stehlampe an. »Ja, wirklich, Gina, frag ihn! Nicht heute abend, denn er wird sicher sehr spät nach Hause kommen, aber morgen früh.«

»Nein! Er würde mich doch nur wieder belügen, mir das Wort im Munde umdrehen.«

»Na, vielleicht ist es wirklich besser, du sprichst ihn gar nicht darauf an.«

Gina war in die Garderobe gegangen, schlüpfte in ihren Kamelhaarmantel.

Frau Miller kam ihr nach. »Was ist los, Gina? Wo willst du hin?«

»Reg dich nicht auf, Mama. Nur ein bißchen Luft schnappen!«

»Aber …«

»Ich muß in Ruhe nachdenken. Geh bitte schon zu Bett. Du brauchst nicht auf mich zu warten!«

Ehefrau Miller noch etwas sagen konnte, war sie schon zur Türe hinaus. Die alte Dame lief zum Wohnzimmerfenster, riß es auf, wollte sie zurückrufen.

Aber Gina war schneller.

Frau Miller sah die schmale junge Gestalt schon aus dem Lichtkreis der Laterne ins Dunkel verschwinden. Sie seufzte tief und schloß das Fenster.

[61]

Gina hatte gelogen, als sie behauptet hatte, nur frische Luft schöpfen zu wollen. Tatsächlich war sie entschlossen, Thomas zu finden.

Natürlich wußte sie, daß jeder vernünftige Mensch dieses Vorhaben für unsinnig halten würde. Gerade deshalb hatte sie Frau Miller gegenüber kein Wort davon erwähnt. Aber sie selber war in einer so verzweifelten Stimmung, daß sie sogar das Unmöglichste versucht hätte, um Klarheit zu gewinnen.

Gina fuhr mit der Straßenbahn nach Schwabing hinaus. Sie kannte die Adresse von Vivian Gerons Wohnung.

Sie klingelte an der Haustüre des modernen Mietshauses — einmal, zweimal, dreimal, und nach einer Weile noch einmal. Nichts rührte sich.

Sie ging auf die andere Straßenseite hinüber, blickte zu den Fenstern des fünften Stocks hinauf. Sie waren dunkel.

Aber das bewies ja gar nichts. Es war durchaus möglich, daß —

Bei diesem Gedanken krampfte sich ihr das Herz zusammen.

Gina wußte, daß es jetzt das Vernünftigste gewesen wäre, nach Hause zu fahren. Aber sie brachte es einfach nicht über sich. Sie ging zurück, stellte sich wieder in die Haustüre, klingelte noch einmal, wartete.

Die Haustüre öffnete sich, ein ihr unbekannter Mann kam heraus. Gina benutzte die Gelegenheit ins Haus zu schlüpfen, rannte die Treppen hinauf. Sie war viel zu aufgeregt, den Lift zu benützen.

An der Türe von Vivian Gerons Wohnung klingelte sie wieder. Sie lauschte mit angehaltenem Atem. Nicht das geringste Geräusch war von drinnen zu hören.

Sie klingelte noch einmal. Dann endlich gab sie es auf. Sehr langsam, Schritt für Schritt, stieg sie hinunter.

Vivian Geron war nicht zu Hause. Soviel war gewiß. Aber das bewies nicht, daß Thomas nicht mit ihr zusammen war. Aber wo konnten sie sein? Wo?

München ist eine Millionenstadt. Es war so gut wie ausgeschlossen, einen einzigen Menschen, nein, zwei Menschen darin zu finden, von denen man nichts wußte, nichts. Gina spürte schmerzhaft, wie wenig ihr Thomas von seiner Vergangenheit, seinem Junggesellenleben erzählt hatte. Frau Miller hatte von seinem »alten Freundeskreis« gesprochen. Sicher hätte sie ihr eher raten können, wo Thomas zu finden war. Aber sie danach zu fragen, war sinnlos. Frau Miller hätte ihr Vorhaben bestimmt für Wahnwitz gehalten.

Unschlüssig stand Gina unten auf der Straße, wußte nicht mehr, was sie unternehmen sollte, was sie unternehmen konnte. Dann, ganz plötzlich fiel ihr etwas ein, aber sie verwarf den Gedanken sofort wieder, um wenige Sekunden später erneut darauf zurückzukommen.

Sie hatte sich an jenen Abend erinnert, an dem Thomas sie nach dem Theater in die Schwabinger Bar »Gisela« geführt hatte. Es war ihr eingefallen, wie vertraut er dort begrüßt worden war und wie seltsam er sich benommen hatte — so, als ob jeden Augenblick ein Schatten seiner Vergangenheit lebendig werden könnte.

Bestimmt war das eines der Lokale, in denen er früher mit Vivian verkehrt hatte, sie hatte damals gleich das Gefühl gehabt. Es war nicht ausgeschlossen, daß er auch heute dort war — oder daß zumindest Gisela, die singende Wirtin, ihr einen Tip geben würde, wo sie ihn finden konnte.

Gina war noch nie allein nachts in Schwabing gewesen. Es fiel ihr nicht ganz leicht sich zu orientieren. Mehrmals mußte sie nach dem Weg fragen, bis sie die Leuchtbuchstaben der Tanzbar vor sich sah.

Jetzt ging sie eilig vorwärts, ganz entschlossen, denn sie hatte ihr Ziel gefunden. Sie öffnete die Tür, schlug den schweren Vorhang zurück, trat ein.

Drinnen war es, wie immer, gesteckt voll. Blaue Zigarettenschwaden hingen über den Köpfen des bunt gemischten Publikums. Auf dem Podium nahe der Musikkapelle stand Gisela persönlich und sang das Lied von den »Schwabinger Laternen«.

Gina stand ganz still, lauschte, versuchte sich zu orientieren.

Ein junger Mann winkte ihr zu. »Komm hierher, Kleine, setz dich zu uns, wir rücken zusammen!«

Gisela war, unter dem lauten Beifall ihrer Gäste, abgetreten.

Gina war bis zur Mitte des Lokals vorgedrungen, als sie plötzlich das Gefühl hatte, es nicht länger ertragen zu können. Sie glaubte ersticken zu müssen, hatte nur noch einen Gedanken — Flucht.

Sie drehte sich um und — sah Thomas.

Er saß an der Seite Vivian Gerons, in der Mitte einer lauten und fröhlichen Gesellschaft. Man trank Sekt. Vivian Geron, sehr elegant, in einem hochgeschlossenen, ärmellosen, goldgelben Seidenkleid, hatte ihren nackten Arm eng an Thomas Schulter, lächelte ihm von unten herauf zu. Und er, er lächelte zurück, mit einer Zärtlichkeit im Blick, die Gina lange, allzu lange nicht mehr an ihm gesehen hatte.

Sie stand und starrte, saugte dieses Bild, das sie nie mehr glaubte vergessen zu können, mit selbstquälerischer Intensität in sich ein.

Erst als die Band einen Twist intonierte und immer mehr Gäste unter Stühlerücken aufsprangen und zu der schmalen Tanzfläche drängten, machte sie einen Schritt auf den Tisch zu, an dem Thomas und Vivian Geron saßen.

Es war Vivian, die sie zuerst sah. Sie stieß Thomas an, und er blickte auf.

Das Lächeln auf seinem Gesicht erlosch. Er erhob sich langsam, fast drohend. »Gina«, sagte er mühsam, »du?«

Sie mußte sich räuspern, um ihre Stimme in die Gewalt zu bekommen. »Das sind also deine Klienten?« sagte sie. »Genauso hatte ich mir das vorgestellt!«

Thomas zwängte sich hinter dem Tisch hervor — es war Henry Horn, der Modefotograf, der seinen Stuhl beiseite rückte, um ihm Platz zu machen, aber Gina erkannte ihn gar nicht. Sie stand mit flammenden Augen und geballten Händen da, viel zu aufgeregt, um irgend etwas wahrzunehmen außer Vivian Geron, die mit einem hochmütigen Lächeln um den voll geschminkten Mund dasaß, und ihren Mann, der jetzt auf sie zukam.

»Nimm dich zusammen«, sagte er scharf, »mach um Himmelswillen jetzt keine Szene!«

»Oh, nein!« rief Gina wild. »Das werde ich nicht. Wie könnte ich es auch wagen! Du bist ja der einzige, der Szenen machen darf! Wegen jedem Dreck hast du mir Vorwürfe gemacht, dauernd hast du mich verdächtigt.«

»Gina, ich bitte dich!« Er packte ihr Handgelenk mit schmerzhaft heftigem Griff.

Aber sie spürte es gar nicht. »Dauernd hast du auf mir herumgetrampelt«, rief sie, »deine Mutter hast du ins Haus geholt, um mich beaufsichtigen zu lassen.«

»Gina, noch ein einziges Wort, und ich werde …«

Gina war so in Fahrt, daß es unmöglich war, sie zu unterbrechen. Alles, was sie in den letzten Monaten mühsam unterdrückt hatte, brach jetzt aus ihr heraus. »Und ich weiß auch warum!« schrie sie. »Weil du glaubst, alle müßten so schlecht sein wie du! Du hast mich von Anfang an belogen und betrogen, mich zu Hause hocken lassen, nur damit du mit deinem Flittchen …«

Seine Hand klatschte mitten in ihr erregtes Gesicht.

Sie starrte ihn an, jäh verstummt, tat einen tiefen klagenden Atemzug.

»Gina«, sagte er, »willst du jetzt endlich …«

»Nein. Nicht mehr«, sagte sie mit einer Stimme, die kalt vor Verzweiflung war.

Sie wollte sich umwenden und gehen. Aber er hielt ihr Handgelenk immer noch gepackt, sie spürte es jetzt erst. Als er nicht loßließ , hob sie den Fuß und trat ihm mit einer wilden, ganz undamenhaften und sehr kindlichen Bewegung gegen das Schienbein.

Er unterdrückte einen Schrei, lockerte seinen Griff. Sie drehte sich um und stürzte in blinder Verzweiflung aus dem Lokal.

Auch als die Nachtluft ihr entgegenschlug, blieb sie nicht stehen, sondern rannte weiter wie eine Gehetzte, ohne Ziel und ohne Hoffnung, nur von dem einzigen Impuls getrieben, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und Thomas, zwischen sich und diese Frau zu bringen, vor deren Augen sie so gedemütigt worden war.

Sie merkte gar nicht, daß die Scheinwerfer eines Autos sie erfaßten, wurde auch nicht aufmerksam, als der schwere offene Sportwagen neben ihr herfuhr, sie überholte, stoppte.

»Gina«, rief eine dunkle, männliche Stimme, »Gina, stop!«

Sie hob den Kopf und sah im Schein einer Laterne, daß es Henry Horn war, der sie verfolgt hatte. Aber sie mochte mit ihm so wenig sprechen wie mit irgendeinem anderen Menschen und jagte weiter.

Ohne die Tür zu öffnen, sprang er mit federndem Schwung aus seinem Wagen, hatte sie mit wenigen Schritten seiner längeri Beine eingeholt, schob mit jener besitzergreifenden Geste, die typisch für ihn war, seine Hand unter ihren Arm. »Na, na, Kindchen«, sagte er, halb besorgt, halb amüsiert, »nicht so eilig!«

»Lassen Sie mich los!« fauchte Gina.

Er lachte nur. »Nicht treten, bitte! Das wäre sinnlos. Bei mir erreichen Sie nichts damit! Wen ich einmal gepackt habe, den lasse ich nur noch freiwillig los!«

Er hatte seinen Schritt verlangsamt, blieb stehen, und da all ihr Sträuben nichts nutzte, mußte sie wohl oder übel seinem Beispiel folgen.

»Was wollen Sie von mir?« fragte sie atemlos.

»Nichts Besonderes. Sie nach Hause bringen. Das ist doch wohl die natürlichste Sache von der Welt!«

»Nein!«

»Nicht?« sagte er, sie mit Absicht mißverstehend. »Meine Erziehung mag recht mangelhaft sein, dennoch war ich immer der Meinung, daß man junge Damen auf nächtlichen Wegen durch das Vergnügungsviertel einer Großstadt nicht alleine gehen lassen sollte!«

Sie war viel zu erregt, um sich über seinen Spott zu ärgern oder darüber zu lachen. »Ich will nicht nach Hause!« sagte sie heftig.

»Macht nichts!« Er hatte sie mit sanfter Gewalt umgedreht und führte sie zu seinem Wagen, den er mit laufendem Motor stehen gelassen hatte. »Dann fahren wir eben woanders hin!«

»Ich will nicht fahren«, stieß sie heftig hervor, »und schon gar nicht mit Ihnen. Ich will allein sein!«

»Sehr schade, daß ich Ihnen das nicht erlauben kann«, erwiderte er ungerührt.

»Warum können Sie mich nicht in Ruhe lassen?«

’»Weil ich ein Mensch mit einem Gewissen bin. Ich kann es nicht zulassen, daß Sie eine Dummheit maéhen. Und Sie sind jetzt gerade in dem Zustand, etwas sehr Törichtes zu tun!«

»Was geht Sie das an?«

»Steigen Sie ein, dann werde ich es Ihnen erklären!«

»Nein!«

»Sie wollen nicht? Na, das werden wir gleich sehen!«

Mit einer einzigen überraschenden Bewegung hatte Henry Horn Gina auf die Arme genommen, hob sie hoch in die Luft und warf sie fast auf den Sitz neben dem Steuer. Dann schwang er sich neben sie, löste die Handbremse, kuppelte, gab Gas. Der Wagen schnurrte davon.

