Löwe gut — alles gut

Max Kruse

1969

»Löwe« kennt und liebt nahezu jedes Kind — zumindest aus der Fernsehverfilmung mit der Augsburger Puppenkiste.

Max Kruse legt nun den vierten Band seiner Abenteur vor. Diesmal sind es Seeräuber, die »Teufel der Weltmeere«, die dem Sultan und dem Löse keine Ruhe lassen. Da das Kamel alle Gefahren satt hat, zieht der fröhliche Kakadu an seiner Stelle mit ihnen mit. Allerdings gerät das Kamel trotzdem in die unangenehmsten Situationen. Ein hilflose mit seinem Butler auf dem Teppich herumfliegender Lord und der geisterhafte, gutherzige König Owigern sind neue Personen dieses Buches — nicht zu vergessen die »Teufel der Weltmeere« selbst, deren verblüffendes Geheimnis zum Schluß aufgelöst wird. Spannend, farbig und heiter wie in einem hübschen Film folgen die aufregenden und lustigen Ereignisse einander, bis es schließlich zu recht heißt: Löwe gut — alles gut.

Inhaltsverzeichnis

Können Kamele schwimmen?

Die Kakadu-Insel

Die Teufel der Weltmeere

Eine heimtückische Methode

Folgenschwere Entschlüsse

Ein Abschiedsgedicht

Ein anderes Gedicht

Der Gelbe, der Grüne, der Rote

Abgeblitzt

Das Kamel hat einen Plan

Teppichklopfen

Jussuf kommt, und Jussuf geht

Mustafa, der Teppichhändler

Gedanken am Morgen

Besuch

Ein Spaziergang und sein Ende

Keine Lebensrettung

Ein Teppichmärchen

Des Sultans Sorgen

Kleiner Irrtum

Messerscharfe Gedanken

Schlechte Auskünfte

Auf in den Kampf

Das Unheil naht

Begegnung auf Deck

Zu viele Märchen

Armer Sultan — armer Löwe!

Ruhe vor dem Sturm

Alarm

Die Gefangenen

Wer ist das nächste Opfer?

Die Mitternachtsinsel

Arme Brüder

Der lange Marsch

Eine Entscheidung

Eine seltsame Enthüllung

Auf dem Kamelmarkt

Frühstücksüberraschung

Ein Kundschafter

Wüstlinge

Gefahr

Mißverständnisse

Der Schornsteinfeger

Schlimme Vergeßlichkeit

Eine schlimme Entdeckung

Ein verräterischer Fund

In der Wüste

Kopfsprung

Kampf mit Nebelschwaden

Ein Plan

Eine Überraschung

Weite Wanderung

Zuviel Aufregung

Zöpfe

Was tun?

Geisterstunde

Furcht

Geisterweisheit

Mädchen gut — alles gut

Aufbruch

Und noch eine Heimkehr

Können Kamele schwimmen?

Ach, wieviel Unerwartetes geschieht doch auf dieser Erde, und niemand weiß, was das Schicksal für ihn bereithält.

Hätten sie es gewußt, sie wären nicht so sorglos über den Ozean dahingesegelt. Wer? — Nun, der Sultan, das Kamel und Löwe.

Nebeneinander saßen sie auf dem fliegenden Teppich, der sich schon so oft in Not und Gefahr bewährt hatte.

Sie wünschten sich nichts sehnlicher als eine friedliche Zukunft ohne Aufregungen und Abenteuer. Ganz besonders das Kamel.

Sie kamen aus Nekaragien, wo sie Prinz Panja beigestanden und den finsteren Rao besiegt hatten. Sie waren heldenhaft gegen die Blechbüchsensoldaten angetreten und hatten sie schließlich zu Verbündeten gewonnen.

Gestern nacht waren sie im Licht des Vollmonds aus dem märchenhaften Land abgeflogen. Und nun lachte die Sonne über ihnen. Unten dehnte sich endlos blau der Ozean.

Sie waren vergnügt und guter Dinge. Der Sultan dämmerte im Sitzen, und auch Löwe döste vor sich hin, den Kopf mit der mächtigen Mähne auf die dicken Pranken gelegt. Wahrscheinlich träumte er von Kim und Pips.

Gerade schlug er die Augen auf, um den Sultan zu fragen, ob sie die Kinder in den nächsten Ferien nach Sultanien einladen wollten, da sah er das Kamel mit sorgenvoll gerunzelter Stirn und zitternder Unterlippe in die Tiefe starren, wo die Wellen Schaumkronen trugen. »O du Kamel, was fehlt dir?« fragte er besorgt.

Und das Kamel seufzte: »Löwe, weißt du zufällig, ob ich schwimmen kann? Weißt du es, o Sultan?«

Dem Sultan hatten die Sonne, der sanfte Wind und die gleichmäßig wellenden Bewegungen des Teppichs noch einmal zu einem erholsamen Morgenschlummer verholfen. Er hockte mit gekreuzten Beinen, sein Kopf hing vornüber wie eine matte Blüte, und der große Turban war ihm auf die Nase gerutscht. Nun schreckte er auf: »Bei Allah! Schwimmen… warum… stürzen wir ab?«

»Augenblicklich nicht, aber es kann ja jederzeit passieren!« lautete die Antwort des Kamels. »Und deshalb hätte ich jetzt schon gern gewußt, ob ich mich dann noch retten kann! —«

»Ach so«, brummte der Sultan. »Nein, ich habe keine Ahnung, ob du schwimmen kannst. Ich habe noch nie ein Kamel schwimmen gesehen!«

»Das dachte ich mir! Es wäre ja auch zu merkwürdig gewesen, wenn ich einmal eine tröstliche Auskunft bekommen hätte.« Die großen Augen des unglücklichen Geschöpfs mit dem sandfarbenen Fell schimmerten noch tränenfeuchter als gewöhnlich.

Löwe seufzte leise: »Angstkamel«, achtete danach aber nicht weiter auf dieses sinnlose Gespräch. Er äugte über den Fransenrand des Teppichs. Hier und dort sah er winzige Schiffe, die sich durch die Wellen kämpften. »Sehr seltsam«, brummte er weise, »in all diesen Schiffen fahren Leute, von denen wir nichts wissen. Einige sind vielleicht schlecht. Sie wären unsere Feinde. Einige andere könnten unsere Freunde sein. Aber wir kennen sie nicht. Ach, und wenn ich mich nicht sehr irre, sehe ich da vor uns eine kleine Insel, auf der Palmen wachsen. Sultan, könnte dies die Papageienpflegerinsel sein, auf der Nenekiki, ihre Eltern und Ka, der Kakadu, leben?«

»Möglich wäre es schon.«

»Wollen wir sie besuchen?«

»Du meinst landen? Mit dem Teppich niedergehen und wieder festen Boden unter den Beinen haben?« fragte das Kamel. »O ja, das wollen wir!«

Warum nicht? Der Sultan rieb die Handflächen aneinander und lenkte den Teppich auf die Papageienpflegerinsel.

Später bereute es das Kamel bitter, daß sie nicht lieber ohne Aufenthalt nach Sultanien geflogen waren. Aber »später« ist es eben meistens zu spät!

Die Kakadu-Insel

Früher einmal hieß die Insel Papageienfresserinsel. Das war zu der Zeit, als Ka, der bunte Kakadu mit der Federhaube auf dem Kopf, von Nenekikis Eltern in den Kochtopf gesteckt werden sollte.

»Aber ich kam und rettete ihn!« erzählte Löwe dem Sultan und dem Kamel, während sich der Teppich einem schmalen Streifen Sand am Ufer näherte, wo nur drei Palmen wie umgedrehte Pinsel nebeneinanderstanden.

»Löwe gut — alles gut!« nickte der Sultan. Und Löwe berichtete weiter: »Und seitdem heißt die Insel Papageienpflegerinsel!«

»Ich bin sehr gespannt, Nenekiki, Nenemama und Nenepapa kennenzulernen und natürlich auch den lustigen Kakadu!« sagte der Sultan.

Weich setzte der Teppich auf dem Strand auf. »O Sultan, aber dies ist nicht die richtige Insel!« wieherte das Kamel, denn sein Blick war auf ein Schild gefallen, auf dem in wunderschöner Krakelschrift

Kakadu-Insel

zu lesen war.

Sie hatten sich kaum von ihrem Erstaunen erholt, als es aus dem Palmenwipfel herabkrähte.

»O Löwe, ach, da bist du ja!

Wie freut sich da der Vogel Ka!«

Und sogleich segelte das fröhliche Geschöpf auf den ausgebreiteten Flügeln zu ihnen hinab und landete genau vor Löwes Nase!

Das gab eine Begrüßung!

Der Sultan und Ka freundeten sich sofort miteinander an, und sogar das Kamel schielte wohlgefällig auf den Vogel hinab, der fliegen konnte, ohne einen Teppich besteigen zu müssen.

Nun, Ka hatte viel zu berichten und zu erklären. Zum Beispiel, daß sie die Insel in »Kakadu-Insel« umgetauft hatten, als sie erfuhren, daß die kleine Stadt Irgendwo den Namen Neulöwenburg bekam.

Angestrengt dachte das Kamel darüber nach, welches Land, welche Stadt oder Insel wohl nach ihm benannt werden könnte — aber es fiel ihm so rasch nichts ein.

Angelockt von dem ungewohnten Geplauder kam Nenekiki, das Mädchen, das rundum schwarz war und nur ein Baströckchen trug. Und ihr folgten Nenepapa und Nenemama — die Eltern.

Dann schwatzten sie alle munter drauflos. Sie ließen sich am Strand nieder, aßen Bananen und Orangen und tranken Kokosmilch.

Die Teufel der Weltmeere

Ja, als es Abend wurde, saßen sie immer noch da. Die Sonne schien unter dem Erdball zu versinken, es sah aus, als ob sie ins Wasser tauchte. Der Ozean färbte sich blutig rot. Und in diesem blutigroten Schein, der Himmel und Meer gleichmäßig überflammte, tauchten die zackigen Umrisse eines Segelschiffes auf — düster und unheimlich.

Kaum erblickte es Nenekiki, stieß sie einen Schreckensruf aus.

»O Sultan …!« jammerte das Kamel, dem sich bereits das Fell zu sträuben begann. Und der Sultan fragte, was an einem Segelschiff denn so Fürchterliches sei.

»An einem beliebigen Segelschiff nichts! Aber an diesem!« rief Nenekiki. »Kennt ihr es nicht? Sein Name ist ›Hölle‹, und es gehört den Teufeln der Weltmeere.«

»Genug! Ich habe schon genug gehört!« seufzte das Kamel. Aber Löwe wollte alles wissen. Deshalb fuhr Nenekiki fort: »Man weiß eigentlich nicht, wer die Teufel der Weltmeere sind. Sie sollen ziemlich klein geraten sein. Manche Leute behaupten, es seien böse Zwerge. Trotzdem sind sie stark wie Riesen und verschlagen wie Teufel. Wo sie auftauchen, ist kein Schiff mehr sicher!«

»Sind es Seeräuber?« fragte Löwe mit einem drohenden Knurren tief in der Kehle.

»Diese Seeräuberzwerge gehen uns überhaupt nichts an!« rief das Kamel.

»Du vergißt, daß ich Polizeipräsident von Sultanien bin!«

»O nein! Ich vergesse es gar nicht! Aber der Ozean ist ja auch nicht Sultanien. Du bist nicht der Polizeipräsident der Weltmeere — noch nicht!« beharrte das Kamel auf seiner Meinung. Nichts war ihm so zuwider, wie erneut in Abenteuer verwickelt zu werden.

»Aber das ist es ja gerade!« rief Nenekiki. »Nur weil Löwe so lange verschwunden war…«

»Nun, ich war schließlich nicht zu meinem Vergnügen verschwunden, wie du es nennst!«

»Gut — also: Nur weil Löwe so lange abwesend sein mußte, konnten die Teufel der Weltmeere überhaupt ihr Unwesen treiben. Aber jetzt bist du wieder da — und jetzt wirst du wieder für Ordnung sorgen. Löwe gut — alles gut!« Nenekikis Augen funkelten vor Begeisterung.

Eine heimtückische Methode

Inzwischen war die Sonne untergegangen, und Nenepapa hatte ein Reisigfeuer angezündet. »Wir besitzen nichts«, sagte er, »deshalb haben wir nichts zu befürchten. Sonst würde ich bestimmt kein Feuer anmachen, das die Teufel der Weltmeere anlocken könnte!«

Der Sultan schien in tiefe, einander widersprechende Gedanken verstrickt zu sein. »Ich hatte mich so auf meinen Palast und einen langen Erholungsurlaub gefreut«, brummte er. »Aber erzählt zunächst mehr von diesen Seeräubern.«

»Viel mehr weiß ich auch nicht! Man hört eigentlich nur Gerüchte. Vor allem haben sich die Teufel der Weltmeere eine höchst heimtückische Methode ausgedacht. Sie überfallen die Schiffe nicht am hellen Tage, es gibt keinen ehrlichen Kampf von Mann zu Mann, nein, sie besetzen nachts irgendeinen Leuchtturm. Gewöhnlich ist die Besatzung der Leuchttürme ja klein, sie besteht nur aus wenigen Mann. Die Teufel der Weltmeere können sie leicht überwältigen, wenn sie lautlos und unbemerkt in der Dunkelheit heransegeln. Niemand weiß, wann und wo sie auftauchen! Dann stellen sie den Scheinwerfer ab, damit der nächste Dampfer, der sich nähert, auf einem Felsenriff oder einer Sandbank scheitert. In der allgemeinen Aufregung, in der die Passagiere und die Besatzung nur an die Rettung ihres Lebens denken, berauben die Teufel der Weltmeere das sinkende Schiff, ohne sich um die Schiffbrüchigen zu kümmern…«

»Oh, aber nicht mehr lange!« brüllte Löwe. Er richtete sich stolz auf und schüttelte seine mächtige Mähne.

Schon wollte das Kamel voller Bewunderung »Gut gebrüllt, Löwe« rufen, da fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, daß es keinen anderen Wunsch hatte, als friedlich daheim in Sultanien vor sich hin zu leben und die frisch gewachsenen Grasspitzen im Park zu genießen. Es schwieg also, voller Sorge, was der Sultan beschließen würde.

Folgenschwere Entschlüsse

Und der Sultan hatte seinen Entschluß bald gefaßt. »Wenn es mir auch schwerfällt — bei meinem Turban! Wie gerne hätte ich es mir auf meiner Ottomane gemütlich gemacht und die Wasserpfeife geraucht. Aber es soll nicht sein. Ja, es hilft nichts, wir müssen diesen Teufeln der Weltmeere das Seeräuber-Handwerk legen, ihnen die Suppe versalzen, das Teufelsfell über die Ohren ziehen! Morgen früh nehmen wir die Verfolgung auf!«

Entsetzt schwieg das Kamel.

Und für alle anderen waren des Sultans Worte ein Zeichen, nun besser schlafen zu gehen. Denn sie würden bald alle Kräfte brauchen.

Für alle anderen, denn das Kamel tat kein Auge zu! Es blickte die ganze Nacht abwechselnd in den klaren Sternenhimmel oder in die Glut des langsam verlöschenden Lagerfeuers. Immer mehr schienen ihm dessen winzige Flammen aus der Hölle direkt emporzuzüngeln.

Und als der Morgen graute, und ein kühler Wind die anderen Schläfer weckte, hatte es sich zu einer Entscheidung durchgerungen: »O Sultan, Erhabener!« murmelte es verlegen: »Ehe du dich mit Löwe in neue Gefahren stürzt, bitte ich dich, mich nach Sultanien zu bringen. Meine Nerven sind nicht mehr die besten. Ich wäre euch nur eine Last, keine Hilfe…«

»Wie? Du läßt uns im Stich?« Der Sultan war verblüfft und ehrlich entrüstet.

»Es ist besser so, auch für euch! Was nützt euch ein altes, krankes, schlotterndes…«

»… Angstkamel!« fiel ihm Löwe ins Wort.

Beleidigt klappte das Kamel die Schnauze zu.

Der Sultan nahm es in Schutz. »Aber du bist so weise!« murmelte er. Es war ihm nicht angenehm, ohne das Kamel in den Kampf zu ziehen. Er war so sehr an es gewöhnt — sogar an seine schlechte Laune.

Ka hatte die Nacht zwischen den Fächern einer Dattelpalme verbracht. Aufmerksam verfolgte er von dort oben die Unterhaltung. Unruhig verlagerte er sein Körpergewicht von einem Krallfuß auf den anderen und krähte: »He! Ich begleite euch! Was sagt ihr dazu? Ein kleiner Vogel, der herumfliegen und sich gut verstecken kann, der ist hilfreich! Viel hilfreicher als das große Kamel, das nicht fliegen kann — und schwimmen kann es bestimmt auch nicht!«

»Woher willst du denn das wissen?« begehrte das Kamel nun auf, dem es doch mißfiel, wie ein nutzloser Sack beiseite geschoben zu werden. Es wollte zwar nach Sultanien, aber es wünschte trotzdem, daß dies den anderen sehr leid täte!

Nun, es mochte sein, wie es wollte. Löwe fand Kas Vorschlag gut. Tatsächlich war es bestimmt sehr nützlich, einen Vogel zum Bundesgenossen zu haben. Vor allem als Kundschafter sind Vögel unübertrefflich!

Und so war der Sultan schließlich auch einverstanden. Auf diese Weise brauchte er sich ja auch noch nicht sofort in das Getümmel zu stürzen. Wenigstens eine Nacht konnte er in Sultanien verbringen und Wasserpfeife rauchen, wenn er das Kamel dort absetzte. Vielleicht war das Schicksal ihm gnädig, und die Seeräuber wurden ausgerechnet in diesen Stunden von irgend jemand anderem gefangen?

Solche Glücksfälle sind allerdings selten.

Ein Abschiedsgedicht

Löwe war voller Kampfesmut. Deshalb fiel der Abschied von Nenekiki, Nenemama und Nenepapa nur kurz aus. Ka hatte kaum Zeit, feierlich zu versprechen, auch bestimmt schon bald zurückzukehren, denn Nenekiki fand es traurig, von ihm verlassen zu werden.

»Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich machen soll!« seufzte sie. »Mit dir kann ich mich so schön unterhalten. Nenemama und Nenepapa müssen ja immer irgend etwas arbeiten, Fische fangen, Datteln pflücken! Besonders seit du zu dichten angefangen hast, ist es so lustig!«

Kas winzige Augen funkelten vor Stolz. Er machte Nenekiki rasch noch ein Abschiedsgedicht:

»Der Ka, der reist nun übers Meer,

und Nenekiki weint — gar nicht!«

»Komisch —«, murmelte er verblüfft —, »als ich es mir eben ausdachte, reimte es sich noch.«

Er konnte den Irrtum aber nicht mehr aufklären, denn nun stieg der Teppich empor. Der Sultan hatte in die Hände geklatscht und ihre Flächen dreimal gegeneinander gerieben. Ohne dieses Zeichen ist der Teppich bekanntlich nur ein ganz gewöhnliches Stück, das womöglich jahrzehntelang in einer Wohnstube liegt und unansehnlich wird.

Man sollte es deshalb an jedem Teppich einmal ausprobieren, falls man keine so große Abneigung gegen den Teppichflug hat wie das Kamel, das im Augenblick nur hoffte, dies würde der letzte Flug seines Lebens — wohlgemerkt, nach der glücklichen Ankunft daheim!

Nenekiki, Nenemama und Nenepapa winkten, bis das eigenartige Luftfahrzeug mit seiner seltsamen Besatzung verschwunden war — wie ein vom Himmel wegradierter Punkt. »Hoffentlich kommt Ka auch wirklich zurück!« sagte Nenekiki leise. »Ich glaube schon, daß er es vorhat. Und Löwe und der Sultan wollen ja auch wieder nach Hause kommen — Aber wenn sie mit den Teufeln der Weltmeere kämpfen — Wer kann sagen, wie das ausgeht!«

»Gut wird es ausgehen!« tröstete sie Nenepapa. »Du weißt doch: Löwe gut — alles gut! — Aber komm jetzt, hilf uns Datteln pflücken!«

Ein anderes Gedicht

Ka war sehr vergnügt. Der kühle Wind, der heute wehte, pustete ihm unter die Federn, und das erzeugte ein angenehmes Kribbeln. Er saß auf des Sultans Schulter, und sein Gefieder leuchtete wie frisch lackiert. Eben war ihm wieder ein Gedicht eingefallen, sogar ein ganz langes:

»Wir fliegen nach Sultanien,

da flattern alle Fahnien!

Es kommt der Ka, der Kakadu,

ihm jubeln alle Leute zu.

Hurra! Hurra! Da kommt er ja,

hurra, der wunderbare Ka!«

Das Kamel schaute ihn grübelnd an. Irgend etwas mißfiel ihm an diesem Gesang. Und der Sultan sagte: »Sehr schön. Aber nicht ganz richtig. Denn erstens heißt es Fahnen…«

»Aber es heißt nicht Sultanen!« widersprach Ka, in seiner Dichter-Eitelkeit gekränkt.

»…und zweitens fliegen wir im Augenblick nicht nach Sultanien.«

»Ich höre wohl nicht recht? Hast du deine Pantoffeln auf der Kakadu-Insel vergessen?« Das Kamel riß erschrocken die Augen auf.

»Ich habe nichts vergessen. Sondern ich habe mir überlegt, daß es gescheiter ist, zuerst ein ernstes Wort mit den Teufeln der Weltmeere zu reden. Jetzt sind wir einmal in ihrer Nähe. Vielleicht habe ich Erfolg, dann können wir es uns daheim gemütlich machen. Und wenn nicht, so muß ich ihnen wenigstens zuerst den Fehdehandschuh hinwerfen!«

»Du hast aber gar keine Handschuhe an!« rief Ka.

»Ach, du dummer Ka! Den Fehdehandschuh hinwerfen bedeutet, eine Kriegserklärung machen. Man zieht nicht gegen jemanden in den Kampf, der gar nichts davon ahnt! Das finde ich jedenfalls — Was meinst du, Löwe?«

Löwe meinte, daß er kaum glaube, man könne die Teufel der Weltmeere mit Anstand besiegen. Und das Kamel war sehr empört, gegen seinen ausdrücklichen Wunsch zu den Seeräubern mitgeschleppt zu werden — aber da Löwe gerade die hohen Maste mit dem feuerroten Segel erblickte, kamen alle Einwände zu spät.

Unaufhaltsam näherte sich der fliegende Teppich auf nichts als Luft dem Schiff, das den Namen »Hölle« führte.

Der Gelbe, der Grüne, der Rote

Es war ein besonders windiger Tag. Oder wurde es etwa noch windiger in der Nähe der Teufel, die die See unsicher machten? Erzeugten sie etwa ihren eigenen höllischen Sturm?

Der Bug ihres Schiffes jedenfalls durchschnitt die Wellen wie eine Säbelklinge. Er tanzte auf und nieder, und die Mastspitzen neigten sich hinüber und herüber. Die Planken krachten, ächzten und stöhnten, und die Wellen überschäumten das Deck.

Trotzdem waren alle Segel gesetzt. Sie bauschten sich wie prall aufgeblasene Backen.

Nur drei Mann waren an Bord. Einer führte das Steuerruder, ein anderer hockte neben ihm auf einer Kiste, die Beine lang von sich gestreckt, und der dritte lehnte gemütlich am Mast und rauchte Pfeife. Sie schienen die wilde See überhaupt nicht zu bemerken.

Sie trugen alle die gleichen großen Wasserstiefel, in denen die Beine mitsamt den Oberschenkeln steckten wie in zu großen Futteralen. Eines ihrer Augen war unter einer breiten Binde verborgen, und auf dem Kopf hatten sie mächtige Schlapphüte, die unter dem Kinn festgebunden waren, damit sie nicht davonflogen.

So funkelten sie einäugig-aufrührerisch in die wogende See.

Obwohl sie aber scheinbar gleich angezogen waren, konnte man sie doch recht gut auseinanderhalten. Der Steuermann trug eine rote Binde, der auf der Kiste eine grüne und der am Mast eine gelbe. Und nach diesen Binden nannten sie sich auch: Roter, Grüner und Gelber.

Der Gelbe klopfte gerade seine Pfeife an der Stiefelsohle aus, spuckte über Bord und bemerkte: »Steife See heute, was?« Dabei schaute er zufällig in die Höhe — erblickte den Teppich mit seiner sonderbaren Besatzung und rief: »Pech und Schwefel! Omas Bilderbuch ist lebendig geworden!«

So etwas hatten auch die beiden anderen noch nicht gesehen. Vor Erstaunen klappten ihre Kiefer herab.

»Paß auf, Opa, daß wir dich nicht mit dem Mast aufspießen!« brüllte der Rote schließlich. Es sah ja auch wirklich gefährlich aus, wie der Teppich im Wind den schwankenden Masten auszuweichen versuchte. Man kann sich leicht ausmalen, wie er dabei hin und her schaukelte — Das Kamel schloß jedesmal entsetzt die Augen, wenn sie einer Spitze oder einem Tau zu nahe kamen.

Abgeblitzt

Der Sultan kniete sich nieder, stützte sich mit der einen Hand ab und hielt mit der anderen den Turban fest. Er schrie so laut er konnte: »Hört mal gut zu, ihr Seeräuber, ich bin der Sultan von Sultanien und werde dafür sorgen, daß ihr das Seerauben aufgebt. Laßt es sein, hört ihr! Wenn ihr es freiwillig tut, bürge ich dafür, daß ihr nur milde bestraft werdet. Tüchtige Seeleute scheint ihr ja zu sein. — Ja, was ich noch sagen wollte: Wenn ihr aber weitermacht wie bisher, dann werden ich und mein Freund Löwe…«

»Und ich, der Ka«, krähte es mutig.

»…dann werden wir euch das Handwerk legen und dafür sorgen, daß ihr das ganze Leben hinter Schloß und Riegel kommt!«

Die Seeräuber, die übrigens wirklich winzig klein zu sein schienen — wenn der Teppich genau über ihnen stand, verschwanden sie fast ganz unter ihren breiten Hutkrempen—, die Seeräuber waren also erst so verblüfft, daß sie nach Luft schnappen mußten.

Dann aber sah es so aus, als hätten sie soeben den lustigsten Witz gehört. Sie lachten und grölten vor Vergnügen. Sie riefen durcheinander: »Opa Sultan will uns besiegen — haha! — mit seinem Kamel — haha! — und einem ausgestopften Spielzeuglöwen von seinem Sofa — juhu! — und einem Papagei!«

»Ich bin ein Kakadu!« krähte Ka empört.

»Ein Kakadu!« rief der Gelbe. »Es wird ja immer schöner. Habt ihr das gehört? Wo hast du denn deinen Teddybär und dein Hottepferd, Opa Sultan? Bist du vom Zirkus oder vom Jahrmarkt? Bist du ein Feuerfresser, daß du dich an die Teufel der Weltmeere heranwagst?«

Des Sultans Wangen färbten sich zornrot. Und Löwe ließ ein gefährliches Knurren hören, das aber leider vom Heulen des Windes übertönt wurde. Die Teufel der Weltmeere aber zogen eine Segeltuchplane von einem Gegenstand ab, der sich als eine Bordkanone erwies. Dabei lachten sie immer weiter und riefen abwechselnd: »Du Großmaul, du… Wenn wir wollen, bist du bald Sultan gewesen! Höchste Zeit, daß du verschwindest, mitsamt deinem Tierpark!«

Kaum hatten sie das Kanonenrohr freigelegt, richteten sie seine Mündung auch schon auf den Teppich, und bums-krach! zischte die erste Kugel haarscharf an ihm vorbei. Drei Fransen wurden abgefetzt, sie taumelten im Wind davon.

