Auferstehung

Leo Tolstoj

1899

1

Vorwort

Die Uebersetzung von Tolstojs Meisterwerk “Auferstehung,” direkt aus dem Manuskript des Dichters, ist von den Unterzeichneten als eine in hohem Grade ehrende Aufgabe übernommen worden. Sie stehn nicht an, das vorliegende Buch zu betrachten als die kraftvollste, überzeugendste Verurteilung einer absterbenden Kulturwelt; als die freieste, kühnste Zusammenfassung alles dessen, was die liebende und leidende Seele der Menschheit an ethischen Werten geschaffen, und dessen, was sie für erstrebenswert hält in der Zukunft; als den mächtigsten Zuruf des scheidenden Jahrhunderts an das kommende.

Dieses Buch der grossen Ideen in seiner schlichten, allen verständlichen und zugänglichen Form, in der es der Dichter geschrieben, ebenso treu und schlicht im Deutschen wiederzugeben, das war unsere Aufgabe, die wir keinen Augenblick aus dem Gesicht verloren.

Der deutsche Leser sollte eben auch von der Sprache Tolstojs, von seiner Diktion, das annährend treueste Bild erhalten, das zu erhalten war. Denn diese Sprache, nicht irgend ein allgemeines Deutsch, war das Wertvolle, diese Sprache durfte durch keinen Zusatz, keine Weglassung — nicht einmal die eines Wortes — geändert werden.

Das russische Buch — so eminent russisch in seinen Ideen — es konnte kein deutsches Buch werden, ohne seinen charakteristischen Duft, ohne seinen Heimatstempel zu verlieren.

Der Kennter und Verehrer Tolstojs, dem jedes Wort von ihm teuer ist, wird hier Tolstoj finden; we ihn nicht kennt, kann ihn hier kennen lernen. Mit Treue und Bescheidenheit haben wir einzig ihn selber reden lassen.

Zürich.

Ilse Frapan.

W. Tronin.

Inhaltsverzeichnis

I  1

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

II  2

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

III  3

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

Motto

»Da trat Petrus zu ihm, und sprach: Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der wider mich sündigt, verzeihen? Bis auf siebenmal?

Jesus antwortete ihm: Ich sage dir, nicht bis auf siebenmal, sondern bis auf siebenzigmal sieben.«

(Ev. Matthäi, XVIII, 21-22)

»Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, des Balkens aber in deinem Auge achtest du nicht?«

(Ev. Matthäi, VII, 3.)

»…Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.«

(Ev. Johannis, VIII, 7.)

»Der Jünger ist nicht über seinen Meister; jeder Vollkommene aber wird wie sein Meister sein.«

(Ev. Lucä, VI, 40.)

Teil I

1

1

Wie sehr die Menschen sich mühten, nachdem sich ihrer einige Hunderttausend auf einem kleinen Raume angesammelt hatten, die Erde, auf der sie sich drängten, zu verunstalten; wie sehr sie den Boden mit Steinen zurammelten, damit nichts darauf wüchse, wie eifrig sie ihn von jedem hervorbrechenden Gräschen reinigten, wie sehr sie mit Steinkohlen, mit Naphtha dunsteten, wie immer sie die Bäume beschnitten, alle Tiere und Vögel verjagten, — der Frühling war Frühling, sogar in der Stadt. Die Sonne wärmte, das neu auflebende Gras wuchs, grünte überall, wo immer man es nicht weggekratzt hatte, nicht nur auf den Rasenstücken der Boulevards, sondern auch zwischen den Steinplatten; Birken, Pappeln, Traubenkirschen ließen ihre klebrigen, duftigen Blätter sich entfalten; die Linden schwellten ihre berstenden Knospen; Dohlen, Spatzen und Tauben bereiteten schon frühlingshaft-fröhlich ihre Nester; Bienen und Fliegen summten, von der Sonne etwärmt, an den Wänden. Fröhlich waren die Pflanzen, die Vögel, die Insekten, die Kinder. Nur die Menschen, die großen erwachsenen Menschen hörten nicht auf, sich und einander zu betrügen und zu quälen. Die Menschen glaubten, daß nicht dieser Frühlingsmorgen heilig und wichtig sei, nicht diese Schönheit der Gotteswelt, die zum Heil aller Wesen gegeben ist, — die Schönheit, die zum Frieden, zur Eintracht, zur Liebe geneigt macht, sondern heilig und wichtig war das, man sie selbst ausgedacht hatten, um über einander zu herrschen.

So wurde in dem Büreau des Gouvernementsgefängnisses nicht für heilig und wichtig gehalten, daß allen Tieren und Menschen die Rührung und die Freude des Frühlings gegeben ist, sondern für heilig und wichtig ward gehalten, daß abends zuvor ein mit Nummer, Siegel und Ueberschrift versehenes Papier eingegangen war, darüber, daß zu 9 Uhr morgens an diesem Tage des 28. April drei sich in Untersuchung befindende und im Gefängnis gehaltene Arrestanten — zwei Frauen und ein Mann — vorgeführt werden sollten. Eine dieser Frauen mußte als die wichtigere Verbrecherin abgesondert vorgeführt werden. Und nun kam auf Grund dieser Vorschrift um 8 Uhr morgens am 28 April der Oberaufseher in den stinkenden Korridor der weiblichen Abteilung herein. Gleich hinter ihm her kam in den Korridor eine Frau mit zerquältem Gesicht und mit grauen, sich träufelnden Haaren, die in eine Jacke mit gallonierten Aermeln gekleidet und mit einem Gürtel mit blauem Vorstoß gegürtet war. Es war die Aufseherin.

»Wollen Sie die Maslowa haben?« fragte sie, indem sie sich mit einem déjournierenden Aufseher einer den Kammerthüren näherte, die sich in den Korridor öffneten.

Der Ausseher schloß, mit dem Eisen rasselnd, das Schloß auf, und nachdem er die Thür der Kammer geöffnet hatte, aus welcher eine noch übler riechende Luft strömte, als die im Korridor, schrie er:

»Maslowa, vor Gericht!« und er machte die Thür wieder zu und wartete.

Sogar auf dem Gefängnishofe war frische, belebende, vom Winde in die Stadt getriebene Luft. Im Korridor aber herrschte eine niederdrückende typhöse Luft, die vom Geruch der Ausleerungen, von Teer und Fäulnis gesättigt war und jeden Neuangekommenen sogleich in Niedergeschlagenheit und Betrübnis versetzte. Das erfuhr an sich selbst die vom Hofe gekommene Aufseherin, trotzdem sie an die schlechte Luft gewöhnt war. Sie empfand plötzlich, da sie in den Korridor eingetreten, Müdigkeit und wurde schläfrig.

In der Kammer hörte man ein hastiges Getriebe, weibliche Stimmen und Schritte nackter Füße.

»Immer fix! Du da rühr’ Dich! Maslowa, sag’ ich,« schrie der Oberaufseher in die Kammerthür.

Nach etwa zwei Minuten kam aus der Thür mit munterem Schritt ein nicht hochgewachsenes und sehr vollbusiges junges Frauenzimmer im grauen Schlafrock über einer weißen Jacke und einem weißen Rock. Sie drehte sich rasch um und stellte sich neben den Aufseher. An den Beinen trug das Frauenzimmer Strümpfe and Leinwand, darüber Gefängnispantoffeln; der Kopf war mit einem weißen Halstuch umbunden, unter welchem die Ringel der krausen schwarzen Haare augenscheinlich mit Absicht hängen gelassen waren. Das ganze Gesicht des Frauenzimmers war von der besonderen Weiße, die sich auf den Gesichtern von Menschen einzustellen pflegt, die lange Zeit hinter Schloß und Riegel zugebracht haben, und die an Kartoffelkeime im Keller erinnert. Ebenso sahen auch die kleinen breiten Hände aus und der volle weiße Hals, der aus dem großen Kragen des Schlafrocks hervorguckte.

In diesem Gesicht überraschten besonders bei der matten Blässe die sehr schwarzen, glänzenden, etwas geschwollenen, aber sehr lebhaften Augen, von denen eins ein wenig schielte. Sie hielt sich sehr grade, indem sie die volle Brust herausdrückte. Nachdem sie auf den Korridor herausgetreten, sah sie, ihren Kopf etwas zurückwerfend, dem Aufseher grade in die Augen und blieb stehen, voller Bereitwilligkeit, alles zu erfüllen, was man von ihr verlangen würde.

Schon wollte der Aufseher die Thür zuschließen, als sich daraus das runzelige, blasse und strenge Gesicht einer barhäuptigen grauen Alten hervorstreckte. Die Alte begann der Maslowa etwas zu sagen. Aber der Aufseher drückte die Thür gegen den Kopf der Alten, und der Kopf verschwand.

Laut lachte in der Kammer eine weibliche Stimme. Auch die Maslowa lächelte und drehe sich um nach dem Gitterfensterchen in der Thür.

Von der andern Seite drängte sich die Alte an das Fensterchen, und mit heiserer Stimme sagte sie:

»Vor allem eins: sag nicht zu viel aus, sag’ immer überein, und damit Hopp und Holla!«

»Wäre nur ein Ende, — schlimmer wird es wohl nicht sein,« sagte die Maslowa, den Kopf schüttelnd.

»Ein Ende gewiß, aber nicht zwei,« bemerkte der Oberaufseher mit obrigkeitsmäßiger Ueberzeugtheit von seinem Witz. »Mir nach, marsch!«

Das durch das Fensterchen sichtbare Auge der Alten verschwand, und die Maslowa ging nach der Mitte des Korridors; mit raschen kleinen Schritten ging sie dem Oberaufseher auf dem Fuße nach, und so stiegen sie die steinerne Treppe hinunter und gingen an den noch mehr als die Frauenkammern stinkenden und lärmenden Männerkammern vorbei, aus welchen sie überall die Augen in den Guckfenstern der Thüren begleiteten, und in das Büreau, wo schon zwei Eskortesoldaten mit Gewehren standen. Der Schreiber, welcher dort saß, gab einem der Soldaten ein von Tabaksgeruch durchdrungenes Papier, und indem er auf die Arrestantin zeigte, sagte er: »Nimm sie in Empfang.« Der Soldat, ein Bauer aus dem Gouvernement Rischnij-Nowgorod, mit rotem, von den Pocken zerwühltem Gesicht, steckte das Papier hinter den Aermelaufschlag seines Mantels, und lächelnd blinzelte er von der Arrestantin seinem Kameraden zu, einem Tschuwaschen mit starken Backenknochen. Dann stiegen die Soldaten mit der Arrestantin die Treppe hinunter und gingen zum Hauptausgang.

In der Thür des Hauptausganges öffnete sich ein Pförtchen, und nachdem die Soldaten mit der Arrestantin die Schwelle des Pförtchens in den Hof überschritten, gingen sie aus den Mauern hinaus und marschierten durch die Stadt, in der Mitte der gepflasterten Straßen.

Die Droschkenkutscher, Krämer, Köchinnen, Arbeiter, Beamte blieben stehen und betrachteten voll Neugier die Arrestantin; einige schüttelten die Köpfe und dachten: sieh, wohin es führt, wenn man sich schlecht, — nicht so wie wir — beträgt! Die Kinder sahen mit Entsetzen auf die Räuberin; es beruhigte sie nur, daß hinter ihr die Soldaten gingen, und daß sie jetzt schon niemand mehr etwas anthun konnte. Ein Bauer vom Dorf, der Kohlen verkauft und in einem Wirtshaus Thee getrunken hatte, näherte sich ihr, bekreuzte sich und reichte ihr einen Kopeken. Die Arrestantin errötete, neigte den Kopf und sagte etwas.

Während sie die auf sich gerichteten Blicke fühlte, schielte sie unmerklich, ohne den Kopf zu drehen, auf diejenigen, die sie ansahen, und die auf sie gerichtete Aufmerksamkeit freute sie. Es freute sie auch die im Vergleich zum Gefängnis reine Frühlingsluft, aber es that weh, mit ihren vom Gehen entwöhnten und mit ungefügen Arrestantenpantoffeln beschuhten Füßen auf die Steine zu treten, und sie sah auf den Weg unter ihren Füßen und bemühte sich, möglichst leicht zu treten. Während sie an einer Mehlhandlung vorbeiging, vor welcher Tauben, von niemand behelligt, ein wenig schaukelnd auf und abspazierten, berührte sie fast mit dem Fuß einen Blautauber; aufflatternd und mit den Flügeln bebend, flog der Vogel hart am Ohr der Arrestantin vorbei und überschauerte sie mit Wind. Sie lächelte, und dann seufzte sie schwer, indem sie ihrer Lage gedachte.

2

Die Geschichte der Arrestantin Maslowa war eine sehr gewöhnliche Geschichte:

Die Maslowa war die Tochter einer unverheirateten Leibeigenen, die mit ihrer Mutter auf dem Dorfe von zwei Fräulein, Schwestern, Gutsbesitzerinnen, als Stallmagd lebte. Dieses unverheiratete Frauenzimmer gebar jedes Jahr, und — wie es auf den Dörfern gewöhnlich gemacht wird — man taufte das Kind, doch nachher ernährte die Mutter das unerwünscht erschienene, unnötige und die Arbeit störende Kleine nicht, und bald starb es vor Hunger.

So starben ihr fünf Kinder. Alle waren sie getauft, nachher ernährte man sie nicht, und sie starben. Das sechste Kind — erzeugt von einem vorbeifahrenden Zigeuner — war ein Mädchen und ihr Schicksal wäre dasselbe gewesen, wenn es sich nicht begeben hätte, daß eins der beiden alten Fräulein auf den Viehhof gekommen wäre, um der Stallmagd einen Verweis wegen des nach der Kuh riechenden Rahms zu geben. In der Wohnung der Stallmägde lag die Wöchnerin mit ihrem schönen gefunden Säugling. Das alte Fräulein erteilte sowohl für den Rahm, als auch dafür einen Verweiß, daß man eine Wöchnerin auf dem Viehhof zugelassen und wollte schon weggehen, als sie das Kind erblickte. Sie ward gerührt und bot sich an, Taufmutter des Kindes zu sein. Sie hielt es auch über die Taufe; nachher dann, das Patchen bedauernd, gab sie der Mutter Milch und Geld, und das Mädchen blieb am Leben. Die alten Fräulein nannten sie denn auch: »Die Gerettete«.

Das Kind war drei Jahre alt, als die Mutter erkrankte und starb. Seiner Großmutter, der Stallmagd, war die Enkelin zur Last, und dann nahmen die alten Fräulein das Mädchen zu sich. Daß schwarzäugige Madchen wurde ungewöhnlich lebhaft und zierlich und war den alten Fräulein ein Trost.

Es gab zwei alte Fräulein: eine jüngere, etwas gutmütigere, Sophia Iwanowna, — dieselbe, welche das Kind über die Taufe gehalten, — und eine ältere, etwas strengere — Maria Iwanowna. Sophia Iwanowna putzte das Mädchen, lehrte es lesen und wollte aus ihm eine Ziehtochter machen. Maria Iwanowna sagte, das man aus dem Mädchen eine Arbeiterin, ein gutes Stubenmädchen machen müsse, und daher war sie anspruchsvoll, strafte und schlug sogar hier und da das Mädchen, wenn sie schlechter Laune war. So wuchs das Mädchen, zwischen zwei verschiedenen Einflüssen, halb als Stubenmädchen, halb als Ziehkind auf. So nannte man es denn auch weder Katjka2 , noch Katenjka3 , sondern zwischen beidem: Katjuscha. Sie nähte, räumte die Zimmer auf, besorgte die kleine Wäsche, röstete, mahlte und servierte den Kaffee, putzte die Heiligenbilder4 mit Kreide und saß bisweilen bei den Fräulein und las ihnen vor.

Sie hatte Bewerber, wollte aber keinen nehmen, da sie fühlte, wie das Leben mit jenen arbeitenden Leuten, die um sie ftreiten, schwer sein würde für sie, die durch die Süße des Herrenlebens verwöhnt war.

So lebte sie bis zu ihrem sechzehnten Jahr. Als sie aber sechzehn Jahre alt geworden, kam zu den Fräulein ihr Neffe, ein Student und reicher Fürst, und Katjuscha verliebte sich in ihn, ohne daß sie wagte, es sich selbst, geschweige denn ihm zu gestehn. Dann fuhr dieser selbe Neffe nach zwei Jahren auf dem Wege in den Krieg bei den Tantchen vorbei, brachte vier Tage bei ihnen zu, und am Vorabend seiner Abreise verführte er Katjuscha. Darauf drückte er ihr am letzten Tage einen Hundertrubelschein in die Hand und reiste ab. Fünf Monate nach seiner Abreise wußte sie bestimmt, daß sie schwanger sei.

Von der Zeit an ward ihr alles gleichgültig, und sie dachte nur darüber nach, wie sie der Schande, die sie erwartete, entgehen könne. Nicht nur begann sie unwillig und schlecht den Fräulein zu dienen, sondern plötzlich brach sie los und ohne selbst zu wissen, wie es geschah, sagte sie den Fräulein Grobheiten, die sie selbst später bereute, und bat, sie zu entlassen. Die Fräulein, die sehr unzufrieden mit ihr geworden, entließen sie.

Als Stubenmädchen kam sie von ihnen zu einem Stanowoji5 , aber sie konnte dort nur drei Monate bleiben, weil der Stanowoj, der fünfzigjährige Alte, zudringlich wurde. Einmal, als er besonders unternehmungslustig geworden, erhitzte sie sich, hat ihn Dummkopf und alter Teufel genannt, hat ihm einen solchen Stoß vor die Brust gegeben, daß er hinfiel und ist der Grobheit wegen weggejagt worden. Wieder in einen Dienst zu treten, hatte nun keinen Zweck; bald sollte sie gebären, und so ließ sie sich bei einer Witwe, der Dorfhebamme nieder, die mit Branntwein handelte. Die Niederkunft war leicht. Aber die Hebamme, welche eine kranke Frau auf dem Doff accouchierte, hat sie mit dem Wochenbettfieber angesteckt, und das Kind, den Knaben, hat man ins Findelhaus gebracht, wo er sogleich nach der Ankunft verstarb, wie die Alte, die ihn weggeführt hatte, erzählte.

Geld hatte Katjuscha, als sie sich bei der Hebamme niederließ, im ganzen hundertsiebenundzwanzig Rubel; siebenundzwanzig davon verdient und hundert, die ihr der Verführer gegeben hatte. Als sie aber von ihr wegging, blieben ihr nur sechs Rubel übrig. Sie verstand nicht, Geld zu sparen, sie brauchte es für sich und gab es anderen, jedem der bat. Die Hebamme nahm ihr für die Unterkunft, Kost und Thee für zwei Monate vierzig Rubel ab; fünfundzwanzig Rubel gingen fur die Absendung des Kindes darauf; vierzig Rubel hatte sich die Hebamme leihweise ausgebeten, für eine Kuh, etwa zwanzig Rudel sind so — für Kleider, für Geschenke fortgegangen, sodaß Katjuscha, als sie gesund geworden, kein Geld mehr hatte und eine Stelle suchen mußte. Diese Stelle fand sich bei einem Förster. Der Förster war ein verheirateter Mann, aber ebenso wie den Stanowoj begann er vom ersten Tage an sich der Katjuscha aufzudrängen. Er war ihr widerwärtig, und sie hat sich bemüht, ihn zu meiden, aber er war erfahrener und schlauer als sie; die Hauptsache aber war, daß er, als Hausherr, sie hinschicken konnte, wohin er wollte; so hat er eine günstige Minute abgepaßt und sich ihrer bemächtigt. Die Frau hat es erfahren und als sie ihren Mann einmal allein mit Katjuscha im Zimmer überraschte, stürzte sie los, um sie zu schlagen. Katjuscha ergab sich nicht und es entstand eine Prügelei, weswegen man sie aus dem Hause gejagt, ohne ihr den verdienten Lohn zu bezahlen. Darauf fuhr Katjuscha in die Stadt und hielt sich bei ihrer Taute auf. Der Mann der Tante war ein Buchbinder und lebte früher gut; hatte aber jetzt nach und nach alle Kunden verloren und sich dem Trunk ergeben, indem er alles, was ihm unter die Hand kam, vertrank.

Die Tante indes hatte eine kleine Wäscherei, ernährte damit sich und ihre Kinder und unterhielt auch den verlorenen Mann. Sie hat der Maslowa vorgeschlagen, bei ihr als Wäscherin einzutreten. Aber die Maslowa sah, was für ein schweres Leben die Waschfrauen hatten, die bei ihrer Tante dienten, und sie zögerte und suchte in den Vermittelungsbüreaux eine Stelle als Dienstmädchen. Sie fand einen Platz bei einer Frau, die mit ihren beiden Söhnen, Gymnasiasten, zusammen wohnte. Acht Tage nach ihrem Antritt hörte der älteste, schnurtbärtige Gymnasiast der sechsten Klasse auf zu lernen und ließ der Maslowa in seiner Zudringlichkeit keine Ruhe. Die Mutter gab an allem der Maslowa Schuld und kündigte ihr. Eine neue Stelle fand sich nicht, aber es traf sich, daß die Maslowa, als sie in das Stellenvermittelungsbüreau kam, dort einer Dame mit Fingerringen und Bracelets an den aufgedunsenen nackten Armen begegnete. Nachdem die Dame die Lage der stellesuchenden Maslowa erfahren, hat sie ihr ihre Adresse gegeben und sie zu sich eingeladen. Die Maslowa ging zu ihr. Die Dame empfing sie freundlich, bewirtete sie mit Pastetchen und süßem Wein und hat dann ihr Stubenmädchen mit einem Zettel irgendwohin geschickt. Abends kam in das Zimmer ein hochgewachsenet Mann mit langen ergrauenden Haaren und grauem Bart. Dieser Greis rückte sogleich der Maslowa näher und begann sie, lächelnd und mit den Augen glänzend, zu betrachten und mit ihr zu scherzen. Die Hausfrau hat ihn hinaus in ein anderes Zimmer gerufen, und die Maslowa hörte sie sagen: »eine ganz Frische, vom Dorfe.« Dann rief die Hausfrau die Maslowa heraus und sagte, das sei ein Schriftsteller, der sehr viel Geld habe und nicht sparen werde, wenn sie ihm gefiele. Sie hat gefallen, und er gab ihr fünfundzwanzig Rubel und versprach, sie oft wieder zu sehen. Bald ging das Geld drauf für Bezahlung der Kost bei der Tante und für ein neues Kleid, einen Hut und Bänder. Nach einigen Tagen schickte der Schriftsteller wieder nach ihr. Sie ging. Er gab ihr noch fünfundzwanzig Rubel und schlug ihr vor, in eine besondere Wohnung zu ziehen.

Während die Maslowa in dem von dem Schriftsteller gemieteten Quartier wohnte, gemann sie einen lustigen Kommis lieb, der auf demselben Hof logierte. Sie hat das selber dem Schriftsteller erklärt und eine abgesonderte kleine Wohnung bezogen. Der Kommis aber, der sie zu heiraten versprochen, reiste, ohne ihr etwas davon zu sagen, nach Nischnij; er hatte sie augenscheinlich verlassen; die Maslowa blieb allein. Sie wollte nun für sich in dem Quartier wohnen, aber das hat man ihr nicht erlaubt. Der Polizeioffiziant teilte ihr mit, sie könne nur so leben, nachdem sie einen roten Schein bekommen und sich einer medizinischen Untersuchung gestellt habe. Darauf ging sie wieder zu ihrer Tante.

Als die Tante ihr Modekleid erblickte, den Umhang und den Hut, empfing sie sie achtungsvoll und wagte schon nicht mehr, ihr vorzuschlagen, Wäscherin zu werden, da sie glaubte, daß sie eine höhere Lebensstufe betreten habe. Für die Maslowa existierte jetzt nicht mehr die Frage, ob sie Wäscherin werden solle oder nicht. Sie blickte jetzt mit Mitleid auf das Galeerenleben, das die blassen Waschfrauen mit den mageren Armen, — einige der Frauen waren schon schwindsüchtig — in den vorderen Zimmern führten, indem sie bei dreißig Grad im Seifendampf und dazu bei, im Sommer wie im Winter, geöffneten Fenstern wuschen und plätteten, und sie ergrauste bei dem Gedanken, daß auch sie in solche Galeerenarbeit eintreten sollte. Und zu dieser Zeit, die für die Maslowa besonders kummervoll war, weil sie keinen Beschützer fand, wurde sie von einer Vermittlerin aufgesucht, die ein Toleranzhaus mit Mädchen versorgte.

Die Maslowa rauchte schon längst; in der letzten Zeit aber ihres Verhältnisses mit dem Kommis, und nachdem er sie verlassen, gewöhnte sie sich immer mehr und mehr ans Trinken. Der Branntwein zog sie nicht nur an, weil er schmackhaft schien, sondern und hauptsächlich deshalb, weil er ihr die Möglichkeit, alles Schwere, das sie erlebt hatte, zu vergessen verlieh, und er verlieh ihr Ungezwungenheit und eine feste Ueberzeugung von ihrer Würde, welche sie ohne Branntwein nicht hatte. Ohne Branntwein schämte sie sich immer und war niedergeschlagen. Die Vermittlerin bewirtete die Tante, und nachdem sie die Maslowa betrunken gemacht, schlug sie ihr vor, in eine gute — in die beste Anstalt der Stadt einzutreten, indem sie ihr alle Vorteile und Vorzüge dieser Stellung vor Augen führte. Die Maslowa hatte die Wahl vor sich: entweder die erniedrigende Lage einer Dienstmagd, wo es ganz sicher Verfolgungen von seiten der Männer und zeitweilige geheime Ehebrüche geben würde, oder die gesicherte, ruhige, gesetzliche Stellung und der offene, vom Gesetz erlaubte, gut bezahlte, beständige Ebebruch, und sie wählte das letztere. Außerdem glaubte sie damit an ihrem Verführer und an dem Kommis — an allen Leuten, die ihr Böses gethan, Rache zu nehmen. Dabei verführte sie noch, und eines der Motive ihrer definitiven Entscheidung war, daß die Vermittlerin ihr sagte, sie könne so viele Kleider bestellen, wie sie nur wünsche; aus Samt, aus Seide, Ballkleider, die Schultern und Arme nackt lassen. Und als sich die Maslowa vorstellte, — sie im hellgelben dekolletierten Seidenkleide, besetzt mit schwarzem Samt, — da konnte sie nicht widerstehen und gab ihren Patz ab.

Und noch an demselben Abend nahm die Vermittlerin eine Droschke und führte sie in das berühmte Haus der Kitajewa.

Und so begann von dieser Zeit an für die Maslowa jenes Leben des chronischen Vergehens gegen göttliche und menschliche Gebote, das von Hunderten und Hunderten von Frauen geführt wird, nicht nur mit Erlaubnis, sondern unter der Gönnerschaft der regierenden Gewalt, die mit dem Wohl ihrer Bürger betraut ist, und das für neun von zehn mit qualvollen Krankheiten, mit vorzeitiger Altersschwäche und Tod endigt. —

Morgens und am Tage der schwere Schlaf nach den nächtlichen Orgien. Um drei, vier Uhr das müde Aufstehn vom schmutzigen Bette, Selterwasser nach der Völlerei, Kaffee — dann das faule Herumschlendern durch die Zimmer, in Peignoirs, Jacken, Schlafröcken; das Schauen aus den Fenstern, verborgen hinter den Vorhängen; das träge Schelten untereinander; dann das Abwaschen, Beschmieren, Parfümieren des Leibes, der Haare; das Anbrobieren der Kleider; das Streiten darüber mit der Wirtin; das Betrachten im Spiegel, dad Schminken der Gesichts, der Augenbrauen; die süße fette Mahlzeit; dann das Anziehen des hellen, seidenen, den Körper entblößenden Kleides; das Hinaustreten in den aufgeputzten, hell beleuchteten Saal, die Ankunft der Gäste —; Musik, Tanz, Bonbons, Wein, Rauchen, Ehebrüche mit den Jungen, mit Leuten mittleren Alters, mit halben Kindern, mit sich ruinierenden Greisen, mit Ledigen, mit Verheirateten, mit Kaufleuten, mit Kommis, mit Armeniern, mit Juden, mit Tataren, mit Reichen, Armen, Gesunden, Kranken, Betrunkenen, Nüchternen, Groben, Zarten, mit Militärs, mit Zivilisten, mit Studenten, mit Gymnasiasten — mit allen möglichen Klassen, Altersstufen, Charakteren. Und Geschrei und Späße, und Prügel und Musik, und Tabak und Wein, und Wein und Tabak, und Musik vom Abend die zum Tagesanbruch. Und nur am Morgen Erlösung und schwerer Schlaf. Und so jeden Tag, die ganze Woche. Am Ende der Woche aber die Fahrt in die Staatsanstalt, — das Kreisbüreau, wo die im Staatsdienst stehenden Beamten, — Aerzte — Männer — diese Frauen unterrichten; und manchmal ernst und streng, manchmal mit scherzhafter Lustigkeit, die von der Natur zum Schutz gegen Verbrechen nicht nur den Menschen sondern selbst den Tieren veliehene Scham vernichteten, und dann ihnen das Patent gaben zur Fortsetzung derselben Verbrechen, welche diese Frauen im Lauf der Woche mit ihren Mitgenossen begingen. Und wieder ebensolche Woche. Und so jeden Tag, — im Sommer, im Winter, am Werktag wie am Feiertag.

So lebte die Maslowa sieben Jahre hindurch. Während dieser Zeit hat sie zweimal das Haus gewechselt, und einmal war sie im Hospital. Im siebenten Jahre ihres Aufenthalts im Toleranzhause und im zehnten Jahre nach ihrem ersten Fall, als sie siebenundzwanzig Jahre alt mar, geschah mit ihr das, wofür man sie ins Gefängnis gesetzt und jetzt vor das Gericht führte, nach sechsmonatlicher Haft im Gefängnis mit Diebinnen und Mörderinnen.

3

Zu gleicher Zeit, da die Maslowa, von dem langen Gange ermüdet, mit ihrer Bewachung an das Gerichtsgebäude herangekommen mar, lag jener selbe Neffe ihrer Erzieherinnen, Fürst Dmitrij Iwanowitsch Nechljudow, der sie verführt, auf seinem hohen, zerwühlten Springfederbett mit der Daunenmatratze, knöpfte den Kragen seines sauberen Nachthemdes von holländischer Leinwand mit den an der Brust festgebügelten Fältchen auf, und rauchte eine Cigarette. Er sah mit starren Augen vor sich hin und dachte darüber nach, was ihm heute zu thun bevorstehe, und was gestern gewesen.

Sich des gestrigen Abends entsinnend, welchen er bei Kortschagins zugebracht, reichen und berühmten Leuten, deren Tochter er, wie von allen angenommen wurde, heiraten sollte, seufzte er, warf die ausgerauchte Cigarette fort und wollte aus der silbernen Cigarettendose eine neue nehmen; — besann sich jedoch anders, ließ seine glatten weißen Beine vom Bett herab, fand mit ihnen die Pantoffeln, warf einen seidenen Schlafrock über die breiten Schultern und ging mit raschen Schritten in das ans Schlafgemach stoßende Ankleidezimmer, das ganz von dem fürstlichen Geruch der Elixiere, des Eau de Cologne, der Bartpomaden und Parfüms durchdrungen war. Dort putzte er mit einem besonderen Pulver seine an vielen Stellen plombierten Zähne, spülte sie mit einem aromatischen Mundwasser, fing dann an, sich allerseits zu waschen und mit verschiedenen Handtüchern abzureiben. Nachdem er sich die Hände mit parfümierter Seife gewaschen, putzte er sorgfältig mit Bürsten die langgewachsenen Nägel, wusch sich an dem großen marmornen Waschtisch das Gesicht und den starken Hals und trat noch in ein drittes Zimmer neben dem Schlafgemach, wo eine Douche hergerichtet war. Als er dann mit kalten Wasser den muskulösen, mit Fett belegten weißen Leib gewaschen und sich mit dem rauhhaarigen Laken abgerieben hatte, zog er die saubere, geglättete Wäsche, die wie ein Spiegel geputzten Schuhe an, setzte sich vor die Toilette, um mit zwei Bürsten den kleinen, schwarzen krausen Bart and die auf dem vorderen Teil des Kopfes ziemlich dünn gewordenen, krauslichen Haare zu bearbeiten. Alle Sachen, deren er sich bediente, — das Toilettenzubehör, die Wäsche, die Kleider, die Fußbekleidung, die Halsbinden, die Hemdknöpfe, die Stecknadeln — waren von der allerersten teuersten Sorte, unauffällig, einfach, dauerhaft und kostbar.

Nachdem Nechljudow aus einem Dutzend Krawatten und Vorstecknadeln die ersten, die ihm unter die Hände kamen, genommen — einst war dies neu und unterhaltend, jetzt war es ihm vollständig gleichgültig, — zog er die gebürsteten und auf dem Stuhle vorbereiteten Kleider an und ging, wenn auch nicht vollkommen frisch, so doch sauber und duftend, in das lange Speisezimmer mit dem gestern von drei Bauern gewichsten Parquetboden, dem ungeheuer großen Eichenbuffet und dem ebenso großen, zum Ausziehen eingerichteten Tische, der mit seinen breit andeinandergestellten, in der Form von Löwenklauen geschnitzten Füßen etwas Feierliches hatte.

Auf diesem Tische mit der feinen, gestärkten, mit großen Namenszügen versehenen Decke stand eine silberne Kaffeekanne mit dunftendem Kaffee, eine ebensolche Zuckerdose, eine Rahmkanne mit gekochter Sahne und ein Korb mit frischem Kalatsch (Semmel), kleinen Zwiebacken und Biskuits. Neben dem Gedeck lagen die eingetroffenen Briefe, Zeitungen und ein neuer Band, die »Revue des deux mondes«.

Eben nur wollte sich Nechljudow an seine Briefe machen, als aus der Thür, die in den Korridor lührte, eine wohlbeleibte und ziemlich bejahrte Frau in Trauer, mit einem Spitzenaufsatz auf dem Kopfe, der den auseinandergegangenen Haarscheitel verdeckte, herangeschwommen kam. Es war das Kammermädchen der seligen, vor kurzem in dieser selben Wohnung verstorbenen Mutter Nechljudows, Agrafena Petrowna, die jetzt bei dem Sohn als Haushälterin geblieden war.

Agrafena Petrowna hatte etwa zehn Jahre — zu verschiedenen Zeiten — mit Nechljudows Mutter im Auslande verbracht und hatte das Aussehn und die Manieren einer Dame.

Von Kindheit an wohnte sie im Hause der Nechljudows und kannte Dmitrij Iwanowitsch als er noch Mitenjka war.

»Guten Morgen, Dmitrij Iwanomitsch!«

»Ich grüße Sie, Agrafena Petrowna; — was giebt’s Neues?« fragte Nechljudow scherzend.

»Ein Brief entweder von der Frau Fürstin oder vom fürstlichen Fräulein; das Zimmermädchen hat ihn schon längst gebracht, wartet bei mir,« sagte Agrafena Petrowna und übergab den Brief, bedeutungsvoll lächelnd.

»Schön, sogleich,« sagte Nechljudow, indem er den Brief nahm, und da er Agrafena Petrownas Lächeln bemerkte, zog er ein finstres Gesicht. Das Lächeln der Agrafena Petrowna bedeutete, daß der Brief den der jungen Fürstin Kortschagina war, die Nechljudow, nach Agrafena Petrownas Meinung, heiraten sollte. Und diese durch ihr Lächeln ausgedrückte Voraussetzung Agrafena Petrownas war Nechljudow unangenehm.

»Also ich sage ihr, daß sie etwas warten soll.« Und Agrafena Petrowna nahm das nicht an seinem Ort liegende Bürstchen zum Abfegen des Tisches, legte es an einen andern Ort und schwamm aus dem Speisezimmer hinweg.

Als Nechljudow den duftenden Brief, den ihm Agrafena Petrowna gereicht, erbrochen, begann er ihn zu lesen.

’Indem ich die auf mich genommene Pflicht erfülle,’ stand auf dem einen Bogen des dicken grauen Papiers mit den ungleichen Rändern, in einer scharfen aber weiten Handschrift geschrieben, ‘erinnere ich Sie daran, daß Sie heute, den 28. April, im Geschworenengericht sein müssen und daher unmöglich mit uns und mit Herrn Kolossow fahren können, um Bilder zu besehen, wie Sie dies gestern mit dem Ihnen eigentümlichen Leichtsinn versprachen, á moins que vous ne soyez disposé á payer á la cour d’assise les 300 roubles d’amende, que vous vous refusez pour votre cheval, dafür, daß Sie nicht zur rechten Zeit erscheinen. Es fiel mir gestern ein, als Sie eben fortgegangen waren. Also vergessen Sie es nicht.

Fürstin M. Kortschagina.’

Auf der anderen Seite war hinzugefügt: ‘Maman vous fait dire, que votre couvert vous attendra jusqu’a á la nuit. Venez absolument, á quelle heure que cela soit.

M. R.’

Nechljudow runzelte die Stirn. Der Zettel war die Fortführung jener geschickten Arbeit, die schon seit zwei Monaten an ihm von der jungen Fürstin Kortschagina ausgeführt wurde, und die darin bestand, daß sie ihn mit unmerklichen Fäden immer mehr und mehr mit ihr verknüpfte. Unterdessen aber hatte Nechljudow, außer jener, bei den nicht mehr jungen und nicht leidenschaftlich verliebten Leuten gewöhnlichen Unentschlossenheit vor der Ehe, noch einen wichtigen Grund, aus dem er, selbst wenn er sich entschlösse, doch nicht sogleich seinen Antrag machen könnte. Dieser Grund bestand nicht darin, daß er bald vor zehn Jahren Katjuscha verführt und sie verlassen hatte, das war von ihm vollständig vergessen worden, und er hielt das für kein Hindernis zum Heiraten; der Grund lag darin, daß er um dieselbe Zeit mit einer verheirateten Frau ein Verhältnis hatte, das — obgleich von seiner Seite zerrissen — ihrerseits noch nicht als zerrissen anerkannt wurde.

Nechljudow war sehr schüchtern den Frauen gegenüber. Aber eben seine Schüchternheit hatte in dieser verheirateten Frau die Lust erweckt, ihn zu erobern. Diese Frau war die Gemahlin des Adelsmarschalls jenes Kreises, zu dessen Wahl Nechljudow gefahren war. Und die Frau zog ihn in ein Verhältnis hinein, das für Nechljudow mit jedem Tage hinreißender und zu gleicher Zeit auch immer mehr und mehr abstoßend wurde. Anfangs hatte Nechljudow der Verführung nicht widerstehen können, dann, weil er sich vor ihr schuldig fühlte, konnte er dies Verhältnis nicht ohne ihre Einwilligung zerreißen. Und hier eben lag die Ursache, aus welcher Nechljudow glaubte, daß er kein Recht habe, auch wenn er es wünschte, der Kortichagina seinen Heiratsantrag zu machen.

Auf dem Tische lag gerade ein Brief von dem Manne dieser Frau. Als Nechljudow die Handschrift und den Stempel sah, errötete er und empfand sogleich jenen Energieaufschwung, den er immer heim Nahen der Gefahr fühlte. Aber seine Aufregung war überflüssig; der Mann, den Adelsmarschall desselben Bezirks, in dem die Hauptbesitztümer Nechljudows lagen, berichtete ihm, daß zu Ende Mai eine außerordentliche Versammlung des Semstwo anberaumt worden, und bat Nechljudow, auf alle Fälle zu erscheinen ‘et donner un coup d’épaule’ in den bevorstehenden wichtigen Fragen der Semstwo-Versammlung über die Schulen und die Anfahrtsbahnen, bei denen man starken Widerstand der reaktionären Partei erwartete.

Den Adelsmarschall war ein liberaler Mann, der zusammen mit einigen Gleichgesinnten gegen die unter Alexander III. angebrochene Reaktion kämpfte und so ganz von diesem Kampf absorbiert ward, daß er nichts von seinem unglücklichen Familienleben wußte.

Nechljudow vergegenwärtigte sich all die qualvollen Minuten, die er durchlebt, in Beziehung auf diesen Mann; er vergegenwärtigte sich, wie er einmal geglaubt, der Mann wisse alles, und wie er sich zum Duell mit ihm vorbereitete, bei welchem er in die Luft schießen wollte; und die furchtbare Scene mit ihr, als sie in Verzweiflung in den Garten hinauslief, zum Teich, mit den Absicht, sich zu ertränken, und er lief, sie zu suchen.

»Ich kann jetzt nicht fahren, ich kann nichts unternehmen, so lange sie mir nicht antwortet,« dachte Nechljudow. Vor einer Woche hatte er ihr einen entscheidenden Brief geschrieben, in welchem er sich als schuldig und zu jeder beliebigen Art von Genugthuung bereit erkannte, aber dennoch hielt er das Verhältnis und zmar zu ihrem besten, für beendigt auf immer. Und eben auf diesen Brief erwartete er Antwort und bekam keine. Daß er keine Antwort enhielt, war zum Teil ein gutes Zeichen. Wenn sie auf den Bruch nicht eingehen wollte, so hätte sie schon längst geschrieben oder wäre sogar selber gekommen, wie sie es früher tat. Nechljudow hatte gehört, daß gegenwärtig dort irgend ein Offizier war, der ihr den Hof machte, und das quälte ihn mit Eifersucht und freute ihn zugleich, als Hoffnung auf Befreiung von der ihn peinigenden Lüge.

Den andere Brief wan von dem Oderverwalter der Besitzungen. Der Verwalter schrieb ihm, daß er, Nechljudow, selber kommen müsse, um seine Erbschaft anzutreten, und außerdem, um die Frage zu entscheiden, wie die Wirtschaft fortzuführen sei: ob so, wie sie von der Seligen geführt worden, oder so, wie er es auch der seligen Fürstin vorgeschlagen und jetzt dem jungen Fürsten vorschlage, nämlich, das Inventarium zu vermehren, und alles Land, das jetzt den Bauern in Pacht gegeben war, selber zu bewirtschaften. Der Verwalter schrieb, daß eine solche Exploitation viel vorteilhafter sein würde. Dabei entschuldigte sich der Verwalter wegen Verspätung der Zusendung der laut Verordnung zum Ersten des Monats fälligen 3000 Rubel. Dieses Geld würde mit den nächsten Post abgesandt. Die Zusendung habe sich deswegen verzögert, weil er das Geld durchaus nicht bei den Bauern einsammeln konnte, deren Gewissenlosigkeit einen solchen Grad erreicht habe, daß es nötig gewesen, sich an die Autorität zu wenden, um sie zu betreiben. Dieser Brief war Nechljudow angenehm und unangenehm. Er war angenehm, seine Macht über ein großes Eigentum zu fühlen und unangenehm, daß er zur Zeit seiner ersten Jugend ein begeisterter Anhänger Herbert Spencers gewesen und als Großgrundbesitzer selber besonders dunch seinen Satz in den »Social Statics« getroffen war, ‘daß die Gerechtigkeit den Privatgrundbesitz nicht zulasse.’ Zu der Gradheit und Entschlossenheit der Jugend sagte er damals nicht nur, daß der Boden nicht Gegenstand des Privateigentums sein könne, und schrieb nicht nur in der Universität eine Abhandlung darüber, sondern er hatte um jene Zeit auch in der That ein kleines Landstück, das nicht seiner Mutter, sondern durch Erbschaft vom Vater ihm persönlich gehörte, damals den Bauern abgegehen, da er das Land nicht gegen seine Ueberzeugung besitzen wollte.

Jetzt, da er durch die Erbschaft ein großer Grundbesitzer geworden, mußte er eins von beidem: entweder auf sein Eigentum verzichten, wie er es vor zehn Jahren hinsichtlich der zweihundert Desjatinen Land von seinem Vater gemacht, oder in stillschweigendem Eingeständnis all seine früheren Gedanken als fehlerhaft und falsch anerkennen.

Das erstere konnte er nicht thun, weil er außer dem Landbesitz keine Mittel zur Existenz hatte. Dienen wollte er nicht, wohl aber hatte er inzwischen die Gewohnheiten eines luxuriösen Lebens angenommen, von denen er glaubte, sich nicht losmachen zu können. Aber es hatte auch keinen Zweck, denn er besaß schon nicht mehr weder jene Ueberzeugungskraft, noch jene Entschlossenheit, noch jene Eitelkeit und Lust, in Verwunderung zu setzen, die ihm in der Jugend eigen gewesen.

Das zweite aber, Widerruf jener klaren und unwiderlegbaren Beweisgründe von der Unrechtmäßigkeit des Grundbesitzes, die er damals aus der »Sozialen Statik« von Spencer geschöpft und deren glänzende Bestätigung er dann viel später in den Werken von Henry George gefunden hatte, war ihm durchaus nicht möglich.

Und unangenehm war ihm deswegen der Brief des Verwalters.

4

Nachdem Nechljudow seinen Kaffee getrunken, ging er ins Kabinet, um im Vorladungsschreiben nachzusehen, um wie viel Uhr man im Gericht sein müsse und um die Antwort an die Fürstin zu schreiben. Ins Kabinet mußte man durch das Atelier gehen. Im Atelier stand eine Staffelei mit einem angefangenen Bilde, das umgedreht war, auch waren Studien aufgehängt. Der Anblick dieses Bildes, an welchem er sich zwei Jahre lang abgequält, der Anblick der Studien und des ganzen Ateliers mahnten ihn an das in letzter Zeit mit besonderer Schärfe empfundene Gefühl seines Unvermögens, in der Malerei weiter zu kommen. Er erklärte diese Empfindung durch sein zu fein entwickeltes ästhetisches Gefühl, aber dennoch was diese Empfindung sehr unangenehm.

Vor sieben Jahren hatte er den Dienst aufgegeben, da er entschied, daß er einen Beruf zur Malerei habe, und von der Höhe der künstlerischen Thätigkeit sah er etwas verächtlich auf alle anderen Thätigkeiten herab. Jetzt ergab es sich, daß er dazu kein Recht hatte. Und darum war jede Erinnerung daran unangenehm. Mit schwerem Gefühl blickte er auf alle diese prachtvollen Einrichtungen des Ateliers hin, und in mißmutiger Laune ging er in dae Kabinet hinein. Das Kabinet war ein sehr großes, hohes Zimmer mit allen Arten von Zierrat, Vorrichtungen und Bequemlichkeiten.

Nachdem er sogleich in der Schieblade des kolossalen Schreibtisches unter der Abteilung »Terminsachen« das Vorladungeschreiben gefunden, in welchem es hieß, daß man um elf im Gericht sein müsse, setzte sich Nechljudow, um der Fürstin ein Billet zu schreiben, daß er für die Einladung danke und sich bemühen werde, zum Mïttagessen du zu sein. Aber nachdem er ein Billet geschrieben, riß er es entzwei: es war zu intim; er schrieb ein anderes, — es war kalt, fast beleidigend. Er riß es wieder entzwei und drückte auf den Knopf in der Wand. In die Thür kam in grauer Kalikoschürze ein bejahrter Lakai von finsterem Aussehen mit einem Backenbart, sonst ausrasiert.

»Bitte, schicken Sie nach dem Kutscher.«

»Zu Befehl.«

»Und sagen Sie, hier wartet jemand von Kortschagins, ich ließe danken, ich würde mich bemühen zu kommen.«

»Zu Befehl.«

‘Unhöflich, aber ich kann nicht schreiben. Ich werde sie doch heute sehen’, dachte Nechljudow und ging sich anzukleiden.

Als er sich dann angekleidet hatte und auf die Treppe hinauskam, wartete schon auf ihn sein bekannter Mietkutscher mit der Gummiräderdroschke.

»Gestern waren Sie eben vom Fürsten Kortschigan weggefahren,« sagte der Mietkutscher, den starken verbrannten Hals im weißen Hemdkragen halbumwendend, »als ich vorgefahren bin, der Schweizer aber sagte: ‘Grade weg!’«

Der Mietkutscher wußte, daß er Kortschagins besuchte und war gekommen, um ihn abzuholen.

‘Sogar die Mietkutscher wissen um mein Verhältnis zu Kortschagins,’ dachte Nechljudow, und es regte sich in ihm die unentschiedene Frage, die ihn in der letzten Zeit beständig beschäftigte: sollte er die Kortschagina heiraten, oder nicht; er konnte diese Frage, wie die meisten Fragen, die sich ihm um diese Zeit aufdrängten, durchaus nicht entscheiden, weder auf die eine, noch auf die andere Weise.

Zu Gunsten der Ehe überhaupt sprach erstens der Umstand, daß die Heirat, außer den Annehmlichkeiten des häuslichen Herdes, indem sie die Unregelmäßigkeit des Geschlechtslebens beseitigte, die Möglichkeit eines moralischen Lebenes bot; zweitens der Umstand, und dieser war die Hauptsache, daß Nechljudow hoffte, Familie und Kinder würden seinem jetzt inhaltslosen Leben einen Sinn geben. Das war für das Heiraten überhaupt. Gegen das Heiraten überhaupt sprach aber erstens die allen nicht jungen Junggesellen gemeinsame Furcht, ihre Freiheit einzubüßen, und zweitens, die unbewußte Furcht vor dem geheimnisvollen Wesen der Frau.

Zu Gunsten aber der Ehe, speziell mit Missi — Fräulein Kortschagina hieß Marie, und wie in allen Familien eines gewissen Kreises gab man ihr einen Beinamen — war erstens zu sagen, daß sie von guter Rasse war, und daß sie in allem, von der Kleidung bis zur Manier zu sprechen, zu gehen, zu lachen, sich vor einfachen Leuten auszeichnete; sie zeichnete sich nicht durch etwas Außerordentliches aus, sondern durch »Korrektheit«; er kannte keinen anderen Ausdruck für diese Eigenschaft und wertete diese Eigenschaft sehr hoch; und zweitens schätzte sie ihn höher als alle anderen Menschen, also, nach seinen Begriffen, verstand sie ihn. Und dieses Verstehen, das heißt das Anerkennen seiner hohen Qualitäten, zeugte von ihrem Verstand und von der Richtigkeit ihres Urteils. Gegen die Heirat, speziell mit Mïssi, war erstens, daß man, sehr wahrscheinlich, ein Fräulein finden konnte, welches noch viel mehr gute Eigenschaften als Missi hatte, und welches darum mehr seiner wert wäre; zweitens, daß sie schon 27 Jahre alt war, und darum hatte sie sicher schon früher geliebt; und dieser Gedanke war für Nechljudow qualvoll. Sein Stolz konnte sich nicht damit aussöhnen, daß sie selbst in der Vergangenheit nicht ihn lieben gekonnt. Versteht sich, sie konnte nicht wissen, daß sie ihn treffen werde, aber der Gedanke allein, daß sie irgend jemand frïher lieben gekonnt, beleidigte ihn. So daß der Beweggründe ebenso viele für die Ehe, wie gegen sie waren; wenigstens waren ihrer Kraft nach diese Beweggründe gleich, und Nechljudow, über sich selbst lachend, nannte sich Buridans Esel. Und dennoch fuhr er fort, einer zu sein, weil er nicht mußte, zu welchem von beiden Bündeln er sich wenden solle.

‘Uebrigens, ohne Antwort von Maria Wassiljewna — der Frau des Adelsmarschalls, — ohne damit vollständig zu Ende zu sein, kann ich nichts unternehmen,’ sagte er zu sich selbst.

Und dies Bewußtsein, daß er mit der Entscheidung zögern könne und müsse, war ihm angenehm. ‘Uebrigens werde ich alles das nachher überlegen,’ sagte er sich selbst, als seine Droschke schon ganz geräuschlos zur Asphaltausfahrt des Gerichtbgebäudes hinanrollte. ‘Jetzt muß man gewissenhaft, — wie ich es immer thue und für meine Schuldigkeit halte, seine öffentliche Pflicht erfüllen. Zudem aber pflegt es oft interessant zu sein,’ sagte er zu sich und ging an dem Schweizer vorbei in den Flur des Gerichtsgebäudes hinein.

5

In den Korridoren des Gerichtes war eine starke Bewegung, da Nechljudow hereintrat.

Die Wächter gingen bald rasch, bald sogar im Trab, ja, sie huschten vorüber ohne die Füße vom Boden zu heben, und liefen, kaum Atem holend, hin und her mit Aufträgen und Akten. Die Gerichtskommissäre, Advokaten, Gerichtsbeamten gingen bald hin, bald her; die Supplikanten und die Angeklagten ohne Bewachung strichen verzagt an den Wänden herum oder saßen voll Erwartung.

»Wo ist das Bezirksgericht?« fragte Nechljudow bei einem der Wächter.

»Zu welchem wollen Sie? Es giebt eine Civilabteilung, es giebt das Appellationsgericht.«

»Ich bin Geschworener.«

»Also Kriminalabteilung. So hätten Sie auch sagen müssen. Hier rechts, dann links und die zweite Thür.«

Nechljudow ging.

Neben der genannten Thür standen zwei Männer und warteten; einer war ein großer dicker Kaufmann, ein gutmütiger Mensch, der in Vorbereitung zu seinem Dienst ein Glas getrunken und einen Imbiß genommen hatte und in der heitersten Gemütsverfassung war. Der andere war ein Kommis von jüdischer Herkunft. Sie sprachen vom Preise der Wolle, als der eben angelangte Nechljudow herankam und fragte, ob dies das Zimmer der Geschworenen sei.

»Hier, mein Herr, hier. Auch einer von uns Geschworenen?« fragte lustig zwinkernd der gutmütige Kaufmann.

»Nun, also werden wir uns zusammen etwas anstrengen,« fuhr er auf die bejahende Antwort Nechljudows fort. »Baklaschow von der zweiten Gilde,« sagte er, seine weiche, breite Hand — sie war so dick, daß sie sich nicht ballen ließ — reichend, »man muß sich etwas Mühe geben. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Nechljudow nannte seinen Namen und ging in das Zimmer der Geschworenen.

In dem kleinen Zimmer der Geschworenen waren etwa zehn Mann verschiedener Sorte. Alle waren eben angekommen: einige saßen, andere gingen, indem sie einander betrachteten und sich bekannt machten. Der eine war ein abgedankter Militär in Uniform, die anderen waren in Gehröcken, in Joppen, und nur der eine im Kaftan.

Alle zeigten, trotzdem viele sich von der Arbeit losgerissen hatten und sagten, daß es sie belästige, — alle zeigten den Ausdruck eines gewissen Vergnügenes im Bewußtsein der Erfüllung einer wichtigen öffentlichen Thätigkeit.

Die Geschworenen, die teils mit einander bekannt geworden, teils aber nur vermuteren, wer wer sei, sprachen mit einander vom Wetter, vom frühen Frühling, von den bevorstehenden Geschäften. Diejenigen, welche mit Nechljudow nicht bekannt waren, beeilten sich, mit ihm bekannt zu werden, weil sie augenscheinlich es für eine besondere Ehre hielten. Und Nechljudow nahm es, wie immer unter Unbekannten, als das ihm Gebührende entgegen. Würde man ihn gefragt haben, warum er sich für höher, als die meisten Leute hielt, so hätte er nicht antworten können, weil sein ganzes Leben keine besonderen Verdienste offenbarte. Und daß er das Englische, Französische und Deutsche schön aussprach, daß er Wäsche, Kleider, Halstuch und Hemdknöpfe von den allerbesten Lieferanten dieser Waren hatte, das, verstand er selber, konnte keineswegs Ursache der Anerkennung seiner Ueberlegenheit sein. Inzwischen aber erkannte auch er unzweifelhaft diese seine Ueberlegenheit an, nahm die ihm erwiesenen Zeichen der Achtung, als das ihm Gebührende entgegen und fühlte sich beleidigt, wenn sie ausblieben. Im Zimmer der Geschworenen mußte er grade dieses unangenehme Gefühl ihm bezeugter Nichtachtung erfahren. Unter der Zahl der Geschworenen fand sich ein Bekannter von Nechljudow. Es war Peter Gerassimowitsch, — Nechljudow kannte nie seinen Familiennamen und prahlte sogar ein wenig damit, daß er seinen Namen nicht kenne, — der ehemalige Lehrer der Kinder seiner Schwester. Peter Gerassimowitsch hatte die Universitätskurse beendet und war jetzt Gymnasiallehrer. Er war immer unerträglich für Nechljudow durch seine Familiarität, durch sein selbstzufriedenes Lachen, überhanpt durch ‘seine kommunistischen Manieren,’ wie die Schwester Nechljudows zu sagen pflegte.

»So, Sie müssen auch dran glauben,« empfing Peter Geraffimowitsch mit lautem Lachen den Nechljudow, »konnten sich nicht drücken.«

»Aber ich dachte ja nicht daran, mich zu drücken,« sagte streng und traurig Nechljudow.

»Nun, das ist aber Bürgertugend! Warten Sie nur, wenn Sie Hunger verspüren und man Sie nicht schlafen läßt, werden Sie anders singen!« fing noch lauter lachend Peter Gerassimowitsch an.

’Dieser Oberpriesterssohn wird mich sogleich ‘Du’ nennen,’ dachte Nechljudow, und indes sich auf seinem Gesicht eine Trauer ausprägte, die nur in dem Fall natürlich gewesen wäre, wenn er soeben den Tod seiner sämtlichen Verwandten erfahren hätte, ging er von ihm weg und näherte sich einer Gruppe, die sich um einen glattrasierten, hochgewachsenen, ansehnlichen Herrn bildete, der mit Lebhaftigkeit etwas erzählte. Dieser Herr sprach von dem Prozeß, der eben in der Civilgerichtsabteilung verhandelt worden, wie von einer ihm gut bekannten Sache, indem er die Richter und die berühmten Advokaten mit Vor- und Zunamen nannte. Er erzählte von der wunderbaren Wendung, welche der berühmte Advokat der Sache zu geben verstanden, und nach welcher eine der Parteien, die alte Dame, obgleich sie vollständig im Recht sei, um nichts der Gegenpartei eine große Summe werde zahlen müssen.

»Der geniale Advokat,« sagte er.

Man hörte ihm mit Achtung zu, und einige bemühten sich, eigene Bemerkungen einfließen zu lassen, aber er schnitt allen das Wort ab, als ob nur er allein alles gehörig wissen könne.

Trotzdem Nechljudow zu spät vorgefahren, mußte er lange warten. Die Sache wurde aufgehalten durch ein Gerichtsmitglied, das bis jetzt nicht angelangt war.

6

Der Vorsitzende kam früh ins Gericht gefahren. Es war ein hoher, starker Mann mit großem, ergrauendem Backenbart. Er war verheitatet, führte aber ein sehr lockeres Leben, ebensa wie seine Frau. Sie störten einander nicht. Heute früh hatte er einen Zettel von der Gouvernante, einer Schweizerin, welche im Sommer bei ihnen im Hause gelebt und jetzt vom Süden nach Petersburg durchfuhr, erhalten, daß sie ihn in der Stadt im Gasthofe »Italie« zwischen drei und sechs Uhr erwarten werde. Daher hatte er Lust, die Verhandlung des heutigen Tages früher anzufangen und zu beenden, damit er bis sechs Uhr Zeit hätte, diese rothaarige Klara Wassiljewna zu besuchen, mit welcher er im vorigen Sommer auf dem Lande einen Roman angeknüpft hatte.

Nachdem er ins Kabinet eingetreten, riegelte er die Tür zu, holte aus dem Schrank mit Papieren von dem unteren Brett zwei Hanteln und machte zwanzig Bewegungen nach oben, nach vorwärts, nach rükwärts, nach unten und dann ließ er sich leicht dreimal nieder, indem er die Hanteln über dem Kopfe hoch hielt.

‘Nichts erhält einen so, wie das Begießen mit Wasser und die Gymnastik,’ dachte er, mit der linken Hand, die einen goldenen Ring auf dem Ringfinger trug, den angespannten Biceps des rechten Armes betastend. Ihm blieb noch übrig, einen »Moulinet« zu machen, — er pflegte diese zwei Bewegungen immer vor den langen Sitzen der Verhandlung auszuführen, — als die Thür erzitterte. Jemand wollte sie aufmachen. Der Vorsitzende legte eilig die Gewichte auf ihre Stelle und öffnete die Thür.

»Verzeihen Sie,« sagte er.

In das Zimmer kam eins der Gerichtsmitglieder mit goldener Brille, ein nicht hochgewachsener Mann mit aufgezogenen Schultern und einem finsteren Gesicht.

»Wieder ist Matwej Nikititsch nicht da,« sagte das Gerichtsmitglied unzufrieden.

»Noch nicht,« antwortete der Vorsitzende, die Uniform anziehend. »Immer verspätet er sich.«

»Erstaunlich, schämt er sich denn gar nicht?« sagte das Mitglied und setzte sich voll Unwillen, indem es Cigaretten aus der Tasche holte.

Dieses Gerichtsmitglied, ein sehr pünktlicher Mann, hatte heute früh einen unangenehmen Zusammenstoß mit seiner Frau gehabt, weil sie das ihr für einen Monat gegebene Geld vorzeitig verbraucht hatte. Sie hatte ihn gebeten, ihr Vorschuß zu geben, aber er sagte, daß er sich nicht darauf einlassen könne. Es erfolgte eine Scene. Die Frau sagte, wenn es so sei, so würde man auch kein Mittagessen haben, er möge ja zu Hause kein Mittagessen erwarten. Damit fuhr er weg und fürchtete, daß sie ihre Drohung wahr machen werde, weil man bei ihr auf alles gefaßt sein mußte, ’Da soll nun einer ein gutes, moralisches Leben führen,’ dachte er, indem er den strahlenden, gesunden, munteren und gutmütigen Vorsitzenden ansah, der mit seinen schönen, weißen Händen, indem er die Ellbogen breit auseinanderstellte, seinen dichten, langen, ergrauenden Backenbart zu beiden Seiten des gestickten Kragens ausbreitete, ‘er ist immer zufrieden und lustig, ich aber quäle mich.’

Es kam der Sekretär herein und brachte irgend welche Prozeßakten mit.

»Meinen besten Dank,« sagte der Vorsitzende, und rauchte eine Cigarette an. »Welchen Prozeß nehmen wir zuerst?«

»Ich glaube wohl die Vergiftung,« sagte scheinbar gleichgültig der Sekretär.

»Nun gut, wenn es die Vergiftung sein soll, so sei es die Vergiftung,« sagte den Vorsitzende, nachdem er überlegt, daß dies ein Prozeß sei, welchen man bis vier Uhr beenden könne, um nachher wegzufahren. »Und ist Matwej Nikititsch noch nicht da?«

»Immer noch nicht.«

»Und Herr Breve, ist er hier?«

»Hier,« autwortete der Sekretär.

»So sagen Sie ihm, wenn Sie ihn sehen, daß wir mit der Vergiftung anfangen.«

Breve war derjenige Staatsanwalt, welcher bei dieser Verhandlung die Anklage führen sollte.

Als er in den Korridor hinausging, traf der Sekretär den Breve an.

Mit hochaufgezogenen Schultern in nicht zugeknöpfter Uniform schritt er rasch, mit einem Portefeuille unter dem Arm, fast laufend und mit den Absätzen klopfend den Korridor entlang, indem er so mit dem freien Arm schwenkte, daß die Fläche der Hand zu der Richtung seines Ganges perpendikulär war.

»Michail Petrowitsch wünscht zu erfahren, ob Sie fertig sind?« fragte ihn der Sekretär.

»Versteht sich, ich bin immer fertig,« sagte der Staatsanwalt, »welcher Prozeß ist der erste.«

»Die Vergiftung.«

»Das ist schön,« sagte der Staatsanwalt, aber er fand es gar nicht schön; er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Es war ein Abschiedsschmaus zu Ehren eines Kameraden, man hatte viel getrunken und bis zwei Uhr gespielt, und nachher fuhr man zu den Frauen in dasselbe Haus, in welchem noch vor sechs Monaten die Maslowa war, sodaß er gerade die Prozeßakten von der Vergiftung zu lesen keine Zeit gehabt, und sie jetzt flüchtig durchsehen wollte. Der Sekretär aber hatte absichtlich dem Vorsitzenden geraten, diesen Prozeß, als ersten, vorzunehmen, da er wußte, daß jener die betreffenden Akten nicht gelesen hatte. Der Sekretär war von liberaler, ja sogar radikaler Denkungsart. Breve aber war konservativ und selbst, wie alle in Rußland dienenden Deutschen, besonders dem orthodoxen Glauben ergeben, und der Sekretär hatte ihn nicht gern und beneidete ihm seine Stellung.

»Nun, und wie ist es mit dem Prozeß der Skopzen?«

»Ich habe schon gesagt, daß ich nicht kann,« sagte der Staatsanwalt, »der Abwesenheit der Zeugen wegen, ich werde das auch dem Gericht erklären.«

»Aber es ist ja ganz gleich…«

»Kann nicht,« sagte der Staatsanwalt, und auf die gewohnte Weise mit der Hand schwenkend, lief er in sein Kabinet.

Er schob den Prozeß der Skopzen ab wegen der Abwesenheit eines gar nicht wichtigen und für den Prozeß nicht nötigen Zeugen, nur darum, weil dieser Prozeß, wenn er vor einem Gericht vor sich gehen würde, wo der Bestand der Geschworenen intelligent war, mit Freisprechung endigen konnte. Im Einverständnis mit dem Vorsitzenden, sollte dieser Prozeß auf eine Session in einer Bezirksstadt verlegt werden, wo es mehr Bauern und darum mehr Chancen für die Verurteilung geben würde.

Die Bewegung auf dem Korridor verstärkte sich immer noch. Am meisten Leute waren neben dem Saal der Civilabteilung, wo diejenige Verhandlung vor sich ging, von der der ansehnliche Herr, der Liebhaber von Gerichtssachen, den Geschworenen gesprochen hatte.

Während der Unterbrechung kam aus diesem Saal jenes selbe alte Mütterchen, welchem der geniale Advokat verstanden, ihr Vermögen zu Gunsten des Profitmachers wegzunehmen, der auf dieser Vermögen kein Recht hatte. Das wußten auch die Richter und noch mehr der Supplikant und sein Advokat; aber der von ihnen ausgedachte Zug war solcher Art, daß es unmöglich war, dem alten Mütterchen sein Vermögen nicht wegzunehmen und es dem Profitmacher nicht abzugeben.

Das alte Mütterchen war eine dicke Frau in einem schmucken Kleide mit kolossalen Blumen auf dem Hute. Nachdem es aus der Thür herausgekommen, blieb es in dem Korridor stehen und seine dicken und kurzen Arme ausbreitend, wiederholte es immer, sich an seinen Advokaten wendend: »Was soll denn das sein? Haben Sie die Gnade! Was ist denn das?« Der Advokat betrachtete die Blumen auf ihrem Hut und hörte nicht zu, indem er etwas überlegte.

Gleich nach dem alten Mütterchen kam rasch aus der Thür des Saals der Civilabteilung, mit dem Plastron seiner weit geöffneten Weste und mit dem selbstzufriedenen Gesichte glänzend, eben jener berühmte Advokat heraus, der es so gewendet, daß das alte Mütterchen mit den Blumen das Nachsehen hatte, der Profitmacher aber, der ihm zehntausend Rubel gegeben, mehr als hunderttausend bekam. Alle Augen wandten sich auf den Advokaten, und er fühlte daß und sein ganzes Auftreten schien zu sagen: ‘es sind keine Aeußerungen der Ergebenheit nötig,’ und er ging rasch an allen vorbei.

7

Endlich kam auch Matwej Nikititsch angefahren, und der Gerichtskommissär, ein magerer Mensch mit langem Halse und schrägem Gang und mit ebenso schräg vorgeschobener Unterlippe trat in das Geschworenenzimmer. Dieser Gerichtskomissär war ein ehrlicher Mann mit Universitätsbildung, konnte sich aber nirgends auf seinem Posten behaubten, weil er periodisch trank. Vor drei Monaten hatte eine Gräfin, eine Beschützerin seiner Frau, ihm diese Stelle besorgt, und er hielt sich bis jetzt auf derselben und freute sich dessen.

»Wie ist’s, meine Herren, sind Sie alle versammelt?« sagte er, indem er seinen Zwicker aufsetzte und über denselben hinwegsah.

»Alle, scheint es,« sagte der lustige Kaufmann.

»Wollen die Probe machen,« der Gerichtskommissär holte aus der Tasche die Liste hervor und fing an, indem er die Aufgerufenen bald über, bald durch den Zwicker anblickte, aufzurufen.

»Staatsrat L. M. Nikisorow!«

»Ich,« sagte der ansehnliche Herr, der alle Gerichtssachen kannte.

»Oberst außer Diensten Iwan Semjonowitsch Iwanow.«

»Hier!« gab der magere Mann in der Uniform der Abgedankten zur Antwort.

»Der Kaufmann der zweiten Gilde, Peter Baklaschow.«

»Hier ist er!« sagte der gutmütige Kaufmann, mit dem ganzen Munde lächelnd, »wir sind bereit!«

»Der Gardeleutnant, Fürst Dmitrij Nechljudow.«

»Ich,« antwortete Nechljudow.

Der Gerichtskommissär verneigte sich besonders höflich und angenehm, indem er über den Zwicker hinweg blickte, als ob er ihn auf diese Weise vor den anderen auszeichnen wolle.

»Der Kapitän Jurij Dimitriewitsch Dantschenko,« »der Kaufmann Grigorij Jesemowitsch Kuleschow« u. s. w., u. s. w. Alle, außer zweien, waren versammelt.

»Jetzt bitte, meine Herren, in den Saal einzutreten,« sagte der Gerichtskommissär, indem er mit einer angenehmen Geste auf die Thür zeigte.

Alle rührten sich und einander in der Thür durchlassend gingen sie in den Korridor hinaus und aus dem Korridor in den Saal der Verhandlung.

Den Gerichtssaal war ein großes langes Zimmer. Ein Ende desselben ward von einer Erhöhung eingenommen, zu welcher drei Stufen hinanführten. Auf der Erhöhung, in der Mitte, stand ein Tisch, bedeckt mit grünem Tuch mit dunklerer grüner Franse.

Hinter dem Tische standen drei Lehnstühle mit sehr hohen, eichenen, geschnitzten Rückenlehnen; und hinter den Lehnstühlen hing in goldenem Rahmen ein grelles Porträt des Kaisers in Lebensgröße, in Uniform und Ordensband mit vorgesetztem Fuß, die Hand am Degen. In der rechten, Ecke hing ein Heiligenschrein mit dem Bilde Christi in der Dornenkrone und stand ein Chorpult, und ebenfalls an der rechten Seite stand das Schreibpult des Staatsanwalts. An der linken Seite. dem Schreibpult gegenüber, war im Hintergrunde das Tischchen des Sekretärs, und näher zum Publikum befand sich eine eichene gedrechselte Barriere; hinter derselben die noch nicht besetzte Bank der Angeklagten. Auf der rechten Seite, auf der Erhöhung, standen in zwei Reihen Stühle gleichfalls mit hohen Rückenlehnen, für die Geschworenen, hinten die Tische für die Advokaten. Alles das war im vordenen Teil des Saales, welcher durch die Barriere in zwei Stücke geteilt wurde. Der hintere Teil war ganz mit Bänken besetzt, welche, eine Reihe über der anderen, hin zur hinteren Wand reichten. In diesem hinteren Teil des Saals, auf den vorderen Bänken, saßen vier Frauen, in der Art wie Fabrikarbeiterinnen oder Zimmermädchen, und zwei Mannspersonen auch aus dem Arbeiterstande; sie schienen von der Großartigkeit der Saaleinrichtung erdrückt zu werden und flüsterten einander furchtsam zu.

Bald nach den Geschworenen trat der Gerichtskommissär mit seinem einseitigen Gang in die Mitte vor und schrie mit lauter Stimme, als ob er damit die Anwesenden erschrecken wolle:

»Das Gericht kommt!«

Alle standen auf, und auf die Erhöhung des Saales traten die Richter. Der Vorsitzende mit den Muskeln und dem schönen Backenbart. Dann das finstre Gerichtsmitglied in goldner Brille, das jetzt noch finsterer war, weil es grade vor der Sitzung seinen Schwager, den Gerichtsamtskandidaten, getroffen hatte, der ihm mitteilte, daß er bei der Schwester gewesen, und daß sie ihm erklärt habe, es werde kein Mittagessen geben.

»So daß wir also, wie es scheint, in ein Kneipchen fahren müssen,« — sagte der Schwager lachend.

»Da ist nichts zu lachen,« sagte das finstre Gerichtsmitglied und wurde noch finstrer.

Endlich dann trat das dritte Gerichtsmitglied heraus, derselbe Mattwej Nikititsch, welcher sich immer verspätete; es war ein bärtiger Mann mit großen nach abwärts gezogenen guten Augen. Dieses Gerichtsmitglied litt an Magenkatarrh und hatte vom heutigen Morgen ab auf den Rat des Doktors ein neues Regime begonnen. Und dies neue Regime hatte ihn heute noch länger als gewöhnlich zu Hause aufgehalten. Jetzt, als er auf die Erhöhung heraustrat, hatte er ein konzentriertes Aussehn, da er die Gewohnheit hatte, bei allen Fragen, die er sich stellte, auf alle mögliche Weise das Orakel zu befragen. Jetzt machte er bei sich aus: wenn die Zahl der Schritte von der Thür des Kabinets hin zum Lehnstuhl ohne Rest durch drei teilbar sein wird, so wird das neue Regime ihn vom Katarrh heilen; wenn sie aber nicht teilbar ist, so wird es ihn nicht heilen. Es waren sechsundzwanzig Schritte, aber er machte einen kleinen Schritt, und mit dem siebenundzwanzigsten erreichte er den Lehnstuhl.

Die Figuren den Vorsitzenden und der Mitglieder, die in ihren Uniformen mit den goldgestickten Kragen auf die Erhöhung heraustraten, waren sehr imposant. Sie fühlten das selber, und alle drei, wie über ihre eigene Herrlichkeit bestürzt, setzten sich, indes sie die Augen eilig und bescheiden sinken ließen, auf ihre geschnitzten Lehnstühle, hinter dem mit grünem Tuch bedeckten Tische, auf welchem sich ein dreieckiges Instrument mit einem Adler,6 ferner Glasvasen, in welchen Bonbons in den Büffets zu sein pflegen, erhoben, und auf dem ein Tintenfaß stand und Schreibfedern, reines Papier und neu gespitzte Bleistifte verschiedener Größe sich befanden. Gleichzeitig mit den Richtern kam auch der Staatsanwalt.

Er ging ebenso eilig mit dem Portefeuille unterm Arm und ebenso mit dem Arm schwenkend zu seinem Platz beim Fenster hin und versank sogleich in daß Lesen und Durchsehn der Akten, jede Minute benutzend, um sich zum Prozesse vorzubereiten. Dieser Staatsanwalt führte Anklage zum vierten Male. Er wahr sehr ehrgeizig und fest entschlossen, Karrière zu machen; daher hielt er es für notwendig, in allen Prozessen, wo er die öffentliche Anklage hatte, nach der Verurteilung zu streben. Das Wesentliche des Prozesses von der Vergiftung kannte er in allgemeinen Zügen, und den Plan der Rede hatte er schon gemacht; aber nötig waren ihm noch einige Daten, und eben diese schrieb er jetzt eilig aus den Akten aus.

Der Sekretär saß am entgegengesetzten Ende der Erhöhung, und nachdem er alle diejenigen Papiere, welche zum Vorlesen nötig sein konnten, bereit gelegt, sah er einen verbotenen Artikel durch, welchen er sich gestern verschafft und gelesen hatte. Er wünschte, über diesen Artikel mit dem Gerichtsmitglied mit dem großen Bart zu sprechen, das seine Ansichten teilte; und vor dem Gesprach wollte er sich mit dem Aufsatz vertraut machen.

8

Nachdem der Vorsitzende die Akten durchgesehen, stellte er einige Fragen an den Gerichtskommissär und an den Sekretär, und als er bejahende Antworten bekommen, ordnete er die Vorführung der Angeklagten an.

Sogleich öffnete sich die Thür hinter der Barriere, es kamen zwei Gendarmen mit Mützen und bloßen Säbeln, und hinter ihnen zuerst der eine Angeklagte, ein rothaariger Mann mit Sommersprossen, und zwei Frauen. Der Mann war mit einem für ihn zu weiten und zu langen Arrestantenschlafrock bekleidet. Als er den Gerichtssaal betrat, hielt er seine Arme mit den ausgespreizten Daumen mit Anstrengung an den Hosennähten, indem er durch diese Haltung die zu lang herabhängenden Ärmel zurückhielt. Ohne die Richter und die Zuschauer anzusehen, betrachtete er aufmerksam die Bank, welche er umging. Nachdem er sie umgangen, setzte er sich auf dieselbe akkurat am Rande, um den anderen Platz zu lassen; das Auge auf den Vorsitzenden geheftet, fing er an, die Muskeln der Wangen zu bewegen, als ob er etwas flüstere. Nach ihm trat eine nicht junge Frau herein, auch im Arrestantenschlafrock.

Der Kopf den Arrestantin war mit einem Arrestantenhalstuch umbunden, ihr Gesicht war grauweiß, ohne Augenbrauen und Wimpern, aber mit roten Augen. Diese Frau schien vollkommen ruhig.

Als sie auf ihren Platz ging, hakte sich ihr Schlafrock an etwas an; sie löste ihn sorgfältig und ohne Eile ab und setzte sich.

Die dritte Angeklagte war die Maslowa.

Sodald sie hereintrat, wandten sich die Augen aller Männer, die im Saal waren, auf sie, und lange blieben sie auf ihrem weißen Gesicht mit den schwarzen glänzenden Augen und auf ihrem unter dem Schlafrock hervortretenden hohen Busen haften. Sogar der Gendarm, an dem sie vorüber mußte, sah sie an, ohne die Augen von ihr abzuwenden, solange sie vorbeiging und sich hinsetzte, und dann, als sie sich placiert hatte, wandte er sich eilig ab, als ob er sich seiner Schuld bewußt würde und sich schüttelnd, begann er das Fenster sich grade gegenüber anzustarren.

Der Vorsitzende wartete, bis die Angeklagten ihre Plätze eingenommen, und sodald die Maslowa sich hingesetzt, wandte er sich an den Sekretär.

Es begann die gewöhnliche Prozedur: das Zählen der Geschworenen, die Beratungen über die nichterschienenen, die Belegung derselben mit Strafen, die Entscheidung über diejenigen, welche um Urlaub gebeten, und die Kompletierung der fehlenden durch die vorrätigen. Dann legte der Vorsitzende die Loose zusammen und in die Glasvase hinein und fing an, nachdem er die gestickten Ärmel der Uniform ein wenig herausgestreift und seine stark behaarten Arme entblößt hatte, mit den Gesten eines Taschenspielers ein Zettelchen nach dem andern herauszuziehen, zu entrollen und zu lesen. —

Dann streifte der Vorsitzende die Aermel hinunter und schlug dem Geistlichen vor, den Geschworenen den Eid abzunehmen.

Der alte Geistliche mit dem aufgedunsenen gelblich-blassen Gesicht, in dem zimmetfarbigen Talar, mit dem goldenen Kreuz auf der Brust und mit irgendwelchem kleinen Orden, der seitwärts am Talar angesteckt war — kam, langsam unter dem Talar seine angeschwollenen Beine bewegend, an das Chorpult heran, welches unter dem Heiligenbilde stand.

Die Geschworenen standen auf und drängten sich in einem Haufen gegen das Chorpult.

»Ich bitte,« sagte der Geistliche, die Annäherung aller Geschworenen abwartend, indem er mit der geschwollenen Hand sein Kreuz auf der Brust betastete.

Dieser Geistliche bekleidete sein Priesteramt seit 46 Jahren und wollte nach 4 Jahren sein Jubiläum feiern; sowie es der Domoberpriester neulich gefeiert. In dem Bezirksgericht aber diente er seit Eröffnung der Gerichte und war sehr stolz darauf, daß er einigen zehntausend Menschen den Eid abgenommen, und daß er auch im vorgeschrittenen Alter fortfuhr, zum Wohl der Kirche, des Vaterlandes und der Familie zu arbeiten, welch letzterer er außer einem Hause ein Kapital von nicht weniger als Dreißigtausend in Wertpapieren hinterlassen würde. Daß aber seine Arbeit im Gericht, welche darin bestand, den Leuten den Eid aufs Evangelium, wo der Eid grade verboten wird, abzunehmen, keine gute Arbeit war, kam ihm nie in den Kopf, und er fühlte sich nicht nur dadurch nicht belästigt, sondern liebte diese gewohnte Beschäftigung, da er oft dabei Bekanntschaft mit noblen Herren machte. Jetzt machte er nicht ohne Vergnügen die Bekanntschaft des berühmten Advokaten, welcher ihm große Achtung einflößte, da er nur für diesen einen Prozeß des alten Mütterchens mit den kolossalen Blumen auf dem Hut 10,000 Rubel bekommen hatte.

Als alle Geschworenen über die Stufen zur Erhöhung hinaufgegangen, neigte der Geistliche seinen kahlen grauen Kopf auf die Seite, fuhr mit ihm in das schmierige Loch des Epitrachilions,7 und nachdem er seine dünnen Haare geordnet, wandte er sich an die Geschworenen: »Heben Sie die rechte Hand auf, und legen Sie die Finger auf diese Weise zusammen,« sagte er langsam mit greisenhafter Stimme, indem er seine geschwollene Hand mit dem Grübchen auf jedem Finger erhob und diese Finger zu einer Priese zusammenlegte. »Jetzt sprechen Sie mir nach,« sagte er und fing an: »Ich verspreche und schwöre bei Gott dem Allmächtigen, vor seinem heiligen Evangelium und vor dem lebenschaffenden Kreuz des Herrn, daß ich in dem Prozeß, in welchem…« sprach er, mit Unterbrechungen nach jeder Phrase. »Lassen Sie Ihre Hand nicht sinken, halten Sie sie so,« wandte er sich an einen jungen Mann, der seine Hand sinken ließ, »daß ich in dem Prozeß, in welchem …« Der ansehnliche Herr mit dem Backenbart, der Oberst, der Kaufmann und die andern hielten ihre Hände mit den zusammengelegten Fingern so wie er der Geistliche verlangte, und wie mit besonderem Vergnügen, sehr entschieden und hoch, die anderen aber — wie ungern und unbestimmt. Die einen sprachen die Worte zu laut, mit einer Art Ereiferung und mit einem Ausdruck, welcher besagte: aber ich werde und werde doch sprechen; die anderen wieder flüsterten nur, blieben hinter dem Geistlichen zurück, und dann wie erschrocken, holten sie zur unrechten Zeit nach; die einen hielten ihre Priesen mit herausfordender Geste fest, als ob sie etwas fallen zu lassen fürchteten, die anderen ließen ihre Finger auseinander und thaten sie wieder zusammen. Allen was es ungemütlich, nur das Alterchen, der Geistliche allein was unzweifelhaft überzeugt, daß er eine sehr nützliche und wichtige That vollbringe. Nach der Eidesleistung schlug der Vorsitzende den Geschworenen vor, einen Obmann zu wählen. Die Geschworenen standen auf und drängten sich in das Beratungszimmer durch, wo fast alle sogleich Cigaretten hervorholten und an zu rauchen fingen. Irgend jemand schlug als Obmann den ansehnlichen Herrn vor, und alle waren sogleich einverstanden; sie löschten die Cigarettenstümpfchen, warfen sie fort und kehrten in den Saal zurück. Der erwählte Obmann erklärte dem Vorsitzenden, daß er zum Obmann gewählt worden, und alle placierten sich, einander über die Füße schreitend wieder auf den Stühlen mit den hohen Rückenlehnen.

Alles ging ohne Aufenthalt, rasch und nicht ohne Feierlichkeit vor sich, und diese Regelmäßigkeit, Folgerichtigkeit und Feierlichkeit machte augenscheinlich den Teilnehmern Vergnügen und bestärkte in ihnen das Bewußtsein, daß sie eine ernste und wichtige öffentliche Handlung vollbrächten. Dieses Gefühl empfand auch Nechljudow.

Sobald die Geschworenen sich hingesetzt, hielt ihnen der Vorsitzende eine Rede über ihre Rechte, Pflichten und ihre Verantwortlichkeit. Während seiner Rede änderte der Vorsitzende beständig seine Stellung: bald stützte er sich auf die linke, bald auf die rechte Hand, bald auf die Rückenlehne, bald auf die Arme des Lehnstuhls, bald glich er die Ränder des Papiers aus, bald streichelte er das Falzbein, bald betastete er den Bleistift.

Die Rechte der Geschworenen bestanden, seinen Worten nach, darin, daß sie an die Angeklagten durch den Vorsitzenden Fragen stellen durften, daß sie Papier und Bleistift haben und die corpora delicti besehen konnten. Ihre Pflicht aber bestand darin, daß sie nicht falsch, sondern gerecht richten sollten. Ihre Verantwortlichkeit bestand darin, daß sie im Falle der Nichtbeobachtung des Beratungsgeheimnisses und im Falle des in Verkehrtretens mit Fremden einer Strafe unterlägen.

Alle hörten mit ehrerbietiger Aufmerksamkeit zu. Der Kaufmann, der um sich herum einen Branntweingeruch verbreitete und ein geräuchvolles Aufstoßen zu unterdrücken suchte, nickte beifällig zu jedem Satz mit dem Kopfe.

9

Nach der Beendigung seiner Rede wandte sich der Vorsitzende zu einem der Angeklagten.

»Simon Kartinkin, stehen Sie auf,« sagte er.

Nervös sprang Simon auf; die Muskeln der Wangen fingen an, sich noch schneller zu bewegen.

»Ihr Name?«

»Simon Petrow Kartinkin,« sagte er rasch her, mit knisternder Stimme, augenscheinlich im voraus zur Antwort vorbereitet.

»Ihr Stand?«

»Bauern«

»Welches Gouvernement? Welcher Kreis?«

»Gouvernement Tula, Kreis Krapivinsk, Gemeinde Kupjanski, Pfarrdorf Borok.«

»Wie alt find Sie?«

»Im vierunddreißigsten; geboren eintausendachthundert…«

»Welcher Konfession?«

»Vom russischen orthodoxen Glauben.«

»Verheiratet?«

»Durchaus nicht.«

»Womit beschäftigen Sie sich?«

»Wir waren auf dem Korridor im Gasthaus ‘Mauritanien’ beschäftigt.«

»Waren Sie je früher vor Gericht?«

»Nie war ich vor Gericht, — denn da wir früher lebten…«

»Vor Gericht waren Sie nicht?«

»Gott bewahre, nie.«

»Eine Kopie der Anklageakte haben Sie erhalten?«

»Haben wir erhalten.«

»Setzen Sie sich. Euphemia Iwanowna Botschkowa,« wandte sich der Vorsitzende an die folgende Angeklagte.

Aber Simon fuhr fort zu stehen und versperrte der Botschkowa den Weg.

»Kartinkin, setzen Sie sich!« Kartinkin blieb stehen.

»Kartinkin, setzen Sie sich!« Aber Kartinkin blieb immer noch stehen und setzte sich erst, als der hinzugelaufene Gerichtskommissär, während er den Kopf auf die Seite neigte und die Augen unnatürlich weit öffnete, mit tragischer Stimme zu ihm sagte: »Sitzen! Sitzen!«

Kartinkin setzte sich ebenso rasch, wie er aufgestanden war, und den Rock zusammenschlagend fing er an, wieder lautlos die Wangen zu bewegen.

»Wie ist Ihr Name?« Mit einem Seufzer der Ermüdung wandte sich der Vorsitzende zu der zweiten Angeklagten, ohne sie anzublicken, indem er in einem vor ihm liegenden Papier nachsah. Die Beschäftigung war für den Vorsitzenden eine so gewohnte, daß er zur Beschleunigung des Prozeßverfahrens zwei Dinge auf einmal thun konnte.

Die Botschkowa war dreiundvierzig Jahre alt, ihr Stand: Kleinbürgerin von Kolomna, ihre Beschäftigung: Korridormädchen in demselben Gasthaus »Mautitanien«. Vor dem Gericht und in Untersuchung war sie noch nicht gewesen, die Kopie der Anklageakte hatte sie erhalten. Ihr Antworten gab die Botschkowa außerordentlich keck und mit solchen Intonationen, als ob sie zu jeder Antwort hinzusetzte: »Jawohl! Euphemia und Botschkowa, und die Kopie habe ich erhalten und hin stolz darauf, und über mich zu lachen, werde ich niemandem erlauben.« Ohne zu warten, daß man ihr sagte sich zu setzen, setzte sich die Botschkowa sogleich, nachdem die Fragen zu Ende waren.

»Ihr Name?« wandte sich, irgendwie besonders entgegenkommend der weiberfreundliche Vorsitzende zu der dritten Angeklagten. »Man muß aufstehn,« fügte er weich und freundlich hinzu, als er bemerkte, daß sie noch saß.

Die Maslowa stand mit rascher Bewegung auf, und mit einem Ausdruck von Bereitwilligkeit, ihren hohen Busen herausdrückend, sah sie, ohne zu antworten, gerade in das Gesicht des Vorsitzenden mit ihren lächelnden, ein wenig schielenden schwarzen Augen.

»Zu nennen wie?«

»Ljubowj,« sagte sie rasch.

Inzwischen blickte Nechljudow, den Zwicker auf der Nase, die Angeklagten an, wie man sie der Reihe nach verhörte.

»Aber— das kann ja nicht sein,« dachte er, ohne die Augen vom Gesichte der Angeklagten abzuwenden. ‘Aber wieso denn Ljubowj?’ dachte er, als er ihre Antwort hörte.

Der Vorsitzende wollte weiter fragen, aber das Gerichtsmitglied mit der Btille, das ihm ärgerlich etwas zugeflüstert hatte, hielt ihn auf. Der Vorsitzende machte mit dem Kopfe ein zustimmendes Zeichen und wandte sich an die Angeklagte.

»Wieso Ljubowj?« sagte er; »Sie sind anders eingeschrieben.« Die Angeklagte schwieg.

»Ich frage Sie, wie ist Ihr eigentlicher Name?«

»Wie sind Sie getauft?« sagte das ärgerliche Mitglied.

»Früher nannte man mich Katharina.« ‘Aber das kann ja nicht sein,’ fuhr Nechljudow fort, mit sich zu sprechen, und inzwischen wußte er schon ohne jeden Zweifel, daß es sie war, das nämliche Mädchen, die Pflegetochter, das Zimmermädchen, in welches er eine Zeit lang verliebt gewesen, ja gradezu verliebt; das er dann in einem tollen Rausch verführt und verlassen hatte und dessen er nachher nie gedacht, weil diese Erinnerung zu peinlich war, zu offenbar ihn anklagte und ihm zeigte, daß er, der auf seine Korrektheit so stolz war, nicht nur nicht korrekt, sondern gradezu niederträchtig an diesem Weibe gehandelt hatte.

Ja, sie war es. Er sah jetzt klar jene ausschließliche, geheimnisvolle Besonderheit, die jedes Gesicht von einem andern unterscheidet, die es zu einem eigentümlichen, einzigen, unwiederholbaren macht. Trotz der unnatürlichen Weiße und Fülle des Gesichts war diese Eigentümlichkeit da, die schöne, ausschließliche Eigentümlichkeit in diesem Gesicht, in den Lippen, in den ein wenig schielenden Augen, und hauptsächlich in diesem naiven, lächelnden Blick und in dem Ausdruck der Bereitwilligkeit, nicht nur in dem Gesicht, sondern auch in der ganzen Gestalt.

»So hätten Sie auch sagen sollen,« bemerkte wiederum besonders weich der Vorsitzende.

»Der Vatersname — — wie?«

»Ich bin unehelich,« sagte die Maslowa.

»Dennoch — nach dem Taufvater — wie nannte man Sie?«

»Michajlowa.«

‘Und was hat sie verüben können?’ fuhr Nechljudow inzwischen fort zu denken, kaum Atem holend.

»Wie ist Ihr Familienname? Ihr Zuname?« fuhr der Vorsitzende fort.

»Man hat mich nach der Mutter ‘Maslowa’ geschrieben.«

»Stand?«

»Kleinbürgerin.«

»Rechtgläubiger Konfession?«

»Rechtgläubig.«

»Beschäftigung? Womit haben Sie sich beschäftigt?«

Die Maslowa schwieg.

»Womit haben Sie sich beschäftigt?« wiederholte der Vorsitzende.

»In der Anstalt war ich,« sagte sie.

»In welcher Anstalt,« fragte streng das Mitglied mit der Brille.

»Sie wissen selber in welcher,« sagte die Maslowa, lächelte, und sogleich, nach raschem Umblicken, richtete sie ihr Auge wieder gerade auf den Vorsitzenden.

Es war etwas so Ungewöhnliches in dem Ausdruck ihres Gesichts, etwas so Schreckliches, so Klägliches in der Bedeutung der von ihr gesprochenen Worte, in diesem Lächeln und in diesem raschen Blick, den sie dabei im Saal herumwarf, daß der Vorsitzende seine Augen niederschlug; auf eine Minute entstand im Saale vollständige Stille. Die Stille ward durch irgend jemandes Lachen aus dem Publikum unterbrochen. Jemand fing an zu zischen. Der Vorsitzende erhob den Kopf und fuhr mit Fragen fort.

»Vor Gericht und in Untersuchung waren Sie noch nicht?«

»War ich nicht,« sagte die Maslowa leise, seufzend.

»Die Kopie der Anklageakte haben Sie erhalten?«

»Ich habe sie erhalten.«

»Setzen Sie sich.«

Die Angeklagte hob mit jener Bewegung, mit der die aufgeputzten Frauen ihre Schleppe in Ordnung bringen, den Rock hinten ein wenig auf und setzte sich hin, die kleinen weißen Hände in den Aermeln des Schlafrocks, ohne die Augen von dem Vorsitzenden abzuwenden.

Ea begann die Ueberzählung der Zeugen, die Entfernung derselben, die Entscheidung über den ärztlichen Experten und die Einladung derselben in den Sitzungssaal.

Dann stand der Sekretär auf und fing an, die Anklageakte zu verlesen. Er las verständlich und laut, aber so rasch, daß seine Stimme, die L und R nicht korrekt aussprach, in einen unaufhörlichen, einschläfernden dumpfen Ton verschmolz.

Die Richter stützten die Ellenbogen bald auf einen, bald auf den anderen Lehnstuhlarm, bald auf den Tisch, bald auf die Rückenlehne, bald schlossen sie die Augen, bald machten sie sie auf und flüsterten mit einander. Einer der Gendarmen hielt einige Male einen beginnenden Gähnkrampf zurück.

Unter den Angeklagten bewegte Kartinkin ohne Aufhören die Wangen; die Botschkowa saß vollständig ruhig und gerade, nur daß sie von Zeit zu Zeit ihren Kopf unter dem Halstuch kratzte.

Die Maslowa saß bald unbeweglich, indem sie dem Vorleser zuhörte und grade auf ihn sah, bald fuhr sie zusammen und wollte gleichsam erwidern, ward rot und seufzte dann schwer, änderte die Lage der Hände, und wieder sich umblickend, richtete sie ihre Augen auf den Vorleser.

Nechljudow saß in der ersten Reihe auf seinem hohen Stuhle, der zweite vom Rande, und ohne den Zwicker abzunehmen, sah er auf die Maslowa, und in seiner Seele ging eine komplizierte und qualvolle Arbeit vor.

10

Die Anklageakte lautete folgendermaßen:

Im Jahre 188…den 17. Januar wurde von dem Besitzer des in der Stadt befindlichen Gasthauses »Mauritanien« der in seinem Etablissement erfolgte plötzliche Tod des dort abgestiegenen sibirischen Kaufmanns der zweiten Gilde Therapoint Smeljkow bei der Polizei angezeigt. Nach dem Zeugnis des Arztes des vierten Beziks erfolgte der Tod des Smeljkrow am Herzschlag, hervorgerufen durch übermäßigen Genuß geistiger Getränke, und die Leiche Smeljkows wurde am dritten Tage der Erde übergeben. Unterdessen kehrte am vierten Tage nach Smeljkows Tode sein Landsmann und Kamerad, der sibirische Kaufmann Timochin aus Petersburg zurück, welcher, nachdem er vom Tode seines Kameraden Smeljkow und von den Umständen, unter welchen der Tod eingetreten, erfahren hatte, seinen Verdacht anzeigte, daß der Tod Smeljkows kein natürlicher gewesen, sondern daß er von übelgesinnten Leuten vergiftet worden, die das in Smeljkows Besitz befindliche und bei der Aufnahme seines Vermögens nicht mehr vorgefundene Geld und einen Diamantring entwendet hatten. Infolge dessen wurde eine Untersuchung angeordnet, welche Folgendes an den Tag gebracht hat: Erstens die Thatsache, die auch dem Besitzer der Gasthauses »Mauritanien« und dem Kommis des Kaufmannes Starikow, mit dem Smeljkow nach seiner Ankunft in der Stadt zu schaffen hatte, bekannt war, daß in Smeljkows Besitz 3800 Rubel Geld sein mußten, welches er aus der Bank erhalten hatte; indessen aber wurden in dem, nach dem Tode Smeljkows versiegelten Koffer und in seiner Brieftasche nur 312 Rubel 16 Kopeken gefunden. Zweitens, daß Smeljkow den ganzen seinem Tode vorangehenden Tag und die ganze Nacht mit einer Prostituierten Ljubka, die zwei Mal bei ihm im Zimmer gewesen, zugebracht hatte. Und drittens, daß von dieser Prostituierten der Diamantring, welcher dem Smeljkow gehörte, ihrer Wirtin verlauft worden war. Viertens, daß das Korridormädchen Euphemia Botschkowa am anderen Tage nach dem Tode des Kaufmanns Smeljkow, in die Kommerzbank 1800 Rubel auf laufende Rechnung gebracht hatte. Fünftens, daß, nach Aussage der Prostituierten Ljubka, der Korridorbediente Simon Kartinkin der Prostituierten Ljubka ein Pulver übergab, indem er ihr riet, das Pulver in Wein zu schütten und dem Kaufmann Smeljkow zu geben, was die Prostituierte Ljubka, ihrem eigenen Geständnis nach, auch ausgeführt hat.

Die als Angeklagte verhörte Prostituierte, Ljubka genannt, sagte aus, daß sie während der Anwesenheit des Kaufmanns Smeljkow in dem Toleranz-Hause, in welchem sie, nach ihrem Ausdruck, arbeitete, von dem Kaufmann Smeljkow in der That in das Zimmer des Gasthauses »Mauritanien« geschickt worden, um dem Kaufmann sein Geld zu holen, und daß, nachdem sie dort mit dem ihr übergebenen Schlüssel den Koffer des Kaufmanns geöffnet, sie daraus 40 Rubel, wie ihr befohlen worden, mitgenommen, mehr Geld aber nicht genommen habe, wofür als Zeugen Simon Kartinkin und Euphemia Botschkowa dienen können, in deren Anwesenheit sie den Koffer auf- und zugeschlossen und das Geld mitgenommen hatte.

Was aber die Vergiftung Smeljkows anbelangt, so hat die Prostituierte Ljubow ausgesagt, daß sie bei ihrem zweiten Kommen in das Zimmer des Kaufmanns Smeljkow auf Anraten des Simon Kartinkin ihm in den That in Cognak irgend welches Pulver zu trinken gegeben, das sie für einschläfernd hielt, damit der Kaufmann einschliefe und sie eher gehen ließe, daß sie das Geld aber nicht genommen habe, daß den Ring Smeljkow ihr selber geschenkt habe, nachdem er sie geschlagen und sie habe von ihm wegfahren wollen. Die als Angeklagten vom Untersuchungsrichter verhörten Euphemia Botschkowa und Simon Kartinkin sagten Folgendes aus: Euphemia Botschkowa sagte aus, daß sie nichts von dem verloren gegangenen Gelde wisse, und daß sie in das Zimmer des Kaufmanns nicht hineingegangen, sondern daß Ljubka dort allein gewirtschaftet habe. Und daß, wenn dem Kaufmann etwas entwendet worden, Ljubka dies habe begehen müssen, als sie mit des Kaufmanns Schlüssel des Geldes wegen angefahren gekommen sei…

An dieser Stelle der Vorlesung erzitterte die Maslowa und blickte sich mit geöffnetem Munde nach der Botschkowa um.

Als aber der Euphemia Botschkowa ihr Bankschein im Werte von 1800 Rubel vorgezeigt worden, fuhr der Sekretär fort zu lesen, und als dieselbe gefragt wurde, woher sie solches Geld habe, sagte sie aus, daß dieses Geld im Laufe der achtzehn Jahre von ihr mit Simon zusammen, welchen sie zu heiraten im Begriff war, verdient worden.

Der als Angeklagter verhörte Simon Kartinkin hat in seiner ersten Aussage gestanden, daß er mit der Botschkowa auf Anraten der Maslowa, die aus dem Toleranz-Hause mit dem Schlüssel angefahren kam, das Geld entwendet und es zwischen sich selbst, der Maslowa und der Botschkowa geteilt habe; er hat auch gestanden, daß er der Maslowa zur Einschläferung des Kaufmannes ein Pulver gegeben; in einer abermaligen Aussage aber hat er seine Teilnahme an der Entwendung des Geldes und die Uebergabe des Pulvers an die Maslowa geleugnet, indem er alles dessen die Maslowa beschuldigte.

Vom Gelde aber, welches von der Botschkowa in die Bank eingelegt worden, sagte er ebenso aus, wie diese, nämlich daß sie dieses Geld mit Kartinkin zusammen durch achtzehnjährigen Dienst von Herren als Trinkgeld für die Bedienung erworben.

Zur Aufklärung des Thatbestandes wurde die Untersuchung der Leiche des Kaufmanns Smeljkow für notwendig befunden, und dazu wurde eine Anordnung wegen Ausgrabung des Leichnams Smeljkows und wegen Untersuchung des Inhaltes seiner Eingeweide, sowie der Veränderungen, die im Organismus stattgefunden, gemacht.

Die Untersuchung der Eingeweide hat gezeigt, daß der Tod des Kaufmanns Smeljkow in der That durch Vergiftung stattgefunden. Hierauf folgten in der Anklageakte die Beschreibungen der Konfrontationen, die Aussagen der Zeugen.

Der Schluß der Anklageakte war der folgende: Der Kaufmann der zweiten Gilde, Smeljkow, der Trunkenheit und Lüderlichkeit ergeben, schickte, nachdem er mit der Prostituierten, Ljubka genannt, im Toleranz-Hause von Litajewa in ein Verhältnis getreten und für dieselbe eine Leidenschaft gefaßt, am 17. Jannuar 18…, während er in dem Toleranz-Hause von Kitajewa war, mit seinem Schlüssel vom Koffer in das von ihm bewohnte Zimmer die obengenannte Prostituierte Ljubka, damit sie dort aus seinem Koffer ihm das zur Bewirtung nötige Geld, 40 Rubel, hole. Im Gasthaus angekommen, trat Katharina Maslowa, während sie dieses Geld herausnahm, mit der Botschkowa und Kartinkin in ein Einverständnis, alles Geld und die kostbaren Sachen des Kaufmanns Smeljkow zu entwenden und dieselben unter einander zu teilen, was von ihnen auch ausgeführt worden ist — (wieder erzitterte die Maslowa, sie sprang fast auf, wurde sogar purpurrot) — dabei wurde der Maslowa der Diamantring gegeben, fuhr der Sekretär fort zu lesen, und wahrscheinlich eine kleine Summe Geldes, die von ihr entweder verborgen oder verloren worden ist, weil die Maslowa in dieser Nacht in betrunkenem Zustande war. Um aber die Spuren des Verbrechens zu verbergen, wurde von den Mitschuldigen beschlossen, den Kaufmann Smeljkow wieder in das Gasthaus heranzuziehen und ihn dort mit dem bei Kartinkin befindlichen Arsenik zu vergiften. Zu diesem Zweck war die Maslowa in das Toleranz-Haus zurückgekehrt, und dort beredete sie den Kaufmann Smeljkow, mit ihr in das Gasthaus »Mauritanien« zurückzufahren. Nachdem aber Smeljkow in das Gasthaus zurückgekehrt war und die Maslowa von Kartinkin das von ihm gebrachte Pulver erhalten, schüttete sie es in den Cognak, und gab diesen Cognak dem Smeljkow zu trinken, wodurch der Tod Smeljkows auch wirklich erfolgte.

In Anbetracht alles eben Dargelegten werden den Bauer des Dorfes Borki, Simon Kartinkin, 33 Jahre alt, die Kleinbürgerin Euphemia Iwanowna Botschkowa, 43 Jahre alt, und die Kleinbürgerin Katharina Michajlowa Maslowa, 27 Jahre alt, dahin angeklagt, daß sie gemeinschaftlich am 17. Januar im Jahre 188…, nachdem sie das Geld des Kaufmanns Smeljkow, in Summa 2500 Rubel entwendet, und um die Spuren des Verbrechens zu verbergen, den Plan gefaßt, ihn des Lebens zu berauben, dem Kaufmann Smeljkow Gift zu trinken gegeben haben, wodurch dann auch Smeljkows Tod erfolgte. —

Dieses Verbrechen ist im Artikel 1455 des Strafgesetzbuches vorgesehen. Infolgedessen und auf Grund des Artikels so und so des Reglements des Kriminalverfahrens unterliegen der Bauer Simon Kartinkin, Euphemia Botschkowa und die Kleinbürgerin Katharina Maslowa dem Urteil des Kreisgerichts mit Teilnahme der Geschworenen.

So beendete der Sekretär die Verlesung der langen Anklageakte, und nachdem er die Bogen zusammengelegt, setzte er sich, mit beiden Händen seine langen Haare in Ordnung bringend, auf seinen Platz. Alle seufzten erleichtert im angenehmen Bewußtsein dessen, daß jetzt die Untersuchung begonnen habe, und gleich alles klar sein und die Gerechtigkeit befriedigt sein werde. Nechljudow allein empfand dieses Gefühl nicht; er war überwältigt von Entsetzen über das, was jene Maslowa, die er vor zehn Jahren als unschuldiges und reizendes Mädchen gekannt, hatte begehen können.

11

Als die Vorlesung der Anklageakte zu Ende war, wandte sich der Vorsitzende, nach einer Beratung mit den Mitgliedern, zu dem Angeklagten Kartinkin mit einem Ausdruck, welcher offenbar sagte: jetzt werden wir schon alles und sicher und auf die ausführlichste Weise erfahren.

»Bauer Simon Kartinkin,« fing er an, sich auf die linke Seite neigend.

Simon Kartinkin stand auf, die Hände an der Hosennaht und mit dem ganzen Körper vorwärts strebend, während er, ohne aufzuhören, lautlos die Wangen bewegte.

»Sie sind angeklagt, am 17. Januar 188…in Gemeinschaft mit Euphemia Botschkowa und Katharina Maslowa, aus dem Koffer des Kaufmanns Smeljkow ihm gehöriges Geld entwendet zu haben; dann haben Sie Arsenik mitgebracht und Katharina Maslowa beredet, das Gift dem Kaufmann Smeljkow in Cognak zu trinken zu geben, wodurch der Tod Smeljkows erfolgte. Bekennen Sie sich schuldig?« sagte er her und neigte sich nach rechts.

»Durchaus unmöglich, denn unsere Sache ist, die Gäste zu bedienen…«

»Sie werden das später sagen. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Durchaus nicht. Ich habe nur…«

»Später werden Sie das sagen. Bekennen Sie sich schuldig?« wiederholte ruhig aber fest der Vorsitzende.

»Das kann ich nicht thun, weil eben…«

Wieder sprang der Gerichtskommissär zu Kartinkin heran und hieß ihn mit tragischer Stimme aufhören.

Der Vorsitzende legte mit einem Ausdruck, als ob diese Sache jetzt zu Ende sei, den Ellbogen des Arms, in welchem er das Papier hielt, auf eine andere Stelle und wandte sich an Euphemia Botschkowa.

»Euphemia Botschkowa, Sie sind angeklagt, am 17. Januar 188…im Gasthause ›Mauritanien‹ gemeinschaftlich mit Simon Kartinkin und Katharina Maslowa dem Kaufmann Smeljkow aus seinem Koffer Geld und einen Ring entwendet und das Entwendete mit einander geteilt zu haben; ferner haben Sie zur Verbergung Ihres Verbrechens den Kaufmann Smeljkow Gift trinken lassen, von welchem sein Tod erfolgte. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Schuldig bin ich in garnichts,« fing die Angeklagte flink und sicher zu sprechen an. »Ich bin nicht einmal in seine Nummer hinein gegangen. Aber so gut wie diese Unflätige hineinging, so gut hat sie auch die Sache gethan.«

»Sie werden das später sagen,« fiel wieder ebenso weich und sicher der Vorsitzende ein.

»Also bekennen Sie sich nicht schuldig?«

»Nicht ich habe daß Geld genommen, und nicht ich habe ihm zu trinken gegeben; ich bin ja nicht einmal in der Nummer gewesen. Wenn ich da gewesen wäre, würde ich sie hinausgeworfen haben.«

»Sie bekennen sich nicht schuldig?«

»Nie.«

»Sehr gut.«

»Katharina Maslowa,« begann der Vorsitzende, sich an die dritte Angeklagte wendend, »Sie sind angeklagt, aus dem Toleranz-Hause in die Nummer des Gasthauses ‘Mauritanien’ mit dem Schlüssel des Kaufmanns Smeljkow gekommen zu sein, Geld und einen Fingerring entwendet zu haben,« — sprach er herunter wie eine auswendig gelernte Lektion, indem er sein Ohr unterdessen zu dem Mitglied links neigte, das sagte, nach dem Register der comora delicti fehle ein Gläschen;…»Geld und einen Fingerring entwendet zu haben« wiederholte der Vorsitzende, »und nachdem Sie das Entwendete geteilt haben und dann wieder mit dem Kaufmann Smeljkow in das Gasthaus ›Mauritanien‹ gekommen sind, haben Sie dem Smeljkow Cognak mit Gift zu trinken gegeven, von welchem sein Tod erfolgte. Bekennen Sie sich schuldig?«

»Garnicht schuldig bin ich,« fing sie rasch zu sprechen an, »wie ich früher gesagt habe, so sage ich auch jetzt, ich habe nichts genommen, nichts genommen, und nichts genommen! Nichts habe ich genommen, den Ring aber hat er selber mir gegeben.«

»Sie bekennen sich nicht der Entwendung der 2500 Rubel Geld schuldig?« sagte der Vorsitzende.

»Ich sage, nichts habe ich genommen, außer 40 Rubeln.«

»Nun, aber dessen, daß Sie dem Kaufmann Smeljkow Pulver im Cognak gegeben haben, bekennen Sie sich schuldig?«

»Ich bekenne es. Nur dachte ich, wie man mir gesagt hat, daß es einschläfernd sei, daß danach nichts passieren würde. So etwas glaubte ich nicht und wollte es nicht. Bei Gott, sage ich, ich wollte es nicht.«

»Also, Sie bekennen sich nicht schuldig der Entwendung des Geldes und Fingerringes des Kaufmanns Smeljkow,« sagte der Vorsitzende. »Aber Sie erkennen an, daß Sie ihm Pulver gegeben haben?«

»Das erkenne ich also an, nur habe ich gedacht, das Pulver sei einschläfernd. Ich habe es ihm gegeben, damit er nur einschliefe. Ich wollte es nicht und glaubte es nicht.«

»Sehr gut,« sagte der Vorsitzende, augenscheinlich mit den erzielten Resultaten zufrieden. »Dann erzählen Sie, wie die Sache war,« sagte er, sich gegen die Rückenlehne stützend und beide Arme auf den Tisch legend. »Erzählen Sie alles, wie er war, Sie können durch ein aufrichtiges Gestündnis Ihee Lage erleichtern.«

Die Maslowa schwieg, indem sie immer ebenso grade auf den Vorsitzenden sah.

»Erzählen Sie, wie die Sache war.«

»Wie es war?« fing die Maslowa plötzlich rasch an. »Ich kam in das Gasthaus gefahren, man hat mich in die Nummer geführt. Dort war Er und schon sehr betrunken.« Sie sprach das Wort ‘Er’ mit einem besonderen Ausdruck des Schreckens, indem sie ihre Augen groß machte. »Ich wollte wegfahren, Er hat es nicht zugelassen…«

Sie schwieg, als ob sie den Faden verlöre, oder sich an etwae anderes erinnere.

»Nun, aber dann?«

»Was denn dann? Eine Zeitlang blieb ich, dann aber fuhr ich nach Hause.«

Um diese Zeit erhob sich zur Hälfte der Staatsanwalt, indem er sich affektiert auf einen Ellenbogen stützte.

»Sie wollen eine Frage thun,« sagte der Vorsitzende, und auf die bejahende Antwort des Staatsanwalts zeigte er demselben mit einer Geste an, daß er fragen könne.

»Ich möchte die Frage vorlegen, ob die Angeklagte früher mit Simon Kartinkin bekannt war?« sagte der Staatsanwalt, ohne die Maslowa anzusehen. Und nach der Frage preßte er die Lippen zusammen und machte ein finsteres Gesicht.

Der Vorsitzende wiederholte die Frage, die Maslowa starrte den Staatsanwalt erschrocken an.

»Mit Simon? Ich war es,« sagte sie.

»Ich möchte jetzt wissen, worin diese Bekanntschaft der Angeklagten mit Kartinkin bestand? Ob sie einander oft gesehen haben?«

»Worin die Bekanntschaft bestand? Er lud mich zu den Gästen ein, aber eine Bekanntschaft war es nicht,« antwortete die Maslowa, indem sie ihre Augen unruhig dem Staatsanwalt zu dem Vorsitzenden und zurück wandern ließ.

»Ich möchte wissen, warum Kartinkin zu den Gästen ausschließlich die Maslowa einlud und keine andern Mädchen,« sagte, die Augen schließend, aber mit einem leichten schlauen Mephistolächeln der Staatsanwalt.

»Ich weiß es nicht. Wie kann ich das wissen?« antwortete die Maslowa, erschrocken um sich sehend, und ihr Auge blieb für einen Moment auf Nechljudow haften. »Wen er wollte, den lud er ein.«

’Hat sie mich denn wirklich erkannt?’ dachte Nechljudow mit Entsetzen, indem er fühlte, wie daß Blut ihm ins Gesicht strömte; aber die Maslowa, ohne ihn von den andern zu unterscheiden, wandte sich sogleich ab und starrte wieder mit erschrockenem Ausdruck den Staatsanwalt an.

»Die Angeklagte leugnet also, daß sie irgend welch nahes Verhältnis zu Kartinkin hatte. Sehr gut. Weiter habe ich nichts zu fragen.«

Der Staatsanwalt nahm sogleich den Ellbogen vom Schreibtisch weg und begann etwas aufzuschreiben. In Wirklichkeit schrieb er nichts auf, er fuhr nur mit der Feder den Buchstaben seines Zettels nach, aber er hatte geschen, wie die Staatsanwälte thun: nach einer gewandten Frage schreiben sie in ihre Rede eine Bemerkung hinein, welche den Gegner zerknirschen soll.

Der Vorsitzende wandte sich nicht sogleich an die Angeklagte, weil er um diese Zeit das Mitglied mit der Brille fragte, ob er mit der Aufstellung der Fragen einverstanden sei, welche schon im voraus vorbereitet und aufgeschrieben worden.

»Was war denn weiter?« fragte der Vorsitzende sodann.

»Ich kam nach Hause,« fuhr die Maslowa schon etwas kühner fort, indem sie allein den Vorsitzenden ansah, »ich gab daß Geld der Wirtin ab und legte mich zu Bette. Eben, da ich eingeschlafen bin, weckt mich unser Mädchen Bertha. ‘Geh’, dein Kaufmann ist wieder da.’ Ich wollte nicht hinausgehen aber die Madame hat es befohlen. Da nun gab er,« sie sprach dieseo Wort ‘Er’ wieder mit sichtbarem Schrecken aus, »er unsern Mädchen immer Wein zu trinken; dann wollte er noch Wein holen lassen, aber all sein Geld war schon ausgegeben. Die Wirtin wollte ihm nicht trauen. Dann schickte er mich zu sich in die Nummer. und er sagte, wo daß Geld sei, und wieviel zu nehmen sei. Und ich fuhr.«

Der Vorsitzende und das Mitglied links flüsterten um diese Zeit einander zu, und der Vorsitzende hörte nicht, was die Maslowa sagte, aber um zu zeigen, daß er alles gehört, wiederholte er ihre letzten Worte.

»Sie fuhren. Nun, und was dann?« sagte er.

»Ich kam angefahren, that alles, wie er geheißen hatte,« sagte die Maslowa, »ging in die Nummer. Nicht allein ging ich in die Nummer; ich rief Simon Michajlowitsch und sie,« sagte sie, auf die Botschkowa zeigend.

»Sie lügt, nicht einmal gedacht habe ich daran, hineinzugehen…« wollte die Botschkowa anfangen, aber sie wurde unterbrochen.

»In ihrem Beisein nahm ich vier rote Scheinchen…«8 fuhr die Maslowa, das Gesicht verziehend, ffort ohne die Botschkowa anzusehen.

»Nun aber, hat die Angeklagte nicht bemerkt, als sie 40 Rubel herausnahm, wie viel Geld dort lag?« fragte wieder der Staatsanwalt. Die Maslowa fuhr zusammen, als der Staatsanwalt sich an sie wandte; sie wußte nicht wie und was, aber sie fühlte, daß er Böses gegen sie im Sinne habe.

»Ich habe nicht gezählt, habe nur gesehen, daß da Hundertrubelscheine waren.«

»Die Angeklagte hat Hundertrubelscheine gesehen, — mehr habe ich nicht zu fragen.«

»Nun wie denn? Haben Sie das Geld mitgebracht?« fuhr der Vorsitzende fort zu fragen, indem er auf die Uhr sah.

»Ich habe es mitgertacht.«

»Nun, und dann?« fragte der Vorsitzende.

»Dann aber hat mich Er wieder mit sich genommen,« sagte die Maslowa.

»Nun, und wie haben Sie ihm denn daß Pulver in Cognak gegeben,« fragte der Vorsitzende.

»Wie hab’ ich es gegeben? Ich hab’ es in Cognak hineingeschüttet und ihm gegeben.«

»Warum denn haben Sie es ihm gegeben?«

Sie seufzte schwer und tief, ohne zu antworten.

»Er ließ mich immer nicht weg,« sagte sie nach einigem Schweigen, »ich wurde bei ihm totmüde, ging in den Korridor hinaus und sagte dem Simon Michajlowitsch, wenn er mich nur wegließe. Müde bin ich. — Simon Michajlowitsch aber sagt: Und wir sind seiner auch überdrüssig. Wie wollen ihm ein einschläferndes Pulver geben; er wird einschlafen, dann gehst du weg. Ich sage: gut. Ich habe gemeint, daß es ein unschädliches Pulver sei. Und er gab mir ein Papierchen. Ich kam hinein, er aber lag hinter dem Verschlag, und sogleich hieß er mich ihm Cognak geben, Ich nahm vom Tische eine Flasche fine Champagne, goß zwei Gläser voll — mir und ihm; in sein Glas aber schüttete ich das Pulver hinein und gab es ihm. So dachte ich ja eben…Würde ich es ihm denn gegeben haben, wenn ich das gewußt hätte?«

»Nun, wie aber geriet der Fingerring in Ihren Besitz?« fragte der Vorsitzende.

»Den Fingerring hat er mit selber geschenkt.«

»Wann denn hat er ihn Ihnen geschenkt!«

»Als ich mit ihm in die Nummer kam, wollte ich weggehen, er aber schlug mich an den Kopf und zerbrach mir den Kamm. Ich wurde böse und wollte wegfahren. Er nahm den Ring vom Finger und schenkte ihn mir, damit ich nicht wegliefe,« sagte sie.

Um diese Zeit erhob sich der Staatsanwalt wieder ein wenig; immer mit demselben verstellt-naiven Aussehen bat er um Erlaubnis, noch einige Fragen thun zu dürfen; nachdem et die Erlaubis bekommen, neigte er seinen Kopf über den gestickten Kragen und fragte:

»Ich möchte wissen, wieviel Zeit die Angeklagte im Zimmer des Kaufmanns Smeljkow zugebracht hat?«

Wieder überfiel die Maslowa Furcht, und unruhig mit den Augen vom Staatsanwalt zum Vorsitzenden schweifend, sagte sie eilig her:

»Ich erinnere mich nicht, wie lange Zeit.«

»Nun, aber erinnert sich die Angeklagte nicht, ob sie in dem Gasthause irgendwo hineingegangen, nachdem sie von dem Kaufmann Smeljkow fortgegangen war?«

Maslowa dachte ein wenig nach. »In die Kammer daneben, in das leere Zimmer bin ich gegangen.«

»Wozu sind Sie dort hineingegungen?« sagte der Staatsanwalt hingerissen und sich direkt an sie wendend.

»Ich bin hineingegangen, um mich zurecht zu machen, und ich wartete auf einen Mietkutscher.«

»Und Kartinkin, war der mit der Angeklagten im Zimmer oder nicht?«

»Er ist auch hereingekommen.«

»Warum ist denn er hereingekommen?«

»Von dem Kaufmann blieb fine Champagne übrig, wir haben ihn zusammen ausgetrunken.«

»So, ihr habt ihn zusammen ausgetrunken? Sehr gut. Und hat die Angeklagte ein Gespräch mit Simon gehabt und worüber?«

Die Maslowa runzelte plötzlich die Stirn, wurde purpurrot und sagte rasch:

»Was habe ich gesprochen? Aber mehr weiß ich nicht, machen Sie mit mir, was Sie wollen. Ich bin unschuldig, und das ist alles. Nichts habe ich gesprochen. Was war, das habe ich alles erzählt.«

»Mehr habe ich nicht zu fragen,« sagte der Staatsanwalt zu dem Vorsitzenden. Und mit affektiert aufgezogenen Schultern fing er an, in den Konspekt seiner Rede rasch das eigene Geständnis der Angeklagten einzutragen, daß sie mit Simon in die leere Zimmer hineingegangen sei.

Es trat Schweigen ein.

»Sie haben nichts mehr zu sagen?«

»Ich habe alles gesagt,« erwiderte sie seufzend und setzte sich.

Gleich darauf schrieb der Vorsitzende etwas auf sein Papier, und nachdem er die Mitteilung, welche das Mitglied von links ihm zugeflüstert, angehört, kündigte er für zehn Minuten eine Unterbrechung der Sitzung an; eilig stand er auf und ging aus dem Saal.

Die Beratung zwischen dem Vorsitzenden und dem Mitglied von links, dem hohen, bärtigen, mit den großen, guten Augen, fand statt darüber, daß dieses Mitglied eine leichte Magenstörung empfand und wünschte, sich eine Massage zu machen und Tropfen zu nehmen. Eben das hat er dem Vorsitzenden mitgeteilt, und auf seine Bitte wurde die Unterbrechung gemacht. Gleich nach den Richtern erhoben sich auch die Geschworenen, die Advokaten, die Zeugen, und im Bewußtsein des angenehmen Gefühls, daß schon ein Teil der wichtigen Sache vollbracht sei, fingen sie an, sich hin und her zu bewegen.

Nechljudow ging in dass Zimmer der Geschworenen hinaus und setzte sich dort ans Fenster.

12

Ja, es war Katjuscha.

Die Beziehungen Nechljudows zu Katjuscha waren folgendergestalt:

Zum ersten Male hat Nechljudow Katjuscha gesehen, als er im sechsten Semester der Universität stehend, während er seinen Aufsatz über den Grundbesitz vorbereitete, den Sommer bei seinen Tantchen zubrachte. Gewöhnlich wohnte er mit seiner Mutter und Schwester auf dem großen Gut der Mutter unterhalb Moskau. In diesem Jahre aber verheiratete sich seine Schwester, und seine Mutter begab sich in einen Kurort, ins Ausland. Nechljudow aber mußte den Aufsatz schreiben, und er entschloß sich, den Sommer bei den Tantchen zuzubringen.

Bei ihnen, in ihrer Abgelegenheit, war es still; keine Zersreuungen waren da, die Tantchen aber liebten ihren Neffen und Erben zärtlich, und er liebte sie; er liebte ihr altmodisches Wesen und die Einfalt ihres Lebens.

Nechljudow durchlebte in diesem Sommer bei den Tantchen den begeisterungsvollen Zustand, wo der Jüngling zum ersten Male nicht nach fremden Anweisungen, sondern selbständig die ganze Schönheit des Lebens und die ganze Bedeutsamkeit der Aufgabe, welche dem Menschen ins Leben angewiesen ist, erkennt, wann er die Möglichkeit der unendlichen Vervollkommnung sowohl seiner selbst, wie auch der ganzen Welt sieht, und sich dieser Vervollkommnung nicht nur in Hoffnung ergiebt, sondern in voller Ueberzeugung an die Erreichbarkeit all der Vollkommenheit, welche er sich vorstellt. In diesem Jahre hat er noch in der Universität ‘Die soziale Statik’ von Spencer gelesen, und Spencers Auseinandersetzungen über den Grundbesitz machten auf ihn einen großen Eindruck, besonders da er selber der Sohn eines Großgrundbesitzers war. Sein Vater war nicht reich, die Mutter aber hatte etwa zehntausend Deßjatinen Land als Mitgift bekommen. Er hat damals zuerst die ganze Grausamkeit und Ungerechtigkeit des Privatgrundbesitzes begrissen, und als einer derjenigen Menschen, für welche das Opfer im Namen moralicher Forderungen den höchsten geistigen Genuß bildet, entschloß er sich, von seinem Eigentumsrechte auf den Boden keinen Gebrauch zu machen und das Land, welches er vom Vater geerbt, sogleich an die Bauern abzugeben. Ueber dasselbe Thema schrieb er auch seine Abbandlung.

Sein Leben verlief in diesem Sommer auf dem Lande bei den Tantchen folgendermaßen: Er stand sehr früh auf, manchmal um 8 Uhr und ging vor Sonnenaufgang zum Baden in dem Flusse unterhalb des Berges, manchmal schon im Morgennebel, und kehrte zurück, wenn der Tau noch auf dem Grase und auf den Blumen lag. Manchmal setzte er sich am Morgen, nachdem er Kaffee getrunken, an seine Abhandlung oder an die Ouellen für die Abbandlung, aber sehr oft ging er, anstatt zu lesen und zu schreiben wieder aus dem Hause weg, und streifte durch die Felder und Wälder.

Vor dem Mittagessen schlief er irgendwo im Garten ein, dann, beim Mittagessen, belustigte er die Tantchen und brachte sie zum Lachen durch seine Munterkeit; dann ritt er oder fuhr im Boot spazieren, und abends las er wieder, oder er saß mit den Tantchen beim Patiencelegen. Oft konnte er in der Nacht, besonders in den mondhellen Nächten, nicht schlafen, einzig darum, weil er eine zu große, aufregende Freude des Lebens empfand, und anstatt zu schlafen, ging er zuweilen bis zum Tagesanbruch mit seinen Träumen und Gedanken im Garten hin und her.

So glücklich und ruhig lebte er den ersten Monat seines Aufenthaltes bei den Tantchen, ohne irgend welche Aufmerksamkeit der schwarzäugigen, schnellfüßigen Katjuscha, die halb Stubenmädchen, halb Pflegetochter war, zu schenken. Um diese Zeit was Nechljudow, unter den Flügeln der Mutter erzogen, 19 Jahre alt und ein vollständig unschuldiger Jüngling. Er träumte vom Weibe als Gattin. Alle Weiber aber, welche, nach seinem Begriff, nicht seine Frau sein konnten, waren für ihn keine Weiber, sondern Menschen. Aber es geschah, daß in diesem Sommer am Himmelfahrtstage eine Nachbarin zu den Tantchen angefahren kam mit den Kindern: zwei Fräulein, einem Gymnasiasten, und einem jungen Künstler aus dem Bauernstande, der bei ihnen zu Gast war. Nach dem Thee fing man an, auf dem schon abgemähten Wieschen vor dem Hause ein Fangspiel zu spielen. Man nahm auch Katjuscha mit. Nachdem einige Paare gewechselt hatten, trug es sich zu, daß Nechljudow mit Katjuscha laufen sollte. Es war dem Nechljudow immer angenehm, Katjuscha zu sehen, aber es kam ihm nicht einmal in den Kopf, daß zwischen ihr und ihm irgend welches besondere Verhältnis sein könne.

»Nun, diese jetzt wird man um nichts in der Welt fangen können,« sagte der haschende lustige Künstler, der auf seinen kurzen und krummen, aber starken Bauernbeinen sehr schnell lief.

»Falls sie nicht etwa stolpern…«

»So einer, wie Sie, und der sollte nicht fangen?«

»Eins, zwei, drei!« klatschte man dreimal in die Hände.

Kaum das Lachen verhaltend tauschte Katjuscha rasch ihren Platz gegen den Nechljudows, sie drückte mit ihrer rauhen kleinen Hand seine große und stürmte vorwärts, nach links, mit dem gestärkten Rock raschelnd.

Nechljudow konnte schnell laufen, und er mochte sich nicht von dem Künstler fangen lassen, er stürzte also aus allen Kräften los. Als er sich umblickte, sah er den Künstler Katjuscha verfolgen; sie aber, flink ihre elastischen jungen Füße rührend, ergab sich ihm nicht und entfernte sich nach links. Vorn war ein Beet mit Springensträuchern, hinter welches niemand lief, aber Katjuscha sah sich nach Nechljudow um und gah ihm mit dem Kopf ein Zeichen, um sich mit ihm hinter dem Beet zu vereinigen.9

Er verstand sie und lief hinter die Sträucher. Aber dort, hinter den Sträuchern war ein ihm unbekannter kleiner Graben, mit Brennnesseln zugewachsen: er stolperte hinein, indem er sich die Hände an den Brennnessein verbrannte, und sie mit dem gegen Abend gefallenen Tau anfeuchtete, aber sogleich über sich selbst lachend, richtete er sich auf und lief auf den freien Platz hinaus.

Katjuscha, mit ihrem Lächeln und ihren schwarzen, wie feuchte Johannisbeeren strahlenden Augen, flog ihm entgegen. Sie liefen zusammen und faßten einander an den Händen.

»Verbrannt, glaube ich,« sagte sie, indem sie mit der freien Hand ihren in Unordnung geratenen Zopf ordnete und sah schwer atmend und lächelnd von unten nach oben gerade zu ihm auf.

»Das wußte ich ja gar nicht, daß da ein kleiner Graben ist,« sagte er, ebenso lächelnd, und ohne ihre Hand los zu lassen. Sie rückte zu ihm heran, und er, ohne selber zu wissen, wie es geschah, näherte sich ihr mit dem Gesichte; sie entfernte sich nicht, er drückte stark ihre Hand und küßte sie auf die Lippen.

»Aber, du mein!« sagte sie; mit rascher Bewegung entriß sie ihm ihre Hand und lief von ihm weg. Zu einem Syringenstrauch laufend, brach sie von ihm zwei Zweige der schon abgefallenen weißen Syringe; sie schlug damit ihr erhitztes Gesicht, sah sich nach ihm um, und rasch mit den Händen vor sich hin und her fuchtelnd, ging sie zurück zu den Spielenden.

Von der Zeit an änderte sich das Verhältnis zwischen Nechljudow und Katjuscha, und es bildete sich jenes besondere, wie es zwischen einem unschuldigen jungen Mann und einem ebenso unschuldigen Mädchen, die sich zu einander hingezogen fühlen, zu sein pflegt.

Sobald Katjuscha ins Zimmer kam, oder sobald Nechljudow sogar nur von weitem ihre weiße Schürze sah, wurde alles für ihn wie von der Sonne beleuchtet, alles wurde für ihn interessanter, lustiger, bedeutender; das Leben wurde freudevoller. Dasselbe empfand auch sie. Aber nicht nur die Gegenwart und die Nähe der Katjuscha thaten auf Nechljudow diese Wirkung; diese Wirkung brachte für ihn allein das Bewußtsein hervor, daß sie, diese Katjuscha da sei, und für sie, daß Nechljudow existiere. Ob Nechljudow einen unangenehmen Brief von seiner Mutter bekam, oder ob seine Abhandlung nicht recht klappen wollte, oder ob er einen jugendlichen grundlosen Gram empfand, so genügte es nur, sich daran zu erinnern, daß es eine Katjuscha giebt, und daß er sie sehen wird — und alles zerstreute sich.

Katjuscha hatte viel zu thun im Haushalt; aber sie wurde mit allem fertig, und in den freien Minuten las sie; und Nechljudow gab ihr Dostojewski und Turgenjew, die er selber eben erst durchgelesen hatte. Am meisten gefiel ihr »Das Stillleben« von Turgenjew. Gespräche gab es zwischen ihnen nur gelegentlich, der Begegnungen auf dem Korridor, auf dem Balkon, auf dem Hofe und zuweilen im Zimmer des alten Zimmermädchens der Tantchen, Matrjona Pawlowna, mit welcher Katjuscha zusammen wohnte. In ihr Stübchen kam manchmal Nechljudow um Thee zu trinken, wobei man den Zucker abbiß.10 Und diese Gespräche in Gegenwatt Matrjona Pawlownas waren die angenehmsten. Zu reden mit einander, wenn sie allein waren, war schlimmer. Sogleich fingen die Augen an, etwas ganz anderes, der weitem Wichtigeres zu sprechen als das, was der Mund sprach; die Lippen zogen sich zusammen, es wurde ihnen vor etwas unheimlich, und sie gingen eilig auseinander. Ein derartiges Verhältnis bestand zwischen Nechljudow und Katjuscha während der ganzen Zeit seines ersten Aufenthaltes bei den Tantchen. Die Tantchen bemerkten dies Verhältnis; sie erschraken und schrieben sogar darüber ins Ausland der Fürstin Helena Iwanowna, der Mutter Nechljudows. Das Tantchen Maria Iwanowna befürchtete, daß Dmitrij in ein nahes Verhältnis zu Katjuscha treten könne. Aber sie befürchtete dies umsonst; Nechljudow, ohne es selber zu wissen, liebte Katjuscha, wie alle unschuldigen Leute lieben, und seine Liebe war der Hauptschutz gegen den Fall, sowohl für ihn, wie auch für sie. Er hatte nicht nur keinen Wunsch, sie physisch zu besitzen, sondern er entsetzte sich vor dem Gedanken an die Möglichleit eines solchen Verhältnisses zu ihr. Die Befürchtungen aber der poetischen Sophia Iwanowna davor, daß Dmitrij mit seinem entschlossenen Charakter, aus einem Gusse, nachdem er ein Mädchen lieb gewonnen, sich vornähme, es zu heiraten, ohne auf ihre Herkunft und ihre Lage zu achten, — diese Befürchtungen waren weit stichhaltiger.

Wenn dem Nechljudow seine Liebe zu Katjuscha damals klar zum Bewußtsein gekommen wäre, und besonders, wenn man ihn hätte überzeugen wollen, daß er keinenfalls sein Schicksal mit dem jenes Mädchens vereinigen könne und dürfe, so hätte es sehr leicht passieren können, daß er mit seinem gradlinigen Wesen in allem entschieden hätte, es gäbe keine Gründe ein Mädchen nicht zu heiraten, wer immer sie sein möge, wenn man sie nur liebe. — Aber die Tantchen sagten ihm nichts über ihre Befürchtungen, und so reiste er ab, ohne sich seiner Liebe zu Katjuscha bewußt zu werden.

Er war überzeugt, daß sein Gefühl für Katjuscha eine der damals sein ganzes Wesen erfüllenden Offenbarungen der Lebensfreude sei, die von diesem lieben, lustigen Mädchen geteilt worden.

Als er aber abreiste und Katjuscha, auf der Treppe mit den Tantchen stehend, ihn mit iheen schwarzen, thränenvollen und ein wenig schielenden Augen begleitete, empfand er doch, daß er etwas Schönes, Teueres, das sich nie mehr wiederholen würde, hinter sich lasse. Und er wurde sehr betrübt.

»Leb’ wohl Katjuscha, ich danke für alles,« sagte er über die Haube der Sophia Iwanowna hinweg, während er in die Kalosche einstieg.

»Leben Sie wohl, Dmitrij Iwanowitsch,« sagte sie mit ihrer angenehmen, liebkosenden Stimme, und die Thränen zurückdrängend, lief sie in den Hausflur, wo sie frei weinen konnte.

13

Seit damals hatten sich Nechljudow und Katjuscha während dreier Jahre nicht gesehn. Und erst dann sah er sie wieder, als er, eben erst zum Offizier befördert, auf dem Wege in die Armee bei den Tantchen angefahren tam, aber schon als ein ganz anderer Mensch, denn der war, welcher bei ihnen vor drei Jahren den Sommer zugebracht hatte.

Damals war er ein ehrlicher selbstverleugnender Jüngling, der sich jeder guten Sache hinzugeben bereit war; jetzt war er ein raffinierter Egoist, der nur seinen Genuß liebte. Damals erschien ihm die Gotteswelt als ein Geheimnis, welches er freudig und begeistert zu enträtseln suchte, — jetzt war alles im Leben einfach und klar und wurde durch die Lebensbedingungen bestimmt, in welchen er sich befand. Damals war nötig und wichtig für ihn der Verkehr mit der Natur und mit Menschen, die vor ihm gelebt, gedacht und gefühlt hatten, Philosophie, Poesie — jetzt waren nötig und wichtig menschliche Einrichtungen und der Verkehr mit den Kameraden. Damals erschien ihm daß Weib als ein geheimnisvolles und reizendes — eben durch das Geheimnis reizendes Wesen; — jetzt war die Bedeutung des Weibes, jedes Weibes, die eigenen Familienangehörigen und die Frauen der Freunde ausgeschlossen, fest bestimmt; das Weib war eins der besten Werkzeuge des schon erfahrenen Genusses. Damals brauchte man kein Geld, und man konnte nicht einmal den dritten Teil dessen verbrauchen, was die Mutter hergab; man konnte auf das Vatererbe verzichten und es den Bauern abtreten. — Jetzt aber waren ihm die 1500 Rubel monatlich, die ihm die Mutter gab, nicht hinreichend, und es kamen schon unangenehme Gespräche wegen des Geldes mit ihr vor. Damals hielt er für sein wirkliches Ich sein geistiges Wesen, jetzt hielt er sein gesundes, munteres, animalisches Ich für sein Ich.

Und diese ganze furchtbare Veränderung rührte bei ihm nur davon her, daß er sich selbst zu glauben aufgehört und anderen zu glauben angefangen hatte. Sich selbst zu glauben aber hatte er aufgehört und den anderen zu glauben angefangen, weil es zu schwer war zu leben, indem man sich selbst glaubte: denn indem man sich selbst glaubte, mußte man jede Frage nicht zu Gunsten seiner animalischen, leichte Freuden suchenden Ichs entscheiden, sondern fast immer gegen dasselbe; glaubte man den anderen, so war nichts zu entscheiden, alles war schon entschieden, und er war immer gegen das geistige und zu Gunsten des animalischen Ichs entschieden. — Außerdem, — glaubte er sich selbst, so war er immer der Mißbilligung, dem Tadel der Leute ausgesetzt; glaubte er den andern, so hatte er Beifall von den ihn umgebenden Leuten.

Wenn also Nechljudow über Gott, über die Wahrheit, über Reichtum und Armut nachdachte, las, sprach, so hielten alle ihn umgebenden dies für unpassend und zum Teil für lächerlich, und die Mutter und die Tante nannten ihn mit gutmütiger Ironie: »notre cher philosophe«; wenn er aber Romane las, skabröse Anekdoten erzählte, ins französische Theater zu lustigen Baudebilles ging und sie lustig wiedererzählte, so lobten ihn alle und ermunterten ihn. Wenn er es für nötig bielt, seine Bedürfnisse einzuschränken und den alten Mantel trug und keinen Wein trank, — so hielten dies alle für eine Absonderlichkeit und für eine Art prahlerischer Sonderlingsspielerei; wenn er aber große Summen für die Jagd, für die Einrichtung eines ungewöhnlich prachtvollen Kabinets ausgab, so lobten alle seinen Geschmack und schenkten ihm kostbare Sachen. Als er ein reiner Junggeselle war und bis zur Ehe ein solcher bleiben wollte, fürchteten seine Verwandten für seine Gesundheit, und sogar die Mutter wurde nicht betrübt, sondern freute sich eher, als sie erfuhr, daß er ein wirklicher Mann geworden und seinem Kameraden irgend eine französische Dame abspenstig gemacht hatte. An die Episode mit Katjuscha aber, daran daß ihm der Gedanke beifallen konnte, sie zu heiraten, vermochte sich die Fürstin-Mutter nicht ohne Grauen zu erinnern. Und ebenso, als er nach Erreichung der Volljährigkeit jenes kleine Gut, das er vom Vater ererbt, den Bauern übergeben hatte, weil er es für ungerecht hielt, Land zu besitzen, da erfüllte diese seine Handlung seine Mutter und die Verwandten mit Entsetzen, und immer war sie der Gegenstand des Vorwurfs und des Spottes über ihn von seiten aller seiner Verwandten.

Man erzählte ihm unaufhörlich davon, daß die Bauern, die das Land erhielien, nicht nur nicht reicher geworden, sondern daß sie verarmten und ganz und gar aufhörten zu arbeiten. Als aber Nechljudow, nachdem er in die Garde eingetreten war, mit seinen hochgestellten Kameraden soviel verbrauchte und verspielte, daß Helena Iwanowna Geld vom Kapital nehmen mußte, da betrübte sie sich fast nicht, in der Meinung, daß es natürlich und sogar gut sei, wenn diese Pocken in der Jugend und in guter Gesellschaft geimpft werden.

Anfangs kämpfte Nechljudow, aber es war zu schwierig, zu kämpfen, weil all das, was er, wenn er sich glaubte, für gut hielt, von den anderen für schlecht gehalten wurde; umgekehrt wurde all das, was er, wenn er sich glaubte, für schlecht hielt, von anderen für gut gehalten. Und das Ende war, daß Nechljudew sich ergab; — er hörte auf, sich zu glauben und schenkte den anderen Glauben. In der ersten Zeit war diese Selbstverleugnung unangenehm, aber dieses unangenehme Gefühl dauerte gar nicht lange, und sehr schnell, indem er zu gleicher Zeit zu rauchen und Wein zu trinken begonnen, hörte Nechljudow auf, diese unangenehme Empfindung zu haben, ja er fühlte sogar große Erleichterung.

Und Nechljudow ergab sich mit der Leidenschaftlichkeit seiner Natur ganz diesem neuen, von allen ihn Umgebenden gebilligten Leben und erstickte in sich vollständig die Stimme, welche etwas anderes verlangte. Das wurde in Petersburg nach der Uedersiedelung begonnen und mit dem Eintritt in den Militärdienst vollendet.

Der Militärdienst verderbt überhaupt die Menschen, da er die Eintretenden unter die Bedingungen vollständigen Müßigganges stellt, das heißt unter die Bedingungen der Abwesenheit einer vernünftigen und nützlichen Arbeit, und da er sie von den allgemein menschlichen Pflichten befreit und als Ersatz für dieselben nur die konventionelle Ehre des Regiments, der Uniform und der Fahne hinstellt. Einerseits die grenzenlose Macht über andere Menschen, andererseits aber die sklavische Unterwürfigkeit gegen die Vorgesetzten.

Aber wenn sich zu dieser verderblichen Wirkung des Militärdienstes überhaupt, mit seiner Ehre der Uniform und der Fahne, mit seiner Erlaubnis zur Gewalttätigkeit und Tötung noch die verderbliche Wirkung der Reichtums und der Nähe des Verkehrs mit der kaiserlichen Familie gesellt, wie es der Fall ist inmitten der auserwählten Garderegimenter, wo nur die reichen und vornehmen Offiziere dienen, so erreicht diese Verderbnis bei den Leuten, welche ihr verfallen sind, den Zustand einer völligen Verrrücktheit des Egoismus.

Und in solcher Verrücktheit des Egosmus befand sich Nechljudow seit der Zeit, als er in den Militärdienst einegetreten war, und als er anfing, so zu leben, wie seine Kameraden lebten.

Man hatte nichts zu thun, außer in einer ausgezeichnet genähten und ausgebürsteten — nicht von ihm selbst, sondern von anderen Leuten genähten und gebürsteten — Uniform, in einem Helm, mit der Waffe, die auch von anderen Leuten gemacht, geputzt und dargereicht wurde, auf einem schönen, auch von anderen erzogenen, zugerittenen und gefütterten Pferde zum Exerzieren oder zur Parade zu reiten mit ebensolchen Leuten wie er, zu galoppieren und die Säbel zu schwingen, zu schießen und dies andere Menschen zu lehren. Eine andere Beschäftigung gab es nicht, und die höchstgestellten Personen, die jungen, die alten, der Zar und die ihm zunächst Stehenden billigten nicht nur diese Beschäftigung, sondern lobten sie und dankten für dieselbe.

Außer diesem wurden Zusammenkünfte für gut und richtig gehalten, wo man das Gott weiß woher erhaltene Geld verschleudert, um zu essen und besonders um zu trinken, in den Offizierklubs oder in den teuersten Wirtschaften, dann Theater, Bälle, Frauen, und dann wieder Pferdereiten, Säbelschwingen, Galoppieren und wieder Geldverschleudern, Wein, Karten, Frauen.

Besoders verderblich wirkt solches Leben auf das Militär, weil, wenn ein Nichtmilitär solch ein Leben führt, er nicht umhin kann, sich in der Tiefe seiner Seele seines Lebens zu schämen. Die Militärs aber glauben, daß es so sein müsse; sie prahlen damit, sie sind stolz auf ein solches Leben, besonders zur Zeit der Krieges, wie es mit dem Nechljudow der Fall war, der nach der Kriegserklärung an die Türckei in den Militärdienst eingetreten.

‘Wir sind bereit, unser Leben im Kriege zu opfern, und darum ist ein solch sorgloses, lustiges Leben nicht nur verzeihlich, sondern auch für uns notwendig. Und wir führen es.’ So dachte, nicht ganz klar, Nechljudow in dieser Periode seines Lebens, aber er fühlte während dieser ganzen Zeit das Entzücken der Befreiung von allen moralischen Schranken, welche er sich früher gesetzt, und ununterbrochen befand er sich im chronischen Zustande der Egoismusverrücktheit.

In solchem Zustand war er auch, als er nach drei Jahren zu den Tantchen angefahren kam.

14

Nechljudow kehrte zu den Tantchen ein, da ihr Gut auf dem Wege zu seinem Regiment lag, welchen ihm vorausmarschierte, dann auch weil sie ihn sehr darum gebeten hatten; hauptsächlich aber um Katjuscha zu sehen. Vielleicht hatte er schon in der Tiefe der Seele die schlimme Absicht gegen Katjuscha, die ihm der jetzt zügellose animalische Mensch zuflüsterte; aber er war sich dieser Absicht nicht bewußt, und er wünschte einfach den Ort zu besuchen, wo es ihm so wohl gewesen; die ein wenig lächerlichen, aber lieben und gutmütigen Tantchen zu sehen, die ihn immer, unmerklich für ihn, mit einer Atmosphäre der Liebe und des Entzückens umgaben, und die liebe Katjuscha zu sehen, von welcher ihm eine so angenehme Erinnerung geblieben war.

Er kam Ende März an, am Charfreitag, zur Zeit der schlechtesten Wege, unter einem Gußregen, so daß er bis zum letzten Faden durchnäßt und durchfroren anfuhr, aber munter und angeregt, wie er sich immer um diese Zeit fühlte.

»Ist sie noch bei ihnen?« dachte ee, als er auf den bekannten, mit dem von den Dächern herabgefallenen Schnee vollgeschütteten, altertümlichen, mit einer niederen Ziegelwand umzäunten, gutsherrlichen Hof der Tantchen einfuhr.

Er erwartete, daß sie auf die Treppe herauslaufen werde, wenn sie die Glocke seines Gefährts höre. Aber es kamen auf den Dienstbotenflur zwei barfüßige, aufgeschürzte Weider mit Eimern heraus, die augenscheinlich den Boden im Hause wuschen. Sie war auch auf dem Paradeflur nicht; es kam nur Tichon, ein Lakai, heraus, in der Schürze, wahrscheinlich auch er mit Putzen beschäftigt. In das Vorzimmer kam Sophia Iwanowna im seidenen Kleid und in der Haube.

»Aber das ist lieb, daß Du gekommen bist!« sprach Sophia Iwanowna, ihn küssend.

»Maschenjka ist ein wenig unwohl, von der Kirche ermüdet. Wir haben das Abendmahl genossen.«

»Ich gratuliere, Tantchen Sonja,« sprach Nechljudow indem er die Hand der Sophia Iwanowna küßte, »verzeihen Sie, ich habe Sie naß gemacht.«

»Geh in Dein Zimmer, Du bist ganz durchnäßt. Und einen Schnurbart hast Du schon…Katjuscha! Katjuscha! schnell Kaffee für ihn!«

»Sogleich!« wiederhallte das bekannte, angenehme Stimmchen aus dem Korridor, und das Herz Nechljudows zog sich freudig zusammen. »Hier!« Und es war ihm, als ob die Sonne aus den Wolken hervorguckte.

Nechljudow begab sich fröhlich mit Tichon in sein früheres Zimmer, um sich umzukleiden. Er wünschte Tichon über Katjuscha zu befragen: ‘Wie geht es ihr? Wie lebt sie? Heiratet sie nicht bald?’ Aber Tichon war so ehrerbietig und zugleich streng, und so fest bestand er darauf, daß er ihm selber Wasser aus dem Handwaschbecken auf die Hände gießen müsse, daß Nechljudow sich nicht entschließen konnte, ihn über Katjuscha zu befragen; er fragte ihn nur nach seinen Enkeln, nach dem alten Hengst, den sie Brüderchenshengst nannten, nach dem Hofhund Polkan. Alle waren am Leben und gesund, außer dem Polkan, der im vorigen Jahre toll geworden.

Als Neschludow alles Nasse abgeworfen hatte und eben sich auszuziehen begann, hörte er rasche Schritte, und es klopfte an die Thür. Neschljudow erkannte sowohl die Schritte, als auch das Klopfen. So ging und klopfte nur sie. Er warf sich den nassen Mantel um und trat zur Thür.

»Herein!«

Das war sie — Katjuscha. Immer dieselbe, noch holder als früher. Ebenso von unten nach oben sahen ihre lächelnden, naiven, ein ganz klein wenig schielenden schwarzen Augen. Sie war auch wie früher in einer sauberen weißen Schürze. Sie hat ihm ein eben erst vom Papier befreites, aromatisches Stück Seife und zwei Handtücher gebracht: ein großes russisches und ein rauhhaariges. Und die unangerührte Seife mit den abgedruckten Buchstaben und die Handtücher und sie selbst — alles das war gleich rein, frisch, unangetastet, angenehm. Ihre lieblichen, festen, schönen Lippen spitzten sich bei seinem Anblick, ebenso wie früher immer, in nicht zurückzuhaltender Freude.

»Ich wünsche Ihnen Glück, Dmitrij Iwanowitsch, zu Ihrer Ankunft!« brachte sie mit Mühe hervor, und Röte übergoß ihr ganzes Gesicht.

»Ich grüße Dich …ich grüße Sie,« er wußte nicht, ob er sie ‘Du’ oder ‘Sie’ nennen sollte und wurde ebenso rot wie sie. »Sind Sie am Leben? Sind Sie gesund?«

»Gottlob. Hier haben die Tantchen Ihre Lieblingsseife, die Rosaseife, geschickt,« sagte sie, indem sie die Seife auf den Tisch und die Handtücher auf die Lehnstuhlarme legte.

»Sie haben Ihre eigene Seife,« sagte, die Selbständigkeit des Gastes verteidigend, Tichon, indem er stolz auf das geöfnete, große Necessär Nechljudows mit den silbernen Deckeln und den ungeheueren Quantitäten von Fläschchen, Bürstchen, Schnurrbartpomaden, Parfüms und allerlei Toilleten-Instrumenten zeigte.

»Sagen Sie dem Tantchen meinen Dank. Und wie froh bin ich, daß ich gekommen bin,« sagte Nechljudow, indem er fühlte, daß es in seiner Seele ebenso licht und hold wurde, wie es früher manchmal gewesen.

Sie lächelte nur zur Erwiderung auf diese Worte und ging hinaus.

Die Tantchen, die den Nechljudow ja immer lieb hatten, haben ihn dieser Mal noch freudiger als gewöhnlich empfangen. Dmitrij fuhr in den Krieg, wo er verwundet, getötet werden konnte. Das rührte die Tantchen.

Nechljudow hatte seine Reise so eingerichtet, daß er bei den Tantchen nur vierundzwanzig Stunden verweilen wollte, aber als er Katjuscha sah, willigie er ein, den Ostersonntag bei den Tantchen zu feiern, der nach zwei Tagen sein sollte, und er telegraphierte seinem Freund und Kameradn Schenbock, mit dem er in Odessa zusammentreffen sollte, daß auch er bei den Tantchen anfahren solle.

Vom ersten Tage, ja als er der Katjuscha nur gewahr ward, empfand er das frühere Gefühl für sie. Jetzt wie früher konnte er nicht ohne Gemütsbewegung die weiße Schürze Katjuschas sehen; er konnte nicht ohne Freude ihren Gang, ihre Stimme, ihr Lachen hören, er konnte nicht ohne Rührung in ihre wie feuchte Johannisbeeren schwarzen Augen sehen, besonders, wenn sie lächelte; und die Hauptsache, er konnte nicht ohne Bestürzung sehen, wie sie bei der Begegnung mit ihm errötete. Er fühlte, daß er verliebt sei, aber nicht so, wie früher, als diese Liebe für ihn ein Geheimnis war, als er sich nicht entschloß, sich selbst zu gestehen, daß er liebe, und als er überzeugt war, daß man nur einmal lieben könne. Jetzt aber war er verliebt und wußte das und freute sich darüber, während er halb klar sich bewußt war, worin diese Liebe besteht und was dabei herauskommen kann, obgleich et es vor sich selber verbarg.

In Nechljudow waren, wie in allen Leuten, zwei Menschen; einer — der geistige, der für sich nur solch ein Heil begehrt, das auch anderen Menschen zum Heil wäre, und ein anderer — der animalische Mensch, der nur für sich das Heil sucht, und bereit ist für dieses Heil das Heil der ganzen Welt zu opfern. In dieser Periode seiner Egoismus-Verrücktheit, welche bei ihm durch das petersburgische, militärische Leben hervorgerufen worden, herrschte in ihm der animalische Mensch, und er unterdrückte vollständig den geistigen. Aber als er Katjuscha sah und wieder das empfand, was er damals für sie empfunden hatte, erhob der geistige Mensch sein Haupt und fing an, sein Recht zu verlangen. Und während dieser zwei Tage bis Ostern ging in Nechljudow ununterbrochen ein innerer für ihn unbewußter Kampf vor sich. In der Tiefe der Seele wußte er, daß er abreisen müsse, und daß es keinen Zweck habe, bei den Tanten zu bleiben; er wußte, daß nichts Gutes dabei herauskommen könne; aber es war so freudig und angenehm, daß er sich dies nicht sagte und blieb.

Am Samstag vor dem Ostersonntag abends kam der Priester mit dem Diakon und dem Küster angefahren, um die Frühmesse zu lesen, nachdem sie, wie sie erzählten, mit Not und Mühe die drei Werst, welche die Kirche vom Hause der Tantchen trennten, im Schlitten durch Pfützen und über die bloße Erde gemacht hatten. Nechljudow hörte mit den Tantchen und dem Gesinde die Frühmesse zu Ende, indem er unaufhörlich Katjuscha ansah, die bei der Thür stand und das Rauchfaß darreichte. Er küßte sich mit dem Geistlichen und mit den Tantchen und wollte schon schlafen gehen, als er im Korridor die Vorbereitungen der Maria Pawlowna, des alten Zimmermädchens der Maria Iwanowna, wahrnahm, die mit Katjuscha zusammen in die Kirche geben wollte, um Osterbröte und Osterkuchen weihen zu lassen. »Ich will auch hin,« dachte er.

Es gab keinen Weg die zur Kirche, weder im Schlitten nach auf Rädern; darum befahl Nechljudow, der bei den Tantchen wie zu Hause war und über alles verfügte, daß Reitpferd, den sogenannten »Brüderchenshengst« zu satteln, und anstatt zu Bett zu gehen, kleidete er sich in eine glänzende Uniform mit dichtanliegenden Reithosen, legte dann den Mantel um und ritt auf dem fett und schwerfällig gewordenen, ohne aufhören wiehernden alten Hengst in der Dunkelheit durch die Pfützen und den Schnee zur Kirche.

15

Nachher, sein ganzes Leben hindurch, blieb diese Frühmesse für Nechljudown eine der hellsten und stärksten Erinnerungen.

Als er in der schwarzen, nur hie und da vom weißschimmernden Schnee erleuchteten Dunkelheit durch das Wasser platschend, in den Hof der Kirche hineinritt, während sein Hengst die Ohren spitzte beim Anblick der rings um die Kirche angezünderen Lampen, hatte der Gottesdienst schon begonnen.

Die Bauern, die den Neffen der Maria Iwanowna erkannten, begleiteten ihn aufs Trockne, wo er absteigen konnte; sie nahmen sein Pferd, um es anzubinden und führten ihn in die Kirche. Die Kirche war voll des feiernden Volkes.

An der rechten Seite — die Bauern; die alten in den zu Hause gemachten Kaftans, mit Bastschuhen und weißen Fußlappen; die jungen in neuen Kaftans von Tuch, mit grellfarbigen Leibgürteln gegürtet, in Stiefeln.

Links — die Frauen, in roten seidenen Tüchern, im Kamisol von Baumwollensammt mit hellroten Aermeln, mit blauen, grünen, roten, bunten Röcken, in Halbstiefeln mit Schuheisen. Hinter ihnen standen die bescheidenen alten Mütterchen in weißen Tüchern und grauen Kaftans und altertümlichen Panewas,11 dazu in Lederschuhen oder neuen Bastschuhen. Und zwischen diesen wie jenen standen die geputzten Kinder mit butterbeschmierten Köpfen.

Die Bauern bekreuzten und verneigten sich, die Haare zurückschüttelnd; die Frauen, besonders die alten, die ihre verblichenen Augen auf ein Heiligenbild richteten, drückten die zusammengelegten Finger stark an daß Kopftuch auf der Stirn, an die Schulter und auf den Leib, und sie bogen sich im Stehen vornüber oder fielen auf die Kniee. Die Kinder, die Großen nachahmend, beteten eifrig, wenn man sie ansah. Die goldene Heiligenwand brannte von Lichtern, die von allen Seiten die großen, goldumwundenen Kerzen umgaben. Der Kronleuchter war mit Kerzen besetzt, von den Chören ließen sich die allerlustigsten Weisen der freiwilligen Sänger hören, mit brüllenden Bässen und den hohen Diskantstimmen der Knaben.

Nechljudow ging nach vorne durch.

In der Mitte stand die Aristokratie, der Gutsbesitzer mit seiner Frau und dem Sohn, der eine Matrosenjacke trug; der Stanowoj, der Telegraphist, der Kaufmann in Schaftstiefeln, der Schulze mit einer Medaille; rechte aber vom Tritt vor dem Altar, hinter der Gutsbesitzerin, stand Matrjona Pawlowna in einem schillernden lila Kleide und einem Shawl mit weißem Saum, und Katjuscha im weißen Kleide, mit Fältchen auf der Taille, mit einem blauen Gürtel und einer kleinen roten Bandschleife auf dem schwarzen Kopf.

Alles war festlich, feirlich, lustig und schön; die Priester in den silbernen Gewändern mit goldenen Kreuzen, und der Diakon und der Küster in den festlichen silbernen Chorröcken, und die geputzten, freiwilligen Sänger mit den mit Butter beschmierten Haaren und die lustigen Tanzweisen der festlichen Lieder und die unaufhörliche Segnung des Volks durch die Geistlichen mit den mit Blumen geschmückten Kerzen auf den dreiarmigen Leuchtern, mit dem immer und immer wiederholten Ausruf: Christus ist auferstanden! Christus ist auferstanden! Alles war schön, aber das Beste von allem war Katjuscha in dem weißen Kleide und dem blauen Gürtel, mit der kleinen roten Bandschleife auf dem schwarzen Kopf und mit den vor Entzücken glänzenden Augen.

Nechljudow fühlte, daß sie ihn sah, ohne sich umzuschauen. Er sah das, als er nahe bei ihr zum Altar hinging. Er hatte ihr nichts zu sagen, aber er sann etwas aus und sagte ihr, während er an ihr vorbeischritt:

»Tantchen hat gesagt, daß sie nach der Spätmesse die Fasten brechen wird.« Das junge Blut übergoß wie immer bei seinem Anblick ihr ganzes liebes Gesicht, und die schwarzen Augen lachten und freuten sich und blieben, naiv von unten nach oben sehend, auf Nechljudow haften.

»Ich weiß,« sagte sie lächelnd.

Zu dieser Zeit ging der Küster, der sich mit einer kupfernen Kanne durch das Volk drängte, an Katjuscha vorbei, und ohne sie anzusehen, streifte er sie mit den Schößen seines Chorrocks. Augenscheinlich streifte der Küster Katjuscha, weil er den Nechljudow aus Achtung vor ihm umging. Den Nechljudow aber nahm es wunder, wie nun er, dieser Küster, nicht versteht, daß alles, was existiert, wie hier so überall in der Welt, nur der Katjuscha wegen existiert; daß man alles in der Welt vernachlässigen kann, nur nicht sie, weil sie das Zentrum von allem ist. Ihretwegen glänzte das Gold der Heiligenwand und brannten alle diese Kerzen auf dem Kronleuchter, auf den Standleuchtern, ihretwegen erklangen diese freudevollen Melodien: »Des Herrn Ostern, freut euch, ihr Menschen!« Und alles Gute, das nur in der Welt war, alles war ihrertwegen da. Und Katjuscha schien ihn zu verstehen, daß alles das ihretwegen sei. So schien es dem Nechljudow, wenn er ihre wohlgebildete Gestalt im weißen Kleide mit den Fältchen und ihe konzentriert freudiges Gesicht anblickte, an dessen Ausdruck er sah, daß ganz und gar dasselbe, was in seiner Seele singt, auch in ihrer Seele singt.

In der Zwischenzeit — zwischen Früh- und Spätmesse — ging Nechljudow aus der Kirche. Das Volk trat vor ihm auseinander und grüßte ihn. Die einen erkannten ihn, die andern fragten: »Wer ist das?« In der Vorhalle blieb er stehen. Die Bettler umringten ihn; er verteilte die kleinen Münzen, die er in der Geldbörse hatte und stieg die Stufen der Treppe hinunter.

Es hatte schon so weit getagt, daß man sehen konnte, die Sonne war aber noch nicht aufgegangen. Das Volk ließ sich überall auf den Gräbern nieder. Katjuscha blieb in der Kirche, und Nechljudow blieb an der Kirche stehn und wartete auf sie.

Immerfort kamen die Leute heraus, und mit den Stiefelnägeln auf die Fliesen klopfend, stiegen sie die Stufen hinunter und zerstreuten sich auf dem Hof der Kirche und auf dem Friedhof.

Ein hochbetagter Greis, der Konditor der Maria Iwanowna, mit zitterndem Kopf, hielt den Nechljudow an und küßte ihn, und seine Frau, ein alten Mütterchen mit runzeligem Kehlkopf unter dem seidenen Halstuch, gab ihm ein gelbes, mit Safran gefülltes Ei, welches sie aus dem Tuche genommen hatte. Zugleich kam auch ein junger, lächelnder, muskulöser Bauer in einem neuen Kaftan und im grünen Gürtel heran.

»Christus ist erstanden!« sagte er, mit den Augen lächelnd, und als er Nechljudow erreicht, überschauerte er ihn mit dem besonderen, angenehmen Bauerngeruch, und ihn mit seinem traufen Bärtchen kitzelnd, küßte er ihn gerade auf die Mitte des Mundes dreimal mit seinen starken frischen Lippen.

Zu gleicher Zeit, da Nechljudow sich mit dem Bauer küßte und von ihm ein dunkelbraunes Ei nahm, erschien das schillernde Kleid der Matronja Pawlowna und ein holdes schwarzes Köpfchen mit kleiner roter Schleife.

Sie erblickte ihn sogleich über die Köpfe der vor ihr Gehenden hinweg, und er sah, wie ihr Gesicht aufstrahlte.