Gina war nicht einmal unsanft auf den weichen, mit rotem Leder bezogenen Sitz gefallen. Jetzt saß sie ganz still, starrte mit brennenden Augen geradeaus, während der Fahrtwind ihr über die heißen Wangen strich.

»Na, weinen Sie schon, Kind«, sagte Henry Horn neben ihr, »weinen Sie. Das hilft.«

»Ich bin kein Kind mehr«, sagte sie und konnte doch ein krampfhaftes Aufschluchzen nicht unterdrücken, »und ich will nicht weinen!«

Er lachte unbekümmert. »Ich scheine heute abend bei Ihnen Pech mit meinen Vorschlägen zu haben!«

»Bitte«, sagte sie und legte zaghaft ihre schmale Hand auf seinen Arm, »bitte, lassen Sie mich aussteigen!«

»Sobald ich weiß, was Sie vorhaben!«

»Aber, das weiß ich eben selber noch nicht!«

»Dann ist es viel besser, wir bleiben zusammen, bis Sie es wissen. Nach Hause wollen Sie jedenfalls nicht?«

»Nein.«

»Zu mir?« Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Sie brauchen nicht zu fürchten, daß ich versuchen werde, die Situation auszunutzen.«

»Nein«, sagte sie, »das nicht. Aber, ich möchte mich nicht ins Unrecht setzen!«

»Gar nicht so dumm«, sagte er, »mir scheint, ich habe Sie unterschätzt. Sie wollen sich also scheiden lassen?«

»Ich weiß es noch nicht«, sagte sie gequält.

»Lieben Sie Ihren Mann etwa immer noch?«

»Lieben? Ich weiß überhaupt nicht, ob ich ihn je geliebt habe, ob nicht alles ein Irrtum war.« Sie stockte, hatte plötzlich das Gefühl, etwas Unrechtes zu sagen.

Er spürte sehr gut, was in ihr vorging. »Na, verdient hat er Ihre Liebe jedenfalls nicht«, sagte er mit Nachdruck, »er hat sich von Anfang an schändlich Ihnen gegenüber benommen.«

»Aber, warum hat er mich überhaupt geheiratet?«

»Vielleicht weil er auf andere Weise sein Ziel nicht erreichen konnte?«

Sie fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen schoß, war dankbar, daß das nächtliche Dunkel ihr Erröten vor ihm verbarg. »Nein«, sagte sie ehrlich, »ich glaube, ganz so war es nicht.«

Er schmunzelte. »Wissen Sie, was mir an Ihnen so gefällt? Ihre Aufrichtigkeit. Sie ist geradezu erfrischend. Aber Sie werden nicht sehr weit damit kommen. Die Welt, in der wir leben, ist leider zu schlecht für ein so anständiges kleines Mädchen wie Sie.«

»Thomas«, bekannte sie stockend, »er hält mich für eine Lügnerin.«

»Sieht ihm ähnlich. Soll ich Ihnen einmal ehrlich sagen, für was ich Ihren Thomas halte? Für einen aufgeblasenen, dummen und absolut unreifen Menschen.«

»Sie brauchen nicht zu denken, daß Sie auf Thomas schimpfen müssen, nur weil er mich schlecht behandelt hat.«

Henry Horn lachte. »Nur ist gut!« Er wandte sich ihr zu. »Wie wäre es, wenn wir ins Hotel ›Bayerischer Hof‹ fahren würden?«

»Wozu?«

»Nun, wir könnten in der Bar eine Kleinigkeit trinken und alles in Ruhe besprechen. Was mit Ihnen weiter geschehen soll, meine ich.«

Plötzlich, zum erstenmal, spürte Gina Dankbarkeit dafür, daß er da war — daß überhaupt jemand da war, der sich um sie kümmerte. »Seien Sie mir nicht böse«, sagte sie trotzdem, »aber ich fürchte, ich habe jetzt einfach nicht die Kraft unter Menschen zu gehen.«

»Das kann ich verstehen. Dann werde ich Ihnen ein Zimmer mieten, damit Sie die Dinge in Ruhe überschlafen können. Haben Sie einen Ausweis bei sich?«

»Ja.«

»Um so besser. Aber Sie müssen mit versprechen, daß Sie schlafen, daß Sie im Hotel bleiben und sich nicht aus Ihrem Zimmer rühren, bis ich morgen früh zu Ihnen komme. Einverstanden?«

»Ja.«

»Sehr schön.«

Henry Horn war während dieses Gespräches die Ludwigstraße stadteinwärts und bis zum Bahnhof gefahren. Jetzt bog er links ein und lenkte den Wagen zum Stachus und weiter Richtung Lenbachplatz.

Obwohl die nächtlichen Straßen fast ausgestorben waren, fuhr er in sehr langsamem Tempo, um sich besser mit Gina unterhalten zu können.

»Und glauben Sie mir«, sagte er, »es besteht keinerlei Grund zur Verzweiflung. Sie haben durch diese erste Enttäuschung einen schweren Schock erlitten, das begreife ich gut. Aber Sie werden darüber hinwegkommen. Sie stehen ja erst ganz am Anfang Ihres Lebens, ein Mädchen, wie Sie hat unzählige Möglichkeiten. Ich rede nicht nur so daher, ich meine es ganz ernst. Wenn Sie wollen, können Sie gleich morgen bei mir anfangen.«

»Als was?« fragte sie mit leichter Bitterkeit.

»Als Fotomodell«, erklärte er sehr ernst. »Ich würde Ihnen einen langfristigen Vertrag geben, das wäre, meine ich, in Ihrem und in meinem Interesse.«

»Ich weiß gar nicht, ob ich mich zu so etwas überhaupt eigne«, sagte sie zögernd.

»Aber ich weiß es. Seien Sie nicht so skeptisch, Kindchen. Sie brauchen nur zuzugreifen, und Sie werden sehr viel Geld verdienen. Sie werden eine begehrte und umschwärmte Frau sein, und Thomas wird dann erst wissen, was er an Ihnen verloren hat.«

Diese Worte brachten etwas in Gina zum Klingen — so erfolgreich, so selbstsicher, so überlegen sein wie Vivian, ja, das wollte sie! Nur zu gerne! Aber ob sie es je erreichen konnte?

Sie seufzte, ohne es selber zu merken, und wieder verstand Henry Horn sie, ohne daß sie erst zu sprechen brauchte.

»Ich werde Ihnen helfen, Gina«, sagte er und drückte ganz sanft ihre Hand.

»Warum tun Sie das alles für mich?« fragte sie. »Nur aus Mitleid?«

»Diese Frage, Gina«, erwiderte er, »ist Ihrer nicht würdig! Oder wollen Sie etwa im Ernst behaupten, Sie wüßten nicht, warum ich so sehr an Ihrem Schicksal interessiert bin?!«

Sie senkte den Kopf. »Ich werde nie wieder einen Mann lieben können«, sagte sie leise.

»Dieses Risiko gehe ich gerne ein.« Er drückte ihre Hand stärker. »Ich habe Geduld«, sagte er, »sehr viel Geduld. Es fällt mir nicht schwer zu warten, wenn sich das Ziel lohnt.«

Sie waren vor dem Portal des »Bayerischen Hofs« angekommen.

Er ließ ihre Hand los, trat auf die Bremse, brachte sein Auto zum Stehen. Dann stieg er aus — diesmal durch die Türe — ging um den Wagen herum, öffnete ihre Türe, half ihr hinaus.

»So«, sagte er, »und jetzt wollen wir sehen, daß wir ein Zimmer für Sie bekommen. Und Sie werden sich alles, was ich Ihnen gesagt habe, durch den Kopf gehen lassen.«

Sie nickte stumm, ganz benommen von dem, was heute abend auf sie eingestürmt war. Er legte seine Hand unter ihr Kinn, zwang sie ihn anzusehen. Als er sich zu ihr herabbeugte, waren seine lächelnden blauen Augen ganz nah, und dann — völlig überraschend — drückte er seine Lippen auf ihren Mund.

Es war ein zarter, sehr ritterlicher Kuß, und ehe Gina noch recht begriff, was ihr geschah, war es schon wieder vorbei. Sie errötete — aber diesmal erriet er ihre Gedanken nicht. Sie schämte sich, daß ihr sein Kuß nicht zuwider, sondern geradezu angenehm gewesen war.

War es denn möglich, daß sie schon wieder im Begriff stand, sich zu verlieben? Kaum daß alles zwischen Thomas und ihr zu Ende war? Nein, es war ja gar nicht zu Ende, sie war immer noch seine Frau, eine verheiratete Frau. Und doch hätte sie gewünscht, Henry Horn würde sie ganz fest in die Arme genommen und nie mehr losgelassen haben.

»Verzeihen Sie, Gina«, sagte er warm, »ich verspreche Ihnen, daß so etwas nicht wieder vorkommen soll!«

Sie wagte nicht, ihn anzublicken.

Dann ging alles sehr schnell. Sie traten in die Hotelhalle. Aus der Bar klang gedämpfte Musik, aber Henry Horn ging geradewegs auf den Empfangstisch zu, hinter dem ein übermüdet aussehender junger Mann im schwarzen Anzug stand. Gina hielt sich zurück, während Henry Horn wegen eines Zimmers verhandelte. An den Verbeugungen, dem bereitwilligen Lächeln des Empfangschefs merkte sie, daß der Modefotograf auch hier sehr bekannt war.

Wenige Minuten später war ein Hausdiener zur Stelle, bekam einen Zimmerschlüssel ausgehändigt, blieb wartend stehen, um Gina hinauszuführen.

Henry Horn wandte sich wieder ihr zu. »Alles in Ordnung, Gina«, sagte er, »wenn Sie mir nur noch ihren Paß geben wollen … also dann bis morgen?«

Sie reichte ihm die Hand. »Ich danke Ihnen, Henry«, sagte sie mit fester Stimme, »für alles!«

Er stand und sah ihr nach, wie sie in den Lift stieg, stand noch lange an der gleichen Stelle, als sie schon längst verschwunden war. Er lauschte nach innen, auf das seltsam unruhe Pochen seines Herzens. War es möglich, daß er sich ernsthaft verliebt hatte? Er, dem die Frauen seit langem nicht mehr bedeuteten als ein Spielzeug?

Es war ein unbehagliches, ein sehr ungewohntes Gefühl, und doch spürte er, daß es seinem Leben einen ganz neuen Reiz verleihen konnte.

[62]

An dem langgestreckten Seitentisch im Schwabinger Nachtlokal »Gisela« hatte sich nach Ginas überstürztem Abgang, dem Henry Horns hastige Verabschiedung gefolgt war, ein betretenes Schweigen verbreitet.

Thomas hatte mit hochrotem Kopf wieder Platz genommen und ein Glas Wein hinuntergeschüttet. Vivian Geron rauchte schweigend, mit überheblich belustigtem Gesicht, und die anderen wußten nicht mehr, was sie sagen sollten. Es wäre peinlich gewesen, sich über den Vorfall zu verbreiten, und einfach weiterzuplaudern, als wenn gar nichts geschehen wäre, war auch unmöglich.

So erhoben die anderen Paare sich denn erleichtert, als die Musik wieder einsetzte, und verzogen sich auf die Tanzfläche. Thomas Miller und Vivian Geron blieben allein zurück.

Sie war es, die als erste das Wort aufnahm. »Ziemlich überflüssig das Ganze, nicht wahr?« fragte sie.

»Wie meinst du das?« fragte er gereizt zurück.

»Ich lasse mich nicht gern lächerlich machen, das weißt du!«

»Wer hätte dich denn lächerlich gemacht?«

»Du! Du hast mich in eine mehr als peinliche Situation gebracht!«

»Sag mal, bist du wahnsinnig geworden!?« sagte er, sehr viel lauter, als notwendig gewesen wäre.

»Schrei mich nicht an!« erwiderte sie kühl. »Ich bin nicht deine Frau!«

»Möchtest du mir bitte erklären, was du an meinem Benehmen auszusetzen hattest?« fragte er gedämpft, aber nicht eine Nuance freundlicher.

»Alles«, erwiderte sie eisig. »Erstens war es idiotisch, deiner Frau vorzulügen, daß du ausgerechnet am Samstag abend mit einem Klienten zusammen sein müßtest! Sie hätte noch dümmer sein müssen, als sie so schon ist, um nicht mißtrauisch zu werden.«

»Was zum Teufel hätte ich ihr denn sonst sagen sollen?«

»Das ist deine Angelegenheit!«

»Ach was! Auf einmal! Als wenn ich nicht mit allen Mitteln versucht hätte dir klarzumachen, warum ich heute abend nicht von zu Hause wegkonnte!«

Sie zuckte die schönen Schultern. »Du hättest mir nichts klarzumachen brauchen, sondern einfach dort bleiben sollen, wo du hingehörst!«

»Das sagst du mir ins Gesicht?!«

»Warum nicht? Es ist die Wahrheit.«

Er biß so heftig die Zähne zusammen, daß ein häßlicher knirschender Laut entstand. »Ist das alles, was du mir vorzuwerfen hast?« fragte er mit gespannten Wangenmuskeln.