Entsetzt wieherte das Kamel und auch der Sultan wurde blaß. Wenn der nächste Schuß einen von ihnen traf oder ein Loch in den Teppich riß, dann waren sie verloren. Es roch nach Pulverdampf! Und schon luden die Teufel der Weltmeere ihre Kanone wieder.

Da gab es nur eines: Sofort den Rückflug antreten! Fluchtartig! Mochte es auch unrühmlich sein. Das Unrühmliche ist oft das Klügere!

Wie eine Schaukel, die in den Himmel steigt, schwang sich der Teppich empor. Keine Sekunde zu früh. Nur um Zentimeter verfehlte die Kugel den Teppich — nachdem sie einen weiten Bogen beschrieben hatte, klatschte sie irgendwo ins Meer.

»Hoffentlich hat sie keinen Fisch auf die Schnauze getroffen!« sagte Ka. Er hatte sich am wenigsten aufgeregt, denn er war klein und daher schwer zu treffen, und außerdem konnte er sich notfalls fliegend retten.

Die Teufel der Weltmeere streckten ihnen die Zunge ’raus, machten lange Nasen und schnitten die frechsten Fratzen. Diese bösen Zwerge! Eigentlich benahmen sie sich eher wie unartige Kinder als wie Seeräuber.

Aber die roten Segel wurden nun rasch kleiner, denn der Sultan hatte es plötzlich sehr eilig, nach Hause zu kommen. Wütend verschränkte er die Arme vor der Brust und starrte vor sich hin, während graue Wolkenfetzen an ihnen vorbeigetrieben wurden.

»Das mußte ja schlecht ausgehen!« jammerte das Kamel. »Ich habe dich gewarnt, aber leider hörst du ja nie auf mich, du erhabener Sultan!«

»Opa! Schießbudenfigur! Feuerfresser!« Der Sultan käute böse die Beleidigungen wieder, die ihm die Seeräuber zugerufen hatten.

»Ärgere dich doch nicht! Sie werden bald um Gnade flehen!« tröstete ihn Löwe.

»Ganz meine Meinung«, krähte Ka. »Löwe gut — alles gut!«

Wenn man Ka so ansah, konnte man meinen, er befände sich auf einer Vergnügungsreise. Und genauso fühlte sich der treue Vogel. Je weiter sie nach Süden kamen, desto mehr verzogen sich nun auch die Wolken, der Wind legte sich, und der Himmel zeigte ein heiteres Blau.

Ka freute sich auf das farbenprächtige Land Sultanien, mit seinen würfelförmigen weißen Häusern, den grünen Kuppeln seiner Moscheen und ihren Minaretten, die dort das gleiche sind wie bei uns Kirchen und ihre Türme.

Löwe hatte sich niedergelegt. Auch er vergaß den überstandenen Schrecken rasch. Manchmal glaubte er schon einen Hauch der betörenden Düfte Sultaniens zu riechen, die eigenartige Mischung aus Mandelblüten, Orangen und Pfefferminze, vermengt mit gesottenem Öl und Knoblauch — die Wohlgerüche Sultaniens eben!

Das Kamel hat einen Plan

Bald tauchte der dunkelgrüne Streifen Land am Horizont auf, bald lag die weiße Stadt unter ihnen.

Der Sultan landete auf der Terrasse des Palastes, von der aus er vor so langer Zeit abgeflogen war. Die Bediensteten und Minister, der Haushofmeister und der Koch empfingen ihn mit vielen Bücklingen und voller Freude.

Die Kunde von seiner Heimkehr verbreitete sich rasch in Sultanien, aber betrübt waren die Sultanier in ihren weißen und braunen Kapuzenmänteln (die dort Burnusse genannt werden), daß ihr guter Landesvater sie schon morgen wieder verlassen mußte und sie ihn nicht mit Umzügen und fröhlichen Festen feiern konnten.

Der Sultan bedauerte dies selbst wahrscheinlich am allermeisten. Er eilte in sein Schlafgemach, streckte sich auf der Ottomane aus und entzündete die Wasserpfeife. Er nahm eines der beiden Mundstücke zwischen die roten Lippen und saugte voll Genuß. Das andere Mundstück bot er dem Kamel an, daß ihm früher ab und zu beim Rauchen Gesellschaft geleistet hatte.

Aber heute schüttelte es nur den Kopf. Der Schreck saß ihm noch in allen Gliedern — und nicht zuletzt im Magen! Sogar die blausamtenen, silberbestickten Pantoffeln mochte es noch nicht anziehen. Es war ihm eben noch gar nicht pantoffelig zumute — worunter es eine friedliche, gemütliche Stimmung verstand.

Löwe und Ka schnappten noch ein wenig frische Luft im Park des Palastes. Das Kamel war also mit dem Sultan allein. Eine seltene Gelegenheit, die es auszunutzen galt. Es grübelte nämlich darüber nach, wie es den Sultan von seinem Vorhaben, die Teufel der Weltmeere zu fangen, abhalten könnte. Es wußte wohl, daß es sinnlos war, ihn einfach darum zu bitten.

Aber es hatte da einen Gedanken. Und ganz nebenbei, als sei ihm dies gerade eben in den Sinn gekommen, murmelte es: »Der fliegende Teppich ist übrigens ziemlich dreckig!«

»So«, sagte der Sultan überrascht. »Das ist mir noch gar nicht aufgefallen!«

»Aber mir. Er ist dreckig und verstaubt! Und — ich schäme mich, es zu sagen — es liegt sogar etwas Kamelmist darauf.«

»So so! — Nun ja!«

»Nicht: nun ja! So kann ich dich nicht reisen lassen! Der Teppich muß gereinigt werden!«

»Noch heute abend?«

»Warum nicht? Ich lasse ihn gleich in den Wirtschaftshof schaffen und gründlich ausklopfen!«

»Wenn du meinst!« Der Sultan paffte. Er war froh, seinem Kamel diesen Gefallen tun zu können. Den Teppich klopfen lassen — warum nicht? Was war dabei?

Das Kamel dachte sich freilich, es wollte den Teppich erst klopfen und dann heimlich zusammenrollen und einmotten lassen. Im tiefsten Keller sollte er verschwinden. Oh, dafür wollte es schon sorgen. Und war der Teppich erst einmal weg, nun, dann mußte der Sultan wohl hierbleiben, wenigstens ein bis zwei Tage, oder bis er wiedergefunden worden war. Und das konnte, nein, das sollte lange dauern! Bis dahin hatten die Teufel der Weltmeere schon lange graue Bärte, saßen in irgendeinem Gefängnis, und niemand erinnerte sich mehr an sie! Das Kamel eilte, alles Notwendige anzuordnen.

Teppichklopfen

Der Teppich lag noch immer auf der Terrasse. Man war ja schon oft sehr nachlässig mit ihm umgegangen.

Das Kamel betrachtete ihn gedankenvoll. War es nicht seltsam, daß so einem Stück schweren Wollstoffes so wunderbare Fähigkeiten innewohnten und daß man ihm nichts, aber auch gar nichts davon ansah! Nun, es hatte sich ja niemals das geringste aus der Fliegekunst des Teppichs gemacht. Wie schön wäre es, wenn er sich in einen ganz normalen Teppich verwandeln würde, den es betreten konnte, ohne in schwindelnde Höhen entführt zu werden. Nichts, aber auch gar nichts sagte dem Kamel, daß es sich nur zu bald nach den wunderbaren Fähigkeiten des Teppichs verzehren würde. So ist es nun einmal.

Es schnaufte und rief: »He — holla!« und alsbald schafften emsige Diener den Teppich unter Leitung des Haushofmeisters in den Wirtschaftshof des Palastes, wo er über die Stange gelegt und zwei Stunden lang kräftig geklopft und gebürstet wurde, wobei die Diener in einer schier endlosen Schlange hintereinander anstanden, um sich alle zehn Minuten ablösen zu können.

Das Kamel schaute erfreut zu. Jeder Schlag, den der Teppich bekam, tat ihm wohl.

Endlich staubte er nicht mehr. Und auch das aufmerksamste Auge vermochte kein Körnchen mehr auf ihm zu erblicken. Er sah wie neu aus — ja, schöner als neu! Das ist ja das Wunderbare an diesen wertvollen Teppichen des Orients, daß sie mit zunehmendem Alter immer schöner werden.

Inzwischen war es Abend geworden. Lange Schatten füllten den Hof. Vom fernen Atlasgebirge wehte ein kühler Wind herüber.

Das Kamel fröstelte. Es wollte in den warmen Palast. Und es sagte zum Haushofmeister: »Laß den Teppich über Nacht hier hängen; es tut ihm gut, wenn er gründlich auslüftet.«

Schon möglich, daß es damit recht hatte.

Nur — am nächsten Morgen war er weg! Die Teppichstange war leer…

Jussuf kommt, und Jussuf geht

Es ist schon richtig: Man war ein bißchen zu sorglos im Sultanspalast. Später wollte zwar niemand daran schuld gewesen sein, aber jedenfalls war der Wirtschaftshof nicht abgeschlossen worden.

An drei Seiten war er von einer hohen weißen Mauer umgeben. Die vierte Seite grenzte an den Palast. Und durch die Mauer führte eines der grünen Holztore, die oben zwiebelförmig ausgeschnitten sind. Das Tor war alt, die Farbe abgeblättert, und Schloß und Scharniere waren rostig. Trotzdem hätte man das Tor abschließen können, aber es wurde ja schon seit Jahren nicht mehr abgesperrt. Warum sollte man es dann verschließen, nur weil ein Teppich auf der Stange hing? Teppiche gab es ja wie Sand am Meer in Sultanien. Ein Teppich, was war das schon?

Nun wäre auch nichts passiert, wenn nicht gerade in jener Nacht ein gewisser Jussuf am Palast vorbeigewandert wäre. Jussuf liebte es nicht zu arbeiten, er war auch nicht eigentlich ein Dieb, jedenfalls hätte er sich nie so bezeichnet, nein, es war nur so, daß er des öfteren Sachen fand, die andere Leute irgendwo hingetan hatten.

Nun, da der Sultan wieder heimgekehrt war, lag es nahe, daß Jussuf sich ein wenig in der Umgebung des Palastes umsah. Es konnte ja sein… Und siehe da! Die Tür zum Wirtschaftshof war nur angelehnt; sie lud gewissermaßen zum Eintritt ein, und dieser Umstand bewies, daß der Besitzer des Teppichs, der da auf der Stange hing, diesem keinen Wert beimaß.

Das war für Jussuf so klar wie das Mondlicht dieser Nacht. Kurz und gut, er zog den Teppich herab, rollte ihn zusammen und schleppte ihn aus dem Hof. Es war eine schwere Arbeit, der Teppich war groß, dick und hatte ein gewaltiges Gewicht.

Vor der Mauer wartete Jussufs grauer Esel, für den die Teppichrolle auch nicht gerade leicht war. Der Esel wunderte sich sogar, was für schwere Sachen die Leute so liegenließen, damit sie sein Herr finden konnte.

Aber er war es gewöhnt, schwere Dinge auf den Buckel geworfen zu bekommen — und so trabte er denn davon, als Jussuf den Zügel faßte und es plötzlich eilig hatte, aus der Nähe des Palastes wegzukommen. Auch daran war der Esel bereits gewöhnt. Immer wenn sein Herr etwas gefunden hatte, mußte er traben!

Jussuf, die braune Kapuze tief übers Gesicht gezogen, wußte nicht, was für eine Bewandtnis es mit dem Teppich hatte. Für ihn war es ein Teppich wie tausend andere, bestimmt kein Verlust für den Sultan; wer weiß, ob er sein Verschwinden überhaupt bemerkte!

Mustafa, der Teppichhändler

Dennoch stand Jussuf am nächsten Morgen ganz gegen seine Gewohnheit sehr früh auf. Einer, dessen Tätigkeit darin besteht, Sachen zu finden, ist ja nicht an bestimmte Zeiten gebunden, im Gegenteil, je reicher der Tag an vergangenen Stunden ist, desto reicher ist er auch an Dingen, die man mitnehmen kann. Denn desto mehr Zeit hatten die Leute gehabt, etwas liegenzulassen. Aber heute hatte Jussuf zunächst nicht im Sinn, etwas zu entdecken, er wollte vielmehr den Teppich in Silbermünzen verwandeln.

Er kannte da einen Teppichhändler, Mustafa, der einen großen Laden im Basar hatte und sehr reich war. Mustafa war reich, weil er Teppiche billig einkaufte und teuer verkaufte, vor allem an die durchreisenden Fremden, denen man ja so ziemlich alles andrehen kann.

Jussuf begrüßte Mustafa, wünschte ihm Gesundheit und ein langes Leben und noch mehr Reichtum und Kindersegen und sagte dann: »Ich habe hier einen Teppich, den ich nicht abgeneigt wäre zu verkaufen, vorausgesetzt, daß wir uns über den Preis einigen können!«

Er rollte den Teppich aus — und selbst in Mustafas Teppichladen, dessen Wände und sogar Decken mit wertvollen Teppichen ausgeschlagen waren, wo an den Seiten die Teppiche in großen Rollen aufgereiht standen, machte der fliegende Teppich einen kostbaren Eindruck.

Mustafa erkannte dies mit geübtem Blick, heftete jedoch seine Augen gelangweilt auf einen der zierlichen weißen Vogelkäfige, die leer und nur zum Schmuck zahlreich von der Decke herabhingen, seufzte und antwortete, daß er noch nie im Leben einen so häßlichen Teppich gesehen habe. Er ließ sich aber doch herab, wenigstens das Material zu befühlen, was ihm einen neuen Seufzer entlockte und die Bemerkung, daß er bis heute nicht geglaubt habe, es könne so minderwertige Teppiche überhaupt geben.

»Gut!« sagte Jussuf und begann den Teppich wieder zusammenzurollen. »Dann bringe ich ihn zum Teppichhändler Achmed!«

»Warte noch!« Mustafa befühlte den Teppich nochmals, seufzte wieder und sagte, der Weg zu Achmed lohne sich wahrhaftig nicht, aber er wolle Jussuf vielleicht ein Silberstück geben, anderthalb vielleicht, aber keinesfalls mehr. — »Übrigens, mein Freund«, fragte Mustafa, der seinen Jussuf schon kannte, »wo hast du denn den Teppich her? Wenn es auch ein minderwertiger Teppich ist, so ist es doch immerhin ein Teppich. Und seit wann besitzt du Teppiche? — Ich bin, wie du wohl weißt, ein ehrenhafter Kaufmann und kann es mir nicht erlauben, gestohlenes Gut zu kaufen und — Gott schütze mich — weiter zu verkaufen.«

»Gestohlen?« Jussuf fuhr das Wort in die Glieder wie ein Blitzschlag! »Gestohlen? — Bei allem, was uns teuer ist! O Mustafa, wie kannst du glauben, daß ich… oh, ich kann es nicht fassen! Dieser Teppich gehörte meiner Großmutter, einer vornehmen und reichen Dame, die vor kurzem zu meinem unaussprechlichen Kummer verstorben ist und mir diesen einzigartigen Teppich vermachte — ihr schönstes und wertvollstes Stück; in ganz Sultanien findet man nicht seinesgleichen; sie bekam ihn von einem persischen Prinzen, der ihn vom türkischen Großmogul erworben hatte. Der persische Prinz zahlte fünfhundert Silberstücke, o Mustafa, denn du mußt wissen, daß er sich unsterblich in die schönen Augen meiner Großmutter verliebt hatte! Soll ich dir die Geschichte erzählen?«

Jussuf wußte wohl, daß Mustafa nichts lieber hörte als Geschichten von Prinzessinnen und Kalifen und unglücklicher Liebe und so.

Jussuf erzählte also die Geschichte, wie seine Großmutter von dem persischen Prinzen den Teppich bekam, und er erzählte gut. Und das ist der Grund, weshalb er nach langer Zeit mit zehn Silberstücken in der Tasche Mustafas Geschäft verließ und Mustafa den Teppich neben andere an den Eingang hängte.

Beide rieben sich zufrieden die Hände.

Gedanken am Morgen

Das Kamel hatte in der Nacht, in der Jussuf den schönen märchenhaften Fund machte, ausnehmend gut geschlafen. Endlich wieder im eigenen Bett! — In der vertrauten, friedlichen, heimatlichen Umgebung! Kein böser Traum hatte ihm nahes Unheil angekündigt. Im Gegenteil, vergnügt, wohlgemut und mit blinkenden Augen erwachte es und trat auf den Balkon.

Es genoß den Blick über das Gewirr der Straßen, wo sich geschäftiges Leben regte, über Dächer und Kuppeln, in blühende Gärten — bis hin zum fernen Gebirge, hinter dem die Sandwüste begann.

Schön, dachte es. Schön, wieder zu Hause zu sein! Und der Sultan soll auch hierbleiben. Was gehen uns diese frechen Seeräuber an? Ich will mich beeilen, den Teppich wegräumen zu lassen. Und dann werde ich den Kellerschlüssel an mich nehmen und einen langen Spaziergang machen. Wer weiß, ob der Sultan die Dinge nicht überhaupt heute schon ganz anders ansieht als gestern; heute, nachdem er einmal darüber geschlafen hat.

Ja, ich werde einen weiten Spaziergang machen und sehr, sehr lange nicht zurückkommen. Es schadet gar nichts, wenn sie sich ein wenig Sorgen um mich machen. Im Gegenteil…

Eine unbezähmbare Sehnsucht packte das Kamel, die Stadt zu durchstreifen, sich an den vertrauten Mauern, Treppen, Brunnen und Cafés zu erfreuen, sich durch das Gewirr des Basars zu drängen. Es machte sich also auf und schaukelte mit seinem wiegenden Gang und mit emporgerecktem Kinn, was ein wenig hochmütig wirkte, durch die langen Gänge des Palastes.

In der Vorhalle spannten sich Rundbögen von Marmorsäule zu Marmorsäule. Hier traf das Kamel den Haushofmeister, der krumm vor Sorge in seinem Kaftan hing. Die Augen auf den Fußboden geheftet, schusselte er dem Kamel fast gegen den Hals.

»Paß doch auf!« raunzte dieses. »Wohin so eilig?«

»Zum Sultan, ehrwürdigstes Kamel, oh, es ist etwas Schreckliches geschehen! Der Teppich… ist verschwunden! Gestern abend war er noch da — aber nun ist er weg!«

»Allah sei Dank!« entfuhr es dem Kamel. Es erschrak aber gleich über diesen Jubelruf und ergänzte ihn: »Allah sei Dank, wenn er wiedergefunden sein wird. Nun, alles ist Schicksal, alles ist Fatum! Es sollte wohl so sein. Ja, ja! Ganz gewiß ist es Allahs Wille!«

»Meinst du?«

»Ich weiß es! Geh an deine Arbeit.«

»Aber der Sultan…?«

»Dem Sultan sagen wir vorläufig nichts. Laß ihn schlafen! Überlaß alles weitere nur mir!«

»Gerne, ach, gerne!« stammelte der Haushofmeister, machte noch ein Dutzend tiefe Verbeugungen, wollte aber trotzdem in der einmal eingeschlagenen Richtung weiterlaufen.

Besuch

»Was noch?« fragte das Kamel. »Wo willst du jetzt noch hin?«

»Da sind zwei Fremde! Sie warten am Löwenportal. Sie möchten den Sultan sprechen!«

»Weshalb?«

»Ich weiß es nicht genau, ehrwürdiges Kamel! Es sind Engländer, und ich verstehe sie nicht so gut. Ich glaube, sie wollen den erhabenen Sultan um Hilfe bitten. Sie sind auf See überfallen worden.«

»Wie?« Das Kamel warf den Hals, wenn überhaupt möglich, noch heftiger zurück.

»Seeräuber, soviel ich verstanden habe, ein Schiffbruch! Und ein großer Koffer mit wertvollen Dingen ist ihnen gestohlen worden!«

»Seeräuber! — Schick sie weg! Schick sie gleich weg! Hörst du! Der Sultan ist krank! Er braucht Schlaf und Ruhe! Wir können die Fremden nicht empfangen! Jetzt nicht und morgen auch nicht! —«

»Aber… aber… der Sultan weist nie einen Hilfesuchenden ab!«

»Du wagst es, mir zu widersprechen?« Das Kamel grollte, und auf seiner Unterlippe bildete sich weißer Schaum.

Da knickte der Haushofmeister erneut zusammen, drehte auf den Pantoffelabsätzen um und wirbelte zum Löwentor, um die beiden Fremden wegzuschicken.

Die beiden waren Lord Pampelmouse und sein Butler John. Das wird so ausgesprochen: Lord Pämpelmaus und Batler Tschonn. Der Butler war sein Diener. Wir lernen sie gleich näher kennen. Jetzt sei nur gesagt, daß Seine Lordschaft sehr böse, um nicht zu sagen, wütend war über diese Zurückweisung. Er war aber so vornehm, daß er es nicht zeigte. Er lüftete nur seine graue Melone — das ist dieser ulkige, runde Hut, den die Engländer tragen—, drehte sich wortlos um und ging. Sein Butler tat ein gleiches, womöglich noch vornehmer. Der einzige wichtige Unterschied zwischen den beiden war, daß der Lord einen grauen Anzug und eine graue Melone trug und der Butler beides in Schwarz, natürlich ohne jedes Stäubchen.

Das Kamel wartete, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Es wollte sich nicht umstimmen lassen!

Dann aber setzte es die breiten Polster seiner Füße über die Türschwelle und ging in den frischen Tag.

Dieses Kamel! Es war sogar noch stolz auf seine Torheit. Jetzt — so glaubte es — würde der Sultan bestimmt zu Hause bleiben. Und je länger es ausblieb, desto besser!

Oh, es hatte endlos Zeit!

»Sage dem Sultan«, rief es dem Haushofmeister zu, »er möge sich keine Sorgen um mich machen. Ich mache nur einen Bummel. Wann ich heimkomme, weiß ich noch nicht!«

Der Haushofmeister staunte. Das hatte es noch nicht gegeben, solange er denken konnte. Ob der Spaziergang des Kamels mit dem Verschwinden des Teppichs zusammenhing? Es war doch auffällig, daß es diese Mitteilung so gelassen aufnahm, fast so, als sei sie ihm nichts Neues gewesen! —

Ein Spaziergang und sein Ende

Der lange Aufenthalt in der kleinen Stadt Irgendwo und in Nekaragien bei Prinz Panja — die lange Abwesenheit von Sultanien also — hatten das Kamel vergessen lassen, daß es hier außer ihm noch Hunderte, ja viele Tausende von Trampeltieren gab, die ihm aufs Haar glichen.

Es hatte sich einfach zu sehr daran gewöhnt, ein einmaliges Geschöpf zu sein, dem man Respekt schuldete und das jeder mit der Achtung behandelte, die einem Freunde des Sultans zukam.

Natürlich wußte man auch in Sultanien, daß der Sultan ein Lieblingskamel hatte — aber woran sollte man es erkennen?

Als es sich aus dem Palast entfernte, wurde es von manchen Leuten auf der Straße freundlich gegrüßt, viele Verbeugungen mit auf das Herz gelegter Hand wurden vor ihm gemacht, man raunte sich zu: »Seht her, das Sultanskamel, der Freund des Polizeipräsidenten Löwe… wisperwisper, wisperwisper!« Und so fort.

Das Kamel hatte geschmeichelt zurückgenickt, war aber hochnäsig weitergewandert. Und nach und nach hörten die Grüße auf. Je weiter es sich vom Palast entfernte, desto seltener wurden sie. Schließlich gab es sogar Menschen, die sich über das unbegleitete, einzeln spazierengehende große Tier wunderten.

Es merkte davon nichts. Es war viel zu vergnügt, daheim zu sein. Es drängte sich durch die engen, von Gewölben überdeckten Gassen des Basars. Dieser bestand aus einem Labyrinth von Geschäften und Verkaufsständen. Turbane, Feze, verschleierte Frauen bewegten sich Kopf an Kopf. Überall wurde gehandelt und gefeilscht, geklopft, geschrien und angepriesen. Parfüms dufteten süß und betäubend. Töpferwaren, Leder und Goldschmiedearbeiten wurden ausgestellt. Eine Auslage preßte sich an die andere — oft mußte das Kamel stehenbleiben, weil es im Gewimmel der Menschen einfach nicht vorankam. Es wollte ja auch keines der auf dem Boden herumspielenden Kinder treten oder gar verletzen. Es sah auch viele Teppiche vor den Geschäften hängen, und es wunderte sich, daß immer wieder und immer noch Teppiche gekauft wurden. Bei Allah! dachte es, wer kann nur Gefallen an ihnen finden?

Vielleicht — man könnte jedenfalls darüber nachdenken — hatte es so eine große Abneigung gegen die Teppiche im allgemeinen, weil sie nun einmal aus den Haaren von Tieren, von Schafen und Ziegen — aber auch von Kamelen — hergestellt werden.

Kurz und gut — es wendete sich ab und stolzierte davon. Überhaupt wurde ihm das Menschengewimmel lästig, es entfernte sich aus dem Basar und aus der Altstadt durch das südliche Tor und begann draußen vor Lust und Wonne zunächst zu traben und später zu galoppieren. So stob es donnernd durch die Äcker, durch Olivenplantagen und gelangte auf ein Feld, auf dem sich ein graues Nomadenzelt zwischen Kakteenstauden verbarg.

Nomaden, das sind Hirten, die sich nirgends fest niederlassen, sondern mit ihren Herden umherziehen. Manchmal besitzen sie nicht einmal ein Zelt — aber diese hier hatten eines, das sie direkt neben einem, von einer verfallenen Mauer umgebenen, offenbar verlassenen kleinen Hof aufgeschlagen hatten.

Hier draußen wußte niemand mehr, daß unser Kamel des Sultans mehr oder weniger weiser Berater war — ach, überhaupt, der Sultan war weit, und die Erde ist groß, wenn man wandert und wandert…

Hier sah man nur ein frei umherlaufendes Kamel, das offenbar keinen Herren hatte — und deshalb also lief es gleich nicht mehr frei umher. Ohne daß es recht wußte, wie es dazu kam, hatte es plötzlich ein Seil um den Hals! Es wurde gewürgt und geschlagen — und je mehr es sich wehrte und aufbäumte, desto mehr wurde es gewürgt und geschlagen. Es wurde in den winzigen Hof gesperrt und gestoßen, wo man es an allen vier Beinen anpflockte.

Es war gefangen!

Zunächst war es so überrascht, daß es kaum begriff, was mit ihm geschehen war. Etwas Schreckliches jedenfalls! Es tobte, brummte und brüllte, aber vergeblich. Drei Männer, die in grobe graubraune Tücher gehüllt waren, unrasierte Kerle mit weißen Bartstoppeln auf der dunklen Haut, hieben mit Knüppeln auf es ein und zwängten ihm einen Maulkorb über.

Und als sie es endlich so fest angebunden hatten, daß es sich nicht befreien konnte, als sie es allein ließen, da fiel ihm mit Schrecken ein, daß es dem Sultan hinterlassen hatte, er möge nicht auf es warten, denn es würde lange, sehr lange Spazierengehen!

Sein Leidensweg begann!

Keine Lebensrettung

Noch schlief der Sultan tief und fest. Niemand wagte, ihn zu wecken.

So können wir rasch noch Lord Pampelmouse und seinen Butler John begleiten. Seine Lordschaft befand sich auf einer Weltreise, und Sultanien war das letzte Land, das er vor seiner Heimfahrt nach England besuchte. Schrecklicherweise war das Schiff von den Teufeln der Weltmeere überfallen worden — aber einem glücklichen Umstand und der Umsicht seines Dieners verdankte er es, daß ihm nur ein großer Koffer mit Reiseandenken gestohlen wurde. Auch das Schiff schien erfreulicherweise nicht schwer beschädigt. Zwar war es in finsterer Nacht auf eine Sandbank aufgelaufen, aber es vermochte sich einige Stunden später aus eigener Kraft wieder flottzumachen und lag nun im Hafen von Sultanien, bereit, in den nächsten zwei Stunden abzudampfen.