Sie kam mit Matronja Pawlowna in die Vorhalle und den Bettlern Almosen austeilend, blieden sie stehn. Ein Bettler mit einem verheilten Schorf anstatt der Nase trat an Katjuscha heran. Sie nahm etwas aus dem Tuche, reichte es ihm, und dann näherte sie sich ihm, ohne den geringsten Widerwillen zu äußern; im Gegenteil, eben so freudig mit den Augen strahlend, küßte sie ihn dreimal.

Und zu gleicher Zeit, da sie sich mit dem Bettler küßte, begegneten ihre Augen dem Blick Nechljudows. Es schien, als ob sie ihn frage: ‘ist es gut? thu ich recht?’ ‘Ja, ja, Geliebte, alles ist gut, alles ist schön, ich liebe Dich.’

Sie stiegen die Treppe hinab; er kam zu ihr heran. Er wollte sie nicht küssen, er wollte nur näher bei ihr sein.

»Christus ist auferstanden!« sagte Matronja Pawlowna, ihren Kopf neigend und lächelnd, mit einer Intonation, welche besagte, daß heute alle gleich seien, und nachdem sie den Mund mit dem zu einem Mäuschen zusammengewickelten Tuche abgewischt, näherte sie ihm ihre Lippen.

»In Wahrheit,« antwortete Nechljudow, während sie sich küßten. Er sah sich nach Katjuscha um. Sie errötete, und in derselben Minute näherte sie sich ihm.

»Christus ist auferstanden, Dmitrij Iwanowitsch.«

»In Wahrheit ist er auferstanden,« sagte er. Sie küßten sich zweimal und schienen in Nachdenken zu geraten: ist es nach einmal nötig? Und wie mit dem Entschlusse, daß ed nötig sei, küßten sie sich zum dritten Mal, und beide lächelten.

»Wollen Sie nicht zum Geistlichen gehen?« fragte Nechljudow.

»Nein, Dmitrij Iwanawitsch, wir wollen hier ein wenig sitzen,« sagte Katjuscha, schwer wie nach freudiger Arbeit, aus voller Brust, aufatmend, indem sie mit ihren ergebenen, jungfräulichen, liebenden, kaum — kaum schielenden Augen ihm grade in die Augen sah.

In der Liebe zwischen Mann und Frau giebt es immer eine Minute, wann diese Liebe ihren Zenith erreicht, wo sie nichts Bewußtes, Verstandesmäßiges und nichts Sinnliches hat. Eine solche Minute war für Nechljudow diese Nacht der hellen Auferstehung Christi. Wenn er jetzt an Katjuscha dachte, so verhüllte diese Minute alle übrigen Lagen, in welchen er sie gesehn.

Das schwarze, glatte, glünzende Köpfchen, das weiße, jungfräulich ihre wohlgebildete Taille und ihre nicht hohe Brust umhüllende Kleid mit den Fältchen, und diese Röte, und diese zarten, glänzenden, schwarzen Augen, und in ihrem ganzen Wesen zwei Hauptzüge: die Reinheit der jungfräulichen Liebe nicht nur zu ihm, — er wußte das — sondern der Liebe zu allen und zu allem, nicht nur dem Schönen, Guten, das es in der Welt giebt, sondern auch zu jenem Bettler, welchen sie geküßt hatte.

Er wußte, daß in ihr diese Liebe war, weil er sich desselben Gefühls während dieser Nacht und dieses Morgens bewußt worden, und er war sich bewußt, daß er in dieser Liebe mit ihr in eins zusammenklang.

»Ach, wenn alles bei dem Gefühl dieser Nacht stehn geblieben wäre! Ja, diese ganze, schreckliche Sache geschah schon nach dieser Nacht der hellen Auferstehung Christi!« dachte er jetzt, als er am Fenster im Zimmer der Geschworenen saß.

16

Nach seiner Rückkehr aus der Kirche nahm Nechljudow mit den Tantchen die Osterspeisen ein, und um sich zu stärken, trank er nach der im Regiment angenommenen Gewohnheit Branntwein und Wein und ging in sein Zimmer, wo er sogleich in den Kleidern einschlief. Es weckte ihn ein Klopfen an der Thür. Er erkannte an dem Klopfen, daß es sie sei, und er erhob sich, die Augen reibend und sich reckend.

»Kathjuscha. bist Du’s? Komm herein,« sagte er, aufstehend.

Sie öffnete ein wenig die Thür.

»Man ruft Sie zum Essen,« sagte sie.

Sie war in demselben weißen Kleide, aber ohne die Bandschleife in den Haaren. Ihm in die Augen blickend, strahlte sie auf, als ab sie ihm etwas ungewöhnlich Freudiges erklärte.

»Ich gehe gleich,« antwortete er, indem er den Kamm nahm, um seine Haare zu kämmen.

Sie blieb einen Augenblick länger stehen. Er merkte das, warf den Kamm hin und begab sich zu ihr. Aber sie drehte sich in demselben Augenblick schnell um und ging mit ihren leichten und raschen Schritten auf dem gestreiften Teppich des Korridors hinaus.

»So ein Dummkopf bin ich,« sagte Nechljudow zu sich selbst, »warum denn habe ich sie nicht aufgehalten?« und er holte sie laufend im Korridor ein.

Was er von ihr wollte, wußte er selber nicht. Ihm schien es aber, daß er, als sie in das Zimmer zu ihm trat, etwas thun müßte, das alle in solchem Fall thun, daß er aber nicht gethan.

»Katjuscha, warte,« sagte er.

Sie blickte sich um.

»Was haben Sie?« sagte sie ein wenig zögernd.

»Nichts, nur…« Er wußte, wie in solchen Fällen alle Leute in seiner Lage handeln, und sich zwingend, faßte er Katjuscha um die Taille.

Sie blieb stehen und sah ihm in die Augen.

»Bitte nein, Dmitrij Iwanawitsch, bitte nein,« sagte sie bis zu Thränen errötend, und mit ihrer rauhen, kräftigen Hand entfernte sie den sie umfassenden Arm.

Nechljudow ließ sie los und wurde auf einen Augenblick nicht nur verlegen, sondern er fühlte sich beschämt und hatte Abscheu vor sich selbst. Er hätte sich glauben sollen, aber er begriff nicht, daß diese Verlegenheit, diese Scham die besten Gefühle seiner Seele waren, die sich zu äußern strebten; im Gegenteil! Ihm schien es, daß so die Dummheit in ihm spräche, und daß man so thun müsse, wie alle thun. Er halte sie noch einmal ein, umarmte sie wieder und küßte sie auf den Hals.

Dieser Kuß was schon nicht mehr solcher Art, wie jene zwei ersten Küsse: der eine, der unbewußte, hinter dem Syringenstrauch und der andere heute früh in der Kirche. Dieser war schrecklich, und sie empfand das.

»Was thun Sie denn?« schrie sie mit einer Stimme auf, als ob er etwas unendlich Kostbares unwiederbringlich zerstört habe, und sie lief im Trabe von ihm fort.

Es kam in das Speisezimmer. Die herausgeputzten Tantchen, der Doktor und eine Nachbarin standen bei dem Tisch mit den kalten Speisen, Alles war so gewöhnlich, aber in der Seele des Nechljudow war ein Sturm. Er verstand nichts von dem, war man zu ihm sprach, antwortete unpassend und dachte nur an Katjuscha, indem er sich die Empfindungen dieses letzten Kusses, als er sie in dem Korridor einholte, vergegenwärtigte. An nichte anderes konnte er denken. Wenn sie in das Zimmer trat, so fühlte er ihre Gegenwart, ohne sie anzusehen mit seinem ganzen Wesen, und er mußte Anstrengungen machen, um sie nicht anzusehen.

Nach dem Mittagessen begab er sich sogleich in sein Zimmer und ging darin lange hin und her in großer Aufregung, indem er aufmerksam auf alle Töne horchte und ihre Schritte erwartete. Jener animalische Mensch, der in ihm wohnte, erhob jetzt nicht nur sein Haupt, sondern er trat unter seine Füße den geistigen Menschen, welcher er bei seiner ersten Ankunft und sogar noch heute früh in der Kirche gewesen, und dieser fürchterliche animalische Mensch beherrschte jetzt allein seine Seele. Trotzdem Nechljudow nicht aufhörte, auf Katjuscha zu lauern, gelang es ihm doch kein einziges Mal an diesem Tage, sie unter vier Augen zu treffen. Es ist wahrscheinlich, daß sie ihn mied. Aber gegen Abend trug es sich zu, daß sie in das Zimmer neben dem, welches er einnahm, gehen mußte. Der Doktor wollte hier über Nacht bleiben, und sie mußte für den Gast das Bett herrichten. Nechljudow, als er ihre Schritte vernahm, kam mit leisen Tritten und den Atem anhaltend, als ob er ein Verbrechen beabsichtigte, ihr nach hinein.

Indem sie mit beiden, in den frischen Ueberzug gesteckten Händen das Kissen an den Ecken hielt, blickte sie sich nach ihm um und lächelte, aber es war kein fröhliches und freudiges, wie früher, sondern ein erschrockenes und bedauerndes Lächeln. Dieses Lächeln sagte ihm, wie es schien, daß das, was er thue, schlecht sei. Er blieb auf eine Minute stehen.

Jetzt war die Möglichkeit des Kampfes noch vorhanden. Wenn auch schwach, war doch die Stimme der wahren Liebe zu ihr hörbar, die ihm von ihr, von ihren Gefühlen, von ihrem Leben sprach. Die andere Stimme aber sagte: paß auf, du wirst dein Vergnügen, dein Glück versäumen. Und diese zweite Stimme übertönte die erste. Er trat entschieden an sie heran. Und das fürchterliche, unaufhaltsame, animalische Gefühl bemächtigte sich seiner.

Ohne sie aus seinen Umarmungen zu lassen, setzte Nechljudow sie auf das Bett und fühlend, daß man noch etwas thun müsse, ließ er sich neben ihr nieder.

»Dmitrij Iwanowitsch, Lieber, lassen Sie mich, bitte« — sprach sie mit kläglicher Stimme — »Matronja Pawlowna kommt!« schrie sie auf, sich losreißend, und wirklich näherte jemand sich der Thüre.

»Ich komme also nachts zu Dir,« sagte Nechljudow. »Du bist ja allein?«

»Was denken Sie? Um nichts in der Welt. — Bitte nein,« sprach sie nur mit den Lippen, ihr ganzes aufgeregtes, verwirrtes Wesen aber sprach etwas anderes. Die an die Thür Gekommene war wirklich Matrjona Pawlowna. Sie trat in das Zimmer mit der Bettdecke in der Hand, sie blickte vorwurfsvoll auf den Nechljudow und verwies der Katjuscha ärgerlich, daß sie nicht die richtige Decke genommen habe.

Nechljudow ging schweigend hinaus. Er schämte sich nicht einmal. Er sah an dem Gesichtsausdruck der Matrjona Pawlowna, daß sie ihn mißbilligte, und daß sie recht hatte, ihn zu mißbilligen, er mußte, daß das, was er thue, schlecht sei; aber das animalische Gefühl, welches sich von dem früheren Gefühl der guten Liebe zu ihr losgemacht, hatte sich seiner bemächtigt und herrschte allein, ohne etwas anderes anzuerkennen. Er wußte jetzt, was für die Befriedigung des Gefühls zu thun sei, und suchte das Mittel dazu aus.

Den ganzen Abend war er außer sich, bald kam er zu den Tantchen, bald ging er von ihnen zu sich und auf den Flur und dachte einzig darüber nach, wie er sie allein sehen könne; aber sie mied ihn, und Matrjona Pawlowna bemühte sich, sie nicht aus den Augen zu lassen.

17

So verging der ganze Abend, und es kam die Nacht. Der Doktor ging schlafen. Die Tantchen legten sich auch zu Bette, Nechljudow wußte, daß Matrjona Pawlowna jetzt im Schlafzimmer bei den Tantchen sei, und daß Katjuscha allein in dem Mädchenzimmer bleibe. Er ging wieder in den Flur hinaus. Draußen war es dunkel, feucht, warm, und der weiße Nebel, welcher im Frühling den letzten Schnee wegtreibt, ober welcher sich von dem schmelzenden letzten Schnee verbreitet, erfüllte die ganze Luft. Van dem Flusse, der hundert Schritte entfernt unter dem Abhang vor dem Hause floß, waren seltsame Töne hörbar; das Eis ging auf.

Nechljudow stieg die Treppe hinunter, und über die Pfützen auf dem zu Eis gefrorenen Schnee schreitend, ging er zu dem Fenster des Mädchenzimmers herum. Sein Herz klopfte in der Brust so sehs, daß er es hörte; der Atem wurde ihm bald benommen, bald löste er sich in einem schweren Seufzer. In dem Mädchenzimmer brannte eine kleine Lampe, Katjuscha saß beim Tisch, allein, in Nachdenken versunken und sah vor sich hin. Nechljudow betrachtete sie lange, ohne sich zu rühren, er wollte erfahren, was sie thue, während sie glaubte, daß niemand sie sehe. Eiwa zwei Minuten saß sie regungslos, dann erhob sie die Augen, lächelte, schüttelte, wie im Selbstvorwurf, den Kopf und, ihre Lage ändernd, legte sie stürmisch beide Arme auf den Tisch und richtete ihre Augen in den Raum vor sich.

Er stand und sah sie an, und unwillkürlich horchte er zugleich auf daß Klopfen seines Herzens und auf die seltsamen Töne, welche von dem Flusse kamen. Dort auf dem Flusse im Nebel ging irgend welche rastlose, langsame Arbeit vor sich, und bald schnaubte, bald krachte erwas, bald schüttete es sich ab, bald klangen die dünnen Eisschollen wie Glas.

Er stand, sah auf das nachdenkliche, durch die innere Arbeit gequälte Gesicht der Katjuscha und bedauerte sie, dieses Bedauern aber verstärkte nur seltsamerweise seine Begierde nach ihr. Das Verlangen beberrschte ihn ganz.

Er klopfte an das Fenster. Sie erzitterte am ganzen Körper, wie von einem elektrischen Schlag, und Entsetzen zeigte sich auf ihrem Gesichte. Dann sprang sie auf, kam zum Fenster und näherte ihr Gesicht der Glasscheibe. Der Ausdruck des Entsetzens verließ ihr Gesicht auch dann nicht, als sie, nachdem sie die beiden Handflächen wie Scheuklappen an die Augen gesetzt, ihn erkannte. Ihr Gesicht war ungewöhnlich ernst: er hatte es nie so gesehen. Sie lächelte erst dann, als et lächelte; sie lächelte, als ab sie sich nur ihm unterwürfe, in ihrer Seele aber war kein Lächeln, dort war Angst. Er gab ihr mit der Hand ein Zeichen, indem er sie zu sich auf den Hof kommen hieß. Aber sie schüttelte den Kopf; nein, sie wollte nicht hinausgehen; sie blieb beim Fenster stehen. Er näherte sein Gesicht noch einmal der Glasscheibe und wollte ihr rufen, daß sie herauskommen solle, aber sie wandte sich in dieser Zeit zur Thür um. Jemand hatte sie augenscheinlich gerufen. Nechljudow entfernte sich vom Fenster. Der Nebel war so schwer, daß man in der Entfernung von fünf Schritten vom Hause die Fenster nicht mehr sehen konnte; und sichtbar war nur eine schwarze Masse, aus welcher daß rote, ungeheuer groß erscheinende Licht der Lampe leuchtete. Auf dem Flusse ging immer dasselbe seltsame Schnauben, Rauschen, Krachen und Klingen des Eises vor sich. Nicht weit, aus dem Nebel auf dem Hofe schrie ein Hahn, ihm antwoerteten in der Nähe die anderen, und aus der Ferne vom Dorfe ließen sich einander übertönende und in eins verschmelzende Hahnenrufe hören. Alles übrige aber rund herum, außer dem Flusse, war vollkommen still. Dies war schon der zweite Hahnenruf.

Nachdem Nechljudow hinter der Hausecke ein paarmal hin und her gegangen und einige Male mit dem Fuße in die Pfütze geraten, kam er wieder zum Fenster des Mädchenzimmers. Die Lampe brannte noch immer, und Katjuscha saß wieder allein am Tische, als ab sie in Unentschlossenheit wäre. Kaum war er an daß Fenster gekommen, als sie auf ihn blickte. Er klopfte, Und ohne genau hinzusehen, wer klopfte, lief sie sogleich aus dem Mädchenzimmer hinaus, und er hörte, wie die Ausgangsthür sich wie mit einem Schmatzen ablöste und dann knarrte. Er erwartete sie schon an der Freitreppe und umarmte sie sogleich schweigend. Sie schmiegte sich an ihn, hob ihren Kopf empor und empfing mit den Lippen seinen Kuß. Sie standen hinter der Flurecke auf einer aufgetauten, trockenen Stelle, er war voll von quälendem, unbefriedigtem Verlangen. Plötzlich schmatzte die Ausgangsthür wieder ebenso, sie knarrte mit demselben Ton, und es ließ sich die ärgerliche Stimme der Matrjona Pawlowna hören: »Katjuscha!«

Sie riß sich von ihm los und kehrte in das Mädchenzimmer zurück. Er hörte, wie die Thürangel zugeschlagen ward. Gleich danach wurde alles still; das rote Auge verschwand aus dem Fenster; es blieb allein der Nebel und das Treiben auf dem Fluß. Nechljudow kam zum Fenster; es war niemand zu sehen. Er klopfte; nichts bekam er zur Antwort. Er kehrte durch den Hauptflur in das Haus zurück, aber er schlief nicht ein. Er zog seine Stiefel aus und ging barfuß durch den Korridor zu ihrer Thür, neben dem Zimmer der Matrjona Pawlowna. Anfangs hörte er, wie ruhig Matrjona Pawlowna schnarchte, und er wollte schon eintreten, aber plötzlich fing sie an zu husten und drehte sich auf dem knarrenden Bette um. Er erstarrte, und blieb so etwa fünf Minuten lang stehen. Als alles wieder still wurde und wieder ruhiges Schnarchen hörbar ward, ging er weiter, indem er sich bemühte, auf die Dielenbretter zu treten, welche nicht knarrten, und er kam dicht an ihre Thür. Es war alles still, sie schlief augenscheinlich nicht, weil ihr Atem nicht hörbar war. Kaum hatte er geflüstert: »Katjuscha!«, so sprang sie auf, kam an die Thür heran, und ärgerlich, wie es ihm schien fing sie an, ihn zu bereden, wegzugeben.

»Was soll das heißen? Nun schickt sich das? Die Tantchen werden es hören,« sagten ihre Lippen, ihr ganzes Wesen aber sagte: »ich bin ganz Dein.« Und dies nur verstand Nechljudow.

»Nun, auf einen Augenblick mach auf. Ich flehe zu Dir,« sprach er, sinnlose Worte. Sie wurde still, dann hörte er das Geräusch der Hand, die die Thürangel suchte. Die Thürangel knackte, und er drang durch die offene Thür.

Er packte sie, so wie sie im groben, tauben Hemd mit entblößten Armen war, er hob sie auf und trug sie.

»Ach, was machen Sie?« flüsterte sie. Aber er gab nicht Acht auf ihre Worte und trug sie zu sich.

»Ach, bitte nein, lassen Sie,« sprach sie, sie selber aber schmiegte sich an ihn — — — — —

Nachdem sie, die Zitternde und Schweigende, ohne auf seine Reden zu antworten, von ihm weggegangen war, ging er auf die Treppe hinaus und blieb stehen, indem er sich bemühte, die Bedeutung alles dessen zu begreifen, was geschehen war.

Auf dem Hofe war es heller; das Krachen und Klingen und Schnauben unten auf dem Flusse verstärkte sich noch, und zu den früheren Tönen gesellte sich nach ein Rieseln. Der Nebel fing an, sich niederzulassen, und hinter der Nebelwand schmamm der abnehmende Mond hervor und beleuchtete etwas Schwarzes und Schreckliches.

»Was ist denn das? Ist mir ein großes Glück oder ein großes Unglück begegnet?« fragte er sich. »Immer geht es so, alle thun so,« sagte er zu sich und ging schlafen.

18

Am anderen Tage kehrte der glänzende, lustige Schenbock bei den Tantchen ein, um Nechljudow abzuholen, und er nahm sie durch seine Eleganz, durch seine Liebenswürdigkeit, Lustigkeit, Freigebigkeit und Liebe zu Dmitrij vollstündig gefangen. Obgleich seine Freigebigkeit den Tantchen sehr gefiel, versetzte sie sie durch ihre Uebertriebenheit in ein gewisses Bedenken. Den blinden Bettlern, die angekommen waren, gab er einen Rubel. Der Dienerschaft verteilte er als Trinkgeld fünfzehn Rubel; und als Sfüsetka, dab Schoßhündchen der Sophia Iwanowna, sich in seiner Gegenwart einen Fuß blutig abschindete, bot er sich an, ihr einen Verband anzulegen, und ohne sich einen Augenblick zu besinnen, zerriß er sein Battistschnupftuch mit den Randstreifchen, (Sophia Iwanowna wußte, daß solche Taschentücher nicht weniger als fünfzehn Rubel per Dutzend kosten) und machte daraus die Binden für Sfüsetka. Die Tantchen hatten nach nie solche Leute gesehen und wußten nicht, daß dieser Schenback zweihunderttausend Rubel Schulden hatte, welche nie bezahlt werden würden, und er wußte, daß fünfundzwanzig Rubel mehr aber weniger deswegen für ihn keinen Unterschied machten. Schenback blieb nur einen Tag, und in der folgenden Nacht reiste er mit dem Nechljudow zusammen ab. Sie konnten nicht länger bleiben, weil der letzte Termin für ihr Erscheinen beim Regiment angebrochen war. Während dieses letzten bei den Tantchen zugebrachten Tages, wo die Erinnerung an die Nacht frich war, erhoben sich und kämpften mit einander zwei Gefühle in der Seele des Nechljudow; das eine — die brennenden sinnlichen Erinnerungen an die animalische Liebe, obgleich sie bei weitem nicht das gegeben, was sie versprochen, und eine gewisse Selbstzufriedenheit wegen des erreichten Zwecks; das andere — das Bewußtsein dessen, daß von ihm etwas sehr Böses gethan worden, daß man dieses Böse wieder gut machen müsse und zwar gut machen nicht ihrerwegen, sondern für sich seldst.

In jenem Zustand der Egoismusverrücktheit, in welchem er sich befand, dachte Nechljudow nur über sich selber nach, darüber, ob man ihn tadeln würde und inwiefern, wenn man davon erführe, wie er gegen sie gehandelt habe, und nicht darüber, was sie empfindet, und was mit ihr sein wird.

Er dachte, daß Schendock sein Verhältnis zu Katjuscha errate, und dies schmeichelte seinor Eigenliebe.

»Aha, darum hast Du plötzlich Deine Tantchen so lieb gewonnen,« sagte ihm Schenhock, als er Katjuscha sah, »daß Du eine Woche bei ihnen verbringst. Aber ich würde an Deiner Stelle auch nicht wegfahren. Sie ist reizend!«

Er dachte auch noch darüber nach, daß, wenn es auch schade sei, jetzt wegzufahren, ohne die Liebe mit ihr vollkommen genossen zu haben, diese Notwendigkeit der Abreise deswegen vorteilhaft sei, weil sie mit einemmal die Beziehungen zerreiße, welche es schwer wäre, zu unterhalten. Auch darüber dachte er nach, daß man ihr Geld geben müsse, nicht ihretwegen, nicht darum, daß dieses Geld ihr nötig sein könne, sondern weil man immer so thut, und weil man ihn für einen unehrlichen Menschen halten würde, wenn er, nachdem er sie sich zu nutze gemacht hatte, dafür nicht bezahlen würde. Und er gab ihr Geld, so viel, wie er seiner und ihrer Lage für geziemend hielt.

Am Tage der Abreise, nach dem Mittagessen, wartete er sie im Flur ab. Sie errötete, als sie ihn sah, und wollte vorbeigehen, indem sie mit den Augen auf die offene Thür des Mädchenzimmers zeigte, aber er hielt sie zurück.

»Ich wollte Abschied nehmen,« sagte er, indem er ein Couvert mit einem Hundertrubelschein in seiner Hand zerknitterte, »hier, ich…«

Sie erriet, ihr Gesicht runzelte sich, sie schüttelte mit dem Kopf und stieß seine Hand weg.

»Nein, nimm,« murmelte er, steckte das Couvert ihr in den Busen, und als ob er sich verbrannt, lief er, stirnrunzelnd und stöhnend, in sein Zimmer. Und lange darauf ging er immer in seinem Zimmer auf und ab, und er krümmte sich und sprang sogar in die Höhe und ächzte laut, wie vor physischem Schmerz, sobald er sich dieser Scene erinnerte. — Aber was ist denn zu thun? Immer ist es so. So war es mit Schenbock und der Gouvernante, von welcher er erzählte; so war es mit dem Onkel Grischa, so war es mit dem Vater, als er im Dorfe lebte, und ihm wurde von einen Bäuerin jener uneheliche Sohn Mitenjka geboren, der noch jetzt lebt. Und wenn alle so thun, so muß man, folglich, so thun. So suchte er sich zu trösten, und doch konnte er sich durchaus nicht trösten. Diese Erinnerung brannte sein Gewissen.

In den Tiefe, in den tiefsten Tiefe seinen Seele, erkannte er, daß er scheußlich, gemein, grausam gehandelt hatte, daß er mit dem Bewußtsein dieser Handlung hinfort unmöglich — nicht nun seinerseits jemand mißbilligen könne, — sondern er könne sogar nicht den Leuten ins Gesicht sehen, geschweige denn sich für einen schönen, edlen, großmütigen jungen Mann halten, für welchen er sich bis jetzt gehalten: er mußte aber sich für einen solchen halten, um wie bisher munter und lustig weiter zu leben. Und dazu gab es nur ein einziges Mittel: nicht denken darüber. Und so that er auch.

Das Leben, in welchen er eintrat: die neuen Orte, die Kameraden, der Krieg — haben dazu geholfen. Und je länger er lebte, desto mehr vergaß er, und er hat es wirklich ganz vergessen.

Nur ein Mal, als er nach dem Kriege bei den Tantchen mit der Hoffnung, sie zu sehen, eingekehrt war und dabei erfuhr, daß Katjuscha nicht mehr da sei, daß sie bald nach seiner Abreise von ihnen fortgegangen sei, um zu gebären, daß sie irgendwo geboren habe, und wie die Tantchen gehört hatten, ganz verdorben sei, wurde ihm die Brust beklemmt. Der Zeit nach konnte das Kind, das sie geboren, sein Kind sein, aber es konnte auch nicht das seine sein. Die Tantchen sagten, daß sie verdorben sei, und daß sie eine lüderliche Natur, ebenso wie ihre Mutter gewesen wäre. Und dieses Urteil der Tantchen war ihm angenehm, weil es ihn scheinbar rechtfertigte. Anfangs wollte er dennoch sie und ihr Kind aufsuchen; nachher aber gab er sich nicht die nötige Mühe zu ihrer Auffindung, und gerade, weil es ihm in der Tiefe seiner Seele zu sehr weh that, und weil er sich zu sehr schämte vor sich selbst, darüber nachzudenken, so vergaß er noch mehr seine Sünde und hörte auf, daran zu denken.

Aber nun erinnerte ihn diese wunderbare Zufälligkeit an alles, und sie verlangte von ihm die Anerkennung seiner Herzlosigleit, Grausamkeit, Gemeinheit, welche es ihm unmöglich gemacht, diese zehn Jahre mit solcher Sünde auf dem Gewissen ruhig zu leben. Aber er war noch weit entfernt von solcher Anerkennung, und gegenwärtig dachte er nur darüber nach und fürchtete nur, daß man alles das jetzt erfahren, daß sie oder ihr Verteidiger alles erzählen und ihn vor allen in Schande bringen würde.

19

In solcher Gemütsverfassung war Nechljudow, seit er aus dem Gerichtssaal in das Geschworenenzimmer hinausgegangen. Er saß am Fester, hörte die Gespräche, die um ihn herum geführt wurden und rauchte ohne aufzuhören.

Der lustige Kaufmann fühlte, augenscheinlich, dem Kaufmann Smeljkow in seinem Zeitvertreib von ganzer Seele nach.

»Nun, Bruder, der hat aber ordentlich gelumpt, nach sibirischer Art; der wußte auch, wie Honig schmeckt: was für ein Mädel hat er für sich gewonnen!«

Der Obmann äußerte irgendwelche Erwägungen, daß die Untersuchung durch die Sachverständigen die Hauptsache sei. Peter Gerassimowitsch scherzte ein wenig mit dem Kommis, dem Juden, und sie fingen an, über etwas zu lachen. Nechljudow antwortete auf die an ihn gerichteten Fragen einsilbig; er wünschte nur eins, — daß man ihn in Ruhe lasse.

Als der Gerichtskommissär mit dem schiefen Gang die Geschworenen wieder in den Saal einlud, empfand Nechljudow eine Angst, als ob nicht er zu richten gehe, sondern als ob man ihn selbst vor Gericht führe. In der Tiefe seiner Seele fühlte er schon, daß er ein Taugenichts sei, welcher sich schämen müsse, den Leuten ins Gesicht zu sehen; inzwischen aber kam er auf die Erhöhung mit, seiner Gewohnheit nach, selbstgewissen Bewegungen und setzte sich auf seinen Platz, als der zweite nach dem Obmann, legte ein Bein über das andere und spielte mit dem Zwicker.

Die Angeklagten hatte man auch irgend wo hinaus geführt, und eben führte man sie wieder herein.

Im Saale waren neue Personen — die Zeugen, und Nechljudow bemerkte, daß die Maslowa einige Male hin sah, als ob sie ihren Blick von einer sehr herausgeputzten, dicken Frau in Sammt und Seide, nicht abwenden könne, die in hohem Hut mit großer Schleife und mit einem eleganten Ridikül auf dem die zum Ellbogen nackten Arm in der ersten Reihe vor der Barriere saß. Das war, wie er nachher erfuhr, eine Zeugin, die Wirtin der Anstalt, in welcher die Maslowa gewohnt hatte.

Es begann das Verhör der Zeugen: Name, Konfession und so weiter. Dann, nach Befragung der Parteien, wie sie verhören wollten, ob vereidigt oder nicht, kam, wieder mit Mühe die Beine bewegend, derselbe alte Priester, und wieder ebenso das goldene Kreuz auf der seidenen Brust zurecht legend, nahm er mit derselben Ruhe und Ueberzeugung, daß er eine vollständig nützliche und wichtige Sache thue, den Zeugen und dem Experten den Eid ab.

Als die Eidesleistung zu Ende war, führte man alle Zeugen weg, und nur eine hieß man bleiben, nämlich die Kitajewa, die Wirtin der Toleranzhauses. Man befragte sie darüber, was sie von dieser Sache wisse. Die Kitajewa erzählte es mit affektiertem Lächeln und deutschem Accent ausführlich und zusammenhängend, indem sie bei jeder Phrase mit dem Kopf in den Hut tauchte. Erstlich mal kam in ihre Anstalt der bekannte Korridordiener Simon angefahren, um ein Mädchen für einen reichen sibirischen Laufmann zu holen. Sie schickte Ljubascha mit. Nach einiger Zeit kehrte Ljubascha mit dem Kaufmann zusammen zurück. »Der Kaufmann war schon in Extase,« sprach die Kitajewa, leicht lächelnd, »auch bei uns fuhr er fort zu trinken und die Mädchen zu bewirten; aber da sein Geld nicht ausreichte, so schickte er in sein Zimmer dieselbe Ljudascha, für welche er eine ‘Prediletzierung’ gefaßt.« sagte sie mit einem Blick auf die Angeklagte.

Dem Nechljudow schien es, daß die Maslowa dazu lächelte, und dieses Lächeln kam ihm widerwärtig vor. Ein seltsames unbestimmtes Gefühl der Ekels, gemischt mit Mitleid, erhob sich in ihm.

»Und welche Meinung haben Sie von der Maslowa gehabt?« fragte errötend und zaghaft der vom Gericht ernannte Vergteidiger der Maslowa, ein Gerichtsamtskandidat.

»Den allerbesten,« antwortete die Kitajewa, »das Mädchen ist gebildet und chikvoll. Sie wurde in gute Familie erzogen und konnte französisch lesen. Sie trank manches Mal bißchen viel, aber nie nich vergaß sie sich. Ein ganz gut’ Mädel.« —

Katjuscha sah auf die Wirtin, dann aber wendete sie plötzlich die Augen auf die Geschworenen, ließ sie auf dem Nechljudow ruhen, und ihr Gesicht wurde ernst und sogar streng. Das eine ihrer strengen Augen schielte. Ziemlich lange waren auf den Nechljudow diese zwei seltsam sehenden Augen gerichtet, und trotz der Furcht, die ihn ergriff, konnte er seinen Blick nicht von diesen schielenden Augen mit dem hellen Weiß abwenden. Ihm kam jene furchtbare Nacht in den Sinn mit dem aufgehenden Eis, mit dem Nebel und hauptsächlich mit jenem abnehmenden, umgekehrten Mond, der gegen Morgen aufging und etwas Schwarzes und Fürchterliches beleuchtete. Diese zwei schwarzen Augen, welche auf ihn und an ihm vorbeisahen, erinnerten ihn an dieses schwarze und fürchterliche Etwas.

»Sie hat mich erkannt,« dachte er. Und Nechljudow zog sich gleichsam zusammen, einen Schlag erwartend. Aber sie erkannte ihn nicht. Sie seufzte ruhig, und wieder begann sie den Vorsitzenden anzusehen. Nechljudow seufzte auch. ’Ach, wenn es doch nur schneller aus wäre,’ dachte er. Er empfand jetzt ein Gefühl, ähnlich dem, welches er auf der Jagd gewöhnlich hatte, wenn es ihm zukam, einen verwundeten Vogel zu Tode zu schlagen, — es ist eklig und bedauerlich und ärgerlich. Der nicht ganz getötete Vogel schlägt sich in der Jagdtasche, — es ist widrig, und es thut einem leid, und man möchte ihn bälder zu Tode schlagen und vergessen.

Ein solch gemischtes Gefühl empfand jetzt Nechljudow, indem er dem Verhör der Zeugen zuhörte.

20

Aber gleichsam ihm zum Trotz dauerte die Verhandlung lange; nach dem Verhör den einzelnen Zeugen und des Experten, und nach allen, wie gewöhnlich mit bedeutsamem Aussehen gestellten, unnötigen Fragen von seiten des Staatsanwalts und von seiten der Verteidiger, schlug der Vorsitzende den Geschworenen vor, die corpora delitci zu besichtigen, die aus einem Fingerring von ungeheuren Dimensionen mit einer Rosette von Brillanten, der augenscheinlich an dem dicksten Zeigefinger gesteckt hatte, und aus einem Filter, auf welchem das Gift untersucht worden, bestanden Die Sachen waren versiegelt und mit Etiketten versehen.

Die Geschworenen waren schon im Begriff, diese Gegenstände zu betrachten, als der Staatsawalt sich wieder erhob und verlangte, vor der Besichtigung der corpora delicti die medizinische Untersuchung des Leichnams zu verlesen.

Der Vorsitzende, der die Verhandlung möglichst schnell vorwärts jagte, um bei Zeiten zu seiner Schweizerin zu kommen, konnte dies dennoch nicht veweigern, und er gab seine Bewilligung, obgleich er sehr gut wußte, daß die Verlesung dieser Akte keine andere Folge haben konnte als Langeweile und die Hinausschiebung des Mittagessens, und daß der Staatsanwalt nur darum diese Verlesung verlange, weil er wußte, daß er sie zu verlangen ein Recht habe. Der Sekretär nahm die Akten und fing wieder an mit seiner traurigen, bei den Buchstaben L und R schnarrenden Stimme zu lesen.

Bei der äußeren Besichtigung ergab sich, daß:

Der Wuchs des Therapont Smeljkow 2 Arschin 12 Werschock war.

»Aber, aber der Mann war stark,« flüsterte besorglich der Kaufmann dem Nechljudow ins Ohr.

Sein Alter ist dem äußeren Aussehen nach auf ungefähr vierzig Jahre zu bestimmen.

Der Leichnam sah aufgedunsen aus.

Die Farbe der Haut ist überall grünlich und stellenweise mit dunklen Fleckchen besprenkelt.

Die Epidermis auf der Körperoberfläche hob sich in Blasen von verschiedener Größe ab, stellenweise aber löste sie sich und hing in der Art wie große Lappen.

Die Haare sind dunkelbraun, sie lösen sich leicht bei der Berührung von der Haut.

Die Augen sind aus den Orbiten hervorgetreten, und die Hornhaut ist trübe geworden.

Aue den Nasenöffnungen, und den beiden Ohren fließt eine schäumende blutig-eiterige Flüssigkeit, der Mund ist hald geöffnet.

Den Hals sicht man fast gar nicht, infolge der Aufblähung des Gesichtes und der Brust.

u. s. w., u. s. w.

Auf diese Weise folgte auf vier Seiten und in 27 Punkten die Beschreibung aller Einzelheiten des äußeren Befundes des schrecklichen, ungeheuer großen, dicken und noch angeschwollenen Leichnams des Kaufmanns, der sich in der Stadt lustig gemacht. Das Gefühl unbestimmten Ekels, welches Nechljudow empfand, wurde bei dem Vorlesen dieser Beschreibung des Leichnams noch verstärkt. Das Leben der Katjuscha, und der aus den Nasenlöchern fließende Bluteiter, und die aus den Orbiten hervorgetretenen Augen, und sein Betragen gegen sie, alles das, schien ihm, waren Gegenstände einer und derselben Ordnung. Und er war von allen Seiten von diesen Gegenständen umgeben und absorbiert. Als endlich das Verlesen des äußeren Befundes beendet war, seufzte der Vorsitzende schwer und hob seinen Kopf empor, voller Hoffnung, daß die Sache zu Ende sei, aber der Sekretär fing sogleich an, die Beschreibung der inneren Untersuchung zu lesen.

Der Vorsitzende ließ seinen Kopf wieder hängen, und ihn mit der Hand stützend, machte er seine Augen zu. Der Kaufmann, der neben dem Nechljudow saß, konnte sich kaum des Schlafes erwehren und schwankte hie und da; die Angeklagten saßen, ebenso wie die Gendarmen hinter ihnen, unbeweglich.

Bei der inneren Untersuchung ergab sich, daß:

Die häutigen Schädeldecken sich leicht von den Schädelknochen ablösten, und daß keine Blutmäler irgend wo konstatiert worden.

Die Schädelknochen sind von mittlerer Dicke und unversehrt.

Auf der harten Hirnhaut sind zwei nicht große pigmentierte Flecken — ungefähr vier Zoll groß — vorhanden, die Hirnhaut selbst erscheint von bleich-matter Farbe u. s. w. u. s. w. noch 18 Punkte.

Weiter folgten die Namen der Zeugen, die Unterschriften und darauf die Schlußfolgerung des Arztes, aus welcher ersichtlich war, daß die bei der Obduktion vorgefundenen und im Protokoll eingertagenen Veränderungen im Magen und teilweise im Darm und in den Nieren daß Recht geben, mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit zu schließen, daß der Tod Smeljkows durch Vergiftung erfolgte, mit einem Gift, das ihm in den Magen zugleich mit den Spirituosen geraten; — was für ein Gift in den Magen eingeführt worden, ist schwer zu sagen, den im Magen und im Darm vorhandenen Veränderungen nach; daß das Gift aber mit Spirituosen in den Magen geraten, muß man daher annehmen, weil im Magen des Smeljkow eine große Quantität Spirituosen vorgefunden worden.

»Der, scheint’s, verstand sich aufs Trinken;« flüsterte wieder der zu sich gekommene Kaufmann.

Das Vorlesen dieses Protokolls, das cirka eine Stunde dauerte, stellte den Staatsanwalt dennoch nicht zufrieden. Nachdem das Protokoll zu Ende gelesen, wandte sich der Vorsitzende an ihn:

»Ich glaube, daß es überflüssig ist, die Akten über die Eingeweideuntersuchung zu lesen.«

»Ich möchte bitten, auch diese Untersuchung zu verlesen,« sagte der Staataantoalt streng, ohne auf den Vorsitzenden zu sehen; dahei erhob er sich ein wenig schief und gab durch den Ton seiner Stimme zu verstehen, daß das Verlangen dieses Verlesens sein Recht sei, und daß er dieses Recht nicht preisgeben werde, und daß die Nichtbewilligung ein Grund zur Kassation sein würde.

Das Gerichtsmitglied mit dem großen Bart und den guten, nach unten gezogenen Augen, das an Katarrh litt, wandte sich an den Vorsitzenden, weil es sich sehr geschwächt fühlte.

»Und wozu braucht man das zu lesen? Man zieht nur die Sache in die Länge. Diese neuen Besen kehren nicht besser, sondern länger.« —

Das Mitglied mit der goldenen Brille sagte nichts; es sah aber finster und entschieden vor sich bin, indem es weder von seiner Frau nach vom Leben etwas Gutes erwartete.

Das Verlesen der Akte begann:

»Im Jahre 18.., am 15. Februar habe ich, Unterzeichneter, im Auftrage der medizinischen Abteilung unter der Nr. 688,« fing der Sekretär mit Entschlossenheit an, indem er die Stimme erhöhte, als ob er den alle Anwesenden niederdrückenden Schlaf vertreiben wolle, »in Anwesenheit des medizinischen Unterinspektors eine Untersuchung der Eingeweide angestellt:

Der rechten Lunge und des Herzens (in einem sechspfündigen Glas).

Des Mageninhalts (in einem sechspfündigen Glas).

Des Magens selbst (in einem sechspfündigen Glas).

Der Leber, der Milz und der Nieren (in einem dreipfündigen Glas).

Der Gedärme (in einem sechspfündigem Thongefäß).

« Der Vorsitzende beugte sich im Beginn der Vorlesung zu einem der Mitglieder und flüsterte etwas, dann zu einem anderen, und nachdem er eine bejahende Antwort bekommen, unterbrach er die Vorlesung an dieser Stelle.

»Das Gericht erklärt das Verlesen der Akte für überflüssig,« sagte er.

Der Sekretär verstummte, indem er die Papiere zusammenlegte. Der Staatsanwalt fing zornig an, etwas aufzuschreiben.

»Die Herren Geschworenen können die corpora delicti besichtigen,« sagte der Vorsitzende.

Der Obmann und einige der Geschworenen erhoben sich und kamen, voller Verlegenheit wegen der Bewegungen oder der Lage, welche sie ihren Händen geben sollten, an den Tisch und betrachteten nach der Reihe den Fingerring, das Gläschen und den Filter. Der Kaufmann probierte sogar den Fingerring auf seinem Finger an.

»Ja, das war ein Finger,« sagte er, nachdem er auf seinen Platz zurückgekehrt war. »Wie eine gute Gurke,« fügte er hinzu, sich augenscheinlich ergötzend an der Vorstellung eines Recken gleichsam, die er sich von dem vergifteten Kaufmann gebildet hatte.

21

Als die Besichtigung der corpora delicti beendigt war, erklärte der Vorsitzende die gerichtliche Untersuchung für geschlossen, und ohne Unterbrechung, weil er mit der Sache bälder zu Ende sein wollte, überließ er das Wort dem öffentlichen Ankläger, voller Hoffnung, daß derselbe auch ein Mensch sei, und Lust habe zu rauchen und zu Mittag zu essen, und daß er mit ihnen Erbarmen haben werde. Aber der Staatsanwalt erbarmte sich weder seiner selbst noch ihrer. Der Staatsanwalt wahr von Natur sehr dumm, aber außerdem hatte er das Unglück gehabt, das Gymnasium mit der goldenen Medaille zu absolvieren und in der Universität einen Preis für seine Arbeit über die Servitute, nach dem römichen Recht, zu erhalten; deswegen war er im höchsten Grade selbstvertrauend und selbstzufrieden, (was seine Erfolge bei den Damen noch mehr begünstigten) und also war er außerordenlich dumm. Als ihm das Wort überlassen worden, richtete er sich langsam auf, indem er seine graziöse Figur in der gestickten Uniform hervortreten ließ, und beide Hände auf dem Schreibpult, und leicht den Kopf neigend, sah er sich im Saal um, wobei er die Blicke der Angeklagten mied, und fing an:

»Die Thatsache, welche Ihnen, meine Herren Geschworenen, vorliegt,« begann er seine, während der Vorlesung der Protokolle und der Akten vorbereiteten Rede, »ist, wenn man sich so ausdrücken darf, ein charakteristisches Verbrechen.«

Die Rede des Staatsanwaltes sollte seiner Meinung nach eine soziale Bedeutung haben, ähnlich jenen berühmten Reden, welche die berühmt gewordenen Advokaten gehalten hatten. Es ist war, daß unter der Zahl der Zuschauer nur drei Frauen waren: eine Schneiderin, eine Köchin und die Schwester des Simon, dann noch ein Kutscher, aber das bedeutete nichts. Auch jene Berühmtheiten fingen so an. Die Regel aber des Staatsanwalts bestand darin, daß er immer auf der Höhe der Situation sein sollte, d. h. er sollte in die Tiefe der psychologischen Bedeutung des Verbrechens eindringen und die Wunden der Gesellschaft bloßlegen.

»Sie sehen vor sich, meine Herren Geschworenen, wenn man sich so ausdrücken darf, ein charakteristisches Verbrechen, fin du siècle, das an sich die, so zu sagen, spezifischen Züge dieser traurigen Erscheinung der Auflösung trägt, welcher in unserer Zeit jene Elemente unserer Gesellschaft unterliegen, die sich unter den besonders, so zu sagen, brennenden Strahlen dieses Prozesses befinden…«

Der Staatsanwalt sprach sehr lange, einerseits sich bemühend, sich aller jener klugen Sachen zu erinnern, welche er zuvor erdacht hatte, andererseits, und das war die Hauptsache, sich Mühe gebend, nicht einmal für einen Augenblick stecken zu bleiben, und so zu machen, daß seine Rede sich, ohne zu verstummen, während fünf Viertelstunden ergoß. Nur ein Mal blieb er stecken und ziemlich lange schluckte er Speichel, aber dann was er damit fertig und holte diese Verzögerung durch verstärkte Beredtsamkeit nach. Er sprach bald mit zarter, einschmeichelnder Stimme, von einem Fuß auf den anderen tretend und auf die Geschworenen sehend, bald in ruhigem, geschäftsmäßigem Ton, in sein Heft blickend, bald mit lauter überführender Stimme, indem er sich dann an die Zuschauer, dann an die Geschworenen wandte. Nur auf die Angeklagten, die ihn mit den Augen verschlangen, blickte er kein einziges Mal. In seiner Rede war alles Allerletzte, was damals in seinem Kreise im Gange war, und was für das letzte Wort der wissenschaftlichen Weisheit galt und noch jetzt gilt. Es war darin die Vererbungstheorie und das angeborene Verbrechertum, und Lombroso und Tard und die Evolution und der Kampf ums Dasein und der Hypnotismus und die Suggestion, und Charcot und das Dekadententum.

Der Kaufmann Smeljkow war, nach der Definition des Staatsanwaltes, ein Typus des mächtigen, ungebrochenen russischen Menschen mit seiner breiten Natur, der infolge seiner Zutraulichkeit und seiner Großmut als Opfer der tief verdorbenen Persönlichkeiten gefallen, in deren Macht er geraten. Simon Kartinkin war das atavistische Produkt der Leibeigenschaft, ein verschüchterter Mensch, ohne Bildung, ohne Prinzipien, sogar ohne Religion. Euphemia war sein Schatz und ein Opfer der Verehrung. In ihr waren alle Merkmale einer degenerierenden Persönlichkeit zu bemerken. Die eigentliche treibende Kraft aber des Verbrechens war verkörpert in der Maslowa, die die Erscheinung des Dekadententums in seinen niedrigsten Vertretern darstellte. »Diese Frau hat,« sprach der Staatsanwalt, ohne auf sie zu sehen, »Bildung genossen, — wir haben hier vor dem Gericht die Aussagen ihrer Wirtin gehört. Sie versteht nicht nur zu lesen und zu schreiben, sondern sie kann auch französisch; sie ist eine Waise, die in sich wahrscheinlich die Keime des Verbrechens trägt; sie ward in einer intelligenten, adeligen Familie erzogen und hätte können von ehrlicher Arbeit leben; aber sie verläßt ihre Wohlthäter, ergiebt sich ihren Leidenschaften, und um dieselben zu befriedigen, tritt sie in das Toleranzhaus, wo sie sich vor ihren Genossinnen durch ihre Bildung auszeichnet, und hauptsächlich, wie Sie alle hier, meine Herren Geschworenen, von ihrer Wirtin gehört haben, durch die Fähigkeit, vermittelst jener geheimnisvollen, in letzter Zeit von der Wissenschaft besonders von der Schule Charcot’s erforschten Eigenschaft auf die Besucher einzuwirken, die unter dem Namen der Suggestion bekannt ist. Durch diese selbe Eigenschaft bemächtigt sie sich dieses russichen Recken, des gutmütigen, zutraulichen Sfadko,12 des reichen Gastes, und sie braucht sein Zutrauen dazu, um ihn erst zu bestehlen und nachher erbarmungslos des Lebens zu berauben.«

»Nun, das scheint mir schon zu weitläufig gefaselt,« sagte der Vorsitzende lächelnd, indem er sich zu dem strengen Gerichtsmitglied neigte.

»Ein fürchterlicher Dummkopf,« sagte das strenge Mitglied.

»Meine Herren Geschworenen,« fuhr inzwischen der Staatsanwalt fort, sich mit der schlanken Taille graziös schlängelnd, »in Ihrer Macht liegt das Schicksal dieser Personen, aber in Ihrer Macht liegt ja teilweise auch das Schicksal der Gesellschaft, auf welche Sie durch Ihr Urteil einwirken. Dringen Sie in die Bedeutung dieses Verbrechens ein, in die Gefahr, welche der Gesellschaft bevorsteht seitens solcher, so zu sagen, pathologischer Individuen wie es die Maslowa ist, und schützen Sie dieselbe vor der Ansteckung, schützen Sie die unschuldigen, kräftigen Elemente dieser Gesellschaft vor der Ansteckung und oft vor der Verderbnis.«

Und gleichsam selber von der Wichtigkeit des bevorstehenden Urteils erdrückt, ließ sich der Staatsanwalt auf seinen Stuhl nieder, augenscheinlich bis zum äußersten Grade von seiner Rede entzückt.

Der Sinn seiner Rede, abgesehen von den Blumen der Beredtsamkeit, war der, daß die Maslowa den Kaufmann hypnotisierte, indem sie sich in sein Vertrauen einschmeichelte, und als sie des Geldes wegen mit dem Kofferschlüssel angefahren kam, alles für sich selber nehmen wollte, aber, da sie von Simon und Euphemia überrascht worden, mit ihnen teilen mußte. Nachher aber, um die Spuren des Verbrechens zu verbergen, kam sie mit dem Kaufmann abermals in das Gasthaus gefahren, und dort vergiftete sie ihn.

Nach den Rede des Staatsanmaltes stand von der Advokatenbank ein Mann von mittlerem Alter auf, in einem Frack, mit dem breiten Halbzirkel der weißen gestärkten Brust, und er hielt flink eine Rede zur Verteidigung des Kartinkin und der Botschkowa. Das war den von ihnen für 300 Rubel gemietete vereidigte Rechtsanwalt. Er rechtfertigte sie beide, und die ganze Schuld schob er auf die Maslowa. Er verwarf die Aussage der Maslowa darüber, daß Botschkowa und Kartinkin mit ihr zusammen waren, als sie das Geld nahm, darauf bestehend, daß ihre Aussage, als die einer überführten Giftmischerin, kein Gewicht haben könne. Das Geld, 2500 Rubel, sagte den Advokat, könne von zwei arbeitsamen und redlichen Menschen, die manchmal an einem Tage drei bis fünf Rubel von den Besuchern bekamen, verdient worden sein. Das Geld des Kaufmannes ward von der Maslowa entwendet und jemandem übergeben, oder sogar verloren, weil sie nicht in normalem Zustand war. Die Vergiftung vollbrachte die Maslowa allein.

Darum bat er die Geschworenen, den Kantinkin und die Botschkowa der Entwendung für unschuldig anzuerkennen; wenn sie aber sie der Entwendung für schuldig anerkennen würden, so doch ohne Teilnahme an der Vergiftung und ohne vorgefaßte Absicht.

Zum Schluß bemerkte der Advokat mit einem Stich gegen den Staatsanwalt, daß die glänzenden Auseinandersetzungen des Herrn Staatsanwalts über die Vererbung, obschon sie die Frage den Vererbung wissenschaftlich erklären, in diesem Falle doch unpassend seien, weil die Botschkowa die Tochter unbekannter Eltern sei.

Der Staatsanwatn schrieb böse und gleichsam zähneknirschend etwas auf sein Papier und zuckte in verächtlicher Verwunderung die Achseln.

Darauf erhob sich der Verteidiger der Maslowa, und schüchtern, stotternd brachte er seine Verteidigungsrede vor.

Ohne abzuleugnen, daß die Maslowa an der Geldentwendung teilgenommen, bestand er nur darauf, daß sie keine Absicht gehabt, den Smeljkow zu vergiften, und daß sie ihm das Pulver gab, damit er einschliefe. Er wollte auch etwas Beredtsamkeit entwickeln, indem er eine Schilderung zu geben gedachte, wie die Maslowa von einem Mann ins Verderben hineingezogen worden, der straflos geblieben, während sie die ganze Schwere ihres Falles tragen mußte; aber dieser Exkurs in das Gebiet der Psychologie gelang ihm ganz und gar nicht, sodaß alle sich beschämt fühlten. Als er von der Grausamkeit der Männer und von der Hilflosigleit der Frauen muffelte, bat ihn der Vorsitzende, indem er seine Lage lindern wollte, sich näher an das Wesen der Sache zu halten.

Nach diesem Vergteidiger erhob sich wieder der Staatsanwalt und verteidigte seinen Satz über die Vererbung gegen den ersten Verteidiger damit, daß die Gewißheit der Vererbungslehre, wenn auch die Botschkowa die Tochter unbekannter Eltern sei, durch diesen Umstand nicht entkräftet werde, weil das Gesetz der Vererbung soweit von der Wissenschaft festgestellt sei, daß wir nicht nur aus der Vererbung das Verbrechen ableiten können, sondern auch die Vererbung aus dem Verbrechen. Was aber die Vorraussetzung des Verteidigers anbetrift, daß die Maslowa von einem erdichteten (das Wort »erdichteten« hat er besonders giftig gesagt) Verführer verdorben worden, so sprechen alle Data eher dafür, daß sie eine Verführerin vieler und vieler Opfer, die ihre Hände passiert hatten, war. Nachdem er das gesagt hatte, ließ er sich siegreich nieder.

Darauf wurde den Angeklagten vorgeschlagen, sich zu rechtfertigen.

Euphemia Botschkowa wiederholte, daß sie nichts wüßte und an nichts teilgenommen hätte, aber hartnäckig wies sie auf die Maslowa bin, als auf die Urheberin alles dessen. Simon hat nur einige Male wiederholt:

»Es steht bei Ihnen, aber nur schuldlos, umsonst.«

Die Maslowa aber sagte gar nichts.

Auf den Vorschlag des Vorsitzenden, das zu sagen, was sie zu ihrer Verteidigung anzuführen habe, hob sie nur die Augen zu ihm auf, blickte sich nach allen um, wie ein gehetztes Tier, und sogleich ließ sie die Blicke sinken und fing an zu weinen, laut und schluchzend.

»Was haben Sie?« fragte der Kaufmann der neben dem Nechljudow saß, als er den seltsamen Ton hörte, den plötzlich Nechljudow von sich gab. Dieser Ton war ein unterdrücktes Schluchzen. Nechljudow verstand noch immer nicht die ganze Bedeutung seiner gegenwärtigen Lage, und er schrieb das kaum verhaltene Schluchzen und die ihm in die Augen getretenen Thränen der Schwäche seiner Nerven zu. Er setzte den Zwicker auf, um die Thränen zu verbergen, dann nahm er das Taschentuch und fing an, die Nase zu schnäuzen.

Die Furcht vor der Schande, mit welcher er sich bedecken würde, wenn alle hier im Gerichtssaal seine That erführen, übertäubte die in ihm vor sich gehende innere Arbeit; diese Furcht war in dieser ersten Zeit das Gewaltigste von allem in ihm.

22

Nach dem letzten Worte der Angeklagten, und nach den Besprechungen der Parteien über die Form der Fragestellung, die noch ziemlich lange Zeit dauerten, waren die Fragen gestellt worden, und der Vorsitzende begann sein Résumé.

Vor der Darstellung des Thatbestandes erklärte er sehr lange den Geschworenen mit angenehmer, familiärer Intonation, daß Raub Raub sei, aber Diebstahl sei Diebstahl, und daß Entwendung aus einem verschlossenen Raum eine Entwendung aus einem verschlossenen Raume sei; Entwendung aber aus einem nicht verschlossenen Raum sei eine Entwendung aus einem nicht verschlossenen Raum. Und indem er das erklärte, blickte er besonders häufig auf den Nechljudow, als ob er vor allem wünschte, ihm diesen wichtigen Umstand beizubringen, in der Hoffnung, daß er, nachdem er ihn begriffen, ihn auch seinen Kollegen klar machen werde. Dann, als er annahm, daß die Geschworenen schon genug von diesen Wahrheiten durchdrungen wären, begann er eine andere Wahrheit darüber zu entwickeln, daß Todschlag eine Handlung heißt, durch welche der Tod eines Menschen erfolgt, daß Vergiftung daher auch ein Todschlag sei. Und als auch diese Wahrheit, seiner Meinung nach, von den Geschworenen aufgenommen worden, erklärte er ihnen, daß, wenn ein Diebstahl und ein Todschlag zusammen verübt worden sind, den Bestand des Verbrechens in diesem Falle ein Diebstahl und ein Todschlag ausmachen.

Trotzdem er selber Lust hatte, etwas früher mit der Sache fertig zu sein, und trotzdem die Schweizerin schon auf ihn wartete, war er an seine Veschäftigung so gewöhnt, daß er, als er einmal zu reden angefangen, schon nicht mehr aufhören konnte und daber die Geschworenen belehrte, daß sie das Recht haben, wenn sie die Angeklagten schuldig finden, sie für schuldig zu erklären; wenn sie sie aber unschuldig finden, so haben sie daß Recht, sie für unschuldig zu erklären; wenn sie aber sie des einen Verbrechens schuldig und des anderen unschuldig finden, so haben sie das Recht, sie der einen schuldig, der anderen aber unschuldig zu erklären. Darauf setzte er ihnen noch auseinander, daß sie, ungeachtet dieses Recht ihnen zuerkannt sei, von demselben in vernünftiger Weise Gebrauch machen müßten. Er wollte ihnen auch erklären, daß, wenn sie auf die gestellte Frage eine bejahende Antwort gäben, sie durch diese Antwort alles das, was in der Frage enthalten sei, anerkennen, und daß, wenn sie nicht alles, was in der Frage enthalten sei, anerkennen, sie eine Klausel machen müßten über das, was sie nicht anerkennten. Aber er blickte auf die Uhr und als er sah, daß es schon fünf Minuten weniger drei Uhr war, entschloß er sich, sogleich zur Darlegung des Thatbestandes überzugehen.

»Der Thatbestand dieser Sache ist folgender,« fing er an und wiederholte alles das, war schon mehrere Male gesagt worden, von den Vergteidigern sowohl, wie von dem Staatsanwalt und von den Zeugen.

Der Vorsitzende sprach, aber die Mitglieder zu seinen Seiten hörten ihn mit tiefsinnigem Ausdruck an und blickten hier und da auf die Uhr, indem sie seine Rede, obschon sehr gut, d. h. so, wie sie sein muß, aber etwas zu lang fanden. Eben solcher Meinung war auch der Staatsanwalt, wie überhaupt alle Gerichtsangehörigen und alle in dem Saal Anwesenden. Der Vorsitzende beendete seine Zusammenfassung.

Es schien, alles war gesagt worden. Aber der Vorsitzende konnte sich nicht von seinem Recht, zu sprechen, trennen — so angenehm war es ihm, die eindringlichen Intonationen seiner Stimme zu hören, — und er fand er nötig, nach einige Worte zu sagen von der Wichtigkeit jenes Rechts, welches den Geschworenen gegeben worden, darüber, wie sie es mit Aufmerksamkeit und Vorsicht benutzen und nicht mißbrauchen müssen, darüber, daß sie einen Eid geleistet haben, daß sie das Gewissen der Gesellschaft sind, und daß das Geheimnis des Beratungszimmers heilig sein muß u. s. w., u. s. w.

Seitdem der Vorsitzende zu sprechen angefangen, sah ihn die Maslowa an, ohne die Augen abzuwenden, als ob sie besorgte, ein Wort zu verlieren; darum fürchtete Nechljudow nicht, ihr mit den Augen zu begegnen und sah sie ohne Unterbrechung an. Und in seiner Vorstellung ging jene gewöhnliche Erscheinung vor sich, daß das seit langem nicht gesehene Gesicht einen geliebten Menschen, nachdem er zuerst mit seinen äußerlichen Veränderungen, welche während der Zeit der Abwesenheit stattgefunden haben, frappiert hatte, nach und nach wieder vollkommen dasselbe wird, wie es vor vielen Jahren gewesen; alle stattgefundenen Veränderungen verschwinden, und vor dem geistigen Auge tritt nur der Hauptausdruck der ausschließlichen, unwiederholbaren, geistigen Persönlichkeit hervor. Eben dasselbe ging im Nechljudow dar sich. —

Ja, trotz dem Arrestantenschlafrock, dem ganzen breiter gewordenen Körper, der ausgewachsenen Brust, trotz dem inzwischen auseinander gegangenen unteren Teil der Gesichtes, trotz den Fältchen auf der Stirn und an den Schläfen, und trotz den etwas angeschwollenen Augen — war das unzweifelhaft dieselbe Katjuscha, welche am Ostersonntag ihn, den von ihr geliebten Menschen, mit ihren verliebten, vor Freude und Fülle des Lebens lachenden Augen so unschuldig von unten nach oben angesehen.

‘Und ein so merkwürdiger Zufall. Und mußte es sich so treffen, daß der Prozeß gerade auf meine Session fällt; daß ich, ohne ihr seit zehn Jahren irgend wo zu begegnen, sie hier auf der Bank der Angeklagten treffe. Und womit wird das alles enden? Wäre es schneller, ach schneller zu Ende!’

Er unterwarf sich noch immer nicht jenem Gefühl der Reue, welches anfing, in ihm zu reden. Ihm deuchte, daß es ein Zufall sei, der vorübergehen werde, ohne sein Leben zu zerstören. Er fühlte sich in der Lage jenes Hündchens, das sich im Zimmer schlecht aufgeführt hat, und welches der Herr am Nacken packt mit mit der Nase in diejenige Abscheulichkeit, die es gemacht hat, hineinstößt. Das Hündchen winselt, zieht sich zurück, um möglichst weit von den Folgen seines Betragens wegzugehen, um sie zu vergessen, aber der unerbittliche Herr läßt es nicht fort. Ebenso fühlte auch Nechljudow die ganze Abscheulichleit dessen, war er vollbracht, fühlte auch die mächtige Hand des Herrn, aber er verstand noch immer nicht die Bedeutung dessen, was er gethan hatte, erkannte den Herrn nicht. Er wollte immer noch nicht daran glauben, daß das, was vor ihm war, sein Werk sei. Aber die unerbittliche, unsichtbare Hand hielt ihn, und er ahnte schon, daß er sich nicht werde drücken können. Er spielte noch den Tapferen, und angenommener Gewohnheit nach, ein Bein über das andere gelegt, saß er, nachlässig mit dem Zwicker spielend, in selbstgewisser Haltung auf seinem zweiten Stuhl der ersten Reihe. Unterdessen aber fühlte er schon in der Tiefe seiner Seele die ganze Grausamkeit, Niederträchtigkeit, nicht nur dieser seiner That, sondern seines ganzen müßigen, lockeren, grausamen und selbstherrlichen Lebens, und jener furchtbare Vorhang, meiches durch irgend ein Wunder während dieser ganzen Zeit, alle diese zehn Jahre hindurch, vor ihm dies sein Verbrechen und sein ganzes folgendes Leben verborgen hatte, schwankte schon, und er blickte schon hie und da hinter denselben.

23

Endlich schloß der Vorsitzende seine Rede, hob mit graziöser Bewegung die Frageliste in die Höhe und übergab sie dem zu ihm herangetretenen Obmann. Die Geschworenen standen auf, und froh, weggehen zu dürfen, gingen sie, ohne zu wissen, was sie mit ihren Händen thun sollten, als ob sie sich vor etwas schämten, einer nach dem andern in das Beratungszimmer. Sobald die Thür hinter ihnen geschlossen worden, kam an diese Thür ein Gendarm; er riß den Säbel aus der Scheide, legte ihn an die Schulter und blieb an der Thür stehen.

Die Richter erhoben sich und gingen fort. Die Angeklagten wurden auch hinausgeführt.

Nachdem die Geschworenen in das Beratungszimmer eingetreten, hatten sie in erster Linie Cigaretten hervor, wie auch früher, und fingen an zu rauchen. Die Unnatürlichkeit und das Falsche ihrer Lage, die sie in mehr oder weniger hohem Grade empfanden, als sie in dem Saal an ihren Plätzen saßen, war vorbei, sobald sie in das Beratungszimmer eingetreten waren und Cigaretten angeraucht hatten. Sie haben sich mit dem Gefühl der Erleichterung dort placiert, und sogleich begann ein lebhaftes Gespräch.

»Das Dirnlein ist unschuldig, es hat sich verwickelt,« sagte der gutmütige Kaufmann, »man muß ihm mildernde Umstände geben.«

»Wollen wir also eben das jetzt erwägen,« sagte der Obmann.

»Wir müssen nicht unseren persönlichen Eindrücken nachgeben.«

»Eine gute Zusammenfassung hat der Vorsitzende geliefert,« bemerkte der Oberst.

»Ja, gut! Ich bin beinah eingeschlafen.«

»Die Hauptsache ist, daß die Dienstboten nichts von dem Gelde wissen konnten, wenn die Maslowa nicht mit ihnen einverstanden gewesen wäre,« sagte der Kommis von jüdischem Typus.

»Also, was ist denn? Hat sie, Ihrer Meinung nach, gestohlen?« fragte einer der Geschworenen.

»Um nichts in der Welt würde ich dies glanben,« schrie der gutmütige Kaufmann, »aber alles hat diese rotäugige Schelmin ausgefressen«

»Die sind alle gut,« sagte der Oberst.

»Aber sie sagt ja, daß sie nicht in die Nummer hineingegangen«

»So, glanben Sie ihr nur! Ich würde diesem Luder in meinem Leben nicht glauben.«

»Aber was macht das? Es liegt ja nicht viel dran, daß Sie ihr nicht glauben würden,« sagte der Kommis.

»Den Schlüssel hatte sie.«

»Und was bedeutet das, daß sie ihn hatte?« erwiderte der Kaufmann.

»Und der Fingerring?«

»Aber sie hat es ja erzählt,« schrie der Kaufmann wieder. »Der Kaufmann war ja charaktervoll, und dazu noch angetrunken, hat sie durchgeprügelt. Nun, nachher aber, es ist eine bekannte Sache, bedauerte er sie: ‘Hier, nimm, nur weine nicht.’ Was für ein Mensch er war, hast Du wohl gehört; zwölf Werschok13 und so was wie acht Pud!«

»Nicht das ist die Hauptsache,« unterbrach ihn Peter Gerassimowitsch, »die Frage besteht darin: hat sie die ganze Sache angestiftet oder die Dienstboten?«

»Die Dienstboten allein können es nicht gethan haben. Den Schlüssel hatte sie.«

Die zusammenhanglose Unterhaltung ging eine ziemlich lange Zeit vor sich.

»Aber erlauben Sie, meine Herren,« sagte der Obmann. »wollen wir uns an den Tisch setzen und die Sache erwägen. Bitte,« sagte er, sich auf den Präsidentenplatz setzend.

»Ein scheußliches Gesindel diese Dirnen,« sagte der Kammis, und um die Meinung zu bekräftigen, daß die Maslowa die Hauptschuldige sei, erzählte er, wie eine solche seinem Kameraden auf dem Boulevard die Uhr gestohlen habe.

Der Oberst fing an, bei dieser Gelegenheit einen noch frappanteren Fall, den Diebstahl eines silbernen Samowars zu erzählen.

»Meine Herren, ich bitte, den Fragen nach,« sagte der Obmann, indem er mit dem Bleistift auf den Tisch klopfte.

Alle schwiegen.

Diese Fragen waren folgendermaßen ausgedrückt:

Ist der Bauer des Dorfes Borki, Bezirk Krapiwensk, Simon Petrow Kartinkin, 33 Jahre alt, dessen schuldig, daß er am 17. Jannuar 188. in der Stadt N., nachdem er den Kaufmann Smeljkow ums Leben zu bringen beabsichtigt mit dem Vorsatz, ihn zu berauben, im Einverständnis mit einer anderen Person, ihm Gift im Cognat gegeden hat, wodurch der Tod des Smeljkow erfolgte; und daß er demselben Geld, etwa 2500 Rubel und einen Brillantring entwendet?

Ist die Euphemia Iwanowna Botschkowa, 43 Jahre alt, des in der ersten Frage beschriebenen Verbrechens schuldig?

Ist die Kleinbürgerin Katharina Michajlowa Maslowa, 27 Jahre alt, des in der ersten Frage beschriebenen Verbrechens schuldig?

Wenn die Angeklagte Euphemia Botschowa nach der ersten Frage unschuldig ist, ist sie dann nicht etwa dessen schuldig, am 17. Januar 188. in der Stadt N., während sie im Gasthause »Mauritanien« in Dienst stand, heimlich bei einem Logirgast, dem Kaufmann Smeljkow, aus dem verschlossenen Koffer, der sich in seinem Zimmer befand, Geld, 2500 Rubel, entwendet zu haben, wozu sie den Koffer auf der Stelle, wo er sich befand, mit einem mitgebrachten falschen Schlüssel aufgeschlossen?

Der Obmann las die erste Frage vor.

»Nun, wie ist es denn, meine Herren!«

Diese Frage wurde sehr schnell beantwortet. Alle kamen überein zu antworten: ‘ja, schuldig’, indem man Kartinkin als Mitthäter sowohl an der Entwendung als auch an der Vergiftung erkannte. Nicht einverstanden, den Kartinkin für schuldig zu erklären, war nur der alte Artelschtschik allein, der auf alle Fragen im Sinne der Rechtfertigung antwortete.

Der Obmann dachte, daß er nicht verstehe und erklärte ihm, wie es nach allem unzweifelhaft sei, daß Kartinkin und Botschkowa schuldig seien; der Artelschtschik aber antwortete, daß er verstehe, aber es sei doch besser, Mitleid mit ihnen zu haben. »Wie sind ja selber keine Heiligen.« Und so blieb er auch bei seiner Meinung. Auf die zweite Frage, die Botschkowa betreffend, hat man nach langen Unterredungen und Erklärungen, geantwortet: nicht schuldig, weil keine offenbaren Beweise für ihre Teilnahme an der Vergiftung vorlagen, was ihr Advokat besonders betonte.

Der Kaufmann, der die Maslowa rechtfertigen wollte, bestand darauf, daß die Botschkowa die Hauptanstifterin von allem sei. Viele Geschwoerne stimmten ihm zu; aber der Obmann, der streng legal sein wollte, sagte, daß es keinen Grund gäbe, sie als Teilnehmerin an der Vergiftung zu erklären.

Nach langen Streitigkeiten triumphierte die Meinung des Obmanns.

Auf die vierte Frage, auch betreffs der Botschkowa, hat man geantwortet: »ja, schuldig,« und auf Anhalten des Artelschschiks fügte man hinzu, »aber sie verdient mildernde Umstände.«

Die dritte Frage aber über die Maslowa rief einen erbitterten Streit hervor. Der Obmann bestand darauf, daß sie des Raubes und der Vergiftung schuldig sei; der Kaufmann war damit nicht einverstanden und mit ihm zusammen der Oberst, der Kommis und der Artelschtschik nicht, — die übrigen schienen zu schwanken; aber die Ansicht des Obmanns begann vorzuherschen, besonders, weil die Geschwoernen ermüdet waren und sich bereitwilliger an die Meinung anschloßen, die versprach, sie schneller zu vereingen und darum alle zu befreien.

Nach alledem, was bei der gerichtlichen Untersuchung vor sich gegangen, und nach dem, wie Nechljudow die Maslowa kannte, war er überzeugt, daß sie weder an der Entwendung, noch an der Vergiftung schuldig sei, und anfangs war er sicher, daß alle das anerkennten; aber er mußte einsehen, daß die Entscheidung sich infolge verschiedener Umstünde zu Gunsten der Verurteilung zu neigen anfing. Da war erstens die ungeschickte Verteidigung durch den Kaufmann, die augenscheinlich darauf begründet war, daß die Masloma ihm physisch gefiel, was er auch nicht verhehlte, da war der Widerstand des Obmanns, eben dieses Grundes wegen; da war hauptsächlich die allgemeine Ermüdung der Beteiligten. Nechljudow wollte etwas einwenden, aber er fürchtete, für die Maslowa zu sprechen; es schien ihm, daß alle sogleich sein Verhältnis zu ihr erfahren würden. Inzwischen aber fühlte er, daß er die Sache nicht so lassen könne, daß er Einwände erheben müsse. Er wurde rot, er wurde blaß, und eben wollte er anfangen zu sprechen, als Peter Gerassimowitsch, der die dahin stillgeschwiegen, augenscheinlich durch den autotitären Ton des Odmanns empört, plötzlich anfing, diesen zu widerlegen und dasselbe zu sagen, was Nechljudow hatte sagen wollen.

»Erlauben Sie,« rief er, »Sie sagen, daß die Maslowa des Diebstahls schuldig sei, weil sie den Schlüssel besaß, aber konnten denn die Korridorbedienten nicht nach ihr den Koffer mit einem falschen Schlüssel aufschließen?«

»Ja ja! Ja ja!« bestätigte der Kaufmann.

»Und Geld konnte sie ja nicht nehmen, weil sich in ihrer Lage nichts damit anfangen läßt.«

»Das ist’s ja, was ich sage! Ganz dasselbe,« bestätigte der Kaufmann.

»Wahrscheinlich ist, daß sie durch ihre Ankunft den Korridordienern den Gedanken eingegeben hat, und die haben dann die Gelegenlheit benutzt und nachher alles auf die Maslowa gewälzt.«

Peter Gerassimowitsch sprach mit gereizter Stimme, und seine Gereiztheit teilte sich dem Obmann mit, der infolge dessen mit besonderer Hartnäckigkeit seine entgegengesetzte Meinung zu verteidigen begann; aber Peter Gerassimowitsch sprach zu überzeugend, daß die Mehrheit ihm zustimmte, indem sie anerkannten, daß die Maslowa an der Geldentwendung nicht Teil genommen habe, daß der Fingerring ihr geschenkt worden sei.

Als aber das Gespräch aus ihre Teilnahme an der Vergiftung überging, sagte ihr heißer Verteidiger, der Kaufmann, daß man sie unschuldig erkennen solle. Der Obmann sagte aber, daß es unmöglich sei, sie für unschuldig zu erklären, da sie selbst bekannt habe, ihm das Pulver gegeben zu haben.

»Gegeben, aber sie dachte, daß es Opium sei,« sagte der Kaufmann.

»Sie konnte ihn auch mit Opium der Lebens berauben,« sagte der Oberst, der sich gern in Abschweifungen einließ; und er fing bei dieser Gelegenheit an, davon zu erzählen, daß die Frau seiner Schwagers sich mit Opium vergiftet habe, und auch gestorben sein würde, wäre nicht der Doktor in der Nähe gewesen und wären nicht rechtzeitig Maßregeln getroffen worden. Der Oberst erzählte so eindringlich, selbstbewußt und mit solcher Würde, daß niemand den Mut hatte,ihn zu unterbrechen. Nur der Kommis, von seinem Beispiel angesteckt, entschloß sich, ihm dazwischen zu fahren, um seine Geschichte zu erzählen:

»Manche gewöhnen sich so stark daran daß sie vierzig Tropfen einnehmen können, ich habe einen Vermandten, der…«

Aber der Oberst ließ sich nicht unterbrechen und setzte seine Erzählung von den Folgen der Einwirkung des Opiums auf die Frau seines Schwagers fort.

»Aber es ist schon über vier Uhr, meine Herren,« sagte einer der Geschworenen.

»Also, wie ist’s denn, meine Herren?« wandte sich der Obmann an die Geschworenen, »wollen wir sie schuldig erklären? Aber ohne Vorsatz zu berauben, und Eigentum hat sie nicht entwendet. Ist es so?«

Peter Gerassimowitsch, der mit seinem Siege zufrieden war, willigte ein.

»Aber sie verdient mildernde Umstände,« fügte der Kaufmann hinzu.

Alle waren einverstanden. Nun der Artelschtschik beharrte darauf, daß man sagen solle: »nein, nicht schuldig.«

»Aber das kommt ja auf dasselbe hinaus,« etklärte der Obmann, »ohne Vorsatz zu berauben, und das Eigentum entwendete sie nicht, also ist sie nicht schuldig.«

»Los und drauf, so! Und Nachsicht verdient sie, um sie von allem, was ihr nach anklebt, zu reinigen.«

Alle waren so ermüdet, hatten sich so in Streitigkeiten verwickelt, daß es niemandem eingefallen, zu der Antwort hinzuzufügen: ja, aber ohne den Vorsatz, des Lebens zu berauben.

Nechljudow war so aufgeregt, daß er dies nicht bemerkte. Also wurden die Antworten in dieser Form niedergeschrieben und in den Gerichtssaal getragen.

Rabelais schreibt, daß ein Jurist, zu welchem man kam, um sich seinem Urteil zu unterziehen, nach einem Hinweis auf alle möglichen Gesetze und nach Verlesung den zwanzig Seiten sinnlosen juristischen Lateins den Streitenden vorgeschlagen habe, zu würfeln: grade oder ungrade. Wenn grade — so hat der Supplikant recht, wenn ungrade — so hat der Beklagte recht.

So war es auch hier. Diese oder jene Entscheidung wurde nicht etwa angenommen, weilu alle zu einem Einverständnis gekommen waren, sondern erstens, weil der Vorsitzende, der so lange Zeit zu seinem Résumé gebraucht, diesmal vergessen hatte, das zu sagen, was er immer sagte, nämlich; daß die Geschworenen in Beantwortung der Schuldfrage sagen könntent: »ja — schuldig, aber ohne Vorsatz, des Lebens zu berauben,« und zweitens, weil der Oberst sehr breit und sehr langweilig die Geschichte seiner Schwägerin erzählt hatte, drittens, weil Nechljudow o aufgeregt war, daß er die Weglassung der Klausel ‘aber ohne Vorsatz, des Lebens zu berauben’, nicht bemerkte, sondern dachte, daß die Klausel ‘ohne vorgefaßte Absicht zu berauben’ schon die Anklage vernichte; viertens, weil Peter Gerassimowitsch nicht im Zimmer war; er war hinausgegangen, gerade um die Zeit, wo der Obmann die Fragen und Antworten las; vornehmlich aber, weil alle ermüdet waren, — weil alle Lust hatten, möglichst schnell los zu kommen, und daher derjenigen Entscheidung zustimmten, bei melcher alles am raschesten zu Ende ist.

Die Geschworenen klingelten. Der Gendarm, der mit bloßem, gezogenem Säbel an der Thür stand, steckte den Säbel in die Scheide und trat auf die Seite, die Richter setzten sich auf ihre Plätze, und die Geschworenen kamen einer nach dem andern herein.

Der Obmann trug mit feierlichem Aussehn den Fragebogen. Er trat an den Vorsitzenden heran und reichte ihm denselben. Der Vorsitzende durchlas ihn, und augenscheinlich erstaunt, breitete er die Arme aus und wandte sich beratschlagend an seine Kollegen. Der Vorsitzende war erstaunt, weil die Geschworenen, nachdem sie die erste Klausel: ‘ohne Vorbedacht zu berauben’, vorbehalten, die zweite Klausel: ‘ohne Absicht, des Lebens zu berauben’, nicht vorbehalten hatten. Aus der Entscheidung der Geschworenen ergab sich, daß die Maslowa weder gestohlen nach geraubt habe, — zugleich aber hatte sie einen Menschen ohne jeglichen ersichtlichen Zweck vergiftet

»Sehn Sie mal, war für ein ungereimtes Zeug die gebracht haben,« sagte der Vorsitzende zu dem Mitgliede links. »Das bedeutet ja: Zwangsarbeit; sie ist aber unschuldig.«

»Nun, wieso unschuldig?« fragte das erste Mitglied.

»Aber einfach unschuldig. Meiner Meinung nach haben wir hier Artikel 817 in Anwendung zu bringen.« (Der Artikel 817 lautet darin, daß, wenn das Gericht das Urteil ungerecht findet, es die Entscheidung der Geschworenen aufheben kann.) »Wie meinen Sie?« wandte sich der Vorsitzende an das gute Mitglied. Das gute Mitglied antortete nicht sogleich; es blickte auf die Nummer der vor ihm liegenden Akte, addierte die Ziffern zusammen; — sie mit drei zu dividieren gelang nicht. Er hatte so bei sich ausgemacht: ist die Ziffer dividierbar, so werde ich beistimmen; aber obgleich sie nicht dividierbar war, stimmte er aus Güte bei.

»Ich glaube auch, daß man es müßte,« sagte er.

»Und Sie?« wandte sich der Vorsitzende an das ärgerliche Mitglied.

»Auf keinen Fall,« — antwortete er entschieden. »Auch sonst sagen die Zeitungen, daß die Geschworenen die Verbrecher freisprechen, was sollen sie denn sagen, wenn das Gericht sie freispricht? Ich bin in keinem Falle einverstanden.«

Der Vorsitzende blickte auf die Uhr. »Er ist schade, aber was ist zu thun?« Und er reichte den Fragebogen dem Obmann zum Vorlesen.

Alle standen auf, und der Obmann, verlegen von einem Fuß auf den andern tretend, räusperte sich und las die Fragen und Antworten vor. Alle Gerichtsbeamten: der Sekretär, die Advokaten und sogar der Staatsanwalt drückten ihr Erstaunen aus.

Die Angeklagten saßen teilnahmslos, da sie augenscheinlich die Bedeutung der Antworten nicht verstanden. Alle setzten sich wieder, und der Vorsitzende fragte den Staatsanwalt, welchen Strafen glaube er die Angeklagten unterwerfen zu sollen? Der Staatsanwalt, erfreut durch den unerwarteten Erfolg in Bezug auf die Maslowa, — denn er schrieb diesen Erfolg seiner Beredtsamkeit zu, — sah in irgend einem Buche nach, erhob sich etwas und sagte:

»Den Simon Kartinkin möchte ich glauben auf Grund des Artikels 1452, ⩀93, die Euphemia Botschkowa auf Grund des Artikels …und Katharina Maslowa auf Grund des Artikels 1454 den dort angedrohten Strafen unterwerfen zu müssen.«

All diese Strafen waren die strengsten, die man nur auferlegen konnte.

»Das Gericht entfernt sich, um die Entscheidung zu treffen,« sagte der Vorsitzende, aufstehend. Alle erhoben sich nach ihm, und mit dem erleichterten und angenehmen Gefühl einer vollbrachten guten That fingen sie an, hinauszugeben oder sich im Saal hin und her zu bewegen.

»Aber, Väterchen, wie haben ja etwas Schändliches zusammen gelogen,« sagte Peter Gerassinowitsch, an den Nechljudow herantretend, welchem der Obmann etwas erzählte. »Wir haben sie ja zu Zwangsarbeit verdonnert.«

»Was sagen Sie?« schrie Nechljudow auf, obne diesmal die unangenehme Familiarität des Lehrers zu bemerken.

»Nicht anders,« sagte der. »Wie haben in der Antwort nicht gesetzt: schuldig, aber ohne Absicht, des Lebens zu berauben. Der Sekretär hat mir eben gesagt, daß der Staatsanwalt fünfzehn Jahre Zwangsarbeit über sie verhängen will.«

»Aber man hat ja so entschieden,« sagte der Obmann.

Peter Gerassimowitsch fing an zu streiten; es sei selbstverständlich, sagte er, daß, wenn sie kein Geld genommen, sie auch die Absicht nicht haben konnte, ihn des Lebens zu berauben.

»Aber ich habe ja die Antworten vorgelesen, bevor wir hinausgingen,« rechtfertigte sich der Obmann. Niemand erwiderte etwas.

»Ich war um die Zeit aus bem Zimmer gegangen,« sagte Peter Gerassimowitsch. »Abet wie haben Sie das verpassen können?«

»Ich habe durchaus nicht daran gedacht,« sagte Nechljudow.

»Nicht gedacht …aber jetzt ist es so.«

»Aber man kann das noch gut machen,« sagte Nechljudow.

»O nein, — jetzt ist es schon aus.«

Nichljudow sah die Angeklagten an. Sie, deren Schicksal vor der Entscheidung stand, saßen immer ebenso unbeweglich hinter ihrem Gitter, vor den Soldaten. Die Maslowa lächelte über irgend etwas. Und in Nechljudows Seele regte sich ein schlechtes Gefühl.

Vorher, als er vorausgesetzt, daß man sie frei sprechen und in der Stadt bleiben lassen werde, war er unentschlossen, wie er sich gegen sie verhalten solle; und das Verhalten gegen sie war schwer. Die Zwangsarbeit und Sibirien vernichteten auf einmal die Möglichkeit jeglichen Verhältnisses zu ihr. Der nicht ganz getötete Vogel würde aufhören, in der Jagdtasche zu schlagen und an sich zu erinnern.

24

Die Vermutungen des Peter Gerassinowitsch waren richtig.

Als der Vorsitzende aus dem Beratungszimer zurückkehrte, nahm er das Papier und las vor:

Im Jahre 188…am 28. April laut Ukas Seiner Kaiserlichen Majestät Kr…hat das Bezirksgericht, in der Strafgerichtsabteilung, kraft der Entscheidung der Herren Geschworenen auf Grund ⩀3 Artikel 771, ⩀3 Artikel 766 und Artikel 777 des Reglements des Kriminalverfahrens erkannt:

den Bauer Simon Kartinkin, 33 Jahre alt, und die Kleinbürgerin Katharina Maslowa, 27 Jahre alt, nach Entziehung aller bürgerlichen Rechte, in Zwangsarbeit zu verschicken: den Kartinkin für acht Jahre und die Maslowa für vier Jahre, beide mit den Folgen laut Artikel 25 des Strafgesetzbuches;

die Kleinbürgerin Euphemia Botschkowa aber, 43 Jahre alt, nach Entziehung aller besonderen, persönlichen, dem Stande nach ihr zukommenden Rechte und Gerechtsame für die Zeit von drei Jahren ins Gefängnis einzuschließen, mit den Folgen laut Artikel 48 des Strafgesetzbuches;

die Gerichtskosten für diesen Prozeß sind den Verurteilten zu gleichen Teilen aufzuerlegen, und im Falle der Zahlungsunfähigkeit auf Rechnung des Fiskus zu setzen;

die betreffenden corpora delicti sind zu verkaufen, der Fingerring ist zurückzuerstatten, die Gläser sind zu vernichten.

Kartinkin stand ebenso gerade aufgereckt, indem er die Hände mit gespreizten Fingern an den Hosennähten hielt und die Wangen bewegte. Die Botschkowa schien vollständig ruhig zu sein. Die Maslowa wurde purpurrot, als sie das Urteil hörte.

»Nicht schuldig bin ich, nicht schuldig!« schrie sie plötzlich über den ganzen Saal hin. »Es ist eine Sünde. Nicht schuldig hin ich. Ich wollte es nicht, ich dachte es nicht. Wahrhaft rede ich! Wahrhaft.« Und sie ließ sich auf die Bank nieder und brach in lautes Weinen aus.

Als Kartintin und die Botschkowa hinausgegangen waren, blieb sie noch immer auf ihrem Platz sitzen und weinte, so daß der Gendarm sie am Aermel der Schlafrockes berühren mußte.

»Nein, es ist unmöglich, es so zu lassen, sagte zu sich selbst Nechljudow; er hatte sein schlechtes Gefühl vollständig vergessen. Er wußte selber nicht warum, er eilte in den Korridor, um sie noch einmal zu sehen. In den Thüren drängte sich ein lebhafter Haufen von hinausgehenden Geschworenen und Advokaten, die mit der Beendigung der Verhandlung zufrieden waren; so daß er sich einige Minuten in der Thür aufgehalten fand. als er in den Korridor hinaus kam, war sie schon weit. Mit raschen Schritten, und ohne an die Aufmerksamkeit zu denken, die er auf sich zog, holte er sie ein, ja überholte sie und blieb stehen. Sie hörte schon auf zu weinen und schluchzte nur noch in Stößen auf, indem sie ihr stellenweise rot gewordenes Gesicht mit dem Ende des Halstuches abwischte, und ging an ihm vorbei, ohne sich umzusehen.

Nachdem er sie vorbeigehen lassen, kehrte er eilig zurück, um den Vorsitzenden zu sehen, aber der Vorsitzende war schon weg; er hat ihn erst im Vorzimmer eingeholt.

›Herr Vorsitzender,‹ sagte Nechljudow, indem er sich ihm in dem Augenblick näherte, als derselbe seinen hellen Ueberzieher schon ausgezogen hatte und den Stock mit dem silbernen Knopf nahm, den ihm der Schweizer reichte, ›kann ich mit Ihnen über den Prozeß sprechen, der soeben entschieden worden? Ich bin ein Geschworener.‹

›Ja, versteht sich, Fürst Nechljudow! Sehr angenehm, wir sind uns schon begegnet,‹ sagte der Vorsitzende, ihm die Hand drückend und sich mit Vergnügen erinnernd, wie schön und lustig, besser als alle jungen Leute, er tanzte an jenem Abend, als er dem Nechljudow begegnete.

›Womit kann ich Ihnen dienen?‹

›Es ist ein Mißverständnis passiert in der Antwort bezüglich der Maslowa. Sie ist unschuldig an der Vergiftung, unterdessen aber hat man sie zur Zwangsarbeit verurteilt,‹ sagte Nechljudow mit konzentriert-finsterem Aussehen.

›Das Gericht hat das Urteil auf Grund der ja von Ihnen abgegebenen Antworten gefällt,‹ sagte der Vorsitzende, sich der Ausgangsthür nähernd, ›obgleich die Antworten auch den Richtern nicht vollständig als der Sache entsprechend erschienen.‹ Er erinnerte sich, wie er den Geschworenen erklären wollte, daß ihre Antwort; ›ja, schuldig,‹ — ohne die Verneinung der Absicht des Todschlags den Todschlag mit Vorbedacht bestätige, aber da er sich beeilt zu schließen, hatte er das nicht gethan.

›Ja, aber kann man denn nicht den Fehler korrigieren?‹

›Ein Grund zur Kassation wird sich immer finden. Man muß sich an die Advokaten wenden,‹ sagte der Vorsitzende, seinen Hut etwas schief aufsetzend, indem er fortfuhr, sich zum Ausgang zu bewegen.

›Aber es ist ja schrecklich.‹

›Nun, sehen Sie, für die Maslowa stand eine von beiden bevor,‹ sagte der Vorsitzende, der augenscheinlich möglichst angenehm und höflich mit dem Nechljudow sein wollte; nachdem er seinen Backenbart über den Ueberzieherkragen ausgebreitet, nahm er Nechludow leicht unter den Arm, und ihn zur Ausgangsthür lenkend, fuhr er fort: ›Sie gehen doch auch?‹

›Jawohl,‹ sagte Nechljudow, sich eilig anziehend und ging mit ihm. Sie gingen an die helle lustige Sonne hinaus, und sogteich mußte man lauter sprechen wegen des Rasselns der Räder auf dem Pflaster.

›Die Lage ist, Sie sehen es wohl seltsam,‹ fuhr der Vorsitzende fort, die Stimme erhebend, ›ihr, dieser Maslowa, stand eine von beiden bevor: entweder beinah eine Rechtfertigung, eine Gefängnisstrafe, für welche auch das angerechnet werden konnte, daß sie schon gesessen hatte, sogar nur ein Arrest, oder — Zwangsarbeit, ein Mittelding giebt’s nicht. Wenn Sie die Worte hinzugefügt hätten: ‘aber ohne die Absicht den Tod herbeizuführen,’ so wäre sie freigesprochen worden.‹

›Ich habe das unverzeihlich übersehen,‹ sagte Nechljudow.

›Das ist eben die Sache,‹ sagte lächelnd der Vorsitzende, indem er auf die Uhr sah. Es blieben nur drei Viertelstunden bis zum letzten Termin übrig, der ihm von Klara bestimmt worden war.

›Jetzt, wenn Sie wollen, wenden Sie sich an die Advokaten. Man muß einen Grund zur Kassation finden. Den kann man immer finden. Nach der Dworjanskajastraße,‹ antwortete er dem Mietskutscher, ›dreißig Kopeten, mehr zahle ich nie.‹

›Bitte Excellenz.‹

›Mein Kompliment. Wenn ich mit etwas dienen kann, — Dwornikows Haus, auf den Dworjanskaja — es ist leicht zu behalten.‹ Und freundlich sich verbeugend, fuhr er weg.

25

Das Gespräch mit dem Vorsitzenden und die reine Luft haben den Nechljudow etwas beruhigt. Er dachte jetzt, daß das von ihm empfundene Gefühl infolge des ganzen unter so ungewohnten Bedingungen zugebrachten Morgens von ihm übertrieben worden. ‘Versteht sich, es ist ein merkwürdiges und frappantes Zusammentreffen. Und es ist notwendig, alles Mögliche zu thun, um ihr Schicksal zu mildern, und es möglichst schnell zu thun. Sogleich. Ja, man muß hier im Gericht erfahren, wo der Fanarin oder der Mikischin wohnt.’ Er erinnerte sich der zwei berühmten Advokaten.

Nechljudow kehrte in das Gerichtsgebäude zurück, zog den Ueberzieher aus und ging nach oben. Aber schon im ersten Korridor stieß er auf den Fanarin. Er hielt ihn auf und sagte, daß er etwas mit ihm zu thun habe. Fanarin kannte ihn von Ansehen und dem Namen nach und sagte, daß er sehr froh sei, alles zu thun, was ihm, dem Nechljudow, angenehm sei.

›Obgleich ich müde bin…aber wenn es nicht lange dauert, so sagen Sie mir Ihre Sache, — wollen mit hineingehn.‹

Und Fanarin führte den Nechljudow in ein Zimmer, wahrscheinlich daß Kabinet irgend eines Richters. Sie setzten sich an den Tisch.

›Nun, was haben Sie?‹

›Vor allem bitte ich Sie,‹ sagte Nechljudow, ›niemand wissen zu lassen, daß ich an dieser Sache beteiligt bin.‹

›Nun, das ist selbstverständlich…Also…‹

›Heute war ich Geschworener, und wie haben eine Frau zur Zwangsarbeit verurteilt, — eine Unschuldige. Das quält mich.‹ Nechljudow wurde, für sich selbs unerwartet, rot und blieb stecken. Fanarin blinkte mit den Augen zu ihm auf und ließ sie wieder sinken, während er zuhörte.

›Und?‹ sagte er nur.

›Wir haben eine Unschuldige verurteilt, und ich möchte das Urteil kassieren und den Prozeß einer höheren Instanz übertragen.‹

›Dem Senat,‹ berichtigte Fanarin.

›Und nun bitte ich Sie, das auf sich zu nehmen.‹

Nechljudow wollte das Schwerste möglichst schnell beenden, und darum sagte er auch sogleich: ›Die Entschädigung, die Kosten dieses Prozesses nehme ich auf mich; welche sie auch sein möchten,‹ sagte er errötend.

›Nun, das werden mit mit Ihnen verabreden,‹ sagte der Advokat, nachsichtig über seine Unerfahrenheit lächelnd.

›Worin besteht denn die Sache?‹

Neschludow erzählte.

›Schön, morgen lasse ich mir den Prozeß geben und gehe ihn durch; übermorgen, nein, am Donnerstag, kommen Sie zu mir um 6 Uhr abends, und ich werde Ihnen die Antwort geben. Nicht wahr? Nun, jetzt wollen wie gehn. Ich habe hier noch Erkundigungen einzuziehn.‹

Nechljudow nahm von ihm Abschied und ging hinaus.

Die Unterhaltung mit dem Advokaten und der Umstand, daß er schon Maßregeln zur Verteidigung der Maslowa getroffen, beruhigten ihn noch mehr. Er trat ins Freie, das Wetter war schön, er atmete freudig die Frühlingsluft. Die Mietskutcher boten ihre Dienste an, aber er ging zu Fuß, und sogleich begann ein ganzen Schwarm von Gedanken und von Erinnerungen an Katjuscha und an sein Betragen gegen sie in seinem Kopfe zu wirbeln. Und ihm wurde traurig, und alles erschien ihm finster. Nein, das will ich nachher überlegen, sagte er zu sich, jetzt aber muß man im Gegenteil sich von den schweren Eindrücken zerstreuen.

Er erinnerte sich an das Mittagessen der Kortschagins und blickte auf die Uhr. Es war noch nicht zu spät, und er konnte noch zum Mittagessen da sein. Es klingelte ein Tramway vorbei. Er setzte sich in Trab und sprang hinein. Auf dem Platze sprang er hinaus, nahm einen guten Mietkutscher, und in zehn Minuten war er an der Auffahrt des großen Hauses den Kortschagins.

26

›Bitte schön, Ew. Erlaucht sind erwartet,‹ sagte der freundliche, beleibte Schweizer des großen Hauses der Kortschagins, indem er die sich auf den englischen Thürbändern geräuschlos bewegende Eichenthür der Auffahrt öffnete. ›Man speist. Nur Sie hat man befohlen, herein zu bitten.‹

Der Schweizer näherte sich der Treppe und zog die Klingel für den oberen Stock.

›Ist sonst jemand da?‹ sagte Nechljudow, indem er ablegte.

›Herr Kolossow und Michail Sergejewitsch, sonst aber nur — die unsrigen,‹ antwortete der Schweizer.

Von der Treppe herab guckte ein schöner Lakai im Frack und weißen Handschuhen.

›Bitte schön, Ew. Erlaucht,‹ sagte er. ›Es ist befohlen, Sie herein zu bitten.‹

Nechljudow ging die Treppe hinauf und durch den bekannten prachtvollen und geräumigen Saal in das Speisezimmer. Im Speisezimmer saß bei Tische die ganze Familie, mit Ausnahme der Mutter, Fürstin Sophie Wassiljewna, die nie ihr Kabinet verließ. Oben am Tische saß der alte Kortschagin, neben ihm, zur linken Seite — der Doktor, zur anderen Seite — der Gast, Iwan Iwanowitsch Kolossow, der gewesene Gouvernements-Adelsmarschall, jetzt Mitglied der Bankverwaltung, ein liberaler Kamerad des Kortschagin; weiter zur linken Seite saß Miß Reder, die Gouvernante der kleinen Schwester Missis und das vierjährige Mädchen selbst; zur rechten gegenüber, — der Bruder Missis, der einzige Sohn der Kortschagins, ein Gymnasiast der sechsten Klasse, Petja, wegen dessen die ganze Familie in der Stadt blieb, um seine Examina abzuwarten, und noch ein Student, sein Repetitor; dann links — Katharina Alexejewna, ein vierzigjähriges Fräulein, eine Slavophilin; gegenüber — Michail Sergejewitsch, oder Mischa Teljegin, Missis Vetter, — unten am Tische saß Missi selber, und neben ihr war ein unangerührtes Couvert.

›Ha, das ist schön. Setzen Sie sich, wir sind nur erst bei dem Tisch,‹ sagte mit Mühe und vorsichtig mit seinen eingesetzen Zähnen kauend, der alte Kortschagin, während er die blutunterlaufenen Augen ohne sichtbare Augenlider zu Nechljudow erhob.

›Stepan,‹ wandte er sich mit vollem Munde an den dicken, großartigen Vorschneider, indem er mit den Augen auf das leere Gedeck wies. Obgleich Nechljudow den alten Kortschagin gut kannte und ihn viele Male auch beim Mittagessen gesehen, frappierte ihn heute irgendwie besonders unangenehm dieses tote Gesicht mit den sinnlichen schmatzenden Lippen über der hinter die Weste gesteckten Serviette, und der fette Hals, überhaupt diese ganze gemästete, militärische Generalsfigur. Nechljudow erinnerte sich unwillkürlich dessen, was er von der Grausamkeit dieses Menschen wußte, der, als er Provinzbefehlshaber war, der liebe Gott weiß wozu — da er ja reich und vornehm war, und sich nicht hinaufzudienen brauchte, — die Leute durchpeitschte und sogar aufhängte.

›Es wird augenblicklich aufgetragen, Ew. Erlaucht,‹ sagte Stepan, während er aus dem mit silbernen Vasen voll besetzten Buffet einen großen Vorlegelöffel holte und mit dem Kopf dem schönen Lakai mit dem Backenbart winkte, der sogleich anfing, das unangerührte Couvert neben Missi, das mit der geschickt zusammengelegten, gestärkten Serviette mit dem Prangenden Namenszug bedeckt war, zu ordnen. Nechljudow umging den ganzen Tisch und drückte allen die Hände. Alle, außer dem alten Kortschagin und den Damen, standen auf, als er sich ihnen näherte. Und dies Umwandern des Tisches und der Händedruck mit allen Anwesenden, obgleich er mit den meisten von ihnen nie sprach, erschien ihm besonders unangenehm und lächerlich. Er entschuldigte sich, daß er sich verspätet, und wollte sich auf dem leeren Platz am Ende des Tisches zwischen Missi und Katharina Alexejewna niederlassen, aber der alte Kortschagin verlangte, daß er, wenn er schon nicht Branntwein trinke, dennoch an dem Tische, auf welchem Hummer, Kaviar, verschiedene Käsearten, Heringe standen, einen Imbiß nehme. Nechljudow glaubte nicht, daß er so hungrig sei, aber, nachdem er angefangen, Brot mit Käse zu essen, konnte er nicht aufhören und aß gierig.

›Nun, was ist denn, haben Sie die Grundlagen untergraben?‹ sagte Kolossow, ironisch den Ausdruck einer retrograden Zeitung gebrauchend, die sich gegen das Gericht der Geschworenen erhob. ›Haben Sie die Schuldigen gerechtfertigt und die Unschuldigen verurteilt, ja?‹

›Die Grundlagen untergraben…Die Grundlagen untergraben…‹ wiederholte lachend der Fürst, der ein unbegrenztes Vertrauen an dem Verstand und zu der Gelehrsamkeit seines liberalen Kameraden und Freundes hegte.

Nechljudow, riskierend, unhöflich zu sein, antwortete dem Kolossow nicht, und sich zu der aufgetragenen dampfenden Suppe setzend, fuhr er fort zu kauen.

›Aber lassen Sie ihn essen,‹ sagte lächelnd Missi, indem sie mit diesem Pronomen ’ihn’ an ihre nahe Stellung zu ihm erinnerte.

Kolossow erzählte inzwischen lebhaft und laut den Inhalt des Artikels gegen das Geschworenengericht, der ihn empört hatte. Ihm stimmte Michail Sergejewitsch, der Neffe, zu, und er erzählte den Inhalt eines anderen Artikels derselben Zeitung.

Missi war wie immer sehr ‘distinguée’ und schön, unauffällig schön gekleidet.

›Sie sind gewiß furchtbar müde, hungrig,‹ sagte sie zu Nechljudow, nachdem sie abgewartet, daß er ausgekaut hatte.

›Nein, nicht besonders. Und Sie? Fuhren Sie hin, um die Bilder zu besehen?‹ fragte er.

›Nein, wie haben es aufgeschoben. Wie sind aber zum Lawn tennis bei Salamatows gewesen. Und wirklich spielt Mister Krooks erstaunlich.‹

Nechljudow kam hierher gefahren, um sich zu zerstreuen, und immer pflegte es ihm in diesem Hause wohl zu sein; nicht nur wegen jener Pracht von gutem Ton, welcher auf seine Sinne angenehm wirkte, sondern auch infolge dieser Atmosphäre schmeichelnder Freundlichkeit, die ihn unmerklich umgab. Heute aber, es ist eine wunderbare Sache, war alles in diesem Hause ihm widerwärtig, alles, von dem Schweizer, der breiten Treppe, den Blumen, den Lakaien, der Tafeleinrichtung bis zu Missi selbst, die ihm heute nicht anziehend und unnatürlich schien. Unangenehm war ihm auch dieser selbstvertrauende abgeschmackte, liberale Ton des Kolossow, unangenehm war die selbstbewußte, sinnliche Ochsenfigur des alten Kortschagin, unangenehm waren die französischen Phrasen der Slavophilin Katharina Alexejewna, unangenehm waren die befangenen Gesichter der Gouvernante und des Repetitors; besonders unangenehm war das von ihm gesagte Pronomen ‘ihn’. Nechljudow schwankte immer zwïchen zweierlei Verhalten gegen sie: bald sah er in ihn gleichsam kleine Augen machend, oder wie beim Mondschein, alles Schöne; sie schien ihm frisch und schön, und klug und natürlich …Bald aber sah er, wie beim hellen Sonnenschein plötzlich, — ja er konnte nicht umhin, eb zu sehen — alles das, was ihr fehlte. Heute war für ihn ein solcher Tag. Heute sah er alle Runzelchen auf ihrem Gesicht, er sah, wie ihre Haare toupiert waren, er sah die Spitzigkeit der Ellbogen, und hauptsächlich sah er den breiten Nagel des Daumens, der an eben solchen Nagel beim Vater erinnerte.

›Das allerlangweiligste Spiel,‹ sagte Kolossow vom ‘tennis’ ›bei weitem lustiger war die ‘Lapta’14 , die wie in der Kindheit spielten.‹

›Nein, Sie haben das nicht probiert. Es ist furchtbar hinreißend,‹ erwiderte Missi, besonders unnatürlich das Wort ‘furtchtbar’ aussprechend, wie es dem Nechljudow schien.

Und es begann ein Streit, an welchem sowohl Michail Sergejewitsch, als Katharina Alexejewna teilnahmen. Nur die Gouvernante, der Repetitor und die Kinder schwiegen und langweilten sich sichtbar.

›Ewig streiten sie!‹ sagte laut lachend der alte Kortschagin; indem er die Serviette aus der Weste hervorzog und mit dem Stuhl scharte, den sogleich der Lakai auffing, stand er vom Tische auf. Nach ihm standen auch alle übrigen auf und kamen an das Tischchen heran, wo die Spültassen standen und warmes duftendes Wasser eingegossen war; und den Mund ausspülend, setzten sie das für niemand interessante Gespräch fort.

›Nicht wahr?‹ wandte sich Missi an den Nechljudow, ihn zur Bestätigung ihrer Meinung herausfordernd, daß nirgend der Charakter des Menschen so ersichtlich sei, wie im Spiel. Sie sah auf seinem Gesicht jenen konzentrierten und, wie ihr schien, verurteilenden Ausdruck, welchen sie an ihm fürchtete, und sie wollte erfahren, wodurch er hervorgerufen worden.

›Bei Gott, ich weiß nicht, ich habe nie darüber nachgedacht,‹ antwortete Nechljudow.

›Wollen Sie zu Mama gehen?‹ fragte Missi.

›Ja, ja,‹ sagte er, eine Cigarette herausnehmend und mit einem Ton, der klar besagte, daß er wenig Lust zu gehen hätte.

Sie blickte ihn schweigend und fragend an, und er schämte sich. ‘In der That, zu den Leuten kommen, um ihnen Langeweile zu verursachen…,’ dachte er den sich selbst, und sich bemühend, liebenswürdig zu sein, sagte er, daß er mit Vergnügen gehen werde, wenn die Fürstin ihn empfangen würde.

›Ja, ja, Mama wird froh sein. Rauchen können Sie auch dort. Und Iwan Iwanowitsch ist da.‹

Die Hausherrin, Fürstin Sophia Wassiljewna war eine liegende Dame. Seit acht Jahren lag sie in Gegenwart der Gäste in Spitzen und Bändern, mitten unter Samt, Vergoldung, Elfenbein, Bronze, Firnis, Blumen, fuhr nirgends hin und empfing, wie sie sagte, nur ‘ihre Freunde,’ das heißt alles das, was ihrer Meinung nach, sich irgendwie vor dem Haufen auszeichnete. Nethljudow war in die Zahl dieser Freunde aufgenommen worden, weil er für einen klugen jungen Mann gehalten ward, weil seine Mutter die nächste Freundin der Familie war, und weil es gut gewesen wäre, wenn Missi ihn geheiratet hätte.

Das Zimmer der Fürstin Sophia Wassiljewna war hinter dem großen und dem kleinen Empfangszimmer. Im großen Empfangszimmer blieb Missi, die dem Nechljudow voranging, entschieden stehen, und die Rückenlehne eines kleinen vergoldeten Stuhls anfassend, sah sie ihn an.

Missi hatte große Lust, ihn zu heiraten, und Nechljudow war eine gute Partie. Außerdem gefiel er ihr, und sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß er der ihrige sein werde, nicht sie die seinige, sondern er der ihrige. Sie verfolgte ihr Ziel mit unbewußter, aber hartnäckiger Schlauheit, mit einer Schlauheit, wie sie bei Geisteskranken vorkommt; sie fing an, jetzt mit ihm zu sprechen, um ihn zu Erklärungen zu veranlassen.

›Ich sehe, daß Ihnen etwas passiert ist,‹ sagte sie, ›was haben Sie?‹

Er entsann sich seiner Begegnung im Gericht, er ward finster und rot.

›Ja. es ist etwas passiert,‹ sagte er, da er aufrichtig sein wollte, ›eine seltsame, ungewöhnliche, wichtige Begebenheit.‹

›Was denn? Sie können nicht sagen was?‹

›Ich kann es nicht jetzt. Erlauben Sie mir, nicht darüber zu sprechen. Es ist etwas geschehen, das ich noch nicht Zeit gehabt, vollständig zu überlegen,‹ sagte er und errötete noch mehr.

›Und Sie sagen es mir nicht?‹ Ein Muskel ihres Gesichts erzitterte, und sie schob den kleinen Stuhl von sich, den sie angefaßt hatte.

›Nein, ich kann nicht,‹ antwortete er, und er fühlte, daß, indem er ihr so antwortete, er sich selbst antwortete und anerkannte, daß ihm wirklich etwas sehr Wichtiges geschehen sei.

›Nun, dann wollen wie gehen.‹ Sie schüttelte den Kopf, als ab sie unnötige Gedanken verjagen wollte und ging vorwärts mit rascheren Schritten, als gewöhnlich.

Ihm schien es, daß sie den Mund auf unnatürliche Weise zusammendrückte, um sich der Thränen zu enthalten. Er schämte sich, und es that ihm weh, daß er sie betrübte, aber er wußte, daß die kleinste Schwäche ihn zu Grunde richten, das heißt binden werde. Heute aber fürchtete er sich vor diesem mehr als vor allem, und schweigend ging er mit ihr bis zum Kabinet der Fürstin.

27

Die Fürstin Sophia Wassiljewna hatte ihr sehr feines und sehr nahrhaftes Mittagessen beendet, welches sie immer allein aufzuessen pflegte, damit niemand sie der dieser unpoetischen Fuktion sähe. Neben ihrer Couchette stand ein Tischchen mit Kaffee, und sie rauchte eine Pachitos. Die Fürstin Sophia Wassiljewna war eine magere, lange, immer noch sich jung machende Brünette mit langen Zähnen und großen schwarzen Augen.

Man sprach Schlimmes über ihr Verhältnis zum Doktor. Nechljudow vergaß dies früher; heute aber erinnerte er sich nicht nur dessen, sondern als er den Doktor mit seinem pomadisierten, glänzenden, geteilten Bart neben ihrem Lehnstuhl sah, wurde ihm furchtbar widerwärtig.

Neben der Sophia Wassiljewna saß auf einem niedrigen weichen Lehnstuhl Kolossow an dem Tischchen, und hie und da rührte er seinen Kaffee um. Auf dem Tischchen stand ein kleines Glas Likör.

Missi kam zusammen mit dem Nechljudow zur Mutter herein, aber sie blieb nicht im Zimmer.

›Wenn Mama müde wird und Sie wegjagt, so kommen Sie zu mir,‹ sagte sie, sich an Kolossow und Nechljudow wendend mit einem Ton, als ob nichts zwischen ihnen passiert wäre und, nachdem sie lustig gelächelt, schritt sie lautlos auf dem dicken Teppich aus dem Zimmer hinaus.

›Nun, ich grüße Sie, mein Freund, setzen Sie sich und erzählen Sie,‹ sagte die Fürstin Sophia Wassiljewna mit ihrem geschickten, verstellten, aber dem natürlichen vollständig ähnlichen Lächeln, welches ihre schönen, langen, außerordentlich geschickt gemachten, auf ein Haar den echten ähnlichen Zähne aufdeckte. ›Man sagt mir, daß Sie aus dem Gericht sehr finster gestimmt zurückgekommen. Ich glaube, daß es sehr schwer ist für Leute von Herz,‹ sagte sie französisch.

›Ja, das ist wahr,‹ sagte Nechljudow, ›man fühlt oft seine Un…, man fühlt, daß man kein Recht hat, zu richten…‹

›Comme c’est vrai,‹ rief sie, gleichsam von der Richtigkeit seiner Bemerkung frappiert, und, indem sie, wie immer, ihrem Gesellschafter geschickt schmeichelte.

›Nun, aber wie steht es mit Ihrem Bild? Es interessiert mich sehr,‹ fügte sie hinzu, wäre nicht mein Unvermögen, so würde ich schon lange bei Ihnen gewesen sein.«

»Ich habe es ganz aufgegeben,« antwortete Nechljudow trocken, da ihm heute die Unwahrhaftigkeit ihrer Schmeichelei ebenso augenscheinlich war, wie das von ihr verborgene Alter. Er konnte sich durchaus nicht in eine Stimmung versetzen, um liebenswürdig zu sein.

»Schade! Wissen Sie, Rjepin selbst hat mir gesagt, er sei entschieden ein Talent,« sagte sie, sich an Kolossow wendend.

‘Wie schämt sie sich nicht, so zu lügen,’ dachte Nechljudow, stirnrunzelnd.

Nachdem Sophia Wassiljewna sich überzeugt hatte, daß Nechljudow bei schlechter Laune und es unmöglich sei, ihn in ein angenehmes und kluges Gespräch hineinzuziehen, wandte sie sich an Kolossow mit der Frage nach seiner Meinung über ein neues Drama, in einem Ton, als ob diese Meinung des Kolossow alle Zweifel entscheiden und jedes Wort dieser Meinung verewigt werden müßte. Kolossow verurteilte das Drama und sprach bei dieser Gelegenheit sein Urteil über die Kunst aus.

Die Fürstin Sophia Wassiljewna staunte über die Nichtigkeit seiner Urteile; sie versuchte, den Autor des Dramas zu verteidigen, aber sogleich ergab sie sich, oder fand etwas Vermittelndes. Nechljudow sah und hörte, aber er hat nicht das gesehen und gehört, war vor ihm war.

Indem er bald Sophia Waissljewna, bald Kolossow hörte, sah er erstens, daß sowohl Sophia Wassiljewna als auch Kolossow sich weder für das Drama nach für einander interessierten; wenn sie sprechen, so thun sie er nur der Befriedigung der physiologichen Bedürfnisses wegen, nach dem Essen die Muskeln der Zuge und der Kehle zu bewegen; zweitens sah er, daß Kolossow, der Branntwein, Wein und Likör getrunken, ein wenig betrunken war, nicht so wie die Bauern, die selten trinken, betrunken zu sein pflegen, sondern so, wie die Leute, die den Wein sich zur Gewohnheit gemacht haben. Er schwankte nicht, sprach keine Dummheiten, aber er war in einem anormal-aufgeregten, selbstzufriedenen Zustande; drittens sah Nechljudow, daß die Fürstin Sophia Wassiljewna mitten im Gespräch unruhig auf das Fenster blickte, durch welches ein schräger Sonnenstrahl begann, sie zu erreichen, welcher ihre Jahre zu hell beleuchten konnte.

»Wie richtig ist das,« sagte sie von irgend einer Bemerkung des Kolossow, und dabei drückte sie an der Wand bei der Couchette den Knopf der Klingel.

Dann stand der Doktor auf, und wie ein Hausgenosse ging er, ohne etwas zu sagen, aus dem Zimmer. Sophia Wassiljewna begleitete ihn mit den Augen, indem sie das Gespräch fortführte.

»Bitte, Philipp, lassen Sie diese Gardine herunter,« sagte sie, mit den Augen auf die Gardine des Fensters zeigend, als auf ihr Klingeln der schöne Lakai herein kam.

»Nein, sagen Sie, was Sie wollen, in ihm giebt es etwas Mystisches, und ohne Mystisches giebt es keine Poesie,« sprach sie, indem sie mit einem schwarzen Auge böse die Bewegungen des Lakais verfolgte, der die Gardine herunterließ.

»Mystizismus ohne Poesie ist Aberglaube, und Poesie ohne Mystizisums ist Prosa,« sagte sie traurig lächelnd und ohne den Blick von dem Lakai abzuwenden, der die Gardine ausbreitete.

»Philipp, nicht diese Gardine, — beim großen Fenster,« sprach Sophia Wassiljewna leidend, da sie augenscheinlich sich selbst wegen der Bemühungen bemitleidete, die sie machen mußte, um diese Worte auszusprechen, und sogleich führte sie zur Beruhigung mit der mit Fingerringen bedeckten Hand eine aromatische, dampfende Pachitos zum Munde.

Der muskulöse schöne Philipp mit dem breiten Brustkasten verneigte sich ein wenig, als ob er sich entschuldigte, und indeß er leicht mit den starken Beinen, an denen die Waden hervortraten, über den Teppich ging, bewegte er sich gehorsam und schweigend zu dem andern Fenster und begann, sorgfältig auf die Fürstin blickend, die Gardine so auszubreiten, daß kein einziger Strahl es wagte, auf sie zu fallen, aber auch jetzt hat er es nicht recht getroffen, und wieder mußte die geplagte Sophia Wassiljewna ihre Rede über den Mystizismus abbrechen und den unverständigen und sie unbarmherzig beunruhigenden Philipp zurechtweisen. Für einen Augenblick loderte in den Augen Philipps ein Feuerchen auf.

»Aber der Teufel wird daraus klug, was du brauchst, sagt er wahrscheinlich innerlich« dachte Nechljudow, der dieses ganze Spiel beobachtete. Aber der schöne und starke Philipp verbarg sogleich seine Bewegung der Ungeduld und fing ruhig an, das zu thun, was ihm die ausgemergelte, kraftlose, ganz verkünstelte Fürstin Sophia Wassiljewna befahl.

»Versteht sich, es ist ein großes Stück Wahrheit in der Lehre Darwins,« sprach Kolossow, auf dem niedrigen Lehnstuhl ausgestreckt, indem er mit den schläfrigen Augen die Fürstin ansah, »aber er überschreitet die Grenzen. Ja.«

»Und Sie, glauben Sie an die Vererbung?« fragte die Fürstin Sophia Wassiljewna den Nechljudow, weil sie sich durch sein Schweigen belästigt fühlte.

»An die Vererbung?« fragte Nechljudow noch einmal. »Nein, ich glaube nicht,« sagte er, in diesem Augenblicke ganz von jenen sonderbaren Gestalten absorbiert, die irgendwarum in seiner Fantasie entstanden. Neben dem kräftigen, schönen Philipp, den er sich als Modell vorstellte, stellte er sich den Kolossow vor, nackt, mit seinem Bauch in der Art einer Wassermelone, mit dem kahlen Kopf und den muskellosen schlaffen Armen. Ebenso stellten sich ihm unklar auch die jetzt mit Seide und Samt bedeckten Glieder der Sophia Wassiljewna vor, so wie sie in Wirklichleit sein mußten, aber diese Vorstellung war zu schrecklich, und er gab sich Mühe, sie zu verjagen.

Sophia Wassiljewna maß ihn mit den Augen.

»Nun aber, Missi erwartet Sie doch,« sagte sie. »Gehen Sie zu ihr, sie wollte Ihnen ein neues Stück von Schumann spielen. seine interessant.«

»Nichts wollte sie spielen. Alles das lügt sie irgendwozu,« dachte Nechljudow, aufstehend und die durchsichtige, knöcherne, mit Fingerringen bedeckte Hand der Sophia Wassiljewna drückend.

Im Empfangszimmer begegnete ihm Katharina Alexejewna, und sogleich fing sie an zu sprechen:

»Aber ich sehe wohl, daß die Pflichten eines Geschworenen auf Sie niederdrückend wirken,« sagte sie, wie immer, französisch.

»Ja, verzeihen Sie mir, heute hin ich schlechter Laune, und ich habe kein Recht, den anderen Langeweile zu verursachen,« sagte Nechljudow.

»Warum sind Sie denn schlechter Laune?«

»Erlauben Sie mir, nicht zu sagen, warum ich es hin,« sagte er, seinen Hut suchend.

»Aber erinnern Sie sich, wie Sie sagten, daß man immer die Wahrheit sprechen müsse, und wie Sie uns allen so grausame Wahrheiten sagten? Warum denn wollen Sie sie jetzt nicht sagen? Erinnerst Du Dich Missi?« wandte Katharina Alexejowna sich an die zu ihnen herausgekommene Missi.

»Darum, weil dies ein Spiel war,« antwortete Nechljudow ernst. »Im Spiel kann man das. ›Aber in der Wirklichkeit sind wir so schlecht, das heißt, ich bin so schlecht, daß wenigstens ich die Wahrheit unmöglich sagen kann.‹

›Korrigieren Sie sich nicht, lieber aber sagen Sie, worin wir so schlecht sind,‹ sagte Katharina Alexejewna, mit den Worten spielend, und als ob sie den Ernst des Nechljudow nicht merkte.

›Nichts ist schlimmer, als bekennen schlechter Laune zu sein,‹ sagte Missi. ›Ich bekenne mich vor mir selber nie dazu, und darum bin ich immer guter Laune. Nun, wollen wir denn zu mir gehen? Wir wollen uns Mühe geben, Ihre mauvais humeur zu vertreiben.‹

Nechljudow empfand ein Gefühl, daß dem ähnlich war, was das Pferd empfinden muß, wenn man es streichelt, um ihm den Zaum anzulegen und es zum Einspannen zu führen. Ihm aber war es heute, mehr als je, unangenehm zu ziehen. Er entschuldigte sich, daß er nach Hause müsse und fing an, sich zu verabschieden. Missi behielt seine Hand länger als gewöhnlich.

›Vergessen Sie nicht, daß das, war für Sie wichtig ist, auch für ihre Freunde wichtig ist,‹ sagte sie. ›Kommen Sie morgen?‹

›Kaum,‹ sagte Nechljudow, und Scham, er wußte nicht für sich oder für sie empfindend, wurde er rot und ging eilig hinaus.

›Was ist das? Comme cela m’intrigue,‹ sprach Katharina Alexejewna, als Nechljudow weggegangen war. ›Ich will das durchaus erfahren. Irgend welche affair d’amour propre, il est très suceptible, notre cher Mitja.‹

’Plutôt une affair d’amour sale,« wollte Missi sagen. indem sie mit einem ganz anderen, erloschenen Gesicht vor sich hin sah, als das war, mit dem sie ihn angesehen. Aber sie sagte sagar der Katharina Alexejewna dieses calembour de mauvais ton nicht; sie bemerkte nur:

»Wir haben alle sowohl unsere schlechten wie guten Tage.«

‘Wird denn wirklich auch dieser täuschen?’ dachte sie. ’Nach alledem, was gewesen, wäre es sehr schlecht von ihm.’

Wenn Missi hätte erklären sollen, was sie unter den Worten »nach alledem, was gewesen« — verstehe, würde sie nichts Bestimmtes haben sagen können; indessen aber wußte sie unzweifelhaft, daß er nicht nur Hoffnungen in ihr hervorgerufen, sondern sich ihr fast versprochen habe. Alles das waren keine bestimmten Worte, sondeen Blicke, Lächeln, Andeutungen, Verschweigungen. Aber sie hielt ihn dennach für den ihrigen, und ihn zu verlieren, würde ihr sehr schwer werden.

28

»Es ist schändlich und abscheulich, abscheulich und schändlich«, dachte inzwischen Nechljudow, als er zu Fuß über die bekannten Straßen nach Hause zurückkehrte. Das schwere Gefühl, das er nach dem Gespräch mit Missi empfand, verließ ihn nicht. Er wußte, daß er formal, wenn man sich so ausdrücken darf, vor ihr recht habe; er hatte ihr nichts gesagt, was ihn gebunden hätte, er hatte ihr keinen Antrag gemacht, aber dem Wesen der Sache nach fühlte er, daß er sich mit ihr gebunden, sich ihr versprochen habe. Gleichwohl empfand er heute in allen Fasern seiner Seele, daß er sie nicht heiraten könne.

‘Es ist schändlich und abscheulich, abscheulich und schändlich,’ wiederholte er sich, nicht allein von seinen Beziehungen zu Missi, sondern von allem. ‘Alles ist abscheulith und schändlich’, wiederholte er sich, indem er die Treppe seines Hauses hinaufstieg.

»Zu Nacht essen werde ich nicht,« sagte er dem Kornej, der hinter ihm in das Speisezimmer hereinkam, wo das Gedeck und Thee hergerichtet waren.

»Bitte, gehen Sie.«

»Zu Befehl,« sagte Kornej, aber er ging nicht weg und fing an, den Tisch abzuräumen. Nechljudow betrachtete den Kornej und empfand gegen ihn ein ungutes Gefühl. Er wünschte, daß alle ihn in Ruhe ließen, es schien aber, daß alle, wie absichtlich, ihm zum Trotz, sich an ihn andrängten. Als Kornej mit dem Gedeck weggegangen war, wollte Nechljudow an den Samowar herantreten, um Thee zuzuschütten, aber als er die Schritte der Agrafena Petrowna hörte, ging er eilig, um sie nicht zu sehen, in das Empfangszimmer hinaus und machte hinter sich die Thür zu.

Dieses Zimmer, das Empfangszimmer, war dasselbe, in welchem vor drei Monaten seine Muttee gestorben war. Jetzt als er dieses Zimmer betrat, das von zwei Lampen mit Reflektoren — einer bei dem Porträt seines Vaters, und der andere bei dem Potrtät seiner Mutter, beleuchtet war, erinnerte er sich an sein letztes Verhältnis zur Mutter, und diese Beziehungen erschienen ihm unnatürlich und widerwärtig; auch das war schändlich und abscheulich. Er erinnerete sich, wie er in der letzten Zeit ihrer Krankheit geradezu ihren Tod wünschte. Er sagte sich, daß er ihn deswegen wünsche, damit sie von den Leiden befreit sei, in Wirklichbeit aber wünschte er ihn, damit er selbst von dem Anblick ihrer Leiden frei werde.

Da er in sich eine gute Erinnerung an sie hervorzurufen wünschte, blickte er auf ihr Porträt, das von einem berühmten Maler für fünftausend Rubel gemalt worden. Sie war im schwarzen Samtkleid mit entblößter Brust dargestellt. Der Künstler hatte augenscheinlich mit besonderem Fleiße die Brust, den Zwischenraum zwischen beiden Brüsten und die blendend schönen Schultern und den Hals ausgepinselt. Das war schon ganz und gar schändlich und abscheulich. Etwas Scheußliches und Lästerliches war in der Darstellung der Mutter in Gestalt eines halbentblößten Schönheit. Etwas um so Scheußlicheres, da in demselben Zimmer vor drei Monaten dieselbe Frau lag, zusammengetrocknet wie eine Mumie, die dennoch nicht nur das ganze Zimmer, sondern auch das ganze Haus mit dem qualvoll schweren Geruch erfüllte, den man durch nichts vertreiben konnte. Ihm schien es, daß er auch jetzt diesen Geruch empfinde. Und er erinnerte sich, wie sie einen Tag vor dem Tode seine starke, weiße Hand in ihr knöchernes schwarzwerdendes Händchen nahm, ihm in die Augen sah und sagte: ‘verurteile mich nicht, Mitja, wenn ich nicht das that, war ich sollte,’ und in ihre vom Leiden verblichenen Augen traten die Thränen.

»Welche Scheußlichkeit,« sagte er zu sich, indem er noch einmal auf die halbentblößte Frau mit den herrlichen, marmornen Schultern und Armen und mit dem siegreichen Lächeln blickte. Die Entblößung der Brust auf dem Porträt erinnerte ihn an ein anderes junges Frauenzimmer, das er in diesen Tagen auch entblößt gesehen. Das war Missi, die einen Vorwand, ihn abends kommen zu lassen, ausgedacht hatte, um sich ihm in dem Ballkleide, in dem sie auf den Ball fuhr, zu zeigen. Er erinnerte sich mit Abscheu ihrer schönen Schultern und Arme. Und dieser grobe, tierische Vater mit seiner grausamen Vergangenheit, und die Mutter, dieser bel esprit den zweifelhafter Reputation. Alles das war abscheulich und zugleich schändlich. Schändlich und abscheulich. Abscheulich und schändlich.

‘Nein, nein,’ dachte er, ‘sich loslösen muß man, sich loslösen von all diesen falschen Verhältnissen, zu Kortschagins, und zu Maria Wassiljewna, und zu der Erbschaft und allem übrigen …Ja, ein wenig frei aufatmen, ins Ausland fahren, nach Rom, sich an sein Bild machen.’ Er erinnerte sich an seine Zweifel in Bezug auf sein Talent…‘Nun, aber das ist ja ganz gleich, einfach ein wenig frei aufatmen. Erst nach Konstantinopel, dann nach Rom, nur nicht mehr Geschworener sein, sich schnell losmachen. Und diese Sache mit dem Advokaten in Ordnung bringen.’

Und plötzlich entstand in seiner Fantasie mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit die Arrestantin mit den schwarzen, schielenden Augen. Und wie sie aufweinte beim letzten Worte an die Angeklagten. Er drückte die angerauchte Ciagrette, indem er sie eilig auslöschte, in der Aschenschale zusammen, rauchte eine andere an und begann, im Zimmer hin und her zu gehen. Und eine nach der anderen fingen die Minuten, welche er mit ihr erlebt hatte, an, in seiner Phantasie zu entstehen. Er erinnerte sich an das letzte Wiedersehen mit ihr, an jene animalische Leidenschaft, welche sich seiner um diese Zeit bemächtigte, und an die Enttäuschung,fr die er erfahren, als die Leidenschaft befriedigt worden. Er erinnerte sich an das weiße Kleid mit dem blauen Bande, erinnerte sich an die Frühmesse. ‘Aber ich liebte sie ja, liebte sie wahrhaft in dieser Nacht, mit guter reiner Liebe, ich liebte sie schon früher, und wie gar liebte ich sie, als ich zum ersten Male bei den Tantchen lebte und die Arbeit schrieb.’ Und er erinnerte sich seiner, wie er damals war. Es überströmte ihn jene Frische, Jugend, Fülle des Lebens, und es wurde ihm qualvoll wehmütig.

Den Unterschied zwischen ihm, wie er damals war und wie er gegenwärtig ist, ist ungeheuer; er war ebenso groß, wenn nicht größer, als der Unterschied zwischen Katjuscha in der Kirche und jener Prostituierten, die sich mit dem Kaufmann betrank, und die sie heute morgen richteten. Damals war er ein frischer, freier Mensch, vor dem sich unendliche Möglichkeiten eröffneten; jetzt fühlte er sich von allen Seiten im Fangnetz des dummen, leeren, ziellosen, nichtigen Lebens gefangen, aus welchem er keinen Ausgang fand, ja gewöhnlich sogar wollte er gar nicht hinaus. Er erinnerte sich, wie er ehemals auf seine Geradheit stolz war, wie er sich ehemals zur Regel nahm, immer die Wahrheit zu sagen und wirklich wahrhaft war, und wie er jetzt ganz in der Lüge steckte. In der allerschrecklichsten Lüge, in der Lüge, die alle ihn umgebenden Menschen für die Wahrheit halten. Und es gab aus dieser Lüge kein Entrinnen, wenigstens sah er kein Entrinnen. Und er vesank in sie, gewöhnte sich an sie und hätschelte sie.

Wie ist das Verhältnis mit Maria Wassiljewna und ihrem Manne so zu lösen, daß er sich nicht schämen mußte, ihm und seinen Kindern ins Gesicht zu sehen? Wie sind außerdem die Beziehungen zu Missi zu entwirren? Wie sich aus dem Widerspruch herausarbeiten, zwischen der Anerkennung der Ungerechtigkeit des Grundeigentums und dem Besitz der für das Leben notwendigen Erbschaft der Mutter? Wie ist seine Sünde gegen Katjuscha gut zu machen? Es ist ja unmöglich, das so zu lassen. ’Es ist unmöglich, die Frau, die ich geliebt habe, zu verlassen und mich damit zufrieden zu geben, daß ich dem Advokaten Geld bezahle und sie von der Zwangsarbeit befreie — welche sie ja nicht verdient. Die Schuld mit Geld gut machen, — — ia wie ich damald dachte, daß ich gethan, was ich sollte, indem ich ihr Geld gegeben.’

Und er erinnerte sich lebhaft an die Minute, wo er ihr im Korridor, nachdem er sie eingeholt, das Geld eingesteckt hatte und von ihr weggelaufen war. ‘Ach, dieses Geld!’ und er vergegenwärtigte sich mit Grausen und Abscheu jene Minute, mit eben solchem Abscheu wie damals. ‘Ach, ach! welche Abscheulichkeit!’ sprach er ebenso, wie damals, laut vor sich hin. ‘Nur ein Schuft, ein Taugenichts konnte das thun. Und ich bin jener Taugenichts, ich bin jener Schuft!’ fing er laut an. ’Aber ist es denn in der That so?’ — er blieb steben, — ‘bin ich denn in der That, bin ich denn wirklich ein Taugenichts? Und was denn sonst?’ antwortete er sich. ‘Ist es etwa nur das allein?’ fuhr er fort, sich zu überführen. ‘Ist es etwa keine Abscheulichkeit, keine Niedrigkeit, dein Verhältnis zu Maria Wassiljewna und ihrem Mann? Und dein Verhalten gegen daß Eigentum? Unter dem Vorwand, daß das Geld von der Mutter ist, den Reichtum genießen, welchen du für ungerecht hältst? Und dein ganzes müßiges scheußliches Leben. Und die Krone von allem — dein Betragen gegen Katjuscha. Taugenichts, Schuft! Sie, die Leute, laß über mich urteilen, wie sie wollen, sie kann ich betrügen, aber mich selbst betrüge ich nicht!’

Und plötzlich hat er begriffen, daß jener Abscheu, welchen er in der letzten Zeit gegen die Menschen empfand, und besoners heute, sowohl gegen den Fürsten, wie gegen Sophia Wassiljewna, gegen Missi und gegen Kornej, der Abscheu gegen sich selbst war. Und — wunderbare Sache! — es war in diesem Eingeständniß seiner Gemeinheit etwas Krankhaftes und zugleich Freudiges und Beruhigendes.

Dem Nechljudow passierte nicht zum ersten Mal im Leben das, was er ‘die Reinigung der Seele’ nannte. Die Reinigung der Seele nannte er jenen seelischen Zustand, da er sich plötzlich, zuweilen nach einem großen Zeitraum, der Verzögerung, manchmal aber auch des Stehenbleibens des inneren Lebens bewußt ward, und sich an die Reinigung all dieses Kehrichts machte, welcher sich in seiner Seele angesammelt hatte und die Ursache dieses Stehenbleibens war.

Jedesmal stellte sich Nechljudow nach solchem Aufwachen Regeln auf, denen er für immer zu folgen gesonnen war: er schrieb ein Tagebuch, fing ein neues Leben an, welches er nie zu ändern hoffte, — turning a new leaf — wie er zu sich sagte. Aber jedesmal fingen ihn die Verführungen der Welt und er fiel wieder, ohne es selber zu merken, und oft noch tiefer als früher.

Auf diese Weise reinigte er sich und erhob sich einige Male; so war es mit ihm zum ersten Mal, als er für den Sommer zu den Tantchen angefahren kam. Das war das lebhafteste und begeistertste Aufwachen. Und seine Folgen dauerten ziemlich lange. Dann hatte er ein eben solched Aufwachen, als er den Staatsdienst verlassen und mit dem Wunsche, sein Leben zu opfern, während des Krieges in den Militärdienst eingetreten war. Aber da trat die Stockung sehr schnell ein. Darauf kam ein Aufwachen, als er den Abschied nahm, ins Ausland reiste und anfing, sich mit Malerei zu beschäftigen.

Von der Zeit und bis zum heutigen Tage verfloß eine große Periode ohne Reinigung, und darum kam es bei ihm noch nie zu einen solcher Verunreinigung, zu einem solchen Zwiespalt zwischen dem, was sein Gewissen verlangte, und dem Leben, das er führte, und er ergrauste, als er diese Kluft ersah. Diese Kluft war so weit, die Verunreinigung so stark, daß er im ersten Augenblicke an der Möglichkeit der Reinigung verzweifelte. ‘Du hast ja schon versucht, dich zu vervollkommnen und besser zu sein, und es ward nichts daraus,’ sprach die Stimme des Versuchers in seiner Seele, ‘also wozu denn noch einmal versuchen?…Nicht du allein, sondern alle sind so, — so ist das Leben,’ — sprach diese Stimme. Aber jenes freie geistige Wesen, welches allein wahr, allein mächtig, allein ewig ist, erwachte schon in Nechljudow. Und es war unmöglich, ihm nicht zu glauben.

Wie ungeheuer groß die Kluft zwischen dem, was er war, und dem, was er sein wollte, sein mag, so erschien dem erwachten geistigen Wesen alles möglich.

‘Ich zerreiße diese mich bindende Lüge, es möge mir kosten, was es wolle, und ich gebe der Wahrheit die Ehre, und allen sage ich die Wahrheit und thue die Wahrheit,’ sagte er zu sich entschieden, laut. »Ich sage Missi die Wahrheit, daß ich ein lüderlicher Mensch bin und sie nicht heiraten kann und nur umsonst beunruhigt habe. Ich sage der Maria Wassiljewna — —. Uebrigens, ihr brauche ich nichts zu sagen, ich sage ihrem Mann, daß ich ein Taugenichts bin, ich betrog ihn. Mit der Erbschaft werde ich es so einrichten, daß der Wahrheit die Ehre gegeben wird. Ich sage ihr, der Katjuscha, daß ich ein Taugenichts bin, daß ich das ihr schuldig bin, und ich werde alles thun, was ich kann, um ihr Schicksal zu mildern. Ja, ich werde sie sehen und sie bitten, mir zu verzeihen.

Ja, ich werde um Verzeihung bitten, wie die Kinder bitten.’

Er blieb stehen, — ‘ich heirate sie, wenn es nötig ist.’ Er blieb wieder stehen, legte die Hände vor der Brust zusammen, wie er gethan, als er noch klein gewesen, er hob die Augen empor und sagte, sich an jemand wendend: ‘Herr, hilf mir, lehre mich, komm und zieh in mich ein, und reinige mich von allein Unreinen!«

Er betete, bat Gott, ihm zu helfen, in ihn einzuziehen und ihn zu reinigen, unterdessen aber war das, um was er bat, schon geschehen; der in ihm wohnende Gott erwachte in seinem Bewußtsein. Er fing an, sich als ein solcher zu fühlen, und darum empfand Nechljudow nicht nur die Freiheit, den Mut und die Freude des Lebens, sondern er fühlte auch die ganze Macht des Guten. Alles, alles Beste, das nur der Mensch zu thun fähig ist, fühlte er sich jetzt zu vollbringen fähig.

In seinen Augen waren Thränen, als er mit sich sprach, gute Thränen und schlechte, — gute Thränen, weil es die Thränen der Freude über das Aufwachen desjenigen geistigen Wesens waren, welches alle diese Jahre hindurch in ihm geschlummert hatte, und schlechte, weil es Thränen den Rührung über sich selbst, über seine Tugend waren.

Ihm wurde heiß. Er kam an das Fenster, wo das Doppelfenster herausgenommen war und öffnete es. Das Fenster ging in den Garten. Es war eine stille, frische Mondnacht, es rasselten einmal die Räder durch die Straße, und dann ward alles still. Grade vor dem Fenster sah man den Schatten der Reste einer nackten, hohen Pappel, der mit allen seinen Gabelzweigen scharf abgezeichnet auf dem Sand des von Bäumen befreiten Plätzchens lag. Links war das Dach der Scheune, das im hellen Mondschein weiß schimmerte; vorn verschlangen sich die Aeste den Bäume, hinter denen der schwarze Schatten des Zauns sichtbar war. Nechljudow sah auf den vom Mond beleuchteten Garten und auf das Dach und auf den Schatten den Pappel, und er horchte und atmete die belebende frische Luft.

‘Wie schön ist es, wie schön, mein Gott, wie ist es schön!’ sprach er von dem, was in seiner Seele war.

29

Die Maslowa kehrte erst um 6 Uhr abends nach Hause zurück in ihre Kammer, nach einem 15 Werst langen Gange auf den Steinen, des Gehens ungewöhnt, ermüdet und mit schmerzenden Beinen, außerdem durch das unerwartet strenge Urteil getroffen und hungrig.

Als, noch während einer Unterbrechung, die Wächter neben ihr einen Imbiß von Brot mit hart gekochten Eiern zu sich nahmen, wässerte ihr der Mund, und sie fühlte, daß sie hungrig sei; sie zu bitten aber hielt sie für erniedrigend für sich. Als aber nach diesen uoch drei Stunden verflossen waren, verlor sie schon die Lust zu essen, und sie empfand nur Schwäche. In solchem Zustande hat sie das von ihr unerwartete Urteil vernommen. In der ersten Minute glaubte sie, sich verhört zu haben, sie konnte nicht sich mit dem Begriff einer Zwangsarbeiterin zusammen reimen; sie konnte nicht auf einmal glauben, was sie hörte. Aber als sie die ruhigen Geschäftsgesichter der Geschworenen, der Richtet sah, die diese Nachricht als etwas vollkommen Natürliches und Erwartetes empfingen, empörte sie sich und schrie durch den ganzen Saal hin, daß sie unschuldig sei. Als sie aber sah, daß auch ihr Schreien als etwas Natürliches, Erwartetes und die Sache nicht zu ändern Vermögendes aufgenommen wurde, entsetzte sie sich und fing an, verzweifelt zu weinen, da sie fühlte, daß sie sich dieser grausamen und überraschenden Ungerechtigkeit, die gegen sie verübt worden, unterwerfen müsse. Besonders setzte sie der Umstand in Erstaunen, daß es Männer waren, die sie so grausam verurteilten, junge, keine alten Männer, dieselben, welche immer so freundlich auf sie sahen. Nur der Staatsanwalt allein hatte heute ein ganz anderes Gesicht gemacht.

Während sie im Arrestantenzimmer saß und das Gericht erwartete, und während der Unterbrechungen der Sitzung sah sie, wie diese Männer, indem sie sich anstellten, als ob sie wegen einer anderen Sache gingen, neben der Thür vorbeikamen, oder in das Zimmer hineintraten und sie freundlich besahen. Und plötzlich verurteilten sie irgend warum diese selben Männer zur Zwangsarbeit, trotzdem sie unschuldig war an dem, dessen man sie beschuldigte. Erst weinte sie, dann wurde sie still, und im Zustande vollkommener Stumpfheit saß sie im Arrestantenzimmer und wartete der Abführung. Sie wollte jetzt nur zweierlei: rauchen und Schnaps trinken. In solchem Zustande traf sie der Wächter, der ihr drei Rubel Geld brachte.

»Nimm, hier, eine Dame hat es Dir geschickt,« sagte er, ihr das Geld reichend.

»Welche Dame?«

»Nimm nur, muß man auch noch mit ihnen sprechen?«

Dieses Geld hatte die Kitajewa, die Inhaberin des Toleranzhauses geschickt. Als sie aus dem Gericht wegging, wandte sie sich an den Gerichtskommissär mit der Frage, ob sie der Maslowa einiges Geld übergeben könne. Der Gerichtskommissär sagte, daß sie es könne. Dann, nachdem sie die Erlaubnis bekommen, zog sie den dänischen Handschuh mit drei Knöpfen von der aufgedunsenen, weißen Hand, nahm aus den hinteren Falten des seidenen Rockes eine moderne Geldtasche, und nachdem sie aus einer ziemlich großen Quantität der eben von den Wertpapieren abgeschnittenen Coupons, die sie in ihrem Hause verdient hatte, einen zu zwei Rubel und fünfzig Kopeken ausgesucht, und zu demselben zwei Zwanzig-kopekenstücke und nach ein Zehnkopekenstück hinzugefügt, übergab sie dieses Geld dem Kommissär. Der Kommissär hieß einen Wächter kommen, und in Gegenwart der Spenderin übergab er dem Wächter dieses Geld.

»Bitte, geben Sie richtig ab,« sagte Karolina Albertowna dem Wächter.

Der Wächter fühlte sich durch dieses Mißtrauen beleidigt, und darum ging er so böse mit der Maslowa um.

Die Maslowa freute sich über das Geld, weil es ihr das gab, war einzig sie jetzt wünschte.

‘Wenn ich nur Cigaretten und Schnaps kriegte,’ sprach sie zu sich, und alle ihre Gedanken waren auf den Wunsch zu rauchen und zu trinken konzentriert. Sie sehnte sich nach dem Schnaps so sehr, weil sie in der Phantasie seinen Geschmack und seine Stärke fühlte; und sie atmete gierig die Luft, wenn sie den Geruch des Tabaksrauches spürte, der aus den Kabinetthüren in den Korridor hinausdrang. Aber sie mußte noch lange warten, weil der Sekretär, welcher sie weglassen sollte, die Angeklagten vergaß, und sich mit einem Advokaten in ein Gespräch, ja sogar in einen Streit über den verbotenen Aufsatz einließ. Einige junge und alte Leute kamen auch nach der Gerichtssitzung, um sie zu sehen und flüsterten einander etwas zu, aber sie bemerkte sie jetzt nicht einmal.

Endlich ließ man nach vier Uhr erst die Botschkowa uud Kartinkin weg, und nachher führten die Eskortesoldaten, der Tschuwasche und der von Nischnij-Nowgorod, die Maslowa ab. Und nun gab sie im Flur des Gerichtsgebäudes ihnen fünfzig Kopeken, indem sie sie bat, zwei Kalatschen, Cigaretten und eine halbe Flasche Branntwein zu kaufen. Der Tschuwasche lachte auf, nahm das Geld und sagte: »Gut, kaufen es,« und wirklich hat er ehrlich Cigaretten und Kalatschen gekauft und das herauszugebende Geld zurückgebracht; Schnaps zu kaufen aber verweigerte er, so daß man die Möglichkeit, etwas Schnaps zu trinken, bis zur Rückkehr in das Gefängnis verschieben mußte. Unterwegs stillte die Maslowa ihren Hunger mit dem Kalatsch und kehrte ins Gefängnis schon nach der Kontrole zurück. Um dieselbe Zeit, als sie zur Thür des Gefängnisses geführt wurde, führte man vom Eisenbahnzug etwa hundert Mann Arrestanten hinzu. In dem Durchgang stieß sie mit ihnen zusammen.

Die Arrestanten, die bärtigen, rasierten, alten, jungen, Russen, Fremden — manche mit halbrasierten Köpfen, rasselten mit den Beinschellen, erfüllten das Vorzimmer mit Staub, mit dem Getöse ihrer Schritte, mit Gerede und ätzendem Schweißgeruch. Indes die Arrestanten an der Maslowna vorbeigingen, besahen sie sie gierig, und manche mit von Lüsternheit veränderten Gesichtern näherten sich ihr lachelnd und mit den Augen glänzend und berührten sie.

»Ei Dirne, — schön, — eine moskauische,« sprach der eine.

»Hab’ die Ehre, Tantchen,« sprach der andere, mit dem Auge blinzelnd. Ein Schwarzer mit rasiertem blauen Nacken und mit einem Schnurrbart auf dem rasierten Gesicht, sprang auf sie zu und umarmte sie.

»Nun, ziehre dich nicht,« schrie er sie an, als sie ihn weggestoßen.

»Was thust du, Spitzbube,« schrie der Unteraufseher. Der Arrestant zog sich ganz zusammen und sprang eilig zurück. Der Aufseher aber fuhr auf die Maslowa los.

»Wozu bist du da?«

Die Maslowa wollte sagen, daß man sie aus dem Gericht geführt, aber sie war so müde, daß sie zu faul war, um zu sprechen.

»Aus dem Gerichte, Euer Wohlgeboren,« sagte der ältere Eskortesoldat, indem er aus der Mitte der Vorbeigehenden trat und die Hand an den Hut legte.

»Nun, dann übergieb sie dem Aeltesten. Was ist das für eine Wirtschaft!«

»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren.«

»Sokolow! In Empfang nehmen,« schrie der Unteraufseher.

Der Aelteste kam und stieß die Maslowa böse an die Schulter, und ihr mit dem Kopfe winkend, führte er sie in den Korridor der weiblichen Abteilung. Dort durchsuchte man sie und ließ sie in dieselbe Kammer ein, aus welcher sie heute früh herausgegangen.

30

Die Gefängniskammer, in welcher die Maslowa eingesperrt war, war ein neun Arschin langes und sieben Arschin breites Zimmer mit zwei Fenstern, einem vorspringenden abgeschülferten Ofen und Pritschen von ausgetrockneten Brettern, welche zwei Drittel des Raumes einnahmen.

In der Mitte, der Thür gegenüber, hing ein dunkles Heiligenbild mit einem daran festgeklebten Wachslicht und darunter angehängtem, bestäubtem Immortellenbouquet. Von der Thür links, auf der Diele, war eine schwarz gewordene Stelle zu sehen, wo eine stinkende Kufe ihren Platz hatte. Die Kontrolle war eben vorbei, und bie Frauen waren schon für die Nacht eingeschlossen.

Die Bewohnerinnen in dieser Kammer waren im ganzen fünfzehn, zwölf Frauen und drei Kinder.

Es war noch ganz hell, und nur zwei Frauen lagen auf der Pritsche; eine bis über den Kopf mit dem Schlafrock zugedeckte Blödsinnige, die wegen Mangel an Ausweisschriften verhaftet worden, — diese schlief fast immer — und eine andere, Schwindsüchtige, die ihre Strafe wegen Diebstahls abbüßte. Diese schlief nicht und lag mit weit geöffneten Augen da, nachdem sie sich den Schlafrock unter den Kopf geschoben. Mit Mühe hielt sie den kitzelnden und brodelnden Schleim in der Kehle zurück, um nicht zu husten. Von den übrigen Frauen, von denen die meisten nur Hemden aus roher Leinwand anhatten, saßen einige auf der Pritsche, drei von ihnen nähten; einige aber standen am Fenster und sahen auf die über den Hof gehenden Arrestanten hinunter.

Eine jener drei Nähenden war dieselbe Alte, welche die Maslowa begleitet hatte, die Korablewa, eine hochgewachsene, kräftige, runzelige Frau von finsteterm Aussehen mit zusammengezogenen Augenbrauen und mit einem unter dem Kinn hängenden Hautsack, mit einem kurzen Zöpfchen blonder, an den Schläfen grauwerdender Haare und mit einer haarigen Warze auf der Wange. Diese Alte war wegen Tötung ihres Mannes mit der Art zur Zwangsarbeit verurteilt worden. Totgeschlagen aber hat sie ihn, weil er sich ihrer Tochter aufdrängte. Die Korablewa war die Aufseherin der Kammer und handelte auch mit Schnaps. Sie nähte mit der Brille und hielt in der großen Arbeitshand die Nadel nach Bauernart mit drei Fingern und die Spitze gegen sich gekehrt. Neben ihr saß und nähte gleich ihr Säcke aus Segeltuch eine nicht große, schwärzliche, stumpfnasige Frau mit kleinen schwarzen Augen, gutmütig und geschwätzig. Dies war eine Wächterin bei einem Bahnwärterhäuschen, die zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil sie nicht zum Zuge mit der Fahne herausgekommen war; der Zug aber war verunglückt. Die dritte nähende Frau war Fedossija, — Fenitschka, wie sie die Genossinnen nannten — eine weiße, rotbäckige, ganz junge und sehr liebliche Frau mit klaren kindlichen blauen Augen; zwei lange blonde Zöpfe trug sie um den kleinen Kopf gelegt. Sie befand sich in Haft wegen eines Versuchs, ihren Mann zu vergiften. Diesen Vergiftungsversuch machte sie sogleich nach der Verehelichung — sie war als sechzehnjähriges Mädchen verheiratet worden. Im Verlaufe der acht Monate, in welchen sie gegen Kaution entlassen, die gerichtliche Entscheidung erwartete, hatte sie sich nicht nur mit dem Mann ausgesöhnt, sondern ihn sogar so lieb gewonnen, daß sie, als das Urteil sie traf, mit ihrem Mann ein Herz und eine Seele war. Trotzdem der Mann und der Schwiegervater und besonders die Schwiegermutter, die sie lieb gewonnen, sich aus allen Kräften bemühten, sie zu rechtfertigen, war sie zur Verschickung nach Sibirien in Zwangsarbeit verurteilt worden. Diese gute lustige, oft lächelnde Fedossija war eine Nachbarin der Maslowa auf der Pritsche und gewann sie nicht nur lieb, sondern hielt es auch für ihre Pflicht, für sie zu sorgen und ihr zu dienen. Ohne Arbeit saßen auf der Pritsche noch zwei Frauen. Die eine mit blassem, magerem Gesicht, ehemals augenscheinlich sehr schön, jetzt hager und bleich, hielt ein Kind im Arm und nährte es an der weißen, langen Brust. Ihr Verbrechen bestand in folgendem: als man aus ihrem Dorfe einen, nach den Begriffen der Bauern ungesetzlich eingezogenen Rekruten wegführte, hielt das Volk den Stanowoj zurück und entriß ihm den Rekruten. Diese Frau aber, die Tante des ungesetzlich eingezogenen Burschen, faßte als erste das Pferd, auf dem man den Rekruten entführen wollte, am Zügel.

Ferner saß ohne Arbeit auf der Pritsche ein nicht großes, ganz runzeliges, gutmütiges Altchen mit grauen Haaren und buckligem Rücken. Das Altchen saß beim Ofen auf der Pritsche und that, als ob es ein vierjähriges, kurzgeschorenes, dickbäuchiges Bübchen, das sich vor Lachen ausschüttete, fangen wolle. Der kleine Bub im bloßen Hemdchen lief an ihr vorbei und sagte dazu immer dasselbe: »Etsch! hast mich nicht gekriegt!« Dieses Altchen, das samt ihrem Sohn wegen Brandstiftung angeklagt war, ertrug die Gefangenschaft mit der größten Gutmütigkeit, nur daß sie um ihren Sohn bekümmert war, der gleichzeitig mit ihr im Gefängnis saß; am meisten aber war sie um ihren Alten bekümmert, der, wie sie fürchtete, ohne sie ganz und gar verläusen würde, da auch die Schwiegertochter weggegangen war und es niemand gab, der ihn waschen konnte.

Außer diesen sieben Frauen standen noch vier an einem der geöffneten Fenster, hielten sich an dem eisernen Gitter fest und tauschten Zeichen und Zurufe mit den im Hofe vorüberpassierenden Arrestanten, denselben, mit denen die Maslowa am Eingang zusammengestoßen war. Eine dieser Frauen, die wegen Diebstahls ihre Strafe abbüßte, war ein großes schweres, rothaariges Weib mit hängendem Leibe; gelblich-weiß, sommersprossenübersäet war das Gesicht, der dicke Hals, der aus dem aufgebundenen offenen Kragen hervorsah, und waren die Arme. Mit heiserer Stimme schrie sie laut durchs Fenster unanständige Worte. Neben ihr stand eine schwärzliche Gefangene, vom Wuchse eines zehnjährigen Mädchens mit langem Oberkörper und ganz kurzen Beinen. Ihr Gesicht war rot und fleckig, mit weit auseinanderstehenden schwarzen Augen und dicken, kurzen Lippen, die die weißen vorstehenden Zähne nicht bedeckten. Winselnd lachte sie hie und da auf über das, war auf dem Hofe vor sich ging. Diese Gefangene, welche wegen ihrer Putzsucht Choroschawka zubenannt ward, war in Untersuchung wegen Diebstahls und Brandstiftung. Hinter ihnen stand eine magere, sehnige, schwangere Frau von kläglichem Aussehen mit ungeheuer großem Bauch, in einem schmutzigen grauen Hemde. Sie befand sich wegen Hehlerei in Haft. Diese Frau schwieg, aber die ganze Zeit lächelte sie beifällig und glückselig über die Vorgänge auf dem Hofe. Die vierte am Fenster stehende war eine kleine, stämmige Frau, aus dem Dorf, die wegen heimlichen Schnapsverkaufes eine Strafe absaß. Diese Frau, mit sehr vorgewölbten Augen und gutmütigem Gesichte, die Mutter des mit dem Altchen spielenden Knaben und eines siebenjährigen Mädchens, das auch mit im im Gefängnis war, weil sie niemand hatte, bei dem sie die Kinder hätte lassen können, sah ebenso wie die anderen aus dem Fenster und strickte dabei ohne Unterbrechung an ihrem Strumpfe, aber ihr Gesicht runzelte sich vor Mißbilligung, und oft schloß sie die Augen bei dem, war die Arrestanten auf dem Hofe sprachen. Ihr Töchterchen aber, das siebenjährige Mädchen mit dem aufgelösten weißlichen Haar, das im bloßen Hemde neben der Rothaarigen stand und sich mit der mageren kleinen Hand an ihrem Rock festhängte, horchte aufmerksam, mit starren Augen, auf die schimpflichen Reden, welche die Frauen mit den Arrestanten wechselten, und wiederholte sie flüsternd, als ob sie sie auswendig lernen wollte. Die zwölfte Arrestantin war die Tochter eines Küsters, welche ihr Kind im Brunnen ertränkt hatte. Es war ein hohes schlankes Mädchen mit wirrem Haar, das aus dem nicht langen, dicken, blonden Zopf hervorgezerrt war, und mit starren, vortretenden Augen. Ohne dem, war um sie herum geschah, irgend welche Aufmerksamkeit zu schenken, ging sie barfuß, im bloßen schmutzigen grauen Hemd, in dem freien Raum der Kammer auf und ab und drehte scharf und rasch um, jedesmal, wenn sie die Wand erreichte.

31

Als das Schloß rasselte und man die Maslowa einlies, wandten sich alle ihr zu. Sogar die Küstertochter blieb auf einen Augenblick stehen, sah die Eintretende mit aufgezogenen Augenbrauen an, sagte aber nichts und begann aufs neue, mit ihren großen entschiedenen Schritten auf und ab zu gehen. Die Korablewa steckte die Nadel in die rohe Leinwand und starrte die Maslowa fragend durch die Brille an.

»Ach herrjeh! Zurück kommst du! Und ich hab’ doch immer gedacht, sie sprechen dich frei,« sagte sie mit ihrer heiseren, fast männlichen Baßstimme. »Bist verdonnert, scheint’s?«

Sie nahm die Brille ab und legte ihre Näherei neben sich auf die Pritsche.

»Tantchen und ich, wie haben ja auch schon hin und hergesprochen, mein Schwälbchen, vielleicht läßt man dich auf einmal frei. Sie sagen ja, so was passiert mal, je nachdem du eine glückliche Stunde triffst, sie geben einem sogar nach Geld dazu,« begann sogleich mit singender Stimme die Bahnwärterin, »aber sieh mal an, was ist nu. Unsere Ahnungen sind, scheint’s, nicht wahr geworden. Der Herr, scheint’s, thut wie er will, Schwälbchen!« fuhr sie, ohne zu verstummen, in ihrer freundlichen, wohlklingenden Rede fort.

»Bist wirklich verurteilt?« fragte Fedossija mit mitleidiger Zärlichkeit, während sie die Maslowa mit ihren kindlichen, klarblauen Augen ansah, und ihr ganzes lustiges junges Gesicht veränderte sich, als ob sie bereit sei, hinauszuweinen.

Die Maslowa antwortete nicht; sie ging schweigend an ihren Platz, den zweiten vom Ende, neben der Korablewa, und setzte sich auf die Bretter der Pritsche.

»Ich denk’ fast, du hast nicht mal was zu essen gekriegt,« sagte Fedossija, indem sie aufstand und sich der Maslowa näherte.

Die Maslowa legte, ohne zu antworten, die Kalatschen ans Kopfende und begann, sich zu entkleiden; sie zog den staubigen Schlafrock aus, nahm das Halstuch von den krauslichen schwarzen Haaren und setzte sich.

Das am anderen Ende der Pritsche mit dem Knaben spielende bucklige Altchen kam auch heraus und blieb der Maslowa gegenüber stehen.

»Tzz! Tzz! Tzz!« begann sie, mitleidig den Kopf schüttelnd, mit der Zunge zu schnalzen.

Der kleine Bub kam gleichfalls hinter dem Altchen her, und mit weit geöffneten Augen, die Oberlippe zu einem Schnäuzchen vorgeschoben, starrte er die Kalatschen an, die die Maslowa mitgebracht hatte. Als die Maslowa, nach alledem, was heute mit ihr geschehen, all diese mitleidigen Gesichter erblickte, waren ihr die Thränen nahe, und ihre Lippen erzitterten. Aber sie war bemüht, sich der Thränen zu enthalten, und sie enthielt sich ihrer so lange, bis das Altchen und der Bub herangekommen waren. Als sie aber das gutherzige, mitleidige Schnalzen des Altchens hörte, und besonders, als ihre Blicke dem Bübchen begegneten, der seine ernsten Augen von den Kalatschen auf sie wandte, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Ihr ganzes Gesicht erbebte, und sie brach in heftiges Weinen aus.

»Ich hab dir gesagt: sieh zu, daß du den richtigen Verteidiger kriegst,« sagte die Korablewa. »Wie ist es denn? Verschickung?« fragte sie.

Die Maslowa wollte antworten und konnte nicht, sondern zog schluchzend aus einem Kalatsch eine Cigarettenschachtel15 hervor, auf der eine rotbackige Dame mit sehr hoher Frisur und herzförmig entblößter Brust dargestellt war und reichte sie der Korablewa. Die Korablewa hetrachtete das Bildchen und schüttelte mißbilligend den Kopf, hauptsächlich, daß die Maslowa das Geld so nichtsnutzig ausgab, und nachdem sie eine Cigarette hervorgeholt, rauchte sie sie an der Lampe an, that selber einen Zug und schob sie dann der Maslowa zu. Die Maslowa fing gierig an, Zug auf Zug den Tabaksrauch einzuziehen und auszustoßen, ohne daß sie zu weinen aufhörte.

»Zwangsarbeit,« brachte sie schluchzend hervor.

»Sie haben keine Gottesfurcht, die verfluchten Blutsauger!« machte die Korablewa. »Um nichts haben sie das Mädchen verurteilt.«

Um diese Zeit erscholl aus der Mitte der am Fenster stehengehliebenen Frauen ein Ausbruch unreinen Gelächters. Auch das kleine Mädchen lachte, und sein helles Kinderlachen verschmolz mit den heiseren und winselnden Lachlauten der Erwachsenen. Der Arrestant draußen auf dem Hofe hatte etwas gethan, was o auf die durchs Fenster Sehenden gewirkt hatte.

»Ach, du rasierter Köter! Was macht er!« stieß die Rothaarige hervor, und mit dem ganzen fetten Leibe wackelnd, das Gesicht an das Gitter gedrückt, schrie sie unsinnig anstößige Worte.

»Das ist ein freches Fell! Was gackert sie so!« sagte die Korablewa, über die Rote den Kopf schüttelnd und wandte sich wieder zu der Maslowa.

»Wieviel Jahre?«

»Vier,« sagte die Maslowa, und die Thränen brachen so reichlich hervor, daß eine auf die Cigarette fiel. Zornig zerknitterte sie die Maslowa, warf sie fort und nahm eine andere.