»Durchaus nicht! Als die Kleine dann kam, hast du dich denkbar blöd benommen. Aber das wirst du wohl hoffentlich selber wissen.«

»Was hätte ich denn tun sollen?«

»Liebenswürdig sein, den Erfreuten spielen, so tun, als wenn du sie ohnehin gerade hättest anrufen wollen.«

»Das hätte sie mir nicht geglaubt!«

»Als wenn es darauf ankäme! Zumindest hätte es ihr den Wind aus den Segeln genommen. Sie hätte sich nicht getraut, loszukeifen wie ein Marktweib.«

»Das hat sie nicht getan«, sagte er impulsiv.

»Ach so!« Sie sah ihn spöttisch unter halb gesenkten Lidern her an. »Du willst sie also noch in Schutz nehmen? Nachdem sie mich so beschimpft hat?«

»Ich habe sie geohrfeigt. Mehr kannst du nicht von mir verlangen.«

»Du glaubst doch nicht etwa, daß du damit meinen guten Ruf wieder hergestellt hast?«

»Hattest du je einen besessen?!«

Sie wurde blaß unter ihrem Make up. Ihr voll geschminkter Mund verzerrte sich.

Es bereitete ihm Genugtuung, sie endlich verletzt zu haben. Dennoch sagte er: »Entscchuldige. Du weißt, daß ich das nicht so gemeint habe. Aber ich bin furchtbar erregt.«

Sie schwieg lange. Dann sagte sie: »Eigentlich sollte ich dich jetzt sitzenlassen.«

»Vivian«, sagte er, »wir machen die Dinge nicht besser, wenn auch wir uns jetzt noch streiten. Ich mache mir Sorgen, große Sorgen …«

»Worüber?«

»Wie es jetzt weitergehen soll. Mit Gina und mir.«

»Sehr einfach. Du läßt dich scheiden.«

»Dazu habe ich nicht den geringsten Grund. Ich bin es ja, der sich ehewidrig benommen hat, nicht sie.«

»Und daß sie mich so beleidigt hat, gilt gar nichts?«

»Jeder Richter wird ihr zugestehen, daß sie in berechtigter Erregung war.«

Vivian Geron zündete sich eine neue Zigarette an, steckte sie in ihre lange Spitze. »Du scheinst etwas sehr Wichtiges zu vergessen«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.

»Ich ahne nicht einmal, wovon du sprichst!«

»Von Henry Horn! Er ist hinter ihr her.«

»Na und?«

»Er hat es schon seit langem auf sie abgesehen. Nicht erst seit heute. Jetzt hast du ihm einen Anlaß geboten, sich um Gina zu kümmern. Und er wird es tun, verlaß dich drauf. Er ist ein sehr guter Tröster, Thomas, er ist bekannt dafür.«

»Was soll das heißen?«

Sie musterte ihn fast verächtlich durch den Rauch ihrer Zigarette. »Sag einmal, bist du wirklich so schwer von Begriff oder stellst du dich nur so? Henry Horn hat noch jede Frau herumgekriegt, auf die er es abgesehen hatte. Und es waren klügere und charakterfestere darunter als deine Gina.«

»Wie gemein du bist«, sagte er tonlos, »verflucht gemein!«

»Was hätte es für einen Sinn, dich zu belügen. Tatsache ist, daß du sehr bald um einen Scheidungsgrund nicht mehr verlegen zu sein brauchst.«

Er winkte einer der Kellnerinnen. »Zahlen, bitte!«

Während die Rechnung ausgeschrieben wurde, fragte Vivian: »Du willst schon gehen?«

»Ja.«

»Warum? Du bildest dir doch wohl nicht ein, daß Gina zu Hause auf dich wartet?«

»Genau das!« er drückte der Kellnerin einen Geldschein in die Hand, winkte ab, als sie ihm Wechselgeld herausgeben wollte, stand auf. »Darf ich dich nach Hause bringen?«

»Eigentlich habe ich noch gar keine Lust.«

»Dann muß ich dich bitten, mich zu entschuldigen!« Er verbeugte sich knapp, wandte sich zur Tür.

»Thomas!« rief sie.

Noch einmal blieb er stehen und sah sich um. »Ja?« »Thomas, wenn du jetzt gehst, dann ist es aus zwischen uns. Für alle Zeiten!«

Er begegnete ihrem beschwörenden Blick mit einem bitteren Lächeln. »Ach, Vivian«, sagte er, »das hast du mir schon so oft versprochen.«

Sie sah ihm nach, wie er, sehr schlank, sehr groß und sehr dunkel, zum Ausgang schritt. Die Kellnerin hatte ihm schon Mantel und Schal aus der Garderobe geholt, aber er blieb nicht stehen, um sich anzuziehen, nahm beides über den Arm und verließ, ohne sich umzusehen, das Lokal.

Vivian biß sich auf die Lippen. In diesem Augenblick, da sie sich unbeobachtet fühlte, fiel all jene großartige Sicherheit von ihr ab, mit der sie soviel Eindruck zu machen verstand. Sie war nichts mehr als eine tief verletzte, aufs äußerste gedemütigte Frau.

»Ich habe alles falsch gemacht«, dachte sie, »alles. Er liebt dieses Mädchen immer noch, diese kleine blonde Hexe mit den Unschuldsaugen!«

Aber im Grunde ihres Herzens wußte sie, daß sie Thomas nur deshalb mit allen Mitteln zurückerobert hatte, um ihn fallenzulassen — dann, wenn er es am wenigsten erwartete, wenn es ihn am tiefsten traf. Doch es war mißglückt, wieder mißglückt. Wie kam es nur, daß ihre weiblichen Waffen gerade bei diesem Mann versagen mußten?

[63]

Thomas war tatsächlich ganz überzeugt, daß Gina schon zu Hause wäre — oder er redete es sich doch mit soviel Erfolg ein, daß er es glauben mußte.

Er war durchaus nicht bereit, sich mit ihr zu versöhnen, dazu hatte sie sich zu abscheulich aufgeführt. Ihn so zu blamieren, ihn, den erfolgreichen jungen Rechtsanwalt, noch dazu in einem öffentlichen Lokal, im Kreis seiner Freunde! Ihn so zu reizen, daß er die Beherrschung verlor!

Thomas war sehr böse, böse auf Gina, auf Vivian und vor allem auf sich selber, und während er durch die nächtlichen Straßen heimfuhr, legte er sich eine zornige kleine Rede zurecht, die dazu bestimmt war, seinem Ärger Luft zu machen und Gina zur Zerknirschung und Reue zu bringen.

Leise, um seine Mutter nicht zu wecken, schloß er die Wohnungstür auf, hing seinen Mantel an die Garderobe, öffnete die Schlafzimmertür. Es war dunkel im Zimmer. Er blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, gewärtig, Ginas ersticktes Schluchzen zu hören oder doch wenigstens ihre Atemzüge.

Aber es war still, still. Er hörte nichts als das Blut, das in seinen Ohren rauschte.

Dann knipste er Licht an, sah mit einem Blick, daß Ginas Bett unberührt war. Mit einem zischenden Laut ließ er den angehaltenen Atem entweichen.

Er stand noch und starrte, als Frau Miller, eine schmale graue Gestalt in seidenem Morgenmantel, ihn sanft mit der Hand berührte. »Thomas.«

Er fuhr herum. »Wo ist Gina?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie, erschrocken über seinen Ton, »ich weiß es wirklich nicht.«

Er ging zum Kleiderschrank, riß die Türen auf, erkannte, daß nichts fehlte. »Sie ist nicht zurückgekommen?«

»Ich konnte nicht schlafen«, sagte Frau Miller, »ich habe mir Sorgen gemacht. Sie ist nach elf fortgegangen, um frische Luft zu schnappen, und jetzt«, sie sah ihren großen Sohn an. »Es wird ihr doch nichts passiert sein, Thomas? Ob man nicht die Polizei verständigen sollte?«

»Unsinn«, sagte er scharf, »sie ist schließlich kein Kind mehr, das sich verlaufen kann.«

»Aber trotzdem.«

»Bitte, geh schlafen, Mama«, sagte er hart, dann fügte er, wie entschuldigend hinzu: »Du siehst sehr müde aus!«

»Und du? Was wirst du machen?«

»Zu Bett gehen.« Er lachte freudlos. »Oder erwartest du von mir, daß ich aufbleibe, bis sie heimkommt?«

»Natürlich nicht, Thomas, nur …«

Er gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Stirn, faßte sie bei den Schultern und schob sie aus dem Zimmer. Dann schloß er die Tür hinter ihr, stand entschlußlos, warf sich schließlich, angezogen, wie er war, quer über das Bett. Er löschte das Deckenlicht, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte ins Dunkel.

Mit unabweisbarer Deutlichkeit spürte er, daß er die Haupfschuld daran trug, daß es mit seiner Ehe, die so hoffnungsfroh begonnen hatte, dahin gekommen war. Wahrscheinlich hätte er Gina nicht heiraten dürfen, nicht so früh, wahrscheinlich war sie einfach noch zu jung gewesen, alle hatten ihm abgeraten, aber er hatte es besserwissen wollen. Aber nachdem es nun einmal geschehen war, wäre es an ihm gewesen, seine Ehe zu gestalten und Ginas Leben ganz fest in seine Hände zu nehmen. Er hatte es nicht getan, er hatte sie alleingelassen, auch innerlich, er hatte versagt.

Aber diese klare Erkenntnis führte bei ihm weder zu ehrlicher Reue noch zu guten Vorsätzen. Er wäre empört gewesen, wenn man es ihm gesagt hätte, aber er war wie ein kleiner Junge, der sein Lieblingsspielzeug mutwillig zerstört hat, und der jetzt mit den Fäusten auf jeden losgehen möchte, der ihm Vorwürfe darüber macht. Auch auf sich selber.

Dunkle Gedanken trübten die Erinnerungen, Ginas junges, strahlendes Bild. Vivians Worte fielen ihm wieder ein, jedes hatte wie ein Pfeil mit einem Widerhaken sein Herz getroffen, und er brachte nicht den Mut auf, sie mit einem kräftigen Ruck hinauszureißen.

Henry Horn — natürlich war er hinter Gina hergelaufen! Er hatte ja nicht einmal versucht, es vor ihm oder den anderen zu tarnen. Und was wollte er von ihr? Es gab nur ein einziges Ziel, das ein Mann wie er bei einer jungen Frau verlockend finden konnte. Gina liebte ihn nicht, sicher nicht, aber sie war in einer Verfassung gewesen, in der sie, aus Wut und Zorn und um sich an ihm zu rächen, zu allem fähig war.

Henry Horn würde bestimmt nicht davor zurückschrecken, ihre Verstörtheit auszunutzen — warum sollte er auch? Für ihn waren Mädchen Freiwild, das war nur allzu gut bekannt, und sicher hielt er es für sein gutes Recht, eine junge Frau, die von ihrem Mann geohrfeigt worden war, zu trösten. Und er war ein so guter Tröster, das hatte Vivian ja gesagt, und Vivian mußte es wissen.

Thomas schloß die Augen, er konnte damit das Bild nicht auslöschen, das ihn peinigte — Gina, seine kleine Gina, in Henry Horns Armen! Er sah, wie sie ihm zärtlich den Mund bot, diese frischen roten Lippen, die so weich sein konnten, so zärtlich, er sah, wie Henry Horn sie an sich zog, ihre seidige glatte Haut streichelte, wie sie sich in seinen Armen wohlig dehnte.

»Nein!« Er schrie es in die Nacht hinaus. Nein, das durfte nicht sein! Vielleicht war er schuld, daß alles dahin gekommen war, aber er konnte es ihr nie verzeihen, würde es niemals vergessen können.

[64]

Als Gina am nächsten Tag erwachte, war es heller Morgen. Sie hatte, trotz allem, was am Abend zuvor geschehen war, tief und traumlos geschlafen, und sie fühlte sich erfrischt und voll Tatendrarig.

Mit beiden Füßen zugleich sprang sie aus dem Bett, stellte sich unter die Brause, duschte sich, erst heiß, dann kalt, zog sich an. Sie war über sich selber erstaunt, denn eigentlich hätte sie doch sehr unglücklich sein müssen. Tatsächlich aber war das Gefühl, jung zu sein und am Anfang des Lebens zu stehen, stärker als alles andere.

Mit Thomas war es aus, aus und vorbei, aber sie empfand es fast als Erleichterung. Vorbei war das Eingesperrtsein in der kleinen Wohnung, vorbei die Vormundschaft ihrer Schwiegermutter, vorbei das ewige Wartenmüssen, die ständige Angst, wieder einmal etwas falsch gemacht zu haben. Jetzt war sie dem Schicksal fast dankbar für die Ohrfeige, die ihr Thomas gegeben hätte — sie hatte ihr die Freiheit wieder geschenkt.

Sie würde den Vertrag mit Henry Horn machen, sie würde wunderbare Kleider bekommen, reisen dürfen, und sie würde Gelegenheit haben, Vivian Geron zu demütigen — Vivian, der sie letzten Endes doch überlegen sein mußte, denn immerhin war sie mehr als zehn Jahre jünger als die ändere. Zehn Jahre, in denen sie ihre Jugend genießen konnte!