Lord Pampelmouse hatte eine Nacht im Grand Hotel Sultanien verbracht, sich auf der Bank mit neuem Geld versorgt, und da er von der Heimkehr des Sultans gehört hatte, wollte er diesen auffordern, etwas gegen die Seeräuber zu unternehmen und dafür zu sorgen, daß er seinen Koffer wiederbekam. Nun, wir wissen, weshalb er damit keinen Erfolg hatte.

Schlechtgelaunt schlenderte er durch den Basar. Sein Butler John schlenderte hinterher. John war immer auf musterhafte Weise um das Wohl seines Herrn besorgt. Manchmal war das Seiner Lordschaft sogar lästig — aber was half es? Ohne Diener wäre er kein richtiger Lord mehr gewesen — Die richtigen Lords sind ja sowieso im Aussterben begriffen.

Sie sahen beide so vornehm aus, daß ihnen alle Sultanier Platz machten, damit sie ungehindert zwischen den Auslagen hindurchgehen konnten.

So kamen sie auch an Mustafas Geschäft — Mustafa erkannte sofort, welch kostbarer, an Silberstücken reicher Fisch ihm da ins Netz ging, falls er, ja, falls er ihn dazu bewegen konnte, bei ihm einzutreten.

Und das konnte er natürlich, denn Mustafa war schlau. Alles war mit seinem Gehilfen verabredet und bereits erfolgreich erprobt. Er stieß einen lauten Schreckensschrei aus, sprang auf die Gasse, packte den Lord und seinen Diener am Arm und riß sie in seine Teppichklause. Und klatsch! — krachte von oben ein mit Wasser gefüllter Tonkrug auf die Stelle, wo der Lord soeben noch gestanden hatte.

Den Tonkrug hatte Mustafas Gehilfe absichtlich hinuntergestoßen, aber für den Lord mußte es so aussehen, als habe ihm Mustafa geistesgegenwärtig das Leben gerettet.

Ein Teppichmärchen

Nun kann man sich nicht einfach mit einem Dankeschön von seinem Lebensretter verabschieden, so etwas sähe schön unhöflich aus! Man muß schon wenigstens ein paar Worte mit ihm reden, und so kommt man ins Plaudern, und die Dankbarkeit gebietet es, auch einen oder zwei Blicke auf die ausgestellten Teppiche zu werfen!

Hier hatte Mustafa ein ganz seltenes Stück! Einen Teppich, der an Kostbarkeit alle anderen weit übertraf! Dieses Muster! Diese Webart! Diese prächtigen Farben und diese Wolle — welch ein Wunder von einem Teppich!

»Hm —«, brummte Seine Lordschaft, hin- und hergerissen zwischen Dankbarkeit und unverletzlichen Grundsätzen, »hm«, brummte er, »ein wirklich bemerkenswerter Teppich, in der Tat. Nur leider: Ich kaufe niemals etwas Neues! Ich kaufe nur wertvolle alte Stücke, Antiquitäten, Dinge mit Geschichte…«

Ach, wie glücklich sich das traf! Wirklich, hier hatte das Schicksal sichtbar seine Hand im Spiel! Alles ist Fatum, Allah il Allah! Mustafa schlug die Hände zusammen und rief: »Aber dieser Teppich ist ja alt! Es ist der einzige alte Teppich in meinem Geschäft — ach, was sage ich, der einzige alte Teppich, den ich je in meinem Leben verkauft habe! Nie wieder werde ich so einen Teppich anzubieten haben, oh, er hat eine Geschichte, Euer Lordschaft, denken Sie nur, und was für eine Geschichte! Der Kalif von Bagdad schenkte ihn Fatima, der dreizehnten Tochter Harun al Raschids, die man die ›Blühende‹ und ›Duftende‹ nannte, er schenkte ihn ihr, weil er vor Liebe zu ihr entbrannte, aber Fatima hat den Teppich nie erhalten, denn die vierzig Räuber… Kennt Seine Lordschaft die Geschichte von Ali Baba…?«

Lord Pampelmouse lernte diese und noch viele andere Geschichten des Teppichs kennen — unter Mustafas erfindungsreicher Beredsamkeit wuchs aus jedem Teppichfaden ein Märchen!

Einem solchen Teppich konnte der Lord kaum widerstehen. Jedoch sah der Butler auf die Uhr und sagte: »Mylord, unser Dampfer sticht in See!«

Sofort! Sofort wollte Mustafa den Teppich einrollen und an Bord bringen lassen. Er war ja nur zu froh, das Stück mit der ungeklärten Herkunft außer Landes zu wissen! »Nur tausend Silberstücke!« rief er.

Der Lord zögerte.

»Fünfhundert Silberstücke für den Teppich Fatimas, der Blühenden und Duftenden!«

Der Lord wandte sich zum Gehen.

»Vierhundert!«

»Zweihundert! Für meinen Lebensretter!« sagte der Lord in der Tür.

Die Zeit drängte, die Dampfsirene tutete das erste Mal, Mustafa schloß die Augen vor Schmerz, rief: »Zweihundertfünfzig, ein Sonderpreis, nur für Sie!«

Die Dankbarkeit siegte. Auf einen Wink des Lords zückte John die krokodillederne Brieftasche und bezahlte.

Als der Dampfer später Sultanien verließ, lag tief unten in seinem Bug ein Teppichballen, zusammengerollt und verschnürt. Und Seine Lordschaft stand am Schiffsgeländer und warf einen letzten Blick auf die Kuppeln und Minarette der Stadt. Er dachte nicht mehr an seinen geraubten Koffer, er dachte an den Kalifen von Bagdad, an Fatima, die dreizehnte Tochter Harun al Raschids… Er dachte daran, was für eine hübsche Geschichte er also seinen Freunden erzählen würde, erfreut klatschte er in die Hände, erfreut rieb er sich die Hände — und er lächelte.

Des Sultans Sorgen

Während all dies geschah, verging kaum mehr als eine Stunde. Der Spaziergang des Kamels und der Teppichkauf des Lords ereigneten sich ja ungefähr gleichzeitig.

Und während das Kamel in ohnmächtigem Zorn seine Gefangennahme erdulden mußte und Mylord die Küste Sultaniens verschwimmen sah, saß der Sultan ungeduldig am Frühstückstisch.

»Wie lange soll ich denn noch warten?« rief er. »Wo bleibt das Kamel? Ich möchte frühstücken. Es weiß doch, daß ich erst nach dem Frühstück meine geliebte Wasserpfeife rauchen darf!«

Löwe lag zu des Sultans Füßen und bemerkte, daß er sich auch keinen Reim darauf machen könne, und Ka fragte: »Seit wann dichtest du, Löwe?« Aber Löwe hatte nur eine allgemeine Redewendung gebraucht, die ausdrückte, daß auch ihm das Ausbleiben des Kamels ein Rätsel sei.

Übrigens hatte Ka schlecht geträumt, und er dachte angestrengt darüber nach, was für ein Traum es wohl gewesen war? Da es ihm aber nicht einfiel, sagte er, auf das Kamel bezogen: »Vielleicht klopft es Teppich?«

Der Sultan klatschte in die Hände, und nach ungewöhnlich langer Zeit erschien der Haushofmeister. Er wagte sich nicht herein, er blieb an der Tür stehen, im Gesicht so weiß wie die Kalkwand, und verbeugte sich ununterbrochen, immerzu knickte er zusammen, als sei ein Uhrwerk in ihm eingebaut.

»So hör schon auf!« rief der Sultan. »Eine schrecklich unpraktische Sitte ist das — sie muß unbedingt abgeschafft werden. — Wo ist das ehrwürdige Kamel, Haushofmeister?«

»Ka-ka-ka…«

»Ja, bitte?« fragte Ka.

»…ka-keine Ahnung! — Es ist sehr früh ausgegangen!«

»Ach, ausgeflogen!« krähte Ka und lachte dabei, denn dies sollte ein Witz sein.

»Auf dem Teppich?« Der Sultan konnte es kaum glauben.

»A-a-ach nein, als das ehrwürdige Kamel wegging, war der ehrwürdige Teppich bereits verschwunden!«

»Jetzt wird es spannend!« knurrte Löwe und richtete sich auf.

Der Haushofmeister warf sich auf die Knie, beteuerte seine Unschuld und berichtete alles, was er vom Teppich, vom Besuch des Lords und vom Spaziergang des Kamels wußte.

Alles war dem Sultan gleichermaßen unangenehm. Er entließ den Haushofmeister, um mit seinen Freunden zu beraten. »Gerade heute brauchen wir den Teppich so dringend!« murmelte er. »Wie wollen wir ohne ihn die Teufel der Weltmeere verfolgen?« —

»Wer weiß, ob das Kamel nicht doch auf ihm ausgeflogen ist«, plapperte Ka, »nur so zum Spaß! — Wartet mal zehn Minuten auf mich! Das werde ich gleich herausgefunden haben!« Er flatterte durch die offene Fensteröffnung, drehte sich noch einmal kurz um und rief:

»Aus ist es mit der Dichterei,

beim Helfen ist der Ka dabei!«

Der Sultan und Löwe blieben im Raum allein zurück. Sie sahen aus, als ob sie über ein ganz kniffliges Rätsel nachdächten.

Kleiner Irrtum

Ka, der fröhliche buntschillernde Kakadu, flog über die lärmende, farbige Stadt. Er schaute freilich weniger in die Tiefe, er äugte vielmehr in den blauen Himmel und versuchte, am Horizont oder zwischen den segelnden Wattewolken den fliegenden Teppich mit dem Kamel darauf zu entdecken.

Nachdem er eine Weile im Kreis herumgeflogen war und sich dabei immer weiter vom Palast entfernt hatte, kam er fast bis ans Atlasgebirge und später sogar über das offene Meer. Aber nichts erregte seine Aufmerksamkeit. Auch die Dampfer auf hoher See nahm er kaum zur Kenntnis.

Der Wind in der Höhe wehte kühl und kräftig. Schließlich dachte Ka, daß er besser daran täte, andere Vögel zu befragen, statt ohne Ziel hin und her zu fliegen. Er erblickte eine Krähe und begleitete sie, um mit ihr zu sprechen.

»Hast du wohl einen fliegenden Teppich gesehen?« fragte er sie geradeheraus.

»Natürlich, du Papagei! Er war ja nicht zu übersehen!« krähte sie zu seiner Überraschung. Er bemerkte aber trotzdem: »Ich bin kein Papagei, sondern ein Kakadu!« Man weiß ja, wie wichtig dieser Unterschied einmal für ihn war.

»So, so!« sagte die Krähe. »Ein Ka-ka-was?«

»… du! — Kakadu! — Und sag mal, saß auf dem Teppich ein Kamel?«

»Das will ich meinen, du Papadu! Es saß darauf und schlotterte mit allen Gliedern und zitterte mit der Unterlippe!«

Vor Freude, dem Kamel und dem Teppich auf der Spur zu sein, überhörte Ka die neuerliche Verunstaltung seiner Artbezeichnung. »Wo flogen sie hin?« fragte er eifrig.

»Du bist wohl nicht ganz richtig im Kopf?« antwortete die Krähe. »Zum Sultanspalast natürlich. Du mußt es doch am besten wissen, denn du saßest ja selbst mit drauf!«

»Ich? — Ach Unsinn! Wen kannst du da nur mit mir verwechselt haben? — Wann hast du sie gesehen? — Vor einer Stunde etwa?«

»Du scheinst weder ein Kakagei noch ein Papadu zu sein!« antwortete die Krähe erbost. »Vor einer Stunde! — Nein, so was! — Gestern natürlich, als ihr alle nach Hause kamt, du, der Sultan, Löwe und das Kamel. Übrigens stör mich jetzt nicht länger, meine Brut hat Hunger, ich muß sie füttern!«

So war das also! Tief enttäuscht kehrte Ka in den Palast zurück. Krähen waren offenbar sehr törichte Vögel.

Messerscharfe Gedanken

Der Sultan sog an der Wasserpfeife. Der Qualm nebelte ihn ein — wie eine Regenwolke beim Teppichflug in großer Höhe. Der Pfeifenkopf glühte. Der Sultan sagte zu Löwe: »Ka hätte ruhig hierbleiben können. Denn erstens kann das Kamel gar nicht auf dem Teppich fliegen, selbst wenn es das wollte: Wie sollte es mit seinen Vorderhufen das Zeichen machen? Zweitens hat es den Haushofmeister ja ausdrücklich bestellen lassen, es ginge lange spazieren und wir sollten nicht warten. Höchst ungewöhnlich und ein wenig ungezogen, aber das nur nebenbei!«

Gerade jetzt schoß Ka durch die Fensteröffnung und landete gezielt auf dem Kopf der Wasserpfeife. »Au, verflixt!« krähte er und schnellte wie hochgeschleudert wieder empor, denn er hatte sich die Krallen verbrannt.

»Ich denke, du rauchst nicht vor dem Frühstück!« schimpfte er.

»Ich bin so aufgeregt«, murmelte der Sultan. »Frühstücken mag ich schon gleich gar nicht! — Entschuldige bitte!«

»Nicht so schlimm!« Ka war schnell wieder besänftigt.

Während er mit dem Schnabel über seine Zehen strich, meinte er: »Etwas Gutes hat es aber doch gehabt: Beim Anblick deines glühenden Pfeifenkopfes ist mir nämlich eingefallen, was ich geträumt habe. Ich weiß nicht, ob ihr Onkel Guckaus und Vater Schluckauf kennt?«

Löwe kannte sie, und der Sultan hatte von ihnen gehört, beide aber waren noch nie auf der Leuchtturminsel gewesen.

»Da steht ein Leuchtturm, rot-weiß gestreift«, erklärte Ka, »und nachts strahlt der Scheinwerfer über das Meer. Der glühende Wasserpfeifenkopf sieht so ähnlich aus. Nun, und heute nacht habe ich geträumt, diese frechen Teufel der Weltmeere seien unterwegs zur Leuchtturminsel… Versteht ihr?«

»Natürlich«, knurrte Löwe. »Warum ist mir das nur nicht gleich gestern eingefallen. Sie wollen Onkel Guckaus und Vater Schluckauf überfallen, den Scheinwerfer ausmachen…«

»Und Zie!«

»Und Zie ausmachen?«

»Und Zie überfallen und schlachten!«

Der Sultan schnellte so rasch von der Ottomane, daß ihm sein rechter Pantoffel vom Fuß sprang und über den glatten Marmorfußboden davonschlidderte. »Aufbruch!« rief er. Er hüpfte auf einem Bein hinter seinem Pantoffel her. »Aufbruch! — Keine Zeit mehr versäumen! Auf zur Leuchtturminsel, alle Mann auf den Teppich! —«

Pustekuchen! — Wenn das nur gegangen wäre! Als dem Sultan einfiel, daß der Teppich ja weg war, setzte er sich doch tatsächlich auf den allerwertesten Sultanspopo.

Bums! — machte es. Der Haushofmeister riß die Tür auf und schrie: »Hilfe — Ein Attentat! Der Sultan ist verwundet.«

»Ach, Unsinn«, brummte der Sultan verlegen und verbat sich energisch jede Hilfe beim Aufstehen. »Wir müssen den Teppich wiederfinden! Aber wie und wo?«

»Im Basar!« meinte Löwe. »Ich kenne den Basar in- und auswendig. Als ich meine Pflichten als Polizeipräsident noch ausübte — früher, oh, da herrschte noch Ordnung im Basar…«

»Löwe gut — alles gut!« plapperte Ka.

Löwe senkte bescheiden das Haupt. Dann fuhr er fort: »Nun, also meine Meinung ist, daß der Dieb des Teppichs, der ja gar nicht zu wissen braucht, daß es sich um einen fliegenden Teppich handelt, diesen so schnell wie möglich im Basar weiterverkauft hat. Die meisten Diebe machen es so — und wahrscheinlich hat er es zuerst bei Mustafa oder Achmed versucht!«

»Die Leibwache!« befahl der Sultan. »Auf zu Mustafa und Achmed!«

»Löwe gut — alles gut!« rief Ka noch einmal, aber Löwe wehrte ab: »Keine Vorschußlorbeeren, bitte! Jedoch ein guter Rat: Wenn wir nach einem gestohlenen Teppich fragen, leugnen sie alle! Niemand hat ihn gesehen! Wir müssen so tun, als ob wir einen Teppich kaufen wollten, dann gehen die entlegensten Lager vor uns auf: Sesam öffne dich!«

Schlechte Auskünfte

Der Sultan vertauschte die Hauspantoffeln mit den Ausgehpantoffeln und rief: »Wo ist denn nun wieder mein Turban? Ach, wie dumm, den habe ich ja schon auf dem Kopf!« Auf dem Kopf hatte er auch den Kakadu. Ka hockte vorn im Turban, wo das Tuch ineinander verschlungen war. Er sah aus wie ein kostbarer Kopfputz!

Die Leibwache bahnte dem Sultan eine Gasse durch das Menschengewimmel. Freilich machten ihm alle Leute sowieso achtungsvoll Platz, zumal wenn sie Löwes Haupt mit der dicken Mähne erblickten. Von Mund zu Mund flog die Nachricht: »Der Sultan — Platz für den Sultan! Der Polizeipräsident!« Und so kam die Kunde lange vor ihnen bei Mustafa an.

Mustafa wußte sozusagen sofort, was die Glocke geschlagen hatte. Er war ja nicht dumm! Und er hatte gleich so eine böse Ahnung gehabt, daß der Teppich kein Erbstück von Jussufs Großmutter war — womöglich hatte Jussuf gar keine Großmutter. Wie kann so ein armer Schlucker eine Großmutter mit so einem herrlichen Teppich haben? Zum Teufel mit allen Märchen von persischen Prinzen und Töchtern Harun al Raschids! —

Was tun? Bestimmt hatte Jussuf den Teppich beim Sultan gestohlen! Und bei ihm, Mustafa, hieß es jetzt: »Kopf ab!« Er begann gleichzeitig zu frieren und zu schwitzen, seine runden Backen wechselten die Farbe weiß-rot — weiß-rot, so rasch wie eine Leuchtreklame.

Als der Sultan durch die Tür trat, begleitet von seiner furchteinflößenden Wache, warf sich Mustafa in ganzer Leibesfülle zu Boden. Er verbarg sein Gesicht in den Armen und stammelte: »Ich bin unschuldig, o ich Unglücklicher! Ich bin so unschuldig wie die Sonne und der Mond, o Sultan, Erhabener! Ich schwöre es beim Barte des Propheten!«

Ka dachte an Löwes Ratschlag und krähte deshalb aus dem Turbannest: »Wovon redet er, o Sultan? Du wolltest doch nur einen Teppich kaufen!«

Der Sultan zwinkerte Löwe heimlich zu, was bedeutete: Aha! Wir haben dich schon, Bursche! Und zu Mustafa sagte er: »So ist es, ich erwäge, einen Teppich zu kaufen — vielleicht! — Möglicherweise! — Natürlich nur, wenn du einen hast, der mir gefällt!«

»Kaufen!« jauchzte Mustafa, in dessen Ohren dieses Wort lieblicher als jedes andere klang. »Einen Teppich — ob ich einen Teppich habe, o Sultan, Ehrwürdigster! Seht euch nur um, hier stehen die schönsten der Welt. Heute morgen erst verkaufte ich einen Teppich an einen durchreisenden Fremden, ein Wunder aus Tausendundeiner Nacht, den Teppich der Großmutter des Paschas von… von… von…«

»Wo hattest du diesen Teppich her?« unterbrach Löwe ihn barsch.

»Oh, woher? Ja, woher hatte ich ihn denn? Es ist mir entfallen, verzeiht, es gehen so viele Teppiche durch meine Hände. Hier habe ich einen…«

Genug! Löwe wollte genau wissen, wie eben jener Teppich aussah. Mustafa begann zu stammeln, zu schwindeln, verhedderte sich in seinem eigenen Lügengespinst…

…und bald wußte der Sultan, daß sein fliegender Teppich gerade jetzt nach England unterwegs war.

Er verschob die weitere Untersuchung des Falles und die Bestrafung Mustafas und Jussufs auf später und eilte in den Palast zurück, denn nun wurde guter Rat immer teurer.

Vielleicht war wenigstens das Kamel heimgekehrt? —

Auf in den Kampf

Nun, wir wissen, in welch schlimmer Lage es sich befand! Wie sollte es da nach Hause kommen können — ja, würde es seine Freunde überhaupt jemals im Leben wiedersehen? —

Wahrscheinlich hätte sich der Sultan auf die Suche nach ihm begeben, aber unglücklicherweise hatte das Kamel, als es leichtsinnig und ahnungslos den Palast verließ, ihm ja ausrichten lassen, er möge sich keine Sorgen machen, denn es würde lange ausbleiben!

Für den Sultan war dies gerade jetzt ein wenig ärgerlich, aber mehr auch nicht. Sowieso hatte es das Kamel ja abgelehnt, mit ihm in neue Abenteuer zu ziehen — mochte es also heimkommen, wann es wollte, sie konnten nicht darauf warten!

Im Gegenteil: Die Zeit drängte. Wer wußte, wie es Onkel Guckaus und Vater Schluckauf und Zie, der ewig meckernden Ziege, inzwischen erging? Man soll warnende Träume nicht leichtnehmen, auch wenn es einmal Kakadu-Träume sind.

Und der fliegende Teppich! Wie, wenn er den Seeräubern in die Hände fiele! Schrecklicher Gedanke! Womöglich kannten diese Teufel der Weltmeere sogar sein Geheimnis, sie hatten den Sultan ja auf ihm fliegen sehen! Und kannten auch das Zeichen, auf welches er sich in die Luft erhob! Schlimme Aussichten!

Der Sultan beschloß also, sofort abzureisen! Ka bestärkte ihn darin. »Denn«, so sagte er, »um das Kamel brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Kamele sind nur Arbeitstiere. Man steckt sie nicht in Kochtöpfe, so wie Nenepapa es damals mit mir vorhatte, Papageien sind nun einmal eine Delikatesse, während Kamele… nun jedenfalls:

Es gibt kein Kamelgericht,

denn Kamele brät man nicht!«

»Danke für den Zuspruch!« sagte der Sultan. »Aber wir wollen jetzt keine Zeit mehr mit Schwatzen vertun. Löwe und ich, wir schiffen uns auf meiner Privatjacht ein. Sie ist nicht groß, aber ein kleines, wendiges Schiff mit zwei tapferen Kerlen ist besser als ein unförmiges großes, das sich schwer verbergen läßt. Du, Ka, fliegst so schnell du kannst hinter dem Dampfer her, mit dem der Engländer weggefahren ist! Sprich mit dem Lord! Er soll bitte gleich mit dem Teppich zu uns fliegen.«

»Wo seid ihr denn?«

»Irgendwo auf dem Meer, in Richtung auf die Leuchtturminsel…«

»Oje, das ist aber eine ziemlich weite Hin- und Herfliegerei! Hoffentlich versagen meine Kräfte nicht vorher. Aber egal, mit jeder Minute, die ich warte, entfernt sich der Dampfer weiter. Wäre ich nur etwas besser im Training! Auf der Kakadu-Insel bin ich ja nur von Baum zu Baum gehüpft. Es rächt sich leider immer, wenn man nicht Sport treibt. Man wird träge. Behaltet mich in guter Erinnerung, falls ich nicht wiederkomme!«

»Ich weine gleich!« brummte Löwe.

Ka rief: »Lebt wohl!

Jetzt flieg ich fort, ruft nicht hurra!

Denn etwas ängstlich ist der Ka!«

Und er verschwand wie ein bunter, zum Fenster hinausgeworfener Ball.

Kaum eine halbe Stunde später brummte auch die kleine Privatjacht des Sultans aus dem Hafen von Sultanien. Der Sultan hielt das Steuerrad in den Händen, hinter ihnen liefen die Wellen V-förmig auseinander. Löwe lag auf der Rückbank, und der Wimpel Sultaniens mit der goldenen Mondsichel auf grünem Grund knatterte.

Das Unheil naht

Schiffe — Schiffe — Schiffe!

Ein Dampfer, auf dem Lord Pampelmouse nach England reiste, die Jacht des Sultans unterwegs nach der Leuchtturminsel und ein Segelschiff namens »Hölle« auf großer Fahrt: Diese drei bewegten sich gerade jetzt auf dem Ozean.

Das Wetter hatte aufgeklart. Rot leuchteten die höllischen Segel, spiegelten sich rot in den Wellen, so daß diese aussahen, als ob Blut auf- und niederschaukelte. Der Wind pfiff leise in der Takelage, Taue schwankten und schlugen in gleichmäßigem Rhythmus an die Masten. Die Kanone an Bord war wieder unter Leinwand verborgen.

Der Seeräuber, der sich der Grüne nannte, führte das Ruder. Der Rote und der Gelbe studierten in der Kajüte die Seekarte. Die Kompaßnadel zeigte nach Norden, und ihr Kurs ging Nord-Ost.

Der Rote spuckte ein Stück Kautabak über den Tisch. Sein unverdecktes Auge sprühte Funken. »Heute abend noch werden wir die Leuchtturminsel erreichen. Der Wind ist günstig. Wir laufen 14 Knoten in der Stunde, ehe die Dämmerung anbricht, werden wir die Segel reffen — Was meinst du, Gelber?«

»Ganz deiner Meinung, Roter! Pech und Schwefel! Wir werden die Groß-Segel reffen und mit dem Vorsegel langsame Fahrt machen. Wenn es dunkel geworden ist, geht’s hinauf auf die Insel! Wird ein leichter Kampf, mein ich! Nur zwei alte Männer und ’ne meckernde Ziege! Kinderspiel für die Teufel der Weltmeere!«

»Kinderspiel! Ein Schlag auf den Kopf und einen Sack darüber… Schon erledigt!«

Der Gelbe kicherte bösartig: »Ich muß immer noch lachen, wenn ich an den Opa-Sultan und seinen Tierpark denke, hoho! Kommen da auf ’m fliegenden Teppich angesegelt und raten uns, doch lieber ›brav‹ zu sein! Hahahaha! Die Teufel der Weltmeere und brav!«

Der Rote stimmte in sein Gelächter ein. Er zog ein langes Messer aus der Lederscheide und begann es an der Tischkante zu wetzen.

»Den Jahrmarktskünstler nehmen wir uns als nächsten vor! Soviel Frechheit muß bestraft werden! Was meinst du, Gelber?«

»Ganz deiner Meinung, Roter! Nehmen wir uns als nächsten vor, so ist es! Die sollen uns noch kennenlernen, alle! Höchste Zeit, daß mal gründlich aufgeräumt wird mit der Bande!«

Welche Bande er meinte, blieb ungesagt. Der Rote schien es zu wissen, denn er hieb mit dem Messer durch die Luft.

Begegnung auf Deck

Kaum hatte Ka den Sultanspalast verlassen, kaum spürte er die frische Luft unter seinen Flügeln, verging seine Sorge. Rasch schoß er über die viereckigen Häuser und die weißen Kuppeln der Stadt dahin, überquerte den Hafen und steuerte aufs offene Meer hinaus, nach Westen, in die Richtung, in die der Dampfer mit Lord Pampelmouse gefahren sein mußte.