Die Bahnwärterin hob, obgleich sie nicht rauchte, das Stümpfschen auf und fing an, es gerade zu biegen, indem sie unaufhörlich sprach.

»‘s scheint wahr zu sein, mein Schwälbchen,« sprach sie, »daß die Wahrheit von der Sau gefressen ist. Sie machen was sie wollen. Aber wie waren uns vermutend, daß sie dich frei lassen. Die Matwejewna sagt: sie lassen sie frei; ich aber sage: nein, mein Schwälbchen, mein Herz ahnt sich, die wird übergeschluckt. Und so is es nu gekommen,« sprach sie, augenscheinlich mit besonderem Vergnügen den Klang ihrer eigenen Stimme hörend.

Um diese Zeit hatten schon alle Arrestanten den Hof passiert, und die Frauen, die mit ihnen Worte gewechselt, gingen vom Fenster fort und kamen auch zur Maslowa. Als erste kam die glotzäugige Schenkwirtin mit ihrem kleinen Mädchen.

»Warum denn so arg strenge?« fragte sie, indem sie sich neben die Maslowa hindrückte und hurtig fortfuhr, an ihrem Strumpfe zu stricken.

»Na, darum streng, weil man kein Geld hat! Hätte man Batzen und konnte ’nen tüchtigen fixen Kerl mieten, dann — sei ruhig, käme einer wohl frei,« sagte die Korablewa. »Der, wie heißt er gleich — so ’n Strubelkopf, so ’n Langnasiger, der, meine Beste, konnte einen wohl trocken aus dem Wasser herausfischen! Wenn man den gekriegt hätte!«

»Jawohl du — und den kriegen!« sagte, die Zähne bleckend, die sich zu ihnen setzende Choroschawka. »Und wenn der bloß einmal für dich spucken soll, unter tausend Rubel thut er es nicht.«

»Aber er scheint, deine Bestimmung ist nun mal so,« fiel das Altchen ein, das wegen Brandstiftung saß. »Ist es ’ne Kleinigkeit? Dem Jungen hat er die Frau abspenstig gemacht und ihn selber obendrein ins Loch gebracht, um die Läuse zu füttern, und mich auf meine alten Tage auch ins Loch gekriegt,« fing sie zum hundertsten Male an, ihre Geschichte zu erzählen. »Gefängnis und Bettelsack kann man, scheint es, nicht verschwören, — kriegst du das eine nicht, kriegst du das andere.«

»Das ist bei denen, scheints, immer so!« sagte die Schenkwirtin, und nachdem sie den Kopf des Mädchens auf einmal genauer angesehen, legte sie den Strumpf neben sich und fing an, mit flinken Fingern ihr das Haar zu durchsuchen. »Warum handelst du mit Branntwein? Aber womit soll ich die Kinder ernähren?« sprach sie, während sie ihre gewohnte Beschäftigung fortsetzte.

Diese Worte der Schenkwirtin erinnerten die Maslowa an Schnaps.

»Ein Schnäpschen möchte ich,« sagte sie der Korablewa, indem sie die Thränen mit dem Hemdärmel abwischte und nur hie und da schluchzte.

»Warum nicht, gieb her,« sagte die Korablewa.

32

Die Maslowa holte, auch aus dem Kalatsch, das Geld hervor und reichte der Korablewa den Coupon. Die Korablewa nahm ihn, betrachtete ihn, und, obgleich sie des Lesens und Schreibens unkundig war, glaubte sie der allwissenden Choroschawka, daß dieses Papierchen 2 Rubel 50 Kopelen wert sei und kletterte zum Wärmeloch nach der dort versteckten Flasche mit Schnaps hinauf. Die Frauen, die nicht ihre Nachbarinnen auf der Pritsche maren, gingen an ihre Plätze. Die Maslowa inzwischen schüttelte den Staub aus dem Halstuch und dem Schlafrock, kroch auf die Pritsche hinauf und fing an, den Kalatsch zu essen.

»Ich habe dir Thee aufgehoben, aber er ist wohl kalt geworden,« sagte ihr Fedossija, indes sie von dem Wandbrett eine mit einem Fußlappen umwickelte blecherne Theekanne und einen Henkelbecher herabholte. Das Getränk war ganz kalt und schmeckte mehr nach Blech, als nach Thee, aber die Maslowa goß sich einen Henkelbecher voll und fing an, den Kalatsch hinunterzuspülen.

»Finaschka, nimm,« rief sie, brach ein Stück Kalatsch ab und gab es dem ihr in den Mund sehenden Knaben.

Die Korablewa reichte unterdessen die Flasche mit Schnaps und einen Becher herunter Die Maslowa bot der Korablewa und der Choroschawka an. Diese drei Arrestantinnen bildeten die Aristokratie der Kammer, weil sie Geld hatten, und auch anderen zukommen ließen von dem, was sie besaßen.

Nach einigen Minuten wurde die Maslowa munter, und erzählte flink von dem Gericht, — indem sie dem Staatsanwalt nachäffte,— und war sie dort besonders frappiert hatte. Besonders frappiert hatte sie, daß nach ihrer Beobachtung die Männer überall, wo sie auch sein mochte, ihr nachliefen. Im Gericht sahen alle sie an, und kamen immerfort ins Arrestantenzimmer extra deswegen.

»Auch der Eskortesoldat sagt: ›die kommen immer, um dich zu sehen.’ Irgend einer kommt: wo ist hier das Papier so und so? — oder was anderes; ich sehr aber, daß er kein Papier braucht, sondern mich geradezu mit den Augen verschlingt,‹ sprach sie, lächelnd und gleichsam bedenklich den Kopf schüttelnd. ›Das sind auch Possenreißer.‹

›Akkurat so ist es,‹ fiel die Bahnwärterin ein, und sogleich begann ihre singende Rede sich zu ergießen, ›das ist wie die Fliegen nach dem Zucker. Zu was anderem kannst du sie suchen, aber dafür sind sie immer zu haben. Lieber wollen sie ohne Brot sitzen, als ohne das.‹

›Aber nun auch hier,‹ unterbrach sie die Maslowa, ›hier bin ich auch gut hineingefallen. Eben haben sie mich hergeführt, da kommt eine Arrestantenabteilung vom Bahnhof. Haben die sich an mich herangemacht! Ich mußte ja nicht mal, wie ich sie loswerden sollte. Gottlob, der Unteraufseher hat sie weggejagt. Einer klammerte sich so an, daß ich mich nur mit Not und Mühe ihm entreißen konnte.‹

›Wie ist er denn von Ansehen?‹ fragte Choroschawka.

›Ein Schwärzlicher mit einem Schnurrbart.‹

›Das war gewiß der.‹

›Wer — der?‹

›Aber der Schtscheglow. Derselbe, der eben vorbeiging.‹

›Was für ein Schtscheglow‹

›Die kennt nicht mal den Schtscheglow! Schtscheglow ist zweimal aus der Zwangsarbeit entlaufen. Jetzt haben sie ihn gefangen, aber er kommt schon wieder los. Vor ihm fürchten sich sogar die Aufseher,‹ sprach Choroschawka, die den Arrestanten heimlich Zettel zuzustecken pflegte, und alles wußte, was im Gefängnis vor sich ging. — ›Unfehlbar wird er ausbrechen.‹

›Nun, bricht er aus, uns nimmt er doch nicht mit,‹ sagte die Korablewa. ›Du aber sag mit lieber,‹ wandte sie sich an die Maslowa, ›was hat dir der Advokat über die Bittschrift gesagt? Jetzt muß man ja eine Bittschrift einreichen.‹

Die Maslowa sagte, daß sie nichts darüber wisse. Um diese Zeit näherte sich den schnapstrinkenden Aristokratinnen das rothaarige Frauenzimmer; mit beiden sommersprossigen Händen in ihre verwirrten, dichten, roten Haare fahrend, kratzte sie den Kopf mit den Nägeln.

›Ich will dir, Katharina, alles sagen,‹ fing sie an. ›Zu allererst mußt du aufschreiben, du bist mit dem Gericht unzufrieden, und dann beim Prokureur Anzeige machen.‹

›Na, was willst du?‹ wandte sich mit ärgerlicher Baßstimme die Korablewa zu ihr, ›hast du schon Schnaps gewittert? Du brauchst uns hier nicht das Zahnweh zu besprechen, dich hat man hier nicht nötig.‹

›Nicht mit dir wird hier gesprachen, was fängst du mit mir an!‹

›Du hast wohl Lust auf Schnaps gekriegt, schlängelst dich her.‹

›Aber biet’ ihr doch an,‹ sagte die Maslowa, die immer allen alles, war sie hatte, verteilte.

›Ich werde ihr ganz was anderes anbieten…‹

›Na, komm an!‹ begann die Rothaarige und rückte der Korablewa näher. ›Ich hab’ keine Angst.‹

›Zuchthausnickel!‹

›Immer die, die spricht.‹

›Geselchter Kuttelfleck!‹

›Ich? Kuttelfleck! Zwangsarbeiterin! Seelenmörderin!‹ schrie die Rothaarige.

›Scher’ dich,‹ brach die Karablewa finster hervor; aber die Rothaarige rückte nur immer näher, und die Korablewa stieß sie in die offene fette Brust. Die Rote, als ob sie nur darauf gewartet hatte, hakte sich unversehens mit rascher Bewegung der einen Hand in die Haare der Korablewa und wollte sie mit der andern Hand ins Gesicht schlagen, aber die Korablewa faßte diese Hand. Die Maslowa und die Choroschawka packten die Rote an den Händen, bemüht, sie wegzureißen, aber die in den Zopf verkrampfte Hand der Roten ließ ihn nicht fahren; auf einen Augenblick ließ sie die Haare los, aber nur, um sie sich um die Faust zu wickeln. Die Korablewa, deren Kopf auf die Seite gelrümmt ward, schlug die Rote mit einer Hand auf den Leib und schnappte mit den Zähnen nach ihren Armen. Die Frauen drängten sich um die Prügelnden, trennten sie und schrieen. Sogar die Schwindsüchtige kam zu ihnen heran und blickte hustend auf die aneinander geklammerten Frauen. Die Kinder schmiegten sich zusammen und weinten. Auf den Lärm kamen die Aufseherin und der Aufseher herein. Die sich Prügelnden wurden getrennt, und die Korablewa, die den grauen Zopf auflöste und die ausgerissenen Haare daraus entfernte, und die Rothaarige, die das ganz zerrissene Hemd auf der gelben Brust zusammenhielt — beide schrieen ihre Erkärungen und Klagen hinaus.

›Ich weiß schon‹, all das thut der Schnaps; wart’, morgen meld’ ich’s dem Inspektor, der wird euch schon einen Wischer geben. Ich spüre, wie es hier riecht,« sprach die Aufseherin. »Räumt alles weg, sonst gebt es euch schlecht. Wir haben nicht Zeit, hier zu untersuchen. An eure Plätze und still!«

Aber die Stille war noch lange nicht wiederhergestellt. Nach lange schimpften sich die Frauen, erzählten einander, wie es anfing, und wer schuld hatte. Endlich gingen der Aufseher und die Aufseherin fort, und die Frauen begannen zu verstummen und sich niederzulegen. Das Altchen stellte sich vor das Heiligenbild und fing an zu beten.

»Da haben sich zwei Galeerenmenscher gefunden,« begann plötzlich die Rote mit heiserer Stimme vom andern Ende der Pritsche, indem sie jedes Wort mit bis zur Seltsamkeit raffinierten Schimpfereien begleitete.

»Paß’ auf, daß du nicht nochmal was abkriegst,« antwortete sogleich die Korablewa, eben solche Schimpfreden hinzufügend, und beide wurden still.

»Wenn sie mich nur nicht gestört hätten, hätt’ ich dir schon lange die Augen ausgekratzt,« fing von neuem die Rote an, und wieder ließ die Korablewa nicht lange auf ebensolche Antwort warten.

Wieder eine längere Pause des Schweigens, und wieder Schimpfereien. Die Pausen wurden immer länger, und endlich trat volle Ruhe ein.

Alle lagen; einige begannen zu schnarchen. Nur das Altchen, das immer lange betete, machte noch immer seine Verbeugungen vor dem Heiligenbild, und die Küsterstochter stand auf, sobald die Aufseherin weggegangen, und fing wieder an, in der Kammer auf und abzugeben.

Die Maslowa schlief nicht, immer dachte sie darüber nach, daß sie eine Zwangsarbeiterin sei, und daß man sie schon zweimal so genannt habe; — die Botschkowa hatte sie so genannt und die Rothaarige, und sie konnte sich nicht an diesen Gedanken gewöhnen. Die Korablewa, die mit dem Rücken zu ihr gekehrt lag, drehte sich um.

»So etwas hat mir nicht geahnt, nicht geschwant,« sagte leise die Maslowa; »die andern thun Gott weiß was, und es kommt nichts danach. Ich aber soll um gar nichts leiden.«

»Gräm’ dich nich, Deern, man lebt ja in Sibirien auch, und du wirst wohl auch dort nicht zu Grund gehen,« tröstete sie die Korablewa.

»Daß ich nicht zu Grund geh’, weiß ich, aber doch kränkt es mich; solch’ Schicksal ist nichts für mich, denn ich bin an gutes Leben gewöhnt.«

»Gegen Gott kannst du nicht streiten,« sagte mit einem Seufzer die Korablewa, »gegen ihn wirst du nicht streiten.«

»Ich weiß, Tantchen, aber schwer ist’s doch immer.«

Sie schwiegen eine Zeit lang.

Auch die Rothaarige schlief nicht.

»Hörst du? Die Zerschmolzene da?« stieß die Korablewa hervor, indem sie die Aufmerksamkeit der Maslowa auf die seltsamen Laute, die von der andern Seite der Pritsche herkamen, lenkte.

Diese Laute waren das unterdrückte Schluchzen der rothaarigen Frau.

Die Rothaarige weinte darüber, daß sie eben geschimpft, geschlagen worden, daß sie keinen Schnaps abbekommen, den sie so sehr gern haben wollte. Sie weinte auch darüber, daß sie in ihrem ganzen Leben nichts bekommen, als Schimpfwörter, Verhöhnung, Beleidigungen, Schläge.

Sie suchte sich zu trösten mit der Erinnerung an ihre erste Liebe zu dem Fabrikarbeiter Fedjka Milodjonkow, aber ale sie dieser Liebe gedachte, mußte sie auch an das Ende dieser Liebe denken. Die Liebe endete damit, daß dieser Milodjonkow sie in betrunkenem Zustande zum Spaß an der empfindlichsten Stelle mit Schwefelsäure beschmierte und nachher mit den Kameraden lachte, als er sah, wie sie sich vor Schmerzen krümmte.

Sie erinnerte sich daran, und es wurde ihr leid um sich selbst; da sie dachte, daß niemand sie höre, fing sie an zu weinen, und sie weinte, wie die Kinder weinen, stöhnend, mit der Nase schnaubend und die salzigen Thränen schluckend.

»Sie thut mir leid,« sagte die Maslowa .

»Jawohl leid, aber sie soll sich nicht aufdrängen.«

33

Das erste Gefühl, welches Nechljudow am anderen Tage, als er erwachte, empfand, war das Bewußtsein dessen, daß mit ihm etwas geschehen sei, und früher sogar, als er sich vergegenwärtigte, was geschehen, wußte er, daß etwas Wichtiges und Gutes geschehen. ‘Katjuscha, Gericht. Ja, und man muß aufhören zu lügen und die ganze Wahrheit sagen.’ Und als ein merkwürdiges Zusammentreffen, kam an diesem Morgen endlich jener lang erwartete Brief von Maria Wassiljewna, der Frau des Adelsmarschalls, der Brief, der ihm jetzt besonders nötig war. Sie gab ihm völlige Freiheit, wünschte ihm Glück zu der von ihm beabsichtigten Heirat. ‘Heirat!’ sagte er ironisch, ‘wie weit bin ich jetzt davon.’ Und er erinnerte sich seiner gestrigen Absicht, alles ihrem Manne zu sagen, ihm zu beichten und seine Bereitschaft zu jeglicher Genugthuung zu äußern. Aber heute morgen schien ihm das nicht so leicht wie gestern. ‘Und dann, wazu den Menschen unglücklich machen, wenn er nichts weiß? Wenn er fragt, ja, so sage ich’s ihm. Aber extra gehen, es ihm zu sagen? Nein, das ist nicht nötig.’

Ebenso schwer erschien es heute morgen, der Missi die ganze Wahrheit zu sagen. Wieder konnte man unmöglich anfangen zu sprechen, — das wäre beleidigend gewesen. Unbedingt mußte, wie in vielen Lebensverhältnissen, etwas Unausgesprochenes bleiben. Das eine hat er heute früh entschieden; er wird nicht mehr zu ihnen fahren, und er wird die Wahrheit sagen, wenn man ihn fragt.

Dagegen muß in den Beziehungen zu Katjuscha nichts Nichtzuendegesprochenes bleiben. ‘Ich fahre in das Gefängnis: ich sage ihr, — ich werde sie bitten, mir zu verzeihen. Und wenn es nötig ist, ja, wenn es nötig ist, werde ich sie heiraten,’ dachte er.

Dieser Gedanke, daß er der moralischen Genugthuung wegen alles opfern und sie heiraten würde, rührte ihn auch heute früh besonders.

In Bezug auf die Geldangelegenheiten hat er heute früh entschieden, daß er sie so arrangieren werde, wie es seiner Ueberzeugung von der Ungesetzlichkeit des Grundbesitzes entspricht. Wenn er aber nicht imstande ist, alles zu entbehren, so wird er dennoch alles thun, war er kann, ohne sich und andere zu betrügen.

Schon lange war er nicht dem Tage mit solcher Energie entgegengetreten, Dev Agrafena Petrowna, die zu ihm hereinkam, erklärte er sogleich mit einer Entschiedenheit, die er selber nicht von sich erwartete, daß er diese Wohnung und ihre Dienste nicht mehr brauche Durch eine stumme Verständigung war es festgesetzt worden, daß er diese große und teuere Wohnung dazu behielt, um sich darin zu verheiraten. Die Kündigung der Wohnung hatte also eine besondere Bedeutung. Agrafena Petrowna sah ihn verwundert an.

»Ich danke Ihnen sehr, Agrafena Petrowna, für alle Ihre Sorge um mich, aber jetzt brauche ich nicht eine so große Wohnung, — und eine ganze Dienerschaft. Wenn Sie mir helfen wollen, so seien Sie so gut, die Sachen einzurichten, sie vorläufig wegzuräumen, wie es bei Mama gemacht worden ist; und wenn Natascha kommt, so wird sie weitere Anordnungen treffen.« Natascha war Nechljudows Schwester.

Agrafena Petrowna schüttelte den Kopf.

»Wieso denn einzurichten? Aber man wird sie ja doch brauchen,« sagte sie.

»Nein, man wird sie nicht brauchen, Agrafena Petrowna, sicher wird man sie nicht brauchen,« sagte Nechljudow, indem er ihr auf das antwortete, was ihr Kopfschütteln ausdrückte. »Sagen Sie, bitte, auch dem Kornej, daß ich ihm den Gehalt für zwei Monate im voraus geben werde, aber daß ich ihn nicht mehr brauche.«

»Unnützer Weise, Dmitrij Iwanowitsch, machen Sie es so,« sprach sie. »Gut, Sie reisen ins Ausland: dennoch wird man die Räume brauchen.«

»Es ist nicht so, wie Sie meinen, Agrafena Petrowna. Ich will nicht ins Ausland reisen; wenn ich reise, so an einen ganz anderen Ort.«

Er ward plötzlich purpurrot. »Ja, man muß es ihr sagen,« dachte er, »es hat keinen Zweck, es zu verschweigen. Man muß allen alles sagen.«

»Mir passierte gestern eine sehr seltsame und wichtige Sache. Erinnern Sie sich der Katjuscha bei dem Tantchen Maria Iwanowna?«

»Freilich, ich habe sie nähen gelehrt.«

»Nun, also, man hat über diese Katjuscha zu Gericht gesessen, und ich war ein Geschworener.«

»Ach, mein Gott, wie schade!« sagte Agrafena Petrowna »Weswegen ward sie denn gerichtet?«

»Wegen Totschlag, und alles das habe ich gethan.«

»Nun, das ist ja sehr seltsam. Wie konnten Sie das thun?«

»Ja, ich bin die Ursache von allem. Und das eben hat alle meine Pläne geändert.«

»Aber was für eine Veränderung kann für Sie daraus entstehen?«

»Nun diese: Wenn ich die Ursache davon bin, daß sie diesen Weg eingeschlagen, so muß eben auch ich alles thun, was ich kann, um ihr zu helfen.«

»Das ist Ihr guter Wille, — aber keine besondere Schuld haben Sie daran. Mit allen geht es so, und wenn man Verstand hat, so wird alles wieder gut gemacht und vergessen, und man lebt. Und Sie brauchen das nicht auf Ihre Rechnung zu nehmen. Ich habe schon früher gehört, daß sie den rechten Weg verloren hatte, also wer ist denn daran schuld?«

»Ich bin schuld. Und dann will ich ja wieder gut machen.«

»Nun, es ist schon schwer, wieder gut zu machen.«

»Das ist meine Sache. Aber wenn Sie — in Bezug auf Sie selbst — so werde ich, wie die Mama wünschte…«

»An mich denke ich nicht. Die Selige hat sich so wohlthätig gegen mich erwiesen, daß ich nichts mehr wünsche. Die Lisanjka bittet mich zu sich (das war ihre verheiratete Nichte); zu ihr also werde ich fahren, wenn ich hier nicht nötig bin. Nur nehmen Sie sich das umsonst zu Herzen: mit allen passiert das.«

»Nun, ich denke nicht so. Jedenfalls bitte ich Sie, die Wohnung zu kündigen und die Sachen wegzuräumen. Und seien Sie mir nicht böse. Ich bin Ihnen sehr sehr dankbar für alles.«

Es ist eine wunderbare Sache: seitdem Nechljudow begriffen, daß er selber schlecht und sich widerwärtig sei, seitdem hörten andere Leute auf, ihm widerwärtig zu sein; im Gegenteil empfand er gegen Agrafena Petrowna und gegen den Kornej ein freundliches und achtungsvolles Gefühl. Er hätte auch dem Kornej beichten mögen, aber das Aussehen des Kornej war so eindringlich ehrerbietig, daß er sich nicht entschloß, es zu thun.

Auf dem Wege ins Gericht, als er durch dieselben Straßen mit demselben Mietkutscher fuhr, staunte er über sich selbst, bis zu welchem Grade er sich heute als ein ganz anderer Mensch fühlte.

Die Heirat mit Missi, die nach gestern so nahe liegend schien, kam ihm jetzt vollständig unmöglich vor. Gestern fühlte er sich in solcher Verfassung, daß kein Zweifel vorlag, sie würde glücklich sein, ihn zu heiraten; heute fühlte er sich unwürdig, nicht nur sie zu heiraten, sondern ihr nahe zu sein. ‘Wenn sie nur wüßte, wer ich bin, so würde sie mich um keinen Preis empfangen. Und ich habe ihr noch ihre Koketterie mit Herrn Romanow zum Vorwurf gemacht. Aber nein, wenn sie sogar jetzt mich heiraten wollte, könnte ich denn wirklich nur ruhig, geschweige denn glücklich sein, während ich weiß, daß jene hier im Gefängnis ist, und daß sie morgen, übermorgen per Etappe in die Zwangsarbeit geht? Und ich werde hier die Gratulationen entgegennehmen, und mit der jungen Frau Besuche machen! Oder ich werde mit dem Adelsmarschall, den ich mit seiner Frau schändlich betrogen, auf einer Versammlung die Stimmen für und gegen die durchzuführende Verordnung der Schulinspektion des Semstwo und dergleichen zählen, nachher aber werde ich mit seiner Frau Rendezvous verabreden, (welche Abscheulichkeit!), aber ich werde an dem Bilde weitermachen, das augenscheinlich nie zu Ende gebracht wird, weil es sich ja auch nicht schickt, daß ich mich mit diesen Bagatellen beschäftige. Und ich kann nicht mehr alles das thun,’ sprach er zu sich, und unaufhörlich freute er sich über jene innere Veränderung, die er empfand.

‘Vor allem,’ dachte er, ‘muß man jetzt den Advokaten sehen und seine Entscheidung erfahren, und dann…, dann sie sehen und ihr alles sagen.’

Und wenn er sich nur vorstellte, wie er sie sehen wird, wie er ihr alles sagt, wie er ihr seine Schuld beichtet, wie er ihr erklärt, daß er alles, war er kann, thun wird, um seine Schuld wieder gut zu machen, so ward er über seine Güte gerührt, und die Thränen traten ihm in die Augen.

34

Als Nechljudow ins Gericht gefahren kam, traf er schon im Korridor den gestrigen Gerichtskommissär und fragte ihn aus: »Wo werden die gerichtlich verurteilten Arrestanten untergebracht, und von wem hängt die Erlaubnis ab, sie zu sehen?«

Der Gerichtskommissär erklärte, daß die Arrestanten an verschiedenen Orten inhaftiert seien, und daß das der Kundgebung des Urteils in definitiver form die Erlaubnis, sie zu besuchen, von dem Prokureur abhinge.

»Ich werde es Ihnen sagen, und Sie selber nach der Sitzung begleiten. Der Prokureur ist ja jetzt nach nicht da. Aber nach der Sitzung. Jetzt aber, bitte, in die Verhandlung. Gleich fängt es an.«

Nechljudow dankte dem Kommissär, der ihm heute besonders bedauernswert erschien, für seine Freundlichkeit und ging in das Zimmer der Geschworenen.

Um die Zeit, als er sich diesem Zimmer näherte, kamen die Geschworenen schon aus demselben heraus, um in den Sitzungssaal zu gehen. Der Kaufmann war ebenso lustig, ebenso wie gestern hatte er schon einen Imbiß zu sich genommen und ein Glas getrunken, und er begegnete dem Nechljudow wie einem alten Freund. Und Peter Gerassimowitsch erweckte heute in dem Nechljudow kein unangenehmes Gefühl durch seine Familiarität und durch sein Lachen.

Nechljudow hätte auch mit allen Geschworenen über sein Verhältnis zu der gestrigen Angeklagten reden mögen.

‘Eigentlich,’ dachte er, ‘mußte man gestern während des Gerichtes aufstehen und seine Schuld öffentlich bekennen.’ Aber als er mit den Geschworenen zusammen in den Sitzungssaal eingetreten war, und es begann die gestrige Prozedur: wieder das Gericht kommt, wieder die drei auf der Erhöhung, in den gestickten Kragen, wieder das Schweigen, das Platznehmen der Geschworenen auf den Stühlen mit hohen Rückenlehnen, die Gendarmen, das Porträt, der Geistliche, empfand er, daß, obgleich er es ja hätte thun sollen, er auch gestern nicht imstande gewesen wäre, diese Feierlichkeit zu durchbrechen.

Die Vorbereitungen zum Gericht waren dieselben, wie gestern, ausgenommen die Vereidigung der Geschworenen und die Rede des Vorsitzenden an sie.

Die heutige Verhandlung betraf einen Diebstahl mit Einbruch. Der von zwei Gendarmen mit entblößten Säbeln dewachte Angeklagte war ein magerer, schmalschultriger, zwanzigjähriger Knabe im grauen Schlafrock und mit grauem, blutlosen Gesicht. Er saß allein auf der Anklagebank und hustete ohne Aufhören. Dieser Knabe war angeklagt, mit einem Kameraden an einem Schuppen das Schloß erbrochen und daraus alte Teppiche im Wert von 3 Rubel 57 Kopeken entwendet zu haben. Aus den Anklageakten war ersichtlich, daß der Polizist den Knaben anhielt, zur Zeit, als derselde mit seinem Kameraden ging, der die Teppiche auf der Schulter trug. Der Knabe und sein Kamerad bekannten sich sogleich schuldig, und beide wurden ins Gefängnis gesteckt. Der Kamerad des Knaben, ein Schlosser, starb im Gefängnis, und nun stand der Knabe allein vor Gericht. Die alten Teppiche lagen auf dem Tische der corpora delicti.

Die Verhandlung ward ebenso geführt, wie die gestrige, mit dem ganzen Arsenal der Beweise, der Ueberführungen, der Zeugen, ihrer Vereidigung, der Verhöre, der Kreuz- und Querfragen. Der Zeuge, der Polizist, hackte seine Antworten, auf alle Fragen des Vorsitzenden, des Anklägers, des Verteidigers, leblos ab: »Jawohl!« »kann nicht wissen,« und wieder »jawohl,« aber trotz seiner soldatischen Verdummung und Maschinenmäßigkeit sah man, daß er den Knaben bedauerte und nicht gern von seinem Fang erzählte.

Der andere Zeuge, der geschädigte kleine Alte, Hausbesitzer und Eigentümer der Teppiche, augenscheinlich ein galliger Mensch, erkannte die Teppiche sehr ungern für seine an, als man ihn fragte, ob er seine Teppiche erkenne: als aber der Staatsanwalt anfing, ihn darüber zu verhören, welche Verwendung er für die Teppiche hatte, ob sie ihm sehr nötig waren, erboste er sich und antwortete: »Der Teufel hole sie noch einmal, diese Teppiche, ich brauche sie ganz und gar nicht. Wenn ich nur gewußt hätte, daß ich wegen derselben so viel Verdruß haben würde, so hätte ich nicht nur nicht geklagt, sondern hätte noch ein rotes Scheinchen dazu gezahlt, — sogar zwei würde ich geben; schleppe man mich nur nicht zu den Verhören! Wie viel Geld habe ich mit den Mietkutschern verfahren. Und ich bin dazu noch krank …Ich habe Rheumatismus und ein Bruchleiden.« So sprachen die Zeugen; der Angeklagte selber aber bekannte sich zu allem, und wie ein gefangenes Tierchen blickte er sich sinnlos nach den Seiten um; mit stockender Stimme erzählte er alles, wie er gewesen.

Aber der Staatsanwalt that, ebenso wie gestern seine Schultern hebend, seine Fragen, welche den schlauen Verbrecher fangen sollten.

In seiner Rede bewies er, daß der Diebstahl in einem Wohnraum ausgeführt worden und mit Einbruch, darum müsse man den Knaben der schwersten Strafe unterwerfen.

Der vom Gericht bestimmte Verteidiger bewies, daß der Diebstahl nicht in einem Wohnraume verübt ward, und daß deswegen, obgleich das Verbrechen schwer wäre, der Verbrecher dennoch nicht so gefährlich für die Gesellschaft sei, wie es der Staatsanwalt hingestellt.

Der Vorsitzende stellte in seiner Person ebenso wie gestern die Unparteilichkeit und Gerechtigkeit dar und erklärte ausführlich und prägte den Geschworenen ein, was sie schon wußten und nicht umhin konnten zu wissen. Ebenso wie gestern machte man Unterbrechungen, ebenso rauchte man, ebenso schrie der Gerichtskommissär: »das Gericht kommt,« und ebenso, sich nicht einzuschlafen bemühend, saßen zwei Gendarmen da mit den entblößten Waffen und drohten dem Verbrecher.

Aus dem Sachverhalt war ersichtlich, daß dieser Bursche noch als kleiner Bub von seinem Vater in die Tabaksfabrik gesteckt worden, wo er fünf Jahre verlebte. Im gegenwärtigen Jahre war er nach einer stattgefundenen Unannehmlichkeit zwischen Fabrikherr und Arbeitern von dem Fabrikbesitzer entlassen worden, und als er ohne Stelle geblieben, irrte er arbeitslos in der Stadt umher, indem er die letzten Kleider vom Leibe vertrank. In einem Wirtshaus kam er mit einem ebensolchen, wie er war, einem Schlosser zusammen, der noch früher die Stelle verloren und stark trank, und sie beide zerbrachen nachts im betrunkenen Zustande das Schloß und nahmen aus dem Schuppen das erste, war ihnen unter die Hand fiel. Man hat sie erwischt. Sie bekannten sich in allem schuldig. Man steckte sie ins Gefängnis, wo der Schlosser, das Urteil erwartend, starb. Ueber diesen Knaben nun saß man jetzt zu Gericht, wie über ein gefährliches Wesen, vor welchem man die Gesellschaft schützen muß.

‘Ein ebenso gefährliches Wesen, wie die gestrige Verbrecherin,’ dachte Nechljudow, während er alle dem zuhörte, was vor ihm geschah. ‘Sie sind gefährlich. Gut. Aber wir alle, die wir sie richten? Ich, ein lockerer Bursche, ein Wüstling, ein Betrüger. Wie sind nicht gefährlich …Aber wenn nun dieser Knabe wirklich für die Gesellschaft der gefährlichste Mensch wäre von allen Leuten, die sich in diesem Saal befinden, was müßte man, dem gesunden Menschenverstande nach, thun, wenn er ertappt worden?

‘Es ist ja klar, daß dieser Knabe kein irgend wie besonderer Bösewicht, sondern der gewöhnlichste Mensch ist, — das sehen alle, — und daß er das, was er ist, nur darum wurde, weil er sich in Bedingungen befand, die solche Menschen produzieren. Und darum, er ist klar, muß man, damit ein solcher Knabe nicht beim Verbrechen ertappt werde, sich vor allem bemühen, jene Bedingunaen zu vernichten, unter welchen sich solche unglückliche Wesen bilden.

‘Aber war thun wir? Wir greifen einen solchen Knaben, der uns zufällig in die Hände gefallen, indeß wie sehr gut wissen, daß Tausende ihm Aehnlicher ungefangen bleiben, und stecken ihn ins Gefängnis, unter Bedingungen des vollständigen Müssigganges, aber der ungesundesten und sinnlosesten Arbeit, in die Gesellschaft eben solcher Menschen, wie er, die schwach geworden, und die sich im Leben verirrt haben, und nachher verschicken wir ihn auf Staatskosten in die Gesellschaft der Allerverdorbensten aus dem Moskauer in das Irkutsk-Gouvernement.

‘Um jene Bedingungen aber zu vernichten, unter welchen solche Leute erzeugt werden, thun wir nicht nur nichts, sondern wir fördern nur jene Anstalten, in welchen sie produziert werden. Diese Anstalten sind bekannt: das sind die Fabriken, Manufakturen, Werkstätten, Wirtshäuser, Branntweinschenken, Toleranzhäuser. Und wir heben diese Anstalten nicht nur nicht auf, sondern wir fördern und regulieren sie, weil wir sie für nötig halten.

’Haben wie so nicht einen, sondern Millionen Menschen erzogen, dann fangen wie einen, und wir bilden uns ein, etwas gethan, und geschützt zu haben und bilden uns ein, daß nicht mehr von uns zu verlangen sei, wenn wir ihn aus dem Moskauer in das Irkutsk-Gouvernement befördert haben,’ dachte Nechljudow mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit und Klarheit, indem er auf seinem hohen Stuhl, neben dem Oberst, saß, den verschiedenen Intonationen der Stimmen des Verteidigers, des Staatsanwalts und des Vorsitzenden zuhörte und ihre selbstgewissen Gesten sah.

‘Und wie viele und wie angestrengte Bemühungen kostet diese Heuchelei,’ fuhr Nechljudow fort zu denken, indem er diesen ungeheuer großen Saal, diese Porträts, Lampen, Lehnstühle, Uniformen, Fenster, diese dicken Wände überflog, indem er sich die ganze kolassale Größe dieses Gebäudes und die noch größeren Dimensionen dieser ganzen Organisation vergegenwärtigte, die ganze Armee der Beamten, der Schreiber, der Wächter, der Kuriere, nicht nur hier, sondern in ganz Rußland, welche für die niemand notwendige Komödie Gehalt beziehen. — Was wäre, wenn wir nur ein hundertstel dieser Bemühungen darauf richten würden, um diesen verwahrlosten Wesen zu helfen, die wie jetzt nur als Hände und Leiber, welche für unsere Ruhe und Bequemlichkeit nötig sind, betrachten. Aber hätte sich nur ein Mensch gefunden,’ dachte Nechljudow, indem er das klägliche Gesicht des Knaben betrachtete, ‘der ihn bemitleidet, als man ihn erst aus Not vom Dorfe in die Stadt gebracht und der dieser Not abgeholfen hätte, oder sogar als er schon in der Stadt war und nach zwölfstündiger Arbeit in der Fabrik mit den ihn verleitenden älteren Kameraden in die Wirtschaft ging. Hätte sich damals ein Mensch gefunden, welcher gesagt: »geh nicht, Wanja, es ist nicht gut,« so wäre der Knabe nicht gegangen, er hätte nicht den Halt verloren und nichts Schlechtes gethan.

‘Aber es fand sich kein einziger solcher Mensch, der ihn bemitleidet hätte, während der ganzen Zeit, als er, wie ein Tierchen, in der Stadt seine Lehrjahre zubrachte, und kurz geschoren, um keine Läuse zu ziehen, für die Meister auf Kommissionen lief. Im Gegenteil bestand alles, war er, seitdem er in der Stadt lebte, von den Meistern und von den Kameraden hörte, darin, daß ein braver Bursche sei, wer betrügt, wer trinkt wer schimpft, wee durchprügelt, wer ein lüderliches Leben führt.

‘Während er von der ungefunden Arbeit, Trunkenheit, Lüderlichkeit krank und verdorben, — verdummt und unsinnig, wie im Traum, zwecklos in der Stadt herumstreifte, und aus Unverstand sich in irgend einen Schuppen schlich und daraus für niemand nötige Teppiche wegschleppte, — haben wir, alle bemittelten, reichen, gebildeten Leute, uns in Uniformen und schönen Kleidern in diesem prächtigen Saal versammelt und mit diesem unglücklichen, eben von uns ins Verderben gestürzten Bruder unseren Spott getrieben.

‘Schrecklich! Man weiß nicht, was ist hier mehr: Grausamkeit oder Unsinn. Aber es scheint, daß diese und jener hier bis zum äußersten Grade gediehen find.’

Nechljudow dachte alles das schon, ohne weiter dem zuzuhören, was vor ihn geschah. Und er selber ergrauste vor dem, was sich ihm offenbarte. Er wunderte sich, wie er das nicht früher sehen können, wie die anderen dies nicht sehen konnten.

35

Kaum ward die erste Unterbrechung gemacht, als Nechljudow aufstand und in den Korridor hinausging mit der Absicht, nun nicht mehr in die Verhandlung zurückzukehren. Möchte man mit ihm machen, was man wollte, aber teilnehmen an diesem fürchterlichen und abscheulichen Unsinn konnte er nicht mehr.

Nachdem Nechljudow erfahren, wo das Kabinet des Prokureurs sei, ging er zu ihm. Der Kurier wollte ihn nicht zulassen, indem er erklärte, daß der Prokureur jetzt beschäftigt sei, aber Nechljudow, ohne auf ihn zu hören, ging in die Thür, wandte sich an den ihm entgegenkommenden Beamten, und hat denselben, dem Prokureur zu melden, daß er ein Geschworener sei und ihn in einer sehr wichtigen Angelegenheit sprechen müsse. Der Fürstentitel und das schöne Kleid haben dem Nechljudow geholfen. Der Beamte meldete ihn dem Prokureur, und Nechljudow wutde vorgelassen. Der Prokureur empfing ihn im Stehen, augenscheinlich unzufrieden mit der Beharrlichkeit, mit welcher Nechljudow ihn zu sprechen vetlangt hatte.

»Was ist Ihnen gefällig?« fragte der Prokureur streng.

»Ich hin ein Geschworener, mein Name ist Nechljudow, und ich muß notwendig eine Angeklagte — die Maslowa sehen —« sagte Nechljudow rasch und entschieden, indem er rot wurde und fühlte, daß er eine Handiung vollbringe, die einen entscheidenden Einfluß auf sein Leben haben werde.

Der Prokureur war ein nicht hoch gewachsener, dunkler Mann mit kurzen, ergrauenden Haaren, mit glänzenden scharfen Augen und geschorenem dichtem Bart auf dem vorspringenden Unterkinnbacken.

»Die Maslowa? Wohl, die kenne ich. Sie wurde der Vergiftung angeklagt,« sagte der Prokureur ruhig. »Aber wozu denn brauchen Sie sie zu sehen?« Und dann, als ob er seine Frage mildern wollte, setzte er hinzu: »Ich kann es Ihnen nicht bewilligen, ohne zu wissen, wozu Sie es brauchen.«

»Ich brauche es in einer für mich besondere wichtigen Angelegenbeit,« begann Nechljudow mit jähem Erröten.

»So,« sagte der Prokureur, und er erhob die Augen und besah den Nechljudow aufmerksam. »Ist ihre Sache schon behandelt worden aber nach nicht?«

»Sie wurde gestern gerichtet und vollkommen ungerecht verurteilt. Sie ist unschuldig.«

»Aha. Wenn sie erst gestern verurteilt worden,« sagte der Prokurateur, aber der Aeußerung des Nechljudow über die Unschuld der Maslowa irgend welche Aufmerksamkeit zu schenken, »so muß sie sich doch bis zur Kundmachung des Urteils in definitiver Form, im Untersuchungsgefängnis befinden. Besuche werden da nur an bestimmten Tagen bewilligt. Dorthin also empfehle ich Ihnen, sich zu wenden.«

»Aber ich muß sie möglichst bald sehen,« sagte Nechljudow mit zitterndem Unterkiefer, da er fühlte, daß sich die entscheidende Minute nahte.

»Aber wozu brauchen Sie das?« fragte der Prokureur, indem er mit einiger Unruhe die Augenbrauen hob.

»Weil sie unschuldig ist und zu Zwangsarbeit verurteilt wurde. Der allein an allem Schuldige aber bin ich,« sprach Nechljudow mit zitternder Stimme, und er fühlte, daß er Dummheiten sprach.

»Wieso denn?« fragte der Prokureur.

»Weil ich sie verführt und in die Lage gebracht habe, in welchen sie diese Anschuldigung treffen konnte.«

»Dennoch sehe ich nicht ein, welchen Zusammenhang das mit dem Besuch hat.«

»Aber der Zusammenhang, daß — gelingt es nun oder gelingt es nicht, die unrichtige Entscheidung des Gerichtee umzustoßen, — ich ihr folgen will und …sie heiraten,« brachte Nechljudow hervor, indem er bis zu Thränen über sich selbst gerührt war und sich über den Eindruck, welchen er auf den Prokureur machte, freute.

»Ja? So ist es!« sagte der Prokureur, »das ist wirklich ein sehr ausnehmender Fall. Sie sind, scheint es, ein Abgeordneter des Semstwo Krasnopersk?« fragte der Prokureur, als ob er sich erinnern wollte, daß er früher etwas von diesem Nechljudow gehört, der jetzt einen so seltsamen Entschluß äußerte.

»Entschuldigen Sie, ich glaube nicht, daß dies irgend welchen Znsmmenhang mit meiner Bitte hat,« antwortete boshaft Nechljudow und errötete.

»Freilich nein,« sagte der Prokureur, kaum merkbar lächelnd und gar nicht befangen; »aber Ihr Wunsch ist so ungewöhnlich, und so sehr geht er über die gewöhnlichen Formen hinaus…«

»Wie ist’s denn, kann ich die Bewilligung erhalten?«

»Die Bewilligung? Ja, gleich gebe ich Ihnen einen Passierzettel. Wollen Sie gefälligst ein wenig Platz nehmen.«

Er trat an den Tisch heran, setzte sich und fing an zu schreiben.

»Bitte sich zu setzen.«

Nechljudow blieb stehen.

Als der Prokureur den Passierzettel geschrieben, übergab er ihn dem Nechljudow, indem er ihn mit Neugier betrachtete.

»Ich muß nach anzeigen,« sagte Nechljudow, »daß ich nicht fortfahren kann, an der Session teilzunehmen.«

»Es ist nötig, wie Sie wissen, genügende Gründe vorzubringen, sie dem Gericht vorzulegen.«

»Die Gründe sind, daß ich jegliches Gericht nicht nur für unnütz, sondern auch für unmoralisch halte.«

»So, so,« sagte der Prokureur, immer mit demselben kaum merkbaren Lächeln, als ob er durch dieses Lächeln zeigen wollte, daß solche Mitteilungen ihm bekannt sind, und zu der ihm bekannten, spaßhaften Kategorie gehören.

»So, aber Sie begreifen augenscheinlich, daß ich, als Prokureur des Gerichtes, nicht mit Ihnen einverstanden sein kann. Und darum rate ich Ihnen, dies dem Gericht anzuzeigen, und das Gericht wird über Ihre Anzeige entscheiden, wird sie als genügend oder ungenügend erklären, und im letzteren Falle wird es Ihnen eine Buße auferlegen. Also wenden Sie sich an das Gericht.«

»Ich habe es angezeigt und gehe nirgends weiter hin,« sprach Nechljudow böse.

»Habe die Ehre!« sagte der Prokureur, den Kopf neigend; augenscheinlich wünschte er sich möglichst schnell von dem seltsamen Besucher zu befreien.

»Wer ist der Ihnen gemesen?« fragte das Gerichtsmitglied, das gleich nach dem Weggehen des Nechljudow in das Kabinet trat.

»Nechljudow, wissen Sie, der schon in dem Bezirk Krasnopersk, in dem Semstwo, verschiedene wunderliche Aeußerungen machte. Und stellen Sie sich vor, er ist ein Geschworener, und es erwies sich, daß eine Frau oder ein Mädchen in der Zahl der Angeklagten sich befindet, die zu Zwangsarbeit verurteilt worden, welche, wie er sagt, von ihm verführt wurde, und jetzt will er sie heiraten.«

»Aber daß kann ja nicht sein.«

»Sa hat es mir gesagt. Und in welch eines sonderbaren Aufregung.«

»Da steckt etwas, irgend eine Abnormität, in den jetztigen jungen Leuten.«

»Abet er ist schon nicht mehr sehr jung.«

»Nun, aber Ihren viel gepriesenen Iwaschenkow, Väterchen, habe ich satt bekommen. Er siegt durch Aushungerung; spricht und spricht ohne Ende.«

»Man muß solche Leute einfach aufhalten, sonst sind sie ja wirkliche Obstruktionisten.«

36

Von dem Prokureur fuhr Nechljudow gradewegs ins Untersuchungsgefängnis. Aber es erwies sich, daß es dort keine Maslowa gab, und der Aufseher erklärte dem Nechljudow, daß sie in dem alten Gefängnis der zur Verschickung Verurleilten sein müsse. Nechljudow fuhr dorthin.

Wirklich befand sich Katharina Maslowa dort.

Der Prokureur hatte vergessen, daß — vor etwa sechs Monaten — ein, wie es scheint, von den Gendarmen bis zum höchsten Grade übertriebener politischer Prozeß veranlaßt worden, und daß alle Räume im Untersuchungsgefängnis mit Studenten, verschiedenen Arbeitern, Studentinnen und Heildienerinnen besetzt waren.

Die Entfernung vom Untersuchungegefängnis bis zum Schloß der zu Verschickenden war außerordentlich groß, und Nechljudow erreichte das Schloß erst gegen Abend. Er wollte sich der Thür des ungeheuer großen, düsteren Gebäudes nähern, aber die Schildwache ließ es nicht zu, sondern zog nur die Klingel. Auf das Läuten kam ein Aufseher, Nechljudow zeigte ihm seinen Passierzettel, aber der Aufseher sagte, daß er ohne den Inspktor ihn nicht einlassen könne. Nechljudow begab sich zu dem Inspektor. Während er die Treppe hinaufstieg, hörte Nechljudow durch die Thür die leisen Töne irgend eines komplizierten Bravourstücks, das auf dem Fortepiano gespielt ward. Als aber ein böses Stubenmädchen mit einem verbundenen Auge ihm die Thür öffnete, stürzten sich diese Töne, als ob sie sich befreiten, ihm aus dem Zimmer entgegen, und fielen ihm ins Gehör. Es war die bis zum Überdruß oft gehörte Rhapsodie von Liszt, ausgezeichnet gespielt, aber nur bis zu einer Stelle. Als diese Stelle kam, wurde sie von Anfang wiederholt. Nechljudow fragte das verbundene Stubenmädchen, ob der Inspektor zu Hause sei.

Das Stubenmädchen sagte, er sei nicht zu Hause.

»Wird er bald da sein?«

Die Rhapsodie stockte wieder und wiederholte sich abermals mit Glanz und Geräusch, bis zu der verhexten Stelle.

»Ich will gehen und fragen,« und das Stubenmädchen ging.

Die Rhapsodie, kaum daß sie wieder ihren Anlauf genommen, riß plötzlich, ohne die verhexte Stelle zu erreichen, ab, und es ließ sich eine Stimme hören.

»Sage ihm, daß er nicht da ist, und heute auch nicht da sein wird. Er macht einen Besuch, — was für eine Zudringlichkeit!« ließ sich die Frauenstimme hinter der Thür hören, und wieder ward die Rhapsodie vernehmbar, aber sie blieb wieder stecken, und man hörte das Geräusch des weggeschobenen Stuhles. Die erzürnte Pianistin wollte augenscheinlich selber dem nicht zur festgesetzten Stunde kommenden aufdringlichen Besucher einen Verweis geben.

»Papachen ist nicht da,« sagte im Herauskommen ärgerlich ein blasses Fräulein von kläglichem Aussehen, mit toupiertem Haar und dunklen Ringen um die traurigen Augen; aber als sie einen jungen Mann in einem schönen Paletot ersah, ward sie weicher.

»Kommen Sie herein, wenn Sie wollen …Was wollen Sie denn?«

»Im Gefängnis eine Gefangene sehen.«

»Gewiß eine Politische.«

»Nein, keine Politische. Ich habe eine Bewilligung vom Prokureur.«

»Nun, ich weiß nicht, Papachen ist nicht da. Aber bitte, kommen Sie herein,« rief sie ihn wieder aus dem kleinen Vorzimmer herein. »Sonst aber wenden Sie sich an den Unterinspektor, er ist jetzt im Bureau, sprechen Sie mit ihm. Wie ist ihr Name?«

»Ich danke Ihnen,« sagte Nechljudow, ohne auf die Frage zu antworten und ging.

Noch hatte sich die Thür nicht hinter ihm geschlossen, als wieder dieselben flinken, lustigen Klänge, die so wenig hierher paßten, weder zu dem Ort, wo sie erzeugt wurden, noch zu dem Gesicht des kläglichen Fräuleins, daß sie so hartnäckig übte, ertönten. Auf dem Hofe begegnete Nechljudow einem jungen Offizier mit abstehendem Schnurrbart. Es war der Unterinspektor selber. Er nahm den Passierzettel, sah ihn an und sagte, daß er sich nicht entschließen könne, auf den Passierzettel vom Untersuchungsgefängnis hin jemand hier einzulassen. »Und es ist auch schon zu spät. Wollen Sie morgen kommen. Morgen um 10 Uhr sind die Besuche allen gestattet; fahren Sie vor, und der Inspektor selber wird zu Hause sein. Dann kann man das Wiedersehen im allgemeinen Sprechzimmer, aber wenn es der Inspektor bewilligt, auch im Bureau haben.«

Und ohne also das Wiedersehen an diesem Tage erlangt zu haben, kam Nechljudow nach Hause. Von dem Gedanken, sie zu sehen aufgeregt, fuhr Nechljudow durch die Straßen und dachte nicht an das Gericht, sondern an seine Gespräche mit dem Prokureur und mit den Inspektoren. Daß er ein Wiedersehen mit ihr suchte und dem Prokurateur von seiner Absicht gesagt, und daß er in zwei Gefängnissen gewesen, bereit sie zu sehen, regte ihn so sehr auf, daß er sich lange nicht beruhigen konnte; sowie er zu Hause war, holte er sogleich seine schon lange nicht mehr angerührten Tagebücher hervor, durchlas einige Stellen daraus und gedachte jetzt folgendes ausfürlicher einzuschreiben: ’Seit zwei Jahren habe ich kein Tagebuch geführt und dachte, daß ich nie mehr zu dieser Kinderei zurückkehren würde. Aber daß war keine Kinderei, sondern eine Unterhaltung mit mir selbst, mit jenem wahrhaften, göttlichen Selbst, welches in jedem Menschen wohnt. Diese ganze Zeit über schlief dieses Ich, und ich hatte niemand, mit dem ich mich unterhalten konnte. Erweckt ward es durch ein ungewöhnliches Ereignis, am 28. April, im Gericht, wo ich Geschworener war. Auf der Bank der Angeklagten sah ich sie, die von mir verführte Katjuscha, im Arrestantenschlafrock. Aus sonderbarem Mißverständnis und meines Irrtums wegen verurteilte man sie zur Zwangsarbeit. Ich war eben beim Prokureur und im Gefängnis. Man ließ mich nicht zu ihr, aber ich habe den Entschluß gefaßt, alles zu thun, um sie zu sehen, ihr zu beichten und meine Schuld gut zu machen, wenn auch durch die Heirat. Herr hilf mir. Mir ist sehr schön, freudig in meiner Seele.’

37

Lange in dieser Nacht konnte die Maslowa nicht einschlafen; sie lag mit geöffneten Augen, sah die Thür an, die von der hin- und hergehenden Küsterstochter verdeckt wurde, und sann.

Sie dachte darüber nach, daß sie keineswegs einen Zwangsarbeiter auf der Insel Sachalin heiraten werde; so oder so aber würde sie sich schon mit einem der Vorgesetzten einrichten, mit dem Schreiber, aber mit dem Aufseher, oder etwa mit dem Unteraufseher. Sie sind alle darauf erpicht. ‘Nur nicht mager werden, sonst bist du verloren.’ Und sie erinnerte sich, wie der Verteidiger sie ansah, und wie der Vorsitzende sie ansah, und wie die ihr begegnenden und absichtlich an ihr vorbeigehenden Leute im Gericht sie ansahen; sie erinnerte sich, wie die sie im Gefängnis besuchende Bertha ihr erzählte, daß der Student, den sie liebte, als sie bei der Kitajewa wohnte, bei ihnen vorgefahren war, nach ihr gefragt und sie sehr bedauert hatte. Sie hat sich an viele erinnert, nur nicht an den Nechljudow. Ihrer Kindheit und Jugend und besonders ihrer Liebe zum Nechljudow erinnerte sie sich niemals. Das that ihr zu sehr weh. Diese Erinnerungen lagen unberührt irgendwo tief in ihrer Seele. Sogar im Traum sah sie den Nechljudow nie. Heute hatte sie ihn in der Gerichtssitzung nicht erkannt, nicht so sehr, weil er, als sie ihn zum letzten Male sah, ein Militär, ohne Bart, mit kleinem Schnurbärtchen und mit, wenn auch kurzen, so doch dichten und sich träufelnden Haaren war, jetzt aber ein kahler Mann mit einem Bart, sondern weil sie nie an ihn gedacht hatte. Ihre Erinnerungen aber an ihn begraben hat sie in jener schrecklichen dunklen Nacht, als er aus der Armee vorübergefahren und bei den Tantchen nicht eingekehrt war.

Das war damals, als Katjuscha schon wußte, daß sie schwanger sei. Bis zu dieser Nacht, solange sie darauf gehofft, daß er einkehren werde, belästigte sie das Kind nicht nur nicht, welches sie unter dem Herzen trug, sondern sie ward oft durch seine weichen und manchmal heftigen Bewegungen erstaunt, gerührt. Aber von dieser Nacht an ward alles anders. Und das künftige Kind ward ihr nichts als ein Hindernis.

Die Tantchen erwarteten den Nechljudow, baten ihn, einzukehren, aber er telegraphierte, daß er nicht könne, weil er zu einem bestimmten Termin in Petersburg sein müsse. Als Katjuscha dies erfuhr, entschloß sie sich, auf die Station zu gehen, um ihn zu sehen. Der Zug kam um zwei Uhr nachts vorbei. Katjuscha brachte die Fräulein zu Bette, und nachdem sie ein Mädchen, die Tochter der Köchin, Maschka, beredet, mit ihr zu gehen, zog sie alte Schuhe an, hüllte sich in ein Kopftuch, schürzte sich auf und lief auf die Station.

Es war eine dunkle, regnerische, windige Herbstnacht. Der Regen begann bald mit großen warmen Tropfen zu peitschen, bald hörte er auf. Auf dem Felde war der Weg unter den Füßen nicht zu sehen, im Walde aber war es schwarz wie in einem Ofen, und obgleich Katjuscha den Weg gut kannte, ist sie im Wald vom Wege abgekommen und hat die kleine Stution, wo der Zug drei Minuten stehen blieb, nicht zur rechten Zeit erreicht, wie sie hoffte, sondern erst nach dem zweiten Glockenzeichen. Als Katjuscha auf die Plattform hinausgelaufen, sah sie sogleich ihn in einem Fenster des Waggons der ersten Klasse. In diesem Wagen war ein besonders helles Licht. Auf den Samtlehnstühlen saßen einander gegenüber zwei Offiziere und spielten Karten. Auf dem Tischchen am Fenster brannten üherfließende dicke Kerzen. Er saßin strammanliegenden Hosen und weißem Hemd auf dem Arm des Lehnstuhls, stützte sich auf die Rückenlehne und lachte über irgend etwaß. Sohald sie ihn erkannte, klopfte sie an das Fenster mit der frierenden Hand. Aber um dieselbe Zeit erscholl das dritte Läuten. Der Zug rührte sich langsam; erst zurück, dann fingen die Waggons an, einer nach dem andern stoßweise vorwärts geschoben zu werden, Einer der Spielenden stand mit den Karten in der Hand auf und fing an, durchs Fenster zu sehen. Sie klopfte noch einmal und drückte ihr Gesicht an die Scheibe. Um diese Zeit rückte auch jener Waggon, bei welchem sie stand, und ging vorwärts. Sie ging ihm nach und sah ins Fenster. Der Offizier wollte das Fenster herunterlassen, aber er konnte es durchaus nicht. Nethljudow stand auf, stieß jenen Offizier bei Seite und drückte das Fenster hinab. Der Fug verstärkte seine Bewegung, sodaß Katjuscha mit raschen Schritten ging. Der Zug ging noch schneller, und das Fenster fiel herunter; gleichzeitig stieß sie der Kondukteur fort und sprang in den Waggon. Sie lief immer auf den nassen Brettern der Plattform hin; dann, als die Plattform zu Ende war, konnte Katjuscha sich kaum enthalten zu fallen, als sie die Treppe hinunter und auf die Erde lief. Sie lief, aber der Waggon der ersten Klasse war schon längst voraus. Neben ihr liefen schon die Waggons der zweiten Klasse, dann, noch schneller, die Wagen der dritten Klasse vorüber, aber sie fuhr dennoch fort zu laufen. Als der letzte Waggon mit den Laternen vorbeigeeilt, war sie schon hinter dem Pumpenhause, ohne Schuh, und der Wind stürzte auf sie los, das Tuch von ihrem Kopf herunterreißend und ihre laufenden Beine von einer Seite mit dem Kleid umklebend. Der Wind hat ihr das Tuch weggetragen, aber sie lief immer noch.

»Tantchen, Michajlowna!« schrie das Mädchen, kaum mit ihr gleichen Schritt haltend, »das Tuch haben Sie verloren!«

Katjuscha blieb stehen und, den Kopf zurückwerfend und mit den Händen umfassend, brach sie in Weinen aus. »Er ist weggefahren,« schrie sie auf.

‘Er sitzt in dem erleuchteten Wagen, auf dem Samtlehnstuhl, scherzt, trinkt, ich aber bin hier, im Kot, im Dunklen, unter dem Regen und dem Wind, stehe und weine,’ dachte sie bei sich selbst, und sie setzte sich auf die Erde und fing an, so laut zu weinen, daß das Mädchen erschrak und sie in dem nassen Kleid umarmte.

»Tantchen, wollen wir nach Hause gehen.«

‘Kommt der Zug vorbei — unter den Waggon und fertig,’ dachte inzwischen Katjuscha, ohne dem Mädchen zu antworten. Sie beschloß, so zu thun. Aber sogleich, wie es ja immer im ersten Augenblicke der Beruhigung nach einer Aufregung zu sein pflegt, fuhr das Kind, sein Kind, das in ihr war, plötzlich zusammen, es stieß sich und reckte sich leicht, und es fing an, wieder mit etwas Feinem, Zartem und Scharfem zu klopfen. Und plötzlich trat alles das zurück, war sie vor einer Minute so gequält, daß es ihr unmöglich schien, zu leben; alle Bosheit gegen ihn und der Wunsch, sich an ihm, wenn auch durch ihren eigenen Tod zu rächen, alles das trat plötzlich zurück. Sie beruhigte sich, machte sich zurecht, stand auf, zog das Tuch über den Kopf und ging nach Hause.

Abgeplagt, naß, schmutzig kehrte sie nach Hause zurück, und von diesem Tage begann jene seelische Umwandlung, infolge welcher sie zu dem ward, war sie jetzt war. Von dieser schrecklichen Nacht an hörte sie auf, an Gott und an das Gute zu glauben, Früher glaubte sie selber an Gott und daran, daß die anderen Leute an ihn glauben, aber von dieser Nacht an überzeugte sie sich, daß niemand daran glaubt, und daß alles, man man von Gott und von seinem Gesetz spricht, ein Betrug und eine Ungerechtigleit ist. Er, den sie liebte, und der sie liebte, — das wußte sie — hatte sie verlassen, nachdem er seine Lust gebüßt und ihrer Gefühle gespottet. Er aber war der beste aller Menschen, die sie kannte. Und alle übrigen waren nach schlechter. Und alles, was weiter mit ihr geschah, bestätigte er bei jedem Schritt. Seine Tanten, die frommen Alten, jagten sie fort, als sie ihnen nicht mehr so dienen konnte, wie früher. Alle Menschen, mit welchen sie zusammentraf — die Frauen suchten durch sie Geld zu bekommen, die Männer, von dem alten Stanowoj angefangen, bis zu den Gefängnisaufsehern, — betrachteten sie als einen Gegenstand der Lust. Und für niemand war etwas anderes in der Welt, als die Lust, und namentlich diese Lust. Darin bestärkte sie noch mehr der alte Schriftsteller, mit dem sie im zweiten Jahre ihres Lebens in der Freiheit in ein Verhältnis getreten war. Er sagte ihr ja geradezu, daß darin — er nannte es Poesie und Aesthetik — das ganze Lebensglück bestehe.

Alle lebten nur für sich, für ihre Lust, und alle Worte von Gott, vom Guten, waren Betrug. Wenn die und da sich Fragen erhoben darüber, warum alles in der Welt so schlecht eingerichtet sei, daß alle einander nur Böses thun, und daß alle leiden, so mußte man nicht darüber nachdenken. Wird es einem ungemütlich, so raucht man, man trinkt, aber, — am besten — man liebelt mit einem Manne — und es geht vorüber.

38

Am andern Tage, einem Sonntage, um fünf Uhr morgens, als im Gefängniskorridor der weiblichen Abteilung der gewöhnliche Pfiff ertönte, weckte die schon nicht mehr schlafende Korablewa die Maslowa.

‘Zwangsarbeiterin,’ fuhr es der Maslowa mit Grausen durch den Sinn, während sie sich die Augen rieb und unwillkührlich die gegen Morgen furchtbar stinkende Luft einatmete; und sie wollte wieder einschlafen, um ins Gebiet des Unbewußten zu entfliehen, aber die gewohnte Furcht bezwang den Schlaf, und sie erhob sich, zog die Füße unter sich herauf, setzte sich aufrecht und sah sich um. Die Frauen waren schon auf, nur die Kinder schliefen noch. Die Schenkwirtin mit den vorstehenden Augen zog vorsichtig, um die Kinder nicht zu erwecken, den Schlafrock unter ihnen heraus. Die Aufrührerin hängte im Ofen die Läppchen auseinander, die als Windeln dienten, und das Kind ergoß sich in verzweifelten Geschrei auf den Armen der blauäugigen Fedossija, die sich mit ihm hin- und herschaukelte und es mit zarter Stimme einlullte.

Die Schwindsüchtige hielt sich die Brust und hustete sich mit blutübergossenem Gesichte aus: atmete dann auf in den Zwischenpausen und schrie fast dabei. Die erwachte Rothaarige lag mit dem Bauch noch oben, hielt die dicken Beine gekrümmt und erzählte laut und lustig den gehabten Traum. Das Altchen, die Brandstifterin, stand wieder vor dem Heiligenbild und bekreuzte und verneigte sich, während sie immer dieselben Worte flüsterte. Die Küsterstochter saß unbeweglich auf der Pritsche und sah mit unaufgewachten stumpfen Blicken vor sich hin. Die Charoschawka wickelte ihre fettigen, harten schwarzen Haare um den Finger.

Auf dem Korridor ließen sich Schritte in patschenden Pantoffeln hören; es rasselte das Schloß, und herein kamen zwei Arrestanten in Jacken und kurzen, bei weitem nicht bis zum Knöchel reichenden grauen Hosen, und nachdem sie mit ernsten, bösen Gesichtern die stinkende Kufe auf die Tracht gehoben, trugen sie sie aus der Kammer fort. Die Frauen gingen in den Korridor zu den Wasserkrahnen, um sich zu waschen. Bei den Wasserkrahnen entstand Zänkerei zwischen der Rothaarigen und einer Frau, die aus einer andern, benachbarten Kammer herausgekommen war. Wieder Schimpfreden, Geschrei und Klagen…

»Habt wohl Lust zum Karzer gekriegt,« schrie der Aufseher und schlug die Rothaarige so auf den fetten nackten Rücken, daß es über den ganzen Korridor klatschte.

»Mucks’ Dich nicht! Halt’s Maul!«

»Guck mal, wie der Alte schäkert,« sagte die Rothaarige, indem sie diese Behandlung für eine Liebkosung nahm.

»Nun, fix, scheert euch zur Messe!«

Die Maslowa hatte nicht einmal Zeit gehabt, sich zu kämmen, als der Inspektor mit dem Gefolge kam.

»Zur Kontrolle!« schrie der Aufseher. Aus der anderen Kammer kamen die übrigen Arrestantinnen, und alle stellten sich in zwei Reihen, den Korridor entlang; dabei mußten die Frauen der hinteren Reihe die Hände auf die Schultern der Frauen in der ersten Reihe legen. Man hat alle gezählt.

Nach der Kontrolle kam der Aufseher und führte die Arrestantinnen in die Kirche.

Die Maslowa befand sich mit der Fedossija in der Mitte der Kolonne, die aus mehr als hundert Frauen bestand, welche and allen Kammern gekommen waren. Alle waren in weißen Halstüchern, Jacken und Röcken, und selten nur traf man unter ihnen Frauen in ihren eigenen farbigen Kleidern. Dies waren Frauen mit Kindern, die ihren Männern nachfolgten. Die ganze Treppe war von diesem Zuge besetzt. Man hörte das weiche Gestampf der mit Gefängnispantoffeln beschuhten Füße, Gespräch, manchmal ein Lachen. Bei der Treppenwendung erblickte die Maslowa das das boshafte Gesicht ihrer Feindin, der Botschkowa, welche weiter vorn ging und zeigte es der Fedossija. Als sie unten angelangt waren, verstummten die Frauen, und sich bekreuzend und verbeugend, begannen sie, durch die geöffnete Thür in die noch leere, goldglänzende Kirche zu treten. Ihr Platz war rechts, und sich schiebend und aneinander drängend, stellten sie sich zurecht. Gleich hinter den Frauen kamen in grauen Schlafröcken die Etappengefangenen, die eigentlichen Sträflinge und die von Gemeindewegen Verschickten herein, und sich laut räuspernd, stellten sie sich in einem dichten Haufen links und in der Mitte der Kirche auf. Oben aber, auf den Chören, standen die schon früher Hereingeführten: an einer Seite die Zwangsarbeiter mit den halbrasierten Köpfen, die ihre Anwesenheit durch das Klirren der Ketten kundthaten; auf der anderen Seite die nicht rasierten und nicht gefesselten Untersuchungsgefangenen.

Die Gefängniskirche war neu erbaut und dekoriert von einem reichen Kaufmann, der einige zehntausend Rubel für diese Sache aufgewendet hatte, und glänzte ganz von Gold und hellen Farben.

Eine Zeit lang herrschte Stille in der Kirche, und man hörte nur Räuspern, Schnäuzen, Geschrei der Säuglinge und seltenes Kettengeklirr. Plötzlich aber stürzten sich die in der Mittee stehenden Arrestanten auf die Seite und drängten sich aneinander, um den Weg in der Mitte frei zu lassen, und auf diesem Wege ging der Insektor hindurch und stellte sich vor Allen inmitten der Kirche auf.

39

Der Gottesdienst begann.

Der Gottesdienst bestand darin, daß der Priester, nachdem er sich in ein besonderes und sonderbares, sehr unbequemes Brokatgewand gekleidet, Stückchen Brot aufschnitt und auf einem Schälchen ordnete, um sie sodann in einen Kelch mit Wein zu legen, wobei er verschiedene Namen und Gebete hersagte. Der Küster aber inzwischen las erst und sang dann ohne Aufhören, abwechselnd mit dem Chor der Arrestanten, verschiedene kirchen-slavische, an sich schon wenig verständliche, und infolge des raschen Verlesens und Singens noch weniger verständliche Gebete. Der Gebetsinhalt bestand hauptsächlich in Wünschen für die Wohlfahrt des Kaisers — Imperators und seiner Familie. Dafür wurden vielmal Fürbitten dargebracht, sowohl zusammen mit anderen Gebeten, als einzeln auf den Knieen. Außerdem wurden von dem Küster einige Verse aus der Apostelgeschichte mit derartig seltsam angestrengter Stimme verlesen, daß es unmöglich war, etwas davon zu verstehen. Vom Priester aber wurde sehr deutlich eine Stelle aus dem Evangelium Markus vorgelesen, wo gesagt wird, wie Christus nach der Auferstehung, ehe er gen Himmel fuhr und zur Rechten des Vaters saß, zuerst der Maria Magdalena erschien, aus der er sieben Teufel ausgetrieben hatte, und dann den elf Jüngern, und wie er ihnen befahl, aller Kreatur das Evangelium zu verkündigen, wobei er ihnen erklärte, daß, wer da nicht glaube, verdammt werde; wer aber glaube und getauft werde, werde gerettet, und außerdem werde er Teufel austreiben, Kranke heilen durch Auflegen der Hände, und mit neuen Zungen reden, Schlangen bändigen und nicht sterben. sondern gesund bleiben, auch wenn er Gift tränke.

Das Wesen des Gottesdienstes sah man in der Annahme, daß die vom Priester ausgeschnittenen und in den Wein gelegten Brotstückchen sich bei gewissen Manipulationen und Gebeten in den Leib und das Blut Gottes verwandeln. Diese Manipulationen bestanden darin, daß der Priester gleichmäßig, trotzdem ihn der übergezogene Brokatsack hinderte, beide Arme nach oben erhob und so hielt, dann sich auf die Kniee niederließ und den Tisch und das, was sich darauf befand, küßte. Die Haupthandlung aber war, daß der Priester, nachdem er mit beiden Händen die Serviette ergriffen, diese gleichmäßig und langsam über den goldenen Kelch und das Schälchen schwenkte. Es ward angenonnnen, daß gerade zu dieser Zeit aus dem Brot und Wein Leib und Blut werde; und daher war diese Stelle des Gottesdienstes mit besonderer Feierlichkeit umgeben.

»In Sonderheit der allerheiligsten, allerreinsten und allergesegnetsten Mutter Gottes!« schrie laut der Priester hinter der Scheidewand,16 und der Chor fing an, feierlich zu singen, daß es sehr schön sei, die Maid Maria zu preisen, die Christus geboren. ohne Verletzung der Jugfrauenschaft, und die dafür einer größeren Ehre gewürdigt worden als irgend welche Cherubim, und eines größeren Ruhmes als irgend welche Seraphim. Nach diesem nahm man an, daß die Verwandlung vollzogen sei, und der Priester hob die Serviette von dem Schälchen, zerschnitt das mittlere Brotstückchen in vier Teile und steckte es erst in den Wein und dann in den Mund. Es ward also angenommen, daß er ein Stückchen vom Leibe Gottes verzehrt und einen Schluck seined Blutes getrunken habe. Darauf zog den Priester den Vorhang vor der mittleren Thür des Altars zurück, öffnete diese Thür, nahm den goldenen Kelch in die Hände, ging mit ihm durch die mittlere Thür und lud die danach Verlangenden ein, auch vom Leid und Blut Gottes zu essen, die sich in der Tasse befanden.

Diese Verlangenden waren einige Kinder.

Zuerst befragte der Priester sie nach ihren Namen, und dann, vorsichtig mit dem Löffelchen aus der Tasse schöpfend, steckte er jedem der Kinder, nach der Reihe, je ein Stückchen Brot in Wein tief in den Mund. Der Küster aber wischte sogleich den Kindern den Mund ab und sang dazu mit lustiger Stimme ein Lied, daß die Kinder Gottes Leib essen und sein Blut trinken. Darauf trug der Priester den Kelch hinter die Scheidewand, trank dort alles in dem Kelche befindliche Blut und aß alle Stückchen Gottesleib auf; dann, nachdem er den Schnurrbart abgesogen, den Mund und die Tasse ausgewischt, kam er mit munteren Schritten, mit den dünnen Sohlen der kalbsledernen Stiefel knarrend und in der lustigsten Gemütsverfassung hinter der Scheidewand hervor.

Damit war der christliche Gottesdienst der Hauptsache nach beendet, aber der Priester wollte die unglücklichen Gefangenen trösten, und so fügte er dem gewöhnlichen Gottesdienst noch einen besonderen hinzu.

Dieser besondere Gottesdienst bestand darin, daß der Priester sich vor das geschmiedete und vergoldete Abbild desjenigen Gottes, von dem er, wie angenommen ward, gegessen, stellte — (das Abbild hatte ein schwarzes Gesicht und schwarze Hände und war von einem Dutzend Wachskerzen beleuchtet) — und anfing, mit sonderbarer, falscher Stimme, weder singend noch sprechend, folgende Worte vorzutragen; »Jesus, der süßeste, Wort der Apostel. Jesus, das Lob der Märthyrer, der allmächtige Herrscher, erlöse mich, Jesus mein Heiland! Mein Jesus, der schönste, erbarme dich meiner! Des bei dir, mein Heiland, Zuflucht Suchenden. Erbarme dich wegen der Fürbitte derer, die dich geboren hat und aller deiner Heiligen, Jesus! Auch aller Propheten, mein Heiland Jesus! Und der Süße der Paradieses würdige mich, Jesus, Menschenfreund!«

Hier verweilte er etwas, holte Atem, bekreuzte sich und verbeugte sich bis zur Erde, und alle thaten dasselbe. Es verbeugten sich der Inspektor, die Aufseher, die Arrestanten, und oben klapperten besonders oft die Beinschellen.

»Schöpfer der Engel und Herr der Kräfte,« fuhr er fort, »Jesus, der herrlichste, das Staunen der Engel, Jesus, der allermächtigste, Erlösung der Vorväter, Jesus, der allersüßeste, Lobpreisung der Patriarchen, Jesus, der glorreichste, Stärkung der Zaren, Jesus, der allgütige, Erfüllung der Propheten, Jesus, der wurderbarste, der Märtyrer Stärke, Jesus, der sanfteste, Freude der Mönche, Jesus, der allergnädigste, Süßigkeit der Presbyter, Jesus, der allerbarmherzigste, Enthaltsamkeit der Fastenden, Jesus, der allerwonnigste, Seligkeit der Gerechten, Jesus, der allerreineste, Keuschheit der Reinen, Jesus, der urewige, der Sünder Rettung, Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner!«

Er gelangte hier endlich zu einem Halt, indem er mit immerstärkerem Surren den Namen Jesus wiederholte; er hielt mit der Hand den Talar am seidenen Unterfutter zusammen, und sich auf ein Knie niederlassend, verbeugte er sich bis zur Erde. Der Chor aber sang, die letzten Worte wiederholend: »Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner.« Die Gefangenen fielen nieder und standen auf, während sie die auf einer Kopfhälfte stehen gebliebenen Haare zurückschüttelten, und mit den Beinschellen, die ihnen die mageren Beine rieben, rasselten.

So ging es sehr lange. Zuerst kamen die Lobpreisungen, die mit dem Wort »Hallelujah« endigten. Die Gefangenen bekreuzten und verneigten sich bei jeder Unterbrechung, dann aber fingen sie an, sich bei jeder zweiten oder gar dritten Pause zu verbeugen, und alle waren sehr froh, als alle Lobpreisungen zu Ende waren, und der Priester, erleichtert seufzend, das Büchlein zuklappte und hinter die Scheidewand ging. Noch eine letzte Handlung blieb übrig, die darin bestand, daß der Priester vom großen Altartische das dort liegende vergoldete Kreuz mit den Emailmedaillons an den Enden nahm und mit ihm in die Mitte der Kirche trat. Zuerst kam der Inspektor heran und küßte das Kreuz, dann kamen die Aufseher, dann fingen die sich drängenden und flüsternd schimpfenden Gefangenen an, sich zu nähern. Der Priester, der sich dabei mit dem Inspektor unterhielt, schob das Kteuz und seine Hand den zu ihm herankommenden Arrestanten an den Mund, manchmal aber auch gegen die Nase. Die Gefangenen aber bemühten sich, sowohl das Kreuz wie des Priesters Hand zu küssen. So endete der christliche Gottesdienst, der zur Tröstung und Belehrung der verirrten Brüder abgehalten wird.

40

Und niemandem von den Anwesenden — von dem Priester und dem Inspektor bis zur Maslowa — kam es in den Kopf, daß derselbe Jesus, dessen Namen der Priester so unzählige Male surrend wiederholte, indem er ihn mit allen möglichen seltsamen Worten pries, grade all das verboten hat, was hier verrichtet wurde. Daß er nicht nur solchen sinnlosen Wortschwall und die gotteslästerliche Hexerei der Priester mit dem Brot und Wein verboten, sondern auch auf das bestimmteste verboten, daß die einen Menschen die andern Meister nennen; daß er die Gebete in den Tempeln verboten und jedem befohlen, in der Einsamkeit zu beten; daß er die Tempel selbst verboten, indem er sagte, daß er gekommen sei, sie zu zerstören, und daß man nicht in den Tempeln, sondern im Geist und in der Wahrheit beten solle. Und was die Hauptsache ist, daß er nicht nur verboten, über andere zu richten und sie in Einkerkerung zu halten, — sie zu quälen, zu beschimpfen, hinzurichten, wie es hier geschah. Sondern daß er jegliche Vergewaltigung der Menschen verboten, indem er sprach, daß er gekommen sei, die Gefangenen in Freiheit zu setzen.

Niemandem von den Anwesenden kam es in den Kopf, daß alles, war hier verrichtet wurde, die größte Lästerung und Verhöhnung desselben Jesus sei, in dessen Namen alles dies geschah. Niemandem kam es in den Kopf, daß das vergoldete Kreuz mit den emaillierten Medaillons an den Enden, das der Priester herangetragen und den Leuten zum Küssen dargereicht, nichts anderes war, als eine Darstellung desselben Galgens, an welchem Christus grade dafür hingerichtet worden, daß er all das verboten hatte, was jetzt hier in seinem Namen verrichtet wurde. Niemandem kam in den Sinn, daß jene Priester, die sich einbilden, unter der Gestalt von Brot und Wein den Leib Christi zu essen und sein Blut zu trinken, wirklich seinen Leib essen und sein Brut trinken, aber nicht in den Brotstückchen und in dem Wein, sondern dadurch, daß sie jene, — »die Kleinen,« mit denen Christus sich identifiziert hat, — verführen und sie des größten Heils berauben, den größten Qualen unterwerfen, indem sie vor den Leuten jene Heilsverkündigung verbergen, die er ihnen gebracht hat.

Der Priester that alles, was er that, mit ruhigem Gewissen, weil er von Kindheit an in dem Gedanken erzogen war, daß dies die einzig wahre Religion sei, an welche alle früher lebenden gerechten Leute geglaubt hatten, und an die jetzt die gesamte geistliche und weltliche Obrigkeit glaubt. Er glaubte nicht daran, daß aus dem Brot Fleisch würde, daß es der Seele förderlich sei, viele Worte zu machen, oder daß er wirklich ein Stückchen von Gott verzehrt habe; daran kann man nicht glauben, — sondern er glaubte, daß man an diese Religion glauben müsse. Hauptsächlich aber befestigte ihn in diesem Glauben der Umstand, daß er für die Vollziehung gottesdienstlicher Handlungen schon seit achtzehn Jahren die Einkünfte bezog, von denen er seine Familie erhielt, seinen Sohn ins Gyamnasium, seine Tochter in die geistliche Schule schickte. Auf dieselbe Weise glaubte auch der Küster, und noch fester als der Priester, weil er daß Wesen der Dogmen dieser Religion ganz und gar vergessen und nur wußte, daß es für den Wärmetrunk17 , für die Hora, für das Gebet zum Gedächtnis der Verstorbenen, fr das einfache Tedeum und für das Tedeum mit dem Akathistos18 , für alles dies einen bestimmten Preis giebt, den alle guten Christen gern bezahlen. Und so schrie er denn sein »barmedichunser!« »barmedichunser!« aus und sang und las, war vorgeschrieben war, mit derselben ruhigen Sicherheit, daß dies notwendig sei, mit welcher die Leute Holz, Mehl, Kartoffeln verkaufen. Der Gefängnischef aber und die Aufseher, obgleich auch sie nie wußten und nie in daß eindrangen, worin die Dogmen dieser Religian bestehen und was all das bedeutete, was in der Kirche von sich ging, — glaubten, daß man unfehlbar an diese Religion glauben müsse, weil die höchste Obrigkeit und der Zar selber an sie glaube. Außerdem fühlten sie, wenn auch unklar, (sie konnten sich durchaus nicht erklären, wieso das geschah), daß diese Religion ihr grausames Amt rechtfertigte. Wenn diese Religion nicht gewesen wäre, so würde es ihnen nicht nur schwieriger, sondern vielleicht gar unmöglich gewesen, all ihre Kräfte dazu zu gebrauchen, um Menschen zu quälen, wie sie es jetzt mit vollkommen ruhigem Gewissen thaten. Der Inspektor war ein Mensch von so gutem Herzen, daß es ihm durchaus unmöglich gewesen wäre, so zu leben, wenn er nicht in dieser Religion eine Unterstützung gefunden hätte. Und darum stand er unbeweglich, grade, verbeugte und bekreuzte sich eifrig, bemühte sich, Rührung zu empfinden, als man den Lobgesang der Cherubim anstimmte; als man aber begann, den Kindern das Abendmahl zu reichen, trat er ganz vor und hob eigenhändig einen Knaben in die Höhe, welchem man das Abendmahl reichte, und hielt ihn eine Zeit lang.

Die meisten der Gefangenen aber, mit Ausnahme der wenigen, die klar den ganzen Betrug durchschauten, welcher über die Menschen dieses Glaubens gekommen und innerlich darüben lachten, — die meisten glaubten, daß in diesen vergoldeten Heiligenbildern, Kerzen, Kelchen, Meßgewändern, Kreuzen, Wiederholungen der unverständlichen Worte, »Jesus, der süßeste« — »barmedichunser!« eine geheimnisvolle Kraft verborgen sei, vermittelt deren man sich große Bequemlichkeiten in diesem, wie auch im zukünftigen Leben verschaffen könne.

Wenn auch die meisten von ihnen schon einige Versuche zur Erlangung von Bequemlichkieten in diesem Leben mit Hülfe von Gebeten, Tedeums, Kerzen, gemacht hatten, ohne sie zu erhalten, — ihre Gebete blieben unerhört — war jeder fest überzeugt, daß diesen Mißerfolg nur zufällig sei, und daß diese von gelehrten Leuten und Metropoliten gutgeheißene Einrichtung eine sehr wichtige Einrichtung, und wenn nicht für dieses, so doch für das zukünftige Leben notwendig sei.

Dasselbe glaubte auch die Maslowa. Sie empfand, wie die andern auch, während des Gottesdienstes, das gemischte Gefühl von Andacht und Langerweile. Sie stand zuerst in der Mitte der Haufens und konnte niemand sehen, als ihre Gefährtinnen; als aber die Abendmahlskinder vorrückten, rückte auch sie, samt den Fedossia vor und sah den Inspektor, und hinter dem Inspektor, zwischen den Aufsehern, ein Bäuerchen mit hellweißem Bärtchen und blonden Haaren, den Mann der Fedossija, der mit starren Augen seine Frau ansah.

Während des Akathistos beschäftigte sich die Maslowa damit, ihn zu betrachten und mit der Fedossija zu flüstern, und sie bekreuzte und verneigte sich nur, wenn alle es thaten.

41

Nechljudow fuhr früh aus dem Hause fort. Ueber die Quergasse fuhr noch ein Bauer und schere mit seltsamer Stimme; »Milch, Milch, Milch!« Am Tage vorher war der erste warme Frühlingsregen gefallen. Ueberall, wo kein Pflaster war, begann plötzlich das Gras zu grünen; in den Gärten waren die Birken mit grünen Daunen überstreut, und Traubenkirschen und Pappeln breiteten ihre langen duftenden Blätter aus; in den Häusern aber und in den Magazinen nahm man die Winterfenster heraus und putzte die Scheiben. Auf dem Trödelmarkt, an dem Nechljudow vorbeifahren mußte, wimmelie neben den in einer Reihe gebauten Buden ein dichtgedrängter Haufe Menschen, und zerlumpte Leute mit Stiefeln unter dem Arm und mit über die Schultern geworfenen ausgebügelten Hosen und Westen gingen hin und her.

Bei den Wirtschaften drängten sich schon die aus ihren Fabriken befreiten Männer in sauberen Kaftanen und glänzenden Stiefeln, und Frauen mit grellen seidenen Tüchern auf dem Kopf und in Paletots mit Schmelzperlen. Polizeisoldaten mit gelben Pistolenschnüren standen auf ihren Plätzen und spähten nach Unordnungen aus, welche die sie quälende Langeweile zerstreuen könnten. Auf den Fußsteigen der Boulevards und auf dem grünen, eben erst sich färbenden Rasen liefen spielend Kinder und Hunde hin und her und die lustigen Kindergärtnerinnen saßen auf den Bänken und plauderten mit einander.

Ueber die kühlen und feuchten Straßen, die auf der linken Seite noch im Schatten und in der Mitte trocken waren, rasselten auf dem Pflaster ohne Aufhören die schwer beladenen Wagen der Frachtfuhrleute, dröhnten die Droschken und klingelten die Tramways.

Von allen Seiten zitterte die Luft vom verschiedenartigen Klang und Getön der Glocken, die das Volk herbeiriefen, ebensolchem Gottesdienst beizuwohnen, wie der, der jetzt im Gefängnis abgehalten worden. Und die herausgeputzten Leute gingen, jeder in seine Pfarrkirche.

Der Mietskutscher fuhr den Nechljudow nicht bis zum Gefängnis selbst, sondern nur bis zu der Straßenbiegung, die zum Gefängnis führte.

Einige Leute, Männer und Frauen, meistens mit Bündelchen, standen dort, wo die Straße sich zum Gefängnis umwendete, etwa hundert Schritte vom Gefängnis entfernt. Rechts befanden sich nicht hohe hölzerne Bauten, links ein zweistöckiges Haus mit irgend einem Aushängeschild. Das ungeheuer große Gefängnisgebäude selbst lag geradeaus; zu ihm ließ man die Besucher nicht heran. Der Wachtposten marschierte mit der Flinte auf und ab, und strenge schrie er diejenigen an, die es versuchten, ihn zu umgehen. Neben dem Pförtchen zu den hölzernen Gebäuden rechter Hand, der Schildwache gegenüber, saß auf einer kleinen Bank der Aufseher in Uniform, mit Tressen, und mit einem Notizbuch. Die Besucher traten an ihn heran, nannten die Namen derer, die sie zu sehen wünschten, und er schrieb sie auf. Auch Nechljudow trat an ihn heran und nannte Katharina Maslowa. Der Aufseher mit den Tressen schrieb.

»Warum wird man nach nicht eingelassen?« fragte Nechljudow,

»Die Messe wird abgehalten. Ist die Messe mal aus, so läßt man schon ein.«

Nechljudow begab sich zu dem Haufen der Wartenden. Von dem Haufen sonderte sich ein Mann in alten Stiefeln mit abgeschnittenen Schäften auf den nackten Füßen, in zerrissener Kleidung und zerknittertem Hut, dessen Gesicht mit roten Streifen bedeckt war und schlug die Richtung nach dem Gefängnis ein.

»Wohin strolchst Du?« schrie der Soldat mit der Flinte auf ihn ein.

»Aber Du, was brüllst Du?« antwortete der Zerlumpte, durchaus nicht eingeschüchtert durch den Anruf der Schildwache und kehrte um; »läßt Du mich nicht durch, so wart’ ich. Aber Du schreist ja wie ’n General.«

Beifällig lachte man in dem Haufen. Die Besucher waren meist schäbig gekleidete, sogar zerlumpte Leute, aber es waren auch, dem äußeren Anschein nach, anständige darunter, Männer und Frauen. Neben dem Nechljudow stand ein gut gekleideter, glattrasierter, beleibter, rotbäckiger Mann mit einem Bündelchen in der Hand, das augenscheinlich Wäsche enthielt. Nechljudow fragte ihn, ob er zum ersten Male hier sei? Der Mann mit dem Bündelchen antwortete, daß er jeden Sonntag hier zu sein pflege, und sie kamen ins Gespräch miteinander. Es war ein Portier aus der Bank; er kam hierher, um sich nach seinem Bruder, der wegen Urkundenfälschung eingezogen war, umzusehen. Dieser gutmütige Mann erzählte dem Nechljudow seine ganze Geschichte und wollte auch ihn schon ausfragen, als ihre Aufmerksamkeit abgelenkt ward durch einen Studenten mit einer verschleierten Dame, die in einer Gummiräderdroschke mit einem starken, rabenschwarzen Rassepferd angefahren kamen. In den Händen trug der Student ein großed Bündel. Er kam zum Nechljudow und fragte ihm, ob es möglich sei, und wie man es anfangen müsse, um die milden Gaden, die Kalatschen (Semmel), die er mitgebracht, den Gefangenen zu übergeben.

»Ich thue es auf Wunsch meiner Braut. Das ist meine Braut. Ihre Eltern haben und geraten, dies den Gefangenen zu überbringen.«

»Ich selber bin zum ersten Mal hier und weiß es nicht, aber ich glaube, daß man diesen Menschen fragen muß,« sagte Nechljudow, indem er auf den Aufseher mit den Tressen zeigte, der mit dem Notizbuche rechts saß.

Zur selben Zeit, als Nechljudow mit dem Studenten sprach, that sich die große eiserne Gefängnisthür mit dem Fensterchen in der Mitte auf, und heraus trat ein Offizier in Uniform mit einem andern Anfseher, und der Aufseher mit dem Buche erklärte, daß jetzt die Zulassung der Besucher beginne. Die Schildwache trat zur Seite, und alle Besucher begaben sich raschen Schrittes, manche sogar im Trab, als ob sie sich zu verspäten fürchteten, zur Gefängnisthür. An der Thür stand ein Aufseher, der die Besucher zählte, wie sie an ihm vorbeigingen, indem er laut hersagte: ‘sechzehn, siebzehn u. s. w.’ Ein anderer Aufseher, innerhalb des Gebäudes, zählte ebenso die in die nächste Thür Hineingehenden, indem er jeden mit der Hand berührte, damit er später, beim Hinauslassen, wenn er die Anzahl kontrolierte, keinen der Besucher im Gefängnisse zurückbleiben und keinen der Gefangenen hinausgehen ließe. Ohne den, der an ihm vorbeiging, anzusehen, schlug dieser Zähler mit der Hand den Nechljudow auf den Rücken, und diese Berührung der Aufseherhand beleidigte den Nechljudow im ersten Augenblick, aber sogleich erinnerte er sich, weswegen er hierhergekommen, und er machte sich ein Gewissen daraus, daß er sich mißvergnügt und beleidigt fühlte.

Der erste Raum hinter der Thür war ein großes gewölbtes Zimmer mit Eisengittern vor den kleinen Fenstern. In diesem Zimmer, das Versammlungszimmer genannt ward, erblickte Nechljudow ganz unerwartet in einer Nische eine große Darstellung der Kreuzigung.

‘Wozu ist das?’ dachte er, indem er Christi Bildnis unwillkührlich in seiner Vorstellung mit den Erlösten, aber nicht mit den Eingekerkerten in Verbindung brachte.

Langsamen Schrittes ging Nechljudow und ließ die hastenden Besucher vorbei, indes er gemischte Gefühle des Grauens vor den Bösewichtern, die hier eingeschlossen waren, des Mitleids mit den Unschuldigen, welche wie der Knabe von gestern und Katjuscha hier sein mußten, und des Kleinmuts und der Rührung über das Wiedersehn erfuhr, das ihm bevorstand.

Beim Ausgang aus dem ersten Zimmer, am andern Ende desselben, sagte der Aufseher etwas. Aber Nechljudow, von seinen Gedanken absorbiert, schenkte dem seine Aufmerksamkeit und ging weiter in derselben Richtung wie der größere Teil der Besucher ging, nämlich nach der männlichen Abteilung und nicht nach der weiblichen, wohin er mußte. Da er die Voraneilenden vorbei ließ, kam er in den für die Besucher bestimmten Raum als Letzter. Das erste, was den Nechljudow frappierte, als er die Thür öffnete und diesen Raum betrat, war das betäubende, in ein Getöse zusammenfließende Geschrei von hundert Stimmen, dessen Bedeutung er in der ersten Minute nicht verstehen konnte. Erst als Nechljudow sich den Leuten näherte, die gleich den den Zucker bedeckenden Fliegen sich an die Netzscheidewand preßten, die das Zimmer in zwei Teile trennte, begriff er, wie die Sache lag. Das Zimmer, daß an der Hinterwand Fenster hatte, ward nicht durch ein, sondern durch zwei Drahtnetze, welche von der Decke die zum Boden reichten, in zwei Teile geteilt. Diese Netze waren in einem Abstande von etwa drei Arschin gezogen. Zwischen den zwei Netzen gingen Soldaten auf und ab. Jenseits der Netze waren die Gefangenen, diesseits die Besucher. Zwischen diesen und jenen befanden sich zwei Netze und drei Arschin Entfernung, so daß es nicht nur unmöglich war, etwas zu übergeben, sondern sogar das Gesicht zu unterscheiden, besonders für kurzsichtige Leute. Schwierig war es auch, sich zu sprechen; aus allen Kräften mußte man schreien, um gehört zu werden. Von beiden Seiten gab er an die Netze angepreßte Gesichter: Frauen, Männer, Väter, Mütter, Kinder, die sich bemühten, einander zu erkennen und zu sagen, was sie sich mitzuteilen hatten.

Weil aber jeder sich bemühte, so zu sprechen, daß der andre ihn deutlich hören konnte, und die Nachbarn dasselbe wollten, und ihre Stimmen einander störten, so bemühte sich jeder, den Nachbar zu überschreien. Eben dadurch entstand das Getöse, hie und da von einzelnen Schreien übertönt, das den Nechljudow frappiert hatte, sobald er in dieses Zimmer eingetreten war. Es gab keine Möglichkeit, zu unterscheiden, was eigentlich gesprochen wurde. Man konnte nur aus den Gesichtern schließen, was gesprochen ward, und welche Beziehungen zwischen den Sprechenden bestanden. Dem Nechljudow am nächsten befand sich ein altes Mütterchen im Kopftuche, das sich an das Netz drückte, und mit dem Unterkiefer zitternd, dem jungen Mann mit dem halbrasierten Kopf etwas zuschrie, der mit aufgezogenen Augenbrauen und stirnrunzelnd ihr aufmerksam zuhorchte. Neben dem alten Mütterchen stand ein junger Mann im Kaftan, der kopfnickend hörte, was der ihm ähnliche Arrestant mit dem gequälten Gesicht und dem ergrauenden Bart sagte. Noch etwas ferner stand der Zerlumpte, deutete mit der Hand, schrie etwas und lachte. Neben ihm auf dem Boden aber saß eine Frau mit einem schönen wollenen Tuche, die ein Kind bei sich hatte; und laut weinte sie, augenscheinlich weil sie zum ersten Male den grauhaarigen Mann, der jenseits war, in der Arrestantenjacke, mit dem rasierten Kopf und den Beinschellen erblickte. Ueber diese Frau hinweg schrie aus allen Kräften der Portier, mit dem Nechljudow gesprochen, einem kahlköpfigen Gefangenen mit glänzenden Augen auf der andern Seite zu.

Als Nechljudow begriff, daß er unter solchen Umständen werde sprechen müssen, erhob sich in ihm ein Gefühl der Empörung gegen jene Leute, welche so etwas einrichten und aufrecht erhalten konnten. Er wunderte sich, daß eine so grausame Situation, eine solche Verhöhnung der Gefühle andrer Menschen niemand beleidigte. Sowohl die Soldaten, wie der Inspektor und die Gefangenen thaten alles dies so, als ob sie anerkennten, daß es so sein müsse.

Nechljudow verbrachte in diesem Zimmer etwa fünf Minuten, während er ein seltsames Gefühl der Beklemmung, des Bewußtseind seiner Ohnmacht und seiner Entzweiung mit der ganzen Welt empfand; eine moralische Empfindung, dem Schwanken auf dem Schiffe vergleichbar, überwältigte ihn.

42

‘Man muß doch das thun, weswegen man gekommen ist,’ sagte er, sich aufmunternd. ‘Was macht man nun?’ Er begann mit den Augen die Obrigkeit aufzusuchen, und als er einen nicht hochgewachsenen, mageren Mann mit einem Schnurrbart und mit Offiziersachselschnüren, der hinter den Leuten hin und her ging, erblickte, wandte er sich an ihn.

»Können Sie nicht, gnädiger Herr, mir sagen,« sagte er mit besonders angestrengter Höflichkeit, »wo sind hier die Frauen inhaftiert und wo werden die Besuche bei ihnen erlaubt?«

»Müssen Sie denn in das weibliche Besuchszimmer?«

»Ja, ich möchte eine der gefangenen Frauen sehen,« antwortete mit derselben angespannten Höflichkeit Nechljudow.

»Das hätten Sie aber sagen müssen, als Sie im Versammlungszimmer gewesen. Wen wollen Sie denn sehen?«

»Ich muß Katharina Maslowa sehen.«

»Ist sie eine Politische?« fragte der Unterinspektor.

»Nein, sie ist einfach…«

»Was ist sie denn? Schon verurteilt?«

»Ja, vorgestern ward sie verurteilt,« antwortete gehorsam Nechljudow, da er fürchtete, die Stimmung des Unterinspektors irgendwie zu verderben, der, wie es schien, an ihm Anteil nahm.

»Wollen Sie ins weibliche, dann bitte dorthin,« sagte der Inspektor, der augenscheinlich entschieden hatte, daß Nechljudow der Aufmerksamkeit wert sei. »Sidorow,« wandte er sich an den schnurrbärtigen Unteroffizier mit den Medaillen. »Begleite den Herrn hier in das weibliche Besuchszimmer.«

»Zu Befehl.«

Um diese Zeit ließ sich an dem Gitter irgend wessen herzzerreißendes Weinen hören.

Alles war für Nechljudow seltsam, und am seltsamsten war, daß er dem Inspektor und dem Oberaufseher danken und eine Verdindlichkeit gegen sie fühlen mußte, gegen die Leute, die alle die grausamen Thaten ausführten, welche in diesem Hause vollbracht werden.

Der Aufseher führte den Nechljudow aus dem männlichen Besuchszimmer in den Korridor hinaus und sogleich durch eine Thür gegenüber in das weibliche Besuchszimmer hinein.

Dies Zimmer war, ebenso wie auch das männliche, durch zwei Netzscheidewände in drei Teile geteilt, aber es war bedeutend kleiner auch weniger Besucher und Gefangene befanden sich darin; aber das Geschrei und Getöse war dort ebenso groß, wie in dem männlichen Besuchszimmer. Ebenso ging zwischen den Netzen die Obrigkeit hin und her. Die Obrigkeit repräsentierte hier eine Aufseherin in Uniform mit Tressen auf den Aermeln, mit blauen Vorstößen und einem ebensolchen Gürtel. Auch hefteten sich ebenso, wie in dem männlichen Besuchszimmer, die Menschen von beiden Seiten an die Netze an: von dieser Seite — Stadtbewohner in verschiedenartiger Kleidung, von jener Seite — die Arrestantinnen, einige in weißen, einige in eigenen Kleidern. Das ganze Netz war von den Leuten umstellt. Die einen stellten sich auf die Fußspitzen, um über die Köpfe der anderen hin hörbar zu sein; die anderen saßen auf dem Boden und sprachen mit einander.

Am auffallendsten von allen weiblichen Gefangenen, — sowohl durch ihr frappantes Gescheei, als durch ihr Aussehen, war eine zerzauste, magere gefangene Zigeunerin mit dem von den krausen Haaren auf die Seite geschobenen Kopftuch, die fast in der Mitte des Zimmers, jenseits des Gitters, an dem Pfeiler stand und etwas mit raschen Gesten einem tief und straff gegürteten Zigeuner in einem blauen Gehrock zuschrie. Neben dem Zigeuner hockte auf dem Boden ein Soldat, der mit einer Arrestantin sprach; ferner stand da, sich an das Netz drängend, ein junges Bäuerchen in Bastschuhen, mit kleinem, hellem Bart und rot gewordenem Gesicht, der augenscheinlich mit Mühe die Thränen zurückhielt. Mit ihm sprach eine liebliche blonde Arrestantin, die mit ihren hellen blauen Augen den Besucher ansah. Dies war Fedossija mit ihrem Mann. Neben ihm stand ein zerlumpter Mann und sprach mit einer zerzausten Frau mit breitem Gesicht; dann zwei Frauen, ein Mann, wieder eine Frau. — Jedem gegenüber war eine Arrestantin. Zwischen denselben befand sich die Maslowa nicht, aber hinter den Arrestantinnen stand noch eine Frau, und Nechludow begriff sogleich, daß es sie war; er fühlte sogleich, wie sein Herz anfing, heftig zu schlagen, und der Atem ihm benommen wurde. Die entscheidende Minute nahte. Er trat an die Netzwand und erkannte sie. Sie stand hinter der blauäugigen Fedossija und hörte lächelnd zu, was jene sprach. Sie war nicht im Schlafrock, wie vorgestern, sondern in einer stark mit dem Gürtel zusammengezogenen, weißen Jacke, die sich auf der Brust hoch erhob. Unter dem Halstuch ließen sich, wie auf dem Gesicht, die krausen, schwarzen Haare sehen.

‘Gleich wird es sich entscheiden,’ dachte er. ‘Wie soll ich sie rufen? Oder wird sie selber herankommen?’ Aber sie selber kam nicht heran. Sie erwartete Klara und dachte gar nicht, daß dieser Herr zu ihr gekommen sei.

»Zu wem wollen Sie denn?« fragte die Aufseherin, die zwischen den Besuchern hin und her ging, sich dem Nechljudow nähernd.

»Katharina Maslowa,« konnte Nechljudow kanm hervorbringen.

»Maslowa, — zu Dir,« schrie die Aufseherin.

43

Die Maslowa blickte sich um, und den Kopf erhebend und die Brust herausdrückend, kam sie mit dem ihm schon bekannten Ausdruck der Bereitwilligkeit an das Gitter. Sie drüngte sich zwischen zwei Arrestantinnen durch und heftete die Blicke verwundern-fragend auf den Nechljudow, ohne ihn zu erkennen.

Da sie aber seiner Kleidung nach ihn für einen reichen Mann halten mußte, so lächelte sie.

»Wollen Sie zu mir?« sagte sie, ihr lächelndes Gesicht mit den schielenden Augen dem Gitter nähernd.

»Ich wollte…,« Nechljudow wußte nicht, wie er sagen solle: ob Sie oder Du, und er entschloß sich, ‘Sie’ zu sagen. Er sprach nicht lauter, als gewöhnlich, »Ich wollte Sie sehen…ich….«

»Du brauchst mir nicht das Zahnweh zu besprechen,« schrie neben ihm der zerlumpte Mann: »Hast Du’s genommen oder nicht?«

»Du hörst ja, sie stirbt, was willst du noch?« schrie jemand von der anderen Seite.

Die Maslowa konnte nicht deutlich hören, was Nechljudow sagte; aber der Ausdruck seines Gesichtes, während er sprach, mahnte sie plötzlich an ihn. Aber sie traute ihren Augen nicht. Dennoch erstarb das Lächeln auf ihrem Gesicht, und auf der Stirn bildeten sich Leidensfalten.

»Man kann nicht hören, was Sie sagen,« schrie sie, die Angenlider zusammendrückend und mehr und mehr die Stirn runzelnd.

»Ich hin gekommen« …‘Ja ich thue, was ich muß, — ich beichte,’ — dachte Nechljudow.

Und kaum hatte er das gedacht, so traten ihm die Thränen in die Augen, es schnürte ihm den Hals zu, und er verstummte, während er sich mit den Fingern am Gitter anhakte und sich bemühte, nicht laut aufzuweinen.

»Ich sag’, warum thust Du, was sich nicht gehört,« schrie man von einer Seite.

»Glaube Du Gott, ich meiß ganz und gar nichts,« schrie die Arrestantin von der anderen Seite.

Als die Maslowa seine Aufregung gewahrte, erkannte sie ihn.

»Es ist eine Aehnlichkeit, aber ich erkenne Sie nicht,« schrie sie, ohne ihn anzusehn, und ihr plötzlich errötetes Gesicht wurde noch finsterer.

»Ich bin getommen, Dich um Verzeihung zu bitten,« schrie er mit lauter Stimme, ohne Intonationen, wie eine auswendig gelernte Lektion, hinaus.

Nachdem er diese Worte ausgerufen, wurde er befangen, und er sah sich um. Aber sogleich kam ihm der Gedanke, wenn er sich beschämt fühle, so sei es um so besser, weil er ja die Schande erteagen müsse, und er fuhr laut zu sprechen fort:

»Vetzeih mir, ich bin furchtbar schuldig vor…« schrie er noch einmal hinaus.

Sie stand unbeweglich und ließ den scheelen Blick nicht von ihm.

Er konnte nicht weiter sprechen und ging von dem Gitter fort, indem er sich bemühte, das seine Brust erschütternde Schluchzen zurückzuhalten.

Der Inspektor, derselbe, welcher den Nechljudow in die weibliche Abteilung gewiesen, da er augenscheinlich ein Interesse für ihn gefaßt, kam in diese Abteilung, und als er den Nechljudow nicht an dem Gitter gewahrte, fragte er ihn, worum er nicht mit der Person spreche, mit der er sprechen gewollt. Nechljudow schnäuzte sich, und sich aufrüttelnd und ruhig auszusehen bemühend, antwortete er:

»Ich tann nicht durch die Gitter sprechen; man hört nichts.«

Wieder überlegte der Inspektor.

»Nun, was denn, man kann sie für eine Zeitlang heraus und hierher führen.«

»Maria Karlowna!« wandte er sich an die Aufseherin. »Führen Sie die Maslowa heraus.«

Nach einer Minute kam die Maslowa aus einer Seitenthür. Mit weichen Schritten dicht an den Nechljudow herantretend, blieb sie stehen und sah ihn schief an. Die schwarzen Haare drängten sich, wie vorgestern, in krausen Ringelchen; das Gesicht, ungesund, voll und weiß, war lieblich, war vollkommen ruhig; nur die blanken, schwarzen, schielenden Augen glänzten ungewöhnlich unter den etwas angeschwollenen Lidern hervor.

»Man kann hier sprechen,« sagte der Inspektor und trat, verwundert die Achseln zuckend, bei Seite. Nechljudow näherte sich der Bank an der Wand.

Die Maslowa blickte fragend den Unterinspektor an, und dann, wie achselzuckend vor Erstaunen, ging sie dem Nechljudow nach, zur Bank und setzte sich dort, neben ihn, indem sie ihren Rock ordnete.

»Ich weiß, daß es Ihnen schwer werden muß, mir zu verzeihen,« fing Nechljudow an, blieb aber wieder stecken, da er fühlte, daß die Thränen ihn hinderten, »aber wenn es auch unmöglich ist, das Vergangene wieder gut zu machen, so werde ich doch jetzt alles thun, was ich kann. Sagen Sie…«

»Wie aber haben Sie mich aufgefunden?« fragte sie, ohne auf seine Frage zu antworten, indem sie ihn mit ihren schielenden Augen ansah und zugleich nicht ansah.

‘Mein Gott! Hilf mir. Lehre mich, was ich tun soll,’ sprach Nechljudow zu sich selbst, während er auf ihr so verändertes, jetzt so gemeines Gesicht sah.

»Ich war Geschworener vorgestern,« sagte er, »als man über Sie zu Gericht saß. Haben Sie mich nicht erkannt?«

»Nein, nicht erkannt: ich hatte keine Zeit zum Erkennen. Aber ich habe auch nicht hingesehen,« sagte sie.

»Es war ja ein Kind da?« fragte er und fühlte, wie sein Gesicht rot wurde.

»Ist damals, Gottlob, sogleich gestorben,« versetzte sie kurz und boshaft, den Blick von ihm abwendend.

»Wieso denn? Warum?«

»Ich war selber krank, bin fast gestorben,« sagte sie, ohne die Augen zu erheben.

»Wie aber haben die Tantchen Sie gehen lassen?«

»Wer wird denn ein Zimmermädchen mit einem Kinde behalten? So wie sie es bemerkten, jagten sie mich fort. Aber was soll das Sprechen, ich erinnere mich an nichts; das alles ist vergessen. All das ist zu Ende.«

»Nein, nicht zu Ende. Ich kann das nicht so lassen. Wenigstene jetzt will ich meine Schuld sühnen!«

»Es ist nichts zu sühnen; war gewesen, ist gewesen und aus,« sagte sie, und was er durchaus nicht erwartete — sie blickte ihn plötzlich an und lächelte unangenehm verlockend und kläglich.

Die Maslowa hatte durchaus nicht erwartet, ihn zu sehen, besonders nicht jetzt und hier, und darum überraschte sie im ersten Augenblick sein Erscheinen und veranlaßte sie, dessen zu gedenken, dessen sie nie gedachte.

…… In der ersten Minute erinnerte sie sich unklar an jene neue wunderbare Welt der Gefühle und Gedanken, welche ihre von dem reizenden Jüngling, der sie liebte und der von ihr geliebt ward, eröffnet worden, und dann an seine unbegreifliche Grausamkeit und an die ganze Reihe von Erniedrigungen und Leiden, die auf jenes zauberhafte Glück und aus ihm folgten. Und es wurde ihr weh. Aber da sie nicht im Stande war, sich damit abzufinden, so handelte sie auch jetzt, wie sie immer gehandelt; sie scheuchte diese Erinnerungen von sich und versuchte sie mit dem besonderen Nebel eines verdorbenen Lebens zu verdecken; so auch jetzt. Im ersten Augenblicke identifizierte sie den jetzt von ihr sitzenden Mann mit jenem Jüngling, den sie ehemals geliebt, aber dann, als sie sah, daß ihr zu weh dabei wurde, hörte sie auf, ihn mit jenem zu identifizieren.

Jetzt, dieser feingekleidete, wohlgepflegte Herr mit dem parfümierten Bart, war für sie nicht jener Nechljudow, den sie geliebt, sondern nur einer jener Leute, die sich solcher Wesen, wie sie war, bedienten, wenn sie sie nötig hatten und die solche Wesen, wie sie, möglichst vorteilhaft für sich ausnützen sollten, und darum lächelte sie ihm verlockend zu.

Sie schwieg eine Zeit lang, indem sie überlegte, wie sie ihn sich zu Nutze machen könnte.

»All das ist zu Ende,« sagte sie. »Jetzt nun hat man mich zur Zwangsarbeit verurteilt,« und ihre Lippen erzitterten, als sie dieses schreckliche Wort aussprach.

»Ich wußte, ich war überzeugt, daß Sie unschuldig sind,« sagte Nechljudow.

»Gewiß unschuldig. Bin ich denn eine Diebin aber Räuberin?«

»Sie sagen bei uns, daß alles vom Advokaten abhängt,« fuhr sie fort. »Sie sagen, man muß eine Bittschrift einreichen. Nur nimmt man viel dafür, sagen sie…«

»Ja, jedenfalls,« sagte Nechljudow. »Ich habe mich schon an den Advokaten gewendet.«

»Man muß das Geld nicht sparen. Man muß einen guten nehmen,« sagte sie.

»Ich werde alles thun, was möglich ist.«

Es trat Schweigen ein.

Sie lächelte wieder ebenso.

»Aber ich möchte Sie bitten…Geld, wenn Sie können. Ein wenig …zehn Rubel. Mehr brauch’ ich nicht,« sagte sie plötzlich.

»Ja, ja,« fing Nechljudow verlegen an und faßte nach der Geldtasche.

Sie blickte rasch auf den Inspektor, der in der Kammer hin und her ging.

»In seiner Gegenwart geben Sie nicht, sonst nimmt man mirs weg.«

Nechljudow holte die Geldtasche hervor, sobald der Unterinspektor sich abgewandt, aber er hatte nicht einmal Zeit, ihr den Zehnrubelschein zu geben, als der Inspektor ihnen sein Gesicht zukehrte. Er drückte den Schein in der Hand zusammen.

44

‘Es ist ja eine tote Frau’, dachte Nechljudow, indem er auf dieses einst so liebe, jetzt entweihete, aufgedunsene Gesicht, auf den flimmernden, unguten Glanz der schwarzen schielenden Augen blickte, die zugleich dem Inspektor und seiner Hand, welche den Schein zusammendrückte, aufmerksam folgten. Und es kam für ihn eine Minute den Schwankens.

Wieder fing jener Versucher, der gestern nachts gesprochen, in der Seele Nechljudows zu reden an, sich wie immer bemühend, ihn aus den Fragen, war man thun solle, hinaus und in die Fragen darüber, war sich aus seinen Handlungen ergeben wird und was nützlich ist, hineinzuführen.

‘Nichts wirst du mit dieser Frau anfangen können,’ sprach diese Stimme, ‘du wirst dir nur einen Stein an den Hals hängen, welcher dich ertränken und verhindern wird, anderen nützlich zu sein. Soll ich ihr Geld geben, alles, was ich habe? Ihr Adieu sagen und allem auf immer ein Ende machen?’ dünkte es ihn.

Aber sogleich fühlte er, daß jetzt, in diesem Augenblicke, in seiner Seele etwas, — das wichtigste geschehe, daß sein inneres Leben sich in dieser Minute gleichsam auf einer schwankenden Wage befinde, die durch die kleinste Anstrengung auf diese oder jene Seite geneigt werden könne. Und er machte diese Anstrengung, indem er jenen Gott, welchen er gestern in seiner Seele empfunden, anrief, und der Gott ließ sich in ihm sogleich hören; er entschloß sich, sofort ihr alles zu sagen.

»Katjuscha! Ich bin zu Dir gekommen, um Dich um Verzeihung zu bitten, aber Du hast mir nicht geantwortet, ob Du mir verziehen hast, ob Du mir jemals verzeihen wirst,« sagte er, plötzlich zum ‘Du’ übergehend.

Sie hörte nicht zu, sondern sah bald auf seine Hand, bald auf den Inspektor. Als der Inspektor sich abwandte, streckte sie rasch die Hand aus, ergriff den Schein und steckte ihn in den Gürtel.

»Sonderbar war Sie sagen,« sagte sie, verächtlich, wie es ihm schien, lächelnd.

Nechljudow fühlte, daß in ihr etwas, ihm geradezu Feindliches verborgen sei, das sie, so wie sie jetzt war, verteidigte und ihn hinderte, zu ihrem Herzen zu dringen.

Aber — wurderbare Sache, es stieß ihn nicht nur nicht ab, sondern gab ihn durch irgend eine neue, besondere Kraft noch mehr zu ihr hin. Er fühlte, daß er sie geistig erwecken müsse, daß es furchtbar schwierig sei; aber die Schwierigkeit selbst dieser Aufgabe reizte ihn. Er empfand jetzt gegen sie ein Gefühl, wie er früher nie, weder gegen sie, noch gegen jemand anderes empfunden hatte, in welchem nichts Persönliches war: er wünschte von ihr nichts für sich, er wünschte nur, daß sie so zu sein aufhöre, wie sie jetzt war, — daß sie aufwache und wieder die werde, die sie früher gewesen.

»Katjuscha, warum sprichst Du so? Ich kenne Dich doch, ich erinnere mich, wie Du damals in Panowo warst …«

»Wozu die alten Geschichten aufwärmen,« sagte sie trocken.

»Ich gedenke daran, um meine Sünde wieder gut zu machen, zu sühnen, Katjuscha,« fing er an und wollte fast davon reden, daß er sie heiraten werde, aber er traf ihren Blick und las darin etwas so Schreckliches und Grobes, Abstoßendes, daß er nicht zu Ende sprechen konnte.

Um diese Zeit fingen die Besucher an, hinauszugehen. Der Inspektor näherte sich Nechljudow und sagte, daß die Besuchszeit zu Ende sei. Die Maslowa stand auf und wartete gehorsam, daß man sie entlasse.

»Leben Sie wohl, ich habe Ihnen noch vieles zu sagen, aber, wie Sie sehen, ist es jetzt unmöglich,« sagte Nechljudow und reichte ihr die Hand. »Ich komme wieder.«

»Wie es scheint, haben Sie schon alles gesagt…« Sie gab ihm die Hand, drückte sie aber nicht.

»Nein, ich werde mich bemühen, Sie noch zu sehen, wo man sich mit Ihnen besprechen könnte; und dann sage ich Ihnen etwas sehr Wichtiges, das gesagt werden muß,« sagte Nechljudow.

»Warum denn nicht? Kommen Sie«, sagte sie und lächelte ihm mit jenem Lücheln zu, mit welchem sie den Männern lächelte, denen sie gefallen wollte.

»Sie sind mir näher als eine Schwester,« sagte Necheljudow.

»Sonderbar,« wiederholte sie und ging, den Kopf schüttelnd, hinter die Scheidewand.

45

Bei der ersten Zusammenkunft erwartete Nechljudow, daß Katjuscha, nachdem sie ihn gesehen und seine Absicht, ihr zu dienen und seine Reue erkannt, sich freuen und gerührt sein und wieder Katjuscha werden würde. Aber zu seinem Entsetzen sah er, daß es keine Katjuscha, sondern nur eine Maslowa gab. Das setzte ihn in Verwunderung und Schrecken.

Hauptsächlich wunderte es ihn, daß die Maslowa sich nicht nur ihrer Lage nicht schämte — nicht der Lage als Arrestantin — (deren schämte sie sich) — aber ihrer Lage als Prostituierte; — es schien vielmehr, als ob sie damit zufrieden, ja fast stolz darauf wäre. Uebrigens aber — er konnte auch nicht anders sein. Jeder Mensch muß, um handeln zu können, seine Thätigkeit für wichtig und gut halten. Sei daher die Lage des Menschen, welche immer sie wolle — stets doch wird er sich eine Ansicht über das menschliche Leben überhaupt bilden, bei welcher ihm seine Thätigkeit als wichtig und gut erscheint.

Man glauht gewöhnlich, daß der Dieb, der Mörder, der Spion, die Prostituierte, indem sie ihre Profession als schlecht erkennen, sich ihrer schämen müssen. Aber gerade das Gegenteil davon trifft zu. Die Leute, welche durch das Schicksal und durch ihre Sünden — Fehler — in eine gewisse Lage geraten sind, sei sie auch noch so schief, bilden sich auch in dieser Lage eine solche Ansicht vom Leben, überhaupt, daß ihre Lage ihnen gut und ehrbar erscheint. Um aber solche Ansicht aufrecht zu erhalten, halten sich die Leute instinktiv an jenen menschlichen Kreis, wo der von ihnen gebildete Begriff vom Leben und von ihrem Platz darin anerkannt wird. Wie verwundern uns, wenn es sich um Diebe handelt, die mit ihrer Gewandtheit, um Prostituierte, die mit ihrer Lüderlichleit, um Mörder, die mit ihrer Grausamkeit prahlen. Aber es verwundert uns nur deshalb, weil der Kreis, die Atmosphäre dieser Leute beschränkt ist, und hauptsächlich, weil wir uns außerhalb desselben befinden. Aber hat nicht dieselbe Erscheinung statt unter den Reichen, die mit ihrem Reichtum, das heißt mit ihrem Raube, prahlen? Unter den Feldherren, die mit ihren Siegen, das heißt mit ihren Mordthaten prahlen? Unter den Herrschern, die mit ihrer Macht, das heißt mit ihrer Gewaltthätigkeit prahlen? Nur deshalb sehen wie bei diesen Menschen die Verdrehung der Begriffe vom Leben, vom Guten und Bösen nicht ein, weil der Kreis der Leute mit solchen verkehrten Begriffen größer ist, und weil wir selbst zu ihm gehören.

Und eine ebensolche Ansicht über ihr Leben und ihren Platz in der Welt hatte sich bei der Maslowa gebildet. Sie war eine Prostituierte, die zur Zwangsarbeit verurteilt worden, und dessen ungeachtet hatte sie sich eine Weltanschauung zurechtgemacht, bei welcher sie sich billigen und sogar auf ihre Stellung vor den Leuten stolz sein konnte.

Diese Weltanschauung bestand darin, daß das Hauptheil aller Männer, aller ohne Ausnahme, der Alten und Jungen, der Gymnasiasten und Generäle, der Gebilderen und der Ungebilderen im Geschlechtsverkehr mit anziehenden Frauen bestehe, und daß daher alle Männer, obgleich sie sich anstellen, als wären sie mit anderen Dingen beschäftigt, im Grunde nur dies allein begehren. Sie aber — eine anziehende Frau — kann dies Begehren befriedigen oder nicht befriedigen, und daher ist sie eine wichtige und notwendige Person. Ihr ganzes früheres und jetziges Leben war eine Bestätigung der Richtigkeit dieser Ansicht.

Im Verlauf von zehn Jahren hatte sie überall, wo sie auch sein mochte, gesehen, daß alle Männer, mit Nechljudow und dem alten Stanowoj angefangen, bis zu den Gefängnisaufsehern, ihrer bedurften; jene Männer, die ihrer nicht bedurften, sah und bemerkte sie nicht. Und darum erschien ihr die ganze Welt wie eine Versammlung begierdeüberwältigter Menschen, die von allen Seiten auf sie lauerten und sich mit allen möglichen Mitteln, — durch Betrug, Gewalt, Kauf und List ihrer zu bemächtigen suchten.

So verstand die Maslowa das Leben, bei solcher Lebensanschauung war sie nicht nur nicht die letzte, sondern eine sehr wichtige Person. Und die Maslowa hielt diese Lebensanschauung mehr als alles in der Welt warm; sie konnte nicht umhin, sie warm zu halten, denn wenn sie diese Lebensauffassung änderte, so verlor sie jene Bedeutung, welche ihr diese Ansicht unter den Menschen verlieh. Und um ihre Bedeutung im Leben nicht zu verlieren, hängte sie sich instinktiv an jenen Menschenkreis, der das Leben so wie sie betrachtete. Da sie aber witterte, daß Nechljudow sie in eine andere Welt hinausführen wolle, widerstrebte sie ihm, weil sie voraussah, daß sie in jener Welt, in die er sie hinauszog, diese ihre Stellung im Leben verlieren müsse, die ihr Sicherheit und Selbstachtung verlieh. Aus demselben Grunde scheuchte sie auch die Erinnerungen an die erste Jugend und die ersten Beziehungen zum Nechljudow von sich. Diese Erinnerungen stimmten mit ihrer jetzigen Weltanschauung nicht überein und wurden daber aus ihrem Gedächtnis vollständig weggestrichen, oder vielmehr irgendwo in ihrem Gedächtnis unangetastet aufbewahrt, aber sie waren so verschlossen, eingekittet, wie die Bienen die Nester schädlicher Larven, welche die ganze Bienenarbeit zu Grunde richten können, verkitten, damit kein Zugang zu ihnen bleibe. Und so war der jetzige Nechljudow für sie nicht jener Mann, welchen sie einst mit reiner Liebe geliebt, sondern nur ein reicher Herr, von dem man Nutzen ziehen konnte und mußte und zu welchem nur solche Beziehungen wie zu allen Männern möglich sein konnten.

‘Nein, die Hauptsache konnte ich ihr nicht sagen,’ dachte Nechljudow, indem er zusammen mit den übrigen sich zum Ausgang begab. ’Ich habe ihr nicht gesagt, daß ich sie heiraten will. Ich hab’ es nicht gesagt, aber ich thu’ es,’ dachte er.

Die an den Thüren stehenden Aufseher zählten beim Hinauslassen abermals »zweihändig« die Besucher, damit kein Ueberzähliger weggehe und keiner im Gefängnis bleibe. Daß man Nechljudow jetzt auf den Rücken schlug, beleidigte ihn nicht nur nicht, sondern er merkte dies nicht einmal.

46

Nechljudow wünschte sein äußeres Leben zu ändern, die große Wohnung aufzugeben, die Dienstboten zu entlassen und in ein Gasthaus überzusiedeln. Aber Agrafena Petrowna hat ihm bewiesen, daß er keinen Sinn habe, vor dem Winter etwas in seiner Lebensweise zu ändern: im Sommer würde niemand die Wohnung nehmen, und irgendwo wohnen und die Möbel und Sachen lassen, muß man doch. So daß alle Bemühungen des Nechljudow, die ganze Ordnung seined Lebens zu ändern (er wünschte sich einfach einzurichten — studentisch) zu nichts führten.

Nicht genug damit, daß alles beim alten blieb, — es begann im Hause eine verstärkte Thätigkeit: ein Durchlüften, Auseinanderhängen und Ausklopfen von allerlei Wollen- und Pelzsachen, woran sowohl der Hausknecht und sein Bursche, als auch die Köchin und Kornej selber teil nahmen. Zuerst trug man irgendwelche Uniformen und wunderbare Pelzsachen hinaus, die nie von jemand gebraucht wurden, und hängte sie über Seile; dann begann man, die Teppiche und Möbel hinauszutragen, und der Hausknecht und der Bursche krempten die Aermel über die muskulösen Arme hinauf und klopften eifrig und im Takt die Sachen aus, und in allen Zimmern verbreitete sich ein Naphtalingeruch. Wenn Nechljudow über den Hof ging, oder aus dem Fenster sah, so wunderte er sich, wie schrecklich viel Kram da vorhanden und wie all dies unzweifelhaft nutzlos war. Die einzige Verwendung und Bestimmung dieser Sachen, dachte Nechljudow, bestand darin, der Agrafena Petrowna, dem Kornej, dem Hausknecht, seinem Burschen und der Köchin Gelegenheit zu gymnastischen Uebungen zu geben.

’Es lohnt sich nicht, die Lebensformen jetzt zu ändern, so lange die Sache der Maslowa nicht entschieden ist,’ dachte Nechljudow. ‘Es ist ja auch zu schwer. So wie so wird sich von selbst alles ändern, wenn man sie freiläßt oder verschickt und ich ihr nachfahre.’

An dem vom Advokaten Fanarin bestimmten Tage kam Nechljudow zu ihm angefahren. Er trat in seine prachtvolle im eigenen Hause gelegene Wohnung, mit ungeheuer großen Gewächsen und wunderbaren Vorhängen vor den Fenstern, und überhaupt mit jener teuren, von unsinnigem, das heißt ohne Mühe erhaltenem Gelde zeugenden Ausstattung, die nur bei unerwartet reich gewordenen Leuten vorhanden zu sein pflegt. Im Empfangszimmer traf Nechljudow die ihre Reihe erwartenden Klienten, die, wie bei den Aerzten, traurig um die Tische mit den sie zu trösten bestimmten illustrierten Zeitschriften saßen. Der Gehülfe des Advokaten, welcher daselbst an dem hohen Pult saß, erkannte den Nechljudow, kam zu ihm, begrüßte ihn und sagte, daß er ihn sogleich dem Prinzipal melde. Aber der Gehülfe hatte nicht einmal Zeit sich der Thür in das Kabinet zu nähern, als diese sich von selbst öffnete und sich laute, lebhafte Stimmen hören ließen, — die eines nicht jungen, stämmigen Mannes mit rotem Gesicht und dichtem Schnurrbart, in ganz neuem Anzuge, und die Fanarins selbst; — auf den beiden Gesichtern lag jener Ausdruck, welcher auf den Gesichtern von Menschen zu sein pflegt, die eben ein vorteilhaftes, aber nicht ganz sauberes Geschäft gemacht.

»Sie haben selber schuld, Väterchen,« sprach lächelnd Fanarin.

»Ich möchte gern im Paradies kommen, wenn nur die Sünden nicht wären.«

»Na, na, wir wissen schon.« Und beide lachten affektiert auf.

»Ach, Sie, Fürst, ich bitte,« sagte Fanarin, als er den Nechljudow sah, und nachdem er noch einmal dem sich entfernenden Kaufmann zugenickt, führte er den Nechljudow in sein in strengem Stil ausgestattetes Geschäftskabinet. — »Bitte, rauchen Sie,« sagte der Advokat, indem er sich dem Nechljudow gegenüber setzte und ein durch den Erfolg des vorangegangenen Geschäftes hervorgerufenes Lächeln zurückhielt.

»Danke, ich komme wegen des Prozesses der Maslowa.«

»Ja, ja, sogleich. Oh, was für Schelme sind diese dicken Geldsäcke,« sagte er. »Haben Sie diesen Burschen gesehen? Er hat etwa zwölf Millionen Kapital, und sagt: ‘im Paradies kommen.’ Aber, wenn er nur bei Ihnen fünfundzwanzig Rubel reißen kann, so packt er mit den Zähnen zu.«

‘Er sagt: Im Paradies kommen und du sagst: wenn er bei Ihnen fünfundzwanzig Rubel reißen kann,’ dachte inzwischen Nechljudow, indem er eine unwiderstehliche Abneigung gegen diesen ungezwungenen Menschen fühlte, der durch seinen Ton zeigen wollte, daß er mit ihm, mit dem Nechljudow, in ein und dasselbe Lager gehöre; daß aber die Klienten, die gekommen und die übrigen Leute aus einem anderen, ihnen fremden Lager seien.

»Er hat mich so sehr gequält — schrecklicher Taugenichts! Ich wollte mein Herz erleichtern,« sagte der Advokat, sich gleichsam rechtfertigend, daß er nicht zur Sache gesprochen. »Nun gut, jetzt Ihre Sache, ich habe sie aufmerksam durchgelesen und den Inhalt derselbigen habe ich nicht gutgeheißen, wie es bei Turgenjew19 heißt: ‘Das Advokatlein war unnütz und ließ sich alle Anlässe zur Kassation entgehen.’

›Also, was haben Sie denn beschlossen?‹

›Diesen Augenblick. Sagen Sie ihm,‹ wandte er sich an den hereintretenden Gehülfen, ›daß es so sein wird, wie ich gesagt habe; kann er, gut; kann er nicht, so ist’s nicht nötig.‹

›Er ist aber nicht einverstanden.‹

›Nun, dann ist er mir auch gleich,‹ sagte der Advokat, und sein bis dahin vergnügtes und joviales Gesicht wurde finster und böse.

›Und man sagt noch, daß die Advokaten das Geld umsonst kriegen,‹ sagte er, indem er den früheren angenehmen Ausdruck auf sein Gesicht zurückrief. ›Ich habe einen zahlungsunfähigen Schuldner von einer vollkommen unrichtigen Anklage erlöst, und jetzt werde ich von ihnen allen überlaufen. Und jeder solcher Prozeß kostet ungeheure Mühe. Wir lassen ja auch, wie irgend welcher Schriftsteller sagt, im Tintenfaß ein Stückchen Fleisch zurück.‹

›Nun, also Ihre Sache, aber vielmehr die Sache, die Sie interessiert, wurde scheußlich geführt,‹ fuhr er fort; ›es giebt keine triftigen Gründe zur Kassation, aber dennoch kann man einen Versuch machen und hier habe ich Ihnen Folgendes aufgesetzt.‹

Er nahm einen Bogen beschriebenen Papiers und rasch einige nicht interessante formale Wendungen verschluckend und andere besondere eindringlich betonend, fing er an zu lesen:

›An das Kassationsdepartement des Kriminalgerichtes u. s. w, u. s. w. Beschwerde der Herrn So und so. Durch die Entscheidung des u. s. w. u. s. w. stattgefundenen Verdikts u. s. w. wurde die pp. Maslowa der Lebensberaubung des Kaufmanns Smeljkow durch Vergiftung schuldig erkannt und auf Grund von Art. 1454 der Strafgesetzbuches zu u. s. w. Zwangsarbeit veturteilt u. s. w.‹

Er machte eine Pause; ttotz der langen Gewohnheit hörte er dennoch augenscheinlich sein Produkt mit Vergnügen an. ›Dieser Spruch erscheint als das Resultat von so wichtigen Rechtsverletzungen und Formfehlern im prozessualichen Verfahren,‹ fuhr er eindringlich fort, ›daß er der Kassation unterliegt. Erstens: die Verlesung der Akten über den Eingeweidebefund des Smeljkow wurde während der Verhandlung gleich im Anfange vom Vorsitzenden unterbrochen. — Eins!‹

›Aber er war ja der Ankläger, der diese Verlesung verlangte,‹ sagte Nechljudow verwundert.

›Das ist einerlei, die Verteidigung konnte Gründe haben, dasselbe zu verlangen.‹

›Aber das hatte ja erst recht keinen Zweck.‹

›Dennoch — es ist ein Grund. Weiter! Zweitens: Der Verteidiger der Maslowa,‹ fuhr er zu lesen fort, ›wurde vom Vorsitzenden während seiner Rede unterbrochen mit der Begründung, daß die Worte des Verteidigers angeblich nicht zur Sache gehörten, als er auf die inneren Gründe ihres Falles einging, indem er die Persönlichkeit der Maslowa charakterisieren wollte. Indessen aber ist vom Senat vielfältig darauf hingewiesen worden, daß die Beleuchtung des Charakters und überhaupt der sittlichen Physiognomie des Angeklagten eine hervorragende Bedeutung hat, zum Beispiel für die richtige Entscheidung der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit, — zwei!‹ sagte er und blickte Nechljudow an.

›Ja, aber er sprach ja sehr schlecht, so, daß man nichts verstehn konnte,‹ sagte Nechljudow noch verwunderter.

›Ein ganz dummer Bursch; konnte selbstverständlich nichts Ordentliches sagen,‹ sagte lächelnd Fanarin, ›aber dennoch ein Grund. Nun, denn: Drittens. In seinem Schlußwort erklärte der Vorsitzende trotz der kategorischen Forderung von Paragraph I, Art. 801 Reglem. d. Kriminalverf. den Geschworenen nicht, aus welchen juristischen Elementen sich der Begriff der Schuld zusammensetzt, und er sagte ihnen nicht, daß sie das Recht hatten, die Thatsache des Gifteingebens als bewiesen zuzugestehen und dabei diese Handlung ihr nicht als Schuld zuzurechnen, da bei ihr die Absicht zu töten fehlte, und daß die Geschworenen auf diese Weise im Recht gewesen wären, sie nicht eines Kriminalverbrechens, sondern nur eines Vergehens aus Fahrlässigkeit schuldig zu erklären, die das für die Maslowa unerwartete Resultat von Smeljkows Tode zur Folge hatte.‹ ›Das ist die Hauptsache.‹

›Aber das hätten wir ja selber einsehen können; das ist unser Fehler.‹

›und endlich — viertens,‹ fuhr der Advokat fort, ›die Antwort auf die Frage des Gerichts über die Schuld der Maslowa wurde von den Geschworenen in einer Form abgegeben, die in sich einen offenbaren Widerspruch enthielt. Die Maslowa war wegen absichtlicher Vergiftung Smeljkows aus ausschließlich habsüchtigem Vorsatz angeklagt, der als einziges Motiv der Tötung erschien. Die Geschworenen aber verwarfen in ihrer Antwort die Absicht zu berauben und die Teilnahme der Maslowa an der Entwendung der Wertsachen; daraus ist ersichtlich, daß die Geschmorenen im Auge hatten, auch die Absicht zu töten, seitens der Angeklagten, zu verwerfen, und sie haben dies nur aus einem Mißverständnis, das durch die Unvollständigkeit des Schlußwortes des Vorsitzenden hervorgerufen ward, nicht in gehöriger Weise und genügend in ihrer Antwort ausgedeückt. Und daher forderte eine solche Antwort der Geschworenen unbedingt die Anwendung von Art. 816 u. 808 Reglem. d. Kriminalverf. Das heißt, sie forderte die Erklärung seitens des Vorsitzenden an die Geschworenen, daß sie einen Fehler begangen, und daß sie zu einer neuen Beratung und Beantwortung der Schuldfrage schreiten müßten,‹ las Fanarin.

›Warum denn hat der Vorsitzende das nicht gethan?‹

›Ich möchte auch wissen, warum!‹ sagte Fanarin lachend.

›Der Senat wird mithin den Fehler korrigieren?‹

›Das ist je nachdem, wer dort im gegebenen Moment Sitzung halten wird. Nun also. Weiter schreiben wir: ‘Ein solches Verdikt gab dem Gericht nicht das Recht,’‹ fuhr er rasch fort, ›die Maslowa einer Kriminalstrafe zu unterwerfen, und die Anwendung des Paragraphen 3. Art. 771, Reglem. d. Kriminalv. auf sie bildet eine entschiedene und namhafte Verletzung der Grundlagen unseres Kriminalverfahrens. Aus den dargelegten Gründen habe ich die Ehte, u. s. w. u. s. w. einzukommen um die Kassation laut der Art. 909, 910, ⩀2 912 und 912 d. R. d. Kr. u. s. w. u. s. w. und um die Uebertragung des vorliegenden Prozesses an eine andere Abteilung desselben Gerichtes, zwecks neuer Untersuchung.‹ Damit ist nun alles gethan, was zu thun möglich war. Aber ich will aufrichtig sein: die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges ist gering. Uebrigens hängt alles von der Zusammensetzung des Senatsdepartements ab. Wenn Sie Protektion haben, so geben Sie sich etwas Mühe.«

»Den einen aber anderen kenne ich.«

»Und pressieren Sie etwas, sonst fahren alle weg, die Hämorrhoiden zu kurieren, und dann muß man drei Monate warten. Nun, und im Fall eines Mißerfolgs bleibt nur eine Bittschrift an die allerhöchste Instanz übrig. Das hängt auch von der hinter den Caulissen stattfindenden Arbeit ab. Und für diesen Fall bin ich bereit, Ihnen zu dienen, daß heißt nicht hinter den Coulissen, sondern bei der Abfassung der Bittschrift.«

»Ich danke Ihnen, das Honorar also…«

»Der Gehülfe wird Ihnen die ins Reine übertragene Bittschrift übergeben und Ihnen das weitere sagen.«

»Noch um etwas möchte ich Sie fragen: der Prokureur gab mir einen Passierzettel in das Gefängnis zu dieser Person, im Gefängnis aber hat man mir gesagt, daß für die Besuche, außer an den bestimmten Tagen und am bestimmten Ort noch eine Bewilligung des Gouverneurs nötig sei. Ist das wirklich nötig?«

»Ja, ich glaube. Aber jetzt ist der Gouverneur nicht da, und das Amt versieht der Vice. — Aber das ist so ein Urdummkopf, daß Sie kaum etwas bei ihm ausrichten würden.«

»Ist das Maslennikow? Ich kenne ihn,« sagte Nechljudow und stand auf, um weg zu gehen.

Zu dieser Zeit kam in das Zimmer mit raschen Schritten eine kleine, furchtbar häßliche, knochige, gelbe Frau mit einer Stumpfnase — die Frau der Advokaten — hereingeflogen, die augenscheinlich gar nicht wegen ihrer Häßlichkeit verzagt war. Sie war nicht nur ungewöhnlich originell herausgeputzt: es war etwas auf sie aufgewickelt — Samt und Seide, etwas Hellgelbes und Grünes, — sondern ihr dünnes Haar war auch gelockt, und sie kam in das Zimmer siegreich hereingeflogen, begleitet von einem langen, lächelnden Mann mit erdfarbenem Gesichte, in einem Gehrock mit seidenen Aufschlägen und weißem Halstuch. Dies war ein Schriftsteller; ihn kannte Nechljudow von Ansehn.

»Anatole,« sagte sie, die Thür öffnend, »komm mit zu mir. Hier ist Semen Iwanowitsch …… sein Gedicht vorlesen; Du aber mußt von Garschin lesen, auf jeden Fall.«

Nechljudow wollte weggehn, aber die Frau des Advokaten flüsterte mit ihrem Manne und wandte sich sogleich an ihn.

»Ich bitte, Fürst, ich kenne Sie und halte Vorstellungen für überflüssig, wollen Sie unsere literarische Matinée besuchen? Es wird sehr interessant sein. Anatole liest reizend.«

»Sehen Sie, wie viele verschiedenartige Beschäftigungen ich habe,« sagte Anatole, die Arme ausbreitend, lächelnd und auf die Frau zeigend, womit er ausdrücken wollte, daß es unmöglich sei, einer so bezaubernden Person zu widerstehen.

Mit traurigem und ernstem Gesicht und mit der größten Höflichkeit bedankte sich Nechljudow bei der Frau des Advokaten für die Ehre der Einladung, lehnte sie ab, da es ihm unmöglich sei, ihr Folge zu leisten und ging ins Empfangszimmer.

»Was für ein Grimassenschneider,« sagte die Frau des Advokaten von ihm, als er weggegangen war.

Im Empfangszimmer übergab der Gehülfe dem Nechljudow die schon fertige Bittschrift und sagte, auf die Frage nach dem Honorar, daß Anatolij Petrowitsch es auf 1000 Rubel festgesetzt habe. Dabei erklärte er, daß Anatolij Petrowitsch eigentlich solche Sachen nicht übernimmt, und es nur ihm, Nechljudow, zu Gefallen thue.

»Und wie ist es denn? Wer muß eigentlich die Bittschrift unterschreiben?« fragte Nechljudow.

»Das kann die Angeklagte selbst thun, aber wenn es zu beschwerlich ist, so kann es auch Anatolij Petrowitsch, nachdem er von ihr die schriftliche Vollmacht erhalten hatt.«

»Nein, ich werde zu ihr fahren und ihre Unterschrift nehmen,« — sagte Nechljudow, froh über die Gelegenheit, sie vor dem bestimmten Tage zu sehen.

47

Zu gewohnter Zeit tönten im Gefängnis durch die Korridore die Pfiffe der Aufseher. Eisenrasselnd öffneten sich die Thüren der Korridore und der Kammern. Es begannen nackte Füße und die Absätze der Pantoffeln zu platschen; über die Korridore gingen die Kufenträger, die Luft mit widerwärtigem Gestank erfüllend. Die Arrestanten und Arrestantinnen wuschen sich, kleideten sich an und kamen zur Kontrolle auf die Korridore heraus. Nach der Kontrolle ging man, heißes Wasser zum Thee zu holen.

Während des Theetrinkens beschäftigten sich an diesem Tage in allen Kammern des Gefängnisses lebhafte Gespräche damit, daß heute zwei Gefangene mit Ruten bestraft werden sollten. Einer dieser Gefangenen war ein gut schriftkundiger junger Mann, ein Kommis Wassilijew, der in einem Anfall von Eifersucht seine Geliebte getötet hatte. Die Zellenkameraden liebten ihn wegen seiner Lustigkeit, Freigebigkeit und seines festen Verhaltens der Obrigkeit gegenüber. Er kannte die Gesetze und verlangte, daß sie eingehalten würden. Deswegen war er bei der Obrigkeit nicht gut angeschrieben. Vor drei Wochen hatte ein Aufseher einen der Kufenträger geschlagen, weil er ihm die neue Uniform mit Suppe begossen hatte. Wassilijew nahm sich des Kufenträgers an, indem er sagte, daß es kein Gesetz giebt, wonach es erlaubt wäre, die Gefangenen zu schlagen. »Ich werde die zeigen, was ein Gesetz ist,« sagte der Aufseher, und schimpfte den Wassilijew. Wassilijew antwortete ebenso …Der Aufseher wollte ihn schlagen, aber Wassilijew faßte ihn an den Händen, hielt ihn so zwei, drei Minnien, drehte ihn um und stieß ihn zur Thür hinaus. Der Aufseher beklagte sich, und der Inspektor ließ den Wassilijew in den Karzer sperren.

Die Karzer waren eine Reihe dunkler Verschläge, die von außen mit Riegeln verschließbar waren. In dem dunklen kalten Karzer gab es weder Bett noch Tisch, noch Stuhl, so daß den Eingesperrte auf dem schmutzigen Boden saß oder lag, wo über ihn und auf ihm herum die Ratten liefen, deren es im Karzer sehr viele gab, und die so dreist waren, daß es im Dunkeln unmöglich war, daß Brot vor ihnen zu hüten. Sie fraßen den Eingesperrten das Brot unter den Händen weg, und überfielen sogar die Eingesperrten selbst, wenn sie aufhörten, sich zu rühren. Wassilijew sagte, daß er nicht in den Karzer wolle, da er unschuldig sei. Man führte ihn mit Gewalt dorthin. Er versuchte, sich loszumachen, und zwei andere Gefangene halfen ihm, sich den Aufsehern zu entreißen. Die Aufseher liefen zusammen, unter ihnen der durch seine Kraft berühmte Petrow. Man war die Gefangenen nieder und stieß sie in die Karzer.

Sogleich berichtete man dem Gouverneur, daß etwas einer Meuterei Aehnliches passiert sei. Ein Papier kam an, daß beorderte, den zwei Hauptschuldigen, dem Wassilijew und dem Vagabunden »ohne Herkunft« je dreißig Rutenhiebe zu geben.

Die Bestrafung sollte im Frauenbesuchszimmer stattfinden.

Seit dem vorigen Abend war alles das allen Gefängnisbewohnern bekannt, und in den Kammern gab es lebhafte Gespräche über die bevorstehende Bestrafung.

Die Korablewa, die Chorofschawka, Fedossija und die Maslowa saßen in ihrer Ecke, alle rot und lebhaft, da sie schon Branntwein getrunken, der bei der Maslowa jetzt nicht mehr ausging, und mit dem sie auch ihre Gefährtinnen freigebig bewirtete. Sie tranken Thee und sprachen über dasselbe Thema.

»Wenn er noch Krakehl gemacht hätte oder so was!« sprach die Korablewa vom Wassilijew, indem sie mit allen ihren starken Zähnen winzig kleine Stückchen Zucker abbiß; »er hat nur seinen Kameraden beigestanden. Denn heutzutage ist’s verboten, zu schlagen.«

»Man sagt, der Bursch ist gut.« fügte die barhäuptige Fedossija mit den langen Zöpfen hinzu, die auf einem Holzscheit der Pritsche, wo die Theekanne stand, gegenüber saß.

»Er wäre gut, wenn man Ihm davon sagte, Michaijlowna,« wandte sich die Bahnwärterin an die Maslowa, indem sie unter »Ihm« den Nechljudow verstand.

»Ich sag’ es ihm. Er wird für mich alles thun,« antwortete die Maslowa lächelnd und mit dem Kopf nickend.

»Ja, aber wann wird er noch kommen? Sie sind aber, sagt man, schon jetzt hingegangen, sie abzuholen,« sagte Fedossija. »Fürchterlich ist es!« fügte sie seufzend hinzu.

»Ich habe einmal gesehn, wie im Amtsgericht ein Bauer geprügelt wurde. Schwiegerväterchen hat mich zu dem Gemeindevorsteher geschickt. Ich kam hin. Er aber … sieh mal…« fing die Bahnwärterin ihre lange Geschichte an.

Die Erzählung der Wärterin wurde durch das Geräusch von Stimmen und Schritten im oberen Korridor unterbrochen.

Die Frauen wurden still und horchten.

»Sie schleppen ihn, die Teufel,« sagte die Choroschawka, »sie werden ihn jetzt totprügeln. Sehr böse sind die Aufseher auf ihn, weil er sie nicht ungeschoren läßt.«

Oben wurde alles still, und die Wärterin erzählte ihre Geschichte zu Ende, wie sie im Amtsgericht erschrocken war, als man dort in der Scheune dem Bauern Ruten gab; wie sich bei ihr gleichsam das ganze Innere umkehrte. Choroschawka erzählte, wie man den Schtscheglow peitschte, und wie er nicht einmal einen Laut von sich gab. Dann räumte Fedossija den Thee weg, und die Korablewa und die Wärterin machten sich ans Nähen. Die Maslowa aber setzte sich, die Arme um die Kniee gelegt, auf die Pritsche und langweilte sich. Fast schon wollte sie sich hinlegen und einschlafen, als die Aufseherin sie ins Bureau zu einem Besucher rief.

»Auf jeden Fall sag’ Ihm von uns,« sprach die alte Menjschowa, während die Maslowa vor dem Spiegel, von dem das Quecksilber zur Hälfte abgefallen war, ihr Halstuch ordnete. »Nicht wie haben das Feuer gelegt, sondern er selber, der Bösewicht, und der Knecht hat es gesehen. Er wird nicht seine Seele verderben. Du, sag’ ihm, daß er Mitrij herausrufen soll. Mitrij wird ihm alles auf der platten Hand zeigen. Ja, was soll denn das heißen! Uns hat man ins Loch gesteckt? Wir aber wissen kein Haar von der Sache. Und er, der Bösewicht, lebt wie ’n Prinz mit einer fremden Frau, sitzt in seiner Branntweinschenke.«

»Nein, daß ist kein Recht,« bekräftigte die Korablewa.

»Ich sag’ es, — unbedingt sag’ ich’s,« antwortete die Maslowa; »aber wie? Soll ich noch eins trinken, wegen der Herzhaftigkeit?« fügte sie hinzu, während sie der Korablewa mit einem Auge zublinzelte. Die Korablewa schenkte ihr eine halbe Tasse voll. Die Maslowa trank sie aus, wischte sich ab und ging in der vergnügtesten Stimmung, die eben gesagten Worte von der ‘Herzhaftigkeit’ wiederholend, kopfwiegend und lächelnd der Aufseherin nach über den Korridor.

48

Nechljudow wartete schon lange im Flur.

Als er ins Gefängnis gefahren kam, klingelte er an der Eingangsthür und reichte dem dejourierenden Aufseher die Bewilligung vom Prokureur.

»Wen wollen Sie?«

»Die Gefangene Maslowa sehen.«

»Es geht jetzt nicht; der Inspektor ist beschäftigt.«

»Im Büreau?« fragte Nechljudow.

»Nein, hier im Besuchszimmer,« antwortete der Aufseher, befangen, wie es dem Nechljudow vorkam.

»Sind denn heute Besuche gestattet?«

»Nein, — ein besonderer Fall,« sagte er.

»Wie kann man ihn denn sprechen?«

»Wenn er herauskommt, dann sagen Sie’s ihm. Warten Sie.«

Um diese Zeit kam aus der Seitenthür ein Feldwebel mit glänzenden Tressen, mit strahlendem, blankem Gesicht und vom Tabaksrauch durchtränktem Schnurrbart und wandte sich streng an den Aufseher.

»Warum haben Sie hier jemand eingelassen? Ins Büreau…«

»Man hat mit gesagt, daß der Inspektor hier sei,« sagte Nechljudow. sich wundernd über die Unruhe, die auch bei dem Feldwebel bemerkbar war.

Darauf öffnete sich die innere Thür, und heraus kam Petrow, schweißbedeckt und erhitzt.

»Das wird er nicht so bald vergessen,« stieß er, gegen den Feldwebel gewendet, hervor. Der Feldwebel zeigte mit den Augen auf den Nechljudow, und Petrow verstummte, wurde finster und ging durch die Thür hinten.

‘Wer wird er nicht vergessen? Warum sind sie alle so befangen? Warum machte der Feldwebel ihm eben ein Zeichen?’ dachte Nechljudow.

»Man kann hier nicht warten. Bitte, in das Büreau,« wandte sich der Feldwebel wieder an den Nechljudow, und Nechljudow wollte schon fortgehen, als aus der hinteren Thür der Inspektor herauskam; er war noch befangener, als seine Untergebenen. Er seufzte ohne Aufhören. Als er Nechljudow erblickte, wandte er sich an den Aufseher.

»Fedotow, die Maslowa aus der fünften weiblichen ins Büreau!« sagte er.

»Ich bitte Sie,« machte er gegen Nechljudow.

Sie gingen über eine steile Treppe in ein kleines Zimmer mit einem Fenster, einem Schreibtich und einigen Stühlen. Der Inspektor setzte sich.

»Schwere, schwere Pflichten,« sagte er, sich zu Nechljudow wendend und wieder eine dicke Cigarette hervorholend.

»Sie sind, scheint’s, müde,« sagte Nechljudow.

»Ich bin meines ganzen Amtes müde. Sehr schwierige Pflichten. Du willst ihnen ihr Schicksal erleichtern, aber es kommt nach schlimmer heraus. Ich denke nur immer daran: wie könnte ich den Dienst aufgeben? Schwere, schwere Pflichten.«

Nechljudow wußte nicht, worin eigentlich die Schwierigkeit für den Inspektor bestand. Aber er bemerkte heute an ihm irgend eine besondere, sein Bedauern erregende, niederge schlagene und trostlose Stimmung.

»Ja, ich glaube, daß sie sehr schwer sind,« sagte er. »Warum nehmen Sie denn diese Pflichten auf sich?«

»Ich habe keine Mittel. Die Familie…«

»Aber wenn er Ihnen so schwee ist…«

»Nun aber dennoch, sage ich Ihnen, stifte ich Nutzen nach Maßgabe meiner Kräfte; dennoch mildere ich, was ich kann. Ein anderer an meiner Stelle würde die Sache ganz anders führen. Er ist keine Kleinigkeit; mehr als zweitausend Menschen, und war für welche! Man muß wissen, wie mit ihnen umgehen. Menschen sind sie ja auch, sie dauern einen. Aber ihnen die Zügel schießen lassen, — das geht auch nicht.« Der Inspektor fing an, von einem unlängst stattgehabten Fall, einer Prügelei zwischen den Gefangenen zu sprechen. die mit einem Totschlag geendet hatte.

Seine Etzählung wurde unterbrochen durch das Eintreten der Maslowa, welcher der Aufseher voranging.

Nechljudow wurde ihrer in der Thür gewahr, als sie den Inspektor noch nicht sah. Ihr Gesicht war rot. Sie ging munter dem Aufseher nach, lächelte unaufhörlich und wiegte den Kopf. Als sie den Inspektor erblickte, starrte sie ihn mit erschrockenem Gesichte an, faßte sich aber sogleich und wandte sich flink und lustig zum Nechljudow.

»Guten Tag,« sagte sie singend und lächelnd und schüttelte stark, nicht so wie jenes Mal, seine Hand.

»Hier habe ich Ihnen die Bittschrift zum Unterschreiben mitgebracht,« sagte Nechljudow, etwas erstannt über das kecke Aussehen, mit dem sie ihm heute entgegentrat. »Der Advokat hat die Bittschrift aufgesetzt, man muß sie unterschreiben, und wir schicken sie dann nach Petersburg.«

»Warum denn nicht? Man kann ja gern unterschreiben. Alles kann man,« sagte sie, ein Auge zusammenkneifend und lächelnd.

Nechljudow nahm einen zusammengelegten Bogen aus der Tasche und trat an den Tisch.

»Kann man hier unterschreiben?« fragte Nechljudow den Inspektor.

»Komm her, setz Dich,« sagte der Inspektor, »da hast Du anch eine Feder. Bist Du schriftkundig?«

»Früher war ich es,« sagte sie lächelnd und setzte sich, nachdem sie den Rock und den Jackenärmel zurecht geschoben, an den Tisch, nahm ungeschickt mit der kleinen energischen Hand die Feder, und auflachend blickte sie sich nach dem Nechludow um.

Er zeigte ihr, was und wo sie schreiden müsse.

Sorgfältig die Feder eintauchend und abspritzend, schrieb sie ihren Namen.

»Weiter brauchen Sie nicht?« fragte sie, bald auf den Nechljudow, bald auf den Inspektor blickend, indem sie die Feder nun auf das Tintenfaß, nun auf die Papiere legte.

»Ich muß Ihnen etwas sagen,« sprach Nechljudow; er nahm ihr die Feder aus den Händen.

»Gut also, sagen Sie,« antwortete sie und wurde plötzlich gleichsam nachdenklich aber schläfrig; sie ward ernst.

Der Inspektor stand auf und ging weg; Nechljudow blieb mit ihr unter vier Augen.

49

Der Aufseher, der die Maslowa vorgeführt, setzte sich auf das Fensterbrett, etwas abseits vom Tische. Für Nechljudow trat die entscheidende Minute ein. Er machte sich unaufhörlich Vorwürfe, daß er ihr bei jener ersten Zusammenkunft die Hauptsache nicht gesagt hatte, nämlich, daß er gekommen sei, sie zu heiraten, und jetzt war er fest entschlossen, es ihr zu sagen. Sie saß an einer Seite des Tisches, Nechljudow setzte sich ihr gegenüber an die andere Seite. Es war hell im Zimmer, und Nechljudow sah ihr Gesicht zum ersten Mal klar in geringer Entfernung: er sah die Runzelchen um Augen und Lippen und die Geschwollenheit der Augen. Sie dauerte ihn noch mehr als früher.

Er stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch, so zwar, daß der Aufseher, der am Fenster saß, ein Mann von jüdischem Typus mit ergrauendem Backenbart, nicht hören konnte und nur sie allein ihn hörte, und sagte:

»Wenn bei dieser Bittschrift nichts herauskommt, so wenden wir uns an die allerhöchste Instanz. Wie werden alles thun, was möglich ist.«

»Ja, wenn es früher gewesen wäre; wenn ein guter Advokat…,« unterbrach sie ihn. »Aber dieser, mein Verteidiger, war wicklich ein kleiner Dummkopf. Immer machte er mir Komplimente,« sagte sie und lachte auf. »Wenn man damals gewußt hätte, daß ich mit Ihnen bekannt bin, so wäre es anders gewesen. Was soll denn das heißen? Sie glauben wohl, alle sind Diebinnen!«

‘Wie seltsam ist sie heute,’ dachte Nechljudow, und eben wollte er ihr sein Anliegen sagen, als sie wieder begann.

»Aber ich habe etwas. Es giebt bei uns ein altes Mütterchen, wissen Sie, so eins, daß sich sogar alle wundern. So ein wunderbares Altchen, und nun sitzt sie um nichts, sowohl sie, wie ihr Sohn, und alle wissen, daß sie unschuldig sind, aber sie sind angeklagt, daß sie Feuer gelegt haben, und sie sitzen. Wissen Sie, sie hötte, daß ich mit Ihnen bekannt bin,« sagte die Maslowa, den Kopf drehend und ihn anblickend »und sie sagt: sage ihm, Sie sollen, sagt sie, den Sohn herausrufen, er wird Ihnen alles erzählen. Menjschow ist ihr Familienname. Wie ist es, wollen Sie es thun? Solch ein altes Mütterchen, ein wurderbares Mütterchen, wissen Sie; gleich sieht man, daß sie um nichts sitzt. Geben Sie sich Mühe, mein Täubchen,« sagte sie, blickie ihn an und ließ lächelnd die Augen sinken.

»Schön, ich will es thun; ich erkundige mich,« sagte Nechljudow, sich mehr und mehr über ihre Ungezwungenheit wundernd.

»Aber ich möchte von meiner Sache mit Ihnen reden. — Erinnern Sie sich, was ich Ihnen voriges Mal gesagt habe?« sagte er.

»Sie haben viel gesprochen. Wab haben Sie denn voriges Mal gesagt?« sagte sie, unaufhörlich lächelnd und den Kopf bald auf die eine, bald auf die andere Seite drehend.

»Ich sagte, ich sei gekommen, um Sie um Verzeihung zu bitten,« sagte er.

»Ach was, immer verzeihen und verzeihen …es hat keinen Wert …es wäre besser, wenn Sie…«

»Daß ich meine Schuld gut machen will,« fuhr Nechljudow fort, »und gut machen nicht mit Worten, sonern mit der That. Ich bin entschlossen, Sie zu heiraten.«

Ihr Gesicht drückte plötzlich Schrecken aus. Ihre schielenden Augen wurden starr, blickten ihn an und blickten ihn zugleich nicht an.

»Wozu ist das noch nötig?« brachte sie boshaft stirnrunzelud hervor.

»Ich fühie, daß ich das vor Gott thun muß«

»Was für einen Gott haben Sie denn noch gefundeu? Sie sagen gar nichts Rechtes. Gott? Welchen Gott? Ja, wenn Sie damals an Gott gedacht hätten…« sagte sie und blieb, den Mund öffnend, stecken.

Erst jetzt spürte Nechljudow den starken Branntweingeruch aus ihrem Munde, er begriff die Ursache ihrer Aufregung.

»Beruhigen Sie sich,« sagte er.

»Ich brauche mich nicht zu beruhigen! Glaubst Du, ich bin betrunken? Auch betrunken weiß ich, was ich sage,« fing sie rasch zu sprechen an und wurde ganz dunkelrot, »ich hin eine Zwangsargeiterin, eine Hure, Sie aber sind ein Herr, ein Fürst, und Du brauchst Dich nicht mit mit zu beschmutzen. Geh zu Deinen Fürstinnen, mein Preis aber ist ein rotes Papierchen.«

»Wie grausam Du auch sprechen magst, Du kannst nicht sagen, was ich fühle,« sagte Nechljudow leise, am ganzen Körper zitternd, »Du kannst Dir nicht vorstellen, bis zu welchem Grade ich meine Schuld Dir gegenüber fühle!…«

»Schuld fühle…« äffte sie ihm boshaft nach. »Damals fühltest Du nichts, stecktest mit aber hundert Rubel zu. Das ist Dein Preis…«

»Ich weiß, ich weiß, aber mas soll man jetzt thun?« sagte Nechljudow. »Jetzt habe ich beschlossen, Dich nicht zu verlassen. Was ich gesagt habe, daß werde ich thun.«

»Ich aber sage, Du wirst es nicht thun,« brachte sie hervor und lachte laut auf.

»Katjuscha!« fing er an, ihre Hand berührend.

»Geh weg von mir. Ich hin eine Zwangsarbeiterin, Du aber bist ein Fürst und hast hier nichts verloren,« schrie sie, vom Zorne ganz verwandelt auf, ihm die Hand entreißend.

»Du willst Deine Seele durch mich retten,« fuhr sie fort, indem sie sich eilte, alles auszusprechen, was sich in ihrem Innern erhob, »durch mich hast Du in diesem Leben Deine Lust gestillt, durch mich willst Du Dich auch in jener Welt retten! Widerwärtig bist Du mir, und Deine Brille, und Deine ganze fette garstige Fratze. Geh, geh weg Du!« schrie sie auf, mit energischer Bewegung aufspringend.

Der Aufseher näherte sich ihnen.

»Was krakehlst Du da? Kann man denn so…«

»Lassen Sie, bitte,« sagte Nechljudow.

»Damit sie sich nicht vergißt,« sagte der Aufseher.

»Nein, warten Sie, bitte,« sagte Nechljudow.

Der Aufseher ging wieder ans Fenster.

Die Maslowa setzte sich, senkte die Augen und drückte stark die kleinen in einander verschränkten Hände zusammen.

Nechljudow stand vor ihr, ohne zu wissen, was er thun solle.

»Du glaubst mir nicht,« sagte er.

»Daß Sie mich heiraten wollen — das wird nie sein. Eher hänge ich mich auf! Da haben Sie’s.«

»Und dennoch werde ich Dir dienen.«

»Nun, daß ist Ihre Sache. Nur brauche ich von Ihnen nichts. Das sage ich Ihnen sicher,« sagte sie.

»Und warum bin ich nicht damals gestorben,« fügte sie hinzu und begann kläglich zu weinen.

Nechljudow konnte nicht sprechen, ihr Weinen steckte ihn an.

Sie hob die Augen auf, blickte ihn an, gleichsam verwundert, und begann die über ihre Wangen fließenden Thränen abzuwischen.

Der Aufseher kam jetzt wieder heran und mahnte, daß es Zeit sei, von einander zu gehen. Die Maslowa stand auf.

»Jetzt sind Sie aufgeregt. Wenn er möglich ist, komme ich morgen wieder. Sie aber, — überlegen Sie noch,« sagte Nechljudow.