Vielleicht würde sie Henry Horns Werbungen nachgeben, vielleicht auch nicht. Auf alle Fälle aber war sie fest entschlossen, ihr Herz nicht noch einmal zu verlieren. Sie wollte nicht mehr leiden und sich kränken lassen. Diesmal würde sie alles ganz anders machen.

Sie war fertig angezogen und stand vor dem Spiegel, als an die Türe geklopft wurde. Sie ging hin, machte auf — der Zimmerkellner schob einen Wagen mit dem Frühstück herein. Gina empfand es als angenehme Überraschung — wie nett, daß Henry das für sie arrangiert hatte.

Sie aß mit gutem Appetit, schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein und — spürte plötzlich wie ihr schlecht wurde. Ein scheußlich würgendes Gefühl stieg vom Magen herauf, sie konnte gerade noch ins Bad laufen, mußte sich erbrechen.

Nachher war ihr besser. Dennoch starrte sie mit dunklen, entsetzt aufgerissenen Augen auf ihr eigenes Spiegelbild — eine erschütternde Ahnung stieg in ihr auf.

Als eine halbe Stunde später das Telefon klingelte, war Ginas Ahnung zur Gewißheit geworden. Sie hatte nachgedacht, sie hatte gerechnet, und sich ihrer Sache ganz sicher geworden — sie erwartete ein Kind.

Noch vor einer Woche, noch gestern hätte sie sich über diese Erkenntnis gefreut, hätte gehofft, daß das Kind den Frieden in ihrer jungen Ehe wieder herstellen würde. Heute war es zu spät. Sie empfand kein Glücksgefühl bei dem Gedanken, Mutter zu werden, nur noch eine namenlose Enttäuschung ihre Freiheit verloren zu haben.

Sie hob den Hörer ab, hörte Henry Horns Stimme, sagte: »Ich komme hinunter!«

Bevor sie das Zimmer verließ, wandte sie sich unwillkürlich noch einmal zum Spiegel, um ihr Aussehen zu prüfen, aber dann unterließ sie es doch. Es war gleichgültig geworden, wie sie Henry Horn gefiel, ob sie hübsch oder häßlich aussah. Jetzt konnte nichts mehr helfen.

Henry Horn hatte in der Halle auf sie gewartet, er erhob sich, als Gina vom Lift her auf ihn zukam, doch sein Lächeln erlosch, als er ihr weißes verstörtes Gesicht sah.

»Gina«, sagte er besorgt, »was ist geschehn?«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Nichts«, log sie, »nichts Besonderes.«

Er legte mit einer beschützenden Gebärde seinen Arm um ihre Schulter. »Setzen Sie sich, Gina. Was möchten Sie trinken?«

»Nichts. Wirklich nichts.«

Er drang nicht weiter in sie, setzte sich ihr gegenüber in einen der tiefen Sessel, klappte sein goldenes Etui auf, bot ihr eine Zigarette an. Sie schüttelte vemeinend den Kopf.

»Ich«, sagte sie mühsam, »ich habe mir alles überlegt Ich kann nicht für Sie arbeiten, Henry.«

»Sie wollen zu Thomas zurück?«

»Nein.«

»Also, was dann?«

»Ich werde nach Garmisch fahren. Zu meinen Eltern.«

»Aber, Gina! Das ist doch keine Lösung!«

»Ich weiß«, sagte sie müde, »und meine Eltern werden sich auch bestimmt nicht darüber freuen. Ich mache mir gar keine Illusionen. Aber es bleibt mir nichts anderes übrig.«

»Scheint Ihnen mein Vorschlag so wenig reizvoll?«

»Das ist es nicht. Ich hatte mich schon halb entschlossen, es wäre bestimmt wunderbar gewesen.«

»Haben Sie etwa Angst vor mir?«

»Nein, nein. Ich bin ja kein Kind mehr.«

»Was ist denn? Gina, warum verheimlichen Sie mir etwas?« Plötzlich veränderte sich sein Gesicht. »Hat Vivian Sie etwa hier gefunden? Hat sie Ihnen die Hölle heiß gemacht?«

Gina hob beschwörend die schmalen Hände. »Bitte«, sagte sie, »bitte, Henry, fragen Sie mich nicht! Es ist etwas ganz anderes, ich kann es Ihnen nicht erklären!«

Er zündete sich eine Zigarette an, sagte, ohne sie anzusehen: »Sie haben natürlich recht, mir nicht zu vertrauen!«

»Nein, Henry, das stimmt gar nicht. Sie waren sehr gut zu mir gestern, als ich ganz verloren war. Aber jetzt, es hat keinen Sinn, glauben Sie mir doch! Niemand kann mir mehr helfen.«

Er richtete die Augen auf sie. Sein Gesicht zeigte nicht mehr den gewohnten sieghaften Ausdruck, sondern war von grüblerischem Ernst verdüstert. Sie hätte am liebsten die Hände vors Gesicht geschlagen, beherrschte sich nur mühsam, weil sie die Situation nicht noch dramatisieren wollte.

»Jetzt weiß ich es«, sagte er plötzlich, »Sie erwarten ein Kind!«

»Ja«, sagte sie leise.

»Und das haben Sie gestern noch nicht gewußt?«

»Nein. Erst heute morgen.«

»Aber Sie können sich irren, Gina! Waren Sie denn schon bei einem Arzt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist kein Irrtum möglich«, sagte sie hoffnungslos, »es hat keinen Zweck, mir etwas vorzumachen.«

»Aber Sie wünschen dieses Kind nicht?«

Sie sah ihn aus todtraurigen Augen an. »In dieser Situation?«

»Wenn das so ist. Sie brauchen es nicht zu bekommen, Gina! Ich kenne eine Adresse.«

»Nein«, sagte sie, »nein. Das nicht. So etwas würde ich niemals tun.«

»Verzeihen Sie«, sagte er bestürzt, »ich wollte nicht …«

»Ich weiß«, sagte sie müde, »Sie haben es nur gut gemeint.« Sie stand auf, reichte ihm die Hand. »Ich danke Ihnen für alles, Henry Horn«, sagte sie mit einem wehen Lächeln.

»Kann ich gar nichts mehr für Sie tun?« Er überlegte. »Wahrscheinlich wollen Sie doch nicht so, nur mit der Handtasche, nach Garmisch fahren? Soll ich Sie nach Hause bringen? Ihnen beim Packen helfen?«

»Das kann ich schon alleine. Aber bringen dürfen Sie mich. Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Ach ja, die Schwiegermutter«, sagte er. »Ist es Ihnen peinlich, wenn sie uns zusammen sieht?«

»Es ist mir völlig gleichgültig«, erklärte sie, und sie meinte es auch so.

[65]

Henry Horn wartete im Auto auf der Straße, während Gina die Wohnung betrat, die sie noch vor wenigen Monaten mit so großen Hoffnungen betreten hatte und die sie nun für immer verlassen wollte.

Frau Miller schoß, als sie ihre Schritte hörte, aus dem Wohnzimmer. »Gina, du?« fragte sie. »Wo bist du die ganze Nacht gewesen? Thomas hat …«

»Das interessiert mich nicht«, sagte Gina kühl, trat in die Küche und nahm den Speicherschlüssel vom Brett.

Frau Miller kam hinter ihr her. Sie hatte sich fest vorgenommen, lieb und nett zu Gina zu sein, wenn sie erst wieder auftauchte, hatte sich ehrliche Sorgen um die Schwiegertochter gemacht. Aber das war denn doch zuviel. »Wie wagst du es, mit mir zu reden?« rief sie aufgebracht.

»Willst du mich vielleicht auch ohrfeigen?« gab Gina zurück. »Nur zu. Ich werde mich schön langsam daran gewöhnen.«

Frau Miller, der ihr Sohn nichts von dem nächtlichen Zusammenstoß erzählt hatte, verstand gar nichts. »Was redest du da?« fragte sie.

»Ist nicht wichtig, Mama!« Gina war schon wieder in den Flur hinausgetreten.

»Wo willst du hin?«

»Meine Koffer holen.«

»Du willst verreisen?«

Gina schlüpfte ohne eine Antwort ins Treppenhaus hinaus.

Frau Miller blieb erregt und ratlos zurück. Sie spürte, daß die Dinge ihr über den Kopf zu wachsen begannen. Gina war in der Nacht nicht nach Hause gekommen. Thomas hatte mit tief verschatteten Augen am Frühstückstisch gesessen, und jetzt wollte ihre Schwiegertochter offensichtlich fort.

Durfte sie das zulassen? Nein. Aber wie konnte sie sie zurückhalten? Sie mußte Thomas anrufen.

Frau Miller lief zum Telefon, hatte den Hörer schon aufgenommen, wollte die Nummer der Kanzlei wählen. Aber dann ließ sie die Hand wieder sinken.

War sie nicht von Anfang an gegen diese Ehe gewesen? Hatte sie nicht inbrünstig gehofft, es würde so bald wie möglich vorbei sein? Und wenn das so war, warum wollte sie jetzt noch versuchen, alles in Ordnung zu bringen? Hatte Gina sie etwa doch überzeugt, daß sie die richtige Frau für ihren Sohn war?

»Nein«, dachte Frau Miller, »sie passen nicht zusammen. Es wäre niemals gut mit ihnen gegangen. Es ist besser, daß sie jetzt auseinandergehen als später.«

Entschlossen legte sie den Hörer auf die Gabel zurück, gerade als Gina, zwei große Koffer vor sich herschiebend, wieder die Wohnung betrat.

»Na, hast du deinen Sohn angerufen?« fragte sie.

»Nein«, sagte Frau Miller, »ich wollte es, aber dann habe ich es mir anders überlegt. Ihr seid alt genug, um selber zu wissen, was ihr zu tun habt.«

»Wie schade«, sagte Gina mit einem bitteren Lächeln, »daß du diese Einstellung nicht von Anfang an gehabt hast!«

[66]

Eine halbe Stunde später half Henry Horn Gina die Koffer in seinem Wagen zu verfrachten. Gina spürte, daß Frau Miller hinter der Gardine stand und ihnen dabei zusah. Aber es war ihr wirklich gleichgültig, sie drehte sich nicht ein einziges Mal um.

Henry Horn erbot sich, sie nach Garmisch zu bringen, aber das lehnte Gina ab. Sie wollte seine Hilfsbereitschaft nicht ausnutzen, und dann — sie fürchtete, daß ihre Mutter die Zusammenhänge mißverstehen würde, wenn sie im Auto eines Freundes ankommen würde. So fuhr er sie nur bis zum Hauptbahnhof, und da wenig später ihr Zug ging, blieb keine Zeit für einen langen Abschied. Gina war es ganz recht so. Ihr Herz war sehr schwer. Das, was sie empfand, konnte sie ihm nicht sagen, und ein Austausch von leeren Redensarten hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Sie beugte sich auch nicht mehr aus dem Fenster, um zurückzuwinken, als der Zug abfuhr. Aus und vorbei. Sie hatte das Gefühl, daß eine Epoche ihres Lebens endgültig hinter ihr lag und daß sie auch Henry Horn nie mehr wiedersehen würde.

Der Empfang zu Hause fiel genauso aus, wie sie ihn erwartet hatte. Ihre Mutter begrüßte sie überrascht und leicht verwundert, dann aber, als sie ihre schweren Koffer sah, wich das Lächeln aus ihrem Gesicht.

»Soll das heißen, du hast dich mit Thomas gestritten?«

»Wir haben uns getrennt«, erwiderte Gina kurz.

»Aber das geht doch nicht, du kannst doch nicht, was ist denn überhaupt geschehen?«

»Bitte, Mutti«, sagte Gina, »erspare mir, daß ich dir Einzelheiten auftische. Es war wirklich sehr schlimm.«

»Verheiratet zu sein ist nie einfach«; sagte Frau Lowitzer, »du weißt, wir hatten dich gewarnt.«

»Ja, ja! Vielleicht hattet ihr sogar recht, ich hätte ihn nicht heiraten sollen! Aber was nutzt das jetzt?!«

»Gina! Sollten wir nicht einmal in Ruhe über alles reden?«

»Von mir aus. Aber doch nicht gleich. Laß mich doch erst einmal verschnaufen!«

Nicht so sehr an den Worten, sondern an dem Ton, in dem sie gesprochen wurden, erkannte Frau Lowitzer, daß Gina wirklich sehr verzweifelt war, und sie entschloß sich, sie vorläufig in Ruhe zu lassen.

Gina war ihr dankbar dafür, obwohl sie wußte, daß das die Ruhe vor dem Sturm sein konnte. Sie kannte ihren Vater, vor dessen Strenge sie und Wolfi schon als kleine Kinder gezittert hatten. Aber sie hatte zuviel mitgemacht, als daß sie sich vor dieser Auseinandersetzung noch fürchten konnte. Dennoch blieb sie wohlweislich auf ihrem Zimmer — der kleinen Dachkammer, in der sie als junges Mädchen dem Leben entgegengeträumt hatte — damit Frau Lowitzer Gelegenheit hatte, ihren Mann schonend auf ihre Ankunft vorzubereiten.

Sie hatte eigentlich vorgehabt zu warten, bis die Mutter sie rief, aber dann, als die Abenddämmerung durch das schräge Fenster fiel, hielt sie es nicht länger aus. Sie nahm ihr Herz in beide Hände und stieg die Treppe hinab. Was konnte ihr schon passieren? Sie mußte es durchstehen.