Er flog mehrere Stunden über die zunächst graue Wasserfläche, die allmählich stahlblau wurde. Und je höher die Sonne stieg, desto blauer wurde das Meer. Das Wetter war gut, dennoch zeigten sich weiße Schaumkronen, und die Schiffe neigten sich langsam nach rechts und wieder nach links. Es waren zahlreiche Schiffe unterwegs, in jede Richtung, und es würde nicht leicht für ihn sein, den richtigen Ozeandampfer zu finden. Andererseits waren die Schiffe auch ein Glück für ihn, denn in ihren Aufbauten, auf ihren Fahnenstangen oder Geländern konnte er sich von Zeit zu Zeit ausruhen und Atem holen. Manchmal entdeckte ihn ein Matrose, und jedesmal ärgerte sich Ka, wenn gerufen wurde: »He, seht mal, ein Papagei! Ja, wie kommt denn der hierher?«

Dann schrie Ka wohl: »Ich bin ein Kakadu!« und machte, daß er weiterkam. Wußte er denn, ob der Schiffskoch nicht gerade »Papagei in Sahnesauce« auf die Speisekarte gesetzt hatte?

Es mochte um die Mittagsstunde sein, da sichtete er einen schneeweißen, schlanken Dampfer. Der sieht nach feinen Leuten aus! dachte er und steuerte das Oberdeck an. Ka hatte an diesem Tage offenbar Glück, denn es lag ein Herr im Liegestuhl, der eine Sonnenbrille trug und eine englische Zeitung las.

Ka ließ sich sogleich in vorsichtiger Entfernung auf der Rückenlehne eines unbenutzten Liegestuhles nieder, und nachdem er sich etwas erholt hatte, krächzte er: »Guten Tag!«

»Good morning!« antwortete der Herr im Liegestuhl, schaute aber nicht von seiner Zeitung auf.

»Ja — hm —«, machte Ka, um die Unterhaltung zu beginnen: »Schönes Wetter heute! Nur etwas windig!«

Der Herr murmelte: »Ja, gewiß, nur etwas windig!«, senkte aber nun doch die Zeitung, um zu sehen, wer ihn da so hartnäckig in ein Gespräch verwickeln wollte.

»Ich bin ein Kakadu und heiße Ka!« plärrte Ka, um jede Möglichkeit, mit einem Papagei verwechselt zu werden, von vorneherein auszuschließen.

»Tatsächlich? Sehr erfreut!« murmelte der vornehme Herr. »Ich hätte schwören mögen, du seist ein Papagei! Und ich hätte es nie für möglich gehalten, von einem Papagei oder Kakadu angesprochen zu werden. Sehr erfreut, in der Tat! Mein Name ist Lord Pampelmouse!« Er sagte natürlich richtig Pämpelmaus. »Gehörst du dem Kapitän oder dem Schiffskoch? —«

Als er das Wort »Schiffskoch« hörte, zuckte Ka heftig zusammen. Er blickte sich scheu um. Glücklicherweise war aber nirgends eine hohe weiße Mütze zu sehen. »O nein!« rief er empört. »Ich bin der Freund des Sultans von Sultanien, und der Polizeipräsident Löwe ist auch mein Freund, und… und… und…«

»Vor allem scheinst du mir ein Spaßvogel zu sein!« meinte Lord Pampelmouse. »Nun, es ist ja eine Eigenschaft aller kleinen Geschöpfe, mit ihren großen Freunden anzugeben. Als ich ein Schulbub war, drohte ich denen, die mich ärgerten, mit meinem großen Bruder. Haha, ich hatte gar keinen! —«

Zu viele Märchen

Aus dem Schornstein stieg ein grauer Schleier auf, der sich lang über die See legte. Die Sonne strahlte. Und der Wind fuhr Ka unter das Gefieder und wirbelte es auf. Er war sehr ärgerlich, weil der Lord ihn nicht ernst nahm. Wie sollte er da seine Aufgabe erfolgreich durchführen? Er tappelte mit seinen Krallenfüßen auf dem Liegestuhl hin und her. Er krähte: »Es stimmt aber! Ich komme direkt aus dem Palast, um mit Ihnen zu sprechen!«

»Nanu?«

»Sie sind es doch, der im Basar einen Teppich kaufte?«

»Ja — aber wahrscheinlich gibt es viele Menschen an Bord, die Teppiche kaufen. Fast alle Leute bringen sich Teppiche aus Sultanien mit.«

»Aber Ihrer gehört dem Sultan — er braucht ihn dringend —«

»Der Sultan? — Jener, der mich heute morgen nicht empfangen hat? — Dann kriegt er ihn auch nicht wieder. Ich habe mich sehr über ihn geärgert, kleiner Vogel!«

»Aber er konnte ja nichts dafür, sein Diener…«

»Dann muß er sich seine Diener besser erziehen. Der Herr ist immer schuld. Mein Butler John würde niemals… nein, niemals…«

»Begreifen Sie doch, es ist ein fliegender Teppich!« krähte Ka verzweifelt.

»Ach so!« sagte der Lord. »Jetzt verstehe ich dich! Du bist doch ein Spaßvogel! Mein Teppich, der zu einem dicken Ballen verschnürt im Frachtraum liegt, kann kein fliegender Teppich sein!«

»O doch!« krähte Ka. »Er fliegt ja nur, wenn man… wenn man…«

»Wenn man was?«

»Ach, wie dumm! Ich weiß es nicht. Ich habe nie darauf geachtet, wie es der Sultan macht. Denn ich kann ja ganz ohne jedes Geheimnis fliegen und habe mich daher nie dafür interessiert. Aber es ist irgendein Geheimnis dabei —!«

Lord Pampelmouse lachte. »Du kommst aus dem Land der Märchenerzähler, lieber Vogel Ka, von Scheherazade und Tausendundeiner Nacht! Ich habe einen Teppich gekauft, den der Kalif von Bagdad Fatima, der dreizehnten Tochter Harun al Raschids schenkte, die die Blühende und Duftende genannt wurde. Einen Teppich, den die vierzig Räuber raubten und den Ali Baba aus dem Versteck Sesam befreite. Dies ist eine sehr hübsche Geschichte, die ich mir zu merken versucht habe, damit ich sie zu Flause meinen Freunden erzählen kann. Dein Märchen ist weniger poetisch. Ich mag es nicht!«

»Es ist aber kein Märchen!«

»Um so schlimmer! Dann mag ich die Geschichte erst recht nicht. Was glaubst du, kleiner Vogel? Der Teppich liegt unter Hunderten von Kisten und Koffern. Soll ich zum Kapitän gehen und sagen: ›Herr Kapitän, bitte lassen Sie meinen Teppich unter diesen Tausenden von Frachtstücken heraussuchen, eben kam nämlich ein Kakadu, der mir gesagt hat, daß es ein fliegender Teppich ist, der dem Sultan gehört! Wenn ich recht verstanden habe, spielt auch ein Löwe, der Polizeipräsident ist, eine gewisse Rolle dabei.‹ — Was glaubst du, würde der Kapitän machen? Ich will es dir sagen: Er würde mich auslachen. Und ich täte an seiner Stelle das gleiche. Nein, mein Lieber, der Teppich kommt in mein Landhaus, es heißt Pampelmouse House (Pämpelmaus-Haus gesprochen). Und dort werde ich alle Geschichten erzählen, die ich von dem Teppich erfahren habe. Dein Pech ist, daß ich nicht an fliegende Teppiche glaube! Es gibt Flugzeuge und Luftschiffe und Ballone und alles mögliche — aber fliegende Teppiche kommen nur in Witzbüchern und Märchen vor!«

Kas Federhaube auf dem Kopf stellte sich auf, so wütend war er. Dieser verflixte feine Herr im Liegestuhl glaubte ihm nicht. Er hätte ihn am liebsten in die Ohrläppchen und in die Nase gezwickt und ihm die Haare büschelweise ausgerissen.

Und der Lord schien das zu spüren. Er sagte: »Am besten läßt du mich jetzt allein. Mein Butler John kommt gerade, er wird dich fangen und in einen Käfig stecken. Dann kannst du meinen Gästen in Pampelmouse-House deine Lügengeschichten erzählen!«

Hui!!! stob Ka auf und davon, wie von einer Gummischleuder wegkatapultiert.

Seine Lordschaft blickte ihm nach, bis er im Himmelsblau verschwand. Vergnügt klatschte er in die Hände und rieb ihre Innenflächen gegeneinander, daß es knirschte.

Unten im Lagerraum, wo es nachtdunkel war, versuchte ein dicker Stoffballen sich zu regen, zu wackeln, sich freizuschaukeln — aber die Last der Kisten, Koffer und Säcke über ihm war zu groß.

Armer Sultan — armer Löwe!

Je später es wurde, je weiter der Tag auf den Abend zuging, desto unruhiger wurde der Sultan. Immer und immer wieder ließ er seine Augen über den Himmel schweifen. Oft suchte er das weite Gewölbe mit dem Fernglas ab — umsonst! Wolkenschleier wurden dahingetrieben, zahllose Möwen stiegen empor, schwebten auf ausgebreiteten Flügeln, äugten mit ihren schwarzen Köpfen hinab, stürzten sich aufs Meer und schaukelten auf den Wellen — aber nirgends, nirgends war ein viereckiges Gebilde auszumachen, das der fliegende Teppich mit dem Lord darauf hätte sein können.

Und die kleine Jacht des Sultans hüpfte wie ein Gummiball über die Wellen.

Löwe lag auf dem Rücksitz, wo er sich schon bei der Abfahrt niedergelassen hatte. Der Wind zauste seine Mähne. Die Vorderpfoten hingen schlapp herab, und sein dicker Kopf ruhte genauso schlaff auf dem Polster. Seit Stunden wurde er nun schon auf und nieder geschaukelt und zudem noch mit leise wiegender Bewegung von rechts nach links, von links nach rechts —.

Zunächst hatte Löwe nichts davon gespürt, und er erinnerte sich undeutlich, daß er früher das Seefahren besser, viel besser vertragen hatte. Aber heute! Heute war sein Magen wie Wackelpudding…

Ihm war sterbenselend! Wenn sich das Kamel auf dem fliegenden Teppich immer so fühlte wie er jetzt, dann war ihm alles zu verzeihen. Denn dies konnte kein lebendes Wesen aushalten! Er vermochte nicht einmal mehr mit dem Sultan zu sprechen: Nur die Augen zuhalten und alles vergessen! —

Die Sonne stand nur noch eine Handbreit über dem Horizont. Der Sultan seufzte: »Kein fliegender Teppich- und kein Ka! Hoffentlich ist ihm nichts passiert! He, Löwe, was ist los mit dir?«

»O — nihihichts! Laß mihihich!!«

»Du bist seekrank! Armer Kerl! Das ist ja eine Katastrophe. Hat sich denn alles gegen uns verschworen?«

»Mir ist alles wurscht!« raunzte Löwe und klapperte ergeben mit einem Augenlid.

Im Sultan meldete sich der frevelhafte Gedanke — umzukehren. Ohne den fliegenden Teppich, jedoch mit einem von der Seekrankheit halb ohnmächtigen Löwen waren ihre Aussichten zu schlecht.

Da fiel ein Stein vom Himmel, breitete kurz vor dem Aufprall bunte Flügel aus und landete als Ka auf dem Geländer der Jacht. »Ein Glück, daß ich euch gefunden habe«, plapperte er gleich los. »Ich gab schon die Hoffnung auf! Stundenlang irre ich über dem Meer umher, ein gutes Dutzend Schiffe habe ich gesehen — aber deine Jacht ist ja so klein wie eine Nußschale, erhabener Sultan! Der verflixte Lord wollte mir den Teppich nicht geben, er ist wütend auf dich, Sultan, und er glaubt mir überhaupt nicht. Er wollte mich sogar durch seinen Butter, oder wie der Kerl heißt…«

»Butler!«

»… meinetwegen Butler, fangen und in einen Käfig sperren lassen. Na, ich — nichts wie weg! Und unterwegs habe ich auch das Seeräuberschiff gesehen! Es segelt direkt auf die Leuchtturminsel zu, wenn ich mich nicht sehr irre. Spätestens heute nacht wird es dort ankommen. Wir dürfen keine Zeit verlieren! — Aber, Löwe, du hörst mir ja gar nicht zu!«

»Ich will sterben!« ächzte Löwe.

Der Sultan gab sich einen Ruck, verscheuchte alle kleinmütigen Gedanken, packte das Steuerrad fester, ließ den Motor aufheulen und jagte mit voller Fahrt voran.

Allerdings: Noch viele Stunden lagen vor ihnen. Vor Eintritt der Dunkelheit konnten sie die Leuchtturminsel nicht erreichen.

Ruhe vor dem Sturm

Auf der Leuchtturminsel schien ein ganz gewöhnlicher Abend anzubrechen.

Als die Sonne nach dem schönen Tag feurig im Meer unterging, flammte es auf, als ob in seiner Tiefe Höllenfeuer loderten. Aber das war ja an jedem klaren Tag so.

Vater Schluckauf knüpfte seine Fischernetze vor der strohgedeckten Kate zum Trocknen auf, machte mehrmals huck! — huck! — und trottete über den grasbewachsenen Flügel zum Leuchtturm, um mit seinem Freund Guckaus einen Schwatz zu halten.

Viel Neues hatten sie sich freilich nicht zu erzählen, auf so einer einsamen Insel geschehen kaum berichtenswerte Dinge. Ob die See stürmisch gewesen war, wie viele Fische man gefangen hatte, sich all das täglich wieder zu berichten macht bald keinen Spaß mehr. Aber es genügt ja schon, neben dem Freund zu sitzen, vielleicht ein Spielchen zu machen oder gemeinsam zu schweigen. Wenn man nur spürt, daß man nicht ganz allein ist!

Als er am Ziegenstall vorbeischlenderte und den Kopf durch die Tür steckte, meckerte Zie: »Mähähähä! ’n Abend, Schluckauf! Gibt’s Neuigkeiten?«

»Neuigkeiten? Nicht daß ich wüßte!«

»Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn auf dieser elenden winzigen Insel mal was passierte! Was für ein Unglück für mich einsame alte Ziege, hierher verbannt zu sein!«

»Ach — huck!—, ich kann mir Schlimmeres denken!« brummte Schluckauf und erklomm die steile Wendeltreppe im Leuchtturm, der von außen wie ein rot-weiß gestrickter Ringelsocken aussah. Mehrmals blieb er stehen, verschnaufte, machte laut »Huck!« und »Uff!«, bis er endlich Onkel Guckaus’ gute Stube erreichte.

»Hol’s der Deubel — huck!« brummte er. »Es wird allerhöchste Zeit, Guckaus, daß du dir einen Fahrstuhl einbauen läßt!«

»Wär ja noch schöner!« antwortete Onkel Guckaus. »Nein, Schluckauf, Treppensteigen hält dich jung und gesund!«

»Lieber gemütlich als — huck! — jung!« meinte Schluckauf. Und dann trank er einen herzhaften Schluck aus Onkel Guckaus’ großer Flasche, und Onkel Guckaus trank selbst einen gehörigen Schluck.

Draußen verdichtete sich die Dunkelheit. Onkel Guckaus kletterte auf die oberste Plattform des Turmes, wo sich die Glashaube mit dem Scheinwerfer befand. Er stellte ihn an, der Scheinwerfer drehte sich, und sein Strahl kreiste über das Meer, um die Schiffe davor zu bewahren, auf eine der vorgelagerten Sandbänke aufzulaufen.

Ein ganz bestimmtes Segelschiff hätte eigentlich ruhig scheitern dürfen. Aber gerade dessen Besatzung war so höllisch geschickt! — Und außerdem brannten ja alle Scheinwerfer, wenn es sich einem Leuchtturm näherte.

Onkel Guckaus und Vater Schluckauf in der Leuchtturmstube fühlten sich so sicher, daß sie nicht einmal die Tür abschlossen. Und Zies Stall natürlich auch nicht.

Onkel Guckaus schmauchte seine Pfeife. Von Zeit zu Zeit tranken sie einen Schluck. Und von Zeit zu Zeit, mit sehr langen Pausen, sagte einer von ihnen auch etwas. Zum Beispiel: »Es ist wirklich nicht viel los auf unserer Insel!« Oder: »Ein bißchen mehr könnte ruhig passieren!« »Es könnte wieder mal Besuch kommen!« — »Weißt du noch, wie die Kinder Kim und Pips hier waren…« »Und wie wir das Lampionfest gefeiert haben…« — »Und wie am nächsten Morgen Doks Flugzeug in die Luft ging…« »Explodierte!« »Sag ich ja! Dunnerkiel — huck! Das waren noch Zeiten!« »Das waren aufregende Zeiten.« »Aber jetzt geht ein Tag wie der andere vorbei…«

Hätten sie gewußt, welches Unheil sich gerade der Leuchtturminsel näherte, wer just in diesem Augenblick die feuerroten Segel einholte — sie hätten sich wohl jetzt schon die ruhigen Zeiten zurückgewünscht, die eben zu Ende gingen.

Aber sie wußten ja nichts!

Und die »Hölle« verringerte ihre Fahrt. Lautlos ging sie in der Nähe der Insel vor Anker. Der Leuchtturm erhellte in regelmäßigen Abständen die Mastspitzen.

Der Rote, der Grüne und der Gelbe lehnten an der Reling. Ihre Einaugen funkelten!

Vater Schluckauf und Onkel Guckaus gerieten immer mehr ins Schwärmen. Der Zauber der Erinnerung rötete ihre Wangen. Und der steife Korn aus der unerschöpflichen Flasche tat es nicht minder. Sie waren beide nicht mehr ganz fest auf den Beinen. Wozu auch, sie saßen ja gut

Und man kann so schön die Arme auf den Tisch lehnen und den Oberkörper darauf stützen. Die dicken Ärmel der Wollpullover sind fast wie Kissen.

Aber dann geriet Schluckauf vor lauter Begeisterung ein Tropfen in die falsche Kehle. Er hustete und spuckte. O Himmel! — Er war in Gefahr zu ersticken. Onkel Guckaus wuchtete sich empor, riß ihm die Arme über den Kopf und klopfte ihm mit kräftiger Pranke den Rücken, genau zwischen die Schulterblätter.

So hörten sie nichts.

Und so schauten sie auch alle beide nicht zur Tür.

Ja, sie spürten nicht einmal etwas — so schnell ging alles!

Plötzlich machte es bums!, so, wie wenn die Zimmerdecke herunterkommt. Es machte »bums!« auf Onkel Guckaus’ eisernen Schädel und »krach!« auf Vater Schluckaufs nicht weniger soliden Hinterkopf — ja, und schon lagen beide auf dem Fußboden wie zwei umgeschubste Mehlsäcke.

Lange blieben sie im Zustand der Ohnmacht. Selbst wenn der Leuchtturm eingestürzt, die Insel untergegangen wäre — sie hätten nichts davon gemerkt.

Auch später vermochten sie sich an nichts zu erinnern, nicht einmal, wie sie die Wendeltreppe hinuntergeschleift wurden, ganz ohne Fahrstuhl.

Nur Zie wußte etwas mehr. Sie hatte nämlich während ihres gewöhnlichen Abendgemeckers leise Schritte gehört, die ihr fremd vorkamen.

Aber kaum drehte sie den Ziegenbart zur aufknarrenden Tür, zog sich auch schon eine Schlinge über ihrem Maul zusammen. Da konnte sie nicht einmal mehr kauen, geschweige denn »Mäh!« sagen. Sie bemerkte noch riesengroße Stiefel, schwarze Schlapphüte — und dann war es auch schon pottschwarz um sie herum, denn über ihr gehörntes Haupt wurde blitzschnell ein Sack gezogen.

Später zerrte man sie aus dem Stall. Sie stolperte, wehrte sich nach Kräften. Sie hörte schlurfende Schritte, spürte, wie aus dem Rasen des Hügels der Kies des Hafens wurde, dann ein Holzbrett, das schwankte, dann eine Treppe, die sie hinabstolperte…

… und daß sie schließlich in einem Raum ankam, dessen Tür verriegelt wurde.

Ein wenig schaukelte der Boden unter ihr. Sie war wohl auf einem Schiff?

Und sie war auch nicht allein! Irgendwo röchelte und stöhnte es. O wie schrecklich! dachte sie, wäre dies doch nur eine ruhige einsame Insel, auf der nie, nie etwas passiert!

Die gute Zie war selten zufrieden.

Bei alledem war es finstere Nacht. Eine Nacht der Stille, in der nur das Meer leise klatschte, wenn seine Wellen auf die Ufer rollten. Manchmal geigte der Wind in der Takelage.

Wären diese Geräusche nicht gewesen, hätte sich der Sultan der Leuchtturminsel kaum nähern können. Aber konnte er es denn so? — Nun, schon weit draußen im Meer mußte er den Motor seiner Jacht abstellen, denn dessen Knattern hätte selbst Schwerhörige aufgeweckt, um so mehr die Teufel der Weltmeere.

An Bord der Jacht befand sich ein Ruder für den äußersten Notfall, und dieses benutzte der Sultan jetzt, um wenigstens etwas voranzukommen. Glücklicherweise trieb ihn ein sanfter Rückenwind auf die Insel zu. Löwe lag noch immer matt auf der Bank, doch hatte sich sein Befinden ein wenig gebessert, er konnte wenigstens das Haupt wieder erheben — überhaupt wirkten sich die Nähe der Feinde und die wachsende Spannung günstig auf sein Befinden aus.

Dagegen waren Ka die Augen zugefallen. Immer, wenn es dunkel wurde, überkam ihn die Müdigkeit. Er war nun einmal kein Nachtvogel. Es kostete ihn deshalb große Überwindung, den Wunsch des Sultans zu erfüllen und zur Leuchtturminsel hinüberzufliegen, um auszukundschaften, wie die Dinge dort standen.

Was er nach kurzer Zeit zu berichten hatte, war nicht erfreulich: »Das Segelschiff der Seeräuber liegt im Hafen neben Vater Schluckaufs Fischerboot. Auf Deck sitzt so ein finsterer Geselle mit dem Gewehr im Arm. Doch rührt er sich nicht, er scheint zu schlafen. Auch sonst rührt sich nichts. Die Leuchtturmstube ist leer. Vater Schluckauf, Onkel Guckaus und Zie sind nicht zu sehen, die Stalltür steht offen…«

»Wo aber sind sie?«

»Offenbar in der ’Hölle‘! Ich meine, auf dem Schiff, das so heißt. Die Teufel der Weltmeere scheinen sie dorthin verschleppt zu haben.«

»Dann holen wir sie raus!« knurrte Löwe. Er spürte die Seekrankheit kaum noch.

Der Sultan hatte zwar denselben Wunsch. Aber die erste Begegnung mit den wilden Kerlen hatte ihn vorsichtig gemacht: »Nein —«, brummte er widerwillig. »So einfach geht es nicht. Wer weiß denn, wie viele Seeräuber es überhaupt sind? Wir haben zwar nur drei gesehen, aber waren das alle? Steckten die anderen nicht gerade unter Deck? — Und wer weiß, über was für Wunderwaffen sie verfügen. Plötzlich senkt sich irgendwo unter uns der Boden, und wir liegen in der Falle!«

»Was willst du also tun?«

»Wir müssen zuerst überlegen und dann handeln. Ich schlage vor, daß wir an einer entfernteren Stelle der Leuchtturminsel an Land gehen. Wir können uns dann an die ’Hölle‘ heranschleichen und die Teufel belauschen!«

Er packte das Ruder wieder und paddelte geräuschlos auf die Insel zu. Viel Zeit verstrich, bis das große Segelschiff vor ihnen lag. Aus der Nähe und von unten wirkte es mächtig und drohend. Finster erhob sich sein Leib in die dunkle Nacht. Es schaukelte sanft. Die Spitzen der Maste zeichneten Pendellinien in den Nachthimmel — hin und zurück, hin und zurück.

Neben der Kanone schlief ein Wächter, eine in sich zusammengesunkene Gestalt, die unter dem großen Hut wie ein schwarzer Klotz wirkte. Er schnarchte.

Der Sultan bewegte das Paddel so vorsichtig wie möglich. Nur millimeterweise trieben sie vorwärts. Gut, daß der Schein des Leuchtturms sehr hoch oben über sie hinwegfuhr, so daß sie ungesehen blieben.

Der Sultan drehte ab. Endlich gelangten sie an das dem Hafen abgewandte Ufer. Hier senkte sich eine Wiese sanft ins Wasser. Ein guter Platz, auszusteigen, selbst wenn Sultan und Löwe einige Meter an Land waten mußten. Nicht weit entfernt stand Vater Schluckaufs Kate, deren offene Tür gespenstisch knarrte. Und wenn sich eine Brise erhob, raschelte es im strohgedeckten Dach.

Was nun? — Der Sultan hatte nasse Pantoffeln und Hosen und Löwe ein nasses Fell bis an den Bauch. Gemütlich war das nicht. Und klüger als zuvor waren sie auch nicht. Der Sultan kratzte sich sogar ratlos am Hinterkopf, wobei er den Turban so weit vorschob, daß er auf der Nasenspitze landete.

Halb blind stand er also da, als Ka krähte: »Hi-hi-hi-hi-hilfe! — Ein Gespenst!«

Der Sultan schubste den Turban wieder gerade und starrte aufs Wasser. Denn dort, etwa zehn Meter von ihnen entfernt, tauchte eine leuchtende Gestalt empor, vielleicht war es mehr eine Nebelwolke, etwas Phosphoreszierendes, grünlich Leuchtendes, zunächst durchscheinend wie Milchglas… Doch zunehmend wurden seine Umrisse deutlicher… aber ach, schöner wurde es dadurch auch nicht.

Dieses unheimliche Seegespenst war möglicherweise so etwas wie eine Sirene, es ähnelte einer fetten Seekuh, hatte einen Fischschwanz und einen menschenähnlichen Oberkörper. Wenn es Seejungfrauen gibt, so war dies wohl eher eine Seemarktfrau. Ihr Gesicht war schwammig, unter den Augen hingen dicke Säcke, am Hals lagen die Falten aufeinander wie Ringe — und zum Überfluß hatte sich dieses Seeweib auch noch mit Tang und Algen geschmückt, sie hatte sie über den Nacken gelegt und ließ sie wie Zöpfe seitlich an den Ohren herabhängen.

Sah sie schaurig aus? Ein wenig! Aber der Schauder wurde gemildert durch den gutmütigen Gesichtsausdruck.

Der Sultan nahm sich zusammen, verbeugte sich höflich und wünschte »Guten Abend!«

Das Geschöpf, das halb im Wasser lag, näherte sich etwas. Es fragte: »Du fürchtest dich gar nicht?«

»Nein!«

»Das dachte ich mir! Nun, für mich ist das kein Unglück… Aber… versucht wenigstens, ihm die Freude zu machen, euch ein wenig vor ihm zu fürchten.«

»Vor wem? Ich sehe niemanden außer dir!«

Das Geschöpf schniefte leise. Es klang, als ob es Feuchtigkeit in der Nase hochzöge. Es schaute ins Wasser, als habe es die anderen vergessen — oder als ob es dort etwas erblickte—, und so sagte es denn auch nach einer Weile: »Es gibt hier herum herrliche Tang- und Algenwiesen. Es ist ein Vergnügen, sich in ihnen zu tummeln — ach ja, was ich sagen wollte: Ihr müßt auf die Mitternachtsinsel fahren! Schlagt dort euer Lager auf, denn dort werdet ihr Hilfe finden. Er wird euch gegen die Teufel der Weltmeere beistehen. Seid nett zu ihm, ich meine: Habt ein wenig Angst vor ihm!«

Noch immer wußten unsere Helden nicht, wen das seltsame Wesen meinte.

Aber sie konnten es nicht mehr fragen, denn so geheimnisvoll, wie es gekommen war, verschwand es nun wieder, es verblaßte einfach, und was es noch sagte, wurde immer leiser, bis es nicht mehr zu vernehmen war: »Die Mitternachtsinsel ist nicht weit — fahrt einfach nach Osten. Bald wird eine Felsengruppe vor euch auftauchen, dort… geht… an… Land…«

Der Sultan, Löwe und Ka schauten jeder auf seine Weise mehr oder weniger geistreich nach der Stelle, wo nun nichts mehr zu erblicken war, höchstens die Schaumkrone einer Welle, die im schwachen Licht der Sterne schimmerte.