Sie antwortete nichts, und ohne ihn anzusehen, ging sie hinter dem Aufseher hinaus.

__________

»Nun, Mädel, jetzt fängst Du an zu leben,« sprach die Korablewa zur Maslowa, als sie in die Kammer zurückkehrte. »Stark in Dich verschossen, scheints; nimm es wahr, solange er kommt. Er wird Dir heraushelfen. Reichen Leuten ist alles möglich.«

»Akkurat so ist’s,« sprach mit singender Stimme die Wärterin. »Will der Arme heiraten, ist ihm sogar die Nacht zu kurz,20 der Reiche aber, was ihm nur in den Kopf kommt, wonach ’s ihm gelüstet, — hast du nicht gesehn — so hat er es schon. Bei uns wird so ein Ansehnlicher, mein Schwälbchen, Gott weiß was ausrichten können …«

»Nun aber, hast auch von meiner Sache gesprochen?« fragte die Alte.

Aber die Maslowa antwortete ihren Genossinnen nicht; sie legte sich auf die Pritsche und lag so mit den in die Ecke gerichteten Augen bis zum Abend. Eine qualvolle Arbeit ging in ihr vor. Was ihr Nechljudow gesagt, hatte sie in jene Welt hinausgerufen, in welcher sie gelitten hatte, und aus der sie mit Haß geflohen war, ohne sie begriffen zu haben. Sie verlor jetzt jenes Vergessen, in dem sie gelebt. Aber leben mit klarer Einsicht in das, was war, war zu qualvoll.

Abends kaufte sie wieder Branntwein und betrank sich mit ihren Kameradinnen.

50

‘Ja, also, so ist es. So ist es,’ dachte Nechljudow, als er aus dem Gefängnis hinausging, indem er erst jetzt den ganzen Umfang seiner Schuld vollständig begriff. Hätte er keinen Versuch gemacht, sein Vergehen gut zu machen, zu sühnen, so hätte er nie empfunden, wie frevelhaft dies Vergehen gewesen. Noch mehr, — auch sie würde das Böse, das er ihr zugefügt, nie so ganz empfunden haben. Erst jetzt trat alles das in seiner vollen Schrecklichkeit an den Tag. Erst jetzt sah er ein, was er aus der Seele dieses Weibes gemacht, und sie sah und begriff, was an ihr verübt worden. Früher spielte Nechljudow mit seinem Gefühl der Selbstbeäugelung, des Wohlgefallens an seiner Reue: jetzt war ihm einfach fürchterlich zu Mute. Sie verlassen — das fühlte er — konnte er jetzt nicht, — inzwischen aber konnte er sich nicht vorstellen, was aus seinen Beziehungen zu ihr herauskommen sollte.

Gerade am Ausgang kam zum Nechljudow ein Aufseher mit Kreuzen und Medaillen und mit unangenehmem, einschmeichelndem Gesicht; geheimnisvoll übergab er ihm einen Zettel.

»Für Eure Exzellenz ein Zettel von einer Person,« sagte er, dem Nechljudow das Couvert überreichend.

»Von welcher Person?«

»Wenn Sie gelesen haben, werden Sie sehn, eine Gefangene, Politische. Ich bin bei ihnen angestellt. Sie, also, hat mich gebeten — Und obgleich es nicht erlaubt ist, — aber aus Menschenliebe« — — sagte der Aufseher affektiert.

Nechljudow war verwundert, wie ein bei ben Politischen angestellter Aufseher Zettel übergeben könne, und das im Gefängnis selbst, fast vor aller Augen. Er wußte damals noch nicht, daß dies ein Aufseher und zugleich ein Spion war; sondern er nahm den Zettel und las ihn beim Hinausgehen aus bem Gefängnis durch.

Auf bem Zettel war mit Bleistift in gewandter Handschrift folgendes ohne Endzeichen21 geschrieben:

»Da ich erfahren habe, daß Sie das Gefängnis besuchen, weil Sie sich für eine kriminale Person interessieren, bekam ich Lust, Sie zu sehn. Bitten Sie um eine Zusammenkunft mit mir. Ihnen wird man sie gestatten, und ich teile Ihnen vieles Wichtige mit, sowohl hinsichtlich Ihrer protégée, als auch unserer Partei.

Ihre Ihnen dankbare

Wjera Bogoduchowskaja.«

‘Bogoduchowskaja! Was heißt das: Bogoduchowskaja?’ dachte Nechludow, so ganz von dem Eindruck des Wiedersehens mit der Maslowa absorbiert, daß er in der ersten Minute keine Erinnerung mit diesem Namen und dieser Handschrift verband. ‘Ah!’ erinnerte er sich plötzlich. »Diakonstochter …auf der Bärenjagd.«

Wjera Bogoduchowskaja war eine Lehrerin aus dem einsamen Nowgoroder Gouvernement, in das Nechljudow einmal mit Kameraden zur Bärenjagd gefahren war. Diese Lehrerin hatte sich an den Nechljudow gewandt mit der Bitte, ihr Geld vorzustrecken, damit sie die Hochschulkurse aufsuchen könne. Nechljudow hatte ihr dieses Geld gegeben und sie vergessen. Jetzt ergab es sich, daß dieses Fräulein eine politische Verbrecherin ist, im Gefängnis sitzt, wo sie augenscheinlich seine Geschichte erfahren hat und ihm nun ihre Dienste anbietet.

Wie leicht und einfach war alles damals. Und wie schwer und kompliziert ist alles jetzt. Nechljudow erinnerte sich lebhaft und freudig der damaligen Zeit und seiner Bekanntschaft mit der Boguduchowskaja. Es war vor der Butterwoche, in einem abgelegenen öden Ort, etwa sechzig Werst von der Eisenbahn. Die Jagd war glücklich gewesen, sie hatten zwei Bären erlegt, und aßen zu Mittag, grade im Begriff abzureisen. Da trat der Wirt des Bauernhauses, wo Nechljudow eingekehrt war, herein und sagte, das Diakonstöchterchen sei gekommen und wolle den Fürsten Nechljudow sprechen. »Ist sie hübsch?« fragte jemand. »Nun, laß doch,« sagte Nechljudow; er machte ein ernstes Gesicht, stand vom Tische auf, und den Mund abwischend und sich wundernd, was die Diakonstochter von ihm wünschen könne, begab er sich in die Stube der Wirtsleute.

In der Stube war ein Mädchen im Filzhut und Pelz, sehnig, mit magerem, nicht hübschem Gesicht, in welchem nur die Augen mit den hochgeschwungenen Brauen schön waren.

»Hier, Wjera Iefremowna, sprich mit Ihnen,« sagte die alte Wirtin, »das ist der Fürst selber. Ich geh nun weg.«

»Womit kann ich Ihnen dienen?« sagte Nechljudow.

»Ich …ich …Sehen Sie, Sie sind reich, Sie werfen Geld weg für Lappalien, für die Jagd. Ich weiß…,« begann das Mädchen in starker Befangenheit. »Ich aber will nur eins, ich will nur den Leuten nützlich sein, — und ich kann nicht, weil ich nichts weiß.«

Ihre Augen waren ehrlich und gut, und der ganze Ausdruck der Entschlossenbeit und Schüchternheit zugleich war so rührend, daß Nechljudow, wie es ihm immer zu geschehen pflegte, sich plötzlich in ihre Lage versetzte, sie begriff und bedauerte.

»Was kann ich denn thun?«

»Ich bin Lehrerin , aber ich möchte auf die Hochschule, und man läßt mich nicht hin. Das heißt, sie halten mich nicht zurück, sie lassen mich, aber man muß die Mittel haben. Geben Sie sie mir, und ich beendige den Kurs, und zahle es Ihnen zurück. Ich denke, die reichen Leute jagen Bären, machen Bauern betrunken — all daß ist nicht schön. Warum nicht auch etwas Gutes thun? Ich brauchte nur achtzig Rubel. Aber wenn Sie nicht wollen, ist es mir einerlei,« sagte sie böse, da sie den ernsten unverwandten Blick, den Nechljudow auf sie richtete, als ungünstig für sich deutete.

»Ich Gegenteil, ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir Gelegenheit geben…«

Als sie begriff, daß er einwillige, ward sie rot und schwieg.

»Ich bringe es gleich,« sagte Nechljudow.

Er ging in den Flur hinaus und traf daselbst einen Kameraden, der ihr Gespräch belauscht hatte. Er antwortete nicht auf die Scherze der Kameraden, nahm Geld aus der Jagdtasche und brachte es ihr.

»Bitte, bitte, danken Sie nicht. Ich muß Ihnen danken.«

Es war dem Nechljudow angenehm, sich jetzt an all das zu erinnern; angenehm zu erinnern, wie er sich fast mit einem Offizier entzweite, der daraus einen schlechten Scherz machen wollte; wie ein anderer Kamerad ihm beistand, und wie er ihm infolgedessen näher trat, und wie glücklich und lustig die ganze Jagd war, und wie wohl ihm war, als sie nachts zur Eisenbahnstation zurückkehrten. Eine Reihe Schlitten mit zwei Pferden, langgespannt, bewegte sich im Trabe ohne Lärm auf dem engen Wege durch die Wälder, bald durch hohe, bald durch niedrige, mit den von dichten Schneewällen ganz erdrückten Tannen. In der Dunkelheit rauchte jemand eine gut riechende Cigarette an, das tote Feuer glänzte. Ossip, ein Treiber, läuft von einem Schlitten zum anderen, knietief im Schnee, sitzt bald hier, bald dort mit auf, und erzählt dabei von den Elenntieren, die jetzt im tiefen Schnee gehen und Espenrinde nagen, und von den Bären, die jetzt in ihren Lagern in finsteren Wäldertiefen liegen und ihren warmen Atem durch die Luftlöcher keuchen. Nechljudow erinnerte sich alles dessen, und vor allem des Glücksgefühls, des Bewußtseins seiner Gesundheit, Kraft und Sofglosigkeit. Die Lungen, die fast den Halppelz sprengen, atmen die kalte Luft ein, auf das Gesicht schüttet sich der Schnee von den Aesten, die das Joch streift; am Körper ist’s warm, im Gesichte frisch, und in der Seele weder Sorgen, noch Vorwürfe, noch Aengste, noch Wünsche. Wie schön war es. Und jetzt? Mein Gott, wie all das qualvoll und schwer ist.

Angenscheinlich war Wjera Festemowna eine Revolutionärin und wegen rebellischer Handlungen saß sie im Gefängnis. Man mußte sie sehen, besonders auch, weil sie Rat zu geben versprochen, wie die Lage der Maslowa zu verbessern sei.

51

Als Nechljudow am Morgen des anderen Tages erwachte, fiel ihm alles das ein, was gestern gewesen, und es wurde ihm schrecklich zu Mute.

Aber trotz dieser Angst entschied er fester als je zuvor, daß er fortsetzen werde, was er begonnen.

Mit diesem Gefühl, mit diesem Bewußtsein seiner Pflicht fuhr er vom Hause fort und begab sich zum Maslennikow, um die Bewilligung zu Zusammenkünften im Gefängnis, außer mit der Maslowa, auch mit jenem Altchen Menjschowa samt ihrem Sohn, für welche die Maslowa ihn gebeten hatte, zu erwirken. Außerdem wollte er um die Erlaubnis zum Besuche der Boguduchowskaja einkommen, die der Maslowa nützlich sein konnte.

Nechljudow kannte den Maslennikow schon seit lange, vom Regimente her. Maslennikow war damals Rentmeister beim Regiment. Er war der gutmütigste, pflichttreueste Offizier, der von nichts in der Welt wußte und wissen wollte, als von seinem Regiment und der Zarenfamilie. Jetzt fand ihn Nechljudow als Administrator wieder, der das Regiment gegen ein Gouvernement und eine Gouvernementsverwaltung eingetauscht hatte. Er war verheiratet mit einer reichen, gewandten Frau, die es auch war, welche ihn aus dem Militär- in den Civildienst übergehen ließ. Sie lachte über ihn und liebkoste ihn wie ihr gezähmtes Tier. Nechljudow war im vergangenen Winter einmal bei ihnen gewesen, aber dieses Paar erschien ihm so uninteressant, daß er nachher niemals wieder hingegangen war.

Maslennikow erstrahlte ganz, als er Nechljudow erblickte. Er hatte nach ebensolch fettes rotes Gesicht, ebensolche Korpulenz und ein ebenso schönes Kleid, wie er im Militärdienst zu haben pflegte. Dort war es eine immer saubere, um Schultern und Brust wie angegossen sitzende, Uniform oder Halbuniform, nach der letzten Mode; jetzt war es ein Staatskleid nach der letzten Mode, das ebenso seinen satten Leib umschloß und seine breite Brust hervortreten ließ. Er war in einer Vice-Uniform. Trotz der Altersunterschiedes, Maslennikow zählte etwa vierzig Jahre, waren sie auf »du« mit einander.

»Nun, — schön, daß Du gekommen bist. Komm mit zu meiner Frau. Ich habe jetzt gerade zehn Minuten frei vor der Sitzung. Der Prinzipal ist ja weggefahren. Ich verwalte das Gouvernement,« sagte er, mit einem Vergnügen, das er nicht verhehlen konnte.

»Ich komme in Geschäften zu Dir.«

»Was ist?« sagte Maslennikow in erschrockenem und etwas strengem Ton, gleichsam plötzlich die Ohren spitzend.

»Es ist eine Person im Gefängnis, für die ich mich sehr interessiere.« (Bei dem Worte »Gefängnis« wurde Maslennikows Gesicht noch strenger.) »und ich möchte die Zusammenkünfte mit ihr nicht im allgemeinen Besuchszimmer, sondern im Büreau und nicht nur an den bestimmten Tagen, sondern öfter haben. Man hat mit gesagt, dies hänge von Dir ab.«

»Versteht sich, mon cher. Ich bin bereit, alles für Dich zu thun,« sagte Maslennikow, indem er mit beiden Händen Nechljudows Knie berührte, als ob er den Glanz seiner Herrlichkeit zu mildern wünsche. »Das kann man, aber siehst Du, ich bin nur ‘Kalif für eine Stunde.’«

»Also, kannst Da mit ein Schreiden geben, damit ich sie sehen kann?«

»Ist es eine Frau?«

»Ja”

›Ja? — Wafür ist sie denn?‹

›Wegen Vergiftung. Aber sie ist ungerecht verurteilt.‹

›Ja, da hast Du nun das gerechte Gericht; ils n’en font point d’autres,‹ sagte er, Gott weiß warum französich. ›Ich weiß, Du bist nicht mit mir einverstanden, aber was soll man machen? C’est mon opinion bien arrêtée,‹ fügte er hinzu, indem er eine Ansicht aussprach, die er in verschiedenen Formen während des Jahres in einer retrograden, konservativen Zeitung gelesen hatte. ›Ich weiß, Du bist ein Liberaler.‹

›Ich weiß nicht, bin ich ein Liberaler oder etwas anderes,‹ sagte lächelnd Nechljudow, der sich immer darüber wunderte, daß alle ihn zu irgend welcher Partei zählten und nur deshalb einen Liberalen nannten, weil er, wenn er über einen Menschen urteilte, sagte, daß man ihn zuerst anhören müsse, daß alle Menschen vor dem Gericht gleich seien, und daß man die Leute überhaupt nicht quälen und schlagen dürfe, besonders nicht solche, die noch garnicht verurteilt worden.

›Ich weiß nicht — bin ich ein Liberaler oder nicht; — ich weiß nur, daß die heutigen Gerichte, mögen sie so schlecht sein wie sie wollen, dennoch besser als die früheren sind.‹

›Und wen hast Du zum Advokaten angenommen?‹

›Ich habe mich an Fanarin gewendet.‹

›Ach, Fanarin!‹ sagte Maslennikow mit gerunzelter Stirn, da er sich erinnerte, wie dieser Fanarin ihn vergangenes Jahr vor Gericht als Zeugen vernahm und ihn mit der größten Höflichkeit während einer halben Stunde zum Besten hatte.

›Ich würde Dir nicht raten, etwas mit dem zu thun zu haben, — Fanarin cëst un homme taré.‹

›Und noch eine Bitte an Dich,‹ sagte Nechljudow, ohne ihm zu antworten. ›Vor sehr langer Zeit kannte ich ein Mädchen, eine Lehrerin — sie ist ein sehr bedauernswertes Geschöpf — und gegenwärtig ist sie auch im Gefängnis und wünscht mich zu sehen. Kannst Du mir auch zu ihr einen Passierzettel geben?‹

Maslennikow neigte den Kopf etwas auf eine Seite und wurde nachdenklich.

›Ist es eine Politische?‹

›Ja, so hat man mit gesagt.‹

›Nun — siehst Du, Zusammenkünfte mit den Politischen werden nur den Verwandten gestattet, aber Dir gebe ich einen allgemeinen Passierzettel. Je sais que vous nabuserez pas …Wie heißt sie denn, Deine protégée?…Boguduchowskaja? Elle est jolie?‹

›Hideuse.‹

Maslennikow schüttelte mißbilligend den Kopf, trat an den Tisch und schrieb flink auf einem Papier mit gedrucktem Kopf: ›Dem Ueberbringer dieses, dem Fürsten Dmitrij Iwanowitich Nechljudow, gestatte ich Zusammenkünfte im Gefängnisbureau mit der im Gefängnis inhaftierten Kleinbürgerin Maslowa, sowie auch mit der Arztgehülfin Bogoduchowskaja,‹ schrieb er zu Ende und machte einen schwungvollen Schnörkel.

›Jetzt wirst Du sehen, was für eine Ordnung dort herrscht. Aber es ist sehr schwer, dort Ordnung zu halten, weil es überfüllt ist, besonders von den zu Transportierenden. Jedoch, ich passe scharf auf, und ich liebe diese Sache. Du wirst sehen, — sie haben es sehr gut dort und sie sind zufrieden. Nun muß man mit ihnen umzugehen verstehen. Da war in diesen Tagen eine Unannehmlichkeit, eine Insubordination. Ein anderer hätte es für eine Meuterei angesehen und viele unglücklich gemacht. Bei uns aber ging alles sehr gut vorbei. Einerseits Fürsorge, andererseits feste Autorität — das ists, worauf es ankommt,‹ sagte er und drückte die aus der weißen Hemdmanschette mit dem goldenen Knopf hervorragende weiße, volle Faust mit dem Türkisring zusammen. ›Fürsorge und feste Autorität.‹

›Nun, daß weiß ich nicht,‹ sagte Nechljudow; ›ich bin zweimal dort gewesen, und mir war schrecklich schwer zu Mute.‹

›Weißt Da was? Da mußt Dich mit der Gräfin Passek anfreunden,‹ fuhr der ins Reden geratene Maslennikow fort; ›sie hat sich ganz dieser Sache gewidmet. Elle fait becoup de bien. Dank ihr, — vielleicht auch mir, — das sage ich ohne falsche Bescheidenheit, — ist es gelungen, alles zu ändern und so zu ändern, daß solche Gräuel wie früher nicht mehr vorkommen, sondern sie haben es dort geradezu sehr gut. Nun, Du wirst ja sehen. Aber Fanarin — ich kenn’ ihn persönlich nicht, und in meiner gesellschaftlichen Stellung — unsere Wege gehen nicht zusammen, aber er ist entschieden ein schlechter Mensch, und zugleich erlaubt er sich, vor Gericht solche Sachen — solche Sachen zu sprechen…‹

›Nun, ich danke,‹ sagte Nechljudow, indem er nach dem Papier griff; ohne seinen gewesenen Kameraden zu Ende zu hören, nahm er von ihm Abschied.

›Und zu meiner Frau willst Du nicht gehen?‹

›Nein, — verzeih, — jetzt hab’ ich keine Zeit.‹

›Nun, wie denn? Sie wird es mir übel nehmen,‹ sprach Maslennikow, indem er seinen früheren Kameraden bis zum ersten Treppenabsatz begleitete, wie er die Leute nicht erster, sondern zweiter Bedeutsamkeit zu begleiten pflegte, zu denen er Nechljudow rechnete.

›Nein, bitte, komm wenigstens für eine Minute herein.‹

Aber Nechljudow blieb fest, und während der Lakai und der Schweizer herzusprangen, um dem Nechljudow den Paletot und den Stock zu reichen und die Thür öffneten, vor der außen ein Polizist stand, sagte er, daß er jetzt durchaus nicht könne.

›Nun, dann am Donnerstag, bitte. Dann ist ihr Empfangstag. Ich werde es ihr sagen!‹ schrie ihm Maslennikow von der Treppe her nach.

52

Als Nechljudow an demselben Tage, direkt vom Maslennikow, in das Gefängnis gefahren kam, begab er sich nach der ihm schon bekannten Wohnung den Inspektors. Wieder waren, wie voriges Mal, dieselben Töne eines schlechten Klaviers hörbar; aber jetzt spielte man keine Rhapsodie, sondern Etuden von Clementi, auch mit ungewöhnlicher Kraft, Präzision und Geläufigkeit. Das Zimmermädchen mit dem umbundenen Auge, das ihm öffnete, sagte, daß der Kapitän zu Hause sei, und führte Nechljudow in ein kleines Empfangszimmer mit einem Divan, einem Tisch und dem an einer Seite angebrannten, rosenroten Papierschirm der großen Lampe, die auf einem wollenen, gestrickten Deckchen stand. Der Hauptinspektor mit dem gequälten, trüben Gesicht kam heraus.

›Ich bitte sehr. Was ist gefällig?‹ sagte er, indem er den mittleren Knopf seiner Uniform zuknöpfte.

›Ich bin nun beim Vice-Gouverneur gewesen, und hier ist die Bewilligung,‹ sagte Nechljudow, das Papier hinreichend, ›ich möchte die Maslowa sehn.‹

›Markowa?‹ fragte noch einmal der Inspektor, da er wegen der Musik nicht deutlich hören konnte.

›Maslowa.‹

›Nun ja! Nun ja!‹ Der Inspektor stand auf und kam an die Thür, aus welcher die Rouladen von Clementi ertönten.

›Marussja, warte, wenn auch nur ein wenig,‹ sagte er, mit einer Stimme, welcher anzumerken war, daß diese Musik das Kreuz seinen Lebens bildete, ›man kann gar nichts hören.‹

Das Klavier verstummte, unzufriedene Schritte ließen sich hören, und jemand blickte durch die Thür herein.

Der Inspektor, als ob er sich durch diese Unterbrechung der Musik erleichtert fühle, rauchte eine dicke Cigarette von schwachem Tabak an und bot dem Nechljudow auch an. Nechljudow lehnte ab.

›Ich möchte also die Maslowa sehen.‹

›Nun ja, warum denn nicht?‹

›Na, was willst Du?‹ wandte er sich an das fünf- oder sechsjährige Mädchen, das in das Zimmer kam und, den Kopf so gewendet, daß sie den Nechljudow nicht aus den Augen ließ, sich zu dem Vater begab.

›Na, und nun willst Du fallen,‹ sagte der Inspektor, darüber lächelnd, wie das Mädchen, ohne vor sich zu sehen, an dem kleinen Teppich stolperte und zu dem Vater hinlief.

›Also, wenn es möglich ist, so möchte ich gehn.‹

›Es geht heute nicht gut, die Maslowa zu sehn,‹ sagte der Inspektor.

›Warum?‹

›Nun so, — Sie selber sind schuld,‹ sagte der Inspektor, leicht lächelnd. ›Fürst, geben Sie ihr kein Geld direkt in die Hand. Wenn Sie es wünschen, so geben Sie es mir. Sie soll es alles bekommen. Wahrscheinlich haben Sie ihr gestern Geld gegeben, sie hat Branntwein angeschafft — — auf keine Weise läßt sich dieses Uebel ausrotten — und heute hat sie sich so betrunken, daß sie sogar tobsüchtig geworden ist.‹

›Aber wirklich?‹

›Jawohl, ich mußte sogar strenge Maßregeln ergreifen — habe sie in eine andere Kammer überführt; — sie ist sonst ein ruhiges Frauenzimmer; Geld aber, bitte, geben Sie ihr nicht! Das ist solch ein Volk.‹

Nechljudow erinnerte sich des gestern Vorgefallenen, und ihm wurde wieder angstvoll zu Mute.

›Und bie Bogoduchowskaja — eine Politische‹ — kann man die sehn?« fragte Nechljudow nach einigem Schweigen.

»Möglich ist es wohl,« sagte der Inspektor, indem er das immer noch den Nechljudow anstarrende Kind umarmte; er stand auf, und das Kind sanft wegschiebend, ging er in das Vorzimmer hinaus.

Der Inspektor hatte noch nicht Zeit, den Paletot anzuziehen, welchen ihm das verbundene Mädchen reichte, und aus der Thür zu geben, als die präzisen Rouladen Clementis wieder zu rieseln begannen.

»Sie ist im Konservatorium gewesen, aber dort giebt’s keine Ordnung. Jedoch große Begabung,« sagte der Inspektor, die Treppe hinabsteigend, »sie will in Konzerten auftreten.«

Der Inspektor und Nechljudow näherten sich dem Gefängnis.

Das Pförtchen that sich bei der Annäherung des Inspektors augenblicklich auf. Die Aufseher legten die Hände an die Mützen und begleiteten ihn mit den Augen.

Vier Männer mit halbrasierten Köpfen, die Kufen mit etwas trugen, begegneten ihnen im Vorzimmer, und alle zogen sich zusammen, sobald sie den Inspektor erblickten. Besonders einer duckte sich und zog ein finsteres Gesicht, die schwarzen Augen glühte.

»Versteht sich, ein Talent muß ausgebildet werden, das darf man nicht begraben, aber in der kleinen Wohnung, wissen Sie, ist es manchmal lästig,« fuhr der Inspektor im Gespräch fort, ohne diesen Gefangenen irgend welche Aufmerksamkeit zu schenken, und er ging mit müden Schritten, die Beine schleppend, von Nechljudow begleitet, über eine Treppe in das Versammlungszimmer.

»Wen wünschen Sie zu sehn?« fragte der Inspektor.

»Die Bogoduchowskaja,«

»Eine aus dem Turm? Sie werden etwas warten müssen,« wandte er sich an den Nechljudow.

»Aber könnte ich nicht inzwischen die Gefangenen Menjschows sehn? Mutter und Sohn, angeklagt wegen Brandstiftung.«

»Aha, aus der Zelle Nummer einundzwanzig. Gut, man kann sie herausrufen.«

»Aber könnte ich nicht den Menjschow in seiner Zelle sehen?«

»Aber es wird für Sie im Versammlungszimmer ruhiger sein.«

»Nein, es interessiert mich.«

»So, das finden Sie interessant.«

In diesem Augenblick kam aus der Seitenthür ein stutzerhafter Offizier, der Unterinspektor.

»Hier, führen Sie den Fürsten in die Zelle zum Menjschow. Zelle einundzwanzig,« sagte der Inspektor zum Unterinspektor, »und nachher ins Büreau. Ich werde sie selber herausrufen. Wie heißt sie doch noch?«

»Wjera Bogoduchowskaja,« sagte Nechljudow. Der Unterinspektor war ein junger, blonder, Eau de fleur-Duft um sich verbreitender Offizier mit geschwärztem Schnurrbart.

»Bitte,« wandte er sich mit angenehmem Lächeln zum Nechljudow, »interessieren Sie sich für unsere Anstalt?«

»Ja, und ich interessiere mich auch für diesen Mann, der, wie man mir gesagt hat, vollkommen unschuldig hierher geraten ist.«

Den Unterinspektor zuckte die Achseln.

»Ja, das passiert manchmal,« sagte er ruhig, indem er den Gast höflich in den stinkenden, breiten Korridor vorangehen ließ, »es kommt auch vor, daß sie lügen. — Bitte.«

Die Zellenthüren waren geöffnet, und einige der Gefangenen befanden sich im Korridor. Während er den Aufsehern kaum merkbar zunickte und nach den Gefangenen schielte, die sich entweder an den Wänden hindrückten, um in ihre Kammern zu gehen, oder die Hände an der Hosennath, an den Thüren stehn blieben, und die Obrigkeit nach Soldatenart mit den Augen begleiteten, führte der Unterinspektor den Nechludow durch einen Korridor zu einem zweiten, links, der mit einer eisernen Thür verschlossen war.

Dieser Korridor war enger, dunkler und noch übler riechend als der erste. In den Korridor gingen zu beiden Seiten mit Schlössern zugesperrte Thüren. In den Thüren waren kleine Löcher, die sogenannten Aeuglein, einen halben Werschok22 im Durchmesser.

Im Korridor war niemand, außer einem alten Väterchen, dem Aufseher, mit traurigem, runzeligem Gesicht.

»In welcher sitzt der Menjichow?« fragte der Unterinspektor.

»Die achte, links.«

»Sind diese hier besetzt?« fragte Nechljudow.

»Alle sind besetzt, außer einer.«

53

»Kann man hineinsehen?« fragte Nechljudow.

»Bitte sehr,« sagte mit angenehmem Lächeln der Unterinspektor und begann, den Aufseher nach etwas zu fragen.

Nechljudow blickte durch eine Oeffnung hinein. Dort ging ein hochgewachsener junger Mann, nur in Unterkleidern, rasch hin und her. Als er das Geräusch vor der Thür hörte, blickte er hin, zog die Augenbrauen zusammen und fuhr fort, auf und ab zu gehen.

Nechljudow blickte in eine andere Oeffnung hinein. Sein Auge traf ein anderes, sonderbares, großes Auge, das durch das kleine Loch sah; er zog sich eilig zurück. Durch die dritte Oeffnung hineinblickend sah er ein auf dem Bette schlafendes, mit dem Kopfe in den Schlafrock gehülltes, zusammengezogenes Männchen von sehr kleinem Wuchs.

In der vierten Zelle saß ein bleicher Mann mit breitem Gesicht, den Kopf tief gesenkt, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Als er die Schritte hörte, erhob dieser Mann den Kopf und blickte auf. In dem ganzen Gesichte, besonders in den großen Augen, lag ein Ausdruck hoffnungsloser Sehnsucht. Ihn interessierte augenscheinlich nicht, zu erfahren, wer zu ihm in die Zelle hereinblickte. Er mochte hereinsehen, wer immer wollte, — augenscheinlich erwartete er von niemand etwas Gutes. —

Dem Nechljudow ward ängstlich zu Mute. Er hörte auf, hineinzublicken und näherte sich Menjschows Zelle, Nummer einundzwanzig.

Der Aufseher sperrte das Schloß auf und öffnete die Thür.

Ein junger muskulöser Mann mit langem Hals und guten runden Augen, mit kleinem Bart, stand neben der Schlafbank, und mit erschrockenem Gesicht, eilig den Schlafrock anziehend, sah er auf die Eintretenden hin.

Besonders frappierten Nechljudow die großen runden Augen, die fragend und erschrocken von ihm auf den Aufseher, auf den Unterinspektor und zurück liefen.

»Hier, der Herr will Dich über Deine Sache befragen.«

»Wir danken Ihnen bestens.«

»Ja, man hat mir von Ihrer Sache erzählt,« sagte Nechljudow, trat in die Tiefe der Zelle und blieb bei dem schmutzigen Gitterfenster stehen; »und ich möchte von Ihnen selbst darüber hören.«

Menjschow näherte sich ebenfalls dem Fenster und begann sogleich zu erzählen, zuerst schüchtern, nach dem Inspektor umblickend, dann immer freier und freier. Als aber der Inspektor ganz aus der Zelle und in den Korridor hinausging, um dort irgend einen Befehl zu erteilen, wurde er ganz unbefangen. Seine Erzählung war nach Sprache und Manier die Erzählung des guten einfachsten Bauernburschen, und dem Nechljudow schien es besonders seltsam, diese Erzählung aus dem Munde eines Gefangenen im Schandkleid und im Gefängnis zu hören. Nechljudow hörte zu, und gleichzeitig betrachtete er die niedere Schlafbank mit der Strohmatraze, das Fenster mit dem dicken, eisernen Gitter, die schmutzigen, feuchten, beschmierten Wände, das klägliche Gesicht und die Figur des unglücklichen, verunstalteten Bauern in Schlafrock und Pantoffeln, und ihm wurde immer wehmütiger und wehmütiger. Er mochte nicht glauben, daß das wahr wäre, was dieser gutmütige Mensch erzählte — so schrecklich war es zu denken, daß Menschen einen anderen Menschen um nichts, nur dafür, daß man ihn selber beleidigt, ergreifen, ins Gefangenenkleid stecken und an diesen schrecklichen Ort setzen konnten. Indessen aber war es noch schrecklicher zu denken, daß diese wahrhafte Erzählung, bei diesem gutmütigen Gesicht, ein Betrug und eine Erfindung sein konnte. Die Erzählung bestand darin, daß der Schenkwirt ihm bald nach der Verehelichung seine Frau abspänstig gemacht hatte. Er suchte sein Recht überall. Aber überall erkaufte der Schenkwirt die Obrigkeit, und man gab dem Schenkwirt Recht. Einmal holte er seine Frau mit Gewalt zurück, sie entlief ihm am anderen Tage. Dann kam er, um seine Frau zu fordern. Der Schenkwirt sagte, daß die Frau nicht da sei, (er aber hatte sie beim Eintreten gesehen) und hieß ihn weggehen. Er ging nicht. Der Schenkwirt und sein Knecht schlugen ihn blutig; am anderen Tage aber brach aber Schenkwirt im Hofe Feuer aus. Man hat ihn und die Mutter beschuldigt; er aber hatte es nicht angesteckt, er war beim Gevatter gewesen.

»Und wirklich hast Du’s nicht angesteckt?«

»Nicht mal in Gedanken hatte ich so etwas, Herr. Aber er, mein Bösewicht, hat es wahrscheinlich selber angesteckt. Man sagte, er hatte damals soeben versichert. Und man hat es auf mich und die Mutter geschoben, daß mit bei ihm gewesen seien und ihn bedroht hätten. Es ist wahr, ich habe ihn damals geschimpft, das Herz ertrug es nicht. Anstecken aber — das habe ich nicht gethan. Und ich bin nicht mal da gewesen, als die Feuersbrunst ausbrach. Das hat er aber absichtlich auf den Tag verschoben, als ich mit dem Mütterchen da gewesen. Selber hat er es der Versicherung wegen angesteckt, es aber auf uns geschoben.«

»Ist es denn wirklich war?«

»Wahrhaftig, vor Gott sage ich es, Herr. Seien Sie mir wie ein leiblicher Vater,« er wollte auf die Kniee fallen, und Nechljudow konnte es nur mit Mühe verhindern. »Helfen Sie mir heraus, um nichts gehe ich zu Grunde,« fuhr er fort. Und plötzlich begannen seine Wangen zu zucken, und er weinte; er streifte den Schlafrockärmel auf und fing an mit einem Aermel des schmutzigen Hemdes die Augen zu wischen.

»Fertig?« fragte der Inspektor,

»Ja. Also verlieren Sie den Mut nicht. Wir werden thun, was möglich ist,« sagte Nechljudow und ging hinaus.

Menjschow stand in der Thür, so daß der Aufseher ihn mit der Thür stieß, als er sie zumachte. Solange der Aufseher das Schloß zusperrte, sah Menjschow durch das kleine Loch in der Thür.

54

Als Nechljudow durch den breiten Korridor zurückkehrte, (es war die Zeit des Mittagessens, und die Kammern waren offen) und zwischen den mit hellgelben Schlafröcken, kurzen breiten Hosen und Pantoffeln bekleideten Menschen hindurchschritt, die ihn gierig betrachteten, überkamen ihn seltsame Gefühle des Mitleidens mit den Menschen, die hier saßen, und des Grauens und Nichtbegreifenkönnens gegenüber jenen, die sie hier eingesperrt hatten und hier festhielten, und irgendwie auch der Beschämung vor sich selbst, daß er all dieses hier ruhig ansieht.

In einem Korridor lief jemand mit klappernden Pantoffeln in eine Kammerthür hinein, und heraus kamen Leute, die sich Nechljudow in den Weg stellten und sich vor ihm verbeugten.

»Befehlen Sie, Euer Wohlgeboren, — ich weiß nicht, wie Sie zu nennen sind — daß man unsere Sache entscheidet, — irgendwie.«

»Ich bin kein Vorgesetzter, ich weiß gar nichts.«

»Es ist gleich; — sagen Sie es irgendwem, einer Obrigkeit oder so was,« rief eine entrüstete Stimme, »wir haben nichts verschuldet, leiden hier schon den zweiten Monat!«

»Wieso? Warum?« fragte Nechljudow.

»Sieh mal, wir sind ins Gefängnis eingespert. Wir sitzen den zweiten Monat und wissen selbst nicht warum!«

»Es ist richtig, das ist wegen eines Zufalls,« sagte der Unterinspektor; »diese Leute wurden erst wegen Schriftenlosigkeit inhaftiert, und man hätte sie in ihr Gouvernement abschieben müssen, dort aber ist das Gefängnis abgebrannt, und die Gouvernementsverwaltung hat uns mitgetellt, daß wir ihnen niemand schicken dürfen. Die aus den übrigen Gouvernements haben wir nun alle abgeschoben, diese aber halten wir hier fest.«

»Wie? Nur darum?« fragte Nechljudow, in der Thür stehn bleibend.

Der Haufe, etwa vierzig Mann, alle in Arrestantenschlafröcken, umgab Nechljudow und den Unterinspektor. Mehrere Stimmen begannen auf einmal zu sprechen, der Unterinspektor hielt sie auf. »Sprecht, aber eines zur Zeit!«

Aus dem Haufen sonderte sich ein hochgewachsener, wohlgestalteter, etwa fünfzigjähriger Bauer; er erklärte dem Nechljudow, daß sie alle ausgewiesen und ins Gefängnis gesteckt worden, weil sie keine Pässe hätten. Sie hatten indeß wohl Pässe, aber diese waren seit nur etwa vierzehn Tagen abgelaufen. Jedes Jahr ließen sie so die Pässe ablaufen, und man hatte sie nicht zur Verantwortung gezogen; diesmal aber nahm man sie fest und verwahrte sie nun hier schon den zweiten Monat wie Verbrecher.

»Wir alle sind bei der Steinhauerei, alle vom gleichen Artell. Sie sagen, das Gouvernementsgefängnis ist abgebrannt. Aber wir sind daran nicht schuld. Erweisen Sie uns Gnade und Barmherzigkeit.«

Nechljudow hörte zu und verstand fast nicht, was der alte wohlgebildete Mann sprach, denn seine ganze Aufmerksamkeit war in Ansprnch genommen von einer großen, dunkelgrauen, vielfüßigen Laus, die zwischen den Haaren auf der Wange des wohlgestalteten Steinhauers lief.

»Wieso denn? Ist es wirklich nur deswegen?« sprach Nechljudow, sich zu dem Inspektor wendend.

»Ja, man sollte sie nach ihrem Heimatort befördern,« sagte der Unterinspektor.

Eben hatte der Inspektor geschlossen, als aus dem Haufen ein Männchen hervortrat, auch im Arrestantenschlafrock, und mit seltsamem Mundverziehen darüber zu sprechen begann, daß man sie hier um nichts quäle.

»Schlimmer als die Hunde …,« fing er an.

»Na, na, sprich auch nicht zuviel! Schweig mal, Du! Sonst aber weißt du…«

»Was brauch’ ich zu wissen?« fing der kleine Mann verzweifelt an, »haben wir denn was verschuldet?«

»Maul halten!« schrie der Vorgesetzte, und das Männchen verstummte.

‘Was ist denn das?’ sprach bei sich Nechljudow, während er zwischen den hundert Augen der ihm begegnenden und aus den Thüren herausguckenden Gefangenen, die ihn gleichsam Spießruten laufen ließen, aus der Reihe der Kammern hinausging.

»Aber hält man denn wirklich so geradezu unschuldige Menschen fest?« brachte Nechljudow hervor, als sie auf den Korridor hinausgelangt waren.

»Was soll man denn thun? Und aber, sie lügen auch viel. Wenn man sie hört, sind sie alle unschuldig,« sprach der Unterinspektor, »aber er kommt auch vor, daß man geradezu um nichts sitzt.«

»Und diese sind ja gewiß vollkommen ohne Schuld.«

»Nun, diese wohl. Nur ist das Volk sehr verdorben. Ohne Strenge ist es unmöglich. Es giebt solche tolle Typen, denen man nicht den Finger in den Mund legen dürfte. Also, gestern waren wie gezwungen, zwei zu bestrafen.«

»Wie bestrafen?« fragte Nechljudow.

»Mit Ruten hat man sie bestraft, auf Verordnung.«

»Aber die Körperstrafen sind ja aufgehoben?«

»Nicht für diejenigen, denen die bürgerlichen Rechte entzogen sind. Diese unterliegen ihnen.«

Nechljudow erinnerte sich all dessen, was er gestern gesehen, als er im Flur wartete; er begriff, daß die Bestrafung grade um die Zeit vor sich ging, während er wartete, und ihn überkam mit besonderer Schärfe jenes Gefühl, gemischt aus Neugier, Gram, Nichtbegreifenkönnen und moralischer, fast ins Physische übergehender Uebelkeit, das ihn auch früher, aber noch nie mit solcher Stärke erfaßt hatte.

Ohne den Unterinspektor weiter zu hören und um sich zu sehen, ging er aus den Korridoren eilig hinaus und begab sich ins Büreau. Der Inspektor war im Büreau und hatte, mit anderen Sachen beschäftigt, vergessen, die Bogoduchowskaja herauszurufen.

Erst als Nechljudow ins Büreau hereintrat, erinnerte er sich, daß er sie hatte herausrufen wollen.

»Gleich schicke ich nach ihr. Und Sie, sitzen Sie, bitte, ein wenig.«

55

Das Büreau bestand aus zwei Zimmern, Im ersten Zimmer, mit dem großen vorspringenden schülfrigen Ofen und den zwei schmutzigen Fenstern, stand in einer Ecke ein schwarzer Apparat, zum Ausmessen des Wuchses bei den Gefangenen; in der anderen Ecke hing das gewöhnliche Attribut der Orte der Tyrannei: das große Bildnis Cfhristi. In diesem ersten Zimmer standen einige Aufseher, in dem anderen Zimmer saßen, den Wänden entlang, etwa zwanzig Männer und Frauen, in einzelnen Gruppen oder paarweise, und sprachen halblaut mit einander. Am Fenster stand ein Schreibtisch. Der Inspektor setzte sich an den Schreibtisch und bot dem Nechljudow einen Stuhl an, der eben dort stand. Nechljudow setzte sich und begann die Leute zu betrachten, die sich im Zimmer befanden.

Vor allem erregte seine Aufmerksamkeit ein junger Mann mit angenehmem Gesicht, in einem kurzen Jacket, der vor einem nicht mehr jungen Frauenzimmer mit schwarzen Brauen stand, und, eifrig und mit den Händen gestikulierend, mit ihr sprach. Daneben saß ein alter Mann mit blauer Brille und hörte unbeweglich auf das, was ihm ein junges Frauenzimmer in Gefangenentracht erzählte, während er ihre Hand hielt. Ein Knabe, ein Realschüler, mit erstarrtem, erschrockenem Gesichtsausdruck blickte den Alten an, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Nicht weit von ihnen in der Ecke saß ein Liebespärchen: sie war ein ganz junges, blondes, liebliches Mädchen mit kurzen Haaren, mit energischem Gesicht, in moderner Kleidung, er ein schöner Jüngling, mit feinen Gesichtskonturen und welligem Haar, in einer Guttaperchajacke. Sie saßen in einem Eckchen, flüsterten und vergingen augenscheinlich vor Liebe. Dem Tische am nächsten saß eine grauhaarige Frau in schwarzem Kleide, offenbar eine Mutter: unverwandt blickte sie auf einen jungen Mann von schwindsüchtigem Aussehen, ebenfalls in einer Guttaperchajacke, wollte etwas sagen und konnte es vor Thränen nicht hervorbringen; sie fing an und blieb wieder stecken. Der junge Mann hielt ein Papierchen in den Händen, das er mit bösem Gesicht bog und zerknitterte, da er augenscheinlich nicht wußte, was er anfangen sollte.

Nehen ihnen saß ein volles, rotbackiges, schönes Mädchen mit sehr vorgewölbten Augen, in einem grauen Kleide und mit einer Pelerine. Sie saß neben der weinenden Mutter und streichelte zart ihre Schulter. Alles war schön an diesem Madchen; die großen weißen Hände, das wellige kurzgeschorene Haar, die kräftige Nase, die starken Lippen, aber den Hauptreiz ihres Gesichte bildeten die braunen, guten, ehrlichen Hammelaugen. Ihre schönen Augen rissen sich vom Gesichte der Mutter los in der Minute, als Nechljudow hereinkam, und begegneten seinem Blick. Aber sogleich wandte sie sich wieder ab und begann, der Mutter etwas zu sagen.

Nicht weit von dem Liebespärchen saß ein Mann mit schwarzem Strubelkopf und finsterem Gesicht und sprach ärgerlich einem Skopzen23 -ähnlichen Besucher zu.

Nechljudow setzte sich neben den Inspektor und sah sich mit gespannter Neugier rundum. Ein glattgeschorenes Kind, ein Knabe, der sich ihm näherte, zerstreute seine Aufmerksamkeit. Er wandte sich mit feiner Stimme an ihn mit der Frage:

»Und Sie, wen erwarten Sie?«

Nechljudow wunderte sich über die Frage, aber als er den Knaben betrachtete und sein ernstes geistvolles Gesicht mit den aufmerksamen belebten Augen sah, antwortete er ihm ernsthaft, daß er eine Bekannte erwarte.

»Wie denn? Ist es Ihre Schwester?« fragte der Knabe.

»Nein, keine Schwester,« antwortete verwundert Nechljudow. »Und Du, mit wem bist Du hier?« fragte er den Knaben.

»Ich bin mit Mama. Sie ist eine Politische,« sagte der Knabe.

»Maria Pawlowna, nehmen Sie den Kolja weg,« sagte der Inspektor, da er Nechljudows Gespräch mit dem Kolja augenscheinlich ungesetzlich fand.

Maria Pawlowna, dasselde schöne Mädchen mit den Hammelaugen, das Nechljudows Aufmerksamkeit auf sich gezogen, erhob sich in ihrer ganzen hohen Gestalt und kam mit starken, weiten, fast männlichen Schritten zu Nechljudow und dem Knaben.

»Was fragt er Sie? Wer Sie seien?« fragte sie den Nechljudow mit einem leichten Lächeln, indes sie vertraut in seine Augen sah, so einfach, als ob kein Zweifel daran sein könne, daß sie mit allen in einfachen, freundlichen, schwesterlichen Beziehungen wäre, sei, und sein müsse.

»Er muß alles wissen,« sagte sie und lächelte voll dem Knaben ins Gesicht mit einem so guten lieblichen Lächeln, daß, sowohl der Knabe als Nechljudow beide unwillkürlich ihr Lächeln erwiderten.

»Ja, er hat mich gefragt, zu wem ich komme.«

»Maria Pawlowna, man darf nicht mit den Fremden sprechen. Sie wissen es ja,« sagte der Inspektor.

»Schön, schön,« sagte sie, nahm mit ihrer großen weißen Hand den die Augen nicht von ihr abwendenden Kolja am Händchen und kehrte mit ihm zu der Mutter des Schwindsüchtigen zurück.

»Wem gehört denn dieser Knabe?« fragte Nechljudow jetzt den Inspektor.

»Einer Politischen; er ist auch im Gefängnis geboren,« sagte der Inspektor, mit einem gewissen Vergnügen, als ob er eine Rarität seiner Anstalt zeige.

»Wirklich?«

»Ja. jetzt geht er mit der Mutter nach Sibirien.«

»Und dies Mädchen?«

»Ich darf Ihnen nicht antworten,« sagte der Inspektor achselzuckend. »Und hier ist denn auch die Bogoduchowskaja.«

56

Aus der hinteren Thür kam mit quirligem Gang die kleine kutzgeschorene, magere, gelbe Wjera Iefremowna, mit den ungeheuer großen guten Augen.

»Nun, ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind,« sagte sie, Nechljudows Hand drückend, »haben Sie sich meiner erinnert? Wollen wir uns setzen!«

»Ich ahnte nicht, daß ich Sie so finden würde.«

»Oh, mit geht es schön; so gut, so gut, daß ich mir sogar nichts Besseres wünsche!« sprach Wjera Iefremowna; indem sie wie immer erschrocken mit ihren ungeheuer großen guten runden Augen Nechljudow anblickte und den dünnen, dünnen, gelben, sehnigen Hals drehte, der aus dem jämmerlichen, zerknüllten, schmutzigen Kragen ihrer Jacke hervorsah.

Nechljudow begann sie zu befragen, wie sie in diese Lage geraten.

In Antwort darauf erzählte sie ihm mit großer Lebhaftigkeit von ihrer Sache. Ihre Rede war ganz mit ausländischen Ausdrücken gespickt, mit »Propaganda, Desorganisation, Gruppen, Sektionen und Untersektionen,« von denen sie augenscheinlich glaubte, daß alle wüßten, und von denen Nechljudow nie gehört hatte.

Sie erzählte ihm augenscheinlich voll überzeugt, daß es ihm sehr interessant und angenehm sei, alle Geheimnisse dea Narodowolzentums24 zu kennen. Nechljudow aber betrachtete ihren kläglichen Hals, ihre dünnen wirren Haare und wunderte sich, wozu sie all das gethan und erzählte. Sie dauerte ihn, aber durchaus nicht so, wie ihn Menjschow dauerte, der Bauer, der ohne jegliche Verschuldung seinerseits in dem stinkenden Gefängnis saß. Er bedauerte sie am meisten wegen des Wirrwarrs, der offenbar in ihrem Kopfe herrschte. Augenscheinlich hielt sie sich für eine Heroine, die bereit ist, ihr Leben dem Erfolg ihrer Sache zum Opfet zu bringen. Unterdessen aber hätte sie kaum zu erklären vermocht, worin diese Sache und der Erfolg dieser Sache bestand.

Die Angelegenheit, von der Wjera Iefremowna mit dem Nechljudow sprechen wollte, bestand darin, daß ihre Kameradin Schustowa, die sogar nicht einmal zu ihrer Untergruppe gehörte, wie sie sich ausdrückte, vor fünf Monaten mit ihr zusammen ergriffen und in die Peter-Pauls Festung gesteckt worden war, einzig deswegen, weil man bei ihr, ihr zur Aufbewahrung übergebene Bücher und Papiere gefunden hatte. Wjera Iefremowna hielt sich zum Teil für schuldig an der Einsperrung der Schustowa und flehte den Nechljudow an, da er Verbindungen habe, alles was möglich sei zu thun, um sie zu befreien.

Die andere Sache, um die die Bogoduchowokaja ihn bat, bestand darin, daß er dem in der Peter-Pauls Festung inhaftierten Gurkewitsch die Erlaubnis auswirke, seine Eltern wiederzusehen und die wissenschaftlichen Bücher zu erhalten, welche ihm für seine gelehrten Beschäftigungen nötig seien.

Nechljudow versprach, alles, was möglich sei, zu versuchen, wenn er in Petersburg sein werde.

Ihre Geschichte erzählte Wjera Iefremowna folgendermaßen: nach Absolvierung der Hebammenkurse war sie der Partei den Narodowolzy näher getreten, und hatte mit ihnen gearbeitet. Zuerst ging alles gut, man schrieb Proklamationen, trieb Propaganda in den Fabriken; dann wurde eine hervorragende Persönlichleit gefangen genommen, die Papiere mit Beschlag belegt und allmählich alle festgenommen.

»Auch mich hat man festgenommen, und jetzt verschickt man…« beendete sie ihre Geschichte. »Aber das macht nichts. Ich fühle mich ausgezeichnet, — ein olympisches Bewußtsein,« sagte sie und lächelte ein klägliches Lächeln.

Nechljudow fragte nach dem Mädchen mit den Hammelaugen. Wjera Iefremowna erzählte, daß dies eine Generalstochter sei, die schon lange zu einer revolutianären Partei gehöre, und daß sie gefangen worden, weil sie einen Schuß auf einen Gendarmen auf sich nahm. Sie wohnte in einer Konspirationswohnung, wo eine Druckerpresse war. Als man nachts zur Haussuchung kam, beschlossen die Einwohner, sich zu verteidigen, löschten das Licht aus und fingen an, die corpora delicti zu vernichten. Die Polizisten drangen ein, und dann feuerte einer der Verschwörer einen Schuß ab und verwundete einen Gendarmen tötlich. Als das Verhör darüber begann, wer geschossen habe, sagte sie, daß sie geschossen, trotzdem sie nie einen Revolver in der Hand gehabt und nicht mal eine Spinne töten würde. Und dabei blieb es auch. Und jetzt geht sie in die Zwangsarbeit.

»Eine altruistische, schöne Persönlichkeit…,« sagte anerkennend Wjera Iefremowna.

Die dritte Sache, von der Wjera Iefremowna sprechen wollte, betraf die Maslowa. Sie kannte, da im Gefängnis alles bekannt war, die Geschichte der Maslowa und Nechljudows Beziehungen zu ihr, und riet ihm, um ihre Ueberführung zu den Politischen einzukommen, aber wenigstens, daß man sie als Krankenwärterin ins Krankenhaus versetze, wo es viele Patienten giebt, und Arbeiterinnen nötig sind.

Nechljudow dankte ihr für den Rat und sagte, er werde sich bemühen, ihn zu benutzen.

57

Ihr Gespräch ward durch den Inspektor unterbrochen, der sich erhob und erklärte, daß die Besuchszeit zu Ende sei, und daß man auseinander gehen müsse. Nechljudow stand auf, nahm von Wjera Iefremowna Abschied und ging zur Thür, wo er stehen blieb und beobachtete, was sich vor ihm abspielte.

»Herrschaften, es ist Zeit! Zeit!« sprach der Inspektor, bald aufstehend, bald sich wieder setzend.

Die Aufforderung des Inspektors rief bei den im Zimmer Anwesenden, wie bei den Gefangenen, nur eine besondere Lebhaftigkeit hervor, aber niemand dachte daran, auseinanderzugehen Einige standen auf und sprachen im Stehen, einige blieben sitzen und sprachen weiter, einige begannen Abschied zu nehmen und zu weinen. Besonders rührend war die Mutter mit dem Sohne, dem Schwindsüchtigen. Der junge Mann drehte nach immer das Papierchen, und sein Gesicht wurde böser und böser, so groß waren die Anstrengungen, die er machte, um von dem Gefühl der Mutter nicht angesteckt zu werden. Die Mutter aber, als sie hörte, daß man sich schon verabschieden müsse, lehnte sich an seine Schulter und schluchzte schwer atmend durch die Nase.

Das Mädchen mit den Hammelaugen, — Nechljudow verfolgte sie unwillkürlich, — stand vor der schluchzenden Mutter und sprach ihr beruhigend zu. Der Alte mit der blauen Brille stand da, hielt seine Tochter an der Hand und nickte mit dem Kopf zu dem, was sie sprach. Die jungen Verliebten standen auf und hielten einander an den Händen, während sie sich schweigend in die Augen sahen.

»Nur diesen allein hier ist’s lustig zu Mut,« sagte, auf das Liebespärchen zeigend, der junge Mann im kurzen Jacket, der neben dem Nechljudow stand und, ebenso wie er, die Abschiednehmenden betrachtete.

Die Verliebten, der junge Mann in der Guttaperchajacke und das liebliche blonde Mädchen streckten die Arme, ohne sich los zu lassen, warfen sich zurück und begannen sich lachend zu drehen, als sie die Blicke des Nechljudow und des jungen Mannes auf sich ruhen fühlten.

»Heute abend verheiraten sie sich hier im Gefängnis, und sie geht mit ihm nach Sibirien,« sagte der junge Mann.

»Was ist er denn?«

»Zwangsarbeiter. Die wenigstens sind nach guter Dinge. Sonst thut’s schon zu weh, es anzuhören,« fügte der junge Mann im Jacket hinzu, indem er auf das Schluchzen der Mutter des Schwindsüchtigen horchte.

»Meine Herrschaften, ich bitte Sie, ich bitte Sie. Zwingen Sie mich nicht, strenge Maßnahmen zu ergreifen,« sprach der Inspektor, ein und dasselbe mehrere Male wiederholend.

»Ich bitte Sie, aber bitte doch,« sprach er schwach und unentschlossen. »Was ist denn das? Es ist schon höchste Zeit. So geht das ja nicht. Ich sage es zum letzten Mal,« wiederholte er niedergeschlagen, indem er bald seine Marylandcigarette anrauchte, bald sie auslöschte.

Es war klar, daß, wie geschickt ausgedacht und alt und gewohnt die Gründe auch sein mochten, die den einen Menschen erlauben, den andern Böses zu thun, ohne sich dafür verantwortlich zu fühlen, — es dem Inspektor nicht verborgen bleiben konnte, daß er einer der Mitschuldigen an dem Kummer sei, der in diesem Zimmer laut wurde, und es war ihm augenscheinlich fürchterlich schwer zu Mute.

Endlich begannen die Gefangenen und die Besucher auseinander zu gehen, jene durch die innere, diese durch die äußere Thür. Fort gingen die Männer in den Guttaperchajacken, fort ging der Schwindsüchtige und der schwarzhaarige Strubelkopf; fort ging auch Maria Pawlowna mit dem im Gefängnis geborenen Knaben.

Und auch die Besucher begaben sich hinaus. Es ging mit schwerem Gang der Alte mit der blauen Brille; ihm nach ging auch Nechljudow.

»Jawohl, eine wunderliche Ordnung,« machte der redselige junge Mann, als ob er ein unterbrochenes Gespräch fortsetzte, während er mit Nechljudow zusammen die Treppe hinunterstieg. »Gott sei Dank, daß wenigstens der Kapitän ein guter Mensch ist, sich nicht an die Regeln hält. Wenigstens sprechen sie doch ein wenig miteinander, schütten ihr Herz aus.«

Als Nechljudow mit dem Medynzew sprechend, — als dieser hatte sich der redselige junge Mann vorgestellt. — in den Flur hinabgestiegen, trat zu ihnen der Inspektor mit müdem Aussehen heran.

»Also, wenn Sie die Maslowa sehen wollen, so bitte, kommen Sie morgen,« sagte er, da er offenbar wünschte, mit dem Nechljudow liebenswürdig zu sein.

»Sehr gut,« sagte Nechljudow und eilte hinaus.

Schrecklich waren die offenbar unschuldigen Leiden des Menjichow, — und nicht so sehr seine physischen Leiden — wie jenes Bedenken, jenes Mißtrauen gegen das Gute und gegen Gott, das er fühlen mußte, als er die Grausamkeit der Menschen sah, die ihn ohne Grund quälen. Schrecklich war die Beschimpfung und waren die Qualen, die über diese hunderte von durchaus nicht schuldigen Menschen verhängt worden, nur weil ein Papier nicht richtig ausgestellt war. Schrecklich sind diese verdummten Aufseher, die mit der Quälerei ihrer Brüder beschäftigt und dabei überzeugt sind, daß sie eine gute und wichtige Sache verrichten; aber am schrecklichsten erschien ihm dieser gute, alternde Inspektor von schwacher Gesundheit, der die Mutter und den Sohn, den Vater und die Tochter, — Menschen wie er selbst und seine Kinder — trennen mußte.

‘Warum ist das?’ fragte sich Nechljudow, indem er jetzt im höchsten Grade jenes Gefühl moralicher, ins Physische übergehender Uebelkeit empfand, das er immer im Gefängnis zu empfinden pflegte, und er fand keine Antwort.

58

Am andern Tage fuhr Nechljudow zum Advokaten, teilte ihm Menjschows Angelegenheit mit und bat ihn, die Verteidigung desselben zu übernehmen. Der Advokat hörte ihn an, sagte, daß er die Akten durchsehen wolle und wenn es so sei, wie Nechljudow sage, was sehr wahrscheinlich sei, so werde er die Verteidigung ohne jeden Entgelt übernehmen. Nechljudow erzählte dem Advokatten unter anderem auch von den aus Mißverständnis festgehaltenen hundertdreißig Mann, und fragte, von wem es abhänge? wer schuld sei? Der Advokat schwieg eine Zeitlang, da er augenscheinlich präzis antworten wollte.

»Wer schuld ist? Niemand!« sagte er entschieden. »Sprechen Sie mit dem Prokureur; er sagt, der Gouverneur sei schuld; sprechen Sie mit dem Gouverneur: er sagt, der Prokureur sei schuld — Niemand ist schuld.«

»Ich fahre gleich zum Maslennikow und sage es ihm.«

»Nun, es ist nutzlos,« erwiderte lächelnd der Advokat. »Das ist ein solcher — — doch kein Verwandter und kein Freund von Ihnen? — das ist ein solcher, mit Verlaub zu sagen, Dummkopf — und zugleich solch ein schlaues Vieh,« — —

Nechljudow erinnerte sich, was Maslennikow von dem Advokaten gesagt, und er antwortete nicht; er nahm Abschied und fuhr zu Maslennikow.

Nechljudow hatte den Maslennikow um zwei Dinge zu bitten: um die Ueberführung der Maslowa ins Krankenhaus, und für die unschuldig ins Gefängnis gesperrten hundertdreißig Schriftenlosen. Wie schwer es ihn ankam, einen Mann zu bitten, den er nicht achtete, und der Rutenhiebe zudiktierte, — es war das einzige Mittel, seinen Zweck zu erreichen, und es mußte durchgemacht werden.

Als Nechljudow bei Maslennikows Hause vorfuhr, sah er bei der Auffahrt einige Equipagen: Droschken, Kaleschen und Kutschen, und er erinnerte sich, daß eben heute gerade der Empfangstag von Maslennikows Frau sei, zu dem er ihn zu kommen gebeten. Zur Zeit, da Neschludow bei dem Hause vorfuhr, stand eine Kutsche an der Auffahrt, und ein Lakai mit einem kokardegeschmückten Hut und einer Pelerine balf einer Dame von der Rampe in die Kutsche. Die Dame raffte ihre Schlepbe auf und enthüllte ihre schwarzen dünnen Knöchel über den ausgeschnittenen Schuhen. Mitten unter den haltenden Equipagen erkannte Nechljudow den geschlossenen Landauer der Kortschagins. Der grauköpfige, rotbäckige Kutscher nahm ehrerbietig und freundlich den Hut ab, wie vor einem besonders gut bekannten Herrn. Nechljudow hatte noch nicht Zeit gehabt, den Schweizer zu fragen, wo Michail Iwanowitsch (Maslennikow) sei, als er selber sich auf der teppichbelegten Treppe zeigte, wie er gerade einen sehr wichtigen Gast hinab geleitete, so einen, den er nicht nur bis zum Treppenabsatz, sondern ganz hinunter zu begleiten pflegte. Dieser sehr wichtige militärische Gast sprach im Hinabsteigen französisch über das Allegri25 zu Gunsten der Versorgungsanstalten, die in der Stadt errichtet wurden, indem er die Meinung äußerte, daß dies eine gute Beschäftigung für die Damen sei: ‘Ihnen macht es Spaß, und es kommt Geld zusammen.’

»Qu’elles s’amusent et que le bon Dieu les bénisse Ah, Nechljudow, guten Tag! Warum hat man Sie so lang nicht gesehen?« begrüßte er den Nechljudow. »Allez présenter vos devoirs à Madame. Kortschagins sind auch da. Et Nadinde Bukshevden. Toutes les jolies femmes de la ville,« sagte er, indem er seine Militärschultern seinem eigenen großartigen Lakai mit den Goldtressen hinhielt und in die Höhe zog, da dieser ihm den Mantel darreichte. »Au revoir, mon cher.« Er drückte noch einmal Maslennikows Hand.

»Nun, wollen wir nach oben gehen, wie bin ich froh,« fing Maslennikow aufgeregt an, indem er den Nechljudow unter den Arm faßte und rasch trotz seiner Korpulenz nach oben zog. Maslennikow war in einer besonders freudigen Aufregung, deren Ursache die ihm von einer wichtigen Person erwiesene Aufmerksamkeit war.

Eine derartige Aufmerksamkeit versetzte den Maslennikow in dasselbe Entzücken, in welches ein kleiner freundlicher Hund gerät, wenn der Herr ihn streichelt, zärtlich klopft, hinter den Ohren kraut. Er dreht den Schwanz, zieht sich zusammen, schlängelt sich, legt die Ohren zurück und rast wie wahnsinnig im Kreise herum. Zu gleichem Thun war Maslennikow bereit. Er nahm den ernsten Gesichtsausdruck Nechljudows nicht wahr, hörte nicht zu und zog ihn unaufhaltsam ins Empfangszimmer, so daß man nicht ablehnen konnte, und Nechljudow ging mit ihm.

»Das Geschäft nachher. Was Du befiehlst, thu ich alles,« sprach Maslennikow, als er mit dem Nechljudow durch den Saal ging. »Melden Sie der Frau Generalin den Fürsten Nechljudow,« sagte er im Gehen seinem Lakai. Der Lakai bewegte sich im Paßgang vorwärts und überholte sie.

»Vous n’avez qu’à ordonner. Aber meine Frau mußt Du notwendigerweise sehen. Ich habe schon so wie so einen ordentlichen Wischer gekriegt, weil ich Dich voriges Mal nicht zu ihr gebracht habe.«

Der Lakai hatte schon Zeit gefunden, ihn zu melden, als sie hereinkamen, und Anna Ignatiewna, die Vice-Gouverneurin — die Generalin, wie sie sich nennen ließ — neigte sich schon mit strahlendem Lächeln dem Nechljudow entgegen, mitten aus den Hüten und Köpfen heraus, die sie und den Divan umgaben. Am anderen Ende des Empfangszimmers am Theetisch saßen Damen und standen Herren, Militärs und Zivilisten, und es ließ sich ein unaufhörliches Geschnatter von männlichen und weiblichen Stimmen hören.

»Enfin! Wie denn? Wollen Sie und nicht mehr kennen? Womit haben wie Sie beleidigt?« Mit diesen Worten, die eine Intimität zwischen ihr und dem Nechljudow andeuteten, die niemals zwischen ihnen bestanden, empfing Anna Ignatiewna den Eintretenden.

»Sind Sie bekannt? Bekannt. Madame Beljawswki, Michaïl Iwanowitsch Tschernow. Rücken Sie heran. Missi, venez-donc à notre table. On vous apportera votre thé…Und Sie…« wandte sie sich an einen Offizier, der mit Missi sprach und dessen Namen ihr augenscheinlich entfallen war, — »kommen Sie, bitte, hierher. Thee, Fürst? Befehlen Sie?«

»Keinesfalls, keinesfalls hin ich einverstanden, sie liebte ihn einfach nicht,« sprach eine weibliche Stimme.

»Sondern sie liebte Pastetchen.«

»Immer faule Witze,« fiel lachend eine andere Dame mit einem hohen Hut ein, die von Seide, Gold und Steinen glänzte.

»C’est excellent, diese kleinen Waffeln, und leicht — Reichen Sie noch hinüber.«

»Was denn, reisen Sie bald?«

»Ja, heute ist schon der letzte Tag. Darum sind wir auch hergekommen.«

»Solch ein schöner Frühling. So schön ist’s jetzt auf dem Lande.«

Missi, im Hut und in irgendwelchem Kleid mit dunklen Streifen, das ohne ein einziges Fältchen ihre feine Taille umschloß, so als ob sie in diesem Kleide auf die Welt gekommen, war sehr schön. Sie wurde rot, als sie den Nechljudow sah.

»Aber ich dachte, daß Sie verreist wären,« sagte sie zu ihm.

»So gut wie verreist,« sagte Nechljudow; »Geschäfte halten mich auf. Auch hier bin ich in Geschäften.«

»Sprechen Sie doch bei Mama vor. Sie wünscht sehr, Sie zu sehen,« sagte sie, und da sie fühlte, daß sie lüge, und daß er es durchschaue, errötete sie noch mehr.

»Schwerlich werde ich dazu kommen,« erwiderte Nechljudow finster, indem er sich bemühte, sich den Anstrich zu geben, als merke er ihr Erröten nicht.

Missi zog böse die Brauen zusammen, zuckte die Achseln und wandte sich zu dem eleganten Offizier, der die leere Tasse aus ihren Händen empfing, und mit dem Säbel an die Stühle stoßend, sie mutig zu dem anderen Tische hinübertrug.

»Sie müssen auch etwas für das Versorgungshaus spenden.«

»Aber ich lehne ja nicht ab, ich will nur meine ganze Freigebigkeit bis zum Allegri versparen. Dort werde ich mich schon in voller Kraft zeigen.«

»Nun, immer zu!« ließ sich eine offenbar verstellt lachende Stimme hören.

Der Empfangstag war glänzend und Anna Ignatiewna war entzückt.

»Mika hat mir gesagt, daß Sie in den Gefängnissen beschäftigt sind. Ich begreife das sehr,« sprach sie zum Nechljudow. »Mika (das war ihr dicker Mann, Maslennikow) kann andere Fehler haben, aber Sie wissen, wie gut er ist. Alle diese unglücklichen Gefangenen sind seine Kinder Nicht anders sieht er sie an. Il est d’une bonté…« sie blieb stecken, da sie keine Worte fand, die seine bonté auszudrücken im stande waren, — die bonté ihres Mannes, der die Leute prügeln ließ — und wandte sich dann sogleich lächelnd an eine hereintretende runzelige Alte mit lila Bändern.

Nachdem Nechljudow so viel gesprochen, wie nötig war, und so inhaltlos, wie es ebenfalls nötig war, um den Anstand nicht zu verletzen, stand er auf und ging zum Maslennikow.

»Also, bitte sehr, kannst Du mich jetzt anhören?«

»Ach ja. Nun was denn?«

»Komm hier hinein.«

Sie gingen in ein kleines japanisches Kabinet und setzten sich ans Fenster.

59

»Nun, je sus à vous. Willst Du rauchen? Nur — halt! — daß wir hier nicht etwas verderben,« sagte er und brachte eine Aschenschale. »Also?«

»Ich habe an Dich zweierlei Anliegen.«

»So, so.« Maslennikows Gesicht wurde finster und mißmutig. Die Aufgeregtheit des kleinen Hundes, den der Herr hinter den Ohren gekraut hat, war bis auf die letzte Spur verschwunden. Aus dem Empfangszimmer tönten die Stimmen herein. Eine Frauenstimme sprach: »Jamais. jamais je ne croirais.« Eine andere, männliche Stimme vom anderen Ende erzählte etwas und wiederholte immer: »la comtesse Woronzoff und Viktor Apraksine.« Von einer dritten Seite war nichts zu hören als Stimmengeräusch und Gelächter.

Maslennikow horchte auf das, war im Empfangszimmer vor sich ging und hörte gleichzeitig dem Nechljudow zu.

»Ich komme wieder wegen derselben Frau,« sagte Nechljudow.

»Ja, eine unschuldig Verurteilte, ich weiß, ich weiß.«

»Ich möchte bitten, sie als Dienstmädchen ins Krankenhaus zu überführen. Man hat mir gesagt, daß man so etwas kann.«

Maslennikow preßte die Lippen zusammen und wurde nachdenklich.

»Schwerlich kann man das,« sagte er. »Ich will mich übrigens beraten und Dir morgen telegraphieren.«

»Man hat mir gesagt, es gäbe dort viele Patienten, und Gehülfinnen seien nötig.«

»Nun ja, nun ja. Also werde ich Dir jedenfalls darüber berichten.«

»Bitte,« sagte Nechljudow.

Aus dem Empfangszimmer erscholl ein allgemeines und sogar unverkünsteltes Gelächter.

»Das ist immer der Victór,« sagte Maslennikow lächelnd, »erstaunlich witzig, wenn er im Zuge ist!«

»Und noch,« sagte Nechljudow, »es sitzen jetzt im Gefängnis hundertdreißig Mann, nur weil ihre Pässe abgelaufen sind. Man hält sie hier schon einen Monat fest.«

Und er erzählte, aus welchen Gründen man sie festhielt.

»Aber, wie hast Du denn davon erfahren?« fragte Maslennikow, und auf seinem Gesichte prägte sich plötzlich Unruhe und Mißvergnügen aus.

»Ich habe einen Angeklagten besucht, und da haben mich diese Leute im Korridor umringt und gebeten…«

»Welchen Angeklagten hast Du besucht?«

»Einen Bauern, der unschuldig angeklagt ist, und für den ich einen Verteidiger geworben habe. Aber nicht darum handelt es sich. Sollte es sein, daß all diese vollkommen unschuldigen Leute nur deswegen im Gefängnis festgehalten werden, weil ihre Pässe abgelaufen sind? Und …«

»Das ist Sache des Prokureurs,« unterbrach Maslennikow den Nechljudow voll Unwillen. »Du sagst ja immer: ‘das rasche und gerechte Gericht.’ Es ist eine Pflicht des Staatsanwalts, das Gefängnis zu besuchen und sich zu erkundigen, ob die Gefangenen gesetzlich inhaftiert sind. Sie thun nichts, sie spielen Karten.«

»Also kannst Du nichts thun?« sagte Nechljudow düster, da er sich der Worte des Advokaten erinnerte, daß der Gouverneuer alles auf den Prokureur schieben werde.

»Nein, ich werde schon…, ich will mich gleich erkundigen.«

»Für sie selber ist es schlimmer…C’est un souffre-douleur…« hörte man die Stimme einer Frau aus dem Empfangszimmer, die augenscheinlich ganz gleichgiltig gegen das war, was sie sprach.

»Desto besser…ich nehme auch dies,« ließ sich von anderer Seite in tändelndem Ton eine männliche Stimme vernehmen, darauf das spielerische Lachen einer Frau, die jenem irgend etwas nicht geben wollte.

»Nein, nein, um alles nicht!« sprach die Frauenstimme.

»Nun also, ich werde alles thun,« wiederholte Maslennikow, indes er mit seiner weißen Hand mit dem Türkisring die Cigarette auslöschte. »Jetzt wollen wir zu den Damen gehen.«

»Ja, noch etwas,« sagte Nechljudow, ohne in das Empfangszimmer einzutreten und an der Thür stehen bleibend. »Man hat mir gesagt, daß man gestern im Gefängnis Menschen körperlich bestraft hat. Ist das wahr?«

Maslennikow wurde rot.

»Ach, danach fragst Du? Nein, mon cher, man muß Dich entschieden nicht hineinlassen, Du kümmerst Dich um alles. Komm, komm, Annette ruft uns,« sagte er, indem er ihn unter den Arm faßte und wieder die gleiche Aufregung zeigte, wie vorhin der der ihm erwiesenen Aufmerksamkeit der wichtigen Person; nur war er jetzt keine freudige, sondern eine ängstliche Erregung.

Nechljudow entriß ihm seinen Arm, und ohne von jemand Abschied zu nehmen, und ohne ein Wort zu sprechen, ging er mit finsterer Miene durch das Empfangezimmer und den Saal und an dem herbeispringenden Lakaien vorüber in das Vorzimmer und auf die Straße hinaus.

»Was ist mit ihm? Was hast Du ihm gethan?« fragte Annette ihren Mann.

»Das ist à la française,« sagte jemand. …

»Mit nichten à la française, das ist à la zoulou.«

»Na, er ist ja immer so einer gewesen.«

Jemand stand auf, jemand kam an, und das Gezwitscher ging seinen Gang fort; die Gesellschaft benutzte die Episode mit Nechljudow als einen bequemen Gesprächsgegenstand für den heutigen jour fixe.

__________

Am Tage nach seinem Besuch beim Maslennikow erhielt Nechljudow von ihm einen Brief, der auf einem dicken, glanzenden Papier mit Wappen und Stempeln in prächtiger fester Handschrift geschriehen war, des Inhalts, daß er dem Arzt von der Ueberführung der Maslowa ins Krankenhaus geschrieben habe, und daß sein Wunsch, aller Wahrscheinlichkeit nach, in Erfüllung gehen werde.

Unterzeichnet war: ‘Dein Dich liebender älterer Kollege,’ und unter der Unterschrift ‘Maslennikow’ war ein erstaunlich kunstvoller, großer und fester Schnörkel angebracht.

»Narr!« konnte Nechljudow sich nicht enthalten zu sagen, besonders deswegen, weil in diesem Wort ‘Kollege’ Maslennikow sich zu ihm — Nechljudow fühlte das — herabließ, das heißt: trotzdem er das moralisch schmutzigste und schändlichste Amt bekleidete, hielt er sich für einen sehr wichtigen Mann und glaubte, daß er, indem er sich Nechljudow Kollege nenne, ihm, wenn schon nicht schmeichle, so doch ihm zeige, daß er immer noch nicht zu stolz auf seine Herrlichkeit geworden.

60

Es ist einer der gewöhnlichsten und verbreitetsten Aberglauben, daß jeder Mensch nur eine ihm zugehörige, bestimmte Eigenschaft habe, daß ein Mensch gut, böse, klug, dumm, energisch, apathisch und so weiter sei. Die Menschen pflegen nicht so zu sein. Wir können von einem Menschen sagen, daß er öfter gut als böse, öfter klug als dumm, öfter energisch als apathisch und umgekehrt sei, aber es ist nicht wahr, wenn wir von einem Menschen sagen, daß er gut oder klug und von einem andern, daß er böse oder dumm sei. Wir aber teilen die Menschen immer so ein. Und von ist nicht richtig. Die Menschen sind wie Flüsse: das Wasser ist überall gleich, überall dasselbe, aber jeder Fluß ist bald schmal, bald rasch, bald breit, bald still, bald rein, bald kalt, bald trüb, bald warm. Ebenso auch die Menschen: Jeder Mensch trägt in sich die Keime aller menschlichen Eigenschaften, uns manchmal offenbart er die einen, manchmal die andern, und ist oft sich selber ganz uns gar nicht ähnlich, während er doch immer dasselbe Selbst bleibt.

Bei einigen Menschen pflegen diese Wendungen sehr scharf zu sein. Und zu solchen Menschen gehörte Nechljudow. Diese Wandlungen rührten bei ihm sowohl von physischen wie von geistigen Ursachen her. Und eine solche Umwandlung war jetzt mit ihm vorgegangen.

Jenes feierliche und freudige Gefühl der Erneuerung, welches er nach dem Gericht und nach dem ersten Wiedersehn mit Katjuscha empfunden, verging vollständig und ward nach dem letzten Besuch durch Furcht uns sogar Abneigung gegen sie ersetzt. Er beschloß, sie nicht zu verlassen und den Entschluß, sie zu heiraten, nicht zu ändern, wenn sie es nur wolle, aber es war ihm schwer uns qualvoll.

Am Tage nach dem Besuche bei Maslennikow fuhr er wieder in das Gefängnis, um sie zu sehen.

Der Inspektor gestattete die Zusammenkunft, aber nicht im Bureau und nicht im Advokatenzimmer, sondern im Besuchszimmer der weiblichen Gefangenen. Trotz seiner Gutmütigkeit war der Inspektor mit dem Nechljudow zurückhaltender als früher; die Gespräche mit Maslennikow hatten offenbar die Verordnung einen größeren Vorsicht gegenüber diesem Besucher zur Folge gehabt.

»Sie sehn — das geht an,« sagte er, »und nur in Bezug auf Geld, gefälligst, so wie ich Sie gebeten habe…Was aber ihre Ueberführung ins Krankenhaus, wie Seine Excellenz geschrieben hat, anbetrifft, so läßt sich das machen, und der Arzt ist einverstanden. Nur sie selber will nicht, sagt: es fällt mir nicht ein, den Grindköpfen die Nachttöpfe hinauszutragen…Es ist ja solch ’n Volk, Fürst,« fügte er hinzu.

Nechljudow antwortete nichts und bat, ihn zu den Zusammenkunft gehen zu lassen. Der Inspektor schickte einen Aufseher, und Nechljudow trat hinter ihm in das leere Besuchszimmer der Weiblichen ein.

Die Maslowa war schon da und kam hinter der Netzwand hervor, still und bange. Sie trat nahe an den Nechljudow heran, und an ihm vorbeisehend, sagte sie leise:

»Verzeihen Sie mir, Dmitrij Iwanowitsch, ich habe vorgestern nicht gut zu Ihnen gesprochen.«

»Nicht ich habe Ihnen zu verzeihen…« wollte Nechljudow anfangen.

»Aber nur — — dennoch lassen Sie mich,« fügte ste hinzu, und in den schrecklich scheel gewordenen Augen, mit welchen sie ihn anblickte, las Nechljudow wieder jenen gespannten, bösen Ausdruck.

»Warum soll ich Sie denn lassen?«

»Aber so doch.«

»Warum so?«

Sie sah ihn wieder mit demselben, — wie es ihm schien, — bösen Blick an.

»Nun also, ich sage Ihnen…,« sprach sie. »Lassen Sie mich, das sage ich Ihnen sicher. Ich kann es nicht. Geben Sie das ganz auf,« machte sie mit zitternden Lippen und schwieg. »Es ist gewiß. Lieber häng’ ich mich auf.«

Nechljudow fühlte, daß in dieses Weigerung Haß gegen ihn, unverziehene Beleidigung, aber auch etwas anderes, Gutes und Wichtiges sei.

Daß sie ihre frühere Weigerung so in ganz ruhigem Zustand bestätigte, vernichtete mit einem Male in Nechljudows Seele alle Zweifel und brachte ihn in den früheren feierlichen und gerührten Zustand in Bezug auf Katjuscha zurück.

»Katjuscha, wie ich gesagt habe, so sag ich auch jetzt,« brachte er besonders ernst hervor. »Ich bitte Dich, mich zu heiraten. Wenn Du es aber nicht willst, oder einstweilen nicht willst, so will ich wie bin jetzt da sein, wo Du bist und dorthin fahren, wohin man Dich bringt.«

»Dab ist Ihre Sache. Weiter will ich davon nicht sprechen,« sagte sie, und wieder erbebten ihre Lippen.

Er schwieg auch da er fühlte, daß er nicht imstande sei, zu sprechen.

»Jetzt fahre ich ins Dorf, aber dann will ich nach Petersburg reisen,« sagte er, endlich sich fassend. »Ich werde mich für Ihre, für unsere Sache bemühen, und man wird, will’s Gott, das Urteil kassieren.«

»Und wenn man es nicht kassiert, so ist es einerlei. Wenn nicht für dies, so hab’ ich’s für das andere verdient…,« sagte sie, und er sah, was für eine große Anstrengung sie machen mußte, um die Thränen zurückzuhalten.

»Nun, wie ist’s denn, haben Sie den Menjschow gesehen,« fragte sie plötzlich, um ihre Erregung zu verbergen. »Nicht wahr, sie sind doch unschuldig?«

»Ja, ich glaube es.«

»Solch ein wunderbares altes Mütterchen,« sagte sie.

Er erzählte ihr alles, was er von Menjschow erfahren und fragte, ob sie nicht etwas brauche.

Sie erwiderte, sie habe nichts nötig.

Wieder schwiegen sie eine Zeitlang.

»Nun aber, in Bezug auf das Krankenhaus,« sagte sie plötzlich, ihn mit ihrem schielenden Blick ansehend, »wenn Sie wollen, so geh’ ich, und auch Branntwein werd’ ich nicht trinken…«

Nechljudow sah ihr schweigend in die Augen. Ihre Augen lächelten.

»Das ist sehr gut,« konnte er nur hervorbringen.

‘Ja, ja, sie ist ein ganz anderer Mensch,’ dachte Nechljudow, indem er nach dem früheren Zweifel ein ganz neues, nie von ihm erfahrenes Gefühl der Ueberzeugung von der Unüberwindbarkeit der Liebe empfand.

__________

Als die Maslowa nach diesem Wiedersehen in ihre stinkende Kammer zurückkehrte, zog sie den Schlafrock aus, setzte sich auf ihren Platz, auf der Pritsche, und ließ die Hände auf die Kniee sinken.

In der Kammer befanden sich nur die Schwindsüchtige, die Wladimirsche26 mit dem Säugling, das Altchen Menjschowa und die Bahnwärterin mit zwei Kindern. Die Küsterstochter war gestern als geisteskrank erklärt und ins Krankenhaus gebracht worden. Alle übrigen Frauen aber hatten Wäsche. Das Altchen lag auf der Pritsche und schlief. Die Kinder waren im Korridor, die Thür in den Korridor war offen.

Die Wladimirsche mit dem Kinde auf dem Arm, und die Bahnwärterin mit dem Strumpf, an dem sie unaufhörrlich strickte, näherten sich der Maslowa.

»Na, wie ist’s, haben Sie sich wiedergesehen?« fragten sie.

Die Maslowa saß, ohne zu antworten, auf der hohen Pritsche und schaukelte mit den Beinen, die nicht bis zum Boden reichten.

»War greinst Du?« fragte die Wärterin, »Vor allem verliere nicht den Mut. Ech, Katjucha! Na,« sagte sie, rasch die Finger rührend.

Die Maslowa antwortete nicht.

»Unsere sind zum Waschen gegangen. Man hat gesagt, heut giebt es viel milde Gaben. Sie haben viel zusammengebracht,« sagte die Wladimirsche.

»Finaschka!« schrie die Wärterin durch die Thür, »wohin bist Du gelaufen, Galgenstrick?«

Und sie zog eine Stricknadel heraus, steckte Knäuel und Strumpf damit zusammen und ging in den Korridor.

Um diese Zeit ließ sich ein Geräusch von Schritten und Frauenstimmen auf dem Korridor hören, und die Bewohnerinnen der Kammer, mit Pantoffeln an den nackten Füßen, kamen herein; jede trug je einen Kalatsch, einige auch je zwei. Fedossija näherte sich sogleich der Maslowa.

»Was ist denn? Ist etwas nicht recht?« fragte Fedossija, mit ihren blauen Augen die Maslowa liebevoll ansehend. »Hier, für uns zum Thee,« und sie fing an, die Kalatschen auf das Wandbrettchen zu legen.

»Was ist? Hat er sich etwa mit dem Heiraten anders besonnen?« sagte die Korablewa.

»Nein, nicht anders besonnen, aber ich will nicht,« sagte die Maslowa. »Ich hab’ ihm das auch gesagt.«

»Das ist ’ne Närrin,« sagte die Korablewa mit ihrer Baßstimme.

»Wieso? wenn man nicht zusammen lebt, zu was, Teufel, braucht man zu heiraten?« sagte Fedossija.

»Aber Dein Mann geht ja auch mit Dir,« machte die Wärterin.

»Na ja, aber ich bin ja mit ihm getraut,« sagte Fedossija, »aber wozu braucht er sich erst trauen zu lassen, wenn sie nicht zusammen leben werden?«

»So ’ne Dumme! Wozu? Aber wenn er sie heiratet, wird er sie ja in Gold fassen.«

»Er hat gesagt: wohin man Dich auch schickt — ich fahr’ Dir nach,« sagte die Maslowa. »Fährt er, so fährt er, fährt er nicht, so fährt er nicht, aber bitten thu’ ich nicht. Jetzt reist er nach Petersburg, sich da Mühe zu geben. Alle Minister da sind mit ihm verwandt,« fuhr sie fort, »aber nötig hab’ ich ihn doch nicht.«

»Bekannte Geschichte,« pflichtete plötzlich die Korablewa bei, indem sie ihren Sack auspackte und augenscheinlich an etwas anderes dachte. »Wie ist’s? Trinken wir ’n Schnäpschen.«

»Ich will nicht,« antwortete die Maslowa, »trinkt selber.«

Ende des ersten Teils.

Teil II

2

1

Nach vierzehn Tagen konnte die Sache zur Verhandlung vor den Senat gelangen, und auf diesen Zeitpunkt gedachte Nechljudow nach Petersburg zu fahren und für den Fall eines Mißerfolges beim Senat die Bittschrift an die allerhöchste Instanz einzureichen, wie es ihm der Advokat geraten, der die Bittschrift aufgesetzt hatte. Falls die Kassationsbeschwerde keine Folgen haben sollte, worauf man, nach der Meinung des Advokaten, gefaßt sein mußte, da die Kassationsanlässe sehr schwach seien, konnte sich die Abteilung der Zwangsarbeiter, zu deren Zahl die Maslowa gehörte, anfangs Juni auf den Weg begehen; und so, um sich für die Reise nach Sibirien vorzubereiten, der Maslowa nach, wie Nechljudow fest beschlossen, galt es, schon jetzt auf die Dörfer zu fahren, um da seine Sachen in Ordnung zu bringen.

Vor allem fuhr Nechljudow nach Kusjminskoje, das nächste und größte »Humus«-Landgut, von dem das Haupteinkommen bezogen wurde. Er hatte auf diesem Landgut manchmal gelebt, in der Kindheit und Jugendzeit, und nachher, als schon Erwachsener, war er zweimal dort gewesen und hatte auch, auf die Bitte seiner Mutter, einen Verwalter, einen Deutschen, dorthin mitgebracht und mit ihm zusammen die Wirtschaft revidiert, so daß er seit langem den Zustand des Gutes und die Beziehungen der Bauern zur Verwaltung, das heißt zum Grundbesitzer, kannte. Dies Verhältnis der Bauern zum Grundbesitzer war derart, daß die Bauern sich in voller Abhängigkeit von der Verwaltung befanden. Nechljudow wußte das seit den Universitätsjahren, wo er die Lehren Henry Georges bekannt und verkündet, und auf Grund dieser Lehren das Landstück seines Vaters den Bauern gegeben hatte. Nach dem Militärdienst freilich, da er sich gewöhnt, etwa zwanzigtausend Rubel pro Jahr zu verbrauchen, hörte all diese Erkenntnis auf, für sein Leben von verpflichtendem Einfluß zu sein, sie ward vergessen, und er legte sich nicht nur die die Frage vor, woher das Geld kam, daß ihm die Mutter gab, sondern er bemühte sich, nicht darüber nachzudenken. Aber der Mutter Tod, die Erbschaft, und die Notwendigkeit, sein Besitztum, das heißt das Land, zu verwalten, regten die Frage nach seinem Verhalten gegen den Grundbesitz von neuem an.

Vor einem Monat würde Nechljudow sich gesagt haben, daß er nicht imstande sei, die bestehende Ordnung zu ändern, daß nicht er die Güter verwalte; und mehr oder weniger würde er sich beruhigt haben, da er fern von dem Landgut lebte und das Geld von ihm bezog. Jetzt aber beschloß er, obgleich ihm die Reise nach Sibirien und der komplizierte und schwierige Verkehr mit der Welt der Gefängnisse bevorstand, für die Geld nötig war, die Sache dennoch nicht in ihrest früheren Verfassung zu lassen, sondern sie zu seinem Nachteil zu ändern. Er entschied sich daher, das Land nicht mehr selber zu bebauen, sondern es zu nicht hohen Preisen an die Bauern zu verpachten, und ihnen damit die Möglichkeit zu verschaffen, von den Grundbesitzern überhaupt unahhängig zu sein. Oftmals, wenn er zwischen der Lage des Grundbesitzers und des Besitzers von Leibeigenen eine Parallele zog, verglich er die Verpachtung des Bodens an die Bauern, anstatt der Bebauung des Bodens durch Arbeiter mit dem, was die Sklavenbesitzer thaten, wenn sie die Bauern vom Frohndienst in den Obrok27 versetzten. Es war keine Lösung der Frage, aber es war ein Schritt zu ihrer Lösung: ein Uebergang war es von einer gröberen zu einer weniget groben Form der Gewaltthätigkeit. Und so war er auch gesonnen zu handeln.

Nechljudow kam gegen Mittag nach Kusjminskoje gefahren. Da er sein Leben in allem vereinfachen wollte, so telegraphierte er nicht, sondern mietete auf der Station einen kleinen Tatantatz mit zwei Pferden. Den Fuhrmann war ein junger Bursch in einem Nankingkaftan, der unterhalb der langen Taille über dem gefältelten Ansatz gegürtet war. Er saß nach Fuhrmannsart seitwärts auf dem Kutchbock und sprach um so lieber mit dem Herrn, als dabei, während sie sprachen, das steifbeinige, hinkende, weiße Gabelpferd und das magere herzschlächtige Seitenpferd im Schritt gehen konnten, wozu sie immer sehr viel Lust hatten. Der Fuhrmann erzählte von dem Verwalter in Kusjminskoje, ohne zu wissen, daß er den Besitzer desselben fuhr. Nechljudow sagte es ihm absichtlich nicht.

»’n schneidiger Deutscher,« sprach der Fuhrmann, der in der Stadt gelebt und Romane gelesen hatte. Er saß halb zum Passagier gewendet, indes er den langen Peitschenstiel bald unten bald oben faßte und augenscheinlich mit seiner Bildung prunkte. »Ein Dreigespann hat er angeschafft, lauter isabellfarbige; fährt er mit seiner Frau aus, so — ‘was sagst von mir?!’« fuhr er fort. »Im Winter, zu Weihnachten, war ein Christbaum im großen Hause, ich habe ebenfalls Gäste hingefahren; er war mit ekletrischem Funken. In der Gouvernementsstadt kriegst Du keinen solchen zu sehen. Viel Geld hat er zusammengeplündert, furchtbar. Der hat’s gut, die ganze Macht hat der. Sie sagen, er hat sich ’n ordentliches Gut gekauft.«

Nechljudow hatte gedacht, er sei ganz gleichmütig, dem gegenüher, wie der Deutsche sein Gut verwalte und es ausnütze. Aber die Erzählung des Fuhrmanns mit der langen Taille war ihm unangenehm. Er freute sich des schönen Tages, der dichten, dunkler werdenden, manchmal die Sonne verdeckenden Wolken, der Sommerkorn-Felder, auf welchen überall die Bauern hinter dem Pfluge gingen und Hafersaat umpflügten, und der sich dicht begrünenden Wintersaaten, über welchen die Lerchen emporstiegen, der Wälder, die schon, mit Ausnahme der Wintereiche, mit frischem Laub bedeckt waren, der Wiesen, auf denen die Herden und Pferde schimmerten, der Felder, auf denen die Pflüger zu sehen waren, — und von Zeit zu Zeit fiel ihm ein, daß etwas Unangenehmes da sei, und wenn er sich dann fragte; was? so kam ihm die Erzählung des Fuhrmanns in den Sinn, wie der Deutsche in Kusjminskoje schaltet und waltet.

Als Nechljudow nach Kusjminskoje kam und sich an die Geschäfte machte, vergaß er dieses Gefühl.

Das Durchsehen der Kontorbücher und das Gespräch mit dem Arbeitsaufseher, der ihm mit Naivetät vor die Augen führte, wie vorteilhaft die Landarmut der Bauern und ferner der Umstand sei, daß sie ganz von dem herrschaftlichen Boden umgeben seien, bestärkten den Nechljudow noch mehr in seiner Absicht, die Bewirtschaftung aufzugeben und das ganze Land den Bauern zu überlassen. Aus den Kontorbüchern und der Unterredung mit dem Arbeitsaufseher erfuhr er, daß — wie früher auch — zwei Drittel des besten Ackerlandes von den eigenen Arbeitern mit vervollkommneten Gerätschaften bebaut wurden; das übrige Drittel wurde von den Bauern für fünf Rubel per Dessjatine bebaut, das heißt, für fünf Rubel war der Bauer verpflichtet, eine Dessjatine zweimal zu pflügen, dreimal zu eggen und zu besäen, dann abzumähen, und zu binden, oder mit der Sichel zu schneiden, und auf die Dreschtenne zu fahren, das heißt, Arbeiten zu verrichten, die bei freier billiger Entlohnung wenigstens zehn Rubel per Dessjatine kosten. Dagegen mußten die Bauern für alles, was sie von der Verwaltung nögig hatten, die teuersten Preise in Form von Arbeit bezahlen. Sie arbeiteten für das Heu von der Wiese, für das Holz aus dem Wald, für’s Kartoffelkraut, und fast alle waren dem Kontor verschuldet. Für die hinter den Feldern gelegenen Landstücke, die den Bauern verpachtet wurden, nahm man per Dessjatine viermal mehr, als der Wert des Stückes, berechnet zu fünf Prozent, einbringen konnte.

All das wußte Nechljudow auch früher schon, aber jetzt erfuhr er es wie etwas Neues und wunderte sich nur darüber, wie er, und wie alle Leute, die sich in seiner Lage befinden, die ganze Abnormität solcher Verhältnisse nicht hatten einsehen können. Die Vorstellungen des Verwalters, wie das ganze Inventar bei der Uebergabe des Bodens an die Bauern für so gut wie garnichts verloren gehen werde, weil man es nicht einmal für ein Viertel dessen, was es kostet, verkaufen könne, wie die Bauern das Land verderben, wieviel überhaupt Nechljudow bei solches Uebergabe verlieren werde, — all dies destätigte nur dem Nechljudow, daß er eine gute That vollbringe, indem er den Bauern das Land abgebe und sich den größten Teil seiner Einkünfte entziehe.

Er beschloß, es sogleich, während dieses Besuches, zu Ende zu führen. Das Getreide ernten und verkaufen, das Inventar und die nicht nötigen Bauten verkaufen, — all das mußte der Verwalter erst nach seiner Abreise thun. Jetzt aber bat er den Verwalter, am andern Tage eine Bauernversammlung der drei Dörfer, die von dem Lande von Kusjminskoje umgeben waren, einzuberufen, um ihnen seine Absicht kund zu geben und den Preis für das abzutretende Land zu verabreden.

Im angenehmen Bewußtsein seiner Standhaftigkeit gegen die Vorstellungen des Verwalters und seiner Opferbereitschaft für die Bauern ging Nechljudow aus dem Kontor und, die ihm bevorstehende Sache überlegend, ums Haus herum, durch die Blumengärten, die dieses Jahr vernachlässigt waren, — (der Blumengarten wurde dem Hause des Verwalters gegenüber angelegt) — über den mit Wegwarte verunkrauteten lawn-tennis und durch die Lindenallee, wo er gewöhnlich seine Cigarette rauchen ging, und wo vor drei Jahren die hübsche Kirimowa, als sie hier zu Gast war, mit ihm kokettiert hatte. Nachdem er die Rede, die er morgen den Bauern halten wollte, kurz überdacht, ging Nechljudow zum Verwalter, und als er mit ihm beim Thee noch einmal die Frage überlegt, wie die ganze Wirtschaft zu liquidieren sei, trat er in dieser Beziehung vollkommen beruhigt in das für ihn bereitete Zimmer im großen Hause, das immer zum Empfang der Gäste diente.

In diesem kleinen sauberen Zimmer mit venetianischen Ansichten und mit einem Spiegel zwischen zwei Fenstern war ein sauberes Springfederbett aufgestellt, dann ein Tischchen mit einer Karaffe Wasser, Zündhölzchen und einem Lichtlöscher. Auf dem großen Tisch beim Spiegel lag sein geöffneter Koffer, in welchem sein Toilettenecessaire und die mitgenommenen Bücher — ein russisches — eine Untersuchung über die Gesetze des Verbrechertums — ein deutsches über dasselbe Thema, und ein englisches sichtbar waren. Er wollte sie in freien Minuten, während seiner Reise durch die Dörfer lesen, aber heute hatte er dazu keine Zeit und war im Begriff, zu Bette zu gehen, um sich morgens etwas früher auf die Unterredung mit den Bauern vorzubereiten.

In dem Zimmer, in einer Ecke, stand ein altertümlicher Lehnstuhl aus Mahagoni mit Inkrustationen, und der Anblick dieses Lehnstuhls, dessen er sich aus dem Schlafzimmer der Mutter erinnerte, erweckte in der Seele Nechljudows plötzlich ein ganz unerwartetes Gefühl. Es ward ihm plötzlich leid um das Haus, das in Verfall geraten, um den Garten, der verwildern sollte, um die Wälder, die man abholzen würde, um all diese Viehhöfe, Pferdeställe, Gerätschaftsräume, Maschinen, Pferde, Kühe, die, — wenn auch nicht von ihm, — doch , er wußte das, mit soviel Mühe angeschafft und erhalten worden. Früher war es ihm leicht erschienen, auf all das zu verzichten, aber jetzt war es ihm leid, nicht nur um dies, sondern auch um das Land, und um die Hälfte der Einkünfte, die ihm jetzt so nötig werden konnten. Und sogleich erschienen, voll Dienstfertigkeit, allerlei Ueberlegungen, aus denen sich ergab, das es unvernünftig sei, das Land den Bauern zu übergeben und seine Wirtschaft zu vernichten, und daß man dies nicht thun solle.

‘Ich darf kein Land besitzen, wenn ich aber kein Land besitze, so kann ich diese ganze Wirtschaft nicht unterhalten. Außerdem fahre ich jetzt nach Sibirien, und daher brauche ich weder das Haus, nach das Gut,’ sprach eine Stimme. ‘Alles das ist richtig,’ sprach eine andere Stimme, ‘aber erstens wirst du nicht dein ganzes Leben in Sibirien verbringen. Wenn du dich aber verheiratest, kannst du Kinder haben. Und so wie du die Wirtschaft in Ordnung bekommen hast, so mußt du sie auch weitergeben. Es giebt Pflichten gegen den Boden. Abgeben, alles vernichten ist sehr leicht, aber alles einrichten — das ist sehr schwer. Die Hauptsache aber ist, du mußt über dein Leben nachdenken und entscheiden, was du mit dir machen willst, und dementsprechend mußt du über dein Eigentum verfügen. Und ist dieser Entschluß in dir fest? Dann — ob du wahrhaft nach deinem Gewissen so handelst, wie du handelst, oder ob du es der Leute wegen thust, um vor ihnen zu prahlen?’ fragte sich Nechljudow, und er konnte nicht umhin, zu gestehen, daß es von Einfluß auf seine Entscheidung war, was die Leute von ihm sprechen würden. Und je mehr er nachdachte, desto mehr und mehr Fragen erhoben sich, und desto unlösbarer wurden sie. Um diese Gedanken los zu werden, legte er sich in das saubere Bett und wollte einschlafen, um morgen mit frischem Kopfe die Fragen zu entscheiden, in denen er sich heute verwickelte. Aber er konnte lange nicht einschlafen; durch die offenen Fenster strömte mit der frischen Luft und dem Mondschein zusammen das Quaken der Frösche herein, übertönt von dem Schlagen und Flöten der Nachtigallen, der entfernten im Park, und einer nahen vor dem Fenster, in dem aufblühenden Syringenstrauch. Auf die Nachtigallen und Frösche horchend, gedachte Nechljudow der Musik der Inspektorstochter; als er an den Inspektor dachte, kam ihm die Maslowa in den Sinn, deren Lippen ebenso bebten, wie das Quaken der Frösche, als sie sprach; »Geben Sie das ganz auf.« Dann fing der Deutsche, der Verwalter, an, zu den Fröschen hinunterzusteigen. Man mußte ihn aufhalten, aber er war nicht nur hinabgeklettert, er hatte sich auch in die Maslowa verwandelt und fing an, ihm vorzuwerfen: »Ich bin eine Zwangsarbeiterin, Sie aber sind ein Fürst.« ‘Nein, ich will nicht nachgeben,’ dachte Nechljudow, und er kam zu sich und fragte sich: ‘Wie ist es denn? Thue ich gut oder schlecht? Ich weiß es nicht, und es ist für mich einerlei. Es ist einerlei. Man muß nur schlafen.’ Und dann fing er selber an, dort hilunter zu steigen, wohin der Verwalter gekrochen und die Maslowa, und dort war alles zu Ende.

2

Am anderen Tage erwachte Nechljudow um neun Uhr früh. Sobald der junge Schreiber, der den Herrn bediente, hörte, daß er sich bewege, brachte er ihm die Halbstiefel, so glänzend, wie sie nie gewesen, und das klarste kalte Quellwasser und meldete, daß die Bauern sich versammelten. Sich besinnend sprang Nechljudow aus dem Bette. Von den gestrigen Gefühlen den Bedauerns, daß er das Land weggebe und die Wirtschaft vernichte, war keine Spur vorhanden. Mit Verwunderung erinnerte er sich jetzt derselben. Jetzt freute er sich über den Akt, der ihm bevorstand, und war unwillkürlich stolz auf ihn. Aus dem Fenster seines Zimmers konnte er den mit Wegwarte überwachsenen lawn-tennis-Platz sehen, wo sich die Bauern, der Anweisung des Verwalters folgend, versammelten.

Nicht umsonst hatten abends die Frösche gequakt: das Wetter war trübe. Seit dem frühen Morgen fiel ein stiller, warmer Regen, ohne Wind, der in Tröpfchen auf den Blättern, den Aesten, dem Grase hing. Außer dem Duft des Grüns kam ins Fenster noch der Geruch der um Regen bittenden Erde. Nechljudow guckte einige Male aus dem Fenster, wahrend er sich ankleidete, und sah, wie die Bauern sich auf dem kleinen Platz sammelten. Einer nach dem andem kamen sie heran, nahmen vor einander die Mützen und Kappen ab und stellten sich in einem Kreise auf, sich auf die Stöcke stützend. Der Verwalter, ein praller, muskulöser, starker junger Mann in kurzer Jacke mit grünem Stehkragen und ungeheuer großen Knöpfen, kam, um dem Nechljudow zu sagen, daß alle versammelt seien; aber sie könnten warten, — Nechljuddw solle zuerst Kaffee aber Thee trinken; eines wie das andere sei bereit.

»Nein, ich will lieber gleich zu ihnen gehen,« sagte Nechljudow, indem er, sich selber ganz unerwartet, ein Gefühl der Bangigkeit und der Scham empfand bei dem Gedanken an die bevorstehende Unterredung mit den Bauern.

Er ging, den Bauern den Wunsch zu erfüllen, an dessen Erfüllung sie nicht einmal zu denken wagten, — er ging, ihnen zu billigem Preise das Land abzugeben, das heißt, ihnen eine Wohlthat zu erweisen, und dennoch schämte er sich vor etwas. Als sich Nechljudow den versammelten Bauern näherte, und die blonden, krausen, kahlen, grauen Köpfe sich entblößten, wurde er so befangen, daß er lange nichts sagen konnte. Der leichte Regen fiel weiter in kleinen Tröpfchen und blieb in den Haaren, den Bärten und an dem Haar der Kaftane der Bauern hängen. Die Bauem blickten den Herrn an und warteten, was er ihnen sagen wolle. Er aber war so verwirrt, daß er ihnen nichts sagen konnte. Das befangene Schweigen unterbrach der ruhige, selbstbewußte Deutsche, der Verwalter, der sich für einen Kenner des russischen Bauern hielt, und ausgezeichnet korrekt russisch sprach. Dieser starke, überernährte Mann, ebenso wie Nechljudow selbst — bildete einen frappanten Gegensatz zu den hageren runzligen Gesichtern und den unter den Kaftanen hervorstehenden mageren Schulterblättern der Bauern.

»Hier der Fürst will euch Gutes thun, — das Land abgeben, — ihr seid’s nur gar nicht wert,« sagte der Verwalter.

»Wieso nicht wert, Wassilij Karlytsch? Haben wir denn nicht für dich gearbeitet? Wie sind sehr zufrieden mit der seligen Herrin, Gott schenke ihr die ewige Seligkeit, und der junge Fürst verläßt uns nicht, dank ihm,« begann ein rötlich-blonder Bauer, ein Schönredner.

»Eben deswegen hab’ ich euch ja hergerufen, weil ich euch, wenn ihr wollt, das ganze Land abgehen will,« brachte Nechljudow hervor.

Die Bauern schwiegen, als ob sie es nicht verstünden oder nicht glaubten.

»In welchem Sinne also — das Land abgeben?« sagte ein Bauer von mittlerem Alter im Kaftan.

»An euch verpachten, damit ihr es zu einem nicht hohen Preise benutzt.«

»Die allerbeste Sache,« sagte ein Alter.

»Wäre nur die Zahlung nach unseren Kräften,« sagte ein anderer.

»Warum sollten wir das Land nicht nehmen? Es ist ja unsere gewohnte Beschäftigung. Vom Lande ernähren wir uns.«

»Für Sie ist es ja auch bequemer; thust nur das Geld in Empfang nehmen; sonst aber — wieviel Hader!« ließen sich Stimmen hören.

»Der Hader kommt von euch,« sagte der Deutsche, »und wenn ihr arbeitetet und Ordnung hieltet — —«

»Es ist unmöglich für unsereins, Wassilij Karlytsch,« begann ein spitznäsiger, magerer Alter, »du sagst: ‘warum hast du ein Pferd ins Korn laufen lassen?’ Aber wer hat es hineinlaufen lassen? Ich habe mich den ausgeschlagenen Tag, — der Tag ist aber so lang wie ein Jahr, mit der Sense satt geschwungen, ober so was, — dann, nächtens, beim Pferdehüten bin ich eingeschlafen; das Pferd ist nun bei dir in den Hafer hinein, du aber schindest mich dafür.«

»Ihr solltet eben Ordnung halten.«

»Du hast leicht sagen: ‘Ordnung,’ unsere Kraft reicht nicht aus,« erwiderte ein hochgewachsener, schwarzhaariger, ganz mit Haaren bedeckter, nicht alter Bauer.

»Ich hab euch ja gesagt, ihr solltet es einzäunen.«

»Gieb du uns aber zuerst Holz dazu!« fiel von hinten ein kleiner, unansehnlicher Bauer ein. »Ich wollte es den vorigen Sommer einzännen, du aber hast mich für drei Monate ins Gefängnis gesteckt, die Läuse zu füttern. So habe ich es eingezäunt.«

»Was sagt er denn da?« fragte Nechljudow den Verwalter.

»Der erste Dieb im Dorf,« sagte der Verwalter auf deutsch, »noch jedes Jahr ist er im Wald abgefaßt worden.«

»Lerne du erst fremdes Eigentum achten,« sagte der Verwalter.

»Achten wir denn dich nicht?« sagte der Alte. »Uns ist es unmöglich, dich nicht zu achten, weil wir in deinen Händen sind, du drehst Stricke aus uns.«

»Nun, Bruder, man benachteiligt euch nicht so leicht, — wenn nur ihr einen nicht benachteiligt.«

»Ja wohl, dich benachteiligen! Du hast mir vorigen Sommer die Schnauze zerschlagen, — dabei ist es geblieben. Mit dem Reichen streite nicht, scheint es.«

»Du thu aber nach dem Gesetz.«

Es ging, augenscheinlich, ein Wortturnier an, in welchem die Beteiligten nicht ordentlich verstanden, was und wozu sie sprachen. Man spürte nur auf der einen Seite die durch Furcht zurückgehaltene Erbitterung, auf der anderen — das Bewußtsein der Ueberlegenheit und Macht. Dem Nechljudow war es peinlich und er gab sich Mühe, zur Sache zurückzukehren: die Preise und Fristen zu fixieren.

»Wie ist es denn also in Bezug auf das Land? Wollt ihr es? Und welchen Preis werdet ihr bestimmen, wenn man euch das ganze Land abgiebt?«

»Die Ware gehört Ihnen, bestimmen Sie auch den Preis.«

Nechljudow bestimmte den Preis. Wie immer, trotzdem der von Nechljudow bestimmte Preis viel niedrigee war, als der, den man in der Umgebung zahlte, — begannen die Bauern zu feilschen und fanden den Preis zu hoch. Nechljudow erwartete, daß sein Vorschlag mit Freuden empfangen werde, aber man bemerkte gar keine Aeußerungen des Vergnügens. Daß sein Vorschlag ihnen vorteilhaft sei, konnte Nechljudow nur daraus schließen, daß, als man die Rede darauf brachte, wer das Land nehmen solle, ob die ganze Gemeinde, oder eine Genossenschaft, bittere Streitigkeiten zwischen den Bauern begannen, Streitigkeiten zwischen denen, welche die Bauern von geringerer Kraft und schlechte Zahler von der Teilnahme an dem Lande ausschließen wollten, und denen, die man ausschließen wollte. Endlich, dank dem Verwalter, setzte man den Preis und die Zahlungsfristen fest, und die Bauern, geräuschvoll sprechend, begaben sich bergab, zum Dorfe. Nechljudow aber ging mit dem Verwalter ins Kontor, das Projekt des Vertrages abzufassen.

Alles lief so ab, wie es Nechljudow wünschte und erwartete, die Bauern bekamen das Land etwa dreißig Prozent billiger, als es in der Umgebung verpachtet wurde; sein Einkommen verminderte sich fast um die Hälfte, aber es war für Nechljudow mehr als hinreichend, besonders unter Hinzufügung der Summe, die er für den verkauften Wald erhalten und derjenigen, die aus dem Verkauf des Inventars gelöst werden sollte. Alles schien es, war schön; Nechljudow aber machte sich die ganze Zeit ein Gewissen über irgend etwas. Er sah, daß die Bauern, trotzdem einige ihm Dankesworte sagten, unzufrieden waren und etwas Größeres erwartet hatten. Das Ergebnis war also, daß er sich vieles entzogen, für die Bauern aber nicht das gethan, was sie erwartet hatten.

Am andern Tage ward der vorläufige Vertrag unterschrieben, und Nechljudow, begleitet von den gewählten Aeltesten, welche gekommen waren, stieg mit dem unangenehmen Gefühl von etwas nicht zu Ende Geführtem, in die »schneidige,« wie der Fuhrmann von der Station sagte, dreisdännige Kalesche des Verwalters und fuhr nach der Station, nachdem er von den Bauern Abschied genommen, die bedenklich und unzufrieden die Köpfe schüttelten. Die Bauern waren unzufrieden. Nechljudow war mit sich unzufrieden. Worüber er unzufrieden war, wußte er nicht, aber diese ganze Zeit fühlte er sich traurig und schämte sich.

3

Aus Kusjminskoje fuhr Nechljudow auf das von den Tantchen ererbte Gut, auf dasselbe, wo er Katjuscha kennen gelernt hatte. Er wollte auch auf diesem Gut die Sache mit dem Land ebenso einrichten, wie er es in Kusminskoje eingerichtet. Außerdem wollte er alles von der Katjuscha und ihrem und seinem Kinde erfahren, was noch zu erfahren möglich war; ist es war, daß das Kind gestorben? Und wie ist es gestorben? Er kam nach Panowo früh am Moegen gefahren, und das erste, was ihn frappierte, als er in den Hof einfuhr, war der Anblick der Verödung und Baufälligkeit, in welchem sich alle Baulichkeiten befanden, besonders das Haus. Das eiserne, ehemals grüne, seit langem nicht mehr angestrichene Dach rötete sich vom Rost, und einige Platten waren nach oben umgeschlagen, wahrscheinlich vom Sturm; die Bretter, mit denen das Haus bekleidet war, waren von den Leuten stellenweise heruntergerissen worden, die sie da abgerissen hatten, wo die Bretter sich am leichtesten lösten, als sie die rostigen Nägel abdrehten. Die beiden Flure — der vordere, und der besonders ihm erinnerliche hintere — waren verfault und heruntergerissen worden, es blieben nur einige Balken; einige Fenster waren anstatt des Glases mit Brettern vermacht; und das Seitengebäude, in welchem der Arbeitsaufseher wohnte, und die Küche und die Pferdeställe — alles war baufällig und grau. Nur der Garten war nicht nur nicht in Verfall geraten, sondern war breiter geworden und dichter verwachsen, und jetzt war er voll Blüten. Hinter dem Zaun waren, gleichsam wie weiße Wolken, die blühenden Kirchen-, Apfel- und Pflaumenbäume sichtbar. Der Syringenzaun aber blühte ebenso wie zu der Zeit, als Nechljudow, vor vierzehn Jahren, hinter diesen Syringensträuchern mit der fünfzehnjährigen Katjuscha ein Fangspiel gespielt, hingefallen war und sich mit den Brennesseln verbrannt hatte. Ein Lärchenbaum, der neben dem Hause von Sophia Iwanowna eingepflanzt worden und damals von der Höhe eines Zaunpfahls gewesen, war jetzt ein großer Baum, der einen Balken hergegeben hätte, ganz mit gelbgrünen, zart-flaumigen Nadeln bekleidet. Der Fluß war in seinem Bette und rauschte in den Schleusen an der Mühle. Auf der Wiese, hinter dem Fluß, weidete eine bunte gemischte Herde, die den Bauern gehörte. Der Arbeitsaufseher, ein nicht ausstudierter Seminarist, empfing lächelnd den Nechljudow auf dem Hofe, lud ihn, ohne mit dem Lächeln aufzuhören, in das Kantor ein, und ebenso lächelnd, als ob er mit diesem Lächeln etwas Besonderes verspräche, ging er hinter die Scheidewand. Hinter der Scheidewand flüsterte man eine Zeit lang und verstummte dann. Der Fuhrmann fuhr mit klirrenden Schellen vom Hofe weg, nachdem er ein Trinkgeld bekommen hatte, und es wurde vollkommen still. Gleich darauf lief an dem Fenster ein barfüßiges Mädchen in gesticktem Hemd mit Ohrringen aus Daunen vorüber; nach dem Mädchen lief ein Bauer, mit den Nägeln der dicken Stiefel auf den fest gestampften Pfad klopfend, vorbei.

Nechljudow setzte sich an’s Fenster, sah in den Garten und horchte. In das kleine zweiflügelige Fenster zog, leise die Haare auf seiner schweißigen Stirne, und die Notizen bewegend, die auf dem mit dem Messer zerschnittenen Fensterbrett lagen, die frische Frühlingeluft und der Geruch der aufgegrabenen Erde. Auf dem Flusse — tra-pa-tap, tra-pa-tap — klatschten, einander übertönend, die Waschbläuel der Weiber und diese Töne breiteten sich aus über die sichtbare, in der Sonne glänzende Strecke der Flusses, und es ließ sich das gleichmäßige Fallen des Wassers in der Mühle hören; an dem Ohr flog erschrocken und hell summend eine Fliege vorbei.

Und Nechljudow gedachte plötzlich daran, daß er ehemals, schon vor langer Zeit, als er nach jung und unschuldig war, hier auf dem Flusse diese Schläge der Waschbläuel auf die nasse Wäsche gehört, beim gleichmäßigen Geräusch der Mühle ganz ebenso gehört, und daß ebenso der Frühlingswind seine Haare auf der nassen Stirn und die Papierbögen auf dem mit dem Messer zerschnittenen Fensterbrett bewegt hatte, und daß ebenso eine Fliege erschrocken an seinem Ohr vorbeigeflogen; und er stellte sich nicht etwa sich selber vor als der achtzehnjärige Knabe, der er damals gewesen, sondern er fühlte sich wieder gradezu als derselbe, mit derselben Frische, Reinheit und der Zukunft voll der größten Möglichkeiten, und zugleich, wie es im Traume zu sein pflegt, wußte er, daß all das schon nicht mehr da sei, und ihm ward fürchterlich wehmütig.

»Wann befehlen Sie zu speisen?« fragte der Arbeitsaufseher lächelnd.

»Wann Sie wollen — ich bin nicht hungrig. Ich will mich im Dorfe ergehen.«

»Sonst aber, wäre es Ihnen nicht vielleicht gefällig in’s Haus zu gehen? Innen ist bei mir alles in Ordnung. Belieben Sie zu besehen; wenn auch die Aeußerlichkeit…«

»Nein, nachher; jetzt aber sagen Sie, bitte, giebt es hier bei Ihnen eine Frau, Matrjona Charina?« (Das war die Tante der Katjuscha.)

»Gewiß, auf dem Dorfe, — auf keine Weise kann ich mit ihr fertig werden. Eine Branntweinschenke hält sie. Ich weiß es und überführe sie und schelte, aber um ein Protokoll aufzunehmen dauert sie mich, — — eine Alte, — — hat Enkel bei sich,« sagte der Arbeitsaufseher, immer noch mit demselben Lächeln, das sowohl den Wunsch dem Herrn angenehm zu sein ausdrückte, als auch die Ueberzeugung, daß Nechljudow ebenso wie er allerlei begreife.

»Wo wohnt sie? Ich möchte zu ihr gehen.«

»Am Ende des Dorfes, auf jener Seite — daß dritte vorletzte Hüttchen. Linker Hand werden Sie an ein Ziegelhaus kommen, dort aber, hinter dem Ziegelhaus ist auch ihre Kathe. Aber ich begleite Sie lieber,« sprach der Arbeitsaufseher freudig lächelnd.

»Nein, ich danke Ihnen, ich werde sie schon finden; und Sie, ordnen Sie, bitte, an, daß man den Bauern bekannt macht, sich zu versammeln; ich muß mit ihnen über das Land sprechen,« sagte Nechljudow, weil er gedachte, hier, wenn es möglich sei, noch heute abend die Sache mit den Bauern zu Ende zu führen und auf dieselbe Weise wie in Kusminskoje.

4

Als Nechljudow zum Thor hinaustrat, begegnete er auf dem fest gestampften Fußpfad, auf dem mit Wegerich und Porst bewachsenen Weideplatz, dem flink ihre dicken nackten Beine rührenden Bauernmädchen, mit der bunten Schürze und den Daunen in den Ohren. Sie kehrte schon zurück und schwenkte rasch ihren linken Arm, quer zu ihrer Gangrichtung, mit dem rechten Arm aber drückte sie einen roten Hahn sich fest an den Leib. Den Hahn mit seinem hin und her schaukelnden roten Kamm schien vollkommen ruhig zu sein, verdrehte nur die Augen und streckte bald, bald hob er einen schwarzen Fuß, indem er sich mit den Krallen an der Schürze des Mädchens anhakte. Als das Mädchen sich dem Herrn zu nähern begann, mäßigte sie zuerst ihren Gang und ging vom Lauf zum Schritt über; als sie aber neben ihm war, blieb sie stehen, und den Kopf erst zurückwerfend, verbeugte sie sich vor ihm, und ging erst, als er schon vorbei war, mit dem Hahn weiter. Als er zum Brunnen hinabstieg, traf Nechljudow noch eine Alte in einem schmutzigen, groben Hemd, die auf dem gebückten Rücken die Tracht mit den schweren vollen Eimern trug. Die Alte stellte vorsichtig die Eimer hin, und genau ebenso unter Zurückwerfung des Kopfes verneigte sie sich vor ihm.

Hinter dem Brunnen begann das Dorf. Es mar ein klarer heißer Tag, und um zehn Uhr war er schon schwül, die sich sammelnden Wolken verdeckten hie und da die Sonne. Ueber der ganzen Straße lag der scharfe, ätzende und nicht unangenehme Mistgerueh, der sowohl von den auf dem glänzend glatt gerollten Wege bergauf ziehenden Wagen herkam, wie hauptsächlich aus dem aufgegrabenen Mist auf den Höfen, an deren geöffneten Thoren Nechljudow vorbeiging. Die hinter den beladenen Wagen bergauf gehenden barfüßigen Bauern in den mit Mistjauche beschmierten Hosen und Hemden blickten sich nach dem hochgemachsenen dicken Herrn um, der in einem grauen Hut mit seinem in der Sonne glänzenden Seidenband durch das Dorf hinaufging und bei jedem zweiten Schritt mit dem polierten, gegliederten Stock mit dem glänzden Knopf den Boden berührte. Die im Trab vom Felde zurückfahrenden Bauern, hin und her gerüttelt auf den Böcken der leeren Wagen, nahmen vor Nechljudow die Mützen ab und folgten voll Erstaunen mit den Augen dem ungewöhnlichen Mann, der auf ihrer Straße ging. Die Weiber kamen vor die Thore und auf die Treppen und zeigten ihn einander, indem sie ihn mit den Augen begleiteten.

Bei dem vierten Thor, an dem Nechljudow vorbeiging, hielten ihn die knarrend aus dem Hofe herausfahrenden Wagen auf, auf die glatt geklatschter Mist, mit einem darauf gelegten Bastdeckchen zum Sitzen, hoch aufgeladen war. Ein sechsjähriger Knabe, in Erwartung der Spazierfahrt aufgeregt, ging hinter dem Fuder. Ein junger Bauer in Bastschuhen trieb breit schreitend das Pferd auf die Straße. Ein langbeiniges falbes Fohlen sprang aus dem Thor heraus, aber vor dem Nechljudow erschrocken, drückte er sich an den Wagen, und sich die Beine an den Rädern stoßend, sprang es eilig seiner Mutter voran, die aus dem Thor einen schweren Wagen herausfuhr und ein wenig beunruhigt aufwieherte. Das folgende Pferd führte ein hagerer, munterer Alter heraus, ebenso barfuß, in gestreiften Hosen und langem schmutzigem Hemd, mit den auf dem Rücken hervorstehenden mageren Hüftknochen.

Als die Pferde sich auf den glatt gerollten Weg, der mit grauen, gleichsam verbrannten Mistbüscheln bestreut war, hinausgearbeitet hatten, kehrte der Alte zum Thore zurück und verbeugte sich vor dem Nechljudow.

»Das Neffchen von unserem Fräulein sollst du sein?«

»Ja, ja.«

»Glück zur Ankunft; wie ist es denn, bist du gekommen, um dich nach uns umzusehen,« fing redselig der Alte an.

»Ja, ja — Wie ist’s, wie lebt ihr?« machte Nechljudow, da er nicht wußte, was er sagen solle.

»Was für ein Leben ist unser Leben! Das schlechteste Leben ist das unsrige,« dehnte singend, gleichsam mit Vergnügen, der redselige Alte seine Worte.

»Warum schlecht?« sagte Nechljudow, unter das Thor tretend.

»Aber war ist daß für ein Leben? Das schlechteste Leben,« sagte der Alte, während er dem Nechljudow auf den bin zur Erde vom Mist befreiten Teil unter dem Schutzdach folgte.

Nechljudow trat mit ihm unter den Schuppen.

»Ich habe — da sind sie — zwölf Seelen,« fuhr der Alte fort, indem er auf zwei aufgeschürzte, schwitzende Frauen zeigte mit auf die Seite geschobenen Kopftüchern, mit nackten bis zur Hälfte mit Mistgülle beschmutzten Waden, die mit Gabeln in den Händen auf einer Stufe des nach nicht weggeräumten Mistes standen.

»Jeden Monat mußt du sechs Pud Brod kaufen, aber woher soll man sie nehmen?«

»Reicht denn das eigene nicht aus?«

»Das eigene?!« sagte der Alte mit verächtlichem Lächeln. »Ich habe Boden für drei Seelen, diesmal haben wir aber im Ganzen nur acht Haufen Getreide geerntet, nicht mal bis zu Weihnachten hat es gelangt.«

»Also wie macht ihr’s denn?«

»Nun so, wie’s kommt; da habe ich einen als Knecht weggethan, und bei Euer Gnaden etwas Geld geborgt. Noch vor dem Fasten haben wie schon alles vorausgenommen, die Steuern aber haben wie noch nicht bezahlt.«

»Und wieviel machen die Steuern aus?«

»Nun, von meinem Hof etwa siebzehn Rubel in vier Monaten. Och, Gott behüte! So ein Leben! Du weißt selber nicht, wie du dich durchschlägst.«

»Und kann man zu euch in die Stube gehen?« sagte Nechljudow, indem er sich über den kleinen Hof vorwärts bewegte und von dem gesäuberten Platz auf die nach nicht weggeräumten und mit den Gabeln zerwühlten, safran-gelben, stark riechenden Mistschichten trat.

»Warum denn nicht, komm nur herein,« sagte der Alte.

Er überhalte den Nechljudow mit raschen Füßen, wobei sich zwischen den nackten Zehen die Gülle herausdrückte und öffnete ihm die Thür in die Stube.

Die Weiber schoben die Tücher auf den Köpfen zurecht, ließen die Panewas herunter und sahen mit neugierigem Erschrecken auf den sauberen Herrn mit den goldenen Schlitzen an den Aermeln, der in ihr Haus eintrat.

Aus der Hütte sprangen zwei Mädchen in Hemdchen heraus. Sich niederbeugend und den Hut abnehmend, trat Nechljudow in den Flur und die nach sauer gewordener Speise riechende, schmutzige, enge, von zwei Webstühlen eingenommene Stube. In der Stube am Ofen stand eine Alte mit aufgestreiften Aermeln auf den mageren, stakk geäderten, sonnenverbrannten Armen.

»Hier ist unser Herr, er ist zu uus zu Gast gekommen,« sagte der Alte.

»Auch gut, sei willkommen,« sagte die Alte freundlich, indem sie die aufgestreiften Aermel herunterkrempelte.

»Ich wollte sehen, wie ihr lebt,« sagte Nechljudow.

»Nun, wie leben so, wie du siehst. Die Hütte will einfallen, sieh nur zu, daß sie einen nicht totschlägt. Der Alte sagt aber, diese ist auch gut. Nun, so leben wir, — wie die Fürsten,« sprach die flinke Alte, nervös mit dem Kopf zuckend. »Jetzt gleich setz’ ich das Mittagessen auf den Tisch. Muß unser arbeitendes Völkchen satt machen.«

»Und was eßt ihr zu Mittag?«

»Was wir zu Mittag essen? Unsere Ernährung ist gut. Der erste Gang ist Brot mit Kwas, und der zweite — Kwas mit Brot,« sagte die Alte, indem sie ihre halb abgenützten Zähne zeigte.

»Nein, ohne Scherz, zeigt mir, was ihr heute speisen werdet.«

»Speisen?« sagte der Alte lächelnd. »Unsere Speisung ist nicht besonders hinterlistig. Zeig’ sie ihm, Alte.«

Die Alte schüttelte den Kopf.

»Du hast Lust gekriegt, unser bäuerliches Essen zu sehen. Bist ’en Spiriguckes-Herr, wie ich’s ansehe. Alles muß er wissen. Ich habe dir gesagt — Brot mit Kwas, und dann noch Schtschi, die Weiber haben Gaisfußkraut mitgebracht — und nun haben wie Schtichi; nachher aber — Kartoffeln.«

»Und nichts mehr?«

»Was brauchst du noch? Mit Milch werden wir es weiß machen,« sagte die Alte, während sie schmunzelnd auf die Thür sah.

Die Thür war offen, und der Flur war voll von Leuten: Kinder, Mädchen, Frauen mit Säuglingen drückten sich in der Thür, den wunderlichen Herrn anblickend, der das Essen der Bauern besehen wollte. Die Alte war augenscheinlich stolz auf ihre Geschicklichkeit, mit dem Herrn umzugehen.

»Ja, schlecht, schlecht ist unser Leben, Herr, was soll man sagen,« sagte der Alte. »Wohin stakt ihr?« schrie der Alte auf die in der Thür Stehenden ein.

»Nun lebt wohl,« sagte Nechljudow da er Befangenheit und Scham fühlte, über deren Ursache er sich keine Rechenschaft gab.

»Wir danken ergebenst, daß du dich nach uns umgesehen hast,« sagte der Alte.

Im Flur ließen ihn die Leute, sich an einander drückend, durch, und er ging auf die ansteigende Straße hinaus und weiter aufwärts. Gleich hinter ihm kamen aus dem Flur zwei Knaben heraus, barfuß: der eine, etwas ältete in einem schmutzigen, weiß gewesenen Hemd, und der andere in einem abgenutzten, verschossenen rosaroten.

Nechljudow blickte sich nach ihnen um.

»Und wohin willst du jetzt gehen?« sagte der Knabe im weißen Hemd.

»Zu Matrjona Charina,« sagte Nechljudow. »Kennt ihr sie?«

Der kleine Knabe im Rosahemd lachte über etwas, der ältere aber fragte ihn ernsthaft noch einmal:

»Welche Matrjona? Ist sie alt?«

»Ja, alt.«

»O—o,« zog er. »Das ist Semjonicha, — am Ende des Dorfes. Wie wollen mit dir gehen. Komm, Fedjka, wir gehen mit ihm.«

»Aber die Pferde?«

»‘s giebt wohl nichts!«

Fedjka willigte ein, und sie gingen zu dritt durch das Dorf hinauf.

5

Dem Nechljudow war es behaglicher mit den Knaben, als mit den Großen, und er kam unterwegs mit ihnen ins Gespräch. Der Kleine im rosaroten Hemd hörte zu lachen auf und sprach ebenso klug und umständlich, wie der ältere.

»Nun, wer ist bei euch am ärmsten?« fragte Nechljudow.

»Wer der ärmste ist? Michajla ist arm, Semjon Makarow, auch Marfa ist sehr arm.«

»Aber Anissia, die ist nach ärmer. Anissia hat nicht mal eine Kuh — sie betteln,« sagte der kleine Fedja.

»Sie hat keine Kuh, aber dafür sind sie auch nur drei, Marfa aber ist selber die fünfte im Haus,« erwiderte der Aeltere.

»Dennoch, jene ist eine Witwe,« verteidigte der rosarote Knabe die Anissia.

»Du sagst, Anissia ist eine Witwe, und Marfa ist so gut wie eine Witwe,« fuhr der ältere Knabe fort. »ist einerlei — der Mann ist nicht da.«

»Wo ist denn der Mann?« fragte Nechljudow.

»Im Gefängnis füttert er die Läuse,« sagte der ältere Knabe, den gewöhnlichen Ausdruck gebrauchend.

»Vorigen Sommer hat er zwei Birkenbäumchen im herrschaftlichen Wald abgeschnitten, da hat man ihn eingesteckt,« beeilte sich der kleine Rosarote zu sagen? »Den sechsten Monat sitzt er schon, sein Weib aber bettelt, drei Kinder und eine gebrechliche Alte,« berichtete er ausführlich.

»Wo wohnt sie?« fragte Nechljudow.

»Hier, dieser selbe Hof!« sagte der Knabe, indem er auf das Haus zeigte, dem gegenüber auf der Straße, auf demselben Fußpfad, den Nechljudow ging, ein winzig kleiner, weißköpfiger Knabe wackelnd stand; er hielt sich mit Mühe auf den krummen, in den Knieen auswärts gebogenen Beinen.

»Wassjka, wohin bist du gelaufen, Galgenstrick!« schrie das aus der Hütte herbeieilende Weib im schmutzigen, grauen, wie mit Asche überschütteten Hemd, und mit erschrockenem Gesicht stürzte sie auf den Nechljudow zu, packte den Kleinen und trug ihn in die Stube.

Sie fürchtete gleichsam, daß Nechljudow ihrem Kinde etwas anthun möchte. Es war dieselbe Frau, deren Mann wegen der Birkenbäumchen aus Nechljudows Wald im Gefängnis saß.

»Nun, und die Matrjona, ist die arm?« fragte Nechljudow, als sie sich schon dem Hüttchen der Matrjona nahten.

»Die und arm sein! — Sie handelt mit Branntwein,« antwortete entschieden das rosarote, magere Bübchen.

Als er Matrjonas Hüttchen erreichte, entließ Nechljudow die Knaben, trat in den Flur und dann in die Stube. Die Kathe der Alten, Matrjona, war sechs Arschin groß, sodaß auf dem Bette, das hinter dem Ofen stand, ein großer Mensch, sich nicht ausstrecken konnte. ‘Auf diesem selben Bett,’ dachte er, ’hat Katjuscha geboren und ist krank gelegen. Fast die ganze Stube war von einem Webstuhl eingenommen, den die Alte mit ihres älteren Enkelin eben in Ordnung brachte, als Nechljudow hereintrat, wobei er sich an der niederen Thür mit dem Kopf stieß.

Noch zwei Enkel liefen kopfüber gleich hinter dem Herrn in die Stube herein, und sich mit den Händen an der Oberschwelle haltend, blieben sie hinter ihm in der Thür stehen.

»Zu wem willst du?« fragte die Alte ärgerlich, da sie wegen des nicht in Gang zu bringenden Webstuhls schlechter Laune war. Außerdem, da sie heimlich mit Branntwein handelte, fürchtete sie alle unbekannten Leute.

»Ich hin der Gutsbesitzer. Ich möchte etwas mit Ihnen sprechen.«

Die Alte schwieg eine Zeitlang, indem sie ihn genau und scharf ansah; dann verklärte sie sich plötzlich ganz.

»Ach du mein Teuerster, und ich, Dumme, habe dich nicht erkannt, ich denke, es ist irgend ein Vorübergehender,« fing sie mit verstellt freundlicher Stimme an. »Ach du, mein stolzer Falke.«

»Könnte man Sie nicht ohne Zeugen sprechen?« sagte Nechljudow, indem er am die geöffnete Thür sah, wo die Kinder standen; hinter den Kindern aber stand eine magere Frau mit einem hinsiechenden, aber fortwährend lächelnden, vor Krankheit blassen Kleinen in einem Häubchen aus Flickchen.

»Was habt ihr hier zu sehen? Ich werde euch gleich, gieb mir mal die Krücke her,« schrie die Alte auf die in der Thür stehenden ein. »Mach zu, oder was!«

Die Kinder gingen weg, das Weib mit dem Kleinen machte die Thür zu.

»Und ich denke, wer kommt denn da? Aber da ist’s der Herr selber, du mein goldener, mein herzliebster Schöner,« sprach die Alte. »Wohin kommst du! Da hast es nicht verabscheut. Ach dn, mein Brillantener! Hieher setz dich, Euer Erlaucht, da! Hier! Zu oberst,« sprach sie, während sie den Platz mit der Schürze abwischte. »Ich aber denke, was für ein Teufel stakt denn da daher? Sieh mal, es ist Euer Erlaucht selber, der gute Herr, der Wohlthäter, unser Ernährer. Verzeih du mir, der alten Dummen —; bin blind geworden.«

Nechljudow setzte sich, die Alte stellte sich vor ihn, stützte eine Wange mit der rechten Hand, indem sie mit der Linken den scharfen Ellbogen des rechten Armes umfaßte, und fing mit singender Stimme an zu sprechen:

»Und alt bist du geworden, Euer Erlaucht; sost bist du wie eine feste Distel gewesen, aber jetzt — was! Hast auch Sorgen, scheint es.«

»Ich komme dies zu fragen? erinnerst du dich an Katjuscha Maslowa?«

»Katharina? Wie sollte ich sie vergessen haben? Sie ist meine Nichte. Wie sollte ich mich ihrer nicht erinnern; und wie viel Thränen, Thränen habe ich wegen ihrer vergossen. Ich weiß ja alles. Wer, Väterchen, ist vor Gott ohne Sünde, vor dem Zaren ohne Schuld? Ihr waret ja jung, habt auch Thee, Kaffee zusammen getrunken — nun und da hat euch der Böse verleitet. Er ist ja auch stark. Was ist da zu machen? Wenn du sie verlassen hättest, aber du hast sie ja so reich belohnt, hundert Rubel an sie verausgabt. Und sie, was hat sie gemacht! Sie konnte nicht Vernunft annehmen. Wenn sie mich gehört hätte, hätte sie leben können. Obgleich sie ja meine Nichte ist, sage ich doch geradezu — ein nichtsnutziges Mädchen. Ich habe sie ja nachher — und in was für eine gute Stelle — eingestellt, sie hat sich nicht untertwerfen wollen hat den Herrn ausgeschimpft. Dürfen wir denn die Herrschaften schimpfen? Nun, und man hat sie entlassen, und nachher hätte sie auch wieder bei bem Förster leben können, aber sie wollte ja nicht.«

»Ich wollte nach dem Kinde fragen. Sie hat ja bei Ihnen geboren? Wo ist das Kind?«

»Mit dem Kindlein hatte ich es, mein Väterchen, damals gut überlegt. Sie war sehr schlecht zu Wege. Ich ahnte nicht, daß sie wieder aufkam. Also hab’ ich das Mädchen getauft, wie er sein soll, und in das Findelhaus übergeben. Nun, wozu braucht man das Engelsseelchen verschmachten zu lassen, wenn die Mutter stirbt? Die anderen machen es so, daß sie den Sängling behalten, ihn nicht füttern, und er also erlöscht; aber ich denke, wozu denn so? — Lieber will ich mir Mühe geben, und ihn in das Findelhaus schicken. Geld hatte man ja, und nun also hat man ihn weggefahren.«

»Aber die Nummer haben Sie gehabt?’~

›Die Nummer war da, aber er starb gleich damals. Sie erzählt; kaum hatte sie ihn hingefahren, so war er auch aus mit ihm.‹

›Wer sie?‹

›Aber diese selbe Frau, sie bat in Skorodnoje gewohnt. Sie beschäftigte sich damit. Malania nannte man sie, jetzt ist sie gestorben. Eine kluge Frau war sie — und wie pflegte sie zu thun? Bringt man ihr manchmal ein Kindlein, so nimmt sie es und behält es bei sich, im Hause, füttert es so mit durch! Und sie füttert es durch, du mein Väterchen, bis sie ihrer für eine Transportierung genug beisammen hat. Und wie sie drei oder vier beisammen hat, so bringt sie sie nun auf einmal weg. So klug war es bei ihr eingerichtet, so eine Wiege — eine große, in der Art wie zweischläfrig — hier kannst du’s hinlegen, da kannst du’s hinlegen. Und eine Handhabe war da angebracht. Nun legt sie die vier mit den Köpfschen auseinander, damit sie sich nicht stoßen, mit den Füßchen zusammen, und fährt vier auf einmal weg. Sie steckt ihnen in die Mündchen Saughörnchen, und so sind sie still, die Herzliebchen.‹

›Nun, also was ist denn?‹

›Na, auf diese Weile wollte sie also auch Katharina’s Kind hinfahren, aber ungefähr vierzehn Tage behielt sie es bei sich, glaub’ ich; es siechte also noch bei ihr zu Hause hin.‹

›Und war das Kind wohlgeraten?‹ fragte Nechljudow.

›So ein Kindlein war es, — was Schöneres kann man sich nicht wünschen! Ganz dir ähnlich,‹ fügte die Alte hinzu, mit einem ihrer alten Augen ihm zublinzelnd.

›Warum wurde es denn schwach? Wahrscheinlich hat man es schlecht gefüttert.‹

›Was für eine Art Fütterung! Nur so für die Augen. Bekannte Sache — kein eigenes Kind! Nur daß man es lebendig hinbringt. Sie sagte, eben hätte sie es bis Moskau gefahren, und grade um diese selbe Zeit verlöscht es. Sie brachte auch den Totenschein mit; alles, wie es sein muß. Eine kluge Frau war sie.‹

Nur so viel konnte Nechljudow von seinem Kinde erfahren.

6

Nechljudow stieß sich noch einmal an beiden Thüren, — in der Stube und im Flur — den Kopf an, als er auf die Straße hinausging. Die Buben: der weiße, der rosarote und ein rauchfarbener warteten auf ihn. Noch einige neue gesellten sich ihnen zu. Auch einige Frauen mit Säuglingen erwarteten ihn; unter ihnen jene magere Frau, die ein blutloses Kindlein in einem Häubchen aus Flickchen leicht im Arm hielt. Dies Kind lächelte seltsam, unaufhörlich, mit dem ganzen greisenhaften Gesichtchen und bewegte dabei krampfhaft seine gekrümmten Daumen. Nechljudow wußte, daß es das Lächeln des Leidens war. Er fragte, wer diese Frau sei.

›Das ist Anissia selber, von der ich dir gesprochen habe,‹ sagte der ältere Knabe.

Nechludow wandte sich an Anissia.

›Wie lebst du?‹ fragte er, ›womit ernährst du dich?‹

›Wie ich lebe? Ich bettle,‹ sagte Anissia und meinte auf.

Das greisenhafte Kind aber zerschmolz ganz im Lächeln, während es seine dünnen Beinchen krümmte, die Würmchen glichen.

Nechljudow holte die Geldtasche hervor und gab der Frau zehn Rubel. Er hatte keine Zeit, zwei Schritte zu machen, als eine andere Frau mit einem Kinde ihn einholte, dann eine Alte, dann noch eine Frau. Alle sprachen von ihrer Armut und baten ihn, ihnen zu helfen. Nechljudow verteilte die sechzig Rubel in kleinen Scheinen, die er in der Geldtasche hatte, und mit schrecklicher Wehmut im Herzen kehrte er nach Hause, das heißt, in das Seitengebäude des Arbeitsaufsehers, zurück.

Der Arbeitsaufseher empfing den Nechljudow lächelnd mit der Nachricht, daß die Bauern sich abends versammeln würden. Nechludow dankte ihm und begab sich, ohne die Zimmer zu betreten, in den Garten, um dort auf den mit Apfelblütenblättchen bestreuten überwachsenen Steinen hin und her zu gehen, über alles das, was er gesehen, nachdenkend.

Anfangs war er neben dem Seitengebäude still, dann börte aber Nechljudow bei der Wohnung des Arbeitsaufsehers zwei einander übertönende erboste Frauenstimmen, neben denen sich nur hie und da die ruhige Stimme des lächelnden Arbeitsaufsehers hören ließ. Nechljudow horchte.

›Meine Kraft reicht nicht aus, was reißt du mir das Kreuz vom Hals herunter?‹ sprach eine erboste weibliche Stimme.

›Sie war ja eben nur hineingelaufen,‹ sprach die andere Stimme. ›Gieb sie zurück, sage ich. Was quälst du denn sowohl das Vieh, wie die Kinder, die keine Milch haben.‹

›Bezahle, oder arbeite es ab,‹ antwortete die ruhige Stimme des Arbeitsaufsehers.

Nechljudow ging aus dem Garten hinaus und zu dem Flur hin, an welchem zwei zerzauste Weiber standen, von denen eine augenscheinlich in der letzten Zeit der Schwangerschaft war. Auf den Stufen des Flurs stand, die Hände in den Taschen des Segeltuchbaletots, der Arbeitsaufseher. Die Weiber, als sie den Herrn sahen, verstumten und fingen an, ihre auf die Seite geschobenen Kopftücher zu ordnen; der Arbeitsaufseher nahm die Hände aus den Taschen und begann zu lächeln.

Es handelte sich darum, daß die Bauern, wie der Arbeitsaufseher sagte, mit Willen Kälber und sogar Kühe auf die herrschaftliche Wiese ließen. Und nun waren zwei Kühe aus den Höfen dieser Weiber auf der Wiese gefangen und in den Gutshof getrieben worden. Der Arbeitsaufseher forderte von den Weibern je dreißig Kopeken für eine Kuh oder zwei Tage Arbeit. Die Weiber aber behaupteten, daß erstens ihre Kühe eben erst hineingegangen seien, zweitens, daß sie kein Geld hätten und drittens verlangten sie, wenn auch gegen das Versprechen des Abarbeitens, die sofortige Wiedergabe der Kühe, die vom Morgen an auf dem Viehhof ohne Futer standen und kläglich brüllten.

›Wie oft habe ich euch in Ordnung gebeten,‹ sprach der lächelnde Arbeitsaufseher, indem er sich nach dem Nechljudow umsah, als ob er ihn als Zeugen herbeiriefe, ›wenn ihr das Vieh mittags nach Hause treibt, so hütet es.‹

›Ich bin kaum zu dem Kleinen gelaufen, die Kühe waren aber schon weg.‹

›Geh nicht fort, wenn Du’s übernommen hast zu hüten.‹

›Wer wird aber den Kleinen füttern? Du wirst ihm doch nicht die Zitze geben.‹

›Wenn ich die Wiese wenigstens wirklich hätte abweiden lassen, machte mir das weniger Schmerzen, aber sie ist ja kaum hineingegangen,‹ sprach die Andere.

›Alle Wiesen haben sie abweiden lassen,‹ wandte sich der Arbeitsaufseher zu dem Nechljudow. ›Wenn man sie nicht bestraft, wird man keine Spur Heu haben.‹

›Ech, sündige nicht,‹ schrie die Schwangere, ›meine wurden nie erwischt.‹

›Nun, da sie aber erwischt sind, so zahle, oder arbeite ab.‹

›Na ja, ich werde wohl! Laß doch die Kuh gehen, laß sie nicht verhungern,‹ schrie sie böse. ›So wie so habe ich keine Ruhe weder Tag noch Nacht. Die Schwiegermutter ist krank. Der Mann hat sich festgesoffen. Ich muß allein an allen Enden fertig werden, aber die Kraft ist alle. Abarbeiten! Daß du dran erstickst!‹

Nechljudow bat den Arbeitsaufseher, die Kühe frei zu lassen, selber aber ging er wieder in den Garten, seinen Gedanken zu Ende zu denken; aber es war schon nichts mehr zu denken da.

Alles war ihm jetzt so klar, daß er sich nicht genug wundern konnte, wie die Leute das nicht einsahen, und wie er selbst so lange nicht sah, was so augenscheinlich klar ist. Das Volk stirbt aus, es hat sich an sein Aussterben gewöhnt, es haben sich bei ihm die dem Aussterben eigentümlichen Lebensmomente eingestellt, die Sterblichkeit der Kinder, die kräfteübersteigende Arbeit der Frauen, der Mangel an Nahrung für alle, besonders für die Alten. Und so allmälich ist das Volk in diese Lage gekommen, daß es selber das ganze Grausen davon nicht sieht und nicht darüber klagt. Daher glauben auch wir, daß es natürlich sei, und so sein müsse. Jetzt war es ihm klar wie der Tag, daß die Hauptursache des Volkselends, die immer vom Volk selber eingesehen und hervorgehoben ward, darin bestand, daß das Land, von welchem einzig das Volk sich ernähren konnte, ihm von den Grundbesitzern entzogen ward. Indessen ist es aber vollkommen klar, daß die Kinder und die alten Leute sterben, weil sie keine Milch haben; keine Milch aber haben sie, weil sie kein Land haben, um das Vieh zu weiden, Brot und Heu zu ernten; es ist vollkommen klar, daß das ganze Elend des Volkes, oder wenigstens die nächste Hauptursache des Volkselends darin liegt, daß das Land, das es ernährt, sich nicht in seinen Händen, sondern in den Händen von Leuten befindet, die, sich ihres Rechtes auf den Boden bedienend, von der Arbeit dieses Volkes leben. Das Land aber, das so den Leuten notwendig ist, daß sie aus Mangel daran zu Grunde gehen, wird von diesen selben, bis zur äußersten Not gebrachten Leuten bearbeitet, damit das Brot im Ausland verkauft werde, und damit die Besitzer des Bodens sich Hüte, Spazierstöcke, Kaleschen, Bronzen u. s. w. kaufen können. Das wat ihm jetzt so klar, wie es ihm klar war, daß die in einer Umzäunung eingeschlossenen Pferde, wenn sie alles Gras unter den Füßen aufgegessen, mager sein, und vor Hunger sterben müssen, bis man ihnen die Möglichkeit giebt, das Land zu benutzen, auf welchem sie Futter finden können.

Und das war schrecklich, und darf durchaus nicht, — muß nicht sein! Und man muß Mittel finden, daß es nicht mehr so ist, aber, wenigstend, daß man selber keinen Teil daran nehme. ‘Und ich finde diese Mittel unbedingt,’ dachte er, in der nächsten Birkenallee hin und het gehend.

In den wissenschaftlichen Gesellschaften, in den Staatsinstitutionen, in den Zeitungen raisionnieren wir von den Ursachen der Armut des Volkes und von den Mitteln zur Hebung derselben, nur nicht von dem einzigen unzweifelhaften Mittel, das daß Volk sicher heben würde, und welches darin besteht, daß man ihm das weggenommene, ihm notwendige Land zurückgebe.

Und er erinnerte sich lebhaft an die Grundsätze Henry Georges und an seine Begeisterung für denselben, und er wunderte sich, wie er alles das habe vergessen können.

‘Das Land kann nicht Gegenstand des Eigentums, kann nicht Gegenstand des Kaufs und Verkaufs sein, so wenig wie Wasser, wie Luft, wie die Sonnenstrahlen. Alle haben das gleiche Recht auf das Land und auf alle Vorteile, die es den Menschen bietet.’

Und er begriff jetzt, warum er sich geschämt, an die Einrichtung der Sachen in Kusjminskoje zu denken. Er hatte sich selber betrogen. Wissend, daß der Mensch kein Recht auf den Boden haben kann, hatte er für sich dieses Recht in Anspruch genommen, und den Bauern einen Teil dessen geschenkt, von dem er in der Tiefe der Seele wußte, daß er kein Recht darauf habe. Jetzt wird er dies nicht mehr thun; er wird das, was er in Kusjminskoje gethan, ändern. Und er formte in seinem Kopf ein Projekt, darin bestehend, daß er den Bauern den Boden für eine Rente verpachte, die Rente aber sollte man als Eigentum derselben Bauern anerkennen, damit sie dies Geld zahlten und für die Steuern und Gemeindeangelegenheiten verwendeten. Das man keine ›single tax‹ aber es trat die bei der jetzigen Ordnung möglichst größte Annäherung an dieselbe. Die Hauptsache aber war, daß er auf die Ausnutzung seiner Rechte auf das Grundeigentum verzichtete.

Als er in das Haus kam, bot der Arbeitsaufseher, besonders freudig lächelnd, ihm an, zu Mittag zu essen, indem er die Befürchtung äußerte, daß die nan seiner Frau mit Hilfe des Mädchens mit den Daunen bereitete Bewirtung verkocht und verbraten sein dürfte.

Der Tisch war mit einer Decke aus roher Leinwand bedeckt, anstatt einer Serviette war ein gesticktes Handtuch da, und auf dem Tische stand in eines Vieux–Saxe-Suppenschüssel mit abgeschlagenem Henkel die Kartoffelsuppe mit demselben Hahn, der bald den einen, bald den anderen schwarzen Fuß gestreckt hatte, und jetzt zerschnitten und sogar in Stücke zerhackt war, die stellenweise mit Flaumhaaren bedeckt waren. Nach der Suppe folgte derselbe Hahn, mit den angebratenen Haaren, und Quarkkuchen mit einer großen Quantität Butter und Zucker. Wie wenig schmackhaft dies auch war, Nechljudow aß es, ohne zu merken, was er aß, so sehr war er mit seinem Gedanken beschäftigt, der auf einmal die Wehmut auslöste, mit der er aus dem Dorfe zurückgekehrt.

Die Frau des Abbeitsaufsehers guckte aus der Thür, während das erschrockene Mädchen mit den Daunen das Gericht auftrug; der Arbeitsaufseher selber aber, auf die Kunst seiner Frau stolz, lächelte immer freudiger und freudiger.

Nach dem Mittagessen brachte Nechljudow den Arbeitsaufseher mit Mühe zum Sitzen, und um sich zu prüfen und zugleich jemandem zu sagen, was ihn so beschäftigte, teilte er ihm sein Projekt der Uebergabe des Bodens an die Bauern mit und fragte ihn nach seiner Meinung darüher. Der Arbeitsaufseher lächelte, indem er eine Miene annahm, als ob er eben das schon seit lange gedacht und sehr froh sei, es zu hören, aber im Grunde genommen begriff er nichts, und dies augenscheinlich nicht etwa, weil Nechljudow sich nicht klar ausdrückte, sondern weil sich aus diesem Projekt ergab, daß Nechljudow auf seinen Vorteil zu Gunsten der anderen verzichtete; indessen aber war die Wahrheit, daß jeder Mensch nur für seinen eigenen Vorteil — zum Nachteil für die anderen — sorgt, so fest in dem Bewußtsein des Arbeitsaufsehers eingewurzelt, daß er annahm, er verstehe etwas nicht recht, als Nechljudow darüber sprach, daß die ganze Einnahme vom Lande in das Gemeindekapital der Bauern einfließen sollte.

›Verstanden. Sie wollen also von diesem Kapital Prozente erheben?‹ sagte er, ganz aufstrahlend.

›Aber nein doch. Verstehen Sie mich: ich trete ihnen das Land ganz ab.‹

›Dann werden Sie ja gar sein Einkommen haben?‹ fragte der Arbeitsaufseher und hörte zu lächeln auf.

›Ich verzichte eben darauf.‹

Der Arbeitsaufseher seufzte schwer, und dann fing er wieder an zu lächeln. Jetzt begriff er es. Er sah ein, daß Nechljudow nicht ganz bei gesundem Verstande sei, und sogleich begann er, in dem Projekt Nechljudows, der auf das Land verzichten wollte, nach einer Möglichkeit zu suchen, daß er persönlich einen Nutzen davon haben könnte, und durchaus wollte er das Projekt so auffassen, daß er selbst sich das abgetretene Land zu Nutzen machen könne.

Als er aber einsah, daß auch das unmöglich sei, fühlte er sich gekkänkt, und hörte auf, sich für das Projekt zu interessieren, und nur dem Herrn zu Gefallen fuhr er fort zu lächeln.

Da Nechljudow merkte, daß der Arbeitsaufseher ihn nicht begriff, entließ er ihn und setzte sich an den zerschnittenen, mitu Tinte begossenen Tisch, um sich an die Darlegung seines Projekts auf dem Papier zu machen.

Die Sonne sank hinter den eben erblühten Linden, und die Mücken kamen in Schwärmen ins Zimmer geflogen und stachen den Nechljudow.

Als er seine Notiz beendigt hatte, und gleichzeitig die aus dem Dorfe herschallenden Töne, — das Blöken der Herden, das Knarren der aufgehenden Thore und das Gerede der sich vesammelnden Bauern — hörte, sagte Nechljudow dem Arbeitsaufseher, es sei nicht nötig, die Bauern zum Kontor zu rufen, er wolle selber ins Dorf nach dem Hause gehen, wo die Bauern sich versammeln würden. In Eile trank Nechljudow ein ihm vom Arbeitsaufseher angebotenes Glas Thee und ging ins Dorf.

7

Ueber dem Haufen bei dem Hofe des Dorfschulzen schwebte ein Gemurmel, — aber sobald Nechljudow sich näherte, verstummte das Gemurmel, und die Bauern alle, einer nach dem anderen, ebenso wie in Kusjminskoje, nahmen die Mützen ab. Die Bauern dieser Gegend waren viel dürftiger als die Bauern von Kusjminskoje; wie die Mädchen und Weiber Daunen in den Ohren trugen,28 so waren die Männer alle in Bastschuhen und in selbstgemachten Hemden und Kaftans. Einige waren barfuß, in bloßen Hemden, wie sie von der Arbeit kamen.

Nechljudow nahm sich zusammen aus fing seine Rede damit an, daß er den Bauern seine Absicht erklärte, ihnen das Land gänzlich abzugeben. Die Bauern schwiegen, und in dem Ausdruck ihrer Gesichter zeigte sich keine Veränderung.

›Weil ich glaube,‹ sprach Nechljudow, errötend, ›daß Jedermann ein Recht habe, das Land zu benutzen.‹

›Bekannte Sache. Ganz genau so ists,‹ ließen sich die Stimmen der Bauern vernehmen.

Nechljudow fuhr fort, darüber zu sprechen, wie die Einnahmen von dem Boden unter alle verteilt werden müsse, und daher biete er ihnen an, das Land zu nehmen und für dasselbe einen Preis, welchen sie selber bestimmen sollten, in das Gemeindekapital zu zahlen, das eben sie auch verwenden würden. Es ließen sich immer noch Worte der Billigung und des Einverständnisses hören, aber die ernsten Gesichter der Bauern wurden immer ernster und ernster, und die Augen, die zuerst auf den Herrn geblickt, senkten sich jetzt zur Erde, als ob sie ihn nicht beschämen wollten, da seine Hinterlist von allen durchschaut werde, und er hier niemand betrügen könne.

Nechljudow sprach ziemlich klar, und die Bauern waren verständige Leute, aber den Nechljudow verstanden sie nicht, und konnten ihn nicht verstehen, aus demselben Grunde, and welchem ihn der Arbeitsaufseher lange nicht verstehen konnte.

Sie waren fest davon überzeugt, daß es jedem Menschen eigen ist, seinen Vorteil zu beobachten. Von den Gutsbesitzern wußten sie schon seit langem, aus der Erfahrung einiger Generationen, daß der Gutsbesitzer immer seinen Vorteil zum Nachteil der Bauern beobachtet. Wenn darum der Gutsbesitzer sie herberuft und ihnen etwas Neues vorschlägt, so geschieht dies augenscheinlich nur, um sie irgendwie noch schlauer zu betrügen.

›Nun, wie ist es denn, mit wieviel Steuer wollt ihr das Land belegen?‹ fragte Nechljudow.

›Wozu brauchen wir es denn zu belegen? Wir können das nicht. Das Land ist Ihr, und die Macht ist Ihr,‹ antwortete man aus dem Haufen.

›Aber nein, ihr werdet ja selber dies Geld gebrauchen für Gemeindebedürfnisse.‹

›Das können wir nicht. Die Gemeinde ist was Apartes, und das ist wieder was Apartes.‹

›Versteht doch,‹ sagte lächelnd der nach dem Nechljudow gekommene Arbeitsaufseher, der die Sache klar machen wollte, ›daß der Fürst euch das Land für Geld giebt, dies Geld aber wird wiederum in euer Kapital für die Gemeinde abgegeben.‹

›Wie verstehen sehr gut,‹ sagte ein zahnloser, ärgerlicher Alter, ohne die Augen zu erheben. ›In der Art, wie in der Bank, nur müssen wie zahlen und Termin halten. Das wollen wie nicht, weil es und so wie so schwer ist; dann aber heißt es, ganz zu Grunde gehen.‹

›Unnütz ist das. Wir wollen lieber, wie früher,‹ fingen unzufriedene und sogar grobe Stimmen an.

Besoders lebhaft begann man sich zu weigern, als Nechljudow erwähnte, daß er einen Vertrag aufsetzen werde, den er unterschreiben würde, und den sie unterschreiben müßten.

›Wazu denn unterschreiben? Wie wie gearbeitet haben, so werden wie weiter arbeiten. Aber wozu ist das noch? Wir sind unwissende Leute.‹

›Wir sind nicht einverstanden, weil die Sache ungewohnt ist. Wie es gewesen ist, so laß es weiter sein. Wenn nur das Saatkorn aufgehoben würde!…‹ ließen sich Stimmen hören.

Das Saatkorn aufheben — bedeutete, daß bei der jetzigen Ordnung die Saat auf den Halbpartstreifen von den Bauern geliefert werden mußte, und sie baten nun, daß das Saatkorn herrschaftlich sein sollte.

›Ihr lehnt es also ab? Wollt das Land nicht nehmen?‹ fragte Nechljudow, sich an einen nicht alten, barfüßigen Bauern mit strahlendem Gesicht in einem abgeriffenen Kaftan wendend, der seine zerfetzte Mütze besonders gerade auf dem gebogenen linken Arm hielt, — wie die Soldaten ihre Mützen halten, wenn sie sie auf Kommando abnehmen.

›Jawohl,‹ brachte dieser Bauer hervor, da er sich augenscheinlich noch nicht von der Hypnose der Saldateska befreit hatte.

›Ihr habt also genügend Land?‹ sagte Nechljudow.

›Durchaus nicht,‹ antwortete der gewesene Soldat mit gekünstelt lustigem Aussehen, indem er sorgfältig seine zerrissene Mütze vor sich hielt, als ob er sie Jedermann anböte, der sich ihrer zu bedienen Lust hätte.

›Nun, so überlegt doch noch, was ich euch gesagt habe,‹ sprach Nechljudow verwundert, und wiederholte seinen Vorschlag.

›Wir haben nichts zu überlegen, wie wir gesagt haben, so wird es auch sein,‹ brachte der zahnlose, finstere Alte ärgerlich hervor.

›Ich verweile hier noch morgen, einen Tag, — wenn ihr euch anders besinnt, so schickt mir Bericht.‹

Die Bauern antworteten nichts.

Und so konnte also Nechljudow nichts erreichen und ging zurück in das Kontor.

›Aber ich will Ihnen vermelden, Fürst,‹ sagte der Arbeitsaufseher, als sie nach Hause zurückgekehrt waren, ›daß Sie mit ihnen nicht übereinkommen werden. Ein starrköpfiges Volk. Und sobald der Bauer auf der Versammlung ist — stemmt er sich, und du wirst ihn nicht vom Fleck bewegen. Weil sie alles fürchten. Diese selben Bauern, zum Beispiel jener grauhaarige, oder der schwarze, der nicht einverstanden war, sie sind ja kluge Bauern. Wenn er in das Kontor kommt, du ihn hinsetzt, Thee zu trinken,‹ sprach der Arbeitsaufseher lächelnd, ›und er ins Gespräch kommt, — ungemein klug! Ein Minister! — Alles wird er erwägen, wie es sein soll. Auf der Versammlung ist er ein ganz anderer Mensch, verbeißt sich an einer Sache…‹

›Also, könnte man nicht solche, — die verständigsten Bauern, einige etwa, hierher rufen?‹ sagte Nechljudow, ›ich würde es ihnen ausführlich auseinandersetzen.‹

›Das kann man,‹ sagte der lächelnde Arbeitsaufseher.