Dr. Lowitzer war schon heimgekommen. Im Augenblick, als Gina das Wohnzimmer betrat, spürte sie, daß sie die Eltern in einer erregten Unterhaltung unterbrochen hatte, deren Gegenstand sie gewesen war. Beide blickten auf.

»Guten Abend, Vati«, sagte Gina so unbefangen, wie es ihr möglich war, trat auf ihn zu und wollte ihm einen Kuß geben.

Er hieltsie auf Armeslänge zurück. »Möchtest du mir nicht, bitte, erklären?«

»Selbstverständlich«, sagte Gina, »aber vorher hätte ich dich gerne begrüßt.«

»Das ist nun geschehen. Guten Abend, Gina. Stimmt es, was deine Mutter mir erzählt hat? Daß du Thomas fortgelaufen bist?«

»Ja«, erklärte Gina mit fester Stimme.

»Und warum, wenn ich fragen darf?«

»Weil er mich belogen und betrogen hat. Genügt dir das?«

»Nein. In jeder Ehe gibt es mal Krisen.«

»Eine Krise, nennst du das?«

»Ja. Jetzt hör mich mal an, Gina. Bitte, setz dich doch! Ich will nicht fragen, ob du nicht auch etwas dazu beigetragen hast, daß es soweit gekommen ist. Du brauchst mir darauf nicht zu antworten, versuch nur dir selber gegenüber ehrlich zu sein! Aber darauf kommt es gar nicht an. Eine Ehe ist mehr als ein einfacher Vertrag, den man auflösen kann, wenn man mit dem Partner unzufrieden ist. Ihr habt euch vor dem Altar versprochen, in guten und schlechten Zeiten zusammenzuhalten.«

»Und uns treu zu sein!« fiel Gina ihm ins Wort. »Nicht ich, Thomas hat die Ehe gebrochen.«

Dr. Lowitzer und seine Frau wechselten einen raschen Blick. Dann sagte Ginas Mutter: »Du mußt ihm verzeihen, Kind. Wir Frauen müssen immer verzeihen. Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung. Wenn du jetzt Größe zeigst, kann alles wieder zwischen euch gut werden.«

»Nein, Mutti!« Gina hatte sich in einen, der bunt bezogenen Sessel zusammengekauert. »Ich weiß, daß du es gut meinst. Aber du verkennst die Situation. Ich kann dir das alles auch nicht so schildern. Ich habe um seine Liebe gekämpft, ich habe mir Mühe gegeben, aber er will einfach nichts mehr von mir wissen. Ich habe wirklich alles versucht, glaub mir.«

»Na, dann werde ich mit deinen Mann wohl mal vorknöpfen müssen«, sagte Dr. Lowitzer.

»Das kannst du dir sparen«, sagte Gina, »ich kehre nicht mehr zu ihm zurück. Um keinen Preis.«

»Aber warum denn nicht, Gina?« fragte ihre Mutter.

»Wie kannst du nur so unerbittlich sein? Vielleicht tut ihm längst alles leid.«

»Da kennst du Thomas nicht«, sagte Gina bitter, »und selbst wenn er zur Einsicht käme. Ich will nicht mehr. Ich kann einfach nicht. Er, er hat mich geohrfeigt. Vor allen Leuten. Nein, nein, nein, ich werde mich nicht mit ihm versöhnen. Es hat gar keinen Zweck mir zuzureden.«

Dr. Lowitzer seufzte tief. »Also, was hast du vor?«

»Ich will bei euch bleiben, wenigstens eine Weile.«

»Hm, ich verstehe.« Dr. Lowitzer räusperte sich. »Natürlich, das hier ist dein Elternhaus, und du weißt, daß wir dich sehr lieb haben, Gina. Trotz deiner Fehler. Dennoch bin ich der Meinung, du bist trotz unserer Warnungen diese Ehe eingegangen, gegen unseren ausdrücklichen Wunsch, du willst sie aufgeben, also, ich muß schon sagen, ich finde, daß du das Recht verspielt hast, hier zu sein. Ein Elternhaus sollte mehr sein als ein Unterschlupf, wenn irgend etwas schiefgegangen ist.«

»Ihr fürchtet, daß die Leute reden werden«, sagte Gina hart.

»Auch das, Gina«, erklärte ihre Mutter ruhig, »warum sollen wir es nicht zugeben? Es kann dir doch auch nicht gleichgültig sein. Als du heiratetest, haben deine Freundinnen dich beneidet. Willst du, daß sie dich jetzt verspotten?!«

»Wenn mir alles so gleichgültig wäre.«

»Uns aber nicht«, sagte ihr Vater. »Die Sache mit Wolfi war schlimm genug. Wir haben uns alle Mühe gegeben, euch zu rechtschaffenen Menschen zu erziehen. Wir haben es nicht verdient, euretwegen bemitleidet und verachtet zu werden.«

»Aber wenn ihr mir nicht helft«, rief Gina verzweifelt, »was bleibt mir dann übrig?«

»Wir wollen dir ja helfen«, sagte Frau Lowitzer rasch. »Wir haben schon darüber gesprochen. Vater wird dir Geld geben, damit du in München oder einer anderen großen Stadt unabhängig leben kannst, bis du eine Arbeit gefunden hast. Übrigens wird ja auch dein Mann für dich zahlen müssen. So einfach kann er sich nicht von allen Verpflichtungen drücken.«

»Aber Geld! Was nutzt init denn Geld! Ich brauche, ach, warum begreift ihr es denn nicht?! Ich bekomme ein Kind!«

Gina spürte, daß sie die Tränen nicht länger zurückhalten konnte, sie sprang auf und stürzte aus dem Zimmer.

Ihre Eltern blieben betroffen zurück.

»Arme Gina«, sagte Frau Lowifzer endlich erschüttert.

»Nun ja«, sagte ihr Mann, »sie kann einem leid tun. Trotzdem glaube ich nicht, daß sie ganz schuldlos ist.«

»Aber kommt es denn darauf an!? Sie war viel zu jung für die Ehe. Wir haben es gewußt, wir hätten es nie zulassen dürfen, daß …«

»Du weißt hoffentlich noch, warum wir unsere Erlaubnis gegeben haben, nicht wahr? Um zu verhindern, daß etwas Schlimmeres passierte! Und immerhin, sie ist wenigstehs verheiratet. Es ist keine Schande, daß sie Mutter wird.«

»Aber ein großes Elend.«

»Ja, da hast du recht.«

»Wir müssen sie jetzt natürlich hierbehalten. Mindestens so lange, bis das Kind da ist. Wir können sagen, daß sie zu uns gekommen ist, weil, na, einfach weil sie Pflege benötigt. Niemand braucht erfahren, wie es um diese Ehe steht. Wenigstens vorläufig nicht.«

»Damit ist aber doch nichts geholfen.«

»Nein«, mußte Frau Lowitzer zugeben. Dann, nach einer Pause, fügte sie hinzu: »Vielleicht wäre es richtig, wenn du einmal nach München fahren und mit Thomas sprechen würdest.«

»Und was soll das für einen Sinn haben? Wenn sie sich scheiden lassen wollte, ja dann! Aber daran denkt sie im Augenblick ja noch gar nicht. Und ich halte das für sehr gut so. Laß den beiden Zeit. Vielleicht kommt doch noch alles in Ordnung!«

»Glaubst du wirklich daran?« fragte seine Frau.

Aber Dr. Lowitzer antwortete ihr darauf nicht. Er hatte schon zur Zeitung gegriffen, und sie verstand, daß für ihn das Thema hiermit erschöpft war.

Mit einem leichten Seufzer stand sie auf, um zu Gina hinaufzugehen und ihr die Entscheidung mitzuteilen.

[67]

»Du mußt sie zurückholen«, sagte Dr. Jahn, als Thomas ihm den Fall seiner Ehe erzählt hatte.

Sie saßen in einem kleinen Lokal in der Nähe des Amtsgerichtes und aßen zu Mittag.

»Nein«, sagte Thomas, »nein, das kann ich nicht. Unsere Ehe ist kaputt. Es hat gar keinen Sinn, sich darüber etwas vorzumachen.«

»Willst du etwa eine Scheidungsklage einreichen?«

»Das eben wollte ich mit dir besprechen.«

»Was willst du als Grund angeben? Böswilliges Verlassen? Damit kommst du nicht durch. Du weißt, daß du dich mit dieser Ohrfeige erheblich ins Unrecht gesetzt hast.«

»Du scheinst zu vergessen, daß sie mich betrogen hat.«

»Dafür hast du keinerlei Beweise.«

»Genügt es nicht, daß sie eine ganze Nacht lang fortgeblieben ist? Daß sie am nächsten Morgen mit Henry Horn kam, um ihre Koffer abzuholen?«

»Nein. Das müßtest du eigentlich selber wissen. Aber es ist das alte Lied. Selbst der beste Rechtsanwalt pflegt seinem eigenen Fall hilflos gegenüberzustehen. Du mußt beweisen, wo sie in der Nacht war, beziehungsweise daß sie sie mit dem Modefotografen verbracht hat.«

»Aber das liegt doch auf der Hand!«

»Im Gegenteil. Kein Richter wird dir das abnehmen, und wenn ich ehrlich sein soll, auch mir selber kommt das mehr als unwahrscheinlich vor. Wenn sie ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, wäre sie niemals am nächsten Morgen mit Henry Horn zusammen aufgekreuzt.«

»Du überschätzt sie, Herbert. Sie ist sehr naiv in solchen Dingen.«

»Aber Henry Horn nicht. Willst du mir wirklich einreden, daß ein solch gewiegter Frauenjäger jede Vorsicht außer acht lassen würde? Daß er es geradezu darauf angelegt hat, als Zeuge in einem Scheidungsprozeß aufgerufen zu werden?«

»Warum nicht?« gab Thomas störrisch zurück. »Wahrscheinlich ist es ihm egal.«

»Das glaubst du doch selber nicht!«

»Vielleicht wollte er überschlau sein! Aber damit kommt er bei mir nicht durch! Ich werde ihn als Zeugen nennen und ihn zwingen, unter Eid auszusagen und dann…«

»… wird Vivian Geron ebenfalls aussagen müssen! Sag mal, Thomas, bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Du solltest doch wissen, wie ekelhaft es ist, wenn zwei Menschen, die sich einmal geliebt haben, nun ihre schmutzige Wäsche in aller Öffentlichkeit waschen! Noch dazu würdest du als Rechtsanwalt dich in einem solchen Prozeß unmöglich machen, und mich mit! Denn ich nehme doch an, du erwartest, daß ich dich vertrete, ja? Aber unter diesen Umständen mache ich das nicht. Auf keinen Fall.«

Thomas schob den erst halb geleerten Teller von sich, zündete sich eine Zigarette an. »Du hast natürlich recht«, gab er zu, »du mußt mich langsam für einen Idioten halten. Aber diese ganze Geschichte hat mir verdammt zugesetzt.«

»Das verstehe ich ja. Aber du darfst auf keinen Fall die Nerven verlieren.«

»Aber was soll ich tun?«

»Versuch erst einmal herauszubringen, wo Gina jetzt ist. Laß sie beobachten. Stelle fest, ob sie noch mit Henry Horn zusammenkommt, ob sie bei ihm lebt, sich von ihm aushalten läßt.«

»Sie ist nach Garmisch zu ihren Eltern gefahren«, sagte Thomas, »jedenfalls hat sie das meiner Mutter gegenüber behauptet.«

»Na, es läßt sich ja leicht feststellen, ob das stimmt. Ruf in Garmisch an.«

»Nein. Das möchte ich nicht. Ich könnte jetzt nicht mit ihr reden.«

»Ja, begreifst du denn nicht, daß, wenn sie wirklich in Garmisch ist, dein Verdacht jede Wahrscheinlichkeit verliert? Nehmen wir einmal an, sie hätte die Nacht mit Henry Horn verbracht — warum sollte sie anschließend nach Garmisch fahren? Entweder er hätte sie zu dir zurückgeschickt und ihr geraten, sich wieder mit dir zu versöhnen, oder er hätte sie bei sich behalten. Nein, Thomas, Gina hat dich nicht betrogen. Sie ist auch gar nicht der Typ, der so etwas tut.«

»Dir hat sie ja immer schon gefallen.«

»Stimmt. Und deshalb rate ich dir noch einmal, versuch dich mit ihr zu versöhnen. Bitte sie um Verzeihung, du hast dir nämlich viel mehr zuschulden kommen lassen als sie. Hol sie zurück.«

Thomas schwieg.

»Oder hast du etwa Vivian versprochen, dich scheiden zu lassen und sie zu heiraten?«

»Ich habe Vivian seit jener Nacht nicht mehr gesehen.«

»Ausgezeichnet. Laß es dabei. Aber dann steht doch einer Versöhnung wirklich nichts mehr im Wege.«

»Gina wird mir nicht verzeihen«, sagte Thomas, »und ich, ich fürchte, daß ich ihr niemals mehr werde glauben können.«

»Das kommt ja nur auf einen Versuch an«, drängte Dr. Jahn, »sprich erst mal mit ihr! Wenn sie nicht zurück will, bleibt ja immer noch die Scheidung. Aber sprechen müßt ihr auf jeden Fall miteinander, damit die Scheidung ohne häßliche gegenseitige Beschuldigungen, sondern in aller Freundschaft, wie es unter zivilisierten Menschen üblich ist, über die Bühne gehen kann.«

Thomas drückte seine Zigarette aus. »Ich danke dir für deinen Rat, Herbert. Ich werde Gina schreiben und sie um ein Gespräch bitten.«

[68]

Gina erhielt diesen Brief wenige Tage später. Ihre Mutter brachte ihn ihr, und ihre Augen verrieten‘ daß sie wußte, von wem er kam. Aber sie sagte kein Wort, sondern ließ Gina bei der Lektüre allein.