»War das nun ein Gespenst oder ein Tier oder ein was?« fragte Ka schließlich.

»Ich war auch einmal ein Gespenst!« brummte Löwe, der sich an seinen Spuk auf der Burg Machatofel erinnerte.

»Wie auch immer —«, entschied der Sultan, »wir werden dem Rat folgen und auf diese Mitternachtsinsel fahren, von der ich noch nie etwas gehört habe. Die See-Gespenster-Dame hatte eigentlich ein ganz freundliches Gesicht. Sie machte auf mich eher einen gemütlichen als einen gefährlichen Eindruck. Sie hat uns Hilfe versprochen von irgendeinem Wesen, vor dem sich niemand fürchtet. Und schließlich brauchen wir uns nun nicht mehr zu überlegen, was wir tun sollen — und das ist besonders viel wert!«

Er watete zum Motorboot. Ka auf seiner Schulter plinkerte wieder müde mit den Augen. Und Löwe trottete gutmütig hinterher — obwohl er das nasse Wasser schon wieder an seinem Bauch, der eben zu trocknen begonnen hatte, gar nicht schätzte.

Der Sultan erklomm die schwankende Jacht, indem er sich bäuchlings über ihren Rand rollen ließ. Ka, eben eingenickt, fand sich unsanft auf dem Boden wieder. Und der Sultan, mit seinen Gedanken bei der seltsamen Geistererscheinung, ließ den Motor an.

Donnernd brauste die Jacht nach Osten.

»Willst du die Teufel der Weltmeere auf uns hetzen?« fragte Löwe besorgt.

»Verflixt, ich hatte sie ganz vergessen!« rief der Sultan erschrocken.

Alarm

Die Teufel der Weltmeere auf der »Hölle« schliefen fest. Sie schlummerten so friedlich wie Kinder. Zwei — der Rote und der Gelbe — lagen in der Kapitänskajüte auf harten Holzbänken. Sie verachteten weiche Betten. An der Decke blakte eine Petroleumlampe; sie gab nur ein düster flackerndes Licht. Die Wände sahen aus, als ob schwarze Schattenfarbe an ihnen herabränne. Manchmal, wenn die Wellen das Schiff bewegten, schwankte auch die Lampe. Dann knarrte wohl auch ein Balken, sonst aber war alles totenstill.

In dieser Stille konnte man die beiden auf der Bank ruhig atmen hören. Wer sie so friedlich dort liegen sah, mit geröteten Wangen, das Gesicht hinter einem Netz wirr herabhängender Haare, der hätte ihnen nie und nimmer etwas Böses zugetraut.

Jetzt gerade hatte der Grüne Wache. Er hockte oben auf einem großen Lederkoffer, die mächtige Flinte über den Knien, die Arme aufgestützt, den Kopf mit dem viel zu großen schwarzen Schlapphut vornüberhängend — und schnarchte! Püh! — Püh!

Er hörte es zuerst! Schon stand er auf den Beinen und stürzte an die Reling. Die Luft erbebte. Ein Schiff? Ein fremdes Boot? Ein Schlachtkreuzer? Sie mußten auf alles gefaßt sein, zu jeder Minute. Blitzschnell lud der Grüne durch und feuerte einen Schuß in die Finsternis. Danach brauchte er nicht mehr »Alarm! Alarm!!« zu rufen, denn Rot und Gelb polterten bereits die Treppe hinauf.

»Feind in Sicht!« brüllte der Grüne — ganz unsinnig, es war ja nichts in Sicht — und auch die Geräusche kamen nicht näher, sie entfernten sich im Gegenteil.

Wer war das? Wer wagte sich in ihre Nähe? Wer hatte sie aufgestöbert? Ja, hatte er — wer immer es auch war—, hatte er sie überhaupt entdeckt? Bei rechter Überlegung war das unwahrscheinlich. Denn dann hätte er sich doch bestimmt bemüht, kein Geräusch zu machen.

»Jedenfalls — Opa Sultan war es nicht!« bemerkte der Rote und spuckte zum Zeichen seiner Gleichgültigkeit über die Reling. »Soviel ich mich erinnere, fliegt er auf einem staubigen Fußabtreter geräuschlos herum.« Zur Bekräftigung spuckte er gleich noch einmal über Bord — und die anderen taten wie er.

»Immerhin — wenn wir auch mit jedem fertig werden…«, meinte der Gelbe.

»Was heißt, fertig werden? Wenn wir auch jeden aufs Kreuz legen, einen Kopf kürzer machen, in kleine Stücke zersäbeln!« fiel ihm der Grüne ins Wort.

»Schön und gut — eine Störung unserer Pläne bedeutet ein Fremder trotzdem!«

»Was schlägst du vor, Roter?«

»Wir sollten uns hier nicht zu lange aufhalten. Wir sind ja nicht zum Schlafen und zur Erholung da. Deshalb meine ich, daß wir hier abhauen, natürlich nicht, ohne zuvor einen fetten Fisch gefangen zu haben. Auf! In den Leuchtturm. Dort liegt ein Schiffsfahrplan. Wir wollen ihn studieren: Den nächstbesten großen Dampfer berauben wir!«

Sie donnerten über die Schiffsplanken, die Leiter hinab und zum Leuchtturm — voller Tatendrang.

Die Gefangenen

Tief unten im Bauch des Schiffes, tief unten in der »Hölle« also, wo sie am finstersten war, stand Zie, mit einem Sack über dem Kopf und einer Schlinge um die Schnauze.

Mit Mühe gelang es ihr allmählich, die Schnur ein wenig zu lockern.

Als es nun über ihrem Kopf dumpf polterte — und gleich darauf wieder still war, meckerte sie leise und bekümmert.

Neben ihr rührte sich etwas.

»Hol’s — der — der — Deubel — huck«, schnaufte Vater Schluckauf, der langsam aus der Ohnmacht erwachte. »Hol‘s der — huck — Deubel! Was hast du dir da für einen Scherz ausgedacht, Guckaus, und warum — huck! — hast du das Licht ausgemacht? Hol’s der Deubel!«

Zie meckerte wieder und sagte gequetscht: »Der Teufel hat uns bereits geholt! Mähähähä! — Kein Scherz von Guckaus, kein Licht aus! Der Teufel! Oh, immer habe ich gewußt, daß diese einsame kleine Insel unser Unheil sein wird!«

Auch der Nebel um Onkel Guckaus’ Stirn lichtete sich. Er wollte auf stehen, da spürte er die Fesseln. Er fluchte: »Donnerkiel! Träume ich? Sind wir gefangen? Wo sind wir?«

»Na, wenn uns der Teufel geholt hat, wie Zie sagt, dann sind wir wohl in einer Art von Hölle oder auf dem Weg dorthin — huck«, meinte Schluckauf.

Zie wußte es besser. »Nein, nein! Wir sind im Hafen, auf einem Schiff! Und bestimmt werden wir irgendwohin gebracht, wo wir — oh…«

»So — so!« brummte Guckaus. »Jedenfalls ist es zappenduster! Und jedenfalls kann ich mir keinen Vers darauf machen, warum man uns gefangen hat. Donner und Doria! Reichtümer sind doch bei uns nicht zu holen…«

»Stimmt! — huck! —«

»…und zuleide getan hab ich mein ganzes Leben lang noch nie irgend jemandem etwas. Aber wenn dies denn wirklich unsere letzte Stunde sein sollte, dann will ich dir mal sagen, Schluckauf, daß du immer mein bester Freund gewesen bist!«

»Oh — huck—, nicht doch! —«, machte Schluckauf. »Wo ich gerade mein Taschentuch nicht erreichen kann, um mir meine gerührte Nase zu schneuzen!«

»Und dir, Zie, werde ich es nie vergessen, wie du uns damals aus dem Leuchtturm befreit hast, als Doks Flugzeug explodiert war!«

»Nicht der Rede wert!« versicherte Zie stolz.

»Dies ist — huck! — trotz allem — ein erhebender Augenblick!« meinte Schluckauf.

Und dann schwiegen sie in Erwartung ihres Schicksals.

Wer ist das nächste Opfer?

Die Teufel der Weltmeere hatten bereits einen Plan.

Fluchend und Verwünschungen gegen jedermann ausstoßend, stapften sie die Wendeltreppe empor. Sie stießen die Tür zur Leuchtturmstube mit den Füßen auf und schubsten Tische und Stühle um, rissen das Geschirr aus dem Schrank, zerschmetterten es an den Wänden — was ihnen mächtigen Spaß zu machen schien!—, sie zerrten Papiere aus den Schubladen, zerfetzten sie zu kleinen Schnipseln und ließen sie wie Schneeflocken herabtanzen.

Nicht zuletzt gossen sie sich aus Onkel Guckaus’ Flasche das Getränk, das wie flüssiges Feuer ist, durch die Kehlen.

Der Rote behielt noch den klarsten Kopf. Wenn auch ungeduldig, so durchsuchte er doch gründlich Onkel Guckaus’ Schreibtisch. Der Gelbe aber ließ sich in den geblümten Ohrensessel plumpsen, spreizte die Stiefel und öffnete den Mund für eine aus dem Magen aufsteigende Luftblase.

Niemand nahm an seinem Rülpsen Anstoß.

Der Grüne hockte vergnügt vor dem eisernen Ofen. Er schmierte sich mit einem Stück Kohle zwischen Lippen und Nase im Gesicht herum.

»Toppsau, was machst du da?« wunderte sich der Gelbe.

Der Grüne kicherte. »Ich male mir einen Schnurrbart. Hübsch, nicht?«

»Das will ich auch!« Der Gelbe warf sich auf ihn, und schon rollten sie beide über den Boden.

»Aufhören!« Der Rote wurde auch im Gesicht rot unter seiner Augenbinde, so sehr ärgerte er sich. »Aufhören! Seid ihr denn kleine Kinder? Noch nicht trocken hinter den Ohren, was? Schöne Seeräubermanieren habt ihr! — Aufstehen, sofort!«

Die beiden erhoben sich widerwillig.

»Hier«, rief der Rote, »ich habe ihn gefunden! Hier ist der Amtliche Fahrplan der Passagier- und Frachtschifffahrt, herausgegeben vom Verband der Leuchtturmwärter.«

»Ach, steck dir doch den Fahrplan an den Hut!« maulte der Gelbe. »Dafür können wir uns doch nichts kaufen.« Ihm war Onkel Guckaus’ Korn mächtig in die Krone gestiegen.

»Du hast kaum soviel Verstand wie eine Heuschrecke! Kannst du lesen? Oder bist du auch dazu zu dumm? Hier…«

»Wenn du deine Dreckschippe darauf legst, kann ich nichts sehen«, brummte jetzt der Grüne. Und er hatte recht: Unter dem Fingernagel des Roten saß der Schmutz so dick, daß man sich nur wunderte, warum er nicht herausrieselte.

Nun war aber die Reinlichkeit bei den dreien überhaupt nicht Mode. Der Rote ging deshalb nicht darauf ein, er las vor: »Columbus — Luxus-Passagierdampfer auf Kreuzfahrt. Morgen nacht fährt er in nur drei Seemeilen Entfernung an der Leuchtturminsel vorbei! Das heißt, er soll daran vorbeifahren. Aber wir werden ihn daran hindern. Luxus-Passagierdampfer! Auf Kreuzfahrt mit reichen, vollgefressenen Nichtstuern, die in der Sonne liegen und sich den Bauch braunbrennen lassen.«

»Morgen nacht?«

»Blödsinn! Morgen nacht schnarchen sie in ihren Luxuskabinen! Eine Sektflasche rechts, ein Perlenkollier links — nun, wir werden sie um ein paar Kleinigkeiten leichter machen, denke ich! — Der Kapitän wird kaum Zeit haben, sich zu wundern, wo der Leuchtturm geblieben ist — schon sitzt er im flachen Sand fest! Und Mann und Maus rennen aufgeregt herum — haha! —«

»Haha! — Hoho!« Ihr Gelächter wurde zum Orkan.

Die Mitternachtsinsel

Wer immer die gespenstische Seejungfrau gewesen sein mochte, gelogen hatte sie in einem Punkt gewiß nicht: Die Mitternachtsinsel war nah.

Man könnte fast sagen, sie erreichten sie wie von selbst, wie von einem unsichtbaren Gummiband hingezogen.

Bald wölbte sich der dunkle schildkrötenartige Felsenrücken aus dem Wasser. Es war schon merkwürdig, daß sie noch nie etwas von dieser Insel gehört hatten; niemand hatte von ihr erzählt, sie kam in keinem Lied vor. Und das, meinte Ka, war immerhin seltsam, sogar ein wenig unheimlich.

Trotzdem, jetzt lag sie unzweifelhaft vor ihnen. Sie bestand aus Geröll und Steinen, nirgends war ein Baum, ein Strauch —- es erschien undenkbar, daß hier Menschen oder Tiere lebten.

Ka kämpfte schon eine ganze Weile wieder mit seinen Augen, die einfach immer zufielen, aber nun riß er sie weit auf, um den fürchterlichen Bewohner zu erblicken, der ihnen angekündigt worden war.

Nichts! — Die kantigen Steine und Schroffen schimmerten blaß und öde im ungewissen Licht der Nacht, das eigentlich gar kein Licht war, sondern ein sehr matter Schein, den die Sterne über alles legten, aus ihrer unausdenkbaren Entfernung.

Oder doch? — Stand ganz oben nicht ein Riese? Unbeweglich, wie aus Fels gehauen? Ein Ungeheuer, in tausend Kämpfen angeschlagen und zerrissen? — Nein! — Es waren nur die Reste einer Burg. Abgebröckelte Mauern umzogen einsam aufragende Wände, in denen leere Fensteröffnungen klafften. Und was wie ein Riese aussah, war die Ruine eines mächtigen Wachtturmes.

Dies war kein Ort, an dem man freiwillig und vertrauensvoll an Land ging. Nirgends regte sich Leben. Tot wie der Mond lag die Mitternachtsinsel im Meer.

Zwischen zwei Felsblöcken verankerte der Sultan die kleine Jacht.

Löwe hatte die Seekrankheit nun gänzlich überwunden. Das Abenteuer hatte seine Lebensgeister geweckt.

Auf festem Boden blieben sie zunächst stehen, um zu lauschen. Es war still wie in einer Grabkammer, nur der Wind heulte leise.

Oder war es etwa das wimmernde Weh — und Ach — matter, zu Tode gequälter Wesen?

Da! — Plötzlich schimmerte etwas zwischen den Steinen, leuchtete wie Diamanten und Rubinen, strahlte golden, glühte rötlich…

Löwe sprang! Vor ihm lag ein goldener Reif, besetzt mit vielfarbigen Edelsteinen: eine Krone!

»Sultan! — Nimm deinen Turban ab, ich kröne dich zum König der Mitternachtsinsel!«

»Rühr es nicht an!« krähte Ka. »Vielleicht ist es verzaubert!«

»Pah!« Löwe schnappte das Geschmeide, packte es mit den Zähnen — aber — im Maul hatte er nur einen rostüberzogenen Eisenreifen. Verblüfft ließ er ihn fallen; er sprang klirrend die Felsen hinab.

»Was war das?« stotterte der Sultan. »Ich hätte geschworen, es sei eine Krone gewesen!«

»Ich sag es ja: verzaubert,

wenn ihr mir doch nur glaubert!«

dichtete Ka, zwar nicht formvollendet, aber dafür verblüffend geschwind.

Der Sultan fuhr sich über die Stirn. »Wir müssen sehr vorsichtig sein und Augen und Ohren offenhalten.«

Kaum gesagt, wurde ihre Standhaftigkeit schon auf die Probe gestellt. Auf dem Turm begann es zu rattern — eine mißtönende Glocke schlug eins, zwei, drei, vier, fünf… zwölfmal.

Mitternacht!

Es überrieselte sie kühl. Und Löwes Schnurrbarthaare sträubten sich. Seine Flanken bebten.

Aus den Klüften ringsum stiegen Nebelschwaden auf, verharrten gleich Rauchfähnchen in mäßiger Höhe und sahen aus wie Gestalten, denen unter der Sonne nichts glich.

»O Sultan, jetzt ist es um uns geschehen — würde ich sagen, wenn ich das Kamel wäre! —« flüsterte Ka.

Arme Brüder

Das Kamel! Haben wir etwa das Kamel vergessen? Ach nein — nur gibt es soviel zu berichten.

Ein Wort der Erinnerung genügt, und wir wissen wieder, in welch erbärmlicher Lage es sich befand: gefesselt und mit einem Maulkorb über seiner nur erlesene Genüsse gewohnten Schnauze.

Noch am Abend stand es in dem kleinen Hof, blickte grimmig und schnaubte wütend.

Die drei Männer, die es überwältigt hatten, waren Brüder. Not hatte sie hart gemacht. Sie hockten im Zelt und berieten, was sie mit ihrem Fang machen sollten. Ein Kamel ist ein großer Wert, man kann es verkaufen oder für sich arbeiten lassen. »Dieses Trampeltier ist ganz schön wild!« meinte der Älteste. »Wenn es noch länger so brüllt, hört man es womöglich. Wer weiß, ob sein Besitzer nicht schon nach ihm sucht. Ich gehe hinaus, um ihm das Fell zu gerben, bis es still ist!«

Er kroch durch die niedrige Zeltöffnung, und gleich darauf hörte man draußen klatschende Schläge. Das Kamel brüllte, und der Mann brüllte — und dann klang es wie eine Unterhaltung von zwei Leuten, die fuchsteufelswild aufeinander sind.

Gleich darauf kam der Mann zu seinen Brüdern zurück. Er war jetzt sehr erregt: »Es ist das Kamel des Sultans!« flüsterte er heiser. »Das hat es mir eben durch den Maulkorb zugeschnaubt — ich bin ganz naß im Gesicht! — Und wenn wir es nicht sofort laufenlassen, geht es uns schlecht. Es hat mir gedroht, wir würden an den Füßen aufgehängt und auf die Sohlen gepeitscht… oder der Löwe des Sultans zerreißt uns…«

Bei Allah! Das war eine böse Nachricht! Mit dem Sultan und seinem Löwen bekam in Sultanien niemand gern Arger. Sie überlegten: »Für dieses gesunde Kamel kriegen wir mindestens hundert Silberstücke. Wenn wir es aber freilassen, galoppiert es blitzschnell in den Palast, und ehe wir uns aus dem Staub gemacht haben, kommen der Löwe und die Leibwache…«

Sie wußten ja nicht, daß der Sultan schon wieder auf Reisen war.

»Was schlägst du vor?« — »Was du?« — »Und du?« fragten sie sich gegenseitig. Der Älteste meinte schließlich: »Wir warten, bis es ganz dunkel ist. Dann brechen wir unser Zelt ab und wandern mit dem Kamel über die Grenze. In einer Nacht können wir über das Gebirge nach Emirstan gelangen. Morgen früh sind wir am Rand der Wüste. Dort herrscht der Emir — und der Sultan hat keine Macht mehr. Wir verkaufen das Kamel auf dem Markt. Dann mag es mit einer Karawane ziehen und seine Märchen erzählen, wem es will!«

Der lange Marsch

Und so geschah es. Das Kamel mochte noch so sehr toben. Alles Geifern nützte ihm nichts. Schließlich ermüdete es. Die Stricke schnitten in seine Haut ein, und es fühlte sich elend.

Als es Nacht wurde, rissen die Brüder ihr Zelt ab und legten es dem Kamel auf den Höcker. Und damit es ihnen nicht davonlaufen konnte, zogen sie ihm einen eisernen Ring durch den empfindlichen Nasenflügel — oh, es brüllte laut vor Schmerz! Aber nun war es vollkommen hilflos, denn der kleinste Zug war schlimmer als ein Messerschnitt. Erst danach lösten die Männer seine Fesseln, zwei kletterten auf seinen Rücken, der dritte führte es. Der lange Marsch über das Gebirge begann.

Der Weg führte steil hinauf, über Geröll und Steine, dann wieder hinab in tiefe Schluchten, durch ausgetrocknete Bachläufe. Von Zeit zu Zeit löste einer der Brüder den Führer ab, so daß dieser reiten konnte, und immer so fort im Wechsel. Nur dem Kamel wurde keine Ruhe gegönnt, die Männer hatten es eilig, die Angst saß ihnen im Nacken.

Es war dunkel. In der Ferne heulten Schakale. Tiefschwarz wölbte sich der Himmel über der tiefschwarzen Erde. Nur die Sterne strahlten tröstlich. Über den Höhen wehte der Wind und wirbelte Staub auf.

So ging es Stunden um Stunden voran. Wohin? Das Kamel wußte es nicht! Aber es fürchtete sich.

Eine Entscheidung

Ging es ihm also ähnlich wie Löwe, dem Sultan und Ka auf der Mitternachtsinsel? Sahen auch sie der Zukunft mit Bangen und Zagen entgegen? —

Noch war der zwölfte Schlag der verrotteten Turmuhr nicht verklungen, da sahen sie sich von nebelbleichen Wesen umgeben, die schweigend in mäßiger Entfernung verharrten. Und kaum hatten sie sich ein wenig an deren Anblick gewöhnt, wurden ihre Nerven auf eine noch größere Probe gestellt: Ein leises, unheimliches Geräusch zirpte durch die Luft, der Fels vibrierte, es wurde zu einem Ächzen, einem Pfeifen, vielleicht so, wie wenn aus einem Gummitier die Luft herausgelassen wird — aus einem sehr gräßlichen Gummitier, versteht sich!

Löwe stand stocksteif, die Haare gesträubt, den Hals vorgereckt. Auch Ka dachte jetzt nicht an Schlaf! Und der Sultan — nun, in solchen Situationen fühlt selbst ein mutiger Mann einen gewissen Schauder.

Vielleicht war ihnen so zumute, als ob sie von Schlangen, Echsen und ähnlichen Untieren umgeben wären, die darauf lauerten, auf sie loszukriechen.

Die durchsichtig-bleichen Rauchwölkchen benahmen sich beängstigend. Einige schwollen zu beachtlicher Größe auf, andere blieben winzig, aber keines löste sich von der Erde; sie wehten wie unschlüssig hin und her, drehten sich, verneigten sich, und schließlich ließen sie sich dort nieder, wo sie aufgestiegen waren.

Und dabei kicherten sie.

Eine Stimme wurde nun deutlicher, obwohl sie etwas piepsig war. Sie machte: »Hui — hui — hi — hi — hi — wui — wui — wui — ju — ju — ju — ich fresse euch mit Haut und Haaren! Wi — wi — wi — wi — oh, was seid ihr doch für furchtsame Leute, Zittergäste, Schlottergäste, Bibbergäste — huiii — huii — wu — wu — wu — wu, oh, wie schön ihr euch vor mir fürchtet, gebt es nur zu, es ist keine Schande, jeder fürchtet sich vor mir, denn ich bin furchtbar! Oh, aber wie werdet ihr erst bibbern, wenn ihr mich seht, wenn ich euch mit meinen rotunterlaufenen Augen anschaue und euch meine grünen Haare um die Ohren schlage und euch meine glühenden Fingerspitzen in die Nasenlöcher stopfe!«

Das waren schon schreckliche Drohungen! Trotzdem kannte das grauliche Wesen mit der Mäusepiepsstimme noch kein Erbarmen: Wutsch! stand es vor ihnen, — es sah ungefähr aus wie eine kindergroße Kaulquappe — und grinste von einem Ohr zum anderen.

»Nun — fürchtet ihr euch gräßlich?« piepste es.

»Nein!« sagten der Sultan, Löwe und Ka wie aus einem Munde.

»Nein?« kreischte das Gespenst.

»Nein!« bestätigte der Sultan. »Ich wundere mich selbst! Vorhin, als der Spuk hier begann, glaubte ich, mich zu fürchten. Aber als du erschienst, war es aus — aus und vorbei! — Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen!«

»U — u — u — hu — hu — hu!« greinte das Gespenst. Und es stampfte wie ein trotziges Kind mit dem auf, was wahrscheinlich sein Fuß war. »Verdammt! Verdammt! Verdammt! Das ist doch wirklich gemein, niemand fürchtet sich vor mir — hat euch denn meine Mama nicht gebeten, daß ihr euch bitte vor mir fürchten sollt?«

»Ach doch!« brummte der Sultan verlegen — »du bist das also — aber das haben wir leider nicht gewußt —, und die freundliche Dame im Wasser war also deine Frau Mutter? — Das tut mir nun wirklich leid — ich hätte dir so gern den kleinen Gefallen getan! Wer bist du denn?«

Das winzige Nebelwesen reckte sich, so gut es konnte.

»Seht ihr nicht, daß auf meinem Haupt eine Krone prunkt?« Ja, da saß wirklich die Krone, die sie vorhin als rostigen Reif weggeworfen hatten.

»Ich bin König Owigern, oder sagen wir lieber richtiger, ich war es. Ich war ein schlechter König. Ich wollte es immer allen recht machen — und konnte keinem etwas zuleide tun. Jedem erfüllte ich jeden Wunsch, nur weil ich nicht nein sagen konnte, selbst gegen meine Überzeugung — o je, o je!—, meine Mama war halt auch immer so lieb zu mir! Immer bekam ich Kuchen und Bonbons — davon wurde ich ganz weich und schwabbelig, so wie ihr mich jetzt vor euch seht!«

»Ah — bah!« machte Löwe unwillkürlich.

»Ja — ja — ah — bah! Du hast ganz recht!« greinte König Owigern. »Ihr könnt euch vielleicht denken, daß dies nicht die richtige Art war, ein Königreich zu regieren. — Schwuppdiwupp hatte ich es verloren, und deshalb kann ich nun in Ewigkeit keine Ruhe finden.«

»Ist das denn schlimm?« fragte Ka.

»Ob das schlimm ist? Wie fühlst du dich wohl, kleiner Vogel, wenn du müde bist und schlafen möchtest, aber nicht kannst! — Für Gespenster gibt es keine Schlaftabletten!«

»Scheußlich!«

»Kann man dir denn nicht helfen?« fragte der Sultan. Es tat ihm mächtig leid, daß er vergessen hatte, sich zu fürchten.

»Kommt mit in mein Schloß, ich werde es euch erklären!« — Der Wabbelkönig schwebte voraus, den Felsen hinauf, zur Burgruine. Und es war nun ganz seltsam, zwar war es eine Ruine und doch wieder nicht, es mußte wohl an der Geisterstunde liegen, daß sie glaubten, ein festgefügtes Gebäude zu betreten, obwohl sie niemals vergaßen, in einem verfallenen Gemäuer zu sein. Vielleicht läßt es sich so erklären, wie wenn auf eine abgebröckelte Mauer eine Farbaufnahme des früheren glanzvollen Zustandes projiziert wird.

So betrachtet, handelte es sich um eine prächtige Burg, mit feinen Tapeten an den Wänden, mit Gold- und Silberschmuck, mit reichgeschnitzten Möbeln, Ölgemälden, Kronleuchtern, Vorhängen aus wundervollen Stoffen — und was man sich sonst noch Kostbares vorstellen kann.

Auf die gleiche Weise wurden die Gespensterchen, die aus den Felsspalten aufgestiegen waren, zu wirklichen Wesen, das heißt, ihre früheren bunten Gewänder und ihre Gesichter erschienen auf ihnen farbig und durchscheinend zugleich.

»Nehmt Platz!« König Owigern deutete auf Holzsessel und Bänke, die aber genausogut Felsbrocken sein konnten.