›Nun also, bitte, rufen Sie sie zu morgen.‹

›Alles das ist möglich,‹ sagte der Arbeitsaufseher und lächelte noch freudiger, ›auf morgen werde ich sie herbestellen.‹

›Sieh mal, wie flink der ist!‹ sprach ein auf einer satten Stute schaukelnder schwarzer Bauer mit einem zottigen, nie auseinander gekämmten Bart zu einem andern, neben ihm fahrenden und mit den eisernen Spannfesseln klirrenden alten, mageren Bauer in einem durchlöcherten Kaftan. Die Bauern fuhren, um nachts die Pferde auf der Landstraße und heimlich im herrschaftlichen Walde zu weiden. ›‘Ich will euch das Land umsonst abtreten, nur unterschreibt!’ Genug haben sie unsereins zum Narren gehalten. Nein, Bruder, wart’ ’n Weilchen. Jetzt können wir auch selber unsere Sach’ verstehn,‹ machte er und begann ein Füllen, das sich verlaufen hatte, herbeizurufen.

›Rößlein! Rößlein!‹ schrie er zurückblickend, als das Pferd zum Stehen gebracht war, aber daS Füllen war nicht hinten, sondern seitwärts ging es auf die Wiesen.

›Sieh, der ist in Geschmack gekommen, der Hundekater, geht auf die herrschaftlichen Wiesen,‹ brachte der schwarze Bauer mit dem zottigen Bart hervor, als er das Knacken des wilden Ampfers hörte, über den das zurückgebliebene Füllen auf der tauigen, gut nach dem Moor riechenden Wiese mit Wiehern dahersprang.

›Hörst du, die Wiesen werden dicht; man muß am Feiertage das Weibervolk schicken, daß sie die Halbpart-Wiesen durchjäten,‹ sagte der magere Bauer im durchlöcherten Kaftan. ›Sonst brichst du die Sensen entzwei.‹

›Unterschreib, sagt er,‹ fuhr der zottige Bauer fort in seinem Urteil über die Rede des Herrn, ›hast du es unterschrieben, so schluckt er dich lebendig hinunter.‹

›Es ist just so,‹ antwortete der Alte. Und sie sprachen nichts mehr. Es war nur der Schlag der Pferdefüße auf dem harten Wege zu hören.

8

Als Nechljudow nach Hause zurückkehrte, fand er in dem für sein Nachtquartier hergerichteten Kontor ein hohes Bett mit Daunenpfühlen, zwei Kissen und einer dunkelroten, zweischläfrigen, fein und mit Figuren gesteppten, sich nicht biegenden, seidenen Bettdecke, — augenscheinlich aus der Aussteuer der Arbeitsaufseherin. Der Arbeitsaufseher bot dem Nechljudow den Rest des Mittagessens an, aber er bekam eine abschlägige Antwort, er entschuldigte sich wegen der schlechten Bewirtung und Ausstattung und entfernte sich, indem er den Nechljudow allein ließ.

Die Weigerung der Bauern brachte den Nechljudow gar nicht aus der Fassung. Im Gegenteil, trotzdem man dort, in Kusjminskoje, seinen Vorschlag angenommen und die ganze Zeit gedankt hatte, hier aber ihm Mißtrauen und sogar Feindseligkeit zeigte, fühlte er sich ruhig und freudig. In dem Kontor war es schwül und nicht sauber. Nechljadow ging in den Hof hinaus und wollte in den Garten gehen, aber er erinnerte sich an jene Nacht, das Fenster in der Mädchenstube, den hinteren Flur, — und ihm war es unangenehm, an den durch die frevelhaften Erinnerungen entweihten Ort zu gehen. Er setzte sich auf die Freitreppe, und den, die warme Luft erfüllenden starken Geruch der jungen Birkenblätter einatmend, sah er lange auf den dunkel werdenden Garten und horchte auf die Mühle, die Nachtigallen und noch auf irgend einen Vogel, der in dem Strauch gerde neben dem Flur eintönig pfiff. In dem Fenster des Arbeitsaufsehers löschte man das Licht aus; im Osten, hinter der Scheune, flammte wie eine Feuersbrunst der Mond auf; das Wetterleuchten fing an — immer heller und heller — den verwachsenen, blühenden Garten und das zerfallende Haus zu bescheinen, er ließ sich entfernter Donner hören, und ein Drittel des Himmels wurde von einer schwarzen Gewitterwolke verdeckt. Die Nachtigallen und der andere Vogel verstummten. Neben dem Geräusch des Wassers an der Mühle wurde Gänsegeschnatter hörbar, und dann begannen in dem Dorfe und auf dem Hofe des Arbeitsaufsehers die frühen Hähne zu rufen, wie sie gewöhnlich in den heißen Gewitternächten vorzeitig krähen. Es giebt ein Sprichwort, daß die Hähne, wenn sie zu früh schreien, eine lustige Nacht ansagen. Für Nechljudow war diese Nacht mehr als lustig. Das war für ihn eine freudige, glückliche Nacht. Die Einbildungskraft rief ihm die Eindrücke jenes glücklichen Sommers zurück, den er hier als unschuldiger Jüngling zugebracht, und er fühlte sich jetzt so, wie er nicht nur damals, sondern in allen besten Minuten seines Lebens gewesen. Er erinnerte sich nicht nur, sondern er fühlte sich, wie er damals gewesen, als er als vierzehnjähriger Knabe zu Gott betete, daß Gott ihm die Wahrheit offenbare, oder wie er als Kind, auf dem Schoße der Mutter, weinte, wenn er fortgehen sollte und ihr versprach, immer gut zu sein und sie nie zu betrüben; er fühlte sich so, wie er gewesen, als er und Nikolenjka Irtenjew den Entschluß gefaßt, daß sie einander immer helfen wollten, ein gutes Leben zu führen und sich bemühen, alle Leute glücklich zu machen.

Er gedachte jetzt daran, wie über ihn die Versuchung in Kusjminskoje gekommen, und wie ihm das Haus und der Wald, und die Wirtschaft und das Land leid gethan, und er fragte sich, ob es ihm jetzt leid thäte? Es befremdete ihn sogar, daß es ihm hatte leid thun können. Er gedachte alles dessen, was er heute gesehen hatte: der Frau mit den Kindern, ohne Mann, den man ins Gefängnis gesetzt wegen des Holzdiebstahles in seinem, dem Nechljudowschen Walde, und der schrecklichen Matronja, welche glaubte, oder, wenigstens sagte, daß Weiber ihres Standes sich zur Geliebten der Herren hergeben sollten. Er gedachte ihres Verhaltens gegen die Kinder, des Verfahrens beim Wegbringen derselben ins Findelhaus und jenes unglücklichen, greisenhaften, lächelnden, aus Nahrungsmangel sterhenden Kinded im Häubchen. Er gedachte jener schwangeren, schwachen Frau, die man für ihn arbeiten lassen mußte, weil sie, von der Arbeit abgeplagt, ihre Kuh, die nichts zu essen hatte, nicht hatte hüten können Und zu derselben Zeit erinnerte er sich an das Gefängnis, an die rasierten Köpfe, an die Zellen, an den widerwärtigen Geruch, an die Ketten, und daneben an den sinnlosen Luxus seines eigenen und des ganzen herrschaftlichen, städtischen und hauptstädtischen Lebens. Alles war ganz klar und unzweifelhaft.

Der helle, beinahe volle Mond ging hinter der Scheune auf, und über den Hof legten sich schwarze Schatten, und das Eisen fing an, auf dem Dach des baufälligen Hauses zu glänzen.

Und als ob sie diesen Schein sich nicht entgehen lassen wollte, begann im Garten die verstummte Nachtigall zu flöten und zu schlagen.

Dem Nechljudow fiel ein, wie er in Kusjminskoje begonnen hatte, über sein Leben nachzudenken und die Fragen zu entscheiden, was und wie er weiter thun werde, und er erinnerte sich, wie er sich in diesen Fragen verwickelt hatte, — und sie nicht entscheiden konnte, — so viele Erwägungen lagen bei jeder Frage vor. Er stellte sich jetzt wieder diese Fragen und wunderte sich, wie einfach alles war. Es war einfach, weil er jetzt nicht darüber nachdachte, war aus ihm werde; es interessierte ihn sogar nicht; er dachte nur darüher nach, was er thun solle. Und — wunderbare Sache! Was er für sich brauche, konnte er durchaus nicht entscheiden, was man aber für die anderen thun müsse, das wußte er, ohne zu zweifeln. Er wußte jetzt unzweifelhaft, daß man den Bauern das Land abgehen müsse, weil es schlecht war, es zu behalten. Er wußte unzweifelhaft, daß er die Katjuscha nicht verlassen, ihr helfen, zu allem bereit sein müsse, um seine Schuld gegen sie zu sühnen. Er mußte unzweifelhaft, daß er alle diese Sachen, die Gerichte und Strafen betreffen, studieren, untersuchen, sich klar machen, begreifen müsse; er fühlte, daß er da etwas sehe, das die anderen nicht sahen. Was aus alledem werden würde, wußte er nicht, dagegen wußte er unzweifelhaft, daß er dieses, jenes und das dritte unumgänglich thun müsse. Und diese feste Ueberzeugung machte ihn freudig.

Die schwarze Gewitterwolke rückte schon ganz heran; man sah jetzt nicht mehr Wetterleuchten, sondern Blitze, die den ganzen Hof und das baufällige Haus mit den heruntergerissenen Außentreppen erhellten, und der Donner ließ sich schon üher dem Kopfe hören. Alle Vögel wurden still, dafür fingen aber die Blätter zu rauschen an, und der Wind erreichte den Vorflur, wo der Nechljudow saß und bewegte seine Haare. Es fiel ein Tropfen, ein anderer, es begann auf das Kletterkraut, auf das Eisendach zu trommeln, und die ganze Luft flammte hell auf; alles ward still, und Nechljudow hatte nicht einmal Zeit, bis drei zu zählen, als es gerade über seinem Kopfe fürchterlich krachte, und über den Himmel rollte.

Nechljudow trat in das Haus.

’Ja, ja!’ — dachte er, ›das, was durch unser Leben erfüllt wird, das ganze Werk, der ganze Sinn davon ist unbegreiflich und kann mir nicht begreiflich sein: warum waren die Tantchen da? Warum starb Nikolenjka Irtenjew? Und ich lebe? Warum war die Katjuscha da? Und meine Verrücktheit? Warum war der Krieg? Und mein ganzes folgendes wüstes Leben? Alles das zu begreifen, das ganze Werk des Herrn zu begreifen, liegt nicht in meiner Macht. Seinen Willen aber zu thun, der in meinem Gewissen geschrieben steht, liegt in meiner Macht, und das weiß ich unzweifelhaft. Und wann ich ihn thue, bin ich unzweifelhaft ruhig.’

Der Regen fiel schon in Strömen und floß von den Dächern rieselnd in die Wassertonnen, seltener erleuchtete der Blitz den Hof und das Haus. Nechljudow kehrte in das Zimmer zurück, entkleidete sich, und legte sich in das Bett nicht ohne Befürchtungen vor den Wanzen, deren Gegenwart die von den Wänden abgerissenen schmutzigen Papierfetzen ahnen ließen.

‘Ja, sich nicht als ein Herr, sondern als ein Knecht fühlen,’ dachte er, und er freute sich an diesem Gedanken.

Seine Befürchtungen erfüllten sich. Kaum hatte er das Licht gelöscht, als das Ungeziefer ihn bedeckte und zu beißen begann.

‘Das Land abgehen, nach Sibirien fahren, — Flöhe, Wanzen, Unsauberkeit. Nun, was ist zu thun? Wenn man das ertragen muß, so ertrage ich’s.‹ Aber trotz allem guten Willen konnte er es nicht ertragen, und er setzte sich an das geöffnete Fenster und sah auf die entfliehende Wolke und auf den sich wieder zeigenden Mond.

9

Erst gegen Morgen schlief Nechljudow ein, und darum wachte er am anderen Tage spät auf.

Mittags kamen die sieben gewählten Bauern, von dem Arbeitsaufseher eingeladen, in den Baumgarten unter die Apfelbäume, wo von dem Arbeitsaufseher ein Tischchen auf in die Erde eingerammten kleinen Pfosten und Bänke eingerichtet waren. Ziemlich lange mußte man den Bauern zureden, die Mützen aufzusetzen und auf den Bänken Platz zu nehmen.

Der gewesene Soldat, heute mit sauberen Fußlappen und Bastschuhen beschuht, hielt besonders hartnäckig seine zerrissene Mütze vor sich, nach der Regel, wie man sie ›zum Gebet‹ hält.

Als aber einer von ihnen, ein breitschultriger Greis von ehrwürdigem Aussehen mit lockigem halbergrautem Bart, wie beim Moseo von Michel Angelo, und mit sich lockenden dichten grauen Haaren um die entblößte, branne, sonnenverbrannte Stirn seine große Mütze aufsetzte und sich, den neuen zu Hause gemachten Kaftan überschlagend, durchdrängte, als er sich auf der Bank niederließ, folgten die übrigen seinem Beispiel. Als alle Platz gefanden, fehte sich Nechljudow ihnen gegenüber, und die Ellbogen auf den Tisch über dem Papier gestützt, wo der Entwurf des Projektes aufgeschrieben war, fing er an, ihn darzulegen.

War es nun, weil weniger Bauern da waren, oder, weil er nicht mit sich, sondern mit der Sache beschäftigt war, Nechljudow fühlte diesmal keine Befangenheit. Unwillkürlich wandte er sich vorzüglich an den breitschultrigen Greis mit den weißen Bartlocken, von ihm Billigung oder Erwiderung erwartend. Aber die Vorstellung, welche sich Nechljudow von ihm gemacht, war irrtümlich. Der wohlgestaltete Greis, obgleich er auch mit seinem schönen Patriarchenkopf billigend nickte, oder ihn stirnrunzelnd schüttelte, wenn die anderen etwas erwiderten, begriff augenscheinlich nur mit großer Mühe, was Nechljudow sprach, und dies nur dann, wenn die anderen Bauern dasselbe in ihrer Sprache wiedergaben. Weit mehr verstand Nechljudows Worte ein kleiner, einäugiger, in einen geflickten Nankingkaftan und alte schief getretene Stiefel gekleideter, fast bartloser Alter, der neben dem patriarchenhaften Alten saß und ein Ofensetzer war, wie Nechljudow nachher erfuhr. Dieser Mann bewegte rasch die Augenbrauen, in der Anstrengung des Aufmerckens, und sogleich gab er in seiner Art wieder, was Nechljudow sprach. Ebensa schnell begriff auch ein nicht hochgewachsener, stämmiger Alter mit weißem Bart und glänzenden klugen Augen, der jede Gelegenheit benutzte, um scherzhafte, ironische Bemerkungen zu Nechljudows Worten einzuschalten und augenscheinlich damit prunkte. Auch der gewesene Soldat hätte, wie es schien, die Sache verstehen können, wenn er nicht durch das Soldatentum verdummt wäre und sich in den Gewohnheiten der sinnlosen soldatischen Sprache verwirrt hätte. Am ernstesten verhielt sich zur Sache ein in tiefem Baß sprechender, langnasiger, hochgewachsener Mann mit kleinem Bart, in sauberer, zu Hause gemachter Kleidung und neuen Bastschuhen.

Dieser Mann begriff alles und sprach nur dann, wenn es nötig war. Die übrigen zwei Alten — einer, derselbe Zahnlose, der gestern auf der Versammlung entschieden abschlägige Antworten auf alle Vorschläge Nechljudows hinausschrie — und der andere — ein hochgewachsener, weißer, hinkender Alter mit gutmütigem Gesicht, in Bauernschuhen auf den straff mit den weißen Fußlappen umwickelten mageren Beinen — beide schwiegen fast die ganze Zeit, obgleich sie aufmerksam zuhörten.

Nechljudow äußerte zuerst seine Ansicht über das Grundeigentum.

›Land darf man, meiner Meinung nach, weder verkaufen, nach kaufen, weil, wenn man es verkaufen darf, diejenigen, die Geld haben, daß ganze Land aufkaufen, und dann werden sie von demjenigen, der kein Land hat, für das Recht, es zu benutzen, so viel nehmen, wie sie wollen; sie werden Geld dafür nehmen, daß man auf der Erde stehen dürfe,‹ fügte er hinzu, sich des Arguments von Spencer bedienend.

›Das einzige Mittel, damit sie nicht fliegen, ist, ihnen die Flügel zu binden,‹ sagte den Alte mit den lachenden Augen und dem weißen Bart.

›Das ist richtig,‹ sagte der Langnasige in tiefem Baß.

›Ja wohl,‹ sagte der gewesene Soldat.

›Ein Weiblein hat fürs Kühlein Gras gepflückt — man hat es gefangen — ins Gefängnis mit ihr!‹ sagte der bescheidene, gutmütige Alte.

›Unser eigenes Land ist fünf Werst weit, etwas in Pacht zu nehmen aber — das ist für und nicht zu erschwingen: den Preis hat man so hinaufgeschraubt, daß du ihn nicht einmal hereinbringst,‹ fügte der zahnlose, ärgerliche Alte hinzu; ›sie drehen Stricke aus uns, wie sie wollen, schlimmer als die Frohne.‹

›Ich denke ebenso wie ihr,‹ sagte Nechljudow, ›und halte er für eine Sünde, daß Land zu besitzen. Und nun will ich es abgeben.‹

›Was denn? Das ist gut,‹ sagte der Alte mit den Moseslocken, indem er augenscheinlich dabei dachte, daß Nechljudow es verpachten wolle.

›Ich bin eben darum hierher gefahren; ich will kein Land mehr besitzen, aber man muß erst überlegen, wie man es los wird.‹

›Gieb es doch den Bauern , und damit fertig!‹ sagte der zahnlose ärgerliche Alte.

Nechljudow ward in der ersten Minute verwirrt, er fühlte aus diesen Worten Zweifel an der Aufrichtigkeit seiner Absicht. Aber er fand sich sogleich wieder und benutzte diese Bemerkung, um das rund heraus zu sagen, was er ihnen zu sagen hatte.

›Ich wäre froh, es abzugeben,‹ sagte er, ›aber wem und wie? Welchen Bauern? Warum eurer Gemeinde und nicht der Djominskoje-Gemeinde?‹ (Dies war ein benachbartes Pfarrdorf mit bettelhaften Landparzellen.)

Alle schwiegen. Nur der gewesene Soldat sagte: ›Ja wohl.‹

›Nun gut,‹ sagte Nechljudow, ›sagt mir, wenn man das Land den Bauern verteilen sollte…wie würdet ihr es machen?‹

›Wie wir es machen würden? Wir würden alles nach der Seelenzahl verteilen, allen zu gleichen Teilen,‹ sagte der Ofensetzer, rasch die Augenbrauen aufziehend und senkend.

›Wie denn anders? Nach den Seelen verteilen,‹ bekräftigte der gutmütige, hinkende Alte mit den weißen Fußlappen.

Alle bestätigten diese Entscheidung, die sie befriedigend fanden.

›Aber wie nach der Seelenzahl?‹ fragte Nechljudow, ›Soll man es auch dem Hofgesinde verteilen?‹

›Durchaus nicht,‹ sagte der gewesene Soldat, indem er sich bemühte, lustige Munterkeit auf seinem Gesichte auszudrücken. Aber der bedachtsame, hochgewachsene Bauer war mit ihm nicht einverstanden.

›Wenn man schon teilt, so muß man allen zu gleichen Teilen geben,‹ antwortete er in seinem tiefen Baß nach einigem Nachdenken.

›Es geht nicht,‹ begann Nechljudow seine schon im voraus vorbereitete Erwiderung. ›Wenn man es allen gleichmäßig verteilte, so würden alle, die selber nicht arbeiten, nicht ackern, ihren Anteil nehmen und den Reichen verkaufen. Und so wird sich das Land wieder bei den Reichen sammeln. Bei denjenigen aber, die auf eigenen Anteilen sitzen, werden wieder mehr Leute zur Welt kommen, aber das Land ist schon vergriffen. Wieder werden die Reichen diejenigen in ihre Hände kriegen, die das Land brauchen.‹

›Ja wohl,‹ bestätigte eilig der Soldat.

›Man muß verbieten, daß man das Land verkaufe, und nur der hat es, der selber ackert.‹ sagte der Ofensetzer, ärgerlich den Soldaten unterbrechend.

Darauf erwiderte Nechljudow, daß es unmöglich sei, aufzupassen, ob man für sich oder für einen anderen ackert.

Dann schlug der hochgewachsene, bedachtsame Alte vor, es so einzurichten, daß alle im Artell pflügen sollen. Und wer ackert, dem soll man einen Teil davon geben. ›Wer aber nicht ackert, der hat nichts,‹ brachte er in seinem entschiedenen Baß vor.

Auch gegen dieses kommunistische Projekt waren beim Nechljudow Argumente fertig, und er erwiderte: es sei dazu erforderlich, daß alle Pflüge hätten, daß die Pferde gleich gut seien, und daß die einen hinter den anderen nicht zurückblieben; oder daß alles — Pferde, Pflüge, Dreschmaschinen, und die ganze Wirtschaft gemeinsam wäre, aber um alles das einzurichten, sei es nötig, daß alle Leute einverstanden seien.

›Unser Volk wirst du nie im Leben zum Einverständnis bringen,‹ sagte der ärgerliche Alte.

›Da geht lauter Schlägerei los,‹ sagte der Alte mit dem weißen Bart und den lachenden Augen. ›Die Weiber werden einander alle Augen auskratzen.‹

›Dann — wie soll man den Boden nach der Qualität verteilen?‹ sagte Nechljudow. ›Warum sollen die einen Humus bekommen, die anderen aber Lehm und Sand?‹

›Aber in kleine Parzellen zu verteilen, damit alle gleich haben,‹ sagte der Ofensetzer.

Darauf erwiderte Nechljudow, daß es sich nicht um die Verteilung innerhalb einer Gemeinde handele, sondern um die Bodenverteilung in verschiedenen Gouvernements. Wenn man das Land den Bauern umsonst abgebe, warum denn sollen die einen guten Boden besitzen, die anderen schlechten? Alle werden Lust haben, auf guten Boden zu kommen.

›Ja wohl,‹ sagte der Soldat.

Die übrigen schwiegen.

›Also ist es nicht so einfach, wie es scheint,‹ sagte Nechljudow. ›Und darüber denken nicht wir allein, sondern viele Leute nach. Und nun giebt es einen Amerikaner, George, er hat nun so etwas ausgedacht; und ich bin mit ihm einverstanden…‹

›Aber du bist ja Herr, also gieb es nur ab, was brauchst du dich weiter zu kümmern. Dein Wille ist es,‹ sagte der ärgerliche Alte.

Diese Unterbrechung verwirrte den Nechljudow, aber zu seinem Vergnügen bemerkte er, daß nicht er allein mit dieser Unterbrechung unzufrieden war.

›Warte nur, Onkel Semjon, — laß ihn erzählen,‹ sagte der bedachtsame Bauer in seinem eindringlichen Baß.

Dies ermunterte den Nechljudow, und er begann ihnen nach Henry George das Projekt ›single tax‹ zu erklären. ›Das Land ist niemandes, ist Gottes,‹ fing er an.

›Das ist so, ja wohl,‹ antworteten einige Stimmen.

›Das ganze Land ist gemeinsam. Alle haben darauf das gleiche Recht. Aber es giebt besseres und schlechteres Land. Und Jedermann wünscht das gute zu nehmen. Wie soll man denn thun, um das auszugleichen? Nun so, daß wer gutes Land besitzt, denjenigen zahlt, die kein Land besitzen, so viel wie sein Land kostet,‹ antwortete Nechljudow sich selber. ›Da es aber schwer ist, zu repartieren, wer wem zu zahlen habe, und da man doch Geld für die gemeinschaftlichen Bedürfnisse sammeln muß, so muß man es so einrichten, daß derjenige, der das Land besitzt, an die Gemeinde für die mannigfachen Bedürfnisse zahlt, was sein Land kostet. So werden alle gleich haben. Willst du das Land besitzen, so zahle für das gute Land mehr, für das schlechte weniger. Willst du aber keins besitzen, zahlst du nichts; die Abgaben für die gemeinschaftlichen Bedürfnisse zahlen für dich diejenigen, die das Land besitzen.‹

›Das ist richtig,‹ sagte der Ofensetzer, die Augenbrauen bewegend. ›Wer besseres Land hat, der zahle mehr.‹

›Und was für ein Kopf war dieser selbe Georgea,‹ sagte der ansehnliche Alte mit den Locken.

›Wäre nur die Abgabe den Kräften nach,‹ sagte der hochgewachsene im Baß, der augenscheinlich schon ahnte, worauf es ankomme.

›Die Abgabe muß so sein, daß sie nicht zu teuer und nicht zu billig wäre. Wenn sie zu teuer wäre, so würde man sie nicht bestreiten können und Schaden haben, wenn aber zu billig, so würden alle von einander kaufen, mit dem Land handeln. Nun eben dies möchte ich bei euch einrichten.‹

›Das ist richtig, das ist wahr. Warum denn nicht,‹ sprachen die Bauern.

›Das ist ein Kopf!‹ wiederholte der breite Alte mit den Locken. ›Georgea! Aber was hat der ausgedacht!‹

›Nun aber, wie ist es denn, wenn ich wünschte Land zu nehmen?‹ sagte der Arbeitsaufseher lächelnd.

›Wenn es ein freies Stück giebt, so nehmen Sie es, und arbeiten Sie,‹ sagte Nechljudow.

›Wozu brauchst du es? Du bist so wie so satt,‹ sagte der Alte mit den lächelnden Augen.

Hier war die Beratung zu Ende.

Nechljudow wiederholte noch einmal seinen Vorschlag, aber verlangte nicht sofort die Antwort, und riet ihnen, erst mit der Gemeinde zu sprechen und dann zu kommen und ihm Antwort zu geben.

Die Bauern sagten, daß sie mit der Gemeinde sprechen und Antwort bringen wollten, verabschiedeten sich und gingen in aufgeregter Verfassung weg. Und lange ließ sich von der Straße ihr lautes, sich entfernendes Sprechen hören. Und bis spät in den Abend hinein summten ihre Stimmen und kamen den Fluß entlang vom Dorfe her.

Am anderen Tage arbeiteten die Bauern nicht, sie berieten den Vorschlag des Herrn. Die Gemeinde teilte sich in zwei Parteien: die eine hielt den Vorschlag des Herrn für vorteilhaft und gefahrlos, die andere sah darin eine Hinterlist, deren Wesen sie nicht begreifen konnte, und die sie daber besonders fürchteten. Am dritten Tage willigten dennoch alle ein, die angebotenen Bedingungen anzunehmen und kamen zum Nechljudow, ihm den Beschluß der ganzen Gemeinde kund zu machen. Auf diese Einwilligung war von Einfluß die von einem alten Mütterchen ausgesagte, von den Alten angenommene, jede Befürchtung einen Betrugs vernichtende Erklärung der Handlung des Herrn, die darin bestand, daß der Herr um seine Seele zu sorgen beginne und wegen seines Seelenheils so handle. Diese Erklärung wurde durch die großen Almosen bestätigt, die Nechljudow während seiner Anwesenheit in Panowo verteilte. Die Geldspenden, die Nechljudow hier verteilte, wurden dadurch veranlaßt, daß er hier zum ersten Mal Kenntnis erhielt, welchen Grad die Armut und die Härte des Lebens bei den Bauern erreicht hatte; von dieser Armut erschüttert, konnte er nicht umhin, obgleich er wußte, daß es unsinnig sei, jenes Geld wegzugeben, das sich bei ihm jetzt besonders ansammelte. Er hatte es bekommen für den schon voriges Jahr verkauften Wald in Kusjminskoje und dazu noch als Handgeld für das verkaufte Inventar.

Kaum erfuhr man, daß der Herr den Bittenden Geld giebt, so begannen Haufen Volks, vorzüglich Weiber vom ganzen Distrikt zu ihm zu kommen, um Hilfe bittend. Nechljudow wußte durchaus nicht, wie er mit ihnen sein solle, wonach er sich richten solle, bei der Entscheidung der Frage, wem und wie viel man geben müsse. Er fühlte, daß es unmöglich sei, den bittenden und offenbar armen Leuten nicht von dem Gelde zu geben, von dem er so viel hatte. Geben aber aufs Geratewohl denjenigen, die darum bitten, hatte keinen Sinn. Das einzige Mittel, sich aus dieser Lage herauszuarbeiten, war die Abreise. Und daher beeilte er sich, fortzukommen.

Am letzten Tage seines Aufenthalts in Panowo ging Nechljudow in das Haus und machte sich ans Durchsuchen der hinterlassenen Sachen. Als er sie durchsuchte, fand er in der unteren Schublade einer alten bäuchigen Mahagonichiffonière mit Bronzeringen in Löwenköpfen, die den Tantchen angehört, viele Briefe, und unter ihnen eine Photographie, die eine Gruppe darstellte: Sophia Iwanowna, Maria Iwanowna, ihn selber als Studenten und Katjuscha, die reine, frische, freudige und lebensfrohe Katjuscha. Von allen Sachen, die im Hause waren, nahm Nechljudow nur die Briefe und dieses Bild. Das übrige überließ er einem Müller, der, auf die Fürsprache des lächelnden Arbeitsaufsehers, für ein Zehntel des Wertes das Haus und das ganze Mobiliar von Panowo zum Abbruch und zum Wegführen kaufte.

Als Nechljudow jetzt seines Bedauerns wegen des Eigentumsverlustes gedachte, welches er in Kusjminskoje empfunden hatte, staunte er, wie er dieses Gefühl haben konnte; jetzt empfand er eine fortwährende Freude der Befreiung und ein Gefühl des Neuen, dem ähnlich, welches ein Reisender erfahren soll, wenn er neue Länder entdeckt.

10

Die Stadt frappierte Nechljudow bei seinem diesmaligen Kommen besonders seltsam und auf eine neue Art. Er kam abends bei schon angezünderen Laternen vom Bahnhof in seine Wohnung gefahren. Ueber allen Zimmern lag noch der Naphtalingeruch, und Agrafena Petrowna und Kornej fühlten sich beide adgemattet und unzufrieden, sie hatten sich sogar wegen der Aufräumung der Sachen gezankt, deren Gebrauch nur darin zu bestehen schien, daß man sie aufhänge, sonne and wieder verstecke. Nechljudows Zimmer war nicht in Ansprnch genommen, aber auch nicht aufgeräumt, und die Durchgänge dazu waren wegen der Koffer schwierig; so daß Nechljudows Ankunft offenbar die Geschäfte störte, die nach irgend welchen seltsamen Beharrungsgesetz in dieser Wohnung vor sich gingen. Alles das erschien dem Nechljudow nach den Eindrücken des Elends in den Dörfern so unangenehm, durch seine augenscheinliche Sinnlosigkeit, an der er ehemals teil genommen hatte, daß er beschloß, schon am anderen Tag in ein Gasthaus umznziehen, indem er der Agrafena Petrowna überließ, die Sachen zu versorgen, wie sie es für nötig fand, bis zur Ankunft der Schwester; die würde definitive Anordnungen treffen über alles, war in dem Hause war.

Nechljudow ging früh aus dem Hause, wählte sich nicht weit vom Gefängnis unter den ersten besten, sehr bescheidenen und ziemlich schmutzigen möblierten Zimmern eine Wohnung, aue zwei Zimmern bestehend, und nachdem er angeordnet hatte, daß man die von ihm zu Hause ausgewählten Sachen dorthin transportiere, ging er zum Advokaten.

Auf der Straße war es kalt. Nach den Gewittern und Regengüssen traten die kalten Tage ein, die gewöhnlich im Frühling zu sein pflegen. Es war so kalt, und es ging ein so durchdringender Wind, daß er Nechljudow in dem leichten Ueberzieher frohr, und daß er den Schritt fortwährend beschleunigte, in dem Bemühen, sich zu erwärmen.

In seiner Erinnerung waren die Dorfleute, Frauen, Kinder, Alte, deren Armut und Gequältheit er gleichsam jetzt zum ersten Male wahrgenommen hatte, besonders das lächelnde kleine Säuglings-Greislein, das die wadenlosen Beinchen hin und her schlenkerte. Und unwillkürlich verglich er damit, was in der Stadt war. Als er an den Fleisch- und Fischläden, an den Läden mit fertigen Kleidern vorbeiging, war er betroffen, — als ob er all das zum ersten Male sähe, — von der Sattheit der ungeheueren Menge so sauberer und fetter Ladenbesitzer, denen ähnlich es im Dorfe keinen einzigen Menschen giebt. Diese Leute waren offenbar fest überzeugt, daß ihre Bemühungen, diejenigen zu betrügen, die nicht Kenner ihrer Waren seien, keine müßige, sondern eine sehr nützliche Beschäftigung bildeten. Ebenso satt waren die Kutscher mit den ungeheuer großen Rückseiten und mit den Knöpfen auf dem Rücken; ebenso die Thürsteher mit den galonnierten Mützen, ebenso die Zimmermädchen mit Schürzen und Löckchen, besondete aber die Lichatschs — Mietskutscher29 mit den rasierten Nacken, die ausgebreitet in ihren Droschken saßen und die Vorbeigehenden verächtlich und frech betrachteten. In allen diesen Menschen erblickte er jetzt unwillkürlich dieselben, des Bodens beraubten, und durch diesen Verlust in die Stadt zusammengetriebenen dörflichen Leute. Von diesen Leuten hatten die einen verstanden, die Bedingungen des städtischen Lebens zu benutzen; sie wurden ebenso wie die Herren und freuten sich ihrer Lage; die anderen gerieten in der Stadt in noch schlimmere Bedingungen, als im Dorfe, und waren noch mehr zu bedauern. So erschienen dem Nechljudow erbärmlich die Schuster, die er in einem Kellergeschoß am Fenster arbeiten sah; ebenso mager, blaß, zerzaust waren die Wäscherinnen, die mit ihren hageren, entblößten Armen vor den geöffneten Fenstern glätteten, aus welchen der Seifendampf herausströmte. Ebenso waren zwei dem Nechljudow begegnende Anstreicher in Schürzen und alten Stiefeln mit abgeschnittenen Schäften auf den nackten Füßen, die ganz vom Kopfe bis zu den Fersen mit Farbe beschmiert waren. In den sonnenverbrannten, stark geäderten, schwachen Armen mit den über den Ellbogen aufgestreiften Aermeln trugen sie einen Eimer mit Farbe und schimpften ohne Aufhören. Die Gesichter waren verquält und böse. Eben solchen Ausdruck hatten auch die schwarzen Gesichter der bestäubten Lastfuhrleute, die auf ihren Frachtwagen hin und het geschüttelt wurden. Ebenso waren auch die Gesichter bei den zerlumpten, aufgedunsenen Männern und Frauen, die mit den Kindern an den Straßenecken standen und um Almosen baten. Eben solche Gesichter waren in den geöffneten Fenstern einer Wirtschaft, an der Nechljudow vorbeigehen mußte, zu sehen. Bei den schmutzigen, mit Flaschen und Theegeschirr vollgestellten Tischchen, zwischen denen die weißen Kellner mit schaukelndem Gang hin und her huschten, saßen schreiend und singend, die schweißigen, rotgewordenen Leute mit verdummten Gesichtern. Einer saß am Fenster; mit aufgezogenen Augenbrauen und vorgestreckten Lippen sah er vor sich hin; als ob er bemüht wäre, sich an etwas zu erinnern.

’Und wozu sind sie alle hierher gekommen?’ dachte Nechljudow, indem er unwillkürlich zugleich mit dem Staube, den der kalte Wind ihm zutrug, auch den überall verbreiteten Geruch ranzigen Oels und frischer Farbe einatmete.

Auf einer der Straßen traf Nechljudow einen Zug Lastfuhrleute an, die irgend welches Eisen fuhren und so schrecklich mit dem Eisen auf dem unebenen Pflaster rasselten, daß die Ohren ihm weh thaten und der Kopf. Er beschleunigte den Schritt, um den Zug zu überholen, als er plötzlich durch das Gerassel des Eisens seinen Namen hörte. Er blieb stehen und sah ein wenig vor sich einen Militär mit spitzigem, zusammengeklebtem Schnurrbart und mit blankem, strahlendem Gesicht, der in der Droschke eines Lichatsch’s saß und ihm bewillkommnend mit der Hand winkte, indem er beim Lächeln die ungewöhnlich weißen Zähne aufdeckte.

›Nechljudow, bist du das?‹

Das erste Gefühl Nechljudows war Vergnügen.

›Ah, Schenbock,‹ brachte er freudig hervor, aber sogleich begriff er, daß gar keine Ursache da war, sich zu freuen.

Es war derselbe Schenbock, der damals zu den Tantchen gefahren kam. Nechljudow hatte ihn schon lange aus dem Auge verloren, aber er hörte von ihm, daß er das Regiment verlassen habe, doch bei der Kavallerie geblieben sei und sich immer noch trotz seiner Schulden, durch irgend welche Mittel, im Kreise der reichen Leute hielt. Sein zufriedenes, heiteres Aussehen bestätigte das.

›Das ist ja gut, daß ich dich erwischt habe. Sonst aber giebts niemand in der Stadt. Nun, Bruder, du bist aber alt geworden,‹ sprach er, von der Droschke steigend und seine Schultern reckend. ›Ich habe dich nur an dem Gang erkannt. Nun, wie ist es denn, wollen wie zusammen zu Mittag essen? Wo füttert man sich hier, bei Ihnen, anständig?‹

›Ich weiß nicht, ob ich Zeit habe,‹ antwortete Nechljudow und dachte nur darüber nach, wie er den Kameraden loswerden könnte, ohne ihn zu beleidigen.

›Warum bist du hier?‹ fragte er.

›Geschäfte, Brüderchen, Geschäfte wegen der Kuratel. Ich bin ja Kurator. Ich verwalte die Geschäfte Samanows. Kennst Du den reichen Samanow? Er ist ‘ramolli’. Hat aber vierundfünfzig Tausend Deßjatinen Boden,‹ sagte er mit besonderem Stolz, als ob er alle diese Deßjatinen selber gemacht habe. ›Seine Sachen waren fürchterlich vernachlässigt. Das Land war bei den Bauern in Pacht. Sie zahlten nichts, der Rückstand betrug mehr als Achtzigtausend. Ich habe in einem Jahre alles geändert und der Kuratel 70 Prozent mehr verschafft. Aeh?‹ fragte er stolz.

Nechljudow erinnerte sich, daß er gehört hatte, wie dieser Schenbock, gerade weil er sein ganzes Vermögen durchgebracht und unbezahlbare Schulden gemacht, dank irgend welcher besonderen Protektion zum Kurator über das Vennbgen eines alten reichen Mannes bestellt worden, der sein Vermögen verpraßte; augenscheinlich lebte er jetzt von dieser Kuratel.

›Wie könnte ich ihn loswerden, ohne ihn zu beleidigen?‹ dachte Nechljudow, indem er auf dieses blanke, pralle Gesicht mit dem steif gewichsten Schnurrbart blickte und sein gutmütig kameradschaftliches Geplauder hörte, darüber, wo man sich gut füttert, und seine Prahlerei darüber, wie gut er die Geschäfte der Kuratel besorgt hatte.

›Nun, wo essen wir denn zu Mittag?‹

›Aber ich habe keine Zeit,‹ sagte Nechljudow, die Uhr anblickend.

›Nun, in diesem Fall…Hette abend findet ein Pferderennen statt. Wirst du da sein?‹

›Nein, ich werde nicht da sein.‹

›Komm’ doch. Eigene habe ich nicht mehr. Aber ich halte auf Grischas Pferde. Erinnerst du dich? Er hat einen schönen Pferdestall. Nun, fahre also vor, und wir essen dann zu Abend.‹

›Auch zu Abend essen kann ich nicht,‹ sagte Nechljudow lächelnd.

›Nun, was ist denn das? Wohin gehst du jetzt? Willst du, ich nehme dich im Wagen mit.‹

›Ich gehe zum Advokaten. Er wohnt da um die Ecke,‹ sagte Nechljudow.

›Ah, du thust ja etwas im Gefängnis? Bist ein Gefängnis-Fürsprecher geworden? Die Kortschagins haben mir’s erzählt,‹ fing Schenbock lachend an. ›Sie sind schon abgereist. Was ist das? Erzähle.‹

›Ja, ja, das ist alles wahr,‹ antwortete Nechljudow. ›Wie soll ich denn auf der Straße erzählen?‹

›Nun ja, nun ja, du bist ja immer ein Sonderling gewesen. Wirst du also zum Rennen kommen?‹

›Aber nein, ich kann nicht und will nicht. Du sei mir nicht böse, bitte.‹

›Na, böse sein! Wo logierst du?‹ fragte er, und sein Gesicht wurde plötzlich ernst, die Augen blickten starr, die Augenbrauen zogen sich empor. Er wollte sich offenbar besinnen, und Nechljudow sah auf seinem Gesicht vollkommen denselben stumpfen Ausdruck, der ihn bei jenem Mann mit den aufgezogenen Augenbrauen und den vorgestreckten Lippen frappiert hatte.

›Das ist eine Kälte! Aeh?‹

›Ja, ja.‹

›Hast da die gekauften Sachen?‹ wandte sich Schenbock an den Mietskutscher.

›Nun, also, leb’ wohl, ich bin sehr, sehr froh, daß ich dir begegnet bin,‹ sagte er, und nachdem er dem Nechljudow stark die Hand gedrückt, sprang er in die Droschke und winkte vor seinem blanken Gesicht mit der breiten Hand im neuen sämischledernen Handschuh, wobei er gewohnheitsmäßig mit seinen ungewöhnlich weißen Zähnen lächelte.

‘Bin ich wirklich so einer gewesen?’ dachte Nechljudow, indem er seinen Weg zum Advokaten fortsetzte. ‘Ja, wenn auch nicht ganz so einer; aber ich wollte so einer sein, und ich dachte, daß ich so mein Leben verbringen würde.«

11

Der Advokat empfing ihn außer der Reihe und kam sogleich ins Gespräch über die Sache der Menjschows, die er durchgelesen hatte; er war empört über die Grudlosigkeit der Anklage.

»Diese Sache ist empörend,« sprach er, »es ist sehr wahrscheinlich, daß die Brandstiftung von dem Besitzer selbst verübt wurde, um die Versicherungsprämie zu bekommen; aber jetzt kommt es nur darauf an, daß die Schuld der Menjschows vollkommen unbewiesen ist. Er giebt nicht eine überführende Thatsache. Das ist nur das besondere Talent des Herrn Untersuchungsrichters und die Nachlässigkeit der Staatsanwaltes. Wenn die Sache nur nicht in der Bezirksstadt verhandelt werden möchte; hier aber bürge ich Ihnen für den Erfolg und nehme kein Honorar. Nun die andere Sache: die Bittschrift der Fedossija Birjukowa an die allerhöchste Instanz ist aufgesetzt; wenn Sie nach Petersburg fahren, nehmen Sie sie mit, reichen Sie sie selber ein, und verwenden Sie sich. Sonst wird man eine schriftliche Anfrage machen, und es kommt nichts danach. Aber geben Sie sich Mühe, die Personen zu kriegen, die in der Bittschriftenkommission Einfluß haben. Nun, ist das jetzt alles?«

»Nein, man schreibt mir noch…«

»Sie sind, sehe ich, zu einem Trichter, zu einem Flaschenhals geworden, durch den sich alle Klagen des Gefängnisses ergießen,« sagte der Advokat lächelnd. »Es ist zuviel, Sie werden es nicht bewältigen.«

»Nein, aber das ist eine erschütternde Sache,« sagte Nechljudow und erzählte kurz das Wesentliche des Prozesses das darin bestand, daß ein schriftkundiger Bauer im Dorfe das Evangelium zu lesen und seinen Freunden zu erklären begonnen hatte. Die Geistlichkeit hielt das für ein Verbrechen. Man denunzierte ihn. Der Untersuchungsrichter verhörte ihn, der Staatsanwalt setzte einen Anklageakt auf, und das Appellationsgericht bestätigte die Anklage.

»Es ist etwas Schreckliches,« sprach Nechludow. »Ist es wirklich wahr?«

»Was wundert Sie denn da?«

»Aber alles; nun, ich begreife einen Landpolizisten, dem man Ordre gegeben hat, aber der Staatsanwalt, der die Akte aufgesetzt hat …der ist ja ein gebildeter Mensch…«

»Da liegt ja eben der Fehler, daß wie gewohnt sind zu glauben, die Prokuratur und überhaupt die Gerichtsbeamten, dies seien irgendwie neue liberale Menschen. Einmal sind sie es wohl gewesen, jetzt ist das aber ganz anders geworden. Das sind Beamte, die sich nur um den zwanzigsten des Monats30 kümmern. Er bezieht sein Gehalt, und er hätte noch mehr nötig — das ist der ganze Inbegriff seiner Prinzipien. Er wird anklagen, richten, verurteilen, wen Sie wollen.«

»Aber existieren denn wirklich Gesetze, nach welchen man einen Menschen verschicken kann, nur dafür, daß er mit andern zusammen das Evangelium liest?«

»Nicht nur ‘verschicken in nicht allzu entfernte Gegenden,’ sondern in Zwangsarbeit, wenn es bewiesen würde, daß sie sich beim Lesen des Evangeliums erlaubt haben, es den andern nicht so, wie es befohlen ist, auszulegen und somit die kirchliche Auslegung getadelt haben. Tadel gegen die rechtgläubige Konfession in Gegenwart anderer — das bedeutet nach Artikel so und so — Zwangsarbeit.«

»Aber das kann nicht sein.«

»Ich sage es Ihnen. Ich sage den Herren Gerichtsbeamten immer,« fuhr der Advokat fort, »daß ich sie nicht ohne Dankgefühl ansehen kann, denn wenn ich nicht im Gefängnis bin und Sie auch nicht, und wir alle nicht, so ist das nur ihrer Güte zu danken. Aber auf einen jeden von uns die Entziehung besonderer Rechte und den Paragraphen von ‘den nicht allzu entfernten Gegenden’ anzuwenden, ist die leichteste Sache von der Welt.«

»Aber wenn es so ist, und wenn alles von der Willkür des Prokureurs und der Personen abhängt, die das Gesetz anwenden wollen oder nicht, wozu ist dann das Gericht da?«

Der Advokat brach in lustiges Lachen aus.

»Ja, solche Fragen stellen Sie? Nun, Väterchen, das ist Philosophie. Warum denn nicht? Man kann sich auch darüber ein wenig unterhalten. Fahren Sie nur am Samstag vor. Sie treffen bei mir Gelehrte, Litteraten, Künstler. Dann sprechen wir über ‘allgemeine Fragen’,« sagte der Advokat, mit ironischem Pathos die Worte ‘allgemeine Fragen’ aussprechend. »Sind Sie mit meiner Frau bekannt? Fahren Sie vor.«

»Ja, ich will mir Mühe geben,« antwortete Nechljudow, fühlend, daß er eine Unwahrheit sage, und daß, wenn er wirklich für etwas, so nur dafür sorgen würde, am Abend beim Advokaten, inmitten der sich bei ihm versammelnden Gelehrten, Litteraten und Künstler nicht zu sein. Das Lachen, mit welchem der Advokat auf Nechljudows Bemerkung geantwortet, daß das Geeicht keine Bedeutung habe, wenn die Gerichtsbeamten nach ihrer Willkür das Gesetz anwenden oder nicht anwenden können, und die Intonation, mit der er die Worte: ‘Philosophie’ und ‘allgemeine Fragen’ ausgesprochen, zeigte dem Nechljudow, wie ganz entschieden er und der Advokat und wahrscheinlich auch die Freunde des Advokaten die Sachen ansahen, und wie er, Nechljudow, sich, trotz seiner jetzigen Entfernung von seinen früheren Kameraden, wie Schenbock, noch viel entfernter von dem Advokaten und den Leuten seines Kreises fühle.

12

Bis zum Gefängnis war er noch weit, und er war schon spät, darum nahm Nechljudow einen Mietkutscher und fuhr zum Gefängnis. Auf einer der Straßen wandte sich der Mietkutscher, ein Mann von mittleren Jahren, mit klugem und gutmütigem Gesicht an den Nechljudow und zeigte ihm ein ungeheuer großes Haus, das gebaut ward.

»Sieh mal, was für ein großmächtiges Haus hat man hingeprotzt,« sagte er, als ob er ein Miturheber dieses Hauses und stolz darauf wäre.

Es wurde dort wirklich ein kolossales Haus in irgend einem ungewöhnlichen, komplizierten Stil gebaut. Ein dauerhaftes Baugerüst aus großen Fichtenbalken, mit eisernen Klammern zusammengefaßt, umgab den zu errichtenden Bau und trennte denselben durch einen Bretterzaun von der Straße. Ueber die Stellagen des Baugerüstes wimmelten mit Kalk bespritzte Arbeiter wie Ameisen hin und her: die einen mauerten, die anderen behauten Steine, die dritten trugen schwere Tragbahren und Kübel nach oben, leere hinab.

Ein dicker, schön gekleideter Heer, wahrscheinlich ein Architekt, der bei dem Baugerüst stand und nach oben auf etwas zeigte, sprach zu dem ehrerbietig zuhörenden Unternehmer aus dem Wladimirschen Gouvernement. Durch das Thor, vorüber an dem Architekten und dem Unternehmer, rollten leere Fuhren heraus und beladen hinein.

’Und wie fest sind sie alle überzeugt, sowohl diejenigen, die arbeiten, wie auch diejenigen, die sie arbeiten lassen, daß es so sein müsse, daß — während ihre schwangeren Frauen zu Hause Kräfte übersteigende Arbeit thun, und ihre Kinder in den Häubchen, angesichts des baldigen kalten Todes, greisenhaft lächeln, die Beinchen krümmend, — sie diesen dummen, unnötigen Palast für irgend einen dummen, unnötigen Menschen bauen müssen, für einen derselben, die sie berauben und zu Grunde richten,’ dachte Nechljudow, dieses Haus betrachtend.

»Ja, ein albernes Haus,« sprach er seinen Gedanken laut aus.

»Wie so albernes?« erwiderte der Mietkutscher beleidigt, »dank ihm! Es giebt dem Volk Arbeit, aber albern ist’s nicht.«

»Aber die Arbeit ist ja keine notwendige.«

»Wenn man es baut, so ist sie folglich nötig,« erwiderte der Mietkutscher. »Das giebt den Leuten zu essen.«

Nechljudow schwieg, um so mehr, da es schwer war, bei dem Rädergerassel zu sprechen. Nicht weit vom Gefängnis fuhr der Mietkutscher vom Pflaster auf die Chaussee hinüber, so daß es leichter wurde, zu sprechen, und er wandte sich wieder an Nechljudow.

»Und wie viel von diesem Volk wälzt sich heutzutage in die Stadt herein — fürchterlich!« sagte er, sich auf dem Kutschbock drehend, und den Nechljudow auf ein Artell von Dorfarbeitern aufmerksam machend, die mit Sägen, Aexten, Halbpelzen und Säcken über den Schultern ihnen entgegen kamen.

»Mehr als in früheren Jahren?« fragte Nechljudow.

»Kein Vergleich; man drängt sich heutzutage so um alle Stellen, daß es ein Elend ist. Die Arbeitgeber werfen einander die Leute wie Holzspähne zu, überall ist’s voll.«

»Warum ist denn das so?«

»Es hat sich sehr vermehrt. Man weiß nicht mehr wohin.«

»Was macht denn das, wenn es sich vermehrt hat? Warum bleibt man nicht im Dorf?«

»Im Dorf ist nichts zu thun. Man hat kein Land.«

Nechljudow empfand dasselbe, was einem wehen Gliede zu geschehen pflegt. Es scheint, daß du dich gleichsam mit Fleiß immer an der schmerzenden Stelle stößest. Es scheint aber einzig darum so, weil die Stöße nur an der schmerzhaften Stelle bemerkbar sind. ‘Ist es wirklich überall dasselbe?’ dachte er und fing an, den Mietkutscher darüber zu befragen, wieviel Land sein Dorf habe, und wieviel Land der Kutscher selber habe, und warum er in der Stadt wohne.

»Boden haben wir, Herr, eine Deßjatine für eine Seele. Wir haben für drei Seelen,« fing der Mietkutscher bereitwillig zu sprechen an. »Ich habe zu Hause meinen Vater und einen Bruder, der andere ist Soldat. Sie werden fertig. Nur — es giebt nichts, womit man fertig werden sollte. Der Bruder sollte schon nach Moskau gehn.«

»Aber kann man nicht Land in Pacht nehmen?«

»Wo soll man heutzutage etwas in Pacht nehmen? Die Herrchen, die früher da waren, haben den eigenen Boden durchgebracht. Die Kaufleute haben alles an sich gerafft. Bei ihnen wirst du nichts abkaufen, sie bewirtschaften es selber. Bei uns hat es ein Franzose, er hat’s beim früheren Herrn gekauft; er will nichts in Pacht geben, und damit fertig.«

»Was für ein Franzose?«

»Ein Franzose — Dufar, vielleicht haben Sie von ihm gehört. Er macht im großen Theater Perrücken für die Komödiantinnen, — eine gute Beschäftigung — ist also reich geworden. Von unserem Gutsfräulein hat er dann das ganze Gut gekauft. Jetzt hat er uns in seiner Hand, er reitet auf uns, wie er nur will. Selber ist er ein guter Mann, gottlob. Aber die Frau von ihm — eine russische — so ein Hund, daß Gott bewahr’! Sie plündert das Volk! Ein wahres Elend! Nun, da ist auch schon das Gefängnis. Wohin wollen Sie? Zur Anfahrt? Man erlaubt’s, glaub’ ich, nicht.«

13

Mit Herzbeklemmung und Grausen vor dem Gedanken, in welcher Verfassung er heute die Maslowa finden werde, und vor dem Geheimnis, das für ihn sowohl in ihr, als auch in jener Ansammlung von Menschen im Gefängnis lag, klingelte Nechljudow am Haupteingang und fragte den zu ihm herauskommenden Aufseher nach der Maslowa. Der Aufseher erkundigte sich und sagte, daß sie im Krankenhause sei. Nechljudow ging ins Krankenhaus. Ein gutmütiger kleiner Alter, ein Krankenhauswächter, ließ ihn sogleich herein, und als er erfahren, wen Nechljudow sehen wollte, wies er ihn in die Kinderabteilung.

Der junge Arzt, ganz von Karbolsäure durchdrungen, kam zum Nechljudow in den Korridor heraus und fragte ihn streng, was er wolle. Dieser Arzt erwies den Gefangenen allerlei Nachsicht und geriet daher fortwährend in unangenehme Kollisionen mit der Gefängnisobrigkeit und sogar mit dem Oberarzt. Da er befürchtete, daß Nechljudow von ihm etwas Ungesetzliches verlangen werde, und da er außerdem zeigen wollte, daß er für niemand Ausnahmen mache, stellte er sich ärgerlich.

»Hier giebts keine Frauen, es sind die Kindersäle,« sagte er.

»Ich weiß, aber es ist hier eine aus dem Gefängnis übergeführte Gefangene, eine Krankenpflegerin.«

»Ja, hier giebt’s zwei solche, also was wollen Sie denn?«

»Ich stehe einen von ihnen nahe der Maslowa,« sagte Nechljudow, »und nun möchte ich sie sehen; ich fahre nach Petersburg, um eine Kassationsbeschwerde wegen ihrer Sache einzureichen, und ich wollte das hier ihr übergeben. Es ist nur eine Photographie,« sagte Nechljudow, ein Couvert aus der Tasche nehmend.

»Warum nicht, das kann man,« sagte der Arzt, milder geworden; und sich an ein altes Mütterchen mit weißer Schürze wendend, sagte er, daß sie die Krankenpflegerin, die Arrestantin Maslowa rufen solle.

»Wollen Sie sich nicht setzen, oder wenigstens in das Empfangszimmer gehen?«

»Ich danke Ihnen,« sagte Nechljudow, und die für sich günstige Veränderung im Wesen des Arztes ausnützend, fragte er ihn, wie man im Krankenhause mit der Maslowa zufrieden sei.

»Leidlich, sie arbeitet nicht übel, wenn man die Bedingungen in Betracht zieht, in welchen sie sich befunden hat,« sagte der Arzt; »übrigens hier ist sie schon selber.«

Aus einer der Thüren kam das alte Mütterchen und hinter ihr die Maslowa. Sie war in weißer Schürze über einem gestreiften Kieide, auf dem Kopfe trug sie ein Tuch, das die Haare verbarg. Als sie Nechljudow gewahr wurde, errötete sie jäh, blieb stehen, gleichsam unschlüssig, dann aber machte sie ein finsteres Gesicht, ließ die Augen sinken und begab sich mit raschen Schritten zu ihm über den gestreiften Läufer des Korridors. Bei Nechljudow angelangt, woolte sie ihm die Hand nicht reichen, dann reichte sie sie doch und errötete noch mehr.

Nechljudow hatte sie nach jenem Gespräch, wo sie sich wegen ihrer Heftigkeit entschuldigte, nicht gesehen, und er erwartete sie ebenso zu finden, wie damals, aber heute war sie ganz anders; in dem Gesichtsausdruck lag etwas Neues, etwas Zurückhaltendes, Schüchternes, und wie es dem Nechljudow schien, ihm nicht Wohlwollendes. Er sagte ihr dasselbe, was er dem Arzt gesagt, daß er nach Petersburg fahre, und gab ihr das Couvert mit der Photographie, die er aus Panowo mitgebracht.

»Das habe ich in Panowo gefunden, eine alte Photographie, vielleicht wird es Sie freuen. Nehmen Sie.«

Sie zog ihre schwarzen Augenbrauen etwas empor und blickte ihn mit ihren schielenden Augen verwundert an, als ob sie ihn fragte: wozu ist das? Und schweigend nahm sie das Couvert und steckte es hinter die Schürze.

»Ich habe dort Ihre Tante gesehen,« sagte Nechljudow.

»Haben Sie sie gesehen?« sagte sie gleichgültig.

»Geht es Ihnen gut hier?« fragte Nechljudow.

»So, so, gut,« sagte sie.

»Nicht zu schwer?«

»Nein, es geht an. Ich bin es noch nicht gewohnt.«

»Ich bin sehr froh für Sie. Immer doch besset als dort.«

»Als wo dort?« sagte sie, und ihr Gesicht übergoß sich mit Röte.

»Dort, im Gefängnis,« beeilte sich Nechljudow zu sagen.

»In wiefern denn besser?« fragte sie.

»Ich glaube, hier sind die Leute besser, es giebt keine solchen wie dort.«

»Dort giebt es viele Gute,« sagte sie.

»Ich habe mich für die Menjschows verwendet, und ich hoffe, man wird sie frei lassen,« sagte Nechljudow.

»Das wolle Gott, so ein altes Mütterchen, ein wunderbares,« sagte sie, ihre Definition der Alten wiederholend und lächelte leicht.

»Heute fahre ich nach Petersburg. Ihre Sache wird bald verhandelt, und ich hoffe, das Urteil wird aufgehoben.«

»Ob man er aufhebt, oder nicht aufhebt — jetzt ist es einerlei,« sagte sie.

»Warum jetzt?«

»So,« sagte sie, indem sie flüchtig und fragend in seine Augen blickte.

Nechljudow verstand dieses Wort und diesen Blick so, daß sie wissen wolle, ob er seinen Entschluß aufrecht erhalte, oder ob er ihre abschlägige Antwort angenommen und ihn geändert habe.

»Ich weiß nicht, warum es für Sie einerlei ist,« sagte er. »Für mich aber ist es wirklich einerlei: ob man Sie freispricht oder nicht. Ich bin in jedem Falle bereit, zu thun, wie ich gesagt habe,« sagte er entschieden.

Sie hob den Kopf empor, und ihre schielenden Augen blieben auf seinem Gesicht haften und sahen an ihm vorbei. Und ihr ganzes Gesicht erstrahlte vor Freude. Aber sie sagte etwas ganz anderes, als was ihre Augen sagten.

»Dae sagen Sie umsonst,« sagte sie.

»Ich sage es, damit Sie er wissen.«

»Darüber ist schon alles gesagt, und es ist nichts mehr zu sprechen,« sagte sie, mit Mühe ein Lächeln zurückhaltend.

Im Krankensaal entstand ein Lärm, und es ließ sich Kinderweinen hören.

»Man ruft mich, scheint es,« sagte sie, sich unruhig umblickend.

»Nun, so leben Sie wohl,« sagte er.

Sie nahm eine Miene an, als ob sie die ausgestreckte Hand nicht bemerke, und ohne sie zu drücken, drehte sie sich um und bemüht, ihren Triumph zu verbergen, ging sie mit raschen Schritten über den gestreiften Läufer des Korridors fort.

‘Was geht jetzt in ihr vor? Wie denkt sie? Wie fühlt sie? Will sie mich versuchen, oder kann sie mir wirklich nicht verzeihen? Kann sie nicht alles sagen, was sie denkt und fühlt, oder will sie es nicht? Ist sie milder geworden, oder erbitterter?’ fragte sich Nechljudow und konnte durchaus nicht antworten. Eins, was er wußte, war, daß sie sich verändert hatte, daß in ihr eine für ihre Seele wichtige Wandlung vor sich ging, und daß diese Wandlung sie nicht nur mit ihm, sondern auch mit dem, in dessen Namen diese Umwandlung geschah, vereinigte. Und diese Vereinigung versetzte ihn in eine freudig-erregte und gerührte Verfassung.

Als sie in den Krankensaal zurückgekehrt war, wo acht Kinderbettchen standen, begann die Maslowa, auf Geheiß der Krankenschwester, eins der Lager umzubetten, und da sie sich mit dem Laken in der Hand zu weit überbog, glitschte sie aus und wäre fast gefallen.

Ein Knabe in der Rekonvalescenz, mit umbundenem Hals, der sie anblickte, fing an zu lachen, und die Maslowa konnte nicht mehr an sich halten; sie setzte sich auf das Bett und brach in ein lautes und so ansteckendes Lachen aus, daß einige der Kinder ebenfalls zu lachen begannen, und daß die Krankenschwester sie ärgerlich anschrie.

»Was gackerst du? Du meinst wohl, du bist noch da, wo du herkommst! Geh, hol die Rationen.«

Die Maslowa verstummte, nahm das Geschirr und ging, wohin sie geschickt ward. Aber als sie mit dem verbundenen Knaben, dem das Lachen verboten war, einen Blick wechselte, schnaufte sie abermals vor Lachen.

Einige Male, sobald sie im Verlauf des Tages allein blieb, schob die Maslowa die Photographie aus dem Couvert und weidete sich daran, aber erst am Abend, als ihr Tagesdienst zu Ende und sie allein in dem Zimmerchen war, wo sie mit der Krankenpflegerin zu zweit schlief, nahm die Maslowa die Photagraphie ganz aus dem Couvert, und lange und unbeweglich, jede Einzelheit der Gesichter und der Kleidung, der Balkonstufen und der Sträucher, auf deren Hintergrund die Gesichter, — seines und ihres und die der Tantchen, — sich abhoben, mit den Augen liebkosend, betrachtete sie das verblaßte und vergilbte Bildchen und konnte sich nicht satt daran sehen, besonders an sich selbst, an ihrem eigenen jungen schönen Gesicht mit den sich um die Stirn kräuselnden Haaren. So sehr hatte sie sich beim Betrachten vergessen, daß sie nicht bemerkte, wie ihre Kameradin, die Krankenpflegerin, in das Zimmer trat.

»Was ist denn das? Hat er es dir gegeben?« sagte die dicke gutmütige Krankenpflegerin, sich über die Photographie beugend. »Bist das wirklich du?«

»Wer denn sonst?« machte die Maslowa und sah lächelnd in die Augen der Kameradin.

»Und wer ist das? Er selber? Und ist das seine Mutter?«

»Die Tante. Würdest du mich nicht erkennen?« fragte die Maslowa.

»Wo erkennen? In meinem Leben würd’ ich’s nicht erkennen. ’n ganz ander Gesicht. Es sind ja wohl, glaub’ ich, zehn Jahre her seitdem!«

»Nicht die Jahre, aber das Leben,« sagte die Maslowa, und plötzlich war all ihre Belebtheit verschwunden. Ihr Gesicht ward niedergeschlagen, und eine Falte schnitt sich zwischen den Augenbrauen ein.

»Wieso denn? Das Leben dort soll ja leicht sein?«

»Ja, leicht!« wiederholte die Maslowa, indem sie die Augen zudrückte und den Kopf schüttelte. »Schlimmer als Zwangsarbeit.«

»Aber warum denn so schlimm?«

»Nun darum! Von acht abends bis vier morgens, und so jeden Tag.«

»Ja, warum giebt man’s denn nicht auf?«

»Man möchte es wohl aufgeben, aber man kann nicht. Aber was ist da zu sprechen?« brachte die Maslowa hervor, sprang auf, warf die Photographie in die Tischschublade, und kaum ihre zornigen Thränen zurückhaltend, lief sie in den Korridor hinaus und schlug die Thür hinter sich zu.

__________

Während sie die Photographie anblickte, fühlte sie sich so, wie sie auf derselben dargestellt war und träumte davon, wie glücklich sie damals gewesen, und wie glücklich sie noch jetzt hätte mit ihm sein können. Die Worte der Kameradin erinnerten sie an das, was sie jetzt war, und was sie dort gewesen, erinnerten sie an alle Schrecken jenes Lebens, welche sie damals unklar empfunden, und welche sie nicht zum vollen Bewußtsein hatte kommen lassen. Erst jetzt vergegenwärtigte sie sich lebhaft all jene schrecklichen Nächte, besonders eine in der Butterwoche, als sie einen Studenten erwartete, der sie loszukaufen versprochen hatte. Sie rief sich’s zurück, wie sie in dem offenen, mit Wein besudelten roten seidenen Kleide, mit der roten Schleife im verwirrten Haat, abgequält und ermattet und betrunken, nachdem sie gegen drei Uhr nachts die Gäste begleitet, sich in der Pause zwischen den Tänzen zu der mageren, knochigen, sinnigen Klavierspielerin gesetzt hatte, die den Geigenspieler begleitete und über ihr schweres Leben zu klagen begann, und wie diese Klavierspielerin gleichfalls sagte, daß ihre Lage ihr schwer falle, und daß sie sie ändern möchte, und wie die Klara zu ihnen kam, und wie sie alle drei plötzlich den Entschluß faßten, dieses Leben aufzugeben. Sie glaubten schon, daß die heutige Nacht zu Ende sei und wollten anseinandergehen, als sie plötzlich im Vorzimmer den Lärm betrunkener Gäste hörten. Der Geiger spielte ein Ritornell, seine Begleiterin fing auf dem Pianino das Accompagnement eines sehr lustigen russischen Liedes, die erste Figur der Quadrille, zu klopfen an. Sie erinnerte sich, wie ein kleines, schwitzendes, nach Wein riechendes und aufstoßendes Männlein in weißer Krawatte und im Frack, den er in der zweiten Figur ablegte, sie ergriff, und wie ein anderer, ein Dickwanst mit einem Bart, ebenso im Frack — sie kamen von irgend einem Ball — die Klara packte, und wie sie sich lange drehten, tanzten, schrien, tranken…

Und so ging es ein Jahr lang, zwei, drei Jahre. Wie hätte sie sich nicht verändern sollen! Und die Ursache von alledem war er. Und plötzlich erhob sich in ihr wieder die frühere Erbitterung gegen ihn, und sie fühlte Lust, ihn zu schimpfen und ihm Vorwürfe zu machen. Es that ihr leid, daß sie sich heute die Gelegenheit hatte entgehen lassen, ihm noch einmal rund heraus zu sagen, daß sie ihn kenne, daß sie sich nicht fangen lasse, und daß sie ihm nicht erlauben werde, sie sich geistig zu nutze zu machen, wie er es leiblich gethan, daß sie ihm nicht erlaube, sie zum Gegenstande seiner Großmut zu machen. Und um auf irgend eine Weise dies qualvolle Gefühl des Mitleids mit sich selbst, und des nutzlosen Vorwurfs gegen ihn zu ersticken, bekam sie Lust, Branntwein zu trinken. Und sie hätte ihr Wort nicht halten können und hätte Branntmein getrunken, wenn sie im Gefängnis gewesen wäre. Hier aber konnte man Branntwein nicht anders bekommen, als bei dem Heilgehilfen. Den Heilgehilfen jedoch scheute sie, weil er zudringlich gegen sie war. Verhältnisse mit Männern aber waren ihr zuwider.

Nachdem sie eine kurze Zeit im Korridor gesessen, kehrte sie ins Stübchen zurück, und ohne der Kameradin zu antworten, weinte sie lange über ihr verdorbenes Leben.

14

In Petersburg hatte Nechljudow drei Angelegenheiten zu erledigen: die Kassationsbeschwerde der Maslowa im Senat, die Sache der Fedossija Birjukowa in der Bittschriftenkomission, und — im Auftrage der Wjera Bogoduchowskaja — die Sache in der Gendarmerieverwaltung, oder in der dritten Abteilung wegen der Freilassung der Schustowa, und wegen einer Zusammenkunft der Mutter mit ihrem Sohne, der in der Festung gefangen saß, und wegen dessen Wjera Bogoduchowskaja ihm einen Zettel geschickt hatte. Diese beiden letzteren Angelegenheiten rechnete er für eine. Eine vierte Angelegenheit war die Sache den Sektierer, die von ihren Familien weg nach dem Kaukasus verbannt worden, weil sie das Evangelium gelesen und ausgelegt hatten. Er hatte nicht so sehr ihnen wie sich selber versprochen, alles was nur möglich sei, zur Aufklärung dieser Sache zu thun.

Seit den Zeit seines letzten Besuchs beim Maslennikow, besonders nach seiner Fahrt ins Dorf, fühlte Nechljudow, nicht etwa durch einen Willensschluß, sondern in seinem ganzen Wesen einen Abscheu gegen die Umgebung, in welcher er bis jetzt gelebt, eine Umgebung, wo man die Leiden, die Millionen Menschen dulden, um einer kleinen Zahl Bequemlichkeiten und Vergnügen zu sichern, so sorgfältig verbarg, daß die Leute jenes Kreises diese Leiden und damit auch die Grausamkeit und Frevelhaftigkeit ihres Lebens nicht einsahen und nicht einsehen konnten. Schon konnte Nechljudow nicht mehr ohne Verlegenheit und ohne Selbstvorwurf mit den Leuten dieses Kreises verkehren. Inzwischen aber zogen ihn in dies Milieu die Gewohnheiten seines vergangenen Lebens; ihn zogen verwandtschaftliche und freundschaftliche Verhältnisse und hauptsächlich der Umstand, daß er, um das durchzuführen, was ihn jetzt einzig beschäftigte, um der Maslowa und allen jenen Leidenden, denen er zu helfen gewillt war, helfen zu können, Hilfe und Dienste von Leuten dieses Kreises in Anspruch nehmen mußte, die er nicht nur nicht achtete, sondern die in ihm oft Entrüstung und Verachtung hervorriefen.

Als Nechljudow nach Petersburg kam und bei seiner Tante mütterlicherseits, der Gräfin Tscharskaja, der Frau des gewesenen Ministers abstieg, geriet er mit einem Mal gerade in das innerste Herz der ihm so fremd gewordenen aristokratischen Gesellschaft. Das war ihm unangenehm; aber er konnte unmöglich anders thun. Nicht bei dem Tantchen absteigen, sondern in einem Gasthofe, hieß sie beleidigen; unterdessen aber hatte das Tantchen auch große Verbindungen und konnte im höchsten Grade nützlich sein in all jenen Sachen, für welche er sich zu verwenden gekommen war.

»Na, was höre ich von dir? Wunder über Wunder,« sprach zu ihm die Gräfin Katharina Iwanowna, während sie ihn sogleich nach der Ankunft mit Kaffee bewirtete.

»Vous posez pour un Howard? Du hilfst den Verbrechern. Du besuchst die Gefängnisse. Du willst sie bessern!«

»Aber nein, ich denke nicht daran.«

»Nun ja, es ist gut. Aber diese romantische Geschichte da. Nun, erzähl’ mal.«

Nechljudow erzählte ihr seine Beziehungen zur Maslowa, alles wie es war.

»Ich erinnere mich, ich erinnere mich. Die arme Ellen hat mir etwas erzählt, damals, als du bei jenen alten Jungfern wohntest. Sie wollten dich, glaube ich, mit ihrer Pflegetochter verheiraten,« die Gräfin Katharina Iwanowna hatte Nechljudows Tanten mütterlicherseits immer verachtet. »Also ist sie es? Elle est encore jolie?«

Das Tantchen, Katharina Iwanowna, war eine sechzigjährige, gesunde, lustige, energische, redselige Frau. Von Wuchs war sie hoch und sehr voll; auf ihrer Oberlippe war ein schwarzer Schnurrbart bemerkbar. Nechljudow liebte sie und war schon seit der Kindheit gewohnt, von ihrer Energie und Lustigkeit angesteckt zu werden.

»Nein, ma tante; das ist alles zu Ende. Ich möchte ihr nur helfen, weil sie erstens unschuldig verurteilt worden und ich daran schuld bin; ich bin auch schuld an ihrem ganzen Schicksal. Ich fühle mich verpflichtet, alles für sie zu thun, was ich kann.«

»Aber wie ist’s denn, man hat mir gesagt, du willst sie heiraten?«

»Ja, ich wollte wohl, aber sie will nicht.«

Katharina Iwanowna zog die Augenbrauen über die Augen, und die Pubillen senkend, sah sie verwundert und schweigend den Neffen an. Plötzlich veränderte sich ihr Gesicht, und ein vergnügter Ausdruck erschien darauf.

»Nun, sie ist klüger als du. Ach, was für ein Narr bist du! Und würdest du sie wirklich heiraten?«

»Unbedingt.«

»Nach dem, was sie gewesen ist?«

»Um so mehr. Ich bin ja an allem schuld.«

»Nein, du bist einfach ein Tölpel,« sagte, ein Lächeln zurückhaltend, das Tantchen, »ein fürchterlicher Tölpel, aber gerade darum liebe ich dich, daß du so ein schrecklicher Tölpel bist,« wiederholte sie, da sie augenscheinlich das in ihren Augen die intellektuelle und moralische Verfassung des Neffen treffend wiedergebende Wort lieb gewonnen hatte.

»Weißt du, wie sehr es zu statten kommt?« fuhr sie fort. »Aline hat ein wunderbares Asyl für Magdalenen. Ich bin da einmal gewesen. Sie sind gar zu widerwärtig. Nachher habe ich mich immer gewaschen. Aber Aline ist corps et âme damit beschäftigt. Also geben wir sie, die deinige, zu ihr. Wenn überhaupt jemand sie bessern kann, so ist es Aline.«

»Aber sie ist ja zur Zwangsarbeit verurteilt. Ich bin hierher gekommen, um mich für die Aufhebung dieses Urteils zu verwenden. Das ist mein erstes Anliegen an Sie.«

»So so, wo ist denn diese Sache anhängig?«

»Im Senat.«

»Im Senat? Aber mein lieber Cousin Ljowuschka sitzt ja im Senat. Ja, übrigens sitzt er im Departement der Heraldik!31 Nun, aber aus dem wirklichen kenne ich niemand. Alles das ist, Gott weiß wer, entweder Deutsche: Se, Fe, De — tout l’alphabet, aber diverse Iwanows, Semjonows, Nikitins oder Iwanenkos, Simonenkos, Nikitenkos, pour varier. Des gens de l’autre monde. Nun dennoch sage ich es meinem Mann. Er kennt sie. Er kennt allerlei Leute. Ich sage es ihm. Du aber setz’ es ihm auseinander, mich versteht er doch nie. Ich mag sprechen, was ich will, er sagt, er versteht nichts. C’est un parti pris. Alle verstehen mich, nur er versteht nicht.«

Zu der Zeit brachte ein Lakai in Kniehosen einen Brief auf einem silbernen Präsentierteller.

»Grade von der Aline. Nun wirst du auch den Kiesewetter hören.«

»Wer ist das — Kiesewetter?«

»Kiesewetter? Komm heute. Und du erfährst, wer er ist. Er spricht so, daß die verstocktesten Verbrecher sich auf die Kniee werfen und weinen und bereuen.«

Die Gräfin Katharina Iwanowna, wie seltsam es auch sein mochte, und wie wenig es zu ihrem Charakter paßte, war eine feuerige Anhängerin jener Lehre, welche annimmt, daß das Wesen des Christentums in dem Glauben an die Erlösung bestehe. Sie fuhr auf Versammlungen, wo diese zu der Zeit in Mode stehende Lehre gepredigt wurde; auch versammelte sie die Gläubigen bei sich. Dessen ungeachtet, daß nach dieser Lehre nicht nur alle Religionsbräuche, Heiligenbilder, sondern auch die Sakramente verworfen wurden, hingen bei der Gräfin Katharina Iwanowna in allen Zimmern und fogar über ihrem Bett Heiligenbilder, und sie erfüllte alles, was die Kirche verlangte, ohne darin einen Widerspruch zu sehen.

»Wenn Deine Magdalena ihn hörte! Sie würde sich bekehren,« sagte die Gräfin. »Du aber sei unbedingt abends zu Hause. Du wirst ihn hören. Das ist ein wunderbarer Mensch.«

»Es ist mir nicht interessant, ma tante.«

»Aber ich sage dir, daß es interessant ist. Und du komm unbedingt. Nun, sage, was du nach von mir willst? Videz votre sac.«

»Nach eine Sache in der Festung.«

»In der Festung? Na, dorthin kann ich die einen Zettel zum Baron Kriegsmut geben. C’est un très brave homme. Du kennst ihn ja selber. Er war deines Vaters Kamerad. Il donne dans le spiritisme. Nun, aber das macht nichts. Er ist gut. Was hast du denn dort zu thun?

›Ich muß bitten, daß man einer Mutter eine Zusammenkunft mit ihrem Sohne bewillige, der dort sitzt. Aber man hat mir gesagt, daß es nicht von Kriegsmut abhänge, sondern von Tscherwjanskij.‹

›Tscherwjanskij habe ich nicht gern, aber es ist ja Mariette’s Mann. Man kann sie bitten. Sie wird es für mich thun. Elle est très gentille.‹

›Man muß noch wegen einer Frau bitten. Sie sitzt schon einige Monate, und niemand weiß wofür.‹

›Nun, nein, sie selber weiß gewiß wofür. Sie wissen es sehr gut. Und es geschieht ihnen, diesen Geschorenen, recht.‹

›Wir wissen nicht, ob es recht ist, oder nicht. Sie aber leiden. Sie sind eine Christin und glauben an das Evangelium, und dabei sind Sie so unbarmherzig.‹

›Macht nichts. Das stört gar nicht. Evangelium ist Evangelium, aber widerwärtig ist widerwärtig. Es wäre schlimmer, wenn ich mich verstellte, so als liebte ich diese Nihilisten und hauptsächlich diese geschorenen Nihilistinnen, wenn ich sie doch nicht leiden kann.‹

›Weshalb können Sie sie denn nicht leiden?‹

›Nach dem ersten März fragst du noch weshalb?‹

›Aber nicht alle waren Teilnehmerinnen an jenem ersten März.‹

›Das ist einerlei, warum kümmern sie sich nicht um ihre Sachen! Das ist keine weibliche Beschäftigung.‹

›Nun, aber da ist Mariette. Sie finden doch, daß die sich mit Geschäften abgeben darf,‹ sagte Nechljudow.

›Maritte? Mariette ist Mariette. Das aber ist Gott weiß wer, irgend welche Krethi und Plethi. Wollen noch obendrein alle belehren.‹

›Nicht belehren, aber einfach dem Volke helfen wollen sie.‹

›Man weiß auch ohne sie, wem man helfen muß und wem nicht.‹

›Ja, aber das Volk darbt doch. Eben komm ich aus dem Dorf. Muß es denn sein, daß die Bauern sich ganz von Kräften arbeiten und dabei nicht einmal satt essen können!‹ sprach Nechljudow, unwillkürlich durch die Gutmütigkeit des Tantchens zu dem Wunsch getrieben, ihr alles auszusprechen, was er dachte.

›Aber was willst du denn? Daß ich arbeite und nichts zu essen habe?‹

›Nein, ich will nicht, daß Sie nicht dinieren. Ich will nur, daß wir alle arbeiten und alle dinieren,‹ antwortete Nechljuvow, unwillkürlich lächelnd.

Das Tantchen zog wieder die Brauen über die Augen und ließ die Pupillen sinken; neugierig starrte sie ihn an.

›Mon cher, vous finirez mal,‹ sagte sie.

›Aber warum denn?‹

In diesem Augenblick betrat das Zimmer ein hoher breitschultriger General. Es war der Mann den Gräfin Tscharskaja, ein abgedankter Minister.

›Ah, Dmitrij, guten Tag,‹ sagte er, ihm die frischrasierte Wange reichend. ›Wann bist du angekommen?‹

Er küßte seine Frau schweigend auf die Stirn.

›Non, il est impayable,‹ wandte sich die Gräfin Katharina Iwanowna an ihren Mann. ›Er empfiehlt mir, an den Fluß zu gehen und Wäsche zu spülen und nur Kartoffeln zu essen. Er ist ein fürchterlicher Dummkopf. Aber thu dennoch für ihn, um was er dich bittet. Ein fürchterlicher Tölpel,‹ korrigierte sie sich.

›Aber hast du gehört? Die Kamenskaja ist, sagt man, in solcher Verzweiflung, daß man für ihr Leben fürchtet,‹ wandte sie sich an ihren Mann, ›möchtest du nicht zu ihr fahren?‹

›Ja, das ist schrecklich,‹ sagte der Mann.

›Nun, geht und sprecht mit einander, ich muß Briefe schreiben.‹

Kaum war Nechljudow in das Zimmer neben dem Empfangszimmer gegangen, als sie ihm nachschrie:

›Soll ich also an Mariette schreiben?‹

›Bitte, ma tante.‹

›Dann lasse ich ’en blanc’, war du für die Geschorene wünschest, sie sagt es dann schon ihrem Mann. Und er wird es thun. Glaub nur nicht, daß ich bösartig bin. Sie sind alle mehr als widerwärtig, deine protègèes, aber je ne leur veux pas de mal. Gott mit ihnen. Nun geh. Am Abend aber sei unbedingt zu Hause. Dann wirst du den Kiesewetter hören. Und wir werden beten. Und wenn du nur nicht widerstrebst — ça vous fera beaucoup de bien. Ich weiß wohl, Ellen und ihr alle seid darin sehr zurückgeblieben. Also bis auf Wiedersehn!‹

15

Graf Iwan Michajlowitsch war ein Minister außer Diensten und ein Mann von sehr festen Ueberzeugungen. Die Ueberzeugungen des Grafen Iwan Michajlowitsch bestanden von Jugend auf darin, daß, wie es dem Vogel eigen sei, sich von Würmern zu ernähren, mit Federn und Daunen bekleidet zu sein und in der Luft zu fliegen, so sei es ihm eigentümlich, sich von teueren Gerichten zu ernähren, die von teueren Köchen bereitet werden, mit den bequemsten und teuersten Kleidern bekleidet zu sein, mit den ruhigsten und schnellsten Pferden zu fahren, und daß deswegen alles dies für ihn bereit sein müsse. Außerdem glaubte Graf Iwan Michajloitsch, daß je mehr verschiedenartige Einkünfte er von der Krone zu beziehen habe, und je mehr Orden er besitze, inklusive die diamantenen Ordenszeichen — von irgend etwas — und je öfter er hochgestellte Personen beiderlei Geschlechts sehen und sprechen könne, um so besser werde es für ihn sein. Alles übrige aber hielt Gvaf Iwan Michajlowitsch im Vergleich zu diesen Grunddogmen für nichtig und uninteressant. Alles übrige mochte so oder vollkommen umgekehrt sein. Diesem Glauben entsprechend lebte und wirkte Graf Iwan Michajlowitsch in Petersburg vierzig Jahre lang, und nach Ablauf dieser vierzig Jahre gelangte er zu einem Ministerposten.

Die Haupteigenschaften des Grafen Iwan Michajlowitsch, durch welche er diesen Posten erreicht, bestanden darin, daß er erstens den Sinn ausgefertigtet Aktenstücke und Gesetze verstand, und daß er verständliche, wenn auch nicht besonders bündige Schriftstücke abfassen und ohne orthographische Fehler niederschreiben konnte; zweitens war er sehr präsentabel, und konnte, wo es nötig war, nicht nur eine stolze Miene, sondern die Miene der Unzugänglichkeit und Herrlichkeit annehmen; ein andermal, wo es nötig war, konnte er kriecherisch bis zur Leidenschaft, bis zur Gemeinheit sein; drittens besaß er keine allgemeinen Prinzipien oder Regeln, weder persönlich-moraliche, noch den Staat betreffende, und konnte infolge dessen, wenn es not that, mit allen einverstanden, und wiederum, wenn es not that, mit niemand einverstanden sein. Indem er so handelte, sorgte er nur dafür, daß die Form aufrecht erhalten werde, und daß er in keinen offenen Widerspruch mit sich selbst gerate; dagegen aber, ob seine Handlungen an sich moralisch oder unmoralisch seien, und dagegen, ob daraus das größte Heil, oder das größte Unheil für das russische Reich oder für die ganze Welt entstehen werde, war er vollständig gleichgültig.

Als er Minister geworden, waren nicht nur alle von ihm Abhängigen — abhängig von ihm aber waren sehr viele Leute — und Vertrauten, sondern auch alle anderen nicht dazu gehörigen Menschen und er selber überzeugt, daß er ein sehr kluger Staatsmann sei. Aber als eine gewisse Zeit verstrichen war, und er nichts ausgerichtet, nichts der Welt gezeigt hatte, und als nach dem Gesetze des Kampfes ums Dasein genau eben solche imposante und prinzipienlose Beamte wie er, die Papiere zu schreiben und sie zu verstehen erlernt hatten, ihn wegdrängten, und er seinen Abschied nehmen mußte, wurde allen klar, daß er nicht nur kein besonders kluger, sondern ein sehr beschränkter und wenig gebildeter, obgleich sehr selbstbewußter Mann sei, der sich in seinen Ansichten mit Mühe und Not bis zum Niveau der Leitartikel konservativer Zeitungen erheben konnte. Es erwies sich, daß nichts an ihm war, was ihn von anderen, wenig gebildeten, selbstbewußten Beamten, die ihn weggedrängt hatten, unterschied, und er selber sah es ein, aber das erschütterte mit nichten seine Ueberzeugung, daß er jährlich von der Krone eine große Quantität Geld und neue Verzierungen für seinen Paradeanzug erhalten müsse. Diese Ueberzeugung war so fest, daß niemand sich entschließen konnte, ihm das zu verweigern, und jährlich bekam er, zum Teil als Pension, zum Teil als Belohnung dafür, daß er Mitglied einer höchsten Staatsinstitution war und Präsident verschiedener Kommissionen und Komitees, einige zehntausend Rubel und außerdem alle Jahre neue, von ihm hoch geschätzte Rechte, neue Gallons auf seine Schultern oder Hofen aufnähen und neue Bändchen und emaillierte Sternchen unter dem Frack tragen zu dürfen. Infolge alles dessen hatte Graf Iwan Michajlowitsch große Verbindungen.

Graf Iwan Michajlowitsch hörte den Nechljudow so an, wie er ehemals die Berichte des Kanzleidirektors angehört hatte, und nachdem er ihn zu Ende gehört, sagte er, daß er ihm zwei Zettel geben werde; einen an den Senator des Kassationsdepartements, Wolf.

›Man sagt von ihm verschiedenes, aber dans tous les cas c’est un homme très comme il faut,‹ sagte er. ›Und er ist mir verbunden und wird thun, was er kann.‹

Den anderen Zettel gab Graf Iwan Michajlowitsch mit für eine einflußreiche Persönlichkeit in der Bittschriftenkommission. Der Prozeß der Fedossija Birjukowa, wie ihn Nechljudow ihm erzählt, nahm ihn sehr ein. Als Nechljudow ihm mitteilte, daß er der Kaiserin einen Brief darüber schreiben wolle, sagte er, daß diese Sache wirklich sehr rührend sei, und daß man sie bei Gelegenheit dort erzählen könne. Aber versprechen konnte er es nicht. Die Bittschrift solle ihren Gang gehen. Wenn er aber die Gelegenheit haben werde, dachte er für sich, wenn man ihn, en petit comité, am Donnerstag einlade, so werde er’s vielleicht sagen.

Nachdem Nechljudow beide Zettel vom Grafen und einen Zettel an Mariette von dem Tantchen erhalten, begab er sich sogleich zu allen diesen Personen.

Zuerst nahm er die Richtung zu Mariette’s Hause. Er hatte sie als Mädchen gekannt, als die halberwachsene Tochter einer nicht reichen aristokratischen Familie; er wußte, daß sie einen Carrière machenden Mann geheiratet hatte, von dem er nicht viel Gutes gehört; und wie immer war er dem Nechljudow qualvoll-schwer, sich mit einer Bitte an einen Menschen zu wenden, den er nicht achtete. In solchen Fällen fühlte er immer einen inneren Zwiespalt, Unzufriedenheit mit sich selbst und Unentschlossenheit: bitten oder nicht bitten, aber er entschied immer, daß man bitten müsse. Außerdem daß er das Falsche seiner Lage als Bittsteller mitten zwischen Leuten empfand, die er nicht mehr für die seinigen hielt, die aber ihn für den ihrigen hielten, fühlte er in dieser Gesellschaft, daß er das alte gewohnte Geleis betrat und unwillkürlich jenem leichtsinnigen und unmoralischen Ton nachgab, der in diesem Kreise herrschte. Er hatte das schon bei dem Tantchen Katharina Iwanowna erfahren. Schon heute früh, als er mit ihr von den ernstesten Sachen sprach, verfiel er in einen scherzhaften Ton.

Ueberhaupt machte Petersburg, wo er seit langem nicht gewesen, auf ihn den gemöhnlichen, physisch-aufmunternden, moralisch-abstumpfenden Eindruck. Alles ist dort so sauber, bequem, wohleingerichtet, hauptsächlich sind die Leute so wenig moralisch-anspruchsvoll, daß das Leben dort besonders leicht zu sein scheint.

Ein schöner, sauberer, höflicher Mietkutscher fuhr den Nechljudow an den schönen, höflichen, sauberen Polizisten vorbei, über das schöne, saubere, besprengte Pflaster, an den schönen, sauberen Häusern vorüber zu dem Hause, wo Mariette wohnte.

An der Auffahrt standen ein paar englische Pferde mit Scheuklappen; und ein, einem Engländer ähnlichen Kutscher, mit einem Backenbart bis zur Hälfte der Wangen, in Livrée, saß mit einer Peitsche in der Hand mit stolzem Aussehen auf dem Kutschbock. Ein Portier in ungemöhnlich sauberer Uniform öffnete die Thür in den Flur, wo ein Wagenlakai mit prächtigem, auseinander gekämmtem Backenbart in einer noch saubereren Livrée in Tressen stand, und eine dejourierende Ordonnanz in neuer, sauberer Uniform.

›Der General empfangen nicht. Die Generalin auch nicht. Sie geruhen sogleich auszufahren.‹

Nechljudow gab den Brief der Gräfin Katharina Iwanowna ab, nahm eine Visitentarte heraus, ging an das Tischchen, wo das Buch zum Einschreiben der Besucher lag und fing an zu schreiben, daß er sehr bedauere, sie nicht angetroffen zu haben, als der Lakai sich der Treppe näherte, der Portier auf die Rampe ging und schrie: ›Fahre vor‹; die Ordonnanz aber machte Front und erstattte, mit den Händen an den Hosennähten, indem er mit den Augen einer nicht hochgewachsenen, dünnen Dame begegnete und sie begleitete. die in einem, ihrer Wichtigkeit nicht entsprechenden, raschen Gang die Treppe herabstieg.

Mariette war in einem großen Hut mit einer Feder, und in einem schwatzen Kleid, in einem schwarzen Ueberwurf und neuen schwarzen Handschuhen; ihr Gesicht war mit einem Schleier bedeckt.

Als Mariette den Nechljudow gewahr wurde, hob sie den Schleier, enthüllte ihr sehr liebliches Gesicht mit den glänzenden Augen und blickte ihn fragend an.

›Ah, Fürst Dmitrij Imanowitsch,‹ brachte sie mit heiterer, angenehmer Stimme hervor. ›Ich würde Sie erkennen…‹

›Wie? Sie haben sogar meinen Namen nicht vergessen?‹

›Oh nein, ich und meine Schwester sind sogar in Sie verliebt gewesen,‹ fing sie auf französisch an; ›aber wie sehr haben Sie sich verändert! Ach wie schade, daß ich wegfahre. Uebrigens — wollen wir zurück gehen,‹ sagte sie, unschlüssig stehen bleibend.

Sie blickte auf die Wanduhr.

›Nein, unmöglich. Ich fahre auf die Seelenmesse zur Kamenskaja. Sie ist schrecklich getroffen worden.‹

›Aber was ist mit der Kamenskaja?‹

›Haben Sie denn nicht gehört: ihr Sohn ist im Duell getötet worden. Er schlug sich mit dem Posen. Der einzige Sohn, schrecklich. Die Mutter ist so getroffen.‹

›Ja, ich habe es gehört.‹

›Nein, lieber fahre ich, Sie aber, kommen Sie morgen, oder heute abend,‹ sagte sie und ging mit raschen, leichten Schritten durch die Ausgangsthür.

›Heute abend kann ich nicht,‹ antwortete er, mit ihr zusammen auf die Rampe hinaustretend. ›Aber ich habe ja ein Anliegen an Sie,‹ sagte er, indem er das Paar Füchse, die zur Rampe herangefahren kamen, betrachtete.

›Was ist es?‹

›Hier haben Sie einen Zettel darüber von dem Tantchen,‹ sagte Nechljudow und reichte ihr ein schmales Couvert mit großem Namenszug. ›Dort werden Sie alles sehen.‹

›Ich weiß, die Gräfin Katharina Imanomna glaubt, daß ich in Geschäften Einfluß auf meinen Mann habe. Sie irrt sich. Ich vermag nichts, und ich will mich nicht hineinmischen. Aber für die Gräfin und für Sie selbstverständlich bin ich bereit, von meiner Regel abzuweichen.‹

›Um was handelt es sich denn?‹ sprach sie, indem sie mit einer kleinen Hand im schwarzen Handschuh vergeblich nach der Tasche suchte.

›Ein Mädchen ist in der Festung eingesperrt; sie ist aber krank und nicht beteiligt.‹

›Und wie ist ihr Familienname?‹

›Schustowa, Lydija Schustowa. Auf dem Zettel steht es.‹

›Nun gut, ich versuche es,‹ sagte sie, stieg leicht in die weich kapitonnierte Kalesche, die mit ihren Flügeln in der Sonne glänzte und öffnete den Sonnenschirm. Der Lakai setzte sich auf den Kutschbock und gab dem Kutscher ein Zeichen zu fahren. Die Kalesche bewegte sich vorwärts, aber in demselben Augenblicke berührte sie mit dem Schirm den Rücken des Kutschers, und die dünnbeinigen, schönen, englisierten Stuten drückten ihre mit den Gebissen festgezogenen Köpfe an, und blieben stehen, mit den dünnen Beinen scharrend.

›Und kommen Sie, aber bitte — uneigennützig,‹ sagte sie, lächelte mit einem Lächeln, dessen Kraft sie gut kannte und ließ den Schleier herunter«, als ob sie nach Beendigung einer Vorstellung den Vorhang fallen lasse.

»Nun, fahren wir,« sie berührte wieder mit dem Schirm den Kutscher.

Nechljudow zog den Hut. Die roten Vollblutstuten schnauften und begannen, mit den Hufeisen auf das Pflaster zu schlagen, und die Equipage rollte rasch davon, indem sie nur hie und da mit Ihren neuen Radschienen auf den Unebenheiten des Weges weich aufsprang.

16

Des Lächelns gedenkend, das er mit Mariette getauscht, schüttelte Nechljudow den Kopf über sich.

‘Im Handumdrehen wirst du in dies Leben hineingezogen,’ dachte er, während er wieder jenen Zwiespalt und Zweifel empfand, hervorgerufen durch die Notwendigkeit, die Gunst von Leuten zu suchen, die er nicht achtete. Als Nechljudow überlegte, wohin er zuerst, wohin nachher fahren solle, um nicht einen Weg zweimal machen zu müssen, begab er sich vor allem in den Senat; man geleitete ihn in die Kanzlei, wo er in dem prächtigsten Raum eine ungeheuete Quantität von außerordentlich höflichen und sauberen Beamten erblickte.

Die Bittschrift der Maslowa war eingetroffen und zur Durchsicht und zum Vortrage demselben Senator Wolf übergeben worden, an den Nechljudow den Brief vom Onkel hatte, sagten ihm die Beamten.

»Die Senatssitzung findet diese Woche statt; — die Sache der Maslowa fällt schwerlich auf diese Sitzung. Wenn man aber darum bäte, so könne man hoffen, daß sie doch schon diese Woche am Mittwoch zur Verhandlung gebracht würde,« sagte der eine.

In der Senatskanzlei, während Nechljudow dort auf die einzuziehende Erkundigung wartete, hörte er wieder das Gespräch von dem Duell und die ausführliche Erzählung, wie der junge Kamenskij getötet worden. Hier erfuhr er zum ersten Male die Einzelheiten dieser ganz Petersburg beschäftigenden Geschichte. Es handelte sich darum, daß Offiziere in einem Laden Austern aßen und, wie immer, viel tranken. Einer von ihnen äußerte etwas Mißbilligendes über das Regiment, in welchem Kamenskij diente. Kamenskij nannte ihn einen Lügner. Dieser versetzte dem Kamenskij einen Hieb. Am anderen Tage schlugen sie sich. Die Kugel traf den Kaminskij in den Leib, und in zwei Stunden starb er. ‘Der Mörder und die Sekundanten sind arretiert, aber wie man sagt, wird man sie in vierzehn Tagen frei lassen, obgleich man sie auf die Hauptwache gebracht hat.’

Aus der Senatskanzlei fuhr Nechljudow in die Bittschriftenkommission, zu dem dem einflußreichen Beamten, Baron Worobjew, der in einem Kronshause prächtige Räume inne hatte. Ein Thürsteher und ein Lakai erklärten dem Necheljudow streng, daß man den Baron außer am Empfangstage nicht sprechen könne, daß er heute bei Seiner Majestät, dem Kaiser sei, und morgen wieder Vortrag habe. Nechljudow übergab den Brief und fuhr zum Senator Wolf.

Wolf hatte eben gefrühstückt und empfing Nechljudow, indem er seine Verdauung gewohnheitsgemäß durch das Rauchen einer Zigarre und durch einen Spaziergang im Zimmer aufmunterte. Wladimir Wassiljewitch Wolf war wirklich un homme trés comme il faut; diese seine Eigenschaft stellte er über alles, und von der Höhe derselben blickte er auf alle anderen Menschen herab; er konnte auch nicht umhin, diese Eigenschaft hoch zu schätzen, weil er, nur dank derselben, eine glänzende Carrière gemacht, ganz so, wie er gewünscht; das heißt, mittelst Heirat erwarb er ein Vermögen, das ihm achtzehntausend Rubel Einkünfte brachte, mittelst der eigenen Leistungen — die Stelle eines Senators. Er hielt sich nicht nur für un homme très comme il faut, sondern auch noch für einen Mann von ritterlicher Ehrlichkeit. Unter der Ehrlichkeit verstand er, daß man sich nicht von Privatleuten heimlich bestechen läßt. Aber aller Art Reise-Umzugsgelder, Renten von der Krone sich erbitten, indem er dafür alles knechtisch erfüllte, was nur die Regierung von ihm verlangte, hielt er nicht für ehrlos. Aber Hunderte von unschuldigen Menschen wegen ihrer Anhänglichleit an ihr Volk und die Religion ihrer Väter verderben, zu Grunde richten und die Ursache ihrer Verbannung und Einkerkerung sein, wie er es zu der Zeit gemacht hatte, als er Gouverneur in einem der Gouvernements des Polnischen Reichs war, hielt er nicht nur nicht für ehrlos, sondern er hielt es für eine That des Edelsinns, des Muts und des Patriotismus; er hielt auch nicht für ehrlos, daß er seine in ihn verliebte Frau und die Schwägerin beraubt hatte. Im Gegenteil hielt er dies für eine vernünftige Einrichtung seines Familienlebens. Das Familienleben des Wladimir Wassiljewitsch bildeten seine willenlose Frau, die Schwägerin, deren Vermögen er auch an sich gerafft, indem er ihr Gut verkaufte und das Geld auf seinen Namen in die Bank eintrug, und eine sanftmütige, verschüchterte, unschöne Tochter, die ein einsames, schweres Leben führte; eine Zerstreuung in diesem Leben fand sie die letzte Zeit im Evangelismus, in den Versammlungen bei Aline und bei der Gräfin Katharina Iwanowna. Der gutmütige, schon vom fünfzehnten Jahre an mit einem Bart versehene Sohn den Wladimir Wassiljewitsch, der von der Zeit an schon zu trinken und ein lüderliches Leben zu führen begonnen, was er auch bin zum zwanzigsten Jahre zu thun fortfuhr, ward aus dem Hause gejagt, weil er nirgends den Kurs beendigt hatte, und durch seinen Umgang mit schlechter Gesellschaft, und durch Schuldenmachen den Vater komppromittierte. Einmal zahlte der Vater für den Sohn 230 Rubel Schulden, er zahlte auch ein anderes Mal 600 Rubel, aber er erklärte dabei dem Sohn, es sei zum letzten Mal, und wenn er sich nicht bessere, so werde er ihn aus dem Hause jagen und jeglichen Verkehr mit ihm abbrechen; der Sohn aber besserte sich nicht nur nicht, sondern machte noch für 1000 Rubel Schulden und erlaubte sich, dem Vater zu sagen, daß ihm daß Leben zu Hause so wie so eine Qual sei. Und dann erklärte Wladimir Wassiljewitsch dem Sohne, daß er hingehen könne, wohin er wolle, daß er nicht mehr sein Sohn sei. Seit der Zeit nahm Wladimir Wassiljewitsch eine Miene an, als ab er keinen Sohn hätte, und niemand von den Hausgenossen wagte, ihm von dem Sohn zu sprechen. Und Wladimir Wassiljewitsch war vollkommen überzeugt, daß er sein Familienleben auf die beste Weise eingerichtet hätte.

Wolf machte auf seinem Spaziergang durch das Kabinet Halt, und mit einem freundlichen aber etwas ironischen Lächeln — das war seine Manier — ein unwillkürlicher Ausdruck des Bewußtseins seiner comma il faut-Ueberlegenheit über die meisten Leute, — grüßte er den Nechljudow und las den Zettel.

»Bitte sehr, nehmen Sie Platz, und mich entschuldigen Sie. Ich werde auf und ab gehen, wenn Sie erlauben,« sagte er, indem er, die Hände in der Tasche seiner Jacke, mit leichten, weichen Schritten die Diagonale des großen, in strengem Stil gehaltenen Kabinets nahm. »Ich bin sehr froh, Sie kennen zu lernen, und, versteht sich, dem Grafen Iwan Michajlowitsch gefällig zu sein,« sprach er, indem er einen aromatischen bläulichen Rauch ausstieß und vorsichtig die Zigarre vom Munde entfernte, um die Asche nicht fallen zu lassen.

»Ich möchte nur bitten, daß die Sache etwas bälder zum Vortrag gebracht werde, damit die Angeklagte, wenn sie nach Sibirien fahren muß, etwas früher abfahren könnte,« sagte Nechljudow.

»Ja, ja, — mit einem der ersten Dampfschiffe aus Nischnij, ich weiß,« sagte mit seinem herablassenden Lächeln Wolf, der immer alles im voraus wußte, wovon man ihm nur zu sprechen anfing.

»Wie ist der Name der Angeklagten?«

»Maslowa.«

Wolf trat an den Tisch, blickte auf das Papier, das auf dem Karton mit Aktenstücken lag.

»Ja, ja — Maslowa. Schön, ich werde die Kollegen bitten. Wie werden die Sache Mittwoch zum Vortrag bringen.«

»Kann ich in dem Advokaten telegraphieren?«

»Haben Sie einen Advokaten? Wozu ist das? Aber wenn Sie wollen, warum nicht.«

»Die Anlässe zur Kassation können ungenügend erscheinen,« sagte Nechljudow; »aber aus der Sache, glaube ich, ist ersichtlich, daß die Verurteilung aus Mißverständnis stattgefunden.«

»Ja, ja, das kann sein, aber der Senat darf die Sache nicht dem Wesen nach untersuchen,« sagte Wladimir Wassiljewitsch streng, indem er auf die Asche blickte. »Der Senat sorgt nur für die Richtigkeit der Anwendung des Gesetzes und seiner Auslegung.«

»Dies ist, scheint mir, ein Ausnahmefall.«

»Ich weiß, ich weiß. Alle Fälle sind Ausnahmen. Wir werden thun, was sein muß. Das ist alles.« Die Asche hielt sich noch immer, aber sie bekam schon einen Riß und war in Gefahr.

»Aber Sie kommen selten nach Petersburg?« sagte Wolf, indem er die Zigarre so hielt, daß die Asche nicht fallen konnte. Die Asche geriet dennoch ins Schwanken, und Wolf trug sie vorsichtig zu einer Aschenschale, in die sie auch hineinstürzte.

»Und was für ein schreckliches Ereignis mit Kamenskij,« sagte er. »Ein ausgezeichneter junger Mann, einziger Sohn. Besoders die Lage der Mutter,« sprach er, indem er fast Wort für Wort all das wiederholte, was alle zu der Zeit in Petersburg über Kamenskij sprachen.

Nachdem er noch von der Gräfin Katharina Iwanowna und von ihrer Begeisterung für die neue religiöse Richtung gesprochen, welche Wladimir Wassiljewitsch nicht verurteilte, aber auch nicht gut hieß, da sie für ihn, bei seinem Comme if faut-sein augenscheinlich überflüssig war, klingelte er.

Nechljudow machte sein Kompliment.

»Wenn es Ihnen paßt, so speisen Sie einmal bei mir,« sagte Wolf, indem er ihm die Hand reichte, »vielleicht am Mittwoch. Ich werde Ihnen dann eine definitive Antwort geben.«

Es war schon spät, und Nechljudow fuhr nach Hause, das heißt zu dem Tantchen.

17

Zu Mittag aß man bei der Gräfin Katharina Iwanowna um halb acht, und das Mittagessen wunde auf eine neue, noch nie vom Nechljudow gesehene Weise aufgetragen. Die Gerichte wurden auf den Tisch gestellt, und die Lakaien gingen sofort weg, so daß die Dinierenden selber die Speisen nahmen. Die Herren erlaubten den Damen nicht, daß sie sich mit entbehrlichen Bewegungen beschwerten, und als starkes Geschlecht trugen sie mutig die ganze Schwere des Auflegens des Speise für die Damen und sich selbst und des Einschenkens der Getränke. Wenn aber ein Gericht aufgegessen war, drückte die Gräfin den Knopf einer elektrischen Klingel auf dem Tisch, und die Lakaien kamen lautlos herein, räumten rasch ab, wechselten die Gedecke und brachten den folgenden Gang. Das Mittagessen war äußerst fein, ebenso wie die Weine. In der großen hellen Küche arbeitete ein französischer Chef mit zwei weiß gekleideten Gehilfen. Beim Mittag saßen sechs Personen: der Graf und die Gräfin, ihr Sohn, ein finsterer Gardeoffizier, der die Ellbogen auf den Tisch legte, Nechljudow, die Vorlesenin, eine Französin, und der Hauptverwalter des Grafen aus dem Dorf. Das Gespräch ging auch hier auf das Duell über. Man besprach, wie sich der Kaiser zu der Sache verhielt. Es war bekannt, daß der Kaiser der Mutter wegen sehr betrübt sei, und so waren alle der Mutter wegen betrübt. Aber da es bekannt war, daß der Kaiser, obgleich er sein Beileid bezeugt, nicht gegen den Mörder streng sein wolle, da er die Ehre der Uniform verteidigt hatte, so waren alle nachsichtig gegen den Mörder, der die Ehre der Uniform verteidigt hatte. Nur die Gräfin Katharina Iwanowna äußerte in ihrer Frei-Leichtsinnigkeit Tadel gegen den Mörder.

»Sie saufen und töten ordentliche junge Leute, — nie würde ich es verzeihen,« sagte sie.

»Nun das verstehe ich nicht,« sagte der Graf.

»Ich weiß, daß du nie verstehst, was ich sage,« fing die Gräfin an, sich an den Nechljudow wendend. »Alle verstehen mich, nur der Mann nicht. Ich sage, daß es mit leid um die Mutter thut, und ich will nicht, daß einer tötet und nachher sehr zufrieden ist.«

Dann trat der bis jetzt schweigende Sohn für den Mörder ein und griff seine Mutter an, indem er ziemlich grob bewies, daß ein Offizier nicht anders handeln könne, sonst würde man ihn durch das Offiziersgericht aus dem Regiment stoßen. Nechljudow hörte zu, ohne sich in das Gespräch einzulassen; als gewesener Offizier verstand er die Beweise des jungen Tscharskij, obgleich er sie nicht anerkannte; zugleich aber stellte er unwillkürlich mit dem Offizier, der einen anderen getötet hatte, jenen Gefangenen zusammen, einen schönen Jüngling, den er im Gefängnis gesehen, und der zur Zwangsarbeit verurteilt worden, weil er in einer Prügelei einen Totschlag begangen. Beide wurden durch den Trunk zu Mördern. Jener, der Bauer, tötete im Augenblicke der Aufregung, und man hat ihn von seiner Frau, von der Familie, von den Verwandten getrennt, in Ketten gelegt, und mit rasiertem Kopf geht er in die Zwangsarbeit; und dieser sitzt in einem schönen Zimmer auf der Hauptwache, ißt ein gutes Mittagessen, trinkt guten Wein, liest Bücher, und wenn nicht heute, so doch morgen wird er freigelassen werden und leben wie früher, nur daß er besonders interessant geworden ist.

Er sagte, was er dachte. Zuerst war die Gräfin Katharina Iwanowna mit dem Neffen einverstanden, dann aber verstummte sie, ebenso wie alle, und Nechljudow fühlte, daß er mit dieser Erzählung etwas in der Art wie eine Unanständigkeit begangen hatte.

Am Abend, bald nach dem Mittagessen, begann man sich im großen Saal, wo die Stühle mit hohen geschnitzten Rückenlehnen auf eine besondere Art, wie für eine Vorlesung, in eine Reihe und vor den großen Tisch ein Lehnstuhl und ein Tischchen mit einer Wasserkaraffe für den Prediger gestellt worden, zu einer Séance zu versammeln, auf welcher ein Zugereister, Kiesewetter, predigen sollte.

Vor der Auffahrt standen die teueren Equipagen. Im Saal mit teuerer Ausstattung saßen die Damen in Seide, Sammt und Spitzen, mit falschen Haaren und mit enggeschnürten aber falschen Taillen. Zwischen den Damen saßen die Männer, Militärs und Civilisten, und etwa fünf Mann gemeine Leute: zwei Hausbesorger, ein Ladensteher, ein Lakai und ein Kutscher. Kiesewetter, ein starker, ergrauender Mann, sprach englisch, und ein junges mageres Mädchen, mit einem pince-nez, übersetzte es gut und rasch. Er sprach darüber, daß unsere Sünden so groß seien, die Strafe für sie so groß und unvermeidlich sei, daß leben in Erwartung dieser Strafe unmöglich sei.

»Gedenken wir nur, liebe Schwestern und Brüder, unserer, unseres Lebens, dessen, was wir thun, wie wir leben, wie wir den liebreichen Gott erzürnen, wie wir Christus leiden lassen, und wir begreifen, daß es keine Verzeihung für uns giebt, keinen Ausweg, keine Rettung, daß wir alle zur Verderbnis verdammt sind. Ein fürchterliches Verderben und ewige Qualen erwarten uns,« sprach er mit zitternder und weinender Stimme. »Wie sollen wir uns retten? Brüder, wie sollen wir uns aus dieser schrecklichen Feuersbrunst retten? Sie hat schon das Haus ergriffen, und es giebt keinen Ausweg.«

Er schwieg eine Zeit lang, und wirkliche Thränen flossen über seine Wangen. Schon seit acht Jahren, jedesmal unfehlbar, sobald er an diese Stelle seiner Rede, die ihm sehr gefiel, kam, fühlte er den Krampf in der Gurgel und Zwicken in der Nase, und aus seinen Augen flossen Thränen. Und diese Thränen rührten ihn noch mehr. Im Zimmer ließ sich Schluchzen hören. Die Gräfin Katharina Iwanowna saß an dem Mosaiktischchen, den Kopf auf beide Hände gestützt; ihre dicken Schultern zitterten. Der Kutscher sah auf den Deutschen verwundert und erschrocken, als ob er mit der Deichsel auf ihn losfahre, dieser aber wolle nicht bei Seite gehen. Die Meisten saßen in solchen Stellungen, wie die Gräfin Katharina Iwanowna. Wolfs Tochtet, dem Vater ähnlich, in einem Modekleid, lag auf den Knieen, das Gesicht mit den Händen bedeckt.

Der Orator deckte plötzlich sein Gesicht auf, rief ein dem echten sehr ähnliches Lächeln hervor, jenes Lächeln, durch welches die Schauspieler Freude ausdrücken, und mit süßer, zarter Stimme begann er zu sprechen:

»Aber er giebt eine Rettung. Hier ist sie, leicht und fröhlich. Diese Rettung ist das um und vergossene Blut des einzigen Sohnes Gottes, der sich wegen uns der Pein hingegeben. Seine Qual, sein Blut erlöst uns. Brüder und Schwestern,« begann er wieder mit Thränen in der Stimme, »sagen wir Dank Gott, der seinen einzigen Sohn zur Erlösung der menschlichen Geschlechts hergegeben. Sein heiliges Blut…«

Dem Nechljudow ward so qualvoll-abscheulich, daß er leise ausstand und, stirnrunzelnd und ein Aechzen der Scham zurückhaltend, auf den Fußspitzen hinaus und in sein Zimmer ging. —

18

Am anderen Tage hatte Nechljudow sich kaum angekleidet und war im Begriff hinunterzugehen, als ein Lakai ihm die Karte des moskauischen Advokaten brachte. Der Advokat kam in eigenen Angelegenheiten nach Petersburg und zugleich, um zur Verhandlung der Sache der Maslowa im Senat anwesend zu sein, wenn sie bald zum Vortrag gebracht würde. Das von Nechljudow abgesandte Telegramm hatte sich mit ihm gekreuzt. Als er vom Nechljudow erfuhr, wann die Sache der Maslowa zum Vortrag kommen solle, und wer die Senatoren seien, lächelte er.

»Grade alle drei Typen von Senatoren,« sagte er; »Wolf — daß ist der Petersburger Beamte; Skoworodnikow — das ist der gelehrte Jurist, und Bee — das ist der praktische Jurist, und darum der lebendigste,« sagte der Advokat. »Auf ihn setze ich am meisten Hoffnung. Nun, aber wie ist’s in der Bittschriftenkommission?«

»Heute grad will ich zum Baron Worobjew fahren, gestern konnte ich keine Audienz erlangen.«

»Wissen Sie, warum Worodjew Baron ist?« sagte der Advokat zur Antwort auf die etwas komische Intonation, mit welchen Nechljudow diesen ausländischen Titel in Verbindung mit einem so russischen Familiennamen ausgesprochen. »Paul hat seinen Großvater — einen Kammerlakai, glaube ich — für irgend was mit diesem Titel belohnt. Irgend womit hat er ihm einen großen Gefallen erwiesen. ‘Ich mach’ ’n Baron aus ihm! Uns kann keiner!’ Und sehr stolz ist er darauf. Aber ein großer Schlaufuchs.«

»Also zu dem fahre ich,« sagte Nechljudow.

»Nun, es ist schön, wollen wir zusammen fahren. Ich nehme Sie im Wagen mit.«

Vor der Abfahrt, schon in dem Vorzimmer begegnete dem Nechljudow ein Lakai mit einem Zettel an ihn von Mariette.

»Pour vous faire plaisir, j’ai agi tout à faire contres mes principes, et j’ai intercédé auprès de mon mari pour votre protégée. Il se trouve que cette personne peut être relachée immédiatement. Mon mari a écrit au commandant. Venec donc ›uneigennützig‹. Je vous attends.

M.«

»Wie gefällt’s Ihnen?« sagte Nechljudow zu dem Advokaten. »Das ist ja schrecklich. Eine Frau, die sie sieben Monate in Einzelhaft halten, erweist sich als gar nicht schuldig, und um sie frei zu lassen, genügt es, nur ein Wort zu sagen.«

»Es ist ja immer so. Nun, wenigstens haben Sie das Gewünschte erreicht.«

»Ja, aber dieser Erfolg betrübt mich. Also was geschieht denn dort? Warum haben sie sie festgehalten?«

»Nun darüber ist’s am besten, nicht zu grübeln.«

»Also, fahren Sie mit mir,« sagte der Advokat, als sie auf den Vorflur hinauskamen und eine schöne Mietskutsche, vom Advokaten gemietet, an der Rampe vorfuhr. »Sie wollen ja zum Baron Worobjew?«

Der Advokat sagte dem Kutscher, wohin er fahren solle, und ein Paar gute Pferde führten den Nechljudow schnell zu dem vom Baron bewohnten Hause. Der Baron war zu sprechen. Im ersten Zimmer befand sich ein jungen Beamter, in einer Vizeuniform, mit außerordentlich langem Halse, vorgewölbtem Adamsapfel, ungewöhnlich leichtem Gang, und zwei Damen.

»Ihr Name?« fragte der junge Beamte mit dem Adamsapfel, ungewöhnlich leicht und graziös von den Damen zum Nechljudow hinübergehend.

Nechljudow nannte sich.

»Der Baron hat von Ihnen gesprochen. Sogleich!«

Ein Adjutant ging durch die geschlossene Thür und führte eine verweinte Dame in Trauer heraus. Die Dame suchte mit den knochigen Fingern den sich verwickelnden Schleier herunterzulassen, um ihre Thränen zu verbergen.

»Bitte,« wandte sich der junge Beamte zum Nechljudow, indem er sich mit leichten Schritten der Kabinetsthür näherte, sie öffnete und darin stehen blieb.

Als Nechljudow ins Kabinet trat, stand er vor einem stämmigen, kurzgeschorenen Manne von mittlerem Wuchs in einem Gehrock, der in einem Lehnstuhl vor einem großen Schreibtisch saß und lustig vor sich hinblickte. Das durch seine intensive Röte zwischen dem weißen Bart und Schnurrbart besonders auffallende, gutmütige Gesicht legte sich beim Anblick Nechljudows zu einem freundlichen Lächeln zurecht.

»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, ich und Ihre Frau Mutter ware alte Bekannte und Freunde. Ich habe Sie als Knaben und nachher als Offizier gesehen. Nun, nehmen Sie Platz, erzählen Sie, womit ich Ihnen dienen kann.«

»Ja, ja,« sprach er, mit seinem geschorenen grauen Kopf nickend, während Nechljudow ihm die Geschichte der Fedossija erzählte.

»Sprechen Sie, sprechen Sie; ich habe alles verstanden; ja, ja, das ist wirklich rührend. Wie ist’s denn, haben Sie die Bittschrift eingereicht?«

»Ich habe die Petition in Bereitschaft,« sagte Nechljudow, während er diese aus der Tasche zog; »aber ich möchte Sie bitten, — ich hoffe, daß man dieser Sache besondere Aufmerksamkeit schenkt.«

»Und das haben Sie gut gemacht. Ich werde das unbedingt selber melden,« sagte der Baron, indem er auf seinem lustigen Gesichte ein ganz unnatürliches Mittleid hervorrief. »Sehr rührend. Sie war, augenscheinlich, noch ein Kind; der Mann ist mit ihr grob umgegangen; das stieß sie ab, und dann kam die Zeit, und sie gewannen einander lieb…Ja, ich will es melden.«

»Graf Iwan Michajlowitsch hat gesagt, daß er bitten wolle…« Nechljudow hatte kaum Zeit, diese Worte auszusprechen, als der Gesichtsausdrnck des Barons sich veränderte.

»Uebrigens, reichen Sie die Bittschrift bei der Kanzlei ein, und ich thue, was ich kann,« sagte er zum Nechljudow.

Um diese Zeit trat in das Zimmer der junge Beamte, der augenscheinlich eitel auf seinen Gang war.

»Die Dame bittet, noch zwei Worte sagen zu dürfen.«

»Nun, rufen Sie sie. Ach, mon cher, wie viel Thränen sieht man hier,…wenn man sie nur alle trocknen könnte. Man thut, was man kann.«

Die Dame trat herein.

»Ich habe vergessen, zu bitten, daß man ihm nicht erlaube, die Tochter wegzugeben, sonst aber ist er zu allem…«

»Aber ich habe ja gesagt, daß ich es thue.«

»Baron, um Gotteswillen, Sie werden die Mutter retten.« Sie ergriff seine Haud und fing an, sie zu küssen.

»Alles wird gethan.«

Als die Dame wegging, begann auch Nechljudow sich zu verabschieden.

»Wir wollen thun, was wir können. Wir wollen uns mit dem Justizministerium in Relation setzen. Sie werden uns antworten, und dann thun wir, was möglich ist.«

Nechljudow ging hinaus und in die Kanzlei. Wieder, wie im Senat, fand er in einem prächtigen Raum prächtige Beamte, sauber, höflich, korrekt vom Kleide bis zu den Gesprächen, pünktlich und streng.

‘Wie viele sind ihrer, wie schrecklich viele sind ihrer, und wie satt sind sie, wie sauber sind ihre Hemden und Hände, wie schön sind ihre Schuhe gewichst, und wer thut das alles? Und wie gut geht es ihnen allen, im Vergleich nicht nur mit den Gefangenen, sondern auch mit den Leuten im Dorf’, dachte Nechljudow unwillkürlich.

19

Der Mann, von dem die Milderung des Schicksals der Inhaftierten in Petersburg abhing, war ein alter, verdienter, aber wie man von ihm sagte, vor Alter schwachsinnig gewordener General von den deutschen Baronen, behängt mit Orden, die er, außer einem weißen Kreuz im Knopfloch, nicht trug. Er hatte im Kaukasus gedient, wo er dieses für ihn besonders schmeichelhafte Kreuz erhalten, weil damals unter seinem Kommando von den geschorenen, in Uniformen gesteckten und mit Flinten und Bajonetten bewaffneten russichen Bauern mehr als tausend, ihre Freiheit und ihre Häuser und Familien verteidigende, Menschen getötet worden. Dann diente er in Polen, wo er ebenfalls die russischen Bauern allerlei Verbrechen begehen hieß, wofür er gleichfalls Orden und neue Verzierungen für die Uniform erhielt. Dann war er noch irgendwo, und jetzt, als schon gebrechlicher Alter, erhielt er diese, eine gute Wohnung, Gehalt und Ehren verleihende Stellung, in der er sich in der gegenwärtigen Minute befand. Er erfüllte streng alle Vorschriften von oben und hielt besonders auf diese Erfüllung, da er solchen Vorschriften von oben eine besondere Bedeutung zuschrieb: er glaubte, alles in der Welt könne man ändern, nur nicht diese Vorschriften von oben. Seine Pflicht bestand darin, politische Verbrecher und Verbrecherinnen in Kasematten und Einzelzellen fest zu halten, und diese Leute so zu halten, daß die Hälfte von ihnen im Laufe von zehn Jahren zu Grunde geht, indem sie teils verrückt werden, teils an der Schwindsucht sterben, teils sich töten: einige durch Hunger, andere öffnen sich die Adern mit Glasscherben, noch andere hängen sich auf, wieder andere verbrennen sich.

Der alte General wußte alles das, all das geschah unter seinen Augen, aber alle diese Fälle rührten sein Gewissen nicht, ebenso wenig, wie sein Gewissen von Unglücksfällen, die infolge von Gewittern, von Ueberschwemmungen und ähnlichem sich ereigneten, berührt ward. Diese Fälle passierten infolge strenger Erfüllung der Vorschriften von oben, im Namen Seiner Majestät des Kaisers. Die Vorschriften aber müssen unvermeidlich erfüllt werden, und darum war es vollkommen nutzlos, an die Folgen solcher Vorschriften zu denken. Und der alte General ließ sich nicht auf Nachdenken über solche Sachen ein, indem er es für seine patriotische, soldatische Pflicht hielt, nicht nachzudenken, um in der Erfüllung dieser, seiner Meinung nach, sehr wichtigen Pflichten nicht zu erschlaffen. Einmal in der Woche besuchte der alte General alle Kasematten und befragte die Eingekerkerten, ab sie nicht irgend welche Bitten hätten. Die Eingekerkerten wandten sich an ihn mit verschiedenen Bitten. Er hörte sie ruhig, undurchdringlich schweigend, an und erfüllte nie etwas, weil alle Bitten den Gesetzesbestimmungen widerstritten.

Als Nechljudow zur Residenz des alten Generals vorfuhr, spielte das feine Glockenspiel der Uhr auf dem Turm »Wie ruhmvoll ist der Herr, mein Gott,« und dann schlug es zwei Uhr. Während Nechljudow dieses Glockenspiel hörte, erinnerte er sich unwillkürlich an das, was er in den Memoiren der Dekabristen gelesen, wie diese stündlich sich wiederholende süße Musik in der Seele der ewig Eingekerkerten wiederhallt.

Der alte General saß zu der Zeit, als Nechljudow bei der Anfahrt zu seiner Wohnung vorfuhr, in einem dunklen Empfangszimmer, an einem eingelegten Tischchen, und rückte zusammen mit einem jungen Mann, einem Künstler, dem Bruder eines seiner Untergebenen, eine Untertasse auf einem Bogen Papier. Die dünnen, feuchten, schwachen Finger des Künstlers waren zwischen die rauhen, runzeligen und in den Gelenken erstarrten Finger des alten Generals gelegt, und diese vereinigten Hände bewegten sich in Zuckungen mit der umgestürzten Untertasse über den Papierbogen mit sämtlichen auf ihm dargestellten Buchstaben des Alphabets. Die Untertasse antwortete auf die vom General aufgegebene Frage, wie die Seelen nach dem Tode einander erkennen würden.

Als einer seiner Ordonnanzen, der das Amt eines Kammerdieners bekleidete, mit Nechljudows Karte hereintrat, sprach vermittelst der Untertasse die Seele Jeanne d’Arc’s; die Seele hatte schon buchstabenweise die Worte gesagt: »Sie werden einander« — und dies war aufgeschrieben. Zur Zeit, als die Ordonnanz kam, gelangte die Untertasse, nachdem sie einmal beim d, ein anderes Mal beim e stehen geblieben, zum r, blieb bei diesem Buchstaben stecken und begann hin und her zu zucken. Sie zuckte aber deswegen, weil der folgende Buchstabe nach der Meinung der Generals n sein sollte, das heißt Jeanne d’Arc sollte, seiner Meinung nach, sagen, daß die Seelen einander nur nach der Reinigung von allem Irdischen erkennen würden, oder etwas Aehnliches, und der folgende Buchstabe sollte n sein; der Künstler aber glaubte, der folgende Buchstade werde a sein, da die Seele sagen werde, daß die Seelen einander an dem Schein, der von dem Aetherleib der Seelen ausströmt, erkennen werden. Der General zog finster seine dichten grauen Augenbrauen zusammen, sah mit unverwandtem Blick auf die Hände, und indem er sich einbildete, die Untertasse bewege sich von selbst, zog er sie zum n. Der junge blutlose Künstler aber, mit den hinter die Ohren gelegten dünnen Haaren, blickte mit seinen leblosen blauen Augen in die dunkle Ecke des Empfangszimmers und zog, nervös die Lippen bewegend, zum a. Der General machte wegen der Unterbrechung seiner Beschäftigung eine unzufriedene Miene, und nach einer Minute des Schweigens nahm er die Karte, setzte sein pince-nez auf, und mit Aechzen vor Schmerzen im Kreuz erhob er sich in seiner ganzen Höhe, die erstarrten Finger beibend.

»Bitte ins Kabinet!«

»Erlauben, Eure Exzellenz, ich fahre allein fort,« sagte der Künstlet, aufstehend; »ich fühle die Anwesenheit.«

»Schön, machen Sie’s zu Ende,« sagte entschieden und streng der General und begab sich mit großen Schritten der schnurgerade gestellten Füße in seinem entschiedenen, gemessenen Gang ins Kabinet.

»Es ist mit angenehm, Sie zu sehen,« sprach der General zum Nechljudow mit grober Stimme freundliche Worte, indem er auf den Lehnstuhl an dem Schreibtisch zeigte. »Sind Sie schon lange in Petersburg?«

Nechljudow sagte, daß er erst vor kurzem angekommen sei.

»Wie befindet sich die Fürstin, Ihre Frau Mutter? Gesund?«

»Meine Mutter ist verschieden.«

»Verzeihen Sie, ich habe sie sehr betrauert. Mein Sohn hat mit gesagt, daß er Ihnen begegnet sei.«

Der Sohn des Generals machte eine ebensolche Carrière, wie sein Vater; nach der Absolvierung der Militärakademie diente er im Kundschafterbureau und war sehr stolz auf die Beschäftigungen, die ihm dort aufgetragen wurden. Seine Beschäftigungen bestanden in der Verwaltung des Spiondienstes.

»Jawohl, mit Ihrem Herrn Vater zusammen habe ich gedient. Freunde, Kameraden waren wir. Wie ist es denn, dienen Sie?«

»Nein, ich diene nicht.«

Der General neigte mißbilligend den Kopf.

»Ich habe eine Bitte an Sie, General,« sagte Nechljudow.

»Se—e—hr erfreut. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Wenn meine Bitte unstatthaft ist, so bitte, verzeihen Sie mir. Aber ich muß sie überbringen.«

»Was ist es?«

»Bei Ihnen wird jemand, Gurkewitsch, in Haft gehalten; seine Mutter nun bittet um eine Zusammenkunft mit ihm, oder wenigstens, daß man ihm Bücher übergeben könnte.«

Der General zeigte bei Nechljudows Frage weder Vergnügen, noch Mißvergnügen, sondern neigte den Kopf auf eine Seite und drückte die Augen zu, als ob er überlegte. Eigentlich überlegte er nichts, und interessierte sicb nicht einmal für Nechljudows Frage, da er sehr gut wußte, war er ihm dem Gesetz gemäß antworten werde. Er ruhte einfach geistig aus, indem er an nichts dachte.

»Dies, sehen Sie, hängt von mir nicht ab,« sagte er, als er ein wenig ausgeruht. »Ueber die Zusammenkünfte giebt es die allerhöchst bestätigten Gesetzesbestimmungen, und was dort erlaubt ist, das wird erlaubt. Und was die Bücher anbetrifft, so haben wir eine Bibliothek, und man giebt ihnen solche, die erlaubt sind.«

»Ja, aber er braucht wissenschaftliche Bücher; er will sich wissenschaftlich beschäftigen.«

»Das glauben Sie nicht.« Der General schwieg eine Weile. »Das ist nicht wegen der Beschäftigung. Es ist nur so eine Unruhe.«

»Ja, aber man muß doch in ihrer schweren Lage die Zeit mit etwas ausfüllen,« sagte Nechljudow.

»Sie beklagen sich immer,« sagte der General. »Wir kennen sie schon.«

Er sprach von ‘ihnen’ im allgemeinen, wie von irgend einer besonderen, schlechten Menscherasse.

»Er wird ihnen aber hier eine solche Bequemlichkeit gewährt, wie sie selten in Gefängnissen zu treffen ist,« fuhr er fort.

Und er begann, gleichsam sich rechtfertigend, ausführlich alle Bequemlichkeiten zu beschreiben, welche den Inhaftierten gewährt werden, als ob der Hauptzweck dieser Institution darin bestehe, den dort eingesperrten Personen einen angenehmen Aufenthalt einzurichten.

»Früher, wirklich, war es ziemlich hart, gegenwärtig aber werden sie hier ausgezeichnet gehalten. Sie speisen drei Gerichte, eine davon immer Fleisch: Klopse oder Koteletts. An Sonntagen haben Sie noch ein viertes süßes Gericht. So daß Gott gäbe, daß nur jeder russische Mensch so speisen könnte.«

Der General kam augenscheinlich, wie alle alten Leute, immet wieder auf das seinem Gedächtnis fest Eingeprägte zurück und sagte alles, was er viele Male zum Beweise ihrer hohen Ansprüche und Undankbarkeit wiederholt hatte.

»Bücher giebt man ihnen, sowohl religösen Inhalts, wie auch alte Zeitschriften. Wie haben eine Bibliothek. Nur lesen sie selten. Zuerst scheinen sie sich dafür zu interessieren, dann aber bleiben die neuen Bücher bis zur Hälfte unaufgeschnitten; bei den alten aber wird nicht mal ein Blatt umgeschlagen; wie haben sogar versucht,« sagte der Baron mit der entfernten Nachahmung eines Lächelns, »absichtlich legen wir ein Papierchen hinein. Es bleibt auch da, wird nicht weggenommen. Ebenso ist ihnen auch das Schreiben nicht untersagt. Er wird ihnen eine Schiefertafel und auch ein Schieferstift gegeben, so daß sie der Zerstreuung halber schreiben können. Sie können wegwischen und wieder schreiben, aber auch schreiben thun sie nicht. Nein, sie werden sehr bald ganz ruhig. Nur anfangs zeigen sie Unruhe, dann aber werden sie sogar dick, und sehr still werden sie,« sprach der General, und er vermutete nicht einmal, welche schreckliche Bedeutung seine Worte hatten.

Nechljudow hörte seine heisere greisenhafte Stimme, sah auf diese erstarrten Glieder, auf die erloschenen Augen unter den grauen Augenbrauen, auf diese greisenhaften, rasierten Hängebacken, von dem Militärkragen gestützt, auf dieses weiße Kreuz, auf daß dieser Mann stolz war, besonders da er es für eiuen ausnehmend grausamen Mord an vielen Seelen erhalten, — und er begriff, daß ihm zu erwidern, die Bedeutung seiner Worte zu erklären, nutzlos sei. Aber er machte dennoch eine Anstrengung und fragte noch nach der anderen Sache, nach der Gefangenen Schustowa, über welche er heute die Nachricht bekommen hatte, daß befohlen sei, sie frei zu lassen.

»Schustowa? Schustowa…Ich erinnere mich nicht ihrer aller, dem Namen nach. Es giebt ihrer ja so viele,« sagte er, indem er augenscheinlich die Ueberfüllung der Gefängnisse ihnen vorwarf. Er klingelte und ließ den Sekretär rufen. Während man ging, um den Sekretär zu holen, ermahnte er den Nechljudow, zu dienen; er sagte, ehrliche und edle Leute — zu der Zahl solcher Leute zählte er sich selber —, seien besonders nötig für den Zar…»und fürs Vaterland,« fügte er augenscheinlich nur der Schönheit des Stils wegen hinzu.

»Ich, zum Beispiel, bin alt, und dennoch diene ich, so weit es meine Kräfte erlauben.«

Der Sekretär, ein trockener, magerer Mann mit unruhigen klugen Augen kam zu melden, daß die Schustowa in irgend einem sonderbaren Fortifikationsort inhaftiert sei, und daß keine sie betreffenden Papiere eingetroffen seien.

»Wenn wir die Ordre erhalten, so schicken wir sie an demselben Tage ab. Wir halten sie nicht, wir legen nicht besonders großen Wert auf ihre Anwesenheit,« sagte der General, wieder mit dem Versuch eines mutwilligen Lächelns, das sein altes Gesicht nur verzerrte.

Nechljudow stand auf; er gab sich Mühe, den Ausdruck des gemischten Gefühls, das er gegen diesen schrecklichen Alten empfand, seinen Widerwillen und sein Bedauern zurückzuhalten. Der Alte glaubte, daß er auch nicht zu streng gegen den leichtsinnigen und augenscheinlich verirrten Sohn seines Kameraden sein dürfe und ihn nicht ohne Zurechtweisung lassen solle. —

»Leben Sie wohl, mein Lieber, nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich sage es aus Liebe zu Ihnen. Verkehren Sie nicht mit den Leuten, die bei uns inhaftiert sind. Unschuldige giebt’s nicht. Diese Leute sind die allerunmoralischsten. Wir kennen sie wohl,« sagte er in einem Ton, der keine Möglichkeit dea Zweifels zuließ. Und er zweifelte wirklich nicht daran, nicht weil es so war, sondern, weil, falls es nicht so wäre, er sich nicht für einen ehrwürdigen Helden, der die letzten Tage seines guten Lebens würdig verbrachte, hätte halten müssen, sondern für einen Taugenichts, der sein Gewissen verkauft hatte und es bis auf seine alten Tage zu verkaufen fortfuhr.

»Das Beste aber ist: dienen Sie,« sprach er weiter, »der Zar braucht ehrliche Leute, — und das Vaterland,« fügte er hinzu, »Nun, wenn ich und alle, so wie Sie, nicht dienten? Wer würde denn da bleiden? Wir verurteilen die jetzige Ordnung, selber aber wollen wir der Regierung nicht helfen.«

Nechljudow seufzte schwer, verbeugte sich tief, drückte die ihm nachsichtig ausgestreckte knochige, große Hand und ging aus dem Zimmer.

Der General schüttelte mißbilligend den Kopf, und das Kreuz reibend, ging er wieder in das Empfangszimmer, wo ihn der Künstler erwartete. Er hatte schon die von Jeanne d’Arc erhaltene Antwort aufgeschrieben.

Der General setzte sein pince-nez auf und las: »Sie werden einander an dem Lichte erkennen, das aus den Aether-leibern ausströmt.«

»Ah,« sagte beifällig der General, die Augen zudrückeud, »aber wie wird man einander erkennen, wenn das Licht bei allen das gleiche ist?« fragte er, und wieder, die Finger mit dem künstler kreuzend, setzte er sich an das Tischchen.

__________

Der Mietskutscher fuhr aus dem Thor hinaus.

»Es ist langweilig hier, Herr,« sagte er, sich an den Nechljudow wendend; »ich wollte schon wegfahren, ohne Sie zu erwarten.«

»Ja, langweilig,« pflichtete Nechljudow bei, indem er aus voller Brust ausatmete und mit Beruhigung die Augen auf den rauchfarbigen Wolken haften ließ, die über den Himmel schwammen und auf dem glänzenden Glitzern der Newa, die von den Ruderböten und Dampfern bewegt ward.

20

Am anderen Tage sollte die Sache der Maslowa zum Vortrag kommen, und Nechljudow fuhr in den Senat. Der Advokat kam gleichzeitig mit ihm an der großartigen Anfahrt des Senatsgebäudes vorgefahren, wo schon einige Equipagen standen. Als sie die prächtige, feierliche Treppe in den zweiten Stock hinaufgegangen, begab sich der Advokat, der alle Gänge kannte, nach links in eine Thür, auf der die Jahreszahl der Einführung der Gerichtsreformen angebracht war. Nachdem er im ersten langen Zimmer seinen Paletot abgelegt und von dem Portier erfahren, daß die Senatoren sich alle versammelt hätten, und daß der letzte eben vorbeigegangen sei, trat Fanarin im Frack, und in weißer Krawatte über der weißen Brust, mit heiterer Sicherheit in das folgende Zimmer. In diesem zweiten Zimmer befand sich rechts ein großer Schrank, dann ein Tisch, und links eine gewundene Treppe, auf der sich zu dieser Zeit ein eleganter Beamter in Vizeuniform mit einem Portefeuille unter dem Arm herunter bewegte. Im Zimmer lenkte die Aufmerksamkeit auf sich ein kleiner patriarchenhafter Alter mit langen weißen Haaren in einem Jäckchen und grauen Beinkleidern, neben dem mit besonderer Ehrerbietigkeit zwei Diener standen. Der kleine Alte mit den weißen Haaren ging in den Schrank und verschwand dort. Gleichzeitig erblickte Fanarin einen Kameraden, einen Advokaten, ebenso wie er, mit weißer Kravatte und im Frack, und sogleich ließ er sich mit ihm in ein lebhaftes Gespräch ein. Nechljudow aber betrachtete die im Zimmer Anwesenden. Es waren etwa fünfzehn Personen — Publikum, darunter zwei Damen. Eine junge mit einem pince-nez und eine andere grauhaarige. Die heute zu verhandelnde Sache betraf Verleumdung durch die Presse, und daher war mehr Publikum, als gewöhnlich versammelt, — es waren alles Leute vorzüglich aus der Journalistenwelt.

Ein Gerichtskomissär, ein rotbäckigee, schöner Mann in prachtvoller Uniform, mit einem Papierchen in der Hand, trat an den Fanarin heran mit der Frage — welchen Prozesses wegen er komme? Und als er erfahren hatte, daß er wegen des Prozesses der Maslowa komme, schrieb er etwas auf und ging fort. Jetzt öffnete sich die Schrankthür, und heraus trat der kleine patriarchenhafte Alte, aber schon nicht mehr in der Jacke, sondern in einem mit Tressen besetzten Kostüm, mit glänzenden Schilden auf der Brust, das ihn einem Vogel ähnlich machte.

Dieses lächerliche Kostümchen machte augenscheinlich den kleinen Alten selbst verlegen, und er ging eilig, schneller als er gewöhnlich zu gehen pflegte, durch die Thür, der Eingangsthür gegenüber.

»Dies ist Bee, der achtbarste Mann,« sagte Fanarin zum Nechljudow, und nachdem er ihn mit seinem Kollegen bekannt gemacht, erzählte er von dem bevorstehenden, seiner Meinung nach, sehr interessanten Prozeß, der verhandelt werden sollte.

Der Prozeß war bald begonnen, und Nechljudow ging mit dem Publikum zusammen nach links in den Sitzungssaal. Sie alle, samt Fanarin, gingen hinter die Barrière auf die Plätze fürs Publikum. Nur der Petersburger Advokat ging voran, hinter das Pult vor der Barrière.

Der Sitzungssaal des Senates war kleiner als der Saal des Bezirksgerichts; er war einfacher eingerichtet und unterschied sich nur dadurch, daß der Tisch, an dem die Senatoren saßen, nicht mit grünem Tuch bedeckt war, sondern mit himbeerfarbenem, mit goldener Tresse besetztem Sammt; aber die ständigen Attribute der Orte, wo Gerechtigkeit geübt wird, waren dieselben: der Gerichtsspiegel, das Heiligenbild und das Portrait des Kaisers. Ebenso feierlich verkündete der Kommissär: ‘Das Gericht kommt.’ Ebenso standen alle auf; ebenso traten die Senatoren in ihren Uniformen herein, ebenso setzten sie sich auf die Lehnstühle mit den hohen Rückenlehnen, ebenso lehnten sie sich mit den Ellbogen auf den Tisch, indem sie sich bemühten, ein ungezwungenes Aussehen zu zeigen. Der Senatoren waren vier: der Vorsitzende, Nikitin, ein glattrasierter Mann mit schmalem Gesicht und stählernen Augen; Wolf, mit bedeutsam zusammengedrückten Lippen und weißen Händchen, mit welchen er in den Akten des Prozesses herumwühlte; dann Skoworodnikow, ein dicker, gewichtiger, pockennarbiger Mann, ein gelehrter Jurist, und der vierte, Bee, derselbe kleine patriarchenhafte Alte, der als letzter vorgefahren war. Mit den Senatoren zusammen kam der Obersekretär und Kollege des Oberprokurors, ein dünner, rasierter, junger Mann von mittlerem Wuchs, mit sehr dunkler Gesichtsfarbe, und schwartzen, schwermütigen Augen. Trotz der seltsamen Uniform, trotzdem, daß Nechljudow ihn sechs Jahre lang nicht gesehen, erkannte er in ihm sogleich einen der besten Freunde aus seiner Studentenzeit.

»Ist der Kollege des Oberprokurors Selenin?« fragte Nechljudow den Advokaten.

»Ja, wie so denn?«

»Ich kenne ihn gut, es ist ein ausgezeichneter Mensch…«

»Und ein guter Kollege des Oberprokurors, ein tüchtiger. Den sollte man bitten,« sagte der Advokat.

»Er wird jedenfalls nach seinem Gewissen handeln,« sagte Nechljudow, während er seines nahen Verhältnisses und der Freundschaft mit Selenin, seiner liebenswerten Eigenschaften, seiner Reinheit, Ehrlichkeit, Ordentlichkeit im besten Sinne dieses Wortes gedachte.

»Ueberdies ist auch jetzt keine Zeit dazu,« flüsterte Fanarin, der sich dem Anhören des beginnenden Vortrags des Prozesses hingab.

Die Verhandlung begann über eine Beschwerdeführung gegen das Urteil des Kassantionshofes, der die Entscheidung des Bezirksgerichtes nicht abgeändert hatte.

Nechljudow schickte sich an, zuzuhören und bemühte sich, die Bedeutung dessen zu begreifen, was sich vor ihm abspielte, aber, ebenso wie im Bezirksgericht, bestand die Hauptschwierigkeit für das Verständnis darin, daß die Rede nicht um das ging, was sich natürlicher Weise als Hauptsache darstellte, sondern um etwas vollständig Nebensächliches. Er handelte sich hier um einen Artikel in einer Zeitung, in welchem ein Direktor einer Aktiengesellschaft gewisser Gaunereien überführt worden. Nur daß hätte von Wichtigkeit scheinen können, ob es wahr sei, daß der Direktor der Aktiengesellschaft seine Vollmachtgeber bestehle, und wie es zu machen sei, daß er aufhöre, sie zu bestehlen. Aber davon war keine Rede. Man sprach nur darüber, ob der Verleger, dem Gesetz gemäß, das Recht gehabt oder nicht gehabt, den Artikel des Feuilletonisten zu drucken, und welches Verbrechen er begangen, indem er ihn druckte: Diffamation oder Verleumdung, und wie es sei: ob die Diffamation die Verleumdung in sich einschließe, oder die Verleumdung die Diffamation? Und noch etwas für gewöhnliche Menschen wenig Venständliches über verschiedene Artikel und Entscheidungen irgendwelches allgemeinen Departements.

Eins, was Nechljudow einsah, war, daß Wolf, trotzdem er gestern ihm so sehr einprägen wollte, daß der Senat auf die Untersuchung der Sache, dem Wesen nach, nicht eingehen könne, — in diesem Falle augenscheinlich parteiisch vortrug, zu Gunsten der Kassation des Urteils der Kassationshofs; und daß Selenin unerwartet heiß seiner entgegengesetzten Meinung Ausdruck gab, was der ihm charakteristischen Zurückhaltung vollkommen widersprach. Die den Nechljudow verwundernde Heftigkeit des immer zurückhaltenden Selenin hatte ihren Grund darin, daß er den Direktor der Aktiengesellschaft als einen in Geldangelegenheiten unsauberen Mann kannte; inzwischen hatte er zufällig erfahren, daß Wolf fast am Tage vor der Verhandlung seines Prozesses der diesem Profitmacher auf einem prächtigen Diner gewesen. Jetzt aber, als Wolf, ohschon sehr vorsichtig, so doch augenscheinlich einseitig, die Sache vorgetragen, erhitzte sich Selenin und drückte seine Meinung zu nervös für eine gewöhnliche Sache aus. Diese Rede beleidigte offenbar den Wolf: er ward rot, zuckte, machte stumme Gesten der Verwunderung, und mit sehr würdigem und beleidigtem Aussehen entfernte er sich, zusammen mit den anderen Senatoren, in das Beratungszimmer.

»Wegen welchen Prozesses sind Sie eigentlich hier?« fragte wieder der Gerichtskommissär den Fanarin, sobald die Senatoren sich entfernten.

»Ich habe Ihnen schon geiagt, daß es wegen der Sache der Maslowa ist,« sagte Fanarin.

»Das ist wahr. Die Sache kommt heute zum Vortrag. Aber…«

»Aber was ist denn?« fragte der Advokat.

»Sehen Sie gefälligst, diese Sache sollte ohne Parteien verhandelt werden, so daß die Herren Senatoren schwerlich nach der Erklärung des Urteils wieder herauskommen werden. Aber…ich werde es melden…«

»Das heißt; wie so denn?…«

»Ich will es melden, ich will es melden,« und der Gerichtskommissär machte irgend eine Notiz auf seinem Papierchen.

Die Senatoren waren wirklich gesonnen, nach der Erklärung des Urteils über die Sache von der Verleumdung, die übrigen Prozesse, unter ihnen auch die Sache der Maslowa, bei Thee und Papyros bu beendigen, ohne aus Beratungszimmer hinauszugehen.

21

Sobald die Senatoren sich an den Tisch des Beratungszimmers gesetzt hatten, begann Wolf, sehr lebhaft, die Motive auseinanderzusetzen, nach welchen der Prozeß kassiert werden sollte. Der Vorsitzende, auch sonst kein wohlwollender Mann, war heute besonders schlechter Laune. Während der Sitzung, als er dem Vortrage zuhörte, hatte er sich schon seine eigene Meinung gebildet, und jetzt saß er, ohne dem Wolf zuzuhören, in seine Gedanken vertieft. Seine Gedanken aber bestanden in der Vergegenwärtigung dessen, was er gestern in seine Memoiren geschrieben bei Gelegenheit der Ernennung Wiljanows und nicht seiner zu einem wichtigen Posten, den er schon seit langem zu erhalten wünschte. Der Vorsitzende, Nikitin, war vollkommen aufrichtig überzeugt, daß Urteile über verschiedene Beamte der ersten zwei Klassen, mit denen er im Verlaufe seines Dienstes verkehrt hatte, ein sehr wichtiges historisches Material bilden. Gestern hatte er ein Kapitel geschrieben, in welchem einige Beamte der beiden obersten Klassen ordentlich ihr Teil bekamen, weil sie ihn verhindert hatten, wie er es formulierte, Rußland vor dem Untergang zu retten, zu welchem es die jetzigen Regenten hinzogen, in Wirklichkeit aber nur, weil sie ihn verhinderten, mehr Gehalt zu beziehen, als jetzt; und er dachte nun darüber nach, wie dieser ganze Umstand für die Nachwelt eine vollkommen neue Beleuchtung erhalten werde.

»Ja, versteht sich,« erwiderte er auf die Worte des sich an ihn wendenden Wolf, ohne sie zu hören.

Bee aber hörte dem Woif mit schwermütigem Gesicht zu, indem er Guirlanden auf das vor ihm liegende Papier zeichnete. Bee war ein Liberaler reinsten Wassers. Heilig bewahrte er die Traditionen der sechziger Jahre, und wenn er schon einmal von der strengen Unparteilichkeit abwich, so geschah es nur in der Richtung der Liberalität. So war Bee im gegenwärtigen Falle dafür, daß man der Beschwerde keine Folge leiste, auch aus dem Grunde, weil, außerdem, daß der Aktienschacherer, der sich über die Verleumdung beklagt hatte, ein unsauberer Mensch war, diese Verleumdungsanklage gegen den Journalisten eine Beschränkung der Preßefreiheit bedeutete. Als Wolf seine Beweisführung beendete, legte Bee, ohne seine Guirlande zu Ende zu zeichnen, mit Schwermut, — ihm that es weh, solche Truismen beweisen zu müssen —, und mit weicher, angenehmer Stimme, kurz, einfach und überzeugend die Unstichhaltigkeit der Beschwerde dar, und den Kopf mit den weißen Haaren senkend, fuhr er fort, die Guirlande zu Ende zu zeichnen.

Skoworoodnikow, der dem Wolf gegenüber saß und die ganze Zeit seinen Bart und Schnurrbart mit den dicken Fingern in den Mund stopfte, hörte sogleich den Bart zu kauen auf, als Bee zu Ende war, und sagte mit lauter, knarrender Stimme, daß, trotzdem der Direktor der Aktiengesellschaft ein großer Schurke sei, er auf Kassation des Urteils anhalten würde, wenn gesetzliche Gründe vorhanden wären, aber da keine solche vorhanden seien, schließe er sich der Meinung des Iwan Semjonomitsch (Bee) an, sagte er, sich über den Stich freuend, den er dadurch dem Wolf versetzte. Der Vorsitzende schloß sich der Meinung Skoworodnikows an, und die Sache ward negativ entschieden.

Wolf war unzufrieden, besonders damit, daß er gleichsam einer nicht gewissenhaften Parteinahme überführt worden, und sich gleichzeitig stellend, schlug er den zum Vortrag folgenden Prozeß der Maslowa auf und vertiefte sich darein. Die Senatoren aber klingelten inzwischen, verlangten Thee und kamen ins Gespräch über den Fall, der um diese Zeit samt dem Duell des Kamenskij alle Petersburger beschäftigte. Es war die Sache eines Departementdirektors, der auf dem Verbrechen, das im Artikel 995 vorgesehen ist, ertappt und überführt worden.

»Welche Abscheulichkeit,« sagte mit Ekel Bee.

»Was ist denn dabei Schlechtes? Ich möchte Sie in unserer Litteratur auf das Projekt eines deutschen Schriftstellers hinweisen, der geradezu vorschlägt, so etwas nicht mehr für ein Verbrechen zu halten, so daß die Ehe zwischen Männern möglich wäre,« sagte Skoworodnikow, während er mit gierigem Schluchzen den Tabaksrauch eines zerknüllten Papyros einzog, die er zwischen den Fingerwurzeln, nahe der Handfläche, hielt, und er lachte laut auf.

»Aber das kann nicht sein,« sagte Bee.

»Ich werde es Ihnen zeigen,« sagte Skoworodnikow und zitierte den vollen Titel des Werkes und sogar Jahr und Ort seines Erscheinens.

»Man sagt, er wird zum Gouverneur irgend einer sibirischen Stadt ernannt,« sagte Nikitin.

»Und es ist ausgezeichnet. Ein Bischof mit dem Kruzifix wird ihn empfangen. Man müßte nur auch nach einen eben solchen Bischof haben. Ich wüede ihnen einen solchen empfehlen,« sagte Skoworodnikow, und nachdem er das Papyrosstümpfchen in die Untertasse geworfen, nahm er so viel Bart und Schnurrbart, wie er konnte, in den Mund und fing an, sie zu kauen.

Derzeit kam der Kommissär herein und meldete, daß der Advokat und Nechljudow wünschten, bei Verhandlung der Sache der Maslowa anwesend zu sein.

»Hier ist dieser Prozeß,« sagte Wolf, »dies ist eine ganz romanhafte Geschichte,« und er erzählte, was er von den Beziehungen Nechljudows zur Maslowa wußte.

Nachdem die Senatoren darüber gesprochen, die Papyros zu Ende geraucht und den Thee ausgetrunken hatten, gingen sie in den Sitzungssaal hinaus, gaben ihr Urteil über den vorhergehenden Prozeß ab und machten sich an die Sache der Maslowa.

Wolf trug mit seineir hohen Stimme sehr ausführlich die Kassationsbeschwerde der Maslowa vor und wieder nicht ganz unparteiisch, sondern augenscheinlich mit dem Wunsch, daß das Urteil des Gerichts kassiert werde.

»Haben Sie etwas hinzuzufügen?« wandte sich der Vorsitzende an den Fanarin.

Fanarin stand auf, und seine weiße, breite Brust herausdrückend, wies er Punkt für Punkt, mit erstaunlicher Eindringlichkeit und Genauigkeit des Ausdrucks nach, daß das Gericht in sechs Punkten vom strikten Sinne des Gesetzes abgewichen, und außerdem erlaubte er sich, obgleich in aller Kürze, auch die Sache selbst, dem Wesen nach, und die schreiende Ungerechtigkeit des Urteils zu beweisen. Der Ton der kurzen, aber starken Rede des Fanarin war so, als ob er sich entschuldige, auf dem bestehen zu müssen, was die Herren Senatoren mit ihrem Scharfsinn, und mit ihrer juristischen Weisheit, besser als er, einsähen und begriffen, und daß er es nur thue, weil es die von ihm auf sich genommene Pflicht erfordere. Nach Fanarins Rede, schien es, konnte keine Spur von Zweifel daran bestehen, daß der Senat das Urteil des Gerichtes kassieren werde. Als Fanarin seine Rede beendigt hatte, lächelte er siegreich. Auf seinen Advokaten blickend und dieses Lächeln sehend, war Nechljudow überzeugt, daß die Sache gewonnen sei. Aber als er die Senatoren ansah, bemerkte er, daß Fanarin allein lächelte und triumphierte. Die Senatoren und der Kollege des Oberprokurors lächelten und triumphierten nicht, sie hatten das Aussehen von Leuten, die sich langweilen und sagen: ‘Wir haben viele euresgleichen gehört, und all das bedeutet nichts.’ Sie alle waren augenscheinlich nur befriedigt, daß der Advokat endete und aufhörte, sie unnützerweise aufzuhalten. Sogleich nach Beendigung der Rede des Advokaten, wandte sich der Vorsitzende an den Kollegen des Oberprokurors. Selenin äußerte sich kurz, aber klar und genau, für das Belassen der Sache ohne Veränderung. indem er alle Anlässe zur Kassation unstichhaltig fand. Gleich darauf standen die Senatoren auf und gingen, um sich zu beraten.

Im Beratungszimmer teilten sich die Stimmen. Wolf war für die Kassation; Bee, der begriff, um was es sich hier handelte, stand sehr feuerig gleichfalls für die Kassation ein, indem er den Kollegen lebhaft das Bild des Gerichtes und des Mißverständnisses der Geschworenen, wie er es ganz richtig verstanden, darstellte; Nikitin, der immer für die Strenge überhaupt und für strenge Formalität war, war gegen die Kassation. Die ganze Sache konnte durch die Stimme des Skoworodnikow entschieden werden. Und diese Stimme stellte sich auf die Seite der Ablehnung, vorzüglich, weil der Entschluß des Nechljudow, dieses Mädchen im Namen der moralischen Foderungen zu heiraten, ihm in höchstem Grade zuwider war.

Stoworodnikow war Materialist, Darwinist, und er hielt jegliche Aeußerungen der abstrakten Moral oder noch schlimmer: der Religiosität, nicht nur für einen verachtenswerten Unsinn, sondern für eine persönliche Beleidigung seiner selbst. Diese ganze Plackerei um diese Prostituierte, und die Anwesenheit des sie verteidigenden berühmten Advokaten und des Nechljudow selbst hier im Senat, war ihm im höchsten Grade widrig. Und indem er den Bart in den Mund steckte und Grimassen machte, that er sehr natürlich so, als ob er nichts von dieser Sache wisse, außer daß die Kassationsmotive ungenügend seien, und darum sei er mit dem Vorsitzenden einverstanden, die Beschwerde ohne Folgen zu belassen.

Die Beschwerde ward abgelehnt.

22

»Schrecklich!« sprach Nechljudow, als er samt dem sein Portefeuille einpackenden Advokaten in das Empfangszimmer hinausging, »in der klarsten Sache klammern sie sich an die Form und lehnen ab. Schrecklich!«

»Die Sache ist im Gericht verpfuscht worden,« sagte der Advokat.

»Und Selenin ist für die Ablehnung. Schrecklich, schrecklich!« fuhr Nechljudow fort, zu wiederholen. »Was ist denn jetzt zu thun?«

»Nun werden wir eine Bittschrift an die allerhöchste Instanz einreichen. Und reichen Sie selber sie ein, solange Sie hier sind. Ich werde sie Ihnen aufsetzen.«

Um diese Zeit trat der kleine Wolf mit seinen Sternen und seiner Uniform in das Empfangezimmer und näherte sich dem Nechljudow.

»Was soll man thun, lieber Fürst? Es gab keine genügenden Motive,« sagte er, seine schmalen Schultern zuckend und die Augen zudrückend, und ging seines Weges.

Gleich nach dem Wolf kam auch Selenin heraus, da er von den Senatoren erfahren, daß Nechljudow, sein früherer Freund, hier sei.

»Nun, das habe ich nicht erwartet, dich hier zu treffen,« sagte er, sich dem Nechljudow nähernd und mit den Lippen lächelnd, während seine Augen schwermütig blieben. »Ich wußte ja nicht, daß du in Petersburg bist.«

»Ich aber wußte nicht, daß du Oberprokuror bist…«

»Oberprokurorskollege,« berichtigte Selenin.

»Wieso kommst du in den Senat?« fragte er, schwermütig und traurig seinen Freund anblickend. »Ich wußte, daß du in Petersburg bist. Aber auf welche Weise bist du hier?«

»Hier? Ich bin hier, weil ich Gerechtigkeit zu finden und eine um nichts verurteilte Frau zu retten hoffte.«

»Welche Frau?«

»Die Sache, die eben entschieden worden.«

»Ah, die Sache der Maslowa,« sagte Selenin sich entsinnend. »Ganz unbegründete Beschwerde.«

»Die Sache liegt nicht in der Beschwerde, sondern in der Frau, die unschuldig ist und Strafe trägt.«

Selenin seufzte.

»Er ist sehr möglich, aber…«

»Nicht ‘möglich,’ sondern sicher…«

»Aber wie weißt denn du das?«

»Weil ich einer der Geschworenen gewesen. Ich weiß wo und wie wir den Fehler gemacht haben.«

Selenin wurde nachdenklich.

»Man mußte es damals sofort anzeigen,« sagte er.

»Ich habe es angezeigt.«

»Man mußte es ins Protokoll eintragen. Wenn es sich bei der Kassationsbeschwerde fände…«

»Ja, aber es war ja auch jetzt augenscheinlich, daß das Urteil ungereimt war!,« sagte Nechljudow.

»Der Senat hat kein Recht, es zu sagen. Wenn der Senat sich erlaubte, die Urteile der Gerichte auf Grund seiner Ansicht über die Gerechtigkeit der Urteile selber zu kassieren, so, — geschweige denn, daß er damit jede Richtschnur verlöre und Gefahr liefe, eher die Gerechtigkeit zu verletzen, als sie wiederherzustellen,« — sagte Selenin, indem er des vorangegangenen Prozesses gedachte, »würden auch die Urteile der Geschworenen ihre ganze Bedeutung verlieren.«

»Ich weiß nur eins: daß diese Frau vollkommen unschuldig ist, und daß die letzte Hoffnung, sie von der unverdienten Strafe zu retten, verloren gegangen. Die höchste Institution hat eine vollendete Ungerechtigkeit bestätigt.«

»Bestätigt hat sie sie nicht, weil sie auf die Untersuchung der Sache selbst nicht eingegangen ist und nicht eingehen kann,« sagte Selenin, ein Ange zusammenkneifend.

Selenin, der immer beschäftigt zu sein und wenig in der Welt zu leben pflegte, hatte augenscheinlich nichts von Nechljudows Roman gehört: Nechljudow aber, als er es merkte, fand, daß es auch nicht nötig sei, von seinen besonderen Beziehungen zur Maslowa zu sprechen.

»Du bist gewiß der dem Tantchen abgestiegen,« fügte Selenin hinzu, offenbar in dem Wunsch, das Gespräch zu wechseln. »Gestern habe ich von ihr erfahren, daß du hier bist. Die Gräfin hat mich eingeladen, mit dir zusammen bei dem Vortrage eines zugereisten Predigers anwesend zu sein,« sagte Selenin, mit den Lippen allein lächelnd.

»Ich bin dort gewesen, aber mir Abscheu weggegangen,« sagte Nechljudow böse; er ärgerte sich, daß Selenin das Gespräch auf etwae anderes lenkte.

»Nun, warum denn mit Abscheu? Es ist dennoch eine Offenbarung des religiösen Gefühls, obgleich eine einseitige, sektiererische,« sagte Selenin.

»Er ist irgend ein wilder Wahnwitz,« sagle Nechljudow.

»Nun, nein. Es ist hier nur seltsam, daß wir die Lehre unserer Kirche so wenig kennen, daß wie unsere Grunddogmen für irgend welche neue Offenbarung nehmen,« sagte Selenin, indem er sich gleichsam beeilte, dem gewesenen Freund seine für ihn neuen Ansichten darzulegen.

Nechljudow blickte verwundert und aufmerksam auf Selenin. Selenin aber senkte die Augen, aus welchen nicht nur Schwermut, sondern auch beinahe Feindseligkeit sprach.

»Aber glaubst denn du an die Kirchendogmen?« fragte Nechljudow.

»Versteht sich, ich glaube daran,« antwortete Selenin, gerade und wie tot in Nechljudows Augen sehend.

Nechljudow seufzte.

»Wunderbar,« sagte er.

»Uebrigens, — wie werden nachher sprechen,« sagte Selenin. »Ich komme,« wandte er sich an den Gerichtskommisär, der sich ihm ehrerbietig näherte. »Unbedingt müssen wir uns wieder sehen,« fügte er seufzend hinzu. »Ob man dich aber treffen wird? Mich wirst du stets um sieben Uhr beim Mittagessen treffen, Nadeschdinskajastraße,« er nannte die Nummer. »Seit der Zeit ist schon viel Wasser bergab gelaufen,« fügte er hinzu, indem er wegging und wieder nur mit den Lippen allein lächelte.