Gina ärgerte sich über sich selber, daß ihr Herz so heftig klopfte, als sie den Umschlag aufriß. Unwillkürlich erinnerte sie sich an ihre Verlobungszeit, als jeder Brief von Thomas ihr noch beseligende Freude bedeutet hatte. Ein ganzes Leben schien dazwischen zu liegen, und doch war es kaum ein Jahr her.

Dann las sie den Brief. Er enthielt nur wenige trockene Zeilen, den nüchtern vorgetragenen Vorschlag, daß Gina sich mit ihm treffen sollte, um »unsere Angelegenheit zu klären« — kein Wort der Entschuldigung, kein Wort der Sehnsucht oder der Sorge, nicht einmal eine Anklage.

In jähem Zorn zerriß Gina das Papier.

Erst Stunden später fühlte sie sich imstande zu antworten. »Lieber Thomas«, schrieb sie nach langem Überlegen, »ich danke dir für deinen Brief. Aber ich möchte dich nicht wiedersehen und weiß auch nicht, was es zwischen uns noch zu besprechen gäbe. Gina.«

Als die Mutter am Abend ihr Interesse nicht länger verbergen konnte und fragte, was Thomas denn gesthrieben hätte, erwiderte Gina kurz: »Nichts von Belang. Ich habe ihm schon geantwortet.«

Am Ende des Monats traf eine Geldüberweisung von Thomas ein. »Alimente für den Monat April«, stand auf dem Abschnitt für den Empfänger. Gina war drauf und dran, ihm das Geld zurückzuschicken. Aber dann siegte ihre Vernunft. Wenn das Kind erst da war, würde sie sich selbständig machen müssen, und dann würde es gut sein, wenigstens einen gewissen finanziellen Rückhalt zu haben. Sie eröffnete ein Sparkassenkonto, zahlte die Überweisung ihres Mannes dort ein.

Die Zeit verging unendlich langsam. Gina zwang sich, die Vergangenheit auch innerlich zu überwinden und nur noch an die Zukunft zu denken. Sie schrieb sich für einen Kursus in Stenografie und Schreibmaschine an einer privaten Handelsschule in Garmisch ein. Zu ihrer eigenen Überraschung fiel es ihr gar nicht schwer, noch einmal die Schulbank zu drücken. Zwar mußte sie immer wieder mit gewisser Wehmut an ihre sorglose Mädchenzeit denken, aber das Lernen fiel ihr jetzt leichter als damals. Früher war es ihr oft sinnlos erschienen, sich mit allem möglichen Wissen vollzustopfen. Jetzt wußte sie, wofür sie arbeitete. Zu ihren Mitschülern und Mitschülerinnen nahm sie keinen Kontakt auf, aber sie übte in jeder freien Minute. Sie war dankbar, daß sie arbeiten konnte und dürfte, denn das half ihr, mit ihren Sorgen fertigzuwerden.

Darüber hinaus bemühte sie sich, ihre Mutter bei der Hausarbeit zu unterstützen. Sie wollte so wenig als möglich als Last empfunden werden. Die Eltern machten ihr zwar keine Vorwürfe mehr, ließen sie aber doch fühlen, daß sie ein unerwünschter Gast war. Vielleicht aber bildete sich Gina, die ihr Zustand äußerst sensibel gemacht hatte, das auch nur ein.

Einmal als sie, während Frau Lowitzer zum Einkaufen gegangen war, das Wohnzimmer mit besonderer Gründlichkeit sauber gemacht, die Böden gebohnert, die Polster mit Schaum gereinigt und die Fenster geputzt hatte, sagte ihre Mutter beim Heimkommen anerkennend: »Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß du einmal soviel Talent zur Hausfrau entwickeln würdest! Zu schade, daß«, sie verstummte, weil sie Gina nicht verletzen wollte.

Aber Gina hatte schon verstanden, und das Lob hatte einen bitteren Beigeschmack bekommen.

Mit ihren Freundinnen aus vergangenen Tagen setzte sie sich nicht wieder in Verbindung. Sie spürte deutlich die Kluft, die sich zwischen ihr und diesen unbekümmerten Teenagern aufgetan hatte, fürchtete ihre neugierigen Fragen, ja, sogar ihre Blicke. Sie war tatsächlich fast menschenscheu geworden. Wenn Gäste ins Haus kamen, zog sie sich immer sobald wie möglich zurück, und spazieren ging sie erst abends, wenn die Dämmerung sich schon über die kleine Stadt gelegt hatte.

Als sie in den sechsten Monat kam, war ihr Zustand nicht mehr zu verbergen, und dann nahm ihre Schwerfälligkeit sehr rasch zu. Es war inzwischen Sommer geworden, und sie litt sehr unter der Hitze. Manchmal, wenn sie sich in den Spiegel sah, erschrak sie. Es war nicht nur ihr Leib, der sich verändert hatte, sondern auch ihr Gesicht. Es wirkte aufgedunsen, ihr Haar hatte den Glanz verloren, sie fühlte sich uralt und sehr häßlich.

»Wie gut, daß Thomas mich nicht so sieht«, dachte sie einmal, und fand ihren eigenen Gedanken albern und abwegig. Als ob Thomas sich überhaupt noch für sie interessierte! Er hatte jetzt freie Bahn, mit seiner Vivian zusammenzusein, und so sehr sie auch in sich hineinhorchte, sie fühlte bei dieser Vorstellung weder Schmerz, noch die geringste Spur von Eifersucht. Außer den regelmäßigen Geldüberweisungen hatte sie von Thomas seit Monaten kein Lebenszeichen mehr erhalten.

Aber es machte ihr nichts aus. Thomas war nicht mehr wichtig, genausowenig wie Henry Horn, Vivian Geron oder Frau Miller. Es gab nur noch einen Menschen, für den sie lebte, das ungeborene Kind, das sich immer heftiger in ihrem Leib regte. Ihre Sehnsucht, es endlich in den Armen halten zu dürfen, wurde immer stärker und ließ alles andere unwichtig erscheinen.

Dann endlich, in einer heißen Augustnacht, setzten die Wehen ein, zehn Tage früher, als Gina errechnet hatte. Sie war sich nicht sicher, ob diese ziehenden, in immer kürzeren Abständen wiederkehrenden Schmerzen wirklich den Beginn der Geburt ankündigten. Sie wagte es in ihrer Unerfahrenheit nicht, die Eltern zu wecken. Erst als der Schmerz so heftig wurde, daß sie nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte, wurde ihr ihre Hilflosigkeit und Verlassenheit in der heißen kleinen Kammer unter dem Dach beängstigend bewußt. Sie schlüpfte in ihren Morgenrock, stolperte die Stiegen hinunter, rief um Hilfe.

Es war die höchste Zeit.

In rasender Eile brachte ihr Vater sie in die Klinik, und kaum eine halbe Stunde nach ihrer Einlieferung schenkte sie einem fast acht Pfund schweren gesunden Jungen das Leben.

Als Gina seinen ersten Schrei hörte, spürte sie, daß ihr ganzes Leben sich mit diesem Kind verändert hatte.

Am Tag, bevor Gina aus der Klinik entlassen werden sollte, kam die Schwester zu ihr ins Zimmer und sagte: »Besuch für Sie, Frau Miller!«

Gina saß in Nachthemd und Morgenrock im Sessel am Fenster und häkelte. »Meine Mutter!« fragte sie.

»Nein.« Das Lächeln der Schwester vertiefte sich. »Ein Herr. Aus München.«

»Thomas!« dachte Gina, und die Verwirrung trieb ihr das Blut in die Schläfen. »Bitte«, sagte sie, »bitte, Schwester, lassen Sie ihn noch einen Augenblick draußen warten, ich möchte erst …«

Die Schwester begriff sofort. »Natürlich«, sagte sie, »lassen Sie sich nur Zeit! Soll ich Ihnen helfen?«

»Danke, nicht nötig!« Gina war schon aufgestanden und zu dem Spiegel über dem Waschbecken geeilt. Prüfend betrachtete sie ihr Gesicht. Es wirkte durchsichtig zart, und immer lagen noch leichte Schatten unter ihren schönen grauen Augen. Sie zog den vollen blassen Mund behutsam nach, bürstete ganz leicht mit ein wenig Tusche ihre langen Wimpern nach oben, fuhr sich glättend über die Augenbrauen. Wie gut, daß sie gestern noch ihr Haar gewaschen hatte! Als wenn sie es geahnt hätte. Sie bürstete es kräftig, bis es locker und glänzend ihr schmal gewordenes Gesicht umrahmte. Sie trug dasselbe zartblaue Negligé, das sie damals — wie weit lag das jetzt zurück! — mit der Mutter zusammen für ihre Hochzeitsreise ausgesucht hatte.

Rasch lief sie wieder zu ihrem Platz am Fenster zurück, rief: »Herein!«

Es war nicht Thomas Miller, der das kleine, lichtüberflutete Zimmer betrat, sondern Henry Horn. Mit wenigen großen Schritten kam er auf Gina zu, legte einen Strauß halbgeschlosseher leuchtend roter Rosen auf ihren Schoß.

»Oh, Henry!« rief Gina überrumpelt. »Henry, Sie!?«

Er beugte sich über ihre bräunliche, immer noch jungmädchenhafte Hand. »Haben Sie nicht gewußt, daß ich kommen würde?«

»Nein, wie konnte ich das denn ahnen!«

»Sie scheinen mich sehr schlecht zu kennen, Gina.« Er umfing sie mit einem Blick, in dem soviel zärtliche Besorgnis lag, daß Gina die Augen senken mußte.

»Bitte, Henry«, sagte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen, »würden Sie der Schwester klingeln, damit sie eine Vase …«

Er nahm ihr die Rosen aus der Hand. »Nein«, sagte er, »keine Schwester. Ich möchte mit Ihnen allein sein.«

»Aber …«

»Kein Aber!« Er ging zum Waschbecken, legte den Strauß hinein. »Ganz ehrlich, Gina, haben Sie noch manchmal an mich gedacht?«

»Sehr oft«, sagte sie, »ich hatte ja Zeit genug zum Nachdenken.«

»Ich war mehr als einmal drauf und dran, Ihnen zu schreiben oder zu Ihnen zu kommen. Ich wollte warten, bis sie wieder frei waren.«

»Woher haben Sie überhaupt gewußt, daß ich hier bin?«

»Kein Kunststück«, sagte er lächelnd, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihr gegenüber. »Darf ich Ihnen von ganzem Herzen gratulieren?«

»Danke«, sagte Gina, »ich, ich bin sehr glücklich!«

»Sie dürfen stolz auf sich sein, Gina! Einem neuen Menschen das Leben zu schenken, das ist schon eine große Sache. Was sagt Ihr Mann dazu?«

»Er weiß es noch gar nicht.«

»Nicht?«

»Nein. Meine Mutter wollte es ihm unbedingt schreiben, aber ich, ich hielt es nicht für richtig.«

»Also keine Versöhnung?«

»Hätten Sie das, nach allem, was geschehen ist, für möglich gehalten?«

Er lächelte hintergründig. »Ehrlich gestanden, ja. Die Beziehungen zwischen zwei Menschen sind oft sehr verwickelt. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß auf diesem Gebiet gar nichts augeschlossen ist.«

Gina war sehr ernst geworden. Sie beugte sich leicht vor und fragte: »Würden Sie mir denn zu einer Versöhnung raten?«

»Um Himmels willen, nein! Gerade ich! Wie kommen Sie darauf?«

Gina lehnte sich fast erleichtert zurück. »Es kam mir ein bißchen so vor«, sagte sie lächelnd.