Der Sultan und Löwe ließen sich nieder. Ka behielt seinen Lieblingsplatz auf des Sultans Schulter bei. »Kann man Majestät also gar nicht helfen?« fragte der Sultan noch einmal, diesmal vermied er es aber aus Höflichkeit, »du« zu sagen. Der kleine Geisterkönig bemerkte es und lächelte. »Es ist schon schön, euch kennengelernt zu haben. Und vielleicht könnt ihr mir auch helfen. Vielleicht nicht direkt, aber auf einem Umweg. — Es dürfte nämlich sehr schwer sein, jemanden zu finden, der sich ganz normal so vor mir fürchtet, wie man sich eben vor einem Ungetüm fürchtet.«

»Vielleicht das Kamel?« überlegte Ka.

»Das wäre zwar herrlich —«, seufzte König Owigern, »aber wenn ich an die vielen schlechten Erfahrungen denke, die ich in den vergangenen Jahrhunderten schon gemacht habe, glaube ich, daß ich mir keine Hoffnung auf das Kamel machen sollte. Nein, mir kann nur etwas ganz Ungewöhnliches helfen: Ich muß jemanden finden, der sich vor meiner Gutherzigkeit fürchtet.«

»Unmöglich!« rief der Sultan. »Vor Güte fürchtet sich niemand!«

»Das dachte ich bis vor kurzem auch«, piepste der König, und sein Hofstaat nickte mit den Köpfen. »Aber nun habe ich eine Hoffnung: die Teufel der Weltmeere!«

Eine seltsame Enthüllung

Nun, das klang seltsam! Ausgerechnet die Teufel der Weltmeere sollten sich vor dem Piepskönig fürchten! Diese wilden Gesellen, die den Sultan und sogar Löwe mit Hohn und Spott übergossen hatten!

»Ach —«, murmelte der Sultan deshalb, »es tut mir so leid, Majestät enttäuschen zu müssen, aber sie haben sogar uns ausgelacht und mit ihrer Kanone beschossen. Wenn sie Eure Majestät sehen — verzeihen Sie—, werden sie nur lachen!«

König Owigern war nicht beleidigt. Sein rundes Gesicht leuchtete nur noch freundlicher, als er sagte: »Natürlich glaubst du das, aber du weißt ja nicht alles von ihnen — weißt du, wer sie eigentlich sind?«

»Nein!«

»Hör zu, du wirst dich wundern! Jeder hält sie für besonders starke Kerle, ausgewachsene Männer, für rohe Gesellen. Aber es sind nur kleine Mädchen, allerdings sehr, sehr wilde, ungebärdige, unbezähmbare, ungezogene — und bärenstarke!«

»Was?« Der Sultan vermochte kaum, sich von seinem Erstaunen zu erholen.

Und Ka krähte:

»Unerhört, wer soll das glauben?

Kleine Mädchen morden und rauben?«

»Ja, es klingt unglaublich«, quiekte der König. »Übrigens, davon, daß sie morden, ist bisher nichts bekannt. Aber rauben tun sie dafür um so gemeiner. Um aber ehrlich zu sein, sie sind vor allem wütend auf alle Erwachsenen! Wütend und bockig! Es sind Waisenkinder, die niemand lieb hatte, die immer nur herumgeschubst wurden. Kinder, denen täglich gesagt wurde: Ihr seid unnütz, niemand mag euch! Und das hat sie mit der Zeit widerborstig gemacht. Auf diese Weise nehmen sie Rache an den Menschen für alles, was man ihnen angetan hat! Sie sind das genaue Gegenteil von mir!«

»Hm«, überlegte der Sultan, »so etwas soll vorkommen. Aber es ist trotzdem fast unglaublich, daß sie deswegen zu Seeräubern werden.«

»Findest du? Ich glaube, sie führen nur aus, wovon alle Kinder träumen. Ich habe auch davon geträumt, sehr ungezogen zu sein und als wilder Räuber durchs Land zu ziehen. Nun, ich habe eben nur davon geträumt — du siehst ja, was aus mir geworden ist!«

Der Sultan dachte lange nach. Der seltsame durchscheinende Hofstaat in des Geisterkönigs Schloß blickte ihn aufmerksam an und wehte dabei sanft hin und her wie Grashalme im milden Wind. »Trotzdem«, meinte er schließlich, »ich sehe immer noch nicht, wie dir — Verzeihung, Majestät! — dabei geholfen werden kann.«

»Sag ruhig du zu mir!« quiekte der König. »Es macht mir gar nichts aus — im Gegenteil! —

Diese Mädchen sind so vertrotzt, daß sie sich wirklich vor gar nichts fürchten. Sie wissen wohl auch, daß kein Erwachsener ihnen ernstlich etwas Schreckliches antun würde, Kinder kann man nun einmal nicht so hart bestrafen! Und außerdem sind sie wild und übermütig. Es macht ihnen Freude, um sich zu schlagen. Alle Erwachsenen sind zornig auf sie — aber gerade das macht ihnen Spaß! Jeder möchte sie verhauen — und damit rechnen sie. Das macht sie nur noch trotziger. Es gibt nur eines, wovor sie sich fürchten: vor jemandem, der trotz allem gut zu ihnen ist und sie versteht! Denn der würde ihren Trotz lösen, sie könnten nicht mehr böse sein — und das wäre das schlimmste für sie!«

»Ich fange an zu begreifen!« murmelte der Sultan.

»Und ich fange an zu verblassen!« piepste König Owigern sehr viel leiser. »Die Geisterstunde ist zu Ende!«

»Ja«, rief der Sultan rasch, »kannst du denn immer nur um Mitternacht erscheinen? Es wird sehr schwer sein, dich mit den Teufeln der Weltmeere gerade um Mitternacht zusammenzuführen!«

»Keine Sorge —«, piepste es kaum noch vernehmbar, »in besonders wichtigen Angelegenheiten gibt es auch für uns Gespenster Ausnahmegenehmigungen!«

In diesem Augenblick schepperte die Turmuhr einmal — und der König, sein Hofstaat, ja sogar das Schloß verschwanden, wie wenn das Licht im Projektor ausgeknipst wird.

Übrig blieb das zerfallene Gemäuer; und wenn unseren Freunden nur erzählt worden wäre, was sie eben erlebt hatten, es wäre ihnen unglaublich erschienen.

Der Sultan rieb sich die Augen. »Morgen werden wir uns diese ungezogenen Mädchen einmal genauer ansehen«, murmelte er. »Jetzt bin ich aber schrecklich müde. Was meint ihr, wie gut unser Kamel schon lange in seinem Bett schläft? Ich beneide es richtig!«

Müde waren sie alle. Und alsbald schliefen sie da, wo sie sich gerade befanden, auf Geröll und Steinen, tief und fest. Es ging ihnen sogar viel besser als dem unglücklichen Kamel!

Auf dem Kamelmarkt

Die drei Männer trieben das Kamel voran. Sie hatten es eilig. Das Kamel keuchte. Es war ja keine Anstrengung mehr gewöhnt. Selbst in den aufregendsten Zeiten hatte es doch immer bequem gewohnt und geschlafen.

Erschöpft stolperte es in den Morgen. Als sich der Himmel langsam erhellte und im grauen Licht die Umrisse der Landschaft erkennbar wurden, ging es vom Gebirge abwärts, einer ausgedehnten Ebene zu. So weit das Auge reicht, breitete sich die Wüste aus.

Sie hatten die Grenze von Emirstan überschritten. Die drei Brüder atmeten auf. Vor ihnen lag die kleine Stadt Kameul. Hier hatte der Sultan keine Macht. Schon von weitem sahen sie zahlreiche Menschengruppen mit Eseln, Ziegen, Hühnern und Schafen auf die Ansammlung niedriger Häuser zustreben, in deren Mitte der Markt abgehalten wurde.

Das Kamel ertrug sein Schicksal nun schon mit der sprichwörtlichen Kamelsgeduld. Es hatte keine Kraft mehr zu widerstreben. Am liebsten hätte es sich niedergelegt. Aber immer wieder brachten es Stockschläge auf die Beine.

Auf dem Markt herrschte ein beängstigendes Gedränge. Hühner gackerten, Hähne krähten, Esel schrien, Schafe blökten und Kamele brüllten wild durcheinander. Es wurde gefeilscht, gehandelt und angepriesen. Dutzende von Fingern rissen dem Kamel die Lippen von den Zähnen, betasteten seine Beine, seinen Hals — und die Brüder riefen: »Ein prächtiges Kamel, ein herrliches Kamel, ein Kamel, würdig eines Sultans!«

Aber das Kamel sah erbärmlich aus. Seine Beine zitterten, sein Kopf schaukelte müde. Niemand wollte hundert Silberstücke dafür bezahlen.

Endlich erwarb es der Vater einer kleinen Berberfamilie. Es sollte mit seiner Karawane durch die Wüste ziehen. Er zahlte nur fünfzig Silberstücke. Aber die Brüder waren schließlich froh, es dafür loszuwerden.

»Paß auf!« rieten sie dem Käufer. »dieses Kamel ist ein Märchenerzähler. Es wird dir die tollsten Lügen auftischen. Du wirst deinen Spaß daran haben; das allein ist viel Geld wert.«

»Ich freue mich für meine kleine Fatma!« murmelte der Vater. Er zog das Kamel mit sich fort.

»O Sultan, wo bist du!« seufzte das unglückliche Trampeltier. »Wie gerne flöge ich jetzt mit dir auf dem Teppich!«

Frühstücksüberraschung

Dieser Wunsch wäre ihm freilich auch dann nicht erfüllt worden, wenn es beim Sultan gewesen wäre. Denn der Sultan und sein wunderbarer Teppich waren ja Hunderte von Kilometern voneinander getrennt.

Gleich nach der Ankunft ließ Lord Pampelmouse das neuerworbene Stück im Frühstückszimmer auslegen, direkt vor der weißlackierten Tür, die in den Garten von Pampelmouse House führte. Es war eine sehr breite Tür, und da es ein schöner Sommermorgen war, standen ihre Flügel weit offen. Draußen leuchteten das grüne Gras und die Blätter der Bäume.

Auf dem Teppich, der so frisch strahlte wie der Morgen, stand der zierliche runde Tisch, auf dem der Butler soeben das Frühstück aufgetragen hatte — schon dampfte der goldbraune Tee in der Kanne, und die Brötchen dufteten.

Als nun Seine Lordschaft ausgeruht und fröhlich im gelbseidenen Morgenrock zum Frühstück erschien, rieb er sich die Hände und rief: »Sehr hübsch, wirklich, sehr hübsch, dieser neue Teppich! — Was meinst du, John?«

»Ein edles Stück!«

Seine Lordschaft lächelte noch herzlicher — wer ist nicht froh, wenn man ihm bestätigt, daß er einen guten Kauf gemacht hat? Dann ließ er sich nieder, der Butler rückte den Stuhl, so wie er es täglich tat, etwas näher an den Tisch und wartete auf die weiteren Wünsche.

Lord Pampelmouse nahm ein Brötchen und bestrich es mit Butter. Dabei plauderte er gutgelaunt. »Ich bin froh, wieder zu Hause zu sein. So bald werde ich nicht wieder verreisen! — Habe ich dir schon erzählt, daß mich an Bord ein Papagei — nein, ein Kakadu aufgesucht hat? Der ulkige Vogel behauptete steif und fest, dies sei ein fliegender Teppich, der dem Sultan gehört! Nun, ich habe ihn natürlich ausgelacht! Ein Teppich, dem man zurufen kann: ›Teppich, erhebe dich!‹«

Während der letzten Worte hatte der Lord, wie er es ja manchmal tat, vergnügt in die Hände geklatscht und ihre Innenflächen gegeneinander gerieben — er tat es unwillkürlich, aber auf den Teppich wirkte es so wie auf ein Auto, wenn man den Zündschlüssel hineinsteckt und den Anlasser betätigt! — Sanft stieg er empor und schwebte durch die Tür in den Park.

Seine Lordschaft war zunächst sprachlos — ja, er begriff kaum, was geschah, und rief: »Aber John! Was fällt dir ein?…«, weil er dachte, sein treuer Butler mache einen Scherz mit ihm und höbe ihn mitsamt dem Stuhl empor.

John aber rief mit gezügelter Erregung: »Mylord, der Kakadu hat die Wahrheit gesagt… Dies ist ein fliegender Teppich!«

»John… Nein, in der Tat, das ist unglaublich! Was machen wir denn jetzt? — Sag schon etwas, John, steh nicht so stocksteif hinter mir!«

Sie schwebten bereits in ziemlicher Höhe über die Baumwipfel hinweg, und Seine Lordschaft fühlte ein Unbehagen im Magen. Wie wir wissen, schaukelte der Teppich ja ganz leicht. Immer spürt man, auf schwankendem Boden zu stehen, etwa so, wie auf einem Zirkusnetz, das zwar sicher ist, jedoch unter jedem Tritt nachgibt.

»Wenn ich eine Bitte auszusprechen mir erlauben darf«, bemerkte John mit belegter Stimme, »so würde ich raten, den Teppich wieder ins Frühstückszimmer zurückzusteuern. Es ist mir noch ungewohnt, auf ihm zu fliegen. Es dürfte auch auf die Leute einen seltsamen Eindruck machen!«

Das war zwar richtig — tatsächlich reckten einige Menschen auf den Feldern bereits die Hälse, Autos blieben stehen, man deutete mit den Fingern empor — und das alles war peinlich! Aber es änderte auch nichts daran, daß Seine Lordschaft nur hilflos mit dem Messer in der Luft herumfuchteln konnte. — der Teppich stieg und stieg: Pampelmouse House, das hübsche Landhaus, lag bereits spielzeugklein unter ihnen. Und schließlich entzog sie eine gnädige Wolke den Blicken der Menschen. Der Lord kommandierte: »Schluß! Aufhören! — Landen! — Hinunter! — Abwärts! — Zurück!« Und was immer man sich für hilfreiche Worte denken kann, die aus einer solchen vertrackten Lage heraushelfen könnten — Auf keines reagierte der Teppich! Seine Lordschaft kannte ja das Zeichen nicht, reiner Zufall war es, daß er es vorhin gebraucht hatte! Aber nun hörte der Teppich genausowenig auf ihn wie ein ungezogener Hund!

Schließlich ließ der Lord sich erschöpft hintenüberfallen. Hätte John die Lehne nicht so fest in der Hand gehabt, wären sie Gott weiß wohin gekippt! —

Der treue Diener fand seine seelisches Haltung wieder: »Wir müssen damit rechnen, die nächsten Tage, Wochen oder sogar Monate die Erde nicht wieder zu betreten! Es dürfte sich daher empfehlen, Brötchen und Butter einzuteilen, damit Mylord nicht alsbald Hunger leiden müssen! — Trösten wir uns mit der Hoffnung, daß der Teppich vielleicht wie ein treuer Hund seinen Herrn von selbst wiederfindet! — Darf ich Mylord noch eine Tasse Tee eingießen?«

Der Lord nickte: »Wie sagt schon das Sprichwort? Abwarten und Tee trinken!«

Der Teppich trieb wie ein Luftballon mit dem Wind, er kreiste oft scheinbar unentschlossen herum, blieb unerwartet an einem Fleck stehen, rückte dann wieder voran — um dies auszuhalten, brauchte man wirklich starke Nerven! Trotzdem aber zogen sie langsam auf die Küste Englands zu. Das Meer schimmerte grau und bleich in der Tiefe.

Ein Kundschafter

Am Tage sah die Mitternachtsinsel wie ein im Wasser liegender Felsblock aus, auf dessen Spitze die Burgruine stand. Sie war das einzige, was unsere Freunde noch an die vergangene Nacht erinnerte. Das merkwürdige Erlebnis mit dem piepsenden König war in die tiefen Schächte ihrer Träume gefallen. War es nun Wahrheit — oder nur eine Ausgeburt ihrer überreizten Phantasie? —

Wie auch immer: Schon zu lange waren sie untätig. Sie rieben sich die Augen, gähnten herzhaft und streckten sich. Und dann schickte der Sultan Ka als Kundschafter hinüber zum Leuchtturm.

»Glück auf, mein Lieber!« sagte er. »Laß dich nicht erwischen, nicht einmal sehen! Die Seeräuber könnten sich daran erinnern, daß du in meiner Begleitung warst, damals, als ich mit ihnen sprach. Sie sollen nicht wissen, daß wir in der Nähe sind!«

Stolz, eine so wichtige Aufgabe zu haben, flog Ka davon. Die Leuchtturminsel war ja nicht weit. In der Mitte des Weges konnte er aus der Höhe sogar den rotweiß gestreiften Leuchtturm vor sich und den Sultan und Löwe winzig klein hinter sich sitzen sehen. Der Sultan und Löwe hatten einen Felsen zum Ausguck gewählt.

Da hockten sie nun, ließen sich vom Wind durchpusten, hörten die Wellen rauschen und warteten auf Kas Rückkehr.

Um es gleich zu sagen, sie mußten lange, zu lange warten!

Zu Kas großer Verwunderung lag das Segelschiff ruhig und menschenleer im Hafen. Weit und breit waren kein Schlapphut, kein Stiefel und schon gar kein Seeräuber zu sehen. Ka umflatterte die »Hölle« vorsichtig — still ein Totenschiff! —

Er zog seine Kreise enger. Schließlich klebte er wie ein angetriebener Luftballon in der Takelage — er legte den Federkopf nach rechts, legte den Federkopf nach links, plusterte sich auf, zog erst die eine, dann die andere Kralle unter den Bauch — aber all das brachte ihn nicht weiter. »Merkwürdig«, plapperte er ganz leise vor sich hin. »Entweder machen alle einen Ausflug, oder sie schlafen. Wahrscheinlich schlafen sie, denn nachts räubern sie ja gewöhnlich. — Oder aber sie sind schon alle mausetot!«

Da hörte er ein ihm bekanntes leises Meckern!

»Die gute alte Zie!« wunderte er sich. »Wieso steckt sie denn im Schiffsbauch? Ist sie etwa auch unter die Seeräuber gegangen? —«

Er ließ sich fallen, und er umflog den Schiffsrumpf, konnte aber keine offene Luke entdecken, nur einen Ritz in der Wand. Glücklicherweise hing hier ein Tau, in dessen Schleife setzte er sich und preßte sein Ohr an die Spalte. Innen war es ganz dunkel! Dort stöhnte und ächzte es erbarmungswürdig.

So seufzen nur Gefangene, dachte Ka, der sich mit Schrecken an seine eigenen Leiden erinnerte. Und es ist niemand bei ihnen. Sie sind allein. Und was ich da höre, scheint Zies Meckern zu sein — sie hat schon mal lauter und fröhlicher gemeckert! — Dies ist Onkel Guckaus’ Räuspern und dies Vater Schluckaufs Schluckauf. »He, ihr, hört ihr mich? Ich bin es, Ka! Ich sitze hier draußen!« rief er unvorsichtig. »Ka, der Kakadu ist da, und Löwe und der Sultan sind auch hier, und wir wollen euch befreien, retten und aus den Teufeln der Weltmeere Engelchen machen!

Haha! —

Der Ka

ist da!«

Unversehens war er ins Dichten geraten.

Da ertönte gleich drinnen ein so gewaltiges Stimmengewirr, daß Ka noch einmal krächzte: »Seid doch leise, wenn man uns hört, werde ich noch ein Seeräuberfestbraten!«

»O Ka«, meckerte Zie, »ich glaube, zum Festbraten bin schon ich bestimmt!«

»Dann eben Kakadu-Suppe!« meinte Ka. Onkel Guckaus und Vater Schluckauf waren hoch erfreut, daß er gekommen war, sie nannten ihn einen Lichtblick, einen Glücksboten! Vater Schluckauf bekam vor lauter Aufregung einen höchst gefährlichen Schluckauf!

Endlich hatten sie sich so weit beruhigt, daß sie wieder vernünftig denken konnten. Jetzt war es wichtig zu wissen, wo sich die Seeräuber befanden. Zie sagte, die Teufel seien gestern nacht in den Leuchtturm gegangen und noch nicht wiedergekehrt.

Also flog Ka dorthin.

Wüstlinge

Die Teufel der Weltmeere hatten ein wenig zu tief in Onkel Guckaus’ Flasche geguckt: Bis auf den Grund hatten sie sie ausgetrunken. Nun war sie also leer, und sie schliefen sich ihren Rausch aus und erwachten mit Brummschädeln. Dutzende von unsichtbaren Quälgeistern klebten an ihren Schläfen und bohrten daran herum. Au weh! —

Ka kam gerade noch in der Leuchtturmstube an, bevor das Fenster geschlossen wurde. Er wischte hindurch und verbarg sich hinter der Gardine, dann schlug der Grüne die Fensterflügel zu. Die Teufel der Weltmeere hatten sich eben aufgerappelt. Ka hörte, daß sie jetzt mal ordentlich frühstücken wollten und nach den Gefangenen schauen und danach noch mal schlafen bis heute nacht; da würden sie wiederkommen und die Scheinwerfer des Leuchtturms ausschalten, kurz bevor der Luxus-Passagierdampfer »Columbus« sich näherte.

Das waren wichtige Neuigkeiten, die der Kundschafter sofort übermitteln wollte — nur: die Teufel der Weltmeere stolperten und polterten aus der Leuchtturmstube und knallten die Tür hinter sich zu!

Ka war gefangen!

Ach, daß ihm aber auch immer wieder so etwas Dummes passieren mußte! Verflixte Geschichte! Da saß er ja schön in der Patsche! — Er schwirrte im Kreis an den runden Wänden entlang, wie wenn ihn jemand an einem Bändchen herumwirbelte — aber er fand nirgends einen Ausschlupf, nicht das kleinste Luftloch!

Höchstens den eisernen Ofen? — Wenn er nun versuchte, durchs Ofenrohr und durch den Schornstein zu kriechen?

Aber wenn er steckenblieb? — Bestenfalls kam er als Rabe heraus! Viel wahrscheinlicher war es, daß er innen verhungerte.

Er beschloß zu warten. Hoffentlich segelten die Teufel der Weltmeere nicht mit ihren Gefangenen davon — auf Nimmerwiedersehen! —

Der Sultan und Löwe hockten, hockten und hockten inzwischen auf dem Felsen. Da hockten sie stundenlang. Und ihre Sorgen wurden von Minute zu Minute größer: eine dicke Sorgenwolke, die sich nach allen Seiten hin ausdehnte…

Normalerweise ist es ja ein Vergnügen, bei schönem Wetter am Meer zu sitzen. Man kann in der Sonne vor sich hin dösen. Man kann über allerlei Tiefsinniges nachdenken, und man kann wundervolle Gespräche miteinander führen.

Aber wenn man auf eine wichtige Nachricht wartet? Wenn die Freunde in Gefahr sind? Wenn die Zeit verstreicht, die Sonne den Zenit übersteigt und die Schatten unaufhaltsam länger werden!?

Gut hundertmal war der Sultan schon aufgesprungen, hin- und hergelaufen, hatte die Hand über die Augen gelegt — und auch Löwe wurde immer unruhiger.

Ka blieb verschwunden. Jeder Vogel, der herbei- und wieder vorbeiflog, weckte in ihnen neue Hoffnung, die alsbald in Enttäuschung umschlug.

So würden sie also spätestens bei Einbruch der Dunkelheit selbst zur Leuchtturminsel hinüberfahren müssen, mochte daraus werden, was wollte! —

Da plötzlich rief Löwe: »O Sultan! — Ich traue meinen Augen nicht! — Ist dieses viereckige Stück dort neben der weißen Wolke nun dein Teppich? — Oder ist es eine neue Art Flugzeug?«

Zum einhundertundeinsten Male sprang der Sultan auf, jetzt aber warf er jubelnd seine Arme hoch, riß sich den Turban vom Kopf und schwenkte ihn so wild, daß er aufging und als lange Seidenschlange herumwirbelte.

Rasch näherte sich der Teppich. Sie erkannten seine Unterseite und die Fransen ganz deutlich. Und sie sahen einen Herrn im gelben Morgenrock an einem runden Tisch sitzen und einen schwarzgekleideten Herrn hinter seinem Stuhl stehen.

Auch von oben hatte man sie erblickt.

»Ist es möglich?« rief Lord Pampelmouse. »Sind Sie etwa der Sultan, dem dieser Teppich gehört? Der Sultan mit dem Löwen?«

»Wir sind es!«

»Wundervoll! Soeben haben wir das letzte Brötchen gegessen und den Tee ausgetrunken! Würden Sie dem Teppich bitte befehlen zu landen?«

Der Sultan tat es nur zu gern. Sanft setzten Lord, Butler und Frühstückstisch auf der Mitternachtsinsel auf.

»Ich hatte schon jede Hoffnung aufgegeben«, sagte Mylord, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Wir waren nämlich schon bei den Eskimos, in Lappland und auf Sizilien! Und alles nur im Morgenrock! Der Wind trieb uns herum! Und der Teppich hatte anscheinend Schwierigkeiten, Sie zu finden! Aber nun ist ja alles gut — bis auf den Schnupfen, den ich mir geholt habe. Wie fühlst du dich, John?«

»Danke, Mylord, etwas steif!«

Dieses freudige Ereignis minderte ihre Sorge um Ka. Nun, da der Sultan sein unentbehrliches Luftfahrzeug wiederbekommen hatte, fühlte er sich schon bedeutend wohler.

Sobald die Nacht gekommen war, wollte er zur Leuchtturminsel fliegen.

Gefahr

Und die Nacht kam. Tiefe Dunkelheit umgab sie bald.

Finsternis, die von keinem Lichtstrahl erhellt wurde. Vergeblich erwartete der Sultan das Aufflammen des Scheinwerfers.

Statt dessen wurden am Horizont die goldenen Lichter eines großen Schiffes sichtbar. Fahrplanmäßig näherte sich der Luxus-Passagierdampfer »Columbus«.

Der Kapitän suchte gerade auf der Kommandobrücke das Meer mit dem Fernglas ab. »Merkwürdig«, sagte er zu seinem Ersten Steuermann, »haben wir denn Verspätung? Eigentlich müßten wir doch schon bei der Leuchtturminsel sein. Aber ich sehe nichts! — Wenn wir morgen nicht pünktlich ankommen, verpassen die Fahrgäste die Omnibusse für die Rundfahrt! Das darf nicht sein! — Volle Kraft voraus!« Der mächtige Schiffskörper erzitterte. Die Maschinen stampften, und die Schrauben wühlten die See auf.

So fuhr die »Columbus« in die tiefschwarze Nacht, näherte sich unaufhaltsam wie ein abgeschossener Torpedo, den niemand mehr zurückrufen kann, der Leuchtturminsel, auf deren flachen Strand sie nur zu bald auflaufen würde.

Dann saß sie fest! — Zuvor aber würden Stühle und Tische an Bord umkrachen, Lampen zerspringen, Fahrgäste aus den Betten fallen und, ohne sich erst noch anzukleiden, wie aufgescheuchte Hühner auf Deck hasten — es würde ein wildes Durcheinander geben, einige würden ins Wasser springen, andere in die Rettungsboote klettern …und niemand würde auf drei wieselflinke Kerle mit Stiefeln und Schlapphüten achten, die scheinbar damit beschäftigt waren, Kisten, Koffer, Schmuck und Edelsteine zu retten — aber eben nur scheinbar.

Würde! Wenn! — Wenn nicht sehr bald ein Wunder geschah! —

Der Sultan mußte eingreifen. Zum Leuchtturm fliegen und versuchen den Scheinwerfer anzustellen? Zu unsicher! Wer wußte, ob er den richtigen Schalter fand, wenn nicht überhaupt alle Kabel zerschnitten waren. Und ob er nicht zuviel Zeit damit verlor, sich den Zugang freizukämpfen?

Also mit dem Kapitän reden? Wie aber, wenn ihm dieser nicht glaubte? Es ist für einen Kapitän auf hoher See sicher nicht alltäglich, einem Sultan und einem Löwen auf einem fliegenden Teppich zu begegnen, noch dazu in der Nacht! — Vielleicht wurde er für einen Seeräuber gehalten und eingesperrt! —

Wie auch immer, es mußte geschehen.