»Ich komme, wenn ich Zeit habe,« sagte Nechljudow, während er fühlte, daß der ehemals nahe und geliebte Mensch Selenin, plötzlich, infolge dieses einen kurzen Gesprächs, ihm fremd, entfernt und unverständlich, wenn nicht feindlich geworden.

23

Zur Zeit, da Nechljudow den Selenin als Studenten kannte, war dieser ein ausgezeichneter Sohn, treuer Kamerad und, im Vergleich zu seinen Jahren, ein Weltmann von guter Bildung mit großem Takt, immer elegant und schön und zu gleicher Zeit ungewöhnlich wahrhaft und ehrlich. Er studierte ausgezeichnet, ohne besondere Mühe und ohne eine Spur von Pedanterie, und bekam dabei goldene Medaillen für seine Arbeiten. Er stellte sich in Wirklichkeit, nicht nur in Worten, das Ziel, sein junges Leben dem Dienst der Menschheit zu widmen. Diesen Dienst stellte er sich nicht anders als in der Form des Staatsdienstes vor; sobald er daher die Universität beendet, prüfte er systematisch alle Formen der Thätigkeit, welchen er seine Kräfte widmen konnte, und entschied, daß er am nützlichsten in der zweiten Abteilung von Seiner Majestät Eigenen Kanzlei sein werde, die mit der Redaktion der Gesetze betraut ist, und er trat in diese ein. Aber trotz der genauesten und gewissenhaftesten Erfüllung alles dessen, war man von ihm verlangte, fand er in diesem Dienste keine Befriedigung seines Bedürfnisses, nützlich zu sein, und er konnte nicht zu dem Bewußtsein gelangen, daß er das thue, man er solle. Diese Unbefriedigung verstärkte sich infolge von Kollisionen mit dem nächsten, sehr kleinlichen und eitlen Vorgesetzten dergestalt, daß er die zweite Abteilung verließ und in den Senat überging. Im Senat ging es ihm besser, aber das gleiche Bewußtsein der Unbefriedigung verfolgte ihn. Er fühlte immerfort, daß dies etwas ganz anderes war, als was er erwartete, und was sein mußte. Da, während des Dienstes im Senat, erwirkten seine Verwandten seine Ernennung zum Kammerjunker, und er mußte in der gestickten Uniform, mit weißer Leinwandschürze, in einer Kutsche fahren, um den verschiedenen Personen zu danken, daß man ihn zu dem Amt eines Lakaien beförderte. Wie sehr er sich auch bemühte, er konnte durchaus keine vernünftige Erklärung für dieses Amt finden; und er fühlte noch mehr als im Dienste, daß es ’nicht das Rechte’ sei. Indessen aber konnte er die Ernennung nicht ahlehnen, einerseits um diejenigen nicht zu betrüben, die glaubten, daß sie ihm dadurch eine große Freude bereiteten; andererseits aber schmeichelte diese Ernennung den niederen Instinkten seiner Natur, und es machte ihm Vergnügen, sich im Spiegel in goldgestickter Uniform zu sehen und die Achtung zu genießen, die diese Ernennung in einigen Leuten hervorrief.

Dasselbe geschah mit ihm auch bezüglich seiner Heirat. Man arrangierte für ihn eine vom Standpunkt der Welt sehr glänzende Partie. Und so heiratete er denn auch wieder vorzüglich, weil er durch die Ablehnung das sehr diese Heirat wünschende Mädchen und diejenigen, die diese Heirat zu Stande bringen wollten, beleidigt und ihnen weh gethan hätte, und weil die Heirat mit einem jungen, hübschen, vornehmen Mädchen seiner Selbstliebe schmeichelte und ihm Vergnügen machte. Aber sehr bald erwies es sich, daß die Heirat in noch höherem Grade ’nicht das Rechte’ war, als der Dienst und das Hofamt. Nach dem ersten Kinde wollte die Frau keine Kinder mehr haben und fing an, ein luxuriöses Weltleben zu führen, an welchem auch er, er mochte wollen oder nicht, teil nehmen mußte. Sie war nicht besonders schön, sie war ihm treu, und es schien, daß sie selber von solchem Leben nichts hatte, außer fürchterlichen Anstrengungen und Müdigkeit, abgesehen davon, daß sie dadurch dem Mann das Leben verbitterte; dennoch führte sie geflissentlich ein solches Leben. Alle Versuche seinerseits, dieses Leben zu ändern, prallten gleichsam ab an einer steinernen Wand, an ihrer von allen ihren Verwandten und Bekannten unterstützten Ueberzeugung, daß es so sein müsse.

Das Kind, ein Mädchen mit goldigen langen Locken und nackten Beinen, war für den Vater ein vollkommen fremdes Wesen, besonders weil es ganz anders angeleitet wurde, als er es wünschte. Zwischen den Eheleuten stellte das gewöhnliche einander Nichtverstehen und sogar Nichtverstehenwollen sich ein, und der stille, schweigsame, den anderen verborgene und durch den Anstand gemäßigte Kampf, der für ihn das Leben zu Hause sehr schwer machte. So daß das Familienleben sich noch mehr als ‘nicht das Rechte’ erwies, denn der Dienst und das Hofamt.

Am meisten aber war ‘nicht das Rechte’ sein Verhalten gegen die Religion. Wie alle Leute seines Kreises und seiner Zeit, zerriß er durch sein geistiges Wachsen ohne die geringste Anstrengung die Fesseln des religiösen Aberglaubens, in welchem er erzogen worden, und er selber wußte nicht, wann genau er sich befreit hatte. Als ein ernster und ehrlicher Mensch verbarg er während des Studentenlebens und seines nahen Verkehrs mit Nechljudow diese seine Befreiung vom Aberglauben der offiziellen Religion nicht.

Aber mit den Jahren und mit dem Avancement im Dienst und besonders mit der konservativen Reaktion, die zu der Zeit in der Gesellschaft angebrochen, begann diese geistige Freiheit ihn zu stören. Abgesehen von den Familienbeziehungen, besonders bei dem Tode seines Vaters, den Totenmessen für ihn und dem Wunsch seiner Mutter, daß er faste und das Abendmahl genieße, war zum Teil auch von der öffentlichen Meinung verlangt wurde, mußte er in seinem Dienst stets den Tedeums, Einweihungen, Dankgottesdiensten u. dergl. beiwohnen: selten ging ein Tag vorbei, ohne irgend welche Beziehung zu den äußeren Formen des Kultus, welche zu vermeiden unmöglich war. Man mußte, wenn man diesem Gottesdienste beiwohnte, eins von beiden thun: entweder sich so anstellen, — was er mit seinem rechtschaffenen Charakter unmöglich thun konnte, — daß er an das glaube, woran er nicht glaubte, oder alle diese äußeren Formen für eine Lüge anerkennen und sein Leben so einrichten, daß man nicht genötigt war, an dem Teil zu nehmen, was man für eine Lüge hielt. Aber um diese so unwichtig scheinende Sache zu vollbringen, war sehr vieles nötig; außerdem, daß man in beständigem Kampf mit allen nahen Menschen liegen mußte, mußte man auch seine ganze Stellung ändern, den Dienst verlassen und all den Nutzen für die Menschheit opfern, den er ihr schon jetzt in diesem Dienst zu bringen glaubte, und in Zukunft noch mehr zu bringen hoffte. Und um das zu thun, mußte man vollkommen sicher sein, im Recht zu sein.

Er war auch fest überzeugt, im Recht zu sein, wie denn jeder gebildete Mensch unserer Zeit, der ein wenig Geschichte kennt, die Entstehung der Religion überhaupt und Entstehung und Zerfall der kirchlich-christlichen Religion kennt, nicht umhin kann, dem gesunden Menschenverstand die Ehre zu geben. Er konnte nicht umhin, zu wissen, daß er recht hatte, indem er die Wahrheit der kirchlichen Lehre nicht anerkannte, abei unter dem Druck der Verhältnisse ließ er, der rechtschaffene Mensch, eine kleine Lüge zu, die darin bestand, daß er sich sagte: um zu behaupten, daß das Unvernünftige unvernünftig sei, muß man zuerst diese Unvernunft studiert haben. Das war eine kleine Lüge, aber eben sie führte ihn in jene große Lüge, in der er jetzt stecken blieb.

Als er sich die Frage stellte, ob die Orthodoxie das Rechte sei, in welcher er geboren und erzogen worden, welche die ganze Umgebung von ihm verlangte, ohne deren Anerkennung er seine für die Menschen nützliche Thätigkeit nicht fortsetzen konnte, war sie schon im voraus entschieden. Und daher, um diese Frage sich klar zu machen, nahm er nicht Voltaire, Schopenhauer, Spencer, Comte vor, sondern philosophische Bücher Hegels und religiöse Werke von Binet, Chomjakow, und natürlich fand er dort eben das, war er brauchte: einen Schein der Beruhigung und Rechtfertigung jener religiösen Lehre, in der er erzogen worden, und die sein Verstand schon lange nicht mehr zuließ, aber ohne die sein ganzes Leben von allerlei Verdruß erfüllt werden würde; bei der Anerkennung derselben wurden dagegen alle diese Unannehmlichleiten mit einem Male beseitigt. Und er eignete sich alle jene gewöhnlichen Sophismen an, daß der einzelne menschliche Verstand die Wahrheit zu erkennen nicht im Stande sei, daß die Wahrheit nur der Gesamtheit der Menschen offenbart werde, daß das einzige Mittel, sie zu erkennen, die Offenbarung sei, daß die Offenbarung von der Kirche aufbewahrt werde und dergleichen; und seit der Zeit konnte er ganz ruhig, ohne Bewußtsein der sich vollziehenden Lüge, den Tedeums, Totenämtern, Messen beiwohnen, konnte fasten und sich vor den Heiligenbildern bekreuzen, und konnte die dienstliche Thätigkeit fortsetzen, die ihm das Bewußtsein des geleisteten Nutzens und Trost in seinem freudelosen Familienleben gab. Er dachte, daß er glaube, indessen aber fühlte er mehr als in allem Uebrigen mit seinem ganzen Wesen, daß dieser Glaube ganz und gar ‘nicht das Rechte’ sei, und darum hatte er immer schwermütige Augen. Und darum, als er den Nechljudow sah, den er gekannt, als sich alle diese Lügen noch nicht in ihm eingenistet hatten, gedachte er seiner selbst, wie er damals gewesen, und er fühlte mehr als je, besonders nachdem er sich beeilt hatte, ihm seine neue religiöse Ansicht anzudeuten, daß alles dies ‘nicht das Rechte’ sei, und ihm wrrde qualvoll wehmütig. Dasselbe fühlte auch Nechljudow nach dem ersten Eindruck der Freude, den alten Freund wieder zu sehen.

Und darum suchten beide, obgleich sie einander versprachen, sich wieder zu sehen, dieses Wiedersehen nicht, und so haben sie sich während dieses Aufenthalts Nechljudows in Petersburg nicht mehr gesehen.

24

Als Nechljudow und der Advokat den Senat verließen, gingen sie zusammen auf dem Trottoir entlang. Seine Kutsche hieß der Advokat ihm nachfahren und fing an, dem Nechljudow die Geschichte des Departementdirektors zu erzählen, von dem die Senatoren gesprochen, wie man ihn überführt hat, und ihn, anstatt ihn in die Zwangsarbeit zu schicken, die ihm dem Gesetze gemäß bevorstand, jetzt zum Gouverneur in Sibirien ernennt. Als er die ganze Geschichte in ihrer ganzen Abscheulichkeit zu Ende erzählt und noch mit besonderem Vergnügen eine Geschichte darüber, wie von verschiedenen hochgestellten Leuten das Geld gestohlen worden, welches für das immer noch nicht fertig gebaute Denkmal gesammelt worden, an dem sie heute früh vorbeigefahren, und noch darüber, wie die Maitresse des Herrn so und so Millionen an der Börse gewonnen, und ein anderer so und so seine Frau verkauft, und ein dritter so und so sie gekauft hatte, begann der Advokat einen neuen Bericht über die Gaunereien und vielartigen Verbrechen der höchsten Würdenträger des Staates, die nicht im Gefängnis, sondern auf Präsidentenlehnstühlen in verschiedenen Staats-Institutionen säßen. Die Erzählungen, deren Vorrat offenbar unerschöpflich war, gewährten dem Advokaten großes Vergnügen, indem sie ihm mit voller Klarheit zeigten, daß die Mittel, die er, der Advokat, gebrauche, um sich Geld zu verschaffen, vollkommen korrekt und unschuldig waren im Vergleich mit denjenigen Mitteln, welche zu demselben Zweck von den höchsten Würdenträgern in Petersburg angewendet wurden. Und darum war der Advokat sehr verwundert, als Nechljudow sich, ohne seine letzte Geschichte van den Verbrechen der höchsten Würdenträger zu Ende zu hören, von ihm verabschiedete, einen Mietkutscher nahm und nach Hause fuhr.

Dem Nechljudow war sehr wehmütig ums Herz. Es war ihm wehmütig, hauptsächlich weil das abschlägige Urteil der Senatoren die sinnlose Quälerei der unschuldigen Maslowa bestätigte, und weil dieses Urteil seinen unabänderlichen Entschluß, sein Schicksal mit dem ihren zu vereinigen, noch schwieriger machte. Diese Wehmut verstärkte sich noch mehr bei den schrecklichen Geschichten von der Herrschaft des Bösen, über welche der Advokat mit solcher Freude gesprochen, und außerdem erinnerte er sich unaufhörlich an den nicht guten, kalten, abstoßenden Blick des ehemals lieben, offenen, edlen Selenin.

Ale Nechljudow nach Hause zurückgekehrt war, reichte ihm der Portier mit einer gewissen verächtlichen Miene einen Zettel, den im Vorzimmer irgend welche Frau, wie sich der Portier ausdrückte, geschrieben hatte. Dies war ein Zettel von der Mutter der Schustowa. Sie schrieb, daß sie dem Wohlthäter, dem Retter ihrer Tochter zu danken gekommen sei, und außerdem, um ihn zu bitten, ihn anzuflehen, daß er bei ihnen, Wassiljewskij Ostrow, 5 Linie, Wohnung so und so, vorfahre. Er wäre dringend nötig, schrieb sie ihm, für Wjera Iefremowna. Er solle nicht fürchten, daß man ihn mit Dankesäußerungen belästigen werde; man werde nicht vom Dank sprechen, sondern man werde einfach froh sein, ihn zu sehen. Wäre es nicht möglich, daß er morgen früh vorführe?

Ein anderer Zettel war von Nechljudows gewesenem Kameraden, dem Flügeladjutanten Bogatyrew, den er gebeten hatte, die von ihm angefertigte Bittschrift im Namen der Sektierer eigenhändig dem Kaiser zu übergeben. Bogatyrew schrieb mit seiner großen entschiedenen Handschrift, daß er sie, wie er es versprochen, direkt in die Hände der Kaisers überreichen werde, aber ihm sei der Gedanke gelommen, ob es nicht besser wäre, daß Nechljudow zuerst die Person besuche, von welcher die Sache abhänge und sich dort dafür verwende.

Nechljudow befand sich nach den Eindrücken der letzten Tage seiner Aufenthalts in Petersburg in dem Zustande völliger Hoffnungslosigkeit, etwas zu erreichen. Seine in Moskau entworfenen Pläne schienen ihm etwas in den Art wie jene Jünglingsträumereien zu sein, in Bezug auf welche die ins Leben tretenden Menschen unvermeidlich enttäuscht werden. Aber dennoch hielt er es jetzt, da er schon in Petersburg war, für seine Pflicht, alles das zu erfüllen, was er gesonnen war, zu thun, und er beschloß, schon morgen, nachdem er den Bogatyrew besucht, seinen Rat zu befolgen und zu der Person zu fahren, von der die Sache der Sektierer abhing.

Jetzt holte er aus dem Portefeuille die Bittschrift der Sektierer und las sie nach einmal durch, als ein Lakai der Gräfin Katharina Iwanowna bei ihm anklopfte und eintrat mit der Einladung, nach oben, zum Thee, kommen zu wollen.

Nechljudow sagte, daß er sogleich komme, und nachdem er die Papiere in das Portefeuille gelegt, ging er zu dem Tantchen. Auf dem Wege nach oben blickte er durch das Fenster auf die Straße und sah Mariette’s Fuchshaar, und unerwartet plötzlich wurde ihm fröhlich zu Mut, und er bekam Lust zu lächeln.

Mariette im Hut, aber nicht mehr in schmarzem, sondern in irgend welchem hellen Kleide von verschiedenen Farben, saß mit einer Tasse in der Hand neben dem Lehnstuhl der Gräfin und zwitscherte etwas, ihre schönen lächelnden Augen glänzten. In dem Augenblick, als Nechljudow ins Zimmer trat, hatte Mariette eben etwas so Lächerliches und Unanständiglächerliches fallen lassen, — dies merkte Nechljudow an dem Charakter des Lachens, — daß die gutmütige, schnurrbärtige Katharina Iwanowna, mit ihrem ganzen dicken Leib zitternd, sich vor Lachen ausschütten wollte; und Mariette sah »mischievous« — mit besonderem Ausdruck, indem sie ihren lächelnden Mund ein wenig schief zog und ihr energisches und lustiges Gesicht aus die Seite neigte, schweigend ihre Wirtin an.

Nechliudow erriet nach einigen Worten, daß sie von der zweiten Petersburger Tagesneuigkeit sprachen, von der Episode des neuen sibirischen Gouverneurs, und daß Mariette gerade aus diesem Gebiet etwas so Lächerliches gesagt, daß die Gräfin sich lange nicht fassen konnte.

»Du wirst mich noch vor Lachen umbringen,« sagte sie, sich außer Atem hustend.

Nechljudow begrüßte sie und setzte sich zu ihnen. Und kaum wollte er Mariette wegen ihrer Leichtsinnigkeit innerlich tadeln, als sie, den ernsten und kaum merkbar unzufriedenen Ausdruck seines Gesichtes gewahrend, sogleich, um ihm zu gefallen — dazu hatte sie Lust bekommen, seit sie ihn gesehen — nicht nur den Ausdruck ihres Gesichtes, sondern ihre ganze Gemütsverfassung änderte. Sie wurde blötzlich ernst, unzufrieden mit ihrem Leben und nach etwas suchend, nach etwas strebend; sie verstellte sich nicht etwa, sondern sie eignete sich wirklich eben die Gemütsverfassung an, in welcher Nechljudow in diesem Augenblicke war, — obgleich sie durchaus nicht im Stande gewesen wäre, in Worten auszudrücken, worin sie bestand.

Sie fragte ihn, wie er seine Sachen beendet habe. Er erzählte von dem Mißerfolg im Senat, und von seiner Begegnung mit Selenin.

»Ach! Welch eine reine Seele! Das ist wirklich der chevalier sans peur er et sans reproche. Eine reine Seele,« sagten die beiden Damen, indem sie dem Selenin das ständige Epitheton beilegten, unter welchem er in der Gesellschaft bekannt war.

»Wie ist seine Frau?« fragte Nechljudow.

»Sie? Nun, ich will sie nicht verurteilen. Aber sie versteht ihn nicht.«

»Wie ist es denn? War auch er für die Ablehnung?« fragte sie ihn mit aufrichtigem Mitgefühl. »Es ist schrecklich, wie bedauere ich sie!« fügte sie seufzend hinzu.

Er runzelte die Stirn, und da er den Gesprächsgegenstand wechseln wollte, fing er an, von der Schustowa zu sprechen, die in der Festung inhaftiert gewesen und auf ihre Fürsprache hin entlassen worden. Er dankte ihr für ihre Verwendung bei ihrem Mann und wollte davon sprechen, wie schrecklich es sei, zu denken, daß diese Frau und ihre ganze Familie gelitten, nur weil niemand da war, der an sie erinnert hätte; aber sie erlaubte ihm nicht, zu Ende zu sprechen und gab selber ihrer Entrüstung Ausdruck.

»Sprechen Sie mir nicht darüber,« sagte sie. »Sobald mein Mann mir sagte, daß man sie freilassen könne, frappierte mich gerade dieser Gedanke. Weswegen hat man sie denn festgehalten, wenn sie unschuldig ist?« sagte sie, das aussprechend, was Nechljudow sagen wollte, »Das ist empörend, empörend!«

Die Gräfin Katharina Iwanowna merkte, daß Mariette mit ihrem Neffen kokettierte, und das machte ihr Spaß.

»Weißt du was?« sagte sie, als sie verstummten. »Fahre morgen abend bei Aline vor, Kiesewetter wird bei ihr sein. Und du auch,« wandte sie sich an Mariette.

»Il vous a remarqué« sagte sie dem Neffen. »Er hat mir gesagt, daß alles, was du gesprochen hast, — ich habe es ihm erzählt, — alles das ein gutes Zeichen sei, und daß du unbedingt zu Christus kommst. Unbedingt fahre vor. Sag ihm, Mariatte, daß er kommen soll, und fahr’ du selber auch.«

»Ich habe, Gräfin, erstens kein Recht, dem Fürsten etwas zu raten,« sagte Mariette, indem sie den Nechljudow anblickte und durch diesen Blick mit ihm in ein vollkommenes Einverständnis trat in Bezug auf die Worte der Gräfin und überhaupt bezüglich des Evangelismus, »und zweitens, habe ich es nicht besonders gern, Sie wissen…«

»Ja, du machst immer alles umgekehrt, nach deiner Art.« —

»Wieso nach meiner Art? Ich glaube, wie das allereinfachste Weib,« sagte sie lächelnd. »Und drittens,« fuhr sie fort, »gehe ich morgen ins französische Theater.«

»Ach! Aber hast du gesehen — diese …nun, wie heißt sie doch?« sagte die Gräfin Katharina Imanowna.

Mariette nannte den Namen einer berühmten französischen Schauspielerin.

»Fahre unbedingt, das ist wunderbar.«

»Wen muß ich denn zuerst besehen, ma tante, die Schauspielerin oder den Prediger?« sagte Nechljudow lächelnd.

»Bitte, hänge dich nicht an die Worte.«

»Ich glaube, zuerst den Prediger und dann die französische Schauspielerin, sonst aber läuft man Gefahr, ganz den Geschmack an der Predigt zu verlieren,« sagte Nechljudow.

»Nein, lieber soll man mit dem französischen Theater anfangen, und dann bereuen,« sagte Mariette.

»Nun Sie, hatten Sie mich nicht zum Besten! Prediger ist Prediger, und Theater ist Theater. Um seine Seele zu retten, braucht man nicht das Gesicht ein Arschin lang zu machen und immer zu weinen. Man muß glauben, und dann wird einem lustig zu Mute.«

»Sie, ma tante, predigen besser, als alle Prediger.«

»Aber wissen Sie was?« sagte Mariette, nachdenklich geworden, »kommen Sie morgen zu mir in die Loge.«

»Ich fürchte, daß es mir nicht möglich sein wird.«

Das Gespräch unterbrach ein Lakai, der einen Besucher meldete. Es war der Sekretär einer wohlthätigen Gesellschaft, deren Präsidentin die Gräfin war.

»Nun das ist der allerlangweiligste Herr. Ich will ihn lieber dort empfangen Dann komme ich wieder zu Ihnen. Geben Sie ihm Thee zu trinken, Mariette,« sagte die Gräfin, indem sie mit ihrem raschen wiegenden Schritt in den Saal ging.

Mariette zog einen Handschuh aus und entblößte eine energische, ziemlich flache Hand mit dem von Ringen bedeckten Goldfinger.

»Wollen Sie?« sagte sie, indem sie eine silberne Theekanne auf der Spirituslampe anfaßte und den kleinen Finger seltsam ausspreizte.

Ihr Gesicht wurde ernst und schmermütig.

»Mir thut es schrecklich, schrecklich weh, zu denken, daß die Leute, auf deren Meinung ich viel halte, mich mit der Stellung, in welcher ich mich befinde, verwechseln.«

Es war, als ob sie bereit sei, zu weinen, als sie die letzten Worte sprach, und obgleich diese Worte, bei näherer Betrachtung, entweder keinen Sinn hatten, oder doch einen sehr unbestimmten, erschienen sie dem Nechljudow von ungewöhnlicher Tiefe, Aufrichtigkeit und Güte: so zog ihn der Blick der jungen, schönen, gutgekleideten Frau an, welcher diese Worte begleitete.

Nechljudow sah sie schweigend an und konnte seine Augen nicht von ihrem Gesicht losreißen.

»Sie glauben, daß ich Sie nicht verstehe und alles, was in Ihnen vorgeht. Es ist ja allen bekannt, was Sie gethan. C’est le secret de polichinell. Und ich bin entzückt davon, und ich billige Sie.«

»Bei Gott, kein Grund entzückt zu sein. Ich habe noch so wenig ausgerichtet.«

»Das ist gleich. Ich verstehe Ihr Gefühl, und ich verstehe Sie, — nun gut, nun gut, ich werde nicht mehr darüber sprechen,« unterbrach sie sich selber, als sie auf seinem Gesicht ein Mißvergnügen bemerkte, »aber ich verstehe auch das, daß nachdem Sie alle Leiden, all die Gräuel, die in den Gefängnissen vor sich gehn, gesehen haben,« sprach Mariette, indem sie nur eins wünschte, nämlich ihn für sich einzunehmen, und mit ihrem Fraueninstinkt alles das erriet, was für ihn wichtig und teuer war, »Sie den Leidenden helfen wollen, den so schrecklich, so schrecklich durch die Menschen, durch Gleichgltigkeit, durch Grausamkeiten Leidenden …Ich begreife, mir man dafür sein Leben opfern kann, und ich selber würde es opfern. Aber jeder hat sein Schicksal…«

»Sind Sie denn mit Ihrem Schicksal unzufrieden?«

»Ich?« fragte sie, gleichsam betroffen vor Verwunderung, daß man sie darüber befragen könne. »Ich muß zufrieden sein, und ich hin zufrieden. Aber es giebt einen Wurm, der aufwacht…«

»Und man muß ihn nicht einschlafen lassen, man muß dieser Stimme glauben,« sagte Nechljudow, vollkommen ihrem Betrug nachgebend.

Nachher erinnerte sich Nechljudow viele Male mit Scham an sein ganzes Gespräch mit ihr; er erinnerte sich an ihre, nicht so sehr lügenhaften, wie ihm nachgemachten Worte, und an jenen Gesichtsausdruck voll gleichsam gerührter Aufmerksamkeit, mit welchem sie ihm zugehört, als er ihr von den Greueln des Gefängnisses und von seinen Eindrücken im Dorfe erzählte.

Als die Gräfin zurückkehrte, sprachen sie nicht nur wie alte, sondern wie besonders nahe Freunde, die allein einander verstehen, mitten in dem sie nicht verstehenden Haufen.

Sie sprachen von der Ungerechtigkeit der Autorität, von den Leiden der Unglücklichen, von der Armut des Vokks, aber im Grunde genommen fragten ihre einander anblickenden Augen fortwährend unter dem Geräusch des Gespräches: ‘kannst du mich lieben?’ und antworteten: ïch kann’; und der Geschlechtstrieb, indem es die unerwartetsten und bunt-fröhlichsten Formen annahm, zog sie zu einander.

Bei der Abfahrt sagte sie ihm, daß sie immer bereit sei, ihm zu dienen, womit sie nur könne, und bat ihn, unbedingt morgen abend zu ihr ins Theater zu fahren, wenn auch nur für eine Minute, da sie noch mit ihm über eine wichtige Sache sprechen müsse.

»Und wann werde ich Sie wiedersehen!« fügie sie mit einem Seufzer hinzu aus fing an, vorsichtig den Handschuh auf die von Ringen bedeckte Hand zu ziehen. »Also sagen Sie, daß Sie kommen.«

Nechljudow versprach es.

In dieser Nacht, als Nechljudow allein in seinem Zimmer blieb, sich in das Bett legte und das Licht auslöschte, konnte er lange nicht einschlafen. Während er der Maslowa und des Senatsspruches gedachte, und gedachte, daß er beschlossen, dennoch ihr nachzureisen, seines Berichts auf die Rechte des Bodenbesitzes gedachte, stellte sich ihm plötzlich, als Antwort auf diese Fragen, das Gesicht Mariete’s vor: ihr Seufzer und der Blick, mit dem sie gesagt hatte: ‘wann werde ich Sie wieder sehen?’ und ihr Lächeln, mit solcher Klarheit, als ob er es wirklich sähe, und er lächelte selber ‘Ob ich gut daran thue, wenn ich nach Sibirien fahre? Und ob ich gut thue, mich des Reichtums zu berauben? fragte er sich.

Und die Antworten auf diese Fragen in dieser hellen Petersburger Nacht, die durch die nicht dicht zugezogenen Stores sichtbar war, — waren unbestimmt. Alles verwirrte sich in seinem Kopf. Er rief in sich die frühere Stimmung hervor, erinnerte sich an den früheren Gedankengang; aber diese Gedanken hatten schon nicht mehr die frühere Ueberzeugungskraft.

‘Und plötzlich — habe ich all das ausgedacht und werde nicht imstande sein, darin zu leben; ich werde bereuen, daß ich gut gehandelt,’ sagte er zu sich, und da er unfähig war, diese Fragen zu beantworten, fühlte er eine solche Angst und Verzweiflung, wie er sie schon lange nicht mehr empfunden; unvermögend, sich in diesen Fragen zurechtzufinden, fiel er endlich in jenen schweren Schlaf, welcher ihn ehemals nach einem großen Spielverlust zu befallen pflegte.

25

Das erste, was Nechljudow fühlte, als er am anderen Morgen aufwachte, war, daß er abends zuvor irgend eine Abscheulichkeit begangen habe. Er fing an, sich zu besinnen: eine Abscheulichleit war nicht da, eine schlechte Handlung nicht, sondern Gedanken hatte er gehabt, schlechte Gedanken darüber, daß alle seine jetzigen Vorsätze: die Heirat mit der Katjuscha, die Uebergabe des Landes an die Bauern, — daß alles das unausführbare Träumereien seien, daß er all das nicht werde aushalten können, daß all das gekünstelt, unnatürlich sei, und daß man leben müsse, wie man bisher gelebt habe. Eine schlechte Handlung war nicht da, wohl aber das, was noch viel schlimmer ist, als eine schlechte Handlung: Gedanken waren da, aus welchen alle schlechten Handlungen entspringen. Eine schlechte Handlung kann man unwiederholt lassen und kann sie bereuen, schlechte Gedanken aber erzeugen schlechte Handlungen.

Die schlechte Handlung glättet nur den Weg zu schlechten Handlungen, die schlechten Gedanken aber ziehen einen unaufhaltsam auf diesem Wege fort.

Als Nechljudow am Morgen die gestrigen Gedanken in seine Phantasie zurückrief, staunte er darüber, wie er, wenn auch nur für eine Minute, ihnen hatte Glauben schenken können. Wie neu und schwierig das auch sein mochte, was er zu thun gesonnen war, er wußte, daß dies das einzige für ihn jetzt mögliche Leben war, und wie gewohnt und leicht es auch sein mochte, zu dem früheren Leben zurückzukehren, er wußte, daß dies den Tod bedeutete. Die gestrige Verleitung kam ihm jetzt vor, wie das, was mit einem Menschen zu geschehen pflegt, wenn er schlaftrunken ist und wenn auch nicht weiter schlafen, so doch nach ein wenig im Bette faulenzen und sich pflegen möchte, trotzdem er weiß, daß es Zeit ist, aufzustehen, um eine wichtige und freudige Sache zu thun, die auf ihn wartet.

An diesem Tage, der der letzte Tag seines Aufenthalts in Petersburg war, fuhr er früh nach Wassiljewskij Ostrow zu der Schustowa.

Die Wohnung der Schustowa lag im ersten Stock. Nechljudow geriet auf die Hinweisung des Hausbesorgers auf den hinteren Gang, und über eine gerade steile Treppe kam er direkt in eine heiße und schwer nach Speise riechende Küche. Eine Frau, schon bei Jahren, mit aufgestreiften Aermeln, in einer Schürze und mit einer Brille, stand am Kochherd und rührte in einer dampfenden Kasserolle etwas um.

»Zu wem wollen Sie?« fragte sie streng, indem sie den Hereintretenden über die Brille weg anblickte.

Nechljudow hatte nicht Zeit, sich zu nennen, als das Gesicht der Frau einen erschrockenen und freudigen Ausdruck annahm.

»Ach, Fürst!« schrie die Frau auf, indem sie die Hände an der Schürze abwischte.

»Aber warum kommen Sie über die hintere Treppe? Unser Wohlthäter! Ich bin ihre Mutter. Man hat das Mädchen ja beinahe ganz und gar zu Grunde gerichtet. Unser Vetter,« sprach sie, indem sie Nechljudow an der Hand faßte und sie zu küssen suchte.

»Ich bin gestern bei Ihnen gewesen. Meine Schwester hat mich darum besonders gebeten. Sie ist hier. Hierher, hierher, bitte, mir nach,« sprach die Mutter der Schustowa, indem sie den Nechljudow durch die enge Thür, den dunklen kleinen Korrdor, begleitete und unterwegs bald den aufgeschürzten Rock, bald die Haare ordnete. »Meine Schwester ist die Kornilowa — wahrscheinlich haben Sie gehört?« fügte sie flüsternd hinzu, indem sie vor der Thür stehen blieb. »Sie war in politische Sachen verwickelt. Eine der allerklügsten Frauen.«

Die Schustowa Mutter öffnete die Thür aus dem Korridor und führte Nechljudow in ein kleines Zimmerchen; dort saß vor einem Tisch auf einem kleinen Diwan ein nicht hoch gewachsenes volles Mädchen in einer gestreiften Kattunblouse, mit sich träufelnden blonden Haaren, die ihr rundes und sehr blasses, dem der Mutter ähnliches Gesicht umrahmten. Ihr gegenüber in einem Lehnstuhl saß wie zusammengeklappt ein junger Mann mit schwarzem Bärtchen und Schnurrbärtchen in einem russischen Hemd mit gesticktem Kragen. Beide waren augenscheinlich so eingenommen vom Gespräch, daß sie sich erst dann umblickten, als Nechljudow schon durch die Thür hereingetreten war.

»Lida, Fürst Nechljudow, derselbe…«

Dae blasse Mädchen sprang nervös auf, indem sie eine sich hinter dem Ohr vordrängende Haarsträhne ordnete, und ließ erschrocken ihre großen grauen Augen auf dem Hereintretenden haften.

»Also Sie sind jene gefährliche Frau, für welche Wjera Iefremowna gebeten,« sagte Nechljudow lächelnd und ihr die Hand reichend.

»Ja, ich bin es selber,« sagte Lidia und lächelte mit dem ganzen Munde ein gutes kindliches Lächeln, das eine Reihe schöner Zähne aufdeckte. »Die Tante ist es, die Sie so sehr zu sehen wünschte. Tante!« wandte sie sich an sie durch die Thür mit angenehmer zarter Stimme.

»Wjera Iefremowna war sehr betrübt über Ihre Verhaftung,« sagte Nechljudow.

»Hierher, aber lieber hierher setzen Sie sich,« sprach Lidia, indem sie auf den weichen invaliden Lehnstuhl zeigte, von dem der junge Mann eben aufgestanden.

»Mein Vetter, Sacharow,« sagte sie, den Blick bemerkend, mit dem Nechljudow den jungen Mann ansah.

Der junge Mann begrüßte den Gast ebenso gutmütig lächelnd, wie Lidia selber, und als Nechljudow sich auf seinen Platz setzte, nahm er sich einen Stuhl, der beim Fenster stand und setzte sich neben ihn. Aus der anderen Thür kam noch ein blonder Gymnasiast, etwa sechzehn Jahre alt, und ließ sich schweigend auf dem Fensterbrett nieder.

»Wjera Iefremowna ist eine nahe Freundin der Tante, ich aber kenne sie fast nicht,« sagte Lidia.

Zu der Zeit trat aus dem anstoßenden Zimmer eine Frau mit sehr angenehmem klugem Gesicht, in einer weißen Blouse mit einem ledernen Gürtel darüber.

»Guten Tag, nun, besten Dank, daß Sie gekommen sind,« fing sie an, sobald sie sich auf den Diwan neben Lidia gesetzt hatte.

»Nun, wie geht es mit Wjerotschka? Haben Sie sie gesehen? Wie erträgt sie denn ihre Lage?«

»Sie beklagt sich nicht,« sagte Nechljudow, »sie sagt, ihr Bewußtsein sei olympisch.«

»Ach, Wjerotschka, daran erkenne ich sie,« sagte die Tante lächelnd und den Kopf schüttelnd. »Man muß sie kennen. Das ist eine prächtige Persönlichkeit. Alles für die anderen, nichts für sich.«

»Ja, sie wollte nichts für sich, und war nur für Ihre Nichte besorgt. Es quälte sie hauptsächlich, daß sie, wie sie sagte, um nichts verhaftet worden sei.«

»Das ist wahr,« sagte die Tante, »das ist eine schreckliche Sache! Gelitten hat sie eigentlich meinetwegen.«

»Aber ganz und gar nicht, Tante,« sagte Lidia. »Ich würde auch ohne Sie die Papiere genommen haben.«

»Nun, erlaube mir, das besser zu wissen,« fuhr die Tante fort, »sehen Sie,« wandte sie sich an den Nechljudow, »alles ist daher gekommen, daß jemand mich bat, seine Papiere eine Zeit lang aufzubewahren, und ich, da ich keine Wohnung hatte, brachte sie ihr. Bei ihr aber veranstaltete man in derselben Nacht eine Haussuchung und nahm sowohl die Papiete, wie sie in Gewahrsam; und nun hat man sie bis jetzt festgehalten und verlangt, daß sie sage, von wem sie die Papiete habe.«

»Und ich habe es doch nicht gesagt,« sagte rasch Lidia, nervös ihre Haarsträhne zupfend, obgleich sie sie nicht störte.

»Aber ich sage ja nicht, daß Du es gesagt hast,« erwiderte die Tante.

»Wenn sie den Mitin verhafteten, so ist es durchaus nicht durch mich gekommen,« sagte Lidia, indem sie rot wurde und sich unruhig umsah.

»Aber sprich doch nicht davon, Lidotschka,« sagte die Mutter.

»Warum denn nicht, ich will es erzählen,« sagte Lidia, schon nicht mehr lächelnd, sondern rot geworden und ihre Strähne nicht mehr ordnend, sondern um den Finger drehend und sich fortwährend umblickend.

»Was geschah gestern, als du darüber zu sprechen anfingst?«

»Mit nichten …Lassen Sie, Mamachen. Ich habe es nicht gesagt, ich habe nur geschwiegen. Als er mich zwei Mal über die Tante und über Mitin verhörte, habe ich nichts gesagt und ihm erklärt, daß ich ihm nichts antworten werde. Dann hat dieser …Petrow…«

»Petrow, ein Spitzel, ein Gendarme und ein großer Schuft,« fügte die Tante ein, die Worte der Nichte dem Nechljudow erläuternd.

»Dann fing er an,« fuhr Lidia eilig und aufgeregt fort, »mich zu überreden. Alles, sagte er, was Sie mit sagen, kann niemandem schaden, sondern im Gegenteil. Wenn Sie es sagen, so befreien Sie die Unschuldigen, die wir vielleicht umsonst quälen. Nun, aber ich habe ihm dennoch gesagt, daß ich nichts sage. Dann sagt er: ‘Nun gut, sagen Sie nichts, nur verneinen Sie nicht, was ich sage.’ Und er begann, die Namen zu sagen und nannte den Mitin.«

»Aber sprich doch nicht,« sagte die Tante.

»Ach, Tante, stören Sie mich nicht…« und sie zog ohne Aufhören an der Haarsträhne und blickte sich immer um. »Und plötzlich, stellen Sie sich vor, erfahre ich am anderen Tage — man teilt mit durch Klopfen mit —, daß Mitin festgenommen ist. Nun denke ich, ich habe ihn verraten. Und dies begann mich so zu quälen, so zu quälen, daß ich beinahe verrückt geworden bin.«

»Und es erwies sich, daß er durchaus nicht durch deine Schuld verhaftet worden,« sagte die Tante.

»Aber ich wußte es ja nicht. Ich denke, ich habe ihn verraten. Ich gehe und gehe von einer Wand zur anderen, ich kann nicht umhin, zu denken. Ich denke: ich habe ihn verraten. Ich lege mich hin, decke mich zu und höre, es flüstert jemand mir ins Ohr: du hast verraten, du hast Mitin verraten, Mitin hast du verraten. Ich weiß, daß es eine Halluzination ist, und kann nicht umhin, zu horchen. Ich will einschlafen, kann nicht, will nicht denken, kann auch das nicht. Das war wirklich schrecklich!« sprach Lidia, sich immer mehr und mehr aufregend, indem sie die Haarsträhne um den Finger wickelte und wieder entrollte und sich immer umsah.

»Lidotschka, beruhige dich,« wiederholte die Mutter, sie an der Schulter berührend.

Aber Lidotschka konnte sich schon nicht mehr halten.

»Das ist deswegen schrecklich,« fing sie noch etwas an, aber sie schluchzte, ohne zu Ende gesprochen zu haben, sprang vom Diwan auf, und sich an den Lehnstuhl faßend, lief sie aus dem Zimmer hinaus. Die Mutter ging ihr nach.

»Aufhängen, all die Schurken!« stieß der Gymnasiast hervor, der auf dem Fenster saß.

»Was hast du?« fragte die Mutter.

»Ich habe nichts …nur so …«, antwortete der Gymnasiast, griff nach einer auf dem Tische liegenden Papyros und begann, sie anzurauchen.

26

»Ja, für die Jungen ist diese Einzelhaft entsetzlich,« sagte die Tante, mit dem Kopf schüttelnd und ebenso eine Papyros anrauchend.

»Ich glaube für alle,« sagte Nechljudow.

»Nein, nicht für alle,« antwortete die Tante. »Für wirkliche Revolutionäre — erzählte man mir — ist es ein Ausruhen, eine Beruhigung. Ein Illegaler lebt ewig in Aufregung, in materiellen Entbehrungen, und in Angst, sowohl für sich, wie für die Anderen und für die Sache; und endlich nimmt man ihn fest, und alles ist zu Ende, und die ganze Verantwortlichkeit ist weggenommen: ‘sitze und ruhe aus’. Man sagte mir, gradezu eine Freude empfinde man, wenn man festgenommen wird, Nun, aber für die Jungen, für die Unschuldigen — immer nimmt man zuerst die Unschuldigen, wie Lidotschka — für diese ist der erste Choc grauenhaft. Nicht, daß man sie der Freiheit beraubt, sie roh behandelt, schlecht ernährt, schlechte Luft…— überhaupt alle Entbehrungen — alles das macht nichts. Wenn dreimal mehr Entbehrungen da wären, würde man all daß leicht ertragen; wenn nur nicht dieser moralische Choc wäre, den man erhält, wenn man zum ersten Male hineinfällt.«

»Haben Sie es erfahren?«

»Ich? Ich habe zweimal gesessen,« sagte die Tante und lächelte ein schwermütiges angenehmes Lächeln. »Als man mich zum ersten Male festgenommen, — und um nichts festgenommen —«, fuhr sie fort, »war ich zweiundzwanzig Jahre alt; ich hatte ein Kind und war schwanger. Wie schwer mir damals die Freiheitsentziehung, die Trennung von dem Kinde, von dem Mann auch fallen mochte, alles das war nichts im Vergleich zu dem, was ich empfand, als ich verstanden hatte, daß ich aufgehört, ein Mensch zu sein, und daß ich eine Sache geworden. Ich will meinem Töchterchen Adieu sagen, — man sagt mir, daß ich gehen und mich in die Mietsdroschke setzen solle. Ich frage, wohin man mich führt, man antwortet mir, daß ich es erfahren werde, wenn ich dort bin. Ich frage, wessen bin ich angeklagt? Man antwortet mir nicht. Als man mich nach dem Verhör entkleidet und mir das Gefängniskleid mit der Nummer angezogen, mich unter die Gewölbe geführt, die Thür aufgeschlossen, mich hineingestoßen, mit einem Schloß geschlossen hatte und weggegangen war, und nur die Wache mit dem Gewehr dablieb, die schweigend hin und der ging und hie und da in die Spalte meiner Thür hereinblickte, wurde mir schrecklich schwer zu Mute. Mich hat, ich erinnere mich, am meisten der Umstand erschüttert, daß der Gendarmeoffizier, als er mich verhörte, mir zu rauchen anbot. Er weiß also, wie gern die Leute rauchen, er weiß also auch, wie die Leute Freiheit und Licht lieben; er weiß, wie die Mütter ihre Kinder, und die Kinder ihre Mütter lieben — nun warum haben sie denn mich so unbarmherzig von allem, was mir teuer ist, losgerissen und mich gleich einem wilden Tier eingesperrt? Das kann man nicht ungestraft ertragen. Wenn jemand an Gott und an die Menschen geglaubt hat, daran, daß die Menschen einander lieben, so hört er nach diesem auf, an all das zu glauben. Ich habe seit der Zeit aufgehört, an die Menschen zu glauben, und wurde erbittert,« schloß sie und lächelte.

Aus der Thür, durch welche Lidia gegangen, kam ihre Mutter und erklärte, daß Lidatschka sich schlecht fühle und nicht herauskommen werde.

»Und weswegen hat man das junge Leben verdorben? Besonders thut es mir weh,« sagte die Tante, »weil ich unwillentlich die Ursache dazu war.«

»So Gott will, wird sie sich in der Dorfluft erholen,« sagte die Mutter. »Wir schicken sie zum Vater.«

»Ja, wenn nicht Sie gewesen wären, würde sie ganz und gar zu Grunde gegangen sein,« sagte die Tante. »Besten Dank Ihnen. Sie sehen aber wollte ich, um Sie zu bitten, der Wjera Iefremowna einen Brief zu übergeben,« sagte sie, einen Brief aus der Tasche ziehend.

»Der Brief ist nicht geschlossen. Sie können ihn lesen und zerreißen oder übergeben, was Sie als mehr Ihren Ueberzeugungen entsprechend finden,« sagte sie. »In dem Brief ist nichts Kompromittierendes.«

Nechljudow nahm den Brief, und nachdem er versprochen, ihn zu übergeben, stand er auf, verabschiedete sich und ging auf die Straße hinaus.

Den Brief klebte er zu, ohne ihn zu lesen und beschloß, ihn seiner Bestimmung nach zu übergeben.

27

Die letzte Angelegenheit, die den Nechljudow in Petersburg aufhielt, war die Sache der Sektierer, deren Bittschrift an den Zaren er gesonnen war, durch seinen ehemaligen Kameraden beim Regiment, den Flügeladjutanten Bogatyrew einreichen zu lassen. Am Morgen fuhr er zum Bogatyrew und traf ihn noch zu Hause, beim Frühstück, obgleich schon zur Abfahrt bereit. Bogatyrew war ein nicht hochgewachsener, stämmiger, mit seltener physischer Kraft begabter Mann — er konnte Hufeisen biegen —, dabei gut, ehrlich, gradsinnig und sogar liberal. Trotz dieser Eigenschaften war er ein dem Hofe nahestehender Mensch, liebte den Zaren und seine Familie und verstand auf irgend welche merkwürdige Weise, in diesem höchsten Kreise lebend, in demselben nur das Gute zu sehen und an nichts Schlechtem und Unehrlichem teil zu nehmen. Er verurteilte nie, weder Menschen noch Maßregeln, sondern schwieg entweder, oder sprach mit kühner lauter Stimme, schrie gleichsam, was er zu sagen brauchte, indem er dabei oft ebenso laut lachte. Und er that das nicht aus Politik, sondern weil sein Charakter so war.

»Nun, das ist wunderschön, daß du angefahren kommst. Willst du nicht etwas frühstücken? Dann aber setze dich. Das Beefsteak ist wunderbar! Ich fange immer mit dem Wesentlichen an und schließe ebenso. Ha, ha, ha. Nun, sonst trink Wein,« schrie er, auf die Karaffe mit rotem Wein zeigend. »Aber ich habe an dich gedacht. Die Bittschrift überreiche ich. In die eigenen Hände werde ich sie übergeben, das ist sicher, aber es kam mit nur in den Kopf, ob es nicht besser wäre, wenn du zuerst zum Toporow führest?«

Nechljudow machte eine saure Miene bei der Erwähnung Toporows.

»Alles hängt von ihm ab. Man wird ja so wie so ihn fragen. Und er selber wird dich vielleicht zufrieden stellen.«

»Wenn du mir rätst, so will ich fahren?«

»Und schön so. Nun wie ist’s mit Piter?32 Wie wirkt es auf dich?« schrie Bogatyrew. »Sage, ah?«

»Ich fühle, daß ich der Hypnose verfalle,« sagte Nechljudow.

»Einer Hypnose verfällst du?« wiederholte Bagatyrew und lachte laut auf. »Willst du nicht, — nun wie du willst!« Er wischte mit der Serviette den Schnurrbart, »Also fährst du? Ah? Wenn er’s nicht thut, so gieb sie mir, schon morgen werde ich sie abgeben,« schrie er, stand vom Tische auf und bekreuzte sich mit einem breiten Kreuz, augenscheinlich ebenso unbewußt, wie er seinen Mund abgewischt, und begann, den Säbel umzuschnallen.

»Jetzt aber lebe wohl, ich muß fahren.«

»Gehen wie zusammen hinaus,« sagte Nechljudow, indem er mit Vergnügen die starke, breite Hand Bogatyrews drückte. Und wie immer unter dem angenehmen Eindruck von etwas Gesundem, Unbewußtem, Frischem trennte er sich von ihm auf dem Flur seines Hauses.

Obgleich er nichts Gutes von seinem Besuch erwartete, fuhr er dennoch auf den Rat des Bogatyrew zum Toporow, derjenigen Person, von der die Sache der Sektierer abhing.

Das Amt, welches Toporow bekleidete, schloß seiner Bestimmung nach einen inneren Widerspruch in sich, den nur ein stumpfsinniger und des moralischen Gefühls entbehrender Mensch nicht sehen konnte. Toporow besaß diese beiden negativen Eigenschaften. Der Widerspruch, der in dem von ihm bekleideten Amt lag, bestand darin, daß die Bestimmung seines Amtes die Unterstützung und Verteidigung mit äußeren Mitteln, — Gewalt nicht ausgeschlossen, — eben derjenigen Kirche war, die nach ihrer eigenen Definition von Gott selber gegründet worden, und die weder durch die Pforten der Hölle, noch durch irgend welche menschliche Bemühungen erschüttert werden konnte. Diese göttliche und durch nichts zu erschütternde Institution von Gott selbst sollte von derjenigen menschlichen Institution unterstützt und verteidigt werden, an deren Spitze Toporow mit seinen Beamten stand. Toporow sah diesen Widerspruch nicht, oder wollte ihn nicht sehen, und daher war er sehr ernsthaft dafür besorgt, daß nicht irgend ein Ksönds,33 Pastor oder Sektierer die Kirche zerstöre, welche die Pforten der Hölle nicht überwinden können. Toporow, wie alle Leute, die des fundamentalen religiösen Gefühls, des Bewußtseins der Gleichheit und Brüderlichkeit der Menschen, entbehren, war vollkommen überzeugt, daß das Volk aus vollständig anderen Geschöpfen bestehe, als er selber, und daß für das Volk das unumgänglich notwendig sei, war er sehr gut entbehren könne. Er selber glaubte in der Tiefe seiner Seele an nichts und fand diesen Zustand sehr bequem und angenehm; aber er fürchtete, daß das Volk in einen eben solchen Zustand gerate, und er hielt es, wie er sagte, für seine heilige Pflicht, das Volk davor zu retten.

Ebenso wie in einem Kochbuch gesagt wird, daß ‘die Krebse gern lebendig gekocht werden,’ war er vollkommen überzeugt, — und nicht figürlich, wie der Ausdruck in dem Kochbuch verstanden war, — sondern er glaubte und sagte wörtlich, daß daß Volk gern abergläubisch sei.

Er verhielt sich gegen die von ihm unterstützte Religion so, wie der Hühnerzüchter sich gegen das Aas verhält, womit er seine Hühner füttert; Aas ist sehr unangenehm, aber die Hühner haben es gern und essen es, und daher muß man sie mit Aas füttern. Versteht sich, alle diese Iwerskaja’s, Kafanskajas und Smolenskaja’s34 sind eine sehr grobe Abgötterei, aber das Volk hat sie gern und glaube daran, und darum muß man diesen Aberglauben unterhalten.

So dachte Toporow, ohne eingesehen zu haben, daß, wenn es ihm schien, daß das Volk den Aberglauben gern habe, es nur geschah, weil sich immer so grausame Menschen gefunden haben und nach jetzt finden, wie er, Toporow, die, nachdem sie selber aufgeklärt worden, ihr Licht nicht dazu brauchen, wozu sie es brauchen sollten, nämlich zur Hilfe des sich aus der Finsternis der Unwissenheit mühsam herausarbeitenden Volks, sondern im Gegenteil, um es darin festzuhalten.

Als Nechljudow in sein Empfangszimmer trat, unterhielt sich Toporow im Kabinet mit einer Nonne, einer Aebtissin, einer gewandten Aristokratin, die in Westrußland die Rechtgläubigkeit verbreitete und unterstützte, unter den gewaltsam zur Rechtgläubigkeit belehrten Unierten.

Ein Beamter für besondere Aufträge, der sich in dem Empfangszimmer befand, befragte Nechljudow über seine Sache, und als er erfahren, daß Nechljudow es auf sich genommen, eine Bittschrift der Sektierer an den Kaiser zu übergeben, fragte er ihn, ob er nicht die Bittschrift zur Durchsicht abgeben könne. Nechljudow gab sie ihm, und der Beamte ging mit der Bittschrift ins Kabinet. Die Nonne in der Haube, mit dem flatternden Schleier und mit der sich hinter ihr herziehenden schwarzen Schleppe, kam aus dem Kabinet; in ihren weißen zusammengelegten Händen mit den wohlgepflegten Nägeln hielt sie einen Rosenkranz aus Topasen und ging zum Ausgang. Nechljudow wurde noch immer nicht aufgefordert, einzutreten. Toporow sah die Bittschrift durch und schüttelte den Kopf. Er war unangenehm überrascht, als er die klar und kräftig abgefaßte Bittschrift las.

‘Wenn sie etwa in die Hände des Kaisers kommt, kann sie unangenehme Fragen und Mißverständnisse hervorrufen,’ dachte er, als er die Bittschrift zu Ende gelesen hatte. Er legte sie auf den Tisch, klingelte und hieß, den Nechljudow bitten.

Er erinnerte sich der Sache dieser Sektierer, er hatte ihre Bittschlift schon gehabt. Es handelte sich darum, daß man die von der Orthodoxie abgefallenen Christen zuerst ermahnt, dann aber sie dem Gericht übergeben hatte, worauf das Gericht sie freisprach. Dann beschlossen der Bischof und der Gouverneur auf Grund der Illegalität ihrer Ehe die Männer, Frauen und Kinder an verschiedene Verbannungsorte getrennt zu verschicken. Und diese Väter und Frauen baten jetzt, daß man sie nicht trenne. Toporow erinnerte sich, wie diese Sache zum ersten Male an ihn gelangte. Schon damals schwankte er, — ob sie nicht einzustellen wäre? Aber kein Schaden konnte entstehen durch die Bestätigung der Anordnung, daß man die Glieder dieser Bauernfamilien an verschiedene Orte verschickte; die Belassung aber derselben an den alten Orten konnte schlimme Folgen für die übrige Bevölkerung haben, im Sinne des Abfalls derselben von der Orthodoxie; außerdem zeugte die Maßregel von dem Eifer des Bischofs; und darum brachte er die Sache in Gang, in der Richtung, welche ihr gegeben worden.

Jetzt aber, mit solchem Verteidiger wie Nechljudow, der Verbindungen in Petersburg hatte, konnte die Sache dem Kaiser privatim vorgelegt werden, als etwas Grausames, oder in die ausländischen Zeitungen kommen, und darum faßte er auf der Stelle einen unerwarteten Entschluß.

»Guten Tag,« sagte er mit der Miene eines sehr beschäftigten Menschen, indem er den Nechljudow im Stehen empfing und sogleich zur Sache überging.

»Ich kenne diese Sache. Sobald ich nur die Namen angesehen, habe ich mich an diese unglückliche Sache erinnert,« sagte er, während er die Bittschrift in die Hände nahm und sie dem Nechljudow zeigte. »Und ich bin Ihnen sehr dankbar daß Sie mich an sie erinnerten. Die Gouvernementsautoritäten haben da zu viel Eifer gezeigt.«

Nechljudow schwieg, indem er mit widerwilligem Gefühl auf die unbewegliche Maske des blassen Gesichts blickte.

»Und ich werde anordnen, daß diese Maßregeln zurückgenommen, und daß diese Leute wieder an ihren Aufenthaltsort befördert werden.«

»Also ich brauche diese Bittschrift nicht weiter zu leiten?« sagte Nechljudow.

»Gewiß nicht. Ich verspreche es Ihnen,« sagte er mit besonderer Betonung auf dem Wort ‘ich’, augenscheinlich vollkommen überzeugt, daß seine Ehrlichkeit, sein Wort die beste Bürgschaft sei. »Das Beste aber ist, ich schreibe sogleich. Seien Sie so gut, nehmen Sie Platz.«

Er trat an den Tisch und fing an zu schreiben. Nechljudow, ohne sich zu setzen, sah von oben auf diesen schmalen kahlen Schädel, auf diese rasch die Feder führende Hand mit den dicken blauen Adern, und er wunderte sich: ‘warum thut er das, was er thut, und thut es so besorgt — dieser augenscheinlich gegen alles gleichgütige Mann? Warum?’

»Also hier ist’s,« sagte Toporow, das Couvert schließend. »Sie können es Ihren ‘Klienten’ kund geben,« fügte er hinzu, die Lippen wie zu einem Lächeln verziehend.

»Weswegen haben denn diese Leute gelitten?« sagte Nechljudow, das Couvert entgegennehmend.

Toporow erhob den Kopf und lächelte, als ob Nechljudows Frage ihm Vergnügen machte.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kann nur sagen, daß die von uns beschützten Interessen des Volks so wichtig sind, daß zu großer Eifer in den Fragen der Religion nicht so sehr zu befürchten und schädlich ist, wie die jetzt sich verbreitende zu große Gleichgültigkeit gegen sie.«

»Aber auf welche Weise werden denn im Namen der Religion die allerersten Forderungen des Guten verletzt; die Familien getrennt…?«

Toporow lächelte noch immer ebenso nachsichtig, da er augenscheinlich das, was Nechljudow sprach, gar niedlich fand. Was Nechljudow auch sagen mochte, Toporow würde alles niedlich und einseitig finden von der Höhe jenes, wie er glaubte, breiten staatsumfassenden Standpunkts, auf welchem er sich befand.

»Vom Standpunkte eines Privatmenschen kann es so erscheinen,« sagte er, »vom Standpunkte des Staatsmannes stellt es sich etwas anders dar. Uebrigens, ich habe die Ehre,« sagte Toporow, den Kopf neigend und die Hand reichend.

Nechljudow drückte sie und ging schweigend und eilig hinaus, indem er bereute, daß er diese Hand gedrückt.

»Interessen des Volkes,« wiederholte er Toporows Worte. ‘Deine Interessen, nur deine’, dachte er, als er von Toporow fortging.

Und als Nechljudow in Gedanken all die Personen verfolgte, an welchen die Thätigkeit der Institutionen zu Tage trat, welche die Gerechtigkeit wiederherstellen, die Religion unterstützen und das Volk erziehen: das Weib, das wegen Branntweinhandels ohne Patent bestraft worden, der Junge, der wegen Diebstahls, der Vagabund, der wegen Landstreicherei, der Brandstifter, der wegen Brandlegung, der Banquier, der wegen Unterschlagung bestraft worden, und dazu noch diese unglückliche Lidia, die man nur strafte, damit man von ihr die nötigen Erkundigungen einziehen konnte, und die Sektierer, die man für den Abfall von der Orthodoxie und der Gurkewitsch, den man wegen seined Verlangens nach eines Konstitution strafte, — als er all dieser Menschen gedachte, kam dem Nechljudow mit ungewöhnlicher Klarheit der Gedanke, daß man sie alle ergriffen, eingeschlossen und verschickt habe — durchaus nicht etwa, weil sie sich gegen die Gerechtigkeit vergangen, die Gesetze verletzt hatten, sondern nur, weil sie die Beamten und die Reichen störten, den Reichtum zu genießen, den sie dem Volke abgenommen.

Diese störte sowohl das Weib, daß ohne Patent handelte, wie der Dieb, der sich in der Stadt herumtrieb, wie Lidia mit ihren Proklamationen, wie die Sektierer, die den Aberglauhen zerstörten, und Gurkewitsch mit seiner Konstitution. Und daher schien es dem Nechljudow vollkommen klar, daß alle diese Beamten, von dem Mann seiner Tante, den Senatoren und dem Toporow angefangen, die zu allen jenen kleinen, sauberen, korrekten Herren, die hinter den Tischen in den Ministerien saßen, mit nichten darüber betroffen waren, daß bei solcher Ordnung Unschuldige leiden, sondern nur besorgt waren, irgendwie alle Gefährlichen zu beseitigen, so daß nicht nur das Gebot, zehn Schuldigen zu verzeihen, damit kein Unschuldiger verurteilt werde, nicht beobachtet wurde, sondern daß im Gegenteil, ebenso wie man auch daß Frische mitnimmt, um das Verfaulte wegzuschneiden, durch die Strafe zehn Ungefährliche beseitigt wurden, um einen wirklich Gefährlichen zu beseitigen.

Eine solche Erklärung alles dessen, was geschah, schien dem Nechljudow sehr einfach und klar, aber gerade diese Einfachheit und Klarheit ließen Nechljudow in der Anerkennung derselben schwankend werden. Es kann ja doch nicht sein, daß solch eine komplizierte Erscheinung eine so einfache und schreckliche Erklärung hat; kann nicht sein, daß all jene Worte von der Gerechtigkeit, dem Guten, Gesetz, Glauben, Gott und dergleichen, bloße Worte sind, die den gröbsten Eigennutz, die roheste Grausamkeit verdecken.

28

Nechljudow würde an demselben Tage abends abgereist sein, aber er hatte der Mariette versprochen, zu ihr ins Theater zu kommen, und obgleich er wußte, daß er es nicht thun sollte, fuhr er dennoch dorthin, gegen sein Gewissen handelnd, da er sich durch das gegebene Wort für gebunden hielt.

‘Ob ich diesen Verleitungen widerstehen kann?’ dachte er nicht ganz aufrichtig. ‘Dies will ich zum letzten Mal sehen.’

Er kleidete sich in einen Frack und kam zum zweiten Akt der ewigen ’Dame aux camélias’, in welcher eine gastierende Schauspielerin auf noch eine neue Art zeigte, wie schwindsüchtige Frauen sterben.

Das Theater war voll, und man wies dem Nechljudow sogleich Mariette’s Baignorie, voll Achtung für die Person, die danach fragte.

Im Korridor stand ein Lakai in Livrée, verbeugte sich vor ihm, wie vor einem Bekannten, und öffnete ihm die Thür.

Alle Reihen der gegenüberliegenden Logen mit den sitzenden und hinter ihnen stehenden Figuren, die nahen Rücken und grauen, halbgrauen, kahlen und glatzigen, pomadisierten, gekräuselten Köpfe der im Patterre Sitzenden, — alle Zuschauer waren in die Betrachtung einer mit Seide und Spitzen geschmückten, mageren, knochigen Schauspielerin versunken, die sich übertrieben gebärdete und mit unnatürlicher Stimme einen Monolog sprach. Jemand zischte, als die Thür sich öffnete; zwei Luftströme, ein warmer und ein kalter streiften über das Gesicht Nechljudows.

In der Loge befanden sich Mariette, eine unbekannte Dame im roten Ueberwurf und mit einer großen, massigen Frisur, und zwei Männer: der General, Mariettes Mann, ein schöner, hochgewachsener Mensch mit gebogener Nase und strengem, undurchdringlichem Gesicht und mit hoher, gefälschter Militärbrust aus Watte und Steifleinwand, und ein blonder, kahler Mann, mit einem ausrasierten Grübchenkinn zwischen zwei feirtlichen Koteletten. Mariette, graziös, schlank, elegant, dekolletiert, mit ihren starken, muskulösen, abfallenden Schultern, auf deren Uebergang zum Halse ein kleines, schwarzes Muttermal dunkelte, — blickte sich sogleich um, und dem Nechljudow den Stuhl hinter sich mit dem Fächer zeigend, lächelte sie ihm bewillkommnend, dankbar und, wie es ihm schien, bedeutungsvoll zu. Ihr Mann blickte ruhig, wie er alles zu thun pflegte, auf den Nechljudow und neigte den Kopf. Man erkannte sogleich in ihm, an dem Blick, den er mit seiner Frau wechselte, einen Herrscher, den Besitzer einer schönen Frau.

Alb der Monalog zu Ende war, erdröhnte das Theater von Applaus. Mariette stand auf, ging, den rauschenden seidenen Rock zusammenraffend, in den hinteren Teil der Loge und machte ihren Mann mit Nechljudow bekannt. Der General lächelte mit den Augen unaufhörlich, und nachdem er gesagt, daß er sich sehr freue, schwieg er ruhig und undurchdringlich.

»Ich sollte heute abreisen, aber ich habe es Ihnen versprochen,« sagte Nechljudow, sich an Mariette wendend.

»Wenn Sie mich nicht sehen wollen, so werden Sie eine wunderbare Schauspielerin sehen,« sagte Mariette, indem sie auf den Sinn seiner Worte antwortete. »Nicht wahr, wie schön war sie in der letzten Scene?« wandte sie sich an ihren Mann.

Der Mann neigte den Kopf.

»Das rührt mich nicht,« sagte Nechljudow. »Ich habe heute so viel wirkliches Unglück gesehen, daß…«

»Aber nehmen Sie Platz, erzählen Sie.«

Den Mann hörte zu und lächelte ironisch, immer mehr und mehr, mit den Augen.

»Ich bin bei jener Frau gewesen, die man freigelassen, und die man so lange festgehalten hatte, — ein ganz geknicktes Wesen.«

»Das ist jene Frau, von der ich dir gesprochen,« sagte Mariette dem Mann.

»Ja, ich war sehr froh, daß man sie befreien konnte,« erwiderte er ruhig, mit dem Kopf nickend und schon ganz ironisch, wie es dem Nechljudow schien, unter dem Schnurrbart lächelnd. »Ich will rauchen gehen.«

Nechljudow saß voller Erwartung, daß Mariette ihm jenes etwas sage, das sie ihm zu sagen hatte, aber sie sagte ihm nichts und versuchte nicht einmal, etwas zu sagen, sondern sie scherzte und sprach vom Stück, das, meinte sie, den Nechljudow besonders ergreifen sollte.

Nechljudow sah, daß sie ihm nichts zu sagen hatte, sie wollte sich ihm nur zeigen in dem vollen Reiz ihres Abendtoilette, mit ihren Schultern und dem Muttermal, und es war ihm angenehm und widerlich zugleich.

Jener Schleier des Reizes, der früher über all dem gelegen, war jetzt für Nechljudow nicht etwa abgenommen, sondern er sah, war unter dem Schleier war. Während er Mariette ansah, weidete er sich an ihr, aber er wußte, daß sie eine Lügnerin sei, die mit einem Mann lebt, der seine Carrière um den Preis der Thränen und der Lebens von hunderten und aberhunderten von Menschen machte, und daß dies für sie ganz gleich sei, und daß alles, war sie gestern gesprochen, nicht wahr gewesen, und daß sie Lust hatte, — er wußte nicht wozu, und sie selber wußte es nicht, — ihn in sich verliebt zu machen. Und es war für ihn anziehend und widrig. Er war einige Male im Begriff, wegzugehen, nahm den Hut und blieb wieder. Endlich aber, als der Mann mit dem Tabaksgeruch in seinem dichten Schnurrbart in die Loge zurückkehrte und den Nechljudow gönnerhaft-verächtlich anblickte, als ob er ihn nicht erkenne, ging Nechljudow, ohne die Thr sich hinter dem General schließen zu lassen, in den Korridor hinaus, fand seinen Paletot und verließ das Theater.

Ale er über den Newskij nach Hause zurückkehrte, bemerkte er unwillkürlich vor sich eine hochgewachsene, sehr schön gebaute und herausfordernd geputzte Frau, die auf dem Asphalt des breiten Trottoirs ruhig ging; man sah auf ihrem Gesicht und in ihrer ganzen Figur das Bewußtsein ihrer abscheulichen Macht. Alle dieser Frau Begegnenden und sie Ueberholenden besahen sie. Nechljudow ging schneller als sie, und auch er blickte unwillkürlich in ihr Gesicht. Das Gesicht, wahrscheinlich bemalt, war schön, und die Frau lächelte dem Nechljudow zu, indem sie ihn mit ihren Augen anglänzte. Und wunderbare Sache! Nechljudow erinnerte sich sogleich an die Mariette, weil er dasselbe Gefühl der Anziehung und Abstoßung empfand, welches er im Theater erfahren.

Als er sie eilig überholt, bog Nechljudow in die Morskaja ein, und als er auf dem Quai war, fing er an, zur Verwunderung des Polizisten, dort hin und her zu gehen.

’Ebenso lächelte mir auch jene im Theater zu, als ich hereintrat,’ dachte er, ‘und derselbe Sinn war in jenem und in diesem Lächeln. Der Unterschied liegt nur darin, daß diese einfach und grade spricht: ‘brauchst du mich, so nimm mich. Brauchst du mich nicht, so geh vorbei’. Jene aber verstellt sich, daß sie nicht daran denke, sondern in irgend welchen höchsten, verfeinerten Gefühlen lebt, im Grunde ist es aber dasselbe. Diese ist wenigstens wahrhaft, jene aber lügt. Noch mehr, diese ist durch die Not in ihre Lage geführt worden, jene aber spielt, ergötzt sich an dieser schönen, widerwärtigen, fürchterlichen Leidenschaft. Diese, die Frau von der Straße, ist stinkendes, schmutziges Wasser, das demjeniaen angeboten wird, der dem der Durst stärker ist, als der Ekel; jene im Theater ist Gift, welches unmerkbar alles vergiftet, wohin es gerät.’ Nechljudow erinnerte sich an sein Verhältnis mit der Frau des Adelsmarschalls, aus schändliche Erinnerungen drangen auf ihn ein. — ’Widrig ist die Animalität des Tiers im Menschen,’ dachte er, ‘aber wenn sie ungemischt ist, so siehst du sie von der Höhe deines geistigen Lebens aus und verachtest sie; bist du gefallen, oder konntest du widerstehen, du bleibst derselbe, der du gewesen; aber wenn dasselbe Tier sich unter einer vermeintlich ästhetischen, poetischen Hülle verbirgt, und für sich Verehrung verlangt, dann versinkst du ganz darin, und indem du das Tier anbetest, unterscheidest du nicht mehr Gutes vom Bösen. Dann ist es schrecklich!’

Nechljudow sah daß jetzt ebenso klar, wie er die Paläste, die Schildwachen, die Festung, den Fluß, die Böte, die Börse sah. Und wie keine beruhigende und Erholung bringende Dunkelheit in dieser Nacht auf der Erde lag, sondern ein unklares, unlustiges, unnatürliches Licht aus ansichtbarer Quelle, ebenso gab es in der Seele des Nechljudow keine Erholung bringende Dunkelheit der Unwissenheit mehr.

Alles war klar. Es war klar, daß alles, was für wichtig und gut gehalten wird, nichtig aber abscheulich ist, und daß all dieses Glanz, all diese Pracht alte, allen gewohnte Verbrechen verdeckt, nicht nur unbestrafbare, sondern triumphierende and mit all dem Reiz ausgeschmückte, den die Menschen nur erdenken können.

Nechljudow wünschte, es zu vergessen, es nicht zu sehen, aber er konnte schon nicht mehr umhin, es gewahr zu werden.

Obgleich er die Quelle jenes Lichtes nicht wahrnahm, bei dem sich ihm all das zeigte, wie er die Quelle des über Petersburg liegenden Lichtes nicht sah, und obgleich dieses Licht ihm unklar, unlustig, unnatürlich schien, konnte er doch nicht umhin, alles, was sich ihm in diesem Licht offenbarte, wahrzunehmen, und es ward ihm zu gleicher Zeit freudig und ängstlich zu Mute.

29

Als Nechljudow in Moskau ankam, begab er sich in erster Linie in das Gefängniskrankenhaus, um der Maslowa die traurige Nachricht zu bringen, daß der Senat das Urteil des Gerichts bestätigt habe, und daß man sich zur Abreise nach Sibirien vorbereiten müsse. Auf die Bittschrift an die allerhöchste Instanz, die ihm der Advokat aufgesetzt hatte, und die er jetzt ins Gefängnis der Maslowa zur Unterschrift mitbrachte, setzte er wenig Hoffnung. Aber seltsam zu sagen, er wünschte jetzt auch keinen Erfolg. Er hatte sich an den Gedanken der Reise nach Sibirien und des Lebens unter den Verschickten und Zwangsarbeitern innerlich angepaßt, und es war ihm schwer, sich vorzustellen, wie er sein Leben und das Leben der Maslowa einrichten würde, wenn man sie freispräche. Er erinnerte sich an die Worte des amerikanischen Schriftstellers Toro, der, während in Amerika Sklaverei herrschte, äußerte: ‘das Gefängnis sei der einzige Ort, der dem ehrlichen Bürger eines Staates gezieme, in dem die Sklaverei legitimiert und unterstützt werde.’ Ebenso dachte Nechljudow, besonders nach der Reise nach Petersburg und nach all dem, was er dort erfahren.

‘Ja, der einzige geziemende Ort für ehrliche Menschen zu jetziger Zeit in Rußland ist das Gefängnis!’ dachte er. Und er fühlte es sogar unmittelbar, als er zum Gefängnis heranfuhr, seine Mauern betrat.

Der Portier des Krankenhauses erkannte den Nechljudow, und sogleich teilte er ihm mit, daß die Maslowa schon nicht mehr bei ihnen sei.

»Wo ist sie denn?«

»Wieder im Gefängnis.«

»Warum hat man sie denn dorthin überführt?« fragte Nechljudow.

»Was ist es für ein Volk, Euere Erlaucht!« sagte der Portier, verächtlich lächelnd, »einen Liebeshandel hat sie mit dem Heilgehilfen angefangen; der Oberarzt hat sie nun weggeschickt.«

Nechljudow hatte gar nicht geglaubt, daß die Maslowa und ihr Seelenzustand ihn so nahe anging. Diese Nachricht betäubte ihn fast. Er hatte ein Gefühl, dem ähnlich, welches die Leute bei der Nachricht von einem unerwarteten großen Unglück erfahren. Ihm ward sehr weh zu Mut. Das erste, was er fühlte bei dieser Nachricht, war Scham. Vor allem erschien er sich selber lächerlich mit seiner freudigen Vorstellung von ihrer vermeintlich sich ändernden Gemütsverfassung. ‘Alle diese Worte von dem Nicht-sein-Opfer-annehmen-wollen, die Vorwürfe und Thränen, alles das waren,’ dachte er, ‘nur die Kunstgriffe einer verdorbenen Frau, die ihn um so besser auszunützen hoffte.’ Es schien ihm jetzt, daß er bei dem letzten Besuch Anzeichen der Unverbesserlichkeit, die jetzt hervortrat an ihr wahrgenommen. Alles das durchblitzte sein Hirn, während er instinktiv seinen Hut aufsetzte und aus dem Krankenhause fortging. Aber was soll man jetzt thun?’ fragte er sich. ‘Bin ich an sie gebunden? Bin ich nicht jetzt eben durch diese ihre Handlung frei geworden?’ fragte er sich. Aber kaum stellte er sich diese Frage, als er sogleich begriff, daß wenn er sich für frei halte und sie verlasse, er sich selber strafen werde und nicht sie, was er im Sinne hatte, und ihm wurde ängstlich zu Mute.

’Nein, das, was geschah, kann meinen Entschluß nicht ändern, sondern nur bestärken. Laß sie thun, was aus ihrem Seelenzustand folgt, — ist es ein Liebeshandel mit dem Heilgehilfen, so laß es ein Liebeshandel mit dem Heilgehilfen sein; — das ist ihre Sache. Meine Sache aber ist zu thun, was mein Gewissen von mir fordert,’ sagte er zu sich, — ‘mein Gewissen verlangt das Opfer meiner Freiheit, um meine Sünde zu sühnen; und mein Entschluß, sie zu heiraten, wenn auch in fiktiver Ehe, und ihr zu folgen, wohin man sie auch schicken möge, bleibt unverändert,’ sagte er zu sich mit bösem Trotz, und das Krankenhaus verlassend, begab er sich mit entschiedenem Schritt zu dem großen Gefängnisthor.

Als er zum Thor kam, bat er den dejourierenden Aufseher, dem Inspektor zu melden, daß er die Maslowa sehen möchte. Der Dejourierende kannte den Nechljudow und teilte ihm, wie einem Bekannten, ihre wichtige Gefängnisneuigkeit mit. Den Kapitän sei verabschiedet, und seine Stelle nehme ein anderer strenger Vorsteher ein.

»Und streng ist es jetzt geworden, ein wahres Elend,« sagte der Aufseher. »Er ist jetzt hier, gleich wird man Sie melden.«

Wirklich war der Inspektor im Gefangnis und kam bald zum Nechljudow heraus. Der neue Inspektor war ein hochgewachsener, knochiger Mann mit vorstehenden Backenknochen über den Wangen, sehr langsam in seinen Bewegungen und finster.

»Besuche sind an den bestimmten Tagen im Besuchszimmer gestattet,« sagte der Inspekor, ohne den Nechljudow anzusehen.

»Aber ich muß ihr eine Bittschrift an die allerhöchste Instanz zum Unterschreiben geben.«

»Sie können sie mir übergeben.«

»Ich muß selber die Gefangene sehen. Früher hat man es mir immer erlaubt.«

»Das war früher,« sagte der Inspektor, den Nechljudow flüchtig anblickend.

»Ich habe eine Bewilligung vom Gouverneur,« beharrte Nechljudow, indem er die Brieftasche zog.

»Bitte,« sagte der Inspektor, immer ebenso, ohne ihm ins Gesicht zu sehen; nahm mit den langen, trockenen, weißen Fingern, von denen des Zeigefinger einen Ring trug, das von Nechljudow dargereichte Papier und las es langsam.

»Bitte ins Bureau,« sagte er.

Im Bureau war diesmal niemand. Der Inspektor setzte sich an den Tisch und wühlte in vor ihm liegenden Papieren augenscheinlich gesonnen, selber bei der Zusammenkunft anwesend zu sein.

Als Nechljudow fragte, ob es nicht die politische Gefangene, die Bogoduchowskaja, sehen könne, antwortete der Inspektor kurz, daß es unmöglich sei. »Zusammenkünfte mit den Politischen sind nicht zulässig,« sagte er, und versank wieder in das Lesen der Papiere. Da Nechljudow in der Tasche den Brief an die Bogoduchowskaja hatte, fühlte er sich in der Lage eines schuldbewußten Menschen, dessen Absichten entdeckt und vernichtet sind.

Als die Maslowa ins Bureau trat, erhob der Inspektor den Kopf, und ohne die Maslowa oder den Nechljudow anzusehen, sagte er: »Bitte!« und fuhr fort, sich mit seinen Papieren zu beschäftigen.

Die Maslowa war wie früher in eine weiße Jacke, Rock und Kopftuch gekleidet. Als sie sich dem Nechljudow näherte und sein kaltes böses Gesicht sah, wurde sie dunkelrot und ließ die Augen sinken, wührend sie mit der Hand an dem Saum der Jacke hintastete

Ihre Befangenheit war für den Nechljudow die Bestätigung dessen, was der Krankenhausportier gesagt.

Nechljudow wollte mit ihr umgehen wie das vorige Mal, aber er konnte ihr nicht, wie er wollte, die Hand reichen, so sehr war sie ihm jetzt widerwärtig.

»Ich habe Ihnen eine schlechte Nachricht mitgebracht,« sagte er mit ruhiger Betonung, ohne sie anzusehen und ohne ihr die Hand zu gehen. »Der Senat hat abgelehnt.«

»Das wußte ich schon im voraus,« sagte sie mit seltsamer Stimme, gleichsam als ersticke sie.

Früher würde Nechljudow gefragt haben, warum sie sage, daß sie es im voraus gewußt; jetzt blickte er sie nur an. Ihre Augen waren voll Thränen.

Aber das besänftigte ihn nicht nur nicht, sondern reiztte ihn noch mehr gegen sie.

Der Inspektor stand auf und begann im Zimmer hin und her zu gehen.

Ttotz all dem Widerwillen, den Nechljudow jetzt gegen die Maslowa empfand, hielt er es dennoch für nötig, ihr sein Bedauern bezüglich der abschlägigen Antwort des Senats auszudrücken.

»Geben Sie die Hoffnung nicht auf,« sagte Nechljudow, »die Bittschrift an die allerhöchste Instanz kann Erfolg haben, und ich hoffe, daß…«

»Ich spreche ja nicht davon…« sagte sie, während sie ihn kläglich mit ihren nassen, schielenden Augen ansah.

»Aber wovon denn?«

»Sie waren im Krankenhause, und man hat Ihnen gewiß von mir gesagt…«

»Was ist denn? Das ist Ihre Sache,« sagte Nechljudow kalt und stirnrunzelnd.

Das zum Schweigen gebrachte grausame Gefühl des gekränkten Stolzes erhob sich in ihm mit neuer Kraft, sobald sie des Krankenhauses erwähnte. ’Er, ein Weltmann, den jedes Mädchen aus den höchsten Kreisen für ein Glück halten würde zu heiraten, hatte sich dieser Frau als Mann angeboten, und sie hatte nicht warten können; sie hatte Liebeshändel mit einem Heilgehilfen angefangen,’ dachte er, sie mit Haß anblickend.

»Unterschreiben Sie nun die Bittschrift,« sagte er, holte aus der Tasche ein großes Couvert und legte es auf den Tisch.

Sie wischte die Thränen mit dem Zipfel des Kopftuches ab, und im Begriff, sich an den Tisch zu setzen, fragte sie ihn, wo und was sie schreiben solle.

Er zeigte ihr, wo und was zu schreiben sei, und sie ließ sich nieder, indem sie mit der linken Hand den Aermel der rechten ordnete; er aber stand hinter ihr und sah schweigend ihren gegen den Tisch gebeugten und hie und da vor zurückgehaltenem Schluchzen erzitternden Rücken, und in seiner Seele kämpften böse und gute Gefühle; daß des gekränkten Stolzes und daß des Mitleids mit ihr, der Leidenden, und das letztere Gefühl siegte.

Was zuerst geschah: ob er zuerst in seinem Herzen sie bemitleidete, oder ob er sich zuerst erinnerte an sich, an seine Sünden, an seine Abscheulichkeit, grade in Bezug auf das, was er jetzt ihr vorwarf, wußte er nicht. Aber plötzlich, zu gleicher Zeit fühlte er sich schuldig und empfand mit ihr Mitleid.

Als sie die Bittschrift unterschrieben und den tintebeschmierten Finger am Rock abgewischt, stand sie auf und blickte ihn an.

»Was auch danach komme, und was überhaupt geschehn möge, — nichts wird meinen Entschluß ändern,« sagte Nechljudow. Der Gedanke, daß er ihr verzeihe, verstärkte daß Gefühl des Bedauerns und der Zartheit gegen sie, und er wünschte sie zu trösten. — »Was ich gesagt habe, werde ich thun. Wohin man Sie auch schicken möge — ich werde mit Ihnen sein.«

»Umsonst,« unterbrach sie ihn eilig und strahlte ganz auf.

»Besinnen Sie sich, was Sie für die Reise brauchen.«

»Es scheint — nichts Besonderes. Ich danke Ihnen.«

Der Inspektor näherte sich ihnen, und Nechljudow, ohne seine Mahnung abzuwarten, verabschiedete sich von ihr und ging hinaus, indem er ein nie früher erfahrenes Gefühl stiller Freude, Ruhe und Liebe gegen alle Menschen empfand. Es freute den Nechljudow und erhob ihn auf eine nie von ihm empfundene Höhe des Bewußtsein dessen, daß keine Handlung der Maslowa seine Liebe zu ihr ändern würde. Möge sie Liebeshändel mit dem Heilgehilfen anknüpfen, das ist ihre Sache; er liebt sie nicht für sich, sondern für sie und für Gott.

Unterdessen aber bestanden die Liebeshändel mit dem Heilgehilfen, wegen deren die Maslowa aus dem Krankenhause gejagt worden, und an deren Existenz Nechljudow glaubte, nur darin, daß die Maslowa, als sie einmal, auf Anordnung einer Heilgehilfin hin, um Brustthee zu holen in die Apotheke ging, die sich am Ende des Korridors befand, dort den Heilgehilfen Ustinow, einen hochgewachsenen Mann mit sinnigem Gesicht, allein traf, der sie schon lange mit seiner Zudringlichkeit belästigt hatte; sie stieß ihn, indem sie sich von ihm losreißen wollte, so heftig weg, daß er gegen das Wandbrett polterte, von welchem zwei Gläser herunterfielen und zerbrachen.

Als der um diese Zeit durch den Korridor gehende Oberarzt das Klirren des zerschlagenen Geschirrs hörte und die rotgewordene Maslowa herauslaufen sah, schrie er sie böse an.

»Na, Mütterchen, wenn du hier Liebeshändel anfangen willst, so schaffe ich dich fort. Was ist das?« wandte er sich an den Heilgehilfen, ihn streng über die Brille weg ansehend.

Den Heilgehilfe begann lächelnd sich zu rechtfertigen. Der Arzt, ohne ihn zu Ende zu hören, hob den Kopf so, daß er anfing, durch die Brille zu sehn, ging nach den Krankensälen, und noch an demselben Tage sagte er dem Inspektor, daß man an Stelle der Maslowa eine andere, etwas gesetztere Gehilfin schicken solle. Das waren die ganzen Liebeshändel der Maslowa mit dem Heilgehilfen. Diese Vertreibung aus dem Krankenhause unter dem Vorwand von Liebeshändeln mit Männern that der Maslowa besonders weh, weil ihr die ihr schon längst zuwider gewesenen Verhältnisse mit Männern nach der Begegnung mit Nechljudow äußerst widerwärtig geworden. Der Umstand, daß in Anbetracht ihrer früheren und jetzigen Lage jedermann, und unter andern auch der sinnige Heilgehilfe, sich im Recht glaubte, sie beleidigen zu dürfen, und daß er sich über ihre Weigerung wunderte, kränkte sie fürchterlich, rief in ihr Mitleid mit sich selbst und Thränen hervor. Jetzt, als sie zum Nechljudow kam, wollte sie sich vor ihm in Bezug auf diese unbillige Anschuldigung rechtfertigen, da er sie sicher gehört haben mußte. Aber sobald sie sich zu rechtfertigen begann, fühlte sie, daß er ihr nicht glaube, daß ihre Rechtfertigungen seinen Verdacht nur bestätigten, und die Thränen schnürten ihr die Kehle zu, und sie verstummte. Die Maslowa dachte noch immer und fuhr fort, sich selbst zu versichern, daß sie, wie sie ihm während der zweiten Zusammenkunft gesagt, nicht verziehen habe und ihn hasse; aber sie liebte ihn schon lange wieder und liebte so, daß sie unwillkürlich all das erfüllte, was er von ihr wünschte: sie hörte zu trinken, zu rauchen auf, ließ die Koketterien und trat in das Krankenhaus als Dienerin ein. Alles das hatte sie gethan, da sie wußte, daß er es wünschte. Wenn sie jedesmal, — sobald er es erwähnte, — so entschieden ablehnte, das Opfer, sie zu heiraten, auzunehmen, so geschah es nur, weil sie jene stolzen Worte, die sie ihm einmal gesagt, wiederholen wollte, und hauptsächlich, weil sie wußte, daß die Heirat mit ihr sein Unglück sein würde. Sie beschloß fest, sein Opfer nicht anzunehmen; inzwischen aber war es ihr qualvoll zu denken, daß er sie verachte, daß er glaube, sie fahre fort, dieselbe zu sein, die sie gewesen, und daß er jene Aenderung nicht sähe, die sich in ihr vollzogen. Die Möglichkeit, daß er jetzt glaube, sie hätte im Krankenhause etwas Schlechtes gethan, quälte sie mehr, als die Nachricht, daß sie definitiv zur Zwangsarbeit verurteilt worden.

30

Es konnte geschehen, daß die Maslowa mit der ersten abgehenden Gefangenenabteilung transportiert wurde, daher bereitete sich Nechljudow für die Abreise vor. Aber er hatte so viel zu thun, daß er fühlte, mochte er auch nach so viel freie Zeit haben, er würde die Geschäfte nicht zu Ende bringen können. Es ging ihm vollkommen umgekehrt, als es ihm früher zu gehen pflegte. Früher mußte er sich den Kopf zerbrechen, was er thun solle, und der Gegenstand des Interesses war immer ein und derselbe: nämlich Dmitrij Iwanowitsch Nechljudow; und doch, trotzdem das gesamte Lebensinteresse sich damals auf den Dmitrij Iwanowitsch konzentrierte, waren alle Beschäftigungen langweilig. Jetzt betraf alles, was er zu thun hatte, andere Menschen, nicht Dmitrij Iwanowitsch, und alles war interessant und hinreißend, und es gab eine Menge zu thun. Noch mehr, die Beschäftigung mit den Sachen des Dmitrij Iwanowitsch hatte früher immer Aerger und Aufregung hervorgerufen; diese fremden Sachen riefen meistenteils eine freudige Stimmung hervor.

Die den Nechljudow zu dieser Zeit beschäftigenden Sachen zerfielen in drei Kategorien; er selber teilte sie mit gewohnter Pedanterie so ein, und dementsprechend brachte er sie in drei Portefeuilles unter.

Die erste Sache betraf die Maslowa und die ihr zu leistende Hilfe. Sie galt seiner Verwendung um Unterstützung der an die Allerhöchste Instanz eingereichten Bittschrift und der Vorbereitung zur Reise nach Sibirien.

Als zweites galt es, die Güterangelegenheit zu ordnen. In Panowo war das Land den Bauern abgegeben worden, unter der Bedingung der Auszahlung einer Rente ihrerseits für ihre gemeinschaftlichen, bäuerlichen Bedürfnisse. Aber um diese Abmachung zu befestigen, mußte man einen Vertrag und ein Vermächtnis abfassen und unterschreiben. In Kusjmanskoje aber blieb alles nach so, wie er selber es eingerichtet, d. h. das Geld für den Boden sollte er bekommen; man mußte noch die Termine festsetzen und bestimmen, wie viel van diesem Gelde er für seinen Lebensbedarf nehmen sollte, und wie viel zu Gunsten der Bauern lassen. Da er nicht wußte, welche Ausgaben ihm bei seiner Reise nach Sibirien bevorstanden, konnte er sich noch nicht entschließen, diese letzten Einkünfte sich zu entziehen, obgleich er sie bereits auf die Hälfte vermindert hatte.

Die dritte Aufgabe war seine Verwendung für die Gefangenen, deren sich immer mehr und mehr an ihn wandten. Anfangs, als er Verbindungen mit den ihn um Hilfe angehenden Gefangenen anknüpfte, verwendete er sich sogleich für sie, indem er sich Mühe gab, ihr Schicksal zu mildern; nachher aber erschienen so viele Bittsteller, daß er die Unmöglichkeit fühlte, jedem von ihnen zu helfen, so daß er unwillkürlich zu der vierten Aufgabe geführt ward, die mehr als alle übrigen ihn die letzte Zeit beschäftigte.

Diese vierte Aufgabe bestand in der Entscheidung der Frage, was ist? wozu ist? und woher kommt? diese verwunderliche Einrichtung, die man Kriminalgericht nennt, das zur Folge jenes Gefängnis hat, dessen Bewohner er zum Teil kennen gelernt, und alle die Einkerkerungsorte, von der Peter-Pauls-Festung bis nach Sachalin, wo die Hunderte, Tausende Opfer dieses für ihn erstaunlichen Kriminalgesetzes schmachten?

Aus dem persönlichen Verkehr mit den Gefangenen, aus den Fragen an den Advokaten, den Gefängnisgeistlichen, den Inspektor, und aus den Listen der Gefangenen kam Nechljudow zu dem Schluß, daß der Bestand der Gefangenen, der sogenannten Verbrecher, in fünf Kategorien von Menschen zerfällt. Eine Kategorie, die erste, sind die vollkommen Unschuldigen, die Opfer gerichtlicher Irrtümer, wie die vermeintlichen Brandstifter Menjschow, wie die Maslowa und andere. Der Leute dieser Kategorie waren den Beobachtungen des Geistlichen nach nicht sehr viele, etwa sieben Prazent, aber die Lage dieser Leute beanspruchte besonderes Interesse. Die andere Klasse bildeten die Leute, die für Handlungen bestraft worden, welche in Ausnahmezuständen, wie Erbitterung, Eifersucht, Rausch u. d. ä. vollbracht worden, Handlungen, welche fast sicher unter solchen Umständen auch alle diejenigen vollbracht haben würden, die richteten und bestraften. Diese Kategorie bildete nach der Beobachtung des Nechljudow vielleicht mehr als die Hälfte aller Verbrecher. Die dritte Kategorie bestand aus Leuten, die dafür bestraft worden, daß sie ihren Begriffen nach gewöhnliche und sogar gute Handlungen vollbrachten, die aber nach den Begriffen der ihnen fremden Menschen, die die Gesetze geschrieben, für Verbrechen gehalten wurden. In dieser Klasse gehörten die Leute, die heimlich Branntweinhandel oder Contrebande trieben, die Gras pflückten, in großen gutsherrlichen und Kronswäldern Holz sammelten. Zu dieser Kategorie gehörten auch die raubenden Gebirgsbewohner und ferner die nichtgläubigen Leute, die die Kirchen bestahlen.

Zu der vierten Abteilung gehörten die Leute, die nur darum den Verbrechern zugezählt wurden, weil sie moralisch höher als das Durchschnittsniveau der Gesellschaft stehen. So waren die Sektierer, so waern die Polen, die Tscherkessen, die sich ihrer Unabhängigkeit wegen empört hatten, so waren auch die politischen Verbrecher, Sozialisten und Strikende, die wegen Widersetzlichkeit gegen die Autorität verurteilt worden. Der Prozentsatz solcher Leute, der besten in der Gesellschaft, war nach Nechljudows Beobachtungen sehr groß.

Die fünfte Kategorie endlich bildeten die Menschen, vor denen die Gesellschaft viel mehr schuldig war, als sie vor der Gesellschaft. Den waren die vernachlässigten Leute, die durch die fortwährende Unterdrückung und durch Verleitungen verdummt worden, wie jener Knabe mit den Teppichen und Hunderte anderer Menschen, die Nechljudow im Gefängnis und außerhalb desselben gesehen, deren Lebensbedingungen gleichsam systematisch und mit Notwendigkeit zu den Handlungen trieben, die Verbrechen heißen. Zu solchen Leuten gehörten nach den Beobachtungen Nechljudows sehr viele Diebe und Mörder; mit einigen von ihnen verkehrte Nechljudow zu jener Zeit.

In dieser Klasse zählte er auch diejenigen sittlich verdorbenen Menschen, welche die neue Schule Verbrechertypus nennt, und deren Existenz in der Gesellschaft als Hauptbeweis der Notwendigkeit des Kriminalgesetzes und der Strafe gilt. Diese sogenannten verdorbenen, verbrecherischen, anormalen Typen waren nach der Meinung des Nechljudow nichts anderes, als eben solche Leute, wie diejenigen, vor welchen die Gesellschaft mehr Schuld hat, als sie vor der Gesellschaft haben, aber gegen welche die Gesellschaft, nicht jetzt unmittelbar, sondern in früherer Zeit, schon gegen ihre Eltern und Vorfahren gesündigt hat. Unter diesen Leuten machte auf ihn besonders großen Eindruck ein Rückfälliger, der Dieb Ochotin, ein unehelicher Sohn einer Prostituierten, ein Zögling den Obdachlosen-Asyls, der augenscheinlich bis zum dreißigsten Jahre nie einen Menschen von höhrer Moralität als die eines Polizeibeamten, angetroffen, der von Jugend auf in eine Diebsbande geraten war, und der zugleich eine ungewöhnliche komische Begabung hatte, durch welche er die Leute für sich einnahm. Er bat Nechljudow um Schutz, indessen aber machte er sich über sich selber, über die Richter, über das Gefängnis, über alle Gesetze, nicht nur die kriminalen, sondern auch die göttlichen lustig. Ein anderer war Fedorow, ein schöner Menn, der mit der von ihm geleiteten Bande einen Alten, einen Beamten, getötet und beraubt hatte. Dies war ein Bauer, dessen Vater man vollkommen ungesetzlich seines Hauses beraubt, der nachher Soldat gewesen und dort dafür gelitten, daß er sich in die Maitresse eines Offiziers verliebt hatte. Das war eine anziehende, leidenschaftliche Natur, ein Mensch, der um jeden Preis das Leben genießen wollte, der nie einen Menschen gesehen, welcher sich um irgend etwas willen seines Genusses enthalten, und der nie ein Wort darüber gehört, daß irgend ein anderes Ziel der Lebens existiere außer dem Genuß. Für Nechljudow war es klar, daß beide reiche Naturen und nur verwahrlost und verunstaltet waren, wie vernachlässigte Pflanzen verwahrlost und verunstaltet zu sein pflegen. Er hatte auch einen Vagabunden und eine Frau gesehen, die durch ihre Stumpfheit und anscheinende Grausamkeit abstoßend waren, aber er konnte durchaus nicht in ihnen jenen Verbrechertyus erblicken, von dem die italienische Schule spricht, sondern er sah nur für sich persönlich widrige Leute, genau solche, welche er in Freiheit in Fräcken, Epauletten und Spitzen gesehen.

Und nun, in der Untersuchung der Frage, warum alle diese so verschiedenartigen Menschen in die Gefängnisse eingesperrt worden, und die anderen, — ebensolche Leute —, in Freiheit umhergingen und sogar diese Leute richteten, bestand die vierte Aufgabe, die Nechljudow zu der Zeit beschäftigte.

Anfangs hoffte Nechljudow, die Antwort auf diese Frage in Büchern zu finden, und er kaufte alles, was diese Frage betraf. Er schaffte die Bücher don Lombroso, Garofalo, Ferri, Liszt, Maudsleigh und Tarde an und las diese Werke aufmerksam.

Aber während er sie las, wurde er mehr und mehr enttäuscht. Ihm ging es so, wie es den Leuten zu gehen pflegt, die sich an die Wissenschaft wenden, nicht um in der Wissenschaft eine Rolle zu spielen, zu schreiben, zu disputieren, zu lehren, sondern die sich an sie mit graden, einfachen Lebensfragen wenden: die Wissenschaft beantwortete ihm tausend verschiedene, sehr geschickte und schwierige Fragen, die das Kriminalgesetz betrafen, nur nicht jene, auf die er Antwort suchte.

Er fragte eine sehr einfache Sache; er fragte: warum und mit welchem Recht die einen Menschen die anderen einsperren, quälen, verschicken, peitschen und töten? Obgleich sie selber genau eben solche Leute sind, wie diejenigen, die sie quälen, peitschen und töten. Man antwortete ihm aber mit Auseinaudersetzungen darüber, ob der Mensch Willensfreiheit besitze oder nicht? Oh man einen Menschen nach den Messungen seines Schädels u. s. w. als Verbrecher anerkennen könne oder nicht? Ob es eine angeborene Unsittlichkeit gebe? Was ist Sittlichkeit? Was ist Verrücktheit? Was ist Degeneration? Was ist Temperament? Wie wirkt auf das Verbrechen Klima, Nahrung, Unwissenheit, Nachahmung, Hypnotismus, Leidenschaft? Was ist die Gesellschaft? Welche sind ihre Pflichten? u. s. w., u. s. w.

Diese Auseinandersetzungen erinnerten den Nechljudow an die Antwort, die er einmal von einem kleinen, aus der Schule kommenden Knaben erhalten. Nechljudow fragte den Knaben, ob er schon buchstabieren gelernt habe. »Ich habe es gelernt,« antwortete der Knabe. »Nun, buchstabiere: Pfote.« »Was für eine? Eine Hundepfote?« antwortete der Knabe mit schlauem Gesicht. Ebensolche Antworten in der Gestalt von Fragen fand Nechljudow in den wissenschaftlichen Büchern auf seine eine fundamentale Frage. Es gab dort sehr viel Kluges, Gelehrtes, Interessantes, aber keine Antwort auf die Hauptsache: mit welchem Recht die Einen die Anderen bestrafen? Nicht nur fehlte diese Antwort, sondern alle Auseinandersetzungen gingen darauf aus, die Strafe zu erklären und zu rechtfertigen, deren Notwendigkeit als Axiom anerkannt war. Nechljudow las viel, aber gelegentlich und nicht systematich, und er schrieb dieses Fehlen einer Antwort solchem oberflächlichen Studium zu, hoffte später die Antwort zu finden und erlaubte sich daher noch nicht, an die Richtigkeit der Antwort zu glauben, welche sich ihm in der letzten Zeit, immer öfter und öfter darbot.

31

Die Absendung der Gefangenenabteilung, mit welcher die Maslowa gehen sollte, war auf den fünften Juli festgesetzt. Auch Nechljudow hielt sich bereit, an demselben Tage ihr nachzureisen. Am Tage vor seiner Abreise kam die Schwester Nechljudows mit ihrem Manne in die Stadt gefahren, um den Bruder zu sehen.

Nechljudows Schwester, Natalija Iwanowna Ragoschinskaja, war zehn Jahre älter, als der Bruder. Er war zum Teil unter ihrem Einfluß aufgewachsen. Sie hatte ihn, als Knaben, sehr lieb; dann, unmittelbar vor ihrer Heirat, hatten sie sich einander fast wie gleiche genähert; sie — ein fünfundzwanzigjähriges Mädchen, er — ein fünfzehnjähriger Knabe. Sie war damals in seinen verstorbenen Freund, Nikolenjka Irtenjew verliebt. Sie beide liebten Nikolenjka und liebten in ihm und in sich das, was in ihnen Gutes und alle Menschen Vereinigendes war.

Nach der Zeit wurden sie beide sittlich verdorben: er — durch den Militärdienst, schlechtes Leben; sie — durch die Ehe mit dem Mann, zu dem sie eine sinnliche Liebe gefaßt, der aber alles, was ehemals für sie und für Dmitrij das Heiligste und Teuerste gewesen, nicht nur nicht liebte, sondern nicht einmal verstand, was es war, und alle jene Bestrebungen zu moralischer Vervollkommnung und zum Dienst der Menschheit, in welchen sie einmal gelebt, einzig der ihm verständlichen Eigenliebe und dem Wunsch, sich vor den Leuten zu zeigen, zuschrieb.

Ragoschinskij war ein Mann ohne Namen und ohne Vermögen, aber ein sehr gewandter Beamter, der, da er geschickt zwischen dem Liberalismus und Konservatismus lavierte und diejenige von beiden Richtungen benutzte, welche zu gegebener Zeit und in gegebenem Falle die besten Resultate für sein Leben bot, und hauptsächlich, weil er durch irgend eine Besonderheit den Frauen gefiel, eine relativ glänzende juristische Carriere gemacht hatte. Dieser Mann, schon nicht mehr in der ersten Jugend, lernte die Nechljudows im Auslande kennen, machte Natascha, ein auch schon nicht mehr junges Mädchen, in sich verliebt und heiratete sie fast gegen den Wunsch der Mutter, die in dieser Ehe eine Mésalliance sah.

Obgleich Nechljudow es vor sich verbarg, obgleich er gegen dieses Gefühl ankämpfte, haßte er seinen Schwager: antipathisch war er ihm durch die Vulgarität seiner Gefühle, die selbstherrliche Beschränktheit, und hauptsächlich war er ihm antipathisch wegen der Schwester, die diese arme Natur so leidenschaftlich, egoistisch, sinnlich lieben und ihm zu Gefallen all das Gute, das in ihr gewesen, ersticken konnte.

Dem Nechljudow that es immer qualvoll weh, zu denken, daß Natascha die Frau dieses haarigen, selbstvertrauenden Mannes mit der blanken Glatze war. Er konnte sogar den Widerwillen gegen seine Kinder nicht zurückhalten. Und jedesmal, wenn er erfuhr, daß sie im Begriff sei, Mutter zu werden, hatte er ein Gefühl, ähnlich dem Beileid darüber, daß sie wieder von diesem, ihnen allen fremden Manne, mit etwas Schlechtem angesteckt worden.

Die Ragoschinskij’s kamen allein, ohne Kinder, angefahren — sie hatten zwei Kinder: einen Knaben und ein Mädchen — und stiegen in der besten Nummer des besten Gasthauses ab. Natalija Iwanowna fuhr sofort in die alte Wohnung der Mutter, aber da sie den Bruder hier nicht fand und von Agrafena Petrowna erfuhr, daß er möblierte Zimmer bezogen, fuhr sie dorthin. Ein schmutziger Diener, der ihr im dunklen, selbst am Tage künstlich erleuchteten Korridor voll schwerer Gerüche begegnete, erklärte ihr, daß der Fürst nicht zu Hause sei.

Natalija Iwanowna wünschte in die Wohnung des Bruders zu gehen, um ihm dort einen Zettel zu lassen. Der Korridordiener führte sie hinein.

Als Natalija Iwanowna in seine zwei kleinen Zimmer trat, sah sie sich aufmerksam um. Sie bemerkte überall die ihr bekannte Sauberkeit und Akkuratesse, und eine sie überraschende und bei ihm ganz neue Bescheidenheit der Ausstattung. Auf dem Schreibtisch sah sie eine ihr bekannte Briefpresse mit einem Bronzehündchen; die, mit ihr ebenso bekannter Sorgfalt hingelegten Portefeuilles, Papiere, Schreibzeug, Bände des Strafgesetzbuches, ein englisches Buch von Henry George und ein französisches von Tarde, nebst einem hineingelegten großen geschweiften Messee aus Elfenbein.

Sie setzte sich an den Tisch, schrieb ihm einen Bettel, in dem sie ihn bat, unbedingt zu ihr zu kommen, und zwar schon heute; und dann kehrte sie, vor Verwunderung über das, was sie gesehen, den Kopf schüttelnd, in ihr Hotel zurück.

Natalija Iwanowna interessierten jetzt in Bezug auf ihren Bruder zwei Fragen: seine Heirat mit Katjuscha, von welcher sie in ihrer Stadt gehört, da alle darüber sprachen, und seine Abtretung des Bodens an die Bauern, die ebenfalls allen bekannt war und vielen als etwas politisch Gefährliches erstcien. Die Heirat mit Katjuscha gefiel einerseits der Natalija Iwanowna. Sie sah mit Wohlgefallen diese Entschlossenheit; sie erkannte darin ihn und sich selbst, wie sie beide gewesen, in jenen schönen Zeiten vor ihrer Heirat; aber zugleieh überfiel sie ein Grauen bei dem Gedanken, daß ihr Bruder eine so schreckliche Frau heirate. Das letzte Gefühl war stärker, und sie beschloß, so viel ihr möglith sei, auf ihn einzuwirken und ihn davon zurückzuhalten, obschon sie wußte, wie schwer dies sei.

Die andere Sache, die Ueberlassung des Landes an die Bauern, war ihrem Herzen nicht so nah, aber ihr Mann war sehr empört darüber und verlangte von ihr eine Beeinflussung des Bruders; Ignatij Nikiforowitsch sagte, daß eine solche Handlung das Aeußerste an Leichtsinn, Stolz und Grundlosigkeit darstelle; daß man diese Handlung, wenn es überhanpt irgend welche Möglichkeit gäbe, nur durch den Wunsch erklären könne, sich auszuzeichnen, zu prahlen, von sich reden zu machen.

»Welchen Sinn hat die Abtretung des Landes an die Bauern unter Auszahlung der Rente ihrerseits an sich selber?« sprach er. »Wenn er schon so etwas zu thun wünschte, konnte er ihnen das Land durch die Bauernbank verkaufen. Das würde einen Sinn haben. Ueberhaupt — er ist eine Handlung, die ans Abnorme grenzt,« sprach Ignatij Nikiforowitsch, indem er schon an eine Kuratel dachte, und er verlangte von seiner Frau, daß sie mit dem Bruder ernsthaft über diese seine wunderliche Absicht rede.

32

Als Nechljudow nach Hause zurückkehrte und auf seinem Tisch den Zettel der Schwester fand, fuhr er sofort zu ihr. Es war am Abend. Ignatij Nikiforowitsch ruhte in dem anderen Zimmer aus, und Natalija Iwanowna allein empfing den Bruder. Sie war in einem schwarzen seidenen Kleide mit festanliegender Taille, mit einer roten Schleife auf der Brust; ihre schwarzen Haare waren nach der Mode toupiert und frisiert. Sie machte sich augenscheinlich und mit Sorgfalt jünger für den Mann, ihren Altersgenossen. Als sie den Bruder sah, sprang sie vom Diwan auf, und mit raschem Schritt, mit dem seidenen Rocke rauschend, kam sie ihm entgegen. Sie küßten sich und sahen lächelnd einander an. Es vollzog sich jener geheimnisvolle, mit Worten nicht auszudrückende, bedeutungsvolle Austausch der Blicke, in dem alles waht war, und dann begann der Austausch der Worte, dem schon jene Wahrheit fehlte. Sie hatten sich seit dem Tode der Mutter nicht gesehen.

»Du bist dicker und jünger geworden,« sagte er. Ihre Lippen kräuselten sich vor Vergnügen.

»Du aber bist magerer geworden.«

»Nun, wie gehts Ignatij Nikiforowitsch?« fragte Nechljudow.

»Er ruht aus. Er hat die Nacht nicht geschlafen.«

Man hätte nun vieles sagen müssen, aber die Worte sagten nichts, und die Blicke sagten, daß das, was zu sagen wäre, nicht gesagt ward.

»Ich bin bei dir gewesen. Ja, ich weiß.«

»Ich bin aus dem Hause weggezogen. Mir ist es dort zu geräumig, zu einsam und langweilig. Und alles das brauche ich nicht, also nimm du es alles, daß heißt die Möbel — alle Sachen.«

»Ja, Agrafena Petrowna hat es mit gesagt. Ich bin dort gewesen Ich danke dir sehr, aber…«

Ein Lakai des Hotels brachte ihnen ein silbernes Theeservice. Sie schwiegen, solange der Lakai das Theeservice auffüllte. Natalija Iwanowna setzte sich auf den Lehnstuhl, dem Tischchen gegenüber, und schüttete schweigend Thee nach. Nechljudow schwieg.

»Nun, wie denn, Dmitrij, ich weiß alles,« sagte Natascha mit Entschiedenheit und blickte ihn an.

»Warum denn nicht? Ich freue mich sehr, daß du es weißt.«

»Kannst du denn hoffen, sie zu bessern nach einem solchen Leben?« sagte sie.

Er saß grade, ohne sich anzulehnen, auf einem kleinen Stuhl, börte ihr aufmerksam zu, indem er sich bemühte, sie ordentlich zu verstehen und ordentlich zu antworten. Die Stimmung, welche durch die letzte Zusammenkunft mit der Maslowa in ihm hervorgerufen worden, erfüllte immer noch seine Seele mit ruhiger Freude und mit Wohlwollen gegen alle Menschen.

»Ich will nicht sie, sondern mich bessern,« antwortete er.

Natalija Iwanowna seufzte.

»Es giebt andere Mittel, außer der Heirat.«

»Ich glaube aber, dies ist das beste; außerdem, dies führt mich in die Welt, in welcher ich nützlich sein kann.«

»Ich glaube nicht,« sagte Natalija Iwanowna, »daß du glücklich sein kannst.«

»Es geht nicht um mein Glück.«

»Versteht sich, aber sie, wenn sie Herz hat, kann nicht glücklich sein, kann es sogar nicht wünschen.«

»Sie wünscht es ja auch nicht…«

»Ich verstehe, aber das Leben…«

»Nun was — Leben —«

»Verlangt etwas anderes.«

»Es verlangt nichts, außer, daß wir thun, was wir sollen,« sagte Nechljudow, in ihr noch schönes, aber schon um die Augen und den Mund mit feinen Runzelchen bedecktes Gesicht blickend.

»Ich verstehe nicht,« sagte sie mit einem Seufzer.

‘Meine Arme, Liebe! Wie konnte sie sich so verändern?’ dachte Nechljudow, während er der Natascha, wie sie unverheiratet gewesen, gedachte, und ein zartes, aus den zahllosen Kindheitserinnerungen gewobenes Gefühl für sie empfand.

Jetzt trat in das Zimmer, glänzend mit seiner Brille, Glatze und dem schwarzen Bart, Ignatij Nikiforowitsch; indem er wie gewöhnlich hoch den Kopf trug, die breite Brust herausdrückte, weich und leicht auftrat und lächelte.

»Guten Tag, guten Tag,« machte er, indem er die Worte absichtlich unnatürlich betonte.

Trotzdem sie die erste Zeit nach der Heirat sich zu duzen gesucht hatten, waren sie auf Sie geblieben.

Sie drückten einander die Hand, und Ignatij Nikiforowitsch ließ sich leicht im Lehnstuhl nieder.

»Werde ich Ihr Gespräch nicht stören?«

»Nein, ich verberge vor niemandem, was ich spreche, und was ich thue.«

Kaum sah Nechljudow dieses Gesicht, diese haarigen Hände, kaum hörte er diesen gönnerhaften, selbstvertrauenden Ton, als seine sanfte Stimmung augenblieklich verschwunden war.

»Ja, wie sprachen von seinem Vorsatz,« sagte Natalija Iwanowna, »soll ich dir einschenken?« fügte sie hinzu, die Theekanne anfassend.

»Ja, bitte; was für ein Vorsatz eigentlich?«

»Mit jener Gefangenenabteilung nach Sibirien zu fahren, in welcher sich die Frau befindet, vor welcher ich mich für schuldig halte,« brachte Nechljudow hervor.

»Nicht nur zu begleiteu, sondern nach mehr, wie ich gehört habe« — —.

»Ja, auch zu heiraten, wenn sie nur will.«

»So, so! Aber wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, so erklären Sie mir Ihre Motive. Ich verstehe sie nicht.«

»Die Motive sind, daß diese Frau …… daß ihr erster Schritt auf dem Wege des Lasters…« Nechljudow wurde böse auf sich selbst, weil er den Ausdruck nicht finden konnte. »Die Motive sind, daß ich schuldig bin, sie aber bestraft worden ist.«

»Wenn sie bestraft worden, so ist auch sie, wahrscheinlich, nicht unschuldig.«

»Sie ist vollkommen unschuldig.« Und Nechljudow erzählte mit unnötiger Aufregung die ganze Sache.

»Ja, das ist eine Nachlässigkeit des Vorsitzenden, und daher kommt die Unbesonnenheit in der Antwort der Geschworenen. Aber es giebt für diesen Fall den Senat.«

»Der Senat hat es abgelehnt.«

»Nun, hat er abgelehnt, so gab es mithin keine genügenden Motive zur Kassation,« sagte Ignatij Nikiforowitsch, der offenbar vollkommen die bekannte Meinung teilte, daß die Wahrheit ein Produkt der gerichtlichen Verhandlungen sei. »Der Senat darf nicht auf die Untersuchung der Sache, ihrem Wesen nach, eingehen. Wenn es wirklich ein Irrtum des Gerichts ist, so muß man die allerhöchste Instanz anrufen.«

»Die Schrift ist eingereicht, aber es giebt keine Wahrscheinlichkeit, daß sie Erfolg habe. Man wird Erkundigungen im Ministerium einziehen. Das Ministerium wird beim Senat anfragen, der Senat wiederholt sein Verdikt. Und wie gewöhnlich wird der Unschuldige bestraft werden.«

»Erstens wird das Ministerium nicht beim Senat anfragen,« sagte mit nachsichtigem Lächeln Ignatij Nikiforowitsch, »sondern es wird vom Gericht die Originalakten fordern, und wenn es einen Fehler findet, wird es seinen Entscheid in diesem Sinne abgeben; und zweitens werden die Unschuldigen nie oder wenigstens in seltnen Ausnahmen bestraft, sondern bestraft werden die Schuldigen,« sprach, ohne sich zu beeilen, Ignatij Nitiforowitsch mit selbstzufriedenem Lächeln.

»Ich habe mich vom Gegenteil überzeugt,« fing Nechljudow mit ungutem Gefühl gegen seinen Schwager an, »ich habe mich überzeugt, daß die größte Hälfte der von den Gerichten verurteilten Leute unschuldig ist.«

»Wieso denn das?«

»Einfach unschuldig, im geraden Sinn des Worts, so wie diese Frau unschuldig an der Vergiftung ist, wie der Bauer, den ich neulich kennen gelernt habe, unschuldig an dem Morde ist, den er nicht begangen; wie der Sohn und die Mutter unschuldig sind an der Brandstiftung, die von dem Besitzer selbst verübt worden, und für die sie beinah veturteilt worden wären.«

»Ja, versteht sich; immer gab es Justizirrtümer und wird sie geben. Eine menschliche Einrichtung kann nicht vollkommen sein.«

»Und dann ist ein ungeheuer großer Teil unschuldig, weil sie, in einem bestimmten Kreise erzogen, die von ihnen vollbrachten Handlungen nicht für Verbrechen halten.«

»Verzeihen Sie, das ist nicht richtig; jeder Dieb weiß, daß der Diebstahl nicht gut ist, daß man nicht stehlen soll, daß der Diebstahl unsittlich ist,« sagte Ignatij Nikiforowitsch, immer mit demselben ruhigen, selbstbewußten, etwas verächtlichen Lächeln, das den Nechljudow besonders reizte.

»Nein, er weiß es nicht. Man sagt ihm: stiehl nicht! Er aber sieht und weiß, daß die Fabrikanten seine Arbeit stehlen, indem sie seinen Lohn zurückbehalten, daß die Regierung mit all ihren Beamten ihn unter der Form der Steuern unaufhörlich bestiehlt.«

»Das ist nun schon mehr Anarchismus,« bestimmte Ignatij Nikiforowitsch ruhig die Bedeutung der Worte seines Schwagers.

»Ich weiß nicht, was es ist; ich sage das, was ist,« fuhr Nechljudow fort. »Er weiß, daß die Regierung ihn bestielt, weiß, daß wir, die Grundbesitzer, ihn schon seit lange her bestohlen haben, indem wie ihm das Land entzogen, welches Allgemeingut sein muß, und dann, wenn er auf diesem ihm gestohlenen Lande Reisholz einsammelt, um seinen Ofen zu heizen, stecken wir ihn ins Gefängnis und wollen ihn versichern, daß er ein Dieb sei. Er weiß ja, daß ein Dieb nicht er, sondern derjenige ist, der ihm das Land gestohlen hat, und jegliche restitution dessen, was ihm gestohlen worden, seine Pflicht ist, seiner Familie gegenüber.«

»Ich verstehe nicht, und wenn ich verstehe, so bin ich nicht einverstanden. Der Boden kann nicht anders als jemands Eigentum sein. Wenn Sie jetzt teilen,« fing Ignatij Nikiforowitsch an, in der vollen und ruhigen Ueberzeugung, daß Nechljudow ein Sozialist sei, und daß die Forderungen der sozialistischen Theorie in der Verteilung des ganzen Bodens zu gleichen Teilen bestehen, daß eine solche Teilung dumm sei, und daß er sie leicht widerlegen könne. »Wenn Sie es heute hin gleiche Teile teilen, wird es morgen schon wieder in die Hände der Arbeitsameren und Tüchtigeren übergehen.«

»Und niemand denkt daran, den Boden an alle gleich zu verteilen; der Boden soll niemandes Eigentum sein, soll kein Gegenstand des Kaufes und Verkaufes oder des Verleihens sein.«

»Das Eigentumsrecht ist dem Menschen angeboren. Ohne Eigentumsrecht wird es kein Interesse an der Bebauung des Landes geben. Vernichten Sie das Eigentumsrecht, und wir kehren zum wilden Zustand zurück,« sagte Ignatij Nikforowitsch autoritär, indem er jenes gewöhnliche Argument zu Gunsten des Rechts auf das Grundeigentum vorbrachte, das für unumstößlich gilt und darin besteht, daß die Habsucht in Bezug auf das Grundeigentum ein Zeichen für seine Notwendigkeit sei.

»Im Gegenteil; nur dann wird das Land nicht nutzlos liegen, wie jetzt, wo die Grundbesitzer, wie der Hund auf dem Heu, den Boden denjenigen vorenthalten, die ihn exploitieren können; sie selber aber verstehen es nicht.«

»Hören Sie, Dmitrij Iwanowitsch, dies ist ja ein vollkommener Wahnsinn! Ist denn die Vernichtung des Grundeigentums möglich, zu unserer Zeit? Ich weiß, daß es Ihr altes Steckenpferd ist, aber erlauben Sie mir, Ihnen gerade heraus zu sagen…« Und Ignatij Nikiforowitsch wurde blaß, seine Stimme zitterte; diese Frage berührte ihn augenscheinlich nahe. »Ich würde Ihnen raten, diese Frage ordentlich zu überlegen, bevor Sie zur praktischen Entscheidung derselben schreiten.«

»Sie sprechen von meinen persönlichen Angelegenheiten?«

»Ja. Ich glaube, daß wie alle in einen bestimmten Kreis hineingestellt sind, und daß wir die Pflichten tragen müssen, welche aus dieser Stellung entspringen; wie müssen die Lebensbedingungen des Standes unterhalten, in welchen wir geboren sind, die wir von unsern Vorfahren geerbt haben und unserer Nachkommenschaft übergeben müssen.«

»Ich halte für meine Pflicht…«

»Erlauben Sie,« fuhr Ignatij Nikiforowitsch fort, ohne sich unterbrechen zu lassen, »ich spreche nicht in meinem Interesse und in dem meiner Kinder; das Vermögen meiner Kinder ist gesichert, und ich verdiene soviel, daß wie sorgenfrei leben können, und ich glaube, daß unsere Kinder ebenso leben werden. Darum erfolgt mein Protest gegen Ihre Handlungen, die — erlauben Sie mir, zu sagen — nicht vollkommen überlegt sind, nicht aus persönlichen Interessen, sondern ich kann prinzipiell nicht mit Ihnen einverstanden sein, und ich würde Ihnen raten, mehr nachzudenken und zu lesen…«

»Nun, überlassen Sie mir selber, meine Sachen zu entscheiden, und zu wissen, was ich lesen und was ich nicht lesen soll,« sagte Nechljudow erbleichend; und er fühlte, daß seine Hände kalt wurden, und daß er nicht mehr Herr seiner selbst war. Er verstummte und fing an, Thee zu trinken.

33

»Nun, wie geht’s den Kindern?« fragte Nechljudow die Schwester, als er sich ein wenig beruhigt hatte.

Die Schwester erzählte von den Kindern, daß sie bei der Großmutter, seiner Mutter, geblieben seien; und sehr zufrieden, daß der Stteit mit ihrem Manne eingestellt worden, begann sie zu erzählen, daß ihre Kinder »Reise« spielen, ebenso wie ehemals er mit seinen drei Puppen gespielt, — mit dem schwarzen Mohren und mit der Puppe, die die Französin genannt wurde.

»Hast Du das wirklich nicht vergessen,« sagte Nechljudow lächelnd.

»Und stelle Dir vor, sie spielen genau ebenso.«

Das unangenehme Gespräch war zu Ende. Natascha beruhigte sich, doch wollte sie nicht in Gegenwart des Mannes über das sprechen, was nur dem Bruder verständlich war, und um ein gemeinsames Gespräch unzuknüpfen, fing sie an, über die Neuigkeit, welche von Petersburg hierher gelangt war, zu reden, nämlich von dem Kummer der Mutter Kamenskaja, die ihren einzigen Soon verloren, der im Duell getötet worden. Ignatij Nikifotowitich äußerte seine Mißbilligung über eine Ordnung, bei welcher die Tötung im Duell aus der Reihe der allgemeinen Kriminalverbrechen ausgeschlossen ist.

Diese seine Bemerkung rief eine Erwiderung seitens Nechljudows hervor, und der Streit über dasselbe Thema entbrannte von neuem, wobei nichts zu Ende gesprochen ward, wobei die Diskutierenden sich nicht aussprachen, sondern bei ihren gegenseitig einander verurteilenden Ueberzeugungen blieben. Ignatij Nikiforowitsch fühlte, daß Nechljudow ihn verurteile, indem er seine ganze Thätigkeit verachte, und er wünschte, ihm die ganze Unrichtigkeit seines Urteils zu beweisen. Nechljudow aber, abgesehen von dem Unwillen, den er empfand, weil der Schwager sich in seine Angelegenheiten wegen des Bodens hineingemischt (in der Tiefe der Seele fühlte er, daß der Schwager und die Schwester und ihre Kinder, als seine Erben, ein Recht dazu hätten), war er in seiner Seele darüber empört, daß dieser beschränkte Mensch mit voller Ueberzeugung und Ruhe fortfuhr, das, was jetzt dem Nechljudow als unzweifelhaft sinnlos und frevelhaft erschien, für richtig und gesetzlich zu halten.

Diese Selbstgewißheit reizte den Nechljudow.

»Was würde denn das Gericht thun?« fragte Nechljudow.

»Er würde einen den beiden Duellanten, wie gewöhnliche Verbrecher, zur Zwangsarbeit verurteilen.«

Nechljudows Hände wurden wieder kalt, und er begann, wieder hitzig zu sprechen.

»Nun, und was würde dann?« fragte er.

»Es wäre gerecht.«

»Als ob die Gerechtigkeit das Ziel der richterlichen Thätigkeit bildete!« sagte Nechljudow.

»Was denn sonst?«

»Die Aufrechterhaltung den Klasseninteressen. Das Gericht ist, meinem Erachten nach, nur ein administratives Werkzeug zur Erhaltung der existierenden Ordnung der Dinge, die unserer Klasse vorteilhaft ist.«

»Das ist eine vollkommen neue Ansicht,« sagte mit ruhigem Lächeln Ignatij Nikiforowitsch. »Gewöhnlich wird dem Gericht eine etwas andere Bestimmung zugeschrieben.«

»Theoretisch, aber nicht praktisch, wie ich gesehen habe. Das Gericht hat zum Zwecke nur die Erhaltung der Gesellschaft in ihrer jetzigen Lage, und dazu verfolgt und züchtigt es sowohl diejenigen, die höher als das allgemeine Gesellschaftsniveau stehen und es heben wollen, — die sogenannten politischen Verbrecher, — wie auch diejenigen, die unter diesem Niveau stehen, — die sogenannten Verbrechertypen.«

»Ich kann nicht einverstanden sein, erstens damit, daß die Verbrecher, die sogenannten — politischen, darum gezüchtigt würden, weil sie höher als das Durchschnittsniveau stehen. Meistens sind sie ein Auswurf den Gesellschaft, ebenso verdorben, wenn auch in etwas anderer Art, als jene verbrecherischen Typen, die Sie für niedriger als das Durchschnittsniveau halten.«

»Ich kenne aber Menschen, die unvergleichlich höher stehen, als ihre Richter: alle Sektierer sind moralische Menschen, feste…«

Aber Ignatij Nikiforowitsch, in der Gewohnheit eines Menschen, den man nicht unterbricht, wenn er redet, hörte dem Nechljudow nicht zu, wodurch er ihn besonders aufbrachte, und fuhr fort, gleichzeitig mit dem Nechljudow zu sprechen.

»Ich kann auch damit nicht einverstanden sein, daß das Gericht die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Lage zum Ziel habe. Das Gericht verfolgt eigene Ziele, entweder der Korrektion…«

»Gute Korrektion — in den Kerkern,« schaltete Nechljudow ein.

»Oder der Beseitigung,« fuhr Ignatij Nikiforowitich hartnäckig fort, »der sittlich verdorbenen und jener tierähnlichen Leute, die die Existenz der Gesellschaft bedrohen.«

»Das ist es ja gerade, daß es weder das eine, noch das andere thut. Die Gesellschaft hat keine Mittel, es zu thun.«

»Wieso das? Ich verstehe nicht,« fragte Ignatij Nikiforowitsch, gezwungen lächelnd.

»Ich will sagen, daß es eigentlich nur zwei vernünftige Strafen gäbe, diejenigen, welche man im Altertum angewendet hat: körperliche Strafe und Todesstrafe, die aber infolge der Sittenmilderung immer mehr und mehr außer Gebrauch kommen,« sagte Nechljudow.

»Nun, daß ist neu und erstaunlich, von Ihnen zu hören.«

»Ja, es ist vernünftig, dem Menschen Schmerzen zuzufügen, damit er künftighin das nicht thue, wofür man ihm Schmerzen zugefügt, und es ist vollkommen vernünftig, einem für die Gesellschaft schädlichen Gliede den Kopf abzuhauen. Diese beiden Strafen haben einen vernünftigen Sinn. Aber welchen Sinn hat es, einen durch Müssiggang und schlechtes Beispiel verdorbenen Menschen ins Gefängnis einzusperren, unter Bedingungen einen gesicherten und pflichtmäßigen Müssiggangs, in die Gesellschaft der lasterhaftesten Leute? Oder irgend wozu auf Kronskosten — jeder kostet über 500 Rubel — aus dem Tulagouvernement in das Irkutskgouvernement zu transportieren, oder aus dem Kursk…«

»Dennoch aber fürchten die Leute diese Reisen auf Kronskosten; und wenn es diese Reisen und die Gefängnisse nicht gäbe, so säßen wir hier nicht so, wie wir jetzt sitzen.«

»Es können diese Gefängnisse unmöglich unsere Sicherheit garantieren, denn diese Leute sitzen nicht ewig dort, sondern sie werden entlassen. Im Gegenteil, in solchen Anstalten werden diese Leute bin zur größten Lasterhaftigkeit und Verdorbenheit gebracht, d. h. die Gefahr wird vergrößert.«

»Sie wollen sagen, daß das Pönitenzsystem vervollkommnet werden muß.«

»Man kann es nicht vervollkommnen. Die vervallkommneten Gefängnisse würden mehr kosten, als für Volksaufklärung ausgegeben wird, und würden sich als neue Last wieder auf dasselbe Volk legen.«

»Aber die Mängel des Pönitenzsystems invalidieren auf keinen Fall das Gericht selbst,« setzte Ignatij Nikiforowitsch seine Rede fort, wieder ohne dem Schwager zuzuhören.

»Es ist unmöglich, diese Mängel zu verbessern,« sprach Nechljudow, die Stimme erhebend.

»Nun was denn? Soll man töten? Oder wie ein Staatsmann vorgeschlagen, die Augen ausstechen?« sagte Ignatij Nikiforowitsch, siegreich lächelnd.

»Ja, es wäre grausam, aber zweckmäßig. Dies aber, was jetzt gemacht wird, ist grausam und nicht nur unzwechmäßig, sondern bin zu solchem Grade dumm, daß man nicht verstehen kann, wie geistig gesunde Menschen an einer solch unsinnigen und grausamen Sache, wie das Kriminalgericht, teilnehmen können.«

»Nun, ich nehme aber Teil daran,« sagte Ignatij Nikiforowitsch, erbleichend.

»Das ist Ihre Sache, aber ich verstehe es nicht.«

»Ich glaube, daß Sie vieles nicht verstehen,« sagte mit zitternder Stimme Ignatij Nikiforowitsch.

»Ich habe auf dem Gericht gesehen, wie der Staatsanwalt sich aus allen Kräften bemühte, einen unglücklichen Knaben zu verurteilen, der in jedem nicht perversen Menschen nur Mitleid hervorrufen würde; ich weiß, wie ein anderer Prokuror einen Sektierer verhörte und das Lesen des Evangeliums unter das Kriminalgesetz brachte, aber die ganze Thätigkeit den Gerichte besteht überhaupt nur in solchen sinnlosen und grausamen Handlungen.«

»Ich würde nicht dienen, wenn ich so dächte,« sagte Ignatij Nikiforowitsch und stand auf.

Nechljudow bemerkte ein besonderes Glänzen unter den Brillengläsern des Schwagers. ’Sind es wirklich Thränen?’ dachte Nechljudow. Und in den That, es waren Thränen der Beleidigung. Ignatij Nikiforowitwsch näherte sich dem Fenster, holte ein Taschentuch, und sich räuspernd, begann er die Brille abzuwischen; als er die Brille abnahm, wischte er auch die Augen ab. Als er zum Tisch zurückgekehrt war, rauchte er eine Cigarre an und sprach nichts meht. Dem Nechljudow wurde es weh ums Herz, und er schämte sich, weil er bis zu solchem Grade den Schwager und die Schwester beleidigt hatte, besonders weil er morgen abreisen und sie nicht mehr sehen sollte. Voller Bestürzung nahm er von ihnen Abschied und fuhr nach Hause.

‘Es ist leicht möglich, daß das, was ich gesprochen habe, wahr ist, wenigstens hat er mir nichts erwidert. Aber man sollte nicht so sprechen. Wie wenig habe ich mich verändert, wenn ich mich durch ein ungutes Gefühl so hinreißen lassen und ihn so beleidigen und die arme Natascha so betrüben konnte,’ dachte er.

34

Die Abteilung, mit welcher die Maslowa transportiert wurde, sollte um drei Uhr vom Bahnhof abgehen; um den Ausmarsch der Abteilung aus dem Gefängnis zu sehen und mit ihr zusammen den Bahnhof zu erreichen, war daher Nechljudow gesonnen, vor zwölf Uhr ins Gefängnis zu fahren.

Als Nechljudow seine Sachen und Papiere einpackte, hielt er bei seinem Tagebuch an und las einige Stellen noch einmal durch, auch das Letzte, was darin eingetragen worden. Zuletzt, vor seiner Abreise nach Petersburg, hatte Nechljudow geschrieben:

»Katjuscha will mein Opfer nicht, sondern sie will ihr eigenes. Sie hat gesiegt, und ich habe gesiegt. Sie erfreut mich durch die innere Umwandlung, die, wie mir scheint — ich fürchte mich, daran zu glauben, — in ihr vorgeht. Ich fürchte mich, daran zu glauben, aber mir scheint, daß sie wieder auflebt.« Ebenda, gleich danach, war aufgeschrieben: »Ich habe etwas sehr Schweres und sehr Freudiges erlebt. Ich habe erfahren, daß sie sich im Krankenhause nicht gut betragen hat. Und plötzlich wurde es mir schrecklich weh ums Herz. Ich hatte nicht erwartet — wie ser weh. Mit Widerwillen und Haß sprach ich mit ihr; dann plötzlich erinnerte ich mich an mich selbst, daran, wieviel mal ich, — und sogar jetzt — wenn auch nur in Gedanken — dessen schuldig gewesen bin, wofür ich sie haßte, und auf einmal wurde ich mit widerwärtig, und zugleich erschien sie mit bedauernswert, und es ward mir sehr wohl zu Mut. Wenn es nur immer gelänge, zu rechter Zeit des Balkens im eigenen Auge gewahr zu werden, — wieviel besser wären wir!« Unterm heutigen Datum hatte er eingeschrieben; »Ich bin bei Natascha gewesen, und eben in meiner Selbstzufriedenheit war ich nicht gut, war böse, und ein schweres Gefühl ist nachgeblieben. Aber was ist zu thun? Von morgen ab ein neues Leben. Adieu dem alten, und auf immer. Viele Eindrücke haben sich angehäuft, aber ich kann sie noch immer nicht zur Einheit bringen.«

Als Nechljudow am anderen Morgen erwacht war, hatte er zuerst Reue gefühlt über das, was gestern zwischen ihm und dem Schwager geschehen. ‘So kann man unmöglich wegreisen,’ dachte er, ‘man muß zu ihnen fahren, und es gut machen.’ Aber er blickte auf die Uhr und sah, daß er jetzt schon keine Zeit mehr dazu habe und sich eilen müsse, um zum Abmarsch der Abteilung nicht zu spät zu kommen. Nachdem er sich eilig reisefertig gemacht und den Portier und Taraß, den Mann der Fedossija, der mit ihm reisen sollte, mit den Sachen direkt auf den Bahnhof geschickt, nahm Nechljudow den ersten besten Mietskutscher und fuhr ins Gefängnis.

Der Gefangenenzug ging zwei Stunden vor dem Postzug, mit dem Nechljudow reiste, und so zahlte er seine letzten Rechnungen im Gasthause, da er nicht mehr zurückzukehren gedachte.

__________

Es war schwere Julihitze. Die während der schwülen Nacht nicht abgekühlten Steine der Straßen und der Häuser, sowie das Eisen der Dächer strahlten Wärme in die heiße unbewegliche Luft aus. Er ging kein Wind, und wenn er sich erhob, so brachte er eine vom Staub und vom Mißgeruch der Oelfarbe gesättigte, stinkende und heiße Lust daher. Wenig Leute waren auf den Straßen, und die da waren, bemühten sich, im Schatten der Häuser zu gehen. Nur von der Sonne schwarz gebrannte Pflasterer, Bauern in Bastschuhen, saßen mitten auf der Straße und klopften mit den Hammern auf die in den heißen Sand zu legenden Kieselsteine; die finsteren Polizeisoldaten in ihnen Röcken aus ungebleichter Leinwand, mit orangegelben Revolverschnüren, standen in der Mitte der Straße, mißmutig von einem Fuß auf den andern tretend; und die an einer Seite vor der Sonne verhängten Tramways, bespannt mit Pferden in weißen Decken mit durch die Schlitze ragenden Ohren, rollten klingelnd auf den Straßen auf und ab.

Als Nechljudow zum Gefängnis kam, war die Abteilung noch nicht abmarschiert, und im Gefängnis ging noch immer die um vier Uhr früh begonnene angestrengte Arbeit der Uebergabe und des In-Empfangnehmens der zu transportierenden Gefangenen vor sich. In der gegenwärtigen Abteilung waren 623 Männer und 64 Frauen; man mußte sie alle nach den Listen kontrollieren, Kranke und Schwache auslesen und den Eskortierenden übergeben. Der neue Inspektor, zwei Unterinspektoren, ein Arzt, ein Heilgehilfe, ein Eskorteoffizier und ein Schreiber saßen an dem auf den Hof in den Schatten der Mauer gestellten Tisch, mit Papieren und Kanzleimaterialien, und riefen einzeln auf, besahen, befragten und schrieben die, einer nach dem anderen zu ihnen herantretenden, Gefangenen ein.

Der Tisch war jetzt schon zur Hälfte von den Sonnenstrahlen überschwemmt. Es wurde heiß und besonders schwül wegen der Windstille und des Atmens der hier angehäuft stehenden Gefangenen.

»Aber was ist denn? Nimmt es kein Ende?« sprach, den Papyrosrauch einziehend, der hochgewachsene, dicke, rote, unaufhörlich durch den seinen Mund bedeckenden Schnurrbart rauchende Eskortechef mit den aufgezogenen Schultern und den kurzen Armen. »Totmüde bin ich. Woher haben Sie so viele zusammengesammelt? Wie viele sind noch nach?«

Der Schreiber erkundigte sich.

»24 Mann und die Frauen.«

»Nun, was steht ihr da, komm heran…« schrie der Eskorteoffizier auf die sich einer hinter dem andern drängenden Gefangenen ein, die noch nicht konntrolliert worden. Die Gefangenen standen schon mehr als drei Stunden in Reih und Glied, und nicht im Schatten, sondern in der Sonne, erwartend, daß sie an die Reihe kämen.

Diese Arbeit ging im Innern des Gefängnisses vor sich, außen aber, am Thor stand wie gewöhnlich eine Schildwache unter Gewehr, etwa zwanzig Lastfuhrwerke für die Habseligkeiten der Gefangenen und für die Schwachen, und an der Ecke war ein Häufchen von Verwandten und Freunden versammelt, die den Ausmarsch der Gefangenen erwarteten, um die Deportierten zu sehen, wo möglich sie zu sprechen und ihnen etwas mitzugeben.

Zu diesem Häufchen gesellte sich auch Nechljudow. Er stand da etwa eine Stunde. Gegen Ende dieser Zeit ließ sich hinter dem Thor ein Klirren der Ketten, das Gestampf der Tritte, die Stimmen der Obrigkeit, Husten und daß nicht laute Gerede eines großen Haufens hören. So danerte es etwa fünf Minuten, während deren die Aufseher durch das Pförtchen kamen und gingen. Endlich ertönte das Kommando. Das Thor öffnete sich mit donnerndem Getön, das Klirren der Ketten wurde hörbarer, und auf die Straße traten die Eskortesoldaten in den weißen Kitteln mit Gewehren und stellten sich, augenscheinlich mit einem ihnen bekannten, gewohnten Manöver, in einem regelmäßigen breiten Kreis vor dem Thor auf. —

Als sie sich hingestellt, ließ sich ein neues Kommando hören, und es begannen paarweise die Gefangenen mit pfannkuchenartigen Mützen auf den rasierten Köpfen, mit Säcken über der Schulter, die zusammengeschmiedeten Beine schleppend, herauszukommen, indem sie den einen freien Arm schwenkten und mit dem andern den Sack auf dem Rücken festhielten. Zuerst kamen die Zwangsarbeiter, — Männer, alle in gleichen grauen Hosen und Arrestantenröcken mit dem Carreau-Aß35 auf dem Rücken. Sie alle — Junge, Alte, Magete, Dicke, Blasse, Rote, Schwarze, Schnurrbärtige, Bärtige, Bartlose, Russen, Tataren, Juden kamen mit den Beinschellen klirrend und flink den einen Atm schwenkend heraus, als ob sie irgend einen weiten Weg vor hätten; aber nach etwa zehn Schritten blieben sie stehen und stellten sich gehorsam je vier in eine Reihe hintereinander. Gleich nach diesen strömten ohne Aufhalten aus dem Thor die ebenso rasierten Menschen, ohne Beinschellen, aber Arm mit Arm durch Handfesseln zusammengeschmiedet, in eben solcher Kleidung. Das waren die Verbannten. Sie kamen ebenso flink heraus, blieben stehn und stellten sich ebenso je vier in eine Reihe.

Dann kamen die von Gemeindewegen Verschickten. Dann die Frauen, ebenso der Reihe nach: zuerst die Zwangsarbeiterinnen in grauen Gefängniskaftans und Kopftüchern. Dann die verbannten Frauen, und die freiwillig folgenden in ihren eigenen städtischen und dörflichen Kleidern. Einige Frauen trugen ihre Säuglinge vorn eingesteckt in den grauen Kaftan.

Mit den Frauen zusammen kamen die Kinder — Knaben und Mädchen auf eigenen Füßen. Diese Kinder, wie die Füllen in der Herde, drängten sich zwischen den Arrestantinnen. Die Männer stellten sich schweigend auf, nur hie und da sich räuspernd oder kurze Bemerkungen machend. Zwischen den Frauen ließ sich ein unaufhörliches Sprechen hören. Dem Nechljudow schien es, daß er die Maslowa erkannt habe, als sie herauskam, dann aber verlor sie sich in der großen Menge der andern, und er sah nur einen Haufen grauer, der menschlichen, besonders der weiblichen Eigenschaften gleichsam beraubten Wesen mit Kindern und Säcken, die sich hinter den Männern aufstellten. —

Trotzdem man alle Gefangenen in den Gefängnismauern gezählt, fingen die Eskortierenden wieder an, sie zu zählen und mit der früheren Anzahl zu vergleichen. Diese nochmalige Zählung dauerte lange, besonders weil einige Gefangene sich bewegten, indem sie ihren Platz wechselten und dadurch das Zählgeschäft der Eskortierenden störten. Die Eskortesoldaten schimpften und stießen die unterwürfig, aber böslich Gehorchenden und zählten sie noch einmal. Als man alle wieder gezählt hatte, kommandierte der Eskorteoffizier etwas, und in dem Haufen entstand eine Verwirrung; die schwachen Männer, Frauen und Kinder begaben sich, einander überholend, zu den Fuhren und begannen dort ihre Säcke zu plazieren und dann selber hinauf zu klettern. Es kletterten hinauf und setzten sich die Frauen mit den schreienden Säuglingen, die lustigen und um die Plätze streitenden Kinder und die niedergeschlagenen, finsteren Arrestanten.

Einige Arrestanten mit abgenommenen Mützen traten zu dem Eskorteoffizier heran und baten ihn um etwas. Wie Nechljudow später erfuhr, baten sie ihn um Erlaubnis, fahren zu dürfen. Nechljudow sah, wie der Eskorteoffizier schweigend und ohne den Bittsteller anzusehen, den Papyrosrauch einzog, wie er dann plötzlich mit seinem kurzen Arm gegen den Gefangenen ausholte, und wie dieser, den Schlag erwartend, seinen rasierten Kopf zwischen die Schultern zog und von ihm wegsprang.

»Ich werde dich so zum Edelmann befördern, daß du es lange nicht vergißt. Kannst zu Fuß gehen!« schrie der Offizier.

Nur einen schwankenden langen Alten mit Beinschellen ließ der Offizier zu dem Fuhrwerk, und Nechljudow sah, wie dieser Alte, seine pfannkuchenartige Mühe abnehmend, sich bekreuzte und sich zu den Fuhren begah, wie er dann lange nicht hinaufklettern konnte wegen der Beinschellen, die ihn hinderten, das alte, schwache, eingeschmiedete Bein zu erheben, und wie ein schon auf der Fuhre sitzendes Weib ihm half, indem sie ihn an der Hand hinaufzog.

Als alle Fuhren mit den Säcken gefüllt waren, und auf die Säcke sich diejenigen, denen es erlaubt worden, hingesetzt, nahm der Eskorteoffizier die Mütze ab, wischte die Stirn, die Glatze und den dicken roten Hals mit dem Sacktuch ab und bekreuzte sich.

»Ganze Abteilung marsch!« kommandierte er.

Die Soldaten klirrten mit den Flinten, die Gefangenen nahmen die Mützen ab und begannen, — einige mit der Linken, — sich zu bekreuzen, die Begleitenden schrieen etwas, die Gefangenen schrieen etwas zur Antwort, unter den Frauen erhob sich ein Geheul, und die Abteilung, von den Soldaten in weißen Kitteln umgeben, bewegte sich, indem sie den Staub mit den kettengefesselten Füßen aufrührten, vorwärts.

Voran gingen die Soldaten, hinter ihnen mit den Ketten klirrend, die Beinschellenträger, je vier in einer Reihe; hinter ihnen die Verbannten, dann die von den Gemeinden Verschickten, je zwei mit den Handschellen zusammengeschmiedet, denn die Frauen. Darauf folgten die mit den Säcken und den Schwachen beladenen Fuhrwerke; auf einem derselben saß hoch eine eingehüllte Frau und winselte und schluchzte ohne Aufhören.

35

Der Zug war so lang, daß, als Nechljudow die Vordern aus dem Gesicht verloren, sich die Fuhren mit den Säcken und den Schwachen eben erst in Bewegung setzten. Sobald sich die Wagen bewegten, stieg Nechljudow in die ihn erwartende Mietsdroschke und hieß den Kutscher die Abteilung üherholen, um zu sehen, ob zwischen den Männern irgend welche bekannte Gefangene seien, und dann um zwischen den Frauen die Maslowa aufzusuchen und sie zu fragen, ob sie die ihr geschickten Sachen bekommen.

Es ward sehr heiß. Es ging kein Wind, und der von tausend Füßen aufgerührte Staub stand die ganze Zeit über den Gefangenen, die sich in der Mitte der Straße vorwärts bewegten. Die Gefangenen gingen mit raschem Schritt, und der nicht zu schnell trabende Droschkengaul, mit dem Nechljudow fuhr, überholte sie nur langsam.

Reihe auf Reihe hingen die unbekannten Wesen von seltsamem und schrecklichem Aussehen vorüber, die tausend gleichbeschuhte und bekleidete Beine bewegten, und beim Takt der Schritte, gleichsam sich ermunternd, die freien Arme schwenkten. Es waren ihrer so viele, so gleichförmig waren sie, und in einer so eigentümlichen und seltsamen Lage befanden sie sich, daß es dem Nechljudow schien, es seien keine Menschen, sondern irgend welche besondere, fürchterliche Geschöpfe. Dieser Eindruck ward in ihm nur dadurch zerstört, daß er im Haufen der Zwangsarbeiter den Gefangenen, den Mörder Fedorow, erkannte, und unter den Verbannten den ihm ebenso bekannten Komiker Ochotin und noch einen Vagabunden, der sich an ihn gewandt hatte. Fast alle Gefangenen blickten sich um und schielten nach der sie überholenden Droschke und nach dem darin sitzenden und sie genau musternden Herrn. Fedorow warf den Kopf in die Höhe, zum Zeichen, daß er den Nechljudow erkannt. Ochotin winkte ihm mit einem Auge zu. Aber weder dieser, nach jener grüßte ihn, da sie es für unstatthaft hielten. Als Nechljudow die Frauen eingeholt hatte, erblickte er sogleich die Maslowa. Sie ging in den zweiten Reihe der Frauen. Als die erste in der Reihe ging eine rotgewordene, kurzbeinige, schwarzäugige, häßliche Frau, die den Gefängnisschlafrock mit dem Gürtel aufgeschürzt hatte; das war die Choroschawka. Daneben ging eine schwangere, kaum die Beine schleppende Frau, und die dritte war die Maslowa. Sie trug einen Sack über der Schulter, und sah grade vor sich hin. Ihr Gesicht war ruhig und entschlossen. Die vierte in der Reihe mit ihr war eine munter marschierende, junge, schöne Frau in kurzem Schlafrock und mit auf Frauenart geknüpftem Kopftuch, — das war Fedossija. Nechljudow stieg von der Droschke ab und näherte sich den sich bewegenden Frauen, im Begriff, die Maslowa nach den Sachen und nach ihrem Ergehen zu befragen; aber der Eskorteunteroffizier, der an dieser Seite der Abteilung ging, bemerkte sofort den herantretenden Nechljudow und lief auf ihn zu.

»Man darf nicht, Herr, sich der Abteilung nähern, — ist nicht gestattet,« — schrie er, herantretend.

Als er schon ganz nahe war und Nechljudows Gesicht erkannte (im Gefängnis kannten schon alle den Nechljudow), legte der Unteroffizier den Finger an die Mütze und neben dem Nechljudow stehen bleibend, sagte er:

»Jetzt geht es nicht. Auf dem Bahnhof können Sie, — hier aber ist es nicht gestattet. Bleib nicht zurück! Marsch!« schrie er die Gefangenen an, und trotz der Hitze sich munter zeigend, trabte er in seinen neuen stutzerhaften Stiefeln auf seinen Platz hin.

Nechljudow kehrte auf das Trottoir zurück, hieß den Mietskutscher ihm nachfahren, und ging zu Fuß, die Abteilung nicht aus den Augen lassend. Wo die Gefangenenabteilung auch ging, lenkte sie überall eine mit Mitleid und Grauen gemischte Aufmerksamkeit auf sich. Die Vorbeifahrenden reckten sich aus den Equipagen hinaus, und so lange sie sehen konnten, begleiteten sie die Gefangenen mit den Augen. Die Passanten blieben stehen und blickten verwundert und erschrocken auf das schreckliche Schauspiel. Einige näherten sich und gaben Almosen. Die Almosen nahmen die Eskortesoldaten in Empfang. Einige gingen, wie hypnotisiert, der Abteilung nach, blieben dann stehen und folgten, den Kopf schüttelnd, ihr nur mit den Augen. Aus den Anfahrtsthüren und Thoren liefen, einander zurufend, die Leute und streckten sich zu den Fenstern hinaus und blickten schweigend und unbeweglich auf den fürchterlichen Zug. Aus einem der Kreuzwege verhinderte die Abteilung eine reiche Kalesche am Durchfahren. Aus dem Kutschbock saß ein Kutscher mit blankem Gesicht und dicker Rückseite, mit Reihen von Knöpfen auf dem Rücken; in der Kalesche im Fond saßen ein Mann und eine Frau; die Frau mager und bleich, mit hellem Hut und grellfarbigem Sonnenschirm; der Mann im Cylinder, mit hellem, stutzerhaftem Paletot. Ihnen gegenüber saßen ihre Kinder: ein herausgeputzted Mädchen, frisch wie ein Blümchen, mit aufgelöstem blodem Haar, und ebenfalls mit einem grellen Schirm, und ein achtjähriget Knabe, mit langem, magerem Hals und hervortretenden Schlüsselbeinen, im Matrosenhut mit langen Bändern. Aergerlich warf der Vater dem Kutscher vor, daß er nicht rechtzeitig der sie aufhaltenden Abteilung ausgewichen sei, und die Mutter kniff die Augen mit Abscheu zusammen und runzelte die Stirn, indem sie sich vor der Sonne und dem Staub mit dem seidenen Schirm schützte, den sie tief über ihr Gesicht senkte.

Der Kutscher mit der dicken Rückseite zog böse die Augenbrauen zusammen, indeß er die ungerechten Vorwürfe des Herrn anhörte, der selber ihm befohlen, diese Straße zu fahren; er hielt mit Mühe das Paar glänzender, rabenschwarzer Hengste fest, die unter den Kummetstöcken und unterm Hals mit Schaum bedeckt waren und vorwärts drängten.

Der Polizeisoldat wünschte von ganzer Seele, dem Besitzer der reichen Kalesche gefällig zu sein und ihn durchzulassen, indem er die Gefangenen zurückhielt; aber er fühlte, daß in diesem Zug eine düstere Feierlichkeit lag, die man nicht einmal eines so reichen Herrn wegen zerstören könne. Er legte nur die Hand an den Mützenschirm, als Zeichen seiner Achtung vor dem Reichtum, und sah die Gefangenen strenge an, gleichsam versprechend, daß er auf jeden Fall die in der Kalesche Sitzenden vor ihnen schützen werde.

So mußte die Kalesche warten, bis der ganze Zug vorüber war, und erst dann setzte sie sich in Bewegung, als der letzte Lastfuhrmann vorbeigerasselt war, mit den Säcken und den auf ihnen sitzenden Arrestantinnen, unter welchen die hysterische Frau, die fast schon still geworden, wieder zu winseln und zu schluchzen begann, als sie die reiche Kalesche erblickte. Erst dann schüttelte der Kutscher leicht die Zügel, und die rabenschwarzen Traber, mit den Hufeisen auf dem Pflaster klirrend, jagten mit der weich auf den Gummirädern erzitternden Kalesche hinaus aufs Land, wohin der Mann, die Fran, das Mädchen und der Knabe mit dem dünnen Hals und den vorstehenden Schlüsselbeinen fuhren, um sich aufzuheitern.

Weder der Vater noch die Mutter gaben dem Mädchen oder dem Knaben eine Erklärung dessen, was sie gesehen, so daß die Kinder selber die Frage nach der Bedeutung dieses Schauspiels lösen mußten.

Das Mädchen zog den Gesichtsausdruck von Vater und Mutter in Betracht und entschied danach die Frage so, daß dies ganz andere Menschen seien, als ihre Eltern und ihre Bekannten; daß es schlechte Leute seien, und daß man darum gerade so mit ihnen verfahren sollte, wie man mit ihnen verfahren war. Und daher war es dem Mädchen nur ängstlich zu Mute, und sie war froh, als man diese Leute nicht mehr sah.

Aber der ohne zu blinzeln und ohne die Augen abzuwenden den Gefangenenzug betrachtende Kinahe mit dem langen mageren Hale entschied die Frage anders.

Er wußte immer noch fest und unzweifelhaft, nachdem er es von Gott selbst erfahren, daß dies ebensolche Menschen waren, wie er selbst und wie alle Menschen, und daß folglich jemand an diesen Leuten etwas Schlechtes verübt, das man nicht thun sollte; und es ward ihm weh um sie, und er empfand ein Grauen, wowohl vor den Leuten, die gefesselt und rasiert waren, wie vor denjenigen, die sie gefesselt und rasiert hatten. Und darum zog er mehr und mehr die Lippen breit, und machte große Anstrengungen, um nicht aufzuweinen, denn er glaubte, daß in solchen Füllen zu weinen, eine Schande sei.

36

Nechljudow ging mit ebenso raschem Schritt, wie die Gefangenen gingen, und er war sogar ihm, dem leicht angezogenen, in seinem dünnen Paletot fürchterlich heiß und vor allem schwül vom Staub, und von der unbeweglichen heißen Luft, die in der Straße stockte.

Nachdem er eine Viertelwerst gegangen, setzte er sich in die Mietskutsche und fuhr voran, aber inmitten der Straße, in der Droschke, erschien es ihm noch heißer. Er versuchte, bei sich die Gedanken an das gestrige Gespräch mit dem Schwager hervorzurufen, aher jetzt regten ihn diese Gedanken nicht mehr so auf, wie am Morgen. Sie waren von den Eindrücken des Ausmarsches aus dem Gefängnis und des weiteren Ganges der Abteilung verdeckt. Hauptsächlich aber war es drückend heiß. Bei dem Plankenzaun, im Schatten der Bäume, standen mit abgenommenen Mützen zwei Knaben, — Realschüler — vor dem Verkäufer von Gefrorenem, der auf den Knieen hockte. Einer der Knaben erquickte schon sein Herz, das Hornlöffelchen absaugend; der andere wartete nach auf das Gläschen, das man ihm mit etwas Gelbem gehäuft füllte.

»Wo könnte ich hier etwas trinken?« fragte Nechljudow seinen Mietskutscher, da er eine unüberwindliche Lust sich zu erfrischen fühlte.

»Gleich, hier — eine gute Wirtschaft!« sagte der Mietskutscher, und um die Ecke biegend, fuhr er den Nechljudow zu einer Anfahrt mit einem großen Aushängeschild.

Ein aufgedunsener Büffetier hinter dem Schenktisch, im russischen Hemd, und ehemals weiß gewesene Kellner, die wegen Abwesenheit den Gästen selber an den Tischen saßen, betrachteten mit Neugier den ungewohnten Gast und boten ihm ihre Dienste an. Nechljudow verlangte Selterwasser und setzte sich etwas weiter vom Fenster weg an einen kleinen Tisch mit schmutziger Decke.

An einem andern kleinen Tisch saßen zwei Männer beim Theeservice und einer Flasche aus weißem Glas, wischten sich den Schweiß von der Stirn, und rechneten friedfertig etwas aus. Einer von ihnen war schwarz und kahl mit einem ebensolchen Kranz schwarzer Haare um den Nacken, wie ihn Ignatij Nikiforowitsch hatte. Dieser Eindruck erinnerte den Nechljudow wieder an das gestrige Gespräch mit dem Schwager und an den Wunsch, ihn und die Schwester vor der Abreise zu sehen…‘Kaum werde ich Zeit haben vor dem Zug;’ dachte er ‘lieber schreibe ich ihnen einen Brief!’ Er verlangte Papier, Briefcouvert und eine Postmarke und fing an, das frische brausende Wasser schlürfend, zu überlegen, was er schreiben solle. Aber seine Gedanken liefen auseinander, und er konnte den Brief auf keine Weise zu Stande bringen.

»Liebe Natascha, ich kann nicht wegreisen unter dem schweren Eindruck des gestrigen Gespräches mit Ignatij Nikitorowitisch…,« begann er. ‘Aber was weiter? Um Verzeihung bitten für das, was ich gestern gesagt habe? Aber ich habe gesagt, was ich dachte. Und er wird glauben, daß ich es widerrufe. Und dann diese seine Einmischung in meine Angelegenheiten …Nein ich kann nicht…!’ — und den sich in ihm wieder erhebenden Haß gegen den fremden, selbstgewissen, ihn nicht verstehenden Mann fühlend, steckte Nechljudow den nicht beendeten Brief in die Tasche, zahlte, ging auf die Straße hinaus und fuhr, um die Abteilung wieder einzuholen.

Die Hitze verstärkte sich noch. Wände und Steine atmeten gleichsam heiße Luft aus. Das heiße Pflaster schien die Füße zu versengen, und Nechljudow empfand etwas in der Art wie eine Brandwunde, als er mit der nackten Hand den lackierten Flügel der Droschke berührte.

Das Pferd, gleichmäßig mit den Hufeisen auf das staubige und unebene Pflaster klopfend, schleppte sich in trägem Trabe über die Straßen. Der Mietskutscher schlummerte fortwährend ein; Nechljudow saß, ohne etwas zu denken, und sah gleichgültig vor sich hin. Auf dem Abhang der Straße, dem Thor eines Hauses gegenüber, stand ein Häufchen Leute und ein Eskortesoldat mit dem Gewehr.

Nechljudow ließ den Kutscher halten.

»Was ist?« fragte er einen Hausbesorger.

»Etwas mit einem Arrestanten.«

Nechljudow stieg aus der Droschke und näherte sich dem Häufchen der Leute. Auf den unebenen Steinen des gegen das Trottoir abfallenden Pflasters lag — der Kopf niederer als die Beine — ein breitschultriger, nicht mehr junger Gefangener, mit rotem Bart, rotem Gesicht und platter Nase, im grauen Gefängnisrock und ebensolchen Hosen. Er lag rücklings mit nach unten geöffneten Handflächen seiner mit Sommersprossen bedeckten Hände, und in großen Pausen schluchzte er auf aus der hohen, breiten, gleichmäßig zuckenden Brust, indem er mit den starr gewordenen blutunterlaufenen Augen zum Himmel aufsah. Um ihn standen ein sinisterer Polizeisoldat, ein Hausierer, ein Briefträger, ein Kommis, eine alte Frau mit einem Sonnenschirm und ein kurzgeschorener Knabe mit einem leeren Korbe.

»Sie sind vom Sitzen im Gefängnis schwach geworden, entkräftet, und man führt sie gerade bei dieser Höllenhitze,« verurteilte der Kommis jemanden, gegen den Nechljudow gewendet.

»Er wird sterben, gewiß,« sprach die Frau mit dem Sonnenschirm mit weinender Stimme.

»Man muß ihm das Hemd öffnen,« sagte der Briefträger.

Der Polizeisoldat begann ungeschickt mit den dicken zitternden Fingern die Bänder an dem sehnigen roten Halse aufzuknoten. Er war sichtbar aufgeregt und verwirrt, aber er hielt es dennoch für nötig, sich gegen den Haufen zu wehren.

»Was habt ihr euch da versammelt? So wie so heiß! Gegen den Wind steht ihr.«

»Der Arzt sollte sie untersuchen, — die schwach sind, zurücklassen. Aber man führt sogar diesen Halbtoten mit,« sprach der Kommis, augenscheinlich mit seiner Kenntnis der Ordnung prunkend.

Der Stadtpolizist löste die Bänder des Hemdes, richtete sich auf und blickte sich um.

»Geht auseinander, sage ich. Es geht ja euch nicht an; was habt ihr da zu sehn!« sprach er, und wendete sich um Zustimmung an den Nechljudow. Aber da er keinen Beifall in seinem Blick las, so sah er sich nach dem Eskortesoldaten um. Doch der Eskortesoldat stand abseits, besah seinen abgelaufenen Absatz und war gegen die Verlegenheit des Polizeisoldaten vollständig gleichgültig.

»Die es angeht, kümmern sich ja nicht darum; Menschen so umkommen lassen, ist denn das eine Ordnung?«

»Gefangener oder nicht — er ist doch ’n Mensch,« sprach man in dem Haufen.

»Legen Sie ihm den Kopf höher, und geben Sie ihm Wasser,« sagte Nechljudow.

»Jemand ist schon gegangen, Wasser holen,« antwortete der Polizeisoldat, nahm den Gefangenen unter die Arme und schleppte mit Mühe den Rumpf etwas höher.

»Was für eine Ansammlung!« ließ sich entschieden eine obrigkeitsmäßige Stimme vernehmen, und zu dem um den Arrestanten versammelten Häufchen von Menschen trat mit raschen Schritten ein Polizeiaufseher in einem ungewöhnlich sauberen und glänzenden Kittel und in noch glänzenderen hohen Stiefeln.

»Auseinandergehen! Nicht mehr hier stehen!« schrie er den Haufen an, obgleich er noch nicht sah, weswegen sich die Menge versammelt hatte. Als er dicht herangetreten war und den sterbenden Gefangenen sah, machte er mit dem Kopf ein beifälliges Zeichen, als ob er grade dies erwartet habe, und wandte sich an den Polizeisoldaten.