»Irrtum. Aber da wir so schnell auf den Kernpunkt der Dinge zu sprechen gekommen sind, wie sehen Ihre Pläne für die Zukunft aus, Gina?«

»Ich habe Stenografie und Schreibmaschine gelernt«, sagte Gina, »ich bin sicher, daß ich einen Posten im Büro ausfüllen könnte. Die Schwierigkeit ist nur, es müßte eine Stellung sein, wo ich mein Kind mitnehmen kann.«

Er hob die Augenbrauen hoch. »Ins Büro?«

Sie errötete. »Sie haben recht, mich zu verspotten. Ich habe mich sehr dumm ausgedrückt. Ich meine einfach eine Stellung, in der ich mein Kind bei mir behalten kann. Auch wenn ich es tagsüber fortgeben muß. Wo ich es wenigstens abends zu mir nehmen kann.«

»Und wenn Sie es bei Ihren Eltern ließen?«

Gina schüttelte den Kopf. »Hier in Garmisch will und kann ich nicht bleiben. Und von dem Jungen will ich mich nicht trennen. Um keinen Preis.«

»Gar nicht so einfach, wie?«

»Irgendwie werde ich es schon schaffen«, sagte Gina, »wenn man etwas will, mit allen Kräften will, erreicht man es doch meistens. Notfalls werde ich in einen Haushalt gehen.«

»Gina!« Henry Horn ergriff ihre Hand. »Glauben Sie nicht, daß ich Sie nicht verstehe, aber, Sie sollten sich das alles doch noch einmal gut überlegen. Sie können doch nicht Ihr ganzes Leben von Ihrem Kind abhängig machen.«

Gina lächelte. »Ich bin es nicht, die das macht. Es ist einfach so. Ich bin abhängig von dem Kleinen, und er von mir. Wir gehören zusammen, und ich, ich bin verantwortlich für ihn.«

Henry Horn klappte sein goldenes Zigarettenetui auf, besann sich, fragte: »Aber es stört Sie sicher, wenn ich rauche?«

Sie schüttelte den Kopf, schob ihm eine kleine gläserne Schale hin. Er zündete sich eine Zigarette an, betrachtete sie mit seltenem Ausdruck. »Gina«, sagte er dann, wie aus tiefen Gedanken heraus. »Ich glaube, ich wüßte eine Stellung für Sie.«

»Wirklich?«

»Ja. Haben Sie eigentlich schon Scheidungsklage eingereicht?«

Sie zögerte. »Noch nicht.«

»Na, ich denke, das wird nichts weiter als eine Formsache sein.« Er legte die Zigarette fort, ergriff ihre beiden Hände. »Gina, ich hätte niemals geahnt, daß es so verdammt schwer sein würde. Auf diesem Gebiet fehlt es mir wirklich an Erfahrung, Gina, wollen Sie meine Frau werden?«

Sie sah ihn aus weit geöffneten Augen an. »Ist das Ihr Ernst?«

Er ließ ihre Hände los. »Ja, ja, das war ein Heiratsantrag. Der erste meines Lebens! Und ich muß schon sagen, ein bißchen freudiger hätten Sie darauf reagieren können!«

»Seien Sie mir nicht böse, ich, ich bin einfach überwältigt. Ich muß erst versuchen, zu begreifen.«

»Also, ja oder nein?« fragte er heftig. Er hatte seine Zigarette wieder aufgenommen, tat ein paar heftige Züge, drückte sie aus.

»Nein«, sagte Gina ruhig.

Er fuhr hoch. »Und warum nicht? Sagen Sie nicht, daß Sie mich nicht lieben, oder daß Sie überhaupt nicht mehr lieben können, Gina! Wir werden nicht morgen heiraten und nicht übermorgen. Ich lasse Ihnen Zeit, viel Zeit.«

»Bitte, Henry«, sagte sie sanft, »wollen Sie mich nicht erst einmal anhören?«

»Na schön.« Er ließ sich wieder auf den Stuhl sinken, schlug die Beine übereinander.

»Henry«, sagte Gina, sehr bemüht, die richtigen Worte zu finden. »Sie dürfen nicht glauben, daß ich irgend etwas gegen Sie habe, im Gegenteil, ich bin Ihnen von Herzen dankbar.«

»Dankbar!« knurrte er.

»Sie haben mir damals geholfen, als ich am Ende war, und auch heute, es ist wunderbar für mich zu wissen, daß Sie mich gernhaben.«

»Von gernhaben kann gar keine Rede sein! Ich liebe Sie, Gina, wollen Sie das denn nicht begreifen?«

Sie seufzte, ohne es selber zu merken.

»Es geht nicht, Henry. Vielleicht würden Sie ein guter Ehemann sein, ja, das glaube ich sogar, aber, Sie sind kein Vater. Kein Vater für meinen kleinen Jungen. Sie würden ihn nicht lieben können.«

»Und woher wollen Sie das so genau wissen?«

»Schauen Sie ihn sich nur einmal an.«

»Was ist mit ihm? Nicht alles in Ordnung?«

Gina lächelte. »O doch. Er ist pumperlgesund. Gott sei Dank! Nur, es ist ein kleiner Thomas. Es ist fast komisch, wie er jetzt schon seinem Vater gleicht.«

»Das kann sich auswachsen.«

Ihr Lächeln vertiefte sich. »Nein, Henry, machen wir uns doch nichts vor. Thomas würden Sie vielleicht vergessen können, aber sein Sohn, er würde immer zwischen uns stehen.«

Er schwieg lange. Dann sagte er: »Gina, ich wage Ihnen nicht zu widersprechen. Ich will mich nicht besser machen als ich bin. Es ist immer schwer, dem Kind eines anderen Vater zu sein, und ich, ich bin, glaube ich, ein besonders schwacher Mensch. Aber eine Bitte dürfen Sie mir nicht abschlagen.«

»Ja?«

»Kommen Sie zu mir nach München. Wenn Sie mich schon nicht heiraten wollen, dann lassen Sie mich wenigstens Ihr Arbeitgeber sein. Ich habe Ihnen einmal gesagt, daß ich Sie als Fotomodell herausbringen möchte. Das will ich immer noch. Sie werden bei mir genug verdienen, um für sich und den Jungen sorgen zu können. Wir werden bestimmt eine Pflegestelle oder ein Tagesheim finden.«

»Nein, Henry, nein! Sie sind so gut zu mir, daß ich mir direkt schlecht vorkomme. Aber, bitte, verstehen Sie mich! Ich möchte nicht bei einem Mann arbeiten, der mehr für mich empfindet, als, als eben für eine normale Angestellte! Begreifen Sie doch!«

»Ich habe begriffen!« Er erhob sich, sein männliches gut geschnittenes Gesicht war mit einem Mal sehr verschlossen. »Verzeihen Sie, daß ich Sie belästigt habe, Gina! Leben Sie wohl!« Er verbeugte sich kurz, wandte sich zur Tür.

»Henry!« rief sie und sprang auf. »Müssen wir so auseinandergehen?«

Er drehte sich zu ihr um. »Entschuldigen Sie, Gina, natürlich nicht. Aber ich bin auch nur ein Mann. Sie haben mir ziemlich wehgetan.«

»Henry, ich …«

»Machen Sie sich nichts draus. Sie sind die einzige Frau, die mir je einen Korb gegeben hat, und dazu noch einen so massiven. Ich weiß nicht genau, was Sie mir verletzt haben, meine Gefühle oder meine Eitelkeit. Aber nur keine Sorge, ich werde schon darüber wegkommen. Und alles Gute für Sie! Alles Gute, Gina!«

Er nahm sie in die Arme und küßte sie. Dann ließ er sie los, als wenn er sich verbrannt hätte, stürmte mit riesigen Schritten aus dem Zimmer.

Gina wußte selber nicht, woher es kam, aber plötzlich standen ihre Augen voller Tränen. Sie weinte bitterlich, und es war ihr, als wenn ihre Tränen wie eine reinigende Flut aus ihrem Herzen strömten.

[69]

Thomas Miller hatte mit Vivian Geron gebrochen.

Dazu hatte es keinerlei Willenskraft gebraucht, sondern es war das zwangsläufige Ende einer durchaus unerquicklich gewordenen Beziehung gewesen. Thomas konnte Vivian Gerons Nähe einfach nicht mehr ertragen, und da er sich keinerlei Mühe gab, das zu verbergen, war es eben vorbei gewesen.

Aber Thomas war Gina nicht treu geblieben. Er fühlte sich nicht mehr an sie gebunden und versuchte nicht einmal sich zu beherrschen, ganz im Gegenteil — von dem Wunsch getrieben, sie zu vergessen, ließ er sich in verschiedene Abenteuer ein. Aber alle endeten enttäuschend. Nach kurzer Zeit fand er seine Eroberungen langweilig. Er wurde gereizt, abweisend und zog sich schließlich ganz zurück, falls nicht die Mädchen selber klug genug waren, den Wandel in seinen Gefühlen rechtzeitig zu spüren und von sich aus Schluß zu machen.

Dann blieb er immer wieder einmal einige Abende zu Hause, aber war auch hier rastlos, nervös, unruhig und schlecht gelaunt. Er wollte es sich nicht zugeben, aber auch die Anwesenheit seiner Mutter ging ihm jetzt auf die Nerven.

Als Frau Miller ihn einmal fragte, ob er denn immer noch nichts von Gina gehört hätte, antwortete er abweisend, fast grob. Frau Miller, bemüht, ihn zu verstehen, fragte, ob er einen Schritt getan hätte, um die Scheidung zu erreichen. Daraufhin sprang er auf, verließ wortlos und unter Türenknallen die Wohnung.

Frau Miller spürte sehr gut, daß er unglücklich war, aber sie wußte nicht, wie sie ihm helfen sollte. Sie hatte gehofft, daß, wenn Gina erst fort war, alles wieder so werden würde wie früher. Aber das gute, vertraute Verhältnis zwischen ihnen ließ sich nicht wieder herstellen. Thomas war es, der sich verändert hatte. Er war kein Muttersöhnchen mehr und kein verantwortungsloser Junggeselle, er war auf dem Wege, ein wirklicher Mann zu werden.

Frau Miller spürte diese Veränderung, ohne daß sie sie begriff. Aber sie ahnte, daß das Verschwinden Ginas die tiefere Ursache für seine innere Unrast und Unzufriedenheit war. Sie war oft nahe daran, selber nach Garmisch zu fahren und wenigstens zu versuchen, Gina zurückzuholen. Aber dann ließ sie es doch, weil sie sich einfach nicht traute, noch einmal in diese Ehe einzugreifen. Über eines war sie sich klar geworden: ohne ihre Einmischung hätte sich wahrscheinlich über manche Krisen hinweg alles zwischen den beiden eingespielt und es wäre nie zum Bruch gekommen. So mußte sie hilflos, mit wachsender Angst zusehen, wie ihr Sohn sein inneres Gleichgewicht immer mehr verlor.

Thomas hätte in dieser Zeit leicht vor die Hunde gehen können, Wenn nicht sein Beruf gewesen wäre, in dem er ein Mittel fand, seine Unzufriedenheit und uneingestandene Sehnsucht wenigstens zeitweise zu vergessen und vorübergehende Befriedigung zu finden. Mit großer innerer Bereitwilligkeit nahm er die Probleme seiner Klienten in sich auf, um so die eigenen zu vergessen, und sein Ansehen und seine Beliebtheit als Rechtsanwalt nahmen zu.

Er war es gewohnt, sehr ungewöhnliche Menschen in seiner Kanzlei zu empfangen, aber nicht einmal der Schah von Persien hätte ihn durch seinen Besuch so überraschen können wie Henry Horn es tat, als er eines nachmittags als Klient bei ihm erschien. Er war mehr als unangenehm berührt und nicht imstande, es zu verbergen.

»Sie scheinen erstaunt zu sein, Doktor Miller«, sagte der Modofotograf statt jeder Begrüßung, »wieso eigentlich? Scheint es Ihnen so seltsam, daß ausgerechnet ich wieder einmal in Schwierigkeiten geraten bin?«

»Das nicht«, erwiderte Thomas, der sich inzwischen einigermaßen gefaßt hatte, »ich wündere mich nur, daß Sie gerade zu mir kommen.«

»Haben Sie vergessen, daß Sie mir schon einmal sehr erfolgreich aus dieser unangenehmen Autogeschichte herausgeholfen haben?«

»Damals lagen die Dinge doch wohl anders.«

Ohne eine Aufforderung abzuwarten, nahm Henry Horn gegenüber dem Schreibtisch Platz. »Stimmt. Aber Sie haben seinerzeit einen guten Eindruck auf mich gemacht. Es wäre sehr unvernünftig, wenn ich mein Glück mit einem anderen Anwalt versuchen würde, da ich Ihre Tüchtigkeit ja kenne.«

Thomas Miller hätte gute Lust gehabt, dem anderen die Türe zu weisen. Er tat es nicht, weil er sich dem Rivalen gegenüber keine Blöße geben wollte und auch deshalb nicht, weil Henry Horn es zumindest Zustande gebracht hatte, seine Neugier zu wecken, wenn Thomas sich diesen Beweggrund auch selber nie zugegeben hätte.

»Also, was führt Sie zu mir?«

»Genau das, was Sie annehmen«, erwiderte Henry Horn. »Es geht um eine Frau.«

Thomas Miller begann, um den anderen nicht ansehen zu müssen, Kreise und Rechtecke auf seine Schreibunterlage zu zeichnen. »Und weiter?« fragte er.

»Um eine verheiratete Frau«, erklärte Henry Horn. »So kann es einem gehen, Doktor! Seit Jahren habe ich aufgehört, die Frauen ernstzunehmen, und jetzt auf einmal hat es mich erwischt. Ich liebe, und ausgerechnet eine verheiratete Frau.«

Thomas Miller blickte auf. »Und was kann ich dabei tun?«

»Das werden Sie gleich hören. Diese Frau lebt von ihrem Mann getrennt. Zu meiner moralischen Entlastung kann ich Ihnen also sagen, daß ich keineswegs in eine intakte Ehe einbreche. Ihr Mann hat sie schändlich behandelt, sie belogen, betrogen, ja, sogar geschlagen, ihr also Scheidungsmaterial in Hülle und Fülle geliefert. Aber aus irgendeinem Treuegefühl heraus will sie die Ehe trotzdem aufrecht erhalten.«

»Sind Kinder da?« fragte Thomas Miller.