Der Butler John hob den Frühstückstisch vorsichtig vom Teppich, damit das kostbare Geschirr nicht herabfiel, und der Sultan und Löwe nahmen rasch Kurs auf die »Columbus« mit ihren vielen Lichtern.

Lord Pampelmouse bewunderte den gelungenen Abflug. »Wer weiß, ob ich den Teppich zurückgegeben hätte, wenn ich ihn so gut steuern könnte wie der Sultan«, sagte er nachdenklich. »Schließlich hatte ich ihn ja gekauft…«

»Leider geht eine gestohlene Sache auch dann nicht in das Eigentum eines Käufers über, wenn dieser sie guten Glaubens erworben hat«, belehrte ihn John.

Lord Pampelmouse lachte und antwortete: »Ich weiß! — Es war nur ein Scherz! — Du brauchst nicht ganz so korrekt zu sein, lieber John!«

Mißverständnisse

Es kam genau so, wie es der Sultan befürchtet hatte. Er landete auf der kleinen Plattform vor der Kommandobrücke, auf dem obersten Treppenabsatz. Der Teppich hatte hier fast keinen Platz. Und natürlich stolperte der Kapitän gleich darüber, als er von der Kommandobrücke trat.

»Sind Sie närrisch?« rief er erbost. »Wieso schleppen Sie einen Teppich hier herauf? — Der Aufenthalt auf der Kommandobrücke ist für Passagiere verboten. Wie sehen Sie überhaupt aus? Wir haben doch heute kein Kostümfest? Sie sind wohl betrunken, Herr?« —

»Der Sultan ist nie betrunken!« brummte Löwe.

Das hätte er nicht tun sollen, denn dem Kapitän purzelten fast die Augen aus dem Kopf, als er so plötzlich einen ausgewachsenen Löwen vor sich sah! Er war so erschrocken, daß er kein Wort mehr herausbrachte — mit einem Satz sprang er zur Kommandobrücke zurück und knallte die Tür hinter sich zu.

Dann telephonierte er durchs ganze Schiff — ließ die Decks räumen, alarmierte die Bordfeuerwehr, daß sie den Löwen einfange, bewaffnete sich mit einer Pistole, die er aus der Schublade zog, und als der Sultan höflichst ans Türfenster klopfte und rief: »Entschuldigen Sie bitte, aber Sie halten Kurs auf die Leuchtturminsel, in wenigen Minuten gibt es einen Schiffbruch!«, da richtete der Kapitän die Mündung der Pistole auf des Sultans Haupt und schrie: »Bleiben Sie draußen, oder ich schieße!«

Unten donnerten Matrosenstiefel heran.

»Verschwinden wir lieber! — Ich meine, erheben wir uns!« brummte Löwe. Er war beleidigt über die Art, wie ihn der Kapitän begrüßt hatte. Und der Sultan fand es auch nutzlos, sich gefangennehmen zu lassen und zeitraubende Erklärungen abgeben zu müssen. Er klatschte also leise in die Hände, rieb ihre Innenflächen aneinander — und als die Bordfeuerwehrleute ihre Schläuche gegen sie richteten, waren sie bereits wieder viele Meter hoch in der Luft.

»Begreifen Sie doch: Es geht um Ihr Leben!« rief der Sultan aufgeregt hinab. Nur noch wenige Meter trennten den Dampfer vom seichten Küstenstreifen, er war verloren! —

Der Schornsteinfeger

Was machte Ka?

Als der Tag verstrich und die Lage immer hoffnungsloser wurde, als schließlich die Nacht hereinbrach — da faßte er sich ein Herz. »Dunkel ist es sowieso«, plapperte er sich Mut zu. Und da die Ofentür nur angelehnt war, gelang es ihm leicht, in das Loch hineinzukriechen. Hier aber — o armer Kakadu! — versank er in einem Aschenhaufen. Grau überstäubte es ihn. »Ph — ph!« Er nieste und hustete. Und wagte einen Luftsprung zu der Stelle, wo das Ofenrohr angesetzt war. Es handelte sich glücklicherweise nur um einen Kanonenofen. Trotzdem — das Rohr war zentimetertief voller Ruß. Ka erwog bereits wieder umzukehren — aber dann dachte er, daß er selten Gelegenheit hatte, Schornsteinfeger zu spielen. Wie ein Maulwurf wühlte er sich voran und gelangte an den steil aufsteigenden Kamin.

Hier hinauffliegen? Das war unmöglich! Er konnte ja kaum die Flügel ausbreiten. Aber wenn er den Kopf drehte, sah er tröstlich einen leuchtenden Stern über sich. Und in dessen mattem Licht erkannte er auch, daß der Schornstein sehr roh gemauert war, an den vorspringenden Ecken und Mörtelklumpen konnte er sich mit Krallen und Schnabel festklammern und emporarbeiten.

Er erreichte die frische freie Luft! Ach, da hätte er am liebsten ein lautes Kräh! ausgestoßen. Aber zu seinem Schrecken erblickte er auch die Lichter des Dampfers — so nah! Er flatterte auf die oberste Plattform. Hier wußte er Bescheid, weil er früher oft Onkel Guckaus beobachtet hatte, wenn dieser seine Arbeit verrichtete.

Mit seinem scharfen Schnabel schlug Ka das Glaskästchen ein, hinter dem sich die Schalter befanden, warf den Hebel für den Scheinwerfer herum und drückte das Knöpfchen des Nebelhornes ein.

Der Scheinwerfer in der Glashaube des Leuchtturms flammte auf, so nah, riesengroß und grell, daß der Kapitän zusammenzuckte und gerade noch »Volle Kraft zurück! Steuer hart backbord!« befehlen konnte. Gleich darauf heulte auch das Nebelhorn.

So wurde der Luxus-Passagierdampfer »Columbus« in letzter Sekunde gerettet.

Schlimme Vergeßlichkeit

Die Teufel der Weltmeere aber befanden sich bereits in ihrem Ruderboot, mit dem sie die gestrandeten Schiffe anzusteuern pflegten. Alles hatte ja wie gewohnt und wie geplant geklappt — bisher!

Sie freuten sich schon diebisch! —

Da —! Die Nebelsirene gellte, und der Scheinwerfer blitzte auf!

Wer durchkreuzte ihre Pläne? — Zurück! Die Pistolen saßen locker.

Sie ruderten zurück und stürmten über die Wiese in den Leuchtturm.

Dort aber fanden sie niemanden! Obwohl sie unter das Bett krochen, Tischdecken und Kissen herumwirbelten, den Schrank ausräumten und die Wäsche an die Wände knallten…

Ka war längst davongeflogen. Er hatte den Teppich für den Bruchteil einer Sekunde im Scheinwerferlicht gesehen, schnell wie ein Pfeil war er dort…

Löwe verwechselte ihn zuerst mit dem Raben aus Neulöwenburg und fragte: »Ach, Ra! Wo kommst du denn her?«

Aber Ka rief: »Ich bin weder ein Papagei noch Ra, sondern immer noch der Ka. Aber rasch! Die Seeräuber sind gerade im Leuchtturm!«

Der Sultan verstand — gedankenschnell ging der Teppich im Hafen nieder — sie lösten die Taue der »Hölle«, setzten die Segel — und rauschten davon.

Zunächst so langsam, daß es zum Verzweifeln war. Nur millimeterweise verbreiterte sich der Spalt zwischen der Bordkante und der Hafenmole — aber dann packte der Wind zu.

»Hurrah!« brüllten, riefen, krähten sie.

»Jetzt befreien wir die Gefangenen!« jubelte der Sultan.

Als Löwe seinen dicken Kopf zwischen Tür und Wand in die Kajüte steckte, nachdem den Gefangenen die Fesseln abgenommen worden waren, meckerte Zie: »Lä — lä — lä — Löwe gut — a — hä — hä — hälles gut!«

»Wieso?« brummte Löwe glücklich. »Ich habe doch fast gar nichts getan!«

Eine schlimme Entdeckung

Es erforderte das ganze seemännische Können des Sultans, die »Hölle« in der Finsternis zwischen den Felsblöcken vor der Mitternachtsinsel zu verankern. Zum Glück aber hatte er mit Onkel Guckaus und Vater Schluckauf zwei erfahrene Seebären an Bord.

Lord Pampelmouse und John halfen vom Land aus. Dann sprangen Befreier und Befreite von Bord.

Sie klopften sich noch einmal reihum auf die Schultern — soweit das eben möglich war, denn Ka mußte mit einem freundschaftlichen Halskraulen fürliebnehmen. Ja, Ka! — Wer ihn anfaßte, hatte natürlich danach schwarze Hände, aber es war ja so dunkel, daß niemand es bemerkte.

Später begab sich Lord Pampelmouse mit John an Bord der »Hölle« — und das erste, worüber er fast stolperte, war der Koffer mit Reiseandenken, der ihm gestohlen worden war. Nun war die Freude doppelt groß, und es fiel dem Lord noch leichter, auf den Teppich zu verzichten.

»Ist der Koffer wieder da,

freut der Lord sich — und der Ka!«

dichtete der unverwüstliche Vogel rasch. Seine Lordschaft aber machte Abreisepläne. Er wäre nun sehr gern nach Pampelmouse-House zurückgekehrt — aber wie? — Auf dem Teppich? Nein, den brauchte der Sultan. Mit der »Hölle«? Ein so großes Segelschiff? — das ihnen nicht gehörte, genausowenig wie die vielen geraubten Dinge, die sich darauf befanden?

»Nehmen Sie meine Jacht!« schlug der Sultan vor. Er ließ sich auf einem Felsen nieder und baumelte mit den kurzen Beinen. »Ich brauche sie jetzt nicht mehr, es wäre mir sogar lästig, sie nach Hause fahren zu müssen, anstatt heimzufliegen. Irgendwann bringen Sie sie mir dann nach Sultanien zurück — es eilt ja nicht!«

Der Lord nahm an. Der Butler lud vorsichtig das Frühstücksgeschirr und den zierlichen runden Tisch in die Jacht und dann hieß es:

»Adieu, good-bye! — Auf Wiedersehen!«

Vater Schluckauf und Onkel Guckaus schoben sie rückwärts ins Meer, der Lord ließ den Motor an, wendete und brauste davon.

»Wie einfach sich manche Probleme lösen!« meinte der Sultan, als er aufgehört hatte zu winken. »Es ist wirklich viel einfacher und bequemer, auf dem Teppich heimzufliegen, wenn wir die Teufel der Weltmeere gefangen haben. Laßt uns einen Plan machen!«

»Sehr gut!« krähte Ka. »Pläne sind immer gut!«

»Ich denke, ich bin gut?« brummte Löwe.

»Wenn ich mal was fragen darf, mähähähä, wo ist eigentlich der Teppich?« meckerte Zie.

Da erschrak der Sultan, schlug sich an die Stirn und rief: »O du gerechter Sultanspantoffel! Wir haben den Teppich im Hafen der Leuchtturminsel liegenlassen!«

»Ach — und er war so schön frisch geklopft!« meinte Ka bedauernd.

Nun, gerade das war ja im Augenblick am wenigsten wichtig.

Ein verräterischer Fund

Als die Teufel der Weltmeere auf dem Leuchtturm niemanden fanden, wurden sie noch wütender als zuvor.

War der Lump etwa vor ihrem Erscheinen verschwunden?

Hölle und Fegefeuer! Dann mußte er sicher noch im Hafen sein!

Sie wirbelten die Wendeltreppe hinab: ein roter, ein grüner und ein gelber Blitz.

Sie rannten so schnell, daß sie an der Stelle, wo vorhin noch die »Hölle« vor Anker lag, glatt ins Wasser geschossen wären, hätten sie sich nicht gegenseitig als Bremsbock benutzt — wobei sie übereinanderpurzelten.

Die »Hölle« war verschwunden — und sie lagen auf einem Teppich! Oh, wie sie fluchten, daß niemand Wache gehalten hatte! Fast wären sie sich gegenseitig in die Haare gefahren.

Der Rote sorgte für Ordnung. »Leute! Man hat uns überlistet. Die ›Columbus‹ ist uns durch die Lappen gegangen, unser Schiff mit allen geraubten Schätzen ist futsch, und unsere Gefangenen sind befreit! Aber jetzt sollen sie uns erst richtig kennenlernen! Ich weiß schon, wer uns diesen Streich gespielt hat. — Opa Sultan kam auf einem Teppich — und wir stehen jetzt auf einem Teppich! — Meine untrügliche Nase sagt mir, daß er ihn hier vergessen hat. Los, Leute, ihm nach! — Er kann noch nicht weit sein! Hinein mit dem Teppich — hinein mit uns in das Fischerboot — wir werden sie aufspüren und mit ihnen abrechnen!«

»Ja — aber wohin?« fragten der Grüne und der Gelbe.

Da — seltsam! Es plätscherte im Wasser, ein Wesen, das sie nicht recht erkennen konnten, ein Seehund oder eine Seejungfrau, ein runder Kopf jedenfalls, von dem Tang und Algen herabhingen, sang ihnen zu: »Fahrt nach Osten! Zur Mitternachtsinsel! Da findet ihr sie!«

Nun, den Teufeln der Weltmeere war es gleichgültig, wer ihnen den Rat gab, wichtig war ihnen der Hinweis allein. Zum Dank feuerten sie drei Pistolenschüsse in die Richtung der Singsangstimme.

Nur ein leises Glucksen antwortete ihnen. Wie ein Kichern, das mit den Luftblasen aufstieg.

Sie warfen den Teppich in Vater Schluckaufs Fischerboot über die Bank, setzten das kleine Segel und fuhren nach Osten.

In der Wüste

Unser Kamel empfand die Wanderung mit der Karawane fast als Erleichterung nach der rauhen Behandlung durch die Brüder, die es gefangen und verkauft hatten.

Das schwarzhaarige Mädchen Fatma war ihm keine schwere Last. Es ritt mit nackten Füßen, an deren Knöcheln zahlreiche Schmuckreifen im Rhythmus des wiegenden Schreitens leise klirrten. Der rote Umhang aus dünnem Gewebe ließ nur wenig von ihrem bräunlichen Gesicht sehen, er umflatterte luftig die ganze kleine Gestalt. Und ihre Augen schauten, dunkelbraun wie Datteln, fröhlich in die Welt.

Aber endlos dehnte sich die Wüste vor ihnen aus. Das Kamel wußte nicht mehr, wohin es ging. Gnadenlos brannte die Sonne herab. Im heißen Sand, der unter seinen gepolsterten Sohlen schabte und knirschte, gab es kein Gras, nicht einmal einen Kaktus. Und der Gedanke an kühles Wasser war wie die Erinnerung an einen schönen Traum.

In der Karawane zogen noch andere Kamele, aber auch Esel, Ziegen und Schafe. Ein Kamel trug sogar einen Holzkäfig, in dem sich gackernde Hühner zusammendrängten.

Sie bewegten sich schweigend voran. Wer hatte Lust, in dieser Glut zu plaudern? Höchstens ertönte einmal ein Ruf oder ein Pfiff, um einen Säumigen zu mahnen.

Gegen Abend erreichten sie eine Oase. In einer Talsenke entsprangen wunderbar klare Quellen, hier wuchsen Hunderte von Dattelpalmen, hier gab es ein kleines Dorf aus Lehmhäusern, hier fanden sie Platz in der Karawanserei.

Die Tiere drängten sich im Hof zusammen. Und als sich der tiefschwarze Himmel mit seinen Diamantensternen darüberspannte, als ein Feuer in der Mitte prasselte und aus dem Inneren des Gebäudes Flöten und Trommeln erklangen, zu denen die Nomaden ihre schwermütigen Lieder sangen, begann das Kamel zu erzählen.

Es berichtete von seinem behaglichen Leben am Hofe des Sultans, von den blausamtenen Pantoffeln, die es dort trug; von Löwe, der sein Freund war; von den zahllosen Abenteuern, die sie schon gemeinsam erlebt hatten, und schließlich schwärmte es sogar vom fliegenden Teppich! — »Oh, es ist herrlich, so hoch oben im blauen Himmel zu schweben, ohne Anstrengung Länder und Meere zu überbrücken, tief unter sich die Schiffe, Städte und Menschen zu sehen…«

»Hast du denn niemals Angst?« fragte ein grauhaariger Esel.

»Angst? — Was ist das?« brummte das Kamel.

»Ach — du erzählst uns lauter Lügen und Märchen!« krähte der Hahn aus dem Käfig. »Nur wir Vögel können fliegen, ein Kamel niemals!«

Da verspotteten alle Tiere das Kamel.

Beleidigt schwieg es. Wenn ich nur bald erlöst würde, dachte es, warum hat mich Löwe nur noch nicht befreit? Ist es denn für Ka, den flinken Kakadu, so schwer, mich zu finden?

Es beschloß, fortan zu schweigen und allein vor sich hin zu träumen. Und wenn die anderen Tiere baten, doch weiterzuerzählen — denn wenn auch alles nur Märchen seien, so seien sie doch wenigstens unterhaltsam —, preßte es beleidigt die Lippen aufeinander.

Kopfsprung

Der Sultan war sehr ärgerlich über sich selbst! Wie konnte er nur den fliegenden Teppich liegenlassen! Er hatte wohl, vor lauter Eifer, die »Hölle« zu kapern, den Kopf verloren.

Er stolperte unruhig auf der Felsplatte auf und ab, denn er wußte nicht recht, was er nun machen sollte.

Löwe lag zusammengerollt auf dem Boden, Ka hockte auf seiner Schulter. Beide schlummerten. Onkel Guckaus und Vater Schluckauf reckten ihre steifen Beine und massierten ihre von den Fesseln geschwollenen Gelenke.

Zie aber, den Schreck noch in den Gliedern, kletterte auf einen Vorsprung, wo die Luft feucht war von den Sprühtropfen der Wellen. Sie reckte das bärtige Kinn in den Wind und lauschte.

Nicht vergeblich: »Mähähähä!« meckerte sie leise. »Ich höre Geräusche. ›Drei unterhalten sich — ein Boot klatscht im Wasser und ein Mast knarrt…‹«

Just in diesem Moment ging der Mond auf. Sehr rasch stieg seine weiße Scheibe über den Ozean.

Und in seinem bleichen Licht sahen sie das kleine Segelboot mit den drei großen Schlapphüten.

Ka zwickte Löwe ins Ohr, alle eilten auf den Felsen. Die Teufel der Weltmeere saßen eng nebeneinander auf der Bank und brüllten zu ihnen hinüber: — »Haha, Opa Sultan! Hast du deine Menagerie um die altersschwache Ziege vermehrt?«

»Ich werde euch gleich beweisen, wie altersschwach ich bin!« meckerte Zie wütend.

»Oder pflegst du immer Teppiche gegen Ziegen einzutauschen?« höhnten die Seeräuber weiter. »Du bist ein schlechter Kaufmann! Wir sitzen sehr bequem auf deinem Teppich!«

»Ihr sitzt darauf?« fragte der Sultan. Er klatschte in die Hände …und langsam erhob sich der Teppich mit den drei Gaunern in die Luft.

»He! Holla! Verdammt! — Was soll das?« riefen diese verblüfft und klammerten sich aneinander.

Und der Sultan, Onkel Guckaus und Vater Schluckauf lachten, lachten und lachten. Sogar Zie meckerte vergnügt…

Aber sie freuten sich zu früh. Wieder war es der Rote, der blitzschnell handelte: »Kopfsprung!« befahl er. Drei Körper plumpsten, es klatschte, spritzte und — drei Hüte tanzten auf den Wellen!

Trotz der vollgesogenen Kleider schwammen die Seeräuber mit kräftigen Zügen zu ihrem Schiff. Zu spät erkannte der Sultan die neue Gefahr, schon erkletterten sie eine Felsklippe, von dort die »Hölle« — und sowie sie die vertrauten Planken unter den quatschnassen Stiefelsohlen hatten, fühlten sie sich wieder als Herren der Lage.

Sie rissen die Schutzhaube von der Bordkanone und richteten sie auf die Insel.

Der Sultan dirigierte gerade den Teppich zu sich. Und als dieser neben ihm niederging, krachte bereits der erste Schuß.

Die Kugel schlug auf, Steinsplitter zischten!

Doch jetzt ratterte die Turmuhr: Mitternacht.

Und als ob sie schon ungeduldig gewartet hätten, stiegen König Owigerns bleiche Untertanen aus allen Spalten. Die Insel schien aus zahllosen Schornsteinen zu rauchen.

Kampf mit Nebelschwaden

Wenn die Boten aus dem Geisterreich erscheinen, erschauern alle Wesen aus Fleisch und Blut.

Vater Schluckauf und Onkel Guckaus sträubten sich die Haare. Und Zie meckerte leise und klagend.

Nur die Teufel der Weltmeere zeigten keine Furcht. Einen Augenblick lang unterbrachen sie das Laden der Kanone, aber nur, um sich die Gespenster zu betrachten. Und dann höhnten sie erst recht: »Opa Sultans neuester Trick! Zirkuskunststücke! — Fauler Zauber!«

Seine Majestät erschien. Er leuchtete märchenhaft. Der gutmütige Kerl hatte sich eine grauenhafte Fratze zugelegt: Mit rotunterlaufenen Augen und weit herausragenden Eckzähnen sah er abscheulich aus. Dazu schimmerte sein Gewand in ekelhaftem Krokodilgrün.

Er drohte den Seeräubern mit Katzenkrallen und kreischte piepsend: »Fühühürchtet euhiiich! Iiiiich dre-eehe euhiiiich allllleeeenn diiiie Hälseee uuuummm!«

»Wer ist denn dieses liebe Kerlchen?« fragte Zie unwillkürlich! Und das war leider ernst gemeint.

»Hab Ehrfurcht vor dem hohen Herrn,

es ist der König Owigern!«

dichtete Ka.

Und der König wimmerte: »Nein! Ich bin kein liebes Kerlchen! Ihr sollt euch doch fürchten!«

»Fürchten?« höhnten die Teufel der Weltmeere. »Vor dir Schießbudenfigur? — warte! Wir zeigen dir — wie sehr wir uns vor dir fürchten!« — Und bums! knallten sie dem unglücklichen König eine Kanonenkugel in den Bauch!

Aber Gespenster erschießt man nicht so leicht! Der König fing das Geschoß mit bloßen Händen wie einen Ball auf und warf es seinem nächsten Untertanen zu. Der wieder einem anderen — und da die Teufel der Weltmeere nun feuerten, was ihr Kanonenrohr ausspeien konnte, und die Gespenster nur aufzuhüpfen brauchten, um die Kugeln aus der Luft herunterzuholen und einander als Bälle zuzuwerfen – war bald das tollste Kanonenkugelballspiel in Gang. Die Geschosse wirbelten nur so durcheinander wie bei der Vorstellung einer Jongleurtruppe.

Immer wieder blitzte die Mündung. Immer dichter wurde der Pulverqualm. Endlich aber war alles Pulver und waren alle Kugeln verschossen. Das Donnern verklang. Jetzt wollte der Sultan das Segelschiff stürmen, aber die Teufel der Weltmeere waren schneller.

Die Segel aufziehen, die »Hölle« vom Land abstoßen, wenden und davonrauschen: das ging alles schneller, als es sich beschreiben läßt.

»O nein, o nein, o nein!« wimmerte der unglückliche König. Er warf sich auf den Boden. »Sie haben sich nicht gefürchtet! Sie haben sich nicht ein bißchen gefürchtet, nicht ein klitzekleines bißchen, oh, das ist schrecklich, das ist ganz entsetzlich! —«

»Aber warum sollen sie sich denn vor dir fürchten? —« fragte Zie ahnungslos. Der König warf ihr nur einen traurigen Blick zu.

Da ratterte die Uhr wieder. Eine Stunde war im Kampf vergangen, wie verflogen. Die Gespenster verblaßten und verschwanden. Übrig blieben Dutzende von Geschossen, die wie ausgesät auf den Felsen lagen.

»Hoffentlich wachsen nun hier keine Kanonenkugelpalmen«, scherzte Ka.

Ein Plan

Der Mond also stand rund am Himmel, und manchmal schien er wie eine Laterne zwischen den Masten der »Hölle« zu hängen. Er war so hell, daß sogar die Segel fahlrot leuchteten.

Die Teufel der Weltmeere standen nebeneinander am Steuerrad — und jeder drückte es in eine andere Richtung. Der Rote wollte geradeaus, der Grüne nach Norden, weit weg von hier, und der Gelbe nach Süden, ebenfalls weit weg von hier.

Da aber der Rote in der Mitte stand, hob sich der Druck der beiden anderen auf. Und deshalb segelten sie geradeaus, das heißt, zurück zur Leuchtturminsel.

Der Rote hatte einen Plan.

Er ließ sein unverbundenes Auge gefährlich funkeln: »Auf keinen Fall fliehen wir vor Opa Sultan!« zischte er. »Wir müssen ihn unschädlich machen. Er darf uns nie mehr in die Quere kommen. Hölle und Satansglut! Wir gehen im Hafen der Leuchtturminsel vor Anker. Ich wette, daß er uns folgen wird. Und dort fangen wir ihn!«

»Aber wie?«

Was der Rote nun sagte, wurde von einem plötzlichen Aufheulen des Windes übertönt. Es schien aber den Beifall des Gelben und des Grünen zu finden, denn auch sie grinsten schadenfroh.

Eine Überraschung

Der Sultan und seine Freunde beratschlagten. Sofort aufzubrechen wäre unklug gewesen. Wo immer die Teufel der Weltmeere hingesegelt waren — mit dem Teppich konnten sie ihnen bis ans Ende der Welt folgen. Eile war also nicht geboten, nach den aufregenden Ereignissen der letzten Stunden hatten sie dagegen eine Ruhepause nötig. Ka schlief schon wieder, Onkel Guckaus und Vater Schluckauf spürten die Folgen der langen Gefangenschaft — kurz und gut, sie legten sich nieder und träumten durcheinander von Teufeln und Gespenstern, wachten aber trotzdem am nächsten Tag erfrischt auf.

Es war ein Tag, wie geschaffen, um sich am Leben zu erfreuen. Die Sonne vergoldete alles. An die Kämpfe der Nacht erinnerten nur noch die zahllosen Kanonenkugeln.

Onkel Guckaus drängte, zur Leuchtturminsel zurückzukehren. Tausend Pflichten warteten auf ihn; er durfte seinen Dienst nicht länger versäumen.

Damit sie schnell hinüberkamen, nahm Löwe das Boot von Vater Schluckauf ins Schlepp. Nämlich so: Löwe, der Sultan und Ka flogen auf dem Teppich, Guckaus, Schluckauf und Zie saßen im Fischerboot, dessen vorne angebrachtes Tau sie zum Teppich hinaufschleuderten, wo es Löwe mit den Zähnen packte. So zog der fliegende Teppich Vater Schluckaufs Äppelkahn.

Pfeilschnell ging die Fahrt. Zie meckerte ausnahmsweise vergnügt: »Endlich passiert wieder mal etwas!«

Und Ka krähte von oben:

»Uns führt zur großen Offensive

die Teppich-Flug-Lokomotive!«

Der Sultan fand, dies sei ein bemerkenswertes Gedicht.

Leider machten sie sich gerade weniger Gedanken über die Teufel der Weltmeere. Sie dachten nämlich, daß diese das Weite gesucht hätten.

Wie erstaunt waren sie daher, die »Hölle« im Hafen liegen zu sehen!

»Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu!« brummte der Sultan.

Löwe ließ das Tau los, es klatschte ins Wasser, und Vater Schluckauf ankerte zunächst einmal in mäßiger Entfernung vor der Insel, während der Sultan das still im Hafen liegende Seeräuberschiff umkreiste. Nichts! — Kein Laut, kein Mensch! — Sie umflogen den Leuchtturm, sahen durch das Fenster, wie verwüstet die Stube war — was den Sultan zu dem Ausruf »Teufel, Teufel!« veranlaßte. Sie umflogen mehrmals die ganze Insel. Alles lag wie ausgestorben.

Noch einmal steuerte er zur »Hölle«. Da bemerkte Ka: »Am Mast ist ein Zettel angeschlagen, ein Brief oder eine Botschaft!«

So war es, ein Blatt flatterte durchbohrt von einem dicken Nagel im Wind.

Ka holte den Brief. Zwar zerfetzte er ihn beim Abreißen, aber der Sultan konnte ihn noch zusammenfügen. Erstaunt rief er: »Donnerwetter, ist das chinesisch?« Aber es war nur so schrecklich wirr geschrieben: »Verwärter Sultan! Wihr happen einkezehen, taß wihr ser pöse warren. Dehzhalp wohlen wiehr taß Seeraupen auffgähbn. Wiehr siend in eihn Klohsdr gegancken. Es stiemt! Unsr Schif lazen wier zurick, um dehn Schaten widr gutt zu macken.

Miet filen Grißen

Die (friheren) Teifl dr Weltmerre!

P. S. Nämt euch, waz ir wollt!«

»Hm!« brummte der Sultan. »Das ist ja eine überraschende Wendung!«

Er berichtete Onkel Guckaus, Vater Schluckauf und Zie, und alsbald versammelten sie sich alle im Hafen.

»Der arme König Owigern tut mir nun richtig leid!« krächzte Ka. »Jetzt wird er wieder nicht erlöst!«

»Ich möchte ihm auch so gern helfen«, meinte der Sultan. »Ob wir nicht vielleicht eines Tages das Kamel auf die Mitternachtsinsel schmuggeln könnten? Vielleicht fürchtet es sich dann doch vor ihm — es ist ja so ängstlich!«

Löwe stand vor dem Steg, der zur »Hölle« hinüber-fiihrte. »Wer weiß, ob uns die Teufel der Weltmeere nicht in eine Falle locken!«

»Meinst du? —«

»Zuzutrauen ist ihnen alles!«

»Dann —«, schlug Onkel Guckaus vor, »sollten wir alle beieinander bleiben. Wir sind dann in der Überzahl! Wenn wir uns trennen, könnten sie uns einzeln überwältigen!«

»Sehr richtig!« meckerte Zie.

Löwe war nicht dieser Ansicht, trotzdem betrat er die Planke als erster.

»Hier ist schon wieder ein Zettel. Das ist fast wie Ostern!« krähte Ka. »Überall finden wir Zettel, wie Eier. Ich bin gespannt, was für Überraschungen uns auf dem Schiff, oder besser gesagt, in der ›Hölle‹ erwarten!«

Der Sultan riß den Zettel vom Schiffsgeländer und entzifferte ihn: »’Alllle setze lign ihm Lagrraum¡ Das soll wohl heißen: Alle Schätze liegen im Lagerraum!? —«

Sie kletterten nacheinander stampfend, schleichend, trappend und polternd an Bord. Sie machten »Pst!«, legten die Finger an die Lippen, blieben stehen, um zu lauschen. Da sie aber nichts hörten, schlichen sie weiter.

Und schon fanden sie wieder einen Hinweis: Er war an die offene Klappe des Lagerraums gepinnt, in den eine steile Treppe hinabführte. Obwohl dies ja nun nicht zu übersehen war, hatten die höflichen Seeräuber doch noch einen dicken Pfeil gemalt und darunter geschrieben: »Hir! ti seze!«

Getreu dem Vorsatz, sich nicht zu trennen, kletterten sie hinunter. Der Sultan als erster, dann Zie, Ka, Vater Schluckauf und Onkel Guckaus.

»Hier ist ein Sack voll Gold!«

»Und hier liegen Perlenketten!«

Und das war zunächst das letzte, was von ihnen gehört wurde: Die Klappe schlug zu.

Über der Reling tauchten die roten, grünen und gelben Augenbinden auf. Die Teufel der Weltmeere hatten sich auf einem Brett hinter der Bordwand verborgen gehalten und die Klappe mit einem Tau zugeschlagen.

Sie kletterten geschwind hinauf, schoben einen kräftigen Eisenriegel vor die Falltür, tanzten darauf herum und jubelten: »Haha! Nun müßt ihr verhungern!«

Sie lichteten den Anker und setzten die Segel.

Weite Wanderung

Stockfinster war es im Hof der Karawanserei. Im Holzfeuer glimmte nur noch ein Häufchen Glut.

Die Tiere schliefen, sie atmeten ruhig. Nur das Kamel stand wach an der Ziegelmauer, und sein Haupt hing traurig herab. Wie ungerecht war doch die Welt! —

Plötzlich hörte es ein Rascheln. Auf nackten Sohlen schlich das Mädchen Fatma zu ihm. Es reckte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich habe deine Geschichten gehört. Ich glaube dir!«

»Lachst du mich auch bestimmt nicht aus?« schnaubte das Kamel fast unhörbar.

»Ich will dich befreien. Und damit man dich unterwegs nicht wieder einfängt, gehe ich mit dir durch die Wüste bis nach Sultanien.«

»So viel willst du für mich tun, kleine Fatma?«

»Ja, du Sultanskamel!«

Dieser neue Name, mit dem es noch niemand angeredet hatte, gefiel dem Kamel so gut, daß sich seine Stimmung sofort besserte.

Fatma schnitt den Strick durch und führte es leise aus dem Hof. Ein Hund grollte im Schlaf. Aber niemand beachtete sie. Dann tappten sie zusammen durch die ausgestorbene Gasse der Oasenstadt und verließen sie durch ein uraltes Tor.

Vor ihnen lag die unendliche Wüste, dunkel und drohend. Aber die unzählbaren Sterne funkelten.

Wohin sollten sie gehen?

»Steig auf, du darfst auf mir reiten!« Das Kamel ließ sich nieder, Fatma kletterte auf seinen Rücken, und dann trabten sie die Karawanenstraße entlang, die im verwehten Sand kaum noch als grauer Streifen zu ahnen war.

Sie hatten eine lange Wanderung vor sich. Sie verloren die Richtung, verirrten sich in den Sanddünen, ließen sich von Spuren irreleiten, zogen unter sengender Sonne dahin, schwankten, dursteten, hungerten und wurden von Luftspiegelungen genarrt. Einmal stieg der Sultanspalast flimmernd vor ihnen auf, ein anderes Mal der fliegende Teppich — und einmal sah das Kamel sogar Löwe dicht vor sich auf einer Düne sitzen.

»Löwe gut — alles gut!« brummte es mit neuer Hoffnung, und Fatma, die auf seinem Höcker hing, riß die Augen auf. »Ach — ich sehe aber nichts!« jammerte sie. »Und ich verdurste!«

Da stolperte das Kamel mühsam weiter.

Zuviel Aufregung

Über dem Meer verdüsterte sich der Himmel. Wolken zogen auf, es nebelte. Und die »Hölle« tanzte auf den Wellen.

Im Lagerraum war die Stimmung gedrückt. Es war stockfinster.

»Da sind wir ja schön in die Falle gegangen!« meckerte Zie. »Das ist wirklich zuviel Aufregung — in so kurzer Zeit! Und ich werde seekrank!«

»Seekrank?« krähte Ka. »Da fällt mir Löwe ein! Wer hat Löwe gesehen? — Löwe, wo bist du?«

Stille! — Keine Antwort! Und keiner vermochte sich zu erinnern, Löwe in den Lagerraum hinabklettern gesehen zu haben.

Ein Hoffnungsschimmer? — Oder lag er irgendwo und fühlte sich sterbenselend? — Oder, noch schlimmer, heimtückisch erschlagen? Womöglich war er gar über Bord gespült worden?

Nein! — Löwe lebte! Aber schon wieder begann es in seinem Magen zu… oh! — Nur nicht daran denken! Er mußte rasch handeln, solange er noch bei Kräften war.

Als die anderen so leichtsinnig in die Falle gingen, war er blitzschnell unter die Plane der Kanone gekrochen. Viel Platz war hier nicht! Aber die Teufel der Weltmeere hatten ihn glücklicherweise nicht entdeckt, obwohl seine Schwanzquaste heraushing und obwohl sie viele Male direkt an ihm vorbeistiefelten und gewaltig prahlten!

Löwe hätte sie am liebsten in die Hinterbacken gebissen! Aber er wartete. Und er tat recht daran.

Als nämlich die Teufel der Weltmeere das Steuerruder vertäut hatten, zogen sie sich zu einer Feier in die Kapitänskajüte zurück. Nun kroch Löwe unter der Plane hervor. Wasser sprühte über Deck. Puh! Nur nicht über Bord gespült werden! Dicht auf die Planken geduckt schlich er zur Falltür. Mit den Zähnen zog er den Riegel auf und brummte: »Hallo! Ich bin es, Löwe!«

Der Sultan hob die Klappe einen Fingerbreit.

»Rasch!« knurrte Löwe. »Großangriff!«

Zöpfe

Die Teufel der Weltmeere grölten und lärmten in der Kajüte. Es schallte zum Bullauge hinaus wie das Johlen von Kannibalen, wenn ein Braten am Spieß geröstet wird. Sicher tranken sie ein höllisches Gebräu!

Unseren Freunden klang das wie Musik in den Ohren.

Rasch entwarf der Sultan einen Schlachtplan. Vater Schluckauf bezog Posten über dem Bullauge, der Länge lang lag er auf Deck, bewaffnet mit dem langen Ruder des Beiboots.

Die anderen stürmten treppab — durch die Tür — schon saß Ka dem Grünen in den Haaren, Zie nahm den Gelben auf die Hörner und Löwe warf den Roten auf den Rücken.

Das ging so schnell, daß die Teufel der Weltmeere nicht einmal nach ihren Pistolen greifen konnten. Und genauso schnell banden der Sultan und Onkel Guckaus dem Roten und dem Gelben die Hände auf dem Rücken zusammen.

Der Grüne aber schleuderte Ka in die Ecke, mit einem Kopfsprung wollte er zum Bullauge hinaus.

Doch Vater Schluckauf sagte »Huck! —« und klatschte dem Ausreißer das Ruder auf den Kopf — so, wie es der Kasperl mit der Pritsche tut.

Bums! Au! — Da erwischte ihn Löwe am Hosenboden — und alsbald standen sie alle, an Händen und Füßen gefesselt, nebeneinander.

Sie zogen so grimmige Fratzen wie richtige kleine Teufel. Jetzt, wo sie sich kaum bewegen konnten, sah man wieder so recht, wie winzig sie waren. Sie reichten dem Sultan kaum bis zur Schulter. Dafür funkelten sie um so wütender mit den unverbundenen Augen.

»So, ihr Gauner, ’runter mit den Binden!« sagte der Sultan.

»Rühr uns nicht an!« Der Rote versuchte, den Sultan in die Hand zu beißen. Onkel Guckaus brauchte seine ganze Kraft zur Bändigung der Wildkatzen.

Was nun unter den roten, grünen und gelben Binden zum Vorschein kam, verblüffte sie alle: nicht nur jeweils das andere Auge — nein, es klatschten neben den Ohren jeweils zwei dicke hochgebundene Zöpfe herab.

Ka pfiff und dichtete verblüfft:

»Grün — gelb — rotes Fädchen!

Es sind drei böse Mädchen!«

Und Löwe zitterte mit den Nasenflügeln: »Oh! Ich habe Mädchen immer so gern gehabt! Wenn ich an meine süße Pips denke…«

Nein, diese Mädchen waren offenbar gar nicht süß. Im Gegenteil!

Der Sultan wollte ein ernstes Wort mit ihnen reden, etwa so: »Seht ihr ein, daß ihr streng bestraft werden müßt?« Aber kaum begann er, spuckte der Rote — nein, jetzt muß es ja wohl heißen: die Rote! — ihn einfach an. Wie aus der Wasserpistole. Und die beiden anderen machten es ebenso.

Der Sultan wühlte in den unergründlichen Taschen seiner Pluderhose nach einem Tuch, um sich abzuwischen. Natürlich war er jetzt noch wütender. Er drohte: »Ha, euch sollen sich zuerst einmal alle meine Teppichklopfer der Reihe nach vornehmen. — Und dann…«

Die Mädchen lachten nur!

»Kommt noch ein Räuber, oder kann ich meinen Posten verlassen?« rief Vater Schluckauf durchs Bullauge. Seine Ruderklatsche schaukelte vor der Öffnung.

»Nein, wir haben sie!«

Zie meckerte ungeduldig: »Hängen wir sie nun gleich an den Masten auf? Verdient haben sie es wahrhaftig, mähähähähä!«

»Aufhängen nicht — aber anbinden!« bestimmte der Sultan.

Und Ka krähte: »An den Marterpfahl!«

Nun schlurfte Vater Schluckauf die Treppe hinab. Er schluckte gleich ein dutzendmal: »Huck! huck! — huck! — huck!«, als er sah, was für Fische ihnen ins Netz gegangen waren.

Guckaus rief: »Anpacken!« Und so packten die Männer, Guckaus, Schluckauf und der Sultan, je eines der Mädchen an den auf dem Rücken gefesselten Händen und schoben es die Treppe hinauf.

Sie mußten kämpfen wie mit wilden Stieren. Die Seeteufelinnen waren stark wie Ringkämpfer und wendig wie Schlangen. Sie bockten, rissen, duckten sich, keilten mit den Stiefeln aus und versuchten auf jede Weise, sich zu befreien.

Aber diesmal gelang es ihnen nicht. Sie wurden an die Maste gebunden und so fest mit dem Tau umwickelt, daß sie ägyptischen Mumien glichen.

Was tun?

Über all den Kämpfen war der Tag verstrichen. Ein rauher Wind wehte. Es wurde Abend.

Der Sultan zog die Freunde beiseite. »Was soll ich nur mit den gräßlichen Kindern machen? — Wären es erwachsene Männer, kämen sie hinter Gitter, aber so…«

Auch Vater Schluckauf und Onkel Guckaus kratzten sich heftig an den Hinterköpfen: »Wenn sie wenigstens bereuten! Aber bei soviel Frechheit! Schwierig, sehr schwierig. Wir müssen gründlich darüber nachdenken, was meinst du — huck!—, Guckaus?«

»Sehr wahr, sehr wahr! Aber zuerst muß ich zur Leuchtturminsel! Es wird Nacht, und der Scheinwerfer brennt nicht!«

»Bei Allah!« Der Sultan erschrak. Sie warfen das Ruder herum, die »Hölle« schlug beim Wenden fast über. Aber Schluckauf und Guckaus waren prächtige Seeleute. Im schönsten Wind segelten sie zur Leuchtturminsel. Es war ein Wettrennen mit der Zeit, mit der hereinbrechenden Dunkelheit!

Geisterstunde

Zwar war es bereits Nacht, als sie auf der Leuchtturminsel ankamen, aber Ka flog voraus und schaltete den Scheinwerfer ein. So warnte sein Strahl nicht nur die Ozeandampfer, er leitete sogar die »Hölle« selbst sicher in den Hafen.

Die Teufelinnen der Weltmeere, an die Maste gefesselt, schworen, sie würden dem Kakadu die Federn einzeln ausreißen und ihn dann nackt wie ein gerupftes Huhn über dem Feuer rösten.

Es war schon beachtlich, wo sie immer noch ihre Frechheit hernahmen. Die Gefangenschaft schien ihnen überhaupt nichts auszumachen. Im Gegenteil — sie war ein Anlaß mehr für sie, die wildesten Verwünschungen auszustoßen und alle mit Schimpfworten zu belegen. Eine übertrumpfte die andere mit unflätigeren Ausdrücken.

Der Sultan wurde immer böser. Sein rundes Gesicht war rot vor Zorn. Er drohte, sie einzusperren, hungern und dursten zu lassen… er drohte viel mehr, als er jemals wahrmachen würde — aber alles war umsonst! Die wilden Gören wollten nicht von ihrem schlimmen Treiben ablassen, o nein! Sobald sie sich befreit hätten, würden sie von neuem beginnen! Das nahmen sie auf ihren Eid!

Und dabei flatterten ihre Zöpfe.

Da die Nacht kühl wurde, auf dem Schiff aber kein Feuer brennen durfte, er die Gefangenen andererseits auch nicht ganz unbeobachtet lassen wollte, entzündete der Sultan auf der Mole einen aus Holz und Reisig aufgeschichteten Haufen — hier wollten sie die Nacht verbringen und morgen erneut beraten.

Um Mitternacht waren sie gerade eingenickt. Auf dem Leuchtturm schlug zwar keine Uhr, doch…

… über die See zog König Owigerns geisterbleicher Zug. Er näherte sich wie ein Nebelschwaden, der sich aber bald in Einzelwesen auflöste. Schwerelos schwebten sie über die Wasserfläche, sie schimmerten grünlich; in ihre Haare aus Tang waren Mondsteine und Muscheln geflochten, und sie sangen, sich an den Händen haltend, ein geheimnisvolles Summ-Lied ohne Worte.

Als sie in den Schein des Lagerfeuers gerieten, wirkte es, als ob sie von innen heraus glühten, sie waren wie in Purpur getaucht, und das verlieh ihnen etwas hoheitsvoll Feierliches.

Der Sultan rieb sich die Augen, er wollte dem hilfreichen König entgegeneilen. Guckaus und Schluckauf verneigten sich. Löwe stand auf. Ka zeigte seine schönste Haube, und Zie unterließ es höflicherweise zu meckern.

Der König nahm keine Notiz von ihnen. Er lächelte zwar, legte auch den Finger seiner wabbeligen Hand auf das majestätische Kaulquappenmaul, schwebte aber an ihnen vorüber und auf die »Hölle«.

Sein Hofstaat bildete einen weiten Kreis um den Hafen. Das gemeinsame Gesumme verstummte nicht, wurde nur so leise wie ein Hauch. Und alle schienen sich in freudiger Erwartung zu befinden.

Furcht

König Owigern lächelte. Er klang so zart wie ein Schlaflied: »Liebe, liebe Kinder, wer hat euch so fest gebunden? Ich will euch befreien!«

»Was willst du?« — »Ins Gefängnis werfen?« — »Foltern und zwicken?«

»Nein! — Ich will euch losbinden! Ihr müßt ja schreckliche Schmerzen haben. Bestimmt brennen euere Gelenke wie Feuer!«

»Wie — willst du etwa gut zu uns sein? — Geh bloß weg…« Die Mädchen begannen heimlich zu zittern. Eine Gänsehaut überlief sie, ganz gegen ihren Willen.

»Ihr armen, armen Dinger!« sang König Owigern.

Die Rote schaute ihn mit zitternden Lippen an. Sie war wie gelähmt. »Du willst uns nicht einsperren, uns nichts verbieten, uns keine Vorwürfe machen?«

»Aber nein!« Er lächelte. »Ich habe euch doch lieb!«

»Du hast uns lieb?« Es klang wie ein Notschrei.

»O ja, sehr, sehr lieb. Denn ich sehe tief in euer Herz hinein. Durch seine harte Kruste hindurch. Sein Kern ist weich, sein Kern ist gut.«

»Weg — weg! Du bist ja fürchterlich!« Die Mädchen drehten die Köpfe beiseite, denn ihre Augen wurden feucht. Und das sollte niemand merken.

»Oh! —« König Owigern war entzückt. Sein rundes Gesicht wurde womöglich noch weicher und breiter. »Oh, habt ihr gesagt, ich sei fürchterlich? Fürchterlich? — Wie herrlich!«

»Schlag uns, hau uns, sperr uns ein!« jammerten sie.

»Ich weiß, daß ihr das möchtet! Aber ihr seid früher schon zuviel geschlagen worden. Ihr wollt nicht, daß ich gut zu euch bin, denn dann könnt ihr nicht mehr böse sein!«

»Ach — du lügst!« schrie die Rote. Es war ihr letzter Versuch, ihren Trotz zu retten. »Du tust nur so, als ob du uns lieb hättest, aber später wirst du uns auch bestrafen und verlangen, daß wir um Verzeihung bitten und versprechen, immer ganz brav zu sein. So seid ihr alle! Ihr seid alle durch und durch schlecht und verlogen, ihr Erwachsenen, deshalb muß man euch ärgern und quälen, soviel man kann!«

König Owigern lächelte freundlich. Er schwebte näher. Er löste ihre Fesseln mit Geisterhänden. Nun standen sie frei da.

»Warum bindest du uns los? Was geschieht nun?«

»Nichts! Ihr seid frei!«

Das war zuviel für die drei! Sie begannen zu weinen und zu schluchzen. Sie heulten Rotz und Wasser. Dabei riefen sie, am ganzen Leibe bebend: »Weg mit dir, geh doch weg! — Du bist entsetzlich!«

Geisterweisheit

Der gütige König strahlte. Er wendete sich von ihnen ab und schwebte zur Reling, wo er dem erwartungsvollen Gefolge sein seliges Gesicht zeigte. Er breitete seine Arme weit aus und rief: »Ich bin fürchterlich!! Ich bin entsetzlich!! Sie zittern vor Angst! Vor mir! Wir sind erlöst! — Sie sind erlöst! —«

Nun schwoll der Summ-Gesang zu einem mächtigen Brausen an, eine Orgel, deren sämtliche Register gezogen werden. Und eine Stimme klang ganz besonders strahlend. Es war die der Sirene, der Meerfrau mit den Algenhaaren, die entzückt jubelte.

»Aber«, rief jetzt der Sultan, ergriffen zwar, aber noch nicht überzeugt, »sie müssen doch bestraft werden!«

»Ihr Trotz ist gebrochen! Strafe erzeugt neuen Trotz. Wenn sie wachsen, werden sie sühnen! Das ist die Weisheit der Unirdischen!«

Schlug es eins? — Auf einmal wurde der Gespenstergesang leiser, die Gestalten verblaßten.

»Ach, sehen wir uns denn nie wieder?« fragte der Sultan betrübt.

»Ich habe Ruhe gefunden!« waren die letzten Worte des Königs. Dann versanken er und seine Untertanen — wohin? Niemand sah es. Viele Geheimnisse nahm er mit sich. Wohin sie gingen und welcher Art die Ruhe war, nach der sie sich so gesehnt hatten…?

Vielleicht würden sie alle es später einmal selbst erfahren. Allah il Allah!

Mädchen gut — alles gut

Nach einer Pause der Besinnung stürmten sie an Bord, Löwe allen voran.

Die Mädchen erwarteten sie mit gesenkten Köpfen und baumelnden Zöpfen. Es waren bestimmt nicht mehr die gleichen, wenn sie auch die gleichen Kleider trugen. Ihre Augen schimmerten feucht.

»Ach«, brummte Löwe verwirrt, »sie sehen eigentlich doch meiner süßen Pips etwas ähnlich!« Er tappte zu ihnen, gab jeder einen sanften Nasenstüber: »Na, nun ist ja alles wieder gut«, sagte er.

»Wir wollten ja gar nicht böse sein — wir mußten es einfach!« flüsterte die Rote, ihre Hand in Löwes Mähne vergrabend.

Der Sultan schneuzte sich die Nase. Zu dumm, er wußte nicht, was er sagen sollte.

Statt dessen krähte Ka: »Mädchen gut — alles gut!«

»Ich denke doch, es heißt: ›Löwe gut‹!« murrte Löwe freundlich.

Und der Sultan meinte endlich: »Wenn ich den guten König richtig verstanden habe, müssen wir eure Vergangenheit über Bord werfen und eure Zukunft in Ordnung bringen. Nur so können wir den Schaden heilen!«

»Ja — huck! Guckaus, was meinst du? Dann wollen wir mal zunächst alle die Leuchtturmstube aufräumen!«

Und so geschah es.

Und außerdem saßen der Sultan und Löwe die ganze Nacht mit den Mädchen zusammen und sprachen über alles, was notwendig war, über die Rückgabe des Raubgutes und darüber, daß die Mädchen mit nach Sultanien kommen sollten, um dort in einem neuen Zuhause Geborgenheit zu finden.

Ka — auf des Sultans Schultern, hätte so gern ein schönes Gedicht gemacht, ein mächtig rührendes, aber immer wieder fielen ihm die Augen zu.

Nur Zie in ihrem Stall meckerte manchmal: »Mähähähä — jetzt haben wir aber einmal für eine lange Zeit genug Aufregung gehabt, und dies soll wieder eine einsame Insel sein!«

Aufbruch

Schon am nächsten Morgen nahmen sie Abschied von der Leuchtturminsel, von Guckaus, Schluckauf und Zie.

Sie: der Sultan, Löwe und Ka, sie: die Rote, die Grüne und die Gelbe, die jetzt ihre farbigen Augenbinden zum Winken verwendeten.

Onkel Guckaus ließ lange die Nebeltute heulen. Das war zwar nicht ganz vorschriftsmäßig, aber es strahlte ja die schönste Sonne und niemandem konnte es schaden.

Der Sultan, Löwe und Ka schwebten auf dem Teppich vor dem Segelschiff einher, das noch immer den Namen »Hölle« führte, denn ein neuer war ihnen noch nicht eingefallen. Vielleicht — hatte Guckaus vorgeschlagen — paßte nun »Fegefeuer«?

Ka hätte ja eigentlich selbst fliegen können, jedoch er fand es im Sultansturban viel gemütlicher, er hockte wie in einem Nest aus Seide. Und nun sang er wieder:

»Wir fliegen nach Sultanien,

da flattern alle Fahnien!

Es kommt der Ka, der Kakadu,

ihm jubeln alle Leute zu.

Hurra! Hurra! Da kommt er ja,

hurra, der wunderbare Ka!«

Er hatte wohl vergessen, daß er dieselben Verse schon einmal gemacht hatte.

Und noch eine Heimkehr

Es wäre zwar noch viel zu berichten; wie alles, was die Mädchen angerichtet hatten, zum Guten hin gewendet wurde, wie es mit ihnen weiterging. Aber das alles liegt in der Zukunft, und man muß mit Geduld abwarten, was sie bringt.

Jedenfalls kehrten zunächst einmal alle nach Sultanien zurück. Und nun gedachte der Sultan auch dort zu bleiben, lange, lange, lange…

Aber wo war das Kamel? — »Nein!« stotterte der Haushofmeister, noch unglücklicher als früher. »Das ehrwürdige Kamel ist noch immer nicht zurückgekehrt — Oh, wenigstens ist der fliegende Teppich wieder da, welch ein Glück! —«

Erregt stapfte der Sultan in seinem Gemach auf und ab. Die Mädchen saßen bekümmert auf der Ottomane, Löwe runzelte die Stirn. — Da flog Ka ans Fenster, schaute hinaus und krähte — »Aber da kommt es ja! — O Sultan! Es sieht erbarmungswürdig aus!«

Alle beugten sich über die Brüstung: Ein ausgehungertes, ermattetes, dreckiges, borstiges Trampeltier wankte über die Schwelle, und vor seinem Höcker lag vornübergebeugt, die Arme um seinen Hals geschlungen, ein kleines Mädchen mit schwarzen Haaren.

»Sollte es Pips sein?« murmelte Löwe.

Sie rannten ihnen entgegen. Löwe nahm gleich vier Stufen auf einmal. So war er auch zuerst in der Vorhalle und der erste, den das Kamel erblickte.

Glücklich schnaubte es: »Löwe gut — alles gut!« Dann ging es langsam in die Knie und brach zusammen. Gerade noch rechtzeitig fing der Sultan Fatma auf.

»Jetzt habe ich auf einmal vier Mädchen!« rief er verdattert.

Das Kamel öffnete matt ein Auge und flüsterte: »Hast du den Teppich auch wieder, o Sultan?«

Der Sultan nickte.

Da lächelte das Kamel. »Dann ist ja wirklich alles gut!« seufzte es, ehe es in einen langen, wohltuenden Schlaf sank.