»Wieso?«

Der Polizeisoldat meldete, daß eine Gefangenenabteilung vorbeigegangen, und daß ein Gefangener umgefallen sei; der Eskorteoffizier hatte befohlen, ihn zurückzulassen.

»Nun, was denn? Man muß ihn auf den Polizeiposten bringen. Mietskutscher!«

»Ein Hausbesorger ist nach einem gelaufen,« sagte der Polizeisoldat, die Hand an den Mützenschirm legend.

Der Kommis fing etwas von der Hitze an.

»Ist es deine Sache? Ha? Geh’ deiner Wege,« stieß der Polizeiaufseher hervor und blickte ihn so streng an, daß der Kommis verstummte.

»Man muß ihm etwas Wasser zu trinken geben,« sagte Nechljudow.

Der Polizeiaufseher blickte auch den Nechljudow streng an, sagte aber nichts. Als nun der Hausbesorger Wasser in einem Krug gebracht, hieß er den Polizeisoldaten, es dem Gefangenen reichen. Der Polizeisoldat richtete den zurückgesunkenen Kopf auf und versuchte, ihm Wasser in den Mund zu gießen, aber der Gefangene nahm es nicht; das Wasser ergoß sich über den Bart, indem es auf der Brust die Jacke und das staubige hänfene Hemd durchnäßte.

»Gieß es ihm über den Kopf!« kommandierte der Polizeiaufseher, und der Polizeisoldat nahm die pfannkuchenartige Mütze ab und goß das Wasser sowohl auf die roten krausen Haare, wie auch auf den nackten Schädel. Die Augen des Arrestanten öffneten sich, gleichsam erschrocken, ein wenig mehr, die Lage aber änderte er nicht. Ueber sein Gesicht flossen die vom Staube schmutzigen Ströme, sein Mund aber schluchzte ebenso gleichmäßig, und sein ganzer Leib erzitterte.

»Warum denn nicht dieser? Diesen nehmen,« wandte sich den Polizeiaufseher an den Polizisten, auf Nechljudows Mietskutscher zeigend. »Fahr vor, he, du!«

»Besetzt,« brachte finster, ohne die Augen zu erheben, der Mietskutscher hervor.

»Das ist mein Mietskutscher,« sagte Nechljudow, »aber nehmen Sie ihn, ich zahle,« fügte er hinzu, sich an den Mietskutscher wendend.

»Nun, war steht ihr!« schrie der Polizeiaufseher, »faß an!«

Der Polizist, die Hausbesorger, der Eskortesoldat hoben den Sterbenden auf, trugen ihn zur Droschke und setzten ihn auf den Sitzplatz. Aber er konnte sich nicht selber halten, sein Kopf fiel wieder zurück, und sein ganzer Körper rutschte vom Sitz.

»Leg ihn hin!« kommandierte der Polizeiaufseher.

»Macht nichts, Euer Wohlgeboren, ich werde ihn schon so hinfahren,« sagte der Polizist, indem es sich fest neben den Sterbenden auf den Sitz setzte und ihn mit der starken rechten Hand unter der Achsel faßte.

Der Eskortesoldat hob die mit den Gefängnispantoffeln ohne Fußlappen beschuhten Füße, stellte sie hin und zog sie unter dem Kutschbock heraus.

Der Polizeiaufseher blickte sich um, und die pfannkuchenartige Mütze des Arrestanten auf dem Pflaster gewahrend, hob er sie auf und setzte sie auf den zurückfallenden, nassen Kopf.

»Marsch!« kommandierte er.

Der Mietskutscher blickte sich ärgerlich um, schüttelte den Kopf, und in Begleitung des Eskortesoldaten bewegte er sich im Schritt zurück zum Kreisgebäude. Der bei dem Arrestanten sitzende Polizist umfaßte immer wieder den rutschenden Körper mit dem nach allen Seiten schaukelnden Kopf.

Der Eskortesoldat ging daneben und legte die Beine zurecht.

Nechljudow ging ihnen nach.

37

Als die Droschke mit dem Arrestanten zum Polizeiamt gelangte, fuhr sie, an einer Feuerwehrwache vorbei, in den Hof des Kreispolizeigebäudes hinein und hielt bei einer der Anfahrten still. Auf dem Hofe wuschen die Feuerwehrleute mit aufgestreiften Aermeln, laut sprechend und lachend, irgend ein Wagengestell.

Sobald die Droschte hielt, ward sie van einigen Polizeisoldaten umringt, die den leblosen Körper des Gefangenen unter die Achseln und an den Beinen faßten und ihn von der unter ihnen kreischenden Droschke herunterhoben. Der Polizist, der den Gefangenen gebracht, war von der Droschke abgestiegen, schwenkte ein wenig mit dem steifgewordenen Arm, nahm die Mütze ab und bekreuzte sich; den Toten aber trug man durch die Thür und die Treppe hinan.

Nechljudow ging ihnen nach.

In dem kleinen schmutzigen Zimmer, worin man den Toten gebracht, waren vier Betten. Auf zweien derselben saßen zwei Kranke in Schlafröcken: der eine mit schiefem Munde und umbundenem Hals, der andere — ein Schwindsüchtiger. Zwei Betten waren frei. Auf eins derselben legte man den Gefangenen. Ein kleiner Mann mit glänzenden Augen und mit sich unaufhorlich bewegenden Augenbrauen, nur in Unterkleidern und Strümpfen, kam mit raschen weichen Schritten zu dem eben gebrachten Gefangenen, blickte ihn, dann den Nechljudow an und brach in lautes Lachen aus. Es war ein Wahnsinniger, der sich in dem Sanitätszimmer befand.

»Man will mir ’n Schreck einjagen,« fing er an, »aber nein, es wird nichts draus.«

Gleich nach den Polizisten, die den Toten gebracht hatten, traten ein Polizeiaufseher und ein Heilgehilfe ein.

Der Heilgehilfe näherte sich dem Toten, betastete die schon kalte, gelbliche, mit Sommersprossen bedeckte, noch weiche, aber bereits tötlich bleiche Hand des Gefangenen, hielt sie eine Zeit lang und ließ sie dann los. Sie fiel leblos auf den Leib des Toten.

»Fertig,« sagte der Heilgehilfe, mit dem Kopf nickend, aber, augenscheinlich der Ordnung wegen, öffnete er das nasse, rohe Hemd des Toten, und sein krauses Haar vom Ohr zurückschiebend, legte er es an die gelbliche, unbewegliche, hohe Brust des Arrestanten. Alle schwiegen. Der Heilgehilfe richtete sich auf, schüttelte nach einmal den Kopf und berührte mit dem Finger erst das eine, dann das andere Augenlid über den geöffneten, starren blauen Augen.

»Ihr könnt mich nicht erschrecken, ihr könnt mich nicht erschrecken,« sprach der Wahnsinnige, der die ganze Zeit in der Richtung nach dem Heilgehilfen spuckte.

»Wie ist’s?« fragte der Polizeiaufseher.

»Wie’s ist?« wiederholte der Heilgehilfe, »in die Totenkammer muß man ihn schaffen.«

»Sehen Sie zu, ob’s wirklich so weit ist,« fragte der Polizeiaufseher.

»Es ist nicht das erste Mal,« sagte der Heilgehilfe, der aus irgend einem Grunde die aufgedeckte Brust des Toten zudeckte. »Sonst schicke ich nach dem Matwej Iwanytsch, er soll ihn ansehen. Petrow, geh,« sagte der Heilgehilfe, und trat von dem Toten weg.

»In die Totenkammee bringen,« sagte der Polizeiaufseher. »Du aber komme dann in die Kanzlei, wirst’s bescheinigen,« fügte er gegen den Eskortesoldaten hinzu, der die ganze Zeit nicht von dem Gefangenen gewichen war.

»Zu Befehl,« antwortete der Eskortesoldat.

Die Polizisten hoben den Toten auf und trugen ihn wieder die Treppe hinab. Nechljudow wollte ihnen nachgehen, aber der Wahnsinnige hielt ihn auf.

»Sie gehören ja nicht zur Verschwörung? Dann geben Sie mir eine Papyros!« sagte er.

Nechljudow holte die Papyrosdose hervor und gab ihm.

Der Wahnsinnige begann, die Augenbrauen bewegend und sehr rasch sprechend, zu erzählen, wie man ihn mit Suggestionen quäle.

»Sie sind ja alle gegen mich, und sie quälen mich, peinigen mich durch ihre Medien.«

»Verzeihen Sie,« sagte Nechljudow, und ohne ihn zu Ende zu hören, ging er auf den Hof hinauf, da er wissen wollte, wohin der Tote gebracht werde.

Die Polizeisoldaten hatten mit ihrer Last schon den ganzen Hof passiert und traten nun in die Anfahrt des Erdgeschosses. Nechljudow wollte sich ihnen nähern, aber der Polizeiaufseher hielt ihn an.

»Was wollen Sie?«

»Nichts,« antwortete Nechljudow.

»Nichts? So gehn Sie weg.«

Nechljudow fügte sich und ging zu seiner Droschke. Sein Mietskutscher schlummerte. Nechljudow weckte ihn und fuhr weiter zum Bahnhof.

Sie hatten nicht einmal hundert Schritte zurückgelegt, als ihm eine wieder von einem Eskortesoldaten mit dem Gewehr begleitete Lastfuhre begegnete, auf der ein anderer, offenbar schon gestorbener Gefangener lag. Der Gefangene lag in dem Wagen auf dem Rücken, und sein rasierter Kopf mit dem schwarzen Bärtchen, der mit der pfannkuchenartigen, bis zur Nase übers Gesicht heruntergerutschten Mütze bedeckt war, wurde gerüttelt und bei jedem Stoß des Fuhrwerks angeschlagen. Der Lastführer in dicken Stiefeln ging daneben und lenkte das Pferd. Hinten ging ein Polizeisoldat.

Nechljudow berührte den Mietskutscher an der Schulter.

»Was machen die Leute auch!« sagte der Mietskutscher, das Pferd anhaltend.

Nechljudow stieg aus der Droschke und ging, hinter dem Lastwagen her, wieder an der Feuerwehrwache vorbei, in den Hof des Kreisgebäudes. Die Feuerwehrleute auf dem Hofe waren jetzt schon mit dem Waschen des Wagens fertig, und an ihrem Platze stand ein hochgewachsener, knochiger Brandmajor mit der Uniformmütze; und die Hände in die Taschen gesteckt, sah er streng auf einen feisten falben Hengst mit dickem Hals, den ein Feuerwehrmann vor ihm hin und her führte. Der Hengst hinkte ein wenig auf einem Vorderfuß, und der Brandmajor sprach ärgerlich zu einem daneben stehenden Veterinär.

Der Polizeiaufseher stand auch da. Als er den zweiten Toten sah, näherte er sich dem Lastfuhrmann.

»Wo hat man ihn aufgehoben?« fragte er und schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Auf der alten Gorbatowskaja-Straße,« antwortete der Polizist.

»Ein Gefangener?« fragte den Brandmajor.

»Ja wohl. Der zweite heute,« sagte der Polizeiaufseher.

»Na, das ist eine Ordnung! Aber er ist auch ’ne Hitze,« sagte den Brandmajor, und sich an den den lahmen Falben wegführenden Feuerwehrmann wendend, schrie er:

»Stell ihn in den Eckkastenstand. Und dich, Hundesohn, werde ich lehren, wie man Pferde verstümmelt, die mehr wert sind als du, Schelm!«

Die Polizisten hoben den Toten, ebenso wie den ersten, von den Fuhre und trugen ihn in das Sanitätszimmer. Nechljudow, wie hypnotisiert, ging ihnen nach.

»Was wollen Sie?« fragte ihn ein Polizist.

Er ging, ohne zu antworten, wohin man den Toten trug. —

Der Wahnsinnige saß auf dem Bett und rauchte gierig die Papyros, die ihm Nechljudow gegeben.

»Ah, sind Sie zurück,« sagte er und brach in Lachen aus. Als er den Toten sah, machte er eine sauere Miene. »Wieder,« sagte er. »Er wird mir schon über, ich bin doch kein Kind? Nicht wahr?« wandte er sich mit fragendem Lächeln an den Nechljudow.

Nechljudow sah unterdessen auf den Toten, den jetzt niemand mehr vor ihm verdeckte, und dessen ganzes früher unter der Mütze verborgenes Gesicht jetzt sichtbar war. Wie mißgestaltet jener Gefangene war, so ungewöhnlich schön war dieser, sowohl von Gesicht wie von ganzem Körper. Dies war ein Mensch im vollen Aufblühen der Kräfte. Trotz der durchs Rasieren entstellten Hälfte des Kopfes war die nicht hohe gewölbte Stirn mit Erhöhungen über den schwarzen jetzt leblosen Augen sehr schön, ebenso wie die nicht große Nase mit dem kleinen Höcker über dem feinen schwarzen Schnurrbart. Die jetzt blau schimmernden Lippen waren zu einem Lächeln gekräuselt. Ein kleines Bärtchen rahmte den unteren Teil des Gesichts nur ein. Auf der rasierten Seite des Schädels war ein nicht großes, festes und schönes Ohr sichtbar.

Man sah gleich, was für Möglichleiten eines geistigen Lebens in diesem Menschen zu Grunde gerichtet worden. Nach den feinen Knochen der Hände und der zusammengeschmiedeten Beine und nach den starken Muskeln sämtlicher proportioniert gebildeter Gliedmaßen war es klar, war für ein schönes, starkes und gewandtes menschliches Tier dies war, und als Tier in seiner Art weit vollkommener, als jener falbe Hengst, dessen Beschädigung den Brandmajor so sehr aufgebracht hatte. Und doch hat man ihn zu Tode gequält, und niemandem war es leid um ihn, nicht nur wie um einen Menschen, sondern nicht einmal wie um ein umsonst zu Grunde gerichtetes Arbeitstier. Das einzige Gefühl, welches durch jenen Tod in allen Leuten hervorgerufen ward, war nur Aerger wegen der Mühen, welche die Notwendigkeit forderte, diesen mit der Verwesung bedrohenden Körper zu beseitigen.

In das Sanitätszimmer traten der Arzt mit dem Heilgehilfen und ein Kreispolizeiaufseher. Der Arzt war ein fester, untersetzter Mann in einem rohseidenen Rock und in eben solchen schmalen, die muskulösen Schenkel festumspannenden Pantalons. Der Kreispolizeiaufseher war ein kleiner Dickbauch, mit kugelartigem, rotem Gesicht, das noch runder wurde wegen seiner Gewohnheit, Luft in die Backen einzuziehen und sie langsam hinauszulassen. Der Arzt setzte sich auf das Bett zu dem Toten und betastete ebenso wie der Heilgehilfe die Hand, behorchte das Herz und stand auf, die Hosen zurückziehend.

»Töter kann man nicht sein,« sagte er.

Der Kreisaufseher zog den Mund voll Luft und ließ sie langsam hinaus.

»Aus welchem Gefängnis?« wandte er sich an den Eskortesoldaten.

Der Eskortesoldat antwortete und erinnerte an die Beinschellen, die der Verstorbene trug.

»Ich werde Befehl geben, sie abzunehmen. Gottlob, Schmiede haben wir,« sagte der Kreisaufseher, blies wieder die Wangen auf und ging zur Thür, langsam die Luft hinausblasend.

»Aber woher kommt denn das?« wandte sich Nechljudow an den Arzt.

Der Arzt sah ihn über die Brille hinweg an.

»Was woher kommt? Daß man vom Sonnenstich stirbt? Nun daher: man sitzt ohne Bewegung, ohne Licht den ganzen Winter, und plötzlich kommt man in die Sonne, dazu noch an solchem Tage, wie heute, und man geht im Haufen, keine Luftzufuhr. Nun, und der Sonnenstich ist da.«

»Warum schickt man sie denn?«

»Das fragen Sie sie. Aber wer sind Sie eigentlich?«

»Ich bin ein Privatmann.«

»So—o …Ich habe die Ehre, ich habe keine Zeit,« sagte der Arzt, zog ärgerlich die Hosen nach unten und begab sich zu den Betten der Kranken.

»Na, wie geht’s dir?« wandte er sich an den blassen Mann mit dem schiefen Mund und dem umbundenen Hals.

Der Wahnsinnige saß inzwischen auf seinem Bett, hörte zu rauchen auf und spuckte in der Richtung zum Arzt.

Nechljudow ging auf den Hof binab und an den Feuerwehrpferden, den Hühnern, der Wache im messingenen Helm vorbei und durch das Thor, setzte sich in seine Droschke mit dem wieder eingeschlafenen Mietskutscher und fuhr auf den Bahnhof.

38

Als Nechljudow auf den Bahnhof kam, saßen schon alle Gefangenen in den Waggons hinter den Gitterfenstern. Auf der Plattform standen einige, die Ihnen das Geleite geben wollten: man ließ sie nicht zu den Waggons. Die Eskortierenden waren heute besonders besorgt. Auf dem Wege vom Gefängnis zum Bahnhof fielen und starben vom Sonnenstich, außer jenen zwei Männern, die Nechljudow gesehen, noch drei Menschen: einer ward ebenso, wie die zwei ersten, in das nächste Kreispolizeigebäude gebracht, und zwei fielen noch hier, auf dem Bahnhof, um.36 Besorgt waren die Eskortierenden nicht etwa, weil unter ihrer Begleitung fünf Menschen gestorben waren, die am Leben hätten bleiben können, sondern sie sorgten sich nur darum, alles das zu erfüllen, was das Gesetz in solchen Fällen verlangt; die Toten, ihre Papiere und Sachen zu übergeben, wohin sich’s gehört und sie aus der Zahl derjenigen zu streichen, die nach Nischnij trassportiert werden müssen; das war aber sehr mühselig, besonders bei solcher Hitze.

Und eben damit waren die Eskortierenden beschäftigt, und darum, so lange alles das nicht abgemacht war, wollte man den Nechljudow und die übrigen darum Bittenden sich den Waggons nicht nähern lassen. Den Nechljudow aber ließ man dennoch hinzu, weil er einem Eskortenunteroffizier Geld gegeben. Dieser Unteroffizier ließ den Nechljudow durch und bat ihn, nur schnell zu besprechen, was er vorhabe, und beiseite zu gehen, damit der Chef es nicht sehe. Der Wagen waren im ganzen achtzehn, und alle, außer einem für die Obrigkeit, waren mit Arrestanten vollgestopft. Während Nechljudow an den Fenstern der Waggons vorbeiging, horchte er auf das, was darin passierte. Aus allen Waggons ließ sich das Geklirr der Ketten hören, ein Durcheinander, ein Gerede, mit sinnlosen Zoten gespickt, aber nirgens sprach man von den unterwegs umgefallenen Kameraden. Die Reden betrafen meistens die Säcke, das Trinkwasser und die Auswahl der Plätze.

Als Nechljudow in das Fenster eines der Waggons hineinblickte, sah er in der Mitte desselben, im Durchgang, die Eskortierenden, wie sie den Gefangenen die Handschellen abnahmen. Die Gefangenen streckten die Arme aus, und einer der Eskortesoldaten öffnete mit einem Schlüssel das Schloß an den Handschellen und zog sie ab. Ein anderer sammelte die Handschellen zusammen. Als Nechljudow alle diese Waggons passiert hatte, kam er zu den weiblichen. Aus dem zweiten derselben hörte man daß eintönige Gestöhn einer weiblichen Stimme, untermischt mit den Ausrufen: »O, o, o!…Herr Je, o, o, o! Heer Je! —«

Nechljudow ging vorbei, und auf den Hinweis eines Eskortesoldaten näherte er sich dem Fenster des dritten Waggons.

Sobald Nechljudow seinen Kopf dem Fenster näherrückte, überschauerte es ihn mit eines Hitze, die mit dem schweren Geruch menschlicher Ausdünstungen gesättigt war, und es ließen sich deutlich kreischende weibliche Stimmen hören. Auf allen Bänken saßen rotgewordene, schweißige Frauen in Schlafröcken oder Jacken und sprachen laut miteinander. Das sich dem Fenster nähernde Gesicht Nechljudows lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Die nächsten verstummten und rückten näher zu ihm. Die Maslowa, nur in der Jacke und ohne Kopftuch, saß an dem gegenüberliegenden Fenster. Ihm näher saß die weiße, lächelnde Fedossija. Als sie den Nechljudow erkannte, stieß sie die Maslowa an und zeigte mit der Hand auf das Fenster. Die Maslowa stand eilig auf, warf das Kopftuch über die schwarzen Haare, trat mit lebhaft werdendem, rotem, verschwitztem, lächelndem Gesicht an das Fenster und faßte das Gitter.

»Und heiß ist es,« sagte sie freudig lächelnd.

»Haben Sie die Sachen erhalten?«

»Ich habe sie erhalten, danke.«

»Haben Sie nichts nötig?« fragte Nechljudow, und er fühlte, daß die Hitze aus dem glühend heißen Wagen wie aus einem Badstubenofen ausströmte.

»Ich habe nichts nötig, danke.«

»Etwas zu trinken,« sagte Fedossija.

»Ja, etwas zu trinken,« wiederholte die Maslowa.

»Habt ihr denn kein Wasser?«

»Es wird etwas gebracht, aber jetzt ist alles ausgetrunken.«

»Gleich,« sagte Nechljudow, »will ich einen Eskortesoldaten darum bitten. Jetzt werden wir uns bis Nischnij nicht mehr sehen.«

»Reisen Sie denn auch mit?« fragte die Maslowa, ale ob sie er nicht wüßte, und blickte den Nechljudow freudig an.

»Ich reise mit dem folgenden Zug.«

Die Maslowa sagte nichts, und erst nach einigen Sekunden seufzte sie tief auf.

»Wie ist’s denn, Herr, ist er war, daß sie zwölf Gefangene umgebracht haben?« sagte eine alte finstere Gefangene mit grober Stimme wie ein Bauer.

Es war die Korablewa.

»Ich habe nicht gehört, daß es zwölf seien. Zwei habe ich gesehen,« sagte Nechljudow.

»Sie sagen zwölf. Werden sie denn wirklich nichts dafür kriegen? Das sind ja Teufel.«

»Und von den Frauen ist niemand krank geworden?« fragte Nechljudow.

»Die Weiber sind zäher,« sagte lachend eine andere kleine Gefangene, »nur eine ist auf den Einfall gekommen, zu gebären. Da singt sie,« sagte sie, auf den Nachbarwagen zeigend, aus dem immer das gleiche Gestöhn ertönte.

»Sie sagen, ob nichts nötig sei,« sagte die Maslowa, indes sie sich bemühte, das freudige Lächeln von den Lippen zurückzudrängen, »könnte man nicht diese Frau zurücklassen? Sonst muß sie sich so quälen. Wenn Sie es der Obrigkeit sagten?«

»Ja, ich will es sagen.«

»Und dies noch; wäre es nicht möglich, daß sie Taraß, ihren Mann, sehen könnte?« fügte sie hinzu, mit den Augen auf die lächelnde Fedossija zeigend. »Er reist ja mit Ihnen.«

»Herr, man darf nicht sprechen,« ließ sich die Stimme eines Unteroffiziers von der Eskorte hören.

Es war nicht jener, der den Nechludow zugelassen. Nechljudow entfernte sich und ging, den Chef zu suchen, um ihn wegen der gebärenden Frau und wegen Taraß zu bitten. Aber er konnte ihn lange nicht finden und eine Antwort von den Eskortierenden erlangen. Sie waren in großer Geschäftigkeit: die einen führten irgend einen Gefangenen irgend wohin, die andern liefen, Provision für sich einzukaufen, und verteilten ihre Sachen in den Waggons, die dritten bedienten irgend eine Dame, die mit einem Eskorteoffizier reiste, und antworteten ungern auf Nechljudows Fragen.

Erst nath dem zweiten Läuten ward Nechludow des Eskorteoffiziers gewahr. Der kurzatmige Offizier stand mit aufgezogenen Schultern da, wischte sich den Mund und gab einem Feldwebel wegen irgend etwas einen Verweis.

»Was wollen Sie eigentlich?« fragte er den Nechljudow.

»Im Waggon bei Ihnen gebiert eine der Frauen, nun denke ich, man müßte…«

»Nun, und lassen Sie sie gebären. Dann werden wir sehen,« sagte der Eskorteoffizier, und er ging in seinen Waggon, flink mit den kurzen Armen schwenkend.

Um diese Zeit ging ein Kondukteur mit der Pfeife in der Hand vorbei. Es ertönte das letzte Läuten, ein Pfiff, und zwischen den Begleitenden auf der Plattform und im weiblichen Waggon ließ sich Weinen und Ausrufe höten.

Nechljudow stand neben dem Taraß auf der Plattform und sah, wie sich die Wagen, einer nach dem andern, mit den Gitterfenstern und mit den hinter ihnen sichtbaren rasierten Köpfen der Männer an ihm vorbeischoben.

Dann erschien ihm gegenüber der erste weibliche Wagen, in dessen Fenstern man die Köpfe der barhäuptigen Frauen und Frauen mit Kopftüchern erblickte; dann der zweite Wagen, aus dem noch immer dasselbe Stöhnen der Frau ertönte; dann der Wagen, in dem die Maslowa war. Sie stand mit anderen zusammen am Fenster, sah den Nechljudow an und lächelte ihm kläglich zu.

39

Bis zum Abgang des Personenzuges, mit dem Nechljudow reisen sollte, blieben noch zwei Stunden. Zuerst wollte Necheljudow während dieser Zwischenzeit noch zu der Schwester fahren, aber jetzt, nach den Eindrücken dieses Morgens, fühlte er sich im höchsten Grade aufgeregt und zerschlagen. Als er sich auf einen kleinen Diwan im Saal erster Klasse gesetzt, überfiel ihn vollständig unerwartet eine solche Schläfrigkeit, daß er sich auf die Seite drehte, die Hand unter eine Backe legte und sofort einschlief.

Ihn weckte ein Kellner im Frack mit einem Zeichen und einer Serviette.

»Mein Herr, mein Herr, sollten Sie nicht Nechljudow, der Fürst sein? Eine Dame sucht Sie.«

Nechljudow fuhr auf, rieb sich die Augen, erinnerte sich, wo er sei und an all das, was am heutigen Morgen geschehen. In seiner Erinnerung waren: der Marsch der Gefangenen, die Toten, die Waggons mit den Gittern und die dort eingesperrten Frauen, von denen eine sich ohne Hilfe bei der Entbindung quälte und eine andere hinter dem eisernen Gitter ihm kläglich zulächelte.

In der Wirklichkeit aber war vor ihm etwas ganz anderes; ein mit Flaschen, Vasen, Kandelabern und Gedecken bestellter Tisch und die neben dem Tisch hin und her huschenden hurtigen Kellner. In der Tiefe des Saals vor dem Schrank, und hinter den Flaschen und den Vasen mit Früchten — sah er einen Büffetier und die Rücken der Abreisenden, die zum Büffet herangekommen waren.

Während Nechljudow sich aus der liegenden Stellung aufrichtete und nach und nach zu sich kam, bemerkte er, daß alle im Zimmer Anwesenden etwas in den Thüren Passierendes mit Neugier betrachteten. Er blickte auch dorthin und sah Leute gehen, die auf einem Lehnstuhl eine Dame in einem luftigen Schleier, der ihr den Kopf umhüllte, trugen. Der vordere Träger war ein Lakai und kam dem Nechljudow bekannt vor. Der hintere war ebenfalls ein bekannter Portier mit Gallons auf der Mütze. Hinter dem Lehnstuhl ging ein elegantes Zimmermädchen in einer Schürze und mit Löckchen und trug ein Bündelchen, irgend welchen runden Gegenstand in einem ledernen Futteral und Schirme. Noch weiter hinten ging, die Brust herausdrückend, der Fürst Kortschagin mit seinen hängenden Lippen und seinem apoplektischen Hals, mit einer Reisemütze, und noch weiter hinten — Missi, Mischa, der Vetter und der dem Nechljudow bekannte Diplomat Osten mit dem langen Hals, dem vortretenden Adamsapfel, dem immer lustigen Aussehen und in eben solcher Stimmung. Er ging neben der lächelnden Missi, der er eindringlich, aber augenscheinlich spaßhaft etwas zu Ende erzählte. Zu hinterst ging der Arzt, ärgerlich eine Papyros rauchend.

Die Kortschagins zogen aus ihrem nahe bei der Stadt liegenden Gut zu der Schwester der Fürstin, auf deren Gut, um, das an der Nischnijnowgoroder Linie lag.

Der Zug mit den Trägern, dem Zimmermädchen und dem Arzt ging vorüber in das Damenzimmer, indem er Neugier und Respekt seitens aller Anwesenden hervorrief. Der alte Fürst aber setzte sich an den Tisch, rief sogleich einen Kellner und begann, ihm etwas zu bestellen, irgendwelches Essen und Trinken. Missi und Osten blieben ebenfalls im Speisesaal stehen, und grade wollten sie sich setzen, als sie in der Thür eine Bekannte bemerkten und ihr entgegen gingen. Diese Bekannte war Natalija Iwanowna. Natalija Iwanowna, von Agrafena Petrowna begleitet, trat in den Speisesaal, sich nach allen Seiten umblickend. Sie wurde fast um dieselde Zeit der Missi und des Bruders gewahr. Sie näherte sich zuerst der Missi und winkte nur mit dem Kopf dem Nechljudow zu. Aber sobald sie Missi geküßt, wandte sie sich sogleich zu ihm.

»Endlich habe ich dich gefunden,« sagte sie.

Nechljudow stand auf, begrüßte Miß Mischa und Osten und blieb sprechend stehen. Missi erzählte ihm von der Feuersbrunst in ihrem Hause auf dem Dorfe, die sie zur Tante umzuziehen nötigte. Osten begann bei dieser Gelegenheit eine drollige Anekdote von der Feuersbrunst zu erzählen.

Nechljudow, ohne dem Osten zuzuhören, wandte sich an die Schwester.

»Wie froh bin ich, daß du gekommen bist,« sagte er.

»Ich hin schon lange hier,« sagte sie. »Ich bin mit Agrafena Petrowna gekommen.« Sie zeigte auf Agrafena Petrowna, die im Hut und in einem Waterproof war und sich vor dem Nechljudow mit freundlicher Würde und etwas schüchtern von weitem verbeugte, da sie ihn nicht stören wollte. »Wir haben dich überall gesucht.«

»Ich aber war hier eingeschlafen. Wie froh bin ich, daß du gekommen bist,« wiederholte Nechljudow. »Ich habe dir einen Brief zu schreiben angefangen,« sagte er.

»Wirklich?« sagte sie erschrocken, »worüber denn?«

Als Missi bemerkte, daß ein intimes Gespräch zwischen dem Bruder und der Schwester begann, ging sie mit ihren Kavalieren bei Seite. Nechljudow aber und die Schwester setzten sich auf einen kleinen Sammetdiwan bei einem Fenster neben irgendwessen Sachen, einem Plaid und Karton.

»Gestern, als ich von euch weggegangen, wollte ich wieder umkehren und um Verzeihung bitten, aber ich wußte nicht, wie er es aufnehmen würde,« sagte Nechljudow. »Ich habe nicht gut mit deinem Mann gesprochen, und das quälte mich,« sagte er.

»Ich wußte das, ich war überzeugt,« sagte die Schwester, »daß du es nicht wolltest. Du weißt ja…« und Thränen traten ihr in die Augen, sie berührte seine Hand. Dieser Satz war nicht deutlich, aber er verstand ihn vollkommen und ward gerührt durch das, was er bedeutete. Ihre Worte bedeuteten, daß außer der Liebe, die sie vollständig beherrschte, der Liebe zu ihrem Manne, teuer und wichtig für sie die Liebe zu ihm, dem Bruder, sei, und daß jede Uneinigkeit zwischen ihnen für sie ein schweres Leid sei.

»Ich danke, ich danke dir. Ach, was habe ich heute gesehen,« sagte er, sich plötzlich des zweiten gestorbenen Arrestanten erinnernd. »Zwei Gefangene sind getötet worden.«

»Wieso getötet?«

»Einfach getötet. Man führte sie bei dieser Hitze, und zwei starben am Sonnenstich.«

»Das kann nicht sein! Wie? Heute? Jetzt?«

»Ja, jetzt, ich habe die Leichen gesehen.«

»Aber, warum denn getötet. Wer hat sie getötet?« sagte Natalija Iwanowna.

»Diejenigen haben sie getötet, die sie gewaltsam führten,« sagte Nechljudow gereizt, da er fühlte, daß sie auch auf diese Sache mit den Augen ihres Mannes blickte.

»Ach, mein Gott!« sagte Agrafena Petrowna, die näher an sie herangetreten war.

»Ja, wir haben nicht mal den geringsten Begriff von dem, was man mit diesen Unglücklichen thut, aber man sollte es wissen,« fügte Nechljudow hinzu, auf den alten Fürsten blickend, der mit einer Serviette umbunden an dem Tisch bei einem cruchon saß und diesen Augenblick sich nach dem Nechljudow umblickte.

»Nechljudow!« schrie er, »wollen Sie sich erfrischen? Vor der Reise ist es ausgezeichnet.«

Nechljudow lehnte es ab und wandte sich von ihm weg.

»Aber was willst du thun?« fuhr Natalija Iwanowna fort.

»Was ich kann…Ich weiß nicht, aber ich fühle, daß ich etwas thun muß. Und was ich kann, werde ich thun.«

»Ja, ja, das verstehe ich. Nun, und mit diesen,« sagte sie lächelnd und mit den Augen auf den Kortschagin zeigend, »ist es wirklich ganz zu Ende?«

»Ganz, und ich glaube beiderseits ohne Bedauern.«

»Schade. Mir thut es leid. Ich liebe sie. Nun, wollen wir annehmen, daß es so sei. Aber wozu willst du dich binden?« fügte sie ängstlich hinzu. »Wozu reisest du?«

»Ich reise, weil es so sein muß,« sagte Nechljudow ernst und trocken, als ob er dieses Gespräch abbrechen wolle.

Aber er machte sich sogleich ein Gewissen aus seinem Kaltsinn gegen die Schwester. ’Warum soll ich ihr nicht alles sagen, was ich denke?’ dachte er ‘Laß auch Agrafena Petrowna es hören,’ sagte er bei sich, das alte Zimmermädchen anblickend. Die Anwesenheit der Agrafena Petrowna reizte ihn nach mehr, seinen Entschluß der Schwester zu wiederholen.

»Du sprichst von meinem Vorsatz, Katjuscha zu heiraten? Nun, siehst du, ich habe beschlossen, es zu thun, aber sie hat es bestimmt und fest ausgeschlagen,« sagte er, und seine Stimme erzitterte, wie sie immer zitterie, wenn er darüber sprach. »Sie will mein Opfer nicht, und sie selber bringt ein Opfer, das für sie in ihrer Lage viel ausmacht, und ich kann dieses Opfer nicht annehmen, wenn es nur momentaner Entschluß ist. Und nun reise ich ihr nach, und werde da sein, wo sie sein wird, und ich werde ihr so viel ich kann, helfen und ihr Schicksal erleichtern.«

Natalija Iwanowna sagte nichts. Agrafena Petrowna sah fragend Natalija Iwanowna an und schüttelte den Kopf.

Um diese Zeit kam wieder aus dem Damenzimmer der Zug. Derselbe schöne Lakai Philipp und den Portier trugen die Fürstin. Sie hielt die Träger an, winkte den Nechljudow zu sich, reichte ihm mit kläglicher Leidensmiene die weiße Hand mit den Ringen, indem sie mit Grausen seinen festen Händedruck erwartete.

»Epouvantable!« sagte sie von der Hitze. »Ich kann es nicht ertragen. Ce climat me tue.« Und nachdem sie ein wenig von den Schrecken des russischen Klimas gesprochen und den Nechljudow eingeladen, sie zu besuchen, gab sie den Trägern das Zeichen.

»Also unbedingt fahren Sie vor…,« fügte sie hinzu, noch im Abgehen ihr langes Gesicht dem Nechljudow zuwendend.

Nechljudow ging auf die Plattform hinaus. Der Zug der Fürstin nahm die Richtung nach rechts zur ersten Klasse. Nechljudow aber, mit einem seine Sachen tragenden Dienstmann und mit dem Taraß, der seinen eigenen Sack trug, ging nach links.

»Das ist mein Kamerad,« sagte Nechljudow zu der Schwester, auf den Taraß zeigend, dessen Geschichte er ihr früher erzählt hatte.

»Aber willst du wirklich dritter Klasse…?« sagte Natalija Iwanowna, als Nechljudow neben dem Waggon der dritten Klasse stehen blieb und Taraß und der Dienstmann mit den Sachen dort eingetreten waren.

»Ja, so ist es mir bequemer, ich will mit dem Taraß zusammen bleiben,« sagte er. »Aber ich habe nach etwas,« fügte er hinzu. »Bis jetzt habe ich das Land in Kusjminskoje den Bauern nach nicht abgegeben, so, falls ich sterbe, erben es deine Kinder.«

»Dmitrij, hör’ auf,« sagte Natalija Iwanowna.

»Wenn ich es aber abgebe, so ist eins, was ich sagen kann, folgendes: daß alles übrige ihnen gehören wird, weil ich schwerlich heiraten werde. Und falls ich heirate, so werde ich keine Kinder haben…so daß…«

»Dmitrij, bitte, sprich nicht so,« sprach Natalija Iwanowna, während dach Nechljudow sah, daß sie froh war, zu hören, was er sagte.

Vorn, neben der ersten Klasse, stand nur ein kleines Häufchen Leute, das immer noch auf den Waggon sah, in den man die Fürstin Kortschagina getragen. Die übrigen Leute waren schon alle auf ihren Plätzen. Die verspäteten Passagiere klapperten, sich eilend, auf den Brettern der Plattform, die Kondukteure schlugen die Thüren zu und forderten die Reisenden auf, einzusteigen und die Begleitenden, hinauszugehen.

Nechljudow trat in den von der Sonne durchglühten, heißen und stinkenden Wagen und ging sofort auf die Wagenplattform.

Natalija Iwanotona stand dem Wagen gegenüber in ihrem Modehut und Cape neben der Agrafena Petrowna, suchte augenscheinlich einen Gesprächsgegenstand und fand ihn nicht. Man konnte nicht einmal »écrivez« sagen, weil sie und der Bruder sich schon seit langem über diese gewöhnliche Phrase der Abreisenden lustig gemacht. Jenes kurze Gespräch von den Geldangelegenheiten und von der Erbschaft zerstörte mit einem Mal die brüderlich-schwesterliche Beziehung, die sich zwischen ihnen eben wieder eingestellt hatte. Sie fühlten sich jetzt einander fremd, so daß Natalija Imanowna froh war, als der Zug sich bewegte und man nur mit dem Kopf nicken und mit schwermütigem und freundlichem Gesicht sprechen konnte; »Leb wohl nun, leb wohl, Dmitrij!«

Aber sobald der Waggon abgegangen, dachte sie daran, wie sie ihr Gespräch mit dem Bruder ihrem Mann mitteilen werde, und ihr Gesicht wurde ernst und besorgt.

Und dem Nechljudow, trotzdem er nichts als die besten Gefühle für die Schwester hegte und nichts vor ihr verbarg, war es jetzt ihr gegenüber schwer und unbehaglich, und er wünschte, sich schneller von ihr zu trennen. Er fühlte, daß jene Natascha nicht mehr existierte, die ihm ehemals so nahe gewesen: es gab nur eine Sklavin des ihm fremden und unangenehmen, schwarzen, haarigen Mannes. Er merkte es klar daran, wie ihr Gesicht sich nur dann mit besonderer Lebhaftigkeit erhellte, wenn er von der ihren Mann beschäftigenden Sache zu sprechen begann, von der Abtretung des Bodens an die Bauern und von der Erbschaft. Und das that ihm weh.

40

Die Hitze in dem, den ganzen Tag über von der Sonne durchglühten, großen Waggon dritter Klasse, voll von Menschen, war so erstickend, daß Nechljudow nicht wieder in den Wagen ging, sondern auf der Wagenplatform stehen blieb.

Aber auch hier hatte man nicht Luft zum Atmen, und erst dann atmete Nechljudow aus voller Kraft auf, als die Wagen aus den Häuserreihen hinausgerollt waren und der Zugwind zu blasen begann. ‘Ja, man hat sie getötet,’ wiederholte er bei sich die Worte, die er der Schwester gesagt. Und in seiner Phantasie hob sich von allen Eindrücken des heutigen Tages mit unagwöhnlicher Lebhaftigkeit das schöne Gesicht des zweiten toten Arrestanten ab, mit dem lächelnden Ausdruck der Lippen, mit dem strengen Ausdruck der Stirn und mit dem kleinen festen Ohr unter dem rasierten blauschimmernden Schädel. ’Und das schrecklichste von allem ist, daß man ihn getötet hat, und daß niemand weiß, wer ihn getötet hat. Aber man hat ihn getötet. Man führte ihn, wie alle Gefangenen, nach der Ordre van Maslennikow. Maslennikow hat wahrscheinlich seine gewöhnliche Verordnung gegeben, er hat ein Papier mit einer gedruckten Ueberschrift unterschrieben hat seinen närrischen Schnörkel gemacht und wird sich, gewiß, auf keinen Fall für schuldig halten. Noch weniger kann sich der Gefängnisarzt für schuldig halten, der die Gefangenen untersuchte. Er hat seine Pflicht genau erfüllt, die Schwachen ausgesondert, aber er konnte dies durchaus nicht voraussehen, weder diese fürchterliche Hitze, noch daß man sie so spät am Mittage und in solchem Haufen führen werde. Der Inspektor? …Aber der Inspektor hat nur die Verordnung erfüllt, am Tage so und so, so und so viele Zwangsarbeiter und Verbannte, Männer und Frauen, zu spedieren. Ebenso wenig konnte auch der Eskorteoffizier schuldig sein, dessen Pflicht darin bestand, dort und dort so und so viele, gezählt, in Empfang zu nehmen und am Orte da und da ebenso viele abzuliefern. Die Abteilung führte er, wie es auch gewöhnlich vorgeschrieben wird und konnte durchaus nicht vorausahnen, daß so starke Leute wie jene zwei, die Nechljudow gesehen, nicht aushalten und sterben würden. Niemand ist schuldig, und doch sind diese Menschen getötet worden und getötet trotzdem durch diese selben, an diesen Todesfällen unschuldigen Leute!’

‘Alles das ist dadurch geschehen,’ dachte Nechljudow, ‘daß all diese Leute, — Gouverneure, Inspektoren, Polizeiaufseher, Polizeisoldaten — glauben, daß er Umstände auf der Welt gäbe, in welchen ein menschliches Verhalten gegen einen Mitmenschen nicht obligatorisch sei. All diese Leute — Maslennikow, der Inspektor und der Eskorteoffizier, sie alle, wenn sie nicht Gluverneure, Inspektoren, Offiziere gewesen wären, würden ja zwanzigmal überlegt haben, ob man die Leute bei solcher Hitze und in solchem Haufen transportieren könne; wären zwanzigmal unterwegs stehen geblieben, und wenn sie gesehen hätten, daß ein Mensch schwach wird, erstickt, würden sie ihn aus dem Haufen hinaus und in den Schatten geführt, ihm Wasser gegeben haben, ihn haben ausruhen lassen, und wenn ein Unglück passiert wäre, so hätten sie Mitleid geäußert. Sie haben es nicht gethan, sie haben sogar die andern verhindert, es zu thun, nur weil sie vor sich nicht Menschen und ihre eigenen Pflichten gegen sie sahen, sondern den Dienst und seine Forderungen, die sie über die Forderungen des Verhältnisses von Mensch zu Mensch stellten.’ ‘Darin liegt alles,’ dachte Nechljudow; ‘wenn es möglich wäre, anzunehmen, daß etwas, — was es auch sein möge — wichtiger wäre, als das Gefühl der Menschenliebe, wenn auch nur für eine Stunde, wenn auch nur in irgend einem einzigen Ausnahmefall, so gäbe es kein einziges Verbrechen, das man nicht an den Menschen begehen könnte, ohne sich für schuldig zu halten!’

Nechljudow versank so tief in Nachdenken, daß er sogar nicht bemerkte, wie das Wetter sich änderte; die Sonne verbarg sich hinter der vorderen, niederen, zerrissenen Wolke, und vom westlichen Horizont rückte eine dichte hellgraue Gewitterwolke an, die sich dort, irgendwo, weit über die Felder und Wälder schon in schrägem, reichlichen Regen ergoß. Von der Wolke kam feuchte Regenluft heran. Blitze zerrissen von Zeit zu Zeit die Wolke, und zu dem Gerassel der Waggons gesellte sich immer öfter und öfter das Donnergeroll. Die Wolke zog näher und näher; die schrägen Regentropfen begannen, vom Winde gejagt, die kleine Waggonplattform und Nechljudows Rock zu betupfen. Er ging auf die andere Seite, und die feuchte Frische und den Brotgeruch der schon lange auf Regen wartenden Erde einatmend, sah er auf die vorbeieilenden Gärten, Wälder, die gelbschimmernden Roggenfelder, die noch grünen Haferstreifen und die schwarzen Furchen zwischen den dunkelgrünen, blühenden Kartoffeln. Alles wurde gleichsam mit Lack bedeckt, das Grüne ward nach grüner, das Gelde — gelbet, das Schwarze — schwärzer.

»Noch mehr, noch mehr,« sprach Nechljudow und freute sich über die unter dem gesegneten Regen auflebenden Felder, Gärten, Gemüseäcker.

Der starte Regen strömte nicht lange. Die Wolke entleerte sich zum Teil, zum Teil jagte sie vorbei, und auf die nasse Erde fielen schon die letzten, graden, dichten und feinen Tropfen. Die Sonne blickte wieder hervor, alles erglänzte, und gegen Osten bog sich über den Horizont ein nicht hoher, aber heller Regenbogen mit hervortretendem Violett, der nur an einem Ende unterbrochen war.

‘Ja, woran habe ich eben gedacht?’ fragte sich Nechljudow, als alle diese Umwandlungen in der Natur zu Ende waren, und der Zug in einen Bahneinschnitt mit hohen Böschungen hinabstieg.

‘Ja, ich dachte darüber nach, daß alle diese Menschen, der Inspektor, die Eskortierenden, all diese dienenden Leute — meistens sanftmütige, gute Leute sind, — böse geworden nur, weil sie dienen.’

Er erinnerte sich an die Gleichgiltigkeit Maslennikows, als er ihm über das gesprochen, was im Gefängnis geschieht, an die Strenge des Inspektors, die Grausamkeit des Eskorteoffiziers, als er die Leute nicht auf die Wagen gelassen und dem Umstande keine Aufmerksamkeit geschenkt, daß im Waggon eine Frau sich in der Entbindung quälte. All diese Menschen waren augenscheinlich unverletzbar, wasserdicht gegen das einfachste Mitleidsgefühl, nur weil sie dienten. Sie, als Dienende, waren undurchdringlich für das Gefühl der Menschenliebe, ‘wie diese gepflasterte Erde für den Regen,’ dachte Nechljudow, während er den mit verschiedenfarbigen Steinen gepflasterten Abhang des Bahneinschnittes betrachtete, auf dem das Regenwasser, ohne von der Erde aufgesogen zu werden, in kleinen Strömen niederrieselte. ‘Kann sein, daß es nötig ist, Bahneinschnitte mit Steinen zu belegen, aber es thut weh, diese vegetationsberaubte Erde zu sehen, die Getreide, Gras, Gebüsche, Bäume erzeugen könnte, ebensolche, wie man oben über dem Einschnitt sieht. Ebenso geht es auch mit den Menschen,’ dachte Nechljudow, ‘vielleicht auch sind Gouverneure, Inspektoren, Polizisten nötig, aber es ist schrecklich, Menschen zu sehen, die der allerersten menschlichen Eigenschaft — der Liebe und des Mitleids miteinander beraubt sind.’

‘Alles hängt davon ab,’ dachte Nechljudow; ‘daß diese Leute für ein Gesetz anerkennen, was kein Gesetz ist, und das, was ein ewiges, unabänderliches, unaufschiebbares, von Gott selbst in das menschliche Herz geschriebenes Gesetz ist, das erkennen sie nicht als Gesetz. Eben darum pflegt mir so schwer zu sein, diesen Leuten gegenüber,’ dachte Nechljudow. ‘Ich fürchte sie einfach. Und wirklich sind diese Leute schrecklich. Sie sind fürchterlicher als Räuber. Der Räuber kann immer noch Mitleid haben, — diese Leute aber können nicht bemitleiden; sie sind gegen das Mitleid versichert, wie diese Steine gegen die Vegetation. Und gerade dadurch sind sie schrecklich. Man sagt, die Pugatschews, Rasins sind schrecklich; jene sind tausendmal schrecklicher,’ fuhr er fort zu denken; ‘wenn die psychologische Aufgabe gestellt würde: wie ist es einzurichten, daß die Menschen unserer Zeit, Christen, humane, einfache, gute Menschen die schrecklichsten Missethaten verüben, ohne sich dabei für schuldig zu halten, so ist nur eine Lösung möglich; es soll gerade das da sein, was ist; diese Menschen sollen Gouverneure, Inspektoren, Offiziere, Polizisten sein, das heißt, sie sollen erstens überzeugt sein, daß es eine solche Beschäftigung geben muß, — die Staatsdienst heißt, — bei welcher man mit den Mittmenschen wie mit Sachen, ohne ein menschliches, brüderliches Verhalten gegen sie, umgehen darf, und zweitens, die Menschen sollen durch diesen Staatsdienst so gebunden sein, daß die Verantwortlichkeit für die Folgen ihrer Handlungen den Leuten gegenüber auf keinen einzelnen von ihnen fällt. Außer diesen Bedingungen giebt es keine Möglichkeit, zu unserer Zeit so schreckliche Thaten zu verüben, wie diejenigen, die ich heute gesehen. Die ganze Sache liegt darin, daß die Menschen glauben, es gehe Umstände, wo man mit den Menschen ohne Liebe umgehen dürfe; solche Lagen giebt es aber nicht! Mit den Sachen kann man ohne Liebe umgehen; man darf Bäume fällen, Ziegel machen, Eisen schmieden — ohne Liebe; mit den Menschen aber darf man nicht ohne Liebe umgehen, ebenso wenig, wie man Bienen ohne Vorsicht behandeln darf. Das ist die Eigenschaft der Bienen. Wenn man mit ihnen ohne Vorsicht umgeht, so wird man ihnen und sich selber schaden. Ebenso auch mit den Menschen. Und es kann nicht anders sein, weil die gegenseitige Liebe zwischen den Menschen das fundamentale Gesetz des menschlichen Lebens bildet. Es ist wahr, daß der Mensch sich nicht zwingen kann zu lieben, wie er sich zwingen kann zu arbeiten, aber daraus folgt nicht, daß man mit den Menschen ohne Liebe umgehen dürfe, besonders, wenn man etwas von ihnen verlangt. Wenn du keine Liebe in den Menschen fühlst, so sitze still!’ dachte Nechljudow, sich an sich selber wendend, ’beschäftige dich mit dir selbst, mit Sachen, womit du willst, nur nicht mit den Menschen. Wie man essen ohne Schaden und mit Nutzen nur dann kann, wenn man hungrig ist, ebenso kann man mit Menschen nur dann ohne Schaden und mit Nutzen umgehen, wenn man sie liebt. Laß dich nur die Menschen ohne Liebe behandeln, wie du gestern den Schwager behandelt hast, und es giebt keine Grenze mehr für die Bestialität und Grausamkeit, den andern Menschen gegenüber, wie ich es heute gesehen, und er giebt keine Gvenze für das eigene Leiden, wie ich es aus meinem ganzen eigenen Leben erfahren’ ‘Ja, ja, es ist so,’ dachte Nechljudow: ‘das ist gut, das ist gut!’ wiederholte er sich, während er ein zweifaches Vergnügen empfand, — an der Frische nach der quälenden Hitze und an dem Bewußtsein des erreichten höchsten Grades der Klarheit in der schon lange ihn beschäftigenden Frage.

41

Der Waggon, in dem Nechljudow seinen Platz hatte, war zur Hälfte voll von Leuten. Da waren Dienstboten, Handwerker, Fabrikarbeiter, Metzger, Juden, Kommis, Weiber, Arbeiterfrauen, da war ein Soldat, da waren zwei Damen — eine junge, die andere schon bei Jahren, mit Bracelets an dem entblößten Arm; da war ein Herr von strengem Aussehen mit einen Kokarde auf der schwarzen Mütze.

Alle diese Leute waren nach der Mühe, sich ihre Plätze einzurichten, zur Ruhe gelangt und saßen still; die einen knackten Sonnenblumensamen, die andern rauchten Papyros, wieder andere führten lebhafte Gespräche mit den Nachbarn.

Taraß saß mit glücklicher Miene rechts vom Durchgang, bewahrte einen Platz für Nechljudow und sprach lebhaft mit einem ihm gegenübersitzenden muskulösen Manne in einem nicht zugeknöpften Kaftan aus Tuch, einem auf seine Stelle fahrenden Gärtner, wie Nechljudow nachher erfuhr. Ohne bis zum Taraß vorzudringen, blieb Nechljudow im Durchgang stehen neben einem Alten von würdigem Aussehen mit weißem Bart und im Nankingkaftan, der mit einer jungen Frau in Dorftracht sprach. Neben der Frau saß ein siebenjähriges Mädchen, das den Boden mit den Füßen längst nicht erreichte; es trug einen kleinen neuen Sarafan und die fast ganz weißen Haare zu einem Zöpfchen geflochten und knackte ohne Aufhören Sonnenblumensamen.

Der Alte, der sich nach dem Nechljudow umblickte, nahm einen Schoß seines Kaftans von der lackierten Bank, wo er allein saß, und sagte freundlich:

»Ist es Ihnen nicht gefällig, zu sitzen?«

Nechljudow dankte und ließ sich auf dem Platz nieder, auf den der Alte wies. Sobald Nechljudow sich gesetzt, fuhr die Frau in der unterbrochenen Erzählung fort. Sie erzählte, wie sie ihr Mann, von dem sie jetzt zurückkehrte, in der Stadt empfangen.

»Zur Butterwoche bin ich bei ihm gewesen, und jetzt war es Gottes Wille, daß ich ihn wieder besuchen konnte,« sprach sie. »Und weiter, — wenn es Gottes Wille ist, — sehe ich ihn vielleicht zu Weihnachten.«

»Das ist gut,« sagte der Alte, sich nach dem Nechljudow umblickend, »man muß sich nach ihm umsehen; sonst wird der junge Mann bei dem Stadtleben zu mutwillig.«

»Nein, Großväterchen, der meine ist nicht solch ein Mensch. Macht nicht etwa irgend welche Dummheiten, oder so was: er ist wie ein junges Mädchen. Schickt alles Geld bis zum letzten Kopekchen nach Hause. Und über die Kleine war er froh, so froh, daß es sich nicht mal sagen läßt,« sagte die Frau lächelnd. Das Mädchen, das die Sonnenblumensamen ausspuckte und der Mutter zuhörte, blickte mit seinen ruhigen klugen Augen in das Gesicht des Alten und Nechljudows, als ob es die Worte der Mutter bestätige.

»Ist er aber klug, so ist’s um so besser,« sagte der Alte. »Nun, und damit giebt er sich nicht ab?« fligte er hinzu, indes er mit den Augen auf ein Pärchen zeigte, Mann und Frau, augenscheinlich Fabrikarbeiter, die auf der anderen Seite des Durchgangs saßen.

Der Fabrikarbeiter setzte eine Flasche mit Branntwein an den Mund, warf den Kopf zurück und that einen Zug, die Frau aber hielt in der Hand den Sack, aus dem sie die Flasche genommen und blickte ihren Mann unverwandt an.

»Nein, der meine trinkt nicht und raucht nicht,« sagte die Frau, mit der der Alte sich unterhielt, indem sie die Gelegenheit benutzte, ihren Mann noch einmal zu loben. »Solche Menschen wachsen nicht viel auf der Erde, Großväterchen. So einer ist er,« sagte sie, sich auch an den Nechljudow wendend.

»Was kann es Besseres geben?« wiederholte der Alte, der den trinkenden Fabrikarbeiter anblickte.

Nachdem der Fabrikarbeiter etwas aus der Flasche getrunken, reichte er sie seiner Frau hin. Die Frau nahm die Flasche und setzte sie lächelnd und mit dem Kopf schüttelnd gleichfalls an den Mund. Als der Arbeiter den auf ihn gerichteten Blick Nechljudows und des Alten bemerkte, wandte er sich zu ihnen.

»Was ist, Herr? Etwa, daß wir trinken? Wenn wir arbeiten, sieht es niemand, aber wenn wir trinken, so sehen es alle. Ich habe Geld verdient, und alo trinke ich und bewirte meine Frau Gemahlin. Und weiter nichts.«

»Ja, ja,« sagte Nechljudow, da er nicht wußte, was er antworten solle.

»Nicht wahr, Herr? Meine Gemahlin ist eine feste Frau. Ich bin mit meiner Gemahlin zufrieden, weil sie Mitgefühl mit mit hat. Sag’ ich richtig, Mawra?«

»Nun, nimm du sie, hier. Mag nicht mehr,« sagte die Frau, ihm die Flasche zurückgebend. »Und was plapperst du da ohne Sinn?« fügte sie hinzu.

»Also, so ist es,« fuhr der Fabrikarbeiter fort, »bald ist sie gut, gut, bald aber fängt sie auch zu knarren an, wie eine ungeschmierte Karre. Sag’ ich richtig, Mawra?«

Mawra winkte mit der Hand, lächelnd und mit betrunkener Geste.

»Na, geht’s schon los mit dem Unsinn?«

»Also, so ist es; sie ist gut, gut, aber nur zur Zeit: gerät ihr die Pferdeleine unter den Schwanz, so wird sie etwas anrichten, war einem nicht mal in den Kopf kommen kann…Sag’ ich richtig? Sie, Herr, entschuldigen Sie, ich habe ein wenig getrunken, nun — was ist zu thun?« …sagte der Fabrikarbeiter und begann, sich zum Schlaf hinzulegen, indem er den Kopf an den Schoß seiner lächelnden Frau legte.

Nechljudow saß einige Zeit bei dem Alten, der ihm von sich selber erzählte, daß er ein Ofensetzer sei, seit dreiundfünfzig Jahren arbeite und so viele Oefen in seinem Leben gesetzt habe, daß man sie nicht einmal zählen könne; jetzt aber sei er im Begriff, etwas auszuruhen, aber immer finde er keine Zeit dazu. Er sei in der Stadt gewesen und habe die Kinder untergebracht, und jetzt fahre er ins Dorf, um sich nach den Seinigen zu Hause umzusehen. Nachdem Nechljudow die Erzählung des Alten zu Ende gehört, stand er auf und ging auf den Platz, den Taraß für ihn aufbewahrt hatte.

»Nun, was denn, Herr, setzen Sie sich! Den Sack wollen wie hierher nehmen,« sagte freundlich der dem Taraß gegenübersitzende Gärtner, indem er dem Nechljudow von unten nach oben ins Gesicht blickte.

»Enge, aber kein Gedränge,« sagte der lächelnde Taraß mit singender Stimme, hob mit den starken Armen seinen zwei Pud schweren Sack wie ein Federchen auf und trug ihn zum Fenster. »Platz genug, — sonst kann man auch stehen, auch unter der Bank liegen kann man. Und ruhig ist es hier. Zanken werden wir uns nicht,« sprach er, indem er vor Gutmütigkeit und Freundlichkeit strahlte.

Taraß pflegte von sich zu sagen, daß er, wenn er nicht etwas getrunken, keine Worte habe, und daß ihm vam Branntwein gute Worte kommen und er alles sagen könne. Und wirklich, im nüchternen Zustande schwieg Taraß meistens; wenn er aber etwas trank, was bei ihm selten und nur in besondere Fällen zu passieren pflegte, so ward er besonders angenehm gesprächig. Er sprach dann viel und schön, mit großer Einfachheit, Wahrhaftigkeit und hauptsächlich Freundlichkeit, die aus seinen guten blauen Augen und aus seinem, nie von den Lippen weichenden, zuthunlichen Lächeln geradezu leuchtete.

In solch einem Zustand war er heute. Das Herantreten Nechljudows hielt seine Rede für eine Minute auf. Aber nachdem er den Sack in Ordnung gebracht, setzte er sich wieder wie früher hin, legte seine starken Arbeitshände auf die Kniee, und dem Gärtner grade in die Augen blickend, fuhr er in seiner Erzählung fort. Er erzählte seinem neuen Bekannten mit allen Einzelheiten die Geschichte seiner Frau: um was man sie verschickte, und warum er ihr jetzt nach Sibirien nachreiste.

Nechljudow hatte diese Erzählung noch nie ausführlich vernommen, daher hörte er mit Interesse zu. Die Geschichte war an der Stelle, wo die Vergiftung schon stattgefnnden, und wo man in der Familie erfahren hatte, daß Fedossija sie verübt habe.

»Ich erzähle gerade von meinem Unglück,« sagte Taraß, sich innig-freundschaftlich an den Nechljudow wendend. — »So eine Seele von Mensch habe ich getroffen, — wir sind ins Gespräch gekommen, und nun erzähle ich es ihm.«

»Ja, ja,« sagte Nechljudow.

»Nun, auf solche Weise also, du mein Brüderchen, wurde die Sache bekannt. Das Mütterchen nahm diesen selben Fladen, ‘ich geh,’ sagt sie, ‘zum Urjadnik.’37 . Mein Alterchen ist ein rechter Mann. ’Warte,’ sagt er, ‘Alte, das Weiblein ist ja ganz und gar ein Kind, es wußte selber nicht, was es that; man muß Mitleid mit ihm haben. Es wird vielleicht wieder zu sich kommen.’ Aber kein Gedanke, — sie wollte nicht Vernunft annehmen. ’So lange sie bei uns bleibt, wird sie uns wie Schaben aus der Welt schaffen.’ Sie schob, du mein Brüderchen, zum Urjadnik. Dieser greift sofort die Geschichte auf, läuft zu uns. Sogleich bringt er Zeugen mit.« —

»Nun und du, was thust du?« fragte der Gärtner.

»Und ich, du mein Brüderchen, wälze mich vor Leibschmerzen und erbreche mich. Das ganze Eingeweide kehrt sich mir um, nicht mal ein Wort sagen kann ich. Sofort spannte das Väterchen einen Wagen an, setzte Fedossija darauf — zum Stanowoj, und von dort zum Untersuchungsrichter. Und sie, du mein Brüderchen, wie sie sich zuerst an allem schuldig bekannt, so legte sie auch alles, wie es gewesen, nach der Reihe dem Untersuchungsrichter dar; woher sie den Arsenik genommen, und wie sie die Fladen geknetet. ’Waruum,’ sagt er, ‘hast du es gethan?’ ‘Nun, darum,’ sagt sie, ’daß er mir zuwider ist. Lieber ist mit Sibirien, als mit ihm zu leben,’ — mit mir, heißt das,« sprach lächelnd Taraß; — »sie hat sich also schuldig bekannt, an allem, — alte Geschichte — marsch ins Gefängnis! Das Väterchen kam allein zurück. Da kommt aber die Arbeitszeit, und von Weibern haben wie nur einzig Mütterchen, und die ist schon schwach. Wir denken nach: wie soll man thun? Ob man sie nicht gegen Kaution auslösen kann? Das Väterchen fährt zu so einem Vorgesetzten. — es kommt nichts danach; er fährt zum zweiten. Von diesen Vorgesetzten hat er etwa fünf Stück besucht. Wir haben schon fast ganz und gar aufgegeben, uns darum zu bemühen, da aber stoßen wir plötzlich auf ein Männlein — so einen von den Kanzlisten. So ein geschickter Bursch, daß dergleichen selten zu finden ist ›Gieb,‹ sagt er, ›fünf Rubel her, dann werde ich ihr heraus helfen.’ Auf drei haben wir uns geeinigt. Nun, wie denn, mein Brüderchen? — Habe ich ja eben gerade ihre eigenen Leinwandstücke versetzt und ihn bezahlt. Kaum hat er dieses Papier geschrieben,‹ dehnte Taraß die Worte, als ob er von einen Schuß spräche, ›auf einmal — fertig! Ich selber war zu der Zeit schon wieder aufgestanden, fuhr selber in die Stadt zu ihr. Nun komme ich, du mein Brüderchen, in die Stadt. Sofort hab’ ich die Stute in den Ausspann gestellt, das Papier mitgenommen, und komme ins Gefängnis. ‹Was willst du?’ ‘So und so,’ sage ich, ’meine Hausfrau ist hier bei euch eingesperrt.’ ‘Und das Papieir,’ sagt er, ‘hast du?’ Sofort gebe ich ihm das Papier. Kaum blickte er hinein ‘warte,’ sagte er. Ich habe mich dort auf das Bänkchen gesetzt. Die Sonne war schon über den Mittag weg. Da kommt ein Vorgesetzter heran: ‘Bist du,’ sagt er, ‘Warguschow?’ ’Ich bin es selber.’ ‘Nun, nimm sie in Empfang,’ sagt er. Sofort macht man das Thor auf. Man führte sie im eigenen Kleid heraus, wie es sein soll. ‘Was denn? Komm mit.’ ‘Aber bist bu denn zu Fuß?’ — ‘Nein, ich bin mit bem Pferd.’ Wir kamen in den Ausspann, ich zahlte für die Einkehr, spannte die Stute vor, stopfte ein wenig Heu, was ~brig blieb, unter bie Sitzmatte. Sie setzte sich hin, hüllte sich mit einem Tuch ein. Wir fuhren ab. Sie schweigt, und ich schweige. Eben begannen wir uns bem Hause zu nähern, da sagt sie: ‘Wie ist es, lebt das Mütterchen noch?’ Ich sage: ‘Sie lebt.’ ‘Und das Väterchen lebt?’ ’Lebt.’ — ‘Verzeih mir,’ sagt sie, ‘Taraß, meine Dummheit. Ich wußte ja selber nicht, was ich that.’ Ich aber sage: ‘Zu viel sprichst du, was nicht hierher gehört — ist schon lange verziehen.’ Mehr wollte ich darüber nicht sprechen. Wie sind nach Hause gekommen, sofort fällt sie dem Mütterchen zu Füßen. Das Mütterchen sagt: ‘Gott wird dir verzeihen!’ Das Väterchen aber hat sie begrüßt und sagt: ‘Wozu brauchen wir an das alte zu denken? Lebe, und laß es besser werden, Heute,’ sagt er, ‘ist nicht die Zeit, an so etwas zu denken, man muß aufs Feld und die Ernte hereinbringen. Hinter dem Skorodnoje,’ sagte er, ’auf dem Miststreifen ist der Roggen — Gott hat es gegeben, so gut geraten, daß sogar die Sichel ihn nicht faßt, hat sich verwickelt und gelagert, wie ein Bett. Man muß schneiden. Nun geh morgen mit Taraßka, schneide.’ Und nun packt sie, seit der Stunde, du mein Brüderchen, die Arbeit an, aber packt sie so an, daß es zum Verwundern war. Wir hatten damals drei gepachtete Deßjatinen, und Gott sei dank, sowohl Roggen wie Hafer war so gut geraten, — eine wahre Seltenheit so. Ich mähe, sie bindet, oder wir schneiden beide. Ich bin bei der Arbeit gewandt, sie fällt mir nicht aus den Händen; sie aber ist noch gewandter, an was sie sich auch macht. Das Weib ist flink und jung, voll Saft. Und auf die Arbeit ist sie, du mein Brüderchen, so neidisch geworden, daß ich sie sogar zurückhalten muß. Kommen wir nach Hause, die Finger sind aufgelaufen, die Arme schnurren, man müßte ausruhen; sie aber läuft, ohne zur Nacht zu essen, in die Scheune, richtet die Garbenbinden zum Morgen. Was ist mit ihr passiert!«

»Und was denn, auch gegen dich ist sie zuthunlich geworden?«

»Und wie noch! Klebte so an mir fest — eine Seele wir beide! Was mir nur eben in den Sinn kommt, — sie versteht’s schon. Sogar das Mütterchen, so zornig sie ist, auch die sagt: ’Man hat unsere Fedossija gleichsam umgetauscht, ein ganz anderes Weib ist sie geworden.’ Einmal fahre ich mit ihr mit zwei Wagen nach den Garben, und wir sitzen auf einem, auf dem vordern. Und ich sage so: ‘Aber wie konnte dir, Fedossija, jene Sache in den Sinn kommen?’ ‘Wie kam sie mir in den Sinn?’ sagt sie, ‘ich wollte nicht mit dir leben. Lieber, denke ich, sterbe ich, aber mit ihm leben, nein!’ ‘Nun, und jetzt?’ sage ich. ‘Jetzt aber,’ sagt sie, ‘bist du in meinem Herzen.’« Taraß hielt an und freudig lächelnd schüttelte er verwundert mit dem Kopf. »Eben hatten wir die Ernte vom Felde, ich führte Hanf zum Rösten; fahre nach Hause zurück,« fuhr er fort, nachdem er ein wenig geschwiegen, — »sieh da — die Citation — vor Gericht! Wir aber denken schon mit keinem Gedanken mehr daran, für was man sie richten soll.«

»Nichts anderes ist es, als der unsaubere Geist,« sagte det Gärtner, »kann es denn dem Menschen selber einfallen, eine Seele zu verderben? So hat auch bei uns ein Mann…« und der Gärtner schickte sich an, zu erzählen; aber der Zug kam zum Halten.

»Eine Station, scheint es,« sagte er, »trinken gehen.«

Das Gespräch hörte auf, und Nechljudow ging gleich hinter dem Gärtner aus dem Wagen auf die nassen Bretter der Plattform.

42

Noch ehe Nechljudow den Waggon verlassen, bemerkte er auf dem Stationshofe einige reiche Equipagen, mit drei oder vier satten, schellenklierenden Pferden bespannt; als er aber auf die vom Regen dunkel gewordene nasse Plattform hinausgegangen, sah er vor der ersten Klasse ein Häufchen Leute, in deren Mitte sich eine hohe, dicke Dame im Waterproof und einem Hut mit kostbaren Federn, sowie ein langer, junger Mann mit dünnen Beinen, im Velokostüm, mit einem ungeheuer großen, satten Hunde, der ein teures Halsband trug, hervorthaten. Hinter ihnen stand ein Kutscher, standen Lakaien mit Mänteln und Schirmen, die ihnen entgegengekommen waren. Auf diesem ganzen Häufchen — von der dicken Herrin bis zu dem Kutscher, der die Schöße seines langen Kaftans mit einer Hand zusammenhielt, lag der Stempel der ruhigen Selbstgewißheit und des Ueberflusses. Um dieses Häufchen herum bildete sich sogleich ein Kreis neugieriger und vor dem Reichtum kriechender Leute: der Stationschef mit roter Mütze, ein Gendarm, ein im Sommee immer der Ankunft der Züge assistierendes hageres Mädchen in russischem Kostüm mit Glasperlen um den Hals, ein Telegraphist und Passagiere, Männer und Frauen.

In dem jungen Manne mit dem Hunde erkannte Nechljudow den Gymnasiasten, den jungen Kortschagin. Die dicke Dame aber war die Schwester der Fürstin, auf deren Gut die Kortschagins übersiedelten. Der Oberkondukteur mit den glänzenden Gallons und Stiefeln öffnete die Thür des Waggons und hielt sie, zum Zeichen seiner Ehrerbietung, während Philipp und ein Dienstmann in weißer Schürze die Fürstin mit dem langen Gesicht auf ihrem zusammenlegbaren Lehnstuhl heraustrugen. Die Schwestern begrüßten einander, es ließen sich französische Phrasen hören, ob die Fürstin in einer Kutsche oder in einer Kalesche fahren wolle, und der Zug, der von dem Zimmermädchen mit den Löckchen, daß die Schirme und das Futteral trug, beschlossen ward, bewegte sich zur Stationsthür.

Nechljudow, der ihnen nicht begegnen wollte, um nicht noch einmal Abschied nehmen zu müssen, blieb, ohne die Stationsthür zu erreichen, stehen und wartete, bis der ganze Zug vorüber sei. Die Fürstin mit dem Sohn, Missi, der Arzt und das Zimmermädchen gingen voran, der alte Fürst aber blieb mit der Schwägerin hinten stehen, und Nechljudow, ohne heranzutreten, hörte nur abgebrochene französische Sätze ihres Gesprächs. Eine dieses Phrasen, vom Fürsten gesagt, prägte sich, wie es aus irgend einem Grunde oft zu geschehen pflegt, dem Nechljudow ins Gedächtnis mit allen Intonationen und Klängen der Stimme.

»Oh! il est du vrai grand monde, du vrai grand monde,« sagte der Fürst von jemand mit seiner lauten, selbstgewissen Stimme und ging zusammen mit seiner Schwägerin, von den ehrerbietigen Kondukteuren und Trägern begleitet, durch die Stationsthür.

Um dieselbe Zeit erschienen auf der Plattform, irgend woher, hinter einer Ecke des Stationsgebäudes hervor, ein Haufen Arbeiter in Bastschuhen und mit Halbpelzen und Säcken auf dem Rücken. Die Arbeiter näherten sich mit entschiedenen, weichen Schritten dem ersten Wagen und wollten hineinsteigen, aber sofort wurden sie von einem Kondukteur fortgejagt. Ohne stehen zu bleiben, gingen die Arbeiter, sich eilend und einander auf die Füße tretend, weiter zum benachbarten Waggon und begannen schon, mit den Säcken an den Ecken des Wagens und in der Thür anstoßend, hinein zu steigen, als ein anderer Kondukteur von der Stationsthür ihre Absicht bemerkte und sie strenge anschrie. Die eingestiegenen Arbeiter kamen sofort eilig heraus und gingen wieder mit denselben weichen und entschiedenen Schritten noch weiter zum folgenden Waggon, demselben, in welchem Nechljudow seinen Platz hatte. Ein Kondukteur hielt sie wieder an. Sie machten Halt, in der Absicht, noch weiter zu gehen, aber Nechljudow sagte ihnen, daß es im Wagen Plätze gäbe, und daß sie einsteigen sollten. Sie gehorchten ihm, und Nechludow trat gleich hinter ihnen in den Wagen. Die Arbeiter schickten sich schon an, ihre Plätze einzunehmen, aber der Herr mit der Kokarde, und die beiden Damen, da sie ihren bösen Anschlag, sich in diesem Waagon niederzulassen, für eine persönliche Beleidigung nahmen, widersetzten sich entschieden und fingen an, sie wegzutreiben. Die Arbeiter — ihrer waren etwa zwanzig Mann — sowohl alte wie ganz junge, alle mit gequälten, verbrannten, vertrockneten Gesichtern, gingen sofort, mit den Säcken an die Bänke, Wände und Thüren stoßend, durch den Waggon weiter, augenscheinlich sich vollkommen schuldig fühlend, und bereit, bis ans Ende der Welt zu gehen und sich zu setzen, wohin man es ihnen befiehlt, wenn auch auf Nägel.

»Wohin stakt ihr, Teufel? Setzt euch hin!« schrie ein anderer, ihnen gegenüber eintretender Kondukteur.

»Voilá, encore de nouvelles,« machte die jüngere der beiden Damen, vollkommen überzeugt, daß sie durch ihr schönes Französisch die Aufmerksamkeit Nechljudows auf sich lenken werde. Die Dame mit den Armbändern schnüffelte nur immer, rümpfte die Nase und sagte etwas von der Annehmlichkeit, mit stinkendem Bauernvolk zusammen zu sitzen.

Die Arbeiter aber blieben stehen, indem sie die Freude und Beruhigung von Menschen, die einer großen Gefahr entgangen, empfanden, und begannen, die Plätze einzunehmen, warfen mit einer Bewegung der Schulter die schweren Säcke vom Rücken und schoben sie unter die Bänke.

Der Gärtner der mit dem Taraß gesprochen, hatte nicht auf seinem Platz gesessen und war jetzt auf den eigenen gegangen, so daß neben dem Taraß und ihm gegenüber drei Plätze frei waren. Drei Arbeiter setzten sich auf diese Plätze, aber als Nechljudow sich ihnen näherte, machte der Anblick seiner herrschaftlichen Kleidung sie so befangen, daß sie aufstanden, um wegzugehen; Nechljudow jedoch bat sie zu bleiben und setzte sich selber auf die Seitenlehne der Bank am Durchgang. Einer der Arbeiter ein etwa fünfzigjähriger Mann, wechselte einen unsichern, sogar erschrockenen Blick mit einem jungen. Der Umstand, daß Nechljudow ihnen den Platz abgetreten, statt sie, wie es einem Herrn eigentümlich ist, zu schimpfen und fortzujagen, verwunderte sie sehr und machte sie stutzig. Sie fürchteten sogar, daß etwas Schlimmes für sie daraus entstehen könne. Als sie aber sahen, daß da keine Hinterlist steckte, und daß Nechljudow mit Taraß einfach sprach, hießen sie den Jungen sich auf den Sack setzen und baten, daß Nechljudow seinen Platz einnehme. Zuerst machte sich der ältere, dem Nechljudow gegenübersitzende Arbeiter immer ganz klein, zog seine mit Bastschuhen bekleideten Füße sorgfältig an sich, um nicht an den Herrn anzustoßen, dann aber kam er in ein so freundliches Gespräch mit Nechljudow und Taraß, daß er sogar den Nechljudow mit der Hand, die Handfläche nach oben gekehrt, auf das Knie klopfte bei denjenigen Stellen der Erzählung, auf die er seine besondere Aufmerksamkeit lenken wollte. Er erzählte von allen seinen Umständen, und von der Arbeit bei der Torfgewinnung, von der sie jetzt nach Hause fuhren. Nachdem sie dort zwei und einen halben Monat gearbeitet, brachten sie an verdientem Gelde etwa zehn Rubel für jeden nach Hause, weil ein Teil des Verdienstes im voraus bei der Verdingung gezaht worden. Ihre Arbeit, wie er erzählte, ward ausgeführt, indem sie die zum Knie im Wasser standen, und dauerte von der Morgen- bis zur Abendröte mit zweistündiger Ruhepause um Mittag.

»Die nicht die Gewohnheit haben, für die ist es gewiß schwer,« sprach er, »hast du dich aber mal eingefahren, — macht es nichts. Wäre nur die Kost ordentlich. Zuerst war die Kost schlecht. Nun, dann aber nahmen die Leute das übel, und die Kost wurde gut, und die Arbeit ging leicht.«

Dann erzählte er, wie er seit achtundzwangig Jahren auf die Arbeit ginge und seinen ganzen Verdienst nach Hause brächte, zuerst dem Vater, dann dem ältesten Bruder, jetzt dem Neffen, der die Wirtschaft führte, daß er selber aber von den verdienten fünfzig–sechzig Rubel im Jahr zwei–drei Rubel füt die Unart — Tahak und Zündhölzchen verbrauche.

»Sündiger Mensch, manchmal trinkt man auch ein Schnäpschen vor Ermüdung,« — fügte er mit schuldigem Lächeln hinzu.

Er erzählte noch, wie die Weiber für sie zu Hause die Arbeit verrichten, und wie der Unternehmer sie heute vor der Abreise mit einem halben Eimerchen Branntwein bewirtete; wie einer von ihnen gestorben sei, und wie ein anderer, den sie mitführten, krank sei. Der Kranke, von dem er sprach, saß in demselben Wagen, in der Ecke. Das war ein junger Bursche, graublaß mit blauen Lippen. Das Fieber hatte ihn augenscheinlich zerstört und zerstörte ihn noch. Nechljudow trat an ihn heran, aber der Knabe blickte ihn mit einem so strengen, leidenden Blick an, daß Nechljudow ihn nicht mit Fragen beunruhigen wollte, sondern dem Alten riet, Chinin zu kaufen und ihm die Benennung der Arznei auf ein Papierchen schrieb. Er wollte ihm Geld geben, aber der alte Arbeiter sagte, daß es nicht nötig sei, er werde sein eigenes Geld zahlen.

»Nun, so viel ich auch gereist bin, solche Herren habe ich nie gesehen. Hat dir nicht etwa einen Genickstoß gegeben, sondern noch seinen eigenen Platz abgetreten. Verschiedene giebt es also auch unter den Herren,« folgerte er, sich an den Taraß wendend.

‘Ja, eine ganz neue, andere, neue Welt,’ dachte Nechljudow, während er diese hageren, muskulösen Gliedmaßen, die groben zu Hause gemachten Kleider, und die verbrannten, freundlichen und gequälten Gesichter betrachtete, und er fühlte sich von allen Seiten von ganz neuen Menschen umgeben mit ihren ernsten Interessen, Freuden und Leiden des wahren, arbeitsamen und menschlichen Lebens.

‘Hier ist sie — le vrai grand monde,’ dachte Nechljudow, indem er sich der vom Fürsten Kortschagin gesprochenen Phrase und dieser ganzen müßigen, luxuriösen Welt der Kortschagins mit ihren nichtigen, kläglichen Interessen erinnerte. Und er hatte das Gefühl des Reisenden, den eine neue, unbekannte und schöne Welt entdeckt hat.

Ende des zweiten Teils.

Teil III

3

1

Die Gefangenenabteilung, mit welcher die Maslowa transportiert wurde, hat etwa fünftausend Werst zurückgelegt. Bis Permj war die Maslowa im Eisenbahnwagen und auf dem Dampfschiff mit den Kriminalverbrechern zusammen befördert worden, und erst in dieser Stadt gelang es dem Nechljudow, ihre Versetzung zu den Politischen auszuwirken, wie es ihm die Bogoduchowskaja geraten hatte, die auch mit dieser Abteilung transportiert ward.

Die Reise bis Permj fiel der Maslowa sehr schwer, sowohl physisch wie moralisch. Physich — wegen des Gedränges, des Schmutzes und des widerwärtigen Ungeziefers, welches ihr keine Ruhe ließ, und moralisch — wegen ebenso widerwärtiger Männer, die ganz so wie die Insekten, obgleich sie mit jeder Etappe wechselten, überall gleich aufdringlich, klebrig waren und ihr keine Ruhe ließen. Zwischen Arrestantinnen und Arrestanten, Aufsehern und Eskortierenden hat sich die Gewöhnung zu cynischer Unzucht so sehr eingenistet, daß jede Frau, insbesondere jede junge, wenn sie ihre Lage als Frau nicht ausnutzen will, stets gezwungen ist, auf der Hut zu sein. Und dieser beständige Zustand der Angst und des Kampfes war sehr schwer. Die Maslowa aber war diesen Angriffen besonders ausgesetzt, sowohl ihres anziehenden Aeußeren wie ihrer, allen bekannten, Vergangenheit halber. Der entschiedene Widerstand, welchen sie jetzt den sich ihr aufdrängenden Männern entgegensetzte, erschien ihnen als Beleidigung und rief in ihnen auch noch Erbitterung gegen sie hervor. Was aber ihre Lage in dieser Beziehung erleichterte, war die Nähe von Fedossija und Taraß, der, nachdem er von den Angriffen erfahren, die auf seine Frau gemacht wurden, verlangte, arretiert zu werden, um sie verteidigen zu können, und der von Nischnij ab als Arrestant mit den Gefangenen zusammen fuhr.

Die Versetzung in die Abteilung der Politischen verbesserte die Lage der Maslowa in jeder Beziehung. Nicht allein, daß die Politischen besser plaziert und ernährt wurden und nicht so großen Grobheiten ausgesetzt waren, verbesserte die Ueberführung der Maslowa zu den Politischen ihre Lage noch insofern, als die Verfolgungen von Seiten der Männer aufhörten, und daß sie leben konnte, ohne daß man sie jede Minute an ihre Vergangenheit erinnerte, die sie jetzt so sehr zu vergessen wünschte. Der hauptsächliche Vorteil ihrer Versetzung aber bestand darin, daß sie einige Menschen kennen lernte, die auf sie einen entschiedenen und — den wohlthätigsten Einfluß hatten.

Auf den Etappen war der Maslowa erlaubt sich mit den Politischen zusammen zu setzen, gehen aber mußte sie, als gesunde Frau, zu Fuß, mit den Kriminalverbrechern. So ging sie die ganze Zeit, gleich von Tomsk ab.

Mit ihr zusammen gingen, ebenso zu Fuß, zwei Politische; Maria Pawlowna Schtschetinina, dasselbe schöne Mädchen mit den Hammelaugen, welches dem Nechljudow während seines Besuches bei der Bogoduchowskaja aufgefallen war und ein gewisser Simonsohn, der in die Provinz Jakutsk befördert wurde, derselbe schwarze Strubelkopf mit den tief unter der Stirn liegenden Augen, den Nechljudow auch bei diesem Besuch bemerkt hatte. Maria Pawlowna ging zu Fuß, weil sie ihren Platz auf dem Fuhrwerk einer Kriminalverbrecherin, einer schwangeren Frau, abgetreten hatte; Simonsohn aber — weil er es für unbillig hielt, von einem Klassenvorrecht Gebrauch zut machen.

Diese drei begaben sich, abgesondert von den andern Politischen, die später mit den Fuhrwerken abfuhren, früh am Morgen mit den Kriminalverbrechern auf den Weg. So war es auch auf der letzten Etappe, vor einer großen Stadt, wo ein neuer Eskorte-Offizier die Abteilung in Empfang nahm.

Es war ein früher, schlackeriger Septembermorgen. Unter kalten Windstößen fiel bald Schnee, bald Regen. Alle Gefangenen der Abteilung, — vierhundert Männer und etwa fünfzig Frauen — waren schon auf dem Etappenhofe und drängten sich zum Teil um den oberen Eskortesoldaten, der die Kostgelder für zwei Tage an die Aeltesten verteilte; zum Teil aber handelten sie bei den auf den Etappenhof eingelassenen Hökerinnen Eßwaren ein. Es ertönte das dumpfe Stimmengemurmel der Gefangenen, die Geld zählten und Lebensmittel kauften, und das kreischende Reden der Hökerinnen.

Katjuscha und Maria Pawlowna — beide in hohen Stiefeln und Halbpelzen, mit Tüchern umbunden, — kamen aus dem Etappenraum auf den Hof und begaben sich zu den Hökerinnen, die vor dem Winde geschützt, an der nördlichen Wand des Pfahlwerks saßen und um die Wette ihre Waren anboten: frisches Feinbrot, Fische, Nudelsuppe, Grützbrei, Leber, Rindfleisch, Eier, Milch; eine hatte sogar ein gebratenes Ferkel.

Simonsohn in der Guttaperchajacke und den über den wollenem Strümpfen mit Bindfaden befestigten Gummmigaloschen, (er war Vegetarier und benutzte keine Felle von getöteten Tieren), war ebenfalls auf dem Hof und erwartete den Ausmarsch der Abteilung. Er stand am Hanseingang und schrieb in ein Notizbuch einen Gedanken, der ihm gekommen war. Der Gedanke bestand in folgendem: ‘Wenn,’ schrieb er, ‘eine Bakterie den Nagel eines Menschen beobachtete und untersuchte, so würde sie ihn für ein unorganisches Gebilde halten. Ebenso haben auch wir die Erdkugel nach den Beobachtungen ihrer Kruste als ein unorganisches Wesen bestimmt. Das ist nicht richtig.’

Nachdem die Maslowa Eier, einen Kranz Brezeln, Fisch und frisches Weizenbrot erstanden, packte sie alles dies in einen Sack, Maria Pawlomna aber zahlte den Hökerinnen, als unter den Gefangenen eine Bewegung entstand. Alles ward still, und die Leute begannen, sich in Reihe und Glied aufzustellen. Es kam der Offizier heraus und traf die letzten Anordnungen vor dem Abmarsch.

Alles ging vor sich wie gewöhnlich; man zählte, untersuchte die Unversehrtheit der Beinschellen und that die Paare zusammen, die in Handfesseln gehen mußten.

Aber plötzlich ertönte ein obrigkeitsmäßig-zorniges Geschrei des Offiziers, ein Schlag auf einen menschlichen Körper und das Weinen eines Kindes. Alles verstummte auf einen Augenblick, dann aber lief durch den ganzen Haufen ein dumpfes Gemurmel. Die Maslowa und Maria Pawlowna näherten sich dem Orte des Lärms.

2

Als Maria Pawlowna tmd Katjuscha den Ort des Lärmens erreichten, sahen sie folgendes: der Offizier, ein handfester Mann mit großem, blondem Schnurrbart, rieb stirnrunzelnd mit der linken Hand die Handfläche der rechten, die er an dem Gesicht eines Gefangenen beschädigt hatte und stieß unaufhörlich grobe unflätige Schimpfworte aus. Vor ihm stand, mit einer Hand sein blutig zerschlagenes Gesicht abwischend und mit der andern ein in ein Tuch gewickeltes und durchdringend winselndes Mädchen haltend, ein langer magerer Gefangener mit halbrasiertem Kopf in einem kurzen Gefangenenrock und in noch kürzeren Hosen.

»Ich werde dich (unanständige Schimpfwörter) raisonieren lehren, (wieder Schimpfwörter) kannst es den Weibern abgeben,« schrie der Offizier. »Lege sie an!«

Der Offizier verlangte, daß man die Handfesseln einem von Gemeinde wegen Verschickten anlege, der den ganzen Weg sein Mädchen auf den Armen trug, das ihm seine in Tomsk am Typhus gestorbene Frau hinterlassen hatte.

Die Einwendungen des Gefangenen, daß er mit den Handfesseln das Kind nicht tragen könne, reizten den schlecht gelaunten Offizier, und er schlug den Gefangenen,38 der sich ihm nicht sofort unterworfen hatte.

Dem Zerschlagenen gegenüber standen ein Eskortesoldat und ein schwarzbärtiger Gefangener, mit der an einer Hand angelegten Handfessel, der düster und scheel bald auf den Offizier, bald auf den zerschlagenen Arrestanten mit dem Mädchen blickte. Der Offizier wiederholte dem Eskortesoldaten den Befehl, das Mädchen wegzunehmen.

Das Gemurmel unter den Gefangenen wurde immer lauter und lauter.

»Von Tomsk an gingen wir, ohne daß man sie ihm anlegte,« ließ sich eine heisere Stimme aus den hinteren Reihen hören. »Es ist kein Hündchen, sondern ein Kind.«

»Wohin soll er denn mit dem Dirnlein? Das ist nicht nach dem Gesetz,« sagte noch jemand.

»Wer ist das?« schrie der Offizier, wie gestochen und stürzte sich in den Haufen, »ich werde dir das Gesetz zeigen! Wer hat’s gesagt? Du? Du?«

»Alle sagen es, weil…« sagte ein untersetzter Gefangener mit breitem Gesicht.

Er hatte nicht Zeit zu Ende zu sprechen. Der Offizier begann ihn mit beiden Händen ins Gesicht zu schlagen.

»Wollt ihr meutern? Ich werde euch zeigen, wie man Meuterei macht. Ich schieße euch alle tot wie Hunde. Die Obrigkeit wird mir dafür nur Dank sagen. Nimm den Balg.«

Der Haufen wurde still. Einer der Eskortesoldaten riß das verzweifelt schreiende Mädchen fort, ein anderer begann dem gehorsam seine Hand hinhaltenden Arrestanten die Handfesseln anzulegen.

»Bringe es den Weibern,« schrie der Offizier dem Eskortesoldaten zu, während er das Portépée seines Säbels in Ordnung brachte.

Das kleine Mädchen bemühte sich, seine Aermchen aus dem Tuch zu befreien und winselte ohne Aufhören mit wie von Blut übergossenem Gesicht. Aus dem Haufen trat Maria Pawlowna heraus und näherte sich dem Eskorteoffizier.

»Herr Offizier, erlauben Sie, ich werde das Mädchen tragen.«

Der Eskortesoldat mit dem Kinde blieb stehen.

»Wer bist du?« fragte der Offizier.

»Ich bin eine Politische.«

Augenscheinlich that das schöne Gesicht der Maria Pawlowna mit den schönen gewölbten Augen auf den Offizier — (er hatte sie schon bei der Empfangnahme gesehen) — seine Wirkung. Er sah sie schweigend an, gleichsam etwas erwägend.

»Mir ist’s gleich, tragen Sie’s, wenn Sie Lust haben. Sie haben leicht mit ihnen Mitleid haben; läuft er aber weg, wer wird es verantworten?«

»Wie soll er denn mit dem Mädchen weglaufen?« sagte Maria Pawlowna.

»Ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten. Nehmen Sie es, wenn Sie wollen.«

»Befehlen Sie, daß ich es abgebe.«

»Gieb es ab.«

»Komm zu mir,« sprach Maria Pawlowna, sich bemühend, das Kind zu sich zu locken.

Aber das von den Armen des Eskortesoldaten nach dem Vater langende Mädchen fuhr fort zu winseln und wollte nicht zu Maria Pawlowna gehen.

»Warten Sie, Maria Pawlowna, es wird zu mir gehen,« sagte die Maslowa, während sie einen Kringel aus dem Sacke holte.

Das Kind kannte die Maslowa, und als es ihr Gesicht und den Kringel sah, ging es zu ihr.

Alles wurde still. Man machte das Thor auf, die Abteilung trat hinaus, stellte sich in Reih und Glied, die Eskortesoldaten zählten sie wieder, man packte die Säcke auf und band sie fest, setzte die Schwachen auf die Wagen. Die Maslowa mit dem Kind auf den Armen stellte sich zu den Frauen neben Fedossija. Simonsohn, der die ganze Zeit dem, was sich abspielte, aufmerksam gefolgt war, näherte sich mit großen entschiedenen Schritten dem Offizier, der alle Anordnungen beendigt hatte und in seinen Tarantaß einstieg.

»Sie haben schlecht gehandelt, Here Offizier,« sagte Simonsohn.

»Scheren Sie sich auf Ihren Platz. Das ist nicht Ihre Sache.«

»Meine Sache ist, es Ihnen zu sagen, und ich habe gesagt, daß Sie schlecht gehandelt haben,« sagte Simonsohn, indem er unter seinen dichten Augenbrauen hervor unverwandt in das Gesicht der Offiziers blickte…

»Fertig? Abteilung marsch;« schrie der Offizier, ohne auf Simonsohn zu achten, und sich an der Schulter des Kutschers, eines Soldaten, haltend, stieg er in den Tarantaß. Die Abteilung setzte sich in Bewegung, entfaltete sich und trat auf den schmutzigen, zu beiden Seiten mit ausgegrabenen Rinnen versehenen, zerfahrenen Weg hinaus, welcher mitten durch den dichten Wald führte.

3

Nach dem sittenlosen, luxuriösen und verweichlichenden Leben der letzten sechs Jahre in der Stadt, und nach den zwei Monaten im Gefängnis mit den Kriminalverbrechern erschien der Katjuscha jetzt das Leben unter den Politischen trotz aller Schwere der Bedingungen, unter denen sie sich befanden, sehr gut. Die Tagesmärsche von 20-30 Werst zu Fuß bei guter Kost und bei einem Rasttage nach je zwei Tagen des Marsches kräftigten sie physisch, der Verkehr aber mit den neuen Kameraden eröffnete ihr Interessen des Lebens, von denen sie keinen Begriff gehabt. So ‘wunderbare’ Leute, wie sie zu sagen pflegte, als die waren, mit denen sie jetzt ging, hatte sie nicht nur nicht gekannt, sondern sich nicht einmal vorzustellen vermocht. »Da habe ich geweint, daß man mich verurteilte« sprach sie. »Ich muß ja mein Lebelang Gott dafür danken. Nun habe ich erfahren, was ich im ganzen Leben nicht erfahren hätte.« Sie begriff sehr leicht und ohne Mühe die Motive welche diese Leute leiteten, und, als ein Mensch aus dem Volke, sympathisierte sie vollkommen damit. Sie begriff, daß diese Menschen für das Volk eintraten gegen die Herren; und daß diese Leute selber Herren waren und ihre Vorrechte, ihre Freiheit, ihr Leben für das Volk opferten, ließ sie diese Menschen besonders hoch schätzen und von ihnen entzückt sein.

Sie war von allen ihre neuen Kameraden entzückt. Am meisten aber schwärmte sie für Maria Pawlowna, und sie schwärmte nicht nur, sondern sie liebte sie mit einer besonderen ehrerbietigen und begeisterten Liebe. Der Umstand setzte sie in Erstaunen, daß dies schöne Mädchen aus einem reichen Generalshause, die drei Sprachen beherrschte, sich wie die einfachste Arbeiterin benahm, alles, was ihr ihr reicher Bruder zuschickte, anderen vom Leibe weggab, und sich nicht nur einfach, sondern ärmlich kleidete und beschuhte, ohne ihrem Aeußeren irgend welche Aufmerksamkeit zu schenken. Dieser Zug: die vollständige Abwesenheit der Koketterie — wunderte die Maslowa besonders und entzückte sie darum. Die Maslowa sah, daß Maria Pawlowna wußte, daß sie schön sei, und daß es ihr angenehm war, sich schön zu wissen, aber daß sie sich nicht nur nicht freute über den Eindruck, welchen ihr Aeußeres auf die Männer machte, sondern daß sie sich davor fürchtete und geradezu Ekel und Furcht gegenüber dem Verliebtsein empfand. Ihre Kameraden, die Männer, die es wußten, wenn sie auch einmal eine Neigung für sie fühlten, erlaubten sich doch nicht, sie ihr zu zeigen und gingen mit ihr wie mit einem Kameraden, mit einem Manne, um, unbekannte Leute aber drängten sich ihr oft auf, und vor ihnen, wie sie erzählte, rettete sie ihre große physische Kraft, auf die sie besonders stolz war.

»Einmal,« wie sie lachend Katjuscha erzählte, »hängte sich mir irgend ein Herr auf der Straße an und wollte durchaus nicht weichen; da habe ich ihn derart durchgeschüttelt, daß er erschrak und sich vor mir aus dem Staube machte.«

Eine Revolutionärin wurde sie, wie sie erzählte, weil sie von Kindheit an gegen das Herrenleben Widerwillen gefühlt, aber das Leben der einfachen Leute geliebt: man pflegte sie immer dafür zu schelten, daß sie sich im Mädchenzimmer, in der Küche, im Stall, aber nicht im Empfangszimmer aufhielt. —

»Mir war es oben bei den Köchinnen und Kutschern lustig, bei unseren Herren und Damen jedoch langweilig,« erzählte sie. »Dann, als ich die Sachen zu verstehen begann, sah ich, daß unser Leben ganz schlecht sei. Eine Mutter hatte ich nicht, den Vater liebte ich nicht, und neunzehn Jahre alt, ging ich mit einer Kameradin aus dem Hause weg und trat als Arbeiterin in eine Fabrik ein.«

Spätee, nach der Fabrik, lebte sie in einem Dorf, dann siedelte sie in eine Stadt über und wurde in der Wohnung, wo die geheime Druckerei war, festgenommen und zur Zwangsarbeit verurteilt. Maria Pawlowna erzählte selber nie davon, aber Katjuscha erfuhr es von den anderen, daß sie zur Zwangsarbeit verurteilt worden, weil sie einen Schuß auf sich genommen hatte, welcher während der Haussuchung in der Dunkelheit von einem Revolutionär abgefeuert worden.

Seit Katjuscha sie kennen gelernt, sah sie, daß, wo und unter welchen Umständen sie auch sein mochte, sie nie an sich selber dachte, sondern immer besorgt war, wie sie Jemandem einen Dienst, eine Hilfe im Großen oder im Kleinen leisten könne. Einer ihrer jetzigen Kameraden, Nowodworow, pflegte von ihr im Scherz zu sagen, daß sie sich dem Sporte der Wohlthätigkeit ergebe. Und er hatte recht. Das ganze Interesse ihres Lebens bestand darin, wie für einen Jäger die Aufspürung des Wildes, eine Gelegenheit zu finden, um anderen nützlich zu sein. Und dieser Sport wurde zur Gewohnheit, wurde das Werk ihres Lebens. Unb sie that es so natürlich, daß die anderen, die sie kannten, es nicht mehr schätzten, sondern verlangten.

Als die Maslowa zu ihnen kam, empfand die Maria Pawlowna gegen sie Widerwillen, Ekel. Katjuscha bemerkte das, dann aber bemerkte sie auch, wie Maria Pawlowna sich bezwang und mit ihr besonders freundlich und gut wurde. Und diese Güte und Freundlichkeit, seitens eines so ungewöhnlichen Wesens rührten die Maslowa so sehr, daß sie sich ihr mit ganzer Seele ergab, indem sie unbewußt sich ihre Ansichten aneignete und unwillkürlich ihr in allem nachahmte.

Diese ergebene Liebe seitens der Katjuscha rührte Maria Pawlowna, und auch sie gewann die Katjuscha lieb. Auch der Widerwille, den sie beide gegen die Geschlechtsliebe empfanden, brachte diese Frauen einander näher. Die eine haßte diese Liebe, weil sie das ganze Grausen derselben erfahren hatte; die andere, weil sie, ohne sie kennen gelernt zu haben, sie als etwas Unbegreifliches und zugleich Abscheuliches und die Menschenwürde Beleidigendes betrachtete.

4

Die eine Beeinflussung, der die Maslowa nachgab, ging von der Maria Pawlowna aus. Sie rührte daher, daß die Maslowa die Maria Pawlowna lieb gewann. Der andere Einfluß kam von Simonsohn. Und dieser Einfluß rührte daher, daß Simonsohn die Maslowa lieb gewann.

Wie Menschen leben und wirken teils eigenen Gedanken gemäß, teils gemäß den Gedanken anderer Leute. Darin, in wie weit die Menschen nach eigenen Gedanken und in wie weit nach den Gedanken anderer Leute leben, darin besteht einer der Hauptunterschiede der Menschen unter einander: die einen brauchen in den meisten Fällen ihre Gedanken gleichsam zu einem geistigen Spiel, geben mit ihrem Intellekt um, wie mit einem Schwungrad, von dem der Transmissionsriemen abgenommen worden, und in allen ihren Handlungen unterwerfen sie sich fremden Gedanken — dem Brauch, der Ueberlieferung, dem Gesetz. Die anderen dagegen, indem sie ihre eigenen Gedanken für die Hauptbewegkraft ihrer ganzen Thätigkeit halten, geben fast immer den Forderungen ihres Intellekts Gehör und unterwerfen sich ihm, und nur selten, und dies nur nach kritischer Schätzung, folgen sie dem, was die anderen entschieden haben. Solch ein Mensch war Simonsohn. Er pflegte alles durch den Intellekt zu prüfen, zu entscheiden, und was er beschlossen hatte, das that er auch.

Nachdem er, noch als Gymnasiast, zu dem Schluß gekommen, daß, was sein Vater, ein gewesener Intendanzbeamter, erworben hatte, unehrlich erworben war, erklärte er dem Vater, daß man dieses Vermögen dem Volk abgeben müsse. Als aber der Vater ihm nicht nur nicht gehorchte, sondern ihn schimpfte, ging er aus dem Hause weg und hörte auf, von dem Vater Mittel anzunehmen. Nachdem er zu dem Schluß gelangt war, daß alles existierende Uebel von der Unaufgeklärtheit des Volkes herrühre, schloß er sich, nachdem er die Universität verlassen, den Narodniki an, übernahm in einem Dorf eine Lehrerstelle und predigte kühn, sowohl seinen Schülern, als auch den Bauern, alles, war er für billig hielt, und leugnete, was er für falsch hielt.

Man nahm ihn fest und stellte ihn vor Gericht.

Während der Gerichtsverhandlung kam er zu dem Schluß, daß die Richter kein Recht hätten, über ihn zu Gericht zu sitzen und sagte ihnen das grade heraus. Da aber die Richter nicht mit ihm einverstanden waren und fortfuhren, über ihn zu Gericht zu sitzen, beschloß er, ihnen nicht zu antworten und schwieg auf all ihre Fragen. Man verschickte ihn in’s Gouvernement Archangelsk. Dort bildete er sich eine Religionslehre, die seine gesamte Thätigkeit bestimmte. Diese Religionslehre bestand darin, daß alles in der Welt lebendig sei, daß Totes nicht existiere, daß alle Dinge, die wie für tot, unorganisch halten, nur Teile eines ungeheueren organischen Körpers seien, den wie nicht fassen können, und daß deswegen die Aufgabe der Menschen, als eines Teilchens des großen Organismus, in der Unterhaltung des Lebens dieses Organismus und aller seiner lebendigen Teile bestehe. Und darum hielt er es für ein Verbrechen, Lebendiges zu vernichten; er war gegen den Krieg, gegen die Todesstrafe, gegen jegliche Tötung, nicht nur der Menschen, sondern auch der Tiere. In Bezug auf die Ehe hatte er auch eine eigene Theorie, darin bestehend, daß die Fortpflanzung der Menschen nur eine niedere menschliche Funktion sei, daß die höhere aber darin bestehe, dem schon existierenden Lebendigen zu dienen. Eine Bestätigung dieses Gedankens fand er in der Existenz der Phagocyten im Blut. Die unverheirateten Menschen waren, seiner Meinung nach, eben diese Phagocyten, deren Bestimmung es war, die Hilfe der schwachen, kranken Teile des Organismus zu bilden. So lebte er auch seit der Zeit, da er zu diesem Schluß gekommen, obgleich er früher als Jüngling der Liederlichkeit ergeben gewesen. Er hielt sich, sowie Maria Pawlowna für Weltphagocyten.

Seine Liebe zu Katjuscha verletzte diese Theorie nicht, weil er sie platonisch liebte, da er meinte, daß eine solche Liebe die Phagocytenthätigkeit, den Schwachen zu dienen, nicht nur nicht störe, sondern noch mehr für dieselbe begeistere.

Aber außer, daß er die moralischen Fragen nach seiner Art zu entscheiden pflegte, entschied er auch die meisten praktischen Fragen nach seiner Art. Er hatte für alle praktischen Sachen seine Theorien; er hatte Regeln, wie viel Stunden man arbeiten, wie viele man ausruhen, wie man sich ernähren, bekleiden, wie man die Ofen heizen, wie beleuchten solle.

Gleichzeitig war Simonsohn außerordentlich schüchtern und bescheiden gegenüder den Menschen. Aber wenn er einmal etwas beschlossen, konnte ihn auch nichts mehr zurückhalten.

Und dieser Mensch nun hatte einen entschiedenen Einfluß auf die Maslowa dadurch, daß er sie lieb gewann. Die Maslowa mit ihrem Fraueninstinkt erriet es sehr bald, und das Bewußtsein, daß sie in einem so ungewöhnlichen Menschen Liebe für sich hervorrufen konnte, hob sie in ihrer eigenen Meinung. Nechljudow bot ihr die Ehe aus Großmut und wegen dessen, war früher geschehen; Simonsohn aber liebte sie so, wie sie jetzt war und liebte sie einfach, weil er sie liebte. Außerdem fühlte sie, daß Simonsohn sie für eine ungewöhnliche, sich vor allen auszeichnende Frau hielt, die besondere, hohe, moralische Eigenschaften hatte. Sie wußte nicht genau, welche Eigenschaften er ihr zuschrieb, aber auf jeden Fall, um ihn nicht zu täuschen, bemühte sie sich aus allen Kräften, in sich die besten Eigenschaften, welche sie sich nur vorzustellen vermochte, hervorzurufen, und das veranlaßte sie, sich Mühe zu geben, so gut zu sein, wie sie nur konnte.

Es begann noch im Gefängnis, als bei der allgemeinen Zusammenkunft der Politischen sie den besonders hartnäckigen Blick seiner unschuldigen, guten, dunkelblauen Augen bemerkte, den er unter der überhängenden Stirn und den Brauen hervor auf sie richtete. Schon damals fiel es ihr auf, daß es ein eigentümlicher Mensch sei, und daß er sie eigentümlich ansähe, sie bemerkte auch die unwillkürlich überraschende Vereinigung in demselben Gesicht, die Rauhheit, welche die gesträubten Haare und die zusammengezogenen Augenbrauen ihm gaben und die kindliche Güte und Unschuld des Blickes. Nachher in Tomsk, als man sie zu den Politichen versetzte, sah sie ihn wieder, und trotzdem kein einziges Wort zwischen ihnen gesagt ward, lag in den Blicken, die sie wechselten, das Geständnis, daß sie einander nicht vergessen hatten, und daß sie einander wichtig seien. Bedeutende Gespräche gab es zwischen ihnen auch nachher nicht; die Maslowa aber fühlte daß, wenn er in ihrer Gegenwart sprach, seine Rede an sie gerichtet war, und daß er für sie sprach, indem er sich bemühte, sich möglichst verständlich auszudrücken. Ihre Annäherung begann besonders seit der Zeit, als er zu Fuß mit den Kriminalverbrechern ging.

5

Von Nischnij bis Permj gelang es dem Nechljudow nur zweimal, Katjuscha zu sehen: einmal in Nischnij, vor der Einschiffung der Gefangenen auf eine von einem Drahtnetz umzogene Barke, — und ein anderes Mal in Permj, im Gefängnisbureau. Und bei diesen beiden Zusammenkünften fand er sie verschlossen und unfreundlich. Auf seine Fragen: ob es ihr gut gehe, und ob sie etwas brauche, antwortete sie ausweichend, befangen und mit jenem, wie es ihm schien, feindseligen Gefühl des Vorwurfs, das auch früher manchmal in ihr zum Vorschein gekommen war. Und diese ihre finstere Stimmung, die nur von den Verfolgungen seitens der Männer herrührte, denen sie während dieser Zeit ausgesetzt war, quälte den Nechljudow. Er befürchtete, daß sie unter dem Einfluß der schweren und sittlich verderbenden Bedingungen, in welchen sie sich während der Reise befand, wieder in jenen früheren Zustand des Zwiespalts mit sich selber und der Verzweiflung am Leben verfallen möchte, den Zustand, in dem sie gegen ihn aufgebracht zu sein und eifrig zu rauchen und Branntwein zu trinken pflegte, um sich zu vergessen. Aber er konnte ihr auf keine Weise helfen, weil er während dieser ganzen ersten Zeit des Weges keine Möglichkeit hatte, sie zu sehen. Erst nach ihrer Versetzung zu den Politischen überzeugte er sich, daß seine Befürchtungen unbegründet gewesen, und nicht nur das, sondern er begann im Gegenteil, bei jeder Zusammenkunft mit ihr, jene immer mehr hervortretende innere Umwandlung zu bemerken, die er in ihr so sehr zu sehen wünschte. Schon bei der ersten Zusammenkunft in Tomsk ward sie wieder dieselbe, die sie vor der Abreise gewesen. Sie runzelte die Stirn nicht und wurde nicht befangen, im Gegenteil, sie empfing ihn freudig und einfach, indem sie ihm dafür dankte, was er für sie gethan und besonders dafür, daß er sie mit den Leuten zusammengebracht hatte, unter welchen sie sich jetzt befand.

Nach zwei Monaten des Etappenmarsches kam die in ihr stattgefundene Umwandlung auch in ihrm Aeußeren zum Vorschein. Sie magerte etwas ab, wurde von der Sonne verbrannt und gleichsam etwas älter; an den Schläfen und um den Mund zeigten sich Fältchen; sie ließ die Haare nicht mehr in die Stirn hängen, sondern sie band sich ein Tuch um den Kopf, und es gab weder in der Kleidung noch in der Frisur, noch im Benehmen Anzeichen mehr der früheren Koketterie. Und diese in ihr stattgefundene und stattfindende Umwandlung rief in Nechljudow fortwährend ein besonders freudiges Gefühl hervor.

Er hatte jetzt ein Gefühl gegen sie, das er früher nie empfunden hatte. Dieses Gefühl hatte nichts Gemeinsames mit der ersten poetischen Begeisterung und noch weniger mit der sinnlichen Verliebtheit, die er später für sie empfunden hatte; er hatte nicht einmal etwas zu thun mit dem Gefühl der erfüllten Pflicht und der Selbstgefälligkeit, das er nach dem Gericht gehabt hatte, als er sie zu heiraten beschlossen. Es war dasselbe einfache Gefühl des Mitleids und der Rührung, welches er zuerst bei der Zusammenkunft mit ihr im Gefängnis und dann mit neuer Kraft nach der im Krankenhause empfunden hatte, als er, nachdem er seinen Widerwillen bezwungen, ihr die vermeintliche Geschichte mit dem Heilgehülfen verziehen (die Unrichtigkeit derselben wurde später aufgeklärt); er war dasselbe Gefühl, nur mit dem Unterschiede, daß es damals vorübergehend gewesen, jetzt aber dauernd wurde. Woran er jetzt auch denken, war er auch thun mochte, seine allgemeine Stimmung war beherrscht von diesem Gefühl des Mitleids und der Rührung, nicht nur für sie, sondern für alle Menschen.

Dies Gefühl deckte gleichsam in der Seele Nechljudows den Strom der Liebe auf, der früher keinen Ausfluß finden können, jetzt aber sich allen Menschen zuwandte, denen er begegnete.

Während der ganzen Reise fühlte sich Nechljudow in einem Zustand der Aufregung, in welchem er unwillkürlich teilnehmend und aufmerksam gegen alle Menschen war, von dem Fuhrmann und dem Eskortesoldaten bis zu dem Gefängnißchef und dem Gouverneur, an die er ein Anliegen hatte.

Während dieser Zeit mußte Nechljudow, infolge der Versetzung der Maslowa zu den Politischen, viele Politische kennen lernen, zuerst in Jekaterienburg, wo sie sehr frei gehalten wurden — alle zusammen, in einer großen Kammer, — und dann unterwegs mit diesen fünf Mannern und vier Frauen, welchen die Maslowa zugetheilt wurde. Diese Annäherung Nechljudows an die verbannten Politischen änderte vollständig seine Ansicht über dieselben.

Gerade vom Anfang der revolurionären Bewegung in Rußland und besonders nach dem ersten März hegte Nechljudow gegen die Revolutionäre ein nicht-wohlwollendes und verächliches Gefühl. Vor allem stieß ihn die Grausamkeit und Heimlichkeit der Mittel ab, die sie im Kampfe gegen die Regierung anzuwenden pflegten, hauptsächlich die Grausamkeit der Mordthaten, die von ihnen verübt worden, und widrig war ihm ferner der ihnen allen eigene Zug des großen Eigendünkels. Aber als er sie und all das, was sie, oft schuldlos, von der Regierung erduldet, näher kennen gelernt hatte, ersah er, daß sie nicht anders sein konnten, als so, wie sie waren.

Wie fürchterlich sinnlos die Qualen auch waren, denen die sogenannten Kriminalen ausgesetzt waren, dennoch ward in Bezug auf sie vor und nach der Verurteilung etwas, gewissermaßen der Gesetzmäßigkeit Ähnliches geübt; in den Sachen mit den Politischen gab es nicht einmal diesen Schein der Gesetzlichkeit, wie es Nechljudow bezüglich der Schustowa und dann Vieler und Vieler von seinen neuen Bekannten erfahren mußte. Diese Leute behandelte man so, wie Fische beim Fang mit dem Zugnetz: man schleppt alles, was hineinfällt, ans Ufer, und dann liest man die großen Fische, die man braucht, aus, ohne sich um die Gründlinge zu kümmern, die verderben, indem sie am Ufer verschmachten. Auf diese Weise, nachdem man Hunderte solcher Menschen, die augenscheinlich nicht nur unschuldig waren, sondern die der Regierung nicht einmal schädlich sein konnten, festgenommen hatte, hielt man sie manchmal Jahre lang in den Gefängnissen, wo sie schwindsüchtig, irrsinnig wurden oder sich selber töteten, und man hielt sie nur deswegen fest, weil man keinen Anlaß hatte, sie frei zu geben; im Gefängnis aber, wo sie immer zur Hand waren, konnten sie zur Aufklärung irgend welcher Frage bei einer Untersuchung noch brauchbar sein. Das Schicksal aller dieser, oft sogar vom Standpunkt der Regierung unschuldigen Leute, hing von der Willkür, der Muße, der Gemütsverfassung eines Gendarmerie-, Polizeioffiziers, eines Spions, Prokureurs, Untersuchungsrichters, Gouverneurs, Ministers ab. Kriegt ja ein Beamter Langeweile, oder wünscht er sich auszuzeichnen, so nimmt er die Leute fest, und je nach seiner Stimmung, oder nach der seiner Obrigkeit hält er sie gefangen oder läßt sie frei. Ebenso der höhere Vorgesetzte, je nachdem, ab er sich auszuzeichnen wünscht oder in welchen Beziehungen zum Minister er sich befindet, schickt er sie ans Ende der Welt, oder hält sie in Einzelhaft, ober verurtheilt sie zur Verbannung, zur Zwangsarbeit, zum Tode, oder läßt sie frei, wenn irgend welche Dame darum bittet.

Man behandelte sie wie im Kriege, und sie wandten dieselben Mittel an, die man gegen sie brauchte. Und wie die Militärs immer in einer Atmosphäre der öffentlichen Meinung leben, die nicht nur die Frevelhaftigkeit der von ihnen vollbrachten Handlungen vor ihnen verbirgt, sondern die diese Handlungen als Heldenthaten darstellt, genau so existierte auch für die Politischen solche, sie immer begleitende Atmosphäre der öffentlichen Meinung ihres Kreises, infolge welcher die von ihnen — auf die Gefahr hin, Freiheit, Leben und alles, was dem Menschen teuer ist, zu verlieren — vollbrachten greusamen Handlungen ihnen nicht nur nicht schlecht, sondern heldenmütig vorkamen. Dadurch erklärte sich für Nechljudow jene wunderbare Erscheinung, daß Menschen vom sanftesten Charakter, die nicht nur Niemandem Leid zuzufügen, sondern die Leiden der Lebewesen anzusehen, unfähig waren, sich ruhig zur Tötung von Menschen vorbereiteten, und daß fast alle den Mord in gewissen Fällen als Mittel der Selbtverteidigung und zur Erreichung des höchsten Zieles der allgemeinen Wohlfahrt als gesetzlich und billig anerkannten. Die hohe Meinung, welche sie von ihrer Sache und infolge dessen auch von sich selbst hatten, folgte ganz natürlich aus der Bedeutung, welche ihnen die Regierung beilegte und aus der Grausamkeit der Strafen, welche sie über sie verhängte. Sie mußten von sich eine hohe Meinung haben, um das zu ertragen, was sie ertrugen.

Als Nechljudow sie näher kennen lernte, kam er zu der Ueberzeugung, daß er weder lauter Bösewichter waren, wie die einen sie sich darstellten, noch lauter Helden, für welche sie die anderen hielten, sondern sie waren gewöhnliche Menschen, unter welchen es, wie ja überall, gute, schlechte und mittelmäßige gab. Es waren unter ihnen Menschen, die Revolutionäre geworden, weil sie es aufrichtig für ihre Pflicht hielten, gegen das existierende Uebel zu kämpfen, aber auch solche waren da, die diese Thätigkeit aus egoistischen, eitlen Motiven erwählt hatten; die meisten aber wurden zur Revolution getrieben durch das dem Nechljudow aus der Kriegszeit her bekannte Verlangen nach Gefahr, nach Risiko, nach dem Genuß des Spielens mit ihrem Leben, Gefühle, die jeder, auch der gewöhnlichsten energischen Jugen eigen sind. Der Unterschied zwischen ihnen und den gewöhnlichen Leuten — ein vorteilhafter Unterschied — bestand darin, daß die Forderungen der Moral unter ihnen höher waren, als die unter den gewöhnlichen Menschen. Unter ihnen galt nicht nur Enthaltsamkeit, Strenge des Lebens, Wahrhaftigkeit, Uneigennützigkeit für Pflicht, sondern auch die Bereitschaft, alles, sogar das Leben, für die allgemeine Sache zu opfern. Und darum waren diejenigen unter diesen Leuten, die über dem Durchschnittsniveau standen, viel höher als dieses, indem sie ein Muster von seltener moralischer Höhe darstellten; diejenigen aber, welche unter dem Durchschnittsniveau waren, standen schon bedeutend unter demselben, indem sie oft falsche, sich verstellende und zugleich selbstgewisse und stolze Menschen waren, so daß Nechljudow einige von seinen neuen Bekannten nicht nur achtete, sondern sie auch von ganzer Seele lieb gewann, gegen die anderen dagegen mehr als gleichgiltig blieb.

6

Insbesondere gewann Nechljudow lieb einen in Zwangsarbeit verschickten jungen Mann, Kryljzow, der mit derselben Abteilung ging, welcher die Katjuscha zugeteilt war. Nechljudow lernte ihn schon in Jekaterinburg kennen, und nachher während der Reise sahen und unterhielten sie sich einige Mal. Einmal, noch im Sommer, brachte Nechljudow auf einer Etappe, wahrend eines Rasttages fast den ganzen Tag in seiner Gesellschaft zu und Kryljzow kam ins Gespräch und erzählte ihm seine Geschichte, und wie er Revolutionär wurde. Seine Geschichte bis zum Gefängnis war sehr kurz. Sein Vater, ein reicher Gutsbesitzer aus einem südlichen Gouvernement, starb, als er noch ein Kind war. Er war den einzige Sohn, und die Mutter erzog ihn. Er studierte mühelos, sowohl im Gymnasium, wie auch in den Universität und absolvierte den Kurs als erster Kandidat der mathematischen Fakultät. Man bot ihm an, der der akademischen Laufbahn zu bleiben und ins Ausland zu reisen. Aber er zögerte. Es war da ein Mädchen, das er lieb hatte, und öfters dachte er an eine Thätigkeit im Semstwo. Alles hätte er thun mögen und konnte sich doch zu nichts entschließen. Zu der Zeit baten ihn seine Kameraden um Geld für eine allgemeine Sache. Er wußte, daß diese allgemeine Sache eine revolutionäre Sache sei, für welche er sich damals gar nicht interessierte, aber aus dem Gefühl der Kameradschaft heraus und aus Eigenliebe, daß man nicht etwa denken möchte, er fürchte sich, gab er das Geld her. Die das Geld nahmen, fielen hinein; er ward ein Zettel gefunden, aus dem man erfuhr, daß das Geld von Kryljzow gegeben worden; man nahm ihn fest, setzte ihn zuerst ins Polizeikreisgebäude und dann ins Gefängnis.

»In dem Gefängnis, wo man mich einsperrte,« erzählte Kryljzow dem Nechljudow (er saß da mit seiner eingefallenen Brust, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und nur hie und da den Nechljudow mit seinen fieberhaft glänzenden schönen Augen anblickend, auf einer hohen Pritsche) »in diesem Gefängnis war es nicht besonders streng, wir konnten uns nicht nur durch Klopfen verständigen, sondern gingen im Korridor umher, sprachen mit einander, teilten unter einander Lebensmittel, Tabak, und abends sangen wir sogar im Chor. Ich hatte eine gute Stimme. Ja. Wäre nicht meine Mutter gewesen, — sie grämte sich sehr — so wäre es mir im Gefängnis gut gegangen, sogar angenehm und sehr interessant. Hier habe ich unter anderm den berühmten Petrow, — er hat sich nachher im Gefängnis den Hals mit einer Glasscherbe abgeschnitten, — und noch Andere kennen gelernt. Aber ich war kein Revolutionär. Ich habe auch mit meinen zwei Zellennachbarn Bekanntschaft gemacht. Sie waren in einer und derselben Sache mit polnischen Proklamationen hineingefallen und befanden sich in Untersuchung wegen einen Versuches, sich von der Eskorte loszureißen, während man sie auf den Bahnhof führte. Der eine war ein Pole — Losinskij, der andere ein Jude — Rosowskij ist sein Familienname. Ja. Dieser Rosowskij war noch ganz und gar ein Knabe. Er sagte, er sei siebzehn Jahre alt, aber dem Aussehen nach war er etwa fünfzehn alt. Mager, klein, mit glänzenden schwarzen Augen, lebendig und wie alle Juden sehr musikalisch. Er war noch im Stimmbruch, aber er sang ausgezeichnet. Ja. Während meiner Anwesenheit führte man sie beide vor Gericht. Am Morgen führte man sie ab. Am Abend kehrten sie zurück und erzählten uns, daß man sie zur Todesstrafe verurteilt habe. Niemand hatte dies erwartet. So unbedeutend war ihre Sache — sie hatten nur versucht, sich von der Eskorte loszumachen, und sie hatten nicht einmal Jemand verwundet. Und dann war er so unnatürlich, daß man solch ein Kind, wie Rosowskij, hinrichten sollte. Und wir alle im Gefängnis kamen überein, daß es geschah, nur um zu erschrecken, und daß das Urteil nicht bestätigt werden würde. Zuerst, eine Zeit lang, waren wir aufgeregt, dann aber beruhigten wir uns, und das Leben ging, wie früher. Ja. Nun aber kommt einmal abends an meine Thür der Wächter und teilt mir geheimnisvoll mit, daß Zimmerleute gekommen seien, sie stellen einen Galgen auf. Zuerst habe ich es nicht verstanden, — was ist das? was für ein Galgen? Aber der Wächter, ein alter Mann, war so aufgeregt, daß ich, als ich ihn anblickte, begriff, daß es für unsere zwei war. Ich wollte klopfen, die Sache mit den Kameraden besprechen, aber ich befürchtete, daß jene es hören könnten. Die Kameraden schwiegen ebenso. Augenscheinlich wußten es alle. Im Korridor und in den Zellen herrschte den ganzen Abend tote Stille. Wir klopften nicht und sangen nicht. Etwa gegen zehn Uhr kam wieder der Wächter zu mir und erklärte, daß man einen Scharfrichter aus Moskau gebracht habe. Er sagte es und ging weg. Ich rief ihm, daß er zurückkommen möge. Plötzlich höre ich, Rosowskij schreit mir aus seiner Zelle über den Korridor zu: ›Was haben Sie? Wozu rufen Sie ihn?‹ Ich sagte irgend etwas, daß er mir etwas Tabak gebracht habe, aber er ahnte es gleichsam und begann mich zu fragen, warum wie nicht gesungen, warum wir nicht geklopft hätten? Ich erinnere mich nicht, was ich ihm sagte, und eilte mich zu entfernen, um nicht mit ihm zu sprechen. Ja. Er war eine schreckliche Nacht. Die ganze Nacht horchte ich auf alle Töne. Plötzlich gegen Morgen höre ich — man öffnet die Korridorthür, und es kommt Jemand, viele kommen. Ich stellte mich an dem Fensterchen auf. Im Korridor brannte eine Lampe. Als Erster ging der Inspektor vorbei. Er war dick, und wie es schien, ein selbstgewisser, entschiedener Mann. Er war gar nicht wieder zu erkennen, blaß, mit hängendem Kopf, gleichsam erschrocken. Ihm nach der Unterinspektor — finster, mit entschlossenem Aussehen; hinten — die Wache. Sie gingen an meiner Thür vorbei und blieben vor der Zelle daneben stehen. Ich höre — der Unterinspektor schreit mit irgend einer seltsamen Stimme: ›Losinskij, stehen Sie auf, ziehen Sie reine Wäsche an.‹ Ja, Dann höre ich, — die Thür wimmerte, sie gingen zu ihm; dann höre ich Schritte von Losinskij: er ging nach der entgegengesetzten Seite des Korridors. Ich konnte nur den Inspektor sehen. Er steht blaß und knöpft einen Knopf auf und wieder zu und zuckt die Achseln. Ja. Plözlich erschrak er vor etwas, trat bei Seite. Es ging Losinskij an ihm vorbei und trat an meine Thür heran. Ein schöner Jüngling war es, wissen Sie, von diesem guten polnischen Typus: eine breite, gerade Stirn, mit einer Kappe von blonden, sich träufelnden, feinen Haaren und schönen blauen Augen. So ein blühender, saftiger, gesunder Jüngling war er. Er blieb vor meinem Fensterchen stehen, so daß sein ganzes Gesicht mir sichtbar war. Das schreckliche, abgefallene, graue Gesicht. ›Kryljzow, haben Sie Papyros?‹ Ich wollte sie ihm reichen, aber der Unterinspektor riß, wie besorgt, daß er sich verspäten könne, seine Zigarrendose heraus und reichte sie ihm. Er nahm ein Papyros. Der Unterinspektor zündete ihm ein Zündholzchen an. Er begann zu rauchen und versank gleichsam in Nachdenken. Dann schien er sich an etwas zu erinnern und begann zu sprechen: ›Und grausam und ungerecht. Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich…‹ — in seinem weißen jungen Hals, von dem ich die Augen nicht losreißen konnte, begann etwas zu zittern, und er blieb stecken. Ja. Um diese Zeit, höre ich, schreit Rososwkij etwas aus dem Korridor mit seiner hohen jüdischen Stimme. Losinskij warf das Papyrosstümpfchen weg und ging von der Thür fort. Und in dem Fensterchen erschien Rosowoskij. Sein kindliches Gesicht mit den feuchten schwarzen Augen war rot und schweißbedeckt. Er hatte auch reine Wäsche an, und die Hosen waren ihm zu breit, und er zog sie fortwährend mit beiden Händen auf und zitterte ganz. Er näherte sein klägliches Gesicht meinem Fensterchen: ›Anatolij Petrowitsch, nicht wahr, der Doktor hat mir ja Brustthee verschrieben? Ich bin nicht gesund, ich will noch einmal Brustthee trinken.‹ Niemand antwortete, und er blickte fragend bald mich, bald den Inspektor an. Was er damit sagen wollte, habe ich bis jetzt nicht verstanden. Ja. Plötzlich machte der Unterinspektor ein strenges Gesicht und schrie wieder mit unnmatürlich kreischender Stimme: ›Was für Scherze! Vorwärts.‹ Rosowskij war augenscheinlich nicht im Stande zu begreifen, was ihn erwartete, und er ging, lief fast allen voran, den Korridor entlang, als ob er sich beeilte. Dann aber stemmte er sich — ich habe seine durchdringende Stimme und sein Weinen gehört. Es begann ein Getümmel, Stampfen der Füße. Er winselte durchdringend und weinte. Dann ferner und ferner; es rasselte die Korridorthür, und alles wurde still. Ja. Und man hat sie wirklich aufgehängt. Mit Stricken hat man sie beide erdrosselt. Ein Wächter, ein anderer, hat es gesehen, und er erzählte mir, daß Losinskij keinen Widerstand geleistet hätte, aber daß Rosowskij lange Zeit um sich geschlagen, so daß man ihn auf das Schaffot schleppte und seinen Kopf gewaltsam in die Schlinge steckte. Ja. Dieser Wächter war ein dummerhafter Bursche. ›Man hat mir gesagt, Herr, es sei schrecklich. Aber es ist gar nicht schrecklich. Wie sie hängen blieben, machten sie nur zweimal so mit den Schultern‹ — er zeigte, wie sich die Schultern krampfhaft hoben und nieder fielen. ›Dann zog der Scharfrichter einmal an, damit also die Schlingen sich besser zusammenzögen und fertig: sie zuckten nicht mehr.‹ ‘Gar nicht schrecklich’, wiederholte Kryljzow die Worte des Wärters und wollte lächeln, aber anstatt des Lächelns brach er in Schluchzen aus.

Lange Zeit schwieg er darauf, indem er schwer atmete und das den Hals zuschnürende Schluchzen hinabschluckte.

›Seit der Zeit eben wurde ich Revolutionär. Ja.‹ sagte er, als er sich beruhigt hatte, und erzählte in Kurzem seine Geschichte zu Ende.

Er gehörte zu der Partei der Narodowolzy, und war sogar das Haupt einer Desorganisationsgruppe, die den Zweck hatte, die Regierung so zu terrorisieren, daß sie von selbst ihrer Macht entsage und das Volk berufe. Mit diesem Zweck reiste er bald nach Petersburg, bald ins Ausland, bald nach Kijew, bald nach Odessa, und überall hatte er Erfolg. Ein Mensch, auf den er sich vollkommen verlassen hatte, verriet ihn. Man nahm ihn fest, stellte ihn vor Gericht, behielt ihn zwei Jabre im Gefängnis und verurteilte ihn zur Todesstrafe, die man durch eine lebenslange Zwangsarbeit ersetzle.

Im Gefängnis bekam er die Schwindsucht, und jetzt, unter den Verhältnissen, in welchen er sich befand, blieben ihm augenscheinlich kaum einige Monate des Lebens übrig, und er wußte es und bereute nicht, was er gethan hatte, sondern er sagte, wenn er nach ein anderes Leben gehabt hätte, würde er es für dieselbe Sache hingeben, für die Zerstörung der Gesellschaftsordnung, bei welcher das möglich ist, was er gesehen batte.

Die Geschichte dieses Menschen und seine Annäherung an ihn erklärten dem Nechljudow Vieles, was er früher nicht verstanden hatte.

7

An dem Tage, da beim Abmarsch von der Etappe die Kollision des Eskorteoffiziers mit den Gefangenen, des Kindes wegen stattfand, machte Nechljudow, der in einem Ausspann übernachtete, spät auf, und saß dazu noch etwas zu lange bei den Briefen, die er zur Absendung in eines Gouvernementsstadt vorbereitete, so daß er aus dem Ausspann später als gewöhnlich fortfuhr und die Abtheilung nicht unterwegs überholte, wie es früher zu geschehen pflegte, sondern schon in der Dämmerung in das Pfarrdoff kam, neben dem eine Zwischenetappe war. Nachdem Nechljudow sich in einem Ausspann getrocknet hatte, der von einer bejahrten, vollen Frau mit weißem Hals von ungewöhnlicher Dicke, — einer Witwe — unterhalten wurde, trank er in einem saubern, mit einer großen Anzahl von Heiligen- und Profanbildern geschmückten Zimmer Thee, und eilte auf den Etappenhof zum Offizier, um die Erlauhnis zu einer Zusammenkunft zu erbitten.

Auf den sechs vorhergehenden Etappen ließen die Eskorteoffiziere, alle, trotzdem sie wechselten, den Nechljudow nicht in die Etappenräume zu, so daß er mehr als eine Woche lang die Katjuscha nicht gesehen. Diese Strenge rührte daher, daß man eine wichtige Person von der Gefängnißbehörde erwartete, die vorbeifahren sollte.

Jetzt aber war der Vorgesetzte schon vorbeigefahren, ohne die Etappen zu besuchen, und Nechljudow hoffte, daß der Offizier, der heute früh die Abteilung in Empfang genommen, ihm die Zusammenkunft mit den Gefangenen ebenso wie die früheren Offiziere erlauben werde.

Die Wirtin bot dem Nechljudow einen Tarantaß an, um bis zur Zwischenetappe zu fahren, die sich am Ende des Pfarrdorfs befand, aber Nechljudow zog vor, zu Fuß zu gehen. Ein jungen Bursch, ein breitschulteriger Recke, ein Knecht in ungeheuren, frisch mit duftendem Birkentheer geschmierten Stiefeln übernahm es, ihn zu begleiten. Vom Himmel fiel kaltes Nebelgeriesel, und es war so dunkel, daß, sobald der Burche sich an den Orten, wo kein Licht aus den Fenstern fiel, etwa drei Schritte weit entfernte, Nechljudow ihn schon nicht mehr sah, sondern nur das Schmatzen seiner Stiefel in dem klebrigen, tiefen Straßenkot hörte.

Als Nechljudow den Platz mit der Kirche und die lange Straße mit den hellschimmernden Fenstern der Häuser überschritt, ging er, gleich seinem Führer auf den Fersen, an den Rand des Dorfes hinaus und kam in völlige Finsternis. Aber bald ließen sich auch in dieser Finsternis die im Nebel auseinanderfließenden Strahlen der neben der Etappe brennenden Laternen wahrnehmen. Die rötlichen Flecken der Lichter wurden immer größer und heller; es ließen sich die Pfosten des Pfahlwerks und die schwarze Gestalt der sich bewegenden Wache, ein gestreifter Pfeiler und ein Schilderhäuschen erkennen. Die Schildwache rief die Ankommenden mit dem gewöhnlichen: ‘Wer da?’ an, und als sie erfuhr, daß es Fremde seien, erwies sie sich so streng, daß sie ihnen nicht erlauben wollte, neben der Einfriedigung zu warten. Aber Nechljudow’s Begleiter ließ sich durch die Strenge der Schildwache nicht einschüchtern.

›Oha du, Onkel, so ein böser bist du‹ sagte er zu ihm. ›Spektakle mal den Obersten heraus, wir aber wollen warten.‹ Die Schildwache schrie etwas ohne zu antworten durch das Handpförtchen, und blieb stehen, aufmerksam beobachtend, wie der breitschultrige Bursche im Lichte der Laterne mit einem Spahn Nechljudow’s Stiefel vom angeklebten Kot reinigte. Hinter den Zaunpfählen ließ sich das Gemurmel weiblicher und männlicher Stimmen hören. Etwa nach drei Minuten rasselte Eisen. Das Pförtchen des Eingangs öffnete sich, und aus der Dunkelheit trat in das Licht der Laterne der Oberste, den Mantel übergeworfen, und fragte, was man wolle. Nechljudow übergab ihm seine schon vorbereitete Karte mit einem Zettel, auf welchem er bat, ihn in persönlicher Angelegenheit zu empfangen, und ersuchte ihn, sein Anliegen dem Offizier zu bringen. Der Oberste war weniger strenge, als die Schildwache, aber dafür besonders neugierig. Er wollte durchaus wissen, wozu Nechljudow den Offizier zu sehen brauche, und wer er sei, da er augenscheinlich eine Beute witterte und sie sich nicht entgehen lassen wollte. Nechljudow sagte, daß er eine besondere Sache habe, und daß er sich ihm erkenntlich zeigen werde, und bat ihn, den Zettel zu überbringen. Der Oberste nahm den Zettel, nickte mit dem Kopf und ging fort. Einige Zeit nach seinem Weggehen rasselte wieder das Pförtchen, und durch dasselbe begannen Frauen mit Handkörben, Gefäßen aus Birkenrinde, irdenen Töpfen und Säcken herauszukommen. Mit schallendem Geplauder in ihrer besondern sibirischen Mundart schritten sie über die Schwelle des Pförtchens. Sie waren alle nicht dörflich, sondern städtisch gekleidet, in Paletots und städtische Pelze; die Röcke waren hoch aufgeschürzt, und die Köpfe mit Tüchern umwunden. Mit Neugier besahen sie beim Lichte der Laterne den Nechljudow und seinen Begleiter. Eine aber, augenscheinlich froh über die Begegnung mit dem breitschultrigen Burschen, schimpfte ihn sofort liebkosend mit einem sibirischen Schimpfwort.

›Du Waldteufel daß dich die Pest, was machst du da?‹ wandte sie sich an ihn.

›Hab’ den Reisenden da begleitet‹, antwortete der Bursche.

›Und was hast du gebracht?‹

›Was von der Kuh, morgen soll ich wieder kommen.‹

›Zum Uebernachten aber hat man dich nicht eingeladen?‹ fragte der Bursche.

›Daß dich die Kränk, — Lästermaul!‹ schrie sie ihm lachend zu. ›Komm’ mit bis zum Dorf, begleit’ uns.‹

Der Begleiter sagte ihr noch etwas, derart, daß nicht nur die Frauen lachten, sondern auch die Schildwache, und wandte sich an Nechljudow.

›Wie ist es denn, finden Sie sich allein? geben Sie nicht fehl?‹

›Ich finde, finde,‹ —

›Sowie Sie die Kirche passieren vom zweistöckigen Haus rechts das zweite. Hier nehmen Sie das Stöcklein,‹ sagte er dem Nechljudow, indem er ihm den großen Stock übergab, an dem er ging und der über ihn hinausragte; und mit seinen ungeheuern Stiefeln platschend, verschwand er in der Dunkelheit mit den Frauen.

Seine Stimme, von den Frauenstimmen übertönt, war noch aus dem Nebel hörbar, als das Pförtchen wieder rasselte und der Oberste herauskam, der den Nechljudow aufforderte, ihm zum Offizier zu folgen.

8

Die Zwischenetappe war ebenso wie alle Etappen und Zwischenetappen, die sibirische Straße entlang, eingerichtet: in einem von zugespitzten Balken umgebenen Hofe waren drei einstöckige Wohhäuser. In einem, in dem größten, mit vergitterten Fenstern, wurden die Gefangenen untergebracht. In einem anderen — das Eskorekommando; in dem dritten — der Offizier und die Kanzlei. In allen drei Häusern schimmerten jetzt Lichter, die wie immer und besonders hier trügerisch etwas Gutes, Behagliches innerhalb der beleuchteten Wände versprachen. Vor den Hauseingängen brannten Laternen, und noch etwa fünf Laternen brannten nahe den Hauswänden und beleuchteten den Hof. Der Unteroffizier führte den Nechljudow über ein Brett zur Außentreppe des kleinsten der Häuser. Als er drei Stufen gestiegen, ließ er den Nechljudow voran in ein von einem Lämpchen beleuchtetes, von dem Geruche qualmenden Ofendunstes durchräuchertes Vorzimmer. An dem Ofen stand gebeugt im groben Hemd und Halstuch und in schwarzen Hosen ein Soldat in einem Stiefel mit gelbem Rohr, mit dem andern blies er die Kohlen in einem Samowar an.39 Als er den Nechljudow sah, ließ er den Samowar in Ruh, nahm ihm den Lederrock ab und trat in das innere Zimmer.

›Er ist gekommen, Euer Wohlgeboren.‹

›Nun, ruf ihn herein,‹ ließ sich eine ärgerliche Stimme hören.

›Gehen Sie in die Thür,‹ sagte der Soldat und machte sich sofort wieder an den Samowar.

In dem zweiten, von einer Hängelampe beleuchteten Zimmer saß an einem gedeckten Tische mit Resten des Mittagessens ein Offizier mit sehr rotem Gesicht und mit großem blonden Schnurrbart in einer österreichischen Jacke, die seine breite Brust und Schultern umspannte. In dem warmen Zimmer roch es, außer nach Tabaksrauch, noch sehr nach irgend welchem starken schlechten Parfum. Als der Offizier den Nechjudow gewahr wurde, erhob er sich etwas und heftete auf den Eingetretenen einen gleichsam spöttischen und mißtrauischen Blick.

›Was ist gefällig?‹ sagte er, und ohne die Antwort abzuwarten, schrie er in die Thür: ›Bernow, Samomar! was denn, wird’s bald?‹

›Sofort.‹

›Ich werde dir schon zeigen — sofort, daß du es lange nicht vergißt,‹ schrie der Offiziet, und blitzte mit den Augen.

›Ich bringe ihn!‹ schrie der Soldat und trat mit dem Samowar herein.

Nechludow wartete, bis der Soldat den Samowar aufstellte (der Offizier begleitete ihn mit seinen kleinen bösen Augen, als ob er zielte, wohin er ihn etwa schlagen könnte). Als aber der Samowar in Ordnung aufgestellt war, machte der Offizier Thee, dann holte er aus einem Flaschenkeller eine kleine viereckige Karaffe mit Kognak und ‘Albert’-Biscuits heraus. Nachdem er all daß auf der Tischdecke in Ordnung gebracht hatte, wandte er sich wieder an Nechljudow:

›Also womit kann ich Ihnen dienen?‹

›Ich möchte Sie um eine Zusammenkunft mit einer Gefangenen bitten,‹ sagte Nechljudow, ohne sich zu setzen.

›Eine Politische? Das ist vom Gesetz verboten,‹ sagte der Offizier.

›Die Frau ist keine Politische,‹ sagte Nechljudow.

›Aber bitte, nehmen Sie Platz,‹ sagte der Offizier. Nechljudow setzte sich.

›Sie ist keine Politische,‹ wiederholte er, ›aber auf meine Fürbitte ward ihr von der höheren Obrigkeit erlaubt, sich den Politischen anzuschließen.‹

›Aha, ich weiß,‹ unterbrach ihn der Offizier, ›eine kleine, schwärzliche? Warum denn nicht, das kann man. Rauchen — wünschen Sie?‹

Er schob ihm eine Schachtel mit Papyros zu und schenkte sorgfältig zwei Gläser Thee ein, eins derselben schob er dem Nechljudow hin.

‘Ich bitte,« sagte er.

»Ich danle Ihnen, ich möchte sie sehen…«

»Die Nacht ist lang. Sie haben noch Zeit. Ich lasse sie Ihnen herausrufen.«

»Aber könnte man mich nicht, ohne sie herauszurufen, in die Räume einlassen?« sagte Nechljudow.

»Zu den Politischen? wider das Gesetz.«

»Man hat mich mehrere Male zugelassen. Wenn man etwa fürchten sollte, daß ich ihnen etwas übergebe, so könnte ich es ja auch durch sie übergeben.«

»Doch nicht, man wird sie durchsuchen,« sagte der Offizier und lachte mit einem unangenehmen Lachen auf.

»Nun, so durchsuchen Sie mich.«

»Na, das können wir uns schenken,« sagte der Offizier, während er die kleine geöffnete Karaffe Nechljudows Glas näherte. »Erlauben Sie? Nun, wie Sie wollen. Lebst du in diesem Sibirien, so bist du nur zu froh, einen gebildeten Menschen zu treffen. Unser Dienst ist ja, Sie wissen selber, der traurigste. Wenn aber der Mensch anderes gewöhnt ist, so ist es schwer. Man hat ja von unsereinem einen solchen Begriff, daß ein Eskorteoffizier so viel heißt, wie ein grober, ungebildeter Mensch; das aber bedenkt man nicht, daß der Mann vielleicht für etwas ganz anderes geboren war.«

Das rote Gesicht dieses Offiziers, sein Parfum, sein Fingerring, und besonders sein unangenehmes Lachen waren dem Nechljudow sehr widrig; aber er war auch heute, wie während seiner ganzen Reise, in jener ernsten, aufmerksamen Gemütsverfassung, in welchen er sich nicht erlaubte, leichtsinnig und verächtlich mit einem Menschen umzugehen, wer immer er auch sein möge, und es für notwendig hielt, mit jedem Menschen »in guten Treuen« zu sprechen, wie er bei sich selber dies Verhalten zu bezeichnen pflegte. Nachdem er den Offizier angehört und seinen Seelenzustand begriffen, sagte er ernst:

»Ich glaube, man könnte eben in Ihrem Amt einen Trost darin finden, daß man die Leiden der Menschen erleichterte.«

»Was für Leiden haben sie? Es ist ja so ein Volk.«

»Was für ein besonderes Volk?« sagte Nechljudow. »Eben so eins, wie alle. Es giebt aber auch Unschuldige.«

»Versteht sich, es giebt allerlei. Versteht sich, man bedauert sie. Die anderen sehen ihnen nichts nach, ich aber bemühe mich, wo ich kann, es ihnen zu erleichtern. Laß lieber mich leiden, nur nicht sie. Die anderen — kaum geschieht etwas, sofort das Gesetz her, oder auch schießen, ich aber hab Mitleid mit ihnen. Wollen Sie nicht? Bitte, trinken Sie,« sagte er, indem er noch ein Glas einschenkte. »Wer ist sie eigentlich, die Frau, die Sie zu sehen wünschen?« sagte er.

»Es ist eine unglückliche Frau, die ins Toleranzhaus geraten war, und dort mit Unrecht einer Vergiftung beschuldigt ward, sie ist aber eine sehr gute Frau,« sagte Necheljudow.

Der Offizier schüttelte den Kopf.

»Ja, es kommt vor. In Kasanj, will ich Ihnen sagen, war eine — Emma hieß sie. Von Geburt — eine Ungarin, die Augen aber echt persisch,« fuhr er fort, ohne ein Lächeln bei dieser Erinnerung zurückhalten zu können. »Chik hatte sie so viel, daß es sogar für eine Gräfin langte…«

Nechljudow unterbrach den Offizier und kehrte zum früheren Gespräch zurück.

»Ich glaube, Sie können die Lage solcher Leute erleichtern, so lange sie sich in Ihrer Macht befinden. Und wenn Sie so handeln, bin ich überzeugt, würden Sie sich eine große Freude schaffen,« sprach Nechljudow, indem er sich bemühte, die Worte möglichst deutlich auszusprechen, wie man mit Ausländern oder mit Kindern zu sprechen pflegt.

Der Offizier sah Nechljudow mit glänzenden Augen an, und augenscheinlich wartete er mit Ungeduld, wann er fertig sei, um die Erzählung von der Ungarin mit den persischen Augen fortzusetzen, die offenbar lebendig vor seiner Phantasie stand, und seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

»Ja, das ist so, ich gebe zu, es ist wahr,« sagte er. »Und ich habe ja mit ihnen Mitleid; nur möchte ich Ihnen von dieser Emma erzählen. Also, was that sie…«

»Das interessiert mich nicht,« sagte Nechljudow, »und ich will Ihnen gerade heraus sagen, daß ich, obgleich auch ich früher ein anderer gewesen, jetzt solches Verhalten den Frauen gegenüber hasse.«

Der Offizier blickte Nechljudow erschrocken an.

»Aber Thee ist Ihnen nicht mehr gefällig?« sagte er.

»Nein, ich danke.«

»Bernow,« schrie der Offizier, »begleite den Herrn zum Makulow, sage, er solle Sie in die Separatkammer zu den Politischen hineinlassen. Sie können dort bis zur Kontrolle bleiben.«

9

Von der Ordonnanz begleitet, ging Nechljudow wieder auf den dunklen, von den rot brennenden Laternen trübe beleuchteten Hof hinaus.

»Wohin?« fragte ein ihnen entgegenkommender Soldat den anderen, welcher Nechljudow begleitete.

»In die Separatkammer, Nummero fünf.«

»Hier wirst du nicht durchgehen, — ist geschlossen, man muß durch jenen Eingang.«

»Und warum denn verschlossen?«

»Der Oberste hat zugeschlossen, und ist selber in’s Pfarrdorf gegangen.«

»Nun, dann kommen Sie dorthin.«

Der Soldat führte Nechljudow auf den anderen Flur, und über die Bretter näherte er sich dem andern Eingang. Schon vom Hofe aus hörte man das Summen der Stimmen und die drinnen herrschende Bewegung, wie in einem guten, sich zum Schwärmen anschickenden Bienenstock; aber als Nechljudow näher kam, und die Thür sich öffnete, verstärkte sich dieses Summen und ging in ein Getön einander zuschreiender, schimpfender, lachender Stimmen über. Er ließ sich ein trillerndes Gerassel der Ketten hören, und ein bekannter schwerer Geruch überschauerte ihn.

Diese beiden Eindrücke: das Getöse der Stimmen mit dem Kettengerassel, und dieser schreckliche Geruch vereinigten sich immer für Nechljudow zu einem quälenden Gefühl, einer gewissen moralischen, in das Physische übergehender Uebelkeit. Die beiden Eindrücke vermischten sich und verstärkten einander.

Als Nechljudow jetzt in den Flur der Zwischenetappe, wo eine ungeheuere stinkende Kufe, die sogenannte »Paracha« stand, eingetreten, war das erste, war er sah, eine Frau, die am Rande der Kufe saß. Ihr gegenüber — ein Mann mit der auf eine Seite geschobenen, pfannkuchenartigen Mütze auf dem rasierten Kopf. Sie unterhielten sich über etwas. Als der Gefangene den Nechljudow sah, blinzelte er ihm mit einem Auge zu und sagte:

»Nicht einmal der Zar kann das Wasser zurückhalten.«

Die Frau ließ die Schöße des Schlafrocks herunter und schlug die Augen nieder.

Von dem Flur ging ein Korridor aus, auf den sich die Kammerthüren öffneten. Die erste war die Kammer der Verheirateten, dann eine große Kammer der Ledigen, und — am Ende den Korridors — zwei kleine Kammern, die den Politischen angewiesen waren. Der Etappenraum, der für einhundertundfünfzig Mann bestimmt war, jetzt aber vierhundertfünfzig faßte, war so eng, daß die Gefangenen in den Kammern keinen Platz fanden und den Korridor erfüllten. Die einen saßen und lagen auf dem Boden, die anderen bewegten sich hin und her mit leeren oder mit mit siedendem Wasser gefüllten Theekannen. Unter diesen war Taraß. Er holte den Nechljudow ein und begrüßte ihn freundlich. Das gute Gesicht des Taraß war von blauroten, blutunterlaufenen Stellen auf der Nase und unter den Augen verunstaltet.

»Was ist mit dir?« fragte Nechljudow.

»So eine Sache hat sich zugetragen,« sagte Taraß lächelnd.

»Sie prügeln sich immer,« sagte der Eskortesoldat verächilich.

»Des Weibes wegen,« fügte ein Gefangener hinzu, der hinter ihnen ging. »Mit dem blinden Fedjka ist er handgemein geworden.«

»Und wie geht’s Fedossija?« fragte Nechljudow.

»Gut, sie ist gesund, du bringe ich ihr etwas kochendes Wasser für Thee,« sagte Taraß und ging in die Familienkammer.

Nechljudow blickte in die Thür hinein. Die ganze Kammer war voll von Frauen und von Männern, sowohl auf den Pritschen, wie unter denselben. In den Kammer stand ein Dampf von der trocknenden nassen Wäsche, und es ließ sich ein nie verstummendes Geschrei weiblicher Stimmen hören. Die folgende Thür war die Thür der Ledigenkammer. Diese war noch überfüllter, und sogar in der Thür selbst stand und ragte in den Korridor hinaus ein geräuschvoller Haufen der etwas teilenden oder entscheidenden Gefangenen in nassen Kleidern. Der Eskortesoldat erklärte dem Nechljudow, daß da der Aelteste das im Voraus verbrauchte oder im voraus in Form der aus Spielkarten verfertigten Zettelchen verspielte Geld dem Majdanschtschik40 herausgab. Als die Nächsten den Unteroffizier und den Herrn sahen, verstummten sie und betrachteten sie mißgünstig, wie sie vorbeigingen. Unter den Teilenden bemerkte Nechludow den ihm bekannten Zwangsarbeiter Feodorow, der immer in seiner Nähe einen kläglichen, weißen, gleichsam aufgedunsenen jungen Burschen mit hochgezogenen Augenbrauen hielt; und noch einen widerwärtigen, pockennarbigen, nasenlosen Landstreicher, der dadurch bekannt war, daß er während eines Fluchtversuches, in der Tajga41 , seinen Kameraden totgeschlagen und sich von dessen Fleisch ernährt haben sollte. Der Landstreicher stand im Korridor, den nassen Gefangenenrock über eine Schulter geworfen, und sah den Nechljudow höhnisch und frech an, ohne vor ihm bei Seite zu treten. Nechljudow umging ihn.

So bekannt auch dem Nechljudow dies Schauspiel war, so oft er auch im Verlaufe dieser drei Monate immer dieselben vierhundert Kriminalgefangenen gesehen, in den verschiedenartigsten Lagen; sowohl in der Hitze, in der Staubwolke, die sie mit den die Ketten schleppenden Füßen aufwirbelten, wie bei der Rast unterwegs, und auf den Etappen, in der warmen Zeit auf dem Hof, wo schauderhafte Szenen offener Unzucht stattfanden, er hatte dennoch jedesmal, wenn er in ihre Mitte trat, und wie jetzt, empfand, daß ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet war, ein qualvolles Gefühl der Scham und des Schuldbewußtseins ihnen gegenüber. Das schwerste war für ihn, daß mit diesem Scham- und Schuldbewußtsein sich noch ein unüberwindliches Gefühl des Abscheus und des Grauens mischte. Er wußte, daß sie in der Lage, in welche sie gestellt waren, nicht anders sein konnten, als sie waren, und dennoch konnte er nicht seinen Abscheu ihnen gegenüber bezwingen.

»Die haben’s gut, die Freischlucker,« sagte eine heisere Stimme, noch eine unflätige Schimpferei hinzufügend, wie Nechljudow vernahm, als er sich schon der Thür der Politischen näherte.

Ein unfreundliches und spöttisches Lachen ertönte.

10

Ale sie die Ledigenkammer passierten, sagte der den Nechljudow begleitende Unteroffizier, daß er ihn vor der Kontrolle abzuholen komme, und kehrte um. Kaum ging der Unteroffizier fort, als sich dem Nechljudow ein Gefangener, die Beinschellen festhaltend, mit raschen Scheinen der nackten Füße ganz dicht näherte, wobei er ihn mit schwerem, saurem Schweißgerueh überschauerte und in geheimnisvollem Flüstern sagte:

»Stehen Sie ihm bei, Herr. Man hat den Jungen ganz und gar am Strick. Drauf zugetrunken! Heute bei der Uebernahme hat er sich schon Karmanow genannt. Stehen Sie ihm bei, unser einem aber ist es unmöglich, uns schlägt man tot,« sagte der Gefangene, sich unruhig umblickend, und ging sofort vom Nechljudow weg.

Es handelte sich darum, daß ein Zwangsarbeiter Karmanow, einen ihm von Gesicht ähnlichen Burschen, der zur Ansiedelung verbannt war, überredet hatte, mit ihm zu tauschen, so daß der Zwangsarbeiter zur Ansiedelung, und der Bursche an seine Stelle in die Zwangsarbeit gehen sollte.

Nechljudow wußte schon um diese Sache, weil dieser selbe Gefangene vor einer Woche ihm von diesem Umtausch gesprochen hatte. Er nickte mit dem Kopfe, zum Zeichen, daß er ihn verstanden habe, und alles thun werde, was er könne, und ohne sich umzusehen, ging er weiter.

Nechljudow kannte diesen Gefangenen von Jekaterinburg her, wo er ihn um seine Verwendung gebeten, daß man seiner Frau erlauben möchte, ihm zu folgen, und er war selbst erstaunt über seine Handlungsweise. Es war ein etwa dreißigjähriger Mann von mittlerem Wuchs und vom gewöhnlichsten bäuerlichen Aussehen, der wegen eines Mord- und Raubanschlags in die Zwangsarbeit verschickt wurde. Er hieß Makar Djewkin. Sein Verbrechen war sehr seltsam. Dies Verbrechen war wie er selber dem Nechljudow erzählte, nicht seine, des Makars, That, sondern »Seiner,« des »Unsaubern« That gewesen. Bei Makars Vater, so erzählte er, war einmal ein Durchreisender eingekehrt, und hatte bei ihm ein Fuhrwerk bis zu einem Pfarrdorf, vierzig Werst entfernt, gemietet. Der Vater ließ Makar den Reisenden fahren; Makar spannte das Pferd ein, kleidete sich an, und begann, mit dem Reisenden Thee zu trinken. Der Reisende erzählte beim Thee, daß er sich zu verheiraten gehe und fünfhundert Rubel mit sich führe, die er in Moskau verdient habe. Als Makar dies hörte, ging er auf den Hof hinaus und legte in die Schlitten unter das Stroh eine Axt. »Und ich weiß selber nicht, wozu ich die Axt mitgenommen habe,« erzählte er. »Nimm,« sagte »Er,« »die Axt mit, und ich habe sie mitgenommen. Wir sind eingestiegen und abgefahren. Wir fahren, es geht gut. Ich habe die Axt fast vergessen. Nun begannen wir uns dem Pfarrdorf zu nähern, es blieben etwa sechs Werst übrig. Vom Seitenweg auf die Landstraße ging es bergauf. Ich bin abgestiegen, gehe hinter dem Schlitten her, ›Er‹ aber flüstert mir zu; ›Was denkst du denn? Bist du den Berg hinaufgefahren, — auf der Landstraße sind Leute, dann aber kommt das Dorf. Er wird das Geld mitwegfahren. Wenn es gethan sein soll, so — jetzt; es ist nichts zu warten.‹ Ich beugte mich zu dem Schlitten, als ob ich das Stroh zurecht lege, der Axtstiel aber sprang gleichsam von selbst mir in die Hände. Er blickte sich um. ›Was willst du?‹ sagte er. Ich holte mit der Axt aus, wollte ihn hauen, er aber, ein hurtiger Mann, sprang von dem Schlitten, packte mich an den Händen. ›Was machst du, Bösewicht?‹ sagt er. Er warf mich auf den Schnee, und ich wollte nicht kämpfen, selber ergab mich ihm. Er band mir die Hände mit dem Gürtel und schmiß mich in den Schlitten. Er führte mich direkt zum Stanowoj. Man setzte mich ins Gefängnis. Ich kam vor Gericht. Die Gemeinde gab mir einen guten Leumund, — der Mensch sei gut, und man hat nichts Schlechtes bemerkt. Die Wirtsleute, bei denen ich gedient hatte, gaben gleichfalls einen guten Leumund. Einen Ablakaten aber zu mieten hatte ich Dein Geld,« — sagte Makar, — »und daher hat man mich zu vier Jahren verurteilt.«

Und dieser Mensch nun wünschte seinen Landsmann zu retten, und trotzdem er wußte, daß er durch diese Worte sein Leben aufs Spiel setze, teilte er jetzt dennoch das Geheimnis der Gefangenen dem Nechljudow mit, eine Handlung, für die man, wenn man erführe, daß er sie gethan, ihn unbedingt erwürgen würde.

11

Der Raum für die Politischen bestand aus zwei kleinen Kammern, deren Thüren auf einen durch einen Verschlag abgesonderten Teil des Korridors hinausgingen. Als Nechljudow in diesen abgesonderten Korridorteil eintrat, war die erste Person, die er zu Gesicht bekam, Simonsohn mit einem Fichtenscheit in der Hand, der in seiner Jacke vor der zitternden, von der Hitze hineingezogenen Thür des in voller Glut brennenden Ofens kauerte.

Als er den Nechljudow sah, reichte er ihm die Hand, ohne aus der kauernden Lage aufzustehen, und blickte ihn von unten auf unter den überhängenden Augenbrauen hervor an.

»Ich bin froh, daß Sie gekommen sind; ich muß Sie sprechen,« sagte er mit bedeutsamer Miene, indem er Nechljudow gerade in die Augen sah.

»Was ist denn?« fragte Nechljudow.

»Nachher; jetzt bin ich beschäftigt.«

Und Simonsohn machte sich wieder an den Ofen, den er nach seiner eigenen Theorie des minimalen Verlustes an Wärmeenergie heizte.

Nechljudow wollte schon in die erste Thür treten, als aus der anderen die Maslowa kam, gebeugt, mit einem Besen in der Hand, mit dem sie einen großen Haufen Kehricht und Staub zum Ofen schob. Sie war in eines weißen Jacke, einem aufgeschürzten Rock und Strümpfen. Ihr Kopf war vor dem Staube bis zu den Augenbrauen mit einem Tuch umbunden. Als sie den Nechljudow sah, richtete sie sich auf, und ganz rot und lebhaft, legte sie den Besen bei Seite, wischte die Hände an dem Rock ab und blieb grade vor ihm stehen.

»Bringen Sie den Raum in Ordnung?« sagte Nechljudow, ihr die Hand reichend.

»Ja, es ist meine alte Beschäftigung,« sagte sie und lächelte, »und es ist so ein Schmutz, — man kann sich gar nicht denken wie! Da haben wir was zu putzen gehabt. Wie ist’s denn? Ist der Plaid schon trocken?« wandte sie sich an Simonsohn.

»Beinahe.« sagte Simonsohn, indem er sie mit einem besonderen, dem Nechljudow auffallenden Blick ansah.

»Nun, so komme ich ihn zu holen und bringe die Pelze zum Trocknen. Die Unseren sind alle da«, sagte sie dem Nechljudow, indem sie auf die nächste Thür zeigte und durch die entferntere wegging.

Nechljudow öffnete die Thür und trat in eine kleine Kammer, die schwach von einem kleinen metallenen Lämpchen, das niedrig auf einer Pritsche stand, beleuchtet war. In der Kammer war es kalt, und es roch nach dem noch in der Luft schwebenden Staub, nach Feuchtigkeit und Tabak. Die Blechlampe beleuchtete diejenigen hell, die sich neben ihr befanden, die Pritschen aber waren im Schatten, und schwankende Schatten gingen über die Wände.

In den kleinen Kammer waren alle anwesend, außer zwei Männern, die die Verproviantierung besorgten und weggegangen waren, um siedendes Wasser und Lebensmittel zu holen. Da war Nechljudows alte Bekannte, die noch magerer und nach gelber gewordene Wjera Iefremowna mit ihren ungeheuren erschrockenen Augen, der geschwollenen Ader auf der Stirn und den kurzen Haaren, in grauer Jacke. Sie saß vor einem Zeitungspapier mit darauf ausgeschüttetem Tabak, und mit stoßweisen Bewegungen füllte sie Papyroshülfen damit. Da war auch eine der für Nechljudow angenehmsten politischen Frauen, Emilija Ranzewa, die den äußeren Haushalt besorgte und die ihm sogar unter den schwersten Umständen eine frauenhafte Häuslichkeit und Annehmlichkeit verlieh. Sie saß neben der Lampe mit aufgestreiften Aermeln über den sonnenverbrannten, schönen, geschickten Händen und wischte Henkelbecher und Tassen ab und stellte sie auf ein Handtuch, das auf der Pritsche ausgebreitet war. Die Ranzewa war eine nicht schöne junge Frau mit klugem und sanftem Ausdruck des Gesichts, das die Eigentümlichkeit hatte, sich beim Lächeln plötzlich zu verklären und fröhlich, munter und bezaubernd zu werden. Mit solchem Lächeln empfing sie jetzt den Nechljudow.