»Ja. Eines.«

»Aber ich verstehe immer noch nicht.«

»Warten Sie nur ab. Ich möchte dieser Frau nun einmal deutlich vor Augen führen, daß alle Gefühle, die sie für ihren Mann hegt, verschwendet sind. Ich möchte ihn in eine Situation bringen, in der er gezwungen wird, seinen wahren Charakter zu enthüllen, begreifen Sie jetzt?«

»Immer noch nicht ganz.«

»Natürlich müßte es eine Frauengeschichte sein. Das ist zwar primitiv, aber immer wirksam. Vielleicht sollte man ihn dahin bringen, sich irgendeinem Mädchen gegenüber abfällig über seine Frau zu äußern.«

Thomas Miller richtete sich auf. »Hören’ Sie mal«, sagte er, »ich habe den Eindruck, Sie wenden sich an die falsche Adresse. Sie sind hier nicht bei einem Agenten, der zweifelhafte Scheidungen arrangiert!«

»Aber das sollen Sie ja auch gar nicht, lieber Doktor! Das Mädchen werde ich natürlich selber beauftragen. Ich kenne einige junge Damen, denen es nicht schwerfallen wird, unseren Mann in die geeignete Stimmung zu versetzen. Ihre Aufgabe ist es lediglich, ein Detektivbüro mit der Überwachung des Mannes zu beauftragen.«

»Das könnten Sie doch genauso gut selber!«

»Sicher. Aber Sie scheinen den Plan immer noch nicht zu begreifen. Wenn ich ihr die Überwachungsergebnisse und die Aussagen des, vielleicht auch der Mädchen unter die Augen halte, wird sie mir nicht glauben. Ich möchte, daß Sie, Doktor Miller, sich einmal mit ihr unterhalten und ihr klarmachen, daß nur eine Scheidung die Lösung ihrer Probleme bringen kann, verstehen Sie? Offiziell treten Sie natürlich erst dann auf, wenn wir alles zusammenhaben.«

»Das Ganze scheint mir«, sagte Thomas und begann wieder Kringel zu malen, »ziemlich absurd.«

»Das ist ein sehr guter Ausdruck! Ja, die Haltung dieser Frau ist wirklich absurd! Wenn ich sie nicht so liebte, würde ich bestimmt nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie freizubekommen.«

»Na schön«, sagte Thomas, »Sie müssen es ja wissen. Geben Sie mir also Name und Adresse des Mannes.«

»Thomas Miller«, erklärte Henry Horn ruhig. »Dr. jur., München.« ‘

»Was?« Thomas sprang auf.

»Ja, Sie, Dr. Miller!« sagte Henry Horn. »Kommen Sie wirklich jetzt erst darauf?«

Thomas war weiß bis an die Lippen geworden. »Wenn Sie wirklich von Gina gesprochen haben«, sagte er mühsam, »so scheint es mir, daß Sie die Dinge doch sehr einseitig sehen. Gut, ich gebe zu, ich habe sie betrogen, ja, ich habe mich auch hinreißen lassen, sie zu ohrfeigen! Aber glauben Sie nur ja nicht, daß Gina ganz ohne Schuld war.«

»Ich freue mich«, sagte Henry Horn, »ich freue mich ehrlich! Sie sind also immer noch überzeugt, daß Ihre Ehe ein Fehlgriff war? Dann bin ich völlig Ihrer Meinung. Tun Sie mir nur bitte den einen Gefallen und helfen Sie mir, Gina das klarzumachen.«

»Das weiß sie längst. Sonst hätte sie mich ja nicht verlassen.«

»Kennen Sie die Frauen wirklich so schlecht? Ich bin sicher, sie wartet seit Monaten darauf, daß Sie sie endlich zurückholen sollen.«

»Sie hat mir geschrieben, daß sie mich nicht sehen will.«

»Hat sie das? Das sieht ihr ganz ähnlich. Also passen Sie auf: ich habe unten meinen ‘Wagen stehen. Steigen Sie ein und fahren Sie mit mir nach Garmisch. Erklären Sie Gina, daß sie allein an allem schuld war, daß sie sich alles selber zuzuschreiben hat, was passiert ist, das ist doch Ihre Ansicht, nicht wahr? Und daß Sie niemals wieder zu ihr zu rückkehren werden. Kommen Sie, Doktor, kommen Sie! Ich möchte keine weitere Zeit verlieren!«

Thomas Miller war hinter seinem Schreibtisch vorgegangen, er machte tatsächlich einen Schritt auf die Türe zu, dann blieb er plötzlich stehen. »Warum soll ich Ihnen diesen Gefallen eigentlich tun?« fragte er.

»Nicht mir, Gina! Ach, entschuldigen Sie, ich vergaß, sie ist Ihnen natürlich völlig gleichgültig geworden. Sagen wir also, sich selber! Nehmen Sie Vernunft an, so ist das doch auch kein Zustand für Sie. Wenn Sie erst geschieden sind, werden Sie einen neuen Anfang finden.«

»Aber ich habe ja gar kein Interesse daran, mich scheiden zu lassen!«

»Nicht? Wieso eigentlich nicht? Nun passen Sie mal auf. Ich nehme doch an, daß Sie für Gina zahlen?«

»Ja.«

»Jetzt rechnen Sie sich nur einmal aus, wieviel Geld Sie sparen, wenn Sie erst geschieden sind! Denn dann werde ich Ihre Frau heiraten, und zwar je eher, desto besser. Ich denke, dieses Argument wird Ihnen doch einleuchten.«

»Nein«, sagte Thomas Miller. »Je mehr Sie reden, desto deutlicher wird mein Gefühl, daß Sie, daß Sie mich irgendwie hereinlegen wollen.«

»Ich?« Henry Horn spielte den Gekränkten. »Also erlauben Sie mal! Ich habe meine Karten offen auf den Tisch gelegt. Ich will Gina heiraten. Wenn Sie nur halb so ehrlich wären, oder wissen Sie etwa selber noch nicht, was Sie eigentlich wollen?«

»Doch«, sagte Thomas überraschend, »das weiß ich. Sie haben es ausgezeichnet verstanden, mir das klarzumachen. Ich will Gina nicht verlieren.«

»Werden Sie ihr das sagen?«

»Ja.«

Henry Horn schwieg. Dann zuckte er die Achseln: »Schade. Aber etwas anderes konnte ich wohl kaum erwarten. Sie wären verrückt gewesen, wenn Sie Gina aufgegeben hätten. Obwohl, ein Fünkchen Hoffnung, daß unsere Unterredung anders auslaufen würde, hatte ich wohl immer noch. Gegen alle Vernunft. Aber was kann man da machen.«

»Herr Horn«, sagte Thomas und holte tief Atem, »würden Sie mir wohl eine Frage ganz ehrlich beantworten?«

»Bitte?«

»Ist zwischen Gina und Ihnen, ich meine, ist es zu irgendwelchen intimen Beziehungen gekommen?«

»Wollen Sie Ihre Versöhnung davon abhängig machen?«

Thomas zögerte den Bruchteil einer Sekunde. Dann sagte er: »Nein. Ich weiß, daß ich kein Recht dazu hätte. Ich müßte versuchen, damit fertig zu werden.«

»Warum fragen Sie dann?«

»Weil ich ein Mann bin.«

»Na schön. Dann will ich es Ihnen von Mann zu Mann verraten. Zwischen Gina und mir ist nichts vorgefallen, was Sie nicht wissen dürften. Nichts, aber auch gar nichts. Nun zufrieden?«

Thomas Miller reichte Henry Horn die Hand. »Ich danke Ihnen und, ich fühle mich einigermaßen beschämt.«

»Das haben Sie wohl auch verdient«, sagte Henry Horn gelassen, schüttelte Thomas die Hand und wandte sich zur Türe.

Thomas ging langsam, völlig geistesabwesend, zu seinem Schreibtisch zurück. Es war ihm, als ob ein Albdruck von seiner Seele gefallen wäre, nun, da er den Weg, den er einschlagen mußte, ganz klar vor sich sah.

Wie hatte er es nur über sich bringen können, Gina alleinzulassen? Wie hatte er es nur ausgehalten, ohne sie zu sein? Selbst wenn er geglaubt hatte, daß sie ihn mit Henry Horn betrogen hatte, hätte er sie doch zurückholen müssen — sie war ja seine Frau!

Ja, Gina, seine zauberhafte junge Frau! Sie hatte ihn nicht vergessen, sie hatte den Werbungen Henry Horns nicht nachgegeben, sie hatte nicht daran gedacht, sich scheiden zu lassen. Was für ein Dummkopf war er gewesen!

Plötzlich fiel Thomas Miller etwas ein, und er blieb wie angewurzelt stehen. Hatte Henry Horn nicht etwas von einem Kind gesagt? Oder bildete er sich das nur ein? Nein, er erinnerte sich doch genau. War denn das möglich?

Thomas Miller drehte sich auf dem Absatz um und rannte zur Türe hinaus. Den Klienten, die im Vorzimmer warteten, rief er im Vorbeistürmen zu: »Entschuldigen Sie mich, bitte, eine wahnsinnig dringende Sache! Lassen Sie sich einen neuen Termin geben!«

Und ehe noch jemand Fragen stellen oder protestieren konnte, war er schon zur Kanzlei hinaus, raste die Treppe hinunter und zu seinem Wagen.

Er war entschlossen, Gina noch heute zu sehen und zu sprechen. Er mußte die Wahrheit wissen.

Erst als Thomas Miller schon an der Türe zu Lowitzers Haus geklingelt hatte, begann er zu überlegen, was er Gina sagen wollte. Aber so sehr er auch sein Hirn zermarterte, ihm fiel kein passendes Wort ein. Alles war viel schwerer, als er es sich auf seiner impulsiven Fahrt nach Garmisch vorgestellt hatte. Eine quälende Beklemmung überfiel ihn, und er war nahe daran, sich umzudrehen und zu seinem Auto zurückzulaufen.

Aber gerade in diesem Augenblick wurde die Türe geöffnet, und Gina stand vor ihm — Gina, in einem einfachen blauen Kittel, das blonde Haar schlicht zurückgekämmt und aus der Stirn gebunden, das klare Gesicht ganz ungeschminkt und doch viel schöner, als Thomas es in der Erinnerung gehabt hatte, fraulicher und seltsam reif geworden.

Einen Atemzug lang standen sie sich stumm gegenüber und sahen sich nur an. Dann tat sie einen kleinen Schritt auf ihn zu und lag in seinen Armen.

»Gina«, flüsterte er in ihr Haar, »Gina, ich habe dich so sehr vermißt. Meine liebe, liebe Gina! Willst du mir verzeihen?«

Sie löste sich von ihm, sah zu ihm auf. »Es gibt nichts zu verzeihen, Thomas«, sagte sie ganz schlicht, »Wir haben beide vieles falsch gemacht! Ich auch, ich habe es längst begriffen!«

»Gina, ich …« Er wollte sie wieder an sich reißen.

Aber in diesem Augenblick erhob sich eine Kinderstimme und begann zu schreien. Es war kein Wimmern und kein Weinen, sondern ein empörtes forderndes Gebrüll, und so mißtönend es für musikalische Ohren gewesen wäre, Thomas schien es herrlicher, als alles, was er in seinem ganzen Leben gehört hatte.

»Ist es wahr?« fragte er. »Ist es wirklich wahr?«

»Ja«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand, »dein Sohn!«

Sie zog ihn mit sich die Treppe hinauf in ihre Dachkammer, wo das Kinderbett aufgestellt war. Thomas warf einen Blick hinein, sah ein dunkelhaariges, krebsrotes Köpfchen, einen riesenweit aufgerissenen zahnlosen Mund, zwei geballte kleine Fäustchen.

»Ist er nicht zauberhaft?« flüsterte Gina.

»Das schönste Kind, das ich je gesehen habe«, bestätigte er andächtig.

Gina öffnete ihren Kittel, hob es hoch, legte es sich ganz sanft an die Brust. Der Kleine begann gierig zu trinken, seine Züge glätteten sich, wurden hell. »Mein kleiner Tom«, sagte Gina beglückt, »sieht er nicht genau aus wie du?«

»Hoffentlich hat er nicht meinen Dickschädel geerbt.«

Sie lächelte ihm zu. »Doch, bestimmt. Du siehst ja, wie er heute schon ist. Er will nicht eine Sekunde auf das verzichten, was ihm zukommt.«

»Und ich habe Monate lang gewartet, bis ich wieder zu dir gefunden habe!«

»Denk nicht mehr daran«, sagte Gina, »das ist jetzt vorbei. Wir sind wieder zusammen.«

»Ja, Gina. Und es soll alles anders werden. Wir werden Mama ein eigenes Zimmer einrichten, irgendwo in unserer Nähe. Sie wird es einsehen, denn wir brauchen ja jetzt das Kinderzimmer. Niemand darf uns mehr stören, uns und unseren Jungen. Und ich verspreche dir …«

»Versprich mir nicht zuviel«, sagte sie, »wir werden immer wieder aneinandergeraten. Aber das macht nichts. Ich glaube, es gehört einfach dazu, wenn zwei Menschen miteinander leben. Wir dürfen nur nie vergessen, daß wir zusammengehören.«