»Aber wir dachten, daß Sie schon ganz nach Rußland abgereist seien,« sagte sie.

Ebenda war auch Maria Pawlowna, die im Schatten, in einer entfernten Ecke, etwas mit einem kleinen weißköpfigen Mädchen zu thun hatte, daß ohne Aufhören mit seinem lieben kindlichen Stimmchen plapperte.

»Wie gut ist es, daß Sie gekommen sind. Haben Sie Katjuscha gesehen?« fragte sie den Nechljudow. »Wir haben aber — sehen Sie mal — welchen Gast.« Sie zeigte auf das kleine Mädchen.

Auch Anatolij Kryljzow war da. Abgemagert und blaß saß er gebückt und zitternd, die unterzogenen Beine in hohen Filzstiefeln, an der entferntesten Ecke auf der Pritsche, die Hände in die Aermel des Halbpelzes gesteckt, und sah mit fieberischen Augen Nechljudow an. Nechljudow wollte sich ihm nähern, aber rechts von der Thür saß, etwas aus einem Sacke hervorsuchend und mit der hübschen, lächelnden Grabetz sprechend, ein Mann mit rötlichem Kraushaar, mit einer Brille und in Guttaperchajacke. Das war der berühmte Revolutionär Nowodworow, und Nechljudow beeilte sich, ihn zu begrüßen. Er eilte sich besonders, es zu thun, weil von allen Politischen dieser Abteilung dieser Mensch allein ihm unangenehm war. Nowodworow blitzte unter der Brille mit seinen blauen Augen den Nechljudow an, stirnrunzelnd reichte er ihm seine schmale Hand.

»Wie ist’s denn? reisen Sie angenehm?« sagte er, augenscheinlich ironisch.

»Ja, viel Interessantes,« antwortete Nechljudow, indem er Miene machte, die Ironie nicht zu bemerken und sie für eine Liebenswürdigkeit zu nehmen, und er näherte sich dem Kryljzow.

Aeußerlich zeigte Nechljudow Gleichgültigkeit, innerlich aber war er bei Weitem nicht gleichgültig dem Nowodworow gegenüber. Die Worte Nowodworow’s, sein offenbarer Wunsch, etwas Unangenehmes zu sagen und zu thun, zerstörten jene seelengute Stimmung, in welcher Nechljudow sich befand. Und es ward ihm traurig und wehmütig ums Herz.

»Nun, wie ist die Gesundheit?« sagte er, die kalte zitternde Hand Kryljzow’s drückend.

»Es geht noch, nur kann ich immer nicht warm werden, — durch und durch naß,« sagte Kryljzow, eilig die Hand wieder in den Aermel des Halbpelzes steckend. »Auch hier ist eine Hundekälte. Da sind die Scheiben zerschlagen,« er zeigte auf die an zwei Stellen zerschlagenen Scheiben hinter den Eisengittern.

»Wie geht es Ihnen? Warum waren Sie nicht zu sehen?«

»Man läßt mich nicht zu, die Obrigkeit ist streng. Heute erst erwies sich der Offizier umgänglich.«

»Na, eine nette Umgänglichkeit,« sagte Kryljzow. »Fragen Sie Mascha, was er am Morgen gethan hat.«

Maria Pawlowna erzählte, ohne von ihrem Platz aufzustehen, was am Morgen, beim Abmarsch der Abteilung von der Etappe, mit dem Kinde passiert war.

»Meiner Meinung nach ist es notwendig, einen Kollectivprotest einzulegen,« sagte Wjera Iefremowna mit entschiedener Stimme, zugleich unentschlossen und erschrocken in das Gesicht bald dieses, bald jenes blickend. »Wladimir hat Protest erhoben, aber das ist zu wenig.«

»Was für einen Protest?« brachte Kryljzow mit verdrießlicher Miene hervor. Augenscheinlich reizte ihn schon seit Langem der nicht einfache, gekünstelte Ton und die Nervosität der Wjera Iefremowna.

»Suchen Sie Katja?« wandte er sich an Nechljudow. »Sie arbeitet immer, sie putzt. Diese Kammer hat man gereinigt — unsere, die männliche, — jetzt die Frauenkammer. Nur die Flöhe lassen sich nicht wegputzen. Sie verzehren uns bei lebendigem Leibe. Und Mascha? was macht die dort?« fragte er, mit dem Kopf auf die Ecke zeigend, wo Maria Pawlowna war.

»Sie kämmt ihrem Pflegetöchterchen die Haare aus,« sagte die Ranzewa.

»Und wird sie nicht die Insekten auf uns loslassen?« sagte Kryljzow.

»Nein, nein, ich mach’ es vorsichtig. Sie ist jetzt schön sauber,« sagte Maria Pawlowna. »Nehmen Sie sie«, wandte sie sich an die Ranzewa. »Ich aber gehe, Katja zu helfen. Und den Plaid bringe ich ihm.«

Die Ranzewa nahm das Mädchen, und mit mütterlicher Zärtlichkeit die kleinen nackten vollen Aermchen des Kindes an sich drückend, setzte sie es auf ihre Knie und reichte ihm ein Stück Zucker.

Maria Pawlowna ging hinaus; gleich darauf traten in die Kammer zwei Männer mit siedendem Wasser und Lebensmitteln.

12

Einer der Eintretenden war ein nicht hoher, hagerer junger Mann in einem mit Stoff überzogenen Halbpelz und in hohen Stiefeln. Er kam mit leichtem und raschem Gang herein, indem er zwei große, dampfende Theekannen mit heißem Wasser brachte und ein in ein Tuch gewickeltes Brot, das er unter dem Arm trug und mit der andern Hand stützte.

»Nun, da hat sich auch unser Fürst wieder eingestellt,« sagte er, indem er die Theekannen zwischen die Tassen stellte und das Brot der Maslowa übergab. »Wunderbare Sachen haben wir zusammengekauft,« sagte er, den Halbpelz abstreifend und ihn über die Köpfe weg in eine Ecke auf die Pritsche werfend. »Markel hat Milch und Eier gekauft; heute giebt es einfach einen Ball. Und Kirilowna verbreitet immer noch ihre ästhetische Sauberkeit um sich,« machte er lächelnd und die Ranzewa ansehend. »Nun, jetzt mach’ Thee,« wandte er sich an sie.

Aus dem ganzen Aeußern dieses Menschen, aus seinen Bewegungen, aus dem Ton seiner Stimme, aus seinem Blick wehte es wie Frohmut und Lustigkeit. Der andere der Eingetretenen aber — ein gleichfalls nicht großer, knochiger Mann mit sehr hervortretenden Jochbeinen der mageren Wangen auf dem grauen Gesicht, mit schönen grünlichen, weit auseinander stehenden Augen und dünnen Lippen, war dagegen ein Mensch von finsterem und niedergeschlagenem Aussehen. Er trug einen alten wattierten Paletot und Stiefel mit Galoschen. Er brachte zwei Töpfe und zwei Gefäße aus Birkenrinde. Nachdem er vor der Ranzewa seine Bürde abgestellt, verbeugte er sich vor dem Nechljudow nur mit dem Hals, so daß er ihn fortwährend ansah, indem er sich verbeugte. Dann reichte er ihm ungernig die schweißige Hand und begann, die Lebensmittel langsam aus dem Korb herauszunehmen und aufzustellen.

Diese beiden politischen Gefangenen waren Leute aus dem Vok: der erste war ein Bauer, Rabatow, der zweite ein Fabrikarbeiter, Markel Kondratiew. Markel war in die revolutionäre Bewegung geraten, als er schon bei Jahren war, als fünf und dreißigjähriger Mann; Rabatow aber in seinem achtzehnten Jahre. Nachdem er, dank seinen hervorragenden Fähigkeiten, aus einer Pfarrdorfschule ins Gymnasium gelangt war, erhielt sich Rabatow die ganze Zeit mit Stundengeben, und beendigte das Gymnasium mit der goldenen Medaille; in die Universität aber ging er nicht, weil er schon in der siebenten Klasse zu dem Entschluß gekommen war, daß er ins Volk gehen werde, aus dem er herkam, um seine von den andern vergessenen Brüder aufzuklären. So that er auch: zuerst nahm er eine Stelle als Gemeindeschreiber in einem großen Pfarrdorf an, aber bald ward er arretiert, weil er den Bauern Bücher vorgelesen, eine Konsum- und Produktionsgenossenschaft bei ihnen eingerichtet hatte. Das erste Mal hielt man ihn acht Monate im Gefängnre fest und entließ ihn unter geheimer Aufsicht. Als er frei wurde, fuhr er sofort in ein anderes Gouvernement, in ein anderes Pfarrdorf, richtete sich dort als Lehrer ein und that dasselbe. Man nahm ihn wieder fest, und dieser Mal hielt man ihn ein Jahr und zwei Monate im Gefängnis; im Gefängnis befestigte er sich noch mehr in seinen Ueberzeugungen.

Nach dem zweiten Gefängnis verschickte man ihn ins Gouvernement Permj. Er entfloh von dort. Man nahm ihn wieder fest, und nachdem man ihn sieben Monate lang gefangen gehalten, verschickte man ihn ins Gouvernement Archangeljsk. Dort hat man ihn wegen der Weigerung, dem neuen Zar den Eid zu leisten, zur Verschickung in die Provinz Jakutsk verurteilt, so daß er die Hälfte seines Lebens, seit er erwachsen war, im Gefängnis und der Verbannung verbracht hatte. All diese Abenteuer hatten ihn gar nicht erbittert, aber auch seine Energie nicht geschwächt, hatten sie eher angefacht. Es war ein beweglicher Mann, mit ausgezeichneter Verdauung, immer gleich thätig, mutig und lustig. Er bereute nie etwas und riet nicht herum an dem, was weit vor ihm lag, sondern er wirkte mit allen Kräften seines Intellekts, seiner Geschicklichkeit und seiner praktischen Sinnes in der Gegenwart. Wenn er in Freiheit war, arbeitete er für den Zweck, den er sich aufgestellt, namentlich: die Aufklärung und Solidierung des arbeitenden Volkes, hauptsächlich des Bauernvolkes; wenn er aber in Gefangenschaft war, so handelte er ebenso energisch und praktisch, um den Verkehr mit der Außenwelt herzustellen und unter den gegebenen Umständen das Leben am besten, nicht nur für sich, sondern für seinen Kreis, einzurichten. Er war in erster Linie Mensch der Gemeinde. Für sich schien er nichts nötig zu haben, und er konnte sich mit dem geringsten zufrieden geben; aber für die Gemeinde der Kameraden verlangte er viel; er konnte auch jegliche, sowohl physische, wie geistige Arbeit thun, ohne die Hände ruhen zu lassen, ohne Schlaf und ohne Nahrung. Als Bauer war er arbeitsam, findig, geschickt in der Arbeit, und von Natur enthaltsam, ohne Anstrengung höflich, aufmerksam nicht nur auf die Gefühle, sondern auch auf die Meinungen der Anderen. Die Alte, seine Mutter, eine analphabete Bauernwitwe, voll von Aberglauben, war noch am Leben, und Rabatow half ihr, und wenn er in Freiheit war, besuchte er sie. Während seiner Aufenthalte zu Hause ging er auf alle Einzelheiten ihres Lebens ein, half ihr bei den Arbeiten und brach den Verkehr mit seinen gewesenen Kameraden, den Bauernjungen, nicht ab. Er rauchte mit ihnen schlechten Blättertabak aus Hundebeinchen42 , boxte und setzte ihnen auseinander, wie sie alle betrogen seien, und wie sie sich aus dem Betrug, in dem man sie festhält, losmachen müßten. Wenn er über das nachdachte und sprach, was die Revolution dem Volke geben werde, stellte er sich immer dasselbe Volk vor, aus dem er stammte, fast unter denselben Bedingungen, aber mit Land und ohne Herren und Beamte. Die Revolution sollte nach seiner Anschauung die Grundformen des Volkslebens nicht ändern — darin war er mit Nowodworow und mit Nowodworows Anhänger Markel Kondratiew uneinig, — die Revolution sollte seiner Meinung nach nicht das ganze Gebäude zertrümmern, sondern sie sollte nur die innern Räumlichkeiten dieses schönen dauerhaften, ungeheuern, heiß von ihm geliebten alten Gebäudes anders einteilen.

In religöser Hinsicht war er gleichfalls ein typischer Bauer: nie dachte er über metaphysische Fragen, den Anfang aller Anfänge, über das Leben nach dem Tode nach. Gott war für ihn, wie für Arago, eine Hypothese, nach der er ein Bedürfnis bis jetzt nicht empfunden hatte. Ihn ging es garnicht an, auf welche Weise die Welt entstanden war; nach Moses oder nach Darwin, und der Darwinismus, der seinen Kameraden so wichtig erschien, war für ihn ebensogut ein Spielwerk des Denkens, wie die Schöpfung in sechs Tagen.

Ihn interessierte nicht die Frage danach, wie die Welt geschaffen worden, eben darum, weil die Frage, wie man besser darin leben könnte, immer vor ihm stand. Ueber das zukünftige Leben dachte er auch nie nach, da er in der Tiefe der Seele jene, von den Ahnen ererbte, feste, ruhige, allen Ackersleuten gemeinsame Ueberzeugung trug, daß, wie in der Welt der Tiere und Pflanzen nichts endet, sondern fortwährend sich aus einer Form in die andere umarbeitet, — der Dünger in Korn, das Korn in das Huhn, die Kaulquappe in den Frosch, der Wurm in den Schmetterling, die Eichel in die Eiche, — ebenso auch ber Mensch nicht vergeht, sondern nur sich wandelt. Daran glaubte er, und deshalb sah er immer mutig und sogar fröhlich dem Tod ins Auge und ertrug mit Festigkeit die Leiden, die zu ihm führen, aber er liebte es nicht und verstand nicht, darüber zu reden. Er liebte es, zu arbeiten und war immer mit praktischen Dingen beschäftigt, und auf ebensolche praktischen Dinge stieß er die Kameraden hin.

Der andere politische Gefangene aus dem Volk, Markel Kondratiew, war ein Mann von anderm Schlag. Vom fünfzehnten Jahre an war er auf die Arbeit gestellt und begann zu rauchen und zu trinken, um das trübe Bewußtsein der Beleidigung zu betäuben. Diese Beleidigung empfand er zum erstenmal, da man sie, als Kinder, Weihnachten zu dem Christbaum führte, der von der Frau des Fabrikanten hergerichtet worden, wo man ihm mit seinen Kameraden ein Pfeifchen zu einem Kopeken, einen Apfel, eine vergoldete Nuß und eine Feige schenkte, den Kindern des Fabrikanten aber Spielsachen, die ihm als Geschenke einer Zauberin erschienen, und die, wie er später erfuhr, mehr als 50 Rubel gekostet hatten.

Er war zwanzig Jahre alt, als in die dortige Fabrik eine berühmte Revolutionärin als Arbeiterin eintrat, und da sie die hervorragenden Fähigkeiten des Kondratiew bemerkte, ihm Bücher und Broschüren zu geben und mit ihm zu sprechen begann, indem sie ihm seine Stellung und die Ursachen derselben, sowie die Mittel, sie zu verbessern, erklärte. Als er sich die Möglichkeit der Befreiung, sowohl seiner selbst wie auch der Andern aus der Unterdrückung, in welcher er sich befand, klar vorstellte, erschien ihm die Ungerechtigkeit dieser Lage noch grausamer und fürchterlicher als früher, und leidenschaftlich begann er nicht nur nach Befreiung, sondern auch nach der Bestrafung derer zu verlangen, die diese grausame Ungerechtigkeit eingerichtet hatten und sie erhielten. Die Möglichkeit dazu verlieh das Wissen, wie man ihm erklärte, und Kondratiew ergab sich mit Leidenschaft der Aneignung von Kenntnissen. Es war ihm unklar, auf welche Weise die Verwirklichung des sozialistischen Ideals durch das Wissen vollbracht wird, aber er glaubte, daß, wie das Wissen ihm die Ungerechtigkeit der Lage, in der er sich befand, offenbart hatte, so dasselbe Wissen diese Ungerechtigteit auch zurechtrücken werde. Außerdem erhob ihn das Wissen in seiner eigenen Meinung über andere Menschen. Und darum, nachdem er aufgehört hatte, zu rauchen und zu trinken, widmete er dem Studium die ganze freie Zeit, von der er jetzt, da man ihn zum Aufseher eines Vorratsraumes gemacht, mehr hatte. —

Die Revolutionärin unterrichtete ihn und staunte über die wunderbare Fähigkeit, mit der er unersättlich allerlei Kenntnisse verschlang. In zwei Jahren erlernte er die Algebra, die Geometrie, die Geschichte, die er besonders liebte, und las die sämtliche schöne und kritische Litteratur, hauptsächlich die sozialistische durch.

Die Revolutionärin nahm man fest, mit ihr auch den Kondratiew, da man bei ihm verbotene Bücher vorfand. Man setzte ihn ins Gefängnis, dann verschickte man ihn ins Gouvernement Walogda. Dort lernte er Kowodworow kennen, las noch viele revolutionäre Bücher, behielt alles im Gedächtnis und befestigte sich noch mehr in seinen sozialistischen Ansichten. Nach der Verschickung war er der Leiter einen großen Arbeiterstrikes, der mit der Zertrümmerung der Fabrik und der Tötung des Direktors endete. Man nahm ihn fest und verurteilte ihn zur Entziehung aller Rechte und zur Verbannung.

Gegen die Religion verhielt er sich ebenso negativ, wie gegen die existierende ökonomische Ordnung. Nachdem er die Ungereimtheit des Glaubens, in dem er aufgewachsen war, begriffen und sich mühsam — zuerst mit Angst, dann mit Begeisterung — von ihm befreit hatte, wurde er nicht müde, gleichsam zum Entgelt für jenen Betrug, in dem man ihn und seine Ahnen gehalten hatte, giftig und boshaft die Pfaffen und religiösen Dogmen zu verspotten.

Er war seinen Gewohnheiten nach Asket, begnügte sich mit dem Wenigsten und wie jeder von Kindheit an an Arbeit gewöhnte Mensch, mit entwickelten Muskeln, konnte er leicht, und viel und geschickt arbeiten, jegliche physische Atheit leisten, am meisten aber schätzte er die Muße und lernte in den Gefängnissen und auf den Etappen weiter. Er studierte jetzt den ersten Band von Marx, und mit der großten Sorgsamkeit, wie einen großen Schatz, bewahrte er in seinem Sack dieses Buch auf. Gegen alle Kameraden verhielt er sich zurückhaltend, gleichgilttig, mit Ausnahme von Rowodworow, dem er besonders ergeben war, und dessen Urteil über alle Dinge er für unwiderlegliche Wahrheiten nahm.

Gegen die Frauen, auf die er als auf ein Hindernis in allen nötigen Dingen sah, hegte er eine unüberwindliche Verachtung. Die Maslowa aber bedauerte er und war mit ihr freundlich, da er in ihr ein Beispiel der Exploitation der niederen Klasse seitens der höheren sah. Aus demselben Grunde hatte er den Nechljudow nicht gern, war ihm gegenüber wortkarg, drückte seine Hand nicht, sondern überließ ihm nur seine ausgestreckte Hand zum Druck, wenn Nechljudow ihn grüßte.

13

Der Ofen war fertiggeheizt und wurde warm, der Thee war gemacht, in die Gläser und Henkelbecher eingeschenkt und mit Milch geweißt, es waren Brezeln, frisches Feinbrot und Weizenbrot, hartgekochte Eier, Butter, Kalbskopf und Kalbsfüße aufgesetzt. Alle rückten an den Teil der Pritsche heran, der den Tisch ersetzte, und tranken, aßen und sprachen. Die Ranzewa saß auf einer Kiste und schenkte den Thee ein. Um sie herum drängten sich alle Übrigen, außer dem Kryljzow, der nachdem er den nassen Halbpelz ausgezogen und sich in den trockenen Plaid eingewickelt hatte, auf seinem Platz lag und mit Nechljudow sprach.

Nach der Kälte und Nässe während des Marsches, nach dem Schmutz und der Unordnung, die sie hier vorgefunden, nach der Mühe, die man aufwenden mußte, um alles in Ordnung zu bringen, nach dem Genuß der Nahrung und nach dem heißen Thee waren alle in angenehmster, freudiger Stimmung.

Der Umstand, daß hinter der Wand Stampfen, Geschrei, Schimpferei der Kriminalen sich hören ließ, gleichsam um sie an das zu erinnern, was sie umgab — dieser Umstand verstärkte noch das Gefühl der Behaglichkeit. Wie auf einer kleinen Insel mitten im Meere, fühlten sich diese Menschen für eine Zeit lang nicht überschwemmt von den Erniedrigungen und Leiden, die sie umgaben, und infolge dessen befanden sie sich in einem gehobenen, aufgeregten Zustand. Man sprach über alles, nur nicht von seiner Lage, nicht davon, was sie erwartete. Außerdem, wie es immer zwischen jungen Männern und Frauen zu sein pflegt, besonders wenn sie gewaltsam vereinigt worden, wie alle diese Leute zusammengebracht wurden, entstanden unter ihnen zusammenstimmende und nicht zusammenstimmende, sich verschiedenartig verflechtende Neigungen zu einander. Sie waren fast alle verliebt. Rowodworow war in die hübsche, lächelnde Grabetz verliebt. Die Grabetz war eine junge Studentin, die sehr wenig reflektirt hatte, und vollständig gleichgültig gegen die Fragen der Revolution war. Aber sie gab dem Einfluß der Zeit nach, hatte sich durch etwas kompromittiert und wurde verschickt. Wie in der Freiheit die Hauptinteressen ihres Lebens in den Erfolgen bei Männern bestanden, ebenso auch bei den Verhören und im Gefängnis und der Verschickung. Jetzt, während des Transports, tröstete sie sich damit, daß Rowodworow für sie eingenommen war, und sie verliebte sich selber in ihn. Wjera Iefremowna, die sehr verliebter Natur war und doch nicht Liebe für sich eeregen konnte und dennoch immer auf Gegenseitigkeit hoffte, war bald in den Rabatow, bald in den Rowodworow verliebt. Etwas der Liebe Ähnliches war seitens des Kryljzow für Maria Pawlowna vorhanden. Er liebte sie, wie Männer Frauen lieben, aber da er ihr Verhalten gegen die Liebe kannte, verbarg er geschickt sein Gefühl unter der Gestalt der Freundschaft und der Dankbarkeit dafür, daß sie mit besonderer Zährtlichkeit ihn pflegte. Rabatow und die Ranzewa waren durch sehr komplizierte Liebesbeziehungen verknüpft. Wie Maria Pawlowna eine vollkommen keusche Jungfrau, so war die Ranzewa eine vollkommen keusche Frau und Gattin.

Sechzehn Jahre alt, noch im Gymnasium, gewann sie den Ranzew, einen Studenten der Petersburger Universität, lieb, und neunzehn Jahre alt, heiratete sie ihn, während er noch auf der Universität war. Vom achten Semester ab wurde ihr Mann, da er in eine Universitätsgeschichte verwickelt war, aus Petersburg verwiesen und ward Revolutionär. Sie aber verließ die medizinischen Kurse, die sie besuchte, und wurde ebenfalls Revolutionärin. Wenn ihr Mann nicht der Mensch gewesen wäre, den sie für den ersten, den klügsten, von allen Menschen in der Welt hielt, würde sie ihn nicht lieb gewonnen haben, und hätte sie ihn nicht lieb gewonnen, würde sie ihn nicht geheiratet haben. Aber da sie nun den ihren Ueberzeugungen nach besten und klügsten Mann in der Welt lieb gewonnen und geheiratet hatte, verstand sie das Leben und seinen Zweck natürlicherweise ebenso, wie der beste und klügste Mann in der Welt es verstand. Er sah zuerst das Leben darin, daß man studierte, und sie sah das Leben ebenso darin. Er wurde Revolutionär, und sie wurde Revolutionärin. Sie konnte sehr gut den Beweis führen, daß die existierende Ordnung unmöglich sei, und daß die Pflicht jedes Menschen darin bestehe, gegen diese Ordnung zu kämpfen, um jene politische und ökonomische Organisation des Lebens herbeizuführen, in welcher sich die Individualitat frei entwickeln könne u. s. w. Und es schien ihr, daß sie wirklich so denke und fühle, aber im Grude genommen dachte sie nur, daß alles das, war ihr Mann denke, die wahre Wahrheit sei und suchte nur eins, die völlige Uebereinstimmung, das Zusammenfließen mit der Seele ihres Mannes, weil allein dies ihr moralische Befriedigung gewährte.

Die Trennung von dem Manne und vom Kinde, das ihre Mutter zu sich genommen hatte, fiel ihr schwer. Aber sie ertrug diese Trennung fest und ruhig, da sie wußte, daß sie es für den Mann und für jene Sache ertrage, die unzweifelhaft wahr sein mußte, weil er ihr diente. Sie war in Gedanken immer mit dem Manne, und wie sie früher niemand anderes geliebt hatte, so konnte sie auch jetzt niemand außer ihrem Manne lieben. Aber die ergebene und reine Liebe Rabatow’s rührte und ergriff sie. Er war ein moralischer und fester Mann, ein Freund ihres Mannes, bemühte sich mit ihr, wie mit seiner Schwester umzugehen, aber in sein Verhalten zu ihr schlüpfte etwas Größeres ein, und dieses Größere erschreckte sie beide und schmückte zugleich ihr schweres gegenwärtiges Leben.

Sodaß vollkommen frei von Liebe in dieser Gesellschaft nur Maria Pawlowna und Kondratiew waren.

14

Nechljudow rechnete darauf, nach dem gemeinsamen Thee und Nachtessen, wie er es früher gethan, mir Katjuscha allein sprechen zu können, und er saß neben dem Kryljzow, sich mit ihm unterhaltend.

Unter anderem erzählte er ihm von Makars Ersuchen an ihn und von der Geschichte seines Verbrechen. Kryljow hörte aufmerksam zu, die glänzenden Blicke auf Nechljudows Gesicht geheftet.

»Ja,« sagte er plötzlich, »mich beschäftigt oft der Gedanke, daß wir nun zusammen an ihrer Seite gehen. Wessen ihrer? an der Seite derjenigen Menschen, für welche wir eintreten. Unterdessen aber kennen wir sie nicht nur nicht, sondern wir wollen sie auch nicht kennen. Sie aber, nach schlimmer, als das — sie hassen uns und halten uns für ihre Feinde. Das ist nun schrecklich.«

»Es ist gar nichts Schreckliches dabei,« sagte Rowodworow, der dem Gespräch zuhörte. »Die Massen beten immer nur die Macht an,« sagte er mit seiner krachenden Stimme. »Die Regierung herrscht, und sie beten sie an und hassen uns, morgen werden wir die Macht sein, und sie werden uns anbeten.«

Um diese Zeit ließ sich hinter der Wand ein Ausbruch von Schimpferei, Gepolter der sich an die Wand Stoßenden, Gerassel der Ketten, Winseln und Geschrei vernehmen. Man schlug jemand, jemand schrie: »zu Hilfe.«

»Das sind sie! Tiere! Was für ein Verkehr kann zwischen uns und ihnen stattfinde?« sagte ruhig Rowodworow.

»Du sagst, Tiere? Nun aber eben hat Nechljudow von so einer Handlung erzählt,« sagte Kryljzow gereizt; und er erzählte, wie Makar sein Leben riskiert, um seinen Landsmann zu retten. »Dies ist nun keine Bestialität, sondern eine Heldenthat.«

»Sentimentalität!« sagte Rowodworow ironisch. »Uns ist es schwer, die Gemütsbewegungen dieser Leute und die Motive ihrer Handlungen zu verstehen. Du erblickst eine Großmut darin, aber da spielt vielleicht der Neid, jenem Zwangsarbeiter gegenüber.«

»Warum willst du denn in den anderen nichts gutes sehen?« sagte, plötzlich in Hitze geraten, Maria Pawlowna. (Sie duzte alle.)

»Man kann nicht sehen, was nicht da ist.«

»Wie so — nicht da ist, wenn der Mensch es auf einen grausamen Tod hin wagt?«

»Ich glaube,« sagte Nowodrworow, »daß, wenn wir unsere Sache thun wollen, so ist die erste Bedingung dazu, (Kondratiew ließ das Buch bei Seite, das er bei der Lampe las und begann aufmerksam seinem Lehrer zuzuhören), daß wie nicht phantasieren, sondern die Dinge so ansehen, wie sie sind. Man muß alles für die Volksmasse thun und nichts von ihr erwarten. Die Massen bilden das Objekt unserer Thätigkeit, aber sie können nicht unsere Mitarbeiter sein, solange sie träge, wie jetzt sind,« begann er, als ob er eine Vorlesung hielte. »Und darum ist es vollständig illusorisch, eine Hilfe ihrerseits zu erwarten, so lange nicht der Entwickelungsprozeß in ihnen stattgefunden, jener Entwickelungsprozeß, zu dem wir sie vorbereiten.«

»Was für ein Entwickelungsprozeß?« begann Kryljgow, der rot geworden, zu sprechen: »Wir sagen, daß wir gegen die Willkür und den Despotismus sind; — ist das denn nicht der schrecklichste Despotismus?«

»Kein Despotismus ist da,« antwortete ruhig Rowodworow. »Ich sage nur, daß ich jenen Weg kenne, welchen das Volk gehen muß, und diesen Weg ihm zeigen kann.«

»Aber wie so bist du überzeugt, daß der Weg, den du zeigst, richtig sei? Ist er denn nicht der Despotismus, aus welchem die Inquisitionen und die Hinrichtungen der großen Revolution folgten? Sie kannten auch den richtigen Weg, der Wissenschaft nach.«

»Der Umstand, daß sie sich geirrt haben, beweist noch nicht, daß ich irren muß. Und dann: es ist ein großer Unterschied zwischen den Faseleien der Ideologen und den Thatsachen der positiven ökonomischen Wissenschaft,« Rowodworows Stimme erfüllte die ganze Kammer. Er sprach allein, und alle schwiegen.

»Immer streitet man,« sagte Maria Pawlowna, als er für eine Minute verstummte.

»Und wie denken Sie selbst darüber?« fragte Nechljudow Maria Pawlowna.

»Ich glaube, Anatolij hat recht, daß wir nicht dem Volke unsere Ansichten aufdrängen dürfen.«

»Nun, und Sie, Katjuscha?« lächelnd fragte es Nechljudow, mit Angst ihre Antwort erwartend; er befürchtete, daß sie etwas nicht Hineinpassendes sagen möchte.

»Ich glaube,« sagte sie, jäh errötend, »das einfache Volk ist sehr benachteiligt.«

»Richtig, Michajlowna, richtig,« schrie Rabatow auf. »Stark benachteiligt ist das Volk. Man muß sehen, daß man es nicht benachteilige. Darin besteht unsere ganze Sache.«

»Eine sonderbare Vorstellung von den Aufgaben der Revolution,« sagte Rowodworow, und verstummend und ärgerlich begann er zu rauchen.

»Ich kann mit ihm nicht sprechen,« sagte Kryljzow flüsternd und schwieg.

»Und es ist weit besser, nicht zu sprechen.« sagte Nechljudow.

15

Trotzdem Rowodworow von allen Revolutionären sehr geachtet, trotzdem er sehr gelehrt war, und für sehr klug gehalten wurde, zählte ihn Nechljudow zu denjenigen Revolutionären, die, da sie ihren moralischen Eigenschaften nach unter dem Durchschnittsniveau stehen, weit unter dem Niveau waren. Die geistigen Kräfte dieses Mannes — sein Zähler — waren groß; aber seine Meinung von sich — sein Nenner — war unverhältnismäßig, ungeheuer groß und hatte schon längst seine geistigen Kräfte überwuchert.

Das war ein Mann von vollständig entgegengesetztem Typus des geistigen Lebens, als Simonsohn. Simonsohn war einer jener Menschen, (ein vorwiegend männlicher Typus) bei denen die Handlungen aus der Thätigkeit des Denkens folgen und von derselben bestimmt werden. Rowodworow aber gehörte zu der Menschenkategorie, (vorwiegend weiblichen Schlages), bei denen die Thätigkeit des Denkens zum Teil auf die Erreichung der vom Gefühl aufgestellten Ziele gerichtet ist, zum Teil aber auf die Rechtfertigung der Handlungen, die aus dem Gefühl entsprungen.

Die ganze revolutionäre Thätigkeit Rowodworows, trotzdem er sie durch sehr überzeugende beredsame Gründe zu erklären verstand, erschien dem Nechljudow einzig auf der Eitelkeit und dem Wunsch, der Erste unter den Menschen zu sein, gegründet. Zuerst, in der Periode des Studiums — Dank seiner Fähigkeit, fremde Gedanken sich anzueignen und sie genau wiederzugeben, hatte er den Vorrang und war befriedigt, — in Mitten der Lernenden und Lehrenden: Gymnasium, Universität, Magistergrad — wird diese Art der Fähigkeiten hoch geschätzt. — Aber als er das Diplom erlangt und zu studieren aufgehört hatte und dieser Vorrang zu Ende war, änderte er plötzlich vollständig seine Ansichten, wie Kryljzwo — der den Rowodworow nicht lieb hatte, — dem Nechljudow erzählte, und um auch in der neuen Sphäre den Vorrang zu erlangen, wurde er aus einem gemäßigt Liberalen ein roter Narodowolez. In Folge des Mangels an moralischen und ästhetischen Eigenschaften in seinem Charakter, die Zweifel und Schwanken hervorrufen, nahm er sehr bald in der revolutionären Welt die seiner Eigenliebe befriedigende Stellung eines Parteiführers ein. Nachdem er einmal die Richtung gewählt hatte, zweifelte und schwankte er nun nie mehr, und daher war er überzeugt, daß er nie irre. Ihm schien alles ungewöhnlich einfach, klar und unzweifelhaft zu sein. Und bei der Enge und Einseitigkeit seiner Ansichten war alles wirklich sehr einfach und klar, und man brauchte nur, wie er zu sagen pflegte, logisch zu sein. Seine Selbstgewißheit war so groß, daß sie die Leute nur entweder abstoßen oder sie sich unterwerfen konnte. Und da er seine Thätigkeit inmitten sehr junger Leute übte, die seine grenzenlose Selbstgewißheit für Tiefsinn und Weisheit nahmen, so unterwarfen sich ihm die Meisten, und er hatte einen großen Erfolg in den revolutionären Kreisen. Seine Thätigkeit bestand in der Vorbereitung zur Empörung, wobei er die Macht an sich reißen, und eine allgemeine Volksversammlung zusammenberufen sollte. Auf dieser Volksversammlung sollte das von ihm abgefaßte Programm vorgeschlagen werden. Und er war vollkommen überzeugt, daß dieses Programm alle Fragen erschöpfte, und daß man nicht umhin könne, es anzunehmen.

Die Kameraden achteten ihn wegen seiner Kühnheit und Entschiedenheit, liebten ihn aber nicht. Er aber liebte niemand und verhielt sich gegen alle hervorragenden Menschen wie gegen Rivalen und würde gern mit ihnen so umgegangen sein, wie die alten Affenmännchen mit den jungen umgehen, wenn er nur gekonnt hätte. Er würde den ganzen Intellekt, alle Fähigkeiten den anderen Menschen entrissen haben, damit sie die Aktion seiner Fähigkeiten nicht störten. Er verhielt sich gut nur gegen die Leute, die sich vor ihm beugten. So verhielt er sich zu dem von ihm geworbenen Arbeiter Kondratjew, zu Wjera Iefremowna, und zu der hübschen Grabetz, die beide in ihn verliebt waren. Obgleich er prinzipiell für die Frauenfrage war, hielt er doch in der Tiefe der Seele alle Frauen für dumm und nichtig mit Ausnahme derjenigen, in die er, oft sentimental, verliebt war, wie er jetzt in die Grabetz verliebt war, und dann hielt er sie für ungewöhnliche Frauen, deren wertvolle Eigenschaften nur er allein zu bemerken verstand.

Die Frage nach den Beziehungen der Geschlechter zu einander schien ihm, wie alle Fragen, sehr einfach und klar zu sein und ward durch die Anerkennung der freien Liebe vollkommen entschieden.

Er hatte eine fiktive Frau und eine andere echte, von der er getrennt war, da er sich überzeugte, daß sie keine wahre Liebe zu einander hätten; und jetzt war er gesonnen, eine neue freie Ehe mit der Grabetz zu schließen.

Den Nechljudow verachtete er, weil er, wie er zu sagen pflegte, mit der Maslowa »posierte,« und besonders, weil er sich erlaubte, über den Mangel der existierenden Organisation und über die Mittel zur Reform derselben nicht Wort für Wort so zu denken, wie er, Rowodworow, dachte, sondern irgendwie nach seiner eigenen, fürstlichen d. h. närrischen Art. Nechljudow wußte von solchem Verhalten Rowodworows zu ihm, und zu seiner Betrübnis fühlte er, daß er, trotz der seelenguten Stimmung, in welcher er sich während der Reise befand, ihm mit derselben Münze zahlte und auf keine Weise die stärkste Antipathie gegen diesen Mann bezwingen konnte.

16

In der Nachbarkammer ließen sich die Stimmen der Obrigkeit hören. Alles wurde still, und gleich darauf trat der Oberste mit zwei Eskortesoldaten herein. Das war die Kontrolle. Der Oberste zählte alle, indem er auf jeden mit dem Finger zeigte. Als die Reihe an den Nechljudow kam, sagte er gutmütig-familär zu ihm:

»Jetzt, Fürst, nach der Kontrolle, darf man schon nicht mehr bleiben. Man muß fortgehen.«

Nechljudow wußte, was das zu bedeuten hatte; er trat an ihn heran und drückte ihm 3 Rubel, die er bereit hielt, in die Hand.

»Nun, was kann man mit Ihnen machen! Sitzen Sie noch ein wenig.« Der Oberste wollte fortgehen, als ein anderer Unteroffizier eintrat und gleich nach ihm ein hochgewachsener, magerer Gefangener mit blau geschlagenem Auge und spärlichem Bärtchen.

»Ich komme wegen dem Mädchen,« sagte der Gefangene.

»Da ist auch Vaterle gekommen,« ließ sich plötzlich ein hellklingendes kindliches Stimmchen vernehmen, und ein flachshaariges Köpfchen erhob sich hinter der Ranzewa, welche zusammen mit Maria Pawlowna und Katjuscha dem Mädchen aus einem von der Ranzewa geschenkten Rock ein neues Kleid nähten.

»Ich bin es, Töchterchen, ich,« sagte freundlich Busowkin.

»Hier hat sie’s gut,« sagte Maria Pawlowna, mit Weh Busowkins zerschlagenes Gesicht betrachtend. »Lassen Sie sie bei uns bleiben.«

»Die Herrinnen nähen mir ein neues Kleid,« sagte das Mädchen, dem Vater die Arbeit der Ranzewa zeigend. »Ein schönes, ro—o—otes,« plapperte sie.

»Willst du bei uns über Nacht bleiben?« sagte die Ranzewa, das Mädchen liebkosend.

»Ich will. Und Vaterle auch.«

Die Ranzewa strahlte vor Lächeln.

»Vaterle kann nicht,« sagte sie, »Also lassen Sie sie hier,« wandte sie sich an den Vater.

»Meinetwegen lassen Sie sie,« sprach der Oberste, in der Thür stehen bleibend, dann ging er mit dem Unteroffizier zusammen hinaus.

Sobald die Eskortierenden weggegangen waren, näherte sich Nabatow dem Busowskin, und ihn an den Schulter berühred, sagte er:

»Wie ist es denn, Bruder, ist es wahr, daß Karmanow bei euch tauschen will?«

Das gutmütige, freundliche Gesicht Busoskins wurde plötzlich niedergeschlagen, und seine Augen bedeckten sich gleichsam mit einem Häutchen.

»Wie haben nichts gehört, kaum,« sagte er und ohne das Häutchen von den Augen wegzuziehen, fügte er hinzu:

»Nun, Aksjutka, — also Prinzessin sein! bei den Fräulein bleiben!« und er beeilte sich, wegzugehen.

»Alles weiß er; und es ist wahr, daß sie getauscht haben,« sagte Nabotow. »Was wollen Sie nun thun?«

»Ich werde es in der Stadt der Obrigkeit sagen. Ich kenne sie beide vom Gesicht,« sagte Nechljudow.

Alle schwiegen, da sie offenbar fürchteten, den Streit zu erneuern.

Simonsohn, der die ganze Zeit schweigend, die Hände hinter dem Kopf, in einer Ecke auf der Pritsche gelegen, erhob sich entschieden, und nachdem er alle Sitzenden vorsichtig umgangen, trat er an den Nechljudow heran:

»Können Sie mich jetzt hören?«

»Versteht sich,« sagte Nechljudow und stand auf, um ihm zu folgen.

Als Katjuscha aus den sich erhebenden Nechljudow blickte und ihre Augen seinem Blick begegneten, wurde sie rot und schüttelte gleichsam bedenklich mit dem Kopf.

»Mein Anliegen an Sie besteht in Folgendem,« begann Simonsohn, als er mit Nechljudow zusammen in den Korridor hinausgegangen war. In dem Korridor war das Summen und der Stimmenaufruhr der Kriminalen besonders hörbar. Nechljudow runzelte die Stirn, aber Simonsohn war dadurch augenscheinlich nicht gestört.

»Da ich Ihre Beziehungen zu Katerina Michajlowna kenne,« begann er, aufmerksam und gerade mit seinen guten Augen in Nechljudows Gesicht blickend, »halte ich mich für verpflichtet,« fuhr er fort, aber er mußte aufhören, da dicht an der Thüre zwei Stimmen auf einmal schrien, die über etwas stritten.

»Man sagt dir, du Götzenbild: sie gehören nicht mir,« schrie eine Stimme.

»Daß du daran erstickst, Teufel,« röchelte heiser der andere.

Da kam Maria Pawlowna in den Korridor heraus.

»Kann man denn hier sprechen?« sagte sie, »kommen Sie hierher, da ist nur Wjerotschka allein,« und sie ging voran durch die benachbarte Thür einer winzigen Kammer, offenbar einer Einzelkammer, die jetzt den politischen Frauen zur Verfügung gestellt war. Auf der Pritsche lag Wjera Iefremowna, über den Kopf zugedeckt.

»Sie hat Migräne, sie schläft und hört nicht, ich aber gehe weg,« sagte Maria Pawlowna.

»Im Gegenteil, bleibe,« sagte Simonsohn, »ich habe keine Geheimnisse, vor niemand, besonders vor dir nicht.«

»Nun gut,« sagte Maria Pawlowa, und mit dem ganzen Körper, wie die Kinder, von einer Seite auf die andere rutschend und sich durch diese Bewegung tiefer auf der Pritsche hinsetzend, machte sie sich bereit, zu hören, indem sie mit ihren schönen Hammelaugen irgendwohin in die Ferne sah.

»Also, meine Sache besteht darin,« wiederholte Simonsohn, »daß ich, da ich Ihr Verhältnis zu Katerina Michajlowna kenne, mich für verpflichtet halte, Ihnen mein Verhalten gegen sie zu erklären.«

»Daß heißt — was denn?« fragte Nechljudow der unwillkürlich mit Wohlgefallen die Einfachheit und Wahrhaftigkeit wahrnahm, mit der Simonsohn mit ihm sprach.

»Nämlich, daß ich Katerina Michajlowna heiraten möchte.«

»Wunderbar,« sagte Maria Pawlowna, die Augen auf Simonsohn geheftet.

»…und beschlossen habe, sie darum zu bitten, — — darum, daß sie meine Frau werde,« fuhr Simonsohn fort.

»Was soll ich dabei? Das hängt von ihr ab,« sagte Nechljudow.

»Ja, aber sie wird diese Frage ohne Sie nicht entscheiden.«

»Warum?«

»Weil sie nicht wählen kann, so lange die Frage nach ihrem Verhältnis zu Ihnen nicht definitiv gelöst ist.«

»Meinerseits ist die Frage definitiv entschieden. Ich möchte das thun, was ich für meine Pflicht halte, und außerdem ihre Lage erleichtern, aber keineswegs will ich ihr einen Zwang auferlegen.«

»Ja, aber sie will Ihr Opfer nicht.«

»Da giebt es kein Opfer.«

»Und ich weiß, daß dieser ihr Entschluß unwiderruflich ist.«

»Nun, — dann — worüber wollen Sie mit mir sprechen?« sagte Nechljudow.

»Es ist ihr nötig, daß auch Sie es anerkennen.«

»Wie kann ich denn anerkennen, daß ich das nicht thun soll, was ich für meine Pflicht halte? Das Einzige, was ich sagen kann, ist daß ich nicht frei bin — sie dagegen ist frei.«

Simonsohn schwieg eine Zeit lang nachdenklich.

»Schön, das werde ich ihr sagen. Glauben Sie nicht, daß ich in sie verliebt bin,« fuhr er fort. »Ich liebe sie wie einen schönen, seltenen Menschen, der viel gelitten hat. Ich brauche von ihr nichts, aber ich möchte furchtbar gern ihr helfen, ihre Lage erleicht…«

Nechljudow wunderte sich, als er das Zittern in Simonsohns Stimme hörte.

»…ihre Lage erleichtern. Wenn sie Ihre Hilfe nicht annehmen will, lassen Sie sie meine Hilfe annehmen. Wenn sie einwilligte, würde ich bitten, daß man mich an den Ort ihrer Einsperrung verschickt. Vier Jahre sind keine Ewigkeit. Ich würde sie neben ihr verleben und vielleicht ihr Schicksal erleichtern.« — Vor Aufregung blieb er wieder stecken.

»Was kann ich denn sagen?« sagte Nechljudow. »Ich freue mich, daß sie einen solchen Beschützer gefunden wie Sie…«

»Das eben wollte ich wissen,« fuhr Simonsohn fort. »Ich wünschte zu wissen, ob Sie, der Sie sie lieben und ihr Heil wünschen, ihre Ehe mit mir für ein Heil ansehen würden?«

»Oh ja,« sagte Nechljudow entschieden.

»Alles liegt in ihr, ich will nur, daß diese Seele, die gelitten hat ausruhe,« sagte Simonsohn während er den Nechljudow mit einer so kindlichen Zärtlichkeit ansah, wie man sie von einem Manne mit solch finsterem Aussehen unmöglich erwarten konnte.

Simonsohn stand auf, faßte Nechljudows Hand, neigte sich zu ihm mit dem Gesicht, lächelte schüchtern und küßte ihn.

»Also, ich werde ihr dies sagen,« sagte er und ging hinaus.

17

»Ah, was meinen Sie dazu?« sagte Maria Pawlowna. »Verliebt, vollständig verliebt. Nun, daß würde ich auch nie erwartet haben, daß sich Wladimir Simonsohn mit so einer — der dümmsten knabenhaften Verliebtheit verlieben würde! Erstaunlich! Und um die Wahrheit zu sagen — betrübend,« schloß sie seufzend.

»Aber sie, die Katja? Wie verhält sie sich, ihrer Meinung nach, dazu?« fragte Nechljudow.

»Sie?« Maria Pawlowna stockte, da sie, augenscheinlich, möglichst genau auf die Frage antworten wollte. »Sie? Sie ist trotz ihrer Vergangenheit, ihrer Anlage nach eine der sittlichsten Naturen …und so fein fühlt sie …Sie liebt Sie — liebt Sie schön, und sie ist glücklich mit dem Gedanken, Ihnen wenigstens jenes negative Gute anthun zu können, daß sie Sie nicht mit sich verstrickt. Für Katjuscha wäre die Heirat mit Ihnen ein fürchterlicher moralicher Fall, schlimmet, als alles frühere; und darum wird sie nie darauf eingehen. Und unterdessen beunruhigt sie Ihre Anwesenheit.«

»Also was denn? soll ich etwa verschwinden?« sagte Nechljudow.

Maria Pawlowna lächelte mit ihrem lieben, kindlichen Lächeln.

»Ja, zum Teil.«

»Wie soll man denn zum Teil verschwinden?«

»Ich habe gefaselt, aber von ihr wollte ich Ihnen sagen, daß sie wahrscheinlich die Ungereimtheit seiner— möcht ich sagen — exaltierten Liebe (er hat ihr nichts darüber gesagt) einsieht, und daß sie sich durch dieselbe geschmeichelt fühlt und vor ihr bangt. Sie wissen wohl, ich hin in diesen Sachen nicht kompetent, aber es scheint mir, daß es seinerseits das gewöhnlichste männliche Gefühl ist, obgleich ja maskiert. Er sagt, daß diese Liebe in ihm die Energie erhöhe, und daß diese Liebe platonisch sei. Aber ich weiß, daß, wenn es auch eine nicht gewöhnliche Liebe wäre, in ihrem Grunde doch unbedingt eine Scheußlichkeit liegt…Wie Nowodworow mit Ljubotschka.« Maria Pawlowna wich von der Frage ab, indem sie auf ihr Lieblingsthema zu sprechen kam.

»Aber was soll denn ich thun?« fragte Nechljudow.

»Ich glaube, Sie müssen es ihr sagen. Stets ist es besser, daß alles klar sei. Sprechen Sie mit ihr, ich will sie rufen. Wollen Sie?« fragte Maria Pawlowna.

»Bitte,« sagte Nechljudow, und Maria Pawlowna ging.

Ein seltsames Gefühl erfaßte den Nechljudow, als er allein in der kleinen Kammer blieb und das leise, hie und da von Stöhnen unterbrochene Atmen der Wjera Iefremowna, das dumpfe Lärmen der Kriminalen hörte, das ohne Aufhören hinter den zwei Thüren ertönte.

Was ihm Simonsohn gesagt, gab ihm die Befreiung von der übernommenen Verpflichtung, die ihm in den Minuten der Schwäche schwer und unheimlich erschien, und doch war dies ihm nicht nur unangenehm, sondern es that ihm weh. In diesem Gefühl lag auch, daß der Vorschlag Simonsohns die Ausschließlichkeit seiner Handlung zerstörte und den Wert des Opfers, das er bringen wollte, in seinen eigenen Augen und in den Augen der anderen Menschen verminderte: wenn ein Mann, dazu noch ein so guter, der an sie durch nichts gebunden war, sein Schicksal mit dem ihren vereinigen wollte so war sein, Nechljudows Opfer, nicht mehr so bedeutend.

Es war da vielleicht auch ein einfaches Gefühl der Eifersucht vorhanden. Er war so an ihre Liebe zu sich gewöhnt, daß er den Gedanken nicht zulassen konnte, daß sie einen anderen lieb gewinnen könnte.

Da war auch die Zerstörung des einmal festgesetzten Plans, neben ihr zu leben, solange sie ihre Strafe abbüßen werde. Wenn sie den Simonsohn heiratete, würde seine Anwesenheit unnötig sein, und er mußte sich einen neuen Plan des Lebens schaffen.

Er hatte nicht Zeit, sich in seinen Gefühlen zurechtzufinden, als durch die geöffnete Thür ein verstärktes Getöse drang (es ging bei ihnen heute etwas Besonderes vor), und Katjuscha in die Kammer trat.

Sie näherte sich ihm mit raschen Schritten.

Maria Pawlowna hat mich hierher geschickt, sagte sie, nahe bei ihm stehen bleibend.

»Ja, ich muß Sie sprechen Aber setzen Sie sich, Wladimir Iwanowitsch hat mit mir gesprochen«.

Sie ließ sich nieder, die Hände im Schooß, und schien ruhig zu sein, aber kaum hatte Nechljudow den Namen Simonsohns hervorgebracht, als sie purpurrot wurde.

»Was hat er denn mit Ihnen gesprochen?« fragte sie.

»Er hat mir gesagt, daß er Sie heiraten möchte.«

Ihr Gesicht verzog sich, indem er Schmerz ausdrückte; sie sagte nichts, senkte nur die Augen.

»Er bittet um meine Einwilligung oder um einen Rat. Ich habe gesagt, daß alles von Ihnen abhänge, daß Sie entscheiden müssen.«

»Ach, was ist das? warum?« brachte sie hervor, und mit jenem seltsamen, immer besonders stark auf den Nechljudow wirkenden schielenden Blick sah sie ihm gerade in die Augen.

Einige Sekunden lang sahen sie schweigend einander in die Augen, und dieser Blick sagte den Beiden Vieles.

»Sie müssen entscheiden,« wiederholte Nechljudow.

»Was habe ich zu entscheiden?« sagte sie. »Alles ist schon lange entschieden.«

»Nein, Sie müssen entscheiden, ob Sie den Antrag des Wladimir Iwanowitsch annehmen,« sagte Nechljudow.

»Was für eine Frau kann ich, eine Zwangsarbeiterin, sein? Wozu brauch’ ich auch noch den Wladimir Iwanowitsch ins Verderben zu ziehen?« sagte sie stirnrunzelnd.

»Ja, aber wenn eine Begnadigung kommt?« sagte Nechljudow.

»Ach, lassen Sie mich. Da ist nichts weiter zu sprechen,« sagte sie aufstehend und ging aus der Kammer hinaus.

18

Als Nechljudow, gleich nach der Katjuscha, in die Männerkammer zurückkehrte, waren dort alle in Aufregung. Rabatow, der überall hin ging, mit Allen verkehrte, Alles beobachtete, brachte eine Nachricht, die Alle überraschte. Die Nachricht bestand darin, daß er an der Wand einen Zettel gefunden, der von einem zur Zwangsarbeit verurteilten Revolutionär, Petlin, geschrieben war. Alle glaubten, daß Petlin schon lange am Strafort sei, und plötzlich erwies es sich, daß er erst vor kurzem denselben Weg ganz allein mit den Kriminalverbrechern gegangen.

»Am 17. August«, stand auf dem Zettel, »ward ich allein mit den Kriminalen abgeschickt. Newjerow war mit mir und hat sich in Kasanj im Irrenhaus aufgehängt. Ich bin gesund und munter und hoffe alles Gute.«

Alle besprachen die Lage Petlins und die Ursachen von Newjerows Selbstmord. Kryljzow aber schwieg mit konzentriertem Aussehen, indem er mit starren glänzenden Augen vor sich hinsah.

»Mein Mann hat mit gesagt, daß Newjerow schon in der Peterpaulsfestung ein Gespenst gesehen,« sagte die Ranzewa.

»Ja, ein Poet, ein Phantast, — solche Leute halten die Einzelhaft nicht aus,« sagte Rowodworow: »Ich, zum Beispiel, wenn ich in Einzelhaft geriet, erlaubte meiner Einbildungskraft nicht zu arbeiten, sondern verteilte meine Zeit in systematischer Weise. Darum habe ich er immer gut ertragen.«

»Warum denn nicht ertragen? Ich war ja oft einfach froh, wenn man mich festsetzte«, sagte Rabatow mit munterer Stimme; er wünschte augenscheinlich die düstere Stimmung zu zerstreuen. »Sonst fürchtest du Alles: daß du selber hineinfallen und die Anderen hineinziehen und die Sache verderben wirst; hat man dich aber festgenommen — fertig mit der Verantwortlichkeit: man kann ausruhen. Sitze und rauche.«

»Hast du ihn nahe gekannt?« fragte Maria Pawlowna unruhig in das plötzlich verwandelte, abgefallene Gesicht Kryljzows blickend.

»Newjerow ein Phantast?« begann plötzlich Kryljzow zu sprechen, mit erstickter Stimme, als ob er lange geschrien oder gesungen hätte, »Newjerow war so ein Mensch, von denen, wie unser Schweizer zu sagen pflegte, die Erde wenig trägt. Ja, …es war ein ganz krystallheller Mensch, ganz durchsichtig. Ja, …der konnte nicht nur nicht lügen, sondern nicht einmal sich verstellen. Nicht etwa nur dünnhäutig, er war gleichsam ganz ohne Haut — alle Nerven blosgelegt. Ja…eine komplizierte, reiche Natur, nicht so eine…Na, wozu soll ich da sprechen!…« er schwieg eine Zeit lang. »Wir disputierten, was besser sei,« sagte er, zornig die Stirn runzelnd: »ob zuerst das Volk aufklären und dann die Formen des Lebens ändern, oder zuerst die Formen des Lebens ändern — und dann — wie man kämpfen soll: durch friedliche Propaganda? durch Terrorismus? Wir disputieren: ja. Die disputieren nicht, die wissen ihre Sache, ihnen ist es ganz gleich, ob Dutzende, Hunderte von Menschen, und was für Menschen! zu Grunde gehen oder nicht. Im Gegenteil, die wollen geradezu, daß die Besten zu Grunde gehen. Ja. Herzen zu sagen pflegt, daß, als man die Dekabristen aus dem Verkehr zog, das allgemeine Niveau herabgedrückt wurde. Wie sollte man es nicht herabdrücken? Dann zog man aus dem Verkehr auch den Herzen selbst und seine Altersgenossen. Jetzt die Newjerows…«

»Alle wird man nicht vernichten;« sagte Nabatow mit seiner frodmütigen Stimme. »Einige werden immer noch zur Nachzucht übrig bleiben.«

»Nein, keiner wird übrig bleiben, wenn die uns leid thun,« sagte Kryljzow, die Stimme erhebend und sich nicht unterbrechen lassend. »Gieb mir ein Papyros’chen.«

»Aber es ist ja nicht gut für dich, Anatolij,« sagte Maria Pawlowna, »bitte, rauche nicht.«

»Ach, laß mich,« sagte er ärgerlich und rauchte eins an, aber sofort fing er an zu husten. Es begann ihn zu würgen, gleich wie zum Erbrechen. Als er sich ausgehustet, fuhr er fort:

»Nicht das, was wir mußten, haben wir gethan, nein, nicht das. Nicht räsonieren, sondern sich fest vereinigen…und vernichten diese…Ja!…«

»Aber sie sind ja auch Menschen,« sagte Nechljudow.

»Nein, das sind keine Menschen, diejenigen, die thun können, was sie thun …Nein, man sagt, man Bomben erfunden und Ballons. Ja, man sollte mit einem Ballon aufsteigen und sie überschütten mit Bomben, wie die Wanzen, so lange bis sie ausgerottet sind…Ja! weil…« begann er wieder, aber plötzlich fing er, ganz rot, noch stärker an zu husten, und Blut strömte ihm aus dem Munde.

Rabatow lief nach Schnee. Maria Pawlowna holte Valerianatropfen hervor und bot sie ihm an, aber er stieß sie, die Augen geschlossen, mit der weißen abgemagerten Hand fort und atmete schwer und hastig. Als Schnee und kaltes Wasser ihn etwas beruhigt hatten und man ihn für die Nacht hingelegt, nahm Nechljudow von allen Abschied und ging mit dem Unteroffizier, der ihn abholen kam und schon lange erwartete, zum Ausgang.

Die Kriminalen wurden jetzt still, und die meisten schliefen. Trotzdem die Leute in den Kammern auf den Pritschen und unter den Pritschen, und in den Durchgängen lagen, kannten doch nicht alle dort Platz finden, und ein Teil von ihnen lag im Koerrdor auf dem Boden, indem sie ihre Köpfe auf die Säcke gelegt hatten und sich mit den nassen Gefangenenröcken zudeckten. Aus den Thüren der Kammern, und im Korridor ließ sich Schnarchen, Stöhnen und Schlafreden hören. Ueberall sah man dichte Haufen von menschlichen Gestalten, von den Gefangenenröcken bedeckt. Nur in der Ledigenkammer der Kriminalen schliefen einige nicht, da sie in einer Ecke neben einem Lichtstümfschen saßen, das sie auslöschten, als sie den Soldaten sahen; auch ein Alter — im Korridor, unter der Lampe — schlief nicht; er saß nackt da und fing die Insekten aus dem Hemd weg.

Die verpestele Luft den Raumes für die Politischen schien rein zu sein im Vergleich mit der stiunkenden Schwüle, die hier herrschte. Die rauchende Lampe schien gleichsam durch Nebel sichtbar zu sein, und er war schwer zu atmen. Um den Korridor zu passieren, ohne auf jemand von den Schlafenden zu treten oder jemand mit dem Fuß anzustoßen, mußte man zuerst einen leeren Platz aufsuchen, und nachdem man einen Fuß darauf gesetzt, wieder Platz für den folgenden Tritt suchen. Drei Menschen, die augenscheinlich nicht einmal im Korridor Platz gefunden, hatten sich im Flur, gerade neben die stinkende und aus allen Fugen fließende Kufe, die Parascha, hingelegt. Einer dieser Menschen war ein schwachsinniger Alter, den Nechljudow auf den Märschen öfters gesehen hatte. Ein anderer war ein Knabe von etwa zehn Jahren; er lag zwischen zwei Gefangenen, und die Hand unter die Wange gelegt, schlief er auf dem Beine des einen von ihnen.

Als Nechljudow aus dem Thor hinausging, blieb er stehen, und mit vollen Lungen, die Brust ausweitend, atmete er lange und angestrengt die frostige Luft ein.

19

Draußen wurde es sternenhell. Als Nechljudow über den festbeeisten, nur hie und da zum Vorschein kommenden Straßenkot in seinen Ausspann zurückkehrte, klopfte er an das dunkle Fenster, und der breitschultrige Knecht öffnete ihm barfuß die Thür und ließ ihn in den Flur. Im Flur rechts vernahm man das laute Schnarchen der Hauderer in der »schwarzen Stube;« vorn, vor der Thür, auf dem Hof, ließ sich das Kauen einer großen Zahl Pferde hören, die Hafer verzehrten; links war die Thür, die in die »reine Zimmer« führte. In dem reinen Zimmer roch es nach Wermut und Schweiß, und hinter dem Verschlag her kam ein gleichmäßiges schlürfendes Schnarchen aus mächtigen Lungen; vor den Heiligenbildern brannte ein Lämpchen aus rotem Glas. Nechljudow warf die Kleider ab, richtete auf dem Wachstuchdiwan den Plaid und sein ledernes Kissen zurecht und legte sich hin, indem er in seiner Phantasie alles durchging, was er während des heutigen Tages gesehen und gehört hatte. Von alle dem, was Nechljudow heute gesehen, erschien ihm als das Schrecklichste der Knabe, der in der aus der Panascha fließenden Flüßigkeit, den Kopf auf das Bein des Gefangenen gelegt, schlief.

Trotzdem das Gespräch mit Simonsohn und Katjuscha, heute abend, wichtig und unerwartet war, verweilte er nicht bei diesem Ereignis; sein Verhalten dazu war zu kompliziert und unbestimmt zugleich, und darum verjagte er den Gedanken daran. Aber desto lebhafter vergegenwärtigte er sich das Schauspiel dieser Unglücklichen, die in der beklommenen Luft erstickten und sich auf der Flüssigkeit, die aus der stinkenden Kufe herausfloß, wälzten, und besonders das Bild dieses Knaben mit dem unschuldigen Gesicht, der auf dem Bein des Zwangsarbeiters schlief, ging ihm nicht aus dem Kopf.

Wissen, das irgend wo, weit von hier, die einen Menschen die anderen quälen, indem sie sie auf allerlei Weise moralisch verderben, allen möglichen unmenschlichen Erniedrigungen und Leiden unterwerfen, aber während dreier Monate fortwährend dieses Verderben und diese Quälerei der einen Menschen seitens der andern mit ansehen, — das ist etwas ganz anderes. Und Nechljudow fühlte es.

Er fragte sich mehrmals während dieser drei Monate: ‘bin ich verrückt, da ich das sehe, was die anderen nicht sehen, oder sind jene verrückt, die das ausüben, was ich sehe?’ Aber die Leute, (und so viele waren ihrer) übten alle das, was ihn so sehr wunderte und grauen machte, mit so einer ruhigen Ueberzeugung, — nicht nur, daß es so sein müßte, sondern, daß das, was sie machten, auch eine sehr wichtige und nützliche Sache sei, — daß es schwer war, all diese Leute für verrückt zu erklären; sich selbst aber für verrückt halten konnte er nicht, weil er sich der Klarheit seiner Gedanken bewußt war. Und darum befand er sich immer in einem Zustand zweifelnden Bedenkens.

Was Nechljudow im Verlaufe dieser drei Monate gesehen, erschien ihm in folgender Gestalt: und allen in Freiheit lebenden Menschen wurden vermittelst des Gerichtes und der Administration die nervösesten, feuerigsten, erregbarsten, begabtesten und stärksten und dabei weniger schlauen und vorsichtigen ausgelesen, und diese Menschen, die keineswegs schuldiger oder für die Gesellschaft gefährlicher waren, als diejenigen, die in Freiheit blieben, wurden erstens eingesperrt in die Gefängnisse, Etappenräume, Zwangsarbeit, und dort Monate und Jahre lang in völligem Müßiggang gehalten, in materieller Sicherheit, entfernt von der Natur, von Familie und Arbeit, d. h. außerhalb aller Bedingungen des natürlichen und sittlichen menschlichen Lebens. Dies erstens. Zweitens wurden diese Menschen in diesen Anstalten allerlei unnötigen Erniedrigungen unterworfen: Ketten, rasierte Köpfe, Schandkleidung, d. h. ihnen wurde der haupsächlichste Beweggrund zu einem guten Leben für schwache Leute — die Sorge um die Meinung der Mitmenschen, die Scham, das Bewußtsein der menschlichen Würde, entzogen. Drittens, da sie fortwährender Lebensgefahr ausgesetzt waren, Lebensgefahr vor den in den Einsperrungsorten beständig herrschenden Ansteckungskrankheiten, Erschöpfung, Prügeln, —zu geschweigen den Ausnahmefällen von Sonnenstichen, Ertrinken, Feuersbrünsten, — befanden sich diese Menschen immerfort in der Lage, in welcher der beste, moralischste Mensch aus dem Gefühl der Selbsterhaltung die fürchterlichsten Handlungen an Grausamkeit vollbringt und andere Menschen wegen solcher Handlungen entschuldigt. Viertens wurden diese Menschen gewaltsam mit bis zum äußersten durch das Leben und besonders durch diese selben Anstalten Verdorbenen, Wüstlingen, Mördern und Bösewichtern zusammengepfercht, die auf alle nach nicht völlig durch die angewenderen Mittel Verdorbenen wie Hefe auf den Teig wirkten. Und endlich fünftens, wurde allen sich unter diesen Einwickungen befindenden Menschen auf die überzeugendste Weise eingeprägt, namentlich durch allerlei unmenschliche Handlungen gegen sie selber: durch Mißhandlungen der Kinder, Frauen, Alten, durch das Schlagen, Prügeln, mit Ruten, mit Peitschen, durch Aussetzen von Prämien für die, die den entlaufenen Gefangenen lebendig oder tot zur Strecke bringen, durch die Trennung der Männer von den Frauen und durch Vereinigung fremder Frauen mit fremden Männern zum Zusammenleben, durch das Erschießen, Aufhängen, — es wurde auf die überzeugendste Weise eingeprägt, daß allerlei Gewaltthaten, Grausamkeiten, Bestialität nicht nur von der Regierung nicht verboten, sondern erlaubt werden, wenn es für sie vorteilhaft ist, und daß sie folglich um so mehr denjenigen gegenüber erlaubt sind, die sich in Gefangenschaft, Not und Elend befinden.

Alles das waren Einrichtungen, die gleichsam mit Fleiß ausgedacht waren, um eine so bis zum letzten Grade kondensierte Unzucht und solch ein Laster hervorzubringen, wie man dies unter keinen andern Bedingungen hätte erreichen können, mit der Absicht, dieses kondensierte Laster und die Unzucht nachher in den weitesten Dimensionen unter dem ganzen Volk zu verbreiten. ‘Als ob die Aufgabe gestellt worden, wie auf die beste, sicherste Weise die möglichst große Quantität Menschen zu verderben sei,’ dachte Nechljudow, indem er sich in das vertiefte, was in den Gefängnissen und Etappen vor sich ging. Hunderttausende von Menschen wurden jährlich bis zmn höchsten Grade der moralischen Verkommenheit gebracht, und wenn sie vollkommen verdorben waren, ließ man sie in Freiheit, damit sie die in den Gefängnissen erworbene Verderbnis im ganzen Volke verbreiteten.

In den Gefängnissen — denen von Tjumenj, Jekaterinburg, Tomsk und auf den Etappen hatte Nechljudow gesehen, wie dieses Ziel, das sich die Gesellschaft gestellt zu haben schien, vollkommen erreicht wurde. Die einfachen, gemöhnlichen Menschen mit den Forderungen der russischen, bäuerlichen, christlichen Gemeindemoral gaben diese Anschauungen auf, eigneten sich neue den Gefängnissen eigentümliche Begriffe an, die hauptsächlich darin bestehen, daß jede Beschimpfung, Vergewaltigung der menschlichen Persönlichkeit, jegliche Vernichtung derselben erlaubt sei, wenn sie vorteilhaft ist. Die Menschen, die eine Zeitlang im Gefängnis gelebt hatten, erfuhren in ihrem ganzen Wesen, — wenn man alles in Betracht zieht, was mit ihnen passiert, — daß alle jene Sittengesetze der Achtung vor dem Menschen und des Mitleids mit ihm, die ihnen von den Kirchen- und Morallehrern gepredigt worden, in der Wirklichkeit aufgehoben sind, und daß also auch sie ihnen nicht zu folgen brauchen.

Nechljudow nahm das an allen ihm bekannten Gefangenen wahr. An dem Feadorow, an dem Makar und sogar an dem Taraß, der, nachdem er zwei Monate auf den Etappen verbracht hatte, den Nechljudow frappierte durch die Unsittlichkeit seiner Urteile. Unterwegs hatte Nechljudow erfahren, wie die Landstreicher, wenn sie in die Tajga entfliehen, einen Kameraden bereden, mit zu fliehen und nachher ihn töten und sich von seinem Fleisch ernähren. Er hatte einen lebendigen Menschen gesehen der dessen angeklagt war und es bekannte. Und am schrecklichsten war es, daß die Fälle von Menschenfresserei nicht vereinzelt waren, sondern sich beständig wiederholten.

Nur bei der besonderen Kultivierung des Lasters, wie sie in diesen Anstalten geübt wird, war es möglich, den russischen Menschen bis zu dem Zustande zu bringen, bis zu welchem er in jenen Landstreichern gebracht worden, die die moderne Lehre von Nietzsche vorweggenommen haben, und alles für erlaubt und nichts für verboten halten und die diese Lehre erst unter den Gefangenen und dann im ganzen Volke verbreiten.

Die einzige Erklärung alles hier vor sich Gehenden sollte die Abschaffung des Verbrechens, Abschreckung, Korrektion, gesetzmäßige Vergeltung sein, wie man in den Büchern geschrieben dat. In Wirklichkeit aber war keine Ahnung weder von diesem, nach von jenem, noch vom dritten, noch vom vierten vorhanden. Anstatt der Abschaffung war nur die Verbreitung der Verbrechen da; anstatt der Abschreckung die Aufmunterung der Verbrecher, von denen viele, wie die Vagabunden, freiwillig in die Gefängnisse gingen. Anstatt der Korrektion war da die systematische Ansteckung mit allen Lastern. Das Bedürfnis nach Vergeltung wurde durch die Regierungsstrafen nicht nur nicht gemildert, sondern da anerzogen, wo es im Volke nicht existierte.

‘Also warum denn machen sie alles da?’ fragte sich Nechljudow und fand keine Antwort.

Und was ihn am meisten in Erstaunen setzte, war, daß all das nicht unversehens, nicht aus Mißverständnis, nicht einmal gethan wurde, sondern all das war immer im Verlaufe von Hunderten von Jahren geübt worden, nur mit dem Unterschiede, daß man früher die Nasen zerrissen, die Ohren abgeschnitten, ferner gebrandmarkt, an die Stangen gekettet hatte und dann jetzt in Handfesseln, per Dampf und nicht auf Fuhrwerken transportiert.

Die Auseinandersetzung, daß das, was ihn empörte, wie ihm die Leute im Dienste zu sagen pflegten, von der unvollkommenen Einrichtung der Einsperrungs- und Verschickungsorte herrührte, und daß man alles das verbessern könne wenn die Gefängnisse nach neuee Façon eingerichtet würden, befriedigie den Nechljudow nicht, weil er fühlte, daß was ihn empörte, nicht von der mehr oder weniger vollkommenen Einrichtung der Orte der Einsperrung kam. Er las von vervollkommneten Gefängnissen mit elektrischen Klingeln, von Hinrichtungen durch Elektrizität, die von Tard empfohlen worden, und die vervollkommneten Gewaltthaten empörien ihn noch mehr.

Es empörte Nechljudow hauptsächlich der Umstand, daß in den Gerichten, in den Ministerien Leute saßen, die einen großen dem Volke abgenommenen Gehalt bezogen, dafür daß sie in Büchern nachschlugen, die von ebensolchen Beamten geschrieben worden, und die Handlungen anderer Menschen die die von ihnen geschriebenen Gesetze übertreten hatten, unter die Artikel brachten und diesen Artikeln gemäß die Leute an so einen Ort schickten, wo sie sie nicht mehr zu sehen bekamen, und wo diese Leute in der vollen Gewalt von grausamen, rohgewordenen Inspektorn, Aufsehern, Eskortierenden, zu Millionen geistig und körperlich zu Grunde gingen.

Nachdem Nechljudow die Gefängnisse und Etappen näher kennen gelernt hatte, sah er, daß alle diese Laster, die sich unter den Gefangenen entwickeln: Trunksucht, Spiel, Grausamkeit und alle die fürchterlichen Verbrechen, die von Gefängnisbewohnern begangen werden, die Menschenfresserei selbst, keine Zufälligkeiten, oder Degenerationserscheinungen, Erscheinungen eines Verbrechertypus, einer Abnormalität sind, wie es die stumpfen Gelehrten den Regierungen gefällig auslegen, sondern eine unausbleibliche Folge des nicht eingesehenen Irrtums, daß die einen Menschen die anderen strafen dürfen. Nechljudow sah, daß die Menschenfresserei nicht in der Tajga beginnt, sondern in den Ministerien, Komitäten und Departements, und in der Tajga nur abgeschlossen wird. Daß seinem Schwager zum Beispiel, aber auch allen jenen Justitzbeamten, von dem Gerichtskommissär bis zum Minister gar nicht an der Gerechtigkeit oder Wohlfahrt der Volkes, von denen sie sprachen, gelegen war, sondern daß ihnen allen nur jene Rubel nötig waren, die man dafür zahlte, daß sie alles das thun, wovon diese Verderbnis und diese Leiden herrühren, daß war vollkommen klar.

‘Könnte es denn wirklich sein, daß alles das aus Mißverständnis gemacht würde? Wie könnte man es so einrichten, daß allen diesen Beamten ihr Gehalt gesichert wäre und sogar, noch Prämien verteilt würden, nur dafür, daß sie alles das nicht thäten, was sie thun?’ dachte Nechljudow. Und mit diesen Gedanken, erst nach dem zweiten Hahnenruf fiel er in tiefen Schlaf, trotz den Flöhen, die, sobald er sich nur bewegte, wie eine Fontäne um ihn herum sprühten.

20

Als Nechljudow erwachte, waren die Hauderer schon lange abgefahren, die Wirtin hatte schon Thee getrunken und, den dicken, schmeißigen Hals mit einem Tuch abwischend, kam sie, um zu sagen, daß ein Eskortesoldat einen Zettel gebracht habe. Den Zettel war den Maria Pawlowna. Sie schrieb, daß der Unfall des Kryljzow ernster sei, als sie gedacht hatten. »Eine Zeit lang wollten wir ihn hier zurücklassen und bei ihm bleiben, aber das hat man nicht erlaubt, und wir werden ihn mitführen, aber wir fürchten alles. Bemühen Sie sich, es in der Stadt so einzurichten, daß, wenn man ihn zurücklassen wird, man auch jemanden von uns zurückläßt. Wenn dazu nötig ist, daß ich ihn heirate, so bin ich selbstverständlich beteit.«

Nechljudow schickte den Burschen auf die Station, um Pferde zu holen und fing eilig an, seine Sachen einzupacken. Er hatte das zweite Glas Thee noch nicht ausgetrunken, als das Dreigespann-Relais, mit den Glöcklein klingend und mit den Rädern auf dem überfrorenen Straßenkot wie auf einem Pflaster rasselnd, an der Haustreppe vorfuhr.

Nachdem Nechljudow der dickhalsigen Wirtin alles bezahlt hatte, beeilte er sich, hinauszugehen, setzte sich auf das Flechtwerk des Karrens und befahl, so schnell wie möglich zu fahren, da er die Abteilung einholen wollte. Nicht weit hinter dem Thor der Umzäunung erreichte er wirklich die mit Säcken und mit Kranken beladenen Wagen, welche auf dem überfrorenen Straßenkot rasselten, der anfing glatt zu werden. Der Offizier war nicht da, er war vorangefahren. Die Soldaten welche augenscheinlich etwas betrunken waren, gingen, lustig plaudernd, hinterher und zu beiden Seiten der Landstraße. Es waren viele Wagen da. Auf den vorderen saßen eng zusammengedrängt, etwa zu sechs, die Schwachen unter den Kriminalgefangenen, auf den drei hintersten Wagen fuhren — zu dritt auf einer Fuhre — die Politischen. Auf dem allerletzten saßen Nowodworow, die Grabetz und Kondratjew; auf dem zweiten — die Ranzewa, Radatow und jene schwache Frau mit dem Rheumatismus, der Maria Pawlowna ihren Platz abgetreten hatte. Im dritten auf Heu und Kissen lag Kryljzow. Auf dem Kutschersitz neben ihm saß Maria Pawlowna. Nechljudow ließ seinen Fuhrmann neben dem Kryljzow halt machen und begab sich zu ihm. Der etwas betrunkene Eskortesoldat fing an, dem Nechljudow mit der Hand zuzuwinken, aber Nechljudow, ohne auf ihn zu achten, trat an den Wagen heran und ging nebenher, indem er sich an der Seitenstange desselben festhielt. Kryljow im Schafspelz und Lammfellmütze, den Mund mit einem Tuch zugebunden, schien noch magerer und blasser als sonst. Seine schönen Augen erschienen besonders groß und glänzend. Leicht hin und herschaukelnd von den Stößen des Weges sah er, ohne die Augen von ihm abzuwenden, den Nechljudow an, machte, auf die Frage nach seiner Gesundheit, nur die Augen zu und schüttelte ärgerlich den Kopf. Seine ganze Energie ging augenscheinlich auf im Ertragen der Stöße des Wagens. Maria Pawlowna saß auf der andern Seite des Fuhrwerks. Sie wechselte mit dem Nechljudow einen bedeutsamen Blick, der ihre ganze Besorgnis um den Zustand Kryljzows ausdrückte, und gleich darauf fing sie an mit lustiger Stimme zu sprechen.

»Wie es scheint, ist der Offizier heschämt worden,« schrie sie, damit Nechljudow sie durch den Lärm der Räder hören könne. — »Man hat dem Busowkin die Handfesseln abgenommen. Er trägt sein Mädchen selber, und mit ihnen geht Katja, und Simonsohn, und statt meiner Wjerotschka.«

Kryljzow sagte etwas, das man nicht hören konnte, indem er auf Maria Pamlowna zeigte, die Stirn runzelnd, und augenscheinlich den Husten zurückhaltend, schüttelte er den Kopf. Nechljudow streckte den Kopf vor, um ihn zu verstehen. Dann befreite Kryljzow seinen Mund von dem Tuch und flüsterte ihm zu:

»Jetzt geht es viel besser. Daß ich mich nur nicht erkälte.«

Nechljudow nickte bejahend und wechselte wieder einen Blick mit Maria Pawlowna.

»Nun, wie ist’s mit dem Problem der drei Körper?« flüsterte Kryljzow noch und lächelte mühselig und schmerzlich. »Die Lösung ist schwer?«

Nechljudow hatte nicht verstanden, aber Maria Pawlomna erklärte ihm, daß es ein berühmtes mathematisches Problem zur Bestimmung des Verhältnisses von drei Lörpern sei: der Sonne, des Mondes und der Erde, und daß Kryljzow im Scherz diesen Vergleich ausgedacht habe für die Beziehungen zwischen Nechljudow, Katjuscha und Simonsohn. Kryljzow nickte zum Zeichen, daß Maria Pawlowna seinen Scherz richtig erklärt habe.

»Nicht bei mit mehr liegt die Entscheidung,« sagte Nechljudow.

»Haben Sie meinen Zettel bekommen? werden Sie’s thun?« fragte Maria Pawlowna.

»Unbedingt,« sagte Nechljudow, und da er auf dem Gesichte Kryljzows ein Mißfallen bemerkte, kehrte er an seinen Wagen zurück, stieg auf das eingesunkene Flechtwerk, und sich an den Rändern des Wagens haltend, welcher ihn auf dem Geleise des nicht glattgerollten Weges durchrüttelte, begann er die auf eine Werst ausgedehnte Abteilung der grauen Gefangenenröcke und Halbpelze der Gefesselten und der in Handfesseln gehenden Paare zu überholen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße erkannte Nechljudow das blaue Kopftuch der Katjuscha, den schwarzen Paletot der Wjera Iefremowna und die weißen, wollenen, in der Art wie man es bei den Sandalen macht, umwickelten Strümpfe Simonsohns. Er ging neben den Frauen und redete heftig.

Als die Frauen den Nechljudow erblickten, grüßten sie ihn, Simonsohn aber hob feierlich ein wenig die Mütze. Nechljudow hatte ihnen nichts zu sagen, und ohne den Fuhrmann anzuhalten, fuhr er an ihnen vorbei. Als er wieder auf den glatt gerollten Weg kam, fuhr der Kutscher noch schneller, aber er mußte fortwährend aus den glatten Geleisen hinabfahren, um die auf der Straße nach beiden Richtungen sich bewegenden Wagenzüge zu umfahren.

Der Weg, von tiefen Radspuren ganz durchwühlt, ging durch einen dunklen Nadelholzwald, der hie und da im hellen, sandfarbenen Gelb der nach nicht abgefallenen Blätter der Birke und Lärche bunt zu beiden Seiten schimmerte. Auf der Hälfte der Strecke hörte der Wald auf, und zu beiden Seiten öffneten sich die Felder, erschienen die goldenen Kreuze und Kuppeln eines Klosters. Den Tag heiterte sich ganz auf, die Wolken zerstreuten sich, die Sonne stieg über dem Wald empor, und das nasse Baumlaub, und die Pfützen und die Kuppeln und die Kreuze der Kirche glänzten hell in der Sonne. Vorn, rechts in der taubenblauen Ferne schimmerten weiß die entfernten Berge auf. Das Dreigespann fuhr in das nahe der Stadt gelegene große Pfarrdorf ein. Die Dorfstraße war voll von Leuten — Russen und sibirischen Eingeborenen in ihren sonderbaren Mützen und Röcken. Betrunkene und nüchterne Männer und Frauen wimmelten und lärmten neben den Buden, Wirtshäusern, Schenken und Fuhren. Man spürte die Nähe der Stadt.

Nachdem er das rechte Nebenpferd angetrieben, es straffer im Zügel angezogen und sich seitwärts auf den Kutschbock umgesetzt, so daß er die Zügel zu seiner Rechten hatte, rollte der Fuhrmann, augenscheinlich um zu prunken, die Hauptstraße schnell entlang, und ohne die Pferde anzuhalten, fuhr er an den Fluß hinan, über welchen die Fahrt mittels einer Fähre geschah. Die Fähre war in der Mitte des schnell fließenden Stromes und kam von der gegenüberliegenden Seite. Auf dieser Seite warteten etwa zwei Dutzend Fuhren. Nechljudow brauchte nicht lange zu warten. Die hoch stromaufwärts gelangte Fähre wurde, von dem schnellen Wasser gezogen, bald an die Bretter des Landungsplatzes herangetrieben.

Die hochgewachsenen, breitschultrigen, muskulösen, schweigsamen Fährleute in Halbpelzen und Bauernstiefeln warfen geschickt und geübt die Anlegeseile aus, befestigten sie an den Pfosten, und, nachdem sie die Sperrstangen bei Seite geschoben, ließen sie die auf der Fähre befindlichen Fuhren ans Ufer kommen und begannen neue Fuhren auf die Fähre zu laden, indem sie die Wagen und die vor dem Wasser auf die Seite stürzenden Pferde dicht aneinander auf der Fähre hinstellten. Der schnellströmende breite Fluß schlug an die Borde der Fährbote und spannte die Seile straff. Als die Fähre voll war und der Bauernwagen des Nechljudow mit den ausgespannten Pferden, von allen Seiten zusammengedrückt, an einem der Ränder des Fähre stand, schlossen die Fährleute die Sperrstangen, und ohne auf die Bitten derer, die keinen Platz finden konnten, zu achten, warfen sie die Anlegeseile hinab und brachten die Fähre in Gang. Auf der Fähre ward es still, man hörte nur das Stampfen der Füße der Fährleute und die Hufschläge der die Beine umstellenden Pferde gegen die Bretter.

21

Nechludow stand am Rande der Fähre und sah auf den breiten schnellen Fluß. In seiner Phantasie erhoben sich, abwechselnd, zwei Gestalten: der von den Stößen erbebende Kopf Kryljzows, der in Erbitterung starb, und die Figur der Katjuscha, die munter an dem Rande der Straße mit Simonsohn ging. Der eine Eindruck; der sich nicht zum Sterben vorbereitende und doch sterbende Kryjlzow war schwer und niederdrückend. Der andere Eindruck aber: der der frohmütigen Katjuscha, die die Liebe eines Menschen wie Simonsohn gefunden und jetzt den festen und sicheren Weg des Guten betrat, hätte freudig sein sollen, aber er machte dem Nechljudow das Herz schwer, und er konnte dies Gefühl der Schwere nicht bezwingen.

Aus der Stadt kam, über das Wasser her, das Getön und eherne Zittern der großen Glocke. Der neben dem Nechludow stehende Fuhrmann und alle Hauderer kahmen, einer nach dem anderen, die Mütze ab und bekreuzten sich. Der am nächsten am Geländer stehende, nicht hoch gewachsene strublige Alte, den Nechljudow zuerst nicht bemerkte, bekreuzte sich nicht, sondern starrte, den Kopf erhebend, Nechludow an. Dieser Alte war in einem geflickten breiten Bauernrock, in Tuchhosen, und in ausgetretenen, geflickten Bauernstiefeln. Ueber der Schulter hing ein nicht großer Quersack, auf dem Kopf saß eine hohe abgeriebene Pelzmütze.

»Aber du, Alter, warum betest du nicht?« sagte Nechljudows Fuhrmann, die Mütze aufsetzend und zurechtschiebend. »Bist du denn nicht getauft?«

»Zu wem soll man denn beten?« sagte in entschiedenem, agressivem Ton der strublige Alte, indem er rasch eine Silbe nach der anderen aussprach.

»Bekannte Sache — zu wem? zu Gott,« stieß der Fuhrmann ironisch hervor.

»Aber du, zeig ihn mir, wo ist er? dieser Gott?«

Es lag etwas so Ernstes und Festes in dem Ausdruck des Alten, daß der Fuhrmann fühlte, er habe es mit einem starken Manne zu thun; er wurde etwas verwirrt, wollte es aber nicht zeigen, und bemüht, nicht stumm zu bleiben, um sich vor dem zuhörenden Publikum nicht zu blamieren, antwortete er schnell:

»Wo?« »Bekannte Sache: Im Himmel.«

»Aber bist du dort gewesen?«

»Nicht gewesen, aber alle wissen, daß man zu Gott beten muß.«

»Niemand hat Gott je gesehen. Der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoße ist, der hat es uns verkündiget,« sagte strenge die Stirn runzelnd der Alte in derselben schnellen Art.

»Du bist scheint es, ein Unchrist, ein Lochanbeter. Das Loch betest Du an,« sagte den Fuhrmann, den Peitschenstiel hinter den Gürtel steckend und das Geschirr auf dem Seitenpferd zurechtschiebend.

Jemand lachte auf.

»Und von welchem Glauben bist du, Großväterchen?« fragte ein schon nicht mehr junger Mann, der mit den Fuhre am Rande den Fähre stand.

»Keinen Glauben habe ich. Weil ich niemandem, niemandem glaube außer mir,« antwortete ebenso rasch und entschieden der Alte.

»Aber wie kann man sich glauben?« sagde Nachljudow, in das Gespräch einfallend. »Man kann sich irren.«

»Nie im Leben,« antwortete entschieden der Alte, den Kopf schüttelnd.

»Warum giebt es denn verschiedene Glauben?« fragte Nechljudow.

»Darum giebt’s verschiedene Glauden, daß man den Leuten glaubt, sich selber aber glaubt man nicht. Auch ich habe den Menschen geglaubt und bin wie in der Tajga umhergeirrt; ich habe mich so verirrt, daß ich nicht mehr hoffte, mich herauszuarbeiten. Altgläubige und Neugläubige, Sjubbotniki, Chlysten, Popowzen und Bespopowzen, Austriaken, Molokanen und Skopzen43 ! Jeder Glaube rühmt sich selbst allein. Und nun sind sie alle anseinander gekrochen. wie die blinden Hündchen. Der Glauben sind viele, der Geist aber ist nur einer. In mir, und in dir, und in ihm. Also glaube jeder seinem Geist, und so werden alle vereinigt. Sei jeder für sich da, und alle werden zusammen sein.«

Der Alte sprach laut, und immer sah er sich um, da er offenbar wünschte, daß möglichst viele Leute ihn hörten.

»Wie ist es denn? Bekennen Sie sich schon lange zu dem?« fragte ihn Nechljudow.

»Ich? schon lange. Sie verfolgen mich schon drei und zwanzig Jahr.«

»Wie so — verfolgen?«

»Wie man Christus verfolgt hat, so verfolgt man auch mich. Man packt mich und führt mich vor die Gerichte, zu den Pfaffen, Schriftgelehrten und Pharisäern; man hat mich ins Irrenhaus gesetzt. Aber man kann mir nichts anthun, weil ich frei bin. ›Wie nennt man dich?‹ sagen sie. Sie glauben, ich werde mir irgend welchen Namen beilegen. Aber ich lege mir keinen Namen bei. Ich habe allem entsagt: ich habe keinen Namen, keinen Aufenthaltsort, kein Vaterland, ich habe nichts. Ich bin für mich. — ›Wie heißt du?‹ — ›Mensch.‹ — ›Wie alt bist du?‹ ›Das zähle ich nicht,‹ sage ich, ›und man kann es nicht nachzählen, weil ich immer gewesen bin und immer sein werde.‹ ›Von welchem Vater, von welcher Mutter bist du?‹ sagen sie. ›Ich habe,‹ sage ich, ›weder Vater noch Mutter außer Gott und der Erde. Gott — der Vater, die Erde — die Mutter.‹ ›Und den Zar erkennst du an?‹ sagen sie. ›Warum sollte ich ihn nicht anerkennen? Er ist Zar über sich, und ich bin Zar über mich.‹ — ›Na,‹ sagen sie, ›mit dir zu sprechen — — —.‹ — Ich sage: ›ich bitte Sie ja nicht mit mir zu sprechen.‹ Und also quälen sie mich.«

»Wohin gehen Sie denn jetzt?« fragte Nechljudow.

»Wohin Gott mich führt. Ich arbeite; giebt es keine Arbeit, so bitte ich,« schloß der Alte, da er bemerkte, daß die Fähre sich dem anderen Ufer näherte, und blickte sich siegreich nach allen ihm Zuhörenden um.

Die Fähre legte am anderen Ufer an. Nechljudow holte die Geldbörse heraus und bot dem Alten Geld an. Der Alte lehnte es ab.

»Das nehme ich nicht. Brot nehme ich,« sagte er.

»Nun, verzeih mir.«44

»Nichts ist zu verzeihen. Du hast mich nicht beleidigt. Aber man kann mich auch nicht beleidigen,« sagte der Alte und begann, den abgelegten Quersack über die Schültern zu ziehen. Inzwischen rollte man den Wagen hinaus und spannte die Pferde ein.

»Wie haben Sie denn Lust, Herr, mit dem zu sprechen?« sagte der Fuhrmann zu Nechljudow, als er den mächtigen Fährleuten ein Trinkgeld gegeben und in den Wagen eingestiegen war. »So ein Vagabundlein, ein Unnütz.«

22

Als sie einen kleinen Berg hinangefahren waren, wandte sich der Kutscher um.

»In welches Gasthaus soll ich Sie fahren?«

»Welches ist das bessere?«

»Was kann besser sein, als das ‘Sibirische?’ Sonst ist es auch bei Djukow gut.«

»Fahr’, wohin du willst.«

Der Fuhmann setzte sich wieder flott auf die Seite und fuhr zu. Die Stadt war wie alle Städte: ebensolche Häuser mit Mezzaninen und grauen Dächern, ebensolcher Dom, Läden und auf der Hauptstraße Magazine, und sogar ebensolche Schutzmänner. Nur waren die Häuser fast alle aus Holz und die Straßen nicht gepflastert. Auf einer der am meisten belebten Straßen hielt der Fuhrmann das Dreigespann vor der Einfahrt einen Gasthauses an. Aber es waren, wie sich zeigte, in diesem Gasthause keine freien Nummern vorhanden, so daß man in ein anderes fahren mußte. In diesem andern war eine Nummer frei, und Nechljudow fand sich, zum ersten Mal nach zwei Monaten wieder, was Sauberkeit und Bequemlichkeit anbetrifft, in den gewohnten Bedingungen. Wie wenig luxuriös die dem Nechludow angewiesene Nummer auch war, er empfand doch eine große Erleichterung nach der Fahrt mit Relais, nach dem Aufenthalt im Ausspann und nach den Etappen. Hauptsächlich not war es ihm, sich von den Läusen zu reinigen, von denen er sich nach den Besuchen der Etappen nie völlig hatte befreien können. Nachdem er alles ausgepackt, fuhr er sofort ins Bad und von dort, — nachdem er sich ein städtisches Aussehen gegeben, ein gestärktes Vorhemd und Beinkleider mit Falten vom Liegen, einen Gehrock und Paletot angezogen — zum Oberbefehlshaber der Provinz. Der von dem Gasthausportier gebrachte Kutscher mit seinem satten, großen, in eine klirrende Droschke eingeispannten kirgisischen Pferde, fuhr den Nechljudow zu einem großen schönen Gebäude, wo Schildwachen und ein Schutzmann standen. Vor und hinter dem Haus war ein Garten, in dem, unter entlaubten Espen und Birken mit ragenden nackten Aesten, Fichten, Föhren und Weißtannen dicht und dunkel grünten.

Der General war nicht wohl und empfing nicht. Nechljudow bat den Lakai, seine Karte dennoch zu übergeben, und der Lakai kehrte mit einer günstigen Antwort zurück:

»Es ist befohlen, Sie herein zu bitten.«

Das Vorzimmer, der Lakai, die Ordonnanz, die Treppe, der Saal mit dem glänzend gewichsten Parkett — alles dies war Petersburg ähnlich, nur etwas schmutziger und etwas großartiger. Man führte Nechljudow ins Kabinet.

Der General, ein sanguinischer Mann, aufgedunsen, mit Kartoffelnase, hervortretenden Höckern auf der Stirn und dem nackten Schädel und Säcken unter den Augen saß in einem tatarischen seidenen Schlafrock mit einem Papyros in der Hand und trank Thee aus einem Glas mit silbernem Untersatz.

»Guten Tag, Väterchen. Entschuldigen Sie, daß ich Sie im Schlafrock empfange; es ist immer noch besser, als garnicht empfangen,« sagte er, indem er, den Schlafrock zusammenschlagend, seinen dicken, hinten in Falten gerunzelten Hals verbarg. »Ich bin nicht ganz wohl und gehe nicht aus. Was hat Sie an unsere ferne Küste verschlagen?«

»Ich bin einer Gefangenenabteilung gefolgt, in welcher sich eine mir nahestehende Person befindet,« sagte Nechljudow, »und nun bin ich gekommen, um Euer Excellenz eines Teils bezüglich dieser Person und dann noch in Bezug auf eine andere Sache zu bitten.«

Der General zog den Tabakrauch ein, nahm einen Schluck Thee, löschte den Papyros an der Aschenschale aus Malachit, und ohne die engen, geschwollenen, glänzenden Augen von Nechljudow abzuwenden, hörte er ihn ernsthaft an. Er unterbrach ihn nur, um zu fragen, ob er nicht rauchen wolle.

Der General gehörte zu dem Typus der gelehrten Militärs, die glauben, daß es möglich sei, Liberalismus und Humanität mit ihrer Profession zu versöhnen. Aber er, als ein von Natur kluger und guter Mensch, fühlte sehr bald, daß solch eine Versöhnung unmöglich sei und um jenen inneren Widerspruch in dem er sich fortwährend befand, nicht zu fühlen, ergab er sich mehr und mehr der unter den Militärs so verbreiteten Gewohnheit, viel Wein zu trinkn, und er gab dieser Gewohnheit so sehr nach, daß er nach 35 Jahren des Militärdienstes das wurde, was die Aerzte einen Alkoholiker nennen.

Er war ganz vom Alkohol durchdrungen. Er brauchte nur irgend eine Flüssigkeit zu trinken, um einen Rausch zu empfinden. Wein trinken war für ihn ein Bedürfnis, ohne welches er nicht leben konnte, und er war jedesmal gegen Abend vollkommen betrunken, obgleich er sich an diesen Zustand so angepaßt hatte, daß er nicht schwankte und keine besonderen Dummheiten sprach. Wenn er aber doch einmal dergleichen sprach, so nahm er eine so wichtige, hervorragende Stellung ein, daß, mochte er eine nach so große Dummheit sagen, man sie für klug hinnahm. Nur am Morgen, gerade zu der Zeit, wo ihn Nechljudow antraf, pflegte er einem vernünftigen Menschen ähnlich zu sein und konnte verstehen, was man zu ihm sprach, und mit mehr oder weniger Glück mit der That dem Sprichwort, das er gern wiederholte, Genüge leisten: »betrunken und klug ist des guten genug.« Die obersten Autoritäten wußten, daß er ein Trinker sei, aber er war doch gebildeter, als die übrigen, obgleich er nun in seiner Bildung dort, wo ihn die Trunksucht befallen, stehen geblieben war, war er kühn, gewandt, präsentabel und verstand sich auch im betrunkenen Zustande mit Takt zu benehmen, und darum hatte man ihn zu diesem ansehnlichen und verantwortlichen Posten, den er jetzt einnahm, ernannt und darauf belassen.

Nechljudow erzählte, daß die ihn interessierende Person — eine Frau sei, daß sie unschuldig verurteilt sei, daß ihrethalb eine Bittschrift an die allerhöchste Instanz eingereicht worden.

»So, so. Ferner?« sagte der General.

Man hat mir in Petersburg versprochen, daß die Nachricht über das Schicksal dieser Frau nicht später, als in diesem Monat und hierher gesandt werden soll…

Ohne die Augen von Nechljudow abzuwenden, streckte der General die Hand mit den kurzen Fingern nach dem Tisch aus, klingelte und fuhr fort, schweigend zuzuhören, indem er bei seinem Papyros keuchte und sich sehr laut räusperte.

»Also ich möchte bitten diese Frau womöglich hier zurückzulassen, bis die Antwort auf die eingereichte Bittschrift hier eintrifft.«

Ein Lakai, militärisch gekleidet, eine Ordonnanz, kam herein.

»Frage, ob Anna Wassiliewna aufgestanden ist,« sagte der General zu der Ordonnanz, »und bringe noch Thee. Was noch?« wandte sich der General zum Nechljudow.

»Meine andere Bitte betrifft einen politischen Gefangenen, der mit derselben Abteilung geht.«

»So, so!« sagte der General bedeutsam mit dem Kopfe nickend.

»Er ist schwer krank, ein sterbender Mensch, und man wird ihn wahrscheinlich hier im Krankenhause zurücklassen. Nun möchte eine der politischen Frauen bei ihm bleiben.«

»Ist sie ihm fremd?«

»Ja, aber sie ist bereit, ihn zu heiraten, wenn dies ihr die Möglichkeit giebt, bei ihm zu bleiben.«

Der General sah seinen Gast mit den glänzenden Augen unverwandt an und schwieg, augenscheinlich um ihn mit seinem Blick zu verwirren, und rauchte fortwährend.

Als Nechljudow zu Ende war, langte er vom Tische ein Buch, und flink die Finger beleckend, mit welchen er die Blätter umschlug, fand er einen Artikel über die Ehe und las ihn.

»Zu was ist sie verurteilt?« fragte er, die Augen von dem Buche erhebend.

»Sie — zur Zwangsarbeit.«

»Nun, dann kann die Lage des Verurteilten durch seine Ehe nicht verbessert werden.«

»Ja, aber…«

»Erlauben Sie. Wenn ein Freier sie heiraten würde, so müßte sie dennoch genau ebenso ihre Strafe abbüßen. Die Frage ist: wer von ihnen die schwerere Strafe trägt, er oder sie?«

»Sie sind beide zu Zwangsarbeit verurteilt.«

»Nun, also Quitt,« sagte lachend der General, »Was er hat, hat auch sie. Ihn kann man wegen der Krankheit zurücklassen,« fuhr er fort, »und selbtverständlich wird alles was möglich ist, gethan, um sein Schicksal zu erleichtern; sie aber, wenn sie ihn auch heiraten würde, kann nicht hier bleiben…«

»Die Generalin nehmen den Kaffee ein;« meldete der Lakai.

Der General nickte und fuhr fort:

»Uebrigens will ich nach überlegen. Wie sind ihre Familiennamen? Schreiben Sie sie hierher ein.«

Nechljudow schrieb sie ein.

»Und dies kann ich nicht erlauben,« sagte der General zum Nechljudow, auf sein Gesuch, den Kranken zu sehen. »Ich habe Sie freilich nicht in Verdacht,« sagte er, »aber Sie interessieren sich für ihn und für die anderen, und Sie haben Geld. Hier bei und ist aber alles käuflich. Man sagt mir: Rotte die Bestechlichkeit aus. Aber wie ist sie denn auszurotten, wenn alle bestechlich sind. Und je niederer dem Range nach, desto bestechlicher. Nun, wie soll ich über fünf Tausend Werst weit weg sehen? Er ist dort ein kleiner Zar. Ebenso wie ich hier,« und er lachte auf. »Sie haben ja sicher die Politischen besucht, Sie gaben Geld, und man ließ Sie zu?« sagte er, lächelnd. »Nicht wahr?«

»Ja, das ist wahr.«

»Ich begreife, daß Sie so handeln mußten. Sie wollen einen Politischen sehen. Und Sie bedauern ihn. Der Inspekeor aber oder der Eskortierende nimmt Geld, weil sein Gehalt zwei Zwanziger ist, er hat Familie und er kann nicht umhin es zu nehmen. An seiner und an Ihrer Stelle würde ich ebenso, wie Sie und er gehandelt haben. Aber auf meiner Stelle erlaub’ ich mir nicht von dem strengsten Buchstaben des Gesetzes abzuweichen, und gerade darum, weil ich ein Mensch bin und durch Mitleid hingerissen werden kann. Ich bin pflichttreu. Man hat mir mein Amt unter gewissen Bedingungen anvertraut, und ich muß dieses Vertrauen rechtfertigen. Nun ist diese Frage zu Ende. Jetzt erzählen Sie mir, wie es bei Ihnen in der Metropole geht?«

Und der General begann auszufragen und zu erzählen, während er offenbar Neuigkeiten zu erfahren wünschte und zugleich seine Bedeutung und Humanität zeigen wollte.

23

»Und nun, bei wem sind Sie denn abgestiegen? Bei Djuk? Na, auch dort ist es schlecht. Kommen Sie lieber zu uns zum Mittagessen,« sagte der General, den Nechljudow entlassend, »um fünf Uhr. Sprechen Sie englisch?«

»Ja.«

»Na, daß ist schön. Sehen Sie, ein Engländer, ein Reisender, ist hierher gekommen. Er studiert die Verbannung und die Gefängnisse in Sibirien. Nun also, er wird bei uns zu Mittag essen, und Sie, fahren Sie auch vor. Wir essen um fünf, meine Frau verlangt Pünktlichkeit. Dann werde ich Ihnen auch die Antwort geben, sowohl was man mit dieser Frau thun soll, wie in Bezug auf den Kranken. Vielleicht wird’s möglich sein, jemanden bei ihm blieben zu lassen.«

Nechljudow verabschiedete sich von dem General und fuhr auf die Post, indem er sich in einer besonders aufgeregt-thätigen Gemütsverfassung befand, wie er fühlte.

Das Postamt war ein niedriges Zimmer mit gewölbter Decke; hinter dem Pult saßen die Beamten und gaben dem sich drängenden Vok die eingetroffenen Briefe aus. Ein Beamter, den Kopf auf eine Seite geneigt, klopfte unaufhörlich mit dem Stempel auf die geschickt zurechtgeschobenen Couverts. Man ließ Nechljudow nicht lange warten, und als man seinen Familiennamen erfahren, übergab man ihm sofort seine ziemlich große Korrespondenz. Da gab es Geld, einige Briefe und Bücher und die letzte Nummer von »Otetschestwennijja Sapiski.« Nachdem Nechljudow seine Briefe erhalten, ging er zu einer hölzernen Bank, auf der ein Soldat mit einem kleinen Buche saß und auf etwas wartete. Nechljudow ließ sich neben ihm nieder und sah die erhaltenen Briefe durch. Unter denselben befand sich ein eingeschriebener Brief — ein ausgezeichnetes Couvert mit einem scharfen Siegel aus hellrotem Siegellack. Er brach den Brief auf und als er Selenins Brief mit irgend einem offiziellen Papier gewahr wurde, empfand er, wie das Blut ihm ins Gesicht stürzte und das Herz sich zusammenzog. Das war die Entscheidung über die Sache der Katjuscha. Was für eine Entscheidung war es? War es wirklich eine Ablehnung? Nechljudow durchflog den in einer winzigen, schwer lesbaren, harten, gebrochenen Handschrift geschriebenen Brief und atmete freudig auf. Die Entscheidung war günstig.

»Lieber Freund!« schrieb Selenin. »Unser letztes Gespräch hat in mir einen starken Eindruck hinterlassen. Du hast Recht gehabt in Bezug auf die Maslowa. Ich habe die Sache aufmerksam durchgeprüft, und habe eingesehen, daß in Bezug auf sie eine emporende Ungerechtigkeit begangen worden ist. Wieder gut machen konnte man nur in der Bittschriftenkommission, bei der du auch eine Bittschrift eingereicht hast. Es gelang mir, bei der Entscheidung der Sache dort etwas mitzuwirken, und nun schicke ich Dir eine Kopie der Begnadigung an die Adresse, die mir die Gräfin Iekaterina Iwanowna gegeben hat. Das Original ist an den Ort, wo sie während des Gerichtes festgehalten worden, abgesandt und wird wahrscheinlich sofort an die sibirische Hauptverwaltung abgegangen sein. Ich beeile mich, Dir diese angenehme Nachricht mitzuteilen. Freundschaftlich drücke ich Dir die Hand. Dein Selenin.«

Der Inhalt des offiziellen Papieres selbst war folgender: Kanzlei Seiner Kaiserlichen Majestät, — betreffend den Empfang der an die allehöchste Instanz einzureichenden Bittschriften Sektion so und sa. Tisch so und so. Datum. Auf Befehl des Obervorstehers der Kanzlei Seiner Kaiserlichen Majestät »betreffend den Empfang der an die allerhöchste Instanz eingereichten Bittschrift wird der Kleinbürgerin Iekaterina Maslowa kund gemacht, daß Seine Kaiserliche Majestät nach dem allerunterthänigsten Vortrag an Sie der Bittschrift der Maslowa gnädigst Gehör geschenkt und geruht hat allerhöchst zu befehlen, die ihr zudiktierte Zwangsarbeit mit Ausiedelung in einer nicht sehr entfernten Gegend Sibiriens zu vertauschen.«

Die Nachricht war freudig und wichtig: es geschah alles das, was Nechljudow für Katjuscha aber auch für sich selber wünschen konnte. Freilich brachte diese Aenderung ihrer Lage neue Verwicklungen in seine Beziehungen zu ihr. So lange sie eine Zwangsarbeiterin blieb, war die Ehe, die ihr Necheljudow angeboten, fiktiv und nur insofern von Bedeutung, daß sie ihre Lage erleichterte. Jetzt aber stand nichts im Wege für ein gemeinsames Leben. Dazu aber war Nechljudow nicht vorbereitet. Außerdem — ihre Beziehungen zu Simonsohn? Was bedeuteten ihre gestrigen Worte? Und wenn sie einwilligte, sich mit Simonsohn zu vereinigen, wäre es gut oder schlecht? Er konnte sich in diesen Gedanken auf keine Weise zurecht finden und hörte auf, daran zu denken. ‘Alles dies wird sich nachher zeigen,’ dachte er, ‘jetzt aber muß man möglichst schnell sie sehen und ihr die freudige Nachricht mitteilen, und sie befreien.’ Er glaubte, daß die Kopie, die er in Händen hatte, dazu genügen würde. Und als er das Postamt verließ, hieß er den Kutscher ins Gefängnis fahren.

Trotzdem der General am Morgen ihm den Besuch des Gefängnisses nicht gestattet hatte, beschloß Nechljudow dennoch — er wußte aus Erfahrung, daß oft das, was bei den obersten Vorgesetzten durchaus unmöglich zu erreichen ist, bei den niederen leicht erreicht wird —, zu versuchen, jetzt in das Gefängnis zu dringen, um der Katjuscha die freudige Neuigkeit zu überbringen und vielleicht auch sie zu befreien, zugleich sich nach Kryljzows Gesundheit zu erkundigen, um ihm und der Mara Pawlowna mitzuteilen, was ihm der General gesagt hatte.

Der Gefängnisinspektor war ein sehr hoher, dicker und imposanter Mann mit einem Schnurrbart und einem Backenbart, der sich zu den Mundwinkeln hinzog. Er empfing den Nechljudow sehr streng und erklärte ihm gerade heraus, daß er keine Besuche Fremder ohne Bewilligung den Oberbefehlshabers zulassen könne. Nechljudows Bemerkung, daß man ihn selbst in den Hauptstädten zugelassen habe, antwortete der Inspektor:

»Sehr möglich, aber ich pflege niemand zuzulassen.« Dabei sagte sein Ton: ‘Sie hauptstädtische Herren glauben, daß Sie nun in Verwunderung setzen und stutzig machen können, aher selbst wir in Ost-Sibirien kennen genau die Ordnung und werden sogar Euch zurechtweisen.’

Die Kopie des Schriftstücks aus Seiner Majestät höchst eigener Kanzlei versagte ebenso ihre Wirkung auf den Inspektor. Er lehnte es entschieden ab, den Nechludow in die Gefängnismauern einzulassen. Auf die naive Vermutung Nechljudows, daß die Maslowa nach Vorweisung dieser Kopie befreit werden könne, lächelte er nur verächtlich und erklärte, daß zur Befreiung von Jemandem eine Verordnung seiner unmittelbaren Obrigkeit da sein müsse. Alles was er versprach war, daß er der Maslowa von der stattgefundenen Begnadigung Mitteilung machen werde und daß er sie auch nicht eine Stunde länger behalten werde, sobald er die Ordre von seiner Obrigkeit habe.

Ueber Kryljzows Gesundheit lehnte er auch ab, irgend welche Mitteilungen zu machen, indem er äußerte, daß er nicht einmal sagen dürfe, ob solch ein Gefangener da sei. So setzte sich Nechljudow, ohne etwas erreicht zu haben, in seine Droschke und fuhr in das Gasthaus.

Die Strenge den Inspektors rührte vorzüglich daher, daß in dem — gegenüber der Norm zweifach überfüllten — Gefängnis zu der Zeit epidemischer Typhus herrschte. Der den Nechljudow fahrende Fuhrmann erzählte ihm unterwegs, daß im Gefängnis die Leute sich stark verminderten. Irgend ein Siechtum überfiel sie. »Man begräbt etwa zwanzig Mann täglich.«

24

Trotz des Mißerfolges im Gefängnis fuhr Nechljudow immer in derselben munteren, erregt-thätigen Stimmung in die Kanzlei des Gouverneurs, um sich zu erkundigen, ob man dort nicht ein Schreiben mit der Begnadigung der Maslowa erhalten habe. Es war keine Schrift da, und daher beeilte sich Nechljudow, nachdem er in das Gasthaus zurückgekehrt war, sofort, ohne Verzug, dem Selenin und dem Advokaten deswegen zu schreiben. Nachdem er die Briefe beendigt, blickte er auf die Uhr; es war schon Zeit zum Mittagessen beim General zu fahren.

Unterwegs fiel ihm wieder der Gedanke ein, wie Katjuscha ihre Begnadigung aufnehmen wird? Wo wird man sie ansiedeln? Wie wird er mit ihr leben? Was wird Simonsohn thun? Welches ist ihr Verhalten gegen ihn? Er erinnerte sich der Aenderung, die mit ihr vorgegangen war, dabei gedachte er auch ihrer Vergangenheit.

»Man muß es vergessen, ausstreichen,« dachte er, und wieder beeilte er sich, den Gedanken an sie zu verscheuchen. Dann wird man sehen, sagte er zu sich und begann darüber nachzudenken, was er dem General zu sagen hatte.

Das Mittagessen bei dem General mit all dem für den Nechljudow gewohnten Luxus des Lebens reicher Leute und hochgestellter Beamten ausgestattet, war ihm nach langer Enbehrung nicht nur des Luxus, sondern auch der primitivsten Bequemlichkeiten besonders angenehm.

Die Hausfrau war eine Petersburger grande dame von altem Schrot und Korn, ein ehemaliges Hoffräulein an Kaiser Nikolaus’ Hof, die natürlich französisch und unnatürlich russisch sprach. Sie hielt sich sehr gerade und wenn sie mit den Armen eine Bewegung machte, entfernte sie die Ellbogen nicht von der Taille. Sie war ruhig und etwas gedrückt — achtungsvoll gegen ihren Mann und ungemein freundlich gegen ihre Gäste, wenn auch mit verschiedenen Nuancen im Umgang je nach der Persönlichkeit. Den Nechljudow empfing sie wie ihres Gleichen, mit jener besonderen, feinen, unmerklichen Schmeichelei, in Folge derer Nechljudow sich aufs Neue aller seiner vorzüglichen Eigenschaften bewußt wurde und eine angenehme Befriedigung empfand. Sie gab ihm zu fühlen, daß sie von seiner wenn auch originellen so doch ehrlichen Handlung wisse, welche ihn nach Sibirien geführt habe, und daß sie ihn für einen ungewöhnlichen Menschen halte. Diese seine Schmeichelei und die ganze elegant-luxuriöse Einrichtung des Lebens im Hause des Generals machte, daß Nechljudow sich dem Genusse an der schönen Umgebung, der schmackhaften Nahrung und der Leichtigkeit und Annehmlichkeit des Umganges mit wohlerzogenen Menschen seines gewohnten Kreises ganz hingab, als ob alles das, worin er die letzte Zeit gelebt, ein Traum gewesen wäre, von dem er zur wahren Wirklichkeit erwachte.

Beim Mittagessen waren außer den Hausangehörigen — der Tochter des Generals mit ihrem Mann und des Adjudanten — nach ein Engländer, ein Kaufmann — Inhaber von Goldgruben und der zugereiste Gouverneur einer entfernten sibirischen Stadt anwesend. Alle diese Leute waren dem Nechljudow angenehm.

Der Engländer, ein gesunder rotbackiger Mann, welcher sehr schlecht französisch, aber merkwürdig gut und rethorisch-eindringlich englisch sprach, hatte sehr Vieles gesehen und war interessant wegen seiner Erzählungen aus Amerika, Indien, Japan und Sibirien.

Der junge Kaufmann, Inhaber von Goldgruben, der Sohn eines Bauern, in einem in London angefertigten Frack, mit brillantenen Hemdknöpfen, welcher eine große Bibliothek hatte, viel für Wohlthätigkeitszwecke spendete und europäisch-liberale Ansichten besaß, war dem Nechljudow angenehm und interessant, da er einen vollkommen neuen und guten Typus eines gebilderen Pfropfreises der europäischen Kultur an einem gesunden Bauernwildling darstellte.

Der Gauverneur der entfernten Stadt war jener ehemalige Departementsdirektor, von welchem man so viel gesprochen hatte zur Zeit, wo Nechljudow in Petersburg gewesen. Dies war ein rundlicher Mensch mit gelichtetem, frisiertem Haar, mit zarten, blauen Augen, sehr breit nach unten, mit gepflegten, weißen von Ringen bedeckten Händen und mit angenehmem Lächeln. Dieser Gouverneur wurde vom Hausherrn dafür geschätzt, daß er allein inmitten der käuflichen Beamten sich nicht bestechen ließ. Die Hausfrau aber, eine große Musikfreundin und selber eine sehr gute Pianistin, schätzte ihn, weil er ein guter Musiker war und mit ihr vierhändig spielte. Die Gemütsstimmung Nechljudows war bis zu solchem Grade wohlbehaglich, daß auch dieser Mensch ihm heute nicht unangenehm war.

Der lustige, energische Offizier mir dem taubenfarbigen Kinn, der Adjutant, der bei jeder Gelegenheit seine Dienste anbot, war wegen seiner Gutmütigkeit angenehm.

Am meisten angenehm aber war dem Nechljudow das liebe junge Paar — die Tochter des Generals und ihr Mann. Diese Tochter war eine nicht schöne, offenherzige junge Frau, die ganz und gar in ihren zwei ersten Kindern aufging; ihr Mann, den sie, nach langem Kampfe mit den Eltern, aus Liebe geheiratet hatte, ein liberaler Kandidat der Moskauer Universität, ein bescheidener und kluger Mensch, diente und beschäftigte sich mit Statistik, besoders mit der der sibirischen Eingeborenen, die er studierte, liebte und vor dem Aussterben zu retten suchte.

Alle waren nicht nur freundlich und liebenswürdig gegen Nechljudow, sondern, augenscheinlich, war er allen willkommen, als eine neue und interessante Persönlichkeit. Der General, der zum Mittagessen in einem Mititärrock mit dem weißen Kreuz um den Hals erschien, begrüßte Nechljudow wie einen alten Bekannten, und lud die Gäste sofort zum Imbiß und zum Branntwein ein. Auf die Frage der Generals, was Nechljudow gethan habe, nachdem er von ihm gegangen, erzählte dieser, daß er auf der Post gewesen und die Begnadigung derjenigen Person erfahren habe, von welcher er heute Morgen gesprochen, und daß er jetzt wiederum um die Erlaubnis bitte, das Gefängnis zu besuchen.

Der General augenscheinlich unzufrieden, daß man beim Mittagessen von Geschäften spreche, runzelte die Stirn und sagte nichts.

»Wollen Sie Branntwein?« wandte er sich französisch an den hinzugetretenen Engländer. Der Engländer trank und erzählte, daß er heute den Dom und die Fabrik besucht habe, daß er aber noch das große Transportgefängnis sehen möchte.

»Nun, das ist ja ausgezeichnet,« — sagte der General sich an den Nechljudow wendend, — »Sie können mitmachen. Geben Sie ihnen einen Passierschein,« — sagte er zu dem Adjudanten.

»Wann wollen Sie dorthin fahren?« fragte Nechljudow den Engländer.

»Ich ziehe es vor die Gefängnisse am Abend zu besuchen,« sagte der Engländer: »alle sind zu Hause, und es giebt keine Vorbereitungen, sondern alles ist so, wie es ist.«

»Ah, er will es in seinen ganzten Pracht sehen? Lassen wir es ihn sehen. Ich habe geschrieben — man will mich nicht hören. Also mögen sie es aus der ausländischen Presse erfahren,« — sagte der General und trat an den Mittagstisch, wo die Hausfrau den Gästen ihre Plätze wies.

Nechljudow saß zwischen der Hausfrau und dem Engländer. Ihm gegenüber saß die Tochter des Generals und der ehemalige Departementsdirektor.

Beim Mittagessenuen ging das Gespräch mit Unterbrechungen — bald sprach man von Indien, wovon der Engländer erzählte, bald von der Tonkin’schen Expedition, die der Genenal streng verurteilte, bald von der sibirischen allgemeinen Spitzbüberei und Bestechlichkeit. Alle diese Reden interessierten Nechljudow wenig.

Aber nach dem Mittagessen, im Gastzimmer, beim Kaffee, entspann sich ein sehr interessantes Gespräch mit dem Engländer und den Hausfrau über Gladstone, wobei dem Nechljudow schien, daß er viel Gescheites äußerte, was die anderen wohl bemerkten.

Und nach dem guten Mittagesessn und Wein, beim Kaffee, in einem weichen Lehnstuhl, inmitten der freundlichen und wohlerzogenen Leute wurde es dem Nechljudow immer angenehmer.

Als nun die Hausfrau auf die Bitte des Engländers zusammen mit dem ehemaligen Departementsdirektot sich an das Piano setzte und die von ihnen gut eingeübte fünfte Simphonie von Beethoven zu spielen begann, fühlte Nechljudow den schon seit langem nicht mehr empfundenen Seelenzustand voller Selbstzufriedenheit, als ob er jetzt erst erfahren hätte, was für ein guter Mensch er sei.

Der Flügel war vortrefflich, der Vortrag der Simphonie ein guter. So kam es wenigstens dem Nechljudow vor, der diese Simphonie liebte und kannte. Während er das schöne Andante anhörte, fühlte er ein Prickeln in der Nase vor Rührung über sich selbst und über all seine Tugenden.

Nechljudow bedankte sich bei der Hausfrau für den schon lange nicht empfundenen Genuß und wollte schon sich verabschieden und fortfahren, als die Tochter der Hausfrau mit entschlossenem Aussehen an ihn herantrat und errötend sagte:

»Sie fragten nach meinen Kindern; wollen Sie sie sehen?«

»Sie meint, daß es allen interessant sei, ihre Kinder zu sehen,« sagte die Mutter über die liebe Taktlosigkeit der Tochter lächelnd. — »Dem Fürsten ist es gar nicht interessant.«

»Im Gegenteil, sehr, sehr interessant,« sagte Nechljudow, von dieser überfließenden glücklichen Mutterliebe gerührt. — »Bitte, zeigen Sie sie mir.«

»Sie rührt den Fürsten, ihre Kleinen zu besehen,« rief der General lachend vom Kartentisch, wo er mit seinem Schwager, dem Inhaber von Goldgruben und dem Adjudanten saß. — »Thun Sie nun Ihre Schuldigkeit.«

Die junge Frau indessen, augenscheinlich aufgeregt dadurch, daß man gleich ihre Kleinen betrachten werde, ging mit raschen Schritten dem Nechljudow voran in die inneren Zimmer. Im dritten, einem hohen Zimmer mit weißen Tapeten, von einer kleinen Lampe mit dunklem Lichtschirm beleuchtet, standen nebeneinander zwei Bettchen, und zwischen denselben saß in einer weißen Pelerine die Kinderwärterin, mit einem sibirischen, gutmütigen Gesicht mit vorstehenden Backenknochen. Die Kinderwärterin stand auf und verneigte sich. Die Mutter beugte sich über das erste Bettchen, in welchem mit offenem Mündchen ein zweijähriges Mädchen mit langen, lockigen auf dem Kissen zerstreuten Haaren ruhig schlief. —

»Das ist die Katja,« sagte die Mutter, die gestrickte Bettdecke mit den blauen Streifen zurechtlegend, unter welchen sich langsam ein weißes Füßchen hervorstreckte.

»Hübsch? Sie ist ja erst zwei Jahre alt.«

»Reizend!«

»Und das ist Waßjuk, wie ihn der Großvater benannt hat. Ein ganz anderer Typus. Ein Sibirjak. Nicht wahr?«

»Ein prächtiger Junge,« sagte Nechljudow, den auf dem Bauch schlafenden Dickwanst betrachtend.

»Ja?« sagte die Mutter mit bedeutungsvollem Lächeln.

Nechljudow gedachte der Ketten, der rasierten Köpfe, der Prügl, der Unzucht, des Sterbenden Kryljzow, der Katjuscha mit all ihrer Vergangenheit. Und er wurde neidisch und bekam Lust nach einem, wie es ihm jetzt vorkam, ebenso schönen, reinen Glück.

Nachdem er mehrere Mal die Kinder gelobt und dadurch wenigstens teilweise die Mutter, welche diese Lobeworte gierig einsog, befriedigt hatte, ging er ihr nach ins Gastzimmer, wo der Engländer schon wartete, um zusammen mit ihm, wie sie es verabredet hatten, ins Gefängnis zu fahren. Nechljudow verabschiedete sich von der alten und der jungen Hausherrschaft und ging mit dem Engländder auf die Vortreppe des Generalshauses hinaus.

Das Wetter hatte sich geändert. Er schneite reichlich in dichten Flocken und der Schnee hatte schon den Weg und das Dach, und die Bäume im Garten und die Auffahrt und den Verdeck der Droschke, und den Rücken des Pferdes zugeschüttet. Der Engländer hatte seine eigene Equipage, und Nechljudow befahl dem Kutscher des Engländers ins Gefängnis zu fahren, setzte sich allein in seine Droschke, und mit dem schweren Gefühl der Erfüllung einer unangenehmen Pflicht fuhr er hinter ihm her in der auf Schnee weich und mühsam rollenden Droschke.

25

Das finstere Gefängnisgebäude mit seiner Schildwache und Laterne vor dem Thor — trotzdem die reine weiße Decke auf allem: der Anfahrt, dem Dache und den Wänden lag — machte einen noch düstereren Eindruck, als am Morgen, durch seine, die ganze Façade entlang beleuchteten Fenster.

Der großartige Inspektor kam an des Thor heraus, und nachdem er den Passierschein für Nechljudow und den Engländer gelesen, zuckte er bedenklich die mächtigen Schultern, aber gehorsam dem Befehl, lud er die Besucher ein, ihm zu folgen. Er führte sie zuerst in den Hof und dann durch eine Thür rechts und über eine Treppe in das Buerau. Er forderte sie auf, sich zu setzen und fragte, womit er ihnen dienen könne. Als er Nechljudows Wunsch erfuhr, gleich jetzt die Maslowa zu sprechen, schickte er einen Aufseher, sie zu holen, und machte sich bereit, die Fragen zu beantworten, die ihm der Engländer sofort durch Nechljudows Vermittlung zu stellen begann.

»Für wie viel Mann ist das Gefängnis gebaut worden?« fragte der Engländer. »Wie viel Gefangene? Wie viele Männer, Frauen, Kinder? Wie viele Zwangsarbeiter, Verbannte, freiwillig Folgende? Wie viele Kranke?«

Nechljudow übersetzte die Worte des Engländers und die des Inspektors, ohne in ihren Sinn einzudringen, da er für sich selbst vollkommen unerwartet durch die bevorstehende Zusammenkunft mit der Maslowa verwirrt war. Mitten in einem Satz, den er dem Englünder übersetzte, vernahm Nechljudow die sich nähernden Schritte. Als die Bureauthür sich öffnete, und wie es schon viele Male geschehen war, der Aufseher und hinter ihm die Katjuscha hereintrat, mit einem Kopftuch umwunden, in einer Gefangenenjacke, empfand Nechljudow, da er ihrer gewahr wurde, ein schweres Gefühl.

»Ich will leben, ich will eine Familie, Kinder, will ein menschliches Leben,« flog es ihm durch den Kopf, während sie mit raschen Schritten, ohne die Augen zu erheben in das Zimmer trat.

Er stand auf, machte einige Scheitte ihr entgegen, und ihr Gesicht erschien ihm rauh und unangenehm. Es war wieder ebenso wie damals, als sie ihm Vorwürfe gemacht hatte. Sie errötete und erblaßte; iher Finger drehten krampfhaft den Saum der Jacke, und bald blickte sie ihn an, bald ließ sie die Augen sinken.

»Sie wissen schon, daß die Begnadigang erfolgt ist?« sagte Nechljudow.

»Ja, der Aufseher hat es mir gesagt.«

»So daß Sie, sobald das Schreiben hier eintrifft fortgehen und sich ansiedeln können, wo Sie wollen. Wir wollen es überlegen.« Sie unterbrach ihn eilig.

»Was brauche ich zu überlegen? Wo Wladimr Iwanowitsch sein wird, dorthin gehe auch ich mit ihm.« Trotz all ihrer Aufregung brachte sie dies, die Augen erhebend, rasch und deutlich hervor, als ob sie alles das, was sie ihm sagen wollte, im Voraus vorbereitet hätte.

»Ach so!« sagte Nechljudow.

»Was soll man denn thun, Dmitrij Iwanowitsch, wenn er will, daß ich mit ihm lebe…« Sie blieb erschrocken stecken und korrigierte sich, »daß ich bei ihm sei. Was kann ich mir denn Besseres wünschen? Ich muß es für ein Glück ansehen. Was soll ich denn?…«

‘Eins von beiden: entweder sie liebt den Simonsohn, und sie wollte gar nicht jenes Opfer, das ich zu bringen wähnte, oder sie fährt fort mich zu lieben und eben, weil sie mein Heil will, schlägt sie mich aus und verbrennt für immer ihre Schiffe, indem sie ihr Schicksal mit dem des Simonsohn vereinigt,’ dachte Nechljudow, und er empfand Scham. Er fühlte, daß er rot wurde.

»Wenn Sie ihn lieben?«

»Was lieben oder nicht lieben? Das habe ich schon aufgegeben. Und Wladimir Imanowitsch ja ist ein ganz besonderer Mensch.«

»Ja, versteht sich,« begann Nechludow. »Er ist ein ausgezeichneter Mensch, und ich glaube…« Sie unterbrach ihn wieder, als ob sie befürchtete, daß er etwas Ueberflüssiges, aber daß sie nicht alles sagen werde.

»Nein, verzeihen Sie mir, Dmitrij Iwanowitsch, wenn ich nicht das thue, was Sie wünschen,« sagte sie, ihm mit ihrem schielenden geheimnisvollen Blick in die Augen sehend. »Ja, es soll, scheint’s, so sein. Auch Sie müssen leben.« Sie sagte ihm dasselbe, was er sich eben gesagt hatte. Jetzt aber dachte er nicht mehr so, sondern er dachte und fühlte etwas ganz anderes. Er schämte sich nicht nur, sondern er war ihm auch leid um all das, was er mit ihr verlor.

»Ich habe dies nicht erwartet,« sagte er.

»Wozu brauchen Sie hier zu leben und sich zu quälen? Sie haben sich genug gequält.«

»Ich habe mich nicht gequält, sondern mit ging es gut, und ich wünschte Ihnen noch weiter zu dienen, wenn ich könnte.«

»Uns ist« — — sie sagte »uns« und blickte den Nechljudow an, »uns ist nichts nötig. Sie haben schon sowie so so viel für mich gethan. Wenn Sie nicht gewesen wäten« — — Sie wollte etwas sagen, ihre Stimme erzitterte.

»Sie haben mir doch wohl nicht zu danken,« sagte Nechljudow.

»Wozu sollen wir abrechnen? Unsere Rechnung wird Gott begleichen,« stieß sie hervor, und ihre schwarzen Augen erglänzten von aufsteigenden Thränen.

»Was für eine gute Frau sind Sie,« sagte er.

»Ich bin gut?« sagte sie unter Thränen, und ein klägliches Lächeln erleuchtete ihr Gesicht.

»Are you ready?« fragte unterdessen der Engländer.

»Directly,« antwortete Nechljudow und fragte sie nach dem Kryljzow.

Sie faßte sich nach der Aufregung und erzählte ruhig, was sie wußte. Kryljzow war unterwegs sehr schwach geworden, und man hatte ihn ins Krankenhaus gebracht. Maria Pawlowna war sehr besorgt und hatte gebeten, daß man sie als Wärterin ins Krankenhaus aufnehme. Aber man hatte sie nicht zugelassen.

»Also soll ich gehen?« sagte sie, als sie bemerkte, daß der Englündet wartete.

»Ich nehme keinen Abschied, ich werde Sie noch sehen,« sagte Nechljudow, während er ihr die Hand reichte.

»Verzeihen Sie,« sagte sie kaum hörbar. Ihre Augen trafen sich. Nach dem seltsamen, schielenden Blick und dem kläglichen Lächeln, mit welchem sie dieses »Verzeihen Sie,« und nicht »Leben Sie wohl,« sagte, begriff Nechljudow, daß von den zwei Vermutungen über die Ursache ihrer Entscheidung die zweite richtig war: sie liebte ihn, und sie dachte, daß sie sein Leben verdürbe, wenn sie sich mit ihm verbände; wenn sie aber mit Simonsohn weggehe, so befreie sie ihn, und sie war jetzt froh darüber, das zu erfüllen, was sie wollte und litt zugleich, da sie sich von ihm trennte.

Sie drückte seine Hand, wandte sich rasch und ging hinaus.

Nechljudow blickte sich nach dem Engländer um, bereit ihm zu folgen, aber der Engländer schrieb etwas in sein Notizbuch ein, Nechljudow setzte sich, ohne ihn zu stören, auf einen an der Wand stehenden kleinen hölzernen Diwan, und plötzlich empfand er eine schreckliche Müdigkeit. Er war müde, nicht von der schlaflosen Nacht, nicht von der Reise, nicht von der Aufregung, sondern er fühlte, daß er schrecklich müde sei vom ganzen Leben. Er stützte sich gegen die Rücklehne des Diwans und fiel augenblicklich in einen schweren totähnlichen Schlaf.

»Wie stehts? ist’s Ihnen jetzt gefällig, durch die Kammern zu gehen?« fragte der Inspektor.

Nechljudow kam zu sich und wunderte sich, wo er war.

Der Engländer hatte seine Notizen beendigt und wünschte die Kammern zu besehen. Nechljudow, müde und teilnahmlos, ging hinter ihm drein.

26

Nachdem sie den Flur und den bis zum Uebelwerden stinkenden Korridor passiert hatten, wo sie zu ihrem Erstaunen zwei Gefangene antrafen, die einfach auf der Diele Wasser ließen, trafen der Inspektor, der Engländer und Nechljudow, von den Aufsehern begleitet, in die erste Kammer der Zwangsarbeiter ein. In der Kammer, mit Pritschen in der Mitte, hatten sich schon alle Gefangenen hingelegt. Es waren ihrer etwa 70 Mann. Sie lagen Kopf an Kopf und Seite an Seite. Beim Eintritt der Besucher sprangen alle auf, mit den Ketten rasselnd, und stellten sich neben die Pritschen; ihre frisch zur Hälfte rasierten Köpfe glänzten. Zwei blieben liegen. Der eine war ein junger Mann — rot, augenscheinlich im Fieber, der andere — ein Alter, der unaufhörlich ächzte.

Der Engländer fragte, seit wann der junge Gefangene erkrankt sei. Der Inspektor sagte, seit diesem Morgen, der Alte dagegen leide schon lange am Bauch, aber man habe keinen Platz um ihn unterzubringen, da das Lazareth schon lange überfüllt sei. Der Engländer schüttelte mißbilligend den Kopf und sagte, daß er diesen Leuten einige Worte sagen möchte; er bat Nechljudow, das zu übersetzen, was er sagen werde. Es erwies sich, daß der Engländer außer dem einen Ziel seiner Reise, der Beschreibung der Verbannungs- und Einsperrungsorte in Sibirien, noch ein anderes Ziel hatte: die Verkündigung der Rettung durch den Glauben und die Erlösung.

»Sagen Sie ihnen, daß Christus Mitleid mit ihnen hatte und sie liebte,« — sagte er, — »und für sie gestorben ist. Wenn sie daran glauben, so werden sie erlöst.« So lange er sprach, standen alle Gefangenen schweigend vor den Pritschen, die Arme an der Hosennaht. — »In diesem Buch, sagen sie es ihnen,« — schloß er, — »steht das alles. Giebt es solche, die lesen können?« Es stellte sich heraus, daß mehr als zwanzig der Gefangenen schriftkundig waren.

Der Engländer nahm aus einer Handtasche einige gebundene Exemplare des Neuen Testaments und muskulöse Arme mit festen schwarzen Nägeln streckten sich aus den Hanfärmeln hervor, einander zurückstoßend. Er verteilte in dieser Kammer zwei Evangelien und ging in die folgende.

In der nächsten Kammer war dasselbe: dieselbe Schwüle, derselbe Gestank; ebenso hing vorn, zwischen den Fenstern, das Heiligenbild und links von der Thür stand die Paraschka und ebenso lagen alle gedrängt Seite an Seite, und ebenso sprangen alle auf und machten Front und ebenso waren drei Menschen nicht aufgestanden. Zwei erhoben sich und setzten sich, der dritte aber blieb liegen und hatte die Eingetretenen sogar nicht angesehen; das waren die Kranken. Der Engländer hielt ebenso die gleiche Rede und teilte ebenso zwei Evangelien aus.

In der dritten Kammer waren der Kranken vier. Auf die Frage des Engländers warum man die Kranken nicht in eine Kammer zusammenthue, antwortete der Inspektor, daß sie es selber nicht wünschten. Diese Kranken seien auch nicht ansteckend, und der Heilgehilfe beaufsichtige sie und leiste Hilfe.

»Die zweite Woche schon läßt er sich nicht sehen«, — sagte eine Stimme.

Der Inspektor antwortete nicht und führte sie in die nächste Kammer. Wieder öffnete man die Thür, und wieder standen alle auf und wurden still, und wieder verteilte der Engländer die Evangelien; dasselbe war auch in der fünften und in der sechsten und links, und rechts und auf beiden Seiten.

Von den Zwangsarbeitern ging man zu den Verbannten, von den Verbannten zu den von Gemeindewegen Verschickten und zu den freiwillig Foigenden. Ueberall war das Gleiche. Ueberall wurden dieselben frierenden, hungernden, müßigen, von Krankheiten angesteckten, beschimpften, eingesperrten Menschen wie wilde Tiere gezeigt.

Der Engländer, nachdem er die bestimmte Zahl von Evangelien verteilt hatte, verteilte nun nicht mehr und hielt sogar keine Reden mehr. Das schreckliche Schauspiel und hauptsächlich die erstickende Luft hatten angenscheinlich auch seine Energie niedergedrückt, und er ging durch die Kammern und sagte nur »All right« auf die Berichte des Inspektors, was für Gefangene in jeder Kammer waren.

Nechljudow ging wie im Traum und hatte nicht die Kraft, sich loszumachen und fortzugehen, während er immer die gleiche Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit empfand.

27

In einer der Kammern für die Verbannten erblickte Nechljudow zu seinem Erstaunen denselben sonderbaren Alten, den er diesen Morgen auf der Fähre gesehen. Dieser Alte, strublig und voll von Runzeln, nur in einem schmutzigen, aschenfarbigen, auf einer Schulter zerrissenen Hemd, in eben solchen Hosen, saß barfüßig auf dem Fußboden neben der Pritsche und sah strengfragend die Eingetretenen an. Sein ausgemergelter Körper, welcher durch die Löcher des schmutzigen Hemdes sichtbar war, war jämmerlich und schwach, aber sein Gesicht zeigte noch mehr gesammelten Ernst, noch mehr Belebtheit, als auf der Fähre. Alle Gefangenen, ebenso wie in den anderen Kammern, sprangen auf und machten Front beim Eintritt der Obrigkeit; der Alte aber blieb sitzen. Seine Augen glänzten und seine Augenbrauen zogen sich zornig zusammen.

»Aufstehen!« schrie ihn der Inspektor an.

Der Alte rührte sich nicht und lächelte nur verächtlich.

»Deine Diener stehen vor dir. Ich aber bin nicht dein Diener. Du hast das Malzeichen…« sagte der Alte, indem er auf die Stirn des Inspektors zeigte.

»Wa—a—as?« stieß der Inspektor drohend hervor und rückte ihm näher.

»Ich kenne diesen Mann,« beeilte sich Nechljudow dem Inspektor zu sagen. »Wofür hat man ihn festgenommen?«

»Die Polizei hat ihn wegen Schriftenlosigkeit hierher geschickt. Wie bitten sie, nicht mehr zu schicken, sie schicken aber immer,« sagte der Inspektor, böse nach dem Alten schielend.

»Du bist scheint es, auch aus dem Heer des Antichrists?« wandte sich der Alte an den Nechljudow.

»Nein, ich bin ein Besucher,« sagte Nechljudow.

»Was denn, kammst du, um zu bestaunen, wie der Antichrist die Leute quält? Nun, sieh her. Er hat die Leute festgenommen, in den Käfig ein ganzes Herr eingesperrt. Die Menschen sollen im Schweiße des Angesichts ihr Brot essen. Er aber hat sie eingesperrt, füttert sie wie Schweine, ohne Arbeit, damit sie Tiere werden.«

»Was spricht er?« fragte der Engländer.

Nechljudow sagte, daß er den Inspektor tadele, weil er die Menschen in der Gefangenschaft halte.

»Wie soll man denn, fragen Sie ihn, diejenigen behandeln, die die Gesetze nicht erfüllen,« sagte der Engländer.

Nechljudow übersetzte die Frage.

Der Alte lachte seltsam auf, indem er seine dichten Zähne entblößte, »Gesetz,« wiederholte er verächtlich, »er hat zuerst alle beraubt, das ganze Land, sämtlichen Reichtum den Menschen entrissen, an sich genommen, alle tot geschlagen, welche gegen ihn gingen, dann hat er das Gesetz geschrieben, daß man nicht rauben, nicht töten solle. — Wenn er vorher dieses Gesetz geschrieben hätte!«

Nechljudow übersetzte, der Engländer lächelte.

»Nun, dennoch — wie soll man denn jetzt die Diebe und Mörder behandeln? fragen Sie ihn.«

Nechljudow übersetzte wieder die Frage. Der Alte runzelte streng die Stirn.

»Sag’ ihm, daß er das Malzeichen des Antichrists von sich thun soll, dann: werden weder Diebe noch Mörder da sein. Sage ihm gerade das.«

»All right,« sagte der Engländer, als Nechljudow ihm des Alten Wort übersetzt hatte, und die Achseln zuckend ging er aus der Kammer hinaus.

»Thue du das deinige, sie aber laß in Ruh. Jeder für sich. Gott weiß, wer bestraft, wer begnadigt sein soll, wir aber wissen es nicht,« sagte der Alte. »Sei dir selbst ein Vorgesetzter, dann wird keine Obrigkeit mehr nötig sein. Geh, geh,« fügte er hinzu, zornig die Stirn runzelnd und mit den Augen den in der Kammer zögernden Nechljudow anfunkelnd. »Hast dich satt gesehen, wie die Diener des Antichrists die Läuse mit Menschen füttern? Geh, geh.«

Als Nechljudow in den Korridor hinaustrat, stand der Engländer mit dem Inspektor an der geöffneten Thür einer leeren Kammer und fragte nach der Bestimmung derselben. Der Inspektor erklärte, daß es eine Leichenkammer sei.

»Oh,« sagte der Engländer, als Nechljudow es ihm übersetzt hatte und wünschte hineinzugehen.

Die Leichenkammer war ein gewöhnliches, nicht großes Zimmer. An der Wand hing ein Lämpchen und beleuchtete schwach in einer Ecke angehäufte Säcke, Holz und auf einer Pritsche rechts vier Leichname. Die erste Leiche in einem Hanfhemd und Hosen war ein Mann von großem Wuchs mit kleinem, spitzigem Bart und halbrasiertem Kopf. Der Körper wurde schon starr: die blauen Hände waren augenscheinlich auf der Brust zusammengelegt worden, waren aber auseinander gegangen; die nackten Füße waren auch gespreizt und standen mit den Fußspitzen nach auswärts. Neben ihm lag eine barfüßige und barhäuptige alte Frau in weißem Rock und weißer Jacke mit kleinem runzeligem gelben Gesicht, spitziger Nase und einem dünnen, kurzen Zöpfchen. Hinter dem alten Mütterchen lag noch eine Leiche, die eines Mannes in etwas lilafarbigem. Diese Farbe erinnerte den Nechljudow an etwas.

Er trat näher und begann, ihn zu betrachten.

Ein kleines, spitziges, nach oben ragendes Bärtchen, eine starke, schöne Nase, eine weiße hohe Stirn, dünnes, sich kräuselndes Haar. Er erkannte die vertrauten Züge, aber er traute seinen Augen nicht. Gestern hatte er dieses Gesicht aufgeregt-erbittert, leidend gesehen. Jetzt war es ruhig, unbewegt und zum Fürchten schön. Ja, es war Kryljzow, oder wenigstend jene Spur, die seine materielle Existenz hinterlassen.

‘Wozu hat er gelitten? Wozu hat er gelebt? Hat er es jetzt begriffen?’ dachte Nechljudow, und es schien ihm, daß es keine Antwort gab, daß es nichts gab, außer dem Tod, und es ward ihm schlecht. Ohne von dem Engländer Abschied zu nehmen, bat Nechljudow den Inspektor, ihn auf den Hof zu begleiten, und da er die Notwendigkeit empfand, allein zu bleiben, um alles das zu überlegen, war er heute Abend erlebt hatte, fuhr er ins Gasthaus.

28

Ohne sich schlafen zu legen, ging Nechljudow lange in dem Zimmer des Gasthauses hin und her. Seine Sache mit Katjuscha war zu Ende. Er war ihr nicht nötig, und er schämte sich, und es war ihm traurig. Aber nicht das quälte ihn jetzt. Seine andere Sache war nicht nur nicht beendigt, sondern sie marterte ihn heftiger, als je und verlangte, daß er sich bethätige. All das schreckliche Uebel, das er während dieser Zeit gesehen und erfahren hatte und besonders heute in diesem fürchterlichen Gefängnis, all das Böse, welches auch den lieben Kryljzow zu Grunde gerichtet hatte, triumphierte, herrschte, und man sah keine Möglichkeit, seiner Herr zu werden, ja man konnte nicht einmal klar werden, wie es zu besiegen sei. Vor seiner Phantasie erstanden diese Hunderte und Tausende von in verpestete Luft eingesperrten, beschimpften Menschen, die von gleichgültigen Generälen, Prokureuren, Inspektoren eingekerkert werden; er erinnerte sich des seltsamen, die Obrigkeit anklagenden, freien, für wahnsinnig geltenden Alten, und mitten zwischen den Leichen — der schönen toten Wachsgesichtes des in Erbitterung verstorbenen Kryljzow. Und die frühere Frage, ob er, Nechljudow, verrückt sei, oder ob diejenigen verrückt seien, die sich für klug halten und all das thun, erhob sich vor ihm mit neuer Kraft und verlangte Antwort.

Als er vom Gehen und Denken müde wurde, setzte er sich auf den Diwan vor der Lampe und schlug mechanisch das ihm von dem Engländer zum Andenken gegebene Evangelium auf, das er auf den Tisch geworfen hatte, als er seine Taschen leerte. ‘Man sagt, da sei die Lösung für alles’, dachte er, und das Evangelium aufschlagend, begann er zu lesen dort, wo es sich auseinanderschlug.

(Matth. Kap. XVIII.)

Zu derselben Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist doch der Größeste im Himmelreich? — las er.

Jesus rief ein Kind zu sich und stellte es mitten unter sie.

Und sprach: Wahrlich, ich sage euch, es sei denn, daß ihr euch umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

Wer sich nun selbst erniedriget, wie dies Kind, der ist der Größeste im Himmelreich. (Matthäi XVIII, 1,2,3,4.)

‘Ja, ja, es ist so, dachte er, indem er sich dessen entsann, wie er nur in dem Maße Beruhigung und Freude des Lebens gefunden, als er sich selbst erniedrigt hatte.

Und wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt mich auf.

Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt, und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist. (Matthäi XVIII ,5,6)

Wozu steht da: »wer …aufnimmt?« und wohin aufnimmt? und was bedeutet: »in meinem Namen?« fragte er sich, da er fühlte, daß diese Worte ihm nichts sagten. ‘Und wozu ist der Mühlstein um den Hals und das Meer, wo es am tiefsten ist? Nein, da ist etwas nicht recht: nicht genau ausgedrückt, nicht deutlich’, dachte er und erinnerte sich, wie er einige Mal in seinem Leben sich an das Lesen der Evangeliums gemacht hatte, und wie immer die Undeutlichkeit solcher Stellen ihn abgestoßen. Er las noch die Verse 8, 9, 10 über die Aergernisse, darüber, daß sie in die Welt kommen müssen, über die Strafe durch das höllische Feuer, in das die Leute geworfen werden, und über irgend welche Engel der Kinder, die das Angesicht des Vaters im Himmel sehen. ‘Wie schade, daß es so verworren ist,’ dachte er, ‘aber man spürt, daß dort etwas Gutes sein muß’

Denn des Menschensohn ist gekommen, selig zu machen, das verloren ist.

Was dünket euch? Wenn irgend ein Mensch hundert Schafe hätte, und eins unter denselben sich verirrte, läßt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen, gehet hin und suchet das verirrte?

Und so sichs begiebt, daß er es findet wahrlich, ich sage euch, er freuet sich darüber mehr, denn über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind.

Also auch ist es vor eurem Vater im Himmel nicht der Wille, daß Jemand von diesen kleinen verloren werde.

‘Ja, es war nicht der Wille des Vaters, daß sie verderben sollten, und nun verderben sie doch zu Hunderten und zu Tausenden. Und es giebt kein Mittel sie zu retten’, dachte Nechludow.

Da trat Petrus zu ihm und sprach: (las er weiter): Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder der, der an mir sündigt, vergeben? Ist es genug siebenmal?

Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal.

Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte.

Und als er anfing zu rechnen, kam ihm einer vor, der war ihm zehntausend Pfund schuldig…

Da er er nun nicht hatte zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn, und sein Weib und seine Kinder, und Alles, was er hatte, und bezahlen.

Da fiel der Knecht nieder und betete ihn an und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir Alles bezahlen.

Da jammerte den Herrn desselben Knechts und ließ ihn los und die Schuld erließ er ihm auch.

Da ging derselbe Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig; und er griff ihn an, und würgte ihn, und sprach: Bezahle mir was du mir schuldig bist.

Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn, und sprach: habe Geduld mit mir, ich will dir Alles bezahlen.

Er wollte aber nicht sondern ging hin, und warf ihn ins Gefängnis bis daß er bezahlte, was er schuldig war.

Da aber seine Mitknechte solches sahen. wurden sie sehr betrübt und kamen, und brachten vor ihren Herren Alles, was sich begeben hatte.

Da forderte ihn sein Herr vor sich, und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest.

Solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht wie ich mich über dich erbarmet habe?

‘Aber ist es wirklich nur das?’ schrie Nechljudow plötzlich laut auf, als er diese Worte gelesen hatte. Und die Stimme seines ganzen Innern sagte: ‘Ja, nur dies!’

Und es geschah mit Nechljudow, was oft geschieht mit Menschen, die ein geistiges Leben leben. Es geschah, daß der Gedanke, der ihm zuerst als eine Absonderlichkeit, als ein Paradoxon, sogar als ein Scherz erschienen, plötzlich vor ihm stand, da er ihn immer öfter und öfter im Leben bestätigt gefunden, — als die einfachste, unzweifelhafte Warheit. So wurde ihm jetzt der Gedanke klar, daß das einzige unzweifelhafte Mittel der Rettung von jenem fürchterlichen Uebel, unter dem die Menschen leiden, nur darin bestand, daß die Menschen sich immer vor Gott für schuldig halten sollten und für unfähig, andere Menschen zu bestrafen und zu bessern. Es wurde ihm jetzt klar, daß all das fürchterliche Uebel, dessen Augenzeuge er in den Gefängnissen und Kerkern gewesen, und die ruhige Selbtstgewißheit derjenigen, die dies Uebel hervorbrachten, nur daher rührte, daß die Menschen eine unmögliche Sache thun wollten: daß sie — selber böse, — das Böse bessern wollten. Lasterhafte Menschen wollten lasterhafte Menschen bessern und wähnten, es auf mechanischem Wege zu erreichen. Aber aus all dem kam nur das heraus, daß die notleidenden und eigennützigen Leute, indem sie sich aus dieser vermeintlichen Bestrafung und Besserung der Menschen eine Profession gemacht, selber bis zum letzten Grad verdorben wurden und unaufhörlich auch diejenigen verdarben, die sie quälten. Jetzt wurde ihm klar, woher all das Grauen rührte, das er gesehen, und was man thun müsse, um es zu vernichten. Die Antwort, welche er nicht finden konnte, war dieselbe, die Christus dem Petrus gegeben: sie bestand darin, daß man immer Allen unendlich oft verzeihen soll, weil es Niemand giebt, der selber unschuldig wäre und darum die anderen bestrafen oder bessern könnte.

‘Aber das kann ja nicht sein, daß es so einfach wäre’, sprach Nechljudow zu sich, unterdessen aber sah er unzweifelhaft ein, daß mochte es ihm, der das Gegenteil gewohnt war, anfangs noch so seltsam erschienen sein, es eine zweifellose und nicht nur theoretische, sondern auch die praktischste Lösung der Frage war. Die ewige Erwiderung: was soll man mit Bösewichten thun, soll man sie denn wirklich unbestraft lassen? verwirrte ihn jetzt schon nicht mehr. Diese Erwiderung könnte eine Bedeutung haben, wenn es bewiesen wäre, daß die Strafe die Zahl der Verbrechen verminderte, die Verbrecher besserte; aber wenn das vollkommene Gegenteil bewiesen ist, und wenn es offenbar ist, daß es nicht in der Macht den einen Menschen liegt, die anderen zu bessern, so ist das einzig Vernünftige, was ihr thun könnt, aufzuhören, das zu thun, was nicht nur nutzlos, sondern schädlich und außerdem unmoralisch und grausam ist. Ihr bestraft schon Jarhunderte lang die Leute, die ihr für Verbrecher anseht. Wie ist es denn? Sind sie verschwunden? Nicht verschwunden, die Zahl derselben hat sich noch vermehrt, sowohl durch diejenigen Verbrecher, die durch die Strafen verdorben werden, als auch durch die Verbrecher — Richter, Prokureurs, Untersuchungsrichter, Kerkermeister, die die Menschen richten und bestrafen. Nechljudow begriff jetzt, daß die Gesellschaft und die Ordnung überhaupt nicht etwa dadurch existiere, weil es diese durch das Gesetz bestätigten Verbrecher giebt, die ihre Mitmenschen richten und strafen, sondern weil die Menschen, trotz dieser Verderbnis, dennoch einander bedauern und lieben.

In der Hoffnung, die Bestätigung dieses Gedankens in demselben Evangelium zu finden, begann Nechljudow, es von Anfang zu lesen. Als er die Bergpredigt, die ihn immer gerührt hatte, gelesen, sah er heute zum ersten Mal in dieser Predigt keine abstrakte schöne Gedanken, die meistens übertriebene, unerfüllbare Forderungen aufstellten, sondern die einfache, klare und praktisch erfüllbare Gebote, welche im Falle der Erfüllung (was vollkommen möglich war) eine vollständig neue, ihn verwundernde Einrichtung der menschlichen Gesellschaft herbeiführen würden, bei welcher nicht nur all die Gewaltthätigkeit, die den Nechljudow so sehr empörte, von selber verschwand, sondern das höchste dem Menschen zugängliche Heil — Gottes Reich auf Erden — erreicht wurde.

Diese Gebote waren fünf.

Das erste Gebot (Matth. V, 21–26) war, daß der Mensch nicht nur nicht töten, sondern daß er nicht einmal seinem Bruder zürnen darf, niemanden für nichtig »Rache« halten, und wenn er sich mit jemand entzweit, soll er sich mit ihm versöhnen, ehe er Gott seine Gabe darbringt, d. h. betet.

Das zweite Gebot (Matth. V, 27–82) war, daß der Mensch nicht nur nicht ehebrechen darf, sondern er soll den Genuß der weiblichen Schönheit meiden, er soll, wenn er einmal sich mit einer Frau vereinigt hat, ihr nie untreu sein.

Das dritte Gebot (Matth. V, 35–37) bestand darin, daß der Mensch nichts auf seinen Eid versprechen solle.

Das vierte Gebot (Matth. V, 38–42) war, daß der Mensch nicht nur nicht Zahn um Zahn vergelten solle, sondern er soll die andere Backe darbieten, wenn man ihm einen Streich auf eine Backe giebt; er soll Beleidigungen vergeben und sie mit Demut ertragen und niemandem je verweigern, was Einer von ihm wünscht.

Das fünfte Gebot (Matth. V, 43–48) bestand darin, daß der Mensch seine Feinde nicht nur nicht hassen, mit ihnen nicht kriegen, sondern sie lieben, ihnen helfen, dienen soll.

Nechljudow heftete seinen Blick auf das Licht der brennenden Lampe und erstarrte. Als er sich all die Gräuel unseres Lebens vergegenwärtigte, stellte er sich klar vor, was unser Leben sein könnte, wenn die Menschen in diesen Regeln erzogen würden, und ein lange nicht empfundenes Entzücken erfaßte seine Seele. Als ob er nach langem Schmachten und Leiden plötzlich Beruhigung und Freiheit gefunden habe.

Er schlief die ganze Nacht nicht und wie es mit vielen und vielen das Evangelium Lesenden geschieht, verstand er zum ersten Mal die viel mal gelesenen und nicht bemerkten Worte, in ihrer ganzen Bedeutung. Wie ein Schwamm Wasser einsaugt, sog er in sich alles Nötige, Wichtige und Freudige, was sich ihm in diesem Buch offenbarte. Und alles was er las, schien ihm bekannt, schien das zu bestätigen und zum Bewußtsein zu bringen, was er schon lange früher gewußt, aber dessen er nicht völlig bewußt geworden und dem er nicht geglaubt. Jetzt aber war er dessen bewußt und glaubte daran. Aber nicht nur, daß er dessen bewußt war und daran glaubte, daß, diese Gebote erfüllend, die Menschen das allerhöchste ihnen zugängliche Heil erreichen werden, er wußte und glaubte jetzt, daß jeder Mensch nichts anderes zu thun habe, als diese Gebote zu erfüllen, daß darin daß einzige vernünftige Ziel des menschlichen Lebens sei, daß jede Abweichung davon ein Fehler sei, welcher sofort die Strafe nach sich zieht. Das folgte aus der ganzen Lehre und ward mit besonderer Schärfe und Kraft in dem Gleichnis von den Weingärtnern ausgesprochen. Die Weingärtner hatten sich eingebildet, daß der Garten, in den sie gesandt worden, um für den Herrn zu arbeiten, ihr Eigentum sei; daß alles, man im Garten war, für sie gemacht sei, und daß ihre Sache nur darin bestehe, ihr Leben in diesem Garten zu genießen, den Hausvater vergessend und diejenigen tötend, welche sie an den Hausvater und an ihre Pflichten gegen ihn erinnerten.

‘Dasselbe thun wir,’ dachte Nechljudow, — ‘in der absurden Ueberzeugung lebend, daß wie selber die Herren unseres Lebens seien, daß es uns zu unserem Genuß verliehen sei. Aber das ist ja augenscheinlich absurd. Wenn wir hierher gesandt sind, so ist es ja nach dem Willen irgend Jemandes und zu irgend einem Zweck. Und wir haben beschlossen, daß wir nur zu unserer Freude leben, und es ist klar, daß es und schlecht ist, so wie es dem Arbeiter schlecht ist, der den Willen des Herrn nicht erfüllt. Der Wille des Herrn aber ist in diesen Geboten ausgesprochen. Die Menschen brauchen nur diese Gebote zu erfüllen, und das Reich Gottes wird auf Erden sein, und die Menschen werden das allerhöchste Heil gewinnen, das ihnen erreichbar ist.

Trachtet nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit; so wird euch das Uebrige zufallen.

Wir aber trachten nach dem Uebrigen und, augenscheinlich, finden wir es nicht.

»Da ist sie also, die Sache meines Lebens. Eben ist die eine zu Ende, so fängt die andere an.«

Seit dieser Nacht begann für Nechljudow ein ganz neues Leben, nicht so sehr, weil er in neue Lebensbedingungen eintrat, sondern weil alles, war mit ihm seitdem geschah, für ihn eine ganz andere Bedeutung als früher bekam. Womit diese neue Periode seines Lebens enden wird, wird die Zukunft zeigen.

Ende.

1Deutsch von Wadim Tronin und Ilse Frapan (1900)

2Verächtlich

3Zärtlich

4Das heißt: die metallenen Beschläge derselben

5Polizeibeamter in einem Landdistrikt. Anm. d. Uebers.

6Gerichtsspiegel, dreiseitiges Postament mit einem Adler und drei Ukasen Peters I, das in Rußland auf jedem Gerichtstische steht. Anm. d. Uebers.

7Stola

8Ein roter Schein = 10 Rube.

9Anm. d. Uebers. Das Spiel besteht in folgendem: Die Paare stellen sich in eine Kolonne; vorn steht der Haschende, mit dem Rücken zu den übrigen gekehrt. Das erste Paar läuft, und so, daß der eine rechts, der andere links an dem Haschenden vorbei läuft, sie suchen sich mit einander zu vereinigen, indem sie sich bei der Hand fassen. Der Haschende sucht einen von ihnen zu fangen; gelingt es ihm, so bildet er mit dem Gefangenen ein Paar, und der Verwaiste muß seine Stelle vetreten.

10Anmerk. d. Uebers. Die niederen Schichten des russischen Volkes trinken den Thee auf diese Weise.

11Bauernkleider aus rotem oder blauem, karriertem oder gestreiftem Wollenzeug. Anm. d. Ueb.

12Die altrussische Sagenfigur eines Kaufmanns aus Nowgorad, ›der reiche Gast‹

13d. h. 12 Werschok über 2 Arschin. Anm. d. Uebers.

14Russisches Ballspiel

15Sie hatte die im Gefängnis verbotenen Sachen in der Semmel hereingeschmuggelt. Anm. d. Uebers.

16Welche dreithürig und besonders mit Heiligenbildern verziert ist und den Altar von der Kirche trennt. Anm. d. Ueb.

17Aus Wein und warmem Wasser, der in der Kirche nach dem Abendmahl getrunken wird. Anm. d. Uebers.

18Ein Kirchengesang zu Ehren Christi, der Jungfrau Maria und der Heiligen. Anm. d. Uebers.

19Tagebuch eines überflüssigen Menschen. A. d. Uebers.

20Russisches Sprichwort. Anm. d. Uebers.

21Stumme Endbuchstaben zur Bezeichnung der harten Konsonnaten, deren Schreibung von manchen jungen Radikalen als zopfig betrachtet wird. Anm. d. Ueber.

22Ein paar Centimeter

23Russische Sekte, die sich aus religiösen Gründen kastriert. Anm. d. Uebers.

24Politische Partei. Anm. d. Uebers.

25Ball, Maskerade nebst Lotterie. Anm. d. Uebers.

26Die Aufrührerin aus dem Gouvernement Wladimir

27Eine Art Pachtverhältnis der russischen Leibeigenen.

28Als Schmuck

29der elegantesten und schnellsten Fuhrwerke. Anm. d. Uebers.

30Zahltag für die Kronbeamten. Anm. d. Ueber.

31Abteilung des Senats für genealogische Angelegenheiten in Petersburg.

32Petersburg — scherzhaft und volkstümlich. Anm d. Ueders.

33Römisch-katholischer Geistlicher in Polen und Litauen.

34Wunderthätige Muttergottesbilder.

35Flecken von gelbem Tuch

36Anfang der achtziger Jahre starben am Sonnenstich fünf Mann Gefangener an einem Tage, während man sie aus dem Butykij-Schloß auf den Nischnij-Nowgoroder-Bahnhof überführte. Der Autor.

37Ein Polizeiaufseher auf dem Lande.

38Ein in dem Buche D. A. Linjows »Per Etappe« beschriebenes Faktum. Anm. d. A.

39statt mit einem Blasebalg

40Eine Art Bankhalter unter den Gefangenen

41undurchdringlicher Wald in Sibiren.

42Selbstgedrehte Papierhülle dieser Form, bei Bauern und Arbeitern im Gebrauch.

43Allerlei russische Sekten.

44Die Russen sagen beim Abschied »verzeih! verzeihen Sie,« entsprechend dem Gruß »Lebewohl oder Adieu